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Mitbestimmung in Aufsichtsräten

Till Jansen

Mitbestimmung in
Aufsichtsräten
Dr. Till Jansen
Universität Witten-Herdecke
Witten-Herdecke
Deutschland

ISBN 978-3-658-01431-5     ISBN 978-3-658-01432-2 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-658-01432-2

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Für Joanna
Danksagung

Die vorliegende Studie hat einen langen Weg genommen und ich bin als Autor
vielen Beteiligten und Unterstützern zu Dank verpflichtet. Die Anfänge lassen sich
im Forschungsprojekt „High Performance Boards – Entscheidungen und Prozes-
se in deutschen Aufsichtsräten“ finden, das in den Jahren 2008 bis 2011 an der
Universität Witten/Herdecke durchgeführt worden ist. Das Projekt ist aus einer
studentischen Initiative hervorgegangen, die das Ziel hatte, erstmals in großem
Umfang qualitative Forschung in Aufsichtsräten großer deutscher Unternehmen
durchzuführen. Das Projekt wurde von vielen verschiedenen Förderern aus der
Wirtschaft finanziell unterstützt, unter ihnen etwa AXA, die KUKA AG, Evonik
Industries, KPMG, Lanxess und Linklaters. Im Rahmen dieses Projekt hatte ich
die Chance, meine Dissertation zu verfassen, und dort ist auch die Datengrund-
lage für die vorliegende Studie entstanden. Ich möchte mich daher bei all denjeni-
gen bedanken, die mit mir zusammen unter schwierigen Bedingungen an diesem
Projekt gearbeitet habe. Mit Sebastian Barth, Christian Jünger, Janina Reuter und
Jutta Trögel habe ich beinahe drei Jahre damit zugebracht, Drittmittel während
einer Finanzkrise zu akquirieren, beinahe 180 Interviews in den Aufsichtsräten
von DAX30- und MDAX-Unternehmen zu akquirieren und unzählige Kilometer
durch Deutschland zu fahren und diese Interviews dann auch zu führen. Hier gilt
auch mein Dank denjenigen Unterstützern, die immer wieder ihren Namen, ihre
Kontakte und ihre Zeit hergegeben haben, um uns zu unseren Interviews zu ver-
helfen. Besonders zu nennen sind hier etwa Michael Vassiliadis, Hans-Peter Müller
oder Rolf Stomberg.
Zudem hätte meine Auswertung ohne die Forschungswerkstatt an der Universi-
tät Witten/Herdecke nicht diese Form gewonnen, in der ich immer wieder mein Ma-
terial vorstellen konnte. Insbesondere bin ich hier jedoch Werner Vogd verpflichtet,

VII
VIII Danksagung

der schon als Betreuer meiner Dissertation immer für eine Diskussion zur Verfü-
gung stand und sich intensiv mit meiner Auswertung auseinandergesetzt hat. Ohne
ihn wäre es auch nie zu der Projektfinanzierung durch die Deutsche Forschungs-
gemeinschaft (DFG) gekommen, der ich für ihre Unterstützung danken möchte.

Berlin, im Mai 2013


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    1
2 Unternehmensmitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    3
2.1 Rechtlicher Rahmen und Geschichte – ein kurzer Abriss . . . . . . . . . .    3
2.1.1 Montanmitbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    3
2.1.2 Drittelbeteiligung und Mitbestimmungsgesetz . . . . . . . . . . . .    5
2.2 Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    8
2.2.1 Mitbestimmung als Machtstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    8
2.2.2 Mitbestimmung als ökonomischer Faktor . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2.2.3 Prozesse der Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.3 Zwischenfazit: Unbekannte Aufsichtsratsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
3 Anlage der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
3.1 Entscheidungen unter polykontexturalen Bedingungen . . . . . . . . . . . 23
3.1.1 Organisationen als Entscheidungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . 24
3.1.2 Mitbestimmung als Polykontexturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
3.2 Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
3.2.1 Verbundkontexturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
3.2.2 Weiche Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
3.2.3 Rekonstruktion funktionaler Verschränkungen . . . . . . . . . . . 47
3.2.4 Vorgehen in der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
3.3 Datengrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
3.3.1 Leitfadengestützte Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
3.3.2 Sample . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
4.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
4.1.1 Einflussfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
4.1.2 Aggregierte Typen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

IX
X Inhaltsverzeichnis

4.1.3 Der leitende Angestellte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71


4.1.4 Gender Issues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
4.2.1 Einzelhandel Meyer AG: Routine der Doppelstimme . . . . . . 74
4.2.2 Hamburger Bankhaus AG: Deals aushandeln . . . . . . . . . . . . . 96
4.2.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
4.3.1 Augsburger Maschinenwerke:
Der „Betrieb“ als Schnittfläche��������������������������������������������������� 123
4.3.2 Badische Motoren: Die „Menschen“ hinter „den Rollen“ . . . . 151
4.3.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
4.4.1 Dortmunder Petrol: Die „Internen“ im Aufsichtsrat . . . . . . . . 175
4.4.2 Süddeutsche Chemie AG:
Der Aufsichtsrat als „externes“ Gremium��������������������������������� 207
4.4.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
4.5.1 Merz Services AG:
Die Einheit von Wirtschaft und Politik in der Familie����������� 237
4.5.2 Nürnberger Handelsgesellschaft:
Wirtschaftlicher Erfolg als politische Legitimität ������������������� 257
4.5.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
4.6 Basistypik: Politik und Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
5 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
5.1 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
5.1.1 Typ 1: Kollision von Wirtschaft und Politik . . . . . . . . . . . . . . . 279
5.1.2 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik . . . . . . . . . . . 280
5.1.3 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ . . . . . . . . . . . . . . . . 282
5.1.4 Typ 4: Legitime Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
5.2 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
5.2.1 Gute Unternehmensmitbestimmung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
5.2.2 Unternehmensmitbestimmung als
Kontexturmanagement��������������������������������������������������������������� 289
Transkriptionsrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Rechtsquellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Einleitung
1

Die Debatte über die Unternehmensmitbestimmung, die Arbeitnehmervertretung


im Aufsichtsrat, ist nach der Veröffentlichung des Berichts der zweiten Biedenkopf-
Kommission (2006) eingeschlafen. Doch allein schon aus dem Grund, dass sich
die Kommission nicht auf eine gemeinsame Position hat einigen können, ist wohl
nicht damit zu rechnen, dass dem so bleibt (so schon Jürgens et al. 2008). Auf-
geschoben, kann man hier wohl sagen, ist nicht gleich aufgehoben. Zwar scheint
die derzeitige Legitimitätskrise der Wirtschaft, die mit der Finanzkrise losgetre-
ten wurde, zumindest die Gegenpositionen etwas gemildert zu haben, doch gerade
unter dem Schlagwort der Internationalisierung und der Globalisierung wird das
Thema wieder aufgebracht (etwa Bachmann et al. 2009; Jahn 2009). Während sich
so die deutsche Wirtschaft mit der betrieblichen Mitbestimmung abgefunden zu
haben scheint und unter Umständen sogar Chancen zur Effizienzsteigerung wittert
(etwa Stettes 2007), so scheint die Unternehmensmitbestimmung noch immer ein
Problem zu sein (selbst wenn man es wie Paster 2011 nur als Problem der Arbeit-
geberlobby und nicht der Arbeitgeber betrachtet).
Die Konfliktlinien scheinen sich dabei nicht wesentlich verändert zu haben.
Die Argumente haben sich jedoch etwas verschoben. Während in den siebziger
Jahren vor allem rechtliche Bedenken geäußert und das Mitbestimmungsgesetz als
Eingriff in das Privateigentum und Gefährdung der sozialen Marktwirtschaft ge-
sehen wurden, ist es heute vor allem die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen,
die betont wird: In der Mitbestimmung wird eine Bedrohung für den Wirtschafts-
standort Deutschland gesehen. Es wird betont, dass aufgrund der zunehmenden
Internationalisierung eine Angleichung der Systeme vorgenommen werden müsse.
Die Unternehmensmitbestimmung stelle einen Standortnachteil dar, der ausge-
räumt werden müsse. Sie verhindere schnelle Entscheidungsfindung und gefähr-
de die Unabhängigkeit des Gremiums (Berliner Netzwerk Corporate Governance
2003). Sie müsse als das angesehen werden, was sie sei – ein Relikt der siebziger
Jahre. Auf dem Hintergrund der Einführung der SE (Societas Europaea) wird von

T. Jansen, Mitbestimmung in Aufsichtsräten, 1


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2 1 Einleitung

juristischer Seite gar die gute alte deutschen Aktiengesellschaft als bedrohte Art
wahrgenommen: Ihr Aussterben wird befürchtet und die Verhandlungsregelung
für die Unternehmensmitbestimmung wird gefordert, wie sie schon für die SE be-
steht (Bachmann et al. 2009).
Auf der anderen Seite wird die Unternehmensmitbestimmung als legitime Insti-
tution des deutschen Sozialstaats betrachtet. Sie sichere die Mitwirkungsrechte der
Arbeitnehmer in ihrem Unternehmen und sei so ein wichtiges Element der Demo-
kratie (Müller-Jentsch 2001). Keinesfalls käme es durch sie zu einer schlechteren
Konkurrenzsituation (Höpner 2004) – und wenn, dann sei eine Einschränkung
etwa der Shareholder-Value-Orientierung etwas durchaus Gewünschtes. In jedem
Fall sei die Unternehmensmitbestimmung kein Auslauf-, sondern ein Erfolgsmo-
dell, das es zu bewahren gelte.
Erstaunlich an dieser Debatte ist, dass sie mit relativ wenigen Erkenntnissen
über die Praxis der Unternehmensmitbestimmung geführt wird. So gibt es zwar
eine Vielzahl von Studien über die Praxis der betrieblichen Mitbestimmung; die
Studien über die Praxis mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit sind hingegen über-
schaubar. Die meisten stammen zudem aus den siebziger und achtziger Jahren
(etwa Brinkmann-Herz 1972; Bamberg et al. 1984; Bamberg et al. 1987) oder grün-
den ihre Aussagen ausschließlich auf quantitative Interviews mit Arbeitnehmer-
vertretern (etwa Jürgens et al. 2008) oder die Analyse von Strukturdaten (Gerum
2007). Vereinzelte Studien – wie etwa die Studie von Raabe (2010) – bleiben hier
die Ausnahme.
Vor diesem Hintergrund möchte die vorliegende Arbeit einen möglichst um-
fassenden und wertfreien Einblick in die Praxis mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit
gewähren. Dabei interessiert weniger die Frage nach der „Interessenwirksamkeit“
(Bamberg et al. 1984) der Mitbestimmung oder die Frage nach der wirtschaftlichen
Effizienz derselben, sondern vielmehr die Frage danach, welche Formen der Zu-
sammenarbeit zwischen Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretern in deutschen
Aufsichtsräten gefunden werden. Gelingt es – und wenn ja, wie –, eine von allen
Mitgliedern geteilte Deutung der Aufsichtsratsarbeit herzustellen? Durch welche
Formen der Praxis werden die Frage nach der betriebspolitisch legitimen Entschei-
dung und die Frage nach der wirtschaftlichen Effizienz in ein Verhältnis gesetzt?
Wie wird die Entscheidungsfähigkeit des Gremiums sichergestellt?
Diesen Fragen wurde in einer rekonstruktiven Studie in knapp 30 Unternehmen
des DAX30 und MDAX nachgegangen. Die Datengrundlage knapp 180 Interviews
ermöglichte dabei weitreichende Einblicke in die Praxis der betreffenden Gremien
und als Resultat der Studie eine Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit, die
im Folgenden dargestellt wird.
Unternehmensmitbestimmung
2

2.1 Rechtlicher Rahmen und Geschichte – ein kurzer Abriss

Im Unterschied zum angelsächsischen Corporate Governance System ist das deut-


sche ein dualistisches. Während ersteres System als monistisches nur ein zentra-
les Gremium der Unternehmensleitung kennt, das board of directors, das sich aus
Executives und Non-Executives zusammensetzt, kennt das deutsche System zwei
zentrale Gremien. In Aktiengesellschaften, welche die vorliegende Untersuchung
behandelt, sind dies Vorstand und Aufsichtsrat. Während dem Vorstand die Ge-
schäftsführung obliegt, liegen die Pflichten des Aufsichtsrats in der Beratung,
Überwachung und Bestellung des Vorstands. Der Aufsichtsrat ist in diesem Sinne
ein rein beratendes und kontrollierendes Gremium, das nur episodisch zusammen-
kommt, während der Vorstand die operative Verantwortung für das Unternehmen
trägt. Unternehmensmitbestimmung meint auf diesem Hintergrund allgemein
zunächst die Arbeitnehmervertretung in der Unternehmensleitung, innerhalb
Deutschlands also die Arbeitnehmervertretung in Vorstand und Aufsichtsrat. Da-
bei ist zwischen drei Formen der Unternehmensmitbestimmung zu unterscheiden
(vgl. zur Übersicht Streeck 2004).

2.1.1 Montanmitbestimmung

Die Montanmitbestimmung ist die älteste noch existente Form der Unternehmens-
mitbestimmung in Deutschland.1 Historisch ist sie aus der tiefen Skepsis der Besat-
zungsmächte und der Gewerkschaften gegenüber der deutschen Schwerindustrie

1
Frühere Formen der Unternehmensmitbestimmung aus der Weimarer Republik, etwa die
Mitbestimmung in der Kali- und der Kohleindustrie, haben heute keinen Bestand mehr. Vgl.
hierzu Köstler et al. 2006, S. 36.

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4 2 Unternehmensmitbestimmung

erwachsen, die nach dem Ende des Kriegs bestand. Während die einen die deutsche
Montanindustrie vor allem als Rückgrat der Kriegswirtschaft der Nationalsozialis-
ten betrachteten, sahen die anderen in den Protagonisten der Schwerindustrie vor
allem Kollaborateure, welche die Unterdrückung der Arbeiterbewegung während
des dritten Reiches befürwortet oder zumindest hingenommen hatten. Für beide
Seiten kam eine Restauration des Status Quo nicht in Frage (Köstler 1987, S. 34 ff.;
Thum 1991, S. 67 f.).
Gleichzeitig waren sich die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer jedoch darin
einig, dass es eine Demontage der deutschen Schwerindustrie, welche die Besat-
zungsmächte beabsichtigten, um jeden Preis zu verhindern gelte. Hieraus ergab
sich eine frühe Kooperation zwischen beiden Seiten, die auf eine starke Einbin-
dung der Gewerkschaften und der betrieblichen Arbeitnehmervertreter setzte. Es
entwickelten sich viele unternehmensspezifische Formen starker Arbeitnehmer-
beteiligung an der Unternehmensleitung, die teilweise sogar auf Vorschläge der
Arbeitgeberseite zurückgingen (Abelshauser 2004, S. 353 f.). Diese Kooperation
bildete die Grundlage für die Verabschiedung des Montanmitbestimmungsgesetzes
(MontanMitbestG) 1951 als Kompromiss zwischen Gewerkschaftsvertretern und
der Bundesregierung (Köstler 1987, S. 47).
Das MontanMitbestG gilt für Eisen und Stahl produzierende Unternehmen
sowie Unternehmen des Bergbaus mit über 1 000 Mitarbeitern. Es sieht die pa-
ritätische Besetzung des Aufsichtsrats mit Vertretern der Arbeitnehmer und An-
teilseigner und zusätzlich die Wahl eines neutralen Mitglieds vor, das im Streitfall
zwischen Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretern vermittelt. Die Größe des
Aufsichtsrats beträgt innerhalb dieses Rahmens zwischen elf und 21 Mitglieder.
Aufseiten der Arbeitnehmervertreter sind dabei sowohl betriebliche als auch ge-
werkschaftliche Vertreter vorgesehen, die jedoch ausnahmslos im Betrieb gewählt
werden müssen. Je nach Größe des Gremiums haben die Gewerkschaften dabei das
Vorschlagsrecht für zwei bis vier Kandidaten.
Darüber hinaus sieht das MontanMitbestG eine Vertretung der Arbeitnehmer
im Vorstand vor. Diese wird über den Arbeitsdirektor sichergestellt, der vollwerti-
ges Mitglied des Vorstands ist und nicht gegen die Stimmen der Arbeitnehmerver-
treter im Aufsichtsrat bestellt werden kann.
Das Montanmitbestimmungsgesetz hat mit dem Niedergang der
Montanindustrie stark an Bedeutung verloren. Über Jahrzehnte war es für die deut-
sche Wirtschaft jedoch prägend – nicht nur, weil es bis heute die stärkste Form der
Arbeitnehmervertretung in Vorstand und Aufsichtsrat vorsieht.
2.1 Rechtlicher Rahmen und Geschichte – ein kurzer Abriss 5

2.1.2 Drittelbeteiligung und Mitbestimmungsgesetz

Die Gewerkschaften hatten sich mit ihrer Forderung nach der Ausweitung des Mon-
tanMitbestG auf sämtliche Branchen im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes
1951 nicht durchsetzen können. So blieb die Mitbestimmung in Unternehmen jen-
seits der Montanindustrie über das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 geregelt.
Dies kann als Vorläufer des heutigen Drittelbeteiligungsgesetzes (DrittelbG) gelten,
da es in Unternehmen ab einer Größe von 500 Mitarbeitern eine Drittelbeteiligung
der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat vorsah.
Diese Situation änderte sich in den siebziger Jahren mit dem Bericht der Bieden-
kopf-Kommission (Mitbestimmungskommission 1970) unter der sozialliberalen
Koalition. Dieser zog eine positive Bilanz der bisherigen Mitbestimmungspraxis
und empfahl hierauf eine Ausweitung der bisherigen Mitbestimmungsgesetzge-
bung. In der Folge wurde im Jahr 1976 das Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) vom
Bundestag verabschiedet, worüber sich die heutigen Debatten um die Unterneh-
mensmitbestimmung praktisch drehen.
Das MitbestG sieht weiter reichende Mitbestimmungsrechte als die Drittelbe-
teiligung vor, jedoch nicht so weitreichende wie die Montanmitbestimmung. Es
kommt in Unternehmen zur Anwendung, die über 2 000 Mitarbeiter haben, jedoch
nicht der Montanmitbestimmung unterliegen. Die Abschwächung gegenüber dem
MontanMitbestG betrifft vor allem drei Punkte, die von gewerkschaftlicher Seite
immer wieder kritisiert wurden (so etwa bei Bamberg et al. 1987, S. 19 f.).
Der erste Punkt betrifft dabei die Besetzung des Aufsichtsrats. Wie im Fall der
Montanmitbestimmung liegt auch hier zunächst eine Parität in der Besetzung vor.
Die Hälfte der Aufsichtsratsmitglieder wird von den Arbeitnehmern gewählt, wo-
bei auch hier die Gewerkschaften Vorschlagsrecht für einen Teil der Kandidaten
haben, die andere Hälfte der Aufsichtsratsmitglieder wird von den Aktionären ge-
wählt. Diese Parität wird jedoch – anders als in der Montanmitbestimmung – nicht
durch ein neutrales Aufsichtsratsmitglied aufgelöst, sondern durch die Einrichtung
eines Doppelstimmrechts des Aufsichtsratsvorsitzenden. Da dieser zudem stets
von der Anteilseignerseite gestellt wird, bedeutet dies in der Konsequenz, dass die
Anteilseignervertreter die Arbeitnehmervertreter potenziell immer überstimmen
können.
Der zweite Punkt betrifft die Stellung des Arbeitsdirektors. Während dieser in
einem montanmitbestimmten Unternehmen nicht gegen den Willen der Arbeit-
nehmervertreter gewählt werden kann, ist dies in einem Aufsichtsrat, der gemäß
MitbestG mitbestimmt ist, durchaus möglich. Wenn dieser hier auch häufig immer
noch Arbeitsdirektor heißt, so handelt es sich praktisch zumeist um einen klassi-
schen Personalvorstand.
6 2 Unternehmensmitbestimmung

Der dritte Punkt betrifft die Vertretung der leitenden Angestellten. Das Mit-
bestimmungsgesetz sieht vor, dass ein Mandat der Arbeitnehmerseite von einem
Vertreter des mittleren Managements besetzt wird, der in der Regel nicht gewerk-
schaftlich organisiert ist und innerhalb des Betriebs nicht vom Betriebsrat vertreten
wird. Der leitende Angestellte hat damit praktisch eine Position, die häufig zwi-
schen den Bänken liegt.
Trotz dieser Einschränkungen im Vergleich mit der Montanmitbestimmung rief
das Mitbestimmungsgesetz starken Widerstand von Arbeitgeberseite und aus der
Politik hervor – obwohl im Bundestag nur 22 Abgeordnete gegen das Gesetz ge-
stimmt hatten (Deutscher Bundestag 1978, S. 16091). So trat die Debatte um das
Gesetz sowie dessen Verabschiedung nicht nur eine ausufernde öffentliche Debatte
hervor (Juncker 2004, S. 728), sondern führte auch zu einer Verfassungsbeschwer-
de, die von einer Koalition aus Wirtschaft und Politik getragen wurde und 1977
eingereicht wurde. In seinem Entscheid vom 1. März 1979 wies das Bundesver-
fassungsgericht diese Beschwerde jedoch ab (BVerfGE 50). Die Mitbestimmung
wurde als verfassungsgemäß angesehen, wobei wesentlich auf die oben genannten
Einschränkungen hingewiesen wurde.
Nach diesem Entscheid des Verfassungsgerichts ebbte die Debatte um die Un-
ternehmensmitbestimmung lange Zeit ab. Es schien, dass die rechtlichen Bedenken
ausgeräumt seien und die Praxis inzwischen „ihren Frieden mit der Arbeitnehmer-
mitbestimmung geschlossen habe“ (Oetker 2000, S. 20). Mit der aufkommenden
Diskussion über gute Corporate Governance Ende der neunziger und zu Beginn
der nuller Jahre brachen jedoch die alten Fronten wieder auf, nur dass die Argu-
mente neue geworden waren. Während die Kritik am Mitbestimmungsgesetz noch
vor allem in juristischen Bedenken bestand, die durch das Bundesverfassungsge-
richt entkräftet worden waren und nicht mehr für eine Opposition gegen die Un-
ternehmensmitbestimmung taugten, bettete sich die Kritik an der Unternehmens-
mitbestimmung nun zunehmend in die Kritik an der Arbeit von Aufsichtsräten im
Allgemeinen ein. Diese waren aufgrund verschiedener Finanzskandale – etwa der
Bilanzskandale bei Holtzbrinck oder der Korruptionsskandale bei Siemens – zu-
nehmend unter Druck geraten.
Während dabei die Corporate-Governance-Kommission das Thema Mitbe-
stimmung noch explizit ausklammerte, wurde in der öffentlichen Debatte die Frage
aufgeworfen, wie effizient die Mitbestimmung sei. So wurde etwa der Punkt auf-
gebracht, dass die Gremien zu groß seien und hierdurch Entscheidungsfindung
verlangsamt werde (etwa Oetker 2000). Die Mitbestimmung schien internationa-
le Investoren abzuschrecken, die Effizienz des Gremiums zu behindern und mit
der europäischen Union nicht mehr kompatibel zu sein, weshalb sie besser in
einen „Konsultationsrat“ überführt werden solle (Berliner Netzwerk Corporate
Governance 2003).
2.1 Rechtlicher Rahmen und Geschichte – ein kurzer Abriss 7

Als Reaktion auf diese Debatte wurde im Jahr 2005 die zweite Biedenkopf-
Kommission von der Bundesregierung gegründet, die wieder von Kurt Bieden-
kopf geleitet wurde. Der Arbeitsauftrag dieser Kommission sah vor, „ausgehend
vom geltenden Recht, Vorschläge für eine moderne und europataugliche Wei-
terentwicklung der deutschen Unternehmensmitbestimmung zu unterbreiten“
(Kommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung
2006, S. 6). Dabei sah sich die Kommission von Anfang an dem Problem ausge-
setzt, mit einer klaren Erwartungshaltung der Politik konfrontiert zu sein, der sich
die Kommission selbst überaus bewusst war. So wird der Koalitionsvertrag der
großen Koalition im Abschlussbericht der Kommission mit der Vorgabe zitiert,
dass das „Erfolgsmodell der deutschen Mitbestimmung […] mit globalen und
europäischen Herausforderungen Schritt halten“ müsse. Weiter heißt es: „Aufga-
be der eingesetzten Regierungskommission unter dem Vorsitz von Professor Dr.
Biedenkopf ist es, ausgehend vom geltenden Recht bis Ende 2006 Vorschläge für
eine moderne und europataugliche Weiterentwicklung der deutschen Unterneh-
mensmitbestimmung zu erarbeiten. Wir werden die – einvernehmlich erzielten
– Ergebnisse der Kommission aufgreifen und, soweit erforderlich und geboten,
Anpassungen der nationalen Unternehmensmitbestimmung vornehmen“ (Christ-
lich Demokratische Union Deutschlands 2005, S. 30 zit. nach Kommission zur
Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung 2006, S. 7). Wie
Raabe (2010, S. 46) bemerkt, begünstigte diese Ausgangslage letztlich, dass die
Kommission nicht zu einem einstimmigen Ergebnis kam, da aufgrund der Vor-
festlegung der Politik „keine Partei unter Druck stand, eigene Positionen zuguns-
ten eines Konsenses aufzugeben.“
Im Resultat blieben die Ausgangspositionen damit erhalten: Auf der einen
Seite sehen die Vertreter der Gewerkschaften die Mitbestimmung als Erfolgs-
modell. Sie sehen keinen wirtschaftlichen Schaden, vielmehr einen wirtschaft-
lichen Nutzen derselben. Entsprechend fordern sie eine gemäßigte Ausweitung
der Mitbestimmung, so etwa eine Stärkung des Arbeitsdirektors, einen weiteren
Gültigkeitsbereich für die paritätische Mitbestimmung gemäß MitbestG und die
Abschaffung der Doppelstimme des Aufsichtsratsvorsitzenden bei Fragen der
inneren Ordnung (Kommission zur Modernisierung der deutschen Unterneh-
mensmitbestimmung 2006, S. 69 ff., S. 77). Die Vertreter der Arbeitgeberverbände
hingegen sehen die Unternehmensmitbestimmung als Nachteil im „Wettbewerb
unterschiedlicher Gesellschaftsrechtssysteme“ (Kommission zur Modernisierung
der deutschen Unternehmensmitbestimmung 2006, S. 57). Sie verhindere die
Ansiedlung internationaler Unternehmen in Deutschland und schaffe Standort-
nachteile für deutsche Unternehmen. Daher wird hier eine Verhandlungslösung
gefordert, bei deren Scheitern die Drittelbeteiligung im Aufsichtsrat greifen solle
(Kommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung
8 2 Unternehmensmitbestimmung

2006, S. 62). Die gemeinsamen Empfehlungen der Kommission beschränken sich


entsprechend auf eine Bereinigung des bestehenden Rechts, die Möglichkeit einer
Verhandlungslösung sowie der Internationalisierung der Arbeitnehmerbank
(Kommission zur Modernisierung der deutschen Unternehmensmitbestimmung
2006, S. 62 ff.).
Die politische Debatte ist mit der Vorlage des Kommissionsberichts somit
weitgehend wieder eingeschlafen. Die Ausgangspositionen bleiben dabei jedoch
erhalten und scheinen auf die Möglichkeit den nächsten Diskurses über die Unter-
nehmensmitbestimmung zu warten.

2.2 Stand der Forschung

Die empirische Forschung zur Mitbestimmung lässt sich grob in zwei große Tra-
ditionslinien einteilen, die einen sehr unterschiedlichen Zugang zu ihrem Gegen-
stand wählen – sowohl hinsichtlich der Fragestellung als auch zumeist hinsichtlich
der Forschungsmethode. Auf der einen Seite steht die industriesoziologische Tra-
ditionslinie, die ihre Ursprünge in den zwanziger Jahren hat.2 Diese fragt zumeist
nach der Einstellung von Arbeitnehmern zu den Institutionen der Mitbestim-
mung oder nach den Möglichkeiten derselben, Arbeitnehmerinteressen durchzu-
setzen. Im Folgenden soll diese als die politische Perspektive bezeichnet werden.
Die zweite Traditionslinie ist wesentlich jüngerer Natur und eng verbunden mit
der Debatte über die wirtschaftlichen Folgen der Mitbestimmung. Sie nimmt eine
ökonomische Perspektive ein und fragt danach, welche Auswirkungen die Insti-
tution der Mitbestimmung auf Faktoren wie Marktwert und Effizienz des Unter-
nehmens hat.
Neben diesen beiden großen Traditionslinien kann noch eine weitere Linie
identifiziert werden, die eine organisationstheoretische Perspektive einnimmt und
nach dem Einfluss auf Entscheidungsprozesse fragt. Die empirischen Studien zur
Unternehmensmitbestimmung sind hier allerdings rar und zumeist über zwanzig
Jahre alt.

2.2.1 Mitbestimmung als Machtstruktur

Die industriesoziologische Mitbestimmungsforschung nimmt ihren Ausgangs-


punkt bei der Perspektive der Arbeitnehmer. Sie ist, wie Kühl (2004a, S. 80) es

2
Als erste bedeutende Studie kann hier die Arbeit Birgl-Matthiaß 1926 gelten.
2.2 Stand der Forschung 9

ausdrückt, implizit dem „gewerkschaftlich organisierten, überwiegend männlichen


deutschen Facharbeiter der Maschinenbau-, Automobil- oder Chemieindustrie“
verpflichtet. Dies drückt sich zunächst in der Wahl des Gegenstandes aus. So sind
die ersten Studien vor allem Meinungsumfragen unter Arbeitern, welche die Ein-
stellung derselben zur Institution der Unternehmensmitbestimmung zu ergründen
suchen (Frankfurter Institut für Sozialforschung 1955; Pirker et al. 1955; Neuloh
et al. 1960; Voigt 1962; Blume 1964; Wagner 1960; Kliemt 1971). Osterloh (1993,
S. 11) nennt diese Arbeiten die „erste Welle“ der Mitbestimmungsforschung in der
Bundesrepublik. Es interessiert hier vor allem, ob die neu geschaffenen Institutio-
nen auf Anerkennung stoßen oder ob sie abgelehnt werden. Werden sie als ange-
messenes Mittel gesehen, Arbeitnehmerinteressen durchzusetzen, erscheinen sie
als unzureichend – oder gar als Unterwanderung der Arbeiterbewegung?
In einer weiter gehenden Studie weiten Popitz et al. (1961) diese Fragestellungen
aus und betten die Einstellung zur Mitbestimmung in ein weiter gefasstes Kon-
zept eines „Gesellschaftsbilds des Arbeiters“ ein. Interessant an dieser Studie – und
das macht sie wohl zu der entscheidenden Arbeit dieser „ersten Welle“ (so schon
Dahrendorf 1963, S. 109) – ist dabei die theoretische Ausgangsposition. Anders als
die meisten Studien dieser Zeit und auch anders als die meisten späteren Arbeiten
speist sich die Arbeit von Popitz et al. aus der philosophischen Anthropologie und
nicht aus dem Marxismus (Fischer 2006, S. 331 f.). Dieser wird selbst als eine Ideo-
logie betrachtet, deren „Verwandlungs- und Anpassungsprozesse“ (Popitz et al.
1961, S. 5) interessieren.
Diese theoretische Bewegung Popitz’ hat sich jedoch in der industriesoziolo-
gischen Mitbestimmungsforschung nicht durchgesetzt, stattdessen näherte sich
die Mitbestimmungsforschung zunehmend der Arbeitnehmerperspektive an. Dies
heißt zweierlei. Im Hinblick auf den Gegenstand war vor allem die Institution der
Mitbestimmung, die den betrieblichen Alltag prägt, von Interesse: die betriebli-
che Mitbestimmung. Die zweite Konsequenz dieser Wegentscheidung ist jedoch
vielleicht noch bedeutsamer, nämlich die Bindung der Forschung an die Perspek-
tive der Arbeitnehmer – und vor allem der Arbeitnehmervertreter: Die Mitbe-
stimmung wird hier als Institution der Interessenpolitik betrachtet, als politische
Institution. Sie wird nicht als Produktivitätsfaktor betrachtet oder als Faktor der
Optimierung interner Prozesse, sondern eben als politischer Sachverhalt, dessen
Erfolg oder Misserfolg interessiert.
In der „ersten Welle“ kam diese implizite Vorannahme darin zum Ausdruck, dass
ausschließlich Arbeitnehmer befragt wurden, während die Perspektive des Manage-
ments die meisten Forscher nicht interessierte,3 da dieses „doch nach verbreiteter

3
Popitz et al. 1961 und Neuloh 1960 stellen hier Ausnahmen dar.
10 2 Unternehmensmitbestimmung

Auffassung lediglich die Imperative der Kapitalverwertung“ (Bosch 1997, S. 22) voll-
zog. Die späteren Studien versuchten, von dieser offensichtlichen Einengung auf die
Perspektive der Arbeitnehmer abzurücken und die Interaktion der Arbeitnehmer-
vertretung mit dem Management zunehmend zu beleuchten. Das Wiederaufleben
marxistischer Strömungen in der empirischen Mitbestimmungsforschung setzte
dabei einer theoretischen Weiterentwicklung enge Grenzen und stellte gleichsam
kaum Mittel bereit, komplexere Aussagen treffen zu können (Deutschmann 2002,
S. 20 f.). Das Resultat war empirische Forschung mit Theorien mittlerer Reichweite
(Kühl 2004a, S. 5 ff.). Der Fokus auf die Arbeitnehmer verschob sich in der Folge
immer weiter in die latenten Grundannahmen der Studien: Es interessierten die
politischen Verhandlungsbeziehungen zwischen Management und Betriebsrat.
Als eine der ersten Studien kann hier die Arbeit von Weltz (1977a, b) gelten, die
den Begriff der „kooperativen Konfliktverarbeitung“ für das Verhältnis von Be-
triebsrat und Management aufbrachte. Für die weitere Forschung kann hier vor
allem die Arbeit von Kotthoff et al. (1981) als prägend angesehen werden. Hier
standen die politischen Interaktionsmuster zwischen Management und Betriebs-
rat im Fokus. In einer qualitativen Studie wurde untersucht, wie diese ausgeprägt
sind. Obwohl als theoretischer Rahmen dabei eine Kommunikationstheorie dienen
soll (Watzlawick et al. 1996), wird klar eine politische Perspektive bezogen. Gegen-
stand der Forschung ist das „Herrschaftsverhältnis“ (Kotthoff 1981, S. 30) zwischen
Betriebsrat und Management. Es wird die Frage gestellt, inwieweit der Betriebsrat
Gegenmacht aufzubauen vermag, um diese Macht des Managements zu komple-
mentieren.
Kotthoff et al. (1981) bauen in der Folge eine Typologie mehr oder weniger er-
folgreicher Betriebsratsarbeit auf, deren Entwicklung in einem Follow-up (Kotthoff
1994) ins Auge genommen wird. Hier wird beobachtet, wie sich die Interaktions-
beziehungen verbessern oder verschlechtern, wo die Betriebsräte mehr Macht auf-
bauen konnten, wo sie Macht verloren haben.
Diese Perspektive und methodische Herangehensweise wurden für die nächsten
Jahrzehnte der industriesoziologischen Mitbestimmungsforschung prägend. Bis
heute entstehen immer wieder interpretative Studien zur betrieblichen Mitbestim-
mung, welche die Ausgangsfrage von Kotthoff (1981; 1994) teilen (etwa Osterloh
1993; Bosch 1997; Kädtler et al. 1997; Bosch et al. 1999; Artus et al. 2001; Minssen
und Riese 2007; Niedenhoff 2007).
In quantitativen Studien wurde eine repräsentative Grundlage gesucht (etwa
Müller-Jentsch und Seitz 1998). Und obwohl dabei das Management zunehmend
in den Blick geriet (etwa bei Böhle 1985; Böhle 1986; Trinczek 1989; Eberwein und
Tholen 1990; Trinczek 1993; Trinczek 2004), ist die industriesoziologische For-
schung auf eine merkwürdige Weise der zweiwertigen Logik verhaftet geblieben
2.2 Stand der Forschung 11

(Bühl 1969): Das Verhältnis von Management und Betriebsrat erscheint hier noch
immer als reine Machtfrage. Entweder schaffen es die Arbeitnehmervertreter
Gegenmacht aufzubauen oder sie versagen hierbei. Entweder erkennt das Manage-
ment die legitime Macht der Arbeitnehmervertreter an oder dies geschieht nicht.
Ob sich dieses Verhältnis aus Perspektive des Managements auch als Ausübung von
Macht und Gegenmacht darstellt, wird dabei ausgeklammert.
Diese Zweiwertigkeit führt immer dann zu Irritationen, wenn sie mit einem
anderen Wertesystem konfrontiert wird. So beobachten etwa Eberwein und Tholen
(1990, S. 268 ff.) offenbar erstaunt, dass Manager Betriebsräte und Gewerkschaften
nicht als legitime, demokratisch gewählte Vertreter der Arbeitnehmer betrachten,
sondern im Hinblick auf die Optimierung der Abläufe im Unternehmen. Ihre Tä-
tigkeit wird nicht als das Ausüben von Gegenmacht begriffen, sondern unter Ge-
sichtspunkten von Effizienz und Nutzen. Während Popitz et al. (1961) mit einer
solchen Beobachtung wohl ohne Weiteres hätten umgehen können, da sowohl aus
einer wissenssoziologischen Perspektive die Interpretation der Mitbestimmung als
Gegenmacht wie auch die Interpretation der Mitbestimmung als Produktivitäts-
faktor gleichsam als Ideologie erscheint, führt die Feststellung, dass Manager die
Mitbestimmung nicht als Gegenmacht auffassen, innerhalb einer rein auf Macht-
strukturen ausgelegten Soziologie zu Irritationen. Der mögliche Schluss ist hier
nur, dass eine solche betriebswirtschaftliche Perspektive nur der Gedankengang
ideologisch verblendeter Technokraten sein kann (Eberwein und Tholen 1990,
S. 296 ff.). Allein die Möglichkeit einer solchen Betrachtung der Mitbestimmung
als Produktivitätsfaktor – selbst wenn sie positiv ausfällt – erscheint schon als ver-
werflich (Müller-Jentsch 2001, S. 208 ff.).
Die Studien zur Unternehmensmitbestimmung, die aus dieser Tradition der em-
pirischen Forschung entstanden, sind weit weniger zahlreich als die Arbeiten zur
betrieblichen Mitbestimmung. Tatsächlich beschränken sie sich vor allem auf zwei
Studien, die im selben Kontext als gewerkschaftliche Auftragsarbeiten zur Bewer-
tung der „Interessenwirksamkeit“ (Bamberg et al. 1984, S. 4) der Unternehmens-
mitbestimmung nach dem MitbestG durchgeführt wurden (Dzielak 1983; Bamberg
et al. 1984; Bamberg et al. 1987). Während sich dabei die erste Studie (Dzielak 1983;
Bamberg et al. 1987) weitgehend auf eine Untersuchung der Interessenwirksamkeit
entlang eines Schemas von mehr/weniger bewegt, weist die zweite Studie (Bamberg
et al. 1987) eine etwas höhere Komplexität auf. Hier wird eine Typologie der Unter-
nehmensmitbestimmung erarbeitet, die sich zwar vollständig auf die Arbeitneh-
merseite bezieht und insofern keine Typologie der Unternehmensmitbestimmung,
sondern der Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat ist, aber dennoch eine der
wenigen aufschlussreichen Quellen über die mitbestimmte Aufsichtsratspraxis dar-
stellt.
12 2 Unternehmensmitbestimmung

Bamberg et al. (1987) stellen wie erwähnt die Frage nach der Durchsetzung
von Arbeitnehmerinteressen und gehen dieser in einer umfangreichen Studie aus
verschiedenen Fallstudien und einer Fragebogenerhebung nach. Dabei erarbeiten
sie eine Typologie von Mitbestimmungspraxen, welche die Interaktion mit dem
Vorstand und den Anteilseignervertretern mitreflektiert, ohne auf Interviews
mit diesen zurückgreifen zu können. Die Arbeitgeber bleiben hier also gleichsam
Kontrastfolie, gegenüber denen sich die Unternehmensmitbestimmung als „Defi-
zitkommunikation“ (Baecker 2007, S. 171 f.) abarbeitet und konstituiert. Festge-
stellt werden dabei fünf verschiedene Typen (Bamberg.1987, 59 ff.). Diese reichen
von einer völlig marginalisierten Praxis – „Mitbestimmung gehört nicht zum Stil
des Hauses“ (S. 62 ff.) – über „Mitbestimmung bedeutet auch Mitverantworten“
(S. 64 ff.) bis hin zu einer konfliktorientierten Mitbestimmungspraxis, die den Auf-
sichtsrat als „Kampfarena“ (S. 73 ff.) begreift.
Bei dieser Analyse tritt ein sehr interessantes Dilemma zutage, das die Grund-
anlage der Unternehmensmitbestimmung betrifft, aber auch in der betrieblichen
Mitbestimmung auftritt. Es handelt sich um die Frage, inwieweit sich Arbeitneh-
mervertreter auf wirtschaftliche Argumente einlassen dürfen, inwieweit sie wirt-
schaftliche Verantwortung übernehmen sollen (vgl. auch Kotthoff 1998; Müller-
Jentsch und Seitz 1998). Dieses Problem tritt vor allem im Typus „Mitbestimmung
bedeutet auch Mitverantworten“ auf und wird von Bamberg et al. (1987) ausführ-
lich unter dem Begriff des Mitmanagements diskutiert.
Auf der einen Seite stellen Bamberg et al. (1987) fest, dass Arbeitnehmervertre-
ter erst dann ernst genommen werden, wenn sie mit ökonomischen Sachverhalten
umzugehen lernen; sie müssen betriebswirtschaftliche Argumente verstehen und
anerkennen können und zugleich ihre eigenen Interessen ökonomisch zu unter-
mauern wissen (S. 243 f.). Auf der anderen Seite stellt sich damit nicht nur das
Problem einer zunehmenden Korruptionsfähigkeit. Vielmehr stellen die Autoren
fest, dass die Übernahme von Mitverantwortung für wirtschaftliche Entscheidun-
gen frühzeitig zum Einlenken der Arbeitnehmervertreter gegenüber dem Manage-
ment führt.
Für die angelegte metatheoretische Position innerhalb der Interpretation der
Mitbestimmung als Machtverhältnis stellt sich diese Mitverantwortung, dieses
Sich-Bewegen innerhalb ökonomischer Sachverhalte, dabei als ein Problem dar: Es
unterminiert die Position der Arbeitnehmervertreter, sie ist quasi nur ein wenig
mehr als eine ideologische Unterwanderung. Wenn ökonomische Kompetenz hier
auf den ersten Blick auch höheren Einfluss zu versprechen vermag, so stellt sich
dieser doch letztlich als vergifteter Apfel heraus, der, einmal genossen, den Willen
zur Gegenmacht bricht (Bamberg et al. 1987, S. 64 ff., 243 ff.).
2.2 Stand der Forschung 13

Die zunehmende Verschränkung von Politik und Wirtschaft aufseiten der


Arbeitnehmervertreter stellt auch die neuere Mitbestimmungsforschung vor Her-
ausforderungen. So beobachtet etwa Höpner (2003) die zunehmende Orientierung
am Konzept des Shareholder-Value und stellt die Frage, welche Auswirkungen dies
auf die Unternehmensmitbestimmung hat. Hier bricht die klassische Dualität von
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, von Kapital und Arbeit auf und stellt sich vielmehr
als Trias dar: Management, Aktionär und Arbeitnehmer verhandeln hier ihre In-
teressen stets neu. Je nach Situation stellen sich neue Machtkonstellationen dar,
Koalitionen zwischen Aktionären und Arbeitnehmervertretern zur Eindämmung
von Managermacht, Koalitionen zwischen Management und Arbeitnehmervertre-
tern zur Bewahrung des Unternehmens gegenüber Eingriffen Externer oder Koali-
tionen zwischen Management und Aktionären zur Effizienzsteigerung des Unter-
nehmens (Höpner 2003, S. 152). Gleichzeitig bleibt hier die reine Interpretation
der Geschehnisse in und um den Aufsichtsrat als Machtverhältnis bestehen; die
wirtschaftliche Orientierung der Arbeitnehmervertreter erscheint entsprechend
auch hier als problematisch, da eine „Verwirtschaftlichung“ der Arbeitnehmerver-
tretung zu drohen scheint (Höpner 2003, S. 195 ff.). Die wirtschaftliche Realität des
Gremiums Aufsichtsrat, seine Verfassung als Gremium der wirtschaftlich verant-
wortlichen Unternehmensleitung wird so weitgehend ausgeblendet, das Dilemma
zwischen Arbeitnehmerinteresse und politischer Interessenvertretung nicht als Di-
lemma, sondern als politisches Problem interpretiert.
Eine andere Möglichkeit des Umgangs mit diesem Dilemma findet die Studie
von Jürgens et al. (2008), indem sie nach den Kompetenzen der Arbeitnehmer-
vertreter fragt. Die Arbeitnehmervertreter werden hier als Bereicherung des Gre-
miums betrachtet, die Qualifikationen und Wissen einbringen, welche von An-
teilseignervertretern nicht eingebracht wird. Implizit wird so eben die Form der
Legitimation gewählt, die Müller-Jentsch (2001, S. 208 ff.) explizit ablehnt: nicht
die demokratische Begründung der Mitbestimmung, sondern eine betriebswirt-
schaftliche, die auf eine gesteigerte Leistungsfähigkeit des Managements durch die
Mitbestimmung setzt.
Diese Perspektive der Forschung macht damit einen Schritt weiter, erkennt die
legitimatorische Dimension der Kompetenz an und spielt so mit der wirtschaftli-
chen Dimension der Unternehmensführung. Gleichzeitig ergibt sich dabei ein an-
deres Problem. Denn was Arbeitnehmervertreter – und nur auf diese bezieht sich
die Studie von Jürgens et al. (2008) – als Kompetenz der Unternehmensführung
betrachten, muss noch lange nicht das sein, was die Anteilseignervertreter und die
Vorstände als Kompetenz sehen. Die Aussparung dieser Perspektive in der Erhe-
bung verdeckt dieses Problem systematisch. Ob nun beabsichtigt oder nicht beab-
sichtigt – die Ergebnisse einer Befragung der Anteilseignervertreter und Vorstände
14 2 Unternehmensmitbestimmung

über die Kompetenz der Arbeitnehmervertreter würde zwangsläufig die Frage auf-
werfen, welche Schlüsse man zu ziehen hätte, wenn nur die Arbeitnehmervertre-
ter sich als kompetent betrachten, diese Betrachtung von den Vorständen jedoch
nicht geteilt wird. Die Beobachtung, dass die Arbeitnehmervertreter sich eine etwas
größer ausgeprägte soziale Kompetenz des Managements wünschen, deutet dieses
Problem nur in Ansätzen an und ist in der Konsequenz jedoch noch recht unprob-
lematisch (Jürgens et al. 2008, S. 165 f.).
Eine neue theoretische Herangehensweise, die eine Integration des Problems
jenseits einer politischen Perspektive zu bieten vermag, zeichnet sich zurzeit je-
doch kaum ab. Das Problem wird zwar gesehen. Auch werden durchaus Alter-
nativen ventiliert – etwa die Theorie funktionaler Differenzierung als Möglichkeit
aufgeworfen (Deutschmann 2002, S. 26; Kühl 2004a, S. 148 ff.), ohne dass diese
jedoch tatsächlich Anwendung findet. Vielmehr wird weiterhin die Frage nach
dem Einflusspotenzial der Arbeitnehmervertreter gestellt (Höpner und Müllen-
born 2010).

2.2.2 Mitbestimmung als ökonomischer Faktor

Während in den siebziger Jahren noch vor allem rechtliche Argumente als Kritik
an der Unternehmensmitbestimmung vorgetragen wurden, die jedoch mit dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 01.03.1979 ausgeräumt worden waren,
kam vor allem in den neunziger Jahren die Frage nach den wirtschaftlichen Fol-
gen der Unternehmensmitbestimmung auf. Von dieser Frage ausgehend entstand
ein neuer Zweig in der Mitbestimmungsforschung, der eben jener Frage nachging.
Die Fragestellungen nach den Prozessen innerhalb des Aufsichtsrats oder dem
Einflusspotenzial der Arbeitnehmervertreter wurde hier vollständig ausgeklam-
mert. Stattdessen entstanden Ende der achtziger Jahre die ersten ökonometrischen
Analysen der Mitbestimmung, die nach dem Zusammenhang verschiedener wirt-
schaftlicher Kennzahlen mit dem Faktor Mitbestimmung fragten.
Wie auch bei der klassischen Industriesoziologie liegt der Fokus der Betrach-
tungen bei der Frage nach den wirtschaftlichen Folgen der Mitbestimmung auf der
betrieblichen Mitbestimmung. Der Umfang der Studien ist, so scheint es, von den
Anfängen (etwa FitzRoy und Kraft 1985; FitzRoy und Kraft 1993; Schnabel und
Wagner 1992) exponentiell gewachsen. Die Anzahl der Studien hat hier ebenso zu-
genommen wie die Größe der untersuchten Stichproben, sodass inzwischen sogar
die Überblicksliteratur den Umfang kleiner Monographien annimmt und beinahe
im Jahrestakt der Aktualisierung bedarf (zuletzt etwa Addison et al. 2004; Jirjahn
2006; Jirjahn 2010).
2.2 Stand der Forschung 15

Dabei haben sich neben der Menge und dem Umfang der Studien auch die
Fragestellungen immer weiter ausgeweitet. So stand zu Beginn der Untersuchung
der Auswirkungen von Betriebsräten vor allem Faktoren wie die Produktivität
von Unternehmen und die Lohnentwicklung im Vordergrund (FitzRoy und Kraft
1985; FitzRoy und Kraft 1993). Es wurde der Zusammenhang zwischen betrieb-
licher Mitbestimmung und der Innovativität von Unternehmen ebenso untersucht
(Schnabel und Wagner 1992; Addison et al. 1997; Jirjahn 1998) wie der Zusammen-
hang von derselben mit Personalfluktuation (etwa Frick und Sandowski 1995). Die-
se Fragestellungen wurden – und werden – fortgeführt, aber zunehmend erweitert
und differenziert (als ausführliche Übersicht Jirjahn 2010). Die Ergebnisse dieser
Studien sind dabei durchaus heterogen. In einigen Punkten scheint jedoch inzwi-
schen Einigkeit zu bestehen. So lässt sich wohl eine positive Auswirkung der be-
trieblichen Mitbestimmung auf Löhne und Produktivität feststellen. Jirjahn (2010,
S. 19 f.) kommt darüber hinaus mit dem Verweis auf Zwick (2007), Mohnweiser
(2009) und Müller (2009) zu dem Schluss, dass sich eine positive Auswirkung auf
die Profitabilität von Unternehmen feststellen lässt, während eine Vielzahl anderer
Studien dies nicht nahelegen (etwa Jirjahn 1998; Addison et al. 2001; Dilger 2002;
Renaud 2008).
Die ökonometrischen Studien zur Unternehmensmitbestimmung sind weit
weniger zahlreich als die Arbeiten zur betrieblichen Mitbestimmung, sind in der
Fragestellung jedoch zumeist ähnlich angelegt. So ist etwa auch hier die Frage
nach der Auswirkung auf die Produktivität zentral. Die typische Herangehens-
weise besteht hier in einer Beobachtung der Umsatzentwicklung vor und nach der
Einführung der Mitbestimmungsgesetzgebung von 1976. Als Vergleichsgruppe
dienen Unternehmen, die aufgrund ihrer Größe nur in den Bereich der Drittel-
mitbestimmung fallen. FitzRoy (2005) sowie Renaud (2007) kommen hier unter
Hinweis auf einige methodische Unsicherheiten der eigenen Studie zu einem posi-
tiven Schluss, während FitzRoy und Kraft (1987) einen negativen Effekt feststellen
– wobei letztere Studie starke Kritik ob ihrer Anlage erfahren hat (Junkes und
Sandowski 1999).
Neben der Frage nach der Auswirkung der Unternehmensmitbestimmung auf
die Produktivität stellt sich im Fall der Unternehmensmitbestimmung in beson-
derem Maß die Frage nach dem Einfluss auf Rendite und Kapitalmarktwert des
Unternehmens (vgl. zur Übersicht Jirjahn 2010, S. 40 ff.; Raabe 2010, S. 68 ff.). Die
ersten Studien sind hier schon Ende der achtziger Jahre durchgeführt worden, ohne
jedoch zu einem einheitlichen Ergebnis zu gelangen. So führten Benelli und Lo-
derer (1987) sowie Gurdon (1990) Mittelwertvergleiche für die Zeit vor und nach
der Einführung der paritätischen Mitbestimmung nach dem MitbestG 1976 durch.
Während Benelli und Loderer (1987) dabei zu keinen eindeutigen Ergebnissen
16 2 Unternehmensmitbestimmung

kamen, stellte Gurdon (1990) eine Erhöhung der Rendite nach 1976 fest. Aufgrund
kleiner Stichproben, fehlender Kontrollvariablen und relativ einfacher statistischer
Verfahren gelten beide Arbeiten jedoch nicht mehr als aktuell (so Jirjahn 2010,
S. 40; Raabe 2010, S. 55).
Neuere und methodisch solidere Arbeiten kommen jedoch nicht zu eindeutige-
ren Schlüssen. So stellt etwa eine Gruppe verschiedener Arbeiten einen negativen
Zusammenhang zwischen Shareholder-Value und Unternehmensmitbestimmung
fest (FitzRoy und Kraft 1993; Schmidt und Artus 1998; Gorton und Schmid 2004).
Andere Arbeiten legen hingegen einen anderen Schluss nahe, wobei teilweise mit
sehr kreativen Hypothesen gearbeitet wird. So nimmt etwa Kraft (2001) an, dass die
Unternehmensmitbestimmung mitunter zu Überbeschäftigung führt, da Arbeitneh-
mervertreter für ein hohes Beschäftigungsniveau oder doch zumindest gegen Stel-
lenabbau eintreten. Aus den hieraus folgenden Überkapazitäten schließt Kraft (2001)
jedoch nicht, dass diese einen negativen Impact auf die Rendite des Unternehmens
haben, sondern unter Umständen einen positiven haben können, da eine offensivere
Marktstrategie betrieben wird, die unter Umständen Konkurrenten verdrängt. Ande-
re Studien (Fauver und Fuerst 2006; Kraft und Ugarkovic 2006; Vitols 2006; Renaud
2007) nehmen hier einen direkteren Weg und stellen gar keinen Effekt der Unterneh-
mensmitbestimmung (Vitols 2006) oder einen positiven Effekt fest (Fauver und Fu-
erst 2006; Kraft und Ugarkovic 2006; Renaud 2007). Besondere Beachtung erhalten
dabei die Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat. So stellen etwa Fauver und Fuerst
(2006) fest, dass die Anwesenheit von Gewerkschaftsvertretern im Vergleich zu ande-
ren Arbeitnehmervertretern eine negative Auswirkung auf die Unternehmensrendite
hat. Vitols (2008) hingegen kann keine negative Auswirkung von Gewerkschaftsver-
tretern auf die Performance des Unternehmens am Aktienmarkt feststellen. In jedem
Fall, so scheint es, lässt sich für jeden Schluss die richtige Studie finden.
Neben der Auswirkung der Unternehmensmitbestimmung auf Produktivität
und Aktienmarktperformance sind vereinzelte Studien zu verschiedenen anderen
Themenbereichen entstanden. So wurden etwa die Auswirkungen der Unterneh-
mensmitbestimmung auf das Investitionsverhalten (Zugehör 2003) – mit nicht
signifikantem positivem Ergebnis –, auf die Innovationsfähigkeit eines Unterneh-
mens (Kraft und Stank 2004) und auf die Personalpolitik (Werner und Zimmer-
mann 2005) – hier mit negativem Schluss – durchgeführt. Dabei scheint auffällig,
dass, sobald nur genügend Studien zu einem Themenbereich durchgeführt wor-
den sind, für jede Position die richtigen Ergebnisse gefunden werden können – sei-
en dies nun positive, negative oder gar keine Effekte. Der überaus positive Schluss
von Jirjahn (2010, S. 51 f.) scheint in Anbetracht dieser Tatsache recht optimistisch
gegenüber den nahezu unbeschränkt positiven wirtschaftlichen Wirkungen der
Unternehmensmitbestimmung. Vielmehr scheint der Schluss von Raabe (2010)
2.2 Stand der Forschung 17

und der letzten Biedenkopf-Kommission (Kommission zur Modernisierung der


deutschen Unternehmensmitbestimmung 2006, S. 15) der Sachlage angemessener
zu sein: Die Komplexität des Gegenstandes scheint durch ökonometrische Studien
nicht annähernd fassbar zu sein, die Ergebnisse sind entsprechend mit Vorsicht zu
betrachten.

2.2.3 Prozesse der Organisation

Neben diesen beiden Strängen der empirischen Forschung hat es immer wieder
Versuche gegeben, sich den Prozessen innerhalb des Aufsichtsrats mit der Frage des
Einflusspotenzials der Arbeitnehmervertreter anzunähern. Diese Fragestellung ist
zwar sehr ähnlich gelagert wie die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der
Interessenvertretung, welche die Industriesoziologie stellt. Sie unterscheidet sich
jedoch dahingehend, dass sie von dem Aufsichtsrat als Gremium der Unterneh-
mensführung ausgeht und die Frage stellt, welche Rolle die Arbeitnehmervertreter
hier spielen.
Als erste Studie in diesem Kontext ist die Arbeit von Brinkmann-Herz (1972)
zu nennen, die nach dem Einflusspotenzial der Arbeitnehmervertreter in montan-
mitbestimmten Aufsichtsräten fragt. Anders als etwa die Studien von Bamberg et al.
(1984; 1987) beschränkt sich Brinkmann-Herz (1972) nicht auf die Perspektive der
Arbeitnehmervertreter, sondern nimmt den Aufsichtsrat als Ganzes in den Blick.
Es interessiert hier zunächst die Frage, wie der Aufsichtsrat arbeitet und welchen
Einfluss er als gesamtes Gremium überhaupt hat. Dies geschieht über den Entschei-
dungsbegriff: Einfluss ist hier die Möglichkeit der Einflussnahme auf Unterneh-
mensentscheidungen.
Die Arbeit macht sich, ausgehend von dieser Annahme, an eine minutiöse Re-
konstruktion der Entscheidungsprozesse in montanmitbestimmten Aufsichtsräten,
die in der Literatur so später nicht wiederzufinden ist. Brinkmann-Herz (1972) ge-
langt hier sehr nah an die Prozesse des Gremiums. Sie beobachtet die hohe Be-
deutung informeller Kontakte (S. 74 ff.), die Einrichtung weitgehender Kommu-
nikationsschranken zwischen Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretern und
den Vorständen, die nur durch einzelne, genau definierte Personen durchbrochen
werden (S. 134 ff.). Sie beobachtet die offene Diskussion in Ausschüssen im Ver-
gleich zu einem rein rituellen Charakter der Aufsichtsratssitzungen selbst (78 ff.).
Diese Beschreibung macht die Arbeit von Brinkmann-Herz (1972) zu einer Aus-
nahme, deren Gegenstandsnähe von folgenden Studien nicht mehr erreicht worden
ist. Gerade auf dem Hintergrund der Ergebnisse der vorliegenden Arbeit erschei-
nen ihre Ergebnisse immer noch als sehr aktuell und in weiten Teilen von dem
18 2 Unternehmensmitbestimmung

montanmitbestimmten Aufsichtsrat auf den paritätisch mitbestimmten Aufsichts-


rat übertragbar.
Leider bleibt die Studie fast ausschließlich deskriptiv. Es gelingt ihr nur zu Tei-
len, die Vielzahl der Beobachtungen schlüssig zu integrieren und in einen funktio-
nalen Zusammenhang zu stellen, der über die Selbstbeschreibung des Gegenstands
hinausweist.
Gleichwohl schafft es keine Studie, die in der Fragestellung an Brinkmann-Herz
anschließt, diese Nähe zum Gegenstand wiederzugewinnen. Zumeist handelt es
sich um quantitative Studien, die mit geschlossenen Fragebögen den Versuch unter-
nehmen, sich ihrem Gegenstand zu nähern (so etwa Witte 1980 und Kirsch et al.
1984). So bleiben die Arbeiten in der Regel, wie die ersten Arbeiten der industrie-
soziologischen Forschung, dabei stehen, die Selbst- und Fremdeinschätzung von
Arbeitnehmervertretern zu erheben. Zu den Prozessen innerhalb des Gremiums
gelangen sie in der Regel nicht (Knuth 1982).
Andere Arbeiten entfernen sich sogar von dieser Form der Empirie und be-
schränken sich auf die Analyse von Geschäftsberichten, institutioneller Rahmenbe-
dingungen (so etwa Bartölke et al. 1982; Steinmann et al. 1985; Gerum et al. 1988;
Gerum 2007) oder untersuchen die Einhaltung letzterer (Theisen 1987).
Einzig die Arbeit von Raabe (2010) unternimmt wieder den Versuch, etwas
über die Praxis der mitbestimmten Aufsichtsratsarbeit anhand qualitativer Inter-
views zu erfahren. Die Studie beschränkt sich dabei zum einen nicht auf die Frage
nach der „Interessenwirksamkeit“ der Mitbestimmung und zum anderen nicht auf
Arbeitnehmervertreter als Quelle. Gleichzeitig weist sie jedoch eine Fragestellung
auf, die sehr nah an der Selbstbeschreibung des Feldes selbst liegt und wenig theo-
retisch reflektiert ist. Sie fragt danach, „wie das Mitbestimmungssystem tatsächlich
funktioniert und ob es zu jenen vielfach unterstellten systemimmanenten Proble-
men führt“ (Raabe 2010, S. 10). Da im gesamten Verlauf der Studie unklar bleibt,
was „tatsächlich funktioniert“ heißen soll, wird praktisch eine qualitative Umfra-
ge unter den Aufsichtsräten und Personen durchgeführt, die als Experten im Feld
gelten. Gefragt wurde dabei nach Themen, die in der öffentlichen Diskussion als
Problemdimension der Unternehmensmitbestimmung gelten, etwa die Vertrau-
lichkeit der Aufsichtsratsarbeit, die Bedeutung von Größe und Zusammensetzung
des Gremiums sowie die Folgen der Trennung des Gremiums in Arbeitnehmer-
und Anteilseignervertreter (S. 110 f.). Da die Interviews zudem rein inhaltsana-
lytisch ausgewertet worden sind, ist das Resultat letztlich auch eine Erhebung der
Selbstbeschreibung von Aufsichtsräten. Die Ergebnisse der Studie sind entspre-
chend keine Antwort nach dem „Wie“ der Aufsichtsratsarbeit, sondern eine Zu-
sammenfassung der Probleme und Optimierungsmöglichkeiten, die eine Mehrzahl
der befragten Aufsichtsräte sehen.
2.3 Zwischenfazit: Unbekannte Aufsichtsratsarbeit 19

2.3 Zwischenfazit: Unbekannte Aufsichtsratsarbeit

Der erste offensichtliche Schluss, der sich auf dem Hintergrund des bisher Gesag-
ten ziehen lässt, ist die Tatsache, dass es immer noch so gut wie keine Erkenntnisse
über das „Wie“ der mitbestimmten Aufsichtsratspraxis gibt. Die wenigen Studien,
die sich diesem Thema widmen, haben zumeist eines oder mehrere der folgenden
Probleme: Sie sind nicht mehr aktuell (Brinkmann-Herz 1972; Witte 1980; Bart-
ölke et al. 1982; Kirsch et al. 1984; Bamberg et al. 1984; Bamberg et al. 1987), sie
beschränken sich nahezu ausschließlich auf die Perspektive der Arbeitnehmerver-
treter und auch nur auf Quellen aus der Arbeitnehmervertretung (Bamberg et al.
1984; Bamberg et al. 1987; Jürgens et al. 2008) oder sie erreichen die Aufsichtsrats-
arbeit aus methodischen Gründen nicht, weil sie sich auf die Selbstbeschreibung
der Befragten oder institutionelle Rahmen beziehen (besonders ausgeprägt bei
Witte 1980; Bartölke et al. 1982; Kirsch et al. 1984; Gerum et al. 1988; Gerum 2007;
Jürgens et al. 2008). Die Praxis der Aufsichtsratsarbeit bleibt damit weitgehend
unentdecktes Terrain. Wenn sie tatsächlich beschrieben wird, dann verharrt diese
Beschreibung häufig auf der Ebene der Selbstbeschreibung der Befragten (Raabe
2010).
Abgesehen von diesem Sachverhalt stellt sich gerade im Hinblick auf die in-
terpretative Forschung über die Unternehmensmitbestimmung das Problem eines
ausgeprägten Theoriedefizits (Kühl 2004a, S. 5 ff.; Deutschmann 2002, S. 18 ff.),
da es vor allem eine solche Herangehensweise ist, die einen Zugang zur Aufsichts-
ratspraxis verspricht. Wenn man so möchte, handelt es sich um das Problem eines
mangelnden Substituts für eine marxistisch geprägte Soziologie. Das Problem der
industriesoziologischen Mitbestimmungsforschung ist in diesem Sinne ihre Zwei-
wertigkeit (Bühl 1969): Sie begreift die Mitbestimmung stets nur als Machtprob-
lem und stellt ausschließlich die Frage nach einer erfolgreichen oder erfolglosen
Mitbestimmungspraxis im Aufsichtsrat (zuletzt Höpner und Müllenborn 2010).
Damit reduziert sie die Aufsichtsratsarbeit auf Mitbestimmung und ökonomisch
orientierte Unternehmensführung auf Machtausübung. Der Aufsichtsrat ist hier
eine kontingente Arena für die Austragung eines Interessenkonflikts (so explizit
etwa Bamberg et al. 1984, S. 8). Dabei übersieht sie, dass der Aufsichtsrat als Gre-
mium der Unternehmensführung zunächst einmal Teil einer Organisation ist, die
verschiedene Probleme zu bearbeiten hat. Darunter sind auch politische Probleme
– doch sind es eben nicht nur politische Probleme (vgl. Kühl 2004a, S. 101 ff.). Hier
ist die industriesoziologische Perspektive quasi komplementär zu einer ökonomi-
schen Perspektive zu betrachten, die sich auf die Frage nach den wirtschaftlichen
Folgen der Mitbestimmung beschränkt.
20 2 Unternehmensmitbestimmung

Diese Ausgangssituation macht deutlich, dass es – sieht man einmal von den
forschungspraktischen Problemen ab – auch aus theoretischen und methodischen
Gründen nicht ohne Weiteres möglich ist, sich der Aufsichtsratspraxis zu nähern.
Die Gefahr, den wissenschaftlichen „Eigensinn“ (Schumann 2003, S. 170) zu verlie-
ren, ist nicht unbeträchtlich. Dies kann, wie etwa im Fall von Bamberg et al. (1987),
durchaus bewusst und geplant geschehen oder ungeplant, wie im Fall von Raabe
(2010) aufgrund methodischer und theoretischer Defizite, die eine Verwechselung
der Aufsichtsratspraxis mit der Selbstbeschreibung von Aufsichtsräten zur Folge
hatte.
Für die vorliegende Studie heißt dies zweierlei. Zunächst darf die Selbstbeschrei-
bung der Befragten nicht mit der Aufsichtsratsarbeit selbst verwechselt werden.
Vielmehr muss eine methodisch kontrollierte Distanz zu eben dieser Selbstbe-
schreibung aufgebaut werden, damit eine Aussage über diese Arbeit getroffen wer-
den kann.
Darüber hinaus muss ein theoretischer Rahmen gewählt werden, der das The-
oriedefizit der bisherigen interpretativen Mitbestimmungsforschung aufzufangen
vermag. Dieser darf weder die Perspektive der Arbeitnehmervertretung wählen,
einen mitbestimmten Aufsichtsrat als Machtstruktur interpretieren und nach der
Ausformung der Gegenmacht fragen. Noch darf er aus einer wirtschaftlichen Per-
spektive die Frage nach der Prozesseffizienz oder wirtschaftlichen Folgen stellen.
Vielmehr muss er in einem Grad Eigen- und Widersinnigkeit bewahren, dass er
selbst im Feld „ketzerisch“ (Kühl 2004b, S. 14) wird – und dies nicht nur aufseiten
der Arbeitnehmervertreter oder Arbeitgeber, sondern auf beiden Seiten.
Anlage der Studie
3

Die vorliegende Studie geht von der Beobachtung aus, dass die bisherige Debatte
über die Unternehmensmitbestimmung weitgehend ohne Wissen über die gelebte
Praxis ebendieser geführt wird: Es werden Positionen eingenommen, angegriffen,
verteidigt, modifiziert – ohne dass es eigentlich wissenschaftliche Erkenntnisse da-
rüber gibt, wie die Unternehmensmitbestimmung in der Praxis gelebt wird. Welche
Probleme tauchen hier auf? Unter welchen Rahmenbedingungen ändern sich diese
Probleme? Welche Formen der Bearbeitung für diese Probleme werden gefunden?
Unter welchen Rahmenbedingungen variieren die Formen der Bearbeitung? Ge-
nau diesen Fragen soll daher hier nachgegangen werden.
Es wird eine rekonstruktive Ausgangsposition eingenommen (vgl. Bohnsack
1998), die den Aufsichtsrat als Teil einer Organisation begreift und danach fragt,
welche Probleme sich als funktionale Bezugsprobleme aus seiner Praxis heraus-
stellen. Es geht in diesem Sinne nicht darum, diese Probleme ex ante zu definieren
und den Aufsichtsrat auf Fragen der zuvor definierten Prozesseffizienz oder des
Aufbaus von Macht und Gegenmacht zu reduzieren. Vielmehr geht es darum, das
Organisieren selbst als kreativen Prozess zu beschreiben, der seine Zwecke, Erklä-
rungen, Selbstbeschreibungen und Rationalitäten erst im Vollzug dieser Praxis pro-
duziert (Weick 1985). In der Forschung geht es entsprechend darum, genau diese
Sinnbezüge, dieses rekursive „sensemaking“ nachzuverfolgen und zu rekonstruie-
ren. „Vor allem geht es darum, Organisationen von ihrer Eigenlogik her zu rekons-
truieren. Sie hat damit zu rechnen, dass sich nicht nur eine Logik der Organisation
zeigt, sondern dass – je nach Lagerung der Bezugsprobleme und organisationalen
Umwelten, denen Organisationen ausgesetzt sind – verschiedene Formen und Lö-
sungen möglich sind“ (Vogd 2009a, S. 8).
Eine rekonstruktive Forschung steht im Fall von Organisationen vor besonderen
Problemen, die im Fall anderer Gegenstände so nicht auftreten. Denn eine Organi-
sation ist nicht einfach ein Ort, den man betritt. Es handelt sich nicht einfach um

T. Jansen, Mitbestimmung in Aufsichtsräten, 21


DOI 10.1007/978-3-658-01432-2_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
22 3 Anlage der Studie

ein bestimmtes Milieu, eine bestimmte Kultur oder eine bestimmte Gruppe. „Vom
Sinnbegriff her entfaltet ist ‚Organisation‘ (nur) ein hochabstraktes relationales Ge-
bilde einer spezifischen Form des Sinnprozedere“ (Vogd 2009a, S. 9), das man nur
allzu schnell zu übersehen vermag, wenn man keinen klaren Begriff hiervon hat.
So lassen sich „in“ Organisationen verschiedenste Sinnstrukturen entdecken. Denn
Organisationen sind hinsichtlich der latenten Orientierungen der beteiligten Ak-
teure diverser, anders als etwa Milieus.
Man vermag hier etwa Milieu-, Geschlechter-, Generations- und weitere Typi-
ken zu bilden. Man vermag resignierte Mitarbeiter zu beobachten, die ihre Karriere
schon längst aufgegeben haben, und Karrieren, die aufgrund von Einstecktüchern
gemacht wurden. Man kann die Dekoration der Kaffeeküche beobachten und Iden-
tifikation des Betriebsrats mit einer bestimmten Fußballmannschaft (vgl. Vogd
2009a, S. 9 f.). Gerade im Fall von Aufsichtsräten wäre eine solche Zurechnung
jedoch fatal. Aufsichtsräte sind episodische Gremien (Forbes und Milliken 1999,
S. 491 f.), sie treffen sich nur wenige Male im Jahr. Sie weisen eine hohe Personal-
fluktuation auf. Darüber hinaus sind sie jedoch – zumindest im vorliegenden Fall
– mitbestimmt. Während ein Teil der Aufsichtsratsmitglieder zumeist aus einer gut
vernetzten Managementelite stammt (Heinze 2002), besteht der andere Teil aus Ar-
beitnehmervertretern, die eine vollständig andere Karriere hinter sich haben. Die
Vielzahl an Erfahrungsräumen, auf die man hier trifft, ist kaum zu überschauen.
Daher läuft man in der Analyse leicht Gefahr, die spezifischen Praxen der Organi-
sation zu übersehen (Vogd 2009a).
Eine „rekonstruktive Organisationsforschung“ (Vogd 2009a) kann diesem Pro-
blem nur begegnen, wenn sie einen metatheoretisch definierten Begriff ihres Ge-
genstands hat. Dieser muss eine ausreichende Distanz zum Gegenstand gewährleis-
ten, ohne diesen jedoch theoretisch soweit zu überformen, dass eine Rekonstrukti-
on organisationaler Praktiken nicht möglich ist. Es muss ein Organisationsbegriff
angelegt werden, der den rekonstruktiven Blick auf die Spezifika organisationaler
Probleme fokussiert, ohne dabei gegenstandstheoretisch eine Festlegung zu tref-
fen (vgl. Vogd 2009a, S. 10) – etwa im vorliegenden Fall sämtliche Prozesse als
Machtprozesse aufzufassen und unpassende Beobachtungen im Feld nur noch als
Ideologie enttarnen zu können.
Daher soll für den vorliegenden Fall mitbestimmter Aufsichtsräte zunächst in
diesem Sinne metatheoretisch bestimmt werden, was eigentlich der Gegenstand
der vorliegenden Untersuchung ist. Was ist gemeint, wenn von mitbestimmten
Aufsichtsräten die Rede ist? Worin werden die Spezifika der Mitbestimmung ge-
sehen? Daran angeschlossen werden soll eine kurze Vorstellung der angewandten
Methode einer rekonstruktiven Organisationsforschung und des vorliegenden
Datenmaterials, das als Grundlage für die Untersuchung dient. Die Brücke zum
3.1 Entscheidungen unter polykontexturalen Bedingungen 23

eigentlichen Ergebnisteil schlägt dann ein kurzer Abschnitt zu den Besonderheiten


des vorliegenden Gegenstands, zu den Grenzen der Analyse und zu einigen Punk-
ten, die demjenigen Leser, der mit dem Gegenstand vertraut ist, bei der Lektüre der
Ergebnisse vielleicht Fragen aufwerfen.

3.1 Entscheidungen unter polykontexturalen Bedingungen

Die vorliegende Studie stellt die Frage nach der mitbestimmten Aufsichtsratsarbeit.
Sie interessiert sich dafür, wie mitbestimmte Aufsichtsräte arbeiten, welche Prob-
leme dabei aufgeworfen werden und wie diese Probleme gelöst werden. Mit dieser
Fragestellung ist schon insofern eine Wegentscheidung getroffen, als dass weder
nach der Wirtschaftlichkeit der Unternehmensmitbestimmung noch nach ihrer
„Interessenwirksamkeit“ (Bamberg et al. 1984, S. 4) gefragt wird, sondern nach
der Praxis des Aufsichtsrats selbst. Das Gremium als Einheit wird Gegenstand der
Untersuchung.
Damit knüpft die vorliegende Studie an den Vorschlag von Kühl (2004a, S. 79 ff.)
an, auf die theoretischen Probleme der Arbeits- und Industriesoziologie zu reagie-
ren, indem die Ausgangsposition vom Klassenkonflikt (oder auf Seite der Betriebs-
wirtschaft spiegelbildlich vom Effizienzbegriff) auf den Begriff der Organisation
umgestellt wird. Der Aufsichtsrat wird also als Gremium betrachtet, das zur Orga-
nisation gehört und für dieselbe bestimmte Funktionen (im Sinne von Bateson
1981 und/oder Luhmann 1970a; Luhmann 1970b) erfüllt. Diese liegen laut § 111
AktG in der Bestellung, Überwachung und Beratung des Vorstands – was über die
tatsächliche Praxis und die Bezugsprobleme des Aufsichtsrats als Gremium der Or-
ganisation jedoch zunächst nicht viel aussagt.
Um den Gegenstand etwas weiter spezifizieren zu können und auf diesem Weg
etwas mehr Distanz zur juristischen Fremdbeschreibung des Aufsichtsrats und ei-
nigen weiteren Selbstbeschreibungen (etwa den Entsprechenserklärungen gemäß
des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) oder dem Bericht des Auf-
sichtsrats im Abschlussbericht) zu gewinnen, soll jedoch eine allgemeinere Bestim-
mung des Aufsichtsrats als Stelle in der Organisation vorgenommen werden. Denn
wer sagt, dass etwa in einem Familienunternehmen tatsächlich der Aufsichtsrat den
Vorstand bestellt und überwacht, nicht eher die Familie? Auch sind Praxen denk-
bar, die das Verhältnis von Aufsichtsrat und Vorstand umkehren, der Vorstand sich
also eher seinen Aufsichtsrat bestellt und diesen austauscht, wenn er nicht passt.
Selbst- und Fremdbeschreibungen des Gremiums aus dem Feld sollen so zwar zu-
nächst ernst genommen werden. Jedoch muss die Möglichkeit eingeräumt werden,
24 3 Anlage der Studie

dass es sich eben um nichts anderes als um Fremd- und Selbstbeschreibungen


handelt.
Daher soll an dieser Stelle einem weiteren Vorschlag aus der arbeits- und
industriesoziologischen Debatte gefolgt und der Gegenstand des mitbestimmten
Aufsichtsrats dem „systemtheoretischen Infekt“ (Braczyk et al. 1982, S. 19) ausge-
setzt werden (so Deutschmann 2002, S. 26; 9 f.). Dieser bietet Antworten auf zwei
bisher angesprochene Probleme. Zum einen liefert die neuere Systemtheorie eine
Organisationstheorie, die abstrakt und allgemein genug ist, dass sie keine (oder
kaum) gegenstandstheoretische Bestimmung vornimmt (etwa Baecker 1999a;
Baecker 1999b; Luhmann 2000b). Sie bietet einen Rahmen, der den rekonstruk-
tiven Blick auf organisationale Praxen erlaubt und dabei der Reduktion des Be-
obachteten auf eine Kultur, ein Milieu oder Ähnliches vorbeugt. Darüber hinaus
bietet die Systemtheorie noch eine Antwort auf eines der derzeitigen Probleme
der Mitbestimmungsforschung: Sie erlaubt ein gesellschaftstheoretisches Framing
der Ergebnisse, eine gesellschaftstheoretische Anreicherung und Rückbindung
des Beobachteten, ohne dabei jedoch gleichzeitig eine inhaltliche Determination
vorzunehmen, wie dies marxistische Traditionen tun. Vielmehr steht hier die Ge-
sellschaftstheorie als Reservoir analytischer Instrumente bereit, auf das zurück-
gegriffen werden kann (etwa Luhmann 1988; Luhmann 1990; Luhmann 1998;
Luhmann 2000a).

3.1.1 Organisationen als Entscheidungssysteme

Luhmann (1981; 2000b) konstruiert seinen Organisationsbegriff über den Begriff


der Entscheidung. Diesen lehnt er dabei an das Diktum Heinz von Foersters an,
dass nur „die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind“, zu entscheiden seien.
Denn „die entscheidbaren Fragen sind ja schon entschieden, und zwar durch die
Spielregeln, in denen Fragen und Regeln der Beantwortung bestimmt sind“ (von
Foerster 1989, S. 30). Entscheidungskommunikationen – denn auf diese kommt
es Luhmann (1981, S. 339) an, seien „Ereignisse, die sich selbst als kontingent
thematisieren“.
Praktisch heißt das, dass sich Entscheidungen als kontingente Auswahl aus ei-
nem Horizont möglicher Alternativen konstituieren. So mag im Aufsichtsrat etwa
die Frage auftauchen, ob ein neuer Standort geschaffen wird, an dem ein spezifi-
sches Produkt hergestellt werden soll. Die Alternative, dass man bei den bisherigen
Standorten bleibt, deutet sich in dieser Frage bereits an und aktualisiert sich, sobald
es eine Diskussion über Pro und Kontra gibt. Der neue Standort, so könnte argu-
mentiert werden, würde höhere Produktionskapazitäten bieten und kürzere Wege
3.1 Entscheidungen unter polykontexturalen Bedingungen 25

zum Hauptabnehmer gewährleisten. Auf der anderen Seite stellt er jedoch auch eine
Gefahr für das Unternehmen dar. Sollte das Produkt nicht wie geplant abgesetzt
werden können, würde er sich als Fehlinvestition erweisen und könnte ernsthafte
Probleme für die weitere Entwicklung bedeuten. Die Frage nach den Krediten für
eine mögliche Finanzierung des Standortes könnte aufgeworfen werden. Vielleicht
würden die Arbeitnehmervertreter zwar Investitionen befürworten, doch für eine
größere Investition in bisherige Standorte plädieren. Es könnte die Verlagerung von
Produktionskapazitäten ins Ausland befürchtet werden – und noch vieles mehr.
Entscheidungen als Entscheidungskommunikation – denn solange die Alter-
nativen nur in den Köpfen der Beteiligten ventiliert werden, handelt es sich nicht
um eine Entscheidung im sozialen Sinne, sondern eher um ein psychisches Prob-
lem – sind damit enorm konfliktanfällig. „Sie haben, wenn Verständigung erwartet
wird, etwas Provokatorisches an sich; sie sind, vor allem in verständigungssensiblen
Systemen wie primitiven Horden oder modernen Familien, alles andere als harm-
los. Entscheidungskommunikationen tendieren zur Ausdifferenzierung (oder zum
Scheitern der Ausdifferenzierung) von Herrschaftsverhältnissen. Sie neigen, wenn
dafür hinreichend komplexe Randbedingungen vorliegen und die Formtypik ins-
titutionalisiert ist, zur Ausdifferenzierung von Organisationen“ (Luhmann 2000b,
S. 67).
Organisationen lösen das Entscheidungsproblem, indem sie ausschließlich auf
Entscheidungen als Elemente ihrer Reproduktion zurückgreifen (Luhmann 2000b,
S. 66 f.). Organisationen, so Luhmann, entstehen, „wenn es zur Kommunikation
von Entscheidungen kommt und das System auf dieser Operationsbasis operativ ge-
schlossen wird“ (Luhmann 2000b, S. 68). Ohne Entscheidungen geschieht nichts
in Organisationen. Während Familien ohne Entscheidungen in ihrer alltäglichen
Routine weitgehend unbehelligt vor sich hin existieren können, muss in Orga-
nisationen dauerhaft und ständig entschieden werden. Die Lehrplanung für das
nächste Semester muss verabschiedet werden. Über die Noten von Studenten muss
ebenso entschieden werden wie über die Form der Prüfung. Eine Verwaltung hat
über eingehende Anfragen zu entscheiden, muss Verwaltungsakte erlassen. Unter-
nehmen müssen über Produktinnovationen entscheiden, Verträge mit Zulieferern
und Abnehmern schließen. Es müssen in Organisationen Personalentscheidungen
vorgenommen werden. Es muss über Zwecke und Mittel entschieden werden. Es
muss über Organisationsstrukturen und über Arbeitsabläufe entschieden werden.
Und wäre nicht einmal entschieden worden, dass der Arbeitsbeginn um 08:30 Uhr
ist, würde vermutlich nur noch wenig passieren.
Um diese hochgradig unwahrscheinliche Konstruktion wahrscheinlicher zu
machen, greift die Organisation auf verschiedene Techniken zurück. So wird etwa
eine ausdifferenzierte Stellenstruktur festgelegt: Die Produktion kümmert sich um
26 3 Anlage der Studie

Fragen der Produktion, die Entwicklungsabteilung um Innovation und das Con-


trolling ärgert sich darüber, dass beide nicht ausreichend auf Fragen finanzieller
Knappheit achten. Es werden legitime Verfahren (Luhmann 1969) eingerichtet, die
selbst das Unwahrscheinlichste wahrscheinlich machen können, da es ja den kor-
rekten Weg genommen hat – von Gründen kann dabei abgesehen werden. Es wer-
den darüber hinaus Entscheidungsprämissen und Entscheidungsprogramme, Zwe-
cke und Mittel definiert, die man zu verwenden hat (Luhmann 2000b, S. 222 ff.)
– wenn der Fakultätsrat nun einmal Unsinn entschieden hat, dann muss man es
akzeptieren, weil es der Fakultätsrat entschieden hat. Und wenn dies alles nicht
mehr wirkt, so kann man immer noch auf die Hierarchie als Supplement der Ent-
scheidungsfindung zurückgreifen (Baecker 1999b, S. 182).
Diese Einrichtungen der Organisation führen Entscheidungen eng. So ist für
einen Aufsichtsrat etwa klar, dass er nicht darüber entscheidet, welcher Anbieter
zukünftig das Büromaterial für das Unternehmen liefert. Er trifft keine Personal-
entscheidung über die Besetzung einer Sekretariatsstelle in der Einkaufsabteilung
eines Unternehmens und entscheidet nicht darüber, ob in einem Werk eine neue
Maschine angeschafft wird oder die alte noch ein halbes Jahr lang gefahren wird.
Die Entscheidungsaufgaben sind über Kataloge zustimmungspflichtiger Geschäfte,
über Geschäftsordnungen und rechtliche Rahmen anderweitig spezifiziert.
Darüber hinaus bestimmen diese Entscheidungsprämissen nur das, was ge-
macht wird, keinesfalls jedoch die Art, wie dies gemacht wird. Das Gremium
muss zwar den Vorstand bestellen. Dies muss im Interesse der Gesellschaft und
gemäß geltendem Recht geschehen. Wie diese Aufgabe jedoch ausgefüllt wird, ist
damit nicht gesagt. So kann der Vorstand über persönliche Netzwerke oder über
Headhunter gesucht werden. Er kann innerhalb des Unternehmens oder außer-
halb rekrutiert werden. Bei der Personalauswahl können mikropolitische Prozesse
ausschlaggebend sein, fachliche Kompetenz, persönliche Sympathie, Verfügbarkeit
und vieles mehr. Ebenso besteht die Funktion des Aufsichtsrats in der Beratung
des Vorstands und in der strategischen Kontrolle desselben. Damit ist jedoch nicht
gesagt, wie dies in der Praxis verstanden wird. Der Aufsichtsrat kann hier quasi be-
ginnen Vorstandsaufgaben zu übernehmen, das operative Geschäft beinahe selbst
kontrollieren – was auch wieder illegal ist (aber wer kann hier schon die Grenze
ziehen) – oder sich viermal im Jahr treffen und wohlwollend nicken. Der Bezug
auf die Entscheidungsprämissen kann somit letztlich sogar in Praxen liegen, deren
Funktion vor allem im Umgehen ebendieser Prämissen liegt.
3.1 Entscheidungen unter polykontexturalen Bedingungen 27

3.1.2 Mitbestimmung als Polykontexturalität

Organisationen sind dabei gesellschaftlich eingebunden. Sie sind mit Gesetzen


konfrontiert, mit der öffentlichen Meinung, mit wissenschaftlichen Entwicklungen
und Märkten. Diese werden als Ereignisse in der Umwelt des Systems beobachtet.
Eine Besonderheit bilden dabei Gesetze, die unmittelbar auf die Entscheidungsfin-
dung des Aufsichtsrats Einfluss ausüben. Wenn man so möchte, konstituiert das
Gesetz den Aufsichtsrat erst, indem das Aktiengesetz seine Einrichtung und seine
Aufgaben, seine Verfasstheit, seine Befugnisse und die Art seiner Besetzung be-
stimmt. Die Mitbestimmungsgesetzgebung fällt in diesen Bereich. Sie schafft einen
Unterschied im Gremium, der besondere Beachtung verdient. Denn die Besetzung
des halben Gremiums mit Arbeitnehmervertretern unterscheidet sich wesentlich
von der Einführung einer neuen Regelung für die Aufsichtsratsvergütung, von
neuen Vorgaben für die Prüfung von Abschlussberichten oder neuen Regeln zur
Einrichtung von Ausschüssen. Worin dieser Unterschied genau besteht, verdient
einige Beachtung.
Für eine arbeits- und industriesoziologische Perspektive wäre klar, dass es sich
um ein Problem gegensätzlicher Interessen handelt: „Eine substanziell gehaltvol-
le Theorie industrieller Beziehungen muss der Kategorie des Interesses zentralen
Stellenwert in der Theoriearchitektur einräumen. Dies scheint nicht nur in theo-
retischer, sondern auch in historisch-genetischer Perspektive zwingend“ (Trinc-
zek 2004, S. 186). Wie bereits angesprochen hat diese Perspektive jedoch damit
zu kämpfen, dass sich Manager zumeist selbst nicht als Interessenvertreter sehen,
während Arbeitnehmervertretern diese Perspektive näherliegt. Zum anderen stellt
sich immer wieder die Frage, wie es denn sein kann, dass Arbeitnehmervertreter
ökonomische Argumente akzeptieren, wenn sie doch Interessenvertreter gegen
das Kapital sind. Umgekehrt bietet auch eine ökonomische Perspektive keine Ant-
wort, die nach Prozesseffizienz fragt und sich immer wieder darüber wundern
muss, dass Arbeitnehmervertreter kein Einsehen in das rationale wirtschaftliche
Argument haben. Beide Perspektiven sind so nicht in der Lage, die jeweils andere
zu fassen, da sie selbst aus den Erfahrungsräumen der Arbeitnehmer- bzw. An-
teilseignervertreter stammen. Während die eine „Reflexionstheorie der Gewerk-
schaften“ (Kühl 2004b, S. 13) ist, ist die andere Reflexionstheorie des Managements
(ebd.). Eine Beschreibung des Sachverhalts als Problem unterschiedlicher Interes-
senlagen bzw. betriebswirtschaftlicher Effizienz würde damit aus dem Ideologie-
problem (Mannheim 1965) nicht herauskommen: Der anderen Seite müsste stets
Ideologiehaftigkeit unterstellt werden.
Das Problem der Mitbestimmung muss also auf einer höheren Ebene gefasst
werden. Es bedarf für die weiteren Analysen eines Mitbestimmungsbegriffs, der
28 3 Anlage der Studie

sowohl die Selbstbeschreibung des Managements als ökonomisch rational wie auch
die Arbeitnehmervertretung als legitime Interessenvertretung zu fassen vermag. In
gewisser Weise bedarf es einer symmetrischen Lösung, welche die Unterschiede
beider Perspektiven auf gleicher Ebene formulieren kann. Ein Ansatz für eine solche
symmetrische Lösung deutet sich etwa bei Seifert (2007) an: Die Arbeitnehmerver-
treter seien sowohl dem Arbeitnehmerinteresse als auch dem Unternehmenswohl
verpflichtet und deshalb im Aufsichtsrat in einem Dilemma, sobald das eine dem
anderen entgegenstehe. Diese Perspektive auf die Seite der Arbeitnehmervertre-
ter hat den Vorteil, dass sie wirtschaftliche Zugeständnisse von Arbeitnehmerver-
tretern zwar als politisches Problem beschreiben kann, jedoch gleichzeitig darauf
hinweist, dass es im Aufsichtsrat eben nicht nur um Arbeitnehmerinteressen geht,
sondern auch um etwas anderes. Es liegt ein struktureller double bind (Bateson
1981) vor, der gerade die Arbeitnehmervertreter auf der einen Seite an das Arbeit-
nehmerinteresse, auf der anderen Seite jedoch an den ökonomischen Erfolg und
den Fortbestand des Unternehmens, an das Unternehmensinteresse, bindet.
Was aber heißt Interesse? Seifert (2007, S. 264 ff.) bemerkt hierzu, dass das
Unternehmensinteresse nicht substanziell zu bestimmen sei. Es ist der Fortbestand
des Unternehmens und sein ökonomischer Erfolg – was dies jedoch im Einzelfall
sichert, ist völlig unbestimmt und muss stets neu prozedural hergestellt werden.
Dasselbe trifft jedoch auch auf das Arbeitnehmerinteresse zu. Hier ist es vielleicht
sogar noch unbestimmter. Denn der Hinweis auf eine „soziale Rationalität“ (Mül-
ler-Jentsch 2004) verweist eigentlich nur darauf, dass völlig unklar ist, was denn im
Einzelfall „sozial“ heißt. Ist der Personalabbau sozial, damit ein Standort erhalten
wird? Ist, um mit Gerhard Schröder zu sprechen, sozial, was Arbeit schafft? Oder
geht es darum, kurzfristig Einflussmöglichkeiten und Ressourcen zu sichern, hohe
Löhne und sichere Beschäftigung zu sichern, auch wenn damit die Zukunft und
die Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens gefährdet wird? Darüber hinaus kann
man danach fragen, wer denn die Arbeitnehmer sind, deren Interessen vertreten
werden. Geht es um die Sicherung einer Gewerkschaft in einer Branche? Kann hier
etwa ein Kompromiss in einem Unternehmen auf Kosten der Beschäftigten zu-
gunsten einer Signalwirkung in die Branche hinein verhindert werden? Liegt es im
Interesse der Arbeitnehmer, einen Standort zu schließen, um dafür einen anderen
zu erhalten? Man würde wohl sagen, im Interesse der Ersteren sicher, im Interesse
der Letzteren vielleicht eher nicht. Die Gruppe der Arbeitnehmer, deren Interesse
hier vertreten wird, scheint damit ebenso virtuell wie das Interesse selbst. Dieselbe
Frage kann man dann aufseiten der Anteilseignervertreter stellen. Vertreten diese
das Interesse einzelner Aktionäre? Eine kurzfristige oder eine langfristige Gewinn-
orientierung? Im Bezug auf beide Seiten könnte man diesen Gedanken weiterspin-
nen und darauf hinweisen, dass ein wirtschaftlich prosperierendes Unternehmen
3.1 Entscheidungen unter polykontexturalen Bedingungen 29

doch im Interesse der Arbeitnehmer liegen muss. Von einem Interessenkonflikt


kann man dann nicht mehr sprechen.
Die Frage nach der Differenz zwischen Arbeitnehmer- und Anteilseignerver-
tretern stellt sich damit auf einer anderen Ebene, wenn nicht substanziell bestimmt
werden kann, wo der Unterschied zwischen beiden Seiten liegt.
Einen Ansatzpunkt bietet hier ein Blick auf die Gesellschaftstheorie (vgl. auch
Jansen 2012). Aus systemtheoretischer Sicht liegen Organisationen quer zur funk-
tionalen Differenzierung der Gesellschaft. Während Funktionssysteme an ein Me-
dium gebunden sind – Wirtschaft etwa an das Medium Geld, Wissenschaft an das
Medium Wahrheit – und nur in diesem operieren, beobachten Organisationen
verschiedene Funktionssysteme. Organisationen sind so etwa in der Lage, eine Be-
ziehung zwischen den aktuellen Entwicklungen auf Rohstoffmärkten und neuen
Techniken der Ölförderung herzustellen. Sie können die Auswirkungen einer neu-
en Gesetzeslage zu Tierversuchen auf die eigenen aktuellen Forschungsprogramme
abschätzen oder die passenden politischen Parteien identifizieren, die gefördert
werden müssen, damit daraus Vorteile für das eigene Geschäftsmodell entstehen.
Aus einer gesellschaftlichen Perspektive koppeln Organisationen so Funktions-
systeme (vgl. Luhmann 1994, S. 194 ff.; Kneer 2001; Lieckweg 2001; Nassehi 2002).
Verwaltungen setzen so etwa vor allem Politik und Recht in eine stabile Beziehung
(Bora 2001), ähnlich wie öffentliche Unternehmen (Edeling 2001; Edeling 2002).
Universitäten hingegen koppeln vor allem Erziehung und Wissenschaft (Luhmann
1998, S. 784 f.) – um nur einige Beispiele zu nennen. Organisationen versorgen so
Funktionssysteme mit einem Grad der Reflexivität, zu dem Letztere allein nicht in
der Lage wären (Nassehi 2002).
Für Organisationen hat diese Stellung zwischen den Funktionssystemen die
Folge, dass sie polykontextural arbeiten müssen (Günther 1979b; Günther 1979a;
Vogd 2011): Sie sind in der Lage, zwischen verschiedenen logischen Räumen zu
unterscheiden, diese Räume aus der Binnenperspektive zu lesen und entscheiden
zu können, wann welcher Raum Anwendung findet. Eine Universität kann so etwa
feststellen, dass sie nur einen begrenzten Etat hat und entsprechend unter Maßgabe
wirtschaftlicher Knappheit arbeitet. Sie kann mit Geld umgehen und verstehen,
dass es ein Unterschied ist, ob eine Zahlung getätigt wurde oder nicht. Sie ope-
riert innerhalb einer wirtschaftlichen Kontextur. Gleichzeitig operiert sie jedoch
auch mit Referenz auf Erziehung und Wissenschaft und trennt diese Kontexturen
zum einen voneinander, zum anderen aber auch von der Kontextur der Wirtschaft.
Universitäten machen – zumindest in der Regel – nicht den Fehler, Wahrheit für
käuflich zu halten oder die Leistung, die ein Professor in der Lehre erbringt, mit
dessen Forschungsoutput zu verwechseln. Es wird nicht der Versuch gemacht, das
Wissenschaftssystem zu erziehen oder die Wirtschaft darüber zu belehren, dass
30 3 Anlage der Studie

eine Rechnung für wissenschaftliches Gerät nicht gezahlt werden müsse, weil man
sich von diesem enormen wissenschaftlichen Fortschritt verspricht.
Diese Polykontexturalität der Organisation muss stets neu verwirklicht werden
(Vogd 2009b, S. 110). In jeder Operation muss entschieden werden, wie welcher lo-
gische Raum zu einem anderen gestellt wird, welcher logische Raum rejiziert wird
und welcher gerade als Referenz gilt. Diese Entscheidung wird dabei in der Regel
dadurch vereinfacht, dass eine Primärreferenz gewählt wird. Ein Unternehmen
arbeitet so zumeist mit der Primärreferenz Wirtschaft, eine Verwaltung mit der
Primärreferenz Recht, ein Forschungsinstitut mit der Primärreferenz Wissenschaft.
Dies gilt auch für die Aufsichtsräte von Unternehmen: Wenn Seifert (2007) das
Unternehmensinteresse an den Erhalt der Organisation und den wirtschaftlichen
Erfolg derselben bindet, ist damit nichts anderes gesagt, als dass die Primärrefe-
renz des Aufsichtsrats als Teil der Unternehmensleitung eine primär wirtschaftliche
Aufgabe ist. Zwar wird auch anderes beobachtet, etwa die Entwicklung der For-
schungs- und Entwicklungsabteilung, die Einwände des Justiziars sowie etwa die
politische Situation, doch wird diese Beobachtung in Referenz auf die Kontextur
Wirtschaft vorgenommen: Preisentwicklungen werden ebenso abgeschätzt wie die
Wahrscheinlichkeit von Zahlung und Nichtzahlung (Luhmann 1988, S. 13 ff.). Dies
wird unter Bezug auf die Kontingenzformel der Knappheit getan (Luhmann 1988,
S. 177 ff.).
Die Mitbestimmung führt hier nun eine zweite Referenz ein, eine politische –
keinesfalls jedoch eine „soziale“ (Müller-Jentsch 2004). Während Anteilseigner-
vertreter die Entscheidungen des Gremiums primär auf wirtschaftliche Knappheit
beziehen, ist die Kontingenzformel für die Arbeitnehmervertretung letztlich Legi-
timität, die hier als Arbeitnehmerinteresse eng geführt wird (vgl. Luhmann 2000a,
S. 120 ff.). Eine Entscheidung wird daraufhin betrachtet, ob diese im Sinne der
Arbeitnehmer oder nicht im Sinne der Arbeitnehmer ist, ob sie deren Interesse
entspricht oder nicht.
Dabei kann selbstverständlich auch hier nicht gesagt werden, was dies im kon-
kreten Fall heißt. Das Arbeitnehmerinteresse als Fiktion bleibt eben nichts anderes
als eine Formel, auf die hin etwas bezogen werden kann, die jedoch keine Entschei-
dung auflöst. Es ist keinesfalls klar, ob kurzfristige Stellenkürzungen zugunsten
eines Standorterhalts im Sinne der Arbeitnehmer sind oder ob eine offene Kon-
frontation mit dem Management dies nicht viel mehr wäre. Es ist unklar, ob eine
größere Investition im Ausland im Arbeitnehmerinteresse liegt, weil dadurch die
Marktposition im Inland abgesichert wird, oder ob eine Investition im Inland nicht
viel eher das ist, für das sich die Arbeitnehmervertreter aussprechen sollten. Was
im Interesse der Arbeitnehmer ist, ist durch die Kontingenzformel ebenso wenig
definiert wie das, was ökonomische Knappheit sein kann.
3.1 Entscheidungen unter polykontexturalen Bedingungen 31

Einem Kollaps dieser Unbestimmtheit wird dabei im Fall der Arbeitnehmer-


vertreter durch legitime Verfahren vorgebeugt, die eine Bindung an das Medium
Macht sicherstellen (Luhmann 2000a, S. 18 ff.): Gewählt wird derjenige, der das
Arbeitnehmerinteresse gegenüber einem Publikum möglichst gut zu inszenieren
vermag. Der Bezug auf dieses Publikum ermöglicht Schlüsse darauf, ob die aktu-
ell vorgenommene Anwendung der Kontingenzformel Machtchancen gewährleis-
tet oder nicht (Luhmann 2000a, S. 276 ff.). Dabei ist gerade im vorliegenden Fall
durchaus unklar, wer oder was eigentlich dieses Publikum ist. Zwar ist zunächst
davon auszugehen, dass dies zumindest für die betrieblichen Arbeitnehmervertre-
ter die Belegschaft des Unternehmens ist, während die Gewerkschaftsvertreter auf
die Position ihrer Organisation hin reflektieren.
Das Ausgangsproblem der Unternehmensmitbestimmung stellt sich damit als
Problem unterschiedlicher Kontexturen dar. Es handelt sich um einen binären Un-
terschied, um die Einführung eines zweiten logischen Raumes in ein Gremium, das
klassischerweise mit der Primärreferenz auf einen anderen Raum arbeitet. Ebenso
ist das Problem kein Problem divergierender Interessen. Dies wird deutlich, wenn
man die verschiedenen Interessenbegriffe betrachtet. Zwar ist innerhalb einer wirt-
schaftlichen Kontextur der Begriff des Unternehmensinteresses durchaus sinnvoll,
ebenso der des Aktionärsinteresses. Doch gibt es neben diesem Interesse kein an-
deres und es ist damit immer dasselbe gemeint: nämlich der ökonomische Erfolg.
Eine Entscheidung des Aufsichtsrats kann so nur im Sinne des Unternehmens bzw.
Aktionärs liegen oder aber nicht – indem sie nämlich wirtschaftlichen Erfolg zeitigt
oder eben nicht. Innerhalb einer politischen Kontextur meint der Interessenbegriff
etwas anderes – insofern bezeichnet Seifert (2007) das Problem nur teilweise rich-
tig. Eine politische Kontextur reflektiert eine Pluralität von Interessen (Luhmann
2000a, S. 182 f.), etwa das Interesse an militärischer Schlagkraft, an Umweltschutz,
an Familien- und Wirtschaftsförderung. Die Einheit wird hier über Macht und Le-
gitimität hergestellt: Es zählt das Interesse, das sich als legitim durchsetzen kann.
Innerhalb einer ökonomischen Kontextur erscheint eine solche Formulierung ver-
schiedener Interessen schlichtweg als irrational. Nicht wenigen Anteilseignerver-
tretern unter den Interviewten erschienen Arbeitnehmerinteressen wortwörtlich
als „Partikularinteressen“, die einem übergreifenden Unternehmensinteresse – im
Sinne eines ökonomischen Erfolgs – nur hinderlich entgegenstünden (ähnlich auch
die Befragten bei Eberwein und Tholen 1990). Gerade dieses Konzept wird jedoch
auf Seite der Arbeitnehmervertreter aktiv bejaht. Denn Interessenvertretung heißt
hier immer die Vertretung von Partialinteressen gegenüber anderen Interessen, im
Fall von Arbeitnehmervertretern sogar immer das Vertreten von Partialinteressen
aus einer Oppositionsposition heraus gegenüber einem übermächtigen Manage-
ment (vgl. hierzu auch Jansen 2011).
32 3 Anlage der Studie

Das soll keinesfalls heißen, dass die Anteilseignervertreter jenseits des Politi-
schen agieren würden. Diese Annahme wäre naiv. Mikropolitische Spiele im Sinne
von Crozier und Friedberg (1979) sind hier ebenso präsent wie vielleicht etwa die
Frage nach den spezifischen Interessen eines Großaktionärs. Politische Machtkämp-
fe können dann auch hier ein Problem werden. Jedoch ist aufseiten der Anteilseig-
nervertreter die Politik nicht die Primärreferenz der Arbeit. Anteilseignervertreter
führen in diesem Sinne keine Wahlkämpfe. Werden sie nominiert, so werden sie
fast ohne Ausnahme gewählt. Es gibt in diesem Sinne zwar möglicherweise mikro-
politische Machtkämpfe unter Anteilseignervertretern. Doch sind diese sehr selten
und zu offenen politischen Konflikten zwischen verschiedenen Parteien innerhalb
des Aufsichtsrats kommt es nicht – wie im Folgenden noch sehr gut sichtbar wer-
den wird. Der wesentliche Punkt jedoch ist, dass aufseiten der Anteilseignerver-
treter Knappheit die Kontingenzformel ist, unter der das Unternehmen beobachtet
wird. Dies ist letztlich entscheidend. Verschiedenen Positionen innerhalb des Auf-
sichtsrats liegen verschiedene Konzepte zugrunde, wie mit Knappheit umgegangen
wird und was wirtschaftlicher Erfolg heißt. Legitimität gegenüber den Aktionären
ist ausschließlich als wirtschaftlicher Erfolg herzustellen.
Dies schließt freilich nicht die Möglichkeit aus, dass andere Faktoren diese Orien-
tierung an einer wirtschaftlichen Kontextur unterlaufen, um etwa die wirtschaftli-
chen Interessen des eigenen Unternehmens zu sichern. Hier kann es dann eben
zu politischen Allianzen zwischen Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat und
dem Management gegen die Aktionäre kommen, wie sie Höpner (2003, S. 152 ff.)
beschreibt. Die Gültigkeit der ökonomischen Kontextur wird damit jedoch nicht
ausgehebelt. Vielmehr müssen die eigenen politischen Ambitionen in wirtschaft-
liche Argumente gekleidet und entsprechend als wirtschaftlich richtig durchgesetzt
werden. Eine bestimmte mikropolitische Konstellation bietet hier dann nur eine
Ressource zur Unsicherheitsabsorption. Denn die Orientierung an der Kontextur
Wirtschaft meint eben nur die Bestimmung eines Möglichkeitsraums, innerhalb
dessen dann immer noch die Entscheidung darüber gefällt werden muss, was denn
im Einzelfall als ökonomisch rational zu gelten hat. Diese Entscheidung kann dann
unter Umständen ohne Weiteres in Bezug auf mikropolitische Interessenlagen ge-
fällt werden – was sie aber nicht weniger zu einer ökonomischen Entscheidung
macht. Dieser Bezug muss aber als Bezug latent bleiben. Es ist – schon allein aus
rechtlichen Gründen – kaum möglich, dass der Vertreter eines Großaktionärs mit
Verweis auf den erwünschten wirtschaftlichen Erfolg des von ihm vertretenen
Unternehmens den Misserfolg desjenigen Unternehmens fordert, in dessen Auf-
sichtsrat er sitzt.
3.1 Entscheidungen unter polykontexturalen Bedingungen 33

Wirtschaft und Politik als Kontextur legen an dieser Stelle keine inhaltliche Be-
stimmung nahe. Sie stellen Möglichkeitsräume zur Verfügung, die nur durch die
Verwendung einer Kontingenzformel und den Verweis auf ein bestimmtes Me-
dium – Macht und Geld – eng geführt sind. Eine weitere Bestimmung ist damit
nicht gemeint. Weder wird angenommen, dass es ein klares Arbeitnehmerinteresse
gibt, dass sich ex ante definieren lässt, noch dass in einem etwas weiteren Sinne
Arbeitnehmervertreter etwas wie eine „soziale Rationalität“ (Müller-Jentsch 2004)
vertreten. Arbeitnehmerinteresse ist in diesem Sinne das, was von den Arbeitneh-
mervertretern – mit Blick auf die nächste Wahl – als solches bestimmt wird. Als
solches hat es dann jedoch einen Eigenwert, der kaum umgangen werden kann.
Ebenso meint der Verweis auf die Kontextur Wirtschaft nichts weiter als den
Verweis auf Knappheit und Geld. Es ist damit keinesfalls gesagt, dass Anteilseigner-
vertreter einem kurzfristigen Shareholder-Value verpflichtet sind und einer schnel-
len und hohen Rendite hinterherjagen oder stets und ausschließlich auf Rationa-
lisierungsmöglichkeiten bedacht sind. Es ist durchaus möglich, dass erfolgreiches
Wirtschaften gerade in einer langfristigen Orientierung oder hohen Arbeitskosten
gesehen wird, die Motivation und Engagement der Mitarbeiter sowie reibungslo-
se Abläufe sicherstellen. Ebenso ist mit dem Verweis auf Wirtschaft nicht gesagt,
dass es etwas wie wirtschaftliche Rationalität tatsächlich gebe. Wenn hier von wirt-
schaftlicher Rationalität die Rede ist, so meint dies nichts weiter als die funktionale
Fiktion, welche die Kontingenz einer Entscheidung verdeckt. Wirtschaftliche Rati-
onalitäten müssen also – wie auch das Arbeitnehmerinteresse – „als Realitäten dar-
gestellt, dürfen aber nicht als Realitäten behandelt werden“ (Luhmann 1999 [1964],
S. 278).
Für den Aufsichtsrat ergibt sich damit ein Problem in der Entscheidungsfin-
dung, das viele andere Gremien nicht haben. Zwar muss auch dort – wie überall in
Organisationen – entschieden werden, doch zumeist mit einer Primärreferenz. Der
mitbestimmte Aufsichtsrat steht jetzt jedoch vor der Situation, mit der wirtschaftli-
chen zwar eine primäre Kontextur zu haben, an die er rechtlich gebunden ist. Doch
gleichzeitig wird hier eine zweite Kontextur eingeführt, die ein Dilemma erzeugt,
das nicht ohne Weiteres aufzulösen ist. Dieses Dilemma zwischen Knappheit und
Legitimität kann nicht innerhalb einer dritten Kontextur schlüssig aufgelöst wer-
den, sondern muss in dieser vielmehr prozedural stets neu bearbeitet, stets neu ar-
rangiert werden. Wie diese Bearbeitung in der Praxis funktioniert, ist Gegenstand
der folgenden Arbeit.
34 3 Anlage der Studie

3.2 Methodologie

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die bisherige Forschung zur Praxis mit-
bestimmter Aufsichtsratsarbeit teilweise daran krankt, dass sie sehr nahe am com-
mon sense der Befragten bleibt. Häufig gibt sie Selbstbeschreibungen wieder und
beansprucht, hier eine Aussage über die Entscheidungspraxis gemacht zu haben.
Doch ist keinesfalls gesagt, dass die Selbstbeschreibung der Befragten auch der
Praxis der Befragten entspricht. So kann ein Anteilseignervertreter etwa im per-
sönlich durchaus Gegner der Unternehmensmitbestimmung sein, in der Praxis des
Aufsichtsrats aber dennoch eine gute Zusammenarbeit sicherstellen. Ebenso ist es
denkbar, dass ein Arbeitnehmervertreter der Meinung ist, dass die Unternehmens-
mitbestimmung eine reine Frage der Interessenvertretung sei, ohne dass dies jedoch
im Gremium zum Tragen kommt, weil er eine Minderheitenposition vertritt und in
der Praxis vor allem schweigt und die Mehrheitsentscheidungen mitträgt. Andere
Studien wiederum sind so stark überformt, dass sie nur noch ihre eigenen theoreti-
schen Vorannahmen zu sehen vermögen und Praxen, die mit diesen Vorannahmen
kollidieren, nur normativ behandeln, aber keinesfalls in ihrer Funktion verstehen.
Ein Teil dieser Probleme ist auf Theoriedefizit zurückzuführen. Ein anderer,
vielleicht wesentlicherer Teil, jedoch auf ein methodisches Defizit. Denn erst „Me-
thoden ermöglichen es der Wissenschaft, sich selbst zu überraschen. Dazu bedarf
es einer Unterbrechung des unmittelbaren Kontinuums von Realität und Kenntnis,
von dem die Gesellschaft zunächst ausgeht“ (Luhmann 1998, S. 121). Methoden
schaffen in diesem Sinne eine Distanz zum eigenen Gegenstand. Sie führen eine
Widerspenstigkeit in die Auseinandersetzung mit dem empirischen Material ein
und zwingen den Blick immer wieder auf Bereiche zu richten, die im common sense
als irrelevant erachtet werden oder die mit den theoretischen Vorannahmen des
Forschers kollidieren. Methoden unterbrechen in diesem Sinne die Schlüssigkeit
des Alltäglichen. Sie streuen die Saat des Zweifels an die Selbstverständlichkeiten,
mit denen man ins Feld gegangen ist und die man nur allzu gerne im Material be-
stätigt sehen möchte. Wenn man so möchte, richten sie eine unbequeme Sturheit
ein, die, wenn man ihr folgt, am Ende des Weges etwas anderes sehen lassen, als
man zu Beginn erwartet hat (Vogd 2010, S. 121 ff.). Methoden ermöglichen durch
ihre Sturheit ein gegenseitiges „Aufschaukeln“ (Nohl 2001, S. 260) von Text und
textbezogener Theoriebildung und verhindern ein frühzeitiges Einrasten in einer
Interpretation.
Jene Sturheit, welche die Methode in den Forschungsprozess bringt, kann
dabei mitunter selbst Gegenstand der Aufmerksamkeit werden. Ist der Interpre-
tationsprozess weit genug fortgeschritten, kann es immer wieder zu Situationen
kommen, in denen sich die Leitunterscheidungen der Methode selbst als nicht
3.2 Methodologie 35

vollkommen zureichend zeigen, den Gegenstand zu fassen. Die Folge hieraus


kann nur eine methodologische Reflexion sein, eine Anpassung der verwende-
ten Leitunterscheidungen an die Gegebenheiten im Feld. Dies ist die Folge einer
Methode, die es erlaubt, sich so weit dem Feld zu nähern, dass ein Unterlaufen
der eigenen Leitunterscheidungen möglich wird. Genau in diesem Sinne schreibt
Bohnsack (Bohnsack 2003b, S. 10): „Zwischen methodischen Regeln einerseits
und Forschungspraxis andererseits besteht keine deduktive, sondern eine reflexive
Beziehung“.
Dies gilt im weiteren Sinne für den gesamten metatheoretischen Apparat, der
mit einer Methode verbunden ist, ihre spezifische Art des Fragens konstituiert, ihre
Sturheit festlegt. Es handelt sich um eine ähnliche Art des Aufschaukelns zwischen
Forschungspraxis, der Entwicklung methodischer Regeln und einer Metatheorie,
wie sie zwischen Text und gegenstandsbezogener Theoriebildung besteht: Es ist ein
abduktives Vorgehen, das immer wieder Überraschungen produziert, die im Nach-
hinein eingefangen werden müssen (Bohnsack 2003b, S. 197 ff.).
In eine solche Situation bin ich während der Arbeit an der vorliegenden Studie
gekommen. Die Studie hat mit Annahmen der dokumentarischen Methode in der
systemtheoretisch erweiterten Version durch Vogd (2009b, 2011) begonnen. Diese
Methode richtet sich auf den Modus der gelebten Praxis, auf den modus operandi
eines Feldes und sucht ihn zu rekonstruieren (Bohnsack 1997; Bohnsack 2003b).
Die Grundannahme ist dabei, dass jeder Form der sozialen Praxis, jeder expliziten
Struktur in der Rede und im Handeln, ein impliziter Wissensbestand zugrunde
liegt. Dieser wird als atheoretisch und inkorporiert begriffen, als eine Art selbst-
verständliche Weltanschauung, aus der her sich die Welt erschließt und die festlegt,
was als selbstverständlich und angemessen gilt.
Jene atheoretischen Wissensbestände, die als handlungsleitend begriffen wer-
den, werden mit dem Begriff des konjunktiven Erfahrungsraums gefasst. Ein sol-
cher konjunktiver Erfahrungsraum ist etwa als Gemeinsamkeit einer bestimmten
Generation, eines bestimmten Milieus oder etwa auch einer Familie oder einer
Profession zu begreifen. Er ist klar von einem kommunikativen Erfahrungsraum
zu unterscheiden, der explizite Wissensstrukturen bereithält – etwa die Fähigkeit,
eine Zeitungsnachricht zu lesen. Während kommunikative Erfahrungsräume allen
Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft direkt zugänglich sind oder über Erklärung
vermittelbar sind, sind konjunktive Erfahrungsräume erlernte Praxen, die tief in-
korporiert sind (Bohnsack 2003b, S. 60). Dieser Erfahrungsraum bestimmt dann
jedoch, wie mit kommunikativem Wissen umgegangen wird. Er bestimmt etwa,
wie eine bestimmte Zeitungsnachricht verstanden wird, ob man sich etwa über eine
Kriegserklärung aufregt, sie als Bedrohung empfindet oder ob man in „patriotische“
Begeisterung verfällt. „Der Unterschied ist also nicht rein quantitativer Natur, in
36 3 Anlage der Studie

dem Sinne, dass man vielleicht weniger erklären muss. Es handelt sich um einen
qualitativen Unterschied. Die Allgemeinbedeutung tritt hinter die konjunktive
Bedeutung zurück. Man erklärt einander nicht mehr, sondern versteht einander“
(Przyborski 2004, S. 27). Das „Wie“ des konjunktiven Wissens strukturiert das
„Was“ des kommunikativen Wissens.
Die Rekonstruktion eines solchen konjunktiven Erfahrungsraums setzt ent-
sprechend bei der Struktur des kommunikativen Wissens an. Die dokumentarische
Methode verwendet hier die Begriffe „immanenter“ und „dokumentarischer Sinn“,
um zwischen der Ebene des kommunikativen Wissens im Text und der Ebene der
Textstruktur zu unterscheiden, die durch das konjunktive Wissen bestimmt wird.
Durch ein schrittweises Vorgehen und einen ständigen Vergleich verschiedener
Textpasssagen wird hier ein Freilegen der dokumentarischen Sinngehalte ermög-
licht. Der immanente Sinn wird reformuliert und dann in ständigem Vergleich re-
flektierend interpretiert (Bohnsack 2003b).
Da die vorliegende Studie die Frage nach der gelebten Praxis der Aufsichtsrats-
arbeit war, hat sich die dokumentarische Methode angeboten. Ich bin von der An-
nahme ausgegangen, dass es verschiedene konjunktive Erfahrungsräume gibt, den
der Arbeitnehmer- und den der Anteilseignervertreter sowie den Erfahrungsraum
der gemeinsamen Aufsichtsratsarbeit. Diese sollten rekonstruiert werden. Darüber
hinaus vermag es die dokumentarische Methode in einer systemtheoretisch erwei-
terten Version, gesellschaftliche Kontexturen zu reflektieren, die im Interpretati-
onsprozess abgebildet werden können (Vogd 2009b; Vogd 2011).
Jedoch ist es im Prozess der Auswertung zu immer weiteren Verschiebungen ge-
kommen. Während sich die meisten Konzepte der dokumentarischen Methode wie
auch das konkrete forschungspraktische Vorgehen bewährt haben, haben sich viele
der Leitunterscheidungen in multiplen reflexiven Verhältnissen, wie sie im voran-
gegangenen Abschnitt dargestellt worden sind, nicht als angemessen erwiesen. Der
einfachste Sachverhalt ist hier wohl, dass sich kein konjunktiver Erfahrungsraum
des Aufsichtsrats hat finden lassen können. Zwar ließe sich etwas in dieser Rich-
tung konstruieren, doch diese Konstruktion ist kaum tragbar. Es gibt so gut wie
keine konjunktiven Wissensbestände, welche die Aufsichtsratsmitglieder als Auf-
sichtsratsmitglieder teilen, etwa ein Bankvorstand, ein Wissenschaftler im Maschi-
nenbaubereich, ein zum ersten Mal gewählter Betriebsrat und ein altgedienter Ge-
werkschafter. Es gibt hier so gut wie keine Situation, in der ein konjunktives Wissen
die Beteiligten „geistig-seelisch-körperlich als Individuen“ durchdringt und erst
„im Miteinander oder im gedachten Miteinander vollständig“ ist (Przyborski 2004,
S. 24). Zudem herrschen zwischen Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretern
häufig so starke Kommunikationsschranken, dass sich etwas wie ein konjunktiver
Erfahrungsraum nicht aufbauen kann.
3.2 Methodologie 37

Dennoch funktioniert der Aufsichtsrat. Vermutlich funktioniert er gerade des-


wegen. Er scheint nur zu funktionieren, weil die verschiedensten Reflexionspers-
pektiven kunstvoll ge- und entkoppelt werden, weil sie füreinander anschlussfähige
Strukturen aufbauen, ohne dass diesen Gemeinsamkeiten etwas wie ein konjunkti-
ver Erfahrungsraum unterliegen würde.
Des Weiteren stellten sich diese Reflexionsstrukturen im Forschungsprozess zu-
nehmend als hoch virtuell dar. Wenn etwa von den Arbeitnehmervertretern die
Rede ist, wird hier schnell von einem weitgehend homogenen Korpus ausgegangen.
Dieser ließ sich jedoch nirgendwo finden. Die Einheit der Arbeitnehmervertreter
ist etwas, das immer wieder künstlich hergestellt wird. Es handelt sich um ein Ar-
tefakt, das immer wieder verschoben, neu generiert und stabilisiert werden muss.
Es ist das Resultat verschiedenster Abtastungen in Richtung der verschiedenen Ar-
beitnehmervertreter, in Richtung des Unternehmens, in Richtung des Vorstandes,
in Richtung der Anteilseignervertreter. Und selbst die Praxis, die diese Abtastung
vornimmt, ist in vielen Fällen eine Praxis, die nur von wenigen Arbeitnehmer-
vertretern geteilt wird und auf Hierarchie und Mikropolitik setzt, um sich zu be-
haupten. Die Arbeitnehmervertretung als Einheit entspringt keinem konjunktiven
Erfahrungsraum. Sie scheint vielmehr eine Artefakt formaler Regelungen zu sein,
die mit bestimmten Praxen gefüllt werden und nur funktionieren, weil sie verschie-
dene Erfahrungsräume in ein bestimmtes Verhältnis setzen.
Dabei wurde zunehmend auch die Bedeutung expliziter Strukturen deutlich, also
jener Strukturen, welche die dokumentarische Methode auf Ebene des kommunika-
tiven Sinns ansiedelt, die es hin zur Ebene des konjunktiven Sinns zu durchschrei-
ten gilt. Hierarchien, Zwecke und verschiedene Semantiken haben hier als explizite
Strukturen ein enormes Gewicht. Sie strukturiert Praxis wie kaum etwas anderes
und kann keinesfalls nur im Rückschluss auf einen konjunktiven Erfahrungsraum
erklärt werden – worum es der dokumentarischen Methode jedoch letztlich geht.
Darüber hinaus ging es mir darum, die Verhältnisse von Arbeitnehmer- und
Anteilseignervertretern sowie den Aufsichtsrat als Ganzen zu beschreiben. In
der Terminologie der dokumentarischen Methode hieße dies, dass mich inter-
essiert, wie sich der Erfahrungsraum Arbeitnehmervertretung, der Erfahrungs-
raum Anteilseignervertretung sowie der Erfahrungsraum Aufsichtsrat zueinan-
der verhalten. Dies wirft jedoch die Frage auf, welcher Erfahrungsraum dieses
Verhältnis bestimmt. Hier hat man zwei Möglichkeiten mit zwei gleichermaßen
problematischen Konsequenzen. Entweder man nimmt an, dass der Erfahrungs-
raum der Aufsichtsratsarbeit die beiden anderen Erfahrungsräume einschließt.
Dann steht man vor der Frage, wie es sein kann, dass die Erfahrungsräume ei-
nander dennoch nicht zugänglich sind (die Differenz zwischen einem Betriebs-
rat und einem Bankenvertreter kann kaum als Unterkategorie der gemeinsamen
38 3 Anlage der Studie

Aufsichtsratsmitgliedschaft begriffen werden). Die zweite Möglichkeit wäre, von


separaten Erfahrungsräumen auszugehen. Da in der dokumentarischen Methode
jede Form des funktionalen Verhältnisses immer auf einen konjunktiven Erfah-
rungsraum zuzurechnen ist oder aber auf eine Person bzw. Gruppe, in der sich
diese Erfahrungsräume schneiden, stellt sich hier die Frage, welcher Gruppe oder
Person das funktionale Verhältnis im Aufsichtsrat zurechenbar ist. So kann Nohl
(2000) etwa im Fall türkischer Jugendlicher eine Praxis feststellen, die deutsche
und türkische Kultur in ein Verhältnis setzen. Diese Praxis kann dann als konjunk-
tiver Erfahrungsraum der Migration begriffen werden (wobei sich allerdings schon
hier Entkopplungen von Reflexionsräumen andeuten, die kaum noch konsistent
auf ein Sein zurückführbar sind). Die funktionalen Verhältnisse zwischen Arbeit-
nehmer- und Anteilseignervertretern, die zu einer gemeinsamen Entscheidung im
Aufsichtsrat führen, können jedoch kaum als konjunktive Praxis aller Aufsichts-
ratsmitglieder begriffen werden, da sie häufig gerade deshalb funktionieren, weil
beide Seiten keine gemeinsame Praxis haben und nur zu einer gemeinsamen Ent-
scheidung gebracht werden können, weil sie weiterhin nichts voneinander wissen.
Die Spitzen der beiden Seiten entwickeln hier einen konjunktiven Erfahrungsraum,
der beide Seiten strukturiert. Sie schaffen Übersetzungsverhältnisse (Renn 2006).
Doch auch dies funktioniert nur, weil hier eine Intransparenz gegenüber den an-
deren Seiten geschaffen wird. Die Parallelen zur Arbeit von Nohl (Nohl 2000) sind
deutlich: In beiden Fällen werden verschiedene Reflexionsbeziehungen arrangiert.
Der Unterschied besteht jedoch darin, dass sich im einen Fall diese Reflexions-
beziehungen in der Person des türkischen Migranten zusammenfassen lassen. Im
anderen Fall besteht die Einheit nur in der formalen Einheit: Aufsichtsrat als Kon-
sequenz rechtlicher und organisatorischer Arrangements, die durch bestimmte
Praxen umgesetzt werden, die jedoch wieder nur als Arrangement verschiedener
Reflexionsinstanzen begreifbar scheinen. Diese Praxis des Arrangements ist dann
keine Praxis „der Aufsichtsratsmitglieder“ in einem ähnlichen Sinne wie die Pra-
xis „türkischer Migranten“, sondern nur noch eine beobachtbare Verschränkung
gegenseitig intransparenter Reflexionsbeziehungen ohne Boden.
Dies alles spricht nicht gegen die dokumentarische Methode und soll keinesfalls
so verstanden werden. Es soll damit nur gesagt werden, dass sich in modernen Or-
ganisationen Verhältnisse finden lassen, die sich mit der Metatheorie Mannheims
nicht fassen lassen. Die im Folgenden vorgestellten Ausführungen sind damit nur
ein Versuch, von der dokumentarischen Methode sowie der grounded theory
(Glaser/Strauss 1999) ausgehend, eine Methodologie zu entwickeln, die diesen Ver-
hältnissen gerecht werden kann. Dieser Versuch schließt an den Überlegungen von
Vogd an (Vogd 2009b) und nimmt den Kontexturbegriff von Günther (1979b) zum
Ausgangspunkt. Dieser Begriff bietet – etwa gegenüber dem Systembegriff – den
3.2 Methodologie 39

Vorteil, von vornherein auf die Gleichzeitigkeit verschiedener Reflexionsperspek-


tiven zu setzen und nicht auf die Geschlossenheit einzelner Räume. Nicht ohne
Grund verwendet ihn Luhmann (2008) zur Beschreibung einer Gesellschaft mul-
tipler und inkongruenter Reflexionsperspektiven. Ferner weist der Kontexturbe-
griff einen sehr hohen Abstraktionsgrad auf. Dies mag in der Anwendung zum
Teil befremdlich wirken, weil nicht mehr von etwas die Rede ist, das im Common
Sense sinnvoll in der Welt verortet werden könnte – wie etwa Orientierungsmuster
oder konjunktives Wissen –, bietet aber ungeahnte Möglichkeiten für eine rekonst-
ruktive Sozialforschung, da eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven auf unter-
schiedlichen Abstraktionsniveaus miteinander verschachtelt werden können. Die
begrifflichen Grundlagen einer solchen rekonstruktiven Sozialforschung sollen im
Folgenden erörtert werden.
Im folgenden Abschn. (3.2.1 Verbundkontexturen) soll der bereits angesproche-
ne Begriff der Kontextur sowie der Begriff der Verbundkontextur erörtert werden.
Im nächsten Abschn. (3.2.2 Weiche Identitäten) wird auf einige theoretische Impli-
kationen eingegangen, insbesondere auf die Frage, wie sich verschiedene Kontex-
turen zueinander verhalten. Beide Abschnitte sind als metatheoretische Grundlage
zu verstehen. Sie verwenden ein Abstraktionsniveau, das sehr hoch ist, das aber,
so hoffe ich wenigstens, gerade aus diesem Grund einen angemessenen Zugang zu
modernen Reflexionsverhältnissen in Organisationen bietet. Im Anschluss (3.2.3.
Rekonstruktion funktionaler Verschränkungen) möchte ich darauf eingehen, was
das Anliegen einer rekonstruktiven Sozialforschung sein kann, wenn sie auf der
vorgestellten Metatheorie aufbaut. Das konkrete methodische Vorgehen, das sehr
stark an der dokumentarischen Methode orientiert bliebt, wird zuletzt skizziert
(3.2.4. Vorgehen in der Interpretation).
Die hier vorgenommenen methodologischen Überlegungen bleiben sicher
skizzenhaft und hoch verdichtet und bedürfen mit Sicherheit gründlicher Erör-
terungen an anderer Stelle. Dass sie hier in dieser Form dennoch zu lesen sind, ist
einzig und allein meinem empirischen Gegenstand und meiner Forschungsfrage
geschuldet, denen ich mit bestehenden Verfahren nicht beizukommen vermochte.
Dennoch möchte ich mich für die Zumutung entschuldigen, die das vorliegende
Provisorium für den Leser in Teilen sicher darstellt.

3.2.1 Verbundkontexturen

Günther (1979a, b) führt den Begriff der Kontextur im Anschluss an seine früheren
Arbeiten als Grundlage einer mehrwertigen Logik ein. Mit dem Begriff bezeichnet
er einen zweiwertigen logischen Raum, der eine einwertige Struktur ausbildet.
40 3 Anlage der Studie

Klassischerweise wäre dies etwa der logische Raum des Seins, der zwischen Sein
und Nicht-Sein unterscheidet. Innerhalb dieser Kontextur wird zwischen dem
unterschieden, was ist und was nicht ist. Desiderat ist eine konkrete Welt des Seien-
den, eine verhältnismäßig stabile Struktur im Bereich des Positiven, eine Welt, die
ausschließlich aus Seiendem besteht und alles Nicht-Seiende aus ihrem Bereich
verbannt (Günther 2000, S. 3).1
Während klassische Positionen sich in der Rede über das Seiende erschöpfen,
weist Günther darauf hin, dass nicht die Welt auf das Seiende beschränkt ist, son-
dern eine zweiwertige Logik eine solche Beschränkung vornimmt. Die klassischen
Betrachtungen der Welt, so Günther, kranken nicht daran, dass sie es nicht schaf-
fen, res und intellectus in eindeutige Deckung zu bringen, sondern daran, dass das
Verhältnis von res und intellectus nur einen Teil der Welt fasst. Günthers einfachstes
Beispiel, der Ausgangspunkt seiner Überlegungen, ist hier der Hinweis auf ein an-
deres Ich, mithin eben auf den Teil intellectus, der dem Sein gegenübersteht. Denn
in der klassischen zweiwertigen Logik ergibt sich folgendes Problem: Sobald etwas
ist, muss seine Wahrheit in jedem Subjekt identisch sein. Alles andere wäre falsch.
Ist etwa in der Welt des Seienden ein Blatt grün, so wäre die Attribution der grünen
Farbe für alle Subjekte gültig. Entweder das Blatt ist grün oder es ist nicht grün.
Tertium non datur.
Subjekte sind in diesem Sinne komplett identisch, oder sie haben die Wahrheit
nicht erkannt. „Was für ein Ich wahr ist, das ist in demselben Sinn und derselben
Form auch für jedes beliebige andere denkende Subjekt verbindlich, sofern es sich
nur den etablierten Regeln rationaler Kommunikation zwischen Ich und Du willig
unterwirft. In diesem Fall ist die letztliche Übereinstimmung aller unvermeidlich,
denn sie beruht auf dem primordialen Zusammenhang zwischen Ich und Du und
Es. Wer sich hier weigert zuzustimmen, leugnet die Existenz jenes spirituelle Kom-
munikation begründenden Zusammenhangs entweder teilweise oder ganz“ (Gün-
ther 1978, S. 12 f.).
Damit löst sich letztlich jedoch die Möglichkeit auf, Reflexionspositionen zu
benennen. Eine andere Meinung, eine andere Perspektive auf die Welt kann nicht
als solche bezeichnet werden. Selbst die Aussage, dass es eine andere Perspektive
gibt, dass jemand einer anderen Meinung ist, konstruiert ein Seiendes, das eine
bestimmte Eigenschaft aufweist. Und diese Eigenschaft liegt entweder vor oder
nicht.

1
Wenn man so möchte, handelt es sich um eine Welt des frühen Wittgenstein, in der alles,
das nicht klar als Seiendes zu identifizieren ist, in den Bereich dessen verbannt wird, worüber
man nicht reden kann.
3.2 Methodologie 41

Günther (1978) führt daher einen weiteren logischen Raum ein: Es gibt nicht
nur das objektiv Seiende und seine objektiv richtige (oder falsche) Abbildung im
Subjekt, sondern das Subjektive als eigenen logischen Raum. So ist es möglich, zwi-
schen zwei Perspektiven auf einen Gegenstand zu unterscheiden – und ein Baum
kann gleichzeitig rot und grün, schön und hässlich sein. Auch eine Beziehung zwi-
schen zwei Subjekten ist hier logisch überhaupt erst denkbar, da Person A Person
B als eigenen logischen Raum begreifen kann, nicht aber als Seiendes. Erst durch
die Einführung eines weiteren logischen Raumes ist es möglich, das Gegenüber als
Reflexionsinstanz zu begreifen und nicht als Ding.
Dieses Konzept der Kontextur wurde weiter oben auf weitere soziale Sachver-
halte angewendet. So wurde etwa die Wirtschaft als Kontextur begriffen, die zwi-
schen Wirtschaftlichkeit und Unwirtschaftlichkeit unterscheidet und eine positive
Struktur wirtschaftlicher Rationalität aufbaut. Das Politische wird hier als irra-
tional und/oder ineffizient in den Bereich der Negation verschoben oder in den
Bereich des wirtschaftlich zu Optimierenden. Ebenso kann Politik als Kontextur
begriffen werden, die eine positive Struktur des politisch Legitimen und des Auf-
baus von Machtstrukturen konstruiert. Wirtschaft würde sich hier im Bereich der
Negation wiederfinden oder aber im Bereich des Positiven als zu regulierender
Sachverhalt. Deutlich wird in beiden Fällen, dass die Wirtschaft nicht vollständig
im Politischen gefasst werden kann und umgekehrt. Ebenso wird deutlich, dass
ein wirtschaftlicher Bezug auf einen beliebigen Sachverhalt immer anders aussehen
wird als ein politischer Bezug. Die Restrukturierung einer Firma erscheint für die
Anteilseignervertreter so etwa wirtschaftlich rational und erstrebenswert, während
sie für die Arbeitnehmervertretung ein Problem darstellt. Beide Kontexturen bau-
en so unterschiedliche Positivstrukturen und verschieben Unterschiedliches in den
Negationsbereich.
Dennoch kann eine Beziehung zwischen Kontexturen aufgebaut werden. Dies
ist möglich, da die Operation der Negation nicht mehr als Desiderat des Positiven
begriffen wird, sondern als akkretive Operation (Günther 2000 [1979], S. 8 f.). Nein
heißt hier nicht mehr einfach Nein, sondern Nein, aber (Günther 1978, S. 127 ff.).
So ließe sich etwa sagen, dass eine bestimmte Entscheidung vielleicht nicht wirt-
schaftlich rational sein mag, dass sie jedoch politisch hoch legitim sein kann. Der
negative Wert innerhalb der einen Kontextur kann somit positiver Wert in einer an-
deren werden. Die Entstehung der gesamten Arbeiterbewegung ist auf diesen Me-
chanismus zurückzuführen. Es handelt sich um eine Geschichte des Aufbaus einer
positiven Struktur aus wirtschaftlichen Negativkorrelaten. Die Desiderate einer
Optimierungsbemühung (niedrige Löhne, geringe Sicherheitsstandards, geringe
Lohnnebenkosten, lange Arbeitszeiten) wurden zur geschlossenen Positivstruktur
42 3 Anlage der Studie

eines politischen Programms, auf dem ganze Organisationen aufbauen konnten,


das Revolutionen und neue Staatsmodelle zeitigen konnte.2
Gleichzeitig bleibt die Struktur zwischen zwei Kontexturen instabil, solange
nicht eine dritte, vermittelnde Kontextur zwischengeschaltet wird, da es andernfalls
zu ständigen Kurzschlüssen zwischen beiden käme. Innerhalb einer wirtschaftli-
chen Kontextur erscheint so die Kontextur einer Arbeiterbewegung eben nur als
irrationale Affirmation des eigenen Negativkorrelats. Durch das Zwischenschal-
ten einer dritten Kontextur kann dann jedoch eine Kontextur der anderen Mög-
lichkeiten zum Strukturaufbau bieten. Dies beginnt, in der einfachsten Form, als
Abarbeitung unterschiedlicher Ich-Kontexturen (Günther 1963), in einer Situation
doppelter Kontingenz (Parsons und Shils 2001, S. 16; Luhmann 1984, 148 ff.). Bei-
de Personen stellen hier eine eigene zweiwertige Kontextur dar, die jeweils eine
einwertige Gedankenwelt dessen produziert, was gedacht wird. Diese Gedanken-
welt bleibt dem Gegenüber intransparent, die jeweiligen Strukturen unzugänglich.
Es entsteht ein zweiwertig nicht mehr kommensurables Verhältnis. So ist Person
A zwar die eigene Gedankenwelt zugänglich, jedoch kann diejenige des Gegen-
übers nur durch Negation gefasst werden: Sie ist eben nicht die eigene. Umgekehrt
verhält es sich ebenso: Was Person A denkt, kann von Person B nur im Bereich
des Nicht-Eigenen gefasst werden, als Negation des Eigenen. Was entsteht, ist ein
Kommunikationsprozess, der gerade diese Intransparenz zu bearbeiten sucht, ohne
sie je aufzulösen (Luhmann 1984, S. 148 ff.). Die positive Struktur des Kommuni-
kationsprozesses ist jedoch weder mit derjenigen der Gedankenwelt von Person A
noch mit derjenigen der Gedankenwelt von Person B identisch. Ebenso verhält es
sich mit oben genanntem Beispiel der Differenz zwischen wirtschaftlicher und po-
litischer Kontextur. Hier wird ein gegenseitiger Strukturaufbau erst dann möglich,
wenn etwa die Kontextur einer Staatsorganisation oder etwa eines Aufsichtsrats
dazwischengeschaltet wird. Hier kann man sich dann darüber streiten, wie eine
Entscheidung aussehen soll und ob nun wirtschaftliche oder politische Argumente
stärker zählen. Die Dreierstruktur ist damit die Minimalstruktur dessen, was Gün-
ther als Verbundkontextur bezeichnet (Günther 1979a, S. 191 f.).
Damit entsteht ein Konditionierungsverhältnis dreier Kontexturen: auf der ei-
nen Seite die Differenz von Politik und Wirtschaft, die verbunden werden durch
eine spezifische Form der Bearbeitung. Die ersten beiden Kontexturen stellen eine
unhintergehbare Zweiwertigkeit dar und verweisen auf bestimmte semantische
Bestände der Gesellschaft. So verweist die politische Kontextur beispielsweise auf
bestimmte Auffassungen von Interessenvertretung und Gemeinwohl, während

2
Hier bekommt die Feststellung, dass Gewerkschaftskommunikation „Defizitkommunikati-
on“ sei, einen neuen Sinn (Baecker 2007, S. 171).
3.2 Methodologie 43

über die wirtschaftliche Kontextur verschiedene Auffassungen von wirtschaftlich


rationalem Handeln zugänglich sind. Dennoch bleiben sie weitgehend undefiniert.
Demgegenüber steht die Organisation als eigene Kontextur, die beide Kontexturen
ineinander verschränkt, ohne jedoch den genauen Modus festzulegen (Vogd 2009b,
S. 111 f.). „Die unterschiedlichen (gesellschaftlichen) Kontexturen erscheinen hier
gleichsam als Wahrscheinlichkeitsfelder, die als Potenziale bzw. Erwartungshorizon-
te präsent sind, wenngleich im konkreten kommunikativen Prozedere immer nur
ein Anschluss ausgewählt wird“ (Vogd 2009b, S. 112). Es wird immer eine konkre-
te Relationierung gewählt, die auf die Prozesshistorie zurückgreifen kann und im
Moment der Relationierung eine neue Konditionierung der anderen Kontexturen
vornimmt.
Die konditionierten Kontexturen stehen in der Folge in einem wechselseitigen
funktionalen Verhältnis zueinander (Luhmann 1970a, b) – und dies in doppeltem
Sinne. Zum einen versorgen sie sich gegenseitig mit Unsicherheit. So taucht ein
Problem innerhalb einer politischen Kontextur etwa überhaupt erst auf, wenn ein
Spannungsverhältnis zu einer anderen Kontextur entsteht. Im Beispiel des Auf-
sichtsrats entsteht etwa die Frage unternehmenspolitischer Legitimität überhaupt
erst dadurch, dass das Unternehmen einer Logik gehorcht, die nicht legitim ist,
also auf Legitimität zunächst keine Rücksicht nimmt (was nicht zu verwechseln ist
mit einer illegitimen Logik, die quasi nur eine negative Spiegelung wäre). Nur weil
innerhalb einer wirtschaftlichen Kontextur Legitimität nicht vorkommt, erscheint
sie für die politische Kontextur als zu konditionierender Bereich. Umgekehrt er-
scheint die Organisation der wirtschaftlichen Kontextur überhaupt erst als proble-
matisch, weil sie nicht ökonomisch-rational ist, sondern eben auch auf politische
Legitimität achtet. Nur weil es hier etwas zu rationalisieren gibt, kann ökonomisch
rationalisiert werden.
Auf der anderen Seite versorgen sich die Kontexturen aber auch gegenseitig mit
Verlässlichkeit. Denn in ihren konditionierten Formen bieten sie Lösungen an.
So kann etwa erst bestimmt werden, was politisch legitim ist, wenn etwas da ist,
das außerhalb der Kontextur selbst liegt. Es handelt sich hier um eine Form der
Fremdreferenz, welche die Selbstreferenz einer Kontextur entfaltet. Wenn so etwa
innerhalb einer wirtschaftlichen Kontextur Restrukturierungsmaßnahmen als na-
heliegende Alternative auftauchen und innerhalb des Aufsichtsrats vorgeschlagen
werden, so bietet dieser Vorschlag einen Anhaltspunkt innerhalb einer politischen
Kontextur. Es taucht ein Thema auf, das anhand der eigenen Kontingenzformel
bewertet werden kann. Es können bestimmte wirtschaftliche Begründungen he-
rangezogen werden (etwa der Verweis auf das Interesse der Aktionäre), die wie-
derum dazu verwendet werden können, eine eigene Position herzustellen. Die
konkrete Einschreibung in eine andere Kontextur schafft so Möglichkeiten zum
44 3 Anlage der Studie

Strukturaufbau, die ohne sie nicht möglich wären. Erst in Bezug auf etwas anderes
(hier etwa eine wirtschaftliche Logik) kann eine andere Kontextur eine differen-
zierte Positivstruktur aufbauen. Ohne diesen Bezug würde sie schlichtweg in ihrer
eigenen Selbstreferenz kollabieren (Luhmann 1984, S. 58 ff.).

3.2.2 Weiche Identitäten

Dieses Konzept gegenseitiger Konditionierung von Kontexturen hat einige Kon-


sequenzen, die methodologisch bedeutsam sind. Zunächst fällt auf, dass einzelne
Sachverhalte, die in einer Verbundkontextur entstehen, nicht eindeutig zu bestim-
men sind. Eines der einfachsten Beispiele gibt hier Günther (1978, S. 127 ff.) am
Beispiel einer Kontextur, die zwischen Farben unterscheidet. Die Aussage, eine
Rose sei nicht rot, sondern dornig, würde innerhalb dieser Kontextur nicht-rot
bleiben, innerhalb einer Kontextur, die physische Beschaffenheiten unterscheidet,
jedoch durchaus auftauchen. In Bezug auf den Aufsichtsrat könnte etwa selbst ein
Kompromiss zwischen Arbeitnehmer- und Anteilseignerseite im Aufsichtsrat nicht
als selbstidentisch erscheinen. Hat man sich etwa auf ein bestimmtes Investitions-
programm geeinigt, kann dieses im Aufsichtsrat als gemeinsame Entscheidung prä-
sentiert werden. In einer Arbeitnehmerbesprechung könnte dieselbe Entscheidung
als Sieg über die Anteilseignervertreter und auf Anteilseignerseite als Triumph der
wirtschaftlichen Vernunft präsentiert werden. Vielleicht trifft auch all das zu. So
könnten etwa die Anteilseignervertreter den Arbeitnehmervertretern entgegen-
kommen, weil sie einen Streik für wirtschaftlich schädlicher halten als einen Kom-
promiss, der Kompromiss im Aufsichtsrat kann von allen Beteiligten tatsächlich als
gut für das Unternehmen interpretiert werden und die Arbeitnehmervertreter hät-
ten einer wirtschaftlichen Rationalisierung zugunsten des Sozialen vorgebeugt. Es
ließe sich nicht entscheiden, welche Bedeutung eine Entscheidung hat und warum
sie getroffen wurde. Sie kann nicht einfach als Ausdruck eines Konsenses begriffen
werden. Sie wird getroffen, gerade weil jeder sie anders behaupten, präsentieren
und verkaufen kann. Sie wäre in diesen Sinne nicht selbstidentisch, weil ihre Iden-
tität nicht über verschiedene Kontexturen hinweg bestimmt werden könnte (hierzu
bräuchte man eine neue Kontextur, die dann aber eben auch nur eine weitere Kon-
textur wäre und damit keinen höheren ontologischen Status hätte). Ein wenig ist
sie wie Schrödingers Katze: tot und nicht tot, solange man keine Unterscheidung
anlegt, und sobald man sie anlegt, stellt sich die Frage, ob nicht gleichzeitig ein Pa-
ralleluniversum entsteht, in dem der andere Fall eintritt. Die Katze wäre in beiden
Fällen die Katze, nur einmal tot und einmal lebendig, quasi kopiert, damit selbsti-
dentisch und unterschiedlich.
3.2 Methodologie 45

Die Systemtheorie kennt diesen Sachverhalt, wenn sie darauf hinweist, dass die-
selben Sachverhalte in verschiedenen Systemen verschiedenes sind, hat jedoch das
Problem, dass sie Elementidentität setzt. Die Systemtheorie entwickelt das Konzept
struktureller Kopplung, um den Sachverhalt zu fassen, dass dieselben Elemente in
verschiedenen Systemen verschieden und dennoch identisch sind. Letztlich schei-
tert sie aber an dem Problem, wie die Relation von zwei Elementen über die Gren-
zen von verschiedenen Systemen hinweg angenommen werden kann, wenn ein
Element nur durch die Autopoiesis eines Systems hergestellt werden kann und nur
dadurch Element ist (Jung 2009, S. 50 f.). Das Problem liegt darin, dass Luhmann
auf feste Identitäten setzt, wenn er Systeme als Seiende setzt, die aus Elementen
bestehen. Der Versuch, Nicht-Identität durch die Hintertür der strukturellen Kopp-
lung einzuführen, kann hier nicht befriedigen (Baltzer 1999, S. 82 f.). Will man die-
ses Problem vermeiden, kann man nur Fuchs (2001) folgen und darauf hinweisen,
dass Systeme keine Seienden sind, also quasi gar nicht sind. Allerdings muss man
dann auch – anders als Fuchs (Fuchs 2003) – eine Minimalontologie negieren, die
davon ausgeht, dass es Systeme gibt, da diese sofort zu ontologischen Folgeprob-
lemen, wie eben jenem Problem struktureller Kopplung, führt. Das Konzept der
Kontextur bietet hier eine Alternative, da von Anfang an davon ausgegangen wird,
dass es Kontexturen nicht gibt, da eine Seinsaussage nur in einer Kontextur des
Seins sinnvoll ist.
Dieser Gedanke hat für die empirische Forschung Konsequenzen, da sich zeigt,
dass die Bestimmung eines Sachverhalts nur noch als momentanes Einrasten im
Sinne einer funktionalen Analyse begriffen werden kann. So wäre beispielsweise
ein Konzept wie Unternehmensinteresse nur in ihrer momentanen Funktion etwa
für die Konstruktion des Arbeitnehmerinteresses zu fassen. Sie ließen sich aber
ebenso mit Referenz auf die Anteilseignervertreter oder den gesamten Aufsichtsrat
neu bestimmen. Unternehmensinteresse hieße hier dann je nach Referenz etwas
völlig Unterschiedliches. Unternehmensinteresse könnte etwa aufseiten der Arbeit-
nehmervertreter Investitionen in Deutschland heißen und für die Anteilseigner-
vertreter gute Quartalszahlen. Beides könnte sich aber je nach Kontextur wieder
verschieben. Wird so etwa die Rede auf die Bedeutung negativer Wachstumsaus-
sichten als Folge von unterlassenen Auslandsinvestitionen begriffen, kann sich dies
für die Arbeitnehmervertreter schnell ändern. Für die Anteilseignervertreter kann
sich dies ebenfalls schnell ändern, wenn etwa schlechte Quartalszahlen für eine
bestimmte Wachstumsaussicht in den kommenden Quartalen suspendiert werden.
Auf Ebene des Aufsichtsrats kann der Begriff etwa nur noch momentan als Resultat
eines Kompromisses bestimmt sein. Unternehmensinteresse ist dann das, was ge-
rade ausgehandelt wurde, mithin vor der Diskussion etwas anderes als danach. Und
selbst wenn das Unternehmensinteresse in einer Entscheidung bestimmt wurde,
46 3 Anlage der Studie

sorgt neues Framing in separaten Anteilseigner- und Arbeitnehmerbesprechun-


gen schnell für eine erneute Verschiebung. Eine weitergehende Definition jenseits
dieser Momenthaftigkeit könnte nicht angenommen werden. Stattdessen könnte
jedoch der Blick auf den Strukturaufbau innerhalb des Aufsichtsrats gelenkt wer-
den, der vielleicht gerade deshalb funktioniert, weil immer von etwas anderem die
Rede ist.
Identität wäre somit stets als fluide zu begreifen, die sich nur stabilisiert, weil
sie gerade mit einer entgegengesetzten Differenz konfrontiert ist. Das Arbeitneh-
merinteresse ist nur, was es ist, weil gerade ein bestimmtes Anteilseignerinteresse
erscheint. Es ist nur, was es ist, weil es sich gegenüber Gewerkschafts- und Stand-
ortinteresse abgrenzt. Entsprechend könnte empirische Forschung hier nicht mehr
nach einer Identität fragen. Selbst die Rückführung eines kommunikativen auf ei-
nen konjunktiven Sinn wäre in diesem Sinn nicht möglich, da auch ein bestimmter
konjunktiver Sinn vermutlich erst generiert wird, wenn die entsprechenden Diffe-
renzen von außen angelegt werden.
Somit würde der empirische Blick auf die Frage wandern, wie mit der Fluidi-
tät von Identitäten gespielt wird, welche Funktion die Bestimmung einer konkre-
ten Identität in Abgrenzung zu etwas anderem hat, wie innerhalb einer Kontextur
Stabilität erzeugt wird, indem Identitäten (etwa das Arbeitnehmerinteresse) fluide
umspielt werden und immer neue Interpretationen vorliegen. Dies geht soweit,
dass beobachtet werden kann, wie eine polykontextural völlig unterbestimmte
Identität gerade durch ihre „fuzziness“ Stabilität produziert, etwa die Rede vom
Unternehmenswohl gerade deshalb funktioniert, weil keiner weiß, was damit ge-
meint ist, weil kein konjunktiver Erfahrungsraum vorliegt, der dies im Aufsichtsrat
quasi allgemeingültig bestimmt. Man könnte sogar die Vermutung aufstellen, dass
eine Identität funktionaler wird, je unbestimmter sie wird, da dies darauf hindeutet,
dass eine Vielzahl von Kontexturen an ihr parasitieren (im Sinne von Serres 1980).
Die Frage nach der Selbstidentität eines Elements hat noch eine andere Di-
mension, die darauf hindeutet, dass nicht nur eine Bestimmung innerhalb einer
Kontextur instabil ist, sondern die Kontextur selbst nicht als gegeben angenommen
werden kann. So findet sich schon bei Fichte (1997) – freilich noch subjekttheore-
tisch gewendet – die Einsicht, dass selbst die Grundoperation der Unterscheidung
in die Operation des Markierens sowie die Markierung zerfällt, beides in Markie-
ren und Markiertes auseinanderbricht und nicht mehr als selbstidentisch eingeholt
werden kann. Sobald die Identität von A durch die Aussage A = A bestimmt wird,
bleibt der Reflexionsrest der Operation des Gleichsetzens übrig, der innerhalb ei-
ner Kontextur nicht mehr eingeholt werden kann. Die Reflexion auf die Identität
kontaminiert sozusagen die Identität selbst, indem sie mit einem Teil der Refle-
xion anreichert und damit die Unterscheidung von A und ~A unterläuft. Positiv
3.2 Methodologie 47

formuliert könnte man auch sagen, dass die Unterscheidung von A und ~A, die
ja die Einheit der Kontextur konstituiert, in der Kontextur selbst nicht vorkommt
(Günther 1978, S. 16 ff.).
Jede Kontextur birgt so ihre eigene Dekonstruktion (Derrida 1974). Sie unter-
läuft sich selbst in dem Moment, da sie sich als „Tathandlung“ (Fichte) zum ersten
Mal aktualisiert, da sie diese Tathandlung nie wieder einzuholen vermag. Daher
der Imperativ: „tertium non datur“ – es handelt sich hier um eine Selbstdekon-
struktionssperre. „Was durch das Tertium non datur ausgeschlossen wird, ist die
Reflexion, die über das metaphysische Grundthema dieser Logik hinausgehen will“
(Günther 1978, S. 130). Keine Logik bietet so einen sicheren Grund. Die politi-
sche Logik verweist darauf, dass ohne Wirtschaft nichts geht, die wirtschaftliche
Logik darauf, dass man ja auch politisch sein muss, um wirtschaftlichen Erfolg zu
haben. Potenziell tauchen technische Probleme auf. Die Arbeitnehmervertretung
zerfällt, sobald sie sich auf sich selbst richtet, plötzlich in Partiallogiken, die sich aus
Standorten und Gewerkschaften speisen. Karrierewege – Zukunft wie Vergangen-
heit – der Anteilseignervertreter werden aktualisiert, sobald sich die Frage nach der
richtigen Rationalität stellt und man bemerkt, dass man auf anderes zurückgreifen
muss, um diese richtige Rationalität überhaupt erst herzustellen. Das alles heißt,
dass man sich in eine Hermeneutik ohne Boden begibt. Man könnte der Spur (im
Sinne Derridas) ins Unendliche folgen, sich in ihr verlieren, da alles Feste sofort zu
zerfallen scheint, sobald man sich auf seine Einheit richtet.
Das Interesse einer rekonstruktiven Sozialforschung richtet sich jedoch genau
in die entgegengesetzte Richtung: Sie interessiert sich dafür, welche Techniken eine
soziale Praxis entwickelt, genau diese Selbstdekonstruktion zu verhindert. Sie be-
obachtet, welche Strukturen aufgebaut und durch verschiedenste Techniken am
Leben gehalten werden.

3.2.3 Rekonstruktion funktionaler Verschränkungen

Entscheidungsprozesse in Organisationen verschränken eine Vielzahl von Kontex-


turen – Krankenhäuser etwa wirtschaftliche, medizinische, rechtliche, organisato-
risch/hierarchische und unter Umständen erzieherische (Vogd 2004). Der Ablauf
der Entscheidungsfindung reflektiert jede dieser Dimensionen auf eine bestimmte
Art und Weise. Wirtschaftliche Konsequenzen werden bedacht, Famulanten zu-
rechtgewiesen, wenn sie falsche Fragen stellen, die Hackordnung unter den Ober-
ärzten wird aufrechterhalten und der Patient wird behandelt. Organisationale Pra-
xis greift auf verschiedene konditionierte Verhältnisse zurück, aktualisiert sie im
eigenen Verlauf und trägt gleichzeitig zur Strukturbildung der Kontexturen bei.
48 3 Anlage der Studie

Organisationale Prozesse sind strukturiert durch die konditionierten Kontexturen,


die sie verbinden, und strukturieren umgekehrt das Verhältnis dieser Kontexturen
sowie die Struktur der einzelnen Kontexturen (Vogd 2009b, S. 111 f.).
Ein kontexturanalytisches Vorgehen würde sich genau für diese strukturelle
Verschränkung interessieren. Wie bei der dokumentarischen Methode würde die
Frage nach dem „Wie“ des beobachteten Prozesses in den Vordergrund rücken.
Hierfür scheint jedoch zunächst die Rekonstruktion der einzelnen Positivstruk-
turen zentral zu sein. Bevor eine Aussage darüber getroffen wird, wie zwischen
Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretung eine Struktur entsteht, die auf den
Strukturen der Erstgenannten aufbaut, müssen zumindest innerhalb eines gewis-
sen Bereichs eben jene Strukturen freigelegt werden. So würde etwa interessieren,
wie Arbeitnehmervertretung ausgelegt wird oder was Anteilseignervertretung be-
deutet. In diesem Sinne geht es um eine deskriptive Rekonstruktion. Eng mit die-
ser Analyse verbunden ist der Umgang mit anderen Kontexturen innerhalb der
eigenen Positivstruktur. Wie wird etwa die Anteilseignervertretung aufseiten der
Arbeitnehmervertreter interpretiert?
Im Anschluss daran kann rekonstruiert werden, wie im Sinne einer funk-
tionalen Analyse (Bateson 1981, S. 515 ff.; Luhmann 1970a, b) das Problem in-
kongruenter Kontexturen bearbeitet wird. Diese Bearbeitung ist dabei als eigene
Kontextur zu begreifen. Sie ist quasi die Brücke, die auf beiden Seiten Anschlüs-
se herstellt, ohne jedoch von einer der beiden Kontexturen bestimmt zu werden.
Die Bearbeitung als Kontextur konstituiert die Beziehung – mindestens – zweier
inkongruenter Kontexturen zu einer Verbundkontextur (Günther 1979a, b). Das
heißt auch hier zunächst die Rekonstruktion der Positivstruktur dieser Brücken-
kontextur (im vorliegenden Fall die Zusammenarbeit im Aufsichtsrat). Darüber
hinaus interessiert hier jedoch auch der wechselseitige Strukturaufbau von unter-
schiedlichen Kontexturen. Welche Positivstrukturen der Arbeitnehmervertretung
bieten etwa Anschlüsse für eine bestimmte Struktur der Zusammenarbeit? Hier
ist das oben genannte Beispiel Günthers mit der Rose angesprochen. Es geht um
jene Strukturen, die innerhalb der einen Positivstruktur etwa als rot oder nicht-rot
erscheinen, innerhalb einer anderen aber als dornig. Ein Beispiel aus dem Auf-
sichtsrat wäre eine Arbeitnehmervertretung, die sich als Interessenvertretung mit
begrenzten wirtschaftlichen Kompetenzen begreift, der Interessenvertretung aber
den wirtschaftlichen Erfolg voranstellt. Eine Positivstruktur der Arbeitnehmerver-
tretung bietet eine Anschlussmöglichkeit für eine Anteilseignervertretung, welche
die politische Dimension der eigenen Entscheidung reflektiert und den Arbeitneh-
mern ein begrenztes Mitspracherecht einräumt, letztlich aber auf der eigenen Au-
torität und der einstimmigen Entscheidung beharrt. In der Zusammenarbeit kann
hier eine Kompromissorientierung entstehen, in der beide Seiten aufeinander zu-
3.2 Methodologie 49

kommen (auf der einen Seite wird die wirtschaftliche Notwendigkeit gesehen, auf
der anderen Seite der wirtschaftliche Wert der Zustimmung der Arbeitnehmer-
vertreter) und eine Pattsituation tendenziell im Sinne der Anteilseignervertreter
gelöst wird (diesen wird eine höhere wirtschaftliche Kompetenz zugeschrieben bei
gleichzeitiger Vorschaltung des wirtschaftlichen Erfolgs vor der Interessenvertre-
tung). Letztlich geht es also um die Rekonstruktion einer Verbundkontextur: Wie
werden zumindest zwei Kontexturen durch eine dritte in Beziehung gesetzt?
Dabei ist ein solches Vorgehen mit der Tatsache konfrontiert, dass sich diese Be-
züge nicht manifest rekonstruieren lassen. Vielmehr sind die Daten eines rekonst-
ruktiven Vorgehens, Texte, Videos, Bilder – mit Nassehi (1997, S. 152) könnte man
von endzeitlicher Kommunikation sprechen –, Einschreibung in einer Seinslogik.
Sobald gesprochen, gezeichnet, aufgenommen wird, entfaltet sich eine einwerti-
ge Ontologie, die Seiendes behauptet und Relationen zwischen diesem Seienden
(vgl. Günther 1979a). So gibt es in der Welt eines Arbeitnehmervertreters etwa das
Unternehmen, ein Arbeitnehmerinteresse, ein Anteilseignerinteresse, Regeln der
Zusammenarbeit. Ebenso gibt es Arbeitnehmer, die zur Wahl gehen, und es gibt
Anteilseignervertreter und Vorstände. Die dokumentarische Methode fasst diese
Ebene des Textes mit dem Begriff des immanenten Sinns (Bohnsack 1997, S. 202 f.).
Es sind Erklärungen, Feststellungen, Um-zu-Motive (im Sinne von Schütz 1981),
die hier zur Verfügung stehen.
Jeder dieser Sachverhalte innerhalb einer der Kontexturen des Seins, jedes Sei-
ende, kann gleichzeitig als Schnittstelle einer anderen Kontextur betrachtet werden.
Mit Günther (1979a, S. 198) ließe sich sagen: „Zwar ist alles menschliche Denken
zweiwertig, und es wird, wie wir noch mal betonen möchten, auch immer so blei-
ben. Die Welt aber, deren sich dieses Bewusstsein theoretisch zu bemächtigen ver-
sucht, ist ontologisch mehrwertig“. Eine Rose kann gleichzeitig rot und dornig sein.
Oder sie kann nicht-rot (etwa gelb) und dornig sein. Um-zu-Motiven kommt ein
politischer Sinn zu oder ein wirtschaftlicher. Sie können Funktionen in der Hierar-
chie erfüllen oder die Stabilität im Aufsichtsrat gewährleisten. Wenn etwa Arbeit-
nehmervertreter als Interessenvertreter beschrieben werden, stellt dies zunächst
nur einen Sachverhalt in der Welt dar. Innerhalb einer politische Kontextur kann
hier ein Konzept der Aufsichtsratsarbeit vertreten werden: politische Legitimation
durch Opposition. Innerhalb einer wirtschaftlichen Kontextur kann hier ein Nega-
tivwert bezeichnet werden: Irrationalität. Innerhalb des Aufsichtsrats können hie-
rüber Zuständigkeiten verteilt werden (nur interessenpolitisch relevante Themen
sind entscheidungskritisch). Die Kontextur der Arbeitnehmervertretung könnte
in weitere Kontexturen zerfallen (wessen Interessen und wer bestimmt sie?). Die
Funktion, die ein solcher Wert innerhalb einer bestimmten anderen Kontextur
einnimmt, bleibt jedoch latent. Sie hinterlässt jedoch ihre Spuren in der Struktur
50 3 Anlage der Studie

des Textes. Dieser ist in einer bestimmten Art gerahmt (Goffman 1986) und weist
strukturelle Eigenheiten auf, die eine Funktion für eine andere Kontextur haben
kann. Kontexturen innerhalb des Negationsbereich des Seins formen das, was sich
als Diskursstruktur im Text finden lässt (Przyborski 2004).
Von hier aus lässt sich die Annahme formulieren, dass der manifeste Text als
Schnittstelle rekonstruierbar ist. Anliegen wäre es dann, die verschiedenen Posi-
tivstrukturen zu rekonstruieren und die Relationierung der verschiedenen Kontex-
turen untereinander sichtbar zu machen. Dies geht nur, wenn der Blick von dem
„Was“ des Seienden auf das „Wie“ des Ablaufs gerichtet wird, wenn also die Position
eines Beobachters zweiter Ordnung eingenommen wird (Luhmann 1991). Bohn-
sack (1997, S. 203) spricht hier in Anlehnung an die Phänomenologie Edmund
Husserls auch von der „Einklammerung des Geltungscharakters“ des Textes. Es
interessiert also nicht, ob die Aussagen, die innerhalb der Kontextur des Textes
getätigt werden, zutreffen oder nicht, ob sie wahr sind oder nicht. Es interessiert
vielmehr, welche funktionale Struktur sich in ihnen in Bezug auf eine bestimmte
andere Kontextur zeigt. Welche Form des Umgangs etwa entwickelt die Arbeitneh-
mervertretung im Verhältnis zur Anteilseignervertretung im Aufsichtsrat? Welche
Identitäten schaffen hier Stabilität? Welche Engführungen lassen sich feststellen,
die einen wechselseitigen Strukturaufbau ermöglichen?
Hier scheint es „hilfreich, das operative Verständnis von Kommunikation als
fortlaufende Kette von Selektionsprozessen zu begreifen, die jeweils Unbestimmtes
in einen bestimmten Sinnhorizont einrasten lassen, um sich dann zur nächsten
‚Bestimmung des Unbestimmten‘ hangeln zu können. Man würde nun also schau-
en, wie Kontingenz des Geschehens von Sequenzstelle zu Sequenzstelle geschlossen
würde, wie also jeder neue Anschluss das Vorangegangene von Neuem spezifiziert.
Die gesellschaftstheoretische Dimension kommt nun hinein, indem ein Beobachter
entdecken kann, dass bestimmte Typen von Schließung erzeugt werden, die nun
den Kontext dafür stellen, dass dieselbe Typik der semantischen Engführung er-
neut angelaufen wird (Vogd 2009b, S. 101). So könnte beispielsweise beobachtet
werden, dass sich Anteilseignervertreter in einem Aufsichtsrat als ausschließlich
ihrer Kompetenz verpflichtet beschreiben. Sie machen so ihre Zustimmung von
ihrer Einsicht über die beste Entscheidung abhängig. Diese wird jedoch im Einzel-
fall stets zugunsten der Einstimmigkeit der Anteilseignervertreter gegenüber den
Arbeitnehmervertretern suspendiert. Während Ersteres dabei durchaus ausgespro-
chen wird, muss Letzteres im Bereich des Unausgesprochenen bleiben. Es lässt sich
nur aus dem „Wie“ des Textes rekonstruieren.
Dieses „Wie“ des Kontexturarrangements ist nur zugänglich über die Struk-
tur des Textes, die nur durch eine komparative Analyse sichtbar wird (so schon
Glaser und Strauss 1999; in der dokumentarischen Methode vgl. etwa Nohl 2001;
3.2 Methodologie 51

Bohnsack 2003a). Der latente Sinn einer Äußerung, die Funktion, die sie für
ein bestimmtes Bezugsproblem innerhalb einer Kontextur einnehmen kann, er-
schließt sich erst im Vergleich mit thematisch oder funktional ähnlichen Stellen.
Dieser Vergleich kann immer nur unter dem Vorzeichen einer Kontextur begrif-
fen werden. Die Rekonstruktion wird hier durch ein entsprechendes tertium com-
parationis festgelegt. So würde etwa die Rekonstruktion einer Positivstruktur der
Arbeitnehmervertretung durch einen Vergleich thematisch relevanter Passagen
aller interviewten Arbeitnehmervertreter produziert werden können. Eine Kontex-
tur der Aufsichtsratsarbeit würde durch einen Vergleich relevanter Passagen aller
Aufsichtsräte hergestellt werden, eine Kontextur betrieblicher Arbeitnehmerver-
tretung durch den Vergleich betrieblicher Arbeitnehmervertreter usf. Der Inter-
pretation ginge es dann darum, diese unterschiedlichen Kontexturen durch den
Vergleich zu rekonstruieren. Eine andere Möglichkeit zeigt etwa Przyborski (2004,
S. 289 ff.) in der Analyse gemischter Gruppen, innerhalb derer sich unterschied-
liche Erfahrungsräume zeigen. In der sequenziellen Analyse der Diskursstruktur
lässt sich beobachten, wie unterschiedliche Rahmungen (im Sinne von Goffman
1986) an die Interaktion angelegt werden und unterschiedliche Kontexturen aktu-
alisieren, während andere temporär ausgeklammert werden.
In einem ersten Schritt interessiert hier die Positivstruktur, die jede Kontextur,
etwa die der Arbeitnehmervertretung oder die der Anteilseignervertretung, auf-
baut. Diese Positivstruktur bewegt sich nah am Konzept des konjunktiven Erfah-
rungsraums (Bohnsack 2003b, S. 60), unterscheidet sich jedoch vor allem in zwei
Punkten. Zum einen wird sie als unhintergehbare binäre Logik gefasst, die eine
konditionierbare Positivstruktur aufbaut. Unhintergehbar ist sie in dem Sinne, dass
ein gradueller Verlauf zwischen Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretung nicht
vorstellbar ist. Beide Kontexturen weisen ihre eigene Codierung auf, sind in der
Positivstruktur jedoch flexibel. Darüber hinaus ist eine Kontextur als Reflexions-
raum ohne ontologische Verankerung im Sinne eines inkorporierten, objektiv vor-
findbaren Wissensbestandes gedacht, der von einer bestimmten Menge Menschen
geteilt wird. Es wird also nicht davon ausgegangen, dass es einen geteilten Wissens-
bestand gibt, der freigelegt wird, sondern nur, dass eine bestimmte Engführung von
Arbeitnehmervertretung als Antwort auf spezifische Probleme des Aufsichtsrats
entstehen. Das verweist darauf, dass diese Positivstruktur rein virtuell ist. Sie muss
nicht von allen geteilt werden. Sie kann vielmehr einzelne Personen ausschließen,
auf andere Kontexturen (etwa Hierarchie) zurückgreifen, um andere Konzepte der
Arbeitnehmervertretung zu verhindern, und einiges mehr.
Die Rekonstruktion einer Positivstruktur folgt der Verwendung positiver und
negativer Werte im Text. Es interessiert also, welche Inhalte affirmiert werden und
welche Inhalte in den Negationsbereich verschoben werden. Die dokumentarische
52 3 Anlage der Studie

Methode trägt dem durch die Betonung der Funktion positiver und negativer Ver-
gleichshorizonte Rechnung (Bohnsack 1997, S. 204; Bohnsack 2001, S. 234).
Dies ist jeweils nur möglich, indem ein tertium comparationis gesetzt wird, also
das tertium non datur einer bestimmten Kontextur als unhintergehbar gesetzt wird.
Das tertium comparationis strukturiert den Vergleich einzelner Passagen und lässt
eine Aussage über eine bestimmte Struktur zu. So kann etwa eine Aussage über die
Kontextur der Arbeitnehmervertretung nur getroffen werden, wenn Interviews mit
Arbeitnehmervertretern miteinander verglichen werden. Andernfalls wäre kaum
erkennbar, ob es sich bei bestimmten Strukturen um solche des Aufsichtsrats oder
beispielsweise Besonderheiten der betrieblichen, bzw. gewerkschaftlichen Arbeit-
nehmervertreter oder gar um die Struktur eines Einzelfalls handelt.
Von besonderem Interesse ist dabei die Schließung einer Kontextur gegenüber
anderen Kontexturen. Die eigene Zweiwertigkeit wird so aufrechterhalten. Bei-
spielsweise können sich die Arbeitnehmervertreter etwa gegenüber den Anteils-
eignervertretern schließen und diese gegenüber dem Vorstand. In anderen Fällen
schließt sich eine Kontextur betrieblicher Arbeitnehmervertretung gegenüber ei-
ner gewerkschaftlichen. Das Grenzmanagement sagt hier viel über das Funktionie-
ren der einzelnen Kontextur aus und legt vor allem die möglichen Anschlüsse für
eine Verbundkontextur fest. Denn die Art, in der diese Schließung geschieht, kann
Auskunft über mögliche Anschlüsse geben.
Das Verhältnis gegenüber anderen Kontexturen wird innerhalb einer Positiv-
struktur durch transjunktionale Operationen abgesichert. Transjunktionale Opera-
tionen dienen dazu, einzelne Elemente aus dem eigenen Wertesystem auszuschlie-
ßen, ganze Reflexionshorizonte auszuschließen oder aber komplette Kontexturen
zu spiegeln. Transjunktionale Operationen dienen also der Sicherung des tertium
non datur. Günther (1976, S. 287 ff.) unterscheidet hier die partiale Rejektion sowie
die totale differenzierte und die totale undifferenzierte Rejektion.
Die partiale Rejektion bezeichnet eine Operation, die einen Wert innerhalb
einer Kontextur rejiziert, ihn also nicht negiert oder affirmiert, sondern aus der
eigenen Strukturgenese ausschließt. Eine solche Operation findet etwa häufig in
kontextualen Verschränkungen mit geringer Komplexität statt. Der erste Typ der
später vorgestellten Typologie bildet hierfür ein Beispiel (4.2 Typ 1: Kollisionen
von Wirtschaft und Politik): Die Arbeitnehmervertretung sichert ihre Geschlos-
senheit, indem eine Vielzahl von Werten einfach aus dem Bereich der Arbeit-
nehmervertretung ausgeklammert wird. Hierzu zählen die allermeisten Fragen
der Unternehmensführung, die nicht direkt als politisch negativ markiert wer-
den können. Die Arbeitnehmervertretung zieht sich hier zurück und verhindert
damit das Problem, im Aufsichtsrat zwischen wirtschaftlichen und politischen
Fragen abwägen zu müssen. Arbeitnehmervertretung kann so in ihrer Form als
3.2 Methodologie 53

reine Oppositionsarbeit gegen den Anteilseignervertreter gefasst werden. Die Zu-


sammenarbeit, die zwischen beiden Seiten besteht, ist in der Folge entsprechend
beschränkt.
Komplexer ist die totale undifferenzierte Rejektion. Sie bietet im Strukturauf-
bau die Möglichkeit, eine andere Kontextur als solche zu identifizieren, sie aber
als Ganze zu rejizieren. So vermag etwa ein Aufsichtsratsvorsitzender, der um die
Einheit der Anteilseignerseite bemüht ist, einen eleganten Umgang mit Personen
zu finden, die abweichende Meinungen äußern: Was zuvor die Positivstruktur der
Anteilseignervertretung gefährdete, kann nun einfach einer anderen Person at-
tribuiert werden, die einen nicht nachvollziehbaren Welthorizont aufweist: Man
stellt fest, dass eine Person seltsam ist, und macht weiter wie zuvor (Jansen 2011,
S. 105 f.). Ein solches Vorgehen stellt damit eine komplexere Technik dar, mit dem
tertium umzugehen. Es wird als solches markiert. Damit kann es adressiert und
in der eigenen Struktur verwendet werden. Gleichzeitig kann jedoch die Binnen-
struktur der neuen Kontextur ausgeklammert werden. Eine ähnliche Funktion hat
die totale undifferenzierte Rejektion für die Arbeitnehmervertreter des Typs 4 (4.5.
Typ 4: Legitime Wirtschaft): Die Anteilseignervertreter werden hier als zuständig
für alle relevanten Fragen betrachtet. Gleichzeitig werden sie als Black Box konstru-
iert und die Arbeitnehmervertretung hat sämtliche Probleme des Strukturaufbaus
ausgelagert.
Die totale differenzierte Rejektion stellt wohl die größte Herausforderung für
den Strukturaufbau dar, da sie eine weitere Kontextur markiert, sich aber gleich-
zeitig mit ihrer Binnendifferenz beschäftigt. Die Arbeitnehmervertreter des Typs
3 (4.4. Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“), zu einem gewissen Grad auch
jene des Typs 2 (4.3. Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik) arbeiten
mit dieser Form der Rejektion: Wirtschaftlichkeit beginnt hier als relevantes The-
ma identifiziert zu werden, man setzt sich mit wirtschaftlichen Fragen auseinan-
der und beginnt, wirtschaftliche und politische Positivstruktur zu verschränken.
Die potenziellen Folgen werden hier teilweise durch weitere Rejektionen ein-
geschränkt: Die Arbeitnehmervertreter des Typs 2 sehen ihre Zuständigkeit nur
beschränkt im Wirtschaftlichen und führen sie auf Fragen des Betriebs eng. Das
erlaubt eine engere Verschränkung von Arbeitnehmervertretung und wirtschaft-
licher Entscheidungsfindung, da in beiden Fällen mit der Referenz auf den Betrieb
gearbeitet werden kann (der in beiden Fällen dann zwar etwas anderes ist – aber die
„fuzzy identity“ des Betriebs funktioniert gerade deswegen). Die Arbeitnehmerver-
treter des Typs 3 führen eine weitere Kontextur mit der Entscheidung von Internen
und Externen ein, die auch von den Anteilseignervertretern mitgetragen wird. Der
Strukturaufbau kann somit hier auf eine ähnliche Form des Betriebs zurückgreifen.
54 3 Anlage der Studie

Eine erste Rekonstruktion der verschiedenen Positivstrukturen kann es so er-


lauben, erste Rückschlüsse auf das Arrangement verschiedener Kontexturen zu
ziehen. Es lassen sich homologe Orientierungsmuster entdecken (Bohnsack 2001,
S. 230), die Anschlüsse möglich machen. So hat etwa eine Konstruktion von
Arbeitnehmervertretung als gewerkschaftlich orientierter, konfliktorientierter In-
teressenvertretung eine Vielzahl von Lesbarkeiten. Zum einen stellt sie eine Seman-
tik innerhalb des gesamten Aufsichtsrats dar, die bestimmte Anschlüsse auf der
Anteilseignerseite möglich macht. So wäre es hier etwa nur begrenzt möglich, die
Arbeitnehmervertreter von wirtschaftlichen Sachverhalten zu überzeugen. Hier er-
scheint Arbeitnehmervertretung dann als irrational, als gegen das Unternehmen
gerichtet. Aufseiten der Arbeitnehmervertreter wiederum erscheint diese Form
der Arbeitnehmervertretung als eine Form unter anderen. Sie muss unter Um-
ständen supplementiert werden, damit sie sich gegenüber betrieblich orientierten
Auffassungen durchsetzt. Innerhalb der politischen Kontextur der Arbeitnehmer-
vertreter können hier neue Werte aufbrechen, es kann etwa darauf aufmerksam
gemacht werden, dass nur wirtschaftlicher Erfolg des Unternehmens im Interesse
der Arbeitnehmer liegen kann, und ein Kampf um die Deutungshoheit kann ent-
brennen. Arbeitnehmervertretung ist in diesem Sinne dann nicht mehr mit sich
selbst identisch. Sie heißt im Aufsichtsrat etwas anderes als aufseiten der Arbeit-
nehmervertreter, heißt für die betrieblichen Arbeitnehmervertreter unter Umstän-
den etwas anderes als für die gewerkschaftlichen.3

3.2.4 Vorgehen in der Interpretation

Das konkrete Vorgehen in der Interpretation orientiert sich an den bisher gemach-
ten Unterscheidungen. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt auf der Ebene des objek-
tiven – oder immanenten – Sinns in der Terminologie der dokumentarischen Me-
thode bzw. auf Ebene einer klassischen Seinsontologie im Sinne Günthers. Bohn-
sack (Bohnsack 2003b, S. 32 ff.) redet hier von der formulierenden Interpretation.
Von hier aus wird in der reflektierenden Interpretation ein Verständnis davon ent-
wickelt, welche Kontexturen hier auf welche Art in ein Verhältnis gebracht werden.
Dies geschieht durch ein vergleichendes Vorgehen, die komparative Analyse, die es
erlaubt, den Inhalt in den Hinter- und die Struktur in den Vordergrund treten zu

3
Günther (2000 [1979], S. 16) sagt hierzu: „Der einen Identität des ewig Seins alles par-
tikulär Seienden treten jetzt Gegenidentitäten gegenüber, und zwar ist es gleich im ersten
System einer solcherart geschwächten Identität nicht nur ein Gegenbild des in sich ruhenden
Einen, sondern zwei, die zusammen mit der alten klassischen Identität eine Dreieinigkeit
ausmachen“.
3.2 Methodologie 55

lassen. Ergebnis dieses Vorgehens ist eine mehrdimensionale Typologie (Bohnsack


2010a), die einen Einblick in die funktionalen Verschränkungen verschiedener
Kontexturen erlaubt. Das konkrete interpretative Vorgehen habe ich dabei stärker
an das Vorgehen der grounded theory angelehnt, aus der sich die dokumentarische
Methode entwickelt hat. Der Hauptgrund hierfür liegt in den oben diskutierten
Problemen der Anwendung der dokumentarischen Methode auf den vorliegenden
Gegenstand. Im konkreten methodischen Vorgehen hat dies die Folge, dass die do-
kumentarische Methode stark auf die Sequenzialität eines Textes setzt und damit
den Text als Ausdruck einer geschlossenen Orientierung oder eines geschlossenen
Erfahrungsraumes analysiert. Da es mir hier aber darum geht, Elemente eines Tex-
tes verschiedenen logischen Räumen zuzuordnen, habe ich mich im Vorgehen stär-
ker an der grounded theory orientiert, die ein fragmentierteres Vorgehen erlaubt.
Nichts desto trotz habe ich von der dokumentarischen Methode die grundlegen-
de Blickrichtung (Orientierungsrahmen und -figuren, Differenz von Sinnebenen)
übernommen und die Differenz von formulierender und reflektierender Interpre-
tation in der abschließenden Theorieformulierung beibehalten, da diese eine gute
methodische Kontrolle sicher stellt.
In einem ersten Schritt wurde das Material im Sinne der grounded theory offen
kodiert. Es wurden Passagen ausgewählt, die für die Forschungsfrage thematisch
relevant sind oder die „Fokussierungsmetaphern“ (Bohnsack 2003b, S. 33) darstel-
len, also etwa einen besonders hohen Detailreichtum aufweisen oder einen Bruch
im Text darstellen. Wenn das Interesse des Interpreten so etwa auf der Frage liegt,
wie die Anteilseignervertreter sich gegenüber den Arbeitnehmervertretern verhal-
ten, würde eine Passage ins Auge springen, in der ein Anteilseignervertreter einen
anderen als „ungesteuerte Cruise Missile“ bezeichnet, weil dieser in bestimmten
Situationen mit den Arbeitnehmervertretern gestimmt hat (Jansen 2011, S. 166f.).
Diese offene Kodierung wurde insofern im Sinne der formulierenden Interpre-
tation der dokumentarischen Methode durchgeführt, als dass die Codes zunächst
auf Ebene des immanenten Sinngehalts formuliert wurden. In der späteren Aus-
formulierung wurden die Codes weiter zu einer vollständigen formulierenden
Interpretation ausgearbeitet. Sowohl die Kodierung wie auch die formulierende
Interpretation verlassen das Relevanzsystem des Textes nicht, stellt keine Fragen
nach den Gründen, Motivationen oder der Gültigkeit des vorliegenden Textes. Es
wird vollständig davon abgesehen, eine bestimmte Aussage normativ zu bewerten
oder auf eine irgendwie geartete Latenz zurückzuführen. Kodierung wie auch for-
mulierende Interpretation nehmen damit eine „Ausklammerung des Geltungscha-
rakters“ (Bohnsack 1998, S. 64) vor.
Das Abstraktionsniveau des Textes wird in der offen Kodierung wie in der fo-
mulierenden Interpretation beibehalten (Bohnsack 2003b, S. 33 ff.). Es geht darum,
56 3 Anlage der Studie

dass der Interpret insofern eine gewisse Distanz herstellt, dass die Begrifflichkeit
des Textes weitgehend abgestreift wird, die Ontologie, die hinter dieser konkreten
Begrifflichkeit liegt, in ihrer Struktur jedoch erhalten bleibt. Dies sichert eine Kon-
trolle im interpretativen Vorgehen. Zum einen wird das weitere Vorgehen in der
Interpretation nachvollziehbarer gemacht. So kann etwa ein Leser sich ein Urteil
darüber bilden, ob eine bestimmte Interpretation, die ihm unschlüssig erscheint,
vielleicht auf ein unangemessenes Verständnis des Originaltextes auf immanenter
Ebene zurückzuführen ist, oder ob das Problem in der weitergehenden Interpreta-
tion zu finden ist. Für den Interpreten stellt dieser Zwischenschritt ebenso metho-
dische Kontrolle sicher. Er sorgt dafür, dass die Entfernung von der vorgestellten
Ontologie nur Schrittweise erfolgt und immer wieder auch für den Interpreten re-
konstruierbar ist.
In der weiteren Interpretation habe ich mich an der Kategorienbildung der
grounded theory orientiert und diese. Die Resultate der offenen Kodierung wurden
rekombiniert und zusammengefasst. Darauf aufbauend wurden mithilfe von von
Memos und selektiver reflektierender Interpretationen Hypothesen und Theorien
zu den einzelnen Gremien entwickelt. Diese wurden im Schreibprozess im Sinne
einer reflektieren Interpretation der dokumentarischen Methode ausgebaut. Diese
verlässt das Abstraktionsniveau des vorliegenden Textes und fragt nach den weite-
ren Kontexturen, die sich in der Ontologie des Textes überschneiden. So ließe sich
etwa die oben genannte auffällige Textstelle dahin gehend interpretieren, dass pro-
fessionelles Management zwar auf der einen Seite fachlichen Diskurs bedeutet, auf
der anderen Seite jedoch im Zweifelsfall das Ausklammern der eigenen fachlichen
Meinung nahe liegt, um eine geschlossene Position des Managements vorzuweisen.
Zu Beginn geschieht diese Interpretation dabei freilich noch vor allem gedan-
kenexperimentell anhand eigener Vorentscheidung. Diese Interpretationen bil-
den jedoch den Ausgangspunkt für das weitere Arbeiten, das in der Tradition der
grounded theory vor allem auf einen ständigen Vergleich verschiedener Passagen
setzt (Glaser und Strauss 1999, S. 101). Diese stellt einen stabilen wechselseitigen
Strukturaufbau von Text und Interpretation sicher. Es werden Stück für Stück Mus-
ter identifiziert und ausgearbeitet, die sich erst durch diese Vergleiche zeigen (Nohl
2001).
Die ersten Vergleiche der Theoriebildung sind fallimmanente Vergleiche. Ver-
schiedene thematisch oder strukturell ähnliche Passagen werden als Kontrastfo-
lien nebeneinandergehalten, um eine, zunächst nur provisorische, Interpretation
für den einzelnen Fall zu erhalten. Dies sind zumeist nur einfache Orientierungs-
figuren, die den Umgang mit bestimmten Sachverhalten regeln (Bohnsack 2001,
S. 234). Doch auch diese finden schon unter dem Vorzeichen eines von außen an-
gelegten Dritten statt, etwa der Frage nach der Einheit der Anteilseignerseite.
3.2 Methodologie 57

Ist dies geschehen, wird in einem zweiten Schritt der Vergleichshorizont


erweitert. Nach und nach werden einzelne Fälle miteinander verglichen, um eine
bestimmte Positivstruktur zu rekonstruieren. So werden etwa Interviews betrieb-
licher Arbeitnehmervertreter miteinander in Beziehung gesetzt, um eine Aussage
über die Kontextur betrieblicher Arbeitnehmervertretung zu erhalten. Dies ermög-
licht es, fallübergreifende Strukturen ebenso sichtbar zu machen wie fallspezifi-
sche Selektivitäten. Im Vergleich möglichst ähnlicher und möglichst verschiedener
Fälle, im Minimal- und Maximalkontrast, wird so die Grundlage für eine Typen-
bildung geschaffen. Diese Typenbildung erfolgt dabei nach der „funktionalen Be-
ziehung“ (Bohnsack 2003b, S. 245) zwischen den rekonstruierten Positivstrukturen
und dem Bezugsproblem, das durch eine Basistypik bestimmt wird. Im vorliegen-
den Fall wäre dies die Bearbeitung der Differenz von Arbeitnehmer- und Anteils-
eignervertretung über die dritte Kontextur des Aufsichtsrats. Diese dient als terti-
um comparationis (Nohl 2001, S. 261). Im vorliegenden Fall ist dies die Frage nach
der gemeinsamen Entscheidungsfindung von Arbeitnehmer- und Anteilseigner-
vertretern. Diese Frage impliziert eine Basistypik, die ihren Ausgangspunkt in der
Differenz von Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretung als je eigener Kontextur
nimmt und eine dritte hypostasiert, nämlich die Kontextur organisationaler Ent-
scheidungsfindung im Aufsichtsrat.
Der Blick in der Interpretation rückt damit auf die Trias der Kontexturen von
Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretung sowie der Entscheidungsfindung im
Aufsichtsrat. Auf der einen Seite steht die Kontextur der Anteilseignervertretung,
für welche die politische Referenz der Arbeitnehmervertreter ein externes Prob-
lem ist: Sie sind mit dieser zwar innerhalb des Gremiums Aufsichtsrat konfrontiert,
werden in ihrer Ausrichtung an einer wirtschaftlichen Kontextur hierdurch jedoch
nicht gestört – oder eben nur durch externe Faktoren.
Auf der anderen Seite steht die Kontextur der Arbeitnehmervertretung, die dem
Dilemma zwischen Politik und Wirtschaft ausgeliefert ist: Auf der einen Seite steht
der explizite Anspruch des Aufsichtsrats an wirtschaftlich rationale Unterneh-
mensführung, auf der anderen Seite die Frage nach Legitimität. Mit Seifert (2007)
ließe sich sagen, das Arbeitnehmer- und das Unternehmensinteresse.
Als dritter Erfahrungsraum rückt mit der Frage nach dem Arrangement von
politischer und wirtschaftlicher Kontextur in der Entscheidungsfindung des Auf-
sichtsrats die Frage nach derjenigen Kontextur in den Blick, die die Zusammen-
arbeit beider Bänke strukturiert. Es interessiert, welche Umgangsformen mit den
jeweiligen Orientierungen der Arbeitnehmer- sowie Anteilseignervertreter in der
Zusammenarbeit gefunden werden.
Die Interpretation muss entsprechend dieser verschiedenen Vergleichsperspek-
tiven das tertium comparationis kontrolliert verschieben. Daher wurde ein Vorge-
58 3 Anlage der Studie

hen gewählt, in dem zunächst die Frage gestellt wurde, auf welche Weise die Kon-
textur der Arbeitnehmervertretung eng geführt wird. Das tertium comparationis ist
hier die Einheit der Arbeitnehmervertretung gegenüber den Differenzen verschie-
dener Arten der Arbeitnehmervertretung. Wie wird die Arbeitnehmervertretung
als Einheit produziert? Parallel wurde dieselbe Frage aufseiten der Anteilseigner-
vertreter gestellt. Tertium comparationis ist hier die Einheit der Anteilseignerver-
tretung gegenüber den fachlichen Differenzen, Unterschieden zwischen Großak-
tionären und sogenannten unabhängigen Vertretern, Unterschieden zwischen Ver-
tretern einer Unternehmerfamilie oder Anteilseignervertretern, die lange Vorstand
im Unternehmen waren.
Im dritten Schritt wurde der Blick darauf gelenkt, welche Formen der Zusam-
menarbeit entstehen. Die Einheit des Aufsichtsrats als Gremium der Entschei-
dungsfindung bildete hier das tertium comparationis. Wie wird die Differenz zwi-
schen beiden Seiten operativ überwunden und dabei gleichzeitig aufrechterhalten?
Dabei interessierte besonders, wie auf die Strukturen der jeweils anderen Kontex-
turen zurückgegriffen wurde.
Die Typologie, die im Folgenden vorgestellt wird, ist entsprechend zweistufig.
Sie fragt nach der Kontextur der Anteilseignervertretung sowie nach der Kontextur
der Arbeitnehmervertretung. Daraufhin stellt sie die Frage nach der Kontextur der
Entscheidungsfindung des Gremiums. Dabei interessiert, welche Strukturen der
beiden zuvor genannten Kontexturen hier für die Strukturbildung in Anspruch ge-
nommen werden.

3.3 Datengrundlage

Die Daten für die vorliegende Studie wurden im Rahmen des Forschungsprojekts
„High Performance Boards – Entscheidungen und Prozesse in deutschen Auf-
sichtsräten“ erhoben, welches in den Jahren 2008 bis 2011 an der Universität Wit-
ten/Herdecke durchgeführt worden ist. Die Daten wurden von Ende 2009 bis Mitte
2010 erhoben. Eine Fallstudie, die als Grundlage für die Interviews diente und an
anderer Stelle ausgewertet wurde (Jansen 2011, 2012), ist zu Beginn des Jahres 2009
durchgeführt worden.

3.3.1 Leitfadengestützte Interviews

Das Gruppendiskussionsverfahren gilt als ideales Verfahren, wenn es darum geht,


konjunktive Erfahrungsräume zu rekonstruieren. In der Gruppendiskussion aktua-
3.3 Datengrundlage 59

lisiert sich der konjunktive Erfahrungsraum einer Gruppe selbst. Geteilte Meinun-
gen werden angenommen, Abweichungen auf immanenter Ebene oder hinsichtlich
der Rahmungsversuche werden abgelehnt. Individuelle Abweichung wird hier wie
nirgendwo sonst kontrolliert, was den Interpreten in eine komfortable Situation
versetzt, sich nicht weiter mit ihr befassen zu müssen (Bohnsack 2006). Das Inter-
view hingegen ist eher ein Instrument der Verstärkung individueller Abweichung
(Nassehi und Saake 2002, S. 78).
Gleichzeitig produziert das Gruppendiskussionsverfahren jedoch Datenmate-
rial, das in der Organisationsforschung nur in engen Bereichen Anwendung fin-
det. Im Fall der Diskussion innerhalb einer künstlichen Gruppe können durch
Gruppendiskussionsverfahren etwa Werthaltungen verschiedener Akteure (etwa
bei Mensching 2008) rekonstruiert werden. Gruppendiskussionen in natürlichen
Gruppen hingegen sind durchaus geeignet, Interaktionen in Organisationen zu si-
mulieren (etwa bei Kubisch 2008).
In beiden Fällen wird jedoch durch den Fokus auf den Erfahrungsraum, der
innerhalb der Gruppe aktualisiert wird, weitgehend von der spezifisch organisatio-
nalen Dimension der jeweiligen Praxen abgesehen. Im ersten der genannten Fälle
wird so zwar eine Aussage über das Wertesystem einer Berufsgruppe möglich, je-
doch keine Aussage über die organisationale Praxis einzelner Angehöriger dieser
Berufsgruppe im Kontext einer Organisation. Der zweite genannte Fall blendet
hingegen die spezifische Gleichzeitigkeit und Entkopplung verschiedener Kommu-
nikationszusammenhänge aus, durch die eine Organisation überhaupt erst funktio-
niert (Vogd 2009a, S. 46 ff.). Im Fall eines Aufsichtsrats geschieht etwa der größte
Teil der Abstimmung in informellen Vorbesprechungen, Telefonaten und Abstim-
mungen innerhalb verschiedener Teilgruppen, etwa zwischen allen Arbeitnehmer-
vertretern, innerhalb der betrieblichen Arbeitnehmervertreter, zwischen Letzteren
und den Gewerkschaftsvertretern usf. (Brinkmann-Herz 1972; Jansen 2011). Um
Daten zu generieren, die genau diese entkoppelten Kommunikationszusammen-
hänge zu erreichen vermögen, bietet sich stattdessen das leitfadengestützte Inter-
view in der Interpretation durch Meuser und Nagel (2002; 1994) an.
Sieht man von vereinzelten Ausnahmen ab (etwa Merton und Kendall 1946;
Hopf 1978), ist das leitfadengestützte Interview erst ab den neunziger Jahren vor al-
lem unter dem Begriff des Experteninterviews systematisiert worden (vgl. Liebold
und Trinczek 2002, S. 34 f.). Dabei scheint vor allem hinsichtlich des Expertenbe-
griffs Uneinigkeit zu bestehen, woraus die meisten Probleme in der Konzeption des
Experteninterviews zu resultieren scheinen (zur Übersicht vgl. Bogner und Menz
2002). Denn sobald ein Experte auch nur als Person mit einem gewissen Sonder-
wissen bezeichnet – was wohl den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Debatte
darstellt – und das Experteninterview als die „Methode, dieses Wissen zu erschlie-
60 3 Anlage der Studie

ßen“ (Gläser und Laudel 2004, S. 10), stellt sich recht schnell die Frage, wer denn
nun Experte sei. „Treibt man diesen Gedanken auf die Spitze – etwa indem man
Interviewpartner in einem biografieorientierten Forschungsprojekt als ‚Experten
ihrer selbst‘ bezeichnet –, ist der Begriff des Experten nicht mehr diskriminierend:
Jeder Interviewpartner ist dann quasi per definitionem ‚Experte‘“ (Liebold und
Trinczek 2002, S. 37) und auch ein narratives Interview in der Biografieforschung
wird plötzlich ein Experteninterview.
Lässt man jedoch die Debatte um den Begriff des Experten beiseite, so bietet die
Konzeption des leitfadengestützten Interviews, die unter dem Begriff des Experten-
interviews vorgenommen wird, einen vielversprechenden Ausgangspunkt für die
Organisationsforschung (so auch Vogd 2009a, S. 45). Denn gerade die wissensso-
ziologische Interpretation des leitfadengestützten Interviews zielt auf die Erhebung
von organisationsspezifischem Wissen ab. So zeichnet sich ein Experte für Hitzler
(1994) dadurch aus, dass er über entscheidungsrelevantes Wissen verfügt und in
offizieller Verantwortlichkeit steht. Der Experte hat hier Richtlinienkompetenz in-
nerhalb einer Organisation. Für Meuser und Nagel (1994, S. 180 f.) sind Experten
Angehörige einer akademisch gebildeten Funktionselite in Organisationen.4 Wenn
auch diese Definitionen von Expertentum ihre Probleme aufweisen (Kassner und
Wassermann 2002), so verweisen sie doch auf exakt das Wissen, um das es der vor-
liegenden Arbeit geht: um Reflexionshorizonte „innerhalb eines organisatorischen
und institutionellen Kontextes“ (Liebold und Trinczek 2002, S. 37 f.).
Hiervon ausgehend sollen Experten im Folgenden mit Meuser und Nagel (1994;
2002) als Mitglieder einer Organisation begriffen werden, die maßgeblich am Zu-
standekommen von Entscheidungen beteiligt sind und deren Wissen das Zustan-
dekommen von Entscheidungen strukturieren. Experten – eigentlich könnte man
hier besser von Organisationsmitgliedern sprechen – verfügen in diesem Sinne
über „Betriebswissen“ (Meuser und Nagel 2002, S. 76), um das es dem Experten-
interview geht. Dieses Betriebswissen wird dabei nicht als rein theoretisches Wis-
sen gefasst. Es ist „kein völlig vorreflexives Wissen auf Ebene der Basisregeln, aber
auch kein Wissen, das die Experten einfach ‚abspulen‘ können“ (Meuser und Nagel
1994, S. 183). Vielmehr handelt es sich um „Strategien und Relevanzen, die in den
Entscheidungen der Experten zur Geltung kommen, von diesen [den Experten]
keineswegs immer klar und deutlich benannt werden können“ (Meuser und Nagel
1994, S. 183).

4
Die Engführung auf „akademisch gebildete Funktionseliten“ (Meuser und Nagel 1994,
S. 181) scheint dabei wenig nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass eine Sekretärin unter
Umständen über wesentlich mehr „Expertenwissen“ verfügt als ein Referent für ein einge-
grenztes Spezialgebiet.
3.3 Datengrundlage 61

Das „Betriebswissen“, von dem Meuser und Nagel (2002) sprechen, könnte aus
Sicht der dokumentarischen Methode auch als der konjunktive Erfahrungsraum ge-
fasst werden, der die Praxis der Entscheidungsfindung strukturiert. Es handelt sich
aus systemtheoretischer Sicht um die Latenzen, die sowohl den Raum möglicher
Alternativen der Entscheidungsfindung strukturieren, wie auch um die Latenzen,
die den Modus der Engführung dieser Alternativen bestimmen. Aus kontexturana-
lytischer Sicht ließe sich hier auf die Positivstrukturen verschiedener Kontexturen
verweisen, die durch den Leitfaden provoziert werden. Der epistemische Zwischen-
status, der mit dem Ausdruck „nicht völlig vorreflexiv auf Ebene der Basisregeln“
angesprochen ist, führt damit gleichzeitig die explizite Seite der Organisation mit.
Denn Entscheidungsfindung ist nicht ausschließlich durch „Kultur“ bestimmt. Sie
ist gleichzeitig durch Skripte, durch Entscheidungsprämissen, Dienstwegeregeln,
Verordnungen usw. strukturiert. In diesem Sinne ist das „Betriebswissen“ nicht
„völlig vorreflexiv“. Gleichzeitig interessieren die expliziten Regeln jedoch nur in
der Form ihrer Anwendung: Was auf dem Papier steht, ist die eine, wie tatsächlich
mit dem Papier umgegangen wird, ist die andere Sache. Es ist ebene jene Verschrän-
kung von Ontologie und den Positivstrukturen anderer Kontexturen.
Wenn auch narrative Formen der Interviewführung Anwendungsfelder in Or-
ganisationen haben (Froschauer und Lueger 2002, S. 230 f.; Vogd 2009a, S. 44), so
scheint doch gerade das leitfadengestützte Interview dieser Form von Wissen in
besonderer Weise gerecht zu werden. Ein „objekttheoretischer Fragen- und Aus-
sagenkomplex“ (Meuser und Nagel 2002, S. 76) soll dabei vor allem zweierlei si-
chern. Zum einen könne man dadurch als Interviewer Kompetenz signalisieren
und von dem Befragten als „Co-Experte“ betrachtet werden (Bogner und Menz
2002, S. 50 f.) – was jedoch auch spezifische Nachteile mit sich bringt (Bogner und
Menz 2002, S. 52 ff.). Vor allem aber nehme der Leitfaden die spezifische Kommu-
nikationsstruktur in Organisationen auf (Trinczek 2002, S. 212 f.). Er sichert den
Bezug auf die relevanten Kontexturen, etwa auf Arbeitnehmervertretung oder den
Aufsichtsrat, die als explizite Strukturen zugänglich sind.
Begreift man Organisationen als Entscheidungssysteme, so stellen sich die Ent-
scheidungen der Organisation aus Sicht der Mitglieder als „Aufforderungen“ dar
(Baecker 1999b, S. 142 f.). In der Form von Aufforderungen strukturieren Entschei-
dungen Interaktionen. Zweck- und Konditionalprogramme erscheinen als Auffor-
derungen, sich an einen bestimmten Zweck oder ein bestimmtes Schema in der
Entscheidungsfindung zu halten. Stellenbeschreibungen führen als Aufforderung
Handlungsmöglichkeiten eng und verweisen auf andere Möglichkeiten an ande-
rer Stelle. Jede Entscheidung ist Aufforderung, eine neue Entscheidung zu treffen
(Luhmann 2000b, S. 184 f.).
62 3 Anlage der Studie

Der Interviewleitfaden greift im Idealfall diese Situation auf, indem er an Ent-


scheidungen der Organisation anknüpft. Denn eben jener objekttheoretische „Fra-
gen- und Aussagenkomplex“ (Meuser und Nagel 2002, S. 76), der das leitfaden-
gestützte Interview kennzeichnet, greift die Struktur der Aufforderung auf. Im
Idealfall ist der Forscher mit dem aktuellen Geschehen in der Organisation vertraut
und bezieht sich auf aktuelle Entscheidungen und Probleme, die bearbeitet werden.
Durch diesen Bezug wird entsprechend einer Situation vorgebeugt, in welcher der
Interviewer persönliche Probleme oder milieuspezifische Probleme bearbeitet, die
aus der Praxis der Organisation entspringen. Die Auseinandersetzung mit aktuel-
len Entscheidungen – so nach der Entscheidungsfindung gefragt wird –, wird dann
mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eben jenes „Betriebswissen“ strukturiert, das
auch die Praxis der Entscheidungsfindung selbst bestimmt.
Wichtig ist es dabei, „Kristallisationspunkte“ (Vogd 2009a, S. 42) zu wählen,
kritische Entscheidungen, welche die alltägliche Routine der Organisation durch-
brechen, da die Frage nach der alltäglichen Routine häufig nur in generischen
Antworten münden, die einem Sein-Sollen verhaftet sind, eher ein Selbstbild wie-
dergeben als Schlüsse auf die Praxis zulassen. Kristallisationspunkte, „Störungen
und Pannen“ (ebd.), fordern die Routine, die der konjunktive Erfahrungsraum
strukturiert, vielmehr heraus. Normalität wird durchbrochen und muss wiederher-
gestellt werden. Gültige Wertorientierungen werden herausgefordert und müssen
gerade deshalb wieder Bestätigung finden. „Kleinere oder größere Krisen können
also demonstrieren, welchen Normalzustand die Organisation anstrebt und welche
Steuerungs- und Regulationsmöglichkeiten ihr zur Verfügung stehen, um diesen
zu erreichen“ (ebd.).
Im vorliegenden Fall waren diese „Kristallisationspunkte“ Entscheidungen aus
der jüngsten Vergangenheit, die als potenziell konfliktträchtig eingeschätzt wur-
den. Es handelte sich hier vor allem um Restrukturierungen oder um Verkäufe von
einzelnen Sparten. Gleichzeitig wurde aber auch nach Vorstandsbestellungen, die
vor kurzem vorgenommen wurden, sowie nach der Nominierung neuer Anteilseig-
nervertreter gefragt. Fragen wie nach der routinemäßigen Prüfung des Abschluss-
berichts wurden hingegen außen vor gelassen.
Die gewählten Themen wurden jeweils für einen Aufsichtsrat bestimmt und je-
dem der dort interviewten Aufsichtsratsmitglieder gestellt, sodass ein Vergleich der
Antworten gut möglich war. So konnte etwa die Deutung einer Restrukturierung
durch die betrieblichen sowie die gewerkschaftlichen Arbeitnehmervertreter mit
den Antworten des Aufsichtsratsvorsitzenden und des Vertreters eines Großakti-
onärs verglichen werden. Für den einzelnen Fall – der hier der Aufsichtsrat ist –
konnte so in der fallinternen komparativen Analyse eine gute Aussage über die
Unterschiede in den relevanten Erfahrungsräumen getroffen werden.
3.3 Datengrundlage 63

3.3.2 Sample

Ziel des Projekts „High Performance Boards“ war es, eine umfassende Datenbasis
zu schaffen, die Einblicke in die Entscheidungspraxis der Aufsichtsräte deutscher
Unternehmen aus DAX30 und MDAX geben sollte. Dazu sollten ausreichend vie-
le Unternehmen aller zentralen Branchen der deutschen Wirtschaft untersucht
werden, was – wenn auch vielleicht nicht repräsentative – zuverlässige Aussagen
über die Grundgesamtheit ermöglichen sollte. Aufgrund forschungspraktischer
Herausforderungen wurde dabei von der Wahl einer Zufallsstichprobe abgesehen.
Stattdessen wurde gezielt über „Gatekeeper“ (Patton und Appelbaum 2003, S. 68)
der Zugang zu einzelnen Gremien gesucht. „Access to elites is best effected by fel-
low elite members“ (Pettigrew und McNulty 1995, S. 851). Auf Anteilseignerseite
war dies zumeist die Empfehlung unter peers. Auf Arbeitnehmerseite wurde der
Kontakt entweder über den jeweiligen Aufsichtsratsvorsitzenden gesucht oder über
Gewerkschaftsvorstände. Ist in einem Gremium so der Zugang gelungen, so konn-
te aufgrund der guten Vernetzung (Heinze 2002) deutscher Aufsichtsräte durch
Empfehlungen der Zugang zu anderen Gremien gewonnen werden. Dabei wurden
in der Regel zuerst der Aufsichtsratsvorsitzende und dessen Stellvertreter angespro-
chen und mit dessen Empfehlung weitere Mitglieder des jeweiligen Aufsichtsrats,
die dann mögliche „Gatekeeper“ für andere Gremien waren.
Das vorliegende Sampling ist in so weiten Teilen ein Snowball-Sampling, das
aber die Probleme eines Snowball-Samplings nur in sehr abgeschwächter Form
aufweist (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, S. 180 f.). Denn die Einschränkung,
dass man sich hier nur in einzelnen Netzwerken bewegt und so immer einen star-
ken Bias bekommt, trifft insofern nicht zu, als dass die Grundgesamtheit selbst
(Unternehmen des DAX30 und MDAX) so stark vernetzt sind, dass man hier kaum
von verschiedenen Netzwerken reden kann. Vielmehr ist es ohne weiteres möglich,
über die kürzesten Wege den Aufsichtsrat beinahe jedes möglichen Unternehmens
zu erreichen. Die Beeinflussung der Interviewpartner untereinander, indem sie
sich über die Inhalte des Interviews berichten, scheint wiederum im vorliegenden
Fall kaum ein Problem zu sein, da ausschließlich Themen des jeweiligen Gremiums
angesprochen worden sind, nie aber generische Fragen gestellt wurden.
Mit diesem System ist es gelungen, die Aufsichtsräte aus insgesamt 26 Unterneh-
men zu untersuchen, von denen etwa die Hälfte im MDAX und die andere Hälfte
im DAX30 notiert waren. Von diesen Unternehmen waren 24 gemäß des MitbestG
paritätisch mitbestimmt, zwei Unternehmen waren gemäß DrittelBG nur zu einem
Drittel mit Arbeitnehmervertretern besetzt.
Wie aus Abb. 3.1 gut ersichtlich ist, decken die untersuchten Unternehmen die
wesentlichen Branchen der Grundgesamtheit gut ab. Die Branchen wurden hier
64 3 Anlage der Studie

Abb. 3.1   Branchen

auch im Hinblick auf die betreuenden Gewerkschaften aufgeschlüsselt. So konn-


ten sechs Unternehmen untersucht werden, die vor allem im Bereich Chemie und
Rohstoffe aktiv sind. Neun Unternehmen sind im weitesten Sinne der Dienstleis-
tung zuzurechnen. Hierunter werden dabei sowohl Banken und andere Finanz-
dienstleister, Einzelhandelskonzerne und andere Dienstleister gefasst. In der drit-
ten großen Branche, hier gefasst als Maschinenbau, konnten neun Aufsichtsräte
untersucht werden. Maschinenbau umfasst dabei hier sowohl Automobilbau und
-zulieferer wie auch Maschinenbau im weiteren Sinne. Nur zwei Unternehmen
konnten im Bereich Konsumgüter untersucht werden.
Ziel der Erhebung war immer, die zentralen Perspektiven auf die Aufsichtsrats-
praxis erheben zu können. Eine ausreichende Anzahl an Interviews sowohl auf-
seiten der Arbeitnehmer wie auch aufseiten der Anteilseignervertreter war hierfür
ausschlaggebend. Mit Ausnahme von zwei Unternehmen, in denen es unerwartete
Absagen gegeben hat, konnte dies gut umgesetzt werden. So wurden beinahe mit
allen Unternehmen mindestens sechs, wenn möglich mehr Interviews geführt. Im
Idealfall stammten die Hälfte der Interviewpartner von der Arbeitnehmer-, die an-
dere Hälfte von der Anteilseignerbank (Abb. 3.2).
3.3 Datengrundlage 65

Abb. 3.2   Interviews pro Aufsichtsrat

Insgesamt wurden etwas weniger Arbeitnehmervertreter pro Gremium inter-


viewt, was durch zwei Faktoren begünstigt wurde. Zum einen wurden in den beiden
Unternehmen, die dem DrittelBG unterlagen, entsprechend dem Verhältnis von
Anteilseigner- zu Arbeitnehmervertretern Interviews geführt. Zum anderen bildet
Abb. 3.2 die interviewten Mandatsträger pro Unternehmen ab. Da die Anteilseig-
nervertreter jedoch häufig in mehreren Gremien vertreten waren, die untersucht
wurden, wurden die Interviews hier zu der Praxis verschiedener Gremien geführt.
So wurde etwa Interviewpartner A sowohl zur Praxis der Gremien X, Y und Z be-
fragt. Einige Interviews werden so in Abb. 3.2 doppelt gerechnet. Das Interview mit
Interviewpartner A gilt hier also als einzelnes Interview in jedem Unternehmen,
woraus bei gleicher Zahl interviewter Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreter
66 3 Anlage der Studie

Abb. 3.3   Interviews insgesamt

ein rechnerischer Vorteil für die Anteilseignervertreter resultiert, wenn Mandate,


nicht aber Personen verglichen werden.5
Zudem hatte die Dopplung von Mandaten und damit der Bezug des Interviews
auf verschiedene Aufsichtsräte die Folge, dass häufig weniger Material für das ein-
zelne Gremium in einem Interview zu finden war, weshalb zum Ausgleich mehr
Interviews mit Anteilseignervertretern geführt wurden.
Darüber hinaus ist es beinahe in jedem Gremium gelungen, sämtliche zentra-
len Funktionsträger zu interviewen. So konnten – mit einer Ausnahme – alle Auf-
sichtsratsvorsitzenden und deren Stellvertreter befragt werden. In den paritätisch
mitbestimmten Aufsichtsräten wurden zudem immer betriebliche Arbeitnehmer-
vertreter sowie Gewerkschaftsvertreter befragt. In über der Hälfte der paritätisch
mitbestimmten Unternehmen hat sich auch der Vertreter der leitenden Angestell-
ten zu einem Gespräch bereiterklärt. Aufseiten der Anteilseignervertreter wurde

5
Aufseiten der Arbeitnehmervertreter gibt es die Dopplung von Mandaten zwar auch, doch
wesentlich seltener. In den untersuchten Aufsichtsräten kam sie nur einmal im Fall eines
Gewerkschaftsvorstands vor und ist daher zu vernachlässigen.
3.3 Datengrundlage 67

darauf geachtet, möglichst unabhängige Vertreter sowie Vertreter von Großaktio-


nären (hierunter sind auch Gründerfamilien in Familienunternehmen gefasst) und
ehemalige Vorstände, die in den Aufsichtsrat gewählt worden sind, für ein Inter-
view zu gewinnen. Mit einer Ausnahme ist auch dies gelungen. Insgesamt sind so
Interviews mit 91 Anteilseignervertretern sowie 85 Arbeitnehmervertretern ge-
führt worden, die mit wenigen Ausnahmen alle wesentlichen Perspektiven in den
Gremien abbilden (Abb. 3.3).
Die Unternehmensauswahl ist als theoretisches Sampling konstruiert und nach
einem Snowball-System umgesetzt worden. Es handelt sich also nicht um eine sta-
tistische Zufallsauswahl. Dennoch wurden einige students t-test durchgeführt. So
wurde auf die Repräsentativität der Mitarbeiterzahl, die Anzahl der Aufsichtsrats-
mitglieder und den Wert des Unternehmens getestet. In allen Fällen lag p < ,00**.
Es ließ sich somit kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen dem Sample
und der Grundgesamtheit feststellen. Auch die Konfidenzintervalle für die Zuge-
hörigkeit zu bestimmten Branchen lassen keine Abweichung des Samples feststel-
len (p < ,00**). Insofern kann nicht nur im Sinne eines theoretischen Samplings von
einer Repräsentativität durch theoretische Sättigung, sondern auch im statistischen
Sinne von Repräsentativität geredet werden.
Typologie mitbestimmter
Aufsichtsratsarbeit 4

Im Folgenden sollen die Ergebnisse der Studie vorgestellt werden. Hierzu sind
kurze Vorbemerkungen nötig, die auf einige Limitationen und mögliche Fragen
eingehen, die sich dem Leser vielleicht stellen. Daraufhin sollen die vier Typen vor-
gestellt werden, die aus dem vorliegenden Material entwickelt wurden.

4.1 Vorbemerkungen

An dieser Stelle sollen kurz einige Vorbemerkungen zu einer recht abstrakten Typo-
logie in einem nicht ganz gewöhnlichen Feld gegeben werden. Es soll kurz darauf
eingegangen werden, inwieweit aus einzelnen Einflussfaktoren tatsächlich die Praxis
eines Aufsichtsrats bestimmt werden kann. Daraufhin soll kurz auf die Besonder-
heit der hier vorgestellten Typen sowie auf die Rolle des leitenden Angestellten ein-
gegangen werden, da Letzterer praktisch in der Typologie keine Erwähnung findet.

4.1.1 Einflussfaktoren

Aufsichtsräte sind ein sehr instabiles Feld. Sie treffen sich als episodisches Gremium
nur sehr selten, zumeist vier- bis fünfmal im Jahr. Der Kontakt dazwischen bleibt
zumeist auf den Aufsichtsratsvorsitzenden und seinen Stellvertreter beschränkt.
Darüber hinaus findet hier häufig eine hohe Personalfluktuation statt. Einzelne
Personen scheiden aus, andere werden hinzugewählt – sowohl auf Anteilseigner-
wie auch auf Arbeitnehmerseite.
Nicht zuletzt hängt die Praxis der Zusammenarbeit eines Aufsichtsrats in vie-
len Aspekten an einzelnen Personen, zumeist dem Aufsichtsratsvorsitzenden und
seinem Stellvertreter bzw. ein oder zwei zentralen Arbeitnehmervertretern. Wie
zentral diese Positionen sind, wird in der folgenden Interpretation deutlich werden.

T. Jansen, Mitbestimmung in Aufsichtsräten, 69


DOI 10.1007/978-3-658-01432-2_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
70 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Diese Punkte machen die Formen der Zusammenarbeit innerhalb eines Gre-
miums sehr störanfällig. So reicht es oftmals, dass ein Aufsichtsratsvorsitzender
ausgetauscht wird und das gesamte Gremium kann von einem Typ in den anderen
gleiten. Aus einer stabilen Zusammenarbeit kann ein Konflikt werden und anders
herum, ohne dass sich hier Faktoren wie Rechtsstatus, Branche, Aufsichtsratsgröße
oder Ähnliches ändern. Der Wechsel zentraler Personen reicht aus.
Das heißt nicht, dass die Identifikation verschiedener Einflussfaktoren auf die
Aufsichtsratsarbeit nicht möglich gewesen wäre. Vielmehr ließ sich in Anbetracht
all dieser destabilisierenden Faktoren eine sehr eindeutige Typologie entwickeln,
die bestimmte Tendenzen einzelner Branchen ebenso darstellt wie den Einfluss
der Größe des Gremiums. Dennoch konnten immer wieder einzelne Ausreißer
beobachtet werden, die aufgrund der Geschichte des jeweiligen Gremiums gut zu
verstehen waren, aber für ihre Größe und Branchenzugehörigkeit ungewöhnliche
Formen der Zusammenarbeit entwickelt haben. Diese Unternehmen waren weni-
ge, insgesamt nur fünf von 26 Aufsichtsräten, doch ein Hinweis darauf ist ange-
bracht: Die vorliegende Typologie deckt zwar das Feld ab, doch ist es nicht möglich,
von bestimmten Rahmenbedingungen kausal auf eine Form der Zusammenarbeit
zu schließen. Dazu ist der Gegenstand zu komplex.

4.1.2 Aggregierte Typen

Die im Folgenden vorgestellten Typen sind hoch aggregierte Konstruktionen –


und dies nicht nur im Sinne einer wissenschaftlichen Rekonstruktion, sondern vor
allem im Sinne einer Konstruktionsleistung des Feldes selbst. Verschiedene Kon-
texturen bauen aufeinander auf, werden funktional ineinander verschränkt und
stabilisieren sich im Rückgriff auf neue emergente Konstrukte.
Das hat zur Folge, dass bestimmte Positivstrukturen der Arbeitnehmer- bzw.
Anteilseignervertretung unter verschiedenen Typen austauschbar sind. So kann
etwa eine Struktur der Anteilseignervertretung, welche der Arbeitnehmerver-
tretung keine relevante Rolle zumisst, zu einem Vollkonflikt führen (Typ 1) oder
durchaus zu einem erwartungsstabilen Miteinander (Typ 4). Eine andere Primär-
unterscheidung – etwa die Frage nach der Arbeitnehmervertretung im Aufsichts-
rat, wie sie Bamberg et al. (1987) stellen – hätte so eine andere Typologie zur Folge.
Ebenso hat dies zur Folge, dass völlig verschiedene Anteilseigner- und Arbeitneh-
merseiten zu sehr ähnlichen Formen der Zusammenarbeit finden können. Dies ist
insbesondere im Fall von Typ 4 sehr gut zu beobachten.
Um die jeweils beobachte Spannbreite dieser Typen darzustellen, wurden pro
Typ zwei verschiedene Unternehmen gewählt, die den Maximalkontrast innerhalb
4.1 Vorbemerkungen 71

des Typus bilden. Dieser kann sehr groß sein (Typ 4) oder aber auch sehr gering
(Typ 2). In jedem Fall hoffe ich, mit dieser Form der Darstellung der Komplexität
des Feldes gerecht zu werden, ohne dabei in einer rein deskriptiven Beliebigkeit
zu bleiben. Es sollen je zwei verschiedene Beispiele der funktionalen Beziehung
verschiedener Erfahrungsräume untereinander dargestellt werden, die auf zweiter
Ebene eine ähnliche Form des Umgangs finden.

4.1.3 Der leitende Angestellte

Der Vertreter der leitenden Angestellten wird im Folgenden praktisch keine Rolle
spielen. Dies hat zum einen damit zu tun, dass er in einigen Unternehmen über-
haupt nicht vorhanden ist (Societas Europae sowie Mitbestimmung nach dem Drit-
telBG) und in manchen Fällen kein Interview mit ihm/ihr geführt werden konnte.
Vor allem aber hat sich die Figur des leitenden Angestellten für die Struktur der
Arbeitnehmervertretung und der Zusammenarbeit im Aufsichtsrat zumeist als ir-
relevant erwiesen. Dies mag erstaunen, da der „Leitende“ den Ruf einer Art troja-
nischen Pferds des Managements hat (Bamberg et al. 1987, S. 181 f.). Gerade diese
Position scheint ihn jedoch in eine Position der Bedeutungslosigkeit zu verdam-
men, da er weder Anteilseigner- noch Arbeitnehmervertreter ist, also jenseits der
Differenz liegt, mit welcher der mitbestimmte Aufsichtsrat agiert. Das Zitat eines
Arbeitnehmervertreters aus einem Unternehmen, das in die Rechtsform der So-
cietas Europae überführt worden ist, dabei den Aufsichtsrat verkleinerte und den
Vertreter der leitenden Angestellten abgeschafft hat, illustriert dies recht gut:

Befragter: Und äh so ganz nebenbei ist dabei entstanden (.), dass der leitende Angestellte,
das ist ja damals zu Schicksals-Frage...
Interviewer: Ja-ja-ja.
Befragter: … erhoben worden 76, da bricht die Welt zusammen unter den Leitenden,
dass der äh vollkommen emotionslos (.) äh fallen gelassen worden ist, auch vom Unter-
nehmen und keiner hat erklärt, den brauchen wir.

In den Unternehmen, in denen der „Leitende“ noch vertreten ist, hat er keine De-
finitionsmacht. Vielmehr wird er zwischen der Kontextur der Anteilseigner- und
der Arbeitnehmervertretung aufgerieben. Dabei lassen sich zwei Positionen fest-
stellen. Entweder der Vertreter der leitenden Angestellten positioniert sich auf-
seiten der Arbeitnehmervertreter und entspricht der von den Betriebsräten und
Gewerkschaftsvertretern definierten Position. Oder er sieht sich als Vertreter einer
unternehmerischen Logik und stimmt regelmäßig gegen die Arbeitnehmervertre-
ter. In beiden Fällen jedoch ist dies nur eine Positionierung innerhalb eines Feldes,
72 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

auf das er keinen Einfluss hat, zumal sogar an dem Stimmverhältnis zwischen An-
teilseigner- und Arbeitnehmervertretern nichts geändert wird, da die Möglichkeit
der Doppelstimme des Aufsichtsratsvorsitzenden auch dann besteht, wenn der
Leitende mit den Arbeitnehmervertretern stimmt. Anteilseigner- und Arbeitneh-
mervertreter bestimmen so ihr Verhältnis zueinander völlig unabhängig von dem
Leitenden. Dieser kann sich in der Folge nur positionieren, ohne dass diese Positio-
nierung jedoch irgendeinen Einfluss auf das Verhältnis beider Bänke hat.
Die Figur des leitenden Angestellten ist somit zwar nicht irrelevant, macht je-
doch für die hier angelegte Anfangsunterscheidung keinen Unterschied. Der lei-
tende Angestellte hat weder in der Positivstruktur noch in der Negativstruktur eine
relevante Bedeutung. Er strukturiert die Zusammenarbeit kaum und wird häufig
schlichtweg übersehen. Er ist in diesem Sinne weder Adresse noch Instanz der Re-
flexion. Daher taucht er in der weiteren Auswertung nicht auf.

4.1.4 Gender Issues

Ein Problem stellte für die gesamte Untersuchung die Frage nach dem Umgang
mit dem Geschlecht der Befragten dar. Gerade in der Auswertung stellte sich die
Frage, wie mit den wenigen Frauen in den jeweiligen Aufsichtsräten umgegangen
werden sollte, da sich aus Gründen der Anonymisierung praktisch verbot, das Ge-
schlecht der Befragten mit zu reflektieren. In den allermeisten Fällen wäre es allein
schon aufgrund der Anzahl und der Position der jeweiligen Aufsichtsrätinnen, in
Verbindung etwa mit der Branche, möglich gewesen, das jeweilige Unternehmen
eindeutig zu identifizieren. Daher habe ich mich aus Gründen der Vertraulichkeit
gegenüber den Befragten und der Unternehmen dazu entschlossen, das Geschlecht
der Interviewpartner zu anonymisieren.
Damit habe ich gleichzeitig ausgeschlossen, Geschlechterverhältnisse in der
Interpretation mit zu reflektieren. Da diese meine Forschungsfrage nur sehr am
Rande betreffen, schien mir diese Entscheidung aus methodologischer Perspektive
vertretbar. Keinesfalls soll damit jedoch gesagt werden, dass eine Betrachtung des
Materials aus einer geschlechtssoziologischen Perspektive nicht sinnvoll und wün-
schenswert wäre.
In der Darstellung habe ich mich in der Folge für ein männliches Neutrum ent-
schieden. Diese Entscheidung ist aus Gründen der Lesbarkeit getroffen worden,
da ich vermeiden wollte, den gesamten Text etwa von den Betriebsräten und Be-
triebsrätinnen sprechen zu müssen. Dies hätte den Lesefluss massiv gestört. Wenn
im Folgenden also konsequent die männliche Form verwendet wird, so ist damit
keinesfalls eine normative Aussage beabsichtigt. Die verwendete Form ist als ge-
schlechtsneutrale gemeint.
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 73

4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik

Einen guten Einstieg in die Ergebnisdarstellung bietet ein Typ, der selbstverständ-
lich erscheint und sich nicht nur im common sense leicht erschließt. Er ist einfach
strukturiert und die Struktur der ineinander verschachtelten logischen Räume ist
überschaubar. Ebenso ist er recht häufig – wenn auch nicht am häufigsten – und
scheint damit für ein gewisses Feld typisch zu sein. Wenn man ihn kurz kennzeich-
nen wollte, wäre ein Begriff wie „Interessenkonflikt“ angebracht. Die Einheit des
Gremiums – und damit seine Arbeits- und Entscheidungsfähigkeit – wird in der
Operationalisierung der Differenz von Arbeitnehmervertretern und Arbeitgebern
hergestellt.1
Bei diesem Typ stehen sich beide Seiten gegenüber, ohne dass eine geteilte Auf-
fassung der gemeinsamen Arbeit zu erkennen ist. Vielmehr betonen beide Seiten
ihre Aufgabe, ihre Interessen, ihre Orientierung, und sind bestrebt, diese gegen-
über der anderen Seite durchzusetzen. Hierbei kann es aufseiten der Arbeitgeber
durchaus dazu kommen, dass die Arbeitnehmervertreter überstimmt werden und
die Doppelstimme vom Aufsichtsratsvorsitzenden gezogen wird. Es kann passie-
ren, dass die Anteilseignervertreter die Arbeitnehmervertreter in ihrer Informa-
tionspolitik zu umgehen versuchen und sie so spät und so wenig wie möglich in
Entscheidungen einzubinden.
Auf der anderen Seite sind die Arbeitnehmervertreter häufig ebenso wenig
bestrebt, eine Einigung zu erreichen oder in wesentliche Entscheidungen früh
eingebunden zu werden. Es ist nicht selten, dass die Verantwortung für eine Ent-
scheidung nicht mitgetragen wird, obwohl das Bewusstsein ihrer Notwendigkeit
besteht. Es kann zu taktischen Gegenstimmen kommen, die aus politischem Kalkül
entspringen, selbst wenn man eine Zustimmung als wirtschaftlich sinnvoll ansehen
würde. Generell sehen sich die Arbeitnehmervertreter zumeist nur als Interessen-
vertreter im Gremium Aufsichtsrat. Ein Unterschied zwischen betrieblicher Mitbe-
stimmung und Unternehmensmitbestimmung wird nicht gemacht.
Kurz gefasst ließe sich sagen, dass die Kontexturen Anteilseigner- und Arbeit-
nehmervertretung die jeweils andere im Negationsbereich verorten. Die Kontextur
der Entscheidungsfindung im Gremium greift daher zumeist auf die Formalstruk-
tur zurück. Alternativ kommt es zu „Deals“, die jeweils einen positiven Sachverhalt
mit einem negativen Sachverhalt aus beiden Kontexturen verbinden.

1
Mit gutem Grund ist hier die Rede von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, nicht jedoch von
Arbeitnehmer- und Kapitalvertretern. Die Differenz Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist näm-
lich die, mit der im Feld gearbeitet wird. Während die Arbeitnehmervertreter die eine Seite
stellen, stellen Vorstand und Kapitalvertreter zusammen die andere. Sie sind die Arbeitgeber.
74 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Wirft man einen Blick auf die Art von Unternehmen, in denen diese Form der
Aufsichtsratspraxis vorkommt, so sind zunächst Konzerne in der Dienstleistungs-
branche zu nennen, die einen relativ hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad
aufweisen. Die betrieblichen Arbeitnehmervertreter sind zumeist auf der Liste der
Gewerkschaft im Gremium. Auf Anteilseignerseite ist das Bild in der Regel hetero-
gen. Häufig finden sich einige ehemalige Vorstandsmitglieder, daneben Vertreter
von Großaktionären oder Kapitalvertreter, die aus Vorständen anderer Unterneh-
men stammen – ehemalige und aktive. Familienbetriebe oder Unternehmen mit
einer Gründerfigur finden sich hier nicht. Auch war die Aufsichtsratspraxis in klei-
neren Dienstleistungsunternehmen mit geringerem Organisationsgrad eine andere.
Darüber hinaus scheint sich dieser Typ der Aufsichtsratspraxis nicht auf Dienst-
leistungskonzerne zu beschränken. In einem Fall ließ sich in einem Maschinen-
baukonzern ebenfalls eine solche Aufsichtsratspraxis finden. Untypisch für einen
Industriekonzern standen sich auch hier beide Seiten gegenüber, ohne dass sich
eine Schnittfläche in der Deutung der täglichen Arbeit hat erkennen lassen. Jedoch
muss hier angemerkt werden, dass in dem untersuchten Sample zwar viele wei-
tere klassische Maschinenbauer waren, jedoch kein weiteres Unternehmen dieser
Größe, sodass keine vergleichende Aussage über Maschinenbauer im Allgemeinen
getroffen werden kann.
Einer der entscheidenden Faktoren, die eine solche Form der Unternehmens-
mitbestimmung wahrscheinlich macht, scheint die Branchenzugehörigkeit zu sein,
ebenso aber auch die Größe des Unternehmens. In einem Großkonzern, der eine
Vielzahl von Managementebenen hat, scheint eine solche Konstellation eher zu-
stande zu kommen als in einem kleinen Unternehmen.

4.2.1 Einzelhandel Meyer AG: Routine der Doppelstimme

Die Aufsichtsratspraxis ist im Fall der Einzelhandel Meyer AG durch eine ausge-
prägte Differenz von Arbeitgebern (hier also Vorständen und Kapitalvertretern)
auf der einen und Arbeitnehmervertretern auf der anderen Seite geprägt. Die
Arbeitnehmerseite ist so klar gewerkschaftlich ausgerichtet wie kaum ein anderes
Dienstleistungsunternehmen im Sample der Untersuchung. Die Einheit der Arbeit-
nehmerbank wird entsprechend durch die gewerkschaftliche Linie vorgegeben. Die
betrieblichen Arbeitnehmervertreter orientieren sich völlig selbstverständlich an ihr.
Die Anteilseignerseite ist auf der anderen Seite geschlossen. Ihre Position wird
hierarchisch durch den Aufsichtsratsvorsitzenden bestimmt, der eine starke Stel-
lung hat. Konflikte, die auf Anteilseignerseite manchmal mit dem Großaktionär
auftreten, werden möglichst intern ausgetragen.
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 75

Im gesamten Gremium werden Entscheidungen im Zweifelsfall gegen die Stim-


men der Arbeitnehmervertreter durchgesetzt – dies jedoch durchaus in gegensei-
tigem Einvernehmen. Die Arbeitnehmervertreter sind häufig zufrieden, dass sie
politisches Engagement demonstrieren, indem sie gegen eine Entscheidung stim-
men können, die sie wirtschaftlich für notwendig erachten, und daher eigentlich
wollen, dass diese Entscheidung dennoch getroffen wird. Politische Legitimität wird
hier im Protest hergestellt. Eine Mitverantwortung für die getroffenen Entscheidun-
gen wird abgelehnt. Die Arbeitgeber versuchen auf der anderen Seite, die Arbeit-
nehmervertreter möglichst gering einzubinden und Kompromisse zu verhindern.
Auf diese Art scheint hier die „richtige“ Entscheidung sichergestellt zu sein. Die
Verantwortung für die wirtschaftliche Führung des Unternehmens bleibt aufseiten
der Anteilseignervertreter. Man sichert sich die Hoheit über die Entscheidung.
Interessant an gerade dem Beispiel des hier aufgeführten Unternehmens ist,
dass erst vor Kurzem ein neuer Aufsichtsratsvorsitzender gewählt wurde, der aus
einer anderen Branche kommt und sich um Änderungen in der Zusammenarbeit
bemüht. Die Suche nach einem gemeinsamen Deutungsraum mit den Arbeitneh-
mervertretern jedoch stößt auf Unverständnis und wird rejiziert. Hieran kann
man gut sehen, wie der einmal installierte Deutungsraum des Unternehmens seine
Eigenständigkeit gegenüber Versuchen der Änderung bewahrt. Die Irritation wird
abgelehnt und sogar der Aufsichtsratsvorsitzende ist nicht in der Lage, die vorge-
fundene Praxis des Aufsichtsrats gezielt zu ändern.

4.2.1.1 Anteilseignervertretung: Führungsanspruch im
„gewerkschaftsdurchsetzten Moloch“
Das Selbstbild der Anteilseignervertreter kann als relativ typisch für Aufsichtsräte
in DAX30- und größeren MDAX-Unternehmen angesehen werden. Es ließe sich
wohl am ehesten mit einem Begriff wie „unternehmerische Autonomie“ beschrei-
ben: Die Personen, die von der Hauptversammlung in den Aufsichtsrat gewählt
worden sind, um die Aktionäre zu vertreten, begreifen sich als „peer“ einer auto-
nomen Elite der Wirtschaftsführung. Hierbei sind vor allem zwei Aspekte wichtig.
Zunächst ist der Netzwerkcharakter zu nennen. Man kennt sich und wird in der Re-
gel Mitglied eines Aufsichtsrats, weil man den Aufsichtsratsvorsitzenden oder den
Vorstandsvorsitzenden kennt. Der zweite Aspekt bezieht sich auf die gemeinsame
Orientierung an wirtschaftlicher Unternehmensführung. In der Selbstdarstellung
werden die persönlichen Bekanntschaften getragen über fachliche Diskussionen.
Weil man sich kennt und vertraut, den anderen als fachliche Autorität schätzt, wer-
den Probleme des eigenen Unternehmens mit ihm diskutiert. Diese informellen
Diskussionen bilden häufig den Ausgangspunkt eines Aufsichtsratsmandats (Inter-
view mit einem Anteilseignervertreter):
76 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Interviewer: (.) Ja, äh, (.) womit wir eigentlich immer ganz gerne starten und es würde
mich bei Ihnen besonders interessieren, wie sind Sie denn zu dem Mandat bei der Einzel-
handel Meyer AG gekommen? Wie-wie läuft so was ab?
Befragter: Äh mein Mandat bei Einzelhandel Meyer, ich kannte Herrn [damaliger Vor-
standsvorsitzender von Einzelhandel Meyer].
Interviewer: Ah okay.
Befragter: Äh seit (…) [Jahr]
Interviewer: Vor, noch vor (…) [Jahr]
Befragter: Noch vor der Einzelhandel Meyer AG, da war ich stellvertretender Vorstands-
vorsitzender der [Unternehmen A], war in [Branche]
Interviewer: Ja.
Befragter: … ist das ja (.) und er war der [Unternehmen B] Vorstandsvorsitzende. (.)
Und wir flogen, äh er hatte [Unternehmen C], die er gerne an [Unternehmen A] ver-
kaufen wollte (lacht) und (.) äh ich hatte den Großaktionär, den ich sinnvollerweise
vorher fragen musste, und äh der lebte zu der Zeit äh in-in [Land] (.) o-oder sagen wir
mal, an der Grenze hin zu [Land] oh, schon noch in [anderes Land], aber ganz nah dran
und äh (.) da habe ich gesagt, ist doch alles ein bisschen mühselig, äh da hinzukommen
und dann sagte er, nein, [bekannter Familienunternehmer] äh hat einen Flieger, ich hole
sie ab und so. Dann sind wir dahin geflogen (.) und mit an Bord war [Name], äh der
zeitweilig Einzelhandel Meyer AG… äh Finanzvorstand. Denn der war damals Leiter
Corporate Development bei [Unternehmen B].
Interviewer: Ah. okay.
Befragter: So und dann äh ge- schied er bei [Unternehmen B] aus, ich schied bei [Unter-
nehmen A] aus (.) äh und äh dann [Jahr] habe ich ihn, war ich Aufsichtsratsvorsitzender
bei der [Unternehmen D], ist ein [Branche]… in [Ort]. (.) und habe ihn im Aufsichtsrat,
das war so ein Deal. Das Unternehmen hat ihn in den Aufsichtsrat geholt (.) und bis zum
äh Verkauf des Unternehmens äh, wo ich auch der größte Gesellschafter war, an eine
[Nation] Gruppe, saß er rechts neben mir.
Interviewer: Ah (.) und dann...
Befragter: Sieben Jahre.
Interviewer: Okay, interessant.
Befragter: Und dann hat es äh (.) und während dieser ganzen Zeit haben wir aber, äh
(.) uns auch immer alles äh ausgetauscht. (.) Und äh unter anderem über Kauf von
[ostdeutsches Unternehmen], wa- weil das nach der Wende, sage ich mal, als das anfing
Privatisierung und so weiter. (.) Und wir haben zusammen äh (.) auch Pläne ausgeheckt,
die dann (.) auf Unwillen [seitens eines Aktionärs] stießen, aber letztlich haben wir uns
durchgesetzt, nämlich dass Einzelhandel Meyer [ostdeutsches Unternehmen] kaufte.

Der Befragte schildert seinen Weg in den Aufsichtsrat über die Bekanntschaft mit
dem vor Kurzem ausgeschiedenen Vorstandsvorsitzenden. Dieser sei damals Vor-
standsvorsitzender in einem anderen Unternehmen gewesen und hatte ein Unter-
nehmen von der Firma kaufen wollen, in welcher der Befragte stellvertretender
Vorstandsvorsitzender gewesen sei. Im Flugzeug auf dem Weg zu Sondierungs-
gesprächen hat er bereits einen Kollegen kennen gelernt, der später Finanzvor-
stand bei der Einzelhandel Meyer AG werden sollte. Nachdem er und der spätere
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 77

Vorstandsvorsitzende aus ihren damaligen Positionen ausgeschieden sind, sind sie


jedoch im Gespräch über die Einzelhandel Meyer AG geblieben und hätten hier ge-
meinsame Pläne „ausgeheckt“, die auch schließlich durchgesetzt werden konnten.
Nach dieser Passage fährt der Befragte noch einige Zeit mit Details über den
gemeinsamen Plan fort, bevor er schließlich zu dem Punkt kommt, dass er gefragt
wurde, ob er nicht in den Aufsichtsrat eintreten wolle.
Was an dieser Passage deutlich wird, ist zunächst die Bedeutung persönlicher
Verbindungen bei der Nominierung neuer Aufsichtsratsmitglieder. Darüber hin-
aus – und für die Arbeit des Aufsichtsrats wesentlich – ist aber die Bedeutung eines
gewissen „Korpsgeistes“ sichtbar: Man gehört zu denselben Zirkeln und diskutiert
gemeinsame Probleme. Diese Diskussion gemeinsamer Probleme ist aber weit
mehr als ein fachlicher Austausch. Es handelt sich um ein gemeinsames „Aushe-
cken“: Man entwirft Pläne, die man gemeinsam durchzusetzen versucht und an die
beide Seiten gebunden sind. Ein Abweichen von diesen gemeinsamen Plänen, ein
plötzlicher Seitenwechsel wäre Verrat an dem Gegenüber. Es entsteht eine basale
Reziprozität, die sich auch in der Arbeit des Aufsichtsrats wiederfindet (Interview
mit dem Prüfungsausschussvorsitzenden):

Befragter: Äh – bei den Anteilseigner ist das – also, einmal jetzt dadurch, dass man
intensiv jetzt mehr und mehr Anteilseigner-Gespräche losgelöst von den Sitzungen führt,
wo – äh – personalpolitische Fragen sehr intensiv – also, sehr intensiv diskutiert wird.
Also, Performance und Vorschläge, wie man die findet. Äh – welche – wo man mit den
Maßnahmen steht und dann ist da ja meistens nur der Vorstandsvorsitzende und/oder
der Finanzvorstand dabei, sonst ja niemand, bei Anteilseigner-Besprechungen. (.) Äh
– da geht´s dann schon jetzt ziemlich zur Sache. Und auch natürlich: Wer hat was zu
verantworten? Und da müssen wir uns nicht aus den und den Gründen dann von dem
einen oder anderen verabschieden.
Interviewer 1: Ja.
Befragter: Das findet da schon sehr oft statt. Und ich würde jetzt mal sagen, den Sach-
fragen – also Verkauf [Tochterunternehmen] – (.) da ist dann eigentlich jeder einsich-
tig. Das habe ich noch nicht erlebt, dass da einer – ähm – mit Ausnahme vielleicht des
[Vertreters eines Großaktionärs] (lacht) – äh – da nicht Einsicht – also, da querschießt.
Also, man muss da immer – da gibt´s – die Querschüsse können nur kommen von
[großaktionärsnahen]-Leuten.
Interviewer 2: Okay.
Befragter: Aber sonst nicht. Weil, die haben eine andere Agenda manchmal (..). Das
muss man einfach sehen. Äh – während die anderen – nein. Und wenn, dann gibt es –
wenn einer sich – sagen wir mal – dagegen (..) motiviert zu sein scheint, dann äußert
der das ja spätestens bei der Anteilseigner-Sitzung und dann versucht man den entweder
sich ihn anzuhören und seiner Meinung zu folgen oder aber, ihn zu überzeugen.
Interviewer 1: Ja.
Befragter: So dass es eigentlich auf der Anteilseigner-Bank schon kräftigst Diskussionen
auch im Aufsichtsrat früher gegeben hat
78 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Die Anteilseignervertreter führten getrennte Gespräche, so der Interviewte. Sie dis-


kutierten hier verschiedene Vorschläge. Doch letztlich seien, bis auf den Vertreter
des Großaktionärs, immer alle einer Meinung, wenn man ins Gesamtgremium zur
Diskussion ginge.
Aus diesem Zitat wird eine grundlegende Orientierung an der Kontextur „Ka-
pitalvertretung“ deutlich. Es ist selbstverständlich, dass Kapitalvertreter letztlich
immer einer Meinung sind. Zwar wird jedem zugestanden, seine eigene Meinung
in der Diskussion vertreten zu können, doch geht man in das Gesamtgremium Auf-
sichtsrat immer als Vertreter seiner Seite, der Kapitalseite. Hält man sich nicht an
diese implizite Regel, „schießt man quer“, verstößt also durch Abweichung gegen
die implizite Regel der Homogenität, wie dies am Beispiel des Großaktionärs fest-
gemacht wird.
Der Vertreter eines Großaktionärs befindet sich, wie sich in diesem Zitat andeu-
tet, in einem Dilemma. Er ist zum einen eingespannt in den Raum der Anteilseig-
nervertretung. Diese Kontextur sieht zwar fachliche Diskussion über die „richtige
Entscheidung zum Wohl des Unternehmens“ vor, aber keine Abweichung von der
Mehrheitsmeinung. Selbst wenn ein Anteilseignervertreter eine Meinung aus fach-
lichen Gründen nicht vertreten kann, wird er nicht gegen die Linie seiner „Bank“
stimmen (Jansen 2011, S. 190 ff.). Der Vertreter des Großaktionärs hingegen kann
in diese Situation kommen. Er leidet, wenn man so möchte, an einem „double
bind“ (Bateson et al. 1956): Er ist sowohl einem Einzelaktionär wie auch den Kol-
legen verpflichtet (die immer mit der Illusion eines abstrakten Aktionärswillens
arbeiten, den nur sie selbst bestimmen).
Hier handelt es sich also um ein strukturelles Problem der Einheit der Anteils-
eignerseite. Zwei Kontexturen ragen ineinander und müssen immer wieder neu in
ein Verhältnis zueinander gebracht werden. Dies geschieht im vorliegenden Fall
durch eine totale undifferenzierte Rejektion der Kontextur Großaktionärsvertre-
tung. Das heißt dann auch, dass nur ein gewisser Grad an Abweichung akzeptiert
werden kann, soll gleichzeitig jedoch die Identität von Großaktionärsvertretung
und allgemeiner Aktionärsvertretung aufrechterhalten werden (Interview Anteils-
eignervertreter):

Interviewer: M-hm. (.) Äh jetzt ist ja Ihre, noch die Besonderheit, Sie haben nicht nur
sozusagen die Arbeitnehmer und Anteileigner, sondern Sie haben auch noch [Großak-
tionär]. […] Äh (.) ich kann mir vorstellen, dass sozusagen manchmal noch schwieriger
wird, die-die eigene Bank vielleicht auf eine Linie zu bringen.
Befragter: (.) Also äh wenn was total gegen [die Vorstellungen der Person des Großaktio-
närs und seiner Firma] (.) würde man sich schwer tun, obwohl da sehen Sie ja, äh alles
wechselt, nur der [Vertreter des Großaktionärs] wechselt nicht.
Interviewer: Interessanterweise (lacht), beide sogar.
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 79

Befragter: Beide sogar(.) bei uns. Äh da ist so, es gibt da schon, das sind schon Fachleute.
Und äh (.) [wir hatten auch unsere Konflikte] und äh aber man kann mit Herrn [Ver-
treter des Großaktionärs], ganz klar sagen, äh hören sie mal, das geht nicht, das geht
nicht und dann sagt der auch seinen ei- äh, ich sage mal, seinen eigenen Leuten oder im
Präsidium, sagt er so, hör mal.

Angesprochen auf den Großaktionär antwortet der Befragte, dass es schon zu


schwierigen Situationen käme, wenn die Anteilseignervertreter eine gänzlich an-
dere Position als der Großaktionär verträten. Aber man müsse in Betracht ziehen,
dass zwar schon viele Anteilseignervertreter gekommen und gegangen seien, die
beiden Vertreter des Großaktionärs aber schon lange da sein. Zwar hätte man
immer wieder Konflikte, doch in wirklich wichtigen Punkten wäre der zentrale
Vertreter des Großaktionärs auf der Seite der anderen Anteilseignervertreter und
würde deren Position auch gegenüber dem Großaktionär vertreten. Zudem seien
sie gute Fachleute.
Hieran wird deutlich, dass Großaktionärsvertretern zwar ein Sonderstatus zu-
gestanden wird; sie können in unwesentlichen Punkten von der Mehrheitsmeinung
abweichen. Dennoch würde bei zentralen Punkten die Geschlossenheit der Bank
aufrechterhalten werden. Diese gilt im Zweifelsfall als der Raum, in dem man sich
trifft und in dem man Entscheidungen produziert. Auch der Vertreter des Großak-
tionärs ist damit in letzter Konsequenz ein Anteilseignervertreter unter vielen. Es
wird also explizit eine weiche Identität konstruiert, in der ein Großaktionärsvertre-
ter gleichzeitig abweichen und nicht abweichen kann, in der er gleichzeitig Mitglied
und Nicht-Mitglied ist.
Die Einheit der Anteilseignervertreter fundiert zu einem großen Teil in einem
Raum beruflicher Kollegialität. Dies erklärt jedoch nur einen Teil der Geschlossen-
heit, denn Kollegialität schließt, gerade auf Ebene des Top-Managements, weder
Konkurrenz noch Konflikte aus. Der Grad, in dem Geschlossenheit auf Ebene des
Aufsichtsrats gefordert wird, begründet sich vor allem aus der Differenz zu den
Arbeitnehmervertretern. Sobald eine Person auf Anteilseignerseite nicht mehr mit-
stimmt, ist die Parität verloren und so auch die Möglichkeit, die Arbeitnehmerver-
treter mithilfe der Doppelstimme des Aufsichtsratsvorsitzenden zu überstimmen.
So äußert sich ein Kapitalvertreter folgendermaßen:

Interviewer: Was ich jetzt noch mal ganz spannend finde, das ist ein Unternehmens-
verkauf gewesen, der relativ wichtig war, gerade von der Geschäftsführungswirkung in
Deutschland, bei [Tochterunternehmen]. Wie stellte sich denn bei so was die Arbeitneh-
mer auf? Also (.) wir wissen auch...
Befragter: Ja, wir kommen natürlich an-an-an-an Problem-äh-zonen. Wie Sie wissen,
äh unterliegt das ja alles nach wie vor der Vertraulichkeit. Die tun sich schwer damit. (.)
Und deswegen muss man äh-äh versuchen die Anteilseignerseite geschlossen zu halten,
80 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

weil nach der deutschen paritätischen Mitbestimmung können Sie davon ausgehen, dass
selbst wenn die sich untereinander nicht grün sind äh und auch der eine stärker und der
andere schwächer sind und-und gewerkschaftlich oder betrieblich orientiert oder was
auch immer (.) äh und Sie denen, mit einzelnen von denen vorher gesprochen haben und
sie sagen, ja sie müssen dieses Argument, denn ich kann das nicht bringen. (.) Äh-äh also
wenn abgestimmt wird, sind die einer Meinung. Müssen Sie von ausgehen. Also müssen
die Anteilseigner, müssen auch geschlossen sein und dann muss eigentlich von vorne-
herein klar sein, die Zweitstimme wird gezogen.

Gefragt nach der Meinungsbildung der Arbeitnehmervertreter im Hinblick auf


den Verkauf eines Tochterunternehmens wird die Unternehmensmitbestimmung
als solche thematisiert. Die Arbeitnehmer, so der Interviewte, würden die Vertrau-
lichkeit der Diskussion nicht beachten und Informationen nach außen weiterge-
ben. Zudem würden sie trotz interner Differenzen gegenüber den Anteilseignern
immer mit einer Meinung auftreten. Daher müssen auch die Anteilseignervertreter
geschlossen auftreten und im Zweifelsfall mit der Zweitstimme die Arbeitnehmer-
vertreter überstimmen.
Obwohl hier konkret nach der Position der Arbeitnehmervertreter innerhalb
eines Aufsichtsrats zum Verkauf eines Unternehmensteils gefragt wurde, antwortet
der Interviewte generisch. Er geht nicht auf eine spezifische Position ein, sondern
äußert sich zu einem generellen Problem, das eine solche Diskussion verhindert.
Der Befragte sieht sich und seine Kollegen gegenüber einer Arbeitnehmerseite, mit
der er nicht diskutieren kann, weil die Positionen sowieso schon feststehen. Dar-
über hinaus sieht er noch nicht einmal die Möglichkeit, die zu einer Diskussion
nötigen Informationen mitzuteilen.
Damit wird deutlich, dass es keinen sachlichen Dialog gibt, sondern vor jeder
Meinungsbildung die Zugehörigkeit zu einer Seite liegt. Es handelt sich um eine
generelle Struktur, welche die Situation stets vordefiniert. Aus Perspektive des Be-
fragten ist es unumgänglich, dass die Kapitalvertreter ihre Position stets gegen und
in Differenz zu den Arbeitnehmervertretern bewahren, um so ihre Hoheit in der
Entscheidungsfindung sicherzustellen. Die Einheit der Kapitalseite ist damit der
Raum, innerhalb dessen diskutiert werden kann, während der gesamte Aufsichts-
rat nur noch eine politische Konstellation ist, in der es gilt, die eigene Einheit zu
erhalten. Die Binnendifferenzierung der Anteilseignerseite wird hier aufgehoben.
Die Identität der Kontextur Großaktionärsvertreter rastet im Bereich Aktionärs-
vertretung ein.
Dies macht die Frage danach, wie denn die Entscheidungen auf Anteilseignerseite
gefällt werden, umso akuter. Denn bedenkt man, dass es sich bei Entscheidungen
letztlich um die Wahl kontingenter Alternativen handelt, stellt sich dabei natür-
lich die Frage, wie diese Wahl letztlich abgesichert wird. Wie ist es möglich, dass
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 81

„überzeugt“ wird? Wie wird im Zweifelsfall festgestellt, ob nun doch eine höhere
Dividende ausgeschüttet wird, um kein schlechteres Rating und damit schlechtere
Kreditbedingungen zu bekommen, oder eine niedrigere Dividende, um mehr liqui-
de Masse zur Investition zu haben. Was ist hier aus Sicht des Kapitals „rational“?
Die Antwort ist hier dieselbe wie in den meisten anderen Unternehmen auch: Im
Zweifelsfall entscheidet der Vorsitzende (Interview mit dem Prüfungsausschuss-
vorsitzenden):

Interviewer: Jetzt hatten wir uns – ja auch angedeutet, dass uns – ähm – das Thema
Aufsichtsratsvorsitzender noch im Speziellen auch interessiert. Welche Rolle hat der denn
jetzt in diesem ganzen Prozess gespielt?
Befragter: Darüber haben wir beide uns schon mal sehr intensiv auseinander- (..) Der
Aufsichtsratsvorsitzende spielt (.) in einer anderen Liga (..) als ein normales Aufsichts-
ratsmitglied. (.) Und ob es der Herr Prüfungsausschussvorsitzenden ist es – you name
it – spielt gar keine Rolle. Weil – er ist der Einzige (.), der (.) ständig im Kontakt mit
dem Vorstand stehen muss (..) und steht. (..) Er ist der Einzige, der auch ständig mit
der Arbeitnehmerseite beim Kollegen im Präsidium Kontakt halten muss. Auch auf der
Arbeitnehmerseite und auch mit der Regierung, also mit den – ich sage mal – mit der
Mehrheit der Aktionäre oder den Großaktionären. (..) Äh – deswegen steht der – wenn
Sie wollen – im Brennpunkt. (.) Und (.) ist zeitlich und auch, wenn Sie so wollen, geistig
(.) mehr eingebunden als ein Aufsichtsratsmitglied, (.) was – von mir aus – aus England
anreist. Einen hohen Sachverstand, ich sage mal im internationalen [Geschäft] dann,
aber ansonsten – nicht weiß, was in Deutschland vorgeht. (..) Äh – der kommt, bringt sei-
nen Kopf mit, aber (.) geht dann wieder und schaltet seinen Kopf wieder ab. Also, der Auf-
sichtsratsvorsitzende, der ist (.) wirklich (.) eingebunden und der ist – wenn Sie so wollen
– der Coach des Unternehmens. (..) Das ist so. (..) Und – äh – das kann man gar nicht
hoch genug – also – hoch genug einschätzen. (.) Die Rolle eines Aufsichtsrates – da kommt
es ein bisschen drauf an, was Sie (.) wie Sie sich selber persönlich fühlen, einbringen und
ob Sie da in wichtigen Ausschüssen mit einer einer entscheidenden Funktion sind. Aber
ein normales Aufsichtsratsmitglied und ein Aufsichtsratsvorsitzender, das sind Welten.

Gefragt nach der Rolle des Aufsichtsratsvorsitzenden, gibt der Prüfungsausschuss-


vorsitzende an, dieser „spiele“ in einer „anderen Liga als ein normales Aufsichts-
ratsmitglied“. Der Aufsichtsratsvorsitzende sei derjenige, der stets den Kontakt
mit allen anderen wesentlichen Personen halte. Darüber hinaus sei er fachlich der
Qualifizierteste, da er sich im Geschäft der betreffenden Branche auskenne. Das
normale Aufsichtsratsmitglied komme nur immer kurz vorbei, wobei ein Auf-
sichtsratsvorsitzender das Unternehmen stets begleite.
Der Befragte spricht von „Welten“, die zwischen dem Aufsichtsratsvorsitzenden
lägen, von einer anderen „Liga“, in der dieser „spiele“. Damit wird der Person des
Aufsichtsratsvorsitzenden eine Autorität zugesprochen, die über eine normale Ex-
pertise hinausgeht. Zwar wird auch die Fachkompetenz erwähnt, doch wesentlich
ist, dass der Aufsichtsratsvorsitzende als derjenige dargestellt wird, der quasi im
82 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Unternehmen ist, während alle anderen nur zu Besuch kommen. Damit bekommt
der Vorsitzende etwas wie Hausrecht zugesprochen. Es ist seine Sphäre, die betreten
wird, wenn man als normales Aufsichtsratsmitglied ankommt. Und damit ist der
Aufsichtsratsvorsitzende auch derjenige, der bestimmt, was gemacht wird. Das nor-
male Mitglied darf hier zwar seine Meinung sagen, doch geht die Kompetenz nicht
über die des reinen Ratgebers hinaus, während der Vorsitzende der Entscheider ist.
Funktional betrachtet wird hier das Problem der Geschlossenheit durch eine
fremdreferentielle Konstruktion gelöst. Die Anteilseignervertreter definieren sich
über den kontroversen Diskurs und stehen vor dem Problem, die Kontroverse
wieder einzufangen. Durch eine totale undifferenzierte Rejektion wird eine Refle-
xionsinstanz eröffnet, deren Welthorizont als unbekannt gilt und in die man daher
Rationalität projizieren kann.
Die Anteilseignervertreter positionieren sich damit klar geschlossen gegenüber
den Arbeitnehmervertretern. Sie stehen zusammen mit dem Vorstand auf der ei-
nen, die Arbeitnehmervertreter auf der anderen Seite. Wie antagonistisch diese
Positionierung gedacht wird, geht aus dem folgenden Zitat klar hervor (ein An-
teilseignervertreter):

Interviewer: Und was waren die Gründe damals, [Jahr], [dieses Mandat anzunehmen]?
Befragter: Ja gut, das war dann mehr, also: Halb sank er hin, halb zog man ihn, (lacht)
das, da wurde man dann auch gebeten, und wenn [Person öffentlichen Interesses], dann
sagt man ja normalerweise nicht Nein. (.) Ja, außerdem war ich ja in [der Branche],
wenn Sie so wollen, (.) und äh ich fand diese Aufgabe damals auch (.) eigentlich sehr
spannend. (.) Und sie hat mir auch unendlich viel gegeben, weil ich einfach eben noch
mal erlebt habe, äh wie-wie, welchen großartigen Job diese [Unternehmen]-Vorstände
gemacht haben, die (..) ja damals jämmerlich bezahlt wurden, […](.) Äh und die ver-
dienten damals, ich sag’ jetzt mal, was heute ein [Posten mittleres Management] ver-
dient. Also [Summe] D-Mark damals, das war schon ziemlich hart für den Job, und
das fand, da fand ich die ziemlich idealistisch die Leute. Die kamen aus deutlich höher
bezahlten Tätigkeiten, und kämpften wie die Berserker gegen diesen Moloch(.) und die-
sen gewerkschaftsdurchsetzten.

Gefragt, warum er das Mandat angenommen habe, erwidert der Anteilseignerver-


treter, weil er von einer bekannten und renommierten Person gebeten worden sei.
Zudem sei er mit der Branche vertraut gewesen und hätte die Aufgabe spannend
gefunden. Auch habe er die Vorstände bewundert, die „jämmerlich“ wenig ver-
dient, sich aber mit aller Kraft gegen den „gewerkschaftsdurchsetzten“ „Moloch“
gestemmt hätten.
Der Anteilseignervertreter bezieht sich auf eine Krisensituation, in der er
in das Unternehmen gekommen ist. Ein umfangreiches Sanierungsprogramm
ist gestartet worden. Dabei erscheint nicht das sachliche Problem als die größte
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 83

Herausforderung – es handelt sich nicht um den Niedergang eines Geschäfts-


zweigs, einer Änderung in der Marktsituation oder Ähnliches –, sondern der Kon-
flikt mit den Arbeitnehmervertretern. Aus Perspektive des Befragten bestand das
damalige wirtschaftliche Problem, das der Vorstand angehen musste und das der
Befragte als Aufsichtsrat beschützen und begleiten wollte, in der Arbeit gegen die
Arbeitnehmervertreter. Damit wird klar unterstrichen, dass ökonomische Rationa-
lität aufseiten der Vorstände und der Kapitalvertreter steht, das Gegenteil – Irratio-
nalität, wenn man so möchte – aufseiten der Arbeitnehmervertreter (insbesondere
der Gewerkschaft). Der Positivstruktur des Rationalen steht im Negationsbereich
Arbeitnehmervertretung entgegen.

4.2.1.2 Arbeitnehmervertretung: Klare Opposition


Während die Anteilseignervertreter ihre Aufgabe darin sehen, das Unternehmen
ökonomisch gegen die Arbeitnehmervertreter voranzubringen, sehen diese ihre
Aufgabe darin, im Aufsichtsrat die Interessen der Arbeitnehmer gegen die Arbeit-
geber zu vertreten. Dabei stellt sich die Frage ökonomischer Rationalität nicht. So
äußert sich der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende, der hauptamtlicher Ge-
werkschafter ist, folgendermaßen:

Befragter: Wir hatten im letzten Jahre eine-eine riesengroße Auseinandersetzung, wir


hatten da [Tarifverhandlungen]. Das war ja (.) in aller Munde, so das haben alle mitbe-
kommen und letztes Jahr ging es darum, dass [der Vorstandsvorsitzende] die Arbeitszeit
erhöhen wollte, dann im/obwohl es gerade geschlossene Verträge gab, der auf einmal
über die Medien ging (.), wir in die Betriebe gegangen sind, in Betriebsversammlung und
die Menschen am Ende, also wir haben ja dann verhandelt, wir haben uns tatsächlich (.)
äh eingelassen auf Verhandlungen, aber sie haben ihre Arbeitszeit behalten, sie haben ihr
Geld behalten. Da ist nichts weggenommen worden (.). Also sie haben sogar noch eine
Verbesserung ihrer äh Rationalisierungsschutzbestimmung und damit sind die zufrieden
und (…) das ist ein (.) wirklich gutes Gefühl, wenn ich in den Betrieb komme, dann ha-,
schlägt mir, nein, sind nicht immer alle mit allem zufrieden, ich will jetzt nicht so tun,
als wenn da so-so heile Welt wäre, aber (.) es gibt so eine Grundzufriedenheit und die
setzt sich durch und die setzt sich dann auch um (.) äh (.) was hat [die Gewerkschaft]
denn zu sagen. Also was (…) wir sind ja nicht zwei Unterschiedliche, die Menschen, die
äh (.) betrieblich arbeiten, sind auch gleichzeitig Gewerkschafter, also die arbeiten ja
auch in den...
Interviewer: M-hm, klar.
Befragter: … gewerkschaftlichen Gremien. (.) Sind ja nicht zwei unterschiedliche Dinge,
so, aber trotzdem hat jeder so seine Aufgabe und [die Gewerkschaft] (.) gibt die Rich-
tung vor. Das ist im Betrieb so und dann ist es im Aufsichtsrat auch so akzeptiert und
anerkannt.

Im Rahmen der Tarifverhandlungen des letzten Jahres habe der Vorstand versucht,
die Arbeitszeit zu verlängern. Nach Verhandlungen habe man jedoch durchsetzen
84 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

können, dass die Arbeitszeit nicht verlängert worden. Man habe sogar erreicht, dass
die „Rationalisierungsschutzbestimmung“ zugunsten der Arbeitnehmer verbessert
worden sei. Solche Erfolge, so der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende, gäben
ein „gutes Gefühl“, wenn man in den Betrieb käme – auch wenn man externer Ge-
werkschafter sei. Denn eigentlich seien ja auch alle Angestellten Gewerkschafter. Nur
eben keine Hauptamtlichen. Die aber gäben den Weg vor, der eingeschlagen wird.
An diesem Zitat lässt sich sowohl die Identifikation der Gewerkschaftsvertreter
mit den betrieblichen Arbeitnehmervertretern und den Arbeitnehmern erkennen
als auch die klare Orientierung der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat an der
Interessenvertretung gegenüber den Arbeitgebern. Auffällig ist dabei die Formu-
lierung, dass nichts weggenommen wurde. Rationalisierungsmaßnahmen werden
hier ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Besitzstandswahrung begriffen.
Es wird zwischen der Partei der Arbeitgeber und den Arbeitnehmern unterschie-
den und es geht darum, die Besitzstände der Arbeitnehmervertreter gegenüber den
Arbeitgebern zu sichern. Arbeitnehmervertretung wird als Sicherung eben jener
Besitzstände aufgefasst. Die Frage wirtschaftlicher Verantwortung gegenüber dem
Unternehmen stellt sich nicht. Bei genauer Betrachtung kommt das Unternehmen
als Einheit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, oder zumindest als Schnittfläche
für ein gemeinsames Interesse, nicht vor. Dies ist in anderen Unternehmen nicht so.
Diese klare Unterscheidung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern und
die klare Orientierung an einer Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen gegen-
über den Arbeitgebern ändert sich auch nicht auf Ebene des Aufsichtsrats. Wäh-
rend Arbeitnehmervertreter in vielen anderen Unternehmen betonen, dass Auf-
sichtsratsarbeit nicht mit betrieblicher Mitbestimmung gleichzusetzen sei, wird
hier das Gegenteil betont (Interview mit dem Konzernbetriebsratsvorsitzenden):

Interviewer: Wie (.), jetzt haben Sie, finde ich, sehr schön beschrieben, dass es Sinn
macht, dass Sie in dem, in dem Gremium sitzen aufgrund Ihrer Funktion. Hatten Sie
denn auch persönliche Gründe, dass Sie gesagt haben, ich finde es spannend, in den
[Aufsichtsrat der Einzelhandel Meyer AG] zu gehen?
Befragter: Ja-ja, also äh-äh das eine ist, dass ich äh (.) äh, sowieso der-die feste Über-
zeugung habe, dass die betriebliche Mitbestimmung immer nur einen bestimmten Teil
abdecken kann. Äh und dass äh die Arbeit insgesamt verzahnt gehört. Dazu gehört für
mich (.) die betriebliche Mitbestimmung, die Unternehmensmitbestimmung, aber auch
der gewerkschaftliche Teil, weil mit den normalen Mitbestimmungsregularien (.) aus
dem Aktienrecht oder aus dem Betriebsverfassungsgesetz Sie immer an Grenzen stoßen.
Äh, die Sie als Gewerkschaft ganz anders bearbeiten können und darüber auch hinaus-
gehen können.

Auf die Frage nach der persönlichen Motivation antwortet der Befragte, dass es
für ihn wichtig sei, die betriebliche Mitbestimmung mit der überbetrieblichen
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 85

Mitbestimmung durch die Gewerkschaften sowie der Unternehmensmitbestimmung


zu vernetzen. Die Gewerkschaften und die Unternehmensmitbestimmung böten
ganz andere Möglichkeiten als die betriebliche Mitbestimmung.
Was mit diesem Zitat gesagt ist, wird besonders klar im Kontrast zu einem Zi-
tat aus dem Interview mit einem Betriebsratsvorsitzenden eines Chemieunterneh-
mens:

Befragter: Betriebliche Mitbestimmung steht an erster Stelle.


Interviewer: Ja.
Befragter: Ja und dann ist der nächste äh Schritt-Schritt äh, (.) Aufsichtsratstätigkeit,
muss man ja aufpassen, dass (.), ich sage mal, äh-äh, dass man das Verständnis auf-
bringt, dass das nichts mit betrieblicher Mitbestimmung zu tun hat im unmittelbaren
Sinne, das, was man hier im Tagesgeschäft macht und da ist auch ein Lernprozess, den
man hat. Dass dann andere Dinge (.) davorstehen und dass man (.) nicht immer nur die
Interessen (.) äh (.), die Arbeitnehmerinteressen nur nach vorne tragen kann, sondern
da äh brauche ich ja, bei den nachhaltigen Entscheidungen, die man ja trifft, die ja im
ersten Moment aussehen, als wenn sie nicht so (.) arbeitnehmerfreundlich sind, aber den
Bestand des Unternehmens retten und damit ja auch wieder Arbeitsplätze. Das wäre
also fatal, wenn man, (.) nach meiner (.) Meinung, das so sehen würde.

Der Betriebsratsvorsitzende des Chemieunternehmens betont, dass für ihn die


betriebliche Interessenvertretung an erste Stelle stünde, dass man aber eine klare
Grenze zwischen betrieblicher Mitbestimmung und Unternehmensmitbestim-
mung ziehen müsse. Während man sich bei Ersterer rein an den Arbeitnehmer-
interessen orientieren müsse, sei dies bei der Zweiten fatal. Im Aufsichtsrat müsse
man die Interessen der Arbeitnehmervertreter zurückstellen können zugunsten
des Unternehmens und nachhaltigen Wirtschaftens.
In der komparativen Analyse wird hier der Kontrast deutlich. In der Chemie-
industrie wird die Diskontinuität von betrieblicher und Unternehmensmitbestim-
mung betont. Erstere dient den Arbeitnehmerinteressen, die Zweite hingegen muss
an einem übergeordneten Unternehmensinteresse orientiert sein. Es wird also eine
totale differenzierte Rejektion vorgenommen: Innerhalb der Kontextur Arbeitneh-
mervertretung findet eine Verschachtelung von politischer und wirtschaftlicher
Kontextur statt, deren Inhalte reflektiert werden. Dagegen wird in dem vorliegen-
den Beispiel des Dienstleistungsunternehmens gerade die Kontinuität betont. Be-
triebliche Arbeitnehmervertretung wird, wie aus dem vorletzten Zitat hervorgeht,
als reine Vertretung von Partialinteressen gesehen und die Unternehmensmitbe-
stimmung wird in diese Linie eingereiht. Sie ist betriebliche Mitbestimmung mit
anderen Mitteln. Es findet also keine Form der Transjunktion statt, wenn es um die
Aufsichtsratsarbeit geht. Diese erscheint einfach als politischer Sachverhalt. Hin-
sichtlich der wirtschaftlichen Dimension der Aufsichtsratsarbeit wird hingegen
86 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

eine einfache partiale Transjunktion vorgenommen – man ist dafür nicht zuständig
(Interview Betriebsratsvorsitzender):

Befragter: Äh, wo ich halt sage, äh, am Ende (.) äh sitze ich da nicht, um äh irgendje-
manden zu folgen, sondern (.) äh das mit meinem Sachverstand, der sicherlich in ande-
ren Dingen stärker ausgeprägt ist, als äh nur im Finanzbereich, aber auch die Wirkung
(.) äh nach innen zu beobachten, äh sich da drüber im Klaren zu sein, äh, was bedeutet
eine Entscheidung, die wir jetzt ja äh jüngst äh getroffen haben (.), äh-äh Erhöhung der
Aufsichtsratsvergütung. Ich denke, wir kommen noch zu dem Thema.
Interviewer: Ja.
Befragter: Äh (.) äh gegen die Stimmen der Arbeitnehmerbank mit Doppelstimmrecht
äh-äh, das ist äh (.) äh, das ist sicherlich etwas, wo (.) äh (..) äh, wo wir ganz anders (.)
äh (.), ja (.) äh noch mal in der Verantwortung sind, zu überprüfen, (.) jeder für sich,
kann er das verantworten und kann er das am Ende auch (.) äh in der Belegschaft äh-äh
rüberbringen. Weil wir sitzen da ja jetzt nicht zum Selbstzweck, sondern am Ende, um
die (.) Interessen der Beschäftigten mit einzubringen.

Der Befragte bringt das Thema der Aufsichtsratsvergütung während einer Passage
über die Arbeit des Prüfungsausschusses selbst auf. Er gibt an, dass die Arbeit-
nehmerseite geschlossen gegen die Erhöhung der Aufsichtsratsvergütung gestimmt
habe und dass dies nur mit der Doppelstimme durchzusetzen war. Denn, so die
Begründung, man müsse die Interessen der Belegschaft einbringen.
Obwohl im späteren Verlauf des Interviews betont wird, dass die Aufsichtsrats-
vergütung des Unternehmens im Vergleich mit ähnlichen Unternehmen eher nied-
rig ist, wird geschlossen gegen die Erhöhung gestimmt. Die Begründung hierfür ist
keinesfalls die Unangemessenheit der Vergütung, sondern der mögliche politische
Schaden, der durch eine Zustimmung angerichtet werden könne. Die wirtschaftli-
che Dimension der Entscheidung wird in der einfachsten Form rejiziert.
Diese nahezu vollständige Ausklammerung des Unternehmens als relevante
Dimension der Arbeitnehmervertretung und die Beschränkung auf die Perspek-
tive der Interessenpolitik ist in dem hier vorgestellten Fall stark ausgeprägt. Zwar
findet sie sich als primäre Orientierung in allen Unternehmen dieses Typs, doch
erscheint in einigen Bereichen zumeist das Unternehmenswohl zumindest noch
als relevante Semantik. Es wird zumindest darüber geredet. Das ist hier nicht der
Fall.
Diese starke Orientierung an der Unterscheidung von Arbeitgebern und
Arbeitnehmern ist im vorliegenden Unternehmen durch eine traditionell
außergewöhnliche Stärke der Gewerkschaft begründet. Dies wird sowohl von den
Anteilseignervertretern als auch von den Arbeitnehmervertretern einmütig einge-
räumt. Die Betriebsräte bilden hier keine eigene Position gegenüber den Gewerk-
schaften aus, wie dies in anderen Unternehmen der Fall ist. Der stellvertretende
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 87

Aufsichtsratsvorsitzende betont diese zentrale Rolle der Gewerkschaft, während er


über seinen Weg in den Aufsichtsrat berichtet:

Befragter: (..) Na hm (.) auch aus der Vergangenheit äh geschildert äh (.), wusste ich, dass
(.) die (.) in-in dieser Arbeitnehmerbank äh (.), die Linie immer durch die Gewerkschaft
vorgegeben wird, also (.) auch für die Betrieblichen, dass eigentlich die Gewerkschaft
sagt, äh, das ist die Richtung und dass ich wusste, es gibt eine hohe Verantwortung (.)
äh in-in bestimmten Situationen, wo ich dann eben (.) die Entscheidungsfindung äh mit
ermöglichen muss. Und wo ich sagen muss, da geht es lang, da geht es lang, da geht es
lang. Und da ich ja (.) noch nicht so richtig wusste, was das für Themen sind, die da auf
mich zukommen, äh, das aber schnell festgestellt habe (.) von welch hoher Bedeutung die
auch sind und was die gegebenenfalls nach sich ziehen, äh (.) war ich dann, naja (.) gut,
das-das wusste ich vorher nicht, aber ich habe es, ich habe es schon so angenommen, dass
es so kommt. Und deswegen äh (.), war ich zunächst mal jetzt nicht derjenige, die sagte,
ich muss unbedingt in diesen Aufsichtsrat.

Die Linie der Arbeitnehmerbank würde die Gewerkschaft vorgegeben. Dies be-
deute für die Vertreter der Gewerkschaft eine zentrale Stellung und viel Verantwor-
tung. Aus diesem Grund sei er, so der Befragte, auch nicht an diese Stelle gedrängt.
Deutlich wird hier eine Unsicherheit in der Orientierung des Gewerkschafters.
Während es in anderen Gewerkschaften selbstverständlich ist, dass Führungsposi-
tionen übernommen werden und dass die Gewerkschaft die Linie der Arbeitneh-
mer im Aufsichtsrat vorgibt, ist dies hier nicht der Fall. Die meisten Vertreter der
Gewerkschaft – dies lässt sich auch in anderen Unternehmen beobachten – be-
greifen ihre Rolle eher in der Opposition. Gewerkschaftliche Interessenvertretung
ist hier stets Arbeit gegen die Unternehmensführung, keine Arbeit mit derselben.
Wird dieser Raum, in dem das Arbeitnehmerinteresse ausschließlich in der Dif-
ferenz gegen das Unternehmen gebildet wird, selbst an die Stelle der Unterneh-
mensführung gesetzt, scheint das Resultat konsequenterweise Opposition gegen
die Unternehmensführung zu sein.
In anderen Fällen bilden die betrieblichen Interessenvertreter eine Orientierung
aus, die stärker am Unternehmen orientiert ist. Innerhalb der Arbeitnehmerbank
bilden sich dann konkurrierende Kontexturen der Arbeitnehmervertretung heraus.
Auf der einen Seite wird das Arbeitnehmerinteresse gegen das Unternehmen, auf
der anderen Seite mit dem Unternehmen gebildet. Zumeist ist es möglich, diese
Differenzen zu operationalisieren und immer wieder neu auszuhandeln. Beide
Räume werden unter der Formel des Arbeitnehmerinteresses zusammengefasst
und entweder über eine informelle Hierarchie oder über Mehrheiten entschie-
den. An anderer Stelle kommt es zur Kompromissbildung. In Extremfällen kann
es jedoch sogar zum Aufbrechen der Arbeitnehmerbank kommen, wenn die ex-
ternen Gewerkschaftsvertreter sich mit den betrieblichen Arbeitnehmervertretern
88 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

überwerfen (etwa 4.5.1. Merz Services AG: Die Einheit von Wirtschaft und Politik
in der Familie).

4.2.1.3 Sphärentrennung und Doppelstimme


Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreter definieren sich jeweils in Differenz zur
anderen Seite. Während die Anteilseignervertreter sich zusammen mit dem Vor-
stand der wirtschaftlichen Unternehmensführung verpflichtet sehen, begreifen
sich die Arbeitnehmervertreter als reine Interessenvertreter. Dies hat verschiedene
Auswirkungen.
Zunächst lässt sich beobachten, dass die Arbeitnehmervertreter sich im Fall
des vorliegenden Unternehmens thematisch auf Entscheidungen beschränken,
die direkt politisches Potenzial haben. Alle Fragen, die nicht als direkt das Arbeit-
nehmerinteresse betreffend erkannt werden, werden der anderen Seite überlassen.
Dies trifft sogar auf die Vorstandsbestellung zu, bei der beinahe in allen anderen
untersuchten Unternehmen die Arbeitnehmer zumindest Mitspracherecht haben
und dieses auch stets wahrnehmen. Im vorliegenden Fall stößt die Bestellung eines
Finanzvorstands auf Desinteresse und wird als Arbeitgebersache betrachtet (Inter-
view Betriebsratsvorsitzender):

Interviewer: Wie-wie läuft im Vergleich zu so einem Sach- oder M und A-Geschäft so


eine, äh so eine Personal- oder Vorstandsbestellung, was ja eigentlich so als die Königs-
disziplin der Aufsichtsratsarbeit gilt.
Befragter: (lacht) (..) Zu Unrecht, wie ich finde, aber das ist eine andere Sache. (alle
lachen) Äh (.) äh (.), also sie haben da, aus meiner Sicht, als äh (..), nein, ich mache
anders. Ich finde, dass ich als Arbeitnehmervertreter (.) relativ wenig (.) äh dazu (.)
beitragen kann.
Interviewer: Okay.
Befragter: Äh (..), ob äh Herr [Name] geeignet ist oder nicht, äh im Vorfeld (.) äh er hat
Referenzen, die äh-äh zwangsläufig da sind, sie (.) erleben dann die Person einmal, wie
sie sich kurz vorstellt, äh (.), sie kriegen einen ersten Eindruck, ob der (.) ein vollkommen
verschlossener Mensch, ob sie eher den Eindruck haben, er geht auf andere zu. Er war
vorher äh (.) im Finanzvorstand in einer [Aktiengesellschaft] [personen- und unterneh-
mensspezifische Details] sonst wird das Thema (.) äh Arbeitnehmerbeteiligung, egal in
welcher Form, eher als lästiges Übel angesehen wird. Und das nicht, aber (.) selbst, wenn
sie jetzt dort (.) so jemanden hätten, (.) dann können sie natürlich diskutieren, (.) äh, ob
das die richtige Besetzung ist, aber eine Nichtbestellung (.) äh (.), wenn der Vorstand und
die Anteilseignerseite das befürwortet, (.) äh, ist aus meiner Sicht nahezu ausgeschlossen,
ein solches Votum. Da müsste ich Kenntnisse haben, die (.) massiv gegen eine Person
sprechen und wie soll ich zu diesen Kenntnissen gelangen.

Auf die Frage hin, wie eine – gemeinhin als wichtig betrachtete – Vorstandsbestel-
lung verlaufe, im Unterschied zu einer Sachentscheidung, antwortet der Befragte,
dass er hierzu nicht viel sagen könne, dass er Vorstandsbestellung aber auch nicht
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 89

als sonderlich wichtig ansähe. Als Arbeitnehmervertreter könne er kein Urteil über
die Qualifikation bilden. Man könne beurteilen, ob jemand aufgeschlossen sei oder
nicht. Im Fall des neu bestellten Finanzvorstands könne man auch sagen, dass er
Erfahrung mit der Mitbestimmung habe, die gemeinhin nicht wohlgelitten sei.
Aber letztlich sei die Bestellung einer Entscheidung bei den Arbeitgebern und nur,
wenn man Informationen hätte, die stark gegen eine Bestellung sprächen, könne
man als Arbeitnehmervertreter hier etwas sagen.
Deutlich wird hieran, dass die Arbeitnehmer sich letztlich nicht als für den Fi-
nanzvorstand zuständig betrachten. Obwohl es sich nicht nur bei der Bestellung
um eine Aufgabe des Aufsichtsrats handelt, sondern auch die Tätigkeit des Vor-
stands – hier des Finanzvorstands –der Kontrolle des Aufsichtsrats obliegt, ist das
Interesse gering. Für die ökonomischen Seiten der Unternehmensführung wird die
Verantwortung bei den Anteilseignern gesehen. Die wirtschaftliche Kontextur wird
hier wieder rejiziert. Auch hier handelt es sich wieder um eine partiale Rejektion:
Das Wirtschaftliche wird nicht als relevante Reflexionsdimension betrachtet. Statt-
dessen wird der wirtschaftliche Wert aus der eigenen Kontextur geschoben und mit
einer totalen undifferenzierten Rejektion abgesichert: Man ist für die Frage nicht
zuständig, aber die Anteilseigner sind es. Was diese jedoch denken, wird nicht
mehr mitreflektiert.
Während so ein großer Teil von Themen der Aufsichtsratsarbeit den Anteils-
eignern überlassen wird, bleibt der Teil für die Arbeitnehmervertreter relevant, die
politisches Potenzial versprechen. So fährt der Betriebsratsvorsitzende folgender-
weise fort:

Befragter: Äh da habe ich (.), wie-wie, also deshalb glaube ich, dass das [die Vorstands-
bestellung] vollkommen überbewertet wird, aus meiner Sicht ist das nicht die Königsdis-
ziplin. Sondern äh-äh die Königsdisziplin ist die (.) äh (.), die Überwachung äh-äh und
die Beratung (.) äh bei den laufenden Geschäftstätigkeiten.
Interviewer: (.) Sozusagen das Kerngeschäft äh liegt dann im Prüfungsausschuss?
Befragter: (.) Ich glaube, dass der Prüfungsausschuss eine hohe Bedeutung hat, ja. Also
äh (.) äh einfach auch deshalb, (.) äh, weil tatsächlich die Frage ja immer die ist, (.) äh
wo kriege ich noch etwas beeinflusst und wo äh habe ich am Ende Möglichkeiten, auch
äh-äh Interessen von Beschäftigten (.) äh durchzusetzen. Äh ich mache das am Beispiel
Finanzprüfungsausschuss, wenn sie dort [Standort], also (.) äh-äh Investitionspolitik
diskutieren. Dann hat das natürlich eine (.) sehr unmittelbare Verantwortung.
Interviewer: Klar.
Befragter: Wenn sie dort über das Thema äh, wie hoch ist der Personalkostenaufwand,
äh diskutieren, haben sie natürlich ganz andere Auswirkungen, als bei der Frage, ob
Herr [Name] oder Herr (.) oder Frau (.), schön wäre ja auch mal Frau äh XY äh (.) äh
Mitglied äh des Vorstandes würde.

Die Vorstandsbestellung halte er nicht für die vornehmste Aufgabe des Aufsichts-
rats, so der Befragte. Interessanter seien vielmehr Themen, die direkt von Relevanz
90 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

für die Arbeitnehmer seien. Diese fänden sich etwa in der Arbeit des Prüfungsaus-
schusses, wenn es um Investitionsplanung oder um Personalkosten ginge.
Die Ansprüche an die jeweilige Diskussion liegen dann jedoch anders als auf-
seiten der Anteilseigner und Vorstände. Zwar wird über dasselbe Thema diskutiert,
doch dieses wird im einen Fall in eine politische, im anderen in eine ökonomische
Kontextur eingebettet. Dies hat die Folge, dass auch in den Themen, für welche die
Arbeitnehmer sich als zuständig betrachten, keine gemeinsame Deutung aufkommt.
Die Gespräche können nicht beiden Kontexturen entsprechend gerahmt werden.
Für die Anteilseigner heißt das zunächst einmal, dass die Arbeitnehmerver-
treter nicht als kompetent erscheinen (was in anderen Unternehmen anders ist,
wo unter Umständen gerade die betriebliche Perspektive geschätzt wird. Vgl. etwa
S. 185). Sie leisten keinen wertvollen Beitrag im Sinne der Anteilseigner. Dennoch
muss gerade der Prüfungsausschussvorsitzende dafür sorgen, dass die Interaktion
dennoch nicht abgleitet und im vollen Konflikt oder im Gesichtsverlust der Arbeit-
nehmervertreter endet. Die Arbeitsfähigkeit des Ausschusses gilt es zu gewährleis-
ten (Interview Prüfungsausschussvorsitzender):

Befragter: Als Prüfungsausschussvorsitzender ist es natürlich jetzt wieder anders, weil-


weil da können Sie nicht den Wadenbeißer spielen, sondern da müssen Sie ja mit Kom-
petenz äh diese Sitzung leiten, (.) auch Rücksicht nehmen auf, (.) ich sag’, ich möchte das
mal vorsichtig sagen, sagen wir mal: Etwas mindere (B klopft auf Tisch) Kompetenz auf
Arbeitnehmerseite, was also kein Vorwurf ist, (.) sondern einfach äh ’ne Feststellung ist,
(.) die Fragen, die sich heute stellen, nach Änderung von IFRS, Corporate Governance,
anderen gesetzlichen Regeln, die sind zum Teil so komple-komplex, (..) äh Risikoma-
nagement und diese Dinge (.), dass Arbeitnehmer, die sich damit nicht täglich befassen,
sondern mehr auf der betrieblichen Ebene sind, dass da, dass von denen da keine kreati-
ven Beiträge kommen. So möcht’ ich mich mal ausdrücken. (.)

Als Prüfungsausschussvorsitzender könne man nicht aggressiv gegen die Arbeit-


nehmervertreter im Gremium vorgehen. Vielmehr müsse man als Vorsitzender auf
die mangelnde Kompetenz der Arbeitnehmervertreter Rücksicht nehmen. Diese
seien nicht in der Lage, mit den Anforderungen an die Prüfungsausschussarbeit
umzugehen.
Diese Position der Anteilseignervertreter findet sogar ihren Niederschlag in der
formalen Struktur des Gremiums, wie aus anderen Interviewpassagen hervorgeht.
Denn die Geschäftsordnung des Aufsichtsrats sieht vor, dass die Arbeitnehmerver-
treter im Prüfungsausschuss explizit gegen eine Entscheidung stimmen müssen,
damit die Entscheidung nicht als einstimmig gilt. Sobald sie sich enthalten, wird
dies automatisch als Zustimmung gewertet.
Die Arbeitnehmervertreter erscheinen hier also im Bereich der Negativstruk-
tur der Anteilseignervertreter. Es gilt, einen Umgang mit ihnen zu finden, der
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 91

möglichst wenige Störungen verursacht. Das Verhältnis ist so also spiegelbildlich


zur Kontextur der Arbeitnehmervertretung.
Während die sich aus Sicht der Anteilseignervertreter die Arbeitnehmer als in-
kompetent zeigen, erscheint umgekehrt das Verhalten der Anteilseignervertreter
aus Perspektive der Arbeitnehmervertreter parteiisch. So mokiert sich der stellver-
tretende Vorsitzende über die Parteilichkeit des Prüfungsausschussvorsitzenden:

Interviewer: Äh, wie nehmen Sie den Herrn [Prüfungsausschussvorsitzenden] in der äh


(.) normalen Aufsichtsratssitzung wahr (.), ist er denn auch eher äh dem Vorstand unter-
stützend oder…?
Befragter: M-hm, (.) immer (lacht). (.) Es gibt eigentlich niemanden, der mir einfällt,
jetzt wo ich ihn gerade vor Augen habe, wenn nämlich so offensichtlich ist. M-hm, bei
dem ist es schon offensichtlich (.).
Interviewer: Wie…
Befragter: Es fällt jetzt auch ausgesprochen gut so, ne, also ich meine, das (.) ist ja eine
deutliche (…) so-so ein Satz ist ja (.) (lacht) eine deutliche Unterstützung.

Auf die Frage hin, ob der Prüfungsausschussvorsitzende den Vorstand in der Auf-
sichtsratssitzung offen unterstütze, lacht der Befragte und antwortet, dass es bei
niemandem so offensichtlich sei wie bei ihm.
Affirmiert man den Geltungscharakter dieser Antwort, so zeigt sich hier die
Geschlossenheit der Arbeitgeber. Wenn auch formal der Aufsichtsrat den Vor-
stand überwacht, so gelten doch die Etikette der Kollegialität, wenn es gegen die
Arbeitnehmervertreter geht: Vorstand und Kapitalvertreter stehen geschlossen.
Klammert man hermeneutisch korrekt den Geltungscharakter aus, so zeigt sich
die Erwartungshaltung und die Selbstverständlichkeit der Unterstellung einer sol-
chen Kollegialität. Die Betonung, dass die Unterstützung des Vorstands durch den
Prüfungsausschussvorsitzenden gerade bei diesem offensichtlich sei, zeigt, dass sie
auch in anderen Fällen als gegeben, aber weniger offensichtlich angenommen wird.
In jedem Fall wird von einer Solidarität der Arbeitgeber ausgegangen, die sich ge-
gen Angriffe der Arbeitnehmer richtet.
Diese Teilung des Gremiums in zwei Seiten lässt sich in fast allen Aufsichtsräten
beobachten. Jedoch geht sie in den allermeisten Fällen mit einer weiteren Orientie-
rung einher, die zumindest eine Orientierung an einem gemeinsamen Kompromiss
fordert. Es finden sich in beinahe allen anderen Aufsichtsräten Situationen komple-
xerer Rejektionen. Diese erlauben die Verschachtelung von Reflexionsinstanzen:
Wenn man schon keine gemeinsame Sprache spricht und keine Ebene der Diskus-
sion hat, so sind doch nahezu alle Aufsichtsräte bestrebt, Kompromisse zu finden,
welche die Doppelstimme des Aufsichtsratsvorsitzenden zumindest in den meisten
Fällen unnötig macht. Das ist im vorliegenden Unternehmen nicht der Fall. Der
wiederholte Versuch des relativ neuen Aufsichtsratsvorsitzenden, einen solchen
92 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Kompromiss zu finden, trifft sogar auf Irritation bei den Arbeitnehmervertretern


(Interview stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender):

Interviewer: Ist man [als Aufsichtsratsvorsitzender] da nicht manchmal auch mehr in


der Pflicht, wirklich auch von seiner Seite den Konsens zu suchen, als in der anderen
Situation, wo man einfacher sagen kann…?
Befragter: Also ich glaube, dass er äh (.) ein guter Verhandler ist.
Interviewer: Okay.
Befragter: Der weiß, äh (.), wie weit er bieten kann, das weiß ich aber auch (..) äh und
wenn es dann mal irgendwie nicht weitergeht, dann (.) findet er das auch nicht wirklich
witzig, kann er auch schon mal...
Interviewer: (lacht).
Befragter: … richtig, dann wird er schon mal sehr unfreundlich oder so, aber er fängt er
sich dann wieder ganz schnell, also es ist, der (.) probiert das auch aus, er kann das. (.)
Der beherrscht diese (.), ja Sie haben ihn vielleicht kennengelernt, äh (..), der beherrscht
die Klaviatur des Verhandelns, so von ganz nett bis zu, jetzt mache ich mal ordentlichen
Druck auf und (.) mal gucken (lacht), was-was passiert.
Interviewer: (lacht).
Befragter: Aber ich kenne das auch ein bisschen, insofern für mich, beeindruckt mich das
(..) nicht sonderlich so. Und was Sie aber/was ihm, glaube ich, total wichtig ist, nicht nur
dem [Aufsichtsratsvorsitzenden], auch dem Vor-, na, dem Vorstand auch noch nicht mal
so, [Aufsichtsratsvorsitzender] mehr und den Anteilseignerkollegen da auch, äh, dass es
möglichst selten zu Entscheidungen kommt, wo wir nicht mitgegangen sind.
Interviewer: Okay.
Befragter: Das haben die gar nicht gerne. Manchmal wundere ich mich, warum sie nicht
einfach (..) wisch drüber, ist ja jetzt auch egal, so äh (.), das (..), das hat er nicht gerne,
da fü-fühlt er sich immer ganz (.), findet er unangenehm, wenn er uns da jetzt so völlig
überstimmen muss. (alles lacht). Ja, ich glaube schon. M-hm.

Auf die Frage hin, ob ein Aufsichtsratsvorsitzender sich um einen Kompromiss


bemühen müsse, antwortet der Befragte, dass der Aufsichtsratsvorsitzende seines
Gremiums gut verhandeln könne. Er beherrsche alle Techniken des erfolgreichen
Verhandelns, sei aber auch schon einmal ungehalten, wenn diese nicht zum Er-
folg führten. Der Befragte aber lasse sich davon nicht beeindrucken, obwohl es den
Arbeitgebern wichtig sei, dass Entscheidungen im Aufsichtsrat einstimmig getrof-
fen werden. Er jedoch frage sich, warum die Arbeitnehmervertreter nicht einfach
regelmäßig überstimmt würden.
Es lässt sich in diesem Zitat ganz deutlich sehen, dass der Aufsichtsrat keine
gemeinsame Kompromissorientierung aufweist. Ob es nun zutrifft, dass der Auf-
sichtsratsvorsitzende sich wirklich um einen Kompromiss bemüht oder nicht, ist
dabei zweitrangig. Vermutlich kann man davon ausgehen, dass tatsächlich vor al-
lem ein Interesse am „Überreden“ besteht, da auch von den Anteilseignervertretern
die Arbeitnehmervertreter nicht als relevante Gesprächspartner begriffen werden.
Diese Interpretation kann jedoch mit dem vorliegenden Material nicht vollständig
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 93

gedeckt werden. Es reicht aber völlig aus, an dieser Stelle feststellen zu können, dass
eine geschlossene Abstimmung des Aufsichtsrats für die Arbeitnehmervertreter
nicht von Belang ist. Der Aufsichtsrat als gemeinsam handelndes und entscheiden-
des Gremium existiert hier nicht. Auch die Irritation der Anteilseignervertreter
durch die Finanzkrise, die von den Arbeitnehmervertretern konstatiert wird, ist
keine Chance, eine gemeinsame Gesprächsgrundlage zu schaffen, sondern nur
Möglichkeit, den politischen Gegner zu destabilisieren (Interview stellvertretender
Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Wie gesagt, das ist (.), der Brake kam mit dieser (.) Finanz- und Wirtschafts-
krise, als auf einmal doch nicht mehr alles so rosig war (…) also als (..) äh (.) auch
Tendenzen wir vorher schon, auf die wir hingewiesen haben und gesagt haben, hm (.),
da gibt es ja ein paar Dinge, Sie haben das wahrscheinlich auch aus den Medien ent-
nommen, [Ausland], das Geschäft, was irgendwie [Zahl] Milliarden Miese, Danke, was
ja [Zahl] Milliarden Miese verursacht hat und so und was man immer so locker wegste-
cken konnte und (.) jetzt funktionierten die anderen Geschäftsbereiche auch nicht mehr
und jetzt wurde es auf einmal problematisch und da gab es auf (.), gab es ein anderes (.)
oder seitdem gibt es ein anderes Verantwortungsbewusstsein und das wissen wir auch zu
nutzen, indem wir zum Teil auf einzelne Anteilseigner zugehen (..) wenn wir das Gefühl
haben, (.) da ist auch einer vielleicht nicht ganz der Meinung, (.) äh zum Beispiel...
Interviewer: Spricht man mit dem.
Befragter: … Dividendenpolitik oder so (..) dann versuchen wir (.) äh (.) denjenigen, aus
der Reihe rauszubrechen.

Eine neue Geschäftssituation hat sich durch die Finanzkrise ergeben. Viele Ge-
fahren, auf die man hingewiesen habe, seien Wirklichkeit geworden. Verluste, die
früher leicht zu verkraften waren, sind inzwischen nicht mehr tragbar. Das, so der
Befragte, habe zu einem neuen „Verantwortungsbewusstsein“ auf Seiten der An-
teilseignervertreter geführt. Daher würden die Arbeitnehmervertreter jetzt die
Chance ergreifen und bei Gelegenheit versuchen, den einen oder anderen von der
anderen Seite herüberzuziehen.
Das „neue Verantwortungsbewusstsein“ wird hier nicht dazu genutzt, einen
Dialog anzustreben. Es wird nicht versucht, eine gemeinsame Sichtweise des Gre-
miums zu erarbeiten oder zumindest ins Gespräch darüber zu kommen, dass Feh-
ler der Vergangenheit nicht wiederholt werden dürfen. Es wird beobachtet, dass
die Anteilseignervertreter zunehmend für Themen der Arbeitnehmerseite emp-
fänglich sind. Die Konsequenz, die hieraus gezogen wird, ist jedoch, dass sich die
Möglichkeit ergibt, den politischen Gegner zu schwächen. Die Differenz von An-
teilseigner- und Arbeitnehmervertretern wird hierdurch noch verstärkt.
Das Gremium bleibt getrennt in zwei Seiten. Diese entwickeln keine geteilte Inter-
pretation, die beide Seiten stabil verbinden würde oder die es zumindest erlaubt, eine
inhaltliche Brücke zu schlagen, wie dies etwa in vielen Unternehmen der verarbei-
94 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

tenden Industrie der Fall ist. Hier besteht durchaus häufig auch eine ausgeprägte Dif-
ferenz zwischen den Bänken. Doch auf beiden Seiten besteht zumeist die Einsicht,
dass es letztlich darum geht, das Unternehmen voranzubringen. Es wird dort eine
Positivstruktur geschaffen, die sowohl innerhalb der Kontextur Arbeitnehmer- wie
auch der Anteilseignervertretung im Positivbereich anschlussfähig ist. Auch wenn
im Konkreten nie klar ist, was diese Kontingenzformel bedeutet, schafft sie doch
Momente zum Strukturaufbau. Einstimmige Entscheidungen bekommen hier einen
Wert und man ist bemüht, sie so zu treffen, dass sie für beide Seiten als sinnvoll trag-
bar erscheinen (vgl. Abschn. 4.3. Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik).
Wo also in vielen anderen Unternehmen das Bemühen um Einstimmigkeit
herrscht oder zumindest die Suche nach einer eindeutigen Mehrheit mit wenigen
Gegenstimmen und Enthaltungen, ist es hier die Doppelstimme des Aufsichtsrats-
vorsitzenden, die letztlich entscheidet. Wo diese in anderen Unternehmen als Af-
front angesehen wird, sogar teilweise Symbol für das Scheitern der eigenen Arbeit
ist, ist sie hier kalkulierte Normalität (Interview stellvertretender Aufsichtsratsvor-
sitzender):

Interviewer: Noch mal zurück zu diesem (..) Verkauf der [Unternehmenstochter], jetzt
haben Sie ja äh relativ klar gemacht (..) beziehungsweise das wussten wir auch schon,
dass das ja dann (.) zu einer Doppelstimme gekommen ist am Ende. W-wie läuft so was
ab? Jetzt sitzt man in der Sitzung, Sie haben gesagt, es war eigentlich klar, dass das es
darauf hinaus läuft (.) und dann wird eine erste Abstimmung, schätze ich mal, gemacht.
Befragter: M-hm, genau.
Interviewer: Und wie-wie ging das dann weiter?
Befragter: Wir haben das äh (.), wir haben da einen sehr fairen Umgang miteinander.
Äh ich gebe das Signal vorher ab, wenn wir irgendwo nicht mitgehen, also dass der Vor-
sitzende nicht völlig überrascht ist (..) und dass er sofort weiß, äh (.), wir hatten (.) nach
Geschäftsordnung eigentlich noch einen (.) äh (.) so eine Clearing-Stelle, die ist aber jetzt,
ist uns jetzt auch mit Doppelstimmrecht weggenommen worden (lacht).
Interviewer: (lacht).
Befragter: Weil man jetzt nicht mehr solange auf die Arbeitnehmervertreter warten will
(.), die haben wir übrigens nie ausgenutzt, wir haben immer gesagt, naja jetzt ist die Ent-
scheidung so gefallen, jetzt brauchen wir auch nicht noch mal eine Zwischensitzung, sie
können sofort die zweite Abstimmung durchführen, das habe ich dann immer mit dem
(.) Aufsichtsratsvorsitzenden vorher (.) geklärt.
Interviewer: Okay.
Befragter: Genauso ist das, wenn einer (.) ein Mitglied äh (.) fehlt, dass (.) dann (.) sich
einer (.), dass gerade jemand nicht im Raum ist oder so, um (.) ...
Interviewer: Um die Parität wiederherzustellen?
Befragter: Genau, ganz genau, das machen wir dann trotzdem. M-hm.
Interviewer: Das heißt auch, (.) kann man jetzt daraus schließen, als dann die Doppel-
stimme kam (.), hat es jetzt nicht irgendwie zu irgendwelchen persönlichen Friktionen
geführt im Gremium?
Befragter: Nein.
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 95

Interviewer: Weil...
Befragter: Überhaupt nicht, nee, das war jetzt wirklich so was (.) von eindeutig und klar.
Interviewer: Okay.
Befragter: Ja. (.) Das war (.), das wusste äh (.), der Aufsichtsratsvorsitzenden vorher (.),
der hat beim ersten Mal, der hat dann abstimmen lassen, dann gab es eine kleine Unter-
brechung, er hat dann noch mal abstimmen lassen und hat dann sein Doppelstimmrecht
gezogen.

Gefragt nach der Entscheidung über den Verkauf einer Unternehmenstochter,


antwortet der stellvertretende Vorsitzende, dass diese mit der Doppelstimme des
Aufsichtsratsvorsitzenden gegen die Arbeitnehmervertreter durchgesetzt worden
sei. Auf Nachfrage nach dem genauen Vorgehen wird geantwortet, dass man hier
einen klaren Umgang habe. Vor der Sitzung werde das Signal gegeben, dass man
nicht mitstimmen werde, und dann wisse jeder, was los sei und die Doppelstimme
werde gezogen. Früher habe die Geschäftsordnung noch eine Unterbrechung zur
Diskussion vorgesehen, doch diese sei abgeschafft worden, um den Prozess zu be-
schleunigen. Zudem sei diese auch nie in Anspruch genommen worden. Auch im
Fall, dass ein Aufsichtsratsmitglied nicht anwesend sei, verfahre man ähnlich offen.
Ein Mitglied der anderen Seite verließe dann den Raum. Die Nachfrage, ob sich
Spannungen aus der Verwendung der Doppelstimme ergäben, wird verneint.
Die Doppelstimme zeigt sich hier als klarer Bestandteil der Aufsichtsratskultur.
Das Verhältnis der Bänke zueinander ist klar und wenn jemand von der anderen
Seite zu einer Sitzung nicht da sein kann, wird dieses Verhältnis normalisiert, in-
dem jemand den Raum verlässt. Man steht offen gegeneinander, ist sich darin aber
einig und die stärkere Seite überstimmt die andere mit der Doppelstimme.
Aufseiten der Anteilseignervertreter stellt sich dies nicht anders da (Interview
Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Also wenn ich das Gefühl habe, (.) das ist für die ein-ein Knackpunkt (.),
da wollen sie also partout nicht (.) mit, weil (.) 26 Gründe. (.) Dann (.) muss ich mir
überlegen, ob ich (.) entweder einen Kompromiss versuche anzustreben oder ihnen sage,
im Ernstfall (.) muss dann eben die Zweitstimme her. Und das (.) kann ich auch im
Vorhinein nicht sagen, ja meistens (.) kann man doch immer noch einen Kompromiss
finden, aber es gibt auch Fälle, wo eben beide Seiten sagen, na, dann muss es halt zur
Abstimmung kommen.
Interviewer: (..) Haben Sie denn das Gefühl, dass der Einsatz von so einer Doppelstimme
(.) negative Folgen dann hat für das Gremium?
Befragter: Das kommt ganz drauf an. Es gibt eine ganze Reihe von Fällen, wo die Arbeit-
nehmerseite für ihre Seite (.) den Beweis brauchen, dass sie standhaft geblieben sind. Sie
nehmen das (.) der anderen Seite gar nicht übel, (.) sondern sie können einfach (.) ihre
eigenen (.) äh (.) ...
Interviewer: Klientel.
96 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Befragter: … Klientel gegenüber nicht zustimmen. Dann ist das (.) einfach eine-eine Ver-
fahrensgeschichte und die Sache ist erledigt.

Wenn er das Gefühl habe, dass die andere Seite stark gegen einen Vorschlag sei,
müsse er überlegen, ob er sich um einen Kompromiss bemühen wolle oder nicht.
Im Zweifelsfall müsse er die Doppelstimme ziehen, so der Aufsichtsratsvorsitzen-
de. Diese verursache häufig auch keine Spannungen, da die Arbeitnehmervertre-
ter nicht selten daran interessiert seien, überstimmt zu werden. Auf diese Weise
könnten sie ins Unternehmen hinein demonstrieren, dass sie einer bestimmten
Entscheidung ablehnend gegenüber standen, sie aber nicht verhindern konnten.
Dann sei die Doppelstimme eine reine Formalie.
Auch für den Aufsichtsratsvorsitzenden scheint die Doppelstimme ein norma-
ler Teil des Geschäfts zu sein. Die Position der eigenen Seite resultiert für ihn aus
einer anderen Logik als die Position der Arbeitnehmerseite, die er im Politischen
verortet. Beide Seiten erscheinen hier als gebunden an ihre jeweilige Logik, der sie
sich nicht entziehen können. Darum weiß man und man akzeptiert es. Während
dann mit der Doppelstimme die Anteilseignervertreter die Entscheidung durch-
setzen können, die sie für richtig halten, erscheint das Überstimmt-Werden für die
Arbeitnehmervertreter aus ihrer Position ebenfalls opportun zu sein.
Das Gesamtbild, das der vorliegende Fall erkennen lässt, ist damit gekennzeich-
net durch eine klare Trennung der Bänke und ein nahezu ausschließliche Orien-
tierung an der jeweils eigenen Perspektive. Die Arbeitnehmervertreter sehen sich
ausschließlich der arbeitspolitischen Dimension ihres Handelns verpflichtet, die
Anteilseignervertreter der wirtschaftlichen. Die jeweils andere Seite wird im Nega-
tionsbereich der eigenen Kontextur konstruiert: Arbeitnehmervertreter sind wirt-
schaftlich irrational, Anteilseignervertreter der politische Gegner.
Was dieses Unternehmen – und den dazugehörigen Typen der Mitbestim-
mungspraxis –auszeichnet, ist dabei die vollständige Abwesenheit einer Positiv-
struktur, die eine Brücke zwischen beiden Kontexturen herstellen könnte. Es
besteht keine gemeinsame Arbeitsauffassung und keine gemeinsame Auffassung
von der Tätigkeit des Gremiums. Entscheidungsfähigkeit kann nur noch fremd-
referentiell im Bezug auf die Rechtslage hergestellt werden. Relativ enttäuschungs-
resistent ist dieses Arrangement dennoch, da jede Seite stets weiß, was von der
anderen zu erwarten ist.

4.2.2 Hamburger Bankhaus AG: Deals aushandeln

Der erste Fall des vorgestellten Typs hat eine routinierte Klarheit in der Unterneh-
menspraxis entwickelt, die nicht unbedingt selbstverständlich ist. Um Kompromisse
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 97

wird kaum gerungen und wenn dann die Doppelstimme gezogen wird, so sind in
der Regel alle Beteiligten damit einverstanden.
Im folgenden Fall bleibt die Grundstruktur des ersten vorgestellten Unterneh-
mens erhalten: Der Aufsichtsrat zerfällt in zwei Seiten, die einander gegenüber-
stehen und die keine geteilte Auffassung der gemeinsamen Arbeit entwickeln. Die
Anteilseignerseite sieht sich der wirtschaftlichen Führung des Unternehmens ver-
pflichtet, die Arbeitnehmerseite ihrer Wählerschaft. Ebenso wie im vorherigen Fall
besteht eine ausgeprägte Indifferenz der Arbeitnehmervertreter gegenüber vielen
Entscheidungen des Aufsichtsrats. Auch hier werden Entscheidungen getroffen,
die nicht von einer irgendwie gearteten gemeinsamen Deutung unterlegt werden.
Auch hier sind gemeinsame Entscheidungen somit einzig und allein formal ge-
meinsame Entscheidungen.
Der Unterschied zu der Einzelhandel Meyer AG besteht jedoch darin, dass sich
keineswegs eine klare Routine der Doppelstimme etabliert hat. Zwar wird die Dop-
pelstimme durchaus gezogen, doch ist der Modus der Entscheidungsfindung vor al-
lem das Aushandeln von „Deals“ oder „faulen Kompromissen“. Das heißt, es werden
Entscheidungspakete geschnürt, welche die Zustimmung der Arbeitnehmervertre-
ter zu einer von den Anteilseignervertretern gewollten Entscheidung von deren Zu-
stimmung zu einer gänzlich anderen Entscheidung abhängig machen. So könnte
etwa die Zustimmung zu einer Vorstandsberufung an eine Investitionsentscheidung
gekoppelt werden. Ein positiver Wert innerhalb der einen Kontextur wird also ver-
bunden mit dem positiven Wert in der anderen Kontextur, was zumeist impliziert,
dass der positive Wert der anderen Kontextur ein negativer Wert in der eigenen ist.
Jeder stimmt so also für einen positiven und einen negativen Sachverhalt – was als
entsprechend problematisch begriffen wird. So geht diese Struktur mit einem offe-
nen Konflikt einher. Während man sich im Aufsichtsrat der Einzelhandel Meyer AG
irgendwie arrangiert hat und soweit wie möglich aneinander vorbeiarbeitet, kommt
es hier immer wieder zu Erwartungsenttäuschungen und Machtkämpfen.
Über diesen Unterschied in der Form der Entscheidungsfindung im Gesamt-
gremium ergibt sich noch ein Unterschied auf der Arbeitnehmerseite. Anders als
bei der Einzelhandel Meyer AG, in dem die Arbeitnehmerseite sich an der Position
der Gewerkschaften orientiert, ringt die Arbeitnehmerseite hier um ihre Einheit.
Dennoch wird auf Ebene des gesamten Gremiums die Einheit der Arbeitnehmer-
bank gewahrt, so dass die Ausgangssituation hier eine ganz ähnliche ist wie im Fall
des vorherigen Unternehmens.

4.2.2.1 Anteilseignervertretung: Wirtschaftliche
Erwartungshaltung
Die Anteilseignerseite gibt im Fall des vorliegenden Unternehmens kein wesent-
lich anderes Bild ab als im vorherigen – mit dem Unterschied, dass hier kein
98 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Großaktionär mit eigener Kontextur zutage tritt. Vielmehr zeigt sich auch hier eine
Struktur, die in den meisten untersuchten Unternehmen zu finden ist: Es herrscht
die Selbstbeschreibung einer beruflichen Kollegialität vor, die an wirtschaftlicher
Unternehmensführung im Unterschied zur Politik der Arbeitnehmervertreter
orientiert ist. Während die Anteilseignervertreter und die Vorstände sich dem
Unternehmenswohl verpflichtet sehen und daher die richtige Entscheidung in der
fachlichen Diskussion ermitteln wollen, werden die Arbeitnehmervertreter als ir-
rational und parteiisch, ihren Wählern, nicht jedoch dem Unternehmensinteresse
verpflichtet betrachtet. Sie werden also im Bereich der Negation verortet.
So beschreibt etwa der Aufsichtsratsvorsitzende sich und seine Kollegen im
Unterschied zu den Arbeitnehmervertretern folgendermaßen:

Befragter: Aber äh (.) bei den Diskussionen merkt man immer sehr schnell da wird sehr
schnell, worum es geht. Da ist das Unternehmen als Ganzes im Blickfeld. Die sind (.)
in dem Sinne auch unabhängiger, als sie nicht immer nach hinten gucken müssen auf
diejenigen, die sie gewählt haben, (.) nämlich die Belegschaftsmitglieder, denen sie sich
gegenüber dann auch rechtfertigen müssen, nicht oder der Gewerkschaft. Wo der Vor-
stand der Gewerkschaft mal sagen kann, vertrittst du eigentlich die richtige Position da
in den Aufsichtsräten, in denen da die Vertreter drin sitzen, nicht. Das heißt, das sind
im Prinzip unabhängige Persönlichkeiten mit unternehmerischen Erfahrungen, äh (.)
die sie haben. (.)

Rede man mit den Aufsichtsratsmitgliedern, so sehe man sehr schnell, worum es
diesem gehe. Seine Kollegen seien am Wohl der Gesellschaft orientiert und dis-
kutierten unabhängig miteinander. Die Arbeitnehmervertreter hingegen müssten
sich immer gegenüber der Belegschaft und der Gewerkschaft rechtfertigen, so
dass der Vorstand immer wieder anmahnen müsse, dass es im Aufsichtsrat um das
Unternehmen, nicht um Partialinteressen ginge. Um dieses jedoch würden sich nur
die „unabhängigen Persönlichkeiten“, die Aktionärsvertreter sorgen.
Es wird hier ein klarer Vergleichshorizont geöffnet: Auf der einen Seite ste-
hen die unabhängigen Aktionärsvertreter, auf der anderen Seite die parteiischen
Arbeitnehmervertreter. Erstere diskutieren, orientiert am Unternehmenswohl,
streiten um die rechte Entscheidung, Letztere sehen nur zu, dass sie ihre Schäfchen
ins Trockene bekommen.
Diese Selbstbeschreibung der Anteilseignervertretung als „unabhängige Per-
sönlichkeiten“ inter pares stellt letztlich eine generalisierte totale undifferenzierte
Rejektion dar: Jeder Anteilseignervertreter wird als eigener Welthorizont begriffen,
dem eine eigene, begründete Position zugestanden werden muss. Die daraus resul-
tierenden Probleme, eine Einheit der Anteilseignervertretung herzustellen, werden
auch hier wieder durch eine weitere totale undifferenzierte Rejektion geschaffen.
Dem Aufsichtsratsvorsitzenden wir auch in diesem Unternehmen eine herausra-
gende Führungsposition eingeräumt.
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 99

Interviewer: (..) Wie, Sie haben ja gesagt, naja er muss umsetzen der Aufsichtsratsvor-
sitzende, wie (.), welchen Führungsstil hatte Herr [Aufsichtsratsvorsitzender], so eine
Entscheidung dann sozusagen durchzubringen, die eine sehr schwierige war, die auch
nicht einstimmig war.
Befragter: Ersten einmal hatte Herr [Aufsichtsratsvorsitzender] (.) sehr (.) starke gute
Nerven. (.) Und er nimmt sich für diese Dinge enorm viel Zeit. Und er gibt seinen
Gesprächspartnern enorm viel Zeit, sich das zu überlegen und darüber nachzudenken.
(.) Er ist also wirklich (..) äh (..) ein-ein Dompteur des Flohzirkus. (..) Und er macht das
nicht mit (..), er spielt da nicht mit seiner Macht oder seiner Autorität, (.) sondern wirk-
lich (.) versucht es durch (.) Überzeugung (..), Kompromissbereitschaft (..) einen Konsens
zu erreichen. Er ist enorm (.), enorm geschickt.

Auf die Frage nach dem Führungsstil des Aufsichtsratsvorsitzenden antwortet


der Befragte, dass dieser „gute Nerven“ habe und sich viel Zeit nähme. Er sei ein
„Dompteur des Flohzirkus“, der sich stets darum bemühe, Einigkeit auf allen Seiten
durch Gespräche herbeizuführen.
Auf immanenter Ebene wird der Aufsichtsratsvorsitzende hier als Moderator
dargestellt, als jemand, der nicht versucht, seine eigene Meinung durchzudrücken,
sondern jemand, der nur vermittelt. Der Aufsichtsratsvorsitzende ist quasi der Or-
ganisator des herrschaftsfreien Diskurses. Diese Interpretation also erlaubt die Auf-
rechterhaltung der Autonomie jedes einzelnen Aufsichtsratsmitglieds, impliziert
die Moderatorenrolle, dass die Meinung von niemandem übergangen wird.
Gleichzeitig wird hier eine Metapher gewählt, die, scherzhaft gerahmt, genau
das Gegenteil benennt. Der Aufsichtsrat wird zu einem „Flohzirkus“, zu einem
Gremium, in dem jeder versucht, unkoordiniert in eine andere Richtung zu sprin-
gen. Der Aufsichtsratsvorsitzende jedoch lenkt diese Sprünge und spannt – wenn
man hier im Bild bleibt – die Flöhe vor seinen Karren, so dass sie nicht mehr wild
springen. Dabei kann er stets auf eine dem Dompteur eigene Peitsche zurückgrei-
fen, seine „Macht“ und „Autorität“, die stets als Möglichkeit im Hintergrund bleibt.
Von dem einzelnen Aufsichtsratsmitglied als eigener Kontextur bleibt hier wenig
übrig.
Der Aufsichtsratsvorsitzende wird so auch hier aufseiten der Anteilseignerver-
treter die Autoritätsperson schlechthin. Im Zweifelsfall ist es sein Wort, das gilt. Er
ist es, der festlegt, welche Entscheidung die ökonomisch sinnvolle ist. Durch die In-
szenierung dieses Prozesses als Moderation wird dabei die Illusion der Autonomie
der Beteiligten aufrechterhalten.
Die Arbeitgeber stehen so auch im vorliegenden Fall den Arbeitnehmern gegen-
über. Anders als im vorherigen Unternehmen zeigt sich hier jedoch ein Unterschied
in der Orientierung gegenüber den Arbeitnehmervertretern. Während bei Einzel-
handel Meyer klar ist, dass die Arbeitnehmervertreter nichts anderes als die Reprä-
sentanten eines „gewerkschaftsdurchsetzten Molochs“ sind, die man zum Wohle
des Unternehmens regelmäßig überstimmen muss, besteht hier die Erwartung,
100 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

dass die Arbeitnehmervertreter sich den Argumenten der Anteilseignervertreter


öffnen (Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Das größte Problem für die Effizienz der Aufsichtsratsarbeit ist nach wie vor
noch die Art und Weise, wie wir die Mitbestimmung dort leben. Also äh das agieren in
Bänken. Die (..) äh das können wir versuchen aufzu(.)lockern indem wir also möglichst
frühzeitig miteinander reden und nicht die Bänke dann erst in der Plenumssitzung dann
aufeinanderstoßen lassen. Aber das stößt immer da an Grenzen, wo natürlich die Arbeit-
nehmer vor allem das Gefühl haben, sie können grundsätzlich meinetwegen einer-einer
neuen Vorstandsvergütung nicht zustimmen, ja was halten ihre Kollegen davon, nicht, in
der Zeit der Wirtschaftskrise. Oder was weiß ich. Kann man menschlich nachvollziehen.
Ich muss nur dann ab und zu daran erinnern, (.) wir haben eine gemeinsame gesetzliche
Verantwortung. Die eben nicht nur einer bestimmten Klientel und die Mitarbeiter, die
wichtig sind, eine sehr wichtige Klientel. Aber wir haben auch noch Kunden. Äh wir
haben auch noch Vertreterorganisationen und, und, und. Äh (.) es sind noch Kapital-
märkte, mit denen wir uns ja auch irgendwie auseinandersetzen müssen, nicht.

Die Aufsichtsratsarbeit kranke immer noch an der Praxis der Mitbestimmung, so


der Aufsichtsratsvorsitzende. Man müsse möglichst früh miteinander reden. Doch
auch dann käme man immer wieder an Punkte, in denen es Konflikte gebe, weil
die Arbeitnehmervertreter sich immer nur an den Partikularinteressen der Arbeit-
nehmer orientierten. Hier sei es seine Aufgabe als Aufsichtsratsvorsitzender, so der
Befragte, daran zu erinnern, dass man dem Unternehmensinteresse verpflichtet sei.
Es wird hier ein Unterschied zum ersten Unternehmen in der Orientierung klar.
Zwar hat auch der Aufsichtsratsvorsitzende von Einzelhandel Meyer stets versucht,
einen Kompromiss zu finden, hat mit diesen Versuchen jedoch nie die grundlegen-
de geteilte Orientierung des Aufsichtsrats unterlaufen: Im Zweifelsfall galt es, die
Arbeitnehmervertreter zu überstimmen. Dies geschah ohne weiteren Aufhebens
und war für beide Seiten ein selbstverständlicher Vorgang.
Im vorliegenden Fall jedoch besteht die Erwartung, dass die Arbeitnehmerver-
treter sich nicht nur an der Logik der Interessenvertretung orientieren. Der Auf-
sichtsratsvorsitzende sieht auch die Arbeitnehmervertreter in der Pflicht, innerhalb
einer ökonomischen Logik der Unternehmensführung Verantwortung zu über-
nehmen, sieht sich hier jedoch immer wieder in seinen Erwartungen enttäuscht.
Die Arbeitnehmervertreter erscheinen dabei mitunter als politische Opportunis-
ten, die wider besseres Wissen und Gewissen handeln (Interview Anteilseigner-
vertreter):

Befragter: Äh (.) das war in dem Sinn (.) ein-ein Prozess [Verkauf Tochterunternehmen],
ich glaube, er [der Aufsichtsratsvorsitzende] hat sehr viel mehr Zeit darauf verwenden
müssen, dann die Gewerkschaften miteinzubeziehen. Die ja dann aus anderen Gründen
dagegen gestimmt, aus rein politischen. Das ist ja dann immer sehr lustig, wenn sie mit
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 101

den Leuten reden, die sagen, eigentlich wäre ich ja dafür, aber (.) wegen Berlin muss ich
dagegenstimmen.

Bei der Diskussion um den Verkauf eines Tochterunternehmens habe der Auf-
sichtsratsvorsitzende sich stark um die Gewerkschaftsvertreter bemüht. Diese je-
doch hätten aus politischen Gründen gegen den Verkauf gestimmt, obwohl sie ihn
selbst für richtig gehalten hätten.
Sicher muss man bei der vorliegenden Aussage die Einschränkung machen, dass
sie sich auf hauptamtliche Gewerkschaftsvertreter bezieht und nicht auf betriebliche
Arbeitnehmervertreter. Derselbe Vorwurf schwebt jedoch auch diesen gegenüber
immer wieder im Raum (vgl. S. 109): Arbeitnehmervertreter wissen zwar, was für
das Unternehmen gut ist, handeln jedoch aus politischem Opportunismus gegen
dieses Wissen und lehnen die Verantwortung für die Unternehmensführung ab.
Die Kontextur der Anteilseignervertretung spannt sich damit klar orientiert an
wirtschaftlicher Unternehmensführung auf. Wie auch im Aufsichtsrat der Einzel-
handel Meyer AG wird hier eine Logik beruflicher Kollegialität als Fundament ge-
nommen. Gepaart mit einer hierarchischen Orientierung wird so Erwartungs- und
Entscheidungssicherheit aufseiten der Anteilseigner sichergestellt. Ein Problem
deutet sich für die Kontextur der Einheit des Aufsichtsrats erst dadurch an, dass die
Erwartungen der Anteilseignervertreter aneinander (Kollegialität und Hierarchie)
auf die Arbeitnehmervertreter übertragen werden. Wenn man so möchte, wird
die Arbeitnehmerseite hier mithilfe einer totalen undifferenzierten Rejektion als
eigene Kontextur konstruiert – analog zu den einzelnen Anteilseignervertretern –,
wobei jedoch der Versuch unternommen wird, die Arbeitnehmervertreter in die
Kontextur der Anteilseignervertreter einzugliedern.

4.2.2.2 Arbeitnehmervertretung: Zerrissen zwischen Wirtschaft


und Politik
Im Aufsichtsrat der Einzelhandel Meyer AG wurde klar von den Gewerkschaften
vorgegeben, was das Arbeitnehmerinteresse ist, das es zu vertreten gilt. Die Einheit
der Arbeitnehmervertreter war bestimmt durch den logischen Raum der Gewerk-
schaftsarbeit. Im vorliegenden Fall stellt sich die Arbeitnehmerseite komplexer
dar, weil die Gewerkschaft hier keinen annährend starken Stand hat. Zwar sind die
meisten Arbeitnehmervertreter über die Liste der Gewerkschaft in den Aufsichts-
rat gewählt, doch positionieren sich die betrieblichen Arbeitnehmervertreter in ei-
nigen Punkten durchaus unabhängig von den Gewerkschaftsvertretern. Während
dies in anderen Fällen (vgl. vor allem 4.3. Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und
Politik) für die Gewerkschaftsvertreter selbstverständlich ist, dass Arbeitnehmer-
vertretung im Aufsichtsrat primär mit einer betrieblichen Referenz arbeitet, ist dies
102 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

in der Dienstleistungsbranche selten der Fall. Zumeist ist die Gewerkschaft daran
interessiert, ihre eigenen Positionen als das legitime Arbeitnehmerinteresse gegen-
über den betrieblichen Arbeitnehmervertretern durchzusetzen. Dies führt nicht
selten zu Konflikten aufseiten der Arbeitnehmervertreter, die in einigen Fällen
auch zur Folge hat, dass die Arbeitnehmervertreter nicht geschlossen abstimmen.
Im vorliegenden Fall ist jedoch nicht grundsätzlich die Einheit der Arbeitnehmer-
vertreter gefährdet (Interview betrieblicher Arbeitnehmervertreter):

Interviewer: M-hm, klar, ist das denn schwierig, Einvernehmen herzukriegen? Sie haben
ja (.) zum Beispiel dann ja auch den Herrn [Name] als Gewerkschafter mit dabei. Oder
ist man schon meistens, also bei den meisten Themen so auf einer Linie?
Befragter: Man ist bei den meisten Themen auf einer Linie, ja, aber es gibt auch The-
men, (.) äh (.) da-da-da kommst du einfach nicht auf eine Linie. Wir sind auch einmal
gestartet (.) mit dem Vorsatz, immer einstimmig, also immer (.) mit einer Stimme zu
reden. Haben wir dann aufgegeben, weil die Positionen dann doch unterschiedlich sind.

In den meisten Fällen, so der Befragte, bestehe Einmütigkeit bei den Arbeitneh-
mervertretern. Dies gehe jedoch nicht soweit, dass man immer geschlossen abstim-
me. Es gebe auch Fragen, wo keine Einstimmigkeit herzustellen sei.
Die Konfliktlinien, die sich hier zwischen den Arbeitnehmervertretern abzeich-
nen, treten auch immer wieder im gesamten Aufsichtsrat zutage. Es ist nicht mög-
lich, sie komplett innerhalb der Arbeitnehmerseite auszuhandeln. So kommt etwa
auch den Gewerkschaftsvertretern eine Sonderrolle im Gremium zu. So äußert sich
etwa der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende, der in diesem Fall ein betriebli-
cher Arbeitnehmervertreter ist, folgendermaßen:

Interviewer: Was würden Sie sagen, wo drin diese Sonderrolle der Gewerkschafter
besteht?
Befragter: (…) Zu Herrn [Vorstandsvorsitzender], (..) in einem Konfliktverhältnis steht
(..) und zu Herrn [Aufsichtsratsvorsitzender] in einem Konfliktverhältnis steht.
Interviewer 2: Wie äußert sich so was denn?
Befragter: (.) Dass die sich ständig am Kopf haben.
Interviewer: Und wie kommt das?
Befragter: Weil die sich, weil die sich zum Beispiel nicht darüber einigen können, ob es
sinnvoller ist, das viele Geld den Aktionären durch, um [Summe] Cent erhöhte Dividende
(.) zuzuschustern oder ob man dieses Geld nicht lieber im Unternehmen behält, um jetzt
ein paar strategisch wichtige Zukunftsinvestitionen zu tätigen, die sich (.) zugunsten der
Arbeitnehmer auswirken. Ob es nicht klüger ist, äh (.) bestimmte Missstände hm sozialer
Art, die man im Konzern hat, zu beseitigen, bevor man viel Geld ausgibt für (.) äh Vor-
standsvergütungen (.) und so kann man vielfältig in Diskussionen...
Interviewer 2: Das bezieht sich hauptsächlich dann auf Herrn [Gewerkschaftsvertreter]?
Befragter: Da (.) äh...
Interviewer 2: Ist-ist hat...
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 103

Befragter: … da ist es am eindeutigsten, deswegen sag ich, es kommt auf die Themen
draus. Es gibt Themen, da gibt es zwischen uns und [Vorstandsvorsitzender] und [Auf-
sichtsratsvorsitzender] eine reine Konfliktbe-, aber wenn-wenn-wenn man auf der
generellen Ebene bleibt, ja, (.) so, dann würde ich sagen, dann ist das ein bisschen die-
die-die-die-die [Gewerkschaftsvertreter]-rolle.
Interviewer 2: Wie verhalten sich denn die anderen Arbeitnehmervertreter, zu diesen,
zu diesen Konflikten?
Befragter: Das kommt auf das Thema drauf an.
Interviewer 2: Also wenn Sie jetzt zum Beispiel, äh (.) Dividende haben.
Befragter: (.) Da sind (.) äh im Grundsatz (..) fünf Sechstel (.) der Meinung von Herrn
[Gewerkschaftsvertreter]. (.) Dass man (.) an dieser Stelle etwas dezenter sein könnte.
(..) Äh (…) und die Frage ist ein wenig, (.) wie man damit umgeht. Also ob man jetzt
sagt, okay, wir lehnen jetzt eine Dividendenerhöhung ab oder ob man sagt, (.) nee, wir
würden eigentlich ganz gerne was anderes machen, nämlich (.) äh uns mal mit der Frage
zu beschäftigen, (.) was könnte man für dieses Geld Sinnvolles tun.

Auf die Frage hin, welche Rolle dem Gewerkschaftsvertreter im gesamten Auf-
sichtsrat zukäme, antwortet der Befragte, dass dieser in einem ständigen Konflikt
mit Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzendem stünde. Als Beispiel nennt er eine
geplante Dividendenerhöhung, über die sich der Gewerkschaftsvertreter mit Auf-
sichtsrats- und Vorstandsvorsitzendem gestritten hat. Während die einen für eine
Erhöhung waren, habe sich die andere Seite für eine alternative Investition in das
Unternehmen ausgesprochen. Auf Nachfrage, ob dieser Konflikt sich nur auf den
Gewerkschaftsvertreter bezöge, antwortet der Befragte, dass die offenen Konflik-
te vor allem solche zwischen dem Gewerkschaftsvertreter sowie Vorstands- und
Aufsichtsratsvorsitzendem auf der anderen Seite seien. Auf Nachfrage antwortet
der Interviewte, dass die anderen Arbeitnehmervertreter dabei nicht immer hinter
dem Gewerkschaftsvertreter stünden. Dies sei themenabhängig. Im Fall der Divi-
dendenerhöhung sei dies zwar der größte Teil gewesen, doch man hätte „dezenter“
sein können und hätte eher die Frage stellen sollen, was man mit dem Geld sonst
noch hätte machen können.
Hier zeigt sich, dass die Kontextur Arbeitnehmervertretung Probleme mit dem
Aufbau der eigenen Positivstruktur hat. Auf der einen Seite wird klar ein Bild
entworfen, in dem die Negation der Anteilseignervertretung einen positiven poli-
tischen Wert aufbaut. Auf der anderen Seite deutet sich eine Reflexion an, die wirt-
schaftliche Argumente in Anspruch nehmen möchte.
Dennoch führen diese Differenzen zu keinem grundsätzlichen Bruch der Arbeit-
nehmerbank. Denn die Seite der Arbeitnehmervertreter stellt sich von der Grund-
orientierung ähnlich dar wie im Fall der Einzelhandel Meyer AG. Wie auch im Fall
aller anderen Aufsichtsräte, die unter diesen Typ der Mitbestimmungspraxis fal-
len, sehen sich die Arbeitnehmervertreter als reine Interessenvertreter. Die Unter-
nehmensmitbestimmung wird als Ergänzung der betrieblichen Mitbestimmung
104 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

gesehen. So führt der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende im Rahmen der Er-


örterung geplanter Umstrukturierungsmaßnahmen Folgendes aus:

Befragter: Äh (..) da kann man nun eine ganze Menge zu sagen. Für Arbeitnehmern (.)
bedeuten derartige Bestrebungen in aller Regel Umstrukturierungsprozesse, weil (.) äh
das ja auch Vereinheitlichungen sind und die meisten, die eben in eine anderen Struktur
leben, als die, die dann als Zielstruktur ausgegeben wird. (..) Und in aller Regel auch
Rationalisierungsprozesse, (.) äh sodass die (.) Notwendigkeit (.) grenzüberschreitend
Einfluss zu nehmen, äh (.) durch so eine neue unternehmerische Philosophie deutlich
steigt. Wenn das so ist, (.) dann ist man gut beraten zu versuchen, auch möglichst viele
Handlungs- und Gestaltungsfelder (.) äh zu organisieren, indem man als Interessenver-
treter die Möglichkeit hat, so einen Prozess in irgendeiner Form (.) zu beeinflussen, so und
da war der Aufsichtsrat ein (.) eine Hoffnung, (.) äh genauso, wie auch der Betriebsrat.

Restrukturierungsmaßnahmen würden immer Umstrukturierung und Rationali-


sierung für die Arbeitnehmer bedeuten. Daher sei es wesentlich, Möglichkeiten
der Einflussnahme als Interessenvertreter zu suchen. Der Aufsichtsrat und der Be-
triebsrat haben sich hier angeboten.
Es wird eine Reststrukturierungsmaßnahme thematisiert, die eine Neuausrich-
tung des Konzerns zur Folge hat. Was den Befragten interessiert, sind dabei die
Konsequenzen für die Arbeitnehmer. Aufgabe der Arbeitnehmervertreter ist dabei
die Einflussnahme auf eine „neue unternehmerische Philosophie“. Diese Formulie-
rung impliziert, dass sich die Arbeitnehmervertreter selbst nicht als Protagonisten
dieser „neuen unternehmerischen Philosophie“ sehen. Sie wird nicht als die eigene
– noch nicht einmal teilweise – gesehen, sondern als etwas, dem die Arbeitnehmer
ausgesetzt sind, dem man gegenübersteht.
So werden auch wie im Fall der Einzelhandel Meyer AG Aufsichtsrat und Be-
triebsrat dabei in einem Atemzug genannt. Die beiden sind Arenen, in denen Ein-
fluss auf die Unternehmensführung genommen werden kann. Ein Unterschied
wird hier nicht gemacht. Und auch wenn die Arbeitnehmervertreter zwar offiziell
als Aufsichtsratsmitglieder formal zur Unternehmensführung gehören, rechnen sie
sich dieser nicht zu. Dies wird noch durch eine generalisierte Missachtung der An-
teilseignervertreter unterstützt (Interview stellvertretender Vorsitzender):

Befragter: Äh ich glaube, ich-ich-ich glaube, (.) dass das ein Netzwerk ist. Also dass die
sich versorgen, (.) wechselseitig versorgen und sicherstellen, dass sie genug Geld haben
und dass sie (.) nicht immer zuhause bei ihrer Frau rumsitzen müssen.
Interviewter: (lacht).
Befragter: Und-und-und äh ihren-ihren (..) Begehr (.) zu gestalten und ich glaube, das-
das ein (.) und wir sind ja auch ein bisschen so, dieses, also dieses Wollen, (.) äh nicht
nur äh von, ein Getriebener einer Entwicklung zu sein, sondern Entwicklung auch mit
zu gestalten, ja. Der Preis, den man dafür bezahlt, ist ein ziemlich hoher. Also (.) äh das
Geld, das man da kriegt, äh (.) hat den Nachteil, dass man es gar nicht ausgeben kann,
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 105

weil man durch den Aufwand, den man erbringen muss, um es zu kriegen, zeitlich so
gebunden ist, zumindest zu der aktiven Zeit, ja. Also einer, wie der [Vorstandsvorsit-
zender] oder der [Finanzvorstand] oder wie sie alle heißen, der [Aufsichtsratsmitglied],
(.) was nützt denen die ganze Kohle, ja, weil das ist schön, ja und für die Kinder und
so ganz doll, die können dann da drin das verprassen, ja, aber der, die-die äh das, die
können froh sein, wenn sie ihr Leben ohne Herzinfarkt und was über-über die Runden
kriegen, Schlaganfall oder so was, ja.

Die Arbeitgeber seien ein Netzwerk, das sich gegenseitig mit Posten versorge, um
ausreichend Geld zu verdienen und nicht „bei ihrer Frau rumsitzen“ zu müssen.
Zudem seien sie gierig darauf, Einfluss zu nehmen. Dafür jedoch zahlten sie einen
hohen Preis, weil sie keine Zeit mehr für etwas anderes als für die Arbeit hätten.
Als unausgesprochener Vergleichshorizont läuft dabei stets der redliche Arbeit-
nehmer mit, der für das Auskommen seiner Familie sorgt, seine Arbeit pflicht-
bewusst erfüllt und sich nach Feierabend um seine Kinder kümmert. Auf die
Arbeitgeber trifft nichts hiervon zu. Die Vorstände und Anteilseignervertreter er-
scheinen hier als gierige und machthungrige Menschen, die ihre Familie für Geld,
Prestige und Macht vernachlässigen und darüber hinaus noch ihre eigene Gesund-
heit opfern. Positiv besetzte Motivation, etwa Engagement für die Firma oder In-
teresse am Wohl des Unternehmens wird nicht unterstellt. Vielmehr erscheint das
Mandat im Unternehmen nur als kontingente Stelle, die Macht und Mitsprache-
möglichkeiten in der Welt eröffnet. Die Arbeitgeber werden damit nicht nur aus
der Funktion heraus, sondern auch als Person als Gegenbild des Arbeitnehmerver-
treters verstanden. Sie sind nicht nur anderer Meinung, sondern sie sind auch cha-
rakterlich ungeeignet, eine verantwortliche Position zu bekleiden. Das fixiert eine
moralische Überlegenheit der Arbeitnehmervertreter und verstärkt gleichzeitig die
oppositionelle Position. Denn die Meinung der Anteilseignervertreter ist hier nicht
nur sachlich der Gegenhorizont – sie ist auch immer moralisch fraglich. Die An-
teilseigner stehen nicht nur auf der anderen Seite, sie sind auch in dieser Position
auf der anderen Seite nicht vertrauenswürdig, wie für die Anteilseignervertreter die
Arbeitnehmervertreter nicht vertrauenswürdig sind, weil sie als politische Oppor-
tunisten erscheinen.
Dennoch besteht aufseiten der betrieblichen Arbeitnehmervertreter der An-
spruch, „wirtschaftlich“ mitbestimmen zu wollen. Zwar sei man Interessenver-
treter, doch gerade die Interessenvertretung im Aufsichtsrat gebe die Möglichkeit,
über die normale Betriebsratsarbeit hinauszugehen (Interview stellvertretender
Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Wir haben das immer verstanden als zwingend notwendige, äh aber auch
sinnvolle Ergänzung (.) äh unserer Tätigkeit als-als Interessenvertreter, also als Betriebs-
rat, nicht. Die, das Betriebsverfassungsrecht schränkt ja die Mitgestaltungsmöglichkeit
106 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

der Betriebsräte ein und klammert ja (.) den (.) wirtschaftlichen Bereich (.) weitestgehend
aus, weil es da ja eigentlich nur ein-ein Informationsanspruch (.) äh gibt, an-an den
Wirtschaftsausschuss, der auch ein Ausschuss eigener Art ist, weil (.) man nicht zwin-
gend Betriebsrat sein muss, um im Wirtschaftsausschuss tätig sein zu können, so. (.) Äh
und-und von daher ist eigentlich die-die-die, (.) das Ziel wirtschaftlich mitgestalten zu
können, immer unmittelbar verknüpft, in diesen größeren Einheiten, mit äh mit Auf-
sichtsratstätigkeit. (.)

Hierin zeigt sich ein Anspruch, der sich im Fall der Einzelhandel Meyer AG
nicht finden lässt: die wirtschaftliche Mitgestaltung. Im Aufsichtsrat der Einzel-
handel Meyer AG sahen sich die Arbeitnehmervertreter ausschließlich zuständig
für unmittelbar politisch relevante Themen. Alle weiteren Fragen wurden den
Anteilseignervertretern überlassen. Zwar behielt man sich teilweise vor, gegen
deren Entscheidung zu stimmen. Doch wurde kein Anspruch erhoben, über
unternehmerische Fragen zu diskutieren. Dies ist im vorliegenden Fall anders. Die
betrieblichen Arbeitnehmervertreter wollen hier das Unternehmen im Sinne der
Arbeitnehmer formen, beschränken sich damit nicht auf die reine Opposition.
Die betrieblichen Arbeitnehmervertreter leiden im vorliegenden Fall somit an
einem „double bind“, der aus dem Paradox der Unternehmensmitbestimmung
selbst resultiert: Sie wollen das Unternehmen führen, begreifen sich jedoch selbst
als Opposition gegenüber der Unternehmensführung. Auf der einen Seite wird die
wirtschaftliche Mitsprache gesucht. Auf der anderen Seite wird sie negiert, weil der
Dialogpartner nur als Negativkontrast gegriffen wird. Dieser „double bind“ spie-
gelt sich in der Struktur der Arbeitnehmerseite. Die Gewerkschaftsposition setzt
hier ganz klar auf Oppositionsarbeit, während die betriebliche Seite den Versuch
wirtschaftlicher Mitsprache macht. Damit überträgt sich der „double bind“ auf die
gesamte Arbeitnehmerseite, wird hier sogar noch durch die Differenzen zwischen
betrieblichen und gewerkschaftlichen Arbeitnehmervertretern verstärkt. Letztlich
rastet jedoch die Oppositionsrolle ein, da die Grundlagen für eine differenziertere
Perspektive nicht gegeben sind.
Diese Struktur führt zu Problemen in der Zusammenarbeit mit den Anteils-
eignervertretern, die noch durch die Erwartungsstruktur derselben verstärkt wird.
Denn während man im Aufsichtsrat der Einzelhandel Meyer AG mehr oder weni-
ger aneinander vorbeileben konnte, da sich jede Seite eindeutig auf ihre Perspektive
beschränkte, kommt es hier zu Überschneidungen. Der Aufsichtsrat der Einzel-
handel Meyer AG hat eine Routine der Doppelstimme entwickelt. Im Hamburger
Bankhaus jedoch herrscht auf beiden Seiten der Wunsch, einen Kompromiss zu
finden. Dieser Anspruch jedoch scheitert an Kurzschlüssen und multiplen Verstri-
ckungen verschiedener Kontexturen, die nicht aufgelöst werden können, wie im
Folgenden gezeigt wird.
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 107

4.2.2.3 Erwartungsenttäuschung und faule Kompromisse


Betrachtet man die Ausgangsposition, so zeigen sich stark divergierende Erwar-
tungen. Die Anteilseignervertreter nehmen für sich in Anspruch, im Sinne des
Unternehmens zu unterscheiden. Man ist verantwortlich für den wirtschaftlichen
Erfolg und das Wohlergehen des Unternehmens. Dieser Anspruch wird auch auf
die Arbeitnehmerseite ausgedehnt: Die Arbeitnehmervertreter müssten einsehen,
dass sie nicht nur den Arbeitnehmern verpflichtet seien, sondern eben auch den
Aktionären und anderen Anspruchsgruppen – vor allem jedoch dem Wohl des
Unternehmens. Die Arbeitnehmervertreter werden also mithilfe einer totalen un-
differenzierten Rejektion als eigener adressierbarer Reflexionshorizont konstruiert,
der sich jedoch sofort wieder negieren und in die Kontextur der Anteilseignerver-
tretung überführen soll: Sie sollen selbstständig reflektieren, dass die Anteilseig-
nervertreter das Unternehmen richtig führen und entsprechend mit eigenständiger
Reflexion aufhören und sich der Anteilseignervertretung unterwerfen.
Die Arbeitnehmervertreter sind insgesamt instabiler. Gerade die betrieblichen
leiden an einem „double bind“ und sehen sich zum einen als Opposition gegen-
über den Anteilseignervertretern, denen generell niedere Beweggründe unter-
stellt werden, zum anderen erheben sie jedoch den Anspruch, das Unternehmen
wirtschaftlich mitformen zu wollen. Sie wollen unternehmerisch mitbestimmen,
dabei jedoch weiterhin in Opposition zur Unternehmensführung arbeiten. Mithin
produzieren sie dasselbe Problem wie die Anteilseignervertreter, nur in etwas an-
derer Form: Die wirtschaftliche Dimension wird als eigene Kontextur begriffen,
ohne dass jedoch die Anteilseignervertreter als eigene Reflexionsinstanz verstan-
den werden. Wo also aufseiten der Anteilseignervertreter die Arbeitnehmervertre-
tung sich zugunsten der Anteilseignervertretung selbst negieren sollte, wird hier
die Unternehmensführung als eigene Kontextur konstruiert, an der man sich betei-
ligen will. Diese wird jedoch gleich wieder negiert, weil das Management zugleich
der Feind ist.
Die Arbeitnehmervertreter gehen in der Aufsichtsratspraxis mit diesem Prob-
lem so um, dass gegenüber den Anteilseignervertretern vor allem die Position der
Opposition eingenommen wird. Die Positivstruktur „Interessenvertretung“ wird
stabilisiert. Diese ist der kleinste gemeinsame Nenner der Arbeitnehmervertreter
und garantiert letztlich die Einheit der Bank. Der Anspruch der „wirtschaftlichen
Mitbestimmung“ wird dann wiederum innerhalb der Arbeitnehmerbank einge-
bracht – dies jedoch nicht unbedingt immer offen. Ein gutes Beispiel hierfür ist
folgende Passage aus dem Interview mit dem stellvertretenden Vorsitzenden, der
von seinen immer wieder scheiternden Versuchen spricht, Pläne mit den Anteils-
eignern zusammen „auszuhecken“, also sich der Kontextur der Arbeitgebern an-
zunähern:
108 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Befragter: (…) Ja, (..) die Kommunikation zu mir wird auch gesucht. (…) Das ist die (.)
die äh (…) die Spekt- oder die Prognose (.) darüber, (.) äh (..) was wird bei den Arbeit-
nehmervertretern passieren? (.) Ist aufgrund der extrem heterogenen Struktur schwieri-
ger, als das in einem deutschen Aufsichtsrat wäre. (.) Also hier bei der [Tochterfirma],
da war ich ja in einer ähnlichen Rolle (.) und äh damals mit-mit, da war Herr Doktor
[Name], war damals der-der Aufsichtsratsvorsitzende bei der [Tochterfirma] und (..) äh
(..) da konnte ich immer relativ sicher sein, wie das ungefähr laufen wird. Hier muss ich
eigentlich die Chance haben mit den Leuten zu reden und dann kommt man so ein biss-
chen (..) in äh (.) äh (.) in eine Zwickmühle, (.) weil die sagen dann, also [Name Befrag-
ter], wir erzählen dir das mal, also du darfst da noch mit keinem drüber reden, aber nur,
dass wir von dir mal eine Einschätzung kriegen, was würde passieren, wenn, nicht und
ich muss ihm dann häufig sagen, (.) also wenn ich mit denen nicht drüber reden kann,
gebe ich euch auch keine Einschätzung, weil das ist mir zu heikel. Da habe ich also zu
häufig (lacht) erlebt, dass ich dachte, (.) ha das wird jetzt eine ganz lockere Veranstaltung
und dann wurde sie kritisch und in der Diskussion (.) konnte man auch ein bisschen na
also verstehen, warum aus einer bestimmten Denkrichtung her das ein wesentlicher Vor-
gang ist, den ich eher für unwichtig (.). Da lernt man halt auch miteinander und (.) das
macht es, macht es ein bisschen kompliziert, ne. (.) Also von daher müssen die dann halt
ein bisschen auch spekulieren (.) und im Zweifelsfall (…) im Zweifelsfall (…) schildere
ich die Bedrohung, (..) es bedarf der Zweitstimme, (.) mal vorsichtig ein bisschen höher,
als sich es in der Praxis vielleicht rausstellte.

Im Aufsichtsrat einer Tochterfirma sei es einfacher gewesen, sich mit den An-
teilseignern abzusprechen. Hier aber sei die Arbeitnehmerseite so divers, dass es
schwierig werde. Häufig habe er Zusagen den Anteilseignern gegenüber gemacht,
die er für selbstverständlich und unproblematisch gehalten habe, die aber zu
Problemen mit seinen Kollegen geführt hätten. Daher halte er sich nun mit ver-
traulichen Zusagen unter vier Augen zurück. Im Zweifelsfall müsse er dann aber
versuchen, seine Kollegen zu überzeugen, indem er die Kompromisslosigkeit der
Anteilseignervertreter übertreibe.
Der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende erscheint hier als desorientiert
seinen eigenen Kollegen gegenüber. Ihm fehlt das Gespür für eine mehrheitsfähige
Position und er wird immer wieder überrascht von den Positionen der Kollegen
– vermutlich der Gewerkschaftsvertreter. Diese Desorientierung resultiert vermut-
lich aus dem „double bind“ zwischen der Kontextur wirtschaftlicher Mitbestim-
mung und Opposition, das der Befragte nicht zu kontrollieren vermag. Vielmehr
werden die Ansprüche, die aus der Kontextur wirtschaftlicher Mitbestimmung er-
wachsen, immer wieder in die Arbeitnehmerseite getragen. Dort jedoch kollidieren
sie mit der Kontextur der Interessenvertretung, die nicht nur die Praxis des „Pläne-
Ausheckens“ mit den Anteilseignervertretern ablehnt, sondern auch die Inhalte,
die diese Praxis hervorbringt.
Der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende reagiert mit zwei Techniken auf
dieses Problem. Zum einen lässt er sich nicht mehr auf informale Zusagen ein. Dies
ist eine Entscheidung gegen die Kontextur der Unternehmensführung zugunsten
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 109

der Kontextur oppositioneller Arbeitnehmervertretung. Entsprechend wird die


Erwartung der Anteilseigner enttäuscht, da ein gemeinsames „Aushecken“ von
Plänen abgelehnt wird. Ebenso wird der Anspruch des stellvertretenden Aufsichts-
ratsvorsitzenden, das Unternehmen wirtschaftlich mitzubestimmen, zumindest
teilweise zurückgenommen – zumindest auf Ebene des gesamten Gremiums.
Auf Ebene der Arbeitnehmerbank wird gerade die Kontextur der „wirtschaft-
lichen Mitbestimmung“ wieder eingeführt, indem die Position der Anteilseigner-
vertreter übertrieben wird, um die Gewerkschaftsvertreter zum Kompromiss zu
bewegen. Die wirtschaftliche Kontextur wird dadurch zu einem gewissen Grad
präsent gehalten, kann jedoch als solche nicht artikuliert werden. Sie tritt also nicht
als eigene Kontextur auf, welche die Arbeitnehmervertretung reflektiert, sondern
wird von einer einzelnen Person reflektiert und dann innerhalb der Kontextur der
Interessenvertretung formuliert. Das, was einige betriebliche Arbeitnehmer also
im Sinne einer „wirtschaftlichen Mitbestimmung“ beabsichtigen, kann nur in dem
Maße eingebracht werden, wie es als Problem mit den Anteilseignervertretern for-
muliert werden kann.
Das Folgeproblem dieser Vorgehensweise scheint darin zu liegen, dass eine
gemeinsame Arbeitsebene nicht aufgebaut werden kann. Die Arbeitnehmerver-
treter und die Anteilseignervertreter sind nicht in der Lage, gemeinsame „Pläne
auszuhecken“, weil die Versuche ständig von der Instabilität der Arbeitnehmer-
seite sowie der Anspruchshaltung der Anteilseignervertreter unterlaufen werden.
Die scheiternden Versuche führen entsprechend zu immer neuer Erwartungsent-
täuschung. So äußert sich der Aufsichtsratsvorsitzende im Gespräch über eine Si-
tuation, in der er eine Entscheidung mit der Doppelstimme durchsetzen musste,
folgendermaßen:

Interviewer: Aber-aber gab es dann nachwirkend irgendwie atmosphärische Probleme?


Befragter: Äh (.) wenn ich das, wenn ich das häufiger machen würde und die Arbeit-
nehmervertreter das Gefühl hätten, das mache ich mit leichter Hand, ich bemühe mich
vorher gar nicht darum äh vielleicht zu Kompromissen zu kommen, einen Konsens auf-
zubauen. Ich glaube, dann könnte es zu atmosphärische Störungen führen. So, (.) nicht
wie es in dem Fall passiert. Die wissen auch, (.) dass sie in der Verantwortung sind.
Und ich hab manchmal natürlich den Verdacht, ob berechtigt oder nicht, dass der ein
oder andere auf der Arbeitnehmerseite in der Gewissheit, es kommt eine Entscheidung
zustande, die auch zustande kommen muss, dann sich das Nein vorher leistet, nicht. (.)
So ein kleines bisschen. Er kann sich umdrehen und seiner Klientel, der Gewerkschaft,
den Arbeitnehmern sagen.
Interviewer: Kommt das auch häufiger vor?
Befragter: Das kommt ab und zu vor.

Die Frage, ob sich die Stimmung im Gremium verschlechtert habe, nachdem die
Arbeitnehmervertreter überstimmt wurden, verneint der Aufsichtsratsvorsitzende.
110 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Wenn man sich nicht vorher um einen Kompromiss bemühen würde, dann könne
dies der Fall sein, sonst aber nicht. Die Arbeitnehmervertreter seien sich ihrer Ver-
antwortung bewusst, könnten manchmal aber nicht so abstimmen, wie sie es selbst
für richtig hielten, um vor den Gewerkschaften und den eigenen Wählern besser
dazustehen. Dies käme manchmal vor.
Der Aufsichtsratsvorsitzende spricht damit das grundlegende Paradox der
Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat an. Auf der einen Seite sind sie der Poli-
tik, auf der anderen Seite der Unternehmensführung verpflichtet. Arbeitnehmer-
vertreter können aus politischen Gründen gegen eine Entscheidung stimmen, von
der sie überzeugt sind und von der sie wissen, dass sie auch ohne ihre Zustimmung
getroffen wird. So stellt sich das Problem zumindest aus Sicht des Aufsichtsratsvor-
sitzenden dar. Ob das Abstimmungsverhalten der Arbeitnehmervertreter wirklich
aus rein politischer Opportunität erfolgt oder nicht (auch von den Arbeitnehmer-
vertretern hört man dies in Ausnahmefällen), sei dabei dahingestellt. Wesentlich
ist, dass die Anteilseignervertreter von den Arbeitnehmervertretern immer wieder
erwarten, die eigene Position zugunsten der Position der Anteilseignervertreter zu
suspendieren.
Diese Orientierungen und die damit verbundenen Erwartungsenttäuschungen
zeigen sich auch in der Praxis des Aufsichtsrats, so etwa im Fall der Arbeit des
Prüfungsausschusses: Während die Arbeitnehmervertreter die Arbeit des Prü-
fungsausschusses vor allem als Informationsquelle sehen, aber nicht den Anspruch
haben, eine Routine der Zusammenarbeit mit den Anteilseignern zu entwickeln.
Die Erwartung der Anteilseigner wird hingegen sowohl dann enttäuscht, wenn die
Arbeitnehmervertreter sich beteiligen, als auch in dem Fall, dass sie nur beobach-
ten und Informationen sammeln. So äußert sich der stellvertretende Aufsichtsrats-
vorsitzende über die Prüfungsausschussarbeit folgendermaßen:

Interviewer: M-hm. Wenn Sie sagen, Sie haben so ganz eigene Vorstellungen, äh auch für
den Prüfungsausschuss und was geprüft werden muss, wie es bewertet werden muss. Sie
sind ja jetzt nicht im Prüfungsausschuss, sondern das sind der Herr [Gewerkschaftsver-
treter] und der Herr [Betriebsrat], glaube ich.
Befragter: Kann gut sein.
Interviewer: Sprechen Sie sich vorher mit den Kollegen ab? Also wird da so was vorher
gemeinsam diskutiert, bevor es in die Prüfungsausschusssitzung geht, oder machen die
das eigenständig und berichten dann nachher oder?
Befragter: (.) Die ma-, also äh die machen das eigenständig. Die (.) berichten darüber
und die machen Vorschläge, (.) äh, (.) was man mal im Gesamtgremium diskutieren
und problematisieren könnte. (.) Also das Modell ist eher nicht, (.) zumindest in unseren
bisherigen Erfahrungen, dass wir da irgendwie jetzt was einbringen, (.) sondern dass
wir, dass die zwei da gucken und sagen, also da ist ein Punkt, da wi-, den würde ich mal
nachgehen, ne (…) und das ist dann auch möglich, ja.
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 111

Angesprochen auf die Arbeit der Arbeitnehmervertreter im Prüfungsausschuss


sagt der Befragte, dass er sich vor den Sitzungen nicht mit den Kollegen absprä-
che, die Mitglieder im Prüfungsausschuss seien. Dies sei jedoch auch nicht nötig,
da die Arbeitnehmervertreter die Arbeit des Prüfungsausschuss eher als Informa-
tionsquelle sähen. Hier bekäme man Einblicke, aus denen man eigene Initiativen
entwickeln könne.
Auch wenn die wenigsten Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräten den Anspruch
haben, im Prüfungsausschuss auf Augenhöhe mit den Anteilseignervertretern Fra-
gen etwa der Bilanzierung zu diskutieren, so gibt es doch in vielen Unternehmen
den Anspruch, etwas beizutragen, das die Anteilseignervertreter nicht sehen. In
den Aufsichtsräten der Typen 2 und 3 (S. 121 ff. sowie S. 174 ff.) wird so explizit der
Anspruch vorgetragen, betriebliches Wissen in die Arbeit einzubringen. Die An-
teilseigner, so das Lamento der Arbeitnehmervertreter, sähen vor allem die Zahlen,
aber nicht das, was dahinterstecke. Diese Perspektive würden sie, die Arbeitneh-
mervertreter, beitragen. Hier wird also die wirtschaftliche Kontextur akzeptiert, im
Sinne der Arbeitnehmervertretung jedoch neu formuliert.
Im vorliegenden Fall wird die Arbeit des Prüfungsausschusses rein im Hinblick
auf die Kontextur Interessenvertretung gerahmt: Man besorgt sich Material, das
man politisch verarbeiten kann. Die Kontextur „wirtschaftliche Mitbestimmung“
kommt hier nicht zum Tragen. Für die Arbeit des Gremiums sind hier – wie auch
im Fall der Einzelhandel Meyer AG – die Anteilseignervertreter zuständig. Die Ar-
beit im Prüfungsausschuss wird also entweder der politischen Kontextur zugerech-
net oder mithilfe einer partiellen Rejektion suspendiert.
Umgekehrt erscheint die Beteiligung der Arbeitnehmervertreter im Prüfungs-
ausschuss dann aus Perspektive der Anteilseignervertreter wenig gewinnbringend
(Interview Prüfungsausschussvorsitzender):

Befragter: Äh (.) also das-das (.), die ganze Mitbestimmung wird natürlich, gerade bei
solchen Themen, wieder (.) äh auch mal infrage gestellt, ob das alles so sinnvoll ist, was
wir da machen. (.) Äh (.) aber das ist nun mal so und-und da muss man damit umgehen
und-und diese Mitglieder fühlen sich vielleicht dann auch nicht so ganz wohl in ihrer
Rolle, weil sie ja doch mehr (..) dabei sind und zuhören und-und vielleicht einmal in
der Sitzung eine halbwegs intelligente Frage stellen. (.) Aber hm (.) das ist dann auch
unbefriedigend, glaube ich, für die für die Teilnehmer. Und die andere Form, die ich
geschildert habe, wenn einer dauernd nachfragt, ist natürlich wirklich (.) insofern etwas
störend, weil (.) man dann nicht vorankommt. Also wenn immer wieder die Grundsatz-
frage, was ist das und das muss ich jetzt verstehen und da auf Seite soundso (.) unter
Zeile soundso steht das und das, was meinen sie denn damit und jedes Mal. Also das ist
dann auch mühselig, ne. Weil es auch letztlich nicht relevant ist, also wenn man (..), das
kann ja erkennen, ob bestimmte Themen dann wirklich relevant sind in einem Abschluss
zum Beispiel oder (.) in einem Risikobericht oder was auch immer und wenn dann aber
112 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

(.) Nebensächlichkeiten aufgegriffen werden und man merkt man das, dann-dann spürt
man auch, dass da nicht wirklich verstanden wird, worum es wirklich geht.
Interviewer 1: Klar.
Interviewer 2: Jaja.
Befragter: Und-und dann fühlt man sich doch ein bisschen aufgehalten in-im-im Ablauf
der Sitzungen.

Die Kompetenz der Arbeitnehmervertreter im Prüfungsausschuss sei ein grund-


sätzliches Problem der Mitbestimmung. Zumeist säßen diese nämlich nur da und
würden nicht verstehen, wovon die Rede sei. Dies sei auch für die Betroffenen nicht
angenehm. Im anderen Fall würden sie ständig nachfragen, um zu verstehen, was
vor sich ginge. Dies sei mindestens ebenso störend, weil der Ablauf der Sitzungen
aufgehalten werde und man seine Zeit vertue.
Die Arbeitnehmervertreter erscheinen hier schlichtweg als inkompetent. Sie
sind nicht in der Lage, sich in die Praxis des Gremiums zu integrieren und einen
Beitrag innerhalb der Erwartungen der Anteilseignervertreter zu liefern. Dennoch
besteht die Überzeugung auf Anteilseignerseite, dass die Arbeitnehmervertreter
zumindest potenziell zu überzeugen sind, da sie eine grundlegende Einsicht in öko-
nomische Notwendigkeiten besäßen. Entsprechend wird auf Anteilseignerseite der
Anspruch aufrechterhalten, nicht nur einen Kompromiss, sondern einen Konsens
finden zu können (Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Die Arbeitnehmer haben (.) dann regelmäßig an ein oder zwei Tagen vor der
Sitzung auch ihre eigenen internen Sitzungen. Äh häufig (.) wird erst dort eine Position
erarbeitet. Aber (.) im beiderseitigen Interesse versuche ich immer sicherzustellen, nicht
wahr, dass ich in etwa weiß äh (.) wie die Positionierung der Arbeitnehmerseite aussehen
könnte, um dann den Versuch zu machen vielleicht noch mich selbst einzubringen und
selbst auch (.) in die Arbeitnehmervorbesprechung reinzugehen. Äh oder ich sage Herrn
[Vorstandsvorsitzender] (.) da gibt es noch ein bestimmtes Problem, es wäre gut, wenn
Sie sich bei der Arbeitnehmervorbesprechung, wo er auch regelmäßig eingeladen wird,
dann mit den Damen und Herren darüber unterhalten würden. Mit dem Ziel mindes-
tens, (.) ich sag mal, die Information (.) überzubringen, (.) vielleicht aber auch mit dem
Ziel zu einem Konsens zu kommen. Denn es ist schon (.) glaube ich ganz wichtig in
einem mitbestimmten Aufsichtsrat, dass man versucht gerade im Vorfeld schon Konsens
so weit aufzubauen, (.) dass wir äh in den Plenumssitzungen nicht äh das Spektakel
erleben. Was es manchmal natürlich auch gibt, nicht wahr. Eine Bank gegen die andere.
Was ja weder für die Mitbestimmung gut ist, auf Dauer. Was sich eigentlich unterhöhle.
Denn wir haben eine gemeinsame Verantwortung.

Der Aufsichtsratsvorsitzende sagt, dass er wenn möglich die Arbeitnehmervorbe-


sprechungen besucht, um dort Einfluss auf die Meinungsbildung nehmen zu kön-
nen. Andernfalls würde er dem Vorstandsvorsitzenden diesen Auftrag geben, da-
mit dieser dort die Arbeitnehmer angemessen informieren könne und bestenfalls
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 113

einen Konsens herbeiführe. Der Konsens sei dabei letztlich das Ziel, damit es kei-
nen Konflikt in der Plenumssitzung gebe, was nicht gut für die Mitbestimmung
sei. Letztlich habe man eine gemeinsame Verantwortung und es dürfe nicht dazu
kommen, dass die beiden Seiten gegeneinander arbeiteten.
Bedenkt man, dass die Anteilseignervertreter sich als zuständig für verant-
wortungsvolle Unternehmensführung betrachten und die Arbeitnehmervertreter
bestenfalls als möglicherweise einsichtig ansehen, kann Konsens hier nicht wenig
mehr als ein Einlenken der Arbeitnehmervertreter heißen. Diese Annahme wird
zudem dadurch unterstützt, dass auch in diesem Zitat wieder die gemeinsame Ver-
antwortung für das Unternehmen genannt wird und zudem eine Spaltung des Auf-
sichtsrats in zwei Seiten als schlecht für die Mitbestimmung betrachtet wird. Auch
die Möglichkeit eines Kompromisses scheidet damit aus, weil dazu verschiedene
Interessenlagen bejaht werden müssten. Dies geschieht jedoch nicht.
Entsprechend werden die Versuche des Aufsichtsratsvorsitzenden, einen „Kon-
sens“ zu suchen – also zu vermitteln, was er für die unternehmerisch richtige
Entscheidung hält – in dieser Situation eher als Überredungsversuch interpretiert,
hinter dem vor allem politisches Kalkül steckt (Interview stellvertretender Auf-
sichtsratsvorsitzender):

Befragter: (…) Also (..) wenn man (Räuspern), wenn man es auf der faktischen Ebene
(..) äh (.) abhandelt, dann würde ich sagen, (..) er [der Aufsichtsratsvorsitzende]sagt
immer, (.) mir wäre es lieber, (.) wenn ich (.) die Doppelstimme nicht ins Spiel bringen
müsste (..) und dann hm, hm, hm und dann wiederholt er das, aber (.) er macht das
natürlich extrem geschickt, weil er dann argumentiert und dies und das und den Ein-
druck erweckt, nur (.) faktisch (.) läuft es darauf hinaus, dass er im Prinzip den Versuch
macht, (..) uns dazu zu überreden ihm das zu ersparen. (..) Selten (.) kommt es dazu,
dass (.) zu dem Überreden auch noch (..) tatsächlich Zugeständnisse kommen. Nicht,
dass er sagt, ja (.) gut, könnten ja auch so und dies und das und jenes. (.) Was ich aber
ganz, (.) ich bin ziemlich sicher, (.) dass die es, (.) dass die sich das vorher genau überle-
gen, also wie man das vielleicht zuschneiden kann, dass es für uns gerade noch akzepta-
bel ist, weil ich schon spü-, also diese-diese-dieses Wollen, (.) nicht von der Doppelstimme
Gebrauch zu machen, das ist schon sehr massiv vorhanden. Ich denke, die lassen sich (.)
im Vorfeld eine Menge einfallen, um (.) äh (.) das, was ihnen möglich ist zu tun, um-um
in der Position auch zu bleiben, das nicht machen zu müssen.

In der Verhandlung, so der Befragte, drohe der Aufsichtsratsvorsitzende regelmä-


ßig mit der Doppelstimme und verargumentiere seine Position. Dies sei jedoch tat-
sächlich nichts weiter als der Versuch, die Arbeitnehmervertreter zu überreden. Es
geschehe nur äußerst selten, dass der Aufsichtsratsvorsitzende auf die Position der
Arbeitnehmervertreter zugehe. Die wenigen Zugeständnisse, die gemacht würden,
seien zudem keine wirklichen, da diese schon vorher von den Arbeitgebern geplant
seien. Diese wollten um jeden Preis die Doppelstimme vermeiden.
114 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Das, was aus Perspektive des Aufsichtsratsvorsitzenden die Suche nach einem
Konsens ist, zeigt sich hier als Überredungsversuch, da die Erwartungshaltung
der Arbeitnehmervertreter eher auf einen Kompromiss abzielt. Man sucht in dem
Sinne keinen Konsens, weil Arbeitnehmervertretung als Interessenvertretung stets
in Differenz zur Unternehmensführung besteht. Sie ist stets Opposition, die der
Regierung etwas abtrotzen muss und im Kompromiss ihren Erfolg findet. Für die-
sen bleibt aber konstitutiv, dass zwei verschiedene Positionen erhalten bleiben und
eben kein Konsens gefunden wird.
Das Verhältnis der Arbeitnehmervertreter zum Aufsichtsratsvorsitzenden wird
in folgendem Zitat des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden noch klarer:

Interviewer: Eine Nachfrage hätte ich noch. Könnten Sie denn den Führungsstil von
Herrn [Aufsichtsratsvorsitzender] (.) noch abschließend irgendwie in drei Sätzen…?
Befragter: Patriarchalisch. (…) Drei Worte?
Interviewer: Drei Sätze.
Befragter: Drei Sätze? (..) Also Herr [Aufsichtsratsvorsitzender] (.) ist derjenige, (.) der
(…), ich glaube, unheimlich gerne (.) die uneingeschränkte Führungsrolle in diesem
Konzert spielen würde, (…) der (..) alles dafür tun würde, was (.) nichts kostet und auch
ansonsten nicht, um (.) den Eindruck zu erwecken, dass er mit (.) der Überzeugung,
seiner Erfahrung, seiner Ideen (.) und seiner Vorschläge, (.) alle gemeinsam zu einem
großen (.), auf ein Ziel verschworenen Haufen bündelt (.) und (.) der (.) nachhaltigen
Widerspruch (.) extrem ungern hat. (.) Das ist das, was ich als patriarchalisch bezeichne,
ja. Diese (.) Vaterrolle (.) auf ein Unternehmen übertragen, nicht, der Vater, der die,
schon gerne in der Familie die Führungsrolle spielt, (.) auch wenn es nicht immer so ist (.)
und der schon gerne so tut, als ob er die anderen überzeugen würde (.) und der aber (.),
also wirklich (.) Konflikte, also-also (.) wirklich die Bereitschaft sich, wenn dann (.) der
Sohn immer wieder und so, nicht und-und-und solange du da deine Füße unter meinen
Tisch streckst, wird hier getan, was ich sage, so. (.)

Auf die Frage nach dem Führungsstil des Aufsichtsratsvorsitzenden antwortet der
Befragte, dass dieser am besten mit dem Wort „Patriarchat“ beschrieben werden
könne. Der Aufsichtsratsvorsitzende beanspruche die Führung im gesamten Gre-
mium und erwarte Gefolgschaft. Er verstünde sich in der Rolle eines Vaters, der
auch im Konflikt mit seinen Kindern immer wieder auf seine Autorität poche.
Es überrascht wenig, dass der Aufsichtsratsvorsitzende hier als jemand cha-
rakterisiert wird, der die Führung des gesamten Gremiums übernehmen möchte,
dieser Anspruch aber auf Ablehnung der Arbeitnehmervertreter stößt. Interessant
jedoch ist die verwendete Metapher, die der stellvertretende Aufsichtsratsvorsit-
zende verwendet, um sich selbst im Verhältnis zum Aufsichtsratsvorsitzenden zu
verorten. Wird dabei die Vaterrolle noch einzig und allein auf den Aufsichtsrats-
vorsitzenden verwendet, so schreibt der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 115

den Arbeitnehmervertretern die Rolle des trotzigen Sohnes zu, der aus Sicht des
Aufsichtsratsvorsitzenden immer wieder zur Vernunft gebracht werden muss. Hie-
rin spiegelt sich dabei nicht nur die Ablehnung gegenüber der Vorgehensweise des
Aufsichtsratsvorsitzenden, sondern auch die Selbstverortung in der Opposition: Al-
lein schon dadurch, dass aufseiten des Aufsichtsratsvorsitzenden eine solche Erwar-
tungshaltung gesehen wird, bleibt für die Arbeitnehmervertreter nichts weiter als
Protest und Widerstand. Die eigene Position gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzen-
den kann nichts anderes sein als Widerstand gegen denselben, wenn die Arbeitneh-
mervertreter ihren Anspruch auf eine gewisse Autonomie aufrechterhalten wollen.
Das Resultat dieser Situation ist eine Prozedur der Entscheidungsfindung, die
von keiner der beiden Seiten befürwortet wird. Im Fall von der Einzelhandel Meyer
AG kann im Zweifelsfall einfach die Doppelstimme gezogen werden. Diese wird
dort „nur als Verfahrensfrage“ betrachtet und von beiden Seiten befürwortet. Die
Anteilseignervertreter sehen die unternehmerisch richtige Entscheidung durchge-
setzt, die Arbeitnehmervertreter können zumindest politischen Willen zeigen. Im
vorliegenden Fall kommt eine solche Situation nicht zustande. Vielmehr führt die
Orientierung der Arbeitnehmervertreter in Verbindung mit ihrem „double bind“
und der Anspruch der Anteilseignervertreter auf Meinungsführerschaft und Kon-
sens zu einem Resultat, das auf keiner Seite als wünschenswert erscheint: Es werden
„Deals“ ausgehandelt (Interview betrieblicher Arbeitnehmervertreter):

Befragter: Ja-ja-ja. Und es ist auch dann, wenn es wirklich nicht anders geht, dann äh,
dann kommt halt das Doppelstimmrecht, wie gesagt, (.) äh in (.), aus meiner Geschichte
her, einmal bisher.
Interviewer: M-hm, hm was hat das (.) für Sie dann für Auswirkungen oder wie-wie
reagiert man da drauf?
Befragter: (.) Ja, da gibt es auch unterschiedliche, also manche fühlen sich beleidigt, für
mich ist das einfach, das ist seine Aufgabe dann, ja. (.) Also das ist einfach, das wird halt
zur Kenntnis genommen, ja okay (.) und die-die-die Verhältnisse sind halt so, ja. Also die
Mitbestimmung ist halt eine begrenzte Mitbestimmung, die man da hat, ja.
Interviewer: M-hm, aber äh (.), weiß nicht, führt das irgendwie zu (.), ja Vertrauens-
verlust, dass...
Befragter: Nee.
Interviewer: … man sagt, (.) oder-oder irgendwie so-so ein bisschen Resignation, meine
Meinung zählt ja eh nicht, am Ende entscheiden die alleine oder?
Befragter: Nee (.), also bei mir nicht.
Interviewer: Ja.
Befragter: Ich weiß nicht, was-was andere, wie andere das empfinden. Das ist auch
immer eine Frage, wie man, wie man, wie man die Position sieht. Also äh ich finde es
halt, wenn man, wenn man einen Realitätssinn hat, dann ist die Situation so (.) und äh
ich glaube, sie ist auch zu recht so. Würde ich jetzt in der Öffentlichkeit nie sagen, ja, (.)
aber es ist einfach so und damit muss ich umgehen. Und da muss ich halt schauen, um
nicht in die Situation reinzukommen, dass ich irgendwann resigniere, dass ich im Vorfeld
116 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

halt äh Sachen klären kann. Das muss ja nicht immer so sein, dass man dann sagt, okay,
(.) wenn es jetzt um eine Person geht, äh die akzeptiert wir nicht, dann kann man ja
sagen, okay, die akzeptieren wir unter dem Vorbehalt, dass (.), erstens, zweitens, drittens
oder es gibt ja manchmal auch Deals, wo ich was erreiche, was mit der Person gar nichts
zu tun hat, äh (.) was halt dann gemacht wird. Und dann sage ich, okay, dann kriegst du
den und dafür kriege ich das, ja.

Im Gespräch über eine Personalberufung äußert der Befragte, dass die Doppel-
stimme gezogen werde, wenn kein Kompromiss gefunden werde. Dies sei einfach
eine Tatsache aufgrund der Rechtslage. Die Nachfrage, ob die Doppelstimme zu
Vertrauensverlust oder Resignation führe, wird dann verneint. Man müsse einfach
realistisch sein und sich mit der Situation abfinden, so der Befragte. In der Öffent-
lichkeit würde er dies nie sagen. Aber man müsse im Vorfeld die wichtigen Fragen
klären und im Zweifelsfall müsse man „Deals“ aushandeln. Die Zustimmung zu
einer Vorstandsbestellung müsse man dann etwa von anderen Fragen abhängig ma-
chen.
Die Möglichkeit des Überstimmt-Werdens ist für den Befragten Arbeitnehmer-
vertreter die Limitation seines Handelns. Denn die Doppelstimme fixiert die Diffe-
renz und die Arbeitnehmervertreter sehen sich ähnlich abgedrängt wie auch durch
die Erwartungen des Aufsichtsratsvorsitzenden. Die Konsequenz, die daraus gezogen
wird, ist quasi die Aufgabe eines Dialogs zwischen den Bänken. Es wird akzeptiert,
dass ein gleichberechtigtes Mitbestimmen nicht möglich ist und entwickelt eine eige-
ne Agenda, die man versucht, gegen die andere Seite durchzubringen. Dies ist mög-
lich, indem man die Ansprüche an das „wirtschaftliche Mitbestimmen“ weitgehend
aufgibt und die unternehmerische Seite der Aufsichtsratsarbeit nur bei den Anteils-
eignervertretern sieht. Durch diese Trennung wird die eigene Stimme etwas, das man
je nach Situation gegen etwas anderes eintauschen kann, weil es den Anteilseignern
etwas wert ist. Neben der positiven Signalwirkung, die einer solchen Zustimmung
im Unternehmen und in der Regel auch an den Kapitalmärkten zugeschrieben wird,
kann die Illusion der konsensualen Entscheidungsfindung aufrechterhalten werden.
Für die Arbeitnehmervertreter heißt das dann freilich, dass ihre Oppositions-
rolle gefestigt wird. Eine Einbindung in Entscheidungen findet nicht mehr statt und
der Anspruch, „wirtschaftliche Mitbestimmung“ zu betreiben, kann dann kaum
noch aufrechterhalten werden (stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender):

Interviewer: Werden Sie dann in so was eingebunden, (.) sage ich mal, in solche Abstim-
mungsprozesse, dass man Sie fragt, wie (.) bekomme ich nun den ganzen Aufsichtsrat
hinter eine bestimmte Entscheidung?
Befragter: (..) Nein, eingebunden werde ich nicht, aber gefragt werde ich. Und äh (.) ich
(.), wenn ich die Chance habe/also es kommt immer drauf an, in welchem Stadium wir
sind. Also wenn ich weiß, wo die Probleme liegen, dann bin ich dazu in der Lage, Herrn
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 117

[Aufsichtsratsvorsitzender] und Herrn [Vorstandsvorsitzender] – (.) äh [Vorstandsvor-


sitzender] kümmert sich da mindestens genauso drum, wie-wie [Aufsichtsratsvorsitzen-
der], (.) manchmal sogar mehr – (.) äh (..) dann bin ich durchaus dazu in der Lage,
denen sehr präzise zu sagen, wo die Probleme liegen (.) und auch Vorschläge zu unter-
breiten, (.) was man tun könnte, (.) um das zu lindern.
Interviewer: (.) M-hm. Wie wird denn auf solche Vorschläge von Herrn [Vorstandsvor-
sitzender] oder von Herrn [Aufsichtsratsvorsitzender] reagiert?
Befragter: (..) Wenn er sie umsetzen kann und es nichts kostet, setzt er sie um.

Die Frage, ob er in Abstimmungsprozesse eingebunden werde, verneint der Be-


fragte. Er werde gefragt und wenn dies rechtzeitig geschehe, sage er auch seine Mei-
nung. Er könne dann gegenüber Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzendem unter
Umständen klare Vorschläge machen. diese würden jedoch nur berücksichtigt,
wenn „es nichts kostet“.
Die „wirtschaftliche Mitbestimmung“ zeigt sich hier als quasi nicht existent.
Weder sieht der Befragte sich als Dialogpartner auf Augenhöhe (er wird nicht ein-
gebunden), sondern nur als eine nicht gerade zentrale Informationsquelle für die
Entscheider (er wird gefragt – und dies noch nicht einmal immer rechtzeitig). Zwar
erhält er seinen Anspruch aufrecht, mitbestimmen zu können, indem er Vorschläge
macht. Er sieht seine Position jedoch nicht so, dass auf diese Vorschläge tatsächlich
eingegangen wird, sollten diese mit dem Plan der Arbeitgeber in irgendeiner Weise
interferieren. Für seine Meinung, so scheint es, wird weder Kapital riskiert noch
ein Plan geändert, womit der Anspruch an eine „wirtschaftliche Mitbestimmung“
scheitert. Übrig bleibt dann nur die Opposition, aus der heraus man mehr bewe-
gen kann. Gegen die Arbeitgeber scheint zumindest etwas für das Arbeitnehmer-
interesse erreichbar, wenn man seine Stimme in „Deals“ verkauft. Der Anspruch
daran, einen Kompromiss im Sinne des Wortes zu erreichen, der gleichzeitig eine
Anerkennung des eigenen Anspruchs an Mitsprache impliziert, muss damit jedoch
als gescheitert angesehen werden.
Diese „Deals“ sind dann auch Stein des Anstoßes aufseiten der Anteilseigner-
vertreter. Denn während sie zwar formal den Anschein konsensualer Entschei-
dungsfindung aufrechterhalten, zeigen sie informell doch genau das Scheitern
des Anspruches an Überzeugung. Denn der „Deal“ ist nicht nur ein Kompromiss.
Vielmehr ist er nur möglich, indem die Arbeitnehmervertreter die Verantwor-
tung für die eine Seite der Entscheidung ablehnen. Damit negieren sie jegliche
Zuständigkeit und Verantwortung für die Unternehmensführung und führen da-
mit sogar die Idee des Konsenses ad absurdum: Man kann niemanden von etwas
überzeugen, der sich dafür weder interessiert noch zuständig sieht. Die Erwartung
der Anteilseignervertreter an die Arbeitnehmervertreter, diese mögen sich für die
Unternehmensführung verantwortlich fühlen, wird durch das Aushandeln von
„Deals“ entsprechend enttäuscht (Interview Prüfungsausschussvorsitzender):
118 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Befragter: Ja weil-weil (.), wie gesagt, es werden, es werden (.) Pakete geschnürt, es wer-
den Themen verknüpft, das finde ich, finde ich äh (.) von der Sache her nicht richtig (.)
und-und äh (..) ich finde es auch (.) vom Vorgehen her nicht-nicht korrekt, ich kann
nicht (.), wie gesagt, was ich eben erwähnte, ich kann nicht eine Personalentscheidung,
die eigentlich damit nichts zu tun hat, (.) verknüpfen mit einer Sachentscheidung und-
und so eine, ich nehme eigentlich die (.) die Person, die da bestellt werden soll oder
verlängert werden soll als Geisel und sage aber, (.) ich stimme da nur zu, wenn du mir
das hier gibst. Solche Dinge die-die haben sie auf der Kapitalseite überhaupt nicht. Die
kommen immer von der, von der Arbeitnehmerseite, die dann irgendwas ein Päckchen
schnüren wollen (.) und das finde ich unangenehm.
Interviewer: Okay, das heißt, die äh, die Arbeitnehmervertreter wollen solche Deals...
Befragter: Ja.
Interviewer: … dann aushandeln. Okay, das hatte ich zuerst...
Befragter: Die-die-die sagen, wir stimmen nur zu, wenn wir da was kriegen und die
Dinge habe nichts miteinander zu tun.

Es würden „Pakete geschnürt“, so der Befragte, etwa im Fall einer Personalentschei-


dung. Der betroffene Kandidat werde so in Geiselhaft genommen und es würden
verschiedene Themen miteinander verknüpft werden, die im Kern nichts mitein-
ander zu tun hätten. Dies würden nur die Arbeitnehmervertreter tun.
Klar wird in diesem Zitat noch einmal die Erwartung der Anteilseigner- an
die Arbeitnehmervertreter, diese hätten im Sinne des Unternehmens zu ent-
scheiden (wobei klar ist, dass die Anteilseignervertreter wissen, was im Sinne des
Unternehmens entscheiden heißt). Ebenso deutlich wird die Enttäuschung dieser
Erwartung, indem die Arbeitnehmervertreter die Verantwortung für eine Perso-
nalentscheidung ablehnen und ihre Zustimmung von einer anderen Entscheidung
abhängig machen.
Das Schnüren von „Päckchen“ oder das Aushandeln von „Deals“ markiert somit
auch aus Perspektive der Anteilseignervertreter den Punkt, an dem die Erwartungs-
strukturen, die aus den verschiedenen logischen Räumen entspringen, kollidieren.
Hier ist es der Versuch der Ausdehnung der Kontextur wirtschaftlicher Unterneh-
mensführung auf das gesamte Unternehmen, die scheitert. Damit einher zerbricht
die Erwartung an einen Konsens und die Erwartung, dass die Arbeitnehmerver-
treter dem besseren Argument (also dem Argument der Anteilseignervertreter)
gegenüber aufgeschlossen sein mögen. Stattdessen tritt die politische Kontextur
der Interessenvertretung zutage, an der die Erwartungsstruktur der Anteilseigner-
vertreter bricht.
Zusammenfassend stellt sich im vorliegenden Fall ein etwas anderes Bild als im
vorherigen Unternehmen dar. Im Aufsichtsrat der Einzelhandel Meyer AG hat sich
eine weitgehend stabile Struktur gebildet: Die Arbeitnehmervertreter beschränken
sich auf taktisches politisches Kalkül, die Anteilseignervertreter auf wirtschaftliche
Unternehmensführung. So wird eine weitgehende Sphärentrennung geschaffen.
4.2 Typ 1: Kollisionen von Wirtschaft und Politik 119

Die Entscheidungsfindung findet dann weitgehend durch die Doppelstimme statt.


Zwar gibt es einige Kompromissbemühungen. Doch im Zweifelsfall ist klar, dass
die Anteilseigner- die Arbeitnehmervertreter überstimmen und beide Seiten damit
gut leben können. Die Arbeitnehmervertreter schlagen politisch Kapital aus der
Demonstration ihrer überzeugten Opposition; die Anteilseignervertreter sind der
Meinung, dass die wirtschaftlich richtige Entscheidung ohne „faulen Kompromiss“
zustande gekommen ist.
Im Aufsichtsrat der Hamburger Bankhaus AG zeigt sich hingegen ein anderes
Bild. Die Anteilseignervertreter sehen sich zwar auch hier ausschließlich für die
wirtschaftliche Unternehmensführung zuständig und nehmen für sich in Anspruch,
im Sinne des Unternehmens zu handeln, doch dehnen sie diesen Anspruch auch
auf die Arbeitnehmerseite aus: Es wird erwartet, dass die Arbeitnehmervertreter
die Hoheit der Anteilseignervertreter anerkennen und sich überzeugen lassen. Dies
wird mit dem Anspruch an einen Konsens ausformuliert. Die Anteilseignervertre-
ter konstruieren also die Arbeitnehmervertretung als Irrationalität im Negations-
bereich der Wirtschaft, nehmen jedoch gleichzeitig eine totale undifferenzierte
Rejektion vor, indem sie die Arbeitnehmervertreter als adressierbar konstruieren.
Diese wird jedoch sofort mit der Zumutung konfrontiert, sich der Kontextur der
Anteilseignervertretung unterzuordnen.
Die Arbeitnehmerseite wiederum stellt sich weniger homogen wie im Fall der
Einzelhandel Meyer AG dar. Während dort die Gewerkschaft vorgibt, was das
Arbeitnehmerinteresse ist und wie man es am besten durchsetzt, zeigt sich hier ein
„double bind“. Auf der einen Seite besteht der Anspruch, das Unternehmen „wirt-
schaftlich mitbestimmen“ zu können. Auf der anderen Seite besteht die Auffassung,
dass Arbeitnehmervertretung reine Interessenvertretung ist. Dieser Zwiespalt
läuft entlang der Unterscheidung von Gewerkschaftsvertretern und betrieblichen
Arbeitnehmervertretern. Er verläuft aber auch innerhalb der Orientierung der Be-
triebsräte. In der Folge wird die Arbeitnehmerbank instabil. Sie oszilliert zwischen
beiden Positionen und droht in manchen Situationen, daran zu zerbrechen. Letzt-
lich jedoch stabilisiert sie ihre Einheit über die Interessenvertretung; der Anspruch
„wirtschaftlicher Mitbestimmung“ bleibt so weitgehend auf der Strecke. Zu einem
gewissen Grad zeigt sich jedoch noch in einer generellen Kompromissorientierung,
welche die Arbeitnehmerbank im vorliegenden Fall von derjenigen im Fall der
Einzelhandel Meyer AG unterscheidet: Im Aufsichtsrat seien verschiedene Posi-
tionen vertreten, die zum Wohle des Unternehmens ausgehandelt werden müssen.
Im Resultat führt diese Konstruktion zu einer mehrfachen Erwartungsent-
täuschung. Zunächst werden die Anteilseignervertreter im Anspruch der Mei-
nungsführerschaft und des Konsenses enttäuscht: Die Arbeitnehmervertreter
reklamieren eine eigene Position, die von der Position der Unternehmensführung
120 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

unterschieden ist und sich aus einer anderen Kontextur speist, die der Unterneh-
mensführung als irrational erscheinen muss. Auf der anderen Seite wird der An-
spruch der Arbeitnehmervertreter auf Anerkennung der eigenen Sprecherposition
und „wirtschaftlicher Mitbestimmung“ enttäuscht, stattdessen wird von ihnen die
Anerkennung der Deutungshoheit erwartet.
Damit entsteht in der Entscheidungsfindung nicht der Konsens im Sinne der
Anteilseignervertreter, sondern der „Deal“: Die Arbeitnehmervertreter legen den
Anspruch auf „wirtschaftliche Mitbestimmung“ zugunsten reiner Interessenver-
tretung nieder. Es kommt zu einer strukturell ähnlichen Sphärentrennung wie im
Aufsichtsrat der Einzelhandel Meyer AG, ohne dass jedoch die Doppelstimme als
legitimes Verfahren akzeptiert wird, das dieses Patt lösen könnte. Die Erwartungs-
haltung von Konsens auf der einen und Kompromiss auf der anderen Seite verbietet
dies. Stattdessen wird die Zustimmung zu einer Entscheidung im Sinne der An-
teilseignervertreter von einer Zustimmung zu einem anderen Punkt im Sinne der
Arbeitnehmervertreter abhängig gemacht. Ein Positivwert wird also je mit einem
Negativwert gekoppelt und beides gemeinsam entschieden. So wird Einstimmigkeit
hergestellt und beide Seiten erhalten Zustimmung zu ihren Zielen. Der Preis dafür
ist, dass sie gleichzeitig auch dagegenstimmen müssen. Entscheidungen werden da-
mit eine paradoxe Angelegenheit, die zu Frustration und Erwartungsenttäuschung
führt.

4.2.3 Zusammenfassung

Aufsichtsräte des Typs 1 zeichnen sich dadurch aus, dass die jeweils andere Sei-
te nicht als eigenständige Kontextur reflektiert wird: Die Arbeitnehmervertreter
betrachten die Anteilseignervertreter als Gegner, deren Positionen es im Interesse
der Arbeitnehmer zu durchkreuzen gilt. Die Anteilseignervertreter hingegen sehen
in den Arbeitnehmervertretern eine Gefährdung für eine wirtschaftlich rationale
Unternehmensführung. Entsprechend kommt es zu keiner Form der Zusammen-
arbeit.
Die klarste Form dieser Struktur wird am Beispiel der Einzelhandel Meyer AG
deutlich. Hier besteht von beiden Seiten kaum mehr der Anspruch, dass die je
andere Seite die eigene Position reflektiert. Die Arbeitnehmervertreter sehen die
Aufsichtsratsarbeit nur als Ort politischer Interessenvertretung. Sämtliche wirt-
schaftlichen Themen, die sich in diesem Sinne nicht formulieren lassen, werden
aus dem eigenen Zuständigkeitsbereich verwiesen. Andersherum betrachten die
Anteilseignervertreter die Arbeitnehmervertreter nur als Hindernis. Es besteht
auch kaum mehr der Anspruch, in einen Dialog zu treten. Diese Situation wird
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 121

in der Folge nur noch durch den Rückgriff auf die Formalstruktur aufgelöst: Die
Anteilseignervertreter überstimmen die Arbeitnehmervertreter mithilfe der Dop-
pelstimme des Aufsichtsratsvorsitzenden.
Komplexere Reflexionsverhältnisse zeigen sich im Fall der Hamburger Bankhaus
AG. Hier entwickelt die Anteilseignerseite den Anspruch, die Arbeitnehmervertre-
ter zu überzeugen. Die Arbeitnehmervertreter werden als eigene Reflexionsinstanz
konstruiert, denen Urteilsvermögen und Einsicht zugesprochen wird. Jedoch wird
diese Konstruktion sofort wieder negiert, indem der Anspruch aufgestellt wird,
dass Urteilsvermögen und Einsicht nur dazu führen können, dass sich die Arbeit-
nehmervertreter den Anteilseignervertretern anschließen.
Auch die Arbeitnehmervertreter weisen hier eine komplexere Struktur auf.
Diese zeichnet sich durch einen internen Widerspruch zwischen dem Anspruch,
die wirtschaftliche Dimension der Unternehmensführung mit zu prägen, und dem
Selbstverständnis, als politische Interessenvertretung Opposition gegenüber der
Unternehmensführung zu sein. Auch hier wird eine Reflexionsdimension aufge-
baut, die sofort wieder negiert wird.
In der Folge kommt es auch im zweiten Fall nicht zu einer Zusammenarbeit, nur
werden hier „Deals“ ausgehandelt. Es werden also solche Entscheidungen, an denen
die Arbeitnehmervertretung ein Interesse hat, mit solchen Entscheidungen, an
denen die Anteilseignervertretung ein Interesse hat, zu einem „Päckchen“ geschnürt
und zusammen entschieden – ohne dass es einen thematischen Zusammenhang
gibt. Die Folge ist eine ausgeprägte Erwartungsenttäuschung auf beiden Seiten.

4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik

Der erste vorgestellte Typus der Aufsichtsratspraxis zeichnete sich dadurch aus,
dass das Gremium in zwei Seiten zerfällt, die mit Referenz auf ihre eigene Kontextur
operieren. Auf der einen Seite steht eine Arbeitnehmervertretung, die gegenüber
den Vorständen und Anteilseignervertretern nahezu ausschließlich als Interessen-
vertretung fungiert. Die Arbeitgeber wiederum begreifen sich ausschließlich der
wirtschaftlichen Unternehmensführung verpflichtet und sehen die Arbeitnehmer-
vertreter eher als irrationales Hindernis. Zum Aufbau einer spezifischen Kontex-
tur der Aufsichtsratsarbeit kommt es nicht. Entscheidungen werden hier entweder
durch Doppelstimme erzwungen oder sie sind rein formal einstimmige Entschei-
dungen. Geteilte Interpretationen kommen so gut wie nicht vor.
Der hier vorgestellte Typus hat mit dem vorherigen einiges gemein. So zerfällt
auch hier der Aufsichtsrat klar in zwei Bänke, die mit ihrer primären Referenz auf
wirtschaftliche Unternehmensführung bzw. Politik arbeiten. Die Sphärentrennung
122 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

hinsichtlich vieler Themenbereiche, etwa der Bestellung von Finanzvorständen


oder Bilanzierungsfragen, wird auch hier aufrechterhalten. Schon auf Ebene der
beiden Bänke gibt es jedoch einige wesentliche Unterschiede.
Zunächst ist aufseiten der Arbeitnehmervertreter die betriebliche Arbeitneh-
mervertretung klar als primäre Referenz institutionalisiert. Während im Fall der
Einzelhandel Meyer AG klar eine gewerkschaftliche Referenz vorherrschte und
im Fall der Hamburger Bankhaus AG immer wieder Konflikte zwischen Gewerk-
schaftsvertretern und Betriebsräten auftraten, ist hier auch für die hauptamtli-
chen Gewerkschaftsvertreter klar, dass die betrieblichen Arbeitnehmervertreter
definieren, was das Arbeitnehmerinteresse ist. Zudem ist hier die „wirtschaftliche
Mitbestimmung“ klar als Aufgabe der Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat
bestimmt. Natürlich sei man den Arbeitnehmern im Betrieb verpflichtet. Doch
diese Verpflichtung wird vor allem darin gesehen, die Perspektive des Betriebs in
die Unternehmensführung einzubringen. Der „Betrieb“ wird damit als eine Art
transjunktionale Struktur installiert. Er lässt sich interessenpolitisch, aber auch
wirtschaftlich verstehen und die Arbeitnehmervertreter haben hier immer die
Möglichkeit, in beide Kontexturen zu wechseln. Gleichzeitig sind sie auf der poli-
tisch sicheren Seite, wenn sie den „Betrieb“ vertreten.
Auf der anderen Seite steht eine Anteilseignerseite, die ähnlich strukturiert ist
wie die Anteilseignerseite der Unternehmen des Typ 1. Auch hier gelten letztlich
Kollegialität und Hierarchie. Während jedoch in den Unternehmen des Typ 1 den
Anteilseignervertretern generell hohes Vermögen und gute Intention unterstellt
wird, wird hier immer wieder in Betracht gezogen, dass auch Anteilseignervertre-
ter manchmal nicht Recht haben können. Dies kann verschieden ausgedrückt wer-
den. Manchmal wird eine zu stark finanzmarktorientierte Perspektive der Banken
kritisiert, manchmal ist es auch persönliches Versagen von „Egomanen“ und „Al-
phatieren“, das die Intervention des Aufsichtsratsvorsitzenden nötig macht. Damit
wird die Einheit der Anteilseignerseite hier potenziell aufgebrochen, indem auch
teilweise Anteilseignervertretern Irrationalität attribuiert werden kann. Und da der
Aufsichtsratsvorsitzende festlegt, was rational und irrational ist, bieten sich hier
gute Möglichkeiten der Kompromissbildung mit den Arbeitnehmervertretern. Vor
allem aber wird hier ein Pendant zum „Betrieb“ der Anteilseignervertreter geschaf-
fen: Es geht darum, die bestehenden Verhältnisse zu bewahren. Damit erscheint
das Unternehmen hier nicht als disponible Masse, über welche die Anteilseigner-
vertreter verfügen können. Sondern es erscheint als eigene Instanz, die der wirt-
schaftlichen Reflexion vorgeordnet wird.
Diese Konstellation bietet eine Ausgangsposition für eine Schnittfläche, die einen
gemeinsamen Deutungsraum für Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreter ermög-
licht. Dieser kann in den meisten Fällen mit dem Begriff „Betrieb“ gefasst werden.
Eine gewisse Distanz der Anteilseignervertreter zu reiner Finanzmarktorientierung
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 123

und die Befürwortung konfliktfreier und stabiler Unternehmensentwicklung auf


der einen und die Orientierung an der Perspektive des „Kollegen aus dem Betrieb“
auf der anderen Seite schaffen einen Raum, in der stabiles Erwartungsmanagement
möglich wird. Doch können die Anteilseigner- von den Arbeitnehmervertretern
als diejenigen anerkannt werden, die unternehmerische Strategien entwickeln und
Finanzen beherrschen. Die Perspektive der Arbeitnehmervertreter wiederum kann
als Bereicherung des Aufsichtsrats gesehen werden. Dies hebt freilich die Differenz
der Bänke nicht auf. Diese Primärreferenz der anderen Seite wird jedoch stets mit-
geführt und reflektiert, so dass es nur sehr selten zu Erwartungsenttäuschungen
kommt.
Entsprechend herrscht unter dem Vorzeichen „des Betriebs“, des „gegenseitigen
Vertrauens“, der „Akzeptanz“ oder einer ähnlichen Semantik eine klare Kompro-
missorientierung. Beide Seiten sind bestrebt, eine Entscheidung zu treffen, die von
allen Beteiligten nicht als „Deal“ angesehen wird, sondern sowohl politisch als auch
wirtschaftlich tragbar erscheint. Das heißt freilich nicht, dass es immer zu Einstim-
migkeit kommt. Doch wenn Einstimmigkeit nicht erreicht wird, kommt es hier
in der Regel zu vorher besprochenen sehr selektiven Stimmenthaltungen, die von
beiden Seiten akzeptiert werden. Die Doppelstimme wird praktisch nie gezogen.
Selbst einzelne Gegenstimmen sind nicht die Regel.
Verbreitet ist diese Form der Entscheidungsfindungspraxis vor allem in mittelgro-
ßen Konzernen der produzierenden Industrie. Strukturell sind diese Unternehmen
zumeist in Streubesitz oder haben einen Großaktionär, der keinen maßgeblichen
Einfluss auf die Unternehmensführung nimmt. Der Einfluss einer Gründerfamilie
ist hier – wenn vorhanden – tendenziell eher gering. Die Arbeitnehmerschaft
auf der anderen Seite weist zumeist einen sehr hohen Organisationsgrad auf. Die
Homogenität der Arbeitnehmerseite ist hoch. Zumeist ist nur eine Gewerkschaft
vertreten und die betrieblichen Arbeitnehmervertreter sind über dieselbe Liste in
den Aufsichtsrat gewählt worden. Jedoch gab es auch Fälle im Sample, die mehrere
Vertreter mehrerer Gewerkschaften im Aufsichtsrat hatten und deren betriebliche
Arbeitnehmervertreter über verschiedene Listen zu ihrem Mandat gekommen sind.
Diese Gewerkschaften waren jedoch auch stets traditionelle DGB-Gewerkschaften
mit industriellem Hintergrund (Chemie, Metall, Bau etc.). Wesentliche Änderun-
gen in der Zusammenarbeit ließen sich hierdurch jedoch nicht erkennen.

4.3.1 Augsburger Maschinenwerke: Der „Betrieb“


als Schnittfläche

Der Aufsichtsrat der Augsburger Maschinenwerke zeigt einige strukturelle Pa-


rallelen zu den bisher vorgestellten Gremien. Wie dort zerfällt auch hier der
124 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Aufsichtsrat klar in zwei Bänke. Die Anteilseignervertreter sehen sich hier für
die Unternehmensführung verantwortlich und qualifiziert. Gleichwohl erwarten
sie von den Arbeitnehmervertretern jedoch ebenso eine Verpflichtung auf das
Unternehmensinteresse und keine reine Interessenpolitik. Im Unterschied zu den
Unternehmen des ersten Typs wird den Arbeitnehmervertretern hier eine gewisse
Kompetenz zugesprochen, die externe Anteilseignervertreter nicht mitbringen: Sie
verfügen über betriebsinternes Wissen, das als Ressource für den Aufsichtsrat gese-
hen wird. Die Arbeitnehmervertreter werden hier also als eigene Reflexionsinstanz
konstruiert, ohne dass die Konstruktion sofort wieder durch den Anspruch eines
Besser-Wissens negiert wird.
Die Arbeitnehmervertreter wiederum sehen sich primär als Arbeitnehmer-
vertreter. Anders als in den bisherigen Beispielen dominiert hier jedoch eine
Orientierung, die sich im Fall der Hamburger Bankhaus AG mit dem Motiv der
„wirtschaftlichen Mitbestimmung“ schon angedeutet hat. Im vorliegenden Fall ist
eine klare Orientierung am Betrieb zu erkennen. Die Arbeitnehmervertreter sind
durch die Perspektive der Betriebsräte geprägt und haben den Anspruch, die Stim-
me der Mitarbeiter zu sein – dies jedoch nicht nur als Interessenvertreter, sondern
in einem weiteren Sinne. Man sieht sich hier auch darauf verpflichtet, „gesunden
Menschenverstand“ in den Aufsichtsrat einzubringen, der den Anteilseignervertre-
tern teilweise abgesprochen wird. Es geht darum zu zeigen, was hinter den „Kenn-
zahlen“ in der Bilanz liegt.
Mit dieser Orientierung geht gleichsam ein „double bind“ einher, wie er sich
teilweise auch im Fall der Arbeitnehmervertreter der Hamburger Bankhaus AG
zeigte: Man sieht sich für das wirtschaftliche Wohlergehen des Betriebs mitverant-
wortlich und ist damit Teil der Unternehmensführung. Gleichzeitig jedoch heißt
Arbeitnehmervertretung auch hier Interessenvertretung gegen die Unternehmens-
führung, gegen die Kapitalvertreter. Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat wird
hier also als Verschachtelung einer wirtschaftlichen und einer politischen Kontex-
tur begriffen: Es geht um wirtschaftliche Verantwortung und politische Legitimität.
Die politische Kontextur bleibt jedoch vorgeschaltet und konditioniert die wirt-
schaftliche Diskursfähigkeit.
Eine generelle Kompromissorientierung kann auf dieser Struktur aufbauen, da
beide Seiten einander als Reflexionsinstanzen begreifen, deren Meinung berück-
sichtigt werden muss. Kommt es dennoch zu kritischen Entscheidungen, bei denen
die Anteilseignervertreter nicht kompromissbereit sind und ihre „unternehmeri-
sche Kompetenz“ einklagen, stehen verschiedene Techniken des Umgangs bereit.
Zunächst besteht die Möglichkeit des „Re-Framings“: Ein Interessenkonflikt zwi-
schen Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretern wird in eine Sachfrage umde-
finiert. Hier können sich die Arbeitnehmervertreter überzeugen lassen. Aus dem
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 125

politischen wird der wirtschaftliche „Betrieb“. Sollte eine Entscheidung dennoch


zu problematisch sein, etwa wirtschaftlich notwendige, massive Stellenkürzungen,
so enthalten sich die Arbeitnehmervertreter der Stimme. Sie legen inhaltlich damit
weder die Priorität auf Politik noch auf Wirtschaft, sondern lehnen den Konflikt ab.
Gleichzeitig verhindern sie die Doppelstimme und ermöglichen die von ihnen als
wirtschaftlich notwendig erachtete Entscheidung.

4.3.1.1 Anteilseignervertretung: Exklusion der „Egomanen“


Wenn sich auch im Fall des Aufsichtsrats der Augsburger Maschinenwerke letztlich
eine völlig andere Form der Zusammenarbeit ergibt, so ist die Grundstruktur der
Anteilseignervertreter hier ähnlich wie im Fall der Hamburger Bankhaus AG oder
von Einzelhandel Meyer. Es handelt sich hier um dieselbe Grundstruktur, die sich
in nahezu jedem Unternehmen auf Anteilseignerseite finden lässt und die vermut-
lich auf den hohen Grad von Vernetzung der Manager untereinander und ähnliche
Karrierewege begründet ist. Auch hier sind es vor allem die Begriffe Hierarchie und
Kollegialität, welche die Zusammenarbeit prägen. Besonders interessant ist hier-
bei ein Interview mit einem Anteilseignervertreter, der sich selbst Freiheit von den
Zwängen der Kollegialität attribuiert, da er eine Karriere außerhalb der klassischen
Laufbahn genommen hat:

Befragter: Also ich würde keine Mandate annehmen, (.) bei denen ich mich nicht sozu-
sagen äh hinreichend selber kompetent fühle. Ich bin ja aus meinem jugendlichen Alter
raus, wo man noch Dinge riskiert, wo man sagt, irgendwie kommst du da rein.
Interviewer: (lacht).
Befragter: Äh i-ist-ist-ist mir auch zu anstrengend, ich will mich auch gar nicht mehr
verstecken, ich sag (.) was, wie mir der Schnabel gewachsen ist und ich habe einfach
gelernt, in manchen Gremien (.), ich bin häufig auch ganz schnell von allen der Unab-
hängigste (.), weil mir kann überhaupt keiner was, mich kann man nur rausschmeißen.
Interviewer 2: Ja.
Befragter: Und ...
Interviewer: Ist ein bisschen außen vor in den ganzen Netzwerken.
Befragter: … und das ist eben in (.), äh in der Deutschland AG nicht immer der Fall. Das
ist ja auch das, was eigentlich [der Vorsitzende der deutschen Corporate Governance
Kommission] und andere (.) vertreten wollten (.) und äh-äh und ich bin auch gewohnt,
in einem System zu leben, wo man auch ohne die Beziehungen (.) äh zu zerstören, auch
(.) hart und kantig sein kann und ich glaube, solche Rollen, die braucht es dann auch
und wenn man eben, das habe ich [außerhalb klassischer deutscher Unternehmen] auch
erarbeitet, ja, wenn mir einer zu sehr, an die Karre fahren würde, dann würde ich von
heute auf morgen hier gehen und ich wäre gut versorgt und hätte genügend Interessantes
zu tun und so sehe ich das in diesen Aufsichtsräten eben auch, das ist nicht nur Fach-
kompetenz, sondern (.) ich glaube, es ist immer wichtig, dass man (.), ja, dass man äh
den Schnabel so hat, dass man sich auch wirklich traut, sich einzubringen und dass man
das auch riskiert und äh ich hatte schon mehrere Auftritte in solchen Gremien, wo man
126 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

(.), wo ich selber, wenn ich da zugehört hätte, gesagt hätte, och (..) ist jetzt nicht besser,
wenn wir den [Name Befragter] mal verabschieden da, das ist ja wirklich ein unange-
nehmer Genosse, also (.) ja und ich glaube, das ist auch ein bisschen meine Rolle, ich bin
eben (.), ich bin nicht über irgendeine Ecke wieder angreifbar, weil ich in einem anderen
Gremium bin, wo ich den einen als Aufsichtsrat habe, den ich jetzt hier beaufsichtige.

Er, so der Befragte, fühle sich ausreichend kompetent für die Arbeit im Aufsichts-
rat. Zudem könne er reden, wie ihm „der Schnabel gewachsen ist“, da er nicht auf
die Netzwerke der anderen Rücksicht nehmen müsse. Er habe gelernt, dass man
auch offen reden könne, und habe außerhalb der deutschen Managerszene noch
ausreichend Möglichkeiten, sich zu betätigen. So sehe er im Aufsichtsrat auch seine
Rolle darin, ein „unangenehmer Genosse“ zu sein. Es gehört hier also zur Rolle
des Anteilseignervertreters, kontroverse Positionen zu beziehen und unangenehme
Fragen zu stellen, damit alternative Perspektiven eröffnet werden, auch wenn diese
nicht der vorherrschenden Meinung entsprechen.
Dieses Zitat, in dem der Befragte sich klar als jemand darstellt, der sich über
die kontroverse Gegenrede definiert, kontrastiert auffallend mit einer Passage aus
demselben Interview. Darauf angesprochen, ob es für den Aufsichtsratsvorsitzen-
den ein Problem sei, wenn jemand anders über größere Kompetenz in einem Be-
reich verfüge, antwortet der Befragte Folgendes:

Befragter: Das müssen Sie ja, wenn Sie (.), wenn Sie größere hm-hm Gremien mit großen
Kompetenzen (.) leiten und ich sag mal, (.) eigentlich sollte jemand-je-jeder in so einem
(.) DAX- oder MDAX-Unternehmen, jeder, nicht nur der Vorsitzende über solche Erfah-
rungen verfügen (.), wenn man sich eben auch qualifizierter und disziplinierter beneh-
men kann (.), wenn man solche (.), solche Ansammlungen von eben, unter anderem
auch Alphatierchen äh neben den Kompetenzverteilungen domptieren muss.
Interviewer: (lacht).
Befragter: Äh-äh-äh, we-ich sag mal, das ist jetzt keine (.), kein Hexenwerk, äh so etwas
qualifiziert zu führen. Ich meine, auch ein-ein Aufsichtsratsvorsitzender muss ja im
Zweifelsfall (.) die-die Einzelthemen mal eben in der Lage sein, vertieft hineinzugehen
und die Sitzung dahinein zu moderieren und dafür zu sorgen, dass die, die er für jetzt
die Experten in dem Aufsichtsrat hält, (.) sozusagen auf die Bühne zu locken und die zu
nötigen, sozusagen den Challenge jetzt für den Vorstand da zu machen.

Man müsse damit umgehen können, dass die anderen Mitglieder des Gremiums
kompetent seien, wenn man ein solches führe. Es seien „Alphatierchen“ zu „domp-
tieren“. Dies jedoch sei kein Hexenwerk und auch der Aufsichtsratsvorsitzende
müsse sich in den Themen auskennen, um die Experten entsprechend einsetzen
zu können.
Die Formulierung des „Domptierens“ von „Alphatierchen“ erinnert nicht zufäl-
lig an die Formulierung „Dompteur eines Flohzirkus“, die eine ähnliche Situation
im Aufsichtsrat der Hamburger Bankhaus AG beschreibt (S. 99). Hier erscheint der
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 127

Aufsichtsrat als ein Durcheinander einzelner Personen, die in verschiedene Rich-


tungen streben und vom Aufsichtsratsvorsitzenden erst auf Linie gebracht werden
müssen. Dieser steht in der Verantwortung, die abweichenden Meinungen einzu-
fangen und im Zweifelsfall zu entscheiden, wie die Anteilseignerseite sich positio-
niert.
In der komparativen Analyse ergeben beide Interviewpassagen ein Bild, das
dem der anderen Unternehmen entspricht. Sogar eine Person, die für sich in An-
spruch nimmt, Erwartungshaltungen zu enttäuschen und sich mit abweichenden
Meinungen zu profilieren, erkennt die Position des Aufsichtsratsvorsitzenden an.
Die Abweichung im Verhalten überschreitet nie die Grenze der impliziten Hierar-
chie auf Anteilseignerseite. Selbst ein enfant terrible, das sich selbst ganz explizit in
der Rolle des Provokateurs sieht, würde nie auf die Idee kommen, das Autoritätsge-
füge des Gremiums infrage zu stellen.
Professionalität eines Anteilseignervertreters meint hier also zweierlei.
Zum einen muss die eigene Meinung artikuliert werden. Das eigene Können
und die eigene Perspektive müssen dargestellt werden. In diesem Sinne ist der
Anteilseignervertreter eine „unabhängige Persönlichkeit“, eine eigene Kontextur,
ein Reflexionsraum mit eigener Selbstreferenz und eigener Positivstruktur. Nur
dies ermöglicht den Diskurs unter Kollegen. Gleichzeitig wird aber die Anforde-
rung der Organisation zur Entscheidungsfindung stets mitgeführt. Für den Einzel-
nen heißt dies, dass er sich in der Entscheidungssituation der Mehrheitsmeinung
bzw. der Meinung des Aufsichtsratsvorsitzenden anschließt. Professionalität heißt
dann, an der richtigen Stelle reden oder schweigen zu können. Der „kontroverse
Diskurs“ zwischen Anteilseignervertretern, die alle mittels totaler undifferenzierter
Rejektion als eigene Reflexionsinstanzen konstruiert werden, wird sofort wieder
aufgefangen, wenn es um die Einheit der Anteilseignervertretung geht.
Diese Kontextur der Anteilseignervertretung unterscheidet sich zunächst nicht
von der Positionierung in Gremien des Typs 1. Jedoch findet sich in dem Begriff
der „Alphatierchen“ ein Anschluss, der weiter ausgebaut wird. Denn während der
„Flohzirkus“ im Fall der Hamburger Bankhaus AG nur kontroverse Reflexionsins-
tanzen bezeichnet, die jedoch alle weiter als kompetent und legitim gegenüber der
Position der Arbeitnehmervertreter erscheinen („Da ist das Unternehmen als Gan-
zes im Blickfeld.“), bekommt das „Alphatierchen“ hier eine weitere Facette (Inter-
view Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Äh (.) wenn ein ehrgeiziger Mann, wie [Name], (.) von mir jahrelang aufge-
baut, (.) jahrelang aus der Hand gefressen, (.) plötzlich mutiert der (.) zum Großkotz, (.)
und das-das können Sie gar nicht glauben, so schnell geht das. (.) Das können Sie über-
all in der deutschen Wirtschaft verfolgen, überall. Also fast-fast jeder Führungswechsel
(.) führt dazu, dass der Neue (.) alles ganz anders machen will, Change ist ja das aller
128 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

wichtigste Wort in der (.) Gesellschaft geworden, Change. Ja, äh-äh für mich war immer
Kontinuität das wichtigste Wort (.) und zwar nicht we-, ich sagte, ich muss mich ver-
wirklichen, nein, der erste Job, den ich habe, (.) ich muss für die Kontinuität, (.) also
Zukunftssicherheit (.) meines Unternehmens sorgen. (.) Das tue ich entweder mit sparen
oder mit wachsen oder mit expandieren o-, ich tue es aber nicht, wenn ich jetzt in der
Zeitung oder im Publikum als der große (.) Entwickler dastehen will oder als der große
Sanierer, sondern ich tue es, weil ich meine Aufgabe, die Kontinuität des Unternehmens
zu sichern, (.) als persönliche Aufgabe verstehe. Und das, können Sie mal durchgehen,
(.) die Managementwechsel, äh der letzten 20 Jahre, (.) da werden Sie immer sehen oder
vielfach sehen, (.) dass der neue Mann (.) es ganz anders machen wollte.

Er habe einmal die Karriere eines ehrgeizigen Managers gefördert, so der Befragte,
der, sobald er einen wichtigen Posten bekommen habe, zum „Großkotz“ geworden
sei. Dies sei ein typisches Muster und in vielen Unternehmen zu finden. Sobald
eine neue Person einen Vorstandsposten übernommen habe, wolle diese sich pro-
filieren und alles ändern. Gute Unternehmensführung jedoch zeichne sich durch
Beständigkeit und Sorge um die sichere Zukunft des Betriebs aus.
Die im vorherigen Zitat angesprochenen „Alphatierchen“ sind sicher nicht das,
was hier als „Großkotz“ bezeichnet wird. Jedoch wird hier ein Motiv elaboriert, das
in Unternehmen des Typs 1 kaum auffindbar ist: der fehlerhafte Manager. In die-
sem Fall handelt es sich um eine überambitionierte Person, die keinen Respekt vor
einer bestehenden Ordnung hat und das Unternehmen den eigenen Ambitionen
und der eigenen Karriere unterordnet. Gegen diesen negativen Vergleichshorizont
wird eine nachhaltige und bewahrende Unternehmensführung stark gemacht. Ma-
nagement in diesem Sinne ist Organisationsmanagement. Es geht nicht darum, in
der vorgefundenen Ordnung eine disponible Masse zu sehen, die nach Belieben
geformt werden kann, sondern die bestehende Ordnung als solche zu akzeptieren
und an ihrer Aufrechterhaltung zu arbeiten.
Diese Orientierung hat zwei Folgen für die Aufsichtsratsarbeit. Zunächst einmal
lässt sich hier zumindest die theoretisch eingestandene Möglichkeit eines Bruchs auf
Anteilseignerseite feststellen. Nicht alle Anteilseignervertreter entscheiden notwen-
dig immer richtig. Nicht alle Manager sind prinzipiell am Wohl des Unternehmens
interessiert. Vielmehr gibt es solche, die ihre eigene Karriere über den Bestand des
Unternehmens stellen. Diese Figur öffnet die Kontextur der Unternehmensführung
für Anschlüsse zur Arbeitnehmervertretung. Denn der Aufsichtsratsvorsitzende
sieht seine Aufgabe hier nicht primär in Differenz zu den Arbeitnehmervertretern.
Während in den Aufsichtsräten des Typs 1 gute Unternehmensführung immer in
Abgrenzung zu den Arbeitnehmervertretern definiert wird, wird sie hier in Ab-
grenzung zu schlechtem Management gefasst. Darüber hinaus wird sie explizit als
Bewahrung des Unternehmens gefasst. Dies ist der zweite Punkt. Das Unterneh-
men erscheint hier nicht als disponible Masse, die den Anteilseignervertretern zur
Verfügung steht. Vielmehr wird die Anteilseignervertretung dem Unternehmen
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 129

untergeordnet. Damit wird eine Unterscheidung eingeführt, welche die Kontextur


des Wirtschaftlichen sprengt. Es handelt sich um eine totale undifferenzierte Re-
jektion, um die Einführung einer Kontextur, die im Rahmen des Wirtschaftlichen
nicht vollständig zu fassen ist, diesem aber vorgeordnet wird. Dies ermöglicht auf
inhaltlicher Ebene Anschlussmöglichkeiten zu den Arbeitnehmervertretern (vgl.
4.3.1.2 Arbeitnehmervertretung: Nachhaltiges Wirtschaften durch „gesunden
Menschenverstand“).

Befragter: Naja, gut, ich sage mal, wir sind alle sozialverträgliche Menschen, ja. (.) Also
das ist nicht das einzige Gremium, in dem wir sitzen. Das ist ja ein tag-tagtägliches
Geschäft, wir haben je-jede Stunde haben wir irgendwo zehn, 20 Leute, mal fünf Leute,
mal Einzelgespräche, wo wir mit Teams arbeiten, jeder kennt das ja. So und jetzt äh
sozialisiert sich jemand auch in diesem Gremium. Da bringt man seine Meinung ein und
da sagt man auch mal seine Meinung, da ist man auch mal dagegen, aber jeder weiß, wir
müssen gemeinsam einen Kompromiss finden, das ist ja die gemeinsame Zielsetzung.
Man hat ja eine gemeinsame Aufgabe, das Unternehmen zu sichern. So, dann äh und
die äh, ich sage mal, die Egomanen, die dann aus der Industrie irgendwann sowieso aus-
geschieden, (.) irgendwann fallen die sowieso raus. Die halten sich eine Zeit lang, aber
dann werden die ausgeschieden irgendwann.

Die Anteilseignervertreter der Augsburger Maschinenwerke seien alle „sozialver-


trägliche Menschen“, die auch in anderen Gremien Erfahrungen gemacht hätten.
Kontroverse Meinungen könnten dort eingebracht werden, doch letztlich gehe es
darum, einen Kompromiss zu finden. Denn Ziel der Diskussion sei der Erhalt des
Unternehmens. Diejenigen, die dies nicht verstünden und nur auf sich selbst ach-
teten, die „Egomanen“, würden es in der Industrie überhaupt nicht bis in den Auf-
sichtsrat schaffen.
Wie auch in dem vorherigen Zitat zeigt sich hier eine Struktur, die auf den ersten
Blick der Anteilseignerseite der vorherigen Unternehmen ähnelt. Auch dort wird be-
tont, dass es allen Beteiligten um das Unternehmen ginge. Die Anteilseignervertreter
sehen sich in ihrer Selbstbeschreibung für dieses zuständig und verantwortlich.
Dabei deutet sich auch hier an, dass der gesamte Aufsichtsrat – also auch die
Arbeitnehmerseite – in dieser Verantwortung gesehen wird. Wenn etwa die Rede
von zwanzig Personen ist, die in einem Aufsichtsrat zusammenarbeiten, so kann
damit nur der gesamte Aufsichtsrat eines großen DAX-30-Konzerns gemeint sein.
Insofern zeigt sich hier eine Parallele zum Aufsichtsrat der Hamburger Bankhaus
AG: Auch die Arbeitnehmervertreter werden als verantwortlich für das Unterneh-
menswohl betrachtet.
In der komparativen Analyse lassen sich jedoch zwei wesentliche Unterschie-
de erkennen. Zunächst ist nicht von einem Konsens die Rede, sondern von einem
Kompromiss. Während im Fall des Aufsichtsrats der Hamburger Bankhaus AG
klar die Anteilseignervertreter das Wohl des Unternehmens definieren und die
130 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Arbeitnehmervertreter in der Rolle der Interessenvertretung gesehen werden, deu-


tet sich hier schon an, dass nicht in der Entscheidung der Anteilseignervertreter das
Unternehmenswohl verortet ist, sondern im Kompromiss der Beteiligten. Darüber
hinaus werden hier nicht die Arbeitnehmervertreter als negativer Vergleichsho-
rizont herangezogen. Es sind hier keine „uneinsichtigen“ Arbeitnehmervertreter,
deren Verhalten illegitimen Partialinteressen attribuiert wird, sondern „egomane“
Manager, die nicht kompromissfähig sind. Darüber hinaus erscheint der Aufsichts-
rat als eigene Instanz. Ähnlich wie das Unternehmen, das es zu bewahren gilt und
das den Anteilseignervertretern vorgeordnet wird, gibt es hier den Aufsichtsrat, in
dem man sich zusammenfinden muss. Der Aufsichtsrat wird in diesem Sinne als
eigene Kontextur betrachtet. Er hat seine eigene Regelhaftigkeit und man darf nicht
den Anspruch haben, diese unter die eigene zu subsumieren.
Diese Perspektive heißt freilich nicht, dass bei den Arbeitnehmervertretern
ebenso viel Kompetenz gesehen wird wie aufseiten der Anteilseignervertreter. Die-
se bleiben weiterhin die Hüter der rationalen Entscheidungsfindung. Die Definiti-
onsmacht über das, was richtige Unternehmensführung heißt, wird immer noch
aufseiten der Arbeitgeber, also der Anteilseignervertreter und der Vorstände gese-
hen. Ebenso wird die Trennung der Bänke nicht aufgehoben. Selbst wenn es aufsei-
ten der Arbeitgeber einmal einen „Egomanen“ geben sollte, so stellt man sich nicht
mit den Arbeitnehmervertretern gegen diesen „Egomanen“.
Allerdings wird eine Aufgabe des Managements darin gesehen, Entscheidungen
so zu treffen, dass man die Zustimmung der Arbeitnehmervertreter hat. Nicht nur
wird so den Arbeitnehmervertretern innerhalb eines bestimmten Rahmens Kom-
petenz zugemessen – sie wissen, was im Betrieb passiert. Zudem wird erwartet, dass
ein guter Manager seine Angestellten hinter sich hat, und zwar in dem Sinne, dass
er die Reflexion dieser Angestellten auffängt (Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Das will ich Ihnen sagen. (.) N-, ich wäre nie als Vorstandsvorsitzender (.) ein-
fach so über die Meinung des Betriebsratsvorsitzenden weggegangen, nie. Das dankt der
mir auch bis heute, (.) siehe Brief, den Sie da, den ich gerade zitiert habe. Mit dem habe
ich 20 Jahre zusammengearbeitet. Das macht man nicht. Man-man nimmt den anderen
ja ernst, man hört seine Argumente.
Interviewer 1: M-hm.
Befragter: Man weiß ja, warum er das vorträgt. Man sieht ja, ob das jetzt ein reines (.)
äh (.) Klientelargument ist (.) oder ob das ein sinnvolles unternehmerisches Argument
ist. Und wenn der ein sinnvolles unternehmerisches Argument hat. (.) Ich erinnere, äh
[Bauteil], [Maschine] bei [Maschinenbauer]. (.) Klar, (.) das hat der ganze Vorstand
falsch beurteilt, vor allen Dingen, der damals, der technische Vorstand war. Ich habe
dabei gesessen, ich dachte, ich höre nicht richtig. Ich konnte mich dann auch gar nicht
mehr einmischen, man kann ja nicht dem (.) Mitarbeitervertreter dann Recht geben,
gegen den Vorstand, das macht man, da gibt es also ein Kodex.
Interviewer 2: Aber wa-warum nicht? Also ganz naiv gefragt.
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 131

Befragter: Ja, (..) eigentlich ist das so klar vorgetragen, (.) dass der Vorstand eigentlich auf
das Argument alleine reagieren mü-, ich verstehe ja auch nichts von [Bauteil]. (.) Ich kann
ja jetzt höchstens beitragen, hören sie mal, ich würde an ihrer Stelle aber besser auf meine
Mitarbeiterratschläge hören. (.) Ist der Satz, es wäre zwar richtig. Aber (.) das sind ja alles
gescheite Menschen, das wissen die auch so. Also dazu brauchen wir jetzt nicht, es ist ja
nicht zur Abstimmung gekommen, wenn es zur Abstimmung gekommen wäre, wäre es
eine andere Sache gewesen. Aber das war ein Meinungsbildungsprozess. Jetzt ein Schlau-
meiersatz vom [Name eigene Person] oben drauf, (.) Herr [Name], ich würde aber auf
das Argument der Mitarbeitervertreter mit dem [Bauteil] hören an ihrer Stelle. (.) Hm ...
Interviewer 1: Sagen Sie ...
Befragter: … das ist Wichtigtuerei ohne Wirkung.
Interviewer: Aber sagen Sie dem das dann im Vieraugengespräch vielleicht?
Befragter: Ja, natürlich, selbstverständlich. Auch dem Vorsitzenden, auch dem Vorsit-
zenden, Leute, das, (.) ich verstehe nichts von diesen [Bauteilen], (.) aber das scheint mir
ein Argument zu sein, was ihr nicht/ (.) da haben die dagegen argumentiert, mit highly
sophisticated [mechanischer Ablauf], die durch [Optimierung eines anderen Bauteils]
verändert wird und dann sind die [Probleme] gar nicht mehr da. Man hört es schon
an der Erklärung, (.) dass das irgendwann mal (.) so sein wird, aber niemals (.) in den
nächsten fünf Jahren.

In seiner aktiven Zeit als Vorstandsvorsitzender, so der Aufsichtsratsvorsitzende,


habe er nie gegen den Betriebsrat entschieden. Wenn dieser gute Argumente und
keine „Klientelargumente“ vorbringe, nehme man ihn selbstverständlich ernst. Da-
raufhin führt der Befragte ein Negativbeispiel auf, das sich in einem Aufsichtsrat
zugetragen hat, in dem er Mitglied war. Ein Betriebsrat habe hier dem Vorstand
gesagt, dass man ein Bauteil einführen müsse, um ein Problem zu lösen. Die Argu-
mentation des Betriebsrats sei ihm schlüssig vorgekommen, der Vorstand habe sie
jedoch nicht ernst genommen. Aufgrund eines „Kodex“ habe er jedoch nicht inter-
venieren können. Auf Nachfrage hin wird ausgeführt, dass eine Intervention hier
keine Wirkung gezeigt und er nur als „Schlaumeier“ dagestanden hätte. Daher habe
er später unter vier Augen mit dem Vorstand geredet und auch dessen Erklärung
habe er nicht befriedigend gefunden.
Aus dieser Passage wird mehreres klar. Zunächst erscheint der Betriebsrat hier
durchaus als kompetenter Sprecher. Er ist nicht derjenige, der von der Position der
Arbeitgeber überzeugt werden muss. Vielmehr muss der Vorstand von der Position
des Arbeitnehmervertreters überzeugt werden. Damit werden auch an dieser Stelle
die klaren Linien zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern aufgebro-
chen. Hier sind nicht nur die Arbeitgeber die einzig kompetenten Personen, die zu-
dem am Unternehmenswohl interessiert sind. Vielmehr erscheint hier ein einzelner
Arbeitgeber, ein „Egomane“, uneinsichtig.
Gleichzeitig wird jedoch auch klar, dass diese Differenz nicht die primäre Logik
ist, nach der die Anteilseignerseite arbeitet. Wenn auch in der Selbstbeschreibung
132 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

das bessere Argument zählt, muss die Einheit der Anteilseignerseite und des Vor-
stands gegenüber den Arbeitnehmervertretern aufrechterhalten werden. Wenn der
Vorstand auch noch so inkompetent ist – diese Inkompetenz darf man vor den
Arbeitnehmervertretern nicht demonstrieren. Die Arbeitgeber wahren so ihre Ho-
heit als Entscheider und Sprecher der richtigen unternehmerischen Entscheidung.
Diese Aufrechterhaltung ist jedoch nicht nur ein mikropolitisches Spiel (im Sin-
ne von Crozier und Friedberg 1979). Es geht hier zwar auch, aber nicht einzig und
allein darum, eine Machtposition innerhalb der Organisation aufrechtzuerhalten.
Vielmehr muss eine Kontextur, die an dieser Stelle einbricht, bewahrt werden. Hier
wird der Begriff des „Egomanen“ wichtig. Entscheidet ein Manager falsch, so ist
dieses falsche Verhalten an dieser Stelle stets persönlich zu attribuieren. Es wird
eine totale undifferenzierte Rejektion vorgenommen und der störende Wert aus
dem Raum der Anteilseignervertretung in die Kontextur einer Person verbannt. Es
ist persönliches Fehlversagen, nicht aber ein strukturelles Problem. Die Möglich-
keit der falschen Entscheidung ist immer nur auf Ausnahmefälle zurückzuführen.
Generell wird jedoch von der Fähigkeit zum richtigen Entscheiden ausgegangen.2
Diese wiederum wird dann wieder dem Management, nicht aber den Arbeitneh-
mervertretern zugerechnet. So ist dann etwa der Aufsichtsratsvorsitzende auch in
der Lage, darüber zu entscheiden, ob es sich bei einem vorgebrachten Argument der
Arbeitnehmervertreter nun um ein „unternehmerisches-“ – also ein gutes – oder
ein „Klientelargument“ – also ein schlechtes – handelt. Denn die Arbeitnehmerver-
treter sind aus Perspektive der Arbeitgeber hierzu nicht in der Lage. Zurechnungs-
fähigkeit im unternehmerischen Sinne kann ihnen eben nur situativ nach Ermessen
der Arbeitgeber zugerechnet werden, die grundsätzlich über höhere unternehmeri-
sche Einsicht verfügen. Stellt man fest, dass dies nicht so ist, also ein Arbeitnehmer-
vertreter etwas besser weiß, ohne dass der Arbeitgeber dies erkennt, wird der Fall
pathologisiert: Es handelt sich um einen „Egomanen“. Auf diese Weise vermögen
die Arbeitgeber ihre Deutungshoheit sowie ihren Anspruch auf Rationalität bei
gleichzeitiger Offenheit gegenüber den Arbeitnehmervertretern aufrechtzuerhal-
ten. Sie bleiben die Herren der wirtschaftlichen Kontextur und können hier andere
Reflexionsinstanzen zulassen, solange sie diese wieder bei Bedarf rejizieren können.
Diese Möglichkeit der Rejektion muss freilich abgesichert werden. Es bedarf
einer Konstruktion, die es innerhalb der wirtschaftlichen Kontextur erlaubt, Spre-
cherpositionen zu limitieren. Diese Konstruktion wird durch die Attribution von
Kompetenz geleistet. Die Kompetenz der Arbeitnehmervertreter wird auf Beiträge

2
Wie etwa auch die objektive Hermeneutik von der Möglichkeit der richtigen Hermeneutik
ausgehen kann, solange der Hermeneut kein „Egomane“ ist (vgl. etwa Oevermann et al. 1979,
S. 392 ff)
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 133

beschränkt, die mit der unmittelbaren Praxis des Betriebs zu tun haben. Sphären
kaufmännischer oder managerialer Praxis sollten entsprechend gegenüber den
Arbeitnehmervertretern verschlossen sein. So äußert sich etwa ein Anteilseigner-
vertreter in einem Interview über gestiegene Kompetenzanforderungen folgender-
maßen:

Befragter: Der [Prüfungsausschussvorsitzende] gibt dann seinen Bericht ab, dann wer-
den die Zahlen noch mal irgendwie äh grob zusammengefasst dargestellt, aber da ist,
da ist überhaupt nichts mehr Inhaltliches drin, da stellt, da stellt vielleicht der eine oder
andere noch eine Verständnisfrage. Aber das ist es dann. Das ist auch gut so, (.) das ist
auch gut so, denn-denn die Mitbestimmungs-, also die-die äh Arbeitnehmerseite versteht
es sowieso nicht. Also das, gut.
Interviewer: Obwohl sie ja auch im Prüfungsausschuss vertreten sind, da sind ja auch
eins, zwei ...
Befragter: Das heißt doch nicht, dass sie was verstehen.
Interviewer: Nee, klar (lacht).
Befragter: Es gibt vielleicht mal, das kann im-im einen oder anderen, aber das ist, sind
die typischen Beispiele, wo die Ausnahme die Regel besteht. Da kann es mal, es kann mal
einen Gewerkschaftsvertreter geben, der (.) äh IFRS versteht oder Accountingregeln und
so weiter, (.) aber in der Regel tun sie es nicht. Das ist ein Unsinn der-der-der-der und-
und die sagen ja nie was.

Wenn der Prüfungsausschussvorsitzende im Plenum den Bericht aus seinem Aus-


schuss vorstellt, so der Befragte, seien dies nur noch einmal die zentralen Daten.
Hintergründe hätten hier keinen Platz mehr – was er auch befürworte. Denn die
Arbeitnehmervertreter verstünden von diesen nichts. Darauf hingewiesen, dass
dennoch Arbeitnehmervertreter im Prüfungsausschuss säßen, antwortet er, dass
dies an dem Sachverhalt nichts ändere. Nur in wenigen Ausnahmefällen seien
überhaupt die grundlegenden Regelwerke bekannt.
Wenn den Arbeitnehmervertretern so eine gewisse Kompetenz hinsichtlich be-
trieblicher Angelegenheiten und vielleicht in Fragen der Produkte und der Fer-
tigung zugemessen wird, werden sie als inkompetent auf den zentralen Feldern
der Aufsichtsratsarbeit begriffen (der Prüfungsausschuss gilt gemeinhin als der
zentrale Ausschuss). Ihre legitime Sprecherposition wird damit stark limitiert und
die Anteilseignervertreter bleiben auch hier diejenigen, die für die als wichtig er-
achteten Dinge verantwortlich sind. Diese Operation sichert die Hoheit über die
wirtschaftliche Kontextur ab, die anders nicht zu begründen wäre. Indem nur ein
limitierter Bereich ausgewiesen wird, in dem die Arbeitnehmervertreter als kom-
petente Partner erscheinen, kann die Sprecherposition sofort wieder negiert wer-
den, wenn dieser Bereich überschritten wird. Und wann er überschritten worden
ist, können selbstverständlich nur diejenigen entscheiden, die das Jenseits dieses
Bereichs kontrollieren.
134 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

4.3.1.2 Arbeitnehmervertretung: Nachhaltiges Wirtschaften


durch „gesunden Menschenverstand“
Die Anteilseignervertreter sehen sich als primär für die Unternehmensführung
verantwortlich. Dennoch wird den Arbeitnehmervertretern sowohl eine Mitver-
antwortung als auch eine Teilkompetenz zugesprochen. Als Mitglieder des Auf-
sichtsrats werden sie in der Pflicht gegenüber dem Unternehmen gesehen. Als
Vertreter des Betriebs wird ihnen ein Wissen über interne Abläufe und operative
Probleme attribuiert – ein Wissen, über dessen Anwendung freilich die Anteils-
eignervertreter entscheiden. Die Arbeitnehmervertretung wird also in einem li-
mitierten Bereich als kompetente Adresse zu wirtschaftlichen Fragen konstruiert.
Darüber hinaus wird die Anteilseignervertretung selbst in einen größeren Kontext
eingebettet. Die Faktizität des Unternehmens – und mit ihr die des Aufsichtsrats –
wird als eigenständige Kontextur betrachtet und nicht als der Anteilseignervertre-
tung untergeordnet, mithin als Reflexionsinstanz mit eigenen Regeln und nicht als
disponible Masse. Der Anteilseignervertretung geht es also darum, eigene Positio-
nen durchzusetzen – dies jedoch unter komplexen Verhältnissen, denen Rechnung
getragen werden muss.
Die Arbeitnehmervertreter haben hier eine komplementäre Perspektive aufge-
baut, ohne dass sie dabei jedoch den Anspruch der Interessenvertretung aufgeben
würden. Vielmehr sieht man sich in einer sehr ambivalenten Position, in der es stets
abzuwägen gilt. So schildert ein Gewerkschaftsvertreter die Position der Arbeit-
nehmervertreter zu einem geplanten Personalabbau folgendermaßen:

Befragter: Ja (.) und dort prallen dann schon, in der Aufsichtsratssitzung prallen dann
schon die unterschiedlichen Meinungen aufeinander, ja. Ich meine, dass wir (.) äh da
nicht dem Beschäftigungsabbau das Wort reden, das äh versteht sich von selbst. (..) Äh,
dass wir auf der anderen Seite äh auch drauf schauen müssen, (.) ein Unternehmen, dass
äh (.) damals (.) knapp [Anzahl] Beschäftigte hatte, (.) äh hm, dort müssen Sie einmal
drauf gucken, dass Sie, dass Sie sagen, nun gut, äh wie viel betrifft es denn? Was machen
wir denn mit denen und wie viel können wir von denen noch im-im Betrieb halten? Das
ist die eine Sichtweise, (.) auf der anderen Seite müssen Sie aber auch gucken, naja, äh,
was ist, wenn nichts passiert, äh-äh (.) und da ist jetzt Augsburger sicherlich eines-eines
der Beispiele, äh wird es den Konzern dann überhaupt in Gänze noch geben? Also Sie
haben dann ja auch gegenüber den anderen [Anzahl] äh Beschäftigten ja auch eine Ver-
antwortung (.) und äh (.) diesen Grat (.) müssen Sie dann halt begehen. Ja das bleibt dort
nicht erspart. (.) Äh (.) das liegt aber auch jetzt, ich sage mal, dieser Mitbestimmung und
dann im Aufsichtsrat äh in der Natur der Sache. (.) Es ist nat-, vielleicht den Satz noch,
es ist natürlich einfacher, (.) äh zu sagen, naja, eigentlich haben wir mit dem Ganzen
nichts zu tun, da habt ihr Verantwortung zu übernehmen und das war es dann (.) äh
und ansonsten ist unsere Position, ihr müsst die Leute im Betrieb halten. Äh (.) diese (.)
diese Position, meine ich, (.) müssen Sie aber dann seriöserweise verlassen, wenn Sie halt
in der Mitbestimmung eingebunden sind.
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 135

In der Aufsichtsratssitzung habe man schon eine andere Position und würde diese
auch vertreten, so der Befragte. Dabei sei es selbstverständlich, dass man sich nicht
für Personalkürzungen einsetze. Auf der anderen Seite müsse man jedoch auch be-
denken, dass zum Erhalt des Konzerns manchmal Personalabbau nötig sei. Manch-
mal könne man viele Arbeitsplätze nur halten, wenn wenige abgebaut würden.
Zwar wäre es bequem, die Verantwortung für den Konzern hier nur bei den Anteils-
eignervertretern zu sehen und stets gegen Personalkürzungen zu opponieren. Doch
letztlich sei dies nicht verantwortlich und wenn man als Arbeitnehmervertreter
teilhabe an der Aufsichtsratsarbeit, dürfe man eine solche Ansicht nicht vertreten.
Deutlich wird hier die Ambivalenz in der Selbstverortung der Arbeitnehmer-
vertreter. Zwar sieht man sich hier in der Aufgabe, Arbeitnehmerinteressen zu ver-
treten – „dass wir dem Beschäftigungsabbau nicht das Wort reden, versteht sich
von selbst“ – auf der anderen Seite jedoch sieht man sich in der unternehmerischen
Verantwortung für das Unternehmen, dessen langfristige Sicherung im Interesse
der Arbeitnehmer gesehen wird. Daher besteht hier auch die Bereitschaft, un-
populäre Maßnahmen mitzutragen, die vielleicht der eigenen Arbeitnehmerschaft
schwer zu vermitteln sind. Wie auch im folgenden Zitat des stellvertretenden Auf-
sichtsratsvorsitzenden, eines Betriebsrats, deutlich wird, birgt dies politische Legi-
timitätsprobleme, die jedoch akzeptiert werden müssen:

Befragter: Dahingehend bin ich froh, dass ich Leute finde, wo das machen und äh-äh das
hat sich in den letzten 20 Jahren auf jeden Fall gewandelt. Man hat immer eine Mitver-
antwortung für das Unternehmen und-und-und man spielt immer mehr eine Rolle (.)
da drin, äh wo man nicht immer sagen kann, nur dagegen, sondern es ist auch, (.) man
muss immer beide S-Seiten abwägen und die Verantwortung hast du immer mehr. Du
kannst nicht stur nur äh, sage ich mal, dagegen gehen (.) und hinter nach ist das ganze
Unternehmen am Boden, das bringt keinem was. (.) Dann muss man immer abwägen,
(.) dass man immer mal auch beide Seiten äh sieht (.) äh und dann irgendwo eine Ent-
scheidung zu treffen.

Er sei froh, dass er im Betriebsrat Kollegen finde, die sich zur Aufsichtsratsarbeit
bereit erklären. Dies sei zwanzig Jahre zuvor nicht so gewesen. Denn im Aufsichts-
rat habe man stets Verantwortung für Unternehmensentscheidungen und könne
nicht immer gegen Vorstand und Anteilseignervertreter Position beziehen. Man
müsse stets beide Seiten betrachten und abwägen.
Deutlich wird hier das Dilemma zwischen politischer und ökonomischer Kon-
textur. Auf der einen Seite muss man ökonomisch verantwortlich handeln. Auf der
anderen Seite muss man seine eigene Position gegenüber der Belegschaft sichern.
Manche, aus wirtschaftlicher Sicht notwendige Entscheidungen bergen hier je-
doch das Problem einer Legitimitätskrise. Dieses Problem zeigt sich hier jedoch
als der Position immanent. Wenn der Befragte hier sagt, dass man nicht immer nur
136 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

„dagegen“ sein könne, verweist er auf das zentrale Motiv, das politische Legitimität
sicherstellt: die Oppositionsarbeit. Arbeitnehmervertretung als „Defizitkommu-
nikation“ (Baecker 2007, S. 171) lebt davon, dass sie die Arbeitnehmerinteressen
gegen die Arbeitgeber, das „Kapital“ oder einen ähnlich strukturierten Gegner ver-
tritt. Sie ist als Oppositionsarbeit angelegt und kommt in eine Legitimitätskrise,
wenn sie selbst auf die Seite der Regierung wechselt.
Festzuhalten bleibt also, dass die Arbeitnehmervertretung hier nicht mit der po-
litischen Kontextur identifiziert wird. Vielmehr wird sie als Verschachtelung von
Politik und Wirtschaft begriffen, die nicht ohne Weiteres aufzulösen ist.
Um diesem Problem zu begegnen, entwickelt die Arbeitnehmerbank im vorlie-
genden Fall ein entsprechendes oppositionelles Motiv, dass das zugrunde liegende
Dilemma zumindest semantisch überbrückt (Interview stellvertretender Aufsichts-
ratsvorsitzender):

Befragter: Ja, auf jeden Fall, äh, (.) weil äh die Anteilseigner sind ziemlich getrieben, (.)
äh von Kennzahlen, Rendite, äh (.) Gewinn, äh (.) Herstellungskosten und halt von, (.)
von gewissen äh Kennzahlen getrieben (.) und wir äh sind ja drauf aus, das Unterneh-
men langfristig (.) zu sichern, langfristig. Und da hat es dann schon dabei, wo auch mal
kurzfristig was äh oder (.) bloß auf eben, wir brauchen wieder Dividende, (.) ich muss
äh-äh-äh (.) meinem Betrieb oder meiner Bank was abliefern oder meiner Versicherung.
Äh (.) die sind dann teilweise anders getrieben wie wir.
Interviewer: M-hm.
Befragter: Ja, wir-wir versuchen immer lang-äh-langfristige Perspektiven aufzuzeigen. (.)
So jetzt, wie-wie Entlassungen, wo wir jetzt die 500 Leute noch gerettet haben und alles,
wo wir sagen, Mensch, obwohl dass wir die 500 gerettet, üb-überlege dir mal, äh (.) was
das heißt, wenn ihr jetzt noch mal kommt und noch mal 1 000 oder 2 000, da kommen
wir nie mehr raus, (.) weil wir die Leute gar nicht mehr dazu haben, das könnt ihr euch
dann abschminken, wenn ihr A sagt, dann müsst ihr auch B sagen. Wollt ihr das, ja oder
nein? (.) Dann gibt es das [die Augsburger] in dem Stil nicht mehr und so. Das machen
wir dann denen klar auf, die Langfristigen, sie sehen mal öfters, mal das ein, zwei Jahre.

Die Anteilseignervertreter seien nur von „Kennzahlen getrieben“ und an einer ho-
hen Dividende interessiert. Die Arbeitnehmervertreter hingegen seien daran inte-
ressiert, das Unternehmen „langfristig zu sichern“. Dies könne man, da man nicht
Vertreter eines anderen Unternehmens sei, das möglichst hohe earnings per share
fordere. Deshalb müsse man als Arbeitnehmervertreter etwa im Fall geplanter Per-
sonalkürzungen auf die Folgen in den nächsten Jahren hinweisen. Denn sobald
man den Personalbestand einmal stark verringert habe, würden im Aufschwung
die Fachkräfte fehlen. Dies gefährde das Unternehmen.
Das Oppositionsmotiv wird hier anders gewendet und wieder aufgenommen.
Opposition wird hier nicht mehr gegen die Unternehmensleitung bezogen, sondern
gegen eine bestimmte Form der Unternehmensleitung, nämlich gegen eine von
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 137

Partikularinteressen gesteuerte. Dies ist ein besonders interessantes Motiv, ist es


doch strukturell identisch mit dem Vorwurf, der den Arbeitnehmervertretern von
den Anteilseignervertretern gemacht wird. Die Arbeitnehmervertreter seien ihren
Wählern verpflichtet und ihre Argumente daher nicht immer am Wohle des Unter-
nehmens interessiert. Dasselbe wird hier von den Anteilseignervertretern behaup-
tet: Diese würden die Partikularinteressen der Aktionäre vertreten und seien daher
nicht am Wohl des Unternehmens interessiert. Auf diese Weise kann die Legitimi-
tät der Arbeitnehmervertreter aufrechterhalten werden. Das „Kapital“ ist wieder
als Gegner adressierbar, zwar nicht mehr als generalisierte Unternehmensleitung,
dafür aber immerhin in Form partikularer Orientierungen, denen entgegenge-
wirkt werden muss. Dieses Entgegenwirken ist dabei dann sowohl im Interesse der
Arbeitnehmer als auch im Interesse des Unternehmens.
Es wird hier also eine raffinierte Verschachtelung von wirtschaftlicher und
politischer Kontextur erreicht. Die wirtschaftliche Kontextur wird in die politische
eingeschlossen, jedoch wird die politische derart vorgeschaltet, dass ein wirtschaft-
liches Argument im Zweifelsfall immer unter Ideologieverdacht gestellt werden
kann. Es handelt sich somit um eine strukturell identische Konstruktion, wie sie
die Anteilseignervertreter verwenden, wenn sie die wirtschaftliche Mitsprache
der Arbeitnehmervertreter unter dem Vorzeichen der Kompetenz bei Bedarf ein-
schränken. In beiden Fällen wird eine totale differenzierte Rejektion vorgenom-
men, die eine neue Kontextur konstruiert, deren Binnenstruktur mitreflektiert
wird. Ihre Gültigkeit wird jedoch unter Vorbehalt gestellt.
Gleichzeitig bleiben die Arbeitnehmervertreter, sobald sie sich für die Unter-
nehmensführung entscheiden, auf die Kompetenz der Anteilseignervertreter
angewiesen. So ist die Orientierung an Kennzahlen gleichsam das Feindbild der
Arbeitnehmervertreter, aber auch unabdingbare Kompetenz der Unternehmens-
führung, die anerkannt werden muss. Indem die Arbeitnehmervertreter sich aus
der reinen Oppositionsposition herausbegeben und die Verantwortung für nach-
haltiges Wirtschaften auch auf ihrer Seite sehen, setzen sie sich den Ansprüchen
des Managements an Kompetenz und Qualifikation aus. Sie begeben sich in die
Kontextur wirtschaftlicher Unternehmensführung und müssen hier ihre Zweitran-
gigkeit anerkennen (Interview stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender):

Interviewer: Braucht man denn so eine Person auch, um sich teilweise darauf verlassen
zu können, dass die Arbeit im Prüfungsausschuss wirklich gut äh (.) (Räuspern) gemacht
wird?
Befragter: Also ich, also meiner Ansicht nach, äh da geht es um Detailsachen, da (.)
steige ich aus. Ich bin da ehrlich, warum soll ich da lügen?
Interviewer: Ja.
Befragter: Ich kann das ja gar nicht, habe das auf, wären ja die verkehrt (lacht).
Interviewer: (lacht).
138 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Befragter: Äh und äh ich habe das Gefühl, dass wir da einen Mann haben, (.) wo das
auch gezielt und genau weiß, um was es geht. Und wir verlassen uns dann schon auch
auf ihn. Äh wo dann auch gezielt, einem äh Vorstand [Name Finanzvorstand] äh-äh
Fragen stellt und sagt, ja, warum haben sie das denn jetzt gemacht? (.) Haben sie das
und das beachtet? Und das kommt dann schon und der [Prüfungsausschussvorsitzende]
macht das auch. Der [Prüfungsausschussvorsitzende], (.) der ist jetzt noch nicht so lange,
aber das ist einer, also Brille runter und dann geht es los, ja warum des und des und nicht
so, ja und dann Brille wieder auf, geguckt, kratzt, warum des?

Den Geschehnissen im Prüfungsausschuss könne er nur begrenzt folgen, so der


stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende. Dazu fehle ihm die Kompetenz. Aber
in der Person des Prüfungsausschussvorsitzenden habe er jemanden, auf den die
Arbeitnehmervertreter sich verlassen könnten. Dieser stelle die richtigen Fragen
und kenne sich aus.
Die Hoheit der Anteilseignervertreter über zentrale Fragen der Aufsichtsrats-
arbeit wird hier anerkannt und die eigene mangelnde Kompetenz in Fragen der
Bilanzprüfung zugegeben. Damit ergibt sich für die Arbeitnehmervertreter ein
neues Problem. Es stellt sich die Frage, wie die Orientierung an langfristiger Un-
ternehmensführung durchgesetzt werden kann, wenn man die höhere Kompetenz
der anderen Seite in zentralen Fragen anerkennt. Die Legitimität der eigenen Spre-
cherposition gegen diejenige der Anteilseignervertreter und Vorstände muss be-
gründet werden. Dies geschieht durch eine Konstruktion, die unmittelbar an die
Opposition zur Kennzahlenorientierung anschließt. So fährt der stellvertretende
Vorsitzende etwas später folgendermaßen fort:

Interviewer: M-hm. (.) Jetzt trotzdem mal eine Nachfrage, wenn Sie sagen, äh (.) naja,
es ist sehr komplex alles im Prüfungsausschuss, trotzdem möchten Sie als Arbeitnehmer-
vertreter ja vertreten sein in diesem Ausschuss? Äh was ist der Hintergrund, äh dass
man…?
Befragter: Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel. Äh vor zwei, drei Jahren ist es darum gegangen,
F- und E-Aufwendungen zu kürzen, (.) ist ein ständiges Thema im Prüfungsausschuss,
(.) wo kann man noch ein bisschen was (.) und da haben wir einen [Anteilseignerver-
treter] gehabt, äh von der [Finanzkonzern]. (.) Der weiß ja gar nicht was F und E ist.
(.) Also ich sage mal, Forschung und Entwicklung in [Finanzkonzern], (.) können Sie
vergessen.
Interviewer: Ja (lacht).
Befragter: Äh der kann sich da immer schön, der hat nur gesehen, wo die Kosten, das
kann ja nicht sein, das müssen, wir sollen die Kosten, nee, wir sind aber Maschinenbau.
Interviewer: Ja.
Befragter: Und dann wollten sie da unbedingt kürzen (.) und dann war das schon halb
beschlossen, er und der [anderer Anteilseignervertreter], (.) und dann habe ich gesagt,
bin ich im verkehrten Film? Dann habe ich gesagt, (haut auf den Tisch) so habe ich es
gemacht Entschuldigung.
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 139

Interviewer: (lacht).
Befragter: Aber denen ist es auch so gegangen.
Interviewer: Ja, ja.
Befragter: Und da ist jeder zusammengezuckt, was ist denn jetzt los, dann habe ich
gesagt, (.) jetzt reicht es. So, das ist dann so meine Art, wie ich bin (.) und dann habe ich
gesagt, jetzt reicht es. Es kann doch nicht wahr sein, dass wir auf dem Ast, wo wir alle
drauf sitzen, anfangen zu sägen. (.) Das was wir nicht entwickeln, können wir hinterher
nicht bauen. Das muss doch euch bewusst sein, wisst ihr, was ihr treibt? So ist, so, jetzt
wie Ihnen.
Interviewer: Ja, ja.
Befragter: Ah die sind da gehockt, der [Anteilseignervertreter] und der, (.) a-ah, so, wenn
sie, dann habe ich gesagt, das mache ich in 100 Jahren nicht mit, (.) da ist das Theater
vorprogrammiert, das mache ich nicht. (.) Äh wir sind ja nicht bei-beim Stromerzeuger
oder bei den Banker, wir sind ein Maschinenbauunternehmen und habe da losgelegt. (.)
Wupp, habe ich es runtergebracht. Ist zurückgenommen worden. (.) Gerade mal als Bei-
spiel. Das habe ich jetzt nur gesunder Menschenverstand und ...

Gefragt, warum denn Arbeitnehmervertreter trotz mangelnder Kompetenz im Prü-


fungsausschuss vertreten sein sollten, antwortet der Befragte mit dem Beispiel ge-
planter Kürzungen in der Forschung und Entwicklung. Ein Anteilseignervertreter
aus einem Finanzkonzern habe diese vorgeschlagen. Dies, so der Befragte, habe er
nur getan, weil er aufgrund seines professionellen Hintergrunds kein Verständnis für
die Notwendigkeit von Forschungs- und Entwicklungsausgaben habe. Kurz bevor
der Vorschlag tatsächlich angenommen worden ist, habe er interveniert und auf die
zentrale Bedeutung hoher Investitionen in diesem Bereich in der Industrie hingewie-
sen. Nur mit „gesundem Menschenverstand“ habe er dies erkannt und durchgesetzt.
Das Motiv der „Kennzahlenorientierung“ wird hier wieder herangezogen, dies-
mal jedoch um das eigene fachliche Profil zu begründen. Es wird das Bild eines Ma-
nagements gezeichnet, das kein Verhältnis mehr zum Unternehmen hat, sondern
dieses auf Tabellen und Bilanzen reduziert. Die Arbeitnehmervertreter hingegen
werden als diejenigen präsentiert, die noch „gesunden Menschenverstand“ haben.
Es wird das Bild der Vertrautheit mit einer „realen Realität“ – um einen Begriff
von Esposito (2007) zu borgen – im Unterschied zu einer rein „virtuellen Realität“
der Anteilseignervertreter eingeführt. Deren Vertrautheit mit der „virtuellen Reali-
tät“ der „Kennzahlen“ erscheint zwar als notwendig, gleichzeitig jedoch auch als
Gefahr. Die Anteilseignervertreter sind so gleichzeitig kompetent, doch letztlich
müssen sie immer wieder eben in die „reale Realität“ zurückgeholt werden. Hier
sehen die Arbeitnehmervertreter ihre Aufgabe.
Dieses Selbstbild ist eng verbunden mit einer Selbstverortung im Alltag des
Betriebs. Während in den Unternehmen des Typs 1 eine rein politische Selbst-
verortung der Arbeitnehmervertreter stattfindet – sie sind Interessenvertreter –,
beschreiben sich die Arbeitnehmervertreter hier als Vertreter eines betrieblichen
140 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Alltags. Sie werden Sprecher ihrer Kollegen, die mit physischer Arbeit in den Wer-
ken beschäftigt sind und bringen deren Perspektive in den Aufsichtsrat. Das heißt
hier zwar auch, eben diesen Alltag zu schützen; es heißt aber auch, die „reale Reali-
tät“ von Produktion, Ein- und Verkauf, Forschung und Entwicklung müssen in
der „virtuellen Realität“ der Anteilseignervertreter immer wieder ins Bewusstsein
gerufen werden.
Gleichzeitig wird die Routine der Zusammenarbeit von Management und
Arbeitnehmern in den Aufsichtsrat getragen. Der Alltag des Betriebs wird von der
Verwaltung und den Arbeitern gleichsam aufrechterhalten. Man arbeitet hier zu-
sammen und möchte diese Zusammenarbeit nicht durch Fundamentalopposition
im Aufsichtsrat gefährden. Die Aufsichtsratsarbeit erscheint also hier ebenso wie in
den Unternehmen des Typs 1 als Fortführung der betrieblichen Mitbestimmung –
jedoch in völlig anderem Sinn (Interview Gewerkschaftsvertreter):

Befragter: Ja, das hat was, (..) das hat schon was mit Machtkonstellationen zu tun. (..)
Äh (.) jetzt sind, (.) Sie müssen schon sehen, dass (.) äh (.) der Vorstand (..) und wenn
die Zusammenarbeit während der Woche (.) einigermaßen, zwischen Arbeitnehmern
und Vorstand funktioniert, (..) äh, dann werden Sie den Vorstand in-im Beisein der
Anteilseignerseite natürlich nicht so hart angreifen, (.) wie Sie das beispielsweise in einer
Vorbesprechung machen könnten. Das hat einfach etwas damit zu tun, dass Sie nächste
Woche mit dem Vorstand ja auch noch zusammenarbeiten müssen und versuchen müs-
sen Lösungen zu finden (.) äh und dann ist es so, (.) die (.) Arbeitnehmerseite (.) ist ja in
einem, sind ja in einem hohen Maß eigentlich Betriebsinterne. (.) Äh alle auf der Arbeit-
nehmerseite können in dem Unternehmen, in der Tagespolitik, in-in die Tiefe schauen,
(.) das kann die Anteilseignerseite nicht.
Interviewer: Ja.
Befragter: Völlig ausgeschlossen. (.) Äh das hängt einfach zusammen, dass die Leute ein-
fliegen und wieder weg sind. (.) Äh (.) bestimmte Zusammenhänge, die sich aus äh, aus
Zahlen ergeben, (.) kann jemand Externes nicht erkennen, (.) ist völlig ausgeschlossen.
(.) Äh jetzt ist vielleicht unsere Seite, was jetzt die (.) äh die Fachlichkeit der (.) der bila-,
der bilanziellen Abschlüsse und so angeht, in-in der Gesamtsumme mit Sicherheit nicht
so gut aufgestellt, wie-wie beispielsweise ein Herr [Prüfungsausschussvorsitzender], dem
sein Tagesgeschäft das ist und der weiß, welche Steuerrechtlinie wann anzuwenden sind.
(.) Äh, das ist schon klar, aber äh den Hintergrund der Zahlen zu bewerten und zu
beurteilen, (.) äh was heißt denn das, wieso ist im letzten Quartal äh-äh jetzt auf einmal
mehr oder weniger Umsatz und wieso ist es im ersten Monat, des folgenden Quartals, da
deutlich mehr? Das kann so jemand nicht beurteilen, wir können das aber schon, weil
wir genau wissen, (.) äh, wie über die Quartalsabschlüsse die Aufträge hin- und herge-
schoben werden, weil wir sehen es ja in der Fabrik.

In der Vorbesprechung dürfe man zwar einen Konflikt wagen. Jedoch dürfe man
den Vorstand nicht vor den Anteilseignern bloßstellen. Denn diese kämen nur kurz
für die Aufsichtsratssitzungen vorbei, während man mit den Vorständen täglich
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 141

zusammenarbeiten müsse. Und auch nur mit den Vorständen sei eine tiefere Zu-
sammenarbeit möglich, im Gegensatz zu den meisten Anteilseignervertretern, die
nicht mit dem Betrieb vertraut sind. Diese – etwa der Prüfungsausschussvorsit-
zende – verstünden zwar die Kennzahlen besser. Aber die Arbeitnehmervertreter
hingegen wüssten genau, was im Betrieb geschehe.
In diesem Zitat deutet sich schon eine Differenz an, die im Fall der Unternehmen
des Typs 3 stärker zum Tragen kommt: Die Differenz von „Internen“ und „Externen“,
von denjenigen, die mit dem Unternehmen vertraut sind, und denjenigen, denen
kein volles Verständnis attribuiert werden kann. Diese überlagert hier die Differenz
von Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretern schon in einem gewissen Grad. Es
ist nicht mehr klar, dass die Vorstände auf der Seite der Anteilseignervertreter stehen
und die Arbeitnehmervertreter auf der anderen Seite. Zwar sind innerhalb des Be-
triebs die Fronten zwischen Vorständen und Arbeitnehmervertretern klar. Sobald
jedoch die „Externen“ relevant werden, hält man zusammen. Ein Vorwurf, wie er
etwa im Fall der Einzelhandel Meyer AG auftritt, dass also die Arbeitnehmervertre-
ter den Anteilseignervertretern vorwerfen, diese würden den Vorstand illegitimer-
weise schützen, scheint auf diesem Hintergrund unsinnig (vgl. S. 91).
Gleichzeitig wird in diesem Zitat noch einmal deutlich, wie die Arbeitneh-
mervertreter ihre Position im Aufsichtsrat verstehen. Es geht hier nicht nur um
den „gesunden Menschenverstand“, mit dem die Dinge betrachtet werden müs-
sen. Die Arbeitnehmervertreter beziehen sich also nicht nur auf eine allgemeine
Eigenschaft, die den Anteilseignervertretern nur aufgrund einer Art Defekts – zu
starker Orientierung an „Kennzahlen“ – nicht mehr zu attribuieren ist. Vielmehr
legitimieren sie ihre Position über spezifisches Wissen der „Internen“. Sie, die
Arbeitnehmervertreter, wissen, was hinter den Kennzahlen steht. Sie sehen sich
als mit den Fertigungsstätten vertraut, als mit den Produkten und Mitarbeitern
bekannt. Das heißt nicht, dass sie den Anteilseignervertretern die Unternehmens-
führungskompetenz aberkennen. Sie akzeptieren durchaus die Bedeutung der
„Kennzahlen“. Ihr Wissen sehen sie jedoch als komplementär, supplementär und
korrigierend an.
Was aus dem bisher Gesagten deutlich geworden ist, ist die klare betriebliche
Referenz, mit der die Arbeitnehmerseite arbeitet. Nicht nur die Arbeitnehmer-
vertreter verstehen sich als Sprecher der Kollegen im Betrieb, sie ziehen auch ihre
Legitimation im Aufsichtsrat aus der Vertrautheit mit dem Betrieb. Der „Betrieb“
ist so eine Brückenkonstruktion mit einer weichen Identität, die sowohl politisch
als auch wirtschaftlich gelesen werden kann und gelesen werden muss. Der „Be-
trieb“ bildet den Angelpunkt für die Arbeitnehmervertreter, beide Kontexturen in
ein Verhältnis zu setzen. Dies ist in den Unternehmen des Typs 1 nicht der Fall und
selbst in den Unternehmen der weiteren Typen nicht so stark ausgeprägt.
142 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Dies hat eine wesentliche Konsequenz für die Gewerkschaftsvertreter: Diese


gewinnen und erhalten ihre Legitimität direkt aus eben jener betrieblichen Inter-
pretation der Arbeitnehmerkontextur. Die relevante Wählerschaft, auf die hier re-
flektiert werden muss, sind die Mitarbeiter in dem jeweiligen Unternehmen – nicht
eine abstrahierte Arbeiterbewegung oder die politische Position der Gewerkschaft.
Es ist hier nicht das Wohl der Branche, das gilt, sondern das unmittelbare Wohl der
betrieblichen Mitarbeiter, das als Kontingenzformel dient. Dies wird nicht zuletzt
daraus deutlich, dass der Gewerkschaftsvertreter in den obigen Zitaten stets eine
betriebliche Sprecherposition wählt.
Entsprechend ist es für die Gewerkschaft hier nicht möglich, eine führende
Position einzunehmen. Dies gilt für alle Unternehmen des Typs 2. Die Wortfüh-
rer und Sprecher der Arbeitnehmervertreter sind hier in der Regel Betriebsräte.
Dem Vertreter der Gewerkschaften kommt diese Funktion nur dann zu, wenn
die politische Konkurrenz zwischen den Betriebsräten so stark ist, dass diese
sich auf keinen gemeinsamen Sprecher einigen können. Doch auch dann ist der
Gewerkschaftsvertreter nur Vermittler und stets Sprecher einer betrieblichen Per-
spektive. Nie kommt es zur Dominanz einer externen, branchen- oder gewerk-
schaftsorientierten Perspektive, wie etwa im Fall des Aufsichtsrats der Einzelhandel
Meyer AG.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Arbeitnehmervertretung hier als
Verschachtelung von wirtschaftlicher und politischer Kontextur betrachtet wird.
Das Verhältnis ist dabei komplex. Zwar kann man grundsätzlich immer wieder ein-
zelne Positionen der Anteilseignervertreter unter Ideologieverdacht stellen. Inso-
fern ist die politische Kontextur der wirtschaftlichen vorgelagert. In einem anderen
Sinne wird den Anteilseignervertretern jedoch wirtschaftliches Fachwissen attribu-
iert, das über das eigene hinausgeht. Dieser Sachverhalt wird mit der Konstruktion
eines „Komplementärwissens“ um den „Betrieb“ korrigiert. Dieses Wissen bleibt
jedoch rein korrektiv, also demjenigen der Anteilseignervertreter nachgeordnet.
Insofern kann keine komplette Politisierung des Wirtschaftlichen vorgenommen
werden. Und in bestimmten Bereichen muss man sich auf die Anteilseignervertre-
ter verlassen. Damit taucht plötzlich ein Motiv auf, das ein wenig der Konstruktion
des Unternehmens der Anteilseignervertreter gleicht: Mit einer totalen undifferen-
zierten Rejektion wird eine Kontextur konstruiert, die intransparent bleibt und der
eigenen Arbeit unter Umständen vorgeordnet werden muss. Zusammengehalten
wird diese komplexe Konstruktion nur durch das Motiv des „Betriebs“, das gleich-
zeitig der Anker politischer Legitimität wie auch wirtschaftlicher Kompetenz ist.
Der „Betrieb“ ist eine weiche Identität, die sowohl politisch wie auch wirtschaftlich
lesbar ist und den Strukturaufbau beider Kontexturen im Bezug auf die Arbeitneh-
mervertretung regelt.
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 143

4.3.1.3 Kompromisse für das Unternehmen


Die Kontexturen Anteilseignervertretung und Arbeitnehmervertretung bieten ei-
nige Anschlussflächen füreinander. Die Anteilseignervertreter rechnen den Arbeit-
nehmervertretern eine begrenzte, aber wichtige Kompetenz zu – Wissen über den
Betrieb und interne Abläufe. Dieses Wissen nehmen die Arbeitnehmervertreter
für sich in Anspruch und sehen sich als Korrektiv einer an „Kennzahlen“ ausge-
richteten Unternehmensführung. Vor allem jedoch konstruieren die Kontextur
Arbeitnehmervertretung wie auch die Kontextur Anteilseignervertretung einander
innerhalb eines spezifischen Bereichs als zu berücksichtigende Reflexionsinstan-
zen, die nicht völlig innerhalb des eigenen Bereichs eingegliedert werden können.
Die Arbeitnehmervertreter erkennen die wirtschaftliche Kompetenz der Anteils-
eignervertreter an, die Anteilseignervertreter die „betriebliche“ der Arbeitnehmer-
vertreter. Darüber hinaus bietet die Konstruktion der „Sozialverträglichkeit“ auf
Anteilseignerseite Möglichkeiten zu einem politischen Kompromiss, der auch von
Arbeitnehmerseite möglich erscheint.
Gleichzeitig jedoch bieten sich auch mögliche Konfliktlinien, so etwa der
Führungsanspruch der Anteilseignervertreter, die letztlich für sich in Anspruch
nehmen, über die Legitimität der Aussagen der Arbeitnehmervertreter zu urtei-
len. Die Arbeitnehmervertreter wiederum halten über die Figur des „gesunden
Menschenverstandes“ und des „Betriebs“ eine Oppositionsrolle zu den Anteilseig-
nervertretern aufrecht. Diese erscheinen unter Umständen als Interessenvertreter
der Kapitalmärkte gegen das Interesse des Unternehmens. Die Differenz von „in-
tern“ und „extern“ deutet hier eine zusätzliche Bruchlinie an.
Dennoch bildet sich auf Ebene des Aufsichtsrats eine stabile Form der Zusam-
menarbeit, eine dritte Kontextur, der am ehesten mit dem Begriff einer pragmati-
schen Kompromissorientierung beschrieben werden kann und das Verhältnis von
Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretung auf Ebene des Aufsichtsrats regelt. Die-
se führt jedoch zu einer ambivalenten Position der Anteilseignervertreter: Auf der
einen Seite sehen sie sich als wesentlich kompetenter als die Arbeitnehmervertreter
an und nehmen für sich die Möglichkeit in Anspruch, durch die Doppelstimme
eine Entscheidung zu erzwingen. Gleichzeitig müssen sie jedoch eine Kompro-
missorientierung aufrechterhalten, die sich nicht in dem Anspruch erschöpft, die
Arbeitnehmervertreter – wie im Fall der Hamburger Bankhaus AG – überzeugen
zu wollen (Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Das macht man so, wie Sie es jeden Tag im Fernsehen hören, wie es die Merkel
zwischen der FDP und der CDU macht (.) äh und der CSU macht. So, das ist der gleiche
Job, ist der gleiche Job. Sie könn-, wenn Sie hinterher den Beschluss nicht zusammen-
kriegen im Aufsichtsrat, (.) dann müssen Sie zu einem Hammerinstrument (.) äh greifen,
nämlich ihre, ihrem Doppelstimmrecht.
144 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Interviewer: Genau.
Befragter: Was natürlich eine ganz furchtbare Geschichte ist, weil dann die Atmosphäre
vergiftet ist und dann, (.) wissen Sie gegen, mit den Mitarbeitern, mit den Betriebsräten
ist es ganz furchtbar schwer, aber am Ende immer viel leichter als gegen sie. Denn das
muss, das muss man mal kapiert haben. Wenn man es mal kapiert hat, dann weiß man,
man muss sich unendlich viel Mühe geben, (.) diese Orchestrierung (.) im Sinne einer
sinnvollen (.) äh Entscheidung zu leisten. Kann man sie leisten, ist okay, kann man sie
nicht leisten, (.) ja dann ist es eben keine gute Aufsichtsratsarbeit.
Interviewer 2: Würden Sie dann im Zweifelsfall die Entscheidung zurückstellen oder
würden Sie es dann auf die Doppelstimme ankommen lassen?
Befragter: Das kommt auf den Fall an, wenn wir in Not und Zeitnot sind, was ja manch-
mal der Fall ist, dann muss man den Mut haben, aber dann würde ich noch mal ver-
tagen, noch mal auseinanderziehen und denen noch mal sagen, Leute (.) ihr verspielt
auch meinen Respekt und meine Solidarität für die Zukunft, wenn ihr mich hier zwingt
Doppelstimmrecht zu ziehen. Ich ziehe es, da braucht ihr keine Sorge zu haben, ich lasse
mich von euch überhaupt nicht bestimmen. Das ist ganz klar, ihr habt auch nicht den
unternehmerischen Überblick, den habe ich. (.) Äh das müsst ihr mir einfach äh oder ich
kann das hier auch aufgeben, aber das müsst ihr mir einfach konzedieren, dass ich den
Überblick habe und ich muss euch dahin bringen, ich will euch nicht mit Doppelstimm-
recht zwingen. Wenn ich das tue, ist zwischen uns auch was passiert.

Der Aufsichtsratsvorsitzende habe letztlich dieselbe Aufgabe wie die Bundeskanz-


lerin, so der Befragte. Er müsse zwischen verschiedenen Gruppierungen vermit-
teln, um hier letztlich eine Entscheidung herbeizuführen. Gelinge dies nicht, so
müsse er zu dem „Hammerinstrument“ der Doppelstimme greifen. Dies jedoch sei
eine „furchtbare Geschichte“ und „vergifte das Klima“, da es letztlich immer leich-
ter sei, mit den Arbeitnehmervertretern als gegen diese zu arbeiten. Dies müsse
man verstehen, und sobald man es verstanden habe, müsse man sich „unendlich
viel Mühe“ mit dem Arrangement verschiedener Positionen geben. Auf die Nach-
frage, ob der Befragte die Doppelstimme im Zweifelsfall ziehen würde, antwortet
dieser, dass man den „Mut haben“ müsse. Vorher solle die Entscheidung jedoch
vertagt werden. Es sei wichtig, den Arbeitnehmervertretern dann deutlich zu ma-
chen, dass man im Zweifelsfall die Doppelstimme zöge. Hier müsse man darauf
bestehen, dass man unternehmerische Entscheidung besser verstünde und dass
die Arbeitnehmervertreter hier „Respekt und Solidarität in der Zukunft“ vergeben
würden, sollten sie dies nicht akzeptieren.
Der Aufsichtsratsvorsitzende leistet in dieser Passage Beachtliches: Er erhält
seinen Führungsanspruch aufrecht und räumt die Möglichkeit der Doppelstim-
me als ultima ratio ein und befürwortet gleichzeitig eine nahezu vorbehaltslose
Kompromissorientierung, welche die tatsächliche Anwendung der Doppelstimme
ausschließt. Zunächst einmal sieht der Aufsichtsratsvorsitzende seine Aufgabe in
dem Aushandeln von Kompromissen. Dies müsse mit „unendlich viel Mühe“ ge-
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 145

schehen und der Prämisse folgen, dass die Zusammenarbeit mit den Betriebsräten
immer leichter sei als die Arbeit gegen diese. Damit schließt er die Doppelstimme
als reale Möglichkeit aus. Sie ist aus seiner Sicht als „Hammerinstrument“ immer
destruktiv und birgt nur das Potenzial, weitere Zusammenarbeit zu erschweren.
Dennoch muss er die Möglichkeit der Doppelstimme aufrechterhalten – und
wenn nur, um seine eigene Autonomie und seinen Führungsanspruch zu unter-
mauern. Dies wird deutlich, wenn er betont, dass er sich nicht von den Betriebsräten
„bestimmen“ lasse. Die Doppelstimme sichert hier die Macht des Aufsichtsratsvor-
sitzenden und bestätigt dessen „unternehmerischen Überblick“. Dennoch ist sie
gleichsam Symbol des Versagens des Aufsichtsratsvorsitzenden. Sie zeigt an, dass
dieser nicht in der Lage war, einen Kompromiss auszuhandeln oder die Arbeitneh-
mervertreter von seinem „unternehmerischen Überblick“ zu überzeugen.
Um das Problem des gleichzeitigen Einschlusses wie Ausschlusses der Doppel-
stimme zu bearbeiten, lassen sich zwei Taktiken beobachten: Zunächst wird die
Möglichkeit der Doppelstimme stets bestätigt, nur um sie sofort wieder zu negieren.
Am deutlichsten ist dies, wenn der Aufsichtsratsvorsitzende auf die Frage, ob er die
Doppelstimme ziehen oder vertagen würde, antwortet. Er gibt an, dass man „den
Mut haben müsse“ und bestätigt damit seine Position des autonomen Entscheiders,
nur um sofort im Anschluss einzugestehen, dass er dennoch vertagen würde.
Die zweite Taktik besteht darin, die Verantwortung für die Doppelstimme den
Arbeitnehmervertretern zu attribuieren. Zwar ist der Aufsichtsratsvorsitzende der-
jenige, der sie zieht. Doch ist damit nicht er als Verantwortlicher für den Kom-
promiss gescheitert, sondern die Arbeitnehmervertreter. Diese sind es, denen in
Zukunft „Respekt und Solidarität“ entzogen gehört.
Auf diese Weise wird aufseiten der Anteilseignervertreter der Anspruch auf
unternehmerische Führung aufrechterhalten. Gleichzeitig wird dieser Führungs-
anspruch jedoch einer nahezu vorbehaltlosen Kompromissorientierung unterge-
ordnet („Mit den Betriebsräten ist es ganz furchtbar schwer, aber am Ende immer
viel leichter als gegen sie.“). Die Doppelstimme ist damit aus Perspektive der An-
teilseignervertreter in ihrer Virtualität als Machtoption durchaus real, kann letzt-
lich jedoch nicht gezogen werden, da das Einsetzen der Macht immer die eigene
Ohnmacht bedeutet (vgl. Luhmann 1975, S. 24 ff.).
Auf Arbeitnehmerseite wird diese Perspektive von einer komplementären
Orientierung flankiert. Auch hier gilt es, einen Kompromiss zu finden und keinen
offenen Konflikt zu riskieren (Interview Gewerkschaftsvertreter):

Befragter: Ja und äh (..) die, ich glaube schon, dass die Arbeitnehmer, die dort beschäf-
tigt sind, ein-eine hohe äh (.), eine hohe soziale Absicherung haben, (..) das sowohl von
Betriebsratsseite, als auch von-von gewerkschaftlicher Seite, aber auch im Zusammenspiel
146 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

mit der Unternehmensleitung, (.) äh dort die übergroße Mehrheit aller Entscheidungen
auf Konsensebene gefällt werden. Äh ...
Interviewer: Ha-hat das dann auch Auswirkungen auf den Aufsichtsrat?
Befragter: (.) Hm, formal nicht, (.) äh, aber im Hintergrund natürlich schon. (.) Äh also
Sie können ja nicht äh die Woche über äh-äh-äh-äh versuchen die Sache im Konsens zu
reden und äh in der Aufsichtsratssitzung äh bürsten Sie sich dann auf Krawall. Also das-
das wird, das funktioniert ja nicht.

Die Mitarbeiter der Augsburger Maschinenwerke hätten eine gute Absicherung


und dafür würden nicht nur die Gewerkschaften und Betriebsräte, sondern auch
die Unternehmensleitung sorgen. Im Unternehmen arbeite man auf Konsensebene
zusammen und das würde sich auch auf den Aufsichtsrat übertragen. Hier könne
man nicht plötzlich „auf Krawall bürsten“.
Auch in diesem Zitat zeigt sich die Bedeutung des „Betriebs“ als relevantes
Motiv. Es gilt nicht nur, den Vorstand vor den Anteilseignervertretern nicht zu
beschädigen. Vielmehr wird die Kompromissorientierung, die man im Alltag der
Zusammenarbeit hat, auch auf den Aufsichtsrat zu übertragen.
Die Anteilseignervertreter entsprechen dieser Erwartungshaltung aus Perspek-
tive der Arbeitnehmervertreter (der Gewerkschaftsvertreter fährt fort):

Befragter: Also das ist schon eine Unternehmenskultur, (Räuspern) wo man dann sagen
muss, ja okay, das äh, das zieht sich auch dann durch den, durch den Aufsichtsrat und
wenn Sie es mal (.) äh-äh, die Aufsichtsratsvorsitzenden angucken oder jetzt den [Auf-
sichtsratsvorsitzender] angucken, das ist ja auch jemand, den ich eher zuordnen würde
(..). dieser Generation, äh mit dem geflügelten Wort der Deutschland AG. Ja, also da
kommt der her, der, äh so ist der auch geprägt und er ist sicherlich auch jemand, äh (.)
bei aller Wahrung der eigenen Interessen, das-das ist jetzt mal, (.) sei mal dahin gestellt,
ist er doch jemand, der da ausgleichenden Konsens sucht (.) und ...
Interviewer: W-wie-wie macht er so was?
Befragter: (.) Ja das geht nur über Gespräche. Äh-äh und das geht auch nur über Über-
zeugung, sonst geht das nicht (.) äh (.) und wenn das so eingebettet ist, in einem Unter-
nehmen, (Räuspern) (..) äh, (.) dann ist es natürlich schwierig an einem Punkt zu sagen,
nee, da sind wir völlig anderer Meinung und-und äh jetzt gibt es auf die Mütze, (.) äh
das funktioniert so nicht, sondern äh da wird schon dann versucht, auch einen Ausgleich
hinzukriegen. Das dauert vielleicht dann mal ein paar Minuten länger, (.) äh, aber äh
(.) es ist an der Stelle, zumindest bis zum heutigen Tage, äh-äh (.) äh zwischen-zwischen
Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite so ein-ein Geben und ein Nehmen.

Konsens sei Unternehmenskultur und diese würde auch im Aufsichtsrat gelebt,


so der Befragte. Der Aufsichtsratsvorsitzende sei hierfür ein gutes Beispiel. Dieser
sei selbstverständlich auf der Seite des Kapitals und würde dieses auch vertreten.
Letztlich sei er jedoch auf „Konsens“ bedacht. Auf Nachfrage antwortet der Be-
fragte, dass der Aufsichtsratsvorsitzende diesen durch Gespräche suche. Er wisse zu
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 147

überzeugen. Und aus Perspektive der Arbeitnehmervertreter sei es nicht möglich,


sich diesem zu verschließen. Manchmal dauerte eine Entscheidung zwar „ein paar
Minuten länger“, aber letztlich zögen alle Beteiligten daraus ihren Vorteil und jeder
würde Zugeständnisse machen.
Interessant ist hierbei vor allem das Zugeständnis der Überzeugungskraft, das
dem Aufsichtsratsvorsitzenden gemacht wird. Zwar wird auch hier auf die grund-
legend andere Sprecherposition als Kapitalvertreter hingewiesen („eigene Interes-
sen“). Dennoch wird dem Aufsichtsratsvorsitzenden eben jene sachliche Autorität
zugesprochen, die er selbst auch für sich in Anspruch nimmt. Dies ermöglicht den
Arbeitnehmervertretern eine Figur, auch zu politisch unangenehmen Punkten zu-
zustimmen: Man kann sich „überzeugen“ lassen. Auf diese Weise wird die Ent-
scheidungsfindung sichergestellt: Bevor es zur Doppelstimme kommt, geben die
Arbeitnehmervertreter nach. Dies ist dann jedoch keine politische Niederlage, kein
Triumph des „Kapitals“, sondern einfach die „Einsicht in sachliche Kompetenz“.
Die fragliche Entscheidung wird einfach aus der politischen Kontextur ausgeklam-
mert („eigene Interessen“). Diese Möglichkeit wird supplementiert durch die Figur
der „Leute dahinter“ (Interview Anteilseignervertreter):

Befragter: …Äh also es ist, es wird schon das Eigeninteresse und die eigenen (.) sozusagen
Side Restriktionen werden doch weit zurückgestellt, um, (.) wenn es mal wirklich um die
Wurst geht. Also deshalb, sage ich mal...
Interviewer: Ja klar.
Befragter: … krass gesagt, (.) funktionieren die deutschen Aufsichtsräte überwiegend
wegen der Leute da drin. (.) Trotz der Strukturen und gesetzmäßigen Re-, Randbedin-
gungen, ja.
Interviewer: (lacht).
Befragter: Nicht wegen, sondern trotz.

Die „Leute“ in den Aufsichtsräten würden versuchen, die gegebenen Strukturen


zu umgehen und stellten ihre „Eigeninteressen“ hinten an – daher funktionierten
Aufsichtsräte.
Der Befragte macht hiermit ein Bild auf, das auch im folgenden Unternehmen
zum Tragen kommt: Es wird unterschieden zwischen „Menschen“ oder „Perso-
nen“ und ihren formalen Positionen als Arbeitnehmer- bzw. Anteilseignervertreter.
Durch diesen Unterschied wird es möglich, eine Ebene der Zusammenarbeit zu
finden, bei der die jeweiligen Sprecherpositionen als Umweltproblem erscheinen.
Zwar sind alle Aufsichtsratsmitglieder an diese gebunden. Doch die Bindung kann
als Problem des Gremiums behandelt werden, nicht jedoch als dessen Binnenstruk-
tur. Die Kompromissorientierung wird entsprechend diesen „Leuten“ zugerechnet.
Die Kontextur der Aufsichtsratsarbeit baut damit auf zentralen Motiven der An-
teilseigner- sowie der Arbeitnehmervertretung auf. Der „Betrieb“, das „Unternehmen“,
148 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

die „Sozialverträglichkeit“ verweisen innerhalb der beiden genannten Kontexturen


immer auf ein Drittes, weil sie den Bereich der eigenen Kontextur beschränken: Es
geht um den Betrieb als Ganzes, weswegen man auch immer auf die wirtschaftliche
Position der Anteilseignervertreter hören muss. Das „Unternehmen“ muss bewahrt
werden, weswegen man sich mit den vorhandenen Strukturen anfreunden muss,
man muss „sozialverträglich“ sein. Auf Ebene des Aufsichtsrats wird diese Struktur
nun das zentrale Moment des Strukturaufbaus. Es stehen nicht mehr Arbeitnehmer-
bzw. Anteilseignervertretung im Zentrum, die durch den „Betrieb“, die „Sozialver-
träglichkeit“ usw. begrenzt werden. Sondern Anteilseigner-, bzw. Arbeitnehmerver-
tretung stellen plötzlich die Grenzen der Kontextur „Aufsichtsratsarbeit“ dar. Sie er-
scheinen als „formale Rollen“ und damit als Grenzen der Bewegung der „Menschen“
innerhalb des Aufsichtsrats. Was also vorher mittels transjunktionaler Operationen
als Grenze der eigenen Kontextur konstruiert wurde, wird nun eine Positivstruktur.
Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretung werden hier mithilfe transjunktionaler
Operationen als Grenzen dieser Struktur konstruiert.
Diese Entkopplung der Entscheidungsfindung von den unterschiedlichen Kon-
texturen ist freilich nur begrenzt möglich, da jedes „Überzeugt-Werden“ stets
Gefahr läuft, wieder politisch interpretiert zu werden, wie auch jedes politische Zu-
geständnis immer wieder als wirtschaftliches Problem auftaucht. Als „Mensch“ im
Aufsichtsrat kann man denn noch so stark überzeugt sein, als Sprecher etwa der
Arbeitnehmervertreter ist es jedoch nicht möglich, dieses „Überzeugt-Sein“ auch
tatsächlich zu vertreten. Selbiges gilt für die Anteilseignervertreter.
Zumeist kann diesem Problem mit der Aushandlung eines Kompromisses (kei-
nes „Deals“ oder „faulen Kompromisses“) begegnet werden, der sowohl politisch
wie auch wirtschaftlich als Erfolg gerahmt werden kann. Doch dies ist nicht immer
möglich. Insbesondere in Situationen, die offenkundig politische Probleme mit sich
bringen, aber wirtschaftlich als nötig erscheinen, geraten die Arbeitnehmervertre-
ter in ein Dilemma: Sowohl die Zustimmung als auch die Gegenstimme sind hier
unmöglich. Erstere hieße politisches Versagen, Zweite hieße einen Verstoß gegen
die geteilte Kompromissorientierung der „Leute“, die bemüht sind, die „Struktu-
ren“ zu „umgehen“. Hierfür werden entsprechend Techniken entwickelt (Interview
stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Herr [Aufsichtsratsvorsitzender] äh (.), der versucht, dass er überall Ruhe hat.
Interviewer: (lacht).
Befragter: Ja und aber das funktioniert nicht immer, aber ist auch, äh (.) kann knallhart
sein, wo er dann ganz klar sagt, Herr [Befragter], ich verstehe sie, (.) aber es gibt keine
Alternative, (.) sagt er dann auch, aber es gibt dann, (.) er zieht dann auch äh die Zügel
an. Ja. (.) Also ich sage mal, so aus, weil er mich gut leiden kann, macht er auch nichts,
ja, (.) sondern es geht um die Sache und er will äh (.) eine Planung haben, die sieht so
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 149

aus und eine Planung, wenn was nicht eintrifft. (.) Also da ist er knallhart, (.) muss man
sagen, da äh. . .
Interviewer: Würde er sich dann auch auf eine Kampfabstimmung einlassen?
Befragter: (Räuspern) (.) Äh einlassen schon, aber (.) er versucht das auf einen anderen
Weg. Also bis jetzt haben wir nie eine Kampfabstimmung gehabt. Wir haben uns einmal
(.) äh oder nicht nur einmal, enthalten. Wo wir gesagt haben, nee, das tragen wir nicht
mit, aber wir wissen, es gibt keine Alternative, aber so, wir (.) tun uns dann enthalten
und nicht, ich kann nicht dafür stimmen, dass [Anzahl] Leute entlassen werden, das ist
ein Unding, aber ich kann auch nicht sagen, ich bin dagegen, weil ich, weil ich das nicht
mache, (.) dann geht es um [Anzahl], (.) kann auch nicht mein Interesse sein.

Der Aufsichtsratsvorsitzende sei stets um seine „Ruhe“ bemüht, was aber nicht im-
mer erfolgreich sei. An manchen Punkten sei er nicht mehr kompromissbereit. Es
gehe ihm dann „um die Sache“. Dann jedoch sei er „knallhart“. Die Frage, ob der
Aufsichtsratsvorsitzende denn hier einen offenen Konflikt in der Abstimmung ris-
kieren würde, wird relativiert. Dies habe man bisher immer vermeiden können, in-
dem die Arbeitnehmervertreter sich enthalten haben. Immer wenn man wisse, dass
diese Entscheidung getroffen werden müsse, die aber nicht im eigenen Interesse sei,
habe man dieses Vorgehen gewählt.
Die Stimmenthaltung wird hier die Lösung des zugrunde liegenden Dilemmas.
Auf der einen Seite sieht man sich den wirtschaftlichen Argumenten verpflichtet.
Auf der anderen Seite hingegen wird die politische Dimension gesehen, so in dem
genannten Beispiel: Man ist für die Entlassung einer großen Anzahl Beschäftigter,
weil diese das Unternehmen und alle weiteren Arbeitsplätze rettet. Gleichzeitig ist
man gegen sie, weil es sich eben um Entlassungen handelt, die mithin eben gegen
das stehen, was man gemeinhin unter dem Begriff des Arbeitnehmerinteresses fasst.
Insgesamt ergibt sich auch auf Arbeitnehmervertreterseite eine Kompromiss-
orientierung, die im Entscheidungsfall auf das Wort der Anteilseignervertreter
setzt. Die wirtschaftliche Oberhoheit wird letztlich anerkannt, der eigene Stand-
punkt dennoch eingeklagt, und kommt es zu einem letztlich nicht erträglichen
Konflikt, wenn die Kontexturen Wirtschaft und Politik so offen kollidieren, dass
dies nicht mehr mit der Sachkompetenz der Anteilseignervertreter zu überbrücken
ist, enthält man sich der Stimme.
Diese Orientierung führt auch zu Anerkennung durch die Anteilseigner (Inter-
view Prüfungsausschussvorsitzender):

Interviewer: Da kann ich mir vorstellen, dass das ´n Thema [Restrukturierungspro-


gramm] ist, was die Arbeitnehmervertreter auch im Aufsichtsrat trotzdem sehr berührt.
Und da kann ich mir…
Befragter: Natürlich
Interviewer 2: Eigentlich ganz gut ‘ne kontroverse Diskussion im Plenum auch vorstellen.
Gab’s die denn da auch?
150 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Befragter: Natürlich gibt’s die. Aber im Grunde genommen war die Arbeitnehmerseite
ähm sehr offen für notwendige Veränderungen. Die hat auch die-die Notwendigkeit
gesehen.

Auf die Frage des Interviewers nach der Reaktion der Arbeitnehmervertreter auf
ein Restrukturierungsprogramm antwortet der Befragte, dass es dort durchaus eine
kontroverse Diskussion gegeben habe. Jedoch hätten die Arbeitnehmervertreter die
Notwendigkeit des Programms akzeptiert. Er bejaht ausdrücklich die Nachfrage,
ob die Arbeitnehmervertreter im Hinblick auf wirtschaftliche Notwendigkeiten re-
flektiert aufträten.
Anders als insbesondere im Fall der Hamburger Bankhaus AG zeichnet sich
hier keinerlei Erwartungsenttäuschung der Anteilseignervertreter ab. Es besteht
die Erwartung, dass die Arbeitnehmervertreter in kritischen Punkten letztlich
nachgeben und diese wird auch erfüllt. Im Verständnis der Anteilseignervertreter
sehen sich damit die Arbeitnehmervertreter auch dem Unternehmenswohl ver-
pflichtet.
Zusammenfassend ließe sich sagen, dass die Kontextur der Zusammenarbeit auf
der Idee aufbaut, dass es einen Wert gibt, der weder politisch noch wirtschaftlich
voll zu fassen ist: das „Unternehmen“ bzw. den „Betrieb“. Diese Idee gibt es sowohl
auf der Seite der Anteilseigner- wie auch der Arbeitnehmervertreter. Sie wird stets
als Grenze der jeweiligen Kontextur konstruiert: Es gibt da eine dritte Kontextur,
die ist weder von der einen noch von der anderen Seite voll zu fassen. An dieser
Idee setzt eine Kontextur der Zusammenarbeit an. „Betrieb“ bzw. „Unternehmen“
werden jetzt die Positivstruktur der Kontextur in dem Sinne, dass Anteilseigner-
und Arbeitnehmervertretung als Kontextur Außenraum konstruiert werden, mit
denen man umgehen muss, die aber den Raum der Zusammenarbeit nicht voll
bestimmen. Sie limitieren ihn in derselben Form, wie „Betrieb“ und „Unterneh-
men“ Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretung limitieren. So kann hier davon
die Rede sein, dass es „gesunden Menschenverstand“ gibt, der ein Arrangement
von Politik und Wirtschaft sicherstellt. Beide Kontexturen werden mithilfe einer
totalen reflektierten Rejektion auf ihre Selbstreferenz beobachtet und immer mitre-
flektiert. In dieser Reflexion wird dann eine Positivstruktur einstimmiger Entschei-
dung im Sinne des „gesunden Menschenverstands“ aufgebaut. Dennoch kann es zu
Pattsituationen kommen. Diese werden dann entweder durch eine Selbstrejektion
der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gelöst: Man enthält sich der Stimme
und erreicht damit eine Situation, in der eine konkrete Entscheidung sowohl in der
Kontextur Aufsichtsrat wie auch in der Kontextur Arbeitnehmervertretung nicht
vorkommt. Die Normalität ist jedoch, dass die wirtschaftliche Kontextur im Auf-
sichtsrat der politischen vorgeschaltet wird: Im Zweifelsfall folgen die Arbeitneh-
mervertreter den Anteilseignervertretern.
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 151

4.3.2 Badische Motoren: Die „Menschen“ hinter „den Rollen“

Wie auch im Fall der Augsburger Maschinenbau AG zerfällt die Badische Motoren
klar in zwei Bänke. Jedoch kommt es auch hier zur Konstruktion von Brückense-
mantiken, die einen Anschluss zulassen. So sehen die Arbeitnehmervertreter sich
hier etwa klar zuständig für soziale Fragen, während sie den Anteilseignervertre-
tern eine höhere Kompetenz etwa in Finanzfragen attribuieren. Jedoch begreifen
sie sich – wie auch die Arbeitnehmervertreter der Augsburger Maschinenbau AG
– als kompetent im operativen Geschäft. Die Nähe zum Produkt und zu den Pro-
duktionsabläufen gibt ihnen eine Sprecherposition als Vertreter eines politisch-
wirtschaftlich indifferenten Betriebs. Sie sehen sich also in der wirtschaftlichen
Verantwortung, trennen ihren Zuständigkeitsbereich jedoch von dem der Anteils-
eignervertreter und halten darüber hinaus eine gewisse Oppositionsrolle aufrecht,
indem sie sich zu den Bewahrern eines „gesunden Menschenverstands“ stilisieren,
der einer übermäßigen Zahlenorientierung vorzubeugen hat.
Auf Anteilseignerseite findet diese Einstellung eine durchaus komplementäre
Position. Wie in allen anderen Fällen gilt es hier, sensibel auf Strömungen in der
Diskussion und insbesondere auf die Meinung des Aufsichtsratsvorsitzenden zu
achten. Eigene Kompetenzen dürfen nicht so dargestellt werden, dass andere Mit-
glieder bloßgestellt werden – selbst wenn dies heißt, dass die falsche Entscheidung
getroffen wird. Entscheidungen sind damit immer ein Kompromiss der Opportu-
nitäten. Dies bietet gute Anschlussmöglichkeiten für eine Aushandlung mit den
Arbeitnehmervertretern, zumal diesen noch Spezialkenntnisse im Bereich des
Unternehmens zugesprochen werden.
In der Zusammenarbeit bildet sich so eine stabile Konstruktion, die auf die Se-
mantik „vernünftiger Menschen“ zurückgreift, die man „hinter den Rollen“ sehen
müsse. Mit dieser Sprachregelung wird die Differenz beider Seiten klar aufrechter-
halten, jedoch nur als „Rolle“ begriffen, die man inne hat, die aber nur eine Ober-
flächlichkeit ist. Der Dialog wird auf einer Ebene angesiedelt, die hinter diesen
formalen Strukturen liegt. Zwar muss man beachten, dass jede Seite ihre eigenen
Opportunitäten hat, doch wird dies letztlich als externer Faktor gesehen, der die
Zusammenarbeit nicht behindern darf.

4.3.2.1 Anteilseignervertretung: Das Schweigen der


Kompetenten
Die Anteilseignerbank kann im Fall der Badische Motoren AG als klassisch bezeich-
net werden. Sie ist vollständig durch unternehmensfremde Anteilseignervertreter
besetzt, hat keine Vertreter eines Großaktionärs oder ähnliche Unregelmäßig-
keiten. Entscheidungsfindung wird auch im vorliegenden Fall vor allem über die
152 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Regeln der Kollegialität und der Hierarchie sichergestellt. Was aber hier besonders
gut sichtbar wird, ist die Rolle der generalisierten Kompetenzunterstellung, die die-
se Kollegialität trägt (Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Interviewer: M-hm, m-hm, klar. (.) Sie hatten schon davon gesprochen, dass Sie (.) und
Herr [Prüfungsausschussvorsitzender] eine sehr zentrale Rolle im-im Aufsichtsrat ein-
nehmen. Wer sind denn neben Ihnen noch sogenannte Wortführer im Aufsichtsrat bei
[Badische Motoren]?
Befragter: (..) Also ich beschränke mich jetzt auf die Anteilseignerseite. (…) Da ist jeder
unter den Wortführern. Also ich habe nicht einen einzigen Anteilseignervertreter in dem
Aufsichtsrat, (.) der da still und geduldig sitzen würde, sondern (.) d-da macht jeder
mit. Das sind ja auch alles gestandene Leute. Das ist ein [Name] von [Firma], also ein
[Name] (.) (.) früherer Vorstandsvorsitzende von [Firma].
Interviewer: Ja.
Befragter: Das sind alles erfahrene (.) Leute, die natürlich (.) ihre Rolle nicht darin sehen
zu sagen, ja jetzt warten wir mal bis [eigene Person] mit einem Beschlussvorschlag
kommt. Sondern die machen da schon heftig mit. Und das ist auch richtig so.

Auf die Frage nach den Wortführern im Aufsichtsrat antwortet der Befragte, dass er
sich in der Antwort auf die Anteilseignerseite beschränke. Dort dürfe man jedoch
nicht erwarten, dass die Personen sich nicht beteiligten. Vielmehr seien es alles „ge-
standene Leute“, die viel Erfahrung aufwiesen und keinesfalls darauf warteten, dass
der Aufsichtsratsvorsitzende die Entscheidungen für sie treffe. Alle würden sich an
der Diskussion beteiligen.
Sichtbar ist hier wieder die pauschale Kompetenzunterstellung, die auf Anteils-
eignerseite getroffen wird: Die Kollegen werden als engagiert und qualifiziert be-
zeichnet, mithin als eigene Kontextur, als eigene Reflexionsinstanz konstruiert. Es
sind Manager, welche die kontroversen Meinungen ausfechten, um die beste Ent-
scheidung für das Unternehmen herbeizuführen. Ebenso wird sofort sichtbar, dass
diese Kompetenzunterstellung auf die Seite der Anteilseignervertreter beschränkt
wird, wenn der Aufsichtsratsvorsitzende gleich zu Beginn der Passage ohne Anre-
gung dazu seine Aussage explizit auf diese bezieht.
Diese Kompetenzunterstellung bleibt jedoch prekär. Sie ergibt sich nicht aus
der alltäglichen Zusammenarbeit, sondern muss sorgfältig gepflegt werden. So ver-
neint etwa der Prüfungsausschussvorsitzende die Proposition des Interviews, dass
es sich bei den Gesprächen mit Kandidaten für ein Aufsichtsratsmandat um Aus-
wahlgespräche handele. Auf die Frage, was diese Gespräche denn seien, wenn nicht
Bewerbungsgespräche, antwortet der Befragte Folgendes:

Befragter: (.) Äh (.), wenn dann, ja, also wir haben (.) äh bei uns eine Vakanz, im (.)
Vorfeld haben wir uns mal überlegt, wer könnte aufgrund dieser und dieser Kriterien
und (.) wie sehen sie das und würden sie eine solche Aufgabe in Erwägung ziehen und (.)
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 153

also das ist kein Gespräch, bei dem sich dann der Kandidat vorstellt und sagt, ich habe
(…) im [Fachbereich] und ich habe im [Fachbereich] und habe (…) [Branche] dies und
das gemacht, weit gefehlt.
Interviewer: Okay, also eher so persönlich...
Befragter: Und der Nominierungsaus-, der Nominierungsausschuss (.) trägt dazu bei,
dass das Old Boys Network etwas eingedämmt wird, aber es verschwindet nicht.
Interviewer 2: Alles klar (lacht).
Interviewer: Aber das heißt, es geht tatsächlich dann eher so um die persönlichen Kom-
ponenten in so einem Gespräch, von...
Befragter: Ja.
Interviewer: … harmoniert das, passt der in unseren Aufsichtsrat...
Befragter: Ja und...
Interviewer: … und gar nicht mehr um den Lebenslauf.
Befragter: … ist die, ist die, ist die vermutete Fachkompetenz groß genug.
Interviewer: M-hm (.), ob Sie, also wird doch noch mal nachgefragt, ob sie tatsächlich
auch vorhanden ist?
Befragter: Ja, a-das versucht man im Vorfeld schon zu klären.
Interviewer: Ah okay, über andere herauszufinden.
Befragter: Also nicht-nicht-nicht so, dass man den-den Kandidaten fragt und sagt (.),
erklären sie doch mal bitte, Herr [Name], also wie ist denn ihre Erfahrung in dem und
dem Geschäft, sondern das-das würde (.) äh (.) in-in äh-äh-äh in diesem Personenbe-
reich und bei der (.) Firmengröße wahrscheinlich auch eher als Beleidigung empfunden,
wenn Sie danach gefragt werden. Also wenn Sie. . .
Interviewer: Ja.
Befragter: … mich da noch überhaupt fragen, dann sind Sie ja sowieso falsch.

In einem Gespräch, das vor der Berufung eines neuen Aufsichtsrats mit dem Kan-
didaten erfolgt, gehe es keinesfalls um Fachkompetenz. Dies kläre man vorher ab.
Einen Kandidaten hier auf seine Kompetenz hin zu befragten, werde vielmehr als
Beleidigung empfunden. Vielmehr versuche man nur noch ein Gefühl dafür zu be-
kommen, ob man persönlich ein gutes Arbeitsverhältnis herstellen könne.
Hier zeigt sich gut, dass die Kompetenz keineswegs thematisiert werden darf.
Sie muss stets als gegeben angenommen werden. Ebenso deutet sich an, in wel-
chem Ausmaß sie tatsächlich gefährdet ist. Die Kompetenzunterstellung ist fragil,
keinesfalls selbstverständlich und hält kaum eine kurzfristige Belastung aus. Wie
weit dies geht, zeigt sich in der folgenden Passage. Hier bezieht etwa ein ehemali-
ger Vorstand, der inzwischen Aufsichtsratsmitglied ist, folgendermaßen Stellung,
nachdem er seine besondere Vertrautheit mit dem Unternehmen dargelegt hat:

Interviewer: (.) Würden Sie sagen, das ist gerade für die Anteilseignerseite an der Stelle
im Aufsichtsrat auch ein großes Plus, (.) dass man da jemand hat, der auch Firmenin-
terna kennt und nicht nur die Arbeitnehmerseite, die Interna kennt?
Befragter: (..) Man muss sich halt sehr zurücknehmen, dass man diese-diese Detail-
kenntnisse, die man hat, nicht ständig vorträgt. (.) Und deswegen sage ich in der
154 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Aufsichtsratssitzung meistens wenig, (.) außer meistens, wenn ich gefragt werde, ja, (.)
außer es ist (.), es passiert etwas, wo man weiß, dass es schon zweimal in die Hosen
gegangen ist, was jetzt das ein drittes Mal gemacht werden soll, dann erlaube ich mir
schon zu sagen, ist doch schon zweimal in die Hosen gegangen, aus dem und dem Grund.
Interviewer: (lacht).
Befragter: Aber sonst eigentlich nicht.

Die Proposition des Interviewers, dass den Anteilseignervertretern aus dem Wis-
sensvorsprung des Befragten ein Vorteil gegenüber den Arbeitnehmervertretern
erwachse, wird vom Befragten verneint. Vielmehr, so dieser, müsse man darauf
achtgeben, dass man nicht zu häufig seine spezifischen Kenntnisse vortrage. Daher
sage er sehr wenig und melde sich nur, wenn wiederholt für ihn offensichtliche
Fehler gemacht würden.
In dieser Passage wird klar, wie weit die Orientierung an der generellen Kom-
petenzunterstellung geht: Sie ist oftmals wichtiger als die eigene kompetente Mei-
nung und auch als die richtige Entscheidung. Der Befragte ist erst dann in der
Lage, auf Fehler hinzuweisen, wenn diese wiederholt gemacht worden sind, also
prinzipiell jeder andere denselben Schluss ziehen könnte. Wenn hingegen Fehler
gemacht werden, die er aufgrund seines spezifischen Wissens als Einziger erkennt,
so scheint es, schweigt dieser eher. Die kompetente Meinung ist damit eher ein vir-
tuelles Artefakt: Sie wird unterstellt und gesehen, darf jedoch nur dann vorgetragen
werden, wenn sie die Kompetenz von niemand anderem beschädigt. Kompetenz ist
damit, wenn man so möchte, ein geteiltes Gut. Jeder ist kompetent, niemand kom-
petenter als jemand anders und die eigene Kompetenz steht nicht im Gegensatz zu
der vorherrschenden Meinung. Damit wird gleichsam deutlich, dass es sich auch
bei der kompetenten Entscheidungsfindung um eine Fiktion handelt. Das Bild, das
im ersten Zitat des Abschnitts heraufbeschworen wird, der Kreis kompetent und
herrschaftsfrei diskutierender Unternehmer, stellt keine Realität dar. Vielmehr wird
die Illusion aufrechterhalten, indem man gerade nicht seine kompetente Meinung
sagt, sondern eine Meinung, die für möglichst anschlussfähig und nachvollziehbar
gehalten wird. Jeder Anteilseignervertreter wird also von den anderen als potenziell
eigene Kontextur reflektiert. Diese Reflexion wird jedoch sofort wieder negiert, in-
dem die prinzipielle Identität aller unterstellt wird. Anteilseignervertreter sind in
diesem Sinne Kopien voneinander.
Dieser Mechanismus erleichtert im vorliegenden Fall die Entscheidungsfindung
wesentlich. Er stellt quasi ein funktionales Äquivalent zu einer starken Hierarchie
dar, die im vorliegenden Fall nicht sichtbar ist. Stattdessen konditionieren sich die
Anteilseignervertreter selbst. Sie beobachten den Lauf der Diskussion und regulie-
ren ihre Wortbeiträge. Dies erleichtert die Entscheidungsfindung maßgeblich (In-
terview Anteilseignervertreter):
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 155

Interviewer: (.) Hm mal provokativ vielleicht an der Stelle nachgefragt. Welche Rolle
spielen dann ein Herr [Anteilseignervertreter] oder ein Herr [Anteilseignervertreter]
oder auch ein Herr [Anteilseignervertreter]. . .
Befragter: Oder ich.
Interviewer: … als-als (.) oder Sie äh als-als unabhängige Vertreter in so einem
Aufsichtsrat?
Befragter: (.) Naja, also zunächst einmal sagt jeder Aufsichtsrat seine Meinung, das ist,
das und-und-und ist auch gefordert und ist auch erwünscht. Die Frage ist bloß, man
muss natürlich vorher überlegen, (.) äh (.) bringt es was oder bringt es nichts. (.) Nach-
dem man aber in der Regel ja die Dinge, die behandelt werden, vernünftig behandelt
werden, da können Sie mal davon ausgehen (lacht) äh und das ist auch generell so,
(.) gibt es eigentlich keinen Grund äh (.) irgendetwas infrage zu stellen, wenn-wenn es
vernünftig läuft (.) und äh (..) na und man hinterfragt halt auf der Grund der eigenen
Erfahrungsla-äh-äh-Erfahrungs-äh-basis hinterfragt man halt die Entscheidungen, ob
die, ob die, w-warum die so sind und-und weshalb die so sind. (.) Und man-man sagt
natürlich auch, wenn man anderer Meinung ist, natürlich sagt man das. (.) Aber es
bringt natürlich äh, sagen wir mal, eine (.) eine grundsätzliche Opposition bringt natür-
lich nicht viel, (.) in bestimmten Dingen. Dann muss man sich halt (.) irgendwo arran-
gieren. Und ich kann mich nicht erinnern, dass irgendwann mal in so einem Aufsichtsrat
man den Eindruck hätte, je-jetzt-jetzt passiert was, ir-ir-irgendetwas, was man, wo, was
man nicht vertreten kann. (.) Oder sagen wir mal, was-was-was von der Sache her falsch
ist. (.) Es gibt natürlich Ent-Entscheidungen, wo man sagen muss, das kann man so-so
oder so entscheiden (.) und dann muss man sich natürlich den Kopf drüber zerbrechen,
(.) dann kann man zwar seine Meinung sagen (.) und die wird auch diskutiert und
gesagt, aber ob man dann hinterher grundsätzlich dagegen ist, (.) wenn man schon weiß,
dass das nichts bringt, (.) das ist eine Frage, ob das gescheit ist oder nicht. (..) Und ist gar
nicht so einfach zu beantworten.

Auf die Frage hin, welche Rolle ein externer Anteilseignervertreter ohne besonde-
re Funktion in der Entscheidungsfindung spiele, antwortet der Befragte, dass je-
der seine Meinung sage. Dies gehe selbstverständlich nicht soweit, dass man alles
hinterfrage, solange es „vernünftig läuft.“ Man sage seine Meinung, ohne jedoch
eine „grundsätzliche Opposition“ zu beziehen, da man sich letztlich „arrangieren“
müsse. Zwar gebe es Entscheidungen, die man auch anders hätte treffen können.
Hierüber könne man diskutieren, doch letztlich könne man nicht „grundsätzlich
dagegen“ sein.
Die Wortbeiträge, das wird hier deutlich, werden so nicht nur dahingehend re-
guliert, dass die generalisierte Kompetenzunterstellung weiterhin trägt. Sie werden
auch dahingehend kontrolliert, dass Alternativen eng geführt werden. Dies drückt
sich in der Formulierung des „vernünftig laufen“ aus: Solange die Meinungsfindung
sich in einem Alternativraum bewegt, der als annehmbar betrachtet wird, gibt es
keinen Grund, weitere Alternativen zu öffnen („gibt es eigentlich keinen Grund,
irgendetwas infrage zu stellen“). Wird dieser Raum jedoch verlassen, gibt man zwar
seine Meinung zu Protokoll (freilich ohne die andere Meinung als inkompetent
156 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

abzuqualifizieren), stellt jedoch auch hier letztlich Anschlussfähigkeit sicher („eine


grundsätzliche Opposition bringt natürlich nicht viel“). Diese Figur ist funktional
äquivalent zu der Idee der „Sozialverträglichkeit“ als Gegenpol zum „Alphatier-
chen“, wie sie im Fall der Augsburger Maschinenwerke von den Anteilseignerver-
tretern geäußert wird.
Freilich wird hier die Hierarchie, die in anderen Gremien stärker ausgeprägt ist,
nicht vollständig ausgeklammert. Sie kommt jedoch in einer etwas mehr zurückhal-
tenden Art und Weise zum Ausdruck (Interview Prüfungsausschussvorsitzender):

Befragter: Ach das war also (..) äh, der Gedanken, w-wie es/also (.) müssen Sie sich
ja in der (.) Praxis wirklich so vorstellen, [Vorstandsvorsitzender], [Aufsichtsratsvorsit-
zender], das ist der Vorstandsvorsitzende und der Aufsichtsratsvorsitzende. Dann wird
der Nominierungsausschuss mit hinzugezogen, insofern habe ich das also zu einem frü-
hen Zeitpunkt gehört. Aber ich könnte nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, ob das
Thema vorher erst vier Wochen sozusagen auf der Flamme schmorte...
Interviewer: Ja. Aha.
Befragter: … oder schon vier Monate...
Interviewer: Okay.
Befragter: … oder irgendeinen Zeitraum dazwischen, also (.) äh-äh im-im Vergleich zu
allen anderen sicher früh, aber ob ich ganz früh dabei war, weiß ich auch nicht.
Interviewer: M-hm, m-hm, das heißt, die-der restliche Aufsichtsrat und auch die ande-
ren Anteilseignervertreter (.) werden erst relativ spät eingebunden.

Im Fall einer Nominierung für ein Aufsichtsratsmandat finde eine enge Abstim-
mung zwischen Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzendem statt, so der Befragte.
Erst später werde der Nominierungsausschuss eingebunden, die restlichen Anteils-
eignervertreter hingegen noch später.
Am vorliegenden Beispiel der Neunominierung wird deutlich, dass der Auf-
sichtsratsvorsitzende damit im Aufsichtsrat die Richtung vorgibt. Er eröffnet, wenn
man so möchte, den Raum möglicher Alternativen. Eine Erweiterung dieses Rau-
mes wird gleichsam durch die generalisierte Kompetenzunterstellung unmöglich
gemacht: Man darf zwar seine Meinung sagen, aber damit keinen Raum neuen
Wissens öffnen, in dem sich der Aufsichtsratsaufsitzende nicht auskennt, oder die
Kompetenz seiner Vorlage infrage gestellt wird. Aus demselben Grund ist es un-
möglich, neue Alternativen aufzuwerfen, da dies bedeuten würde, dass der Auf-
sichtsratsvorsitzende dies nicht bedacht hätte.
Die Auswahl der Alternativen folgt dann ebenso der Vorgabe des Aufsichtsrats-
vorsitzenden. Zwar darf man hier seine Meinung sagen. Diese wird jedoch durch
das Gebot des „Vernünftig-Laufens“ eingeschränkt (solange es halbwegs in Ordnung
ist, sagt man nichts) sowie durch das Oppositionsverbot letztlich auf die Vorgabe
des Aufsichtsratsvorsitzenden zurückgeführt. Die Entscheidung liegt damit auch
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 157

im vorliegenden Fall beim Aufsichtsratsvorsitzenden. Gleichzeitig kann jedoch die


Illusion des kompetent entscheidenden Gremiums aufrechterhalten werden.
Dieser Modus Operandi ermöglicht einige Anschlussmöglichkeiten für Diskus-
sionen mit den Arbeitnehmervertretern. Denn in der Figur des „Vernünftig-Lau-
fens“ deutet sich etwas Ähnliches an wie in der Semantik des Kompromisses im Fall
der Augsburger Maschinenwerke: Es geht hier nicht darum, immer das als richtig
Erachtete durchzusetzen, sondern darum, eine tragbare Entscheidung zu finden.
Ebenso findet sich in der Figur des Oppositionsverbots eine Möglichkeit des An-
schlusses: Letztlich wird mit ihr auf Entscheidungsfähigkeit im Konsens gesetzt.3
Es geht weniger darum, eine bestimmte Meinung durchzusetzen, sondern darum,
eine gemeinsame Entscheidung zu treffen – selbst wenn diese nicht als sinnvoll
erscheint.
Diese Anschlussmöglichkeiten werden im vorliegenden Fall dann auch aktuali-
siert (Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Interviewer: Sie haben gesagt, Sie ermuntern Arbeitnehmervertreter (.). Äh was ist es,
was Sie sich davon versprechen (.) von einer aktiven Arbeitnehmerbe-beteiligung? Es
gibt-gibt auch dazu ganz-ganz andere Positionen.
Befragter: (.) Ja, wir müssen mal eins sehen, die Arbeitnehmer sind an dem Betrieb (.)
viel näher dran als jeder Anteilseignervertreter.
Da kommt manchmal schon (.) erhellende Dinge an Beiträgen der Arbeitnehmer (..)
über Fehlentwicklung innerhalb des Unternehmens. Die ein Anteilseignervertreter über-
haupt niemals von sich aus erkennen kann. Aber die Arbeitnehmer, die (.) direkt davon
betroffen sind (.) und da höre ich dann schon manchmal genau zu.

Auf die Frage danach, was der Aufsichtsratsvorsitzende sich von einer aktiven
Arbeitnehmerbeteiligung verspreche, antwortet dieser, dass die Arbeitnehmer-
vertreter über spezifische Kompetenzen verfügten. Sie seien viel besser mit den
Interna des Unternehmens vertraut als die Anteilseignervertreter und man könne
immer wieder wertvolle Hinweise bekommen.
Wie im Fall der Augsburger Maschinenwerke wird hier also den Arbeitneh-
mervertretern Kompetenz zugeschrieben. Auch hier handelt es sich um die Zu-
schreibung einer Art Komplementärkompetenz: Was die Anteilseignervertreter
nicht wissen, wissen die Arbeitnehmervertreter. Damit werden diese als mögliche
Dialogpartner im Aufsichtsrat anerkannt. Sie werden als Sprecher mit ihrer eigenen
Position und ihrem eigenen Recht konstruiert, die es nicht nur zu überzeugen gilt,
wie in den Unternehmen des Typs 1.

3
Konsens wird hier mit Luhmann (2000b, S. 92) schlicht operativ gefasst als die Situation,
in der keiner widerspricht und alle der Fiktion anhängen können, dass der andere dasselbe
denkt wie man selbst.
158 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Auf dem Hintergrund der bisherigen Interpretationen zum Thema Kompetenz


wird jedoch auch deutlich, dass mit der Zuschreibung von Kompetenz etwas ande-
res impliziert ist: die Anerkennung der Position des Aufsichtsratsvorsitzenden, das
Oppositionsverbot und das „Vernünftig-Laufen“-Gebot. Von den Arbeitnehmer-
vertretern wird, indem ihnen Kompetenz zugeschrieben wird, letztlich dieselbe
Kompromissbereitschaft erwartet wie von den Anteilseignervertretern auch. Das
heißt dann in letzter Konsequenz, dass wie im Fall der Augsburger Maschinenwer-
ke auch hier die Erwartung besteht, dass die Führungsrolle des Aufsichtsratsvor-
sitzenden anerkannt wird. Dieser ist es, der letztlich die Richtung vorgibt.
Es handelt sich also im vorliegenden Fall um eine funktional äquivalente Kon-
struktion zur Anteilseignerseite der Augsburger Maschinenwerke AG: Auch hier
werden die Anteilseignervertreter als eigene Reflexionshorizonte konstruiert, die
jedoch sofort wieder negiert und der Einheit der Anteilseignervertretung unter-
stellt werden. Ebenso kommt es hier zur Konstruktion eines limitierten Bereichs
wirtschaftlicher Kompetenz der Arbeitnehmervertreter. Der „Betrieb“ erscheint
als Instanz, die der Anteilseignervertretung entzogen ist und für den die Arbeit-
nehmervertreter sprechen – nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Die
Anteilseignervertretung limitiert sich damit selbst, indem sie die Arbeitnehmer-
vertretung als eigene Kontextur konstruiert, die nicht sofort negiert wird. Dennoch
steht die Kompetenz der Arbeitnehmervertretung immer unter Vorbehalt. Sie muss
sich in akzeptablen Bereichen bewegen, die von der Anteilseignervertretung fest-
gelegt werden.

4.3.2.2 Arbeitnehmervertretung: „Arbeit und Soziales“


Die Arbeitnehmervertreter im Fall der Augsburger Maschinenwerke internalisie-
ren das Dilemma zwischen Wirtschaft und Politik in einem relativ hohen Maße.
Sie sehen sich zum einen einer ökonomisch sinnvollen Unternehmensführung ver-
pflichtet, zum anderen jedoch auch der Interessenvertretung im Sinne der Arbeit-
nehmer. Arbeitnehmervertretung meint also auch hier eine Verschachtelung der
Kontexturen Wirtschaft und Politik. Das Dilemma zwischen politischer Legiti-
mität und wirtschaftlicher Rationalität tritt hier allerdings weniger offen zutage
– wenn es auch weiterhin besteht. Prominenter wird hingegen die – dort ebenfalls
vorhandene – Figur komplementärer Zuständigkeiten. Die Arbeitnehmervertreter
schließen hier bündig an die Kompetenzkonstruktion der Anteilseignervertreter
an: Während Letztere für die Unternehmensführung zuständig sind, sehen Erstere
ihre Zuständigkeit in sozialen Fragen und einer betrieblichen Komplementärkom-
petenz. So kann etwa folgende Passage über die Berufung eines Finanzvorstandes
als typisch angesehen werden (Interview stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzen-
der):
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 159

Befragter: So wenn ein Finanzvorstand, wenn [ehemaliger Finanzvorstand] ausscheidet,


da hat man den [neuer Finanzvorstand] geholt (.), äh da nimmt der (Husten) [Aufsichts-
ratsvorsitzende] natürlich Kontakt mit mir auf, hat natürlich schon eine Vorauswahl
getroffen. (.) Und äh sich eigentlich auf einen (.) ja äh (.) auf einen verständigt, mit-mit
dem [Vorstandsvorsitzender], mit einem, mit einem [Prüfungsausschussvorsitzender]
(.) äh, hm und äh dann habe ich natürlich die Option, er ist jetzt von [Unternehmen]
gekommen (.), den, mir den anzuschauen, auch ausführlich. Ich habe den dann äh (.),
auch einmal in der Arbeitnehmervorbesprechung zu anderen Themen äh kommen las-
sen (.) [zum Hauptstandort], dann hat er sich zwei Stunden vorgestellt und so. Also
die Möglichkeit habe ich schon, (.) aber das ist natürlich für mich schwierig, jetzt so
einen Menschen einzuschätzen. Also da müsste ich auch sagen, wenn ich äh (.), wenn
sie irgendwann kommen nach einem halben Jahr und sagen, das ist nicht das, was wir
uns versprochen haben, bin ich froh, dass ich nicht letztendlich (.) äh mich wirklich zu
so einem (.) Einkauf von einem Vorstand äußern muss. Weil wie der mit seinen ande-
ren Vorstandskollegen klarkommt und ob der das Geschäft versteht (.), ob das jetzt für
[Unternehmen] nur mehr ein Vertriebsmann war als ein Finanzmensch oder (.) weiß
man nicht. (.) Da ist man, tut man sich natürlich schwer (Räuspern).

Im Fall der Neuberufung des Finanzvorstandes habe er sich auf das Urteil des Auf-
sichtsrats-, des Prüfungsausschuss- und des Vorstandsvorsitzenden verlassen. Er
könne eine solche Personalie nicht beurteilen und sei daher letztlich froh, hier
nicht zuständig zu sein.
Zitate dieser Form lassen sich im vorliegenden Fall einige finden. Ob im Fall
der Prüfungsausschussarbeit, der Nominierung von Aufsichtsratsmitgliedern oder
der Berufung von Vorständen – häufig wird die Position eingenommen, dass man
als Arbeitnehmervertreter hier nicht zuständig sei. Es wird eine partiale Rejektion
vorgenommen und viele wirtschaftliche Themen werden einfach ausgeklammert.
Dieses Motiv findet sich besonders ausgeprägt vor allem im Fall des Aufsichtsrats
der Einzelhandel Meyer AG: Es wird eine Sphärentrennung installiert, die jeder
Bank ihre eigene Zuständigkeit zuweist und die andere Seite damit weitgehend ent-
bindet. Aber anders als im Fall der Unternehmen des Typs 1 ist die andere Seite, die
Seite, für die sich die Arbeitnehmervertreter zuständig sehen, hier nicht die reine
Interessenvertretung (Interview Gewerkschaftsvertreter):

Interviewer: Äh (..) ich-ich-ich hätte äh hm, hm eine Frage zu den Domänen, Sie haben
das gerade angesprochen, die-die-die Finanzen als Domäne der Anteilseigner. Was wür-
den Sie als Domäne der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat begreifen?
Befragter: (…) Alles äh (.), was mit/also das ganze Inlandsgeschäft auf jeden Fall. Also
der gesamte Bereich äh-äh deutsche (.), vielleicht auch noch äh (.) äh (.) österreichischer,
also so-so ein bisschen deutschsprachiger Raum das ist äh ganz sicherlich äh Domäne
der Arbeitnehmer. (..) Äh der gesamte Bereich von (..) äh (.) äh-äh sozialer Hygiene im
Unternehmen. (.) Das ist sicherlich Domäne der Arbeitnehmer (.), auch die Frage von äh
(.) Integrationen von Zukäufen ins Unternehmens ist sehr stark Domäne der Arbeitneh-
mer. Also Integration interessiert die Anteilseignerseite äh eigentlich äh nur unter dem
160 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Aspekt, sind die Erwartungen, die wir mal gestellt haben, auch erfüllt worden. Alle zwei
Jahre Überprüfung, stimmen die Zahlen, gut ist. Da sind die Arbeitnehmer, gehen da
sehr viel tiefer ins Eingemachte hinein. Früher nannte man das mal Arbeit und Soziales.

Auf die Frage des Interviewers nach den Zuständigkeitsbereichen der Arbeitneh-
mervertreter nennt der Befragte das Inlandsgeschäft im weitesten Sinne. Ebenso
wird die Integration von Zukäufen in das Unternehmen genannt.
Anders als im Fall der Unternehmen des Typs 1, insbesondere der Einzelhandel
Meyer AG, wird damit hier nicht eine reine Oppositionsposition stark gemacht. Es
ist nicht die Interessenvertretung, der man sich hier zuordnet, sondern das Manage-
ment. Dabei wird jedoch auch hier dezidiert eine Komplementärposition bezogen,
indem darauf hingewiesen wird, dass sich die Anteilseignervertreter etwa um Fra-
gen der Integration von zugekauften Unternehmensteilen nicht sorgten. Es wird wie
auch im Fall der Augsburger Maschinenwerke die Figur des „Betriebs“ bemüht. Auf
der einen Seite heißt das, die unternehmerische Sorge um Personalangelegenheiten.
Es heißt, aus dem Betrieb zu informieren und die eigene Vertrautheit mit dem ope-
rativen Geschäft nutzbar zu machen. Auf der anderen Seite schwingt auch hier die
politische Dimension mit: Es geht in diesem Sinne darum, die Interessen der Kol-
legen im Betrieb gegenüber den Anteilseignervertretern zu artikulieren. Der Aus-
druck „Arbeit und Soziales“, der heute vor allem in der Politik Verwendung findet,
gibt diese Position gut wieder. Damit wird hier eine ähnliche Oppositionsfigur ver-
wendet, die sich auch im Fall der Augsburger Maschinenwerke findet, wenn darauf
hingewiesen wird, dass die Anteilseignervertreter nur auf die Zahlen achten wür-
den: Es ist die Opposition des „Betrieblichen“ gegenüber der „Kennzahlorientie-
rung“ der Anteilseignervertreter. Auch hier wird diese Figur mit der Semantik des
gesunden Menschenverstands unterfüttert. So antwortet der leitende Angestellte auf
die Frage danach, warum er sich in den Aufsichtsrat wählen lassen hat, Folgendes:

Befragter: Insofern (.) die Frage noch mal, was ich erwartet habe, (..) also das meiste
doch (.) äh Horizonterweiterung (.) und dann eben den gesunden Menschenverstand
trotzdem noch zu behalten, (.) weil äh doch einige Aufsichtsratsmitglieder (.) äh gewisse
Dinge im [Motorenbau] nicht verstehen. Das merkt man dann, wenn [Dienstleistungs-
bereich] dazukommen, (.) äh die aus einer ganz anderen Richtung kommen und warum
wir eben teilweise im [Ingenieursbereich] eben Probleme haben und die dann zu verste-
hen, wie kann so was sein, (..) ja?
Interviewer: Ich nehme an, Sie (.) meinen damit jetzt hm einige der Anteilseignervertreter.
Befragter: Ja, ja.

Er habe sich vorgenommen, seine Fachkenntnis und seinen „gesunden Menschen-


verstand“ nicht zu verlieren. Denn diese sowie eine gesunde Vertrautheit mit der
Produktion im eigentlichen Kerngeschäft würden im Aufsichtsrat fehlen.
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 161

Damit wird hier dieselbe Semantik verwendet wie im Fall der Augsburger Ma-
schinenwerke: Es ist der „gesunde Menschenverstand“ gegenüber einer Kennzah-
lenorientierung, die ihren eigenen Gegenstand nicht mehr kennt. Erweitert durch
den Bezug zum Produkt heißt das auch hier, dass eine „reale Realität“ gegenüber
einer „Realität der Kennzahlen“ stark gemacht wird, gegenüber einer „virtuellen
Realität“, in der sich viele Anteilseignervertreter befinden.
Durch diese Figur einer Komplementärkompetenz auf Arbeitnehmerseite wird
damit stets die wirtschaftliche Anschlussfähigkeit gewahrt: Es wird gegenüber den
Anteilseignervertretern und dem Vorstand wirtschaftlich argumentiert – selbst
wenn die Gründe für diese Argumentation im Politischen liegen (Interview Ge-
werkschaftsvertreter):

Befragter: … von jemandem aus der Zentrale, der (.) äh sagt dann, also (.) wir haben
da diese oder jene Entscheidung, die-die Abteilung soll geschlossen werden, das hat aber
Auswirkungen dahin und so (.) und äh geben mir dann einfach so bestimmte Informa-
tionen mit, die ich einordnen kann und äh wenn ich der Auffassung bin, das macht
alles Sinn oder es ist alles unsinnig, dann bin ich eben auch in der Lage, dann zu sagen
und übrigens, dass diese Abteilung geschlossen wird, schwächt uns in diesem oder jenem
Bereich, aber strategisch ist es genau wichtig, da aufgestellt zu sein und Ähnliches. Und
das hat durchaus auch dazu geführt, dass das eine oder andere dann auch äh mal ein-
fach neu bedacht wurde.

Sobald er die Information bekommt, dass ein bestimmter Bereich geschlossen wer-
den soll, könne er dagegenreden. Er könne die strategische Bedeutung deutlich
machen und den Schaden, der dem Unternehmen aus einer bestimmten Kürzung
erwachse.
Schön zu sehen an dieser Passage ist hier die Doppelwertigkeit, mit der gearbei-
tet wird: Es wird gegenüber einer Entscheidung Opposition bezogen, die politisch
fragwürdig ist – hier die Streichung einer Abteilung. Dies wird jedoch nicht politisch
getan. Die Arbeitnehmervertreter gehen nicht auf Vorstand und Anteilseignerver-
treter zu und weisen auf Legitimitätsprobleme hin. Stattdessen wird wirtschaftlich
argumentiert. Es wird ein Szenario entwickelt, in dem der Konzern mit der betrof-
fenen Abteilung wirtschaftlich besser aufgestellt ist als ohne sie. Damit leisten im
vorliegenden Fall die Arbeitnehmervertreter eine Übersetzungsleistung zwischen
politischer und wirtschaftlicher Kontextur. Und das nicht nur in dem Sinne, dass
die wirtschaftliche Dimension einer Entscheidung mitreflektiert wird. Ebenso ist
es möglich, politische Sachverhalte wirtschaftlich zu formulieren, was Anschluss-
fähigkeit aufseiten der Anteilseignervertreter sicherstellt. Die Figur des „Betriebs“,
den es zu bewahren gilt, hat in seiner Bivalenz so eine enorme Tragweite. Sie kop-
pelt Politik und Wirtschaft auf eine Weise aneinander, die nicht mehr ohne Weite-
res zu unterlaufen ist. Selbst wenn die Anteilseignervertreter den wirtschaftlichen
162 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Argumenten der Arbeitnehmervertretung Ideologiehaftigkeit unterstellen wollten


– entkräftet werden müssen sie dennoch.
Diese Figur des „Betriebs“ kann dabei nur funktionieren, weil sie für die gesam-
te Arbeitnehmerseite als Kontingenzformel zur Bestimmung der Aufsichtsratspo-
sition verwendet wird. Referenzen wie die Branche oder die politische Position der
Gewerkschaft kommen nicht vor. So äußert sich selbst der Vertreter der Gewerk-
schaft über Legitimitätsprobleme folgendermaßen:

Befragter: Wobei das natürlich auf (.) Arbeitnehmerseite immer schwieriger zu organi-
sieren ist als auf der Anteilseignerseite, weil wir als Arbeitnehmer im Hintergrund (.),
ich weiß nicht, zurzeit, glaube ich, [Anzahl] Betriebsräte haben. Und die natürlich auch
alle ein Eigenleben führen, die dann über Gesamtbetriebsräte, Teilkonzernbetriebsräte,
Konzernbetriebsräte organisiert sind und äh-äh, wenn man mit vielen Gremien und
vielen Menschen zusammenarbeiten, sind Meinungsbildungsprozesse halt schwieriger
zu organisieren, als wenn man sagt, ich habe da zehn Anteilseigner und die müssen nur
alle mal mit dem Kopf nicken.

Interessant an dieser Passage ist weniger das, was gesagt wird, als vielmehr das,
was nicht gesagt wird. Denn in der komparativen Analyse mit den Aufsichtsrä-
ten des Typs 1 fällt auf, dass die Gewerkschaften hier nicht als Instanzen politi-
scher Legitimität erscheinen. Selbst der Gewerkschaftsvertreter redet hier wie
selbstverständlich davon, dass es die Betriebsräte sind, mit denen man sich als
Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat auseinandersetzen muss. Hier müssen
Mehrheiten beschafft werden – die Gewerkschaft kommt als Sprecher praktisch
nicht vor. Arbeitnehmervertreter zu sein, heißt damit auch im vorliegenden Fall:
Vertreter der Arbeitnehmer im Betrieb zu sein.
Ebenso deutet sich im vorliegenden Zitat an, dass die Konstruktion der Ver-
tretung des Betrieblichen Legitimitätsprobleme birgt. Denn auch hier geraten die
Arbeitnehmervertreter in dasselbe Dilemma, das im Fall der Augsburger Maschi-
nenwerke zu beobachten ist (vgl. S. 134 ff.): Sie akzeptieren diejenige Kontextur
als gültig, gegen die sie Opposition beziehen. Es muss sowohl die Notwendigkeit
der „Kennzahlorientierung“ als auch die Notwendigkeit einer begrenzten Finanz-
marktorientierung erkannt und befürwortet werden (Interview stellvertretender
Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Das ist ja, ist ja immer die Dividende äh (.), die ist eigentlich ein Wert, wo ja
auch mit der Dividendenzahlung Geld aus dem Unternehmen rausfließt, das ist natür-
lich (.) äh für einen Arbeitnehmervertreter eigentlich schöner, wenn jetzt äh hier in der
Halle neue Maschinen kämen, anstatt Aktionäre bedient werden müssen. Aber (.) letzt-
endlich äh kann ich ga- (Husten) kann ich mich nicht en-en-entwickeln ohne finanzielle
Möglichkeiten und der Markt (Räuspern) ist nun mal so, dass Aktionäre nicht da hin-
gehen, wo es keine Dividende gibt. Also ist ein notwendiges Übel ...
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 163

Sobald man sich auf die Argumentation des Wirtschaftlichen einlässt und diese zu
seinem Vorteil zu nutzen bemüht ist, muss man feststellen, dass man keinesfalls
über die Kontextur verfügt. Vielmehr spannt der logische Raum des Wirtschaft-
lichen eine Menge von Beziehungen und Folgen, von Gesetzmäßigkeiten und Re-
geln auf, denen sich der jeweilige Sprecher zu unterwerfen hat, will er diese Regeln
für sich nutzen. Die politische Nutzung des Wirtschaftlichen heißt dann nämlich
im Umkehrschluss auch an dieser Stelle: die Akzeptanz der Verwirtschaftlichung
des Politischen. Sobald sich die Arbeitnehmervertreter hierauf eingelassen haben,
müssen sie den Tanz mittanzen – genauso wie die Anteilseignervertreter sich mit
den wirtschaftlichen Argumenten der Arbeitnehmervertretung auseinanderzuset-
zen haben.
Die Arbeitnehmervertreter im Fall der Augsburger Maschinenwerke haben auf
dieses Dilemma mit einem systematischen Ausbau der Figur einer „realen Realität“
gegenüber einer „Realität der Kennzahlen“ reagiert. Sie haben ein Modell des nach-
haltigen Wirtschaftens einem Modell des kurzfristigen, zahlenorientierten Wirt-
schaftens gegenübergestellt. Ansätze hierzu kann man auch im vorliegenden Fall
immer wieder beobachten. Letztlich jedoch bleibt die Position der Arbeitnehmer-
vertreter im vorliegenden Fall schwächer als im vorherigen Fall. Dies mag wesent-
lich damit zusammenhängen, dass die Arbeitnehmerbank hier fast vollständig neu
besetzt worden ist. Die wenigsten Arbeitnehmervertreter sind mit der Regelhaftig-
keit des Feldes vertraut. Ein anderer Grund kann in der wirtschaftlich relativ guten
Entwicklung der letzten Jahre liegen. In jedem Fall stehen die Arbeitnehmervertre-
ter aber einem Vorstand und einem Aufsichtsratsvorsitzenden entgegen, gegenüber
denen das passende Konzept für eine Rolle fehlt, die sowohl Opposition als auch
Management vereint (Interview stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: [Der Vorstandsvorsitzende] hat seinen Laden im Griff, muss man auch sagen,
(.) also wenn das jetzt ein schwacher Aufsichtsratsvorsitzende wäre, ich glaube, der hätte
keinen leichten Stand in dem Gremium. Aber ist ein Starker, ist ein, ist ein Macher, ist
ein dominanter (.) Typ der aber auch äh in allen Themen Bescheid weiß. Also man
fängt ihn auch, nicht mal, dass er sagt, weiß ich nicht. (.) Also er kann seinen Job, er
hat seinen Laden im Griff (Räuspern) und von daher (.), wie gesagt, äh es gibt [Kon-
kurrent] und die [anderer Konkurrent], die sind gar nicht mehr, [Badische Motoren]
hat sich umgestellt, anders aufgestellt, im Dienstleistungsbereich äh investiert und hat
alles richtig gemacht und äh (..) anhand auch jetzt der Krise (.) äh gibt es viele von den
Anteilseignern, die da sitzen, die im eigenen Laden viel größere Problemen haben (.), als
hier die sie jetzt im Aufsichtsrat bei [Badische Motoren] diskutieren müssen.

Den Vorstandsvorsitzenden wie auch den Aufsichtsratsvorsitzenden sieht der Be-


fragte als stark an. Sie würden überall Bescheid wissen und „den Laden im Griff “
haben. Die Situation bei der Konkurrenz sei viel schlechter, da diese sich nicht an
neue Gegebenheiten angepasst hätten.
164 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Gut sichtbar ist hier ein Orientierungsmuster (Bohnsack 1998), das an anderer
Stelle dominant wird und die Einheit der Bank bestimmt (vgl. 4.5. Typ 4: Legitime
Wirtschaft). Die Arbeitgeber werden hier respektvoll als Herrscher des Raums des
Wirtschaftlichen konstruiert, der gleichzeitig affirmiert wird. Sie erscheinen als
diejenigen, die das Unternehmen voranbringen und entsprechend zugleich wirt-
schaftlich und legitim handeln. Raum für Opposition bleibt im Fall dieses Orientie-
rungsmusters nicht mehr. Das Um-zu-Motiv des wirtschaftlichen Erfolgs gepaart
mit dem Orientierungsrahmen der Submission lässt hierfür keinen Raum.
Jedoch wird dieses Orientierungsmuster hier nicht dominant. Es bestimmt
nicht den Raum der Arbeitnehmervertretung. Dieser bleibt bestimmt vom Motiv
des „Betriebs“ in seiner ganzen Ambivalenz. Das Orientierungsmuster legitimer
Unternehmensführung durch die Arbeitgeber limitiert diesen Raum jedoch. Es
greift, weil die Semantik, die der Arbeitnehmervertretung hier zur Verfügung steht,
nicht in dem Grad stabilisiert ist, wie sich dies bei den Augsburger Maschinenwer-
ken findet. Dabei finden sich dieselben grundlegenden Elemente. Es gibt das Motiv
des „Betriebs“, das sowohl die Interessen der Arbeitnehmer als auch das operative
Geschäft meint. Ebenso lässt sich die Akzeptanz des Dilemmas von Wirtschaft und
Politik finden, das durch das Motiv der Opposition gegenüber einer überborden-
den „Kennzahlorientierung“ bearbeitet wird. Die „reale Realität“ gegenüber einer
„imaginären Realität“ innerhalb des Wirtschaftlichen schafft auch hier sowohl An-
schluss- wie auch Oppositionsfähigkeit.
Die Limitation, die den Arbeitnehmern hier durch das Motiv der wirtschaft-
lichen Führung entspringt, scheint vor allem durch die Stärke des Motivs der
Komplementarität stabilisiert zu werden: Stärker als im Fall der Augsburger
Maschinenwerke werden hier Zuständigkeiten getrennt. Zwar gibt es diese Sphä-
rentrennung dort auch, etwa wenn den Anteilseignervertretern die Welt der
„Kennzahlen“ überlassen wird, doch erstreckt sich diese nicht so weit. Denn im
vorliegenden Fall ist es nicht nur die Welt der Kennzahlen, die der anderen Seite
überlassen wird. Es sind auch wesentliche Fragen der Strategie sowie der Vor-
standsberufung, für die sich die Arbeitnehmervertreter als nicht geeignet betrach-
ten. Kennzeichnend ist hier die erste Interviewpassage im vorliegenden Abschnitt.
Die Arbeitnehmer beschränken sich hier selbst auf die Zuständigkeit „Arbeit und
Soziales“, was im Fall der Augsburger Maschinenwerke nicht geschieht. Vielmehr
wird dort stattdessen eine Semantik des „nachhaltigen“ Wirtschaftens betrieben,
durch welche die Arbeitnehmervertreter Anspruch auf die Mitwirkung an strategi-
schen Entscheidungen erheben. Dies bleibt im vorliegenden Fall aus. Die grundle-
gende Strukturierung des Kontextur Arbeitnehmervertretung bleibt jedoch gleich:
Es wird eine Sphärentrennung zwischen Arbeitnehmer- und Anteilseignervertre-
tern gezogen. Die Arbeitnehmervertretung verinnerlicht das Dilemma zwischen
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 165

Wirtschaft und Politik und bearbeitet es durch die Figuren des „gesunden Men-
schenverstandes“, bzw. der „realen Realität“ und des „Betriebs“.

4.3.2.3 Vernünftige Menschen“ hinter den „Rollen“


Die Erfahrungsräume der Anteilseigner- sowie der Arbeitnehmervertreter deuten
hier auf einen hohen Grad der Komplementarität, jedoch auch auf mögliche Kol-
lisionspunkte. Anschlussmöglichkeiten werden auch hier vor allem über die Figur
der Kompetenz gegeben. Auf Anteilseignerseite wird durch die Attribution von
Kompetenz eine Sprecherrolle innerhalb der eigenen Kontextur zugewiesen: Wer
kompetent ist, kann sich berechtigt äußern. Dies trifft hier auch auf die Arbeit-
nehmervertreter zu. Wie im Fall der Augsburger Maschinenwerke wird ihnen eine
Form der Kompetenz, eine Art Komplementärkompetenz zugeschrieben, nämlich
Vertrautheit mit internen Abläufen. Gleichzeitig kommt mit der Anerkennung von
Kompetenz jedoch auch die Verpflichtung, sich einer bestimmten Form der Ent-
scheidungsfindung unterzuordnen. Denn mit der Kompetenzzurechnung geht ein
Oppositionsverbot – man darf sich nicht völlig gegen eine Entscheidung stellen
– und das „Vernünftig-Laufen“-Gebot einher – solange eine Entscheidung sich in-
nerhalb annehmbarer Rahmen bewegt, redet man nicht dagegen.
Die Arbeitnehmervertretung ist wie im Fall der Augsburger gespalten. Zu einem
gewissen Grad wird die Kontextur der Anteilseignervertreter akzeptiert und eigene
Kompetenz konstruiert. Auch hier sind es die Figuren des „gesunden Menschen-
verstands“ und der „realen Realität“, die vertreten werden müssen. Dabei wird die
„Realität der Kennzahlen“ jedoch – anders als im Fall der Augsburger Maschi-
nenwerke – neben Fragen wie Vorstandsberufung und wesentliche Punkte der
Strategie den Anteilseignern zugerechnet. Es wird somit eine ausgeprägte Sphären-
trennung vorgenommen, die beinahe an den Fall der Einzelhandel Meyer AG erin-
nert. Während die Arbeitnehmervertreter sich für „Arbeit und Soziales“ zuständig
sehen, bleibt für die Anteilseignervertreter der Rest. Diese Trennung ermöglicht
dann auch gleichzeitig wieder eine Form der Oppositionsarbeit. Denn die Vertraut-
heit mit der „realen Realität“ und die Zuständigkeit für „Arbeit und Soziales“ heißt
hier nicht nur Komplementärkompetenz innerhalb der Kontextur Unternehmens-
führung. Sie bedeutet gleichzeitig die Möglichkeit der Oppositionsarbeit gegen ein
kennzahlengetriebenes Kapital zugunsten der Arbeitnehmervertreter. Die Figur
des „Betriebs“ bildet damit auch hier die Brücke: Den „Betrieb“ vertreten heißt
zum einen, die Interessen der Kollegen zu vertreten, und zum anderen, die Per-
spektive des operativen Geschäfts in der Unternehmensführung zu artikulieren.
Es handelt sich um eine weiche Identität, eine Art transjunktionale Semantik, die
das Verhältnis von Wirtschaft und Politik aufseiten der Arbeitnehmervertretung
konditioniert.
166 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Wie im Fall der Augsburger Maschinenwerke zeigen sich hier also Anschluss-
punkte, die vor allem im Fall der Kompetenzattribution und -konstruktion zu
finden sind. Diese werden zudem durch die im vorliegenden Fall ausgeprägte Sphä-
rentrennung begünstigt – die Arbeitnehmervertreter ziehen sich stärker aus der
Sphäre der Unternehmensführung zurück als die Arbeitnehmervertreter der Augs-
burger Maschinenwerke. Gleichzeitig stellt jedoch die Oppositionsrolle, die aus der
Doppelwertigkeit der Figur „Betrieb“ entspringt, Konfliktpotenzial dar; hier wird
das Politische wieder eingeführt.
Tatsächlich spannt sich die Zusammenarbeit genau zwischen den Polen der An-
erkennung der Autorität der Anteilseignervertreter, insbesondere der Führungs-
rolle des Aufsichtsratsvorsitzenden, und einer begrenzten Oppositionsarbeit auf,
die jedoch stets im Rahmen einer klaren Kompromissorientierung bleibt. Diese
grundlegende Orientierung wird über beide Bänke hinweg geteilt. So wird aus dem
folgenden Zitat etwa klar, dass sich der Führungsanspruch des Aufsichtsratsvorsit-
zenden nicht auf seine Bank erstreckt (Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Interviewer: Also es ist dann ta-tatsächlich eine offene Diskussion, die sich entspannt
auch zwischen den Bänken.
Befragter: Ja.´(unklar) vielleicht-vielleicht, das will ich sehr offen diskutieren nächste
Woche (.), noch ein bisschen dadurch beeinträchtigt, dass auf der Arbeitnehmerseite (.),
aber das ist ja nun ein Spezialfall, dass (…) dass fast die gesamte Arbeitnehmerseite
gleichzeitig ausgetauscht wird (.), dass dadurch gewisse (..), ja Unsicherheiten, Berüh-
rungsängste herrschen. Aber das war (.) bei der vorher-, bei dem vorhergehenden Auf-
sichtsrat, wo ich dann (.) gestandene Arbeitnehmervertreter mit Aufsichtsratserfahrung
drin saßen, da war das (…) völlig (.) ohne Berührungsängste und ohne jede Unsicher-
heit. (..) Aber das ist sicherlich auch meine Aufgabe, wenn (.), gerade wenn so ein, so
ein (.) Totalwechsel stattfindet, (..) dann eben auch auf die Neuen zuzugehen (.) und sie
einzubeziehen und sie mitzunehmen.
Interviewer: Wie machen Sie das? (.) Also wenn (.), wenn Sie jetzt...
Befragter: (.) Ich habe mit zwei Aufsichtsrats-, zwei Arbeitnehmervertretern bilaterale
Gespräche geführt. Sie ermuntert und (..) dann eben zweimal fragen. Gibt es denn noch
Wortmeldungen und dann guckt man halt gerade (.) zufällig in die Ecke. Wo die Arbeit-
nehmer sitzen bei [der Badischen Motoren], auch das war ein Diskussionspunkt, da sit-
zen wir alphabetisch. Da kam dann der Wunsch, nein, wir möchten in Bänken sitzen.
Interviewer: (lacht) Von wem wurde der Wunsch geäußert?
Befragter: Von Arbeitnehmerseite.
Interviewer: Oh st-, das ist ja interessant.
Befragter: Und da ha-, das habe ich abgelehnt. Und gesagt, ich kenne keine Bänke, ich
kenne nur 20 Aufsichtsratsmitglieder. Und wenn (.) unter euch Redebedarf während der
Aufsichtsratssitzung steht, dann unterbrechen wir und dann könnt ihr rausgehen und
euch mal Viertelstunde untereinander austauschen.

Die Arbeitnehmervertreter seien noch unsicher, da nicht ausreichend mit der


Aufsichtsratsarbeit vertraut, so der Aufsichtsratsvorsitzende. Daher sei er darum
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 167

bemüht, sie verstärkt einzubinden, indem er sie etwa direkt oder indirekt zu ver-
schiedenen Themen adressiere. Versuche, den Aufsichtsrat zu teilen, lehne er hin-
gegen ab, so etwa den Vorschlag der Arbeitnehmervertreter, nicht alphabetisch
sondern getrennt in Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreter zu sitzen. Er „ken-
ne nur 20 Aufsichtsratsmitglieder.“
Was hier als freundliche Bestärkung und Einbindung vorgetragen wird, hat de
facto den Effekt, dass der Aufsichtsratsvorsitzende die Kontextur der Anteilseigner-
vertreter als dominierende installiert. Er lehnt den Versuch der Trennung und damit
den Versuch einer festen Einrichtung der Differenz von Politik und Wirtschaft in der
Aufsichtsratsarbeit ab. Gearbeitet wird hier nur mit der wirtschaftlichen Referenz,
innerhalb derer er den Arbeitnehmervertretern eine Sprecherposition einräumt, die
er jedoch gleichwohl beherrscht. Je eher also diese Integration der Arbeitnehmer-
vertreter gelingt, desto eher kann der Raum wirtschaftlicher Diskussion als gemein-
sames legitimes Feld gefestigt werden. Dies geschieht auch. Der Anspruch des Auf-
sichtsratsvorsitzenden bleibt in diesem Sinne nicht nur seine Erwartung. Vielmehr
wird diese Erwartung geteilt (Interview betrieblicher Arbeitnehmervertreter):

Befragter: Damit man das sieht. (.) Äh (.) wenn er [der Aufsichtsratsvorsitzende] aber
merkt, dass die Diskussion in eine andere Richtung läuft, wo er einfach sagt, das hat mit
dem Thema nichts mehr zu tun, weil manchmal haben Sie ja eine Diskussion (.), da
gehen Sie auf einmal weg.
Interviewer: Ja-ja.
Befragter: Dann macht er direkt puch, Ruhe, ne, das ist also sofort dann (.), ja, ne und
dann kann noch mal einer was zum Thema sagen und dann ist aber Schluss, ne. Und äh
das/er lässt jede Diskussion zu, ne. Also er ist da nicht, der jetzt sagt (.), hm, sie sowieso,
ne, Geschwätz, ne oder (.) das macht er nicht, ne. Man hat auch das Empfinden nicht bei
ihm, ne, dass er jetzt sagt, so bei mir ist der jetzt so (.) und den kennt er nicht gerade so
gut, den bügelt er direkt ab, ne. Also das ist auf keinen Fall, ne. Also muss man schon-
schon sagen, ne, da hat er (.) große Achtung, ne. [Aufsichtsratsvorsitzender]. Kompro-
misse. aber keine faulen Kompromisse

Der Aufsichtsratsvorsitzende greife schnell ein, wenn eine Diskussion nicht wie ge-
wünscht verlaufe. Im Fall von „Geschwätz“, das nichts mehr mit „dem Thema“ zu
tun habe, beende er die Debatte. Dabei bleibe er jedoch immer fair und bevorteile
niemanden. Es gibt mit ihm keine „faulen Kompromisse“.
Der Aufsichtsratsvorsitzende wird hier die Figur des gerechten Herrschers, der
zwischen „Geschwätz“ und guten Beiträgen stets zu unterscheiden vermag, der nie-
manden bevorzugt und damit tatsächlich nur „20 Aufsichtsräte“ und keine Bän-
ke kennt. Die Arbeitnehmervertreter erkennen damit seine Autorität voll an und
ordnen sich damit dem „Vernünftig-Laufen“ und dem Oppositionsverbot unter.
Denn es ist hier der Aufsichtsratsvorsitzende, der entscheidet, was eine legitime
und vernünftige Opposition ist und wann etwas vernünftig läuft. Damit hat er auch
168 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

das Recht, den Grad der Opposition zu bestimmen, in dem die Arbeitnehmerver-
treter sich begeben dürfen. Der Aufsichtsratsvorsitzende wird damit gleichzeitig
wirtschaftlich wie politisches Regulativ.
Trotz aller Anerkennung des Aufsichtsratsvorsitzenden bleibt die andere Seite des
„ Betriebs“, die politische Komponente bestehen (Interview leitender Angestellter):

Befragter: Also (..) man kann sich einschätzen (..) und der Vertreter von [Investor] ist
jetzt neu im Gremium seit zwei Jahren, das ist der Herr [Name], (.) und das hat sich
aber auch relativ vernünftig angelassen, (..) also (..) es gibt Aufsichtsratssitzungen in
anderen Unternehmen, die laufen unharmoschischer-unharmonischer, wenn ich an (.)
Conti und so denke, ja.
Interviewer 1: (lacht).
Befragter: Und [anderes Unternehmen].
Interviewer 2: Ist denn Harmonie im Aufsichtsrat wichtig?
Befragter: Ich glaube schon.
Interviewer 2: Warum? Also ganz naiv nachgefragt.
Befragter: Weil, (.) ich sage mal, Emotionen (..) einem manchmal den Blick verstellen
für d-die wesentliche Entscheidung. (.) Also man muss sich ja nicht in den Armen liegen,
man kann sich ja gegenseitig die Meinung, das muss ja nicht Harmonie sein, (..) äh (..),
aber es muss äh im Prinzip ja nur um die Sache entschieden werden (..) und äh (.) ja gut,
es gibt manchmal persönliche Vorwürfe, die gibt es schon, wenn ein Gewerkschaftsver-
treter mal in einer Betriebsversammlung (.) zu forsch aufgetreten ist und man vom Vor-
stand meint, das sind Dinge (.) berichtet worden, die da nicht hingehören, sondern ein
Aufsichtsratsthema war. (..) Da hat es bei uns dann schon mal einen Disput gegeben, wo
dann Herr [Aufsichtsratsvorsitzender] während der Aufsichtsratssitzung (.) den Gewerk-
schaftskollegen zur Seite genommen hat, in einen Nebenraum, Aufsichtsratssitzung lief
weiter, (.) der Vertreter führte die dann (..) und dann war das nach fünf Minuten wie-
der erledigt. Also es wird schon, also Harmonie würde ich das jetzt nicht nennen, aber
es wird schon vernünftig miteinander umgegangen, da wird nichts auf die lange Bank
geschoben oder sich die Ordner vollgeschrieben, (.) das wird offen diskutiert.

Die Anteilseignervertreter eines neuen Investors hätten sich bisher „vernünftig“ ver-
halten. Bei der Badischen Motoren verlaufe es nicht so „unharmonisch“ wie in an-
deren Unternehmen, wo es zu offenen Konflikten komme. Auf die Nachfrage, ob
„Harmonie“ wichtig sei, konkretisiert der Befragte und gibt an, dass es letztlich im-
mer um „die Sache“ gehen müsse. Zwar käme es immer wieder zu Konflikten, die
aber vor allem auf ein zu „emotionales“ Verhalten von Gewerkschaftsvertretern zu-
rückzuführen seien. Letztlich jedoch gehe man immer „vernünftig“ miteinander um.
Der betreffende Gewerkschaftsvertreter reflektiert dieselbe Situation, in der er
sich mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden aufgrund seiner Meinung nach unzurei-
chender Information der Angestellten durch Aufsichtsrat und Vorstand gestritten
hatte:
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 169

Befragter: Es war ein richtiger Streit im Aufsichtsrat, (.) äh (.) äh, was auch dazu geführt
haben, dass äh-äh während der Sitzung Herr [Aufsichtsratsvorsitzender] und ich uns
mal gleichzeitig die Hände waschen gegangen sind, äh Themen waren schon längst vor-
bei, so und dann irgendwie es ging (.), ir-, bei irgendeinem Vortrag, der-der gehalten
wurde und (.) dann sagte zu mir, äh-äh das kennen wir beide schon alles, lassen sie
uns mal rausgehen. So und dann haben wir einfach noch mal so die persönliche Ebene
wiederhergestellt.

Was aus beiden Zitaten deutlich wird, ist, dass offene Konflikte nicht persönlich
attribuiert werden. Sie gelten als Ausnahmefälle. Im Fall der Passage aus dem Inter-
view mit dem leitenden Angestellten wird Emotionalität attribuiert, also letztlich
eine Form der Unzurechnungsfähigkeit. Diese kann als Ausnahme auftreten, wird
dann aber mithilfe einer totalen undifferenzierten Rejektion einfach ausgeklam-
mert. Was jedoch danach als geteilte Norm wieder betont wird, ist die Kompro-
missorientierung. Während der offene Konflikt das Irrationale, das Emotionale
darstellt, ist es das Rationale, das „Vernünftige“, das die geteilte Norm darstellt.
Diese Figur wird in der zweiten Passage durch die Figur der „persönlichen Ebene“
ergänzt. Der Streit ist damit ein Oberflächenphänomen, das auftreten kann, die
eigentliche Beziehung aber nicht betreffen darf. Die faktische Abweichung von der
Norm dient hier also dazu, die Norm zu stabilisieren.
Das Motiv der „persönlichen Beziehung“ wird noch weiter elaboriert. Es wird
nicht nur auf den offenen Streit als Ausnahmefall bezogen, sondern auf den struk-
turellen Unterschied von Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretern (Interview
Gewerkschaftsvertreter):

Interviewer: Aber jetzt, ich finde das ganz spannend, hm (.) kann man sagen, Sie können
sich eigentlich nur mit ihm so gut streiten, weil Sie ein souveränes persönliches Verhältnis
haben zueinander?
Befragter: (…) Ein souveränes Ve-, also äh wir-wir haben auf der persönlichen Ebene
(.) äh, also ich-ich bin so gestrickt, dass ich sowas (.) sowieso trenne. Also für mich, für
mich gibt es immer jemanden, der in einer Funktion vor mir sitzt und dann gibt es den
Menschen dahinter. Und ich glaube, bei Herrn [Aufsichtsratsvorsitzender] ist das ganz
ähnlich. Also äh der-der-der weiß, dass jeder eine-eine bestimmte Rolle. Diese Rolle ver-
tritt er und äh (.) äh das hat aber jetzt äh nicht unbedingt was damit zu tun, dass man
den Menschen jetzt ganz schlimm findet oder nicht schlimm findet.

Die Frage des Interviewers, dass man sich nur gut streiten könne, weil man ein
gutes persönliches Verhältnis habe, wird bejaht. Denn man müsse, so der Befrag-
te, immer zwischen dem Menschen und seiner Rolle unterscheiden. Dies sei auch
beim Aufsichtsratsvorsitzenden der Fall. Dieser vertrete eine bestimmte Rolle, die
aber nichts damit zu tun habe, dass der Mensch „schlimm“ sei.
170 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Der Unterschied von Politik und Wirtschaft als Primärreferenz wird hier also
von den Personen getrennt. Es handelt sich hier nicht um „böse Kapitalisten“, son-
dern um Menschen wie alle anderen auch. Dies macht die Orientierung einer „ver-
nünftigen“ Zusammenarbeit erst möglich. Denn diese findet auf eben jener Ebene
des „Menschlichen“ statt. Es wird also eine neue Kontextur aufgespannt, wie dies
auch im Fall der Augsburger Maschinenwerke vorlag. Die jeweilige formale Bin-
dung an politische bzw. wirtschaftliche Kontextur wird als Externalität angesehen,
mit denen man einen gemeinsamen Umgang finden muss. Jeder ist zwar an die
eigene Position gebunden, doch diese Gebundenheit kann als gemeinsames Prob-
lem adressiert werden.
In der Folge kommt es zu einer Entscheidungspraxis, die an „guten Kompro-
missen“ im Unterschied zu „faulen Kompromissen“ oder „Deals“ (vgl. S. 115 ff.)
interessiert ist. Dies deutet sich schon im obigen Zitat an und wird auch vom Auf-
sichtsratsvorsitzenden ausgeführt:

Befragter: Und versuche da, schon mal (..) in Richtung (.) Konsens zu kommen, (.) aber
Konsens hat auch seine Grenzen und Konsens (.) darf nicht in Harmonieduselei aus-
arten. Also faule Kompromisse (.) gibt es zumindest bei mir nicht. Ich versuche, mit
den Arbeitnehmervertreter, das ist [Badische Motoren] bisher immer gelungen, (.) ein-
vernehmlich durchzukommen. Ich habe bei [Badische Motoren] noch nie (.) auch nur
andeutungsweise drüber nachdenken müssen, ob ich die Zweitstimme ziehe. (..) Aber
immer im Sinne von sauberen Kompromissen, nie im Sinne von (.) faule Kompromisse.
Also manchmal äh wird in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, (..) dass das ein
do(unklar) ist, dass man die Arbeitnehmervertreter nur dadurch (.) zum Ja zu irgend-
einer Vorlage bringt, (..) dass man auf der anderen Seite (.) Zugeständnisse macht. (.)
Es-ich weiß nicht, ob es so was (.) gegeben hat. Ich habe es noch nie erlebt und ich würde
es auch von mir aus nicht praktizieren. (..) Da ist dann am Ende des Tages, wenn es gar
nicht anders geht, (.) da ist dann die Zweitstimme da.

Er, so der Aufsichtsratsvorsitzende, bemühe sich zwar um Konsens, tue jedoch


nicht alles dafür. Letztlich müssten saubere Kompromisse geschlossen werden.
Ginge dies nicht, so habe er immer noch die Möglichkeit der Doppelstimme.
Wie im Fall der Augsburger Maschinenwerke geht es hier entsprechend um
Kompromisse, die sowohl wirtschaftlich als auch politisch tragbar erscheinen. Es
sind in diesem Sinne Kompromisse zwischen zwei Parteien, die darum wissen, dass
sie sich innerhalb verschiedener Kontexturen bewegen und beide Kontexturen mit-
einander arrangieren müssen. Es sind Kompromisse, die zwischen den „Menschen“
hinter den „Rollen“ ausgehandelt und getragen werden. Es bildet sich so eine Posi-
tivstruktur des tragfähigen Kompromisses. Diese wird zwar immer wieder mit der
Eigenlogik von Politik und Wirtschaft konfrontiert, kann diese Eigenlogik jedoch
immer wieder einklammern, um sie dann umso effektiver bearbeiten zu können.
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 171

Der Kompromiss geht dabei auf beide Dimensionen ein und sucht nach einem
Arrangement, das Freiheitsgrade auf beiden Seiten verwendet und die Frustration
möglichst gering hält.
Die Möglichkeit der Doppelstimme bleibt dabei weitgehend irreal. Wie auch
im Fall der Augsburger Maschinenwerke ist sie vor allem Symbol (und selbstver-
ständlich tatsächliche Machtmöglichkeit) der Dominanz der Anteilseignervertre-
ter. Sie wirkt durch die Präsenz der Möglichkeit, jedoch nicht durch die faktische
Anwendung. Und selbst diese Präsenz ihrer Möglichkeit wirkt erst dann, wenn
ein Kompromiss nicht zu finden ist. So ist für alle Aufsichtsratsmitglieder auch
selbstverständlich, dass die Doppelstimme nicht gezogen wird. Diese tatsächliche
Anwendung würde nämlich das Scheitern des Dialogs zwischen „vernünftigen
Menschen“ bedeuten, also dem gemeinsamen Orientierungsrahmen völlig ent-
gegenstehen. Dies betonen auch die Arbeitnehmervertreter (Interview Gewerk-
schaftsvertreter):

Befragter: Es hat dann mal irgendwann eine Phase gegeben, (.) wo die Kapitalseite nicht
mehr so viel Wert darauf gelegt hat (.), das war denen dann egal (.) und es gibt jetzt wie-
der eine Phase, (.) wo die Kapitalseite au-hohen Wert darauf legt, dass Abstimmungen
nicht äh gegen die Stimme des oder mit der Stimme des Vorsitzenden, also mit der Dop-
pelstimme d- stattfinden. Äh wir haben jetzt beispielsweise einen Prozess (.) äh, um die
(.) [Umstrukturierung des Konzerns]. Wir wollen [umstrukturieren] und da ist es ganz
deutlich, dass der (.) Aufsichtsratsvorsitzende mit uns viele Gespräche, Vereinbarungen,
Vorgehensweisen abstimmt, (.) um seine Doppelstimme nicht ziehen zu müssen.

Der Befragte zieht hier einen Vergleich zu früheren Zeiten im Aufsichtsrat. Wäh-
rend die damaligen Anteilseignervertreter nicht viel Wert auf die Zustimmung der
Arbeitnehmervertreter gelegt hätten, sich dies nun der Fall, was sich am Beispiel
einer geplanten Umstrukturierung sehen lasse. Hier bemühe sich der Aufsichtsrats-
vorsitzende stark um die Zustimmung der Arbeitnehmervertreter.
Die Zusammenarbeit wird somit geprägt durch eine geteilte Kompromissorien-
tierung. Beide Seiten sind bemüht, Entscheidungen so zu treffen, dass sie sich mög-
lichst gut wirtschaftlich als auch politisch einbetten lassen. Eine Überstimmung
der Arbeitnehmervertreter wird dabei ausgeschlossen. Dennoch ist die Möglich-
keit der Doppelstimme die entscheidende Grenze. Sie sichert, dass im Zweifelsfall
die Anteilseignervertreter den Weg vorgeben. Dies wird jedoch von den Arbeitneh-
mervertretern auch akzeptiert. Gleichwohl kann es hier immer wieder Fälle geben,
in denen Entscheidungen nicht als ausreichend politisch opportun erscheinen. Die
politische Kontextur stellt hier Anforderungen, denen die wirtschaftliche nicht ge-
nüge tun kann. In diesen Situationen wird jedoch mit selektiver Stimmenthaltung
auf Arbeitnehmerseite reagiert (Interview Anteilseignervertreter):
172 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Befragter: (.) Ja, in der Plenumssitzung ist das meistens ja soweit vorgeklärt, dass zwar
die Bedenken und die Überlegungen vorgetragen werden, dieses aber letztlich dann die
Entscheidung nicht mehr beeinflusst, äh zu der sich so im Vorfeld durchgerungen hat.
Interviewer: Okay.
Befragter: (.) Aber es gibt ab und zu natürlich schon, die stimmen ja nicht gegeneinan-
der in der Regel, (.) die Arbeitnehmer, aber es gibt, wenn man dort äh, sagen wir mal,
unfreu-ungern zustimmt, (.) dann stimmen halt einige zu und die anderen ent-enthalten
sich der Stimme, um damit zu demonstrieren, dass äh, dass sie eigentlich äh...
Interviewer: Dagegen sind.
Befragter: … hm nicht-nicht unbedingt der gleichen Meinung, aber dass ihnen vielleicht
auch nichts Besseres einfällt im Moment.

Vor der jeweiligen Abstimmung sei schon klar, wie abgestimmt werde. Normaler-
weise sei dies einstimmig. In Einzelfällen jedoch komme es vor, dass sich einige
Arbeitnehmervertreter enthielten, um zu zeigen, dass sie nicht „der gleichen Mei-
nung sind, aber dass ihnen vielleicht auch nichts Besseres einfällt.“
Zwei Aspekte werden in diesem Zitat noch einmal deutlich hervorgerückt: Zum
einen erscheinen Gegenstimmen nicht als reale Möglichkeit innerhalb der Kon-
textur des Kompromisses. Die einzelne Gegenstimme, erst recht aber die kollek-
tive Gegenstimme und die folgende Doppelstimme würde das Scheitern des Dia-
logs „vernünftiger Menschen hinter den Rollen“ bedeuten. Es wäre ein Scheitern
beider Seiten. Die einzelne abweichende Stimme kann dabei noch im Sinne eines
Mehrheitsbeschlusses verstanden werden. Innerhalb des Politischen lässt sie sich
als Widerstand sehen, innerhalb der Kontextur des Kompromisses lässt sie sich
ausklammern und innerhalb der Anteilseignerstruktur ebenso.
Darüber hinaus zeigt aber auch der letzte Satz des Befragten das Dilemma der
Arbeitnehmervertreter an. Wenn der Anteilseignervertreter hier darauf hinweist,
dass die Arbeitnehmervertreter offenbar nicht „der gleichen Meinung“ sind, „ih-
nen vielleicht aber nichts Besseres einfällt“, ist damit genau das Dilemma inkongru-
enter Kontexturen bezeichnet. Denn die Ablehnung einer Entscheidung resultiert
hier aus der politischen Kontextur. Aus Fragen politischer Legitimität muss gegen
eine bestimmte Entscheidung Position bezogen werden. Der Mangel an Alternati-
ven jedoch resultiert daraus, dass diese Alternative keine politische, sondern eine
ökonomische sein muss. Ökonomisch hingegen ist die aus politischen Gründen
abgelehnte Entscheidung als sinnvoll zu betrachten. Entsprechend ist es überhaupt
nicht möglich, eine Alternative zu formulieren. Es gibt schlichtweg keine, weil die
jeweilige Entscheidung in zwei verschiedenen Alternativräumen konstruiert wird,
in einem politischen und einem wirtschaftlichen.
Zusammenfassend ließe sich hier eine ähnliche Konstruktion feststellen wie
im Fall der Augsburger Maschinenwerke. Aufseiten der Arbeitnehmervertreter
lässt sich mit der Rede von „Arbeit und Soziales“ eine Referenz auf den „Betrieb“
4.3 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik 173

beobachten, der Wirtschaft und Politik koppelt. Nicht nur hält der „Betrieb“ das
jeweilige Verständnis dessen, was politisch oder wirtschaftlich richtig ist, nah beiei-
nander. Er ermöglicht es den Arbeitnehmervertretern auch, Politik und Wirtschaft
zu einem Teil ineinander zu übersetzen. Zudem wird hierdurch eine kompetente
Sprecherposition gegenüber den Anteilseignervertretern möglich. Diese verfügen
mit dem Oppositionsverbot und dem „Vernünftig-Laufen“-Gebot über effiziente
Techniken, individuelle Abweichung zu minimieren und die Position von einem
Aufsichtsratsvorsitzenden bestimmen zu lassen, der die Abstimmung mit den Ar-
beitnehmervertretern als wesentlich ansieht. Auf Ebene des Aufsichtsrats bildet sich
damit auch im vorliegenden Fall eine Kontextur des Kompromisses, die Wirtschaft
und Politik als externes Problem zu behandeln vermag. Wie im Fall der Augsburger
Maschinenwerke wird hier ein für beide Seiten tragfähiges Arrangement gesucht.
Pattsituationen werden dabei im Zweifelsfall zugunsten der Anteilseignervertreter
gelöst.

4.3.3 Zusammenfassung

Die Aufsichtsratspraxis des Typs 2 folgt einer klaren Kompromissorientierung.


Zwar ist auch hier die Trennung zwischen Anteilseigner- und Arbeitnehmervertre-
tern handlungsleitend, jedoch werden beide Kontexturen durch eine gemeinsame
Orientierung an „Kompromissen für das Unternehmen“ verklammert. Die Positiv-
struktur der Anteilseignervertretung ist hier ähnlich strukturiert wie im Fall der
Anteilseignervertretung des Typs 1. Auch hier rechnen sich die Anteilseignerver-
treter eine höhere Kompetenz zu und sehen sich letztlich in der Verantwortung für
das Unternehmen. Im Zweifelsfall, so der Anspruch, sollten sich die Arbeitnehmer-
vertreter den Anteilseignervertretern anschließen. Der wesentliche Unterschied zu
den Unternehmen des Typs 1 besteht jedoch darin, dass die Anteilseignervertreter
eine ihrer wesentlichen Aufgaben darin sehen, Kompromisse herbeizuführen. Ma-
nager, die nicht in der Lage sind, den Frieden im Unternehmen zu erhalten und
andere Perspektiven in ihre Entscheidung mit einzubeziehen – selbst wenn diese
nicht als unmittelbar rational erscheinen – gelten als „Egomanen“. Gleichzeitig wird
im vorliegenden Fall den Arbeitnehmern innerhalb einen beschränkten Raumes
Kompetenz zugesprochen, also Recht und Pflicht zur wirtschaftlichen Mitsprache –
insbesondere wenn es um Angelegenheiten des „Betriebs“ geht.
Die Arbeitnehmervertreter befinden sich in den Unternehmen dieses Typs in
einer dilemmatischen Situation. Auf der einen Seite sehen sie sich als Interessen-
vertreter, die den Arbeitnehmern verpflichtet sind. Auf der anderen Seite wer-
den jedoch auch klare Unterschiede zwischen der Aufsichtsratsarbeit und reiner
174 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Interessenvertretung gesehen. Die wirtschaftliche Dimension der Aufsichtsrats-


arbeit wird nicht abgelehnt wie in den Unternehmen des Typs 1, sondern wird
mit- und zusammengeführt im Begriff des „Betriebs“: Man vertritt sowohl die
wirtschaftlichen wie auch die politischen Belange eben jenes „Betriebs“. Dies im-
pliziert wirtschaftliche Mitsprache, gleichzeitig jedoch auch Selbstbeschränkung,
da wirtschaftliche Mitsprache immer thematisch und wirtschaftlich begrenzt
bleibt. Gleichzeitig sichert der „Betrieb“ dabei auch die Rolle in der Opposition ab:
Zwar werden wirtschaftliche Positionen eingenommen, aber eben gegenüber einer
„Kennzahlenfixierung“ der Anteilseignervertretung. Diese Limitation hat dann je-
doch auch die Folge, dass man nur Gast im Wirtschaftlichen ist und im Zweifelsfall
auf das Urteil der Anteilseignervertreter hört.
Dies ergibt eine nicht spannungsfreie, aber konsensorientierte Zusammenarbeit.
Die Aufsichtsratsarbeit ist immer noch primär an der Differenz von Anteilseig-
ner- und Arbeitnehmervertretern orientiert. Jedoch entsteht hier eine Kontextur,
aus der heraus Dialogfähigkeit möglich wird. Es entsteht eine Kontextur des Kom-
promisses, die sowohl politische wie auch wirtschaftliche Kontextur als externes
Problem behandeln kann. So sehen die Anteilseignervertreter die Zustimmung der
Arbeitnehmervertreter als zentral für das Unternehmen an und lassen sich auf Zu-
geständnisse ein, ohne in diesen illegitime Irrationalität zu sehen. Gleichzeitig blei-
ben es jedoch auch die Anteilseignervertreter, die im Zweifelsfall bestimmen, wo
ein Kompromiss gefunden wird. Sehen sie keine Möglichkeit, den Arbeitnehmer-
vertretern entgegenzukommen, so kommen diese in der Regel den Anteilseigner-
vertretern entgegen. Die Entscheidungsfindung ist entsprechend zumeist einstim-
mig. In manchen Situationen gibt es Gegenstimmen von der Arbeitnehmerbank.
Die Doppelstimme wird dabei selten gezogen. Der wesentliche Unterschied zu den
Unternehmen des Typs 1 liegt jedoch weniger in der formalen Einstimmigkeit als
vielmehr darin, dass den verabschiedeten Entscheidungen zumeist eine geteilte In-
terpretation zugrunde liegt. Insofern sind sie nicht nur formal einstimmig, sondern
auch in der Deutung geteilte Entscheidungen des gesamten Gremiums.

4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“

Die ersten beiden Typen der mitbestimmten Aufsichtsratspraxis orientieren sich


primär an der Differenz von Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretern. Diese
Differenz strukturiert die Entscheidungsfindung und bestimmt die Arbeit des Gre-
miums. Im Fall der Aufsichtsräte des Typs 1 verläuft die Abarbeitung dieser Diffe-
renz ohne gemeinsame Ebene der Aufsichtsratsarbeit. Die Anteilseignervertreter
arbeiten mit einer klaren wirtschaftlichen Orientierung, die Arbeitnehmervertreter
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 175

mit einer klaren politischen. Im Fall der Aufsichtsräte des Typs 2 wird diese Ein-
deutigkeit in der Referenz partiell aufgebrochen. Es entstehen Figuren wie die des
„Betriebs“, die eine Überbrückungsfunktion haben. Es entstehen Schnittstellen, die
es ermöglichen, Arbeitnehmer- und Anteilseignerbank miteinander zu koppeln. In
der Folge können Entscheidungen zumeist mit einer gemeinsamen Deutung und
weitgehend einstimmig getroffen werden.
Im Fall der Aufsichtsräte des Typs 3 wird die Differenz von Arbeitnehmer- und
Anteilseignervertretern als primäre Differenzierungsform des Aufsichtsrats aufge-
geben. Sie wird überlagert von der Differenz zwischen „Internen und Externen“,
also solchen Aufsichtsratsmitgliedern, die aus dem Unternehmen kommen und
mit dem Unternehmen vertraut sind, und solchen, die es nicht sind. Den „Inter-
nen“ wird dabei der Primat zugemessen. Es handelt sich, wenn man so möchte,
um die markierte Seite der Form. Die „Internen“ bereiten Entscheidungen vor. Die
Funktion der „Externen“ beschränkt sich weitgehend auf das rein formale Zustim-
men in den Aufsichtsratssitzungen.
Die Differenz von Politik und Wirtschaftlichkeit sowie von Arbeitnehmerver-
tretung und Management wird auf die Seite der „Internen“ verlagert. Es entsteht
eine Form sekundärer Differenzierung. „Intern“ werden Konflikte geklärt, intern
wird ein Kompromiss gesucht. Die Einbindung der Arbeitnehmervertreter ist da-
bei ungewöhnlich hoch, was durch eine starke wirtschaftliche Orientierung auf
Arbeitnehmerseite ermöglicht wird. Die Arbeitnehmervertretung demonstriert
immer wieder ihre politische Leidensfähigkeit zugunsten wirtschaftlicher Argu-
mente und sichert sich auf diese Weise hohe Akzeptanz durch das Management.
Zu finden ist dieser Typ der mitbestimmten Aufsichtsratspraxis nahezu aus-
schließlich in traditionellen Unternehmen der chemischen Industrie. Diese wei-
sen einen enorm hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad auf und eine starke
Homogenität der Gewerkschaften. Es gibt quasi keine politische Konkurrenz in-
nerhalb der Arbeitnehmervertretung. Gleichzeitig ist die wirtschaftliche Situation
der Unternehmen vergleichsweise gut. Ebenso rekrutiert sich das Topmanagement
vor allem intern. Die allermeisten Vorstände kommen aus dem Unternehmen, ha-
ben Jahrzehnte in ihm verbracht. Diese Faktoren scheinen den vorliegenden Typus
zu begünstigen.

4.4.1 Dortmunder Petrol: Die „Internen“ im Aufsichtsrat

Der Aufsichtsrat zerfällt im vorliegenden Fall der Dortmunder Petrol in „Inter-


ne“ und „Externe“. Die „internen“ Aufsichtsratsmitglieder definieren sich über
eine Vertrautheit mit Branche und Unternehmen. Beide werden als so komplex
176 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

betrachtet, dass sie für „Externe“ nicht zu durchschauen sind und diese entspre-
chend nicht in verantwortlicher Position an Entscheidungen beteiligt werden
können. Dies führt auf Anteilseignerseite zu einer Spaltung zwischen ehemaligen
Vorständen des Unternehmens, die alle zentralen Funktionen im Aufsichtsrat ein-
nehmen, und den weiteren Mitgliedern. Gleichzeitig bietet sich über die Figur der
„Internen“ eine starke Anschlussstelle für die Arbeitnehmervertreter, denen von
den „Internen“ hohe Kompetenz zugerechnet wird.
Auf Arbeitnehmerseite wird die Auffassung der mangelnden Kompetenz der
„Externen“ geteilt. Man begreift sich zusammen mit Vorstand und „internen“ An-
teilseignervertretern als verantwortlich für das Unternehmen. Dabei wird eine klare
Sphärentrennung vollzogen: Der Aufsichtsrat gilt einzig als Sphäre wirtschaftlicher
Argumentation. Explizite Politik darf nur innerhalb des Betriebs betrieben werden.
Die Oppositionsrolle, die etwa in Aufsichtsräten des Typs 2 noch erhalten bleibt,
wird der Differenz von „Internen“ und „Externen“ nachgeschaltet. Dies heißt frei-
lich nicht, dass die Arbeitnehmervertreter nicht im Sinne der Arbeitnehmer argu-
mentieren würden.
Als Konsequenz kommt es auf Ebene des Aufsichtsrats zu einer starken Zusam-
menarbeit zwischen den „Internen“, also Arbeitnehmervertretern, Vorständen und
ehemaligen Vorständen mit Aufsichtsratsmandat. Die Differenz von Arbeitneh-
mern und Arbeitgebern wird eine „interne“ Differenz. Gegenüber den „externen“
Anteilseignervertretern tritt sie nicht in Erscheinung. Diese werden jedoch auch
weitgehend marginalisiert. Entscheidungen werden „intern“ vorbereitet und dann
nur noch zur formalen Zustimmung in den Aufsichtsrat gereicht.

4.4.1.1 Anteilseignervertreter: Die „Internen“ entscheiden


Die Anteilseignervertreter der Dortmunder Petrol bieten ein anderes Bild als die
der Aufsichtsräte der Typen 1 und 2. Zwar rekrutieren sie sich zum großen Teil
auf ähnlichen Wegen, wohl finden sich einige Aufsichtsratsmitglieder aus bisher
aufgeführten Unternehmen auch in diesem Aufsichtsrat – hier sei noch einmal
auf die enge Vernetzung hingewiesen. Dennoch zeigt sich hier ein anderes Bild.
Dieses deutet sich schon zu Beginn des Interviews mit dem Aufsichtsratsvorsit-
zenden an:

Befragter: Die Dortmunder Petrol hat ja eine lange Tradition. (.) Wie sie derartige
Posten [Aufsichtsratsvorsitze] besetzt. (.) Und das fängt nicht mit dem Aufsichtsrat an,
sondern das fängt (.) äh (.) schon ja viel früher an mit der Entwicklung von Führungs-
kräften, die dann erst mal dahin gebracht werden, (.) dass sie in den Vorstand kommen.
Und äh aus dieser Vorstandsposition heraus (..) ergibt sich dann (.) logischerweise (.) für
(.) ein oder zwei jeweils über die Generation (.) äh die Verpflichtung, Aufgabe, Notwen-
digkeit, (.) äh (.) im Aufsichtsrat weiter tätig zu sein. (Räuspert sich) (.) Warum? Weil (.)
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 177

ein Aufsichtsrat eines Unternehmens dieser Größe und Komplexität immer, (..) ich würd
sagen, zwei Mitglieder aus dem Vorstand braucht, (.) um (..) mit Wissen funktionieren
zu können. (.) So und dann hängt es eben äh (.) davon ab (.) zu welchem Zeitpunkt
scheidet (.) von den bisherigen Teilnehmern jemand aus. (.) Und das war in diesem
Fall (.) vorgeplant der [ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende]. (..) Und dann guckt man (.)
wer ist gerade aus dem Vorstand ausgeschieden, [anonymisiert] (.) Und dann ergab sich
die logische Konsequenz, dass ich weitermache. (..) So einfach ohne irgendwelche (.) äh
Geheimnisse (.) äh und (…) das ergibt sich dann aus der Funktion, die man hatte. Und
aus der Notwendigkeit, (.) eine Aufsichtsratsposition neu zu besetzen.

Die Besetzung des Aufsichtsratsvorsitzes entspreche dem traditionellen System der


Führungskräfteentwicklung, das bei der Dortmunder Petrol gepflegt werde. Die-
ses ziele auf die Entwicklung von Vorständen ab und irgendwann rückten diese
Vorstände dann in den Aufsichtsrat auf. Dies sei sinnvoll, da das Unternehmen
derart komplex sei, dass stets Vorstände im Aufsichtsrat vertreten sein müssten.
Der jeweilige Aufsichtsratsvorsitzende plane dann seinen Ausstieg und suche einen
passenden Nachfolger im bisherigen Vorstand. Daraus habe sich auch in seinem
Fall die „logische Konsequenz“ ergeben, dass er Aufsichtsratsvorsitzender werde.
Vergleicht man diese Passage mit einem typischen Weg in den Aufsichtsrats-
vorsitz (etwa auf S. 125 ff.), zeigt sich ein fundamentaler Unterschied. Nicht nur
stammt der Aufsichtsratsvorsitzende hier aus dem Unternehmen – das ist in an-
deren Unternehmen auch nicht der Fall –, sondern die Autorität, die über seine
Berufung entscheidet, ist hier eine andere. In den allermeisten Unternehmen ist
es ein persönliches, unternehmensübergreifendes Netzwerk von Managern, das
hierüber entscheidet. Zumeist ist es eine Person mit hohem Ansehen, die als Aus-
gangspunkt erscheint. In jedem Fall ist der Referenzraum eine bestimmte Elite des
Managements.
Hier hingegen zeichnet sich ein anderer Referenzraum ab. Zwar erscheint hier
auch der ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende als Sprecher, doch ist er nicht Spre-
cher einer über viele Unternehmen hinweg bestehenden Managementelite. Viel-
mehr wird er in einer Sprecherposition dargestellt, die das Unternehmen selbst
repräsentiert. Der Weg in den Aufsichtsrat ist hier die notwendige Folge einer Ent-
wicklung, die durch die Tradition des Unternehmens festgelegt wird. Das System
der „Führungskräfteentwicklung“ erscheint hier als übergreifendes Regelwerk,
das bestimmt, wer wann welche Position einnimmt. Diese Entscheidung wird
hingenommen als „Verpflichtung, Aufgabe, Notwendigkeit“. Sie entspringt keiner
persönlichen Wertschätzung, macht die eigene Position nicht wichtiger. Es besteht
auch keine freie Wahl, dieser zu entsprechen oder ihr nicht zu entsprechen. Viel-
mehr erscheint der Befragte hier selbst als Teil eines Systems, das über ihn ent-
scheidet, dessen Teil er gleichsam ist und zu dem er beiträgt (der Aufsichtsratsvor-
sitzende fährt fort):
178 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Interviewer: Genau. Aber welche persönlichen Gründe hatten Sie eigentlich, dieses Auf-
sichtsratsmandat dann auch zu übernehmen?
Befragter: Och Gott wissen Sie, (.) wenn Sie [Anzahl] Jahre für ein Unternehmen arbei-
ten, (.) äh dann leben Sie das Unternehmen. [anonymisiert] (.) Ähm (.) man muss ja
schon mal sagen, wenn man [Anzahl] Jahre (.) dann spürt man ja eine Verantwortung
für das Unternehmen. Und wenn man hier dann auch noch in der Region wohnt, was
wir weiterhin tun, (.) dann atmet man das ein.

Auf die Frage nach seiner persönlichen Motivation antwortet der Befragte, dass er
nunmehr seit langen Jahren in dem Unternehmen arbeite und dass man nach einer
solchen Zeit Verantwortung spüre. Wenn man zudem noch in der Region lebe,
„dann atmet man das ein“.
Die Verbindung mit dem Unternehmen wird in diesem Zitat noch organischer:
Man lebt in der Umgebung und „atmet das Unternehmen“ ein. Es wird hier quasi
das Bild einer physischen Verbindung geschaffen, die wenig gemein hat mit der
Form, wie die meisten anderen Aufsichtsratsvorsitzenden über ihr Mandat reden.
Dies zeigt sich auch im Minimalkontrast zu einer Passage eines Interviews mit dem
Aufsichtsratsvorsitzenden eines Dienstleisters, der auch direkt aus dem Vorstand in
den Aufsichtsratsvorsitz gewechselt ist:

Interviewer: Ähm was wir immer gerne zum Anfang fragen, ist ähm, ob Sie uns berich-
ten können, wie sie in den Aufsichtsrat der [Firma] gekommen sind, also ihr Weg in
dieses Mandat (…).
Befragter: Gut zunächst mal ist-ist mein Weg ein relativ schlichter gewesen (.) äh ich hab
dem Vorstand der [Firma] [Anzahl] Jahre lang angehört und bin dann gebeten worden,
[nach dem Ausscheiden aus dem Vorstand] in den vor Aufsichtsrat zu wechseln äh also
an sich genau das äh was zurzeit einer, wie ich denke, unberechtigten Kritik unterliegt
(.) Äh – darauf, vielleicht gleich noch mal zu sprechen, weil ich das gerne fundieren
würde, warum das – warum ich das für falsch halte, wie das im Moment betrachtet
wird, also insofern, der-der Weg zum Mandat äh, war der Weg mein Vorgänger schied
altersbedingt aus. Er brauchte einen Nachfolger, er war der Auffassung, dass er außer-
halb äh der eigenen [Firma] keinen sachkundigen ähm finden kann, [in der Branche] ist
das auch noch mal schwieriger, denn [die Rahmenbedingungen], dass keiner von außen
kennt, der immer lässt.
Interviewer 2: Das haben wir schon ganz häufig gehört
Befragter: Viele andere Dinge die man also in der freien Wirtschaft nicht kennt, ich
sag’s mal arroganter, als ich meine, indem sie mir sechs Monate Zeit und ich kann jedes
Aufsichtsratsmandat in jedem anderen Unternehmen übernehmen. Wer behauptet, er
wüsste nach sechs Monaten alle [Feinheiten dieser Firma], der ist schon fahrlässig. (.)

Auf die Frage nach seinem Weg in den Aufsichtsratsvorsitz gibt der Befragte hier
an, dass er einfach aus dem Vorstandsvorsitz in den Vorsitz des Aufsichtsrats ge-
wechselt sei. Dieser Wechsel werde heutzutage kritisiert. Er halte diese Kritik
jedoch für unberechtigt. Denn gerade in seinem Fall habe sein Vorgänger in ihm
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 179

die „sachkundigste“ Person gesehen, was er auch sei, da man sich als Externer nicht
schnell genug in die Branche und in die Firma einarbeiten könne.
Viele Motive, die sich im Fall der Dortmunder Petrol zeigen, treten auch hier
auf. Hier handelt es sich ebenfalls um einen direkten Wechsel aus dem Vorstand
in den Aufsichtsratsvorsitz. Auch hier ist es der ehemalige Aufsichtsratsvorsitzen-
de, der diesen geplant hat. Und auch hier wird dieser Wechsel mit der Komplexi-
tät der Branche begründet – nahezu jeder, der vom Vorstand in den Aufsichtsrat
wechselt, ist davon überzeugt, dass seine Firma komplexer ist als alle anderen. Im
Unterschied jedoch zum Fall des Aufsichtsratsvorsitzenden der Dortmunder Pe-
trol wird dieser Wechsel mit der persönlichen Sachkenntnis begründet und mit
dem Ermessen des ehemaligen Aufsichtsratsvorsitzenden. Dieser sucht hier jeman-
den, der kompetent genug ist, das Mandat auszufüllen, und findet diese Person
im Vorstand. Die Verbindung mit dem Unternehmen besteht hier einfach nur aus
der höheren Kenntnis über dessen Eigenheiten. Es handelt sich, genau genommen,
um eine mehr oder weniger kontingente Karrierestufe, die ein bestimmtes Quali-
fikationsprofil nahelegt, das nur auf diesem Weg gewonnen werden kann. Ein sich
als qualifiziert betrachtender Aufsichtsratsvorsitzender urteilt hier über die Quali-
fikation seines Nachfolgers.
Im Fall der Dortmunder Petrol jedoch ist es das Unternehmen selbst, das dieses
Urteil fällt. Es ist eine nicht persönlich adressierbare Person, sondern eine Tradi-
tion, nach deren Regeln der Aufstieg innerhalb des Unternehmens verläuft. Die
persönliche Eignung ist dann weniger eine Frage persönlicher Qualifikation als
vielmehr ein Grad der Verbundenheit mit dem Unternehmen. Geeignet erscheint
hier derjenige, der am stärksten die Tradition der Firma eingesogen hat, der am
besten als Sprecher eben dieser Tradition fungieren kann. Während also in allen
bisherigen Fällen die Anteilseignervertreter einander mithilfe einer totalen un-
differenzierten Rejektion als Reflexionsinstanzen konstruiert haben, nur um diese
Konstruktion mithilfe der Referenz auf die Kontextur der Anteilseignervertretung
und mithilfe der Referenz auf den Aufsichtsratsvorsitzenden wieder einzufangen,
kommt es hier überhaupt nicht erst zu einer solchen Konstruktion. Zumindest die
„internen“ Anteilseignervertreter erscheinen nicht als eigene Reflexionsinstanzen,
sondern nur als quasi austauschbare Orte derselben Kontextur.
Entsprechend zieht sich durch die Anteilseignerseite des Aufsichtsrats eine
Trennung. Auf der einen Seite stehen die „Internen“, die das Unternehmen verste-
hen, es „atmen“. Auf der anderen Seite stehen die „externen“ Anteilseignervertreter.
Diese erscheinen hier als für die Aufsichtsratsarbeit nur mäßig geeignet (Interview
„interner“ Anteilseignervertreter):

Befragter: Äh (.) aber das [der direkte Wechsel von Vorständen in den Aufsichtsrat] ist
eben, meiner Ansicht nach, der große Vorzug dieses bisherigen Systems und ich halte
180 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

es für einen ganz gravierenden Fehler, für die ganze Zukunft der deutschen Corporate
Governance, dass man jetzt mit diesen ganzen Mätzchen [Cooling-Off-Periode] da
arbeitet. Mit diesen (unklar) Perioden und Ähnlichem. Das ist, halte ich für einen gra-
vierenden Fehler.
Interviewer: Hm, wa-was genau (..) stört Sie daran oder?
Befragter: Dass Sie Leute haben im Aufsichtsrat, die eben mit, nicht die (.) Kultur des
Unternehmens kennen. Sondern die von außen kommen und v-vielleicht aus ganz ande-
ren Kulturen kommen (.) und äh sich schwer tun damit, das Unternehmen zu verstehen.

Die Möglichkeit des direkten Wechsels vom Vorstand in den Aufsichtsrat sei seiner
Meinung nach vorteilhaft für das Unternehmen. Die Einführung einer Cooling-
Off-Periode, die diesen Wechsel erschwert, hingegen eine schlechte Idee. Dies füh-
re nämlich dazu, dass man nur noch Aufsichtsratsmitglieder habe, die das Unter-
nehmen nicht verstünden.
Im Bezug auf die zum Zeitpunkt des Interviews diskutierte Cooling-Off-Perio-
de, die einen direkten Wechsel aus dem Vorstand in den Aufsichtsratsvorsitz unter-
sagt, wird hier noch einmal die Bedeutung der Vertrautheit mit dem Unternehmen
unterstrichen. Auch hier sticht dabei ins Auge, dass es nicht nur um Sachkenntnis
geht, sondern um die „Kultur des Unternehmens“. Ein guter Aufsichtsrat zeichnet
sich auch hier dadurch aus, dass er im Unternehmen sozialisiert worden ist, dass
er dessen Tradition „eingeatmet hat“ – einfache Sachkompetenz reicht nicht aus.
Diese Trennung des Aufsichtsrats in „Interne“ und „Externe“ ist dabei keines-
falls ein semantisches Artefakt, das wenig Konsequenz für die Aufsichtsratsarbeit
birgt. Vielmehr wird eine neue Linie in das gesamte Management des Unterneh-
mens eingezogen: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die als „intern“ zu bezeich-
nen sind. Hierbei handelt es sich um ehemalige Vorstände, aber auch um aktive
Vorstände und sogar ehemalige Aufsichtsratsmitglieder, die noch immer Berater-
verträge haben. So erläutert der Aufsichtsratsvorsitzende seine alltägliche Zusam-
menarbeit mit dem Vorstandsvorsitzenden:

Interviewer: Aber was mich da interessieren würde: Ich mein Sie waren ja vorher als
Vorstand sicherlich schon involviert, als eigentlich die [Übernahme eines Konkurrenten]
so angelaufen ist. Also (.) ähm aber jetzt sind Sie ja Aufsichtsratsvorsitzender. Inwiefern
sind Sie da noch in den Prozess involviert? Wie begleiten Sie den? Jetzt geht es ja vor
allem noch um die Integration des Unternehmens. Welche Aufgabe kommt Ihnen da jetzt
als Aufsichtsratsvorsitzender zu?
Befragter: Ach wissen Sie, der Aufsichtsratsvorsitzende hat ja zwischen den Sitzungen
(.) äh (.) Dialog mit dem Vorstandsvorsitzenden. (.) Und darauf konzentriert man sich
ja auch. Denn (.) äh der Aufsichtsratsvorsitzende kann nicht, je nach Gutdünken (.) im
Unternehmen herumfuhrwerken, parallel zum Vorstandsvorsitzenden. Das-das schafft
ja (.) Verwirrung, totale. (.) Äh das heißt, äh um diese ganzen Prozesse begleiten zu kön-
nen (.) äh gibt es dann eben (.) in lockerer Frequenz, (.) ich meine wir sitzen hier (.) auf
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 181

Rufweite. Wenn ich ‘ne Frage habe, oder der ‘ne Frage hat, oder ‘ne Sache hat, dann setzt
man sich zusammen und redet drüber. Und gibt dann (..) im Dialog ergibt sich dann (.)
Rat und Tat, nicht.

Auf die Frage nach seiner Beteiligung an der Eingliederung eines vor Kurzem über-
nommenen Konkurrenten antwortet der Aufsichtsratsvorsitzende, dass er im regel-
mäßigen Dialog mit dem Vorstandsvorsitzenden stehe. Selbstverständlich dürfe man
sich nicht an diesem vorbei im Unternehmen engagieren, daher stimme man sich
regelmäßig ab. Sie säßen hier „auf Rufweite“ und besprächen alle aktuellen Themen.
Hier entsteht das Bild einer engen Zusammenarbeit, die eine alltägliche Routine
hat. Anders als in vielen anderen Gremien, in denen es zwar regelmäßigen Kontakt
zwischen Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzendem gibt, der Aufsichtsratsvorsit-
zende jedoch nicht vor Ort wohnt oder ein eigenes Büro im Konzern hat, ist die
alltägliche Zusammenarbeit hier Routine. De facto verließ der Aufsichtsratsvorsit-
zende das Büro des Vorstandsvorsitzenden bei der Ankunft der Interviewer und
ging nach Ende des Interviews sofort wieder in dessen Büro.
Die „Externen“ sind damit eher eine Art Störfaktor. Ihre Einbindung erscheint
zwar als unumgänglich, beschränkt sich jedoch auf die Information durch die „In-
ternen“. Verhaltenserwartungen der „Internen“ gegenüber den „Externen“ gibt es
nur insofern, als dass von den „Externen“ unbedingte Unterstützung erwartet wird
(Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Interviewer: Sie sagen jetzt der Dialog zwischen Aufsichtsratsvorsitzenden und Vor-
standsvorsitzenden ist sehr wichtig. Ähm wie läuft denn, sag ich mal, in wichtigen, in
wichtigen Punkten die Rückbindung ähm in den gesamten, in das gesamte Gremium
Aufsichtsrat durch den Aufsichtsratsvorsitzenden?
Befragter: Och Gott, ich meine, wenn-wenn ich den Eindruck bekomme, (.) äh (.) dass
es wichtig ist, den Aufsichtsrat von Vorgängen zu informieren, zwischen den Sitzungen,
dann tue ich das. (.) Äh (.) um die auch informiert zu halten. Besonders natürlich bei
größeren Sachen. (.) Äh und (.) da ist es ja auch wichtig, dass die ein bisschen mitatmen,
nicht. (.) Äh und äh (.) das ist auch etabliert äh (.) und funktioniert fast automatisch. (.)

Gefragt nach der Abstimmung mit dem gesamten Gremium entfährt dem Befrag-
ten ein kurzes „Och Gott“. Sollte er der Meinung sein, dass der Aufsichtsrat von
bestimmten Vorgängen in Kenntnis gesetzt werden müsse, so würde er dies selbst-
verständlich tun. Gerade über wichtige Prozesse müsse das Gremium informiert
werden; zudem sei es gut, „dass die ein bisschen mitatmen“.
Die Abstimmung mit dem Aufsichtsrat – hier sind vor allem die externen An-
teilseignervertreter gemeint – wird hier eindeutig nur als Information verstanden.
Und diese Information erstreckt sich dabei wie selbstverständlich nicht auf alles,
sondern auf all das, was der Aufsichtsratsvorsitzende für wichtig erachtet. Was
zählt, ist dabei dessen „Eindruck“.
182 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Die Information erscheint dabei nicht nur als formale Notwendigkeit. Vielmehr
wird sie auch als Gunst oder Gnade gesehen. Den „Externen“ wird hier die Mög-
lichkeit gegeben, ein „bisschen mitatmen“ zu können. Sie bekommen die Chance,
einen Blick in die Binnenstruktur der Kontextur der „Internen“ zu erhaschen.
Aus Perspektive der „Internen“ besteht entsprechend eine ganz klare Asym-
metrie auf der Anteilseignerseite, die mit der Kollegialität in den meisten anderen
Gremien nicht viel zu tun hat. Die „Externen“ erscheinen hier nicht als „unabhän-
gige Persönlichkeiten mit unternehmerischen Erfahrungen“ (vgl. S. 98 ff.), sondern
als benachteiligte Personen, die kein ausreichendes Verständnis für das Unterneh-
men haben, die man aber gerade deswegen unterstützen und freundlich behan-
deln muss. Ihnen gebührt Nachsicht, gerade weil sie als eigene Reflexionsinstanz
konstruiert werden, nicht aber als Ausdruck der Kontextur der „Internen“. An ein
Mitspracherecht ist jedoch entsprechend nicht zu denken.
Auch den „Externen“ fällt dabei selbstverständlich auf, dass sie keinesfalls als
gleichwertige Kollegen betrachtet werden (Interview externer Anteilseignervertre-
ter):

Befragter: Also, (..) die beiden [Vorstandsvorsitzender und Aufsichtsratsvorsitzender]


schalten sich/argumentativ sehr stark ein, ja. Ähm, das ist so ein bisschen eine Sondersi-
tuation bei Dortmunder Petrol, dass eigentlich kaum Unterschied besteht zwischen dem
Vorstand (.) und den Aufsichtsräten, die ehemalige Vorstände sind, nech. Das heißt, da
gibt es so eine Identifikation, ähm mit dem Unternehmen von beiden Seiten, nech, dass
die ähm, also das, was der [Vorstandsvorsitzende] sagen würde, (.) würde der [ehema-
lige Aufsichtsratsvorsitzende] genau so sagen und der [jetzige Aufsichtsratsvorsitzende]
würde das genauso sagen, wie der [ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende]. Da passt einfach
kein Blatt zwischen die. Oft gibt´s dann ´ne Frage, ist das jetzt der richtige/Zeitpunkt
ähm und so weiter, nech, die sind sich aber in der Richtung (.) total einig. Und (.) ähm da
ist es für einen Außenstehenden ähm eigentlich beruhigend zu sehen, dass das so ist. Und
auf der anderen Seite haben Sie aber auch relativ wenig Chance, da jetzt/in so einer Ple-
numssitzung irgendwas zu drehen, ne. Das müssten Sie dann wirklich vorher machen.

Der Aufsichtsratsvorsitzende und der Vorstandsvorsitzende hätten schon eine star-


ke Position im Aufsichtsrat, so der Befragte. Dies sei eine Besonderheit des Unter-
nehmens, indem es kaum einen Unterscheid zwischen den ehemaligen Vorständen
im Aufsichtsrat und den aktuellen Vorständen gebe. Alle hätten hier zu jedem The-
ma dieselbe Meinung und würden nur in Detailfragen divergieren. In dieser Situ-
ation fühle man sich zum einen zwar sicher. Zum anderen jedoch habe man kaum
eine Chance, noch am Meinungsbildungsprozess beteiligt zu sein.
Die „Internen“ erscheinen hier als hermetischer Zirkel, eine Kontextur, die als
total, aber undifferenziert konstruiert wird. Es ist nahezu unmöglich für einen
„Externen“, hier Zugang zu bekommen. Die „Internen“ weisen eine so hohe
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 183

Homogenität in ihren Positionen auf, dass die Bedeutung der Meinung der „Exter-
nen“ selbst von diesen bezweifelt wird. Für einen Externen ist diese Situation eher
ambivalent: Auf der einen Seite wird sie begrüßt, da man sich in Sicherheit wiegen
kann. Auf der anderen Seite wird das Selbstbild als „unabhängige Persönlichkeit
mit unternehmerischen Erfahrungen“, wie es aus anderen Gremien bekannt ist,
nicht in diesem Gremium gespiegelt: Die Mitsprachemöglichkeit wird nicht voll
eingeräumt.
Ein relativ junges „externes“ Mitglied des Aufsichtsrats äußert denn so auch die
eigene Enttäuschung über die marginalisierte Position:

Befragter: Ich würde (.), äh ich-ich bin bereit da-dazu, ich will mich äh auch keineswegs
äh (.) präsentieren als-als äh (.) äh (.) äh-äh da, we-wenn es nicht, wenn das nicht nütz-
lich ist, ja.
Interviewer: (lacht).
Befragter: Aber, sag-sag man so, wenn man mich äh (.) äh gefragt hätte, ob ich bereit
wäre, so was zu tun, ein bisschen ja ein Abendessen mit ne- mit diesem oder jenem äh-äh
Vorstandmitglied zu haben oder so was, wäre ich bereit äh-äh, be-bestimmt bereit zu
sein äh...
Interviewer: Ja.
Befragter: … so-so zu tun und das ist (.)/so kommt es mir vor, nicht von uns erwartet.

Er wolle sich selbstverständlich nicht aufdrängen, so der Befragte, doch habe er


erwartet, stärker eingebunden zu werden. Dies würde er auch gerne tun, etwa mit
einem Vorstand bei einem gemeinsamen Abendessen zu diskutieren, doch habe er
nicht das Gefühl, dass dies gewünscht sei.
Hier ist es die Erwartungsenttäuschung, die dominiert. Die Erwartung, als „un-
abhängige Persönlichkeiten mit unternehmerischen Erfahrungen“ eingebunden zu
werden, wird nicht erfüllt. Vielmehr betrachtet sich auch dieser Befragte als margi-
nalisiert. Mit dieser Erwartungsenttäuschung findet man sich jedoch ab, da auch in
allen anderen Gremien die Fiktion der unabhängigen sachlichen Diskussion immer
wieder durch eine dritte Kontextur eingefangen wird. Da hier jedoch sogar die Illu-
sion nicht gewahrt wird, bleibt eine persönliche Kränkung bestehen.
Konsequenzen werden hieraus jedoch nicht gezogen, da an dieser Stelle die
omnipräsente hierarchische Orientierung der Anteilseignervertreter greift, die in
jedem Gremium zu beobachten ist. Denn auch, wenn hier die eigene Erwartung
enttäuscht wird, ist mit dem letzten Satz der oben zitierten Passage klar, dass der
Aufsichtsratsvorsitzende definiert, was getan werden darf und was nicht. Die Fest-
stellung, dass die eigene Erwartung nicht erfüllt wurde, heißt hier gleichsam auch,
dass man diese Erwartungsenttäuschung akzeptiert und dennoch weitermacht.
Die Einführung der Differenz von „Internen“ und „Externen“ hat eine wesent-
liche Konsequenz für die Selbstverortung der „Internen“ im Verhältnis zu den
184 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Arbeitnehmervertretern. Denn diese sind, wenn auch keine „Führungskräfte“ mit


jahrzehntelanger Sozialisation, so doch Mitarbeiter und als solche auch „Interne“.
Entsprechend ist die Selbstverortung der „internen“ Arbeitgeber zwischen „Exter-
nen“ und Arbeitnehmervertretern völlig anders als in den Unternehmen der Typen
1 und 2 (Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Der Aufsichtsratsvorsitzende, der sich in den Aufsichtsrat setzt und den sagt,
also das war nun mal ‘ne Entscheidung von mir, deswegen wird daran überhaupt nichts
geändert, (.) hat seine Autorität im Aufsichtsrat auch innerhalb einer Woche verloren. (.)
Weil da ja nicht, (.) weil da ja nicht Leute sitzen, (.) die Befehlsempfänger eines Aufsichts-
ratsvorsitzenden sind, (.) sondern die mit ihrer Kompetenz dazu beitragen wollen, dass
das Unternehmen funktioniert. (.) Also lassen die sich doch nicht sagen, äh (.) also hör
mal zu, das hab ich gemacht, und was der uns da vorschlägt, ist ‘ne Katastrophe, deswe-
gen ma- (.) äh das ist vollkommen weltfremd. (.) Zum anderen (.) wird immer wieder ver-
gessen, (..) in den paritätisch besetzten Aufsichtsräten sind ja nun auch die Arbeitnehmer
drin. (.) Die Arbeitnehmer kommen aus dem Unternehmen. (.) Die Arbeitnehmer leben
jeden Tag das Unternehmen. (.) Die Arbeitnehmer kennen das Unternehmen im Detail
besser, als die von außen kommenden Anteilseignervertreter. Das heißt, (.) da muss auch
einer sein, (.) der diesen Prozess konstruktiv, sag ich bewusst, der Arbeitnehmer steuert. (.)

Der Aufsichtsratsvorsitzende dürfe die anderen Anteilseignervertreter nicht vor


den Kopf stoßen, indem er ihnen Entscheidungen diktiere. Denn es säßen dort
Personen, die den Anspruch hätten, ihr Wissen und Können für das Fortkommen
der Firma einsetzen zu können. Diesen Menschen könne man keine Entscheidun-
gen diktieren. Zudem seien noch die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat. Die-
se wiederum würden über Hintergrundwissen über das Unternehmen verfügen.
Sie seien zutiefst mit dem Unternehmen vertraut, weswegen man sich mit ihnen
„konstruktiv“ auseinandersetzen müsse.
Interessant ist, dass hier eine Asymmetrie aufgemacht wird, in der die Differenz
von „Internen und Externen“ die Differenz von Anteilseigner- und Arbeitnehmer-
vertretern unterläuft. Denn den Arbeitnehmervertretern wird in diesem Zitat genau
das zugesprochen, worüber die „Internen“ ihre Sonderstellung legitimieren: nicht nur
Wissen über, sondern Vertrautheit mit dem Unternehmen. Zwar haben die Arbeit-
nehmervertreter nicht die Karriere einer „Führungskraft“ hinter sich gebracht. Doch
sie „atmen“ das Unternehmen ebenso ein wie der Aufsichtsratsvorsitzende.
Entsprechend wird in dem vorliegenden Zitat deutlich, dass es dem Aufsichtsrats-
vorsitzenden im Fall der „Externen“ weniger darum geht, tatsächliche Kompetenz
in Anspruch zu nehmen, als eine Erwartungshaltung der „Externen“ zu erfüllen.
Diese „wollen“ dazu beitragen, „dass das Unternehmen funktioniert“. Sie werden
präsentiert als Personen mit einer Anspruchshaltung, die sich „nicht sagen lassen“,
dass ihre Ideen schlecht sind. Entsprechend sieht der Aufsichtsratsvorsitzende
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 185

seine Funktion darin, den „Externen“ das Gefühl zu geben, dass sie tatsächlich ge-
hört würden. Jedoch geht es in diesem Fall nur darum, einen Konflikt („Katast-
rophe“) zu vermeiden, indem eine Erwartungshaltung nicht erfüllt wird. Es geht
jedoch nicht darum, kompetente Meinungen für die Aufsichtsratsarbeit nützlich zu
machen – erreicht wird dies freilich nur beschränkt.
Im Vergleich mit den bisherigen Unternehmen stellt sich die Situation der Ar-
beitnehmervertreter innerhalb der Kontextur der Anteilseignervertretung anders
dar. Diesen wird tatsächlich Vertrautheit mit dem Unternehmen attribuiert. Hier
geht es nicht darum, eine Erwartungshaltung zu erfüllen, indem man eine Illusion
aufrechterhält. Vielmehr sieht der Aufsichtsratsvorsitzende hier genau das, was ihn
selbst kompetent macht: das Leben im und mit dem Unternehmen.
Das hat weitreichende Folgen für die Kompetenzattribution (Interview Prü-
fungsausschussvorsitzender):

Interviewer: Aber noch mal, welchen Input liefern die [Arbeitnehmervertreter] denn
dann, wo Sie als-als Vorsitzender auch sagen, das ist, das ist, da ist es mir eben auch sehr
wichtig, dass die auch vielleicht in dem Ausschuss sind?
Befragter: (.) Ja, nehmen Sie mal an, so-so äh (..) Sie haben hier eine große Anlage gebaut
und die läuft nicht. Und das wissen Sie ja normalerweise nicht. Sie merken es vielleicht
mal irgendwo, dass irgendwo ein Umsatz in einem Arbeitsgebiet nicht so kommt, wie er
eigentlich kommen müsste oder so. Also es ist sehr indirekt, dass Sie es merken können,
als Aufsichtsrat und da ist ein Arbeitnehmervertreter, der dann auf einmal sagt, ja, aber
die [Anlage] in [Ort], die läuft da überhaupt nicht. Und ist das, ist die überhaupt wert-
haltig oder müssen wir da irgendwie Bilanz, hier Vorsorge treffen und so weiter. Das ist
doch ein guter Beitrag.
Interviewer: Okay.
Befragter: Nicht?
Interviewer: M-hm.
Befragter: Und die sind auch […] international gut vernetzt. Also insofern, (.) ich halte
das schon für einen wesentlichen Beitrag.

Gefragt nach dem Beitrag, den die Arbeitnehmervertreter im Prüfungsausschuss


bringen, antwortet der Prüfungsausschussvorsitzende, dass diese das Unternehmen
jenseits der Zahlen kennen würden. Im Prüfungsausschuss könne man nur fest-
stellen, dass etwas nicht stimme. Die Arbeitnehmervertreter wüssten dann jedoch,
warum dem so sei. Darüber hinaus, so der Befragte, seien sie international gut ver-
netzt und hätten daher nicht nur Informationen über die deutschen Standorte.
Hier kommt das Motiv des Betriebs zum Tragen, dass sich auch in den Auf-
sichtsräten des Typs 2 finden lässt: Den Arbeitnehmervertretern wird eine
Art Komplementärkompetenz attribuiert. Wo die Anteilseignervertreter die
Kennzahlen verstünden, da würden die Arbeitnehmervertreter wissen, was hinter
diesen stehe.
186 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Die Kompetenzattribution geht im Fall des vorliegenden Unternehmens jedoch


im Vergleich zu den bisherigen Unternehmen wesentlich weiter (Interview Prü-
fungsausschussvorsitzender):

Interviewer 1: Äh (.) die Arbeitnehmer haben immer ein bisschen schwierige Position
aufgrund der Fachkenntnisse. Wie-wie läuft das bei der [Dortmunder Petrol]?
Befragter: (.) Ach, ich finde eigentlich, unsere Arbeitnehmervertreter schlagen sich da
ganz gut. Also wir haben ja den [Gewerkschaftsvertreter] äh und dann natürlich den
einen-einen Betriebsrat. Und äh (.) wenn ich es vergleiche mit anderen Prüfungsaus-
schüssen, würde ich sagen, sind unsere Arbeitnehmervertreter relativ gut drin in der
Materie. Machen eigentlich auch eine ganz gute Weiterbildung. Äh teilweise über die
Gewerkschaft, äh teilweise veranlasse ich aber auch, dass sie, meinetwegen von Wirt-
schaftsprüfungsgesellschaften, eingeladen werden, Weiterbildung Aufsichtsräte. Ja, da
gibt es bei KPMG, bei PWC, bei Ernst and Young gibt es da so große Programme. Und
dann sorge ich immer-immer dafür, dass die da auch eingeladen werden, auch hingehen.
Interviewer 2: Ja.
Befragter: Sodass die eigentlich ganz gut äh (.) äh auch fachlich gut sind und dann ken-
nen sie natürlich die ganzen materiellen Sachverhalte, all die sich an die Bilanzierungs-
fragen knüpfen und da stellen sie auch gute Fragen. Also insofern würde ich sagen, unser
Prüfungsausschuss ist eigentlich gut qualifiziert. Natürlich äh führt das, die, das Wort
führt natürlich der Vorsitzende.

Angesprochen auf die Kompetenz der Arbeitnehmervertreter gibt der Befragte an,
dass diese, im Vergleich mit vielen anderen Prüfungsausschüssen gute Kenntnisse
hätten. Sie würden Weiterbildungen über die Gewerkschaften, aber auch über die
großen Wirtschaftsprüfungen machen, worum er sich kümmere. Fachlich seien sie
daher gut qualifiziert.
Dass Arbeitnehmervertretern Kompetenz zugesprochen wird, ist nichts Selte-
nes und findet sich auch in anderen Unternehmen. Jedoch handelt es sich dort stets
um eine Art der „Komplementärkompetenz“: Die Arbeitnehmervertreter können
etwas oder wissen etwas, das den Anteilseignervertretern nicht – oder nicht in die-
sem Maß – zur Verfügung steht. So wird den Arbeitnehmervertretern etwa Wissen
um interne Abläufe oder um die Stimmung der Mitarbeiter attribuiert, nicht jedoch
in der Bilanzprüfung. Diese Sphäre bleibt in der Regel für Anteilseignervertreter
reserviert.
Die Kompetenzattribution, die an dieser Stelle vorgenommen wird, geht damit
über die Attribution einer Komplementärkompetenz hinaus. In der hier vorlie-
genden Passage wird den Arbeitnehmervertretern Kompetenz in der ureigensten
Domäne der Anteilseignervertreter zugemessen. Während Arbeitnehmerver-
treter sonst nur als eine Art Ergänzung betrachtet werden, deren Wissen für die
Unternehmensführung jedoch nicht entscheidend ist, werden sie hier zu Dialog-
partnern innerhalb derselben Sphäre.
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 187

Freilich geht diese Kompetenzattribution nicht soweit, dass die Arbeitnehmer-


vertreter eine gleichwertige Stellung bekämen. Der Prüfungsausschussvorsitzende
relativiert die Kompetenz der Arbeitnehmervertreter hier an verschiedenen Stellen.
Zunächst wird sie eingeklammert durch den Hinweis darauf, dass diese Kompe-
tenz nur im Vergleich zu anderen Prüfungsausschüssen hoch sei. Es ist also hier
nicht der Vergleich zu den Anteilseignervertretern, der gezogen wird, sondern
der Vergleich zu anderen Arbeitnehmervertretern. Darüber hinaus bleibt der Prü-
fungsausschussvorsitzende selbst Herr über die Kompetenz: Er präsentiert sich als
derjenige, der dafür sorgt, dass die Arbeitnehmervertreter gut weitergebildet wer-
den. Und letztlich sichert er sich mit dem Schluss ab, dass es selbstverständlich der
Vorsitzende sei, der das Wort führe.
Damit wird auch klar, dass die Differenz von „Internen und Externen“ die Un-
terscheidung von Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretern, oder in diesem Fall
besser, von Arbeitnehmervertretern und Arbeitgebern (Vorstände und „interne“
Anteilseignervertreter) nicht aushebelt. Vielmehr sind die „internen“ Anteilseig-
nervertreter durchaus besorgt, dass die Grenze zwischen beiden Seiten aufrechter-
halten wird (Interview interner Anteilseignervertreter):

Befragter: Die Arbeitnehmerseite ist natürlich hervorragend informiert, über alle Details,
die laufen jeden Tag im Unternehmen rum und kriegen natürlich alles Mögliche mit und
haben deswegen einen Riesenwissensvorsprung gegenüber den Aufsichtsrats-äh-vor-mit-
glieder auf der Anteilseignerseite und äh das kann aufgewogen werden durch ehemalige
Vorstandsmitglieder, (.) aber wenn die nicht da sind, dann haben die Arbeitnehmer seiten-
klaren Vorsprung und der kann natürlich auch g-missbraucht werden darüber, bestimmt
Dinge gar nicht in den Aufsichtsrat kommen zu lassen. Sondern sich vorher mit dem Vor-
stand zu einigen, indem man sagt, ja also wir wissen da mehr und dann wollen wir das
und das erreichen und dann wollen wir lieber nicht den Gesamtaufsichtsrat einschalten.
Interviewer: M-hm.
Befragter: Also ich halte es für bedenklich.

Die Arbeitnehmerseite kenne sich gut im Unternehmen aus, so der Befragte. Wären
nicht ehemalige Vorstände auf Anteilseignerseite vertreten, so hätten die Arbeit-
nehmervertreter damit einen großen Vorsprung gegenüber den Anteilseignerver-
tretern. Nur durch ehemalige Vorstände im Aufsichtsrat ließe sich verhindern, dass
die Arbeitnehmervertreter alle wesentlichen Fragen direkt mit dem Vorstand be-
sprechen und den Aufsichtsrat ausschalten würden. Er, so der Befragte, habe dort
Bedenken.
Es wird deutlich, dass zumindest eine Konkurrenzsituation zwischen den Arbeit-
nehmer- und den Anteilseignervertretern besteht. Gerade die Tatsache, dass die
Arbeitnehmer als „Interne“ betrachtet werden müssen, macht sie zu einer latenten
Bedrohung. Zwar sind sie so auch qualifiziert, doch ändert diese Qualifikation
188 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

nichts daran, dass sie Arbeitnehmervertreter bleiben. Während in allen bisherigen


Fällen die Anteilseignervertreter jedoch immer die Möglichkeit hatten, die Arbeit-
nehmervertreter mit Hinweis auf den Bereich ihrer mangelnden Kompetenz auszu-
schalten (bestimmte Dinge sind eben nur mit dem entsprechenden Fachwissen zu
verstehen), ist dies hier nicht mehr der Fall. Es gibt keine Bereiche mehr, in denen
die Arbeitnehmervertreter überhaupt nicht mehr mitreden können. Es gibt keinen
geschützten Bereich, von dem aus die Arbeitnehmervertreter im wirtschaftlichen
Diskurs kontrolliert werden könnten. Es gibt nur noch einen graduellen Verlauf:
Die Arbeitnehmervertreter kennen sich mit den internen Abläufen besser und mit
Rechnungslegung schlechter aus, bei den Anteilseignervertretern verhält es sich
andersherum. Die Kompetenz – und damit die Dominanz innerhalb der Kontextur
des Wirtschaftlichen – bleibt damit umkämpft.
Die Einheit der Anteilseignervertretung wird im vorliegenden Fall grundsätz-
lich anders produziert als in allen bisherigen Fällen. Während in den Unterneh-
men der Typen 1 und 2 die Anteilseignervertreter mittels totaler undifferenzierter
Rejektionen als eigene Reflexionsinstanzen („unabhängige unternehmerische Per-
sönlichkeit“) konstruiert und danach wieder mit dem Hinweis auf die Einheit der
Anteilseignervertretung eingefangen wurden, gibt es eine ähnliche Konstruktion
hier nicht. Die Einheit der Anteilseignervertretung wird als Einheit der „Internen“
vorausgesetzt, die „Externen“, die als selbstständige Reflexionsinstanzen konst-
ruiert werden, werden hier ausgeschlossen. Dafür erscheinen die Arbeitnehmer-
vertreter als „intern“. Als „Internen“ wird ihnen Kompetenz zugemessen, die zwar
etwas anders gelagert ist als die Kompetenz der „internen“ Anteilseignervertreter,
jedoch nicht als grundsätzlich beschränkt konstruiert wird. Die Kontextur der Ar-
beitnehmervertretung wird also innerhalb der Kontextur der Anteilseignervertre-
tung mittels einer totalen undifferenzierten Rejektion eingeführt. Der Bereich des
Wirtschaftlichen wird damit eine Kontextur, die im Spannungsverhältnis „inter-
ner“ Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreter definiert wird.

Arbeitnehmervertreter: Internalisierter double bind


4.4.1.2 
Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat wird im Fall der Dortmunder Petrol als
unternehmerisches Handeln begriffen – und dies in einer Eindeutigkeit und Ge-
schlossenheit, die sich selbst in anderen Unternehmen des Typs 3 nicht in dieser
Ausprägung findet. Arbeitnehmervertretung heißt hier Unternehmensführung
zusammen mit Anteilseignervertretern und Vorstand. Der stellvertretende Auf-
sichtsratsvorsitzende – in diesem Fall ein Betriebsrat – schildert die Situation wie
folgt:

Interviewer: Äh, was ist das Spannende an der Arbeit im Aufsichtsrat, also als-als ein
Teilbereich des Ganzen [Mitbestimmung]?
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 189

Befragter: Na ja (..) äh der Aufsichtsrat, der ist ja Teil einer guten Unternehmensfüh-
rung, sag ich jetzt mal und der hat den Vorstand (.) nicht nur äh, sag ich mal, zu kont-
rollieren in seinen Aktivitäten (.) oder zu (..) überwachen, sagen wir mal, ich sag es mal
ein bisschen vorsichtiger, sondern auch zu beraten. Und äh (.) eine Aufsichtsratssitzung
ist ja deswegen auch immer (.), wenn Aufsichtsratsarbeit gut funktioniert, ein offener
Beratungszirkel, in dem Dinge ausgetauscht werden, ohne hier Arbeitnehmer-, Arbeitge-
berbank, das ist vielleicht bei [anderer Gewerkschaft] ist das so, das glaube ich schon, äh,
aber wo man eigentlich da-dabei, darum ringt, Lösungen zu finden, den Vorstand wirk-
lich zu beraten und dem Vorstand äh auch (.), sage mal, zu coachen, wirklich zu fragen,
äh damit am Schluss auch klar ist, okay, das ist der richtige Weg. (.) Und das, glaube ich,
muss ein Aufsichtsrat tun (.), also auch dieses fordern äh (.) und das ist eigentlich irgend-
wie ha- wie so ein Trainer, man muss also gucken, dass äh die Beteiligten in Höchstform
sind und auch äh (.) äh-äh (.) sich drauf einstellen müssen, dass alles, was sie tun äh sehr
kritisch und kompetent beäugt wird, und ich glaube, das kriegt, das kriegen wir hin, ne?

Er sehe den Reiz der Aufsichtsratsarbeit darin, dass hier im Sinne einer guten Cor-
porate Governance der Vorstand kontrolliert und beraten werden müsse. In einem
guten Aufsichtsrat geschehe dies zusammen mit den Anteilseignervertretern in of-
fenem Austausch, ohne dass es zu einer Bildung von Bänken käme. Dies passiere
vielleicht in Aufsichtsräten, in denen eine andere Gewerkschaft vertreten sei. Im
Fall der Dortmunder Petrol jedoch ginge es darum, „Coach“ und „Trainer“ für den
Vorstand zu sein und ihn kritisch in seinen Entscheidungen zu begleiten.
Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat ist hier nicht gedacht als Arbeit-
nehmervertretung gegen die Anteilseignervertreter. Es geht hier weder um Op-
positionsarbeit und Interessenvertretung, noch geht es darum, eine betriebliche
Perspektive gegen die Anteilseignervertreter einzubringen. Eine klare Teilung in
zwei Seiten, die Differenz von Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern wird
hingegen abgelehnt und an dem negativen Vergleichshorizont einer anderen Ge-
werkschaft elaboriert. Zudem nehmen die Arbeitnehmervertreter für sich diesel-
be Rolle in Anspruch, die sie auch den Anteilseignervertretern attribuieren: Mit
der Metapher des „Trainers“ wird derselbe Grad an Qualifikation in Anspruch ge-
nommen, wie er den Anteilseignervertretern zugerechnet wird. Man sieht sich hier
nicht als Korrektiv gegenüber wirtschaftlicher Unternehmensführung, sondern
selbst als Teil derselben. Damit rechnen sich die Arbeitnehmervertreter zum einen
ein höheres Gewicht im Aufsichtsrat zu, zum anderen akzeptieren und affirmieren
sie jedoch auch die wirtschaftliche Logik der Anteilseignervertreter als ausschließ-
liche Referenz der Aufsichtsratsarbeit.
Das heißt freilich nicht, dass die Arbeitnehmervertreter dieselbe Form der Qua-
lifikation für sich in Anspruch nehmen. Vielmehr wird auch hier das Motiv der
Vertrautheit mit dem Betrieb verwendet, in dem die eigene Qualifikation gesehen
wird, wie dies auch in den Aufsichtsräten des Typs 2 geschieht. Jedoch wird das
Motiv hier anders verwendet (Interview Gewerkschaftsvertreter):
190 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Befragter: So und das ist der Unterschied, da sind die Arbeitnehmerbänke in der Regel
viel, viel näher dran. Wir können nicht wissen, ob in London jetzt, äh nach den (..) nach
den Boni-Gesetzen große Trauer ist, das wissen die immer alles, ne, weil die gestern in
London waren. Das wissen wir nicht, aber wir wissen, was im Betrieb seitdem passiert
ist. Ich denke aber, in Portfolio-Strukturen, ich finde das vom Grundsatz eine gute Ergän-
zung, wenn das nicht gegeneinanderläuft. Also wenn man den [externer Anteilseigner-
vertreter] fragen würde, sagen sie mal, was ist jetzt mit der Finanzwirtschaft, haben wir
da eine ordentliche Finanzierungspipeline in den nächsten fünf Jahren oder haben wir sie
nicht? Dann kann er was dazu sagen. Den zu fragen, ob er es gut findet, dass wir, dass wir
äh beim [Produkt] jetzt äh auf [Technologie] setzen, da kann der nichts dazu sagen, tut
er auch nicht und ein bisschen Abstand zu nehmen. Ich denke – wie gesagt – im Portfolio.

Die Arbeitnehmervertreter verstünden das operative Geschäft besser. Sie könnten


zwar nichts zu aktuellen Entwicklungen etwa in der Finanzindustrie sagen, doch
hätte man dazu ja Vertreter aus der Branche im Aufsichtsrat. Diese hingegen ver-
stünden aktuelle technologische Entwicklungen nicht. Das Kompetenzprofil des
Aufsichtsrats müsse man daher als „Portfolio“ denken.
In den Unternehmen des Typs 2 begreifen die Arbeitnehmervertreter sich als
Korrektiv. Sie bringen „gesunden Menschenverstand“ gegen die Orientierung an
„Kennzahlen“ ein, welche die Anteilseignervertreter auszeichnet. Die Vertrautheit
mit dem Betrieb wird interpretiert als Kenntnis von einer „realen Realität“ im Un-
terschied zu einer „virtuellen“. Auf diese „reale Realität“ hinzuweisen, darin sehen
die Arbeitnehmervertreter des Typs 2 ihre Aufgabe. Sie bleiben damit in einer se-
kundären Position verhaftet, in der sich immer wieder die Oppositionsfigur der
politischen Seite finden lässt.
Das Motiv der Vertrautheit mit dem Betrieb wird hier auch aufgenommen: Die
Arbeitnehmer verfügen über Kenntnisse des operativen Geschäfts und der aktu-
ellen Entwicklung an den Standorten. Diese Vertrautheit mit dem Betrieb wird
jedoch nicht als Korrektiv gegenüber der Qualifikation der Anteilseignervertreter
gesehen. Es geht hier nicht darum, einer generellen Orientierung an einer „virtuel-
len Realität“ vorzubeugen, auf etwas hinzuweisen, was die andere Seite grundsätz-
lich nicht kennt und auch nicht kennen kann. Vielmehr werden Vertrautheit mit
„Kennzahlen“ – hier am Beispiel der Finanzmärkte – auf dieselbe Ebene gestellt wie
die Vertrautheit mit dem Betrieb: Es handelt sich hier um Qualifikationen, die für
die Unternehmensführung unerlässlich sind. Der Begriff des Portfolios, selbst aus
der Sphäre der Anteilseignervertreter entlehnt, steht hierfür.
Die Vertrautheit mit dem Betrieb bietet somit keine Form der Opposition. Sie
kann nicht mehr heißen, die Stimme der Kollegen aus der „realen Realität“ zu sein.
Es handelt sich vielmehr nur noch um eine Form der Kompetenz innerhalb eines
Kompetenzprofils von Aufsichtsräten. Anteilseigner- und Arbeitnehmervertreter
werden als gleichberechtigt betrachtet – sie unterscheiden sich nur in ihrem
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 191

Qualifikationsprofil, wie etwa ein Marketing- und ein Finanzvorstand. Die Unter-
scheidung einer „virtuellen Realität“ der Anteilseignervertreter und einer „realen
Realität“ der Arbeitnehmervertreter wird damit aufgehoben. Ist gibt nur noch die
Kontextur unternehmerische Kompetenz.
Die Position der Arbeitnehmervertreter geht dabei soweit, dass sie im eigenen
Unternehmen, als dessen Führung sie sich begreifen, eine Schule für die externen
Anteilseignervertreter sehen (Interview Gewerkschaftsvertreter):

Befragter: Ich meine, machen wir uns nichts vor, äh in so einem Aufsichtsrat gerade so
CEOs, die lernen natürlich eine Menge. Ja (.) und äh die [Dortmunder Petrol] ist des-
wegen hochinteressant für einen M-Mann wie-wie (.) [Vertreter einer Bank] (.), weil er
(..) es hier mit einem richtigen transnationalen Unternehmen zu tun hat und die Markt-
einschätzungen, die die [Dortmunder Petrol] hat, von China, von Amerika, die helfen
auch ihm, wenn er an seine [Strategie] für seine [Firma] denkt, ja. Ich sage das jetzt mal
nur oder-oder...
Interviewer: Ja klar.
Befragter: [Unternehmensvertreter], wenn dem die Kinnlade runterfällt, weil wir mit
einer Auslastung von äh [X] Prozent noch schwarze Zahlen schreiben und andere tiefrot
sind. Die Frage, w-wo ist der break-even-point und warum könnt ihr den so tief legen.
Ja, das sind, das heißt, Aufsichtsräte sind ja auch für Vorstände Lernschulen wieder, wo
sie durchaus Dinge mitnehmen (.) für die gute Unternehmensführung in ihrem Unter-
nehmen, ja. Also es hat, ist auch ein Stück Selbstzweck dabei, ne.

Vorstandsvorsitzende würden im Aufsichtsrat viel lernen, da die Dortmunder


Petrol sehr interessant sei. So könne etwa ein Bankvertreter viel über Marktein-
schätzungen lernen. Der Vertreter eines Produktionsunternehmens etwa sei sehr
erstaunt gewesen, als er gehört habe, mit welch niedriger Auslastung noch Gewinn
erwirtschaftet werden könne.
In diesem Zitat zeigt sich eine eindeutige Parallele zu der Formulierung des
„Mitatmens“ des Aufsichtsratsvorsitzenden (vgl. S. 181 f.). Hier wird eine ähnliche
Sprecherposition gegenüber den externen Anteilseignervertretern eingenommen:
Man sieht sich selbst als privilegiertes Mitglied der Unternehmensführung, von der
die „Externen“ zu ihrem Vorteil lernen können.
Teil dieser Auffassung von Aufsichtsratsarbeit heißt dann freilich auch, politisch
unangenehme Entscheidungen zu treffen und gegenüber den Arbeitnehmervertre-
tern diese Entscheidungen zu verteidigen (Interview stellvertretender Aufsichts-
ratsvorsitzender):

Befragter: Und wir haben als wiederkehrendes Thema im Aufsichtsrat natürlich den
Punkt äh, Akquisition, Devestition, weil das in so einer dynamischen Firma ein ständi-
ges Thema ist. Und äh Portfolio-Management ist am Schluss äh (.) äh (.) nicht immer
schön für Arbeitnehmer, aber es ist bei der Frage, kriege ich ein Unternehmen (.) gut und
192 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

sicher in die Zukunft, unerlässlich. Ne? Und äh dem müssen wir uns auch stellen und
äh (.) äh (.) wir-wir, das müssen wir auch unseren Leuten manchmal sagen, dass wir äh
die Zukunft für sie nicht gewinnen, wenn wir sagen nach dem Motto, ich will so bleiben,
wie ich bin. Ist zwar schön, das ist auch so tiefe Sehnsucht der Menschen, dass sich mög-
lichst vi-, wenig verändert, aber wenn man Dinge nicht angeht zum Zeitpunkt, wo sie
gestaltbar sind, dann wird man gestaltet. So und äh wir haben uns da für das Gestalten
entschieden (.) und das muss man (.) vertrauensvoll tun, rechtzeitig in den Informa-
tion, wenn-wenn das mal zerstört ist, dann äh (.) haben Sie genau das verloren, was die
Mitbestimmung ausmacht, ja, dass man frühzeitig Dinge (.) auch kritischer ansprechen
kann, auch mal anderer Meinung sein darf. Äh aber am Schluss zu einer Entscheidung
kommen muss, ne?

Das Portfolio der Firma zu optimieren, sei notwendig für eine nachhaltige Unter-
nehmensentwicklung, den Arbeitnehmern jedoch schwer zu vermitteln. Das Be-
stehende könne nur durch stetige Anpassung erhalten werden, was der „Sehnsucht
der Menschen“ nach möglichst geringer Veränderung widerspreche. Dies gelte es
dann auch zu vermitteln. Denn nur indem man rechtzeitig an den Entscheidun-
gen beteiligt sei, könne man auch das Unternehmen formen. Diese Beteiligung an
den Entscheidungen setze jedoch Vertrauen voraus. Denn nur so könnten kritische
Punkte frühzeitig angebracht werden.
Deutlich wird hieraus zweierlei: Indem die Arbeitnehmervertreter die Auf-
sichtsratsarbeit als Unternehmensführung und nicht als Interessenvertretung be-
greifen, erwächst ihnen ein Legitimationsproblem innerhalb des Unternehmens.
Die reine Verbindung einer wirtschaftlichen Kontextur mit der Aufsichtsratsarbeit
wirkt hier auf die politische Kontextur zurück. In der Folge gilt es, die eigenen Ent-
scheidungen im Aufsichtsrat immer wieder zu begründen und der eigenen Wäh-
lerschaft gegenüber zu verteidigen. Diese Aufgabe wird freilich angenommen und
als Teil der Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat begriffen.
Deutlich wird damit jedoch auch, dass das Legitimationsproblem nicht einfach
ausgeklammert werden kann und auch nicht ausgeklammert wird. Auch wenn die
Arbeitnehmervertreter sich selbst als Teil der Unternehmensführung auf Augenhö-
he mit den Anteilseignervertretern begreifen und ihre Rolle nicht in der Opposition
sehen, ist ihre Sprecherposition eine andere. Nicht nur das andere Kompetenzprofil
der Arbeitnehmervertreter ist relevant, sondern letztlich geht es selbstverständlich
auch hier darum, im Sinne der Arbeitnehmer „zu gestalten“ und etwas für sie „zu
gewinnen“. Dieses Problem kann keinesfalls ausgeklammert werden. Selbst unter-
nehmerisch orientierte Arbeitnehmervertreter bleiben Arbeitnehmervertreter. Der
gewählte Weg ist nur ein anderer. Auch das wird in diesem Zitat deutlich: Die Ar-
beitnehmervertreter gehen davon aus, dass ein wirtschaftlich erfolgreiches Unter-
nehmen letztlich mehr für sie bietet. Darüber hinaus sind sie der Meinung, dass die
Mitarbeit an diesem wirtschaftlichen Erfolg eine bessere Ausgangsposition schafft.
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 193

Es wird „Vertrauen“ zu den Anteilseignervertretern und Vorständen geschaffen, ein


Verhältnis, in dem man die eigenen Anliegen mit mehr Aussicht auf Erfolg anbrin-
gen kann („frühzeitig Dinge auch kritisch ansprechen“).
Damit besteht die Strategie der Arbeitnehmervertreter hier letztlich darin, die
Differenz von Wirtschaft und Politik weitgehend auf Arbeitnehmerseite zu inte-
grieren. Indem man selbst an wirtschaftlichen Entscheidungen mitwirkt und de-
monstriert, dass man auch politisch Unliebsames durchsetzen kann, kann letztlich
erfolgreicher Politik betrieben werden, zum einen, weil die Arbeitnehmervertreter
viel stärker eingebunden werden, zum anderen, weil sie auf einen höheren Grad
an Glaubwürdigkeit hoffen: Wenn man selbst sowohl Politik als auch Wirtschaft
beherrscht, erscheinen die eigenen Einschätzungen glaubwürdiger. Man steht nicht
generell unter Ideologieverdacht und kann Politisches glaubwürdig wirtschaftlich
verargumentieren.
Für die Arbeitnehmervertreter heißt das dann, zwischen betrieblicher Interes-
senvertretung und Aufsichtsratsarbeit strikt zu trennen. Auf der einen Seite steht
der Anspruch, wirtschaftlich tragbar zu entscheiden. Auf der anderen Seite steht
der Anspruch, Arbeitnehmerinteressen zu vertreten. Auf dies wird mit einer klaren
Sphärentrennung reagiert (Interview Betriebsrat):

Befragter: Es ist nicht, weil äh die [Dortmunder Petrol] eine strategische Entscheidung
nimmt, dass ich meine Rolle im [Standort] äh verpasse. Also das ist nicht so, im [Stand-
ort] bin ich dann wieder die [Betriebsrat], der kämpft für jeden (.) Arbeitnehmer, der
seinen Job verliert.
Interviewer: Ja.
Befragter: Also hier ich-ich habe immer so die Idee gehabt im Aufsichtsrat, wir sorgen im
Aufsichtsrat, dass unsere Gesellschaft gesund bleibt und ein gesundes wettbewerbsfähiges
Geschäft kreiert auch Jobs. (..) Und das ist meine Idee, wenn ich im Aufsichtsrat sitze. Ich
kann nicht für einen einzelnen Arbeitnehmer dort äh kämpfen, das geht einfach nicht,
das ist auch nicht das Forum, das ist auch nicht die Idee vom Aufsichtsrat. Und anfangs
hatte ich schon Angst, kann ich das, kann ich das, weil (.) wir kennen das nicht und äh
ja wir (.), wir kämpfen natürlich bei uns (lacht).

Wirtschaftlich entscheiden im Aufsichtsrat hieße in der Konsequenz nicht, dass


man als Betriebsrat sich nicht wieder für jeden seiner Kollegen einsetzen könne.
Sobald er im Betrieb sei, so der Befragte, geschehe dies auch wieder. Im Aufsichts-
rat jedoch müsse man anders denken und müsse auch Entscheidungen treffen, die
man auf Ebene des Betriebs nicht durchsetzen kann.
Arbeitnehmervertretung in traditionellem Sinne als Interessenvertretung wird
so eine rein betriebliche Angelegenheit. Hier ist man konsequente Opposition ge-
genüber der Unternehmensführung, während man im Aufsichtsrat Teil der Un-
ternehmensführung selbst wird. Diese „zwei Seelen in der Brust“ führen freilich
194 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

zu Legitimitätsproblemen, da Arbeitnehmervertretung hier ihre eigene Opposition


wird. Sie trägt wirtschaftliche Entscheidungen und opponiert gegen sie. Sie wird
ihr eigener Gegner.
Damit die Arbeitnehmervertretung in dieser paradoxen Struktur nicht kolla-
biert, werden verschiedene Techniken eingesetzt. Etwa ist es nötig, sich die wirt-
schaftliche Orientierung im Aufsichtsrat über eine starke Hierarchie abzusichern
(Interview stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender):

Interviewer: An welcher, an welcher Stelle kommunizieren Sie das dann an Ihre äh


Arbeitnehmerkollegen weiter [, dass ein Arbeitnehmervertreter aus dem Aufsichtsrat
ausscheidet]. Sie haben jetzt gesagt, Sie wissen es sehr früh, wann-wann gibt man so eine
Information weiter?
Befragter: Also wir haben uns rechtzeitig äh (.) in eine Position gebracht, wo wir nicht
durch ein falsches Erwartungsmanagement als Aufsichtsräte (.) äh dann Dinge ver-
sprechen, die man nicht halten kann. (.) Wir sagen unseren Leuten klipp und klar was
bedeutet Aufsichtsrat zu sein (.), dass sie ihre Stärksten zu wählen haben, dass sie die
Rolle ausfüllen, aber dass wir die Dinge nicht am Jahrmarkt austragen können – so ist es
(.) und dann sind wir gut damit gefahren, rechtzeitig zu sagen, was geht und was nicht
geht. (.) Und siehe da äh das äh (.) ist in der täglichen Arbeit kein Thema wirklich nicht.

Auf die Frage, wann eine Vakanz im Aufsichtsrat innerhalb der Arbeitnehmer-
schaft mitgeteilt werde, antwortet der Befragte, dass man in einer solchen Situation
klare Vorgaben machen müsse. Es gehe hier nicht darum, die „Dinge am Jahrmarkt
auszutragen“, sondern darum, die stärksten Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat
zu haben. Diese müssten entsprechend gewählt werden, was auch geschehe.
Hier lässt sich eine klar technokratische Einstellung zur Rekrutierung neuer
Aufsichtsratsmitglieder erkennen. Es geht hier nicht darum, dass die Arbeitneh-
mervertreter in einer demokratischen Abstimmung denjenigen wählen, den sie für
den richtigen halten. Vielmehr geht es darum, dass diejenigen gewählt werden, die
von den Spitzen der Hierarchie für die Aufsichtsratsarbeit am geeignetsten erschei-
nen. Die Eignung zeigt sich dabei durch „Stärke“ und die Fähigkeit, die „Dinge nicht
am Jahrmarkt auszutragen.“ Der Begriff der Stärke heißt in der Konsequenz nichts
anderes als Konfliktfähigkeit mit der eigenen Wählerschaft. Der Jahrmarkt wird
hier zudem als negativer Vergleichshorizont für eine Öffentlichkeit gegenüber den
Arbeitnehmern verwendet. Eine Politisierung der Aufsichtsratsarbeit, überhaupt
das Weiterreichen von Informationen aus dem Aufsichtsrat erscheint hier nicht
als legitim, sondern wird mit der Metapher des „Jahrmarkts“ diskreditiert. The-
men des Aufsichtsrats sind keine Themen, die innerhalb der Belegschaft politisiert
werden dürfen. Es besteht der Anspruch der hierarchischen Spitzen der Arbeit-
nehmervertretung, dass zukünftige Aufsichtsratsmitglieder in der Lage sind, Still-
schweigen über die Entscheidungen im Aufsichtsrat zu wahren und im Zweifelsfall
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 195

einen Konflikt mit der eigenen Wählerschaft zu riskieren. Dieser Anspruch scheint
innerhalb der Arbeitnehmerschaft akzeptiert zu sein: Was die Aufsichtsräte ent-
scheiden, ist manchmal unangenehm, scheint manchmal undemokratisch und au-
toritär, hat aber seine Richtigkeit. Wirtschaftsdemokratie wird hier ersetzt durch
kompetenzgetriebene Selbstrekrutierung der Führungsspitze einer Organisation.
Das Modell Unternehmen wird hier auf die Arbeitnehmervertretung übertragen.
Diese Orientierung, solange sie sich bewährt, sichert zumindest die wirtschaft-
liche Orientierung. Sie sichert die Sphärentrennung in Aufsichtsratsarbeit und
betriebliche Interessenvertretung, löst das Legitimitätsproblem jedoch nicht. Viel-
mehr macht sie es nur noch aktueller.
Legitimität zur Wiederwahl kann auf die Dauer nur durch andere Techniken
gesichert werden. So ist es etwa möglich, gerade die Zugehörigkeit zur Unter-
nehmensführung für die Oppositionsarbeit auszunutzen. So berichtet etwa ein
Betriebsrat davon, wie er einen guten Sozialplan bei der Restrukturierung eines
Standorts durchsetzen konnte:

Befragter: Also da haben auch, glaube ich, ein paar meiner Kollegen, die anfangs immer
so eifersüchtig waren, auch gesehen, ja [eigener Name] spielt doch seine Rolle, und ich
glaube, das ist gerade, was man sehen muss und sehen möchte, m-hm. Also für mich war
es schon gut, dass ich die Lernschule jetzt hinter mir habe und dass ich was für [Standort]
bedeutet habe und dass auch die Leute gesehen haben, okay, er ist dort kein Aufsichtsrats-
mitglied, aber, weil er Aufsichtsratsmitglied ist, hat er die Möglichkeit sich mehr und mehr
zu bewegen im Lande selbst, ohne dass mein Arbeitgeber sagt, oh [eigener Name], du
kannst jetzt aber nicht rausfahren. (.) Und ja, da habe ich meinen-meine Stärke, ja, nennt
man das missbraucht, ich-ich meine gebraucht und d-das ist gut angekommen. Also ich
hoffe, Leute haben jetzt ein bisschen mehr Begriff für meine Arbeit im Aufsichtsrat.

Von einigen Kollegen, die ihm bisher das Mandat geneidet hätten, habe er im Rah-
men der Restrukturierung Anerkennung bekommen. Dies sei aber nur möglich
gewesen, weil er im Aufsichtsrat sitze und daher eine andere Freiheit habe. Das
Aufsichtsratsmandat verleihe hier Autorität gegenüber den Arbeitgebern auf be-
trieblicher Ebene. Und er hoffe, dass er aufgrund des durchgesetzten Sozialplans
nun auch etwas mehr Anerkennung für die Aufsichtsratsarbeit bekomme.
Das Mandat stellt sich hier als Machtpotenzial auf der betrieblichen Ebene dar.
Gerade weil man nicht nur Opposition innerhalb des Unternehmens, sondern auch
Mitglied der Unternehmensführung ist, scheint die Autorität in der Opposition
selbst eine andere zu sein. Dies heißt bessere Möglichkeiten in der betrieblichen
Interessenvertretung. Gleichzeitig wird aber auch durch die Ausnutzung dieser
Möglichkeiten eine höhere Legitimität der Aufsichtsratsarbeit erhofft. Die para-
doxe Struktur der unternehmerischen Arbeitnehmervertretung wird so nutzbar
gemacht und bietet Möglichkeiten zur Unternehmenspolitik, die eine konsequente
196 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Interessenvertretung bis in den Aufsichtsrat vielleicht nicht bringen würde. So zu-


mindest erscheint es aus Perspektive der Arbeitnehmervertreter.
Dennoch funktioniert auch dieses Modell der Arbeitnehmervertretung letztlich
nur, wenn die Position der Interessenvertretung gegenüber den Anteilseignerver-
tretern zu einem gewissen Grad aufrechterhalten, aber dennoch anders gewendet
wird (Interview Arbeitnehmervertreter):

Befragter: Bei uns sind, [sehr hoher Prozentsatz] unserer Betriebsratsvorsitzenden sind
bei uns organisiert. So, das heißt, in vielen Companys ist das aber immer noch so, bei der
[Dortmunder Petrol] wäre das auch nicht anders denkbar. Das soll der Repräsentant der
Beschäftigten der Company sein. (.) Wogegen ich im Prinzip nichts habe, nein, habe ich
auch nicht. Äh das heißt, das ist die Logik und dann kommen die Externen hinzu und
er- und ergänzen sozusagen das-das Kompetenz-Portfolio. Es gibt andere Unternehmen
und auch Traditionen, wo man sagt, genau das soll nicht sein. Das kommt aus dem
un- Unabhängigkeitsgedanken. Also wer ist sozusagen am Ende freier, äh auch kritische
Fragen mit dem Management zu erörtern. Am Ende kommt es auf die Leute an. Wenn
sie einen starken Gesamtbetriebsratsvorsitzenden haben, der völlig unabhängig ist, weil
es einfach seine Stellung im Betrieb quasi wie ein Manager ist, der frei, dann ist das unin-
teressant. Wenn sie natürlich einen haben, (.) der da quasi richtig Betriebsrat im engeren
Sinne ist und am Ende unter dem Crasher steht und der (.) äh Vorstandsvorsitzende
guckt den ernst an und der schmilzt dahin, dann haben sie ein Problem.

Ein großer Anteil der Betriebsratsvorsitzenden sei gewerkschaftlich organisiert.


Diese seien die „Repräsentanten der Beschäftigten.“ Letztlich stelle sich für die
Arbeitnehmervertreter die Frage, welche Personen die stärksten auf Arbeitnehmer-
seite seien. Sollte man einen starken Betriebsratsvorsitzenden haben, der „wie ein
Manager“ frei sei, dann sei alles in Ordnung. Solle man jedoch einen „richtigen
Betriebsrat“ haben, der sich vom Vorstand einschüchtern lasse, habe die Arbeit-
nehmerbank ein Problem.
Hierin wird klar, dass die unternehmerische Orientierung der Arbeitnehmer-
vertreter keinesfalls heißt, dass die Opposition gegenüber der Anteilseignerseite
komplett aufgegeben wird. Es besteht immer noch die Anforderung, Führungs-
personal zu haben, das auch gegen den Vorstand stehen kann. Es müssen auch
konträre Positionen von den Arbeitnehmervertretern eingenommen werden. Dazu
müssen diese Arbeitnehmervertreter konfliktfähig sein.
Interessant ist dabei jedoch, dass die schwache Oppositionsrolle dem „richti-
gen Betriebsrat“ zugerechnet wird. Dieser wird als negativer Vergleichshorizont
herangezogen als ein Arbeitnehmervertreter, dem letztlich die Konfliktfähigkeit
fehlt. Er wird präsentiert als Person, die durch Rückgriff auf die Hierarchie der
Organisation von ihrer Oppositionsrolle abgebracht werden kann. Positiv wird
hingegen der Betriebsrat dargestellt, der „frei wie ein Manager“ ist – oder eben
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 197

der Gewerkschaftsvertreter, der nicht „unter dem Crasher“ steht. Gerade Letzterem
wird diese Konfliktfähigkeit zugeschrieben.
Damit wird hier die Rolle von Opposition und Regierung in einer paradoxen
Figur zusammengezogen: Ein erfolgreicher Arbeitnehmervertreter ist der, der sei-
ne Meinung gegen das Management als Manager durchsetzen kann. Erfolgreiche
Oppositionsarbeit ist hier Oppositionsarbeit wie Regierungsarbeit. Interessenver-
tretung gegen das Ökonomische ist selbst unternehmerisches Handeln. Der Arbeit-
nehmervertreter wird Unternehmer seines eigenen Anliegens.
Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat ist damit eine unternehmerische Form
des Anti-Unternehmertums. Es ist ökonomisch orientierte Regierungsarbeit, die
Opposition wird zur ökonomisch orientierten Regierung. Demokratische Wahl
von Arbeitnehmervertretern ist kompetente Besetzung unternehmerischer Posten,
die gegenüber dem inkompetenten Wahlvolk durchgesetzt werden muss. Erfolg-
reiche Politik ist hier entpolitisierte Politik. Es kommt hier zu einer Art rekursiver
Verschachtelung von wirtschaftlicher und politischer Kontextur. Beide werden ma-
ximal voneinander getrennt, nur um in einem zweiten Schritt wieder in nahezu
jeder Hinsicht für die jeweils andere verwendet zu werden.
Gleichzeitig zeigt sich in dieser Haltung auch der stärkste Anspruch an die Un-
ternehmensmitbestimmung im Vergleich zu allen anderen Typen der mitbestimm-
ten Aufsichtsratsarbeit. Gerade indem der Anspruch an Interessenvertretung so
weit aufgegeben und die Oppositionsposition so weit verlassen wird, kann ein weit-
reichender Anspruch an Mitbestimmung starkgemacht werden. Denn erst indem
die Arbeitnehmervertreter sich als gleichwertiger Teil des Aufsichtsrats betrach-
ten und nicht als reine Opposition (Typ 1) oder als Korrektiv (Typ 2), kann eine
Sprecherposition eingenommen werden, die Autorität in Fragen der Unterneh-
mensführung bekommt. Auch hierin ist diese Form der Arbeitnehmervertretung
zutiefst paradox: Indem so weit wie möglich vom Anspruch an Arbeitnehmerver-
tretung abgerückt wird, kann Arbeitnehmervertretung mit den weitreichendsten
Ansprüchen betrieben werden. Erst in diesem Sinne ist Arbeitnehmervertretung
keine „Defizitkommunikation“ mehr, jedoch dann eben auch nicht mehr sie selbst.
Das ist ihre Stärke und ihre Anfälligkeit zugleich.
Diese paradoxe Figur muss vermutlich stets neu performativ überbrückt wer-
den. Sie bedarf vermutlich immer wieder unternehmerischer Entscheidungen, die
politisch nutzbar gemacht werden können und/oder charismatischer Personen, die
dieses Paradoxon entfalten können. Vermutlich ist sie jedoch nicht in dem Grad
stabil, wie es die Arbeitnehmervertretung in Typ 1 und Typ 2 sind. Unter Um-
ständen ist sie jedoch gerade deshalb vom Standpunkt der „Interessenpolitik“ her
effektiver, schlichtweg weil sie den Raum wirtschaftlich orientierten Unternehmer-
tums beherrscht.
198 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

4.4.1.3 „Interne“ unter sich


Betrachtet man die Deutungsräume von Arbeitnehmer- und Anteilseignervertre-
tern, so deutet sich eine hohe Konvergenz an. Für die Anteilseignervertreter ist
die Figur der „Internen“ hoch relevant: Wer das Unternehmen nicht nur sachlich
kennt, sondern mit den informalen Umgangsformen und Gepflogenheiten vertraut
ist, wer es „eingeatmet“ hat, wird zumindest als potenziell kompetent für die Auf-
sichtsratsarbeit anerkannt. Dies trifft in weiten Teilen für die Arbeitnehmervertre-
ter zu. Ihnen kann Kompetenz attribuiert werden, weit über einfaches betriebliches
Sonderwissen hinaus, das auch den Arbeitnehmervertretern in Aufsichtsräten des
Typs 2 attribuiert wird. Die Arbeitnehmervertreter bekommen so eine legitime
Sprecherposition innerhalb der Deutung des Unternehmens durch die „Internen“,
also Vorstände und ehemalige Vorstände im Aufsichtsrat.
Umgekehrt erkennen die Arbeitnehmervertreter den Primat des Wirtschaftli-
chen voll an. Es tauchen keine Komplementärfiguren mehr auf, wie dies in den
Aufsichtsräten des Typs 2 der Fall ist. Hier geht es nicht darum, Korrektiv für eine
„zahlenorientierte“ Anteilseignerbank zu sein und diese mit „gesundem Menschen-
verstand“ zu konfrontieren. Es geht vielmehr um eine gemeinsame Arbeit für das
Unternehmen. Unterschiede zwischen Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern
werden weitgehend nur noch als Unterschiede innerhalb eines „Kompetenz-Port-
folios“ betrachtet. Betriebsrat ist damit eine potenziell gleichwertige Qualifikation
wie Experte in der Rechnungslegung oder Experte für Produktion.
Dies führt in der Zusammenarbeit zumindest in der Diskussion zu einer weit-
gehenden Negation einer Trennung in Bänke (Interview „interner“ Anteilseigner-
vertreter):

Interviewer 1: Wie-wie wird dann mit Konflikten oder Interessenunterschieden


umgegangen?
Interviewer 2: (…) Äh theoretisch hat man...
Befragter: Also ich äh (…) äh, wenn ich mir die letzten Jahre ansehe, (.) es ist nie so,
dass nur die Arbeitnehmerseite dann irgendwo Schwierigkeiten hatte, sondern dann ist
meistens auch auf der Anteilseignerseite (.) der eine oder andere, der-der gleichen Mei-
nung jetzt.
Interviewer 2: Okay.
Befragter: Also es ist nicht, es gibt keine richtige Spaltung bei uns.

Auf die Frage nach dem Umgang mit divergierenden Meinungen innerhalb des
Aufsichtsrats gibt der Befragte an, dass diese nicht klassischerweise entlang der
Trennung von Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretern verliefen. Wenn die
Arbeitnehmervertreter eine andere Meinung haben, so wird diese zumeist von ei-
nigen Anteilseignervertretern geteilt.
Ähnlich äußert sich der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende:
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 199

Befragter: Also ich bin (.) absolut sicher, dass es keine Abstufung gibt in der (.) Behand-
lung, in der Wertigkeit der Aufsichtsratsmitglieder. (.) Äh das erkennbar ist in der prak-
tischen Arbeit, dass vielleicht äh (.) CEOs, die jetzt hier im Aufsichtsrat sind, mehr die
finanzpolitische äh Seite beleuchten. Äh ich mein Bilanz lesen können wir auch und
so, aber wenn es denn um wirkliche (.) Tiefen geht, Zusammenhänge, wie eine, wie ein
transnationales Komplex des [Branche] Unternehmens sich organisiert und so strategi-
sche Debatten, da, glaube ich, sind wir wirklich viel stärker wie die Kapitalseite, aber am
Schluss macht das-das Ganze aus.

Aus Perspektive des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden stellen sich alle


Aufsichtsratsmitglieder als gleichberechtigt dar. Es gebe zwar verschiedene Per-
spektiven, so sei die Finanzkompetenz auf Anteilseignerseite ausgeprägter, die
Kenntnis über das Unternehmen und die Branche jedoch auf Arbeitnehmerseite.
Doch letztlich sei das Gremium als Ganzes entscheidend.
Interessant an beiden Zitaten ist, dass die Differenz zwischen Arbeitnehmer-
und Anteilseignervertreter zwar immanent negiert ist, als Unterscheidung den-
noch aufrechterhalten wird. So wird zwar im ersten Zitat angemerkt, dass die Bän-
ke nicht stets geschlossen einer Meinung sind. Doch gerade indem gesagt wird,
dass immer auch „ein, zwei Anteilseignervertreter“ die Meinung der Arbeitneh-
mervertreter teilen, wird die Trennung bestätigt. Ebenso wird im zweiten Zitat eine
klare Rollenverteilung vorgenommen: Auf der einen Seite stehen hier – wie auch
im Fall der Aufsichtsräte des Typs 2 – die finanzorientierten Anteilseignervertreter.
Auf der anderen Seite stehen die mit dem Unternehmen vertrauten Arbeitnehmer-
vertreter.
Dennoch wird auch von den „externen“ Anteilseignervertretern die Differenz
von Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreter explizit abgelehnt (Interview „ex-
terner“ Anteilseignervertreter):

Befragter: Ähm, unterschiedlich (.) da in der/Dortmunder Petrol/ähm, weil die mit dem
[Gewerkschaftsvertreter] echt ‘n Unternehmertypen auf der Gewerkschaftsseite haben.
Ne, also das ist, deswegen sag ich auch diese äh ganzen Themen, von denen man vermu-
tet, dass sie irgendwie kontrovers ähm/gehändelt werden zwischen den Anteilseignern
und den Arbeitnehmern, ist in der Dortmunder Petrol ernsthaft nicht so, weil sich da
alle als Unternehmer sehen.

Die Erklärung für die Ablehnung einer Trennung des Gremiums in zwei Bänke liegt
vermutlich darin, dass die Arbeitnehmervertreter zwar oftmals andere Positionen
als die Anteilseignervertreter (zumal die „externen“) vertreten, diese aber nicht
als Perspektive der Arbeitnehmervertreter verargumentieren. Vielmehr wird eine
Sprecherposition der „Internen“ eingenommen, die eine andere unternehmerische
Perspektive wählt. Diese wird jedoch nicht als Meinung einer Opposition präsen-
tiert, sondern als ökonomisch bessere Entscheidung. Als Beispiel hierfür mag eine
Passage aus dem Interview mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden eines anderen Auf-
200 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

sichtsrats dienen, dessen Arbeitnehmerseite jedoch sehr ähnlich strukturiert ist wie
im vorliegenden Unternehmen. Da dieser sehr jung in dem Mandat und nicht ver-
traut mit dieser Form der Arbeitnehmervertretung ist, wundert er sich hierüber:4

Befragter: Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass der Vorstandsvorsitzende gesagt hat,
ich habe Ihnen dieses Volumen [für Investitionen und Akquisitionen] vorgestellt. Das
würde ich auch gerne realisieren, aber angesichts der Entwicklung der Dinge ist das
natürlich so, dass das im Moment unrealistisch ist und ich schlag deshalb vor, dass wir
ein Volumen von x-y fahren. Das aber tat er nicht. Daraufhin musste ich sagen: Das tut
mir leid. Dann muss ich jetzt einen Beschluss herbeiführen, der lautet x-y. Punkt. (.) Und
der wurde dann auch getroffen. (.) Manchmal gibt es sowas.
Interviewer: Jetzt hatten Sie erwähnt, dass die Arbeitnehmervertreter ‘ne geringfügig
andere Position hatten.
Befragter: Ja. In Bezug auf ein Projekt und zwar eine Akquisition. äh, was eigentlich
ungewöhnlich ist. Und dazu noch eine Auslandsakquisition. Äh, der Hintergrund dazu
ist, dass aus Sicht der Arbeitnehmervertreter – nicht irrigerweise – sondern wohl schon
zu Recht, eine Absicherung einer Position im Innenland gesehen wurde in der Akquisi-
tion im Ausland. Das hat was zu tun mit der dann geschaffenen relativen Marktposition.
Und insofern war das schon verständlich. Nur (unklar) beschlossen diese Sachen, ja. Und
ich meine, das waren [X] Millionen und wir haben gesagt, geht nicht. Die Akquisition ist
getätigt worden irgendwann im [Monat].

Der Befragte skizziert hier eine Diskussion in seinem Aufsichtsrat über das Bud-
get für Investitionen und Akquisitionen. Der Vorstandsvorsitzende hatte ein be-
stimmtes Volumen vorgestellt, das er persönlich jedoch für zu hoch hielt. Diese
Einschätzung habe der Vorstandsvorsitzende jedoch nicht geteilt, weshalb er als
Aufsichtsratsvorsitzender einschreiten musste. Auf Nachfrage nach der Position
der Arbeitnehmervertreter antwortet der Befragte, dass diese eine befremdliche
Position eingenommen hätten. Sie hätten sich für eine Auslandsakquisition ausge-
sprochen, in der sie einen Vorteil für die Positionen des Unternehmens in Deutsch-
land gesehen hätten.
Worüber sich der Anteilseignervertreter hier wundert, ist die Tatsache, dass die
Arbeitnehmervertreter keine Investition im Inland befürworteten, die aus demsel-
ben Etat bezahlt worden wäre, sondern die Investition im Inland zugunsten einer
Akquisition im Ausland verworfen haben. Diese Position erscheint aus Perspektive
eines Anteilseignervertreters nicht als Interessenpolitik. Vielmehr erscheint sie als
sinnvolle unternehmerische Idee, die schließlich auch umgesetzt worden ist – trotz
Kürzungen im Etat.

4
Dies ist auch die Erklärung, warum sich eine ähnliche Passage nicht in den Interviews des
vorliegenden Unternehmens findet: Selbst die externen Anteilseignervertreter sind schon
seit Jahren mit dem Vorgehen der Arbeitnehmervertreter vertraut, so dass sie sich über be-
stimmte Dinge nicht mehr wundern. Sie sind zu selbstverständlich geworden.
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 201

Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass Arbeitnehmervertreter wirtschaftlich be-


gründete Vorschläge machen. Auch in den Aufsichtsräten des Typs 2 findet man
diese. Ein Beispiel hierfür ist eine Passage aus dem Interview mit dem stellvertre-
tenden Aufsichtsratsvorsitzenden der Augsburger Maschinenwerke (S. 138 ff.). In
der Passage stilisiert sich der Befragte zum Sprecher des „gesunden Menschenver-
standes“ und berichtet, wie er auf den Tisch haut, als die Ausgaben für Forschung
und Entwicklung gekürzt werden sollen. Diese Passage unterscheidet sich jedoch
in zweierlei Hinsicht von der obigen. Zum einen geht es hier nicht um eine Stili-
sierung einer Oppositionsposition. Wo im Fall der Augsburger Maschinenwerke
die Arbeitnehmervertreter eine dezidiert andere Sprecherposition als die Anteils-
eignervertreter einnehmen, nehmen die Arbeitnehmervertreter hier eine Sprecher-
position ein, die keine Oppositionsposition ist – zumindest nicht in der Darstellung
des Aufsichtsratsvorsitzenden. Darüber hinaus ist das Thema hier ein völlig ande-
res. Wo im Fall der Augsburger Maschinenwerke die Position der Arbeitnehmer-
vertreter klar auf Interessen zurückgeführt werden kann – es wird der Abbau von
Arbeitsplätzen verhindert – ist dies hier nicht der Fall. Vielmehr wird nicht die
Investition in Deutschland gefordert, noch nicht einmal eine Investition in einem
ausländischen Standort, sondern eine Akquisition im Ausland. Dies ist keine Posi-
tion, die sich als politisch gewinnbringend ausbeuten ließe.
Es zeigt sich also, dass die Differenz zwischen Arbeitnehmer- und Anteilseig-
nervertretern hier keine klare Differenz der Bänke ist. Vielmehr handelt es sich um
zwei verschiedene Formen, unternehmerisch zu argumentieren. Die eine Perspek-
tive ist zwar immer noch primär den Arbeitnehmervertretern und die anderen den
Anteilseignervertretern zuzuordnen. Jedoch ist diese Differenz hier nur noch eine
Differenz innerhalb einer ökonomischen Kontextur. Während sich in den Typen 1
und 2 eine ökonomische und eine politische gegenüberstehen, in den Aufsichtsrä-
ten des Typs 2 mit der Figur des Betriebs noch eine Brückenkonstruktion geschaf-
fen wird, die Übersetzungsleistungen sichert, liegt hier nur noch eine Binnendiffe-
renzierung vor. Mit Luhmann ließe sich sagen, dass beide Seiten hier auf dasselbe
Medium zurückgreifen, jedoch verschiedene Einschreibungen vornehmen.
Diese Zusammenführung geht so weit, dass die Unternehmenspolitik hier ein
gemeinsames Problem der Unternehmensführung wird. Es sind nicht mehr die Ar-
beitnehmervertreter, die Sprecher der Arbeitnehmer sind und dafür Sorge tragen,
dass mögliche Entscheidungen auf politische Legitimität hin abgetastet werden –
vielmehr beobachten die „Internen“ gemeinsam die politische Dimension (Inter-
view Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Und (.) wenn Sie (.) ein Unternehmen (.) kann ja nur erfolgreich sein über Zeit,
wenn man die Menschen mitnimmt. (.) Das heißt, Sie müssen den Dialog führen, (.) der
Vorstand entscheidet sich zu was. (.) Und der Aufsichtsratsvorsitzende führt dann Dialog
202 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

äh mit seinem Stellvertreter. Das ist der in diesem Fall, der Betriebsratsvorsitzende. Und
wir haben ja auch den-den [Gewerkschaftsvertreter] hier im Aufsichtsrat, und dann mit
dem. Und daraus entwickeln Sie dann (..) die Positionierung der Arbeitnehmer. Entschei-
den tun die das natürlich selbst. Aber ein Dialog ist dabei natürlich hilfreich.

Ein Unternehmen könne nur mit der Unterstützung durch seine Mitarbeiter über-
leben, so der Befragte. Deshalb sei es seine Aufgabe als Aufsichtsratsvorsitzender,
sich mit seinem Stellvertreter und der Gewerkschaft abzustimmen. Im Dialog mit
diesen könne man dann die Meinung der Arbeitnehmervertreter entwickeln.
„Und daraus entwickeln Sie dann die Positionierung der Arbeitnehmer“ – diese
Passage ist enorm aufschlussreich. Sie legt die Interpretation nahe, dass das, was
durch den stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden und führende Gewerk-
schaftsvertreter als Position der Arbeitnehmer vertreten wird, als gemeinsame Ent-
scheidung angesehen wird. Der Aufsichtsratsvorsitzende hat die Erwartung, dass er
zusammen mit den Spitzen der Arbeitnehmerbank darüber entscheidet, was eine
sinnvolle und tragbare Position der Arbeitnehmer ist. Dabei handelt es sich hier
keinesfalls um eine Aushandlung, sondern vielmehr um einen unternehmerischen
Dialog. Dass genau nach dieser Aussage die Erzählung mit dem Einschub „Ent-
scheiden tun die das natürlich selbst“ unterbrochen, dieser Einschub dann aber
sofort wieder relativiert wird, scheint diese Interpretation nur noch zu stützen.
Der Aufsichtsratsvorsitzende hat hier eine Praxis offengelegt, die nur funktioniert,
weil sie nicht öffentlich ist. Denn die Arbeitnehmervertreter können diese mit der
Unternehmensführung gemeinsam erarbeitete Arbeitnehmerposition nur als Posi-
tion der Arbeitnehmer diesen gegenüber vertreten, wenn sie gerade in Differenz zu
den Arbeitgebern präsentiert werden kann. Legitime Arbeitnehmervertretung er-
folgt immer gegen das Management – diese Illusion muss aufrechterhalten werden.
Gerade hierzu dient der Hinweis auf die Entscheidungsautonomie der Arbeitneh-
mervertreter: Man kann die Meinung der Arbeitnehmerbank zwar zusammen mit
den Spitzen der Arbeitnehmervertretung entwickeln, doch nur unter Ausschluss
der Öffentlichkeit. Sobald diese Meinung jedoch als Meinung der Arbeitnehmer
öffentlich wird, darf es keine Beteiligung des Managements mehr gegeben haben.
Diese Positionierung der Arbeitnehmervertreter innerhalb des Unternehmeri-
schen ist freilich nicht einfach aufrechtzuerhalten. Sie muss immer wieder unter
Beweis gestellt werden. Immer wieder muss der Primat der politischen Deutung
demonstrativ negiert werden. Immer wieder muss ein Bekenntnis der Arbeitneh-
mervertreter zum Primat des Wirtschaftlichen erfolgen. Dass dies jedoch geschieht,
macht folgende Erzählung eines „internen“ Anteilseignervertreters deutlich:

Befragter: Wir hatten in den Jahren [Spanne], hatten wir (.) [Anzahl] (.) Leute mehr
eingestellt, keinerlei Steigerung der Produktivität (.) und als ich [Jahr] in den Vorstand
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 203

kam, habe ich nach drei Monaten dem [Vorstandsvorsitzenden] gesagt, so geht es nicht
weiter, wir fahren den Laden an die Wand. (.) Dann ging das natürlich hin und her und
ich habe da gesagt, wir müssen ungefähr [Anzahl] Leute wieder abbauen. (.) Das ist
natürlich schon einen Brocken, an so einem Standort und äh (..) ich habe erstaunlicher-
weise eine große Rückendeckung gekriegt von der Gewerkschaft, die das Problem gesehen
hat, (.) aber wir hatten hier einen sehr, sehr starken Betriebsrat. Starker Betriebsratsvor-
sitzender war, (.) der sich von der Gewerkschaft überhaupt nicht reinreden ließ, auf den
Sie auch Rücksicht nehmen mussten, weil der im Vorstand der [Gewerkschaft] war (.)
und weil er (.) äh hier natürlich ein Organisationsgrad hatte von über [hoher Wert] Pro-
zent. Das war für die [Gewerkschaft] ist das der größte Standort insofern. (.) So und die
Folge war, dass es also ziemlichen (.) Ärger gab. Ich habe es dann hingekriegt, wir haben
tatsächlich [Anzahl] und [Zeitspanne], fast [Anzahl] Leute hier abgebaut, (.) aber dann
kam die Frage meiner Wiederbestellung. So und da kam natürlich dann am Anfang der
äh Betriebsrat hier und sagte, also den Kerl nicht, als Finanzchef ja, mag sein, aber als
Arbeitsdirektor kommt der nicht infrage. Und das war zum Beispiel eine Sache, die hätte
damals dann [Aufsichtsratsvorsitzende], war das damals, (.) die hätte er mit der Zweit-
stimme entschieden.
Interviewer 1: Okay.
Befragter: Ja. So, ist nachher ganz anders gelaufen, weil die Gewerkschaft, [Vorstands-
mitglied der Gewerkschaft], (.) dann hier der Betriebsrat angerufen und hat gesagt, ihr
wählt den. Jetzt, was der gemacht hat, völlig richtig. Dann haben die also rumgemacht
hier und (lacht) und hatten eine Besprechung nach der anderen und so, wir lassen uns
nichts [von der Gewerkschaft] sagen und weiß nicht was, haben dann schließlich gesagt,
also gut, wir-wir enthalten uns der Stimme dann.
Interviewer 1: Okay. Aber das heißt, wenn ich Sie...
Befragter: Und dann, jetzt mal so, das wäre voll für die [Gewerkschaft], dann hat der
[Vorstandsmitglied der Gewerkschaft] ja gesagt, (.) hat gesagt ihr enthaltet euch nicht
der Stimme, ihr wählt den.
Interviewer 1: Okay.
Befragter: Das ist schon erstaunlich oder.
Interviewer 2: Also dann haben sie gewählt?
Befragter: Ja.

Als Vorstandsmitglied habe er eine starke Personalkürzung gegen den Betriebsrat


durchgesetzt, so der Befragte. Dies habe zur Folge gehabt, dass die betrieblichen
Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat ihn nicht wieder als Arbeitsdirektor haben
bestellen wollen. Dann habe sich jedoch die Gewerkschaft eingeschaltet und die
betrieblichen Arbeitnehmervertreter dazu gebracht, ihn dennoch zu bestellen.
Selbst wenn man den Geltungscharakter dieser Passage ausklammert, also da-
von absieht, ob die Geschichte sich so zugetragen hat oder nicht, so sagt sie Inte-
ressantes über die Erwartungshaltung der Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat
aus. Hier zeigt sich, dass die Anteilseignervertreter der Gewerkschaft die Fähig-
keit zusprechen, selbst die politisch unliebsamsten Entscheidungen – in diesem
Fall gegenüber den Betriebsräten eines Standortes – durchzusetzen. Selbst wenn
204 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

eine Entscheidung für einen bestimmten Kreis der Arbeitnehmervertreter als


nicht mehr vermittelbar erscheint, sie dennoch als wirtschaftlich sinnvoll ange-
sehen wird, können die Anteilseignervertreter erwarten, dass die Arbeitnehmer-
vertreter diese Entscheidung letztlich mittragen. Wo etwa im Fall der Augsburger
Maschinenwerke einer Mitarbeiterkürzung aus politischen Gründen nicht zuge-
stimmt werden kann, zeigen die Arbeitnehmervertreter aus Perspektive der An-
teilseignervertreter hier in einem wesentlich höheren Maß politische Leidensfä-
higkeit.
Wollte man dieses Zitat weitergehend interpretieren, könnte man darüber hi-
naus schließen, dass im Zweifelsfall die Gewerkschaft für die Aufrechterhaltung
einer primär wirtschaftlichen Orientierung zuständig ist. Dies ist zwar im Fall der
aktuellen Besetzung der Arbeitnehmerseite nicht klar sichtbar, zeigt sich dafür
umso eindeutiger im Fall der Süddeutschen Chemie AG.
Insgesamt heißt diese für den vorliegenden Fall feststellbare Erwartungshaltung
der Anteilseignervertreter gegenüber den Arbeitnehmervertretern freilich nicht,
dass es nicht verschiedene Positionen und mikropolitische Spiele gibt, um die eige-
ne Vorstellung des Unternehmens durchzusetzen (Interview „interner“ Anteilseig-
nervertreter):

Befragter: Ich bin ja in den Vorstand gegangen und gesagt, Schluss aus, wir müssen so
schnell wie möglich raus [aus einem bestimmten Geschäftsfeld]. (.) Äh, was sehr schwie-
rig war, weil als Käufer kamen ja natürlich im Grunde nur (.) [Käufer] infrage und die
wollten natürlich nicht, weil sie sagten, die-die geben so und so auf, die Dortmunder
Petrol (.) und dann fällt uns der Marktanteil so und so, (.) der teilweise schön hoch
war in Deutschland zum Beispiel (.) und dann habe ich es aber hingekriegt, (.) dass
ich jedenfalls einen (.) Käufer hatte und äh (.) da wusste ich, also erstens die ganzen
Arbeitnehmer waren dagegen und die Aufsichtsräte der Arbeitnehmer waren dagegen,
die Gewerkschaft war dagegen und da habe-habe ich mich dann mit [Vorstandsvor-
sitzender] besprochen, (.) dass wir das einfach (.) reinbringen und-und irgendwie tricky
gestalten. Nämlich uns erst mal die Erlaubnis geben lassen, überhaupt das Ganze zu
verkaufen. (..) Und als Zweites dann zu sagen, wir verkaufen es an [Private Equity].
Interviewer: Okay.
Befragter: Und [Vorstandsvorsitzende] und ich wussten genau, äh den Zweiten, auf den
zweiten Punkt legen die Arbeitnehmervertreter natürlich wert, dass das nicht passiert,
die wollten kein [Private Equity] haben und (.) wir wollten aber vor allem (lacht) die
Zustimmung haben, dass wir überhaupt verkaufen können oder dann hinterher sagen,
wenn wir dann einen anderen bringen später, dann (.) läuft es durch den Aufsichtsrat.
(.) So, dann, genauso ist es auch gelaufen. Die ganze Konzentration, der Arbeitnehmer-
vertreter war nur auf Punkt B.
Interviewer: Okay.
Befragter: Und Punkt A haben sie gar nicht diskutiert, weil sie wollten nur Punkt B ver-
ändern. Das haben wir genau richtig gemacht (.) und dann ist das dann auch (.) mehr-
heitlich, was (.) man nie wieder erlebt hat, der Vorstand mit seinem Vorschlag, also B, (.)
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 205

an die [Private Equity] zu verkaufen, ist abgeschmettert worden in schlimmster Weise,


aber der Punkt A ist durchgekommen.
Interviewer: Okay.
Befragter: Dann hatte ich vier Wochen später [Firma] und dann (.) war die Sache
gelaufen.

Er habe als Vorstand einmal erkannt, dass das Unternehmen in einem bestimmten
Geschäftsfeld keine Zukunft mehr habe. Der Verkauf sei jedoch schwierig gewesen,
da die Konkurrenten davon ausgingen, dass ihnen die Marktanteile sowieso zufal-
len würden. Zudem hätten die Arbeitnehmervertreter einem Verkauf der eigenen
Fertigung an die Konkurrenz widersprochen. Daher hätten er und der Vorstands-
vorsitzende zunächst die allgemeine Zustimmung zum Verkauf vom Aufsichtsrat
erbeten und dann den Verkauf an ein Private-Equity-Unternehmen vorgeschlagen.
Da die Arbeitnehmervertreter vor allem den letzten Punkt haben verhindern wol-
len, hätten sie dem ersten zugestimmt. So sei jedoch der Verkauf an einen Konkur-
renten letztlich doch durchsetzbar gewesen.
Wenn man auch hier den Geltungscharakter ausklammert, sieht man doch zu-
mindest eine immer noch bestehende Konkurrenzsituation zwischen Arbeitneh-
mervertretern und Vorstand bzw. Anteilseignervertretern. Es gibt verschiedene
Interpretationen dessen, was die richtige unternehmerische Entscheidung betrifft,
und um seine Vorstellung durchzusetzen, scheint auch politisches Taktieren le-
gitimes Mittel zu sein. Dieses Taktieren bewegt sich jedoch innerhalb derselben
Kontextur. Es funktioniert nur, weil die Arbeitnehmervertreter sich hier innerhalb
einer unternehmerischen Logik bewegen. Sie können nach den Regeln derselben
ausgebootet werden, weil sie sich diesen Regeln unterwerfen.
Diese gemeinsame Orientierung am Unternehmerischen heißt in der Konse-
quenz auch nicht, dass nahezu alle Entscheidungen einstimmig getroffen werden.
Dennoch gibt es auch hier seltene Fälle, in denen die Doppelstimme gezogen wer-
den muss (Anteilseignervertreter):

Befragter: Also das kann negative Auswirkungen haben, (.) weil (.) dann gibt es immer
auch Leute natürlich auf der Arbeitnehmerseite, die sagen, das vergessen wir (.) ihnen
nicht, dass sie in dieser Frage die Zweitstimme benutzt haben, das kann schon passieren.
Interviewer: Okay.
Befragter: Äh hier nicht, hier ist es, (.) ich glaube, es ist einmal oder zweimal ist die
Zweitstimme benutzt worden (.) und da waren sich aber alle Leute drüber im Klaren,
okay, es muss entschieden werden, (.) wir können nicht mit, (.) auch von unserem Klien-
tel nicht, (.) also wenn es jetzt entschieden wird, dann müsst ihr alleine die Verantwor-
tung tragen, gut, (.) ist vernünftige Argumentation.

Es gebe Situationen, in denen Arbeitnehmervertreter eine Überstimmung durch


die Doppelstimme nicht gut aufnehmen würden. In der Dortmunder Petrol sei dies
206 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

jedoch nicht der Fall. Wenn die Doppelstimme hier gezogen werde, dann sei allen
klar, dass eine Entscheidung von den Arbeitnehmervertretern auch gegenüber der
eigenen Wählerschaft nicht vertretbar sei und deswegen eine Zustimmung nicht in
Frage komme. Die Arbeitnehmervertreter sähen dann die Verantwortung für die
Entscheidung aufseiten der Anteilseignervertreter.
An dieser Passage wird zweierlei klar. Zunächst ist sichtbar, dass selbst im Fall
der Dortmunder Petrol nicht alle Entscheidungen von den Arbeitnehmervertretern
mitgetragen werden können. Es gibt trotz einer Sphärentrennung von Betriebs-
und Aufsichtsratsarbeit und einer ausgeprägten hierarchischen Orientierung der
Arbeitnehmervertreter Grenzen der politischen Zumutbarkeit.
Darüber hinaus erscheint die Gegenstimme der Arbeitnehmervertreter aus
politischen Gründen hier jedoch nicht als eine Verantwortungslosigkeit gegenüber
dem Unternehmen, wie dies etwa im Fall der Hamburger Bankhaus AG der Fall
ist. Sie erscheint auch nicht als verwerflicher politischer Opportunismus, wie etwa
im Fall der Einzelhandel Meyer AG. Vielmehr handelt es sich hier um eine „ver-
nünftige Argumentation.“ Die Anteilseignervertreter sehen das Problem nicht als
Unzulänglichkeit der Arbeitnehmervertreter, nicht als Versagen gegenüber dem
Unternehmen, sondern schlichtweg als strukturelles Problem des Aufsichtsrats.
Die Doppelstimme scheint dann eben als „vernünftigste“ Lösung dieses Problems:
Die Arbeitnehmervertreter werden überstimmt. Damit wird das Problem politi-
scher Legitimität bearbeitet und danach kann man weiterarbeiten wie zuvor. Die
Doppelstimme ist dann hier letztlich auch eine einstimmige unternehmerische
Entscheidung – auch wenn nicht einstimmig abgestimmt wird.
Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass im vorliegenden Fall ein höchst
komplexes Arrangement gefunden wird. Mit der Figur der „Internen“ wird eine
Differenz eingesetzt, welche die primäre Unterscheidung zwischen Arbeitnehmer-
und Anteilseignervertretung unterläuft. Es handelt sich um eine Art Totalisierung
der Figur des „Betriebs“, die sich im Typ 2 finden lässt: Die Vertrautheit mit dem
Unternehmen entsteht als eigene Kontextur, die sowohl auf Anteilseigner- wie auf
Arbeitnehmerseite die wesentliche ist. Dies ermöglicht, die Differenz von politi-
scher und wirtschaftlicher Kontextur als sekundäre Differenz zu betrachten. Sie
wird ein Problem der „Internen“, ein Problem des „Betriebs“, wenn man so möch-
te. Gerade weil sie jedoch eine sekundäre Differenz ist, kann sie von den „Inter-
nen“ eben auch als nachgelagert betrachtet werden, als externer Sachverhalt. Diese
Externalität findet sich auch in den Unternehmen des Typs 2, ist dort jedoch bei
Weitem nicht so ausgeprägt, da die Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreter eben
nicht an die Kontextur des „Betriebs“ als Primärkontextur gebunden sind, sondern
an die Kontexturen von Wirtschaft und Politik.
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 207

4.4.2 Süddeutsche Chemie AG: Der Aufsichtsrat als „externes“


Gremium

Eine ähnliche Dominanz der „Internen“, wie sie sich im Fall der Dortmunder Petrol
zeigt, kann man im Fall der Süddeutschen Chemie AG nicht feststellen. Nur der
Aufsichtsratsvorsitzende ist hier ehemaliger Vorstand. Entsprechend entsteht zu-
mindest auf Anteilseignerseite kein Deutungsraum der „Internen“. Dies wird jedoch
substituiert durch eine im Vergleich zu den Unternehmen der Typen 1 und 2 un-
gewöhnlich stark ausgeprägte Orientierung an Hierarchie. Der Aufsichtsratsvorsit-
zende betrachtet seine Kollegen auf Anteilseignerseite hier vor allem als Zuarbeiter
und Empfänger von Weisungen, die Anteilseignervertreter den Aufsichtsratsvorsit-
zenden wiederum als letzte Autorität in jeder Hinsicht. Dies führt zu einer de-facto-
Dominanz eines „Internen“, der wie auch die „Internen“ der Dortmunder Petrol die
Meinung vertritt, dass „Externe“ das Unternehmen letztlich nicht verstünden. Die
Anteilseignerseite ist so komplett als Raum der „Externen“ zu betrachten, die von
den „Internen“ in Person des Aufsichtsratsvorsitzenden dominiert wird.
Die Arbeitnehmervertreter weisen im vorliegenden Fall eine etwas weniger
stark ausgeprägte Orientierung an wirtschaftlichen Referenzen auf, als dies bei der
Dortmunder Petrol der Fall ist. Ebenso findet sich keine Sphärentrennung zwi-
schen Unternehmensmitbestimmung und betrieblicher Mitbestimmung. Vielmehr
ähnelt die Kontextur der betrieblichen Arbeitnehmervertretung der Betriebsräte in
den Unternehmen des Typs 2. Die Orientierung der Gewerkschaftsvertreter hin-
gegen entspricht dem, was im Fall der Dortmunder Petrol als Sphäre des Aufsichts-
rats erscheint: Argumente der Arbeitnehmervertretung müssen hier stets wirt-
schaftlich tragbar sein und wirtschaftlich argumentiert werden. Was im Fall der
Dortmunder Petrol also durch eine Sphärentrennung geleistet wird, geschieht hier
durch eine Rollentrennung: Die Anschlussfähigkeit an wirtschaftliche Argumente
wird durch die Gewerkschaftsvertreter geleistet. Dieses funktionale Äquivalent er-
scheint dabei letztlich insofern schlüssig, als dass der Aufsichtsrat für die Arbeit-
nehmervertreter nicht als relevanter Ort der Mitbestimmung erscheint. Denn auch
im Fall der Süddeutschen Chemie AG sind Konflikte zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern „interne“ Konflikte. Sie werden nicht mit „Externen“ verhandelt.
Da der Aufsichtsrat jedoch letztlich als „externes“ Gremium erscheint, wird die
Unternehmensmitbestimmung aus dem Aufsichtsrat in den direkten Dialog mit
Vorstand und Aufsichtsratsvorsitzendem verlagert.
In der Konsequenz werden alle wichtigen Entscheidungen jenseits des Aufsichts-
rats getroffen. Die „Internen“ entscheiden auch im Fall der Süddeutschen Chemie
gemeinsam – nur ist es hier eben der Aufsichtsratsvorsitzende zusammen mit den
Arbeitnehmervertretern und dem Vorstand. Diese Entscheidungen werden dann
208 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

in den Aufsichtsrat getragen, wo die „Externen“ zumeist geringe Chancen bekom-


men, Einwände zu machen. Vielmehr wird dem zugestimmt, was die „Internen“ als
richtig für das Unternehmen beschlossen haben.

4.4.2.1 Anteilseignervertreter: Ein „inkompetenter“ Aufsichtsrat


Die Anteilseignerseite des Aufsichtsrats der Süddeutschen Chemie AG weist einige
Parallelen zu derjenigen der Dortmunder Petrol auf, ist letztlich jedoch eher struk-
turiert wie die Anteilseignerseite der Typen 1 oder 2: Sie ist auch hier geprägt durch
ein gut vernetztes Management, das sich bereits aus anderen Gremien kennt und
wenig Bezug zum Unternehmen hat. So berichtet etwa der Prüfungsausschussvor-
sitzende folgendermaßen über seinen Weg in den Aufsichtsrat:

Interviewer: Womit-womit wir zu Beginn eigentlich ganz gerne starten, um auch noch
mal so einen persönlichen Eindruck zu bekommen, (.) könnten Sie uns denn schildern,
wie Sie an das Mandat bei Süddeutschen Kunststoffe gekommen sind?
Befragter: Ja das ist würde ich sagen, eine typische, äh der Herr (.) Herr [Aufsichtsrats-
vorsitzender] ist im Aufsichtsrat von [Unternehmen], ist ja jetzt dort (..) auch [Funktion]
und da-da haben wir uns natürlich gut eingelernt. Und ich habe ihn persönlich schätzen
gelernt, weil er ein sehr (.) offenes Wort (.) führt, was ich auch gerne tue. Und äh (.) und
als ähm (.) dann mein Ausscheiden (.) ein paar Monate vorher oder (.) vier Monate
vorher auch offiziell wurde, hat er gesagt, äh sie würden ohnehin einen neuen Prüfungs-
ausschussvorsitzenden brauchen, ich glaub mein Vorgänger war der Herr [Name]. Ähm
und ob-ob ich das machen würde. Und da habe ich gesagt Ja. Und äh einfacher wurde es
dadurch, dass ich ‘ne ganze Reihe, und das ist auch wieder typisch, von Aufsichtsräten
auch kannte. Herrn [Anteilseignervertreter] ebenfalls Herrn [Anteilseignervertreter],
jetzt auch zufällig von-von [Unternehmen], aber den kenne ich auch aus anderen ähm
[Unternehmen] und so weiter.

Auf die Frage nach seinem Weg in den Aufsichtsrat antwortet der Befragte, dass er
von dem jetzigen Aufsichtsratsvorsitzenden gefragt worden sei, den Prüfungsaus-
schuss bei der Süddeutschen Chemie AG zu übernehmen. Den Aufsichtsratsvor-
sitzenden habe er aus dem Aufsichtsrat seines damaligen Unternehmens gekannt,
in dem er auch Mitglied gewesen sei. Über einen ähnlichen Weg seien auch andere
Aufsichtsratsmitglieder in den Aufsichtsrat der Süddeutschen Chemie gekommen.
Die Rekrutierung verläuft auch in diesem Aufsichtsrat nach denselben Regeln
der Kollegialität wie in den meisten andern betrachteten Aufsichtsräten: Man kennt
sich aus anderen Gremien und kann sich aufeinander verlassen.
Auch hier ist diese Orientierung gepaart mit einer starken hierarchischen
Orientierung (Interview Anteilseignervertreter):

Interviewer: Ja. Hm. Ich stell mir das sehr schwierig als-als Aufsichtsratsvorsitzende so
ne und vor allem auch große Gruppe äh entsprechend auch zu ‘nem Ergebnis zu führen.
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 209

Befragter: Aber da ist ihr Job, weil der Vorstandsvorsitzende führt, das Unternehmen.
Der Aufsichtsratsvorsitzende führt das/den Aufsichtsrat.
Interviewer: Aber-aber wie genau würden Sie denn beschreiben/oder wie würden Sie
beschreiben wie macht Herr [Aufsichtsratsvorsitzender] das?
Befragter: Ja. Gut. Mit äh sehr viel Souveränität und äh äh persönlicher Autorität äh
und äh und einem hohen Grad an Professionalität. Wenn ich das so sagen darf. Ich
meine der/ja halt das halt seit/ja macht das ja jetzt schon seit geraumer Zeit.

Der Aufsichtsratsvorsitzende, so der Befragte, sei die unangefochtene Spitze des


Aufsichtsrats. Er führe diesen, wie der Vorstandsvorsitzende das Unternehmen
führe. Auf Nachfrage spezifiziert der Befragte und attribuiert dem Aufsichtsrats-
vorsitzenden einen „hohen Grad an Professionalität“, „Souveränität“ und „persön-
liche Autorität“.
Damit zeigt sich auch hier wieder eine typische Orientierung für Aufsichtsräte,
wie sie sich in den meisten Unternehmen finden: Das Gremium rekrutiert sich aus
einer Gruppe von Managern, die sich aus anderen Kontexten kennen. Es gelten die
Regeln der Reziprozität. Entscheidungen werden im Zweifelsfall durch den Auf-
sichtsratsvorsitzenden bestimmt.
Dies unterscheidet auch den Aufsichtsrat der Süddeutschen Chemie AG von
dem anderen Aufsichtsrat dieses Typs, der Dortmunder Petrol. Eine ähnliche
Struktur, in der ehemalige Vorstände das gesamte Gremium dominieren und ex-
terne Aufsichtsräte weitgehend aus den Entscheidungsfindungsprozessen ausge-
schlossen werden, findet sich hier auf den ersten Blick nicht.
Dennoch zeigt sich auch im Fall der Süddeutschen Chemie AG eine Struktur,
die zwischen „Internen“ und „Externen“ unterscheidet. Diese beschränkt sich hier
ausschließlich auf die Person des Aufsichtsratsvorsitzenden, der als ehemaliger
Vorstandsvorsitzender „Interner“ ist (Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Ja! Und das habe ich dann getan (…) bis [Jahr]. So, dann ist bei der Süd-
deutschen Chemie alte Tradition, dass der Vorstandsvorsitzende (.) in den Aufsichtsrat
wechselt und dann dort zum Vorsitzenden gewählt wurde, weil man sagt: Die (.) Chemie
ist für einen Externen derartig schwierig zu verstehen (..) wegen der Vielzahl der unter-
schiedlichen Aktivitäten (.) [Branchenaktivitäten] – damals [Produkte und Unterneh-
men] noch. Also, wir hatten eigentlich alles. Und – ähm (.) dann bin ich also dann – wie
gesagt – zum Vorstandsvorsitzenden [im Jahr] benannt worden (.) und – äh – das Amt-
Interviewer: Den Aufsichtsratsvorsitzenden…
Befragter: Entschuldigung! Ja! Aufsichtsratsvorsitzender.
Interviewer: Ist da der alte Aufsichtsratsvorsitzende ausgeschieden oder…
Befragter: Ja.
Interviewer: … kam das...
Befragter: Ja, ja. Das ist klar. Das ist so im Wechsel: Der Alte geht… Das war also mein
Vorgänger, der Herr [ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender]. Der ist dann also gegangen.
210 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Und äh ich bin dann – wie gesagt – [Jahr] gewählt worden und das Amt – äh – übe ich
heute noch aus.

Als ehemaliger Vorstandsvorsitzender sei er zum Aufsichtsratsvorsitzenden er-


nannt worden, wie es traditionelle Praxis bei der Süddeutschen Chemie AG ist.
Denn seine Branche sei für einen Externen zu komplex, das Unternehmen zu di-
vers. Daher sei es selbstverständlich gewesen, dass er die Nachfolge seines Vorgän-
gers im Aufsichtsrat antrete.
Hier zeigt sich eine Orientierung, die bei der Dortmunder Petrol ebenso zu fin-
den sind: die Trennung zwischen „Internen“ und „Externen“. Den „Externen“ wird
hier von einem „Internen“ weniger Kompetenz zur Aufsichtsratsarbeit zugerech-
net, umgekehrt sieht man sich allein in der Lage, Unternehmen und Branche zu
verstehen und entsprechend Entscheidungen fällen zu können.
Im Fall der Dortmunder Petrol hatte dies die Folge, dass sich im Aufsichtsrat
eine Gruppe von „Internen“ gebildet hat, die „Externen“ hingegen ausgeschlossen
wurden. Dies ist im Fall der Süddeutschen Chemie AG allein schon deshalb nicht
möglich, da einzig der Aufsichtsratsvorsitzende ein ehemaliger Vorstand und da-
mit „intern“ ist. Der Deutungsraum der Anteilseignervertreter kann damit nicht
entlang der Differenz von „intern“ und „extern“ gespalten werden. Er muss viel-
mehr auf Kollegialität und Hierarchie zurückgreifen, um die „Externen“ hinrei-
chend zu binden.
Dies führt jedoch nicht dazu, dass der Spaltung von „Internen“ und „Externen“
keine Bedeutung zukommt. Sie hat mehrere Folgen für die Aufsichtsratsarbeit. Die
erste besteht darin, dass die normale hierarchische Orientierung der Anteilseigner-
vertreter hier potenziert wird. So äußert sich ein Anteilseignervertreter, der den
Aufsichtsratsvorsitzenden auch als Aufsichtsratsvorsitzenden eines anderen Unter-
nehmens kennt, folgendermaßen:

Interviewer: Nehmen Sie den/nehmen Sie ihn bei-bei [anderes Unternehmen] und bei
Süddeutsche Chemie unterschiedlich wahr? Also. Ich kann mir vorstellen bei Süddeut-
sche Chemie hat er ja eine ganz andere Ausgangsposition.
Befragter: Ja klar. Na. Das hat nicht nur mit der Ausgangsposition, sondern er hat eine
unterschiedliche Rolle. Ja?
Interviewer: Wie-wie macht sich das denn deutlich?
Befragter: Ach so.
Interviewer: Können Sie mir das ein bisschen näher erklären.
Befragter: Der ist gar keine unterschiedliche Rolle mehr. Er ist jetzt hier auch Aufsichts-
ratsvorsitzender. Ja. Also. äh. Nein. Der macht das dort auch äh sehr professionell. Hat
auch dazu beigetragen, dass da ja ein bisschen Luft aus der Kiste hinausgegangen ist, die
sich sonst aus Persönlichkeits- äh -gründen aufgebaut hatte. Äh und äh natürlich ist-ist
äh Süddeutsche Chemie. Ja? Da macht ihm kein X für’n U vor, weil er halt genau weiß.
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 211

Ja? äh, wann wo welche Anlage gebaut wurde und was dort grade läuft und sonst was.
Ja? Aber äh die gleiche ruhige äh Souveränität äh die der hat. Ja? Hat der eben jetzt auch
glaube ich sehr produktiv bei [anderes Unternehmen] eingebracht.

Gefragt nach dem direkten Vergleich mit dem Aufsichtsrat eines anderen Unter-
nehmens, in welchem der Aufsichtsratsvorsitzende der Süddeutschen Chemie AG
ebenfalls Vorsitzender ist, antwortet der Befragte, dass dieser nicht nur verschie-
dene Ausgangspositionen, sondern verschiedene Rollen habe. Auf Nachfrage hin
korrigiert er sich darin, dass offensichtlich doch keine unterschiedlichen Rollen
vorlägen, da der Aufsichtsratsvorsitzende ja nun auch bei dem anderen Unterneh-
men Vorsitzender sei. Dort hätte der dazu beigetragen, dass etwas „Luft aus der
Kiste hinausgegangen ist.“ Er würde auch dort das Mandat gut wahrnehmen. Bei
der Süddeutschen Chemie AG jedoch mache ihm keiner ein „X für‘n U“ vor. Denn
dort kenne er jedes Detail.
Die Proposition des Interviewers von „verschiedenen Voraussetzungen“ wird
durch den Befragten als unzureichend zurückgewiesen. Vielmehr gibt dieser an,
dass der Vorsitzende der Süddeutschen Chemie AG im Fall des anderen Unter-
nehmens gar nicht Vorsitzender sei, was er kurz danach wieder korrigiert. Dies legt
nahe, dass die tatsächliche Position des Aufsichtsratsvorsitzenden in beiden Gre-
mien so eklatant auseinanderklafft, dass sie im ersten Moment durch den Befragten
nicht mehr als verschiedene Formen der Ausübung derselben Funktion betrachtet
werden können. Sie erscheinen vielmehr als völlig verschiedene Funktionen: Der
Aufsichtsratsvorsitzende der Süddeutschen Chemie AG hat hier in einem solchen
Ausmaß Autorität, dass diese im Vergleich zum anderen Unternehmen nur auf
unterschiedlichen inhaltlichen Voraussetzungen gründen kann.
Diese Aussage wird im Folgenden erklärt und legitimiert: Bei der Süddeutschen
Chemie AG mache dem Aufsichtsratsvorsitzenden keiner „ein X für ein U vor“. Er
kenne das Unternehmen und wisse genau, was wo geschehe. Mit dieser Aussage
wird an dieser Stelle dieselbe Differenz geöffnet, die der Aufsichtsratsvorsitzende
für sich selbst in Anspruch nimmt: „Interne“ verfügen über ein weit höheres Wis-
sen, ein Wissen, das einem „Externen“ nicht zugänglich sein kann. Daraus wird an
dieser Stelle eine Autorität des Vorsitzenden abgeleitet, die weit über das hinaus-
geht, was in den meisten Aufsichtsräten der Fall ist. Wo in den Unternehmen der
Typen 1 und 2 der Aufsichtsratsvorsitzende als Koordinator mit einer besonderen
Autorität erscheint, dessen Rolle darin besteht, eine einheitliche Meinung herzu-
stellen und im Fall eines Patts einzuschreiten, ist der Aufsichtsratsvorsitzende hier
die einzig kompetente Autorität. Er ist eine nicht nur relative Instanz, deren Wort
im Zweifelsfall gilt, sondern eine absolute Instanz, welche die Diskussion und Mei-
nung der Kollegen im Aufsichtsrat überhaupt nicht braucht. Diese Position nimmt
der Aufsichtsratsvorsitzende auch für sich in Anspruch:
212 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Befragter: Für mich ist der Prüfung- Prüfungsaus- für mich als Aufsichtsratsvorsitzen-
den ist der Prüfungsausschuss der wichtigste Ausschuss des gesamten Aufsichtsrates.
Nicht der Personalausschuss oder (.) manche haben auch Investitionsausschuss und was
es da sonst noch so alles gibt. (..) Der (..) Prüfungsausschuss muss Ihnen als den Vor-
sitzenden den Rücken freihalten, was Rechnungswesen und derlei (unklar) angeht. Des-
halb lege ich ausgesprochenen Wert darauf – auf die Besetzung des Prüfungsausschusses.
Und da lasse ich mir auch von niemanden reinreden. Den Vorsitzenden bestelle ich. Das
– kann ich – und wenn – die können alle dagegenstimmen. Dann gibt‘s Ärger mit mir.
Weil ich sage: Ich muss mich auf den Prüfungsausschussvorsitzenden verlassen können.
Und deshalb habe ich bei Süddeutsche Chemie beispielsweise Herrn [Prüfungsausschuss-
vorsitzender] als Prüfungsausschussvorsitzender- der war jahrelang Finanzvorstand bei
[anderes Unternehmen]. Ein hervorragendes Renommee. Ich habe ihn selbst erlebt, weil
ich bei [anderes Unternehmen] im Aufsichtsrat bin. Herr [Prüfungsausschussvorsitzen-
der], Sie kommen zu uns.

Der Prüfungsausschuss, so der Befragte, sei von zentraler Bedeutung. Daher be-
trachte er es als sein alleiniges Vorrecht, den Prüfungsausschussvorsitzenden zu be-
stimmen. Da er sich auf diesen verlassen können müsse, habe die Meinung von
niemand anderem hier Gewicht. So habe er denn etwa den ehemaligen Finanzvor-
stand eines anderen Unternehmens als Prüfungsausschussvorsitzenden zur Süd-
deutschen Chemie AG geholt, den er durch ein anderes Aufsichtsratsmandat kannte.
Interessant ist diese Passage im Vergleich zu anderen Passagen, in denen sich
Aufsichtsratsvorsitzende über ihre Kollegen äußern (vgl. etwa S. 98 ff.). So erschei-
nen diese meist als „unabhängige Persönlichkeiten“ mit Kompetenz und Erfah-
rung. Zwar werden Kompetenz und Erfahrung auch hier attribuiert. Jedoch wird
der Prüfungsausschussvorsitzende hier keinesfalls als Dialogpartner auf derselben
Ebene präsentiert. Vielmehr erscheint er klar als Zuarbeiter. Der Aufsichtsratsvor-
sitzende betrachtet sich hier selbst als denjenigen, der weiß, was richtig und falsch
ist, lässt sich „von niemandem reinreden“ und sagt einem Kollegen, was dieser zu
tun und zu lassen habe („Sie kommen zu uns“). Die Funktion der weiteren Auf-
sichtsratsmitglieder erscheint dann nicht mehr als fachlicher Dialog, sondern als
Zuarbeiter für den Aufsichtsratsvorsitzenden („den Rücken freihalten“). Sie sind
keine „Alphatierchen“ (S. 262 ff.), um die man sich kümmern muss: Der Aufsichts-
ratsvorsitzende entscheidet und der Rest des Aufsichtsrats folgt.
Die Unterscheidung „intern/extern“ wird damit an dieser Stelle mit der sowieso
schon vorhandenen hierarchischen Orientierung der Anteilseignervertreter kurz-
geschlossen und verstärkt diese in erstaunlichem Ausmaß. Dadurch erscheint der
Aufsichtsratsvorsitzende letztlich nicht mehr als „Dompteur im Flohzirkus“ (vgl.
S. 99 f.), der Rücksicht auf „Alphatierchen“ zu nehmen hat, sondern als alleinige Au-
torität, der keiner ein „X für ein U“ vormacht. Während also in den Unternehmen
der Typen 1 und 2 alle Anteilseignervertreter mithilfe totaler undifferenzierter Re-
jektionen als eigene Reflexionsinstanzen konstruiert werden, die in einem zweiten
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 213

Schritt wieder negiert werden, passiert hier dasselbe wie im Fall der Dortmunder
Petrol: Es kommt gar nicht erst zu einer Konstruktion der anderen Anteilseigner-
vertreter als eigene Reflexionsinstanzen.
Darüber hinaus verschiebt sich die Unterscheidung von „intern“ und „extern“
weiter aus dem Aufsichtsrat hinaus und in das Unternehmen hinein. Die „Internen“
sind, wie auch im Fall der Dortmunder Petrol, auf Seite des Managements, ehe-
malige und aktive Vorstände. Dies geht soweit, dass der Aufsichtsratsvorsitzende
zusammen mit dem Vorstandsvorsitzenden seinen Aufsichtsrat zusammenstellt:

Befragter: Ähm – (Räuspern) – wir haben also (…) – wenn´s – lassen wir mal ganz
generell – im Fall [Aufsichtsratsmitglied] (?) (sehr leise) Generell machen wir es so: Äh –
ein Jahr vorher fingen wir mit den Verhan- äh – was machen wir im Aufsichtsrat? Gibt´s
Änderungsnotwendigkeiten? Das heißt, wollen wir einen nicht mehr haben?
Interviewer: Wer ist dann wieder „Wir“? Sie und ich?
Befragter: Auch immer Vorstand und Aufsichtsratsvorsitzender. Ja? Brauchen wir – äh –
wollen wir ihn weiter haben? Das ist der Normalfall. Wenn Sie einen Aufsichtsrat – wenn
der einen vernünftigen Job macht, dann bietet es sich an. Der kennt das Unternehmen
mittlerweile. Ja? Äh – der kann mitsprechen. (..) Äh – dann – äh – das ist der Normalfall,
dass Sie ihn noch mal für die nächste Periode vorschlagen. Aber wir sprechen über jeden
– der zur – also, wenn jetzt Wiederwahl ansteht – ähm – wir sprechen über jeden. Wie
gesagt: Wie sehen wir den? Jeder gibt seine Meinung, die ist meist identisch, weil – (…)
wir haben ja die gleichen Gelegenheiten. Äh – die – den zu beurteilen, in den Aufsichts-
ratssitzungen, sonst kenn ich die ja – kennen wir die ja zu wenig. Und – äh – das ist,
glaube ich, einmal vorgekommen, wo wir – äh – dass es eine unterschiedliche Meinung
war.

Angesprochen auf die Bestellung eines Aufsichtsratsmitglieds antwortet der Vor-


sitzende, dass er sich mit dem Vorstand zusammensetze und die einzelnen Man-
date bespreche. Der Regelfall dabei sei es, dass ein Aufsichtsratsmitglied nach
einer Periode wiederbestellt werde, da dieses das Unternehmen habe kennen-
lernen können. Generell hätten er und der Vorstand hier keine unterschiedliche
Meinung.
Auch hier zeigt sich die Differenz von „intern“ und „extern“: Obwohl es nicht
dem Aktiengesetz entspricht, scheint es hier völlig selbstverständlich, dass die „In-
ternen“ darüber diskutieren, wer eine gute Besetzung für den Aufsichtsrat wird.
Dabei wird schon in Formulierungen wie „der kann mitsprechen“ klar, dass es hier
nicht mehr darum geht, dass die externen Aufsichtsratsmitglieder tatsächlich im
Sinne des Aktiengesetzes Kontrolle und Beratung des Vorstandes leisten. Im bes-
ten Fall kann aus Perspektive der „Internen“ höchstens erwartet werden, dass ein
Aufsichtsratsmitglied ohne Gesichtsverlust an der Diskussion teilnehmen kann.
Die Instanz über die Qualität der einzelnen Mitglieder bleiben dabei immer die
„Internen“. Diese – der Vorstand und der Aufsichtsratsvorsitzende – entscheiden
darüber, wer einen „guten Job“ macht und bleiben darf.
214 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Für die „Externen“ stellt sich die Situation im Aufsichtsrat dann ein wenig an-
ders dar als im Fall der Dortmunder Petrol. So äußert sich etwa ein Anteilseigner-
vertreter zu einer zurückliegenden Unternehmensübernahme folgendermaßen:

Befragter: Also es lief (Räuspern) eindeutig, das war meine Beobachtung, war das eine
Sache, die war angezettelt zwischen (.) äh, ja [Vorstandsvorsitzender und Aufsichtsrats-
vorsitzender] natürlich, der ja sehr operativ ist, weil er als ehemaliger Vorstandsvor-
sitzender auch Aufsichtsratsvorsitzender ist. Und ich vermute mal, dass sie auch mit
[Gewerkschaftsvertreter] herumgemacht haben, nicht. Denn man kommt ja, äh bei der
Mitbestimmung an solchen Leuten auch nicht vorbei. Aber mein Eindruck ist, dass sie
die weiteren Mitglieder des Aufsichtsrats nicht weiter (.) äh damit befasst haben, bevor
die Sache einigermaßen spruchreif war und (…) Äh dass ich nun mit [Vorstandsvorsit-
zender] geredet habe, äh ist meiner Neugier oder meiner Ungeduld zuzuschreiben, aber
nicht etwa äh sein Wunsch, mich mit einzubinden. Nicht, sondern im Klartext hat er
gesagt, vielen Dank für den Hinweis, auf die Idee bin ich schon selbst gekommen.

Die Planung der Übernahme sei vor allem durch den Vorstandsvorsitzenden und
den Aufsichtsratsvorsitzenden getrieben worden. Letzterer sei aufgrund seiner
Vergangenheit als Vorstandsvorsitzender stark operativ eingebunden. Mit dem
Gewerkschaftsvertreter hätten sie sich vermutlich auch abgestimmt. Er jedoch sei
nicht eingebunden gewesen und habe aus Eigeninitiative den Vorstandsvorsitzen-
den angesprochen. Dieser jedoch habe ihm zu verstehen gegeben, dass der Befragte
ihm nichts Neues zu sagen habe.
Die Erwartungsenttäuschung in diesem Fall ist ähnlich strukturiert wie die eines
Anteilseignervertreters im Aufsichtsrat der Dortmunder Petrol (vgl. S. 176 ff.). Wie
auch dort besteht hier ein Kern der „Internen“, von dem die „Externen“ sich weitge-
hend ausgegrenzt fühlen. Initiativen werden nicht aufgegriffen. Vielmehr bekom-
men die „Externen“ zu spüren, dass eine Beteiligung hier nicht erwünscht ist.
Darüber hinaus deutet sich in diesem Zitat auch die Position an, welche die
„Internen“ gegenüber den Arbeitnehmervertretern haben (Interview Aufsichtsrats-
vorsitzender):

Interviewer 1: Was hätten Sie denn da ganz konkret gemacht? Sie haben eben gesagt,
dass Sie mit Herrn [Vorstandsvorsitzender] sozusagen dann eine Entscheidung getroffen
haben, wer denn der Nachfolger [des Vorstandsvorsitzenden] werden könnte. Mal ange-
nommen, jetzt wären – äh – ein Großteil zum Beispiel der Arbeitnehmervertreter – äh
damit nicht einverstanden gewesen.
Befragter: Hm.
Interviewer 1: Was wäre dann passiert?
Befragter: Als eine Op- sagen wir mal: Theoretische Frage, die berechtigt ist. Ja? Aber so
weit darf man es nicht kommen lassen. Wenn Sie merken, dass Sie nicht (.) – äh – die
begeisterte Zustimmung haben der Arbeitnehmer, dann müssen Sie versuchen, sie zu
bekehren, sie zu überzeugen, dass es für das Unternehmen Süddeutsche Chemie richtig
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 215

ist, den Herrn [Vorstandsvorsitzenden] zu nehmen und keinen anderen. (..) Oder, wenn
die von vorneherein sagen: Also, der Mann (..) – stellen wir mal – der hätte sich (.) gegen
die Mitbestimmung geäußert – (unklar)– dann hätte ich ihn nicht vorgeschlagen. Also, es
ist (..) von beiden Seiten – muss das Verständnis da sein: Das ist der richtige Mann! Und
die Leute müssen sagen – die Arbeitnehmervertreter müssen sagen: Der ist der richtige
Mann für Süddeutsche Chemie, der ist in unserem Interesse.
Interviewer 2: Wie hätte ich mir denn das vorzustellen? Wie kann man als Aufsichtsrats-
vorsitzender denn die andere Bank – sozusagen – bekehren?
Befragter: Überzeugen. Äh – das ist nicht (..) – bin kein Missionar. Nicht? Sondern (.)
Interviewer 2: (Lacht)
Befragter: Äh – das bin ich nicht. Ich will nicht bekehren. Nicht? Aber, ich will Sie davon
überzeugen, dass die Zukunft des Unternehmens Süddeutsche Chemie (..) in den Hän-
den von [Kandidat] liegt. (.) Bestens aufgehoben ist. (.) Am besten von allen Alternati-
ven. Und einen müssen wir machen. (.) Nicht? Ich kann nicht sagen – (.) ich habe ihnen
eines ganz klar gesagt: Ich weiß, ihr hättet lieber [eine andere Person]. Ich bin die zwei
Namen durchgegangen, die ich (..) für uns letztendlich noch übrig blieben. Oder einer
nur noch. Und habe denen gesagt, was die Vorteile dieses Mannes sind, (.) die beide
hervorragende Jobs machen. Ja? (.) Aber, wo die Nachteile sind. Warum wir sie nicht
vorschlagen. Und das haben die eingesehen.

Er habe sich mit dem Vorstandsvorsitzenden auf einen Nachfolger für diesen ver-
ständigt, so der Aufsichtsratsvorsitzende. Auf die Nachfrage nach der Einbindung
der Arbeitnehmervertreter äußert sich der Aufsichtsratsvorsitzende dahin, dass
diese die Entscheidung mittragen müssten. Die Arbeitnehmervertreter müsse man
davon überzeugen, dass der genannte Kandidat der richtige sei. Denn dieser sei
auch im Interesse der Arbeitnehmervertreter. Also habe er mit den Arbeitnehmer-
vertretern über Alternativkandidaten gesprochen, die aus verschiedenen Gründen
jedoch nicht in Frage gekommen seien. Und so habe er sie letztlich überzeugt.
In dieser Passage zeigen sich gewisse Parallelen zu den Unternehmen des Typs 2
und etwa der Hamburger Bankhaus AG. Auch hier betrachtet sich der Aufsichtsrats-
vorsitzende letztlich als Träger der richtigen Entscheidung, die den Arbeitnehmer-
vertretern vermittelt werden muss. Auch hier geht es darum, Überzeugungsarbeit
zu leisten. Jedoch lassen sich einige Unterschiede feststellen. Denn der Anspruch,
der hier erhoben wird, entspricht eher dem Anspruch des Aufsichtsratsvorsitzen-
den der Hamburger Bankhaus AG als etwa dem des Aufsichtsratsvorsitzenden der
Augsburger Maschinenwerke: Es geht darum, einen Konsens zu erreichen, nicht
einen Kompromiss.
Besonders aufschlussreich wird dies im Unterschied zu seinem Verhältnis zu
den „externen“ Anteilseignervertretern. Denn während Letztere vor allem als Zu-
arbeiter und Empfänger von Entscheidungen und Anweisungen der „Internen“ be-
trachtet werden – Akzeptanz also quasi als gegeben vorausgesetzt wird –, erscheinen
die Arbeitnehmervertreter hier als Dialogpartner: Sie müssen überzeugt werden.
216 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Während den Anteilseignervertretern eine Entscheidung mitgeteilt wird und Zu-


stimmung als selbstverständlich gilt, muss hier um sie geworben werden.
Darüber hinaus zeigt sich hier etwas, das sich kaum in anderen Unternehmen
bei der Berufung von Vorständen zeigt: Die Arbeitnehmervertreter bringen Vor-
schläge ein, mit denen sich der Aufsichtsratsvorsitzende beschäftigt, die er auch
als völlig legitim betrachtet. Anders als in den Unternehmen des Typs 1 und 2 wird
hier damit ein legitimes Mitspracherecht in einem Bereich eingeräumt, welches
den Arbeitnehmervertretern zumeist nicht eingeräumt wird. Auch in den Unter-
nehmen des Typs 2 würde so etwas nicht vorkommen, da die Vorstandsbestellung
innerhalb des Konzeptes der „Komplementärkompetenz“ in den Bereich der An-
teilseignervertretung fällt. Vor allem jedoch wird hier den Arbeitnehmervertretern
ein Mitspracherecht eingeräumt, das den „externen“ Aufsichtsratsmitgliedern ver-
wehrt wird (Interview Anteilseignervertreter):

Befragter: Zum Beispiel hätte ich gerne mal in so einer Vorge-Vorbesprechung schon vor
Jahren mal gehört, welche (.), was sind denn die fünf besten Nachfolgekandidaten für
Herrn [Vorstandsvorsitzender], ne, so das hätte ich gerne mal angeleiert. Ist unterblieben.
Interviewer 1: M-hm.
Befragter: Resultat haben wir.
Interviewer 1: Warum passiert das nicht mit den Vorbesprechungen auf Anteilseignerseite?
Befragter: Warum?
Interviewer 2: M-hm.
Befragter: Äh (.) (lacht) weil ihnen das zu lästig ist.

Im Fall der Nachbesetzung des Vorstandsvorsitzes habe er eine frühzeitige Infor-


mation erwartet, so der Befragte. Diese sei jedoch nicht erfolgt, sondern man sei
einfach mit einem Kandidaten konfrontiert worden. Dies sei einfach darin begrün-
det, dass es keine Abstimmung mit den Anteilseignervertretern gebe, da diese als
„zu lästig“ empfunden werde.
Auch hier wird wieder dieselbe Form der Erwartungsenttäuschung sichtbar, die
sich schon gezeigt hat: Man erwartet, eingebunden zu werden, wird jedoch nur
mit den Resultaten einer Entscheidung konfrontiert. Da diese Enttäuschung jedoch
letztlich durch die Hierarchie supplementiert wird, bleiben die Konsequenzen aus:
Der Aufsichtsratsvorsitzende entscheidet und da diesem keiner ein „X für ein U“
vormacht, wird diese Entscheidung akzeptiert.
Zusammenfassend ließe sich hier also sagen, dass eine ähnliche Konstruktion
gefunden wird wie im Fall der Dortmunder Petrol. Es entsteht eine Kontextur des
„Internen“, die im Negationsbereich das „Externe“ kennt. Die Kontextur des „In-
ternen“ baut eine Positivstruktur der Vertrautheit mit Branche und Unternehmen.
Diese definiert die Einheit der Anteilseignervertretung. Da im vorliegenden Fall
aber keine „Internen“ auf der Anteilseignerseite des Aufsichtsrats zu finden sind,
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 217

verschiebt sich die Diskussion. Es entsteht eine Sphäre der „Internen“, die sich über
Vorstand und Arbeitnehmerseite ausbreitet, die Anteilseigner im Aufsichtsrat je-
doch völlig marginalisiert.

4.4.2.2 Arbeitnehmervertreter: Das „Interne“ ist vor dem


Aufsichtsrat
Die Arbeitnehmervertreter der Dortmunder Petrol praktizieren ein System der
Sphärentrennung: Der Aufsichtsrat wird dem wirtschaftlichen Diskurs vorbehal-
ten, Interessenvertretung in die betriebliche Mitbestimmung verlagert. Auf diese
Weise wird ein hohes Maß der Integration in die Entscheidungsfindung gewähr-
leistet. Man ist Ansprechpartner und demonstriert auch durch politisch unlieb-
same Entscheidungen immer wieder, dass man hier verlässlich ist. Das schafft auf
Ebene des Aufsichtsrats eine stabile Form der Zusammenarbeit. Das heißt freilich
nicht, dass Arbeitnehmerinteressen nicht reflektiert werden. Sie werden jedoch
nicht als solche artikuliert, sondern in Form einer eigenen Vorstellung richtiger
Unternehmensführung übersetzt und verargumentiert.
Auch im vorliegenden Fall der Süddeutschen Chemie AG findet sich eine ähn-
liche Struktur. Jedoch lassen sich auch einige Unterschiede feststellen. So zeigt sich
etwa im Fall einiger betrieblicher Arbeitnehmervertreter zwar eine Trennung zwi-
schen Aufsichtsratsarbeit und betrieblicher Interessenvertretung, doch scheint die-
se im Fall einiger betrieblicher Arbeitnehmervertreter nicht so ausgeprägt zu sein
wie im Fall der Dortmunder Petrol (Interview Betriebsrat):

Befragter: So, da muss man, würde man sehen, was-was uns als Arbeitnehmervertreter
immer dann (.) besonders, also insofern ist natürlich immer unsere Rolle als Betriebsrat
im Kopf, auch wenn das, sag ich mal, unterschiedliche Rollen, unterschiedliche Funk-
tionen sind, die wir als-als Aufsichtsräte haben, aber wir denken natürlich schon an die
Folgen, die das für uns als Betriebsräte dann wieder hat, in-in der, in der weiteren Arbeit
und deswegen versucht man natürlich schon, das eine oder andere da hinzukriegen äh,
man hat als Aufsichtsrat aber dennoch eine andere Brille auf, das auch klar und äh oft
ist das so, dass wir sagen, von-von grundsätzlichen strategischen und wirtschaftlichen
Entscheidungen, können wir bestimmte Dinge nachvollziehen. Die-die würden wir unter
diesem Aspekt vom Grundsatz auch mit tragen, wenn sie denn auch unter (.) äh dem
sozialen Aspekt sozusagen vernünftig händelbar sind. Also das ist so eher den Aspekt,
der-der uns auch noch mal wichtig ist und dem (unklar). Wir haben immer auch schon
mal, na-natürlich auch schon mal im Vorfeld Diskussionen und gesagt, macht das denn
strategisch oder wirtschaftlich Sinn, auch aus-aus unserer Sicht, ne. Unabhängig von-
von denen so sozialen Folgen.

Als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat müsse man klar zwischen der betrieb-


lichen Mitbestimmung und der Unternehmensmitbestimmung unterscheiden, so
der Befragte. Dennoch habe man stets die Konsequenzen einer Entscheidung für
218 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

den Betrieb im Hinterkopf. Denn wirtschaftliche Folgen müssten auch immer so-
zial tragbar sein. Dennoch gebe es auch unter den Arbeitnehmervertretern immer
wieder strategische Diskussionen, die von „sozialen“ Implikationen absähen.
An dieser Stelle zeigt sich eine Orientierung, wie sie sich etwa auch im Fall der
Augsburger Maschinenwerke zeigt: Es wird eine Trennung zwischen Aufsichtsrat
und Betrieb gezogen. Aber dennoch wird primär auf Kontinuität gesetzt. Es geht
darum, den Betrieb im Aufsichtsrat zu artikulieren, aber dennoch auch politisch
unangenehme Entscheidungen mitzutragen.
Der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende, der im vorliegenden Fall ebenfalls
betrieblicher Arbeitnehmervertreter ist, sieht keine klare Unterscheidung zwischen
betrieblicher Mitbestimmung und Unternehmensmitbestimmung:

Befragter: Für mich gehört, mh, für mich gehört mh, die Unternehmensmitbestimmung
äh mit der betrieblichen Mitbestimmung zusammen. Weil beides, äh, mh, mh ist auch
äh, in dem Sinne auch für die mh, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens
äh sinnvoll äh zu verknüpfen, auch wenn das Mitbestimmungsgesetz von ’76 oder ’54
oder welches auch immer (holt Luft) entsprechend das nicht vorsieht, mh, halte ich die
Kombination dieser beiden äh, mh Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer an unternehme-
rischen Entscheidungen für absolut sinnvoll und notwendig.

Unternehmens- und betriebliche Mitbestimmung seien zwei Seiten einer Medaille,


auch wenn dieses vom Gesetzgeber nicht so vorgesehen sei. Beide würden sie die
Beteiligung der Arbeitnehmer im Unternehmen stärken und die Mitwirkung an
Entscheidungen sichern.
Damit lässt sich im vorliegenden Fall aufseiten der Betriebsräte eine Orientie-
rung erkennen, die gewisse Parallelen mit den Unternehmen des Typs 2 und sogar
des Typs 1 zeigt. Es wird hier auf Kontinuität gesetzt; eine Sphärentrennung wie im
Fall der Dortmunder Petrol wird nicht installiert.
Gleichzeitig wird jedoch auch keine klare Oppositionshaltung gegenüber dem
Management bezogen. Es geht hier nicht darum, Stimme des „Betriebs“ gegenüber
dem Management zu sein. Es soll kein „gesunder Menschenverstand“ gegenüber
einer starken „Orientierung an Kennzahlen“ eingebracht werden, geschweige denn
politische Opposition betrieben werden. Die Anteilseignervertreter erscheinen in
diesem Sinne nicht so sehr als ein wirklich adressierbarer Gegner. Vielmehr geht es
eher um bestimmte Aspekte der Entscheidung, die mitreflektiert werden sollen. So
ist es im ersten aufgeführten Zitat die „soziale“ Dimension einer wirtschaftlichen
Entscheidung, die sichergestellt werden soll. Dies jedoch geschieht als Teil einer
Beteiligung an Entscheidungen. Die Arbeitnehmervertreter werden damit in ihrem
Selbstbild gleichsam Mit-Entscheider, nicht Korrektiv der Entscheider, wie dies in
den Unternehmen des Typs 2 sichtbar ist. Es wird also von Anfang an eine Kon-
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 219

textur des Miteinanders konstruiert. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu den
Arbeitnehmervertretern der Typen 1 und 2. Im Fall des Typs 1 kommt es zu einem
solchen Miteinander gar nicht erst. Im Fall des Typs 2 muss ein Miteinander erst
mühsam auf dem Hintergrund der bestehenden Differenzen konstruiert werden.
Die betrieblichen Arbeitnehmervertreter weisen dabei jedoch eine klare Ori-
entierung an der „sozialen“ Dimension einer Entscheidung auf. Wenn es also auch
nicht darum geht, als Arbeitnehmervertretung eine klare oppositionelle Haltung
einzunehmen, so findet doch eine klare thematische Trennung statt: Auf der einen
Seite steht das Management, das für die wirtschaftliche Dimension einer Frage zu-
ständig ist, auf der anderen Seite die Arbeitnehmervertretung, die für die soziale
Dimension zuständig ist. Jedoch ist die Entscheidung von Anfang an dieselbe. Hier
liegt etwa auch der Unterschied zum Konzept „Arbeit und Soziales“ (vgl. 4.3.2.2
Arbeitnehmervertretung: „Arbeit und Soziales“), das zwar auch auf das „Soziale“
setzt, jedoch eine andere thematische Differenzierung aufmacht: Es gibt Themen
der Arbeitnehmer- und Themen der Anteilseignervertreter.
Gerade im letzten Teil der ersten aufgeführten Passage deutet sich dabei jedoch
eine weitere Dimension an. Wenn der Befragte darauf hinweist, dass auch auf Arbeit-
nehmerseite immer wieder Diskussionen über wirtschaftliche Folgen einer Entschei-
dung ohne Rücksicht auf die sozialen Folgen geführt werden, so ist damit letztlich
die Rolle der Gewerkschaften angesprochen (Interview Gewerkschaftsvertreter):

Befragter: Bei den (Räuspern) Beschäftigten, also damit wir, ist es immer eine unmittel-
bare Betroffenheit, ne. Es geht am Ende um die Zukunft äh, ne, des Unternehmens und
damit um die Zukunft äh des Arbeitsplatzes. Das heißt, das ist zunächst eine emotionale
(.) Ausgangsbasis, gar keine Frage. So und dann (..) muss man halt das Kunststück fer-
tigbringen, diese emotionale Betroffenheit und Ausgangs(.)basis in rationale Diskussio-
nen und Entscheidungsabläufe (.) zu (..) überführen. So, das ist die Aufgabe dann auch
sag ich mal einer Organisation, also unsere Aufgabe, (.) eher als die eines Betriebsrates,
der natürlich noch viel emotionaler da eingebunden ist.

Die Arbeitnehmer im Betrieb seien immer stärker emotional beteiligt als die Ge-
werkschaftsvertreter, da sie letztlich die Betroffenen seien. Dieses Gefühl der Be-
troffenheit gelte es jedoch nicht auszunutzen, sondern einzufangen und vernünftig
zu diskutieren. Dies sei eher die Aufgabe der Gewerkschaftsvertreter als die Rolle
der Betriebsräte, da Letztere selbst stärker betroffen seien.
Die Gewerkschaftsvertreter betrachten sich hier als ein Korrektiv für die Be-
triebsräte und suchen damit, eine Orientierung am Betrieb, wie sie sich auch in den
Unternehmen des Typs 2 finden lässt, zu unterbinden. Arbeitnehmervertretung
darf hier gerade nicht heißen, auf den Tisch zu schlagen (vgl. S. 138 ff.). Vielmehr
wird der Erfolg der eigenen Arbeit gesehen, sich selbst möglichst der Kontextur des
220 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Managements anzunähern. Es geht darum, nicht als Opposition zu erscheinen, die


gegen das Management aufsteht, sondern sich möglichst weit einem Habitus des
kühlen Rechnens anzugleichen. Es darf keine Sprecherposition des Betriebs gegen
das Management eingenommen werden. Vielmehr muss eine Sprecherposition in-
nerhalb des Managements gesucht werden. Dies sicherzustellen, dafür sehen sich
die Gewerkschaftsvertreter zuständig.
In der Konsequenz heißt das für die Gewerkschaftsvertreter dann auch, immer
wieder den Konflikt mit den Betriebsräten zu suchen (Interview Gewerkschafts-
vertreter):

Befragter: Und dann hat ja [Investor] versucht ähm [Unternehmen] (.) zu kaufen und
in diesem Zusammenhang äh hat Süddeutsche Chemie sich dann gemeldet und ich kenn
ja, kenn und kannte die, also der [Vorstandsvorsitzenden des betreffenden Unterneh-
mens], der war ja, der [Aufsichtsratsvorsitzende], der war Aufsichtsratsvorsitzender.
[Vorstandsvorsitzender] (.) war Vorstandsvorsitzender, die kenn ich seit Anfang der
[Zeitraum] Jahre, so lange ist der ja auch bei (.) bei [Unternehmen]. Der war mal [Posi-
tion] der Zeit, bevor er dann Vorstandsvorsitzender wurde. So und (.) mir hatte er dann
gesagt, also (zögerlich) wenn schon, Selbstständigkeit war für den oberste Priorität, also
wenn Selbstständigkeit nicht äh gewährleistet oder erhalten werden kann, also dann
nicht [Investor], dann Süddeutsche Chemie.
Interviewer: Okay.
Befragter: So, und dann entwickelt sich natürlich so ein Prozess. So und dann, die
Betriebsräte bei [Unternehmen] waren erst ein bisschen anders (.) äh gestrickt, die haben
wir dann auch, (.) äh wie ich finde richtigerweise davon überzeugt, natürlich äh ein
solcher Prozess bedeutet und allemal auch für [Unternehmen] äh Veränderungen, nich.
Das hat ja auch ein paar Arbeitsplatz- äh – verluste gegeben. (tiefer Atemzug) Es ist zwar
keiner entlassen worden, jedoch die Arbeitsplätze sind weg. Da kann man ja nun nicht
schöner reden, als es ist. Das alles ist zwar vernünftig gelaufen, aber das sind halt dann
auch die, die schwierigen Seiten eines solchen Zusammenschlusses. So, und (Räuspern)
dieser Prozess ging über Monate. So dann ist natürlich im Aufsichtsrat auch immer kri-
tisch hinterfragt worden, ist denn das eigentlich äh richtig und sinnvoll –.

Bevor die Süddeutsche Chemie AG einen Konkurrenten übernommen habe, hätte


dies ein Investor tun wollen. Das Management habe ihn jedoch aus einem anderen
Kontext gekannt und von diesem erfahren, dass er eine Übernahme durch die Süd-
deutsche Chemie AG bevorzugen würde, wenn sich eine Übernahme nicht ver-
hindern ließe. Die Betriebsräte des betreffenden Unternehmens seien freilich nicht
von der Übernahme überzeugt gewesen, da diese auch immer Arbeitsplatzverluste
bedeute. Dies stimme zwar und sei auch ärgerlich, jedoch letztlich unvermeidbar.
Hier lässt sich die zugrunde liegende Orientierung des Gewerkschaftsvertre-
ters noch einmal klar erkennen. Während in den Aufsichtsräten des Typs 1 die
Gewerkschaftsvertreter zumeist eine stärkere Oppositionsrolle suchen als die
Betriebsräte, im Fall der Aufsichtsräte des Typs 2 für die Gewerkschaftsvertreter die
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 221

Kontextur betrieblicher Arbeitnehmervertretung maßgeblich ist, ist es hier die Ge-


werkschaft, die eine starke Orientierung am Management vorantreibt. Sollte diese
Orientierung von den Betriebsräten nicht geteilt werden, wird hier durchaus der
Konflikt gesucht, um das durchsetzen zu können, was als „vernünftig“ gilt.5 6
Diese Orientierung am Wirtschaftlichen heißt dann freilich auch, dass keine
Opposition zu der Orientierung an „Kennzahlen“ bezogen werden kann, wie im
Fall der Unternehmen des Typs 2. Es wird vielmehr eine Form gefunden, mit der
die Bedeutung des Kompetenzvorsprungs der Anteilseignervertreter auf diesem
Gebiet relativiert werden kann, ohne die eigene Orientierung am Wirtschaftlichen
zu negieren (Interview Gewerkschaftsvertreter):

Interviewer: Okay. Wie würden Sie denn dann das Verhältnis zwischen Herrn [Prü-
fungsausschussvorsitzender] und Herrn [Aufsichtsratsvorsitzender] (.) beschreiben?
Befragter: Das kann ich nicht. Also ich kann das nur, (bff) von außen wahrnehmen.
Ich hab nix gehört, we-, wenn Sie das meinen. Das, ich glaube auch nicht, dass das ein
schlechtes Verhältnis-. Wissen Sie ein Aufsichtsratsvorsitzender und [Aufsichtsratsvorsit-
zender] allemal, (.) wie man das sagt, da ist er wie ein großer Schuljunge, nech. (.) Ähm,
das ist ja nicht so, dass der nun rund um die Uhr arbeiten muss, nech. Der ist doch froh,
wenn er den Job nicht selber machen muss. Und das war ja ‘ne Zeitlang so, da musste er
das machen, weil wir keinen hatten. (.) Die sind doch froh, wenn sie für diesen, nech, sag
ich mal, detaillierten Krempel ‘nen Doofen finden, (lachen) der das macht.
Interviewer: Und das heißt-, und, und wer-,
Befragter: Insoweit glaub ich allein aus dieser (Stottern), bisschen, vielleicht ein biss-
chen ein Lockmann, -mann, -mann, Herangehensweise, aber ich glaub, sie entspricht der
Realität. Wenn ich so-, in der Funktion wäre, würde ich auch so denken. Alleine deshalb
muss man sich mit dem nicht anlegen. Fl- hegt und pflegt man den und freut sich, wenn
er das alles ordentlich tut.

5
Die Gewerkschaftsvertreter sehen sich somit als Träger wirtschaftlicher Rationalität auf der
Arbeitnehmerseite. Diese Rolle ist vermutlich der Gewerkschaft in sämtlichen Unternehmen
des Typs 3 zuzurechnen und etwa auch in dem Beispiel zu bringen, mit dem einer der inter-
nen Aufsichtsratsmitglieder der Dortmunder Petrol seine Erwartungen an die Gewerkschaft
elaboriert (vgl. auch S. 185 f.). Der Grund, warum die Differenz zwischen betrieblichen und
gewerkschaftlichen Arbeitnehmervertreten zum Zeitpunkt der Erhebung im Fall der Dort-
munder Petrol zu vernachlässigen scheint, ist dabei vermutlich auf den starken und erfolg-
reichen Einfluss der Gewerkschaftsvertreter auf die Rekrutierung der betrieblichen Arbeit-
nehmervertreter zurückzuführen, der im vorliegenden Fall nicht ganz so stark zu sein scheint
(vgl. auch S. 194 ff.).
6
Spätestens hier wird dann deutlich, dass eine wirtschaftliche Orientierung der Betriebsräte
keinesfalls zu einem Konflikt mit weniger ökonomisch orientierten Gewerkschaftsvertretern
führt (so Höpner 2003, S. 196 f.). Die stärkere ökonomische Orientierung haben hier fraglos
die Gewerkschaftsvertreter.
222 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Auf die Frage hin, wie er die Beziehung von Aufsichtsrats- und Prüfungsausschuss-
vorsitzendem beschreiben würde, antwortet der Befragte, dass er hierzu nichts
sagen könne. Doch seiner Meinung nach sei das Verhältnis gut, da ein Aufsichts-
ratsvorsitzender letztlich „wie ein großer Schuljunge“ sei, der sich glücklich schätze,
wenn jemand die Arbeit für ihn mache. Man müsse froh sein, wenn man „‘nen
Doofen“ finde, der den „detaillierten Krempel“ mache und müsse diesen daher
„hegen und pflegen.“
Die Arbeit mit Finanzkennzahlen erscheint bei den Arbeitnehmervertretern in
den Aufsichtsräten der Typen 1 und 2 ambivalent: Zum einen ist es eine Kompe-
tenz der Anteilseignervertreter, die man selbst nicht beherrscht. Dies festigt deren
Autorität in Fragen der Unternehmensführung. Zum anderen jedoch liegt gerade
in dieser Vertrautheit mit Zahlen auch das Bild der eigenen Oppositionsrolle ver-
borgen: Man muss mit „gesundem Menschenverstand“ eine übermäßige Kenn-
zahlorientierung korrigieren (vgl. 4.3.1.2 Arbeitnehmervertretung: Nachhaltiges
Wirtschaften durch „gesunden Menschenverstand“) oder gleich gegen die Sphäre
des Managements opponieren. Im vorliegenden Fall jedoch wird eine Figur ge-
wählt, die sowohl das Kompetenzproblem als auch die Oppositionsrolle ausklam-
mert. Die eigene mangelnde Fähigkeit im Umgang mit Kennzahlen ist hier kein
Defizit. Es handelt sich vielmehr um eine praktische Tätigkeit, die letztlich keinen
Einfluss auf Entscheidungen hat, die aber gemacht werden muss. Die Arbeit des
Prüfungsausschusses ist Detailarbeit, die einer klaren Regelhaftigkeit folgt und die
nichts mit Einflussnahme zu tun hat. Diejenigen, die ihr dennoch Bedeutung bei-
messen, sind die „Doofen“, die diese Bedeutungslosigkeit noch nicht voll begrif-
fen haben. Diese sind für die richtige Unternehmensführung irrelevant. Dennoch
braucht man sie, da die Arbeit im Prüfungsausschuss gemacht werden muss. „He-
gen und pflegen“ lautet daher die Devise. Tut man dies, so wird aus Perspektive des
Gewerkschaftsvertreters ein Raum geschaffen, in dem dann die „wirklichen Ent-
scheidungen“ getroffen werden können. Dieser Raum der strategischen Debatte ist
damit so etwas wie der eigentliche Raum wirtschaftlicher Unternehmensführung,
in dem auch die Arbeitnehmervertreter sich gleichberechtigt bewegen können. Die
mangelnde Kompetenz in Fragen des Kennzahlgebrauchs ist hier nicht mehr von
Belang. Das der „übermäßigen Orientierung an Kennzahlen“ verwandte Motiv der
„Kapitalmarktorientierung“ bekommt jedoch wieder Bedeutung, wenn zwischen
„Internen“ und „Externen“ aufseiten des Managements unterschieden werden soll
(Interview Gewerkschaftsvertreter):

Befragter: Äh, im Aufsichtsrat hat es natürlich von der Kapitalseite dann häufig den Hin-
weis gegeben: „Warum macht ihr es nicht so, wie [Unternehmen] es gemacht hat, nech?“
Also, entwickelt euch zum [Branche], ma-, spaltet nicht nur [Unternehmenssparte]
ab, sondern auch den Teil der-, [Produktreihe] hieß das früher, jetzt heißt es [andere
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 223

Bezeichnung]. Äh, so, wir haben mit dem Vorstand (Räuspern) und wie ich finde rich-
tigerweise und erfolgreich ja dagegen gewehrt. Dann ist dieses (.) äh neue Konstrukt äh
auf die Welt gekommen und das behauptet sich ja ausgesprochen erfolgreich, wenn ich
noch das richtig im Kopf habe, glaub ich die Aktie war damals auf [Betrag] Euro abge-
stürzt, äh, ich hab leider auch keine (unklar), auch keine gekauft, (Geschmunzel) weil
man irgendwann dann verdächtigt wird äh, aber das-. So und da gab es schon Unter-
schied zwischen der Kapitalseite, den Vertretern der Kapitalseite, die erstens natürlich
es, s-, s-, darf man denen auch nicht übel nehmen. Die sind natürlich eher sag ich mal
kapitalmarktgetrieben. Für die sind Finanzkennziffern äh natürlich häufig viel, viel
bedeutsamer als für uns. Und ich finde interessanterweise auch für den Vorstand, der
dann beides äh versucht miteinander in Verantwortung zu bringen. Nämlich sowohl
sag ich mal die Kapitalmarktsicht, die muss man, ansonsten wird man abgeschafft äh-
Interviewer: Hm.
Befragter: -vom Kapitalmarkt, aber auch (Räuspern) die Frage, was bedeutet das für die
Zukunft des Unternehmens und wie kann man es äh dann auch erfolgreich umsetzen.

Die Anteilseignervertreter hätten immer wieder die Idee aufgebracht, den Konzern
aufzuspalten. Gegen diesen Vorschlag hätten jedoch die Arbeitnehmervertreter
zusammen mit dem Vorstand erfolgreich Widerstand geleistet und den Konzern
anders umgebaut. Dies sei jedoch erfolgreich gewesen und die Aktie sei von ihrem
Tiefstand wieder heruntergekommen. Den Vorschlag der Aufspaltung jedoch dür-
fe man „der Anteilseignerseite nicht übel nehmen,“ da diese zwangsläufig stärker
am Finanzmarkt orientiert sei als der Vorstand. Diesem ginge es hingegen um die
nachhaltige Entwicklung des Konzerns.
In dieser Passage werden einige wesentliche Aspekte der Positivstruktur der
Arbeitnehmervertretung deutlich. Zunächst ist es die klare Trennung zwischen
Vorstand und Anteilseignerseite des Aufsichtsrats, die hier vorgenommen wird.
Anders als in den Unternehmen des Typs 1 und den meisten Unternehmen des
Typs 2 wird hier eine Trennung vorgenommen. Der Vorstand wird als nicht aufsei-
ten der Anteilseignervertreter stehend betrachtet, sondern letztlich eher aufseiten
der Arbeitnehmervertreter. Dies wird mittels der Figur der Finanzmarktorientie-
rung elaboriert: Die Anteilseignervertreter betrachten den Finanzmarkt und versu-
chen, diese Perspektive durchzusetzen. Der Vorstand hingegen muss zwar ebenfalls
den Finanzmarkt beachten, doch nur, damit das Unternehmen nicht untergeht.
Zwar benutzt der Befragte hier die Formulierung, dass der Vorstand bestrebt ist,
Finanzmarkt und Umsetzbarkeit „in Verantwortung zu bringen“ und suggeriert da-
mit Gleichwertigkeit der Perspektiven. Im Folgenden wird jedoch klar, dass es letzt-
lich darum geht, die Zukunft des Unternehmens zu sichern und den Finanzmarkt
nur insoweit zu beachten, als dass das Unternehmen nicht „abgeschafft“ wird.
Die „Finanzmarktorientierung“ erscheint damit hier wieder als Motiv, das für
eine verkürzte Perspektive des Managements steht. Diese verkürzte Perspektive
wird hier jedoch nur den „Externen“ attribuiert; der Vorstand – auch der ehemalige
224 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

– ist davon nicht betroffen. Dieser ist vielmehr den „Internen“ zuzurechnen, den-
jenigen, mit denen sinnvoll zu reden ist.
Hierin deutet sich auch schon an, dass der Aufsichtsrat nicht als relevante Sphä-
re der Unternehmensmitbestimmung erscheint, da er letztlich mit „Externen“ be-
setzt ist. Da diese keine Ansprechpartner für die „internen“ Arbeitnehmervertreter
und für die „internen“ Manager sein können, wird das Gremium für die „Internen“
irrelevant:

Befragter: So und es gibt noch andere Situationen, nech. Während bei [Übernahme]
ja, ach um Gottes Willen, muss das nun auch noch sein, nech und wie können wir es
verhindern. Und (..) da können Sie auch nicht sagen, dass das (Stottern) ich weiß nicht
wie häufig, wie gesagt [Vorstandsvorsitzender und Aufsichtsratsvorsitzender] mit den
Anteilseignern zusammengesessen haben. Sicherlich ein paar Mal, aber garantiert nicht
so häufig wie mit uns. Weil wir auch drängender sind, wir wollen dann eher Details
wissen. Was bedeutet das ich sag mal äh für die nächsten fünf Jahre der Forschungs-
pipeline? Was bedeutet das für den großen [Standort] äh von äh [Ort] von, von Süd-
deutsche Chemie? Was heißt das für, für die [Unternehmenssparte]-Leute und deren
Forschungsstandort in [Ort]? Dann kommt die Politik ins Spiel, natürlich nech. D-, Der
Bürgermeister von [Ort], der ruft natürlich an, der weiß ja auch, wer dann da im Auf-
sichtsrat sitzt und w-, will wissen oder wir wollen, dass der das dann da positiv begleitet,
ne. So ist das halt. Das ist-, (..) das ist nicht in jedem Unternehmen -n gleich, das ist
immer eine Frage, wie, wie ist sowas in so einem Unternehmen gewachsen und bei Süd-
deutsche Chemie ist es nun mal (.) ich hoffe ich hab klar machen können eben auf sehr
vertrauensvoller Basis.

Im Fall einer Übernahme, so der Befragte, habe es einen intensiven Austausch mit
dem Vorstands- und dem Aufsichtsratsvorsitzenden gegeben. Diese hätten sicher
auch das Gespräch mit den Anteilseignervertretern gesucht, der Dialog mit den
Arbeitnehmervertretern sei jedoch wesentlich enger gewesen. Denn als Arbeit-
nehmervertreter sei man an Details interessiert, wolle wissen, wie sich eine solche
Übernahme auf Forschung und Entwicklung auswirke, was sie für die Standorte
bedeute. Dieser Dialog sei traditionell eng und sehr vertrauensvoll bei der Süd-
deutschen Chemie AG.
Schon die Tatsache, dass der Aufsichtsratsvorsitzende hier nicht als Anteils-
eignervertreter im Aufsichtsrat betrachtet wird, demonstriert die Bedeutung der
Trennung zwischen „Internen“ und „Externen“. Der Vorstands- und der Aufsichts-
ratsvorsitzende werden hier als „Interne“ betrachtet. Sie reden mit den „Externen“,
gehören jedoch nicht dazu. Die „Externen“ erscheinen hier vielmehr als ein mar-
ginaler Faktor, der mit der Entscheidungsfindung wenig zu tun hat. Diese wird
zwischen dem „internen“ Management und den Arbeitnehmervertretern geregelt.
Die Anteilseignervertreter gehören genau genommen nach Auffassung der Arbeit-
nehmervertreter nicht zum Unternehmen (Gewerkschaftsvertreter 2):
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 225

Interviewer: Jetzt haben Sie, wenn ich das richtig verstanden habe, also es gibt da eben
so eine Abstimmung äh auf der Arbeitnehmerseite, sehr intensiv, im Vorfeld der-der-der
Aufsichtsratssitzung.
Befragter: Ja.
Interviewer: Äh haben Sie den Eindruck, dass die Anteilseigner das auch machen?
Befragter: (…) Also manche können es nicht machen, weil die wollen morgens einfach
nur reinschweben und dann wieder weg sind.

Die Proposition des Interviewers, dass die Arbeitnehmervertreter sich eng mitei-
nander abstimmten, wird hier bejaht. Auf Nachfrage, wie sich dies im Fall der An-
teilseignervertreter verhielte, antwortet der Befragte, dass diese dazu keine Chance
hätten, da sie morgens „einfach nur reinschweben und dann wieder weg sind.“
Die externen Anteilseignervertreter sind letztlich aus Sicht der Arbeitnehmer-
vertreter einfach irrelevant. Es besteht keine Beziehung zu ihnen, es werden keine
Erwartungen an sie gestellt. Sie gehören nicht zum Arbeitsbereich der Arbeitneh-
mervertreter.
Damit wird aber eben der Aufsichtsrat als Sphäre der Arbeitnehmervertretung
irrelevant. Adresse sowohl der betrieblichen als auch der Unternehmensmitbe-
stimmung sind der Vorstand und der Aufsichtsratsvorsitzende, das „interne“ Ma-
nagement. Der Aufsichtsrat hingegen wird als Bereich der „Externen“ betrachtet.
Unternehmensmitbestimmung endet damit im Fall der Süddeutschen Chemie AG,
bevor der eigentliche Aufsichtsrat beginnt. In ihm gibt es niemanden, der sinnvoll
zu adressieren wäre.
Dies mag auch eine Erklärung dafür sein, warum es im vorliegenden Fall der
Süddeutschen Chemie AG nicht zu einer ähnlichen Sphärentrennung zwischen
Aufsichtsratsarbeit und betrieblicher Mitbestimmung auf Arbeitnehmerseite
kommt, wie dies bei der Dortmunder Petrol der Fall ist: Es gibt den Aufsichtsrat als
Sphäre der Mitbestimmung schlichtweg nicht.
Zusammenfassend kann man hier also eine funktional äquivalente Konstrukti-
on zu den Arbeitnehmervertretern der Dortmunder Petrol sehen. Es wird ein Raum
des Miteinanders von Arbeitnehmervertretung und Management konstruiert, ein
Raum der „Internen“, der mit den Werten der Vertrautheit und Nicht-Vertrautheit
mit dem Unternehmen operiert. Die Positivstruktur ist die Vertrautheit mit dem
Betrieb, der Branche, den Spezifika der internen Abläufe. In dieser Positivstruktur
wird die Differenz von Arbeitnehmervertretung und Arbeitgebern (als Einheit „in-
terner“ Manager) geöffnet, die jedoch auch im Sinne eines Zuständigkeitsportfo-
lios gedacht wird. Es geht immer darum, eine gemeinsame Entscheidung zu treffen.
Nur ist das Management primär für die Dimension des Wirtschaftlichen, die Ar-
beitnehmervertretung primär für die Dimension des Politischen zuständig. Beide
jedoch vereint die Kompetenz und die Zuständigkeit für das Unternehmen.
226 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

4.4.2.3 Entscheidungsfindung am Aufsichtsrat vorbei


Die Anteilseignerbank weist im vorliegenden Fall der Süddeutschen Chemie AG
keine ähnliche Spaltung in „Interne“ und „Externe“ auf, wie sie im Fall der Dort-
munder Petrol zu finden ist. Stattdessen kommt dem Aufsichtsratsvorsitzenden
eine über die Maßen herausgehobene Position zu. Dieser steht dann in enger Ab-
stimmung mit dem Vorstandsvorsitzenden und bindet die einzelnen Aufsichtsrats-
mitglieder kaum ein, begreift diese vielmehr als Empfänger von Entscheidungen
denn als Mit-Entscheider oder Berater. Damit bildet sich auf Anteilseignerseite
eine komplementäre Struktur wie im Fall der Dortmunder Petrol, nur verschiebt
sich hier die Trennung zwischen „Internen“ und „Externen“ weitgehend aus dem
Aufsichtsrat heraus. Dieser wird ein Gremium der „Externen“.
Auf Arbeitnehmerseite lassen sich im vorliegenden Fall auch einige Unterschie-
de zum Fall der Dortmunder Petrol feststellen. Während dort eine klare Sphären-
trennung vorgenommen und der Aufsichtsrat für eine ökonomische Perspektive
reserviert wurde, wird im vorliegenden Fall stärker auf eine Kontinuität zwischen
betrieblicher Mitbestimmung und Unternehmensmitbestimmung gesetzt, die wirt-
schaftliche Verantwortung jedoch betont. Dennoch entsteht ein funktionales Äqui-
valent zur Sphärentrennung im Aufsichtsrat der Dortmunder Petrol: Es wird eine
Rollentrennung vorgenommen. Der zentrale Gewerkschaftsvertreter begreift sich
hier als Vertreter der „Vernunft“, der im Zweifelsfall den Betriebsräten wirtschaftli-
che Perspektiven zu vermitteln hat.
Ebenso wie im Fall der Dortmunder Petrol sind die Arbeitnehmervertre-
ter zudem an den „Internen“ als relevanten Ansprechpartnern orientiert. Der
Aufsichtsrat wird damit als Gremium unwichtig. Man klärt die Dinge mit dem
Aufsichtsratsvorsitzenden, der ehemaliger Vorstand ist, und mit den aktuellen
Vorständen, bevor sie überhaupt den Aufsichtsrat erreichen. Die Details dieses
Verfahrens lassen sich im vorliegenden Fall gut anhand einer Vorstandsbestellung
rekonstruieren. So skizziert etwa ein betrieblicher Arbeitnehmervertreter, der Mit-
glied im Personalausschuss ist, den Verlauf der Entscheidung folgendermaßen:

Befragter: Ja, das waren jetzt erst mal wir beide [weiterer Arbeitnehmervertreter im
Personalausschuss] und Herr [Aufsichtsratsvorsitzender]. Das hat auch zwischendurch
mal, natürlich haben wir auch weiter, wenn (..) wir jetzt Arbeitnehmervertreter wieder
jetzt reden. Also Herr [Arbeitnehmervertreter im Personalausschuss] und ich haben da
auch mal [stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender] zugenommen oder mal [Gewerk-
schaftsvertreter], weil- weil das teilweise dann auch über die und Kontakt zum Präsidial-
ausschuss äh dann-dann gelaufen ist. Das heißt, eigentlich von der Arbeitnehmerbank
so mehr wir vier. Ne, [Gewerkschaftsvertreter], [stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzen-
der], [Arbeitnehmervertreter im Personalausschuss], [Befragter] (unklar) und waren da
eigentlich immer diejenigen, die auf dem Stand waren. Mal ist der eine Kontakt gegen-
über dem einen entstanden, mal über den anderen, mal ist das von uns ausgegangen,
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 227

von der anderen Seite, aber das waren sozusagen, äh (.) die vier von unserer Seite, die
da eigentlich involviert waren. Und dann war natürlich so irgendwann der-der Punkt
der Entscheidung, wo wir sagen, wir gucken jetzt auch außen. Und äh (..) beauftragen
sozusagen auch jemand damit, für uns mal zu gucken. Also damit war dann äh (..) war
dann schon mal klar, dass das so sein kann. Also dass jetzt wirklich dieses (unklar) und
äh dass wir intern nicht geeignet fündig werden und dann nach außen gucken müssen.
Interviewer: M-hm.
Befragter: Und dann hatten wir äh immer wieder einen Zwischenstand. D-der hat mich,
wir haben nie in dieser ganzen Konstellation getagt, auch dazu nicht, auch nicht, auch
nicht als Personalausschuss nicht. Sondern es war immer so Einzelkontakte. Gut okay,
einer hat dann zu mir so, jetzt dann, informiere du mal die anderen von deiner Seite
oder ne, umgekehrt. Und das heißt, äh irgendwann wussten wir, es dichtet sich, also es
wird, ich, wir werden jemand von außen nehmen für das, dann waren-waren wir so
informiert, immer auf dem Stand, Kandidatensichtung, es gibt jetzt erst mal jede Menge
und dann war das irgendwann eingedampft auf fünf und auf drei und äh (.), so irgend-
wann da sagt, klar, es zeichnet sich da eigentlich jetzt so ein Kandidat ab.
Interviewer 2: Das heißt, al-, ein-ein-ein möglichen Alternativkandidaten haben Sie,
zumindest persönlich, nicht kennengelernt? Also nur irgendwie auf Papierform?
Befragter: Genau, ja. Also ich nicht. Ich weiß nicht, also äh (..) äh der Herr [Gewerk-
schaftsvertreter] war da, glaube ich, mit-mit anderen Kandidaten, wobei er auch immer
gesagt hat, ich will auch die Namen der anderen gar nicht, die ihm noch, solange das
auch noch so viele sind, will ich gar nicht wissen und kennen. Also ob er dann zum
Beispiel die letzten drei, die da in der Auswahl waren, jetzt namentlich oder persönlich
kennenlernte, weiß ich nicht.

Die Arbeitnehmervertreter im Personalausschuss hätten zusammen mit dem Auf-


sichtsratsvorsitzenden, dessen Stellvertreter und dem Gewerkschaftsvertreter in
Kontakt gestanden bezüglich der Vorstandsbestellung. Dieser Kontakt sei jedoch
stets irregulär und stets nur bilateral gewesen. Der Personalausschuss als Ausschuss
habe hier nie getagt. So sei der Prozess stückweise vorangegangen, es habe immer
wieder einen neuen Zwischenstand gegeben, bis schließlich klar war, wer genom-
men werden würde. Die Nachfrage, ob der Befragte andere Kandidatenvorschläge
kennengelernt habe, verneint er. Allerdings wird die Möglichkeit eingeräumt, dass
der Vertreter der Gewerkschaft andere Kandidaten kennengelernt habe. Genau
wisse er, der Befragte, dies jedoch nicht, zumal der Gewerkschaftsvertreter stets
gesagt habe, dass er die anderen Kandidaten namentlich nicht habe kennenlernen
wollen.
An dieser Passage zeigen sich einige wesentliche Merkmale, die kennzeichnend
für das vorliegende Unternehmen sind. Zwar ist eine Vorabstimmung gerade in
so wesentlichen Fragen wie einer Vorstandsbestellung nichts Ungewöhnliches,
vielmehr regulär. Auffällig ist hingegen der hohe Grad der Informalität und der
vollständig fehlende Kontakt mit „externen“ Anteilseignervertretern. Die Ab-
stimmung, so scheint es, läuft hier ausschließlich zwischen den „Internen“ ab, den
228 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Arbeitnehmervertretern und dem Aufsichtsratsvorsitzenden. Jeglicher Kontakt mit


„Externen“ wird vermieden. Freilich heißt die Tatsache, dass die Arbeitnehmer-
vertreter keinen Kontakt mit den „externen“ Anteilseignervertretern haben, nicht,
dass der Aufsichtsratsvorsitzende keinen solchen hatte. Für die Praxis der Unter-
nehmensmitbestimmung jedoch ist dieses Vorgehen bezeichnend: Die Externen
werden in der Abstimmung der beiden Seiten komplett außen vor gelassen. Die
Unternehmensmitbestimmung ist eine „interne“ Angelegenheit.
Darüber hinaus wird in diesem Zitat auch die Stellung der Gewerkschaft noch
einmal deutlich. Während oben nur ein Anspruch der Gewerkschaftsvertreter
demonstriert werden konnte (S. 126 f.), ist in diesem Zitat klar erkennbar, dass den
Gewerkschaftsvertretern vonseiten der betrieblichen Arbeitnehmervertreter letzt-
lich eine zentrale Stellung zugemessen wird. Obwohl der Gewerkschaftsvertreter
weder stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender noch Mitglied im Personalaus-
schuss ist, wird es von Mitgliedern des Personalausschusses wie selbstverständlich
akzeptiert, dass der Gewerkschaftsvertreter letztlich den Prozess bestimmt und alle
anderen Arbeitnehmervertreter darüber im Unklaren lässt. Denn hier wird sowohl
die Möglichkeit eingeräumt, dass der Gewerkschaftsvertreter andere Kandidaten
gekannt hat, als auch die Tatsache hingenommen, dass man als Mitglied des Perso-
nalausschusses darüber keine Kenntnis hat.
Die Rolle der Gewerkschaftsvertreter als Korrektiv der Arbeitnehmerseite ist
akzeptiert – das wird hier deutlich. Die Gewerkschaft beeinflusst Entscheidungen
nach eigenem Ermessen und als betrieblicher Arbeitnehmervertreter weiß man lie-
ber nicht so genau, was eigentlich sonst noch für Möglichkeiten im Raum standen.
Dieses Unwissen hat das Potenzial, die Rollentrennung auf der Arbeitnehmerbank
zu supplementieren: Man weiß, dass eine politisch unangenehme Entscheidung ge-
troffen werden muss. Da man sie aber selbst aus politischen Gründen nicht treffen
kann, überlässt man die Aushandlung den Gewerkschaftsvertretern, die schließlich
eine Entscheidung an die Betriebsräte weiterreichen. Diese kann dann als politi-
scher Sieg verkauft werden, da man nicht weiß, was die Alternativen waren.
Konflikte zwischen Arbeitnehmervertretern und Management bleiben dabei
auf jeden Fall Sache der „Internen“. Sie werden zwischen den „Internen“ ausge-
tragen, aber, sobald es zu Kontakt mit „Externen“ kommt, unsichtbar (Interview
Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Ja. Ja, ja. Bis zum Tage der Aufsichtsratssitzung hat das [Vorstandsbestellung]
also keiner gewusst, das ist völlig unüblich in Deutschland-
Interviewer: Ja.
Befragter: Hier wird so viel gequatscht.
Interviewer: Ja.
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 229

Befragter: Aus verschiedenen Gremien heraus bei uns (.) kam auch keiner der Mitarbei-
tern (.) Da hatte ich ein bisschen Sorge. Der Mitarbeitervertreter, also der im Aufsichtsrat
oder auch der Gewerkschaft, dass die (..) – die ja einen Hang haben zur lokalen Presse (.)
sich gerne mal erwähnt hören, wenn sie die Zeitung aufschlagen: Guck mal, Mami! Ich
stehe wieder in der Zeitung! (.) Nichts war (.) und (.) das ist so ein bisschen auch äh (.)
der Stil von [Süddeutsche Chemie AG]. Ja? Wir haben einen ganz besonderen Stil. (.) Der
beruht auf sehr, sehr große Vertraulichkeit, aber auch zu großer Informationsbereitschaft
vonseiten des Managements gegenüber den Vertretern der Mitarbeiten. Das wird dann
so ein bisschen zurückgezahlt und – äh – das hat sich jetzt wieder bewährt. Also, ich bin
von vielen Kollegen angesprochen worden, die mir gratuliert haben und gesagt haben:
Also, bei uns (..) glaube ich, wäre das nicht so gewesen. Nicht? Und wenn Sie sehen, wie
beispielsweise bei [anderes Unternehmen] darüber in der Öffentlichkeit geregelt wird –
äh – geredet wird, wer denn nun Nachfolger von Herrn [Vorstand] wird und dass ein
externes Institut mit beauftragt worden ist. (.) Das gibt´s bei uns nicht. Das heißt (.)
nicht – geht nicht an die Presse. Das gibt es, aber es geht nicht an die Presse. Also (.)-
Interviewer: Woran – glauben Sie – liegt das?
Befragter: Na, ich glaub, hier ist eine gewisse (..) Vertraulichkeit, gewisse Mentalität.
Die Arbeitnehmer haben das Gefühl, sie werden sehr, sehr früh einbezogen in den Ent-
scheidungsprozess. Ja? Ich habe denen gesagt: Schaut euch den Mann an! (.) Wenn ihr
alle dagegen seid, dann haben wir ein Problem! Ich möchte einen Vorstandsvorsitzenden
haben, der von allen getragen wird. Von allen gewählt wird. So! Sprecht mit dem. Stellt
eure Fragen.

Von der Vorstandsbestellung habe die Öffentlichkeit erst erfahren, als der neue
Vorstand tatsächlich bestellt worden ist. Dies sei völlig unüblich. In anderen Unter-
nehmen gingen die Arbeitnehmervertreter häufig zuvor an die Öffentlichkeit, was
im Fall der Süddeutschen Chemie AG undenkbar sei. Hier herrsche ein hoher Grad
an Vertrauen. So könnten die Arbeitnehmervertreter bei jeder Entscheidung früh
einbezogen werden. Hier werde dann Einigkeit erreicht.
Auffällig ist hier der Vergleichshorizont, der Verwendung findet. Der Aufsichts-
ratsvorsitzende bezieht sich auf Managementkollegen aus anderen Unternehmen,
denen gegenüber sein eigenes Unternehmen als überlegen erscheint. Wären dort
die Arbeitnehmervertreter als unzuverlässig und verantwortungslos erscheinen
(„Guck mal, Mami! Ich stehe wieder in der Zeitung“), sind sie im Fall der Süddeut-
schen Chemie AG zuverlässig und verantwortungsvoll. Dabei erscheint hier auch
wieder die Differenz der „Internen“ gegenüber den „Externen“: Der Aufsichtsrats-
vorsitzende ordnet sich und die Arbeitnehmervertreter klar dem Unternehmen zu.
Es ist ein gemeinsamer „Stil“, der gepflegt wird. Dieser „Stil“ verbindet die „Inter-
nen“. Er ist etwas, das sich nicht durch formale Mitgliedschaft erreichen lässt. Ähn-
lich wie im Fall der Dortmunder Petrol muss man im Unternehmen sozialisiert
sein, es „geatmet“ haben (vgl. S. 178 f.).
230 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Eine Auseinandersetzung mit den „Externen“ scheint dann überflüssig (Inter-


view Gewerkschaftsvertreter 2):

Befragter: Also ich habe jetzt noch nie einen direkten Kontakt gesucht, mit dem äh, mit
einem Vertreter auf der Arbeit- äh auf der Arbeitgeberseite. Denn, also wenn-wenn,
dann machen wir unsere-unsere äh Geschichten da mit [Süddeutsche Chemie AG], mit
dem Vorstand.
Interviewer: Okay.
Befragter: Äh (..) und äh (.) das könnte mal in Notfällen passieren. Also wenn wirklich,
was heißt Notfällen, also wie bei so Geschichten, wie-wie-wie [Verkauf Unternehmens-
sparte] oder so etwas, bei grundsätzlichen Umstrukturierungen. Da würde man natür-
lich schon mal äh, es kann auch sein, dass im Vorfeld, aber [Kauf Unternehmen] ging,
glaube ich, sehr schnell. Da ist es vorher, glaube ich, so viel in äh der Richtung auch nicht
gelaufen. Äh ja, nein, also ich habe jetzt noch nie, das…

Kontakt mit den Anteilseignervertretern habe er noch nie gesucht, da er alles mit
dem Vorstand regele. In absoluten Ausnahmefällen sei das zwar denkbar. Doch
auch im Fall des Kaufs eines Unternehmens habe er sich auch nicht wirklich mit
den Anteilseignervertretern besprochen.
Für die „Internen“ erscheint der Aufsichtsrat entsprechend als ein nutzloses
Gremium. Alle interessanten Fragen werden unter den „Internen“ geregelt. Eine
Diskussion mit den „Externen“ ist überflüssig, da diese letztlich eine irrelevante
Residualkategorie bilden.
Dies stellt sich interessanterweise aus Perspektive der „Externen“ nicht viel an-
ders dar. Wo es damit aufseiten der „Internen“ eine klare Selbstbeschreibung, ein
klares Konzept der eigenen Identität und einen regen Austausch gibt, wird im Auf-
sichtsrat aufseiten der „Externen“ jede Form der Abstimmung verhindert (Inter-
view Prüfungsausschussvorsitzender):

Interviewer: Was ich ganz spannend finde, Sie haben bei [Süddeutsche Chemie] ja keine
Anteilseignervorbesprechung.
Befragter: Doch.
Interviewer: Doch?
Befragter: Ja keine formale, aber zu bestimmten Themen haben wir eine.
Interviewer: Okay. Wie läuft so was denn ab? Wie muss man sich das vorstellen?
Befragter: Ja das ist wenn-wenn also nur anlassbezogen. Und da muss ich überlegen,
was wir für einen Anlass hatten, ob wir überhaupt schon eins hatten. (…) Ja irgendein
ein, zwei, aber ich habe es vergessen. Also wenn Anlässe sind. (…) Immer wenn es um
(.) größere oder mittelgroße, größere Akquisitionen geht, ja. Wenn es um Umstrukturie-
rung des Unternehmens geht. Wird immer eine Anteilseignervorbesprechung. Da wird
auch formell, informell vorher gesprochen. Wir haben keine Institution. Ich finde das
auch richtig, dass man nur welche macht, wenn es einen Anlass dazu gibt. Das war
auch bei [anderes Unternehmen] so. Da gab es meistens Anlässe, aber auch bei [weiteres
Unternehmen], bei anderen, da gibt es das eben nur, wenn im Personal ist immer eins.
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 231

Änderungen im Vorstand ist immer etwas, was vorher mit den Anteilseignern auch in
der Gruppe und individuell besprochen wird.

Die Proposition des Interviewers, dass es bei der Süddeutschen Chemie AG keine
Vorbesprechungen auf Anteilseignerseite gebe, wird vom Befragten abgelehnt. Es
gebe zwar keine formalen, jedoch informelle Vorbesprechungen. Auf Nachfrage
gibt der Befragte an, dass es Vorbesprechungen immer nur bei besonderen Anläs-
sen gebe, ihm jedoch kein solcher Anlass bei der Süddeutschen Chemie AG einfal-
le. Bei zwei anderen Unternehmen, mit deren Aufsichtsrat er vertraut sei, komme
es regelmäßig zu solchen Vorbesprechungen. Neuerungen im Vorstand würden
immer vorher besprochen.
Interessant ist, dass der befragte Anteilseignervertreter ganz offensichtlich die
Erwartung hat, dass es regelmäßige Vorbesprechungen gibt, ihm allerdings kein
Beispiel einfällt, obwohl es verschiedenste Anlässe in der jüngeren Firmengeschich-
te gegeben hätte. Vielmehr muss er Anlässe aus anderen Unternehmen heranzie-
hen. Dies legt die Vermutung nahe, dass es letztlich kaum Abstimmungsroutinen
auf Anteilseignerseite jenseits individueller Gespräche mit dem Aufsichtsratsvor-
sitzenden gibt. Gemeinsame Diskussionen scheinen kaum vorzukommen. Wenn
sie denn doch vorkommen, so scheinen sie nicht weiter erwähnenswert. Vielmehr
haben sie dann vor allem die Funktion einer Legitimation von Entscheidungen, die
von den „Internen“ getroffen worden sind (Interview Anteilseignervertreter):

Befragter: Also es ist schon (.) und äh nach meiner Wahrnehmung, von anderen [ver-
gleichbaren Unternehmen], ist das, ist [Süddeutsche Chemie] wahrscheinlich mit das
Unternehmen, wo das am ruhigsten, am vorhersehbarsten läuft.
Interviewer: Empfinden Sie das als positiv, also…?
Befragter: Äh nicht immer.
Interviewer: (unklar)
Befragter: Nee, nicht immer.
Befragter: Nee, also ich habe, äh da laufen ja immer diese-diese-diese selbst äh-äh Din-
ger da rum [Evaluationsbögen zur Effizienzprüfung des Aufsichtsrats], wo man sich
einträgt und da habe ich schon öfter mich darüber mokiert, nicht, äh dass ich äh (..)
also zum Beispiel, als es jetzt um die Neubestellung des neuen Vorstandsvorsitzenden
ging, nicht, da gab es dann am Abend vor der Aufsichtsratssitzung zum ersten Mal eine
Anteilseignervorbesprechung. Und – war das am Abend vorher, sogar am Morgen vor-
her, ich glaube, das war am Abend vorher – wo der uns über, äh wo der uns vorgestellt
wurde, nicht und okay äh und in diesem Gespräch stellte ich fest, dass Herr [Gewerk-
schaftsvertreter] den schon lange ihn vorgestellt bekam, nicht und da haben wir, äh das
fand ich dann doch ein starkes Stück.
Interviewer: M-hm, das heißt, Sie wussten, sozusagen wussten Sie an dem Abend auch
erst, dass äh diese Person als Kandidat zur Verfügung steht?
Befragter: Ja, das können Sie jetzt, jetzt können Sie das, zweierlei Art und Weisen kön-
nen Sie das jetzt b-b-beurteilen. Sie können sagen, Mensch, fantastisch gemanagt durch
232 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

die beiden und das muss man auch so sehen, wenn man sich überlegt, dass in allen
anderen Fällen in Deutschland, eine monatelange Diskussion um, wer wird der Nach-
folger stattfindet.
Interviewer: Ja.
Befragter: Ist es ein Interner, wer käme von außen infrage, dann kommt plötzlich dieser
Name da rein (unklar) dann wird der von der Presse fertiggemacht und irgendwie win-
ken sie dann ihren Kandidaten doch durch, letztens kriegt man ihn ja durch. Äh, das hat,
der Herr [Aufsichtsratsvorsitzender] und der Herr [Vorstandsvorsitzender] haben das
genial verhindert, zack war das in der Presse am nächsten Tag und alle waren begeistert.

Der Aufsichtsrat der Süddeutschen Chemie AG sei am unaufgeregtesten im Ver-


gleich zu anderen Unternehmen, was er im Rahmen der Effizienzprüfung auch
schon häufiger moniert habe. So habe es am Abend vor der Bestellung des neuen
Aufsichtsratsvorsitzenden das erste Mal eine Anteilseignervorbesprechung gege-
ben, in deren Verlauf er festgestellt habe, dass der Kandidat die Arbeitnehmer-
vertreter längst kennengelernt habe. Dies könne man jedoch freilich auch positiv
bewerten. Denn in jedem anderen Unternehmen wäre eine solche Bestellung viel
aufwendiger und problematischer.
Die Abstimmung mit den Anteilseignervertretern erscheint hier nur als Forma-
lie. Den „Externen“ wird der Kandidat der „Internen“ kurz vor der Aufsichtsrats-
sitzung präsentiert, auf der er bestellt werden soll. Einwände sind hier gemäß den
geltenden Konventionen nicht mehr anzubringen. Die Vorbesprechung ist damit
letztlich nichts anderes als eine reine Information der „Externen“ über eine Ent-
scheidung, die schon längst gefallen ist. Dies führt zum einen zu einer Erwartungs-
enttäuschung, die zu Beginn der Passage deutlich wird. Gleichzeitig führt es jedoch
auch zu Anerkennung für ein effizientes Management seitens des Aufsichtsrats-
und des Vorstandsvorsitzenden. Die Autorität dieser beiden Personen wird restlos
akzeptiert: Die „Internen“ entscheiden – und man selbst stimmt als „Externer“ zu
– selbst wenn man später informiert wird als ein Arbeitnehmervertreter, der ei-
gentlich auf der anderen Seite steht.
Wie die Aufsichtsratssitzung selbst verläuft, macht der Aufsichtsratsvorsitzende
deutlich:

Befragter: So. Und dann – äh – kam die Sitzung. Dann habe ich gesagt- Punkt Eins
war wiederum Vorstandsangelegenheit. Ich sage: Meine (..) Damen und Herren, Sie
haben alle Herrn [Kandidat für den Vorstandsvorsitz] kennengelernt. Besteht noch
Diskussionsbedarf? Nein. Ich sage: Können wir abstimmen direkt? Ich sag: Können wir
abstimmen? Wer ist dagegen? Enthaltung? Einstimmig. Kommen Sie rein. Es wurde im
Aufsichtsrat beschlossen, Sie werden der neue Vorstandsvorsitzender.

Er habe die Sitzung begonnen, den Punkt der Bestellung des Vorstandsvorsitzenden
aufgebracht, festgestellt, dass es keinen Diskussionsbedarf und in der Abstimmung
4.4 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“ 233

weder Gegenstimmen noch Enthaltungen gegeben habe. Daraufhin habe er den


neuen Vorstandsvorsitzenden hineingebeten und diesem die Entscheidung mitge-
teilt.
Generalisierter äußert sich ein Anteilseignervertreter:

Befragter: Das gibt es auch, ich weiß, ja-ja äh (.) muss mal nachdenken, wo habe ich
das erlebt oder wo erlebe ich das? (..) Das erlebe ich bei der [Unternehmen], ne, also
da-da-das ist äh eine-eine Tochtergesellschaft von der [Unternehmen], also die heißt
[Unternehmen]. Also hier äh ist es eindeutig, ne, dass es viel äh, das ist viel interessanter,
spannungsgeladener und typischer.
Interviewer 1: M-hm.
Interviewer 2: M-hm.
Befragter: Das hier ist die Harmonie (.) und äh das ist auch äh und-und das sagt eigent-
lich alles.

Im Vergleich zu einem anderen Aufsichtsrat, in dem er sitze, verliefen die Sitzungen


bei der Süddeutschen Chemie AG harmonisch. Demgegenüber sei dort alles viel
„interessanter, spannungsgeladener und typischer“.
Beide Zitate geben wohl einen Eindruck davon, was Aufsichtsratsarbeit im Fall
der Süddeutschen Chemie AG bedeutet: Zwischen den „Internen“ wird eine Ent-
scheidung getroffen, die den „Externen“ vor allem mitgeteilt wird. Diese akzeptieren
die getroffene Entscheidung im Rekurs auf die Autorität des Aufsichtsratsvorsit-
zenden, dem niemand ein „X für ein U“ vormacht. Die Aufsichtsratssitzung selbst
ist dann nichts anderes mehr als eine formale Verabschiedung dieser Entscheidung.
Alle sind einer Meinung: die Arbeitnehmervertreter mit Vorstand und Aufsichts-
ratsvorsitzendem, weil sie frühzeitig in die Abstimmung eingebunden wurden, die
Anteilseignervertreter, weil die Autorität des Aufsichtsratsvorsitzenden den Weg
vorgibt.
Zusammenfassend ließe sich sagen, dass der Aufsichtsrat hier als Aufsichtsgre-
mium kaum noch existiert. Anders noch als im Fall der Dortmunder Petrol, die
noch eine Spaltung des Gremiums in „Interne“ und „Externe“ kannte, ist der Auf-
sichtsrat hier nur noch Arena der „Externen“, die den Entscheidungen der „Inter-
nen“ zustimmen. Unternehmensmitbestimmung ist damit auch komplett aus dem
Aufsichtsrat ausgelagert und in das Unternehmen hinein verlagert, was wohl auch
ein Modell der Sphärentrennung wie im Fall der Dortmunder Petrol verhindert.
Die Differenz von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ist wie dort auch eine Binnen-
differenzierung der „Internen“ und damit kein Problem des Aufsichtsrats. Intern
wird diese Differenz dabei mit einer starken wirtschaftlichen Orientierung abgear-
beitet. In Person der Gewerkschaftsvertreter schließt die Arbeitnehmervertretung
Probleme der Wirtschaftlichkeit in sich selbst ein und verhindert damit eine klare
Positionierung als Opposition. Wo die Arbeitnehmervertretung der Dortmunder
234 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Petrol über das Modell der Sphärentrennung von Aufsichtsratsarbeit und betrieb-
licher Mitbestimmung Anschlussfähigkeit für das Management produziert hat,
geschieht dies hier über das Modell der Rollentrennung: Immer wenn die betriebli-
chen Arbeitnehmervertreter aufgrund politischer Interpretationen wirtschaftliche
Betrachtungen für das Management in einem nicht mehr nachvollziehbaren Grad
vernachlässigen, springt die Gewerkschaft als Korrektiv ein und stellt Anschlussfä-
higkeit sicher.

4.4.3 Zusammenfassung

Die Aufsichtsräte des Typs 3 weisen eine ungewöhnliche Struktur auf, da hier die
Unterscheidung zwischen Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretern durch eine
zweite Unterscheidung überlagert wird: Die „Internen“ stehen hier den „Externen“
gegenüber. Dabei entsteht die erste Gruppe aus Arbeitnehmer- und Anteilseigner-
vertretern, die gut mit dem Unternehmen vertraut sind (Letztere häufig ehemalige
Vorstände). Die „Externen“ sind all jene Aufsichtsratsmitglieder, die nicht in die-
sen Zirkel gehören und an der Entscheidungsfindung nur bedingt beteiligt sind.
Es wird so eine Kontextur geschaffen, die als Positivstruktur die Vertrautheit mit
dem Unternehmen schafft und im Negationsbereich die Nicht-Vertrautheit mit
dem Unternehmen sieht. Entscheidungsfindung wird innerhalb der Positivstruk-
tur betrieben.
Die Arbeitnehmervertreter betrachten sich im vorliegenden Fall als der Unter-
nehmensführung weit näher als jene des Typs 2, geschweige denn des Typs 1. Ihre
Aufgabe sehen sie darin, dass die Perspektive der Arbeitnehmer beachtet wird. Sie
betrachten sich jedoch nicht als Opposition gegenüber dem Management, sondern
eher als Teil desselben. In diesem Sinne sehen sie sich eher als kompetente Auf-
sichtsräte, die besonders mit Fragen des Betriebs vertraut sind. Als solche besteht
ihre Aufgabe darin, die Anteilseignervertreter immer wieder auf ihre Perspektive
aufmerksam zu machen, jedoch eher als fachliche Aufmerksamkeit als im Sinne
einer politischen Forderung. Sie sehen sich damit selbst eher als spezialisierter
Teil des Managements denn als Interessenvertreter gegenüber dem Management.
Arbeitnehmervertretung ist damit ein spezifischer Teil der Positivstruktur der „In-
ternen“.
Die Anteilseignervertreter hingegen weisen eine ähnliche Orientierung wie in
Typ 2 auf, bilden jedoch einen engen Kern aus, der im Unternehmen selbst sozia-
lisiert worden ist. Häufig handelt es sich um ehemalige Vorstände. Diese grenzen
sich bewusst von Anteilseignervertretern ab, die keine solche Vorgeschichte ha-
ben und mit dem Unternehmen nicht in derselben Form vertraut sind. Stattdessen
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 235

betrachten sie die Arbeitnehmervertreter als kompetente Partner der Unterneh-


mensführung. Anteilseignervertretung ist damit primär Sache der „Internen“. Gibt
es keine „internen“ Anteilseignervertreter, wird die Entscheidungsfindung in eine
Sphäre der „Internen“ verlegt, die aus Arbeitnehmervertretern und Vorständen be-
steht. Die „externen“ Anteilseignervertreter des Aufsichtsrats stimmen dann nur
noch formal zu.
Diese Kombination führt in der Zusammenarbeit zu einem engen Kreis der
„Internen“. Diese bestehen aus dem Vorstand, aus einigen Arbeitnehmervertretern
und denjenigen Anteilseignervertretern, die aus dem Unternehmen selbst stam-
men (hierbei kann es sich unter Umständen nur um eine Person handeln). Dieser
Differenz zwischen „Internen“ und „Externen“ ist die Differenz zwischen Arbeit-
nehmer- und Anteilseignervertretern nachgeordnet. Die Differenz von Wirtschaft
und Politik wird damit auch eine Art sekundäre Struktur. Entscheidungen werden
von den „Internen“ gemeinsam vorangetrieben. Dabei erscheinen Arbeitnehmer-
interesse und wirtschaftliche Rationalität weniger konkreten Personen zugeordnet
– es sind nicht Anteilseigner- und Arbeitnehmervertreter, die je für eine Seite zu-
ständig sind – denn vielmehr als Dimensionen einer Entscheidung, die gemeinsam
erwogen wird. Ist hier eine Entscheidung weitgehend festgezurrt, wird sie in den
Kreis der „Externen“ gereicht (dies kann unter Umständen wie im Fall der Süddeut-
schen Chemie AG beinahe der gesamte Aufsichtsrat sein), die diese dann formal
beschließen.
Die Entscheidungen des Aufsichtsrats sind hier entsprechend fast immer ein-
stimmig und im Sinne der „Internen“ beschlossen. Kommt es dennoch zu Gegen-
stimmen oder gar dazu, dass der Aufsichtsratsvorsitzende seine Doppelstimme
zieht, so ist dies Folge eines gemeinsamen Beschlusses der „Internen“. Beide Seiten
beschließen, dass die Rollen von Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreter, die
hier als externe Zwänge erscheinen, eine gemeinsame Position nicht zulassen und
nehmen entsprechend außerhalb des Kreises der „Internen“ dann diese Rollen ein.
Die Entscheidung, so zu verfahren, ist dann jedoch wieder eine gemeinsame Ent-
scheidung der „Internen“.

4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft

Die Unternehmen des Typs 4 unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von
den bisher vorgestellten Unternehmen. Während den Aufsichtsräten der Typen 1,
2 und 3 bei allen Unterschieden doch gemein ist, dass die Arbeitnehmervertreter
eine eigene Position haben und Träger des Politischen sind – wie auch immer dies
im Einzelfall definiert wird – fehlt den Arbeitnehmervertretern hier ein solches
236 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Eigengewicht. Vielmehr sind es im vorliegenden Fall die Anteilseignervertreter,


denen sowohl die Hoheit über die wirtschaftliche als auch über die politische Kon-
textur obliegt. Die Anteilseignervertreter entscheiden, während die Arbeitnehmer-
vertreter sich ausschließlich als Informationsquellen für „die Experten“ betrachten,
die diese Informationen verwenden. Die Entscheidungen der Anteilseignervertre-
ter gelten dann sowohl als ökonomisch rational wie auch als politisch legitim.
Möglich wird dies durch zweierlei Konstruktionen. Im ersten Fall – hier vertre-
ten durch die Merz Services AG – reflektieren die Anteilseignervertreter die po-
litische Dimension ihrer Entscheidung mit. Sie sehen sich verantwortlich für die
Mitarbeiter im Unternehmen und ihr Wohlergehen, erkennen die Sorgen der Ar-
beitnehmervertreter als legitim an. Gleichzeitig behalten sie es sich jedoch vor, über
den angemessenen Umgang mit diesen Sorgen zu entscheiden. Es ist Konsens, dass
man sich um die Arbeitnehmer kümmern muss – wie dies geschieht, entscheiden
jedoch die Anteilseignervertreter. Die Einheit von Politik und Wirtschaft wird hier
also aufseiten der Anteilseignervertreter sichergestellt.
Die Alternativkonstruktion funktioniert durch die Gleichsetzung von politi-
scher Legitimität und wirtschaftlichem Erfolg. Aus Sicht der Arbeitnehmerver-
treter ist politisch das legitim, was den Erfolg des Unternehmens garantiert. Die
Einheit von Politik und Wirtschaft aufseiten der Anteilseignervertreter geschieht
hier also durch die Reflexionsleistung auf Arbeitnehmerseite, die wirtschaftlichen
Erfolg und politische Legitimität identifizieren.
Empirisch taucht diese Form der Mitbestimmungspraxis entweder in Unter-
nehmen auf, in denen eine Gründerfigur oder eine Familie noch starken Einfluss
hat. Die Familie hält hier in der Regel einen großen Teil der Aktien und bestimmt
maßgeblich die Unternehmensführung. Dies gibt insbesondere die Möglichkeit ei-
ner stärkeren Beachtung von Arbeitnehmerinteressen. Klassisch könnte man hier
von patriarchalischen Strukturen reden. Alternativ tritt dieser Typ in Unterneh-
men auf, die drittelmitbestimmt sind und nur einen geringen gewerkschaftlichen
Organisationsgrad aufweisen. Der Fall der Nürnberger Handelsgesellschaft steht
repräsentativ für diese Art von Unternehmen.
Darüber hinaus weisen die meisten Unternehmen dieses Typs eine relativ gute
wirtschaftliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten auf, in einigen Fällen je-
doch auch immer wieder Krisen, die Restrukturierungen oder Verkäufe von Unter-
nehmensteilen nötig gemacht haben. Somit scheint eine gute wirtschaftliche Ent-
wicklung der Unternehmen zwar begünstigend, jedoch nicht entscheidend zu sein.
Wesentlich hingegen scheint die Branchenzugehörigkeit zu sein. Denn sämtli-
che Unternehmen, die klar in diesen Typus fallen, sind Unternehmen der Dienst-
leistungsbranche. Zwar hat das Sample auch ein stark familiengeprägtes Unterneh-
men der verarbeitenden Industrie aufgewiesen, in dem die Arbeitnehmervertreter
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 237

der Familie einen hohen Grad an Verantwortlichkeit und Kompetenz attribuierten.


Jedoch blieb das Eigengewicht der Arbeitnehmervertretung hier noch bestehen.
Das Unternehmen wäre eher dem Typ 2 zuzuordnen gewesen.

4.5.1 Merz Services AG: Die Einheit von Wirtschaft und Politik


in der Familie

Bei der Merz Services AG handelt es sich um ein mittelgroßes Dienstleistungs-


unternehmen, das noch nicht sehr alt ist und in den letzten Jahrzehnten stark ge-
wachsen ist. Inzwischen ist es börsennotiert. Der Gründer hält zwar nicht mehr die
Mehrheit der Aktien, ist jedoch immer noch im Besitz des größten Aktienpaktes
und dominiert so informell den Aufsichtsrat. Der Aufsichtsratsvorsitzende reprä-
sentiert die Familie und genießt hohes Ansehen.
Die Mitarbeiter im Unternehmen sind kaum gewerkschaftlich organisiert. Es
gibt in den meisten Bereichen keine Betriebsräte und die betrieblichen Arbeitneh-
mervertreter kommen nicht über gewerkschaftliche Listen in den Aufsichtsrat. Sie
kandidieren als Einzelpersonen. Darüber hinaus sind auch direkte Vertreter der
Gewerkschaft im Unternehmen vertreten, die das Gesetz vorsieht.
Die Form der Praxis, die im vorliegenden Fall den Aufsichtsrat prägt, entstammt
dennoch der Geschichte des Unternehmens: Es entwickelte sich praktisch keine
Arbeitnehmervertretung, die ein Eigengewicht gegenüber den Anteilseignervertre-
tern hat. Vielmehr begreifen sich die Arbeitnehmervertreter als Assistenz des Ma-
nagements und der Anteilseignervertreter. Diese erscheinen als letzte Reflexions-
instanz, als „Experten“, denen nur die Sorgen der Arbeitnehmer berichtet werden
müssen, damit dann die richtigen Entscheidungen gefällt werden.
Auf der Anteilseignerseite wird diese Form der Zusammenarbeit getragen von
der stets mitgeführten Reflexion der möglichen Arbeitnehmerinteressen. Der Auf-
sichtsratsvorsitzende, der als „grand seigneur“ des Unternehmens eine quasi unan-
gefochtene Position hat, begreift sich in diesem Sinne als voll verantwortlich für das
Wohl seiner Mitarbeiter. Organisierte Arbeitnehmervertretung erscheint hier – wie
auch aus Sicht der Arbeitnehmervertreter – als Konsequenz von Managementver-
sagen. Werden Arbeitnehmerinteressen nur früh genug antizipiert, so der Konsens,
bedarf es auch keiner Vertretung von Arbeitnehmerinteressen.

4.5.1.1 Anteilseigner: Die Leute „fair behandeln“


Der Deutungsraum der Anteilseignervertreter ist auch im Fall der Merz Ser-
vices AG von denselben Merkmalen gekennzeichnet wie im Fall der bisher bespro-
chen Anteilseignerbänke: Auf der einen Seite muss der „Kompetenz“ der einzelnen
238 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Personen Rechnung getragen werden. Das heißt, es wird eine offene Diskussion
zwischen den Anteilseignervertretern gewährleistet; jedem wird Engagement und
Vermögen zugeschrieben und jede einzelne Person wird in ihrer Meinung ge-
würdigt. Darüber hinaus muss der Selbstdarstellung der Anteilseignervertreter
als autonome Entscheidungsfinder Rechnung getragen werden: Man lässt sich in
seiner Meinung nicht beirren. Gleichzeitig jedoch muss Entscheidungsfähigkeit
sichergestellt werden. Eine Situation, in der verschiedene Meinungen dazu füh-
ren, dass unterschiedlich abgestimmt wird, erscheint hier als nicht tragbar. Daher
wird auch hier letztlich Einstimmigkeit in der Entscheidungsfindung via Unter-
ordnung unter das Urteil des Aufsichtsratsvorsitzenden sichergestellt. Auch hier
wird Abweichung sanktioniert und Einstimmigkeit auch wider die eigene Meinung
als Instanz begriffen. Entscheidungsfindung – und damit die Möglichkeit der Dis-
krimination kontingenter Alternativen – muss ermöglicht werden. Dennoch zeigen
sich einige Unterschiede zu den bisher dargestellten Anteilseignerbänken. Der we-
sentliche Unterschied ist jedoch vielleicht in einer kurzen Aussage zu finden, die
der Aufsichtsratsvorsitzende (über lange Jahre Vorstandsvorsitzender und Vertre-
ter der Gründerfamilie, die einen großen Teil der Aktien hält) kurz nach dem mit
ihm geführten Interview getätigt hat. Er sagte: „Letztlich habe-habe ich den Laden
groß gemacht und es wird gemacht, was ich sage!“ – Die Familie bzw. der Vertreter
der Familie hat hier damit eine kaum anfechtbare Autorität, die von allen Beteilig-
ten akzeptiert wird. Dennoch lebt diese Machtkonstellation gerade davon, dass dies
nicht explizit gemacht wird. Somit ist einer der zentralen Punkte der vorliegenden
Positivstruktur der Anteilseignervertretung wie auch in allen anderen Gremien die
Anerkennung aller Beteiligten. So äußert sich der Aufsichtsratsvorsitzende in einer
exemplarischen Passage folgendermaßen:

Befragter: [Name], Finanzvorstand von [Firma], der Finanz-, ein Finanz- (.) -mann äh
also par excellence und äh (.)…
Interviewer: Mit dem führen wir übrigens auch ein Interview.
Befragter: Ja dann machen Sie das mal. Das ist doch gut, das äh, das ist doch gut. Und
der ist also richtig, also in Sachen Finanzen und so und (.) also da gibt es überhaupt gar
kein, nicht. Und wie er äh (.) mit Zahlen und (.), genau und das ist vor drei Jahren, woll-
ten sie das und jetzt sind sie da und wie denn und also vor- und rückwärts und hoch und
runter, nicht und Finanzierungen und so (.). Also da ist, kommt uns eine unglaubliche
(.) Menge an (.) Erfahrungen zusammen. Und dann ist drin Herr [Name], der ja nun bei
uns seit zehn Jahren im Aufsichtsrat ist. Der ein sehr-sehr kluger (.) Berater ist, vor allem
in allen ta-kapitalmarktrelevanten Angelegenheiten. Das ist/aber natürlich spielt das bei
uns zunehmend eine Rolle (.), bei Fi-, auch bei, für Finanzierungen, nicht.
Interviewer 2: Klar.
Befragter: Wir haben zurzeit jetzt vor allen Dingen einen ganz günstig äh finanziert
und haben jetzt also, wenn man von den Großunternehmen so mit die günstigsten Zin-
sen. Das läuft auch noch zwei Jahre, nicht. So (..) äh (.) und das ist aber nicht, weil wir
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 239

Aktien- oder Handelanleihen oder ob äh Bonds oder was rausgegeben haben, sondern
weil wir hier ein Konsortium mit Banken und nicht (.), also-also der hilft uns da sehr (.).
Äh und zwar durch Ideen und sagt halt, überlegt doch mal in die Richtung und denkt
da noch mal drüber nach (.) und der Dritte ist Herr [Name]. (.) Doktor [Name], der
[Firma] aufgebaut hat. Der einerseits unheimlich was vom Handel versteht (..), dann ein
unglaublich äh kluger Mann ist und äh Spaß an der Sache hat (.) und äh der auch sehr
gern, der-der war übrigens ja für den Finanzbereich da zuständig.

Der Vorsitzende des Prüfungsausschusses sei ein hervorragender Mann. Er ver-


stünde von Finanzen so viel wie kaum jemand sonst. Ebenso verhielte es sich mit
einem anderen Kollegen, der vor kurzem Mitglied im Aufsichtsrat geworden sei.
Dieser habe ein bekanntes Unternehmen mit groß gemacht und verstünde un-
heimlich viel von Handel.
Die Anerkennung der Fachkompetenz wird hier in einem Grad deutlich gemacht,
der sich in beinahe kaum einem anderen Unternehmen findet; die Kollegen erschei-
nen als Experten, gegenüber denen der Aufsichtsratsvorsitzende selbst verblasst.
Dies ist dabei nicht als reine Semantik zu verstehen, sondern handlungsleitende
Orientierung. So fühlen sich die Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat durchweg
außerordentlich gewertschätzt. Es ist selbstverständlich, dass jeder zu Wort kommt,
dass diskutiert wird und dass die Meinung jedes Mitglieds gehört und anerkannt
wird (Interview Anteilseignervertreter):

Befragter: (..) und dann [im Fall einer Restrukturierung] werden Entscheidungen eben
vorbereitet, vorgetragen, aber entschieden äh (..) nämlich [den Standort] umzugestalten
äh (..), das auch mit Beispielen äh, ich bring mich da insofern ‘nen bisschen mehr ein,
weil äh (.) ich nie ein [Experte in einem Fachgebiet] (.) ich geh dann zum Beispiel in [den
Standort] hinein vor und nach der Umstellung (.) mit dem, mit dem Bereichsvorstand.
Und wir gucken uns das an, jetzt bin ich kein [Produkt]experte, man muss aber auch
nicht immer nen Experte sein, sondern man muss wahrnehmen können, was-was tut
sich da und wie ändert sich das. Und dann ist man halt aus Kundensicht, allerdings als
[fachliche Spezialisierung] hat man das schon nen bisschen geübt, ja. Man fängt Stim-
mungen auf, äh und äh insofern, gehe ich also da noch nen Schritt weiter als nur im
Gremium da rumzudiskutieren. Ich möchte das also selber wissen. Und dann auch Rat
geben können, der dann auch sehr freudig akzeptiert wird, muss ich sagen.

Stehe eine Restrukturierung an, so der Befragte, schaue er sich den Standort an
und mache sich ein persönliches Bild. Auch wenn er kein spezielles Fachwissen in
diesem Bereich habe, so mache er sich hier ein Bild. Seine fachliche Expertise sei
gewünscht. Dieses bringe er dann im Aufsichtsrat ein und sein „Rat“ werde dann
auch immer „freudig akzeptiert“.
Hier zeigt sich zum einen ein überdurchschnittliches Engagement der Auf-
sichtsratsmitglieder auf der operativen Ebene. Nur in den allerwenigsten Fällen
240 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

komme es vor, dass Aufsichtsratsmitglieder allein in Standorten mit dem mittleren


Management reden. Zwar gibt es immer wieder Fälle, in denen ein Aufsichtsrat ge-
schlossen einen Standort besucht. Doch Besuche aus Eigeninitiative, die sich hier
zeigen, sind die Ausnahme. Dies deutet auf ein hohes Engagement hin. Dieses En-
gagement – und dies ist der zweite Punkt – wird, wie auch das Urteil der einzelnen
Aufsichtsräte der Anteilseignerbank, von diesen als gewollt und geschätzt wahr-
genommen. Man engagiert sich, man bildet sich ein Urteil und sagt seine Meinung,
wovon man vom Aufsichtratsvorsitzenden positives Feedback bekommt – so stellt
sich die Situation für die Anteilseignervertreter dar.
Dies heißt jedoch nicht, dass das Oppositionsverbot, dass in den bisher bespro-
chenen Anteilseignerbänken gilt, hier keine Gültigkeit hat. Vielmehr finden sich
auch im Fall der Merz Services AG alle diesbezüglich zentralen Motive (Interview
Anteilseignervertreter):

Befragter: Äh, wenn, daraus [kontroverser Vorschlag des Vorstands] ergibt sich ‘ne Dis-
kussion mit dem Vorstand und auch innerhalb des Aufsichtsrats (…), an dessen (..) äh
Sitzungen der Vorstand ja meistens teilnimmt, also nich zu allen Punkten, aber meistens
teilnimmt, äh äh (..), also solche Fragen, wollen wir das und wie viele? Aber wenn wir
das mal festgelegt ham, dann ist das der Rahmen innerhalb dessen der Vorstand selber
entscheidet. Und uns, (.) äh weil-weil die Diskussion davor, wollen wir so [Vorschlag
des Vorstands] oder nicht, die ging bestimmt nicht einfach jaja, sondern da gab‘s sicher-
lich Meinungsverschiedenheiten oder Austausch von Meinungen, da hat man gerungen
drum, ja will man kam zum Schluss raus, aber es wussten alle, es war keine leichte
Entscheidung und es gab Gegenstimmen (.) vielleicht auch. Zumindest während der
Diskussion.
Interviewer: Aber am Ende waren dann alle Anteilseigner einer Meinung?
Befragter: Das ist nich ‘ne Vorschrift, aber da wird drauf hin gearbeitet, dass zum Schluss
alle einer Meinung sind. Und äh das habe ich dann auch noch nicht erlebt, dass dann
jemand gesagt hätte, wenn‘s dann in die Hosen ging, was ja auch passiert ist, dass dann
einer gesagt hat, ja ich hab doch damals schon gesagt.

Im Fall eines kontroversen Vorschlags des Vorstands habe sich eine Diskussion
entspannt, in der jeder seine Meinung gesagt habe. Die Meinungen seien dabei
keinesfalls einhellig gewesen und es sei „keine leichte Entscheidung“ gewesen.
„Zumindest während der Diskussion“ habe es auch Gegenstimmen gegeben. Auf
Nachfrage des Interviewers gibt der Befragte an, dass man auf eine gemeinsame
Meinung hinarbeite und es während seiner Zeit im Aufsichtsrat noch nicht gesche-
hen sei, dass jemand im Fall einer falsch getroffenen Entscheidung gesagt habe,
dass er es schon immer besser gewusst habe.
Deutlich wird hier das Oppositionsverbot. Zwar kann man „während der Dis-
kussion“ eine Gegenstimme haben. Diese Einschränkung deutet jedoch gleichsam
daraufhin, dass die Gegenstimme eben auf die Diskussion beschränkt ist. In der
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 241

Abstimmung ist sie nicht mehr legitim. Ebenso wenig ist es legitim, nach der Ab-
stimmung je wieder auf die eigene abweichende Meinung aufmerksam zu machen
– selbst wenn man Recht hatte. Die Entscheidung, einmal getroffen, ist Entschei-
dung aller Anteilseignervertreter und jeder Einzelne wird nur von den anderen
akzeptiert, so er sich an diese implizite Norm hält.
Aus der Perspektive des Aufsichtsratsvorsitzenden stellt sich dieser Sachverhalt
als Problem der Abweichung dar. Im Fall der Augsburger Maschinenwerke wird
dies mit der Semantik der „Egomanen“ gefasst (S. 129 ff.). Im Fall der Merz Services
AG wird die Semantik der „Krawallbrüder“ verwendet (Interview Aufsichtsratvor-
sitzender):

Befragter: Also (lacht) eine eierlegende Wollmilchsau, sodass man sagt, der [Kandidat
für ein Aufsichtsratmandat] müsste eigentlich so ein bisschen einerseits Unternehmer
sein (.), der müsste aber auch was verstehen äh, entweder vom Handel oder von Finan-
zen oder so, nicht. Also (.) zum Beispiel, also (.) so dann sagt man, so jetzt (.) jetzt (.)
jetzt gibt, nennen sie mal welche, nicht und jetzt (.) so und wer (.), wer passt dann auch
dazu. Es wäre ja auch, ist ja auch immer ganz gut, auch nicht, also dass man jetzt sagt,
das muss jemand sein, den man nahe kennt (.), aber muss zumindest wissen, dass man
keinen Krawallbruder da reinkriegt. Ne, also...
Interviewer: Klar.
Befragter: (…) oder irgendjemand (.), ein Wichtigtuer oder der da sich selbst äh pau-
senlos produzieren will und (.) große Reden hält oder so, nicht. Also man will ja sagen,
Mensch, also (.) der könnte passen und da hilft es natürlich immer, wenn Leute den
schon kennen.

Einen Kandidaten für ein Aufsichtsratsmandat, der alle Erwartungen erfülle, gebe
es nicht. Jeder habe nun einmal sein bestimmtes Profil. Wichtig sei es jedoch, dass
man diejenige Person kenne. Denn es dürfe keinesfalls ein „Krawallbruder“ no-
miniert werden, jemand, der nicht wisse, wann er zu schweigen habe, und immer
seine Meinung äußern müsse – auch dann, wenn sie nicht gefragt sei.
Das Motiv des „Egomanen“ wird hier aufgegriffen. Dabei wird deutlich, dass
die wesentliche Qualifikation eines Aufsichtsrats darin besteht, dass er an der rich-
tigen Stelle seine eigene Meinung zurückhält und sie eben nicht äußert. Jemand
wird auch in diesem Aufsichtsrat nur dann als qualifiziert betrachtet, wenn er in
einer kritischen Entscheidungssituation nicht auf seinem besseren Wissen beharrt,
sondern eben den Anspruch des Besser-Wissens zugunsten der Einstimmigkeit zu-
rückstellt. Paradoxerweise besteht die Anerkennung des fachlichen Besser-Wissens
auf einem bestimmten Gebiet damit nur, wenn man an den richtigen Stellen nicht
sagt, dass man etwas besser weiß. Andernfalls ist die fachlich qualifizierte Äuße-
rung dann keine fachlich qualifizierte Äußerung mehr, sondern eben nur Besser-
wisserei. Auch im vorliegenden Fall kommt es so zunächst zur Konstruktion der
242 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

einzelnen Anteilseignervertreter als Reflexionsinstanz mithilfe einer totalen undif-


ferenzierten Rejektion, die dann wieder unter dem Vorzeichen der einheitlichen
Meinung eingeklammert wird.
Entscheidungsfindung, das heißt die Wahl zwischen kontingenten Alternativen,
wird damit auch hier entsprechend durch die Meinung des Aufsichtsratsvorsitzen-
den sichergestellt. Dabei scheint gerade der verhältnismäßig hohe Grad an offener
Diskussion und Wertschätzung für die einzelnen Positionen der Anteilseignerver-
treter durch die unbestrittene Position des Aufsichtsratsvorsitzenden ermöglicht zu
werden (Interview Anteilseignervertreter):

Interviewer: Wenn Sie jetzt mal so, (.) äh ich sag mal so den Führungsstil oder wie immer
Sie das nennen wollen äh, mit dem Herr [Aufsichtsratsvorsitzender] da so ‘ne Sitzung,
ich mein er ist nun mal formal der Vorsitzende auch des Gremiums, wie macht er das?
Wie würden Sie das so äh (.), wie würden Sie ihn da charakterisieren und seinen Stil
beschreiben?
Befragter: Äh ich würd den Stil als äh gute Führung bezeichnen, das heißt also keine
solche Sprüche wie Team und äh kollegial (.). Natürlich ist es kollegial, ist offen, ehrlich,
gradlinig, äh freundlich. Er geht sehr souverän und sehr nett mit allen Menschen um,
bindet gerade auch die Arbeitnehmervertreter genauso ein. Also Sie haben nicht das
Gefühl, da sitzen zwei Bänke, und äh (.) dann ähm hat er ja insgesamt einen Prozess
hinter sich, der bei manchen nicht geht, er ist immer noch der grand seigneur des Unter-
nehmens, aber er spielt die Karte nicht.

Angesprochen auf den Führungsstil des Aufsichtsratsvorsitzenden äußert sich der


Befragte dahingehend, dass dieser sehr kollegial sei und nicht nur von Kollegialität
rede. Er sei „souverän“, „offen, ehrlich und gradlinig“ und habe die Fähigkeit, den
gesamten Aufsichtsrat hinter sich zu bringen. Er sei der „grand seigneur des Unter-
nehmens“, ohne dass er dieses jedoch artikulieren müsse.
Der wesentliche Punkt liegt dabei wohl in dem letzten Satz der Passage. In der
Formulierung, dass man es hier mit der grauen Eminenz des Unternehmens zu tun
habe, mit dem Spiritus Rector, dem heimlichen Herren, der hinter allem stehe, ist
die unangefochtene Position deutlich gemacht. Der Aufsichtsratsvorsitzende hat
selbstverständlich das letzte Wort, ohne dass er dieses überhaupt einfordern müsse.
Die zu Beginn des Abschnitts angesprochene Aussage im Nachgang des Interviews
mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden steht dann komplementär hierzu: Er sei der-
jenige, der das Unternehmen groß gemacht habe und daher habe er im Zweifelsfall
das letzte Wort. Dass diese Aussage nicht im Interview geäußert werden konnte
und dass sie auch erst infolge einigen Nachhakens hinsichtlich der offenen Diskus-
sionskultur gemacht wurde, gehört dann zu der Unausgesprochenheit dieses selbst-
verständlichen Anspruchs hinzu. Der Aufsichtsratsvorsitzende wird so praktisch
als eine Reflexionsinstanz konstruiert, die mit dem Unternehmen identisch ist –
quasi parallel zur Konstruktion der „Internen“: Er hat das Unternehmen „geatmet“.
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 243

Im Fall des vorliegenden Unternehmens wird dieser Anspruch auch vollständig


auf die Arbeitnehmer ausgedehnt (Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Ja wissen Sie, ob ich da [im Prüfungsausschuss] Mitglied bin oder ob ich da
Gast bin, ist eigentlich völlig gleichgültig. Äh wichtig ist, dass eigentlich die (unklar) kom-
men (.) äh, die da gemacht werden von Fachleuten, nicht. Und äh (.) ich finde es eigent-
lich ganz gut, wenn ich da als Gast dabei sitze, da brauche ich aber nicht Mitglied zu sein
und mir das anhöre und die ganzen Argumente dann (.), ich werde ja nicht mit je-, die
am Ergebnis konfrontiert, sondern ich äh bin ja Ta-, also nehme ja teil an den, spreche
auch, man kann natürlich auch als Gast was dazu sagen. (.) Und äh (.) tue das auch von
Zeit zu Zeit (.). Also das ist überhaupt gar kein Problem.
Interviewer: Okay.
Befragter: Nicht? Da (.) äh gar keins, also (.) sondern da zählt es eigentlich nur, ich
meine, ob [der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende] da sitzt oder nicht sitzt, d- (.),
äh nicht, das ist egal, also jetzt mal unter uns gesagt, aber (.) äh der Aufsichtsratsvor-
sitzende ist schon (.) äh, ist schon aus dem Grund wichtig, dass er zumindest genau
informiert ist.

Ob er als Aufsichtsratsvorsitzender Gast im Prüfungsausschuss sei oder reguläres


Mitglied, mache keinen Unterschied, da die Arbeit dort von kompetenten Kollegen
erledigt werde und er auch mitdiskutieren könne. Ob der stellvertretende Auf-
sichtsratsvorsitzende dabei sei, sei gleichgültig, nicht aber, ob der Aufsichtsratsvor-
sitzende an den Sitzungen teilnehme.
Hier zeichnet sich eine klare Trennung ab. Während die Anteilseignervertreter
als kompetent beschrieben werden – sie sind „Fachleute“ – hält sich der Aufsichts-
ratsvorsitzende auch hier zurück. Er reklamiert keine offizielle Position für sich, da
seine Rolle als „grand seigneur“ fraglos ist. Der einzige Arbeitnehmervertreter, der
im Prüfungsausschuss sitzt – im Übrigen auch nur als Gast und nicht als reguläres
Mitglied – wird dagegen nicht als kompetent begriffen. Ihm wird keine Sprecher-
position innerhalb des ökonomischen Diskurses zugerechnet.
Wenn den Arbeitnehmervertretern hier auch die Kompetenz abgesprochen
wird, so wird ihnen doch eine gewisse Bedeutung zugemessen (Interview Auf-
sichtsratsvorsitzender):

Interviewer: Und die Arbeitnehmervertreter waren jetzt in der Entscheidung [Restruktu-


rierung eines Standorts] (.) relativ passiv oder wie muss ich mir das vorstellen?
Befragter: (.) Also wissen Sie, Unterne-, äh Arbeitnehmer äh (.) äh-äh haben ein Inter-
esse und das Interesse habe ich aber auch, (.) dass die Leute, die da sind, gut behandelt,
fair behandelt werden. Und dass, wenn dann Entscheidungen getroffen werden, dass
sehr klar und sehr deutlich und sehr (.) äh fair und offen kommuniziert wird. (.) Äh, das
heißt, denen geht es um die faire Behandlung der Mitarbeiter und am liebsten haben die
aber und am besten würden die es finden, wenn die bei uns im Unternehmen bleiben.
(.) So das, nicht, das ist...
244 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Interviewer: Klar.
Befragter: … so das sind die Interessen da, da können Sie aber (unklar) reden oder über
[Produkte] reden oder so, es ist immer dasselbe, ja, das ist also deren Interessenslage, so
(.) und äh deswegen befürworten die alles, was da (.), was in diese Richtung geht und wir
haben die Zusage gemacht (..), den äh Mitarbeitern, also so, dass (.), dafür stehe ich, dass
ich sage, hier kommen keine überraschenden Entscheidungen (.) und wenn, dann wird
das auch (.) sauber kommuniziert und wenn wir es verkaufen, wird es nur an jemand
verkauft, wo dafür gesorgt ist, dass die Mitarbeiter auch (.) dann vernünftig aufgehoben
sind, das ist uns in der Vergangenheit eigentlich auch immer gelungen.

Auf die Frage des Interviewers, wie die Arbeitnehmervertreter sich im Fall einer
anstehenden Restrukturierung verhalten hätten, antwortet der Aufsichtsratsvorsit-
zende, dass diese „fair behandelt“ werden wollten. Entscheidungen müssten „fair
und offen kommuniziert“ werden und man müsse dafür sorgen, dass für die Mit-
arbeiter sozialverträgliche Lösungen gefunden würden, selbst wenn die Entschei-
dung zum Verkauf getroffen würde.
Der Aufsichtsratsvorsitzende erhebt hier einen ungewöhnlichen Anspruch.
Denn wenn er den Arbeitnehmervertretern auch das Recht zugesteht, gewisse In-
teressen zu haben, so wird in der vorliegenden Passage doch deutlich, dass letzt-
lich er derjenige ist, der über die Angemessenheit der Arbeitnehmerinteressen
entscheidet. Denn „faires“ Verhalten gegenüber Arbeitnehmervertretern besteht
hier keinesfalls darin, dass diese frühzeitig in Diskussionen eingebunden werden
oder eine Verhandlung über bestimmte Interessen angestrebt wird. Es geht hier
nicht darum, dass man sich mit den Arbeitnehmervertretern zusammen an einen
Tisch setzt und verschiedene Positionen austauscht und einen Kompromiss findet,
in dem man von seiner eigenen Position ein Stück weit abrückt. Vielmehr sind
Arbeitnehmervertreter dann „fair behandelt“, wenn die Anteilseignervertreter und
das Management (letztlich wohl vor allem der Aufsichtsratsvorsitzende selbst) den
Arbeitnehmervertretern ihre Entscheidung offen und frühzeitig mitteilt. Eine Mit-
sprachemöglichkeit wird hier nicht vorgesehen.
Gleichzeitig jedoch wird hier auch die politische Dimension der Entscheidung
mitreflektiert. Es geht nicht darum, die ökonomisch beste Entscheidung durchzu-
drücken, sondern vielmehr eine Entscheidung zu treffen, die auch aus Perspek-
tive der Arbeitnehmervertreter tragbar ist („wenn verkauft wird, wird es nur an
jemanden verkauft, wo dafür gesorgt ist, dass die Mitarbeiter auch vernünftig auf-
gehoben sind“). Der Aufsichtsratsvorsitzende übernimmt damit selbst die poli-
tische Perspektive. Er ist darum besorgt, Entscheidungen zu treffen, die ebenso
wirtschaftlich tragbar wie auch politisch opportun sind. Seine Entscheidungen –
und damit die Entscheidungen der Anteilseignervertreter – sollen sowohl effizient
wie auch legitim sein. Damit beansprucht er die volle Definitionsmacht innerhalb
der politischen Kontextur. Arbeitnehmervertreter werden damit jedoch gleichsam
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 245

überflüssig, da sie keine Perspektive jenseits derjenigen der Anteilseignervertreter


zu formulieren vermögen und zudem nur einen verkürzten Blick haben: Arbeit-
nehmervertreter achten eben nur auf politische Legitimität, während er, der Auf-
sichtsratsvorsitzende, das Große und Ganze im Blick zu haben beansprucht.
Zusammenfassend ließe sich sagen, dass es auch hier wieder zu einer Konstruktion
kommt, in der die Anteilseignervertreter zuerst als eigene Kontexturen betrachtet,
dann jedoch unter dem Vorzeichen der Kompetenz des Aufsichtsratsvorsitzenden
wieder zusammengeführt werden. Die Reflexion auf die politische Dimension einer
Entscheidung ist bei diesem ausgeprägt. Arbeitnehmervertretung wird hier mit-
hilfe einer totalen differenzierten Rejektion als Reflexionsdimension konstruiert,
die beachtet werden will. Jedoch wird sie auch sofort wieder in die Reflexion der
Anteilseignervertreter eingeführt und in diesem Sinne wieder negiert: Das Arbeit-
nehmerinteresse ist ein Teil der Anteilseignervertretung, jedoch nichts, was außer-
halb ihrer stünde. Der Aufsichtsratsvorsitzende begreift sich damit nicht nur als
Entscheider über das Anteilseigner-, sondern auch über das Arbeitnehmerinteresse.

4.5.1.2 Arbeitnehmervertretung: Ein Ohr für die „Sorgen der


Mitarbeiter“
Die Anteilseignervertretung der Merz Services AG weist gewisse Parallelen zur
Anteilseignerbank der Hamburger Bankhaus AG auf. Hier wie dort besteht der
Anspruch, dass die Anteilseignervertreter wissen, was die richtige Entscheidung
ist und dass diese den Arbeitnehmervertretern nur noch mitgeteilt werden muss.
Während diese Position im Fall des Hamburger Bankhauses jedoch zu mittleren
Störungen im Verhältnis von Arbeitnehmer- und Anteilseignerbank führt, lässt
sich im vorliegenden Fall nichts Ähnliches feststellen. Vielmehr hat sich aufsei-
ten der Arbeitnehmervertreter eine völlig komplementäre Struktur herausgebildet.
Wenn sich auch eine Vielzahl abweichender Einzelorientierungen finden lassen,
so ist die Position des stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden hier diejenige,
die sich als Position der Arbeitnehmerbank behauptet (Interview stellvertretender
Aufsichtsratsvorsitzender):

Interviewer: Worauf muss man denn achten, um so eine Stellvertreter-Position gut zu


machen?
Befragter: Also ich denke schon, dass man sehr viel für Menschen übrig haben muss, ne.
Das ist jetzt, also die-die harten Sachen alles was so ist, das sitzt ja bei den Aktionärsver-
tretern, aber hier geht es einfach um die Menschen (..) Und Sie müssen sehr sozial einge-
stellt sein, ne (.) Es ist manchmal, es ist manchmal nicht einfach, dass muss ich sagen und
es ist auch schwerer geworden. (.) Die Zeit hat es schon jetzt gebracht, ne? Unruhe, die
Menschen haben Angst (.) Was meinen Sie jetzt los war äh wie (.) [branchenspezifisches
Beispiel] Ich meine, wir haben ja auch Maßnahmen ergriffen – Gott sei Dank früh-
zeitig. So, und da sind Ängste da, und da müssen Sie einfach ein offenes Ohr haben
246 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

(.) ja, Sie müssen, wenn die Mitarbeiter hier anrufen und haben Ihre Probleme, dann
müssen Sie versuchen das mit denen zu klären und (.) auch manchmal dann muss ich
dann zu Herrn [Aufsichtsratsvorsitzender] gehen (.) und-und-und oder auch zu Herrn
[Personalvorstand] oder ich sprech mit denen nur und sag „Hierarchien zu über- äh äh
schreiten ist das-das schlimmste was Sie tun. Sprechen Sie jetzt, der über Ihnen steht, und
wenn Sie da nicht weiterkommen (.) Sie wissen, Herr Vorstandsvorsitzender schreibt,
sagt immer „Sie können zu mir kommen“„ (.) ich sag „Dann dürfen Sie das auch tun,
wenn Sie die anderen alle mit ins Boot genommen haben“.

Als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender müsse man „viel für Menschen üb-


rig haben.“ Die Zeiten seien unsicher und die Menschen seien besorgt. Besonders
in der eigenen Branche sei es schlimm. In manchen Situationen müsse er daher
zum Aufsichtsratsvorsitzenden oder zum Personalvorstand gehen und diese Sor-
gen ansprechen. In anderen Situationen müsse er aber den Kollegen sagen, dass sie
zunächst mit ihren Vorgesetzten über die eigenen Sorgen reden sollten, und erst
wenn der korrekte Weg über die Hierarchien genommen worden sei, könne man
zum Vorstand gehen.
In dieser Passage werden die meisten wesentlichen Merkmale deutlich, welche
die Arbeitnehmervertretung der Merz Services AG auszeichnen. Zunächst ist fest-
zustellen, dass der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende sich weder in einer
Oppositionsrolle sieht noch sich der Unternehmensleitung zurechnet. Es wird
weder eine Oppositionsposition gegenüber dem Management bezogen noch sieht
der stellvertretende Vorsitzende seine Aufgabe in der Aufsichtsratsarbeit. Es geht
weder um Interessenvertretung noch geht es um die Überwachung und Beratung
des Vorstands. Stattdessen wird die eigene Funktion darin gesehen, den „Ängsten“
der Menschen Gehör im Management zu verschaffen, dies jedoch nicht in dem
Sinne, dass diese Ängste als Forderungen gegenüber dem Management formuliert
werden. Vielmehr werden die Sorgen der Arbeitnehmer an das Management her-
angetragen, damit dieses sie versteht und angemessen reagiert. Was angemessen ist,
bleibt dabei jedoch dem Management überlassen. Dessen Aufgabe ist es, sich um
die Sorgen der Arbeitnehmer zu kümmern.
Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat wird hier als eine sehr spezifisch ver-
standene Form des Betriebsratsersatzes betrachtet (Interview stellvertretender Auf-
sichtsratsvorsitzender):

Befragter: Mich hat mal ein Mitarbeiter gefragt, „[Befragter], warum haben wir keinen
Betriebsrat?“ (..) Da hab ich denen dann ganz klar sofort aus der Pistole geschossen
gesagt „Weil ihr mich habt. (…) Ich mache im Aufsichtsrat, ich bin Arbeitnehmerver-
treter, ich bin für euch da und ich mache die Betriebsratsarbeit“ (..) Ja, und damit war
das dann erledigt (Lachen) (..) Ja, und letztendlich ist es ja auch so, wenn man das so
sieht. Man muss sich da mit anfinden, man muss sich ein bisschen aneignen, davor ich
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 247

interessiere mich auch „Was macht“ – man hört es ja auch „Was machen die Betriebsräte
so?“. Man muss sich kümmern und wenn Sorgen da sind, dann muss man sich halt küm-
mern drum. (.) Und dann sind die ja auch wieder zufrieden. (.) Und bei uns gab es ja
nichts Großes, irgendetwas, dass wir sagen konnten wir haben (..) für unsere Mitarbeiter
sind wir immer da, das ist die Philosophie im Unternehmen (.) Und deswegen wüsste ich
nicht, wo da (.) ein Betriebsrat hätte gegründet werden können.

Als ihn ein Mitarbeiter gefragt habe, warum es keinen Betriebsrat gebe, habe er
darauf geantwortet, dass er ja Arbeitnehmervertreter sei und die Betriebsratsarbeit
mache. Denn letztlich kümmere sich ein Betriebsrat um die Sorgen der Mitarbeiter.
Und da das Unternehmen immer für seine Mitarbeiter da sei, entstünde auch nicht
die Situation, in der die Gründung eines Betriebsrats nötig sei.
Zum einen wird hier noch einmal deutlich, dass der Anspruch des stellvertre-
tenden Aufsichtsratsvorsitzenden darauf beschränkt ist, im Aufsichtsrat Sorgen
der Arbeitnehmer zu artikulieren. Darüber hinaus ist jedoch auch die Selbstver-
ortung innerhalb des Unternehmens deutlich. Während Betriebsräte in der Regel
von „Kollegen“ reden, ist hier davon die Rede, dass ein „Mitarbeiter“ den Befrag-
ten angesprochen habe. Dieselbe Terminologie würde wohl ein Manager benutzen.
Darüber hinaus verortet sich der Befragte in den letzten Sätzen noch expliziter auf
Seite des Managements, das für sich in Anspruch nimmt, für das Unternehmen als
Ganzes zu sprechen. Es ist hier konsequent von „den Mitarbeitern“ die Rede, um
die „wir“, also das Unternehmen sich kümmert, weshalb es einer Opposition nicht
bedarf. Die verwendete Figur liegt sehr nahe an der Perspektive des Aufsichtsrats-
vorsitzenden. Beide Strukturen gleichen sich darin, dass das Management die po-
litische Dimension des Unternehmens immer schon zu erfassen hat, damit es zu
einer legitimen Opposition gar nicht kommen braucht. Der Unterschied besteht
hier lediglich darin, dass der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende sich nicht
als Entscheider, sondern letztlich nur als Informationsvermittler für das Manage-
ment sieht, dabei jedoch aufseiten des Managements bleibt. Er stellt das offene Ohr
dar, das geneigt zuhört, ist jedoch keinesfalls Sprecher der Arbeitnehmerschaft ge-
genüber dem Management. Entsprechend werden nicht nur Betriebsräte, sondern
auch Gewerkschaften als Zeichen von Managementversagen abgelehnt (Interview
stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Und es ist klar, wenn sich ein Mitarbeiter bei uns nicht wohlfühlt und wendet
sich an die Gewerkschaften, dann sind die natürlich sehr froh darüber (..) und dann (..)
wenn die sie die aufklären, dann ist das ganz schnell, dann kann das ganz schnell passie-
ren (..) Ja, und deswegen müssen wir immer aufpassen, dass wir mit unseren Menschen
vernünftig (.), mit unseren Mitarbeitern vernünftig umgehen (..) gut umgehen, tarifliche
Bezahlung, auf jeden Fall (.) und auch alles, was wir uns auf unsere Philosophie geschrie-
ben haben, wenn wir die Philosophie einhalten (.), dann brauchen wir keine.
248 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Arbeitnehmervertretung hat im Aufsichtsrat somit kaum noch eine weitere Funk-


tion als die Information des Managements und in letzter Konsequenz auch die Ver-
hinderung einer organisierten Arbeitnehmerschaft. In diesem Sinne entsteht die
paradoxe Situation zwischen wirtschaftlicher Rationalität und Opposition gegen
dieselbe nicht, in der sich alle anderen Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wie-
derfinden. Stattdessen wird hier eine andere Paradoxie entfaltet: Die Vermeidung
von Arbeitnehmervertretung durch Arbeitnehmervertretung. Erfolgreiche Arbeit-
nehmervertretung ist hier aus Perspektive der Arbeitnehmervertretung dann ge-
geben, wenn sie nichts mehr zu tun, also keine Sorgen mehr weiterzureichen hat.
Diese Perspektive vertreten nicht alle Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat.
Insbesondere die externen Gewerkschaftsvertreter sind hier anderer Meinung.
Aber auch einige betriebliche Arbeitnehmervertreter haben hier eine andere Mei-
nung. Diese kommt jedoch nicht zum Tragen, da die gewerkschaftlichen Arbeit-
nehmervertreter hier aus der Arbeitnehmervertretung ausgeschlossen werden. Die
Merz Services AG ist das einzige Unternehmen des Samples, in dem keine Gewerk-
schaftsvertreter an den Vorbesprechungen teilnehmen. Entsprechend konsterniert
sind dieselben (Interview Gewerkschaftsvertreter):

Interviewer: Und aber inwieweit stimmen Sie sich denn ab auf Arbeitnehmerseite dann?
Befragter: Äh-äh, ja gut, äh ich meine, mit meiner externen Koll-, also mit meiner Kol-
legin ist das äh leicht, aber äh wenn es wirklich um Arbeitnehmerfragen geht, also wenn
es um (.) hm ja, (.) dann wä-, versuchen wir auch so, über einen kurzen Weg mit den
Kollegen uns dann vorab noch mal hinzusetzen und äh so was zu besprechen, aber (.) bis
jetzt äh (.) war das eigentlich nicht nötig, weil man hat es wirklich im Gremium (.), klar,
dass man vorher vielleicht mal, da würden wir gerne noch eine Frage stellen, aber (.) äh,
da brauchen wir keine Genehmigung von den anderen zu haben (.), stelle mal die Frage,
sondern da (.) ist jeder Persönlichkeit genug, um das selber zu machen.
Interviewer: M-hm und das heißt, jeder äh bereitet sich auch individuell vor.
Befragter: Ja.

Die Abstimmung zwischen den beiden Gewerkschaftsvertretern sei kein Problem,


so der Befragte. In speziellen Fällen versuche man, sich vor der Sitzung noch ein-
mal mit den betrieblichen Arbeitnehmervertretern abzustimmen. Dieser Fall sei
jedoch noch nicht vorgekommen. Und darüber hinaus könne auch jeder seine eige-
nen Fragen stellen, ohne „Genehmigung von den anderen.“
Vergleicht man diese Passage mit anderen Passagen aus dem Dienstleistungs-
bereich, in denen gemeinsame Vorbesprechungen der Arbeitnehmervertreter
selbstverständlich sind, so kann gerade das Ende nur noch als Versuch der Le-
gitimation der eigenen Hilflosigkeit gewertet werden. Indem zumindest hypo-
thetisch die Möglichkeit aufrechterhalten wird, dass es eine Abstimmung mit
den betrieblichen Arbeitnehmervertretern gibt, muss nicht auf die Fiktion einer
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 249

geschlossenen Arbeitnehmervertretung verzichtet werden (obwohl gleichzeitig zu-


gegeben werden muss, dass dieser Fall eben noch nie eingetreten und so wirklich
nur rein hypothetisch ist). Gleichzeitig jedoch wird noch der Versuch unternom-
men, ein Stück gewerkschaftliche Eigenständigkeit gegenüber einer dominanten
Arbeitnehmervertretung zu bewahren, die Gewerkschaften bestenfalls für unnö-
tig hält. Man brauche „keine Genehmigung von den anderen“ – hierin wird der
Anspruch formuliert, noch eine legitime Sprecherposition aufbauen zu können.
Letztlich jedoch scheitert dieser gewerkschaftliche Anspruch an der übermäch-
tigen Umarmung eines politisch reflektierten Managements (Interview Gewerk-
schaftsvertreter):

Befragter: Äh und da waren die [Vorstand und Anteilseignervertreter] schon daran inte-
ressiert, äh, also mir die Informationen vorher bekanntzugeben, bevor das äh, bevor ich
es aus der Zeitung lese, weil (.) äh sicherlich sind dazu Aufsichtsratsbeschlüsse dann äh
notwendig, dann wird ja auch alles dann vorbereitet, aber äh ich denke mal, (.) da leistet
auch der Vorstand äh (.) sehr detaillierte au-äh Arbeit, um Informationen zu geben, dass
sie also versucht haben, bestimmte (.) äh Sachen dort anders auszurichten als eben (…)
äh weiß ich, in [Bundesland] oder wo, äh in [Stadt](…), wo [der neue Standort gebaut
wird] (.) Ja und also man hat nicht das Gefühl, dass man, dass das Rad über das Knie
gebrochen wird. Ja, also (.) da gab es dann auch die Zusage, dass ich gesagt habe, viel-
leicht können wir ja, da trotzdem es keinen Betriebsrat gibt, dort über einen Sozialplan
äh-äh also Leistungen aus dem äh, Abfindungszahlungen und so was machen, das äh
war natürlich nach zwei Jahren (…) ist da nicht viel, aber da (.) gab es von Seiten des
Vorstandes und des Aufsichtsrates eben auch äh viel Unterstützung.
Interviewer: M-hm.
Befragter: Ja, das hat man schon gemerkt. Ein Interesse gibt es wirklich, also nicht unter
den Tisch zu kehren, sondern eben wirklich auch im Interesse der Leute zu lösen.

Im Fall einer Standortschließung habe es sehr frühzeitige und offene Information


gegeben. Und obwohl es keinen Betriebsrat in dem Standort gegeben habe, sei das
Management auf ihren Vorschlag eingegangen, einen Sozialplan zu machen. Das
Wohl der Mitarbeiter liege der Unternehmensleitung hier am Herzen.
In dieser Passage deutet sich bereits das Ausmaß der paradoxen Situation an, in
der sich der Gewerkschaftsvertreter hier befindet: Auf der einen Seite betrachtet er,
was in dem Unternehmen im Interesse der Arbeitnehmervertreter geschieht, ohne
dass es überhaupt eine Arbeitnehmervertretung gäbe. Auf der anderen Seite blitzt
hier der Schatten der eigenen Überflüssigkeit auf. Es ist nicht von Verhandlungen
die Rede, von Konflikten und von Abstimmungen. Vielmehr habe es nur einen vor-
sichtigen Vorschlag gegeben, der von keinerlei Druckmitteln des Arbeitskampfes ge-
deckt war, die ein Betriebsrat etwa hätte bereitstellen könne. Dieser jedoch sei sofort
unterstützt worden. Das Interesse der Arbeitnehmer sei damit voll erfüllt worden –
ohne dass es jedoch einer gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmervertretung
250 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

bedurft hätte. In dieser Situation bleibt der Gewerkschaftsvertretung nichts weiter


übrig als stille Resignation (Interview Gewerkschaftsvertreter):

Interviewer: Ja (.) und wie hat man sich denn dann auf [stellvertretender Aufsichtsrats-
vorsitzender] als stellvertretende Vorsitzende geeinigt? Wie lief das denn?
Befragter: Also äh ich weiß nicht, ich bin jetzt ganz am Überlegen, ob das so/also mir ist
das vorgekommen, das war schon immer so. (alles lacht).
Interviewer: M-hm, okay.
Befragter: Die ganze Zeit, äh-äh...
Interviewer: Jaja.
Befragter: … weiß ich nur nicht, wie man… äh, wie das vorher gemacht wurde. Also
ich denke mal, da hat auch mein-mein Kollege, der auch vorher da schon drinnen war,
nicht gerade viel Herzblut drin gelegen (…) äh so (.) den Kampf gegen [Merz Services]
anzunehmen und (…) zu sagen, wir machen jetzt erst mal überall Betriebsräte, weil das
muss von den Kollegen kommen. Da kann man als Gewerkschafter nichts machen, ja.
Interviewer: Ja.
Befragter: Und solange die immer das noch so regeln alles, ist das eben auch so schwer, ja.
Interviewer: M-hm, m-hm.
Befragter: Meistens kommen die Kollegen ja erst, wenn-wenn es Riesenprobleme gibt, ja.

Er wisse nicht, wie der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende zu seiner Position


gekommen sei, so der Befragte, dies sei schon immer so gewesen. Schon sein Vor-
gänger habe keinen Konflikt mit dem Unternehmen beginnen wollen und habe
das wohl so hingenommen. Denn solange alle Probleme auf die bisherige Art und
Weise gelöst würden, gebe es keine Handhabe.
Diese Passage illustriert damit die letztlich hoffnungslose Situation der Gewerk-
schaftsvertreter im Aufsichtsrat der Merz Services. Es besteht zwar der Anspruch,
Arbeitnehmervertretung zu organisieren („den Kampf gegen Merz Services anzu-
nehmen und zu sagen, wir machen jetzt erst mal überall Betriebsräte“), doch wird
aufgrund der Stimmung in der Belegschaft noch nicht einmal der Versuch unter-
nommen, hier etwas zu machen. Die Definitionsmacht über das, was Arbeitneh-
mervertretung leisten soll, wird den betrieblichen Vertretern überlassen, weil keine
Chance gesehen wird, hieran etwas zu ändern.
Zusammenfassend ließe sich hier sagen, dass es zu keiner separaten Ausdifferen-
zierung der Arbeitnehmervertretung gegenüber dem Management kommt. Da die
Entscheidungen desselben politisch legitim und wirtschaftlich rational erscheinen,
gibt es keinen Bereich, an dem Strukturbildung für eine weitere Kontextur ansetzen
könnte. Entsprechend findet sich die Arbeitnehmervertretung vollständig inner-
halb der Kontextur der Anteilseignervertreter wieder und kann hier nur die eigenen
beschränkten Kompetenzen – die Vertrautheit mit den Mitarbeitern – einbringen.
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 251

4.5.1.3 Patriarchat
Die Anteilseignerseite weist im vorliegenden Fall der Merz Services eine ähnliche
Struktur auf wie die in den anderen bisher behandelten Fällen. Dennoch ist die Po-
sition des Aufsichtsratsvorsitzenden hier von noch höherer Bedeutung. Nicht nur
hat er lange Jahre an der Spitze des Konzerns verbracht und kennt damit das Un-
ternehmen gut. Er ist gleichzeitig Vertreter der Gründerfamilie und Repräsentant
des größten Aktionärs. Das macht ihn zum „grand seigneur“ der Anteilseignerver-
treter. Er kann ohne Weiteres kontroverseste Diskussionen zulassen; es ist selbst-
verständlich, dass sein Wort letztlich das entscheidende ist. Gleichzeitig ermöglicht
diese Position eine konsequente Übernahme der politischen Kontextur. Der Auf-
sichtsratsvorsitzende vermag es ohne Weiteres, die Interessen der Arbeitnehmer
als seine eigenen anzunehmen, zu reflektieren und in der Entscheidungsfindung
zu berücksichtigen. Sein Anspruch ist dabei jedoch klar der, dass er es ist, der de-
finiert, was politische Legitimität ist, und nicht die Arbeitnehmervertreter. Diese
haben nur noch ein Anrecht auf frühe Information. Sonst wird nur erwartet, dass
sie der Linie des Aufsichtsratsvorsitzenden folgen.
Die Kontextur der Arbeitnehmervertretung ist hier sehr ungewöhnlich struk-
turiert, sogar im Vergleich zu den weiteren Unternehmen des Typs bildet er in
vielerlei Hinsicht einen Extremfall. Arbeitnehmervertretung heißt hier weder Op-
position gegenüber dem Management noch heißt es wirtschaftliches Handeln im
Aufsichtsrat im Unterschied zur Interessenvertretung. Vielmehr ist Arbeitnehmer-
vertretung hier Assistenz des Managements. Arbeitnehmerinteressen zu vertreten
heißt hier, die Sorgen der Arbeitnehmervertreter rechtzeitig dem Management zu
überbringen, so dass es nicht zu einer organisierten Interessenvertretung gegen
das Management zu kommen braucht. Entsprechend haben Gewerkschaften keine
Chance, an dieser Stelle Fuß zu fassen.
Die Komplementarität der vorliegenden Erfahrungsräume springt ins Auge. So
verwundert es denn auch nicht, dass die Zusammenarbeit reibungslos abläuft. Die
Arbeitnehmervertreter überlassen den Anteilseignervertretern dabei vollständig
das Feld, was selbst für die kritische Perspektive eines gewerkschaftlich organisier-
ten Arbeitnehmervertreters noch selbstverständlich hingenommen wird (betrieb-
licher Arbeitnehmervertreter):

Befragter: Also die sind, ja die sind sehr dominierend. Also vor allem der Dr. [Prüfungs-
ausschussvorsitzende], ich bin voller Bewunderung für jemanden wie Herr [Prüfungs-
ausschussvorsitzender], weil der hat einfach Sachverstand, der bringt den ein in den
Aufsichtsrat. Und das hat auch wirklich Hand und Fuß was er sagt und ich glaube,
dass der Vorstand als der (..) ich sag mal (…) die Unternehmensführung wechselte,
wo der Herr [jetziger Aufsichtsratsvorsitzender] auf die Aufsichtsratsseite wechselte
und [Vorstandsvorsitzender] dann eben Vorstandsvorsitzender wurde. Ich finde die,
gerade [Anteilseignervertreter] und Dr. [Aufsichtsratsvorsitzender] haben diesen jungen
252 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Vorstand, der es ja gewesen ist, auch wunderbar begleitet. Also muss ich sagen, ich finde
es topp. Sie sind dominant, keine Frage. Aber sie haben auch hervorragende Ansätze.

Dominant seien die Anteilseignervertreter, doch gerade Personen wie den Auf-
sichtsrats- und Prüfungsausschussvorsitzenden, aber auch andere würde er bewun-
dern. Diese hätten den Vorstand gut begleitet, so der Befragte, und überragende
Arbeit geleistet.
Die Arbeit des Aufsichtsrats – die Überwachung und Beratung des Vorstands
– erscheint hier völlig als Aufgabe der Anteilseignervertreter, mit der ein Arbeit-
nehmervertreter nichts mehr zu tun hat. Die Dominanz der Anteilseignervertre-
ter wird dabei klar erkannt und benannt, aber als völlig legitim akzeptiert, da den
Anteilseignervertretern ein hoher Grad an Expertise und Kompetenz zugerechnet
wird. Den Arbeitnehmervertretern bleibt jenseits der stillen Bewunderung nur
noch die Möglichkeit, die Expertise der Anteilseignervertreter mit eigenen Ein-
drücken und eigenem Hintergrundwissen zu ergänzen (Interview stellvertretender
Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Äh (.) also das war, wie ich da reingekommen bin, muss ich ganz ehrlich
sagen, hab ich gedacht „Boah, das [die Aufsichtsratsarbeit] ist ja ‘ne Hausnummer, die
ist ja nun sehr, sehr groß“ (..) Aber es geht ja am Anfang erst um die äh äh (.) Unter-
nehmensstrategie geredet, was ist jetzt, was-was läuft jetzt im Moment (.) Und da bringe
auch ich mich mit ein, (.) wenn ich jetzt gerade sowas mit [Restrukturierung] ist oder
sowas, da erzähle ich dann auch, was mir aufgefallen ist, was besser ist und dass die das,
die neue Strategie für [Bereich] wirkt und dass ich das ganz toll finde, da bringe ich mich
auch ein (.) aber alles was mit Finanzen zu tun hat, da höre ich zu, finde ich sehr interes-
sant (..) Aber da sind dann die Experten also doch mehr (.) gefragt. Herr [Prüfungsaus-
schussvorsitzender] macht das sehr (..) also ich hab das Gefühl, der macht das aus dem
Handgelenk, aber ganz toll, (.) also was der für ein Wissen hat (.) und wie der das bringt
und hat natürlich seine Kollegen (.) den Herrn [Anteilseignervertreter] (.) äh von der
Bank weiß ich, dann hat er (.) den Herrn [Anteilseignervertreter] jetzt. (.) Früher war ja
Herr [Anteilseignervertreter] da mit bei. (.) Und (.) das sind einfach Experten (..) Also,
ich find das ganz klasse und dieser Austausch auch mit Herrn [Anteilseignervertreter]
und Herrn [Aufsichtsratsvorsitzender], also ich find‘s ganz klasse (.) Ich hab da immer
eine wahnsinnige Hochachtung vor, ne.

Zu Beginn sei ihm die Aufsichtsratsarbeit sehr komplex vorgekommen, so der


Befragte. Doch in allgemeinen Strategiediskussionen habe er sich inzwischen
eingefunden und bringe seine eigenen Erfahrungen ein. Die vom Vorstand
vorgeschlagene Strategie im Fall einer Restrukturierung habe er etwa hervorragend
gefunden. Sobald es jedoch um Themen der Finanzierung gehe, könne er nicht
mehr mitreden. Doch dies würden die Experten von der Anteilseignerseite ma-
chen, vor denen er „wahnsinnige Hochachtung“ habe.
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 253

Der Raum des Aufsichtsrats ist hier völlig dominiert von der Autorität der
Anteilseignervertreter. Sie geben zusammen mit dem Vorstand eine bestimmte
Richtung vor, zu der die Arbeitnehmervertreter sich nur noch ergänzend äußern
können. Man kann sagen, dass man etwas „toll“ findet und persönliche Eindrücke
schildern. Die eigenen Beiträge bleiben dabei jedoch stets subjektiv, reine Ergän-
zungen zu der Diskussion der Experten.
In dieser Situation fällt es dann auch nicht weiter auf, wenn einzelne Ausschüsse
nicht mitbestimmt sind, da die Arbeitnehmervertreter sich sowieso nicht das Recht
attribuieren, zu spezialisierten Fragen beitragen zu können (Interview stellvertre-
tender Aufsichtsratsvorsitzender):

Interviewer 1: (.) Sie sind zwar Gast [im Prüfungsausschuss], aber (.) kein äh, sozusa-
gen formales Mitglied (.) Warum (.) hat man sich, oder warum haben Sie sich von den
Arbeitnehmern entschieden, das so zu machen?
Befragter: (..) Äh, (..) warum das so genau gelaufen ist, das kann ich Ihnen gar nicht
sagen. (.) Das äh war mal so, ich wurde (.) Herr Dr. [Aufsichtsratsvorsitzender] hatte
mich gefragt (..) ob äh äh (..) wie das so ist, ob ich auch als Gast (.) und da hab ich von
diesen Metier jetzt sowieso keine Ahnung habe groß (.) habe ich gesagt „Ja, mich interes-
siert es.“ (.) […] Aber warum das so ist, das kann ich Ihnen nicht sagen. Das müsste Herr
Dr. [Aufsichtsratsvorsitzender] jetzt.
Interviewer 2: Gab es da auf Arbeitnehmerseite da keine Diskussion darüber?
Befragter: Nö, nö (…)
Interviewer 1: Und jetzt also (..) sozusagen vielleicht die betrieblichen, der die Kompe-
tenzen nicht mitbringt, kann ich nachvollziehen, aber, (.) unter Umständen würde doch
ein Gewerkschafter mehr Kompetenz mitbringen, um auch in so einem Ausschuss mit-
zuarbeiten. Stand das jemals zur Debatte?
Befragter: Ne, nein, nie. (.) Nie. (..). Wir waren ja vorher, wir sind ja erst seit fünf Jahren
glaub ich Gast, seit (..) der vorletzten Wahl Gast. Davor waren wir ja richtige Ausschuss-
mitglieder. Ja, und.
Interviewer 2: Wie, wie ist das gekommen?
Befragter: Das weiß ich eben nicht (…) Ich hab dann auch nicht (.) es heißt ja, ursprüng-
lich heißt es ja so, dass der Vorsitzender und Stellvertreter in jedem äh (.). Ausschuss sein
muss. (..) So war es mir bekannt. (..)

Auf die Frage hin, wie es dazu gekommen sei, dass der stellvertretende Aufsichts-
ratsvorsitzende nur Gast im Prüfungsausschuss sei und kein Arbeitnehmer re-
guläres Mitglied, weiß der Befragte keine Antwort. Der Aufsichtsratsvorsitzende
habe ihn gefragt, ob er als Gast an der Ausschussarbeit teilnehmen wolle, und das,
obwohl er sich in der Materie nicht auskenne. Auf Nachfrage wird angegeben,
dass es auch auf Arbeitnehmerseite keine Diskussion über eine mögliche Mit-
gliedschaft im Ausschuss gegeben habe, auch nicht für den Fall, dass ein Gewerk-
schaftsvertreter hier größere Kompetenzen mitbringen könnte. Früher hätten die
Arbeitnehmervertreter auch Ausschussmitglieder gestellt. Doch dies sei aus dem
Befragten unerfindlichen Gründen abgeschafft worden.
254 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Die Anteilseigner treten hier als letzte Instanz für alle Entscheidungen auf. Sie
bestimmen das Ausmaß der Beteiligung der Arbeitnehmervertreter, ohne dass
dies gegenüber den Arbeitnehmervertretern legitimiert werden müsse. Es scheint
so selbstverständlich, dass der Aufsichtsratsvorsitzende über die Verteilung von
Sprecherpositionen und die Besetzungen von Ausschüssen nach freiem Willen
disponiert, dass sogar das Nachfragen als unnötig erscheint: Wenn der Aufsichts-
ratsvorsitzende das für richtig hält, dann muss es wohl seine Richtigkeit haben
(Interview Arbeitnehmervertreter):

Befragter: Ne, [Aufsichtsratsvorsitzender] nicht, das ist falsch. Also der Prüfungsaus-
schuss besteht aus dem Vorsitzenden, [Anteilseignervertreter] und mir.
Interviewer: Ach Sie sind drin. Pardon.
Befragter: Ja, macht ja nix. Ich sag Ihnen auch gleich warum. Wir ham, da war [Auf-
sichtsratsvorsitzender] sogar noch drin, da ham wir gesagt, das geht eigentlich nicht,
dass äh (..) der Vorsitzende im Prüfungsausschuss ist. Äh (.) und da war er sofort mit
einverstanden, er nimmt allerdings natürlich als Gast teil, also Teilnehmer sind dann
die drei Mitglieder, zwei Vorstände, nämlich [Vorstandsvorsitzender] als Vorsitzender
und der Finanzvorstand und dann als Gäste [Aufsichtsratsvorsitzender] und äh [stell-
vertretender Aufsichtsratsvorsitzender], die man ja vielleicht nicht dazu rufen müsste,
aber das ist natürlich wieder sehr klug, dass er ihn als seinen Stellvertreter (.), auch als
Gast ist sie da mit eingeladen. Also das ist die Zusammensetzung um den Tisch herum,
natürlich sehr klein, sehr effizient.

Die Entscheidung, den stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden hier mit ein-


zuladen, wird als „klug“ bezeichnet. Sie erscheint als richtige Entscheidung des
Aufsichtsratsvorsitzenden vor der Alternative, den Stellvertreter gänzlich aus dem
Ausschuss auszuschließen. Die Frage nach einem möglichen Anspruch der Arbeit-
nehmervertreter auf einen Sitz im Prüfungsausschuss stellt sich dabei überhaupt
nicht. Vielmehr wird die Einladung eines Arbeitnehmervertreters hier einzig auf
die Erwägung des Aufsichtsratsvorsitzenden zurückgeführt. Er hätte auch anders
entscheiden können, hat aber so entschieden, was der einzige Grund dafür ist, dass
überhaupt ein Arbeitnehmervertreter im Prüfungsausschuss sitzt.
Innerhalb der Positivstruktur bricht jeder Versuch, sich in eine oppositionelle
Position zu begeben, ohne Weiteres in sich zusammen. Selbst wenn es den Fall
geben sollte, dass einzelne Gewerkschaftsvertreter aus dem Konsens der Arbeit-
nehmervertretung ausbrechen, versandet dieser Ausbruchsversuch im Entgegen-
kommen der Anteilseignervertreter (Interview Anteilseignervertreter):

Interviewer: Nehmen Sie denn Unterschiede wahr zwischen den betrieblichen Arbeit-
nehmervertretern und den Gewerkschaftsvertretern?
Befragter: Der äh, ich hab erst einen erlebt, der neu kam, der jetzt gerade wieder zurück-
tritt. Der hat also am Anfang ein relativ loses Mundwerk da geführt, ähm, besonders so
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 255

im (..) informellen, also noch vor Beginn der Sitzung und nach Be-, nach Schluss der Sit-
zung. Das hat sich aber schnell gegeben, weil der sah, er hatte keinen Anlasspunkt. Nech,
da war, da gab‘s nicht die großen Konflikte, da gab‘s nicht die großen Unruhen irgendwie,
da gab‘s die Personalführung wurde wahrgenommen und zwar gut wahrgenommen, die
anderen Betriebsräte, äh die Betriebsräte waren zufrieden und also, er hat kein (unklar).
Und hat sich dann aber auch überzeugt gezeigt, er hat das dann auch ausgedrückt: Ich
kam mit ner anderen Vorstellung als die, mit der ich jetzt gehe, und die, mit der ich gehe,
is ‘ne sehr positive und das werde ich meinem Nachfolger auch sagen.

Ein Gewerkschaftsvertreter, der neu in den Aufsichtsrat gekommen ist, habe zu


Beginn ein „loses Mundwerk“ gehabt. Doch auch dieser habe inzwischen auch be-
griffen, dass es keine Möglichkeit gebe, „Konflikte“ zu schüren. Das Personal sei
bei der Merz Services gut geführt und daher seien auch die betrieblichen Arbeit-
nehmervertreter zufrieden. Jetzt trete er sowieso zurück und nähme nur gutes aus
dem Aufsichtsrat mit.
Jeder Versuch, eine Oppositionsposition aufzubauen, jeder Versuch, Arbeitneh-
merinteressen im Unterschied zu den Interessen des Managements zu formulieren,
scheitert an dem, was der Befragte unter „Personalführung“ versteht. Das heißt
dabei letztlich nichts anderes, als Politik und Wirtschaft gleichzeitig zu reflektieren
und die Hoheit über beide Kontexturen zu behalten.7 Die Anteilseignervertreter
reflektieren die Legitimität ihrer eigenen Entscheidungen und unterbinden so die
Legitimität einer Opposition gegenüber ihren Entscheidungen.
Die Praxis der Entscheidungsfindung wird damit entsprechend durch die Vor-
lagen der Anteilseignervertreter und Vorstände bestimmt. Entsprechend werden
Entscheidungen des Aufsichtsrats einstimmig getroffen; Konzepte für Abwei-
chungen gibt es ebenso wenig wie die realistische Möglichkeit der Doppelstimme:
Der Aufsichtsratsvorsitzende hat Recht und entsprechend wird mit ihm gestimmt
(Interview betrieblicher Arbeitnehmervertreter):

Interviewer: Wenn Sie jetzt aber trotzdem nicht überzeugt gewesen wären, ich weiß, ich
hatte die Frage eben schon einmal gestellt, aber glauben Sie, hätte das zu einem Konflikt
im Aufsichtsrat geführt, wenn Sie da jetzt als Arbeitnehmerseite gesagt hätten, zu Herrn
[Aufsichtsratsvorsitzender] gesagt hätten „Nein, wir sind mit der Kandidaten [für den
Posten des Personalvorstand] aber nicht einverstanden.“ Wie wäre er damit umgegan-
gen? Wie schätzen Sie das ein?
Befragter: Also er ist ja immer sehr offen für Probleme und Anliegen und ich denke mal,
dass sicherlich dann noch einmal ein intensiveres Gespräch oder die intensivere Vorstel-
lung von [dem Kandidaten] stattgefunden hätte (…) Er hätte sicherlich versucht, unsere
Zweifel aus dem Weg zu räumen. Das müssen ja auch irgendwelche begründeten Zweifel

7
Das wäre dann wohl gutes Management in extremo, so man gutes Management am Verste-
hen von Perspektivendifferenzen festmacht (vgl. Nassehi 2011, S. 4).
256 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

dann gewesen sein. Und (.) wenn man da etwas hätte aufdecken können, dann hätte er
das sicherlich – also wenn das sachlich in Ordnung gewesen wäre, dann kommt man
immer an ihn ran. Also das Gefühl hab ich schon, dass er Bedenken auch ernst nimmt.
So hätte ich es mir vorstellen können.
Interviewer: Das härteste Mittel, was so ein Aufsichtsratsvorsitzender ja im Extremfall
hat – er könnte eine Doppelstimme dann ziehen –
Befragter: Das ist nicht [Merz]-like. Ne, es ist eine völlige Harmonie, man versucht alles
immer vorher dann doch abzuklären und zu regeln (.) um auch einen Konsens herzu-
stellen. Also ich denke, dass da im Vorfeld dann noch intensivere Gespräche gefunden
werden, ohne dann zu dem letzten Mittel dann zu greifen.

Auf die Frage danach, wie die Arbeitnehmervertreter reagiert hätten, wenn sie mit
dem Kandidaten für den Posten des Personalvorstands nicht einverstanden gewe-
sen wären, antwortet der Befragte, dass es noch Diskussionen mit dem Aufsichts-
ratsvorsitzenden gegeben hätte. Dieser, so nimmt der Befragte an, hätte erklären
können, warum die Zweifel der Arbeitnehmervertreter unbegründet gewesen
seien. Die Möglichkeit der Überstimmung der Arbeitnehmerbank, die der Inter-
viewer aufbringt, wird kategorisch ausgeschlossen. Grundsätzlich würden Ent-
scheidungen immer im Einvernehmen getroffen.
Die Einstimmigkeit ist damit auch in diesem Aufsichtsrat eine unumstößliche
Norm. Dabei wird auch hier letztendlich deutlich, dass diese Einstimmigkeit im
Zweifelsfall immer das Einschwenken der Arbeitnehmervertreter auf die Position
der Anteilseignervertreter bedeutet. Denn in der vorliegenden Passage zeichnet
sich klar ab, dass der Befragte die Erwartungshaltung hat, überzeugt zu werden.
Es geht nicht darum, dass der Aufsichtsratsvorsitzende auf Einwände eingeht. Viel-
mehr wird von ihm erwartet, dass er die Arbeitnehmervertreter überzeugt und
seine Entscheidung erklärt. Anderenfalls steht ihm die Möglichkeit offen, die Ein-
wände als relevant anzuerkennen. Doch auch hier liegt dann die Entscheidungs-
hoheit beim Aufsichtsratsvorsitzenden; dieser entscheidet, ob ein Einwand relevant
ist oder nicht.
Abweichungen von dieser Einstimmigkeit finden dann nur noch im Ausnah-
mefall statt und bleiben für den Gewerkschaftsvertreter reserviert, der zu Beginn
seiner Mandatszeit noch ein „loses Mundwerk“ führte (Interview Gewerkschafts-
vertreter):

Interviewer: Und werden bei Ihnen (.) äh Entscheidungen oder Beschlüsse (.) eigentlich
auch immer einstimmig äh beschlossen oder ist das in Ordnung, wenn sich auch jemand
enthält oder (.) sich anders...
Befragter: Es wäre auch in-in Ordnung, wenn sich jemand enthält, also mir ist jetzt (.)
keine Situation bekannt, wo es äh, doch also bei der [Schließung eines Standorts] habe
ich mich enthalten (…) also weil ich kann äh, ja da, dann lebt auch jeder mit ja. Aber...
Interviewer: Also das ist dann total in Ordnung?
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 257

Befragter: … in der Mehrheit, Mehrzahl werden-werden dann schon, äh, sind das schon
äh (.), also übereinstimmende Beschlüsse, die gefällt werden, aber ich glaube, das ist
auch (.), also liegt auch in der Tatsache begründet, dass man das Gefühl hat, (..) man
wird nicht über den Tisch gezogen (lacht)… sondern äh (…) äh wird wirklich noch
mal alles klar erläutert, wenn was nicht verstanden wird und so. Und alles wird auch
ausdiskutiert…Ja.
Interviewer: … sodass jeder dahintersteht, wenn eine Entscheidung...
Befragter: Ja-ja-ja.
Interviewer: … getroffen wird.

Deutlich wird hier, dass Einstimmigkeit – wie in den allermeisten anderen Auf-
sichtsräten die Regel ist. Dabei erscheint jedoch die einzelne Gegenstimme oder
Enthaltung, die auch in anderen Aufsichtsräten verwendet wird, um die gespaltene
Position der Arbeitnehmervertreter zwischen wirtschaftlicher und politischer Ra-
tionalität zu symbolisieren, hier nicht als geplanter Schritt der Arbeitnehmerver-
treter. Während in anderen Unternehmen die Gegenstimmen oder Enthaltungen
abgesprochen und damit Position der gesamten Bank sind, handelt es sich hier nur
um die Abweichung einer Person. Die Enthaltung ist nicht auch die Enthaltung der
betrieblichen Arbeitnehmervertreter, die zustimmen. Sie ist einzig und allein die
Abweichung einer Person, die noch nicht einmal an den Vorbesprechungen der be-
trieblichen Arbeitnehmervertreter teilnimmt. Damit ist sie letztlich irrelevant. Für
den Aufsichtsrat verliert sie ihre Bedeutung.
Zusammenfassend stellt sich hier ein denkbar einfaches Bild dar: Die Anteils-
eignervertreter reflektieren die wirtschaftliche wie auch die unternehmenspoliti-
sche Dimension ihrer Entscheidung und geben damit keine Angriffsfläche für eine
Opposition der Arbeitnehmervertretung. Diese schwenkt entsprechend auf die Li-
nie der Anteilseignervertreter ein. Entscheidungen fallen so einstimmig im Sinne
der Anteilseignervertreter.

4.5.2 Nürnberger Handelsgesellschaft: Wirtschaftlicher Erfolg


als politische Legitimität

Der Aufsichtsrat der Nürnberger Handelsgesellschaft ist wie kaum ein anderer auf
die Person des Aufsichtsratsvorsitzenden ausgerichtet. Hier erscheinen die An-
teilseignervertreter als wenig mehr denn als eine fachliche Ressource, derer sich
der Aufsichtsratsvorsitzende in seiner Entscheidungsfindung bedienen kann. Dies
wird zwar insbesondere von einem Großaktionär kritisiert, doch sind hier diesel-
ben Strukturen am Werk, wie sie auf jeder anderen Anteilseignerbank gefunden
werden: Im Zweifelsfall gilt es dem Aufsichtsratsvorsitzenden zu folgen. Und wenn
dieser eigenmächtig Entscheidungen trifft und diese dem Gremium nur noch
258 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

mitteilt, so hat man entweder die Wahl, das Gremium zu verlassen oder diese mit-
zutragen.
Interessant ist dabei im vorliegenden Fall, dass die Arbeitnehmervertreter diese
Struktur mittragen. Es entwickelt sich keine konfliktträchtige Opposition wie in
den Unternehmen des Typs 1. Vielmehr wird der Aufsichtsratsvorsitzende als bei-
nahe grenzenlos kompetent begriffen. Vor allem aber kommt es auf Arbeitnehmer-
seite zu einer Gleichsetzung von ökonomischem Erfolg und politischer Legitimität:
Wenn das Unternehmen prosperiert, ist auch für die Arbeitnehmer alles gut. Wenn
nicht, dann muss es saniert werden – im Zweifelsfall auf Kosten der Arbeitnehmer.
Obwohl so die unterliegenden Strukturen im Vergleich zur Merz Services AG
sehr anders sind, kommt es auf Ebene der Zusammenarbeit zu einer sehr ähnli-
chen Struktur: Die Anteilseignervertreter treffen Entscheidungen und die Rolle der
Arbeitnehmervertreter beschränkt sich darauf, innerhalb dieser Vorgaben Anmer-
kungen zu machen, wenn diese von den Anteilseignervertretern gewünscht sind.
Ein Grund für diese etwas ungewöhnliche Konstruktion mag darin liegen, dass
es sich bei der Nürnberger Handelsgesellschaft um ein drittelmitbestimmtes Unter-
nehmen handelt, das einen sehr niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad
aufweist. Wie aber im Vergleich mit der Merz Services AG deutlich wird, ist es
vor allem der geringe gewerkschaftliche Organisationsgrad, für den wohl die Un-
ternehmenskultur verantwortlich ist, die diese Form der Arbeitnehmervertretung
bedingt. Denn obwohl die Merz Services AG paritätisch mitbestimmt ist, kommt es
zu keiner wesentlich anderen Form der Zusammenarbeit. Gewerkschaftsvertreter
werden schlichtweg marginalisiert.

4.5.2.1 Anteilseignervertreter: Der Aufsichtsratsvorsitzende


als „Alphatier“
Die Anteilseignerseite weist auch im vorliegenden Fall eine ähnliche Positivstruk-
tur auf wie die bisher besprochenen Fälle. Jedoch zeigen sich im vorliegenden Fall
einige Besonderheiten. Zwar wird auch hier erwartet, dass eine offene Diskussion
möglich ist und dass die einzelnen Aufsichtsratsmitglieder wie „unabhängige Per-
sönlichkeiten“ (S. 98 f.) mit unternehmerischer Expertise gewürdigt werden, doch
findet dies im vorliegenden Fall kaum statt: Fachkompetenz einzelner Personen er-
scheint hier als nützliches Werkzeug, dessen man sich als Aufsichtsratsvorsitzender
bedienen kann und muss, das jedoch nicht unbedingt eine eigenständige Meinung
legitimiert (Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Interviewer: M-hm. Äh Sie hatten vorher Herrn [Prüfungsausschussvorsitzender]


erwähnt und den Prüfungsausschuss, der wird ja vom Gesetzgeber jetzt auch mit immer
mehr und mehr Aufgaben (.) verfrachtet. (..) Wie wichtig ist es denn, Sie haben gesagt,
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 259

Sie haben eine Vertrauensbeziehung zu Herrn [Prüfungsausschussvorsitzender], wie


wichtig ist denn da gerade diese Vertrauensbeziehung?
Befragter: (.) Äh (..) sie hat eine, sie hat ein gewisses Maß an Bedeutung, aber entschei-
dend ist natürlich äh-äh seine Sachkenntnis. Gar keine Frage, weil er ist [derzeitige Posi-
tion], (..) er kann IFRS auswendig singen und äh-äh. . .
Interviewer 2: (lacht).
Befragter: … also so was brauchen Sie an der Seite, das ist gar keine Frage (..) äh und
deswegen ist er da genau an der richtigen Position.

Die Frage nach der Bedeutung des Prüfungsausschussvorsitzenden und die Pro-
position, der Aufsichtsratsvorsitzende habe eine Vertrauensbeziehung zu diesem,
wird vom Befragten relativiert. Der Prüfungsausschussvorsitzende habe zwar ein
„gewisses Maß“ an Bedeutung, könne jedoch vor allem International Financial
Reporting Standards (Internationale Rechnungslegungsvorschriften) „auswendig
singen“, weshalb er ihn „an seiner Seite“ benötige.
Von einer „unabhängigen Persönlichkeit“ mit unternehmerischer Erfahrung
kann hier nicht die Rede sein. Vielmehr wird er als spezialisierter „Gelehrter“ in-
szeniert, der nicht über den Habitus des Herrschenden im Bourdieu‘schen Sinne
verfügt (Bourdieu 1987, S. 134 ff.). Während Ersterer sich sein Wissen mühsam
erarbeitet hat und mit diesem als mit seinem Pfund wuchert, gleitet der Aufsichts-
ratsvorsitzende mit Selbstbewusstsein darüber hinweg und greift darauf zurück,
wenn er seiner bedarf. Ein Verhältnis inter pares wird hier nicht einmal simuliert.
Der Aufsichtsratsvorsitzende beschreibt sich auch ohne Weiteres als Herrn des
Aufsichtsrats (Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Aber Sie sollten nie einen schwachen [Vorstands]-Vorsitzenden haben, das
ist nicht gut.
Interviewer: (.) Und für Sie als Aufsichtsratsvorsitzenden, ist das ja durchaus schwierig
dann.
Befragter: Nee, ach der-der hat ja, der Aufsichtsratsvorsitzende hat ja eine Menge, das
ist ja der, wenn Sie so wollen, der mächtigste Mann im Unternehmen, das äh (.) muss
man ja nicht immer den Leuten sagen, aber es ist, de facto ist es ja so, weil Sie bestimmen
die Gehälter oder nehmen wesentlichen Einfluss, Sie bestimmen die Menschen, die das
Unternehmen führen und nehmen wesentlichen Einfluss, es ist eine machtvolle Position,
(..) äh Sie können äh ganze Geschäfts-äh-äh-strategien (.) äh (..) abwerten und-und (.)
verhindern (.) äh in der Implementierung, also (.) ich denke mal, ein Aufsichtsratsvor-
sitzender, wenn er gut ist äh, der hat schon (.) eine Menge Macht.

Ein schwacher Vorstandsvorsitzender sei schlecht für den Vorstand, so der Befrag-
te, jedoch letztlich kein Problem für den Aufsichtsratsvorsitzenden. Denn dieser sei
der „mächtigste Mann im Unternehmen“. Er bestimme alle wesentlichen Besetzun-
gen und könne Einfluss nehmen auf alle Strategien.
260 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Während sich in den allermeisten Unternehmen die Aufsichtsratsvorsitzenden


selbst als Mediatoren beschreiben, die nach einem Ausgleich suchen, inszeniert sich
der Aufsichtsratsvorsitzende hier ohne jede weitere Einschränkung als letzte Ins-
tanz des Unternehmens. Es ist nicht der Aufsichtsrat, der über Vorstandsbestellun-
gen entscheidet, sondern der Aufsichtsratsvorsitzende. Es ist nicht der Aufsichtsrat,
der Strategien kontrolliert, sondern einzig und allein der Vorsitzende desselben.
Dieser Selbstbeschreibung entsprechen auch sämtliche Fremdbeschreibungen
(Interview Prüfungsausschussvorsitzender):

Befragter: Und äh ich sagte schon, ein Herr [Aufsichtsratsvorsitzender] ist eine Persön-
lichkeit, ja und als Aufsichtsratsvorsitzender äh ist er natürlich auch noch viel mehr in
dem Gespräch mit dem Vorstand, auch in Einzelgesprächen natürlich. Er hat ja sein
Büro in der [Nürnberger Handelsgesellschaft], also ein Büro in der [Handelsgesellschaft],
ja. (.) Also ich glaube, dass er (.) da schon eine wirklich herausgehobene Position hat
und das wird auch so akzeptiert. Also er ist schon so ein bisschen, das Gefühl hat man
da, dass er der (.) äh, ja, ich sage mal, schon der Leader ist sozusagen, ja. So und dann
bildet sich natürlich (.), äh auch durch die Verhaltensmuster der einzelnen äh Aufsichts-
räte, bilden sich natürlich schon äh-äh, bildet sich schon eine gewisse, ja, ich sage mal,
Hierarchie raus vielleicht mehr oder weniger informelle natürlich, ja.

Der Aufsichtsratsvorsitzende sei eine „Persönlichkeit“, die großen Einfluss im Auf-


sichtsrat habe. Da er stets vor Ort und viel mit dem Management im Kontakt sei,
habe sich seine Position als die des „Leaders“ herausgebildet. Es sei zu einer Hier-
archie gekommen, die jedoch akzeptiert werde.
Hier wird in einer beinahe einzigartigen Art und Weise die Fiktion der Kollegi-
alität aufgegeben. Zwar wird in jedem Aufsichtsrat dem Vorsitzenden eine beson-
dere Rolle zugesprochen, dass jedoch die Befragten von einer Hierarchie reden,
die letztlich eine Weisungsbefugnis meint (selbst wenn hier ein „informell“ nach-
geschoben wird), ist für das vorliegende Sample einzigartig. Der Aufsichtsratsvor-
sitzende entscheidet damit nicht als Sprecher eines Kollegialorgans, sondern als
Vorgesetzter der anderen Aufsichtsratsmitglieder – was aber natürlich auch nur
wieder funktioniert, weil die Aufsichtsratsmitglieder diese Ungleichheit als Gleiche
akzeptieren. Funktional ist diese Konstruktion äquivalent zu der Stellung des Auf-
sichtsratsvorsitzenden in der Merz Services AG. Dieser Sachverhalt wird von den
Anteilseignervertretern in der Praxis akzeptiert, wenn er auch nicht von allen gut-
geheißen wird. In der Mehrzahl der Fälle kommt es jedoch zu einer Befürwortung
(Interview Prüfungsausschussvorsitzender):

Befragter: Gut, aber ich muss äh (.), also ich will mal so sagen, was ich beim Herrn
[Aufsichtsratsvorsitzender] sehr gut finde, was er macht ist, (.) dass er als Aufsichtsrats-
vorsitzender, wenn äh (.), also in-in dieser Konstellation, wohl gemerkt, gut finde, ja,
(.) sonst finde ich es nicht gut, aber in der Konstellation finde ich es gut, dass er, wenn
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 261

der Vorstand vorgetragen hat, (.) äh klar, da kommen Zwischenfragen und so weiter,
aber im Regelfall sagt er anschließend auch seine Meinung und wenn die vorher im
Präsidialausschuss besprochen worden ist, auch die Meinung des Präsidialausschusses.
(.) Das finde ich eigentlich sehr gut, (.) weil damit äh, er ist ja sozusagen auch ein freier
Vertreter sozusagen, nicht, (.) hat er natürlich die Chance äh, ich sage mal, auch sein
Gewicht als Aufsichtsratsvorsitzender da anders einzubringen und auch gewisse (.) Pflö-
cke einzuschlagen.

Er befürworte es, dass der Aufsichtsratsvorsitzende nach den Präsentationen des


Vorstandsvorsitzenden klar seine Meinung und die Meinung des Präsidialausschus-
ses äußere. Zwar finde er dies nicht generell gut, im vorliegenden Fall jedoch schon,
da der Aufsichtsratsvorsitzende so als „freier Vertreter“ sein „Gewicht als Aufsichts-
ratsvorsitzender“ in die Waagschale werfen und „Pflöcke einschlagen“ könne.
Worauf der Befragte hier anspielt, ist die Situation eines Großaktionärs, der mit
eigenen Mandatsträgern im Aufsichtsrat vertreten ist, von denen der Aufsichts-
ratsvorsitzende jedoch keiner ist. Diese Situation wird hier als Legitimation einer
systematischen Engführung der Diskussion herangezogen. „Pflöcke“ sollen „ein-
geschlagen“ werden, zwischen denen die Diskussion sich bewegt und die auch der
Großaktionär nicht wieder ausreißen kann.
Hier zeigt sich eine klare Spaltung des Aufsichtsrats. Auf der einen Seite steht die
Gefolgschaft des Aufsichtsratsvorsitzenden, auf der anderen Seite steht der Groß-
aktionär. Die Diskussion wird daher im vorliegenden Fall noch zusätzlich von ei-
ner politischen Kontextur überlagert, die in der ökonomischen Diskussion beachtet
werden muss. Letztere muss im Hinblick auf Erstere konditioniert werden, so dass
aus Perspektive des Befragten die Partei des Aufsichtsratsvorsitzenden die Ober-
hand behält. So erscheint auch das autoritäre Verhalten des Aufsichtsratsvorsitzen-
den wieder als legitim und sinnvoll – selbst wenn dabei die Würde der eigenen
Person angekratzt wird, geschieht dies doch für einen höheren Zweck.
Dies ist eine interessante, nicht ganz ungewöhnliche Situation. In einigen der
untersuchten Unternehmen trat die Situation auf, dass ein Großaktionär in ein
Unternehmen eingestiegen ist, jedoch nur mit ein oder zwei Personen vertreten
war und nicht den Aufsichtsratsvorsitzenden stellte. Dies führte häufig zu einer
Politisierung der Arbeit und Abwehrbewegungen gegenüber den Einflussversu-
chen des neuen Aktionärs.
Entsprechend ist auch im vorliegenden Fall der Großaktionär weniger zufrieden
mit dem Vorgehen des Aufsichtsratsvorsitzenden (Interview Vertreter Großaktio-
när):

Befragter: Äh, (..) [der Aufsichtsratsvorsitzende] gehört auch nicht zu der Zunft der,
die-die eben, sagen wir mal, äh (.) jeden versucht, mit ins Boot zu nehmen. Ja (..) äh,
(.) da haben wir schon unsere liebe Not alle miteinander. Ja, also äh, ob jetzt da die
262 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Arbeitnehmervertreter ist, ob das der Vorstand ist, ob da wir als [Großaktionär] sind. (..)
Äh, weil er natürlich aus seiner Funktion heraus kommt, (..) wo er, sagen wir mal, als (.)
äh (.) [ehemalige Position des Aufsichtsratsvorsitzenden] äh (.) hat er schon eine-eine äh
besondere, tragende äh Figur gehabt, ja. Die haben es ja noch gemerkt, als [ehemaliges
Aufsichtsratsmitglied] und er noch gemeinsam normale Aufsichtsräte waren, äh bei uns
im-im Aufsichtsrat. (.) Da musste jeder ein Statement abgeben, (.) obwohl vielleicht schon
alles mal, in der einen oder anderen Form gesagt gewesen ist, aber das war notwendig.
Interviewer: M-hm.
Befragter: Soviel zu den Alphatieren.

Der Aufsichtsratsvorsitzende sei nicht daran interessiert, sich gegenüber jedem zu


erklären. Hiermit seien weder die Vorstände noch die Arbeitnehmervertreter oder
er als Vertreter des Großaktionärs glücklich. Dies habe wesentlich mit seinem Hin-
tergrund und seiner Reputation zu tun. So sei er schon ein „Alphatier“ gewesen, als
er noch nicht Aufsichtsratsvorsitzender gewesen sei.
Der Begriff des „Alphatiers“ wird hier erstmals auf den Aufsichtsratsvorsitzen-
den selbst angewendet. In den bisherigen Zusammenhängen wurde er stets für Per-
sonen gebraucht, die sich nicht der gemeinsamen Linie der Anteilseignervertreter
anschließen wollten oder zu sehr auf ihrer eigenen Person beharrten (vgl. S. 126 ff.).
Hier bezeichnet er nun die Tatsache, dass der Aufsichtsratsvorsitzende seine Kol-
legen nicht als solche behandelt, sondern weitgehend entscheidet, wie es ihm be-
liebt. Denn wenn der Aufsichtsratsvorsitzende auch in allen anderen Gremien die
entscheidende Instanz ist, so gilt es doch, die Kollegen zu fragen, Diskussionen
zuzulassen und nur im Entscheidungsfall einzugreifen. Dies geschieht hier nicht.
Dennoch greift auch in diesem Fall das Oppositionsverbot. Selbst der Großak-
tionär hält sich hieran (Interview Vertreter Großaktionär):

Befragter: Einfach mal zurückhaltend sein. Unser Haus hatte (.) doch ganz gehörige
Bremsspuren äh hinterlassen (.) und dann gehörte es sich einfach, äh, dass man (.) sich
ganz hinten anstellt und äh letzten Endes äh auch ein [Unternehmen] erst kennenlernen
äh muss, äh um festzustellen, wo kann man seinen eigenen Sachverstand am besten
einbringen und dem Haus dann auch wirklich die Unterstützung anbieten zu können,
die es wichtig war und die notwendig war (.) und das kann man aus einer Distanz äh
sicherlich besser äh ent-erlernen und-und-und auch sehen. Auch mit dem Stück Demut,
das ich immer gut halte, äh, wenn man eigentlich nicht verliert im Laufe seiner Zeit, egal
welche (.) Höhen man äh mal erreicht hat und-und damit äh war es eigentlich für mich.

Letztlich gelte es, sich in der Aufsichtsratsarbeit erst einmal zurückzuhalten, zumal
sein Unternehmen „gehörige Bremsspuren“ hinterlassen habe (hier bezieht sich der
Befragte auf einige Konflikte in der jüngeren Vergangenheit, die das Unternehmen
fast in die Insolvenz getrieben hätten). Man müsse das Unternehmen, in dem man
eingestiegen sei, erst einmal kennenlernen, bevor man Forderungen stelle, und
„Demut“ zeigen.
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 263

Der Befragte elaboriert hier das Oppositionsverbot – denn nichts anderes ist
mit dem Begriff der Demut gesagt: Man muss sich zunächst einmal dem Wort
des Aufsichtsratsvorsitzenden beugen. Darüber hinaus wird die Missachtung des
Aufsichtsratsvorsitzenden für die Regeln der Kollegialität legitimiert: Zwar wird
es als unangemessen empfunden, dass man nicht in Entscheidungsprozesse einge-
bunden wird. Damit es jedoch nicht zum offenen Konflikt zwischen den Anteils-
eignervertretern kommt, wird dies begründet, indem man sagt, dass man seinen
„Sachverstand“ erst dann kompetent einbringen könne, wenn man das Haus besser
kenne. Mangelnde Vertrautheit mit dem Unternehmen – die man dem Aufsichts-
ratsvorsitzenden nicht vorwerfen kann (s. o.) – dient als Begründung dafür, warum
dieser allein entscheidet: Er kennt sich aus und kann einschätzen, wann er von
jemandem eine Expertise benötigt. Auf diese Weise ist eine semantische Konst-
ruktion geschaffen, die eine Legitimation dafür bietet, warum der Großaktionär
nichts in dem Aufsichtsrat zu sagen hat und noch nicht einmal als kompetenter
Kollege gewürdigt wird. Die Entscheidungsfindung im Gremium und die Einheit
der Anteilseignervertreter unter der Führung des Aufsichtsratsvorsitzenden wird
gewährleistet.
Den Anspruch, den der Aufsichtsratsvorsitzende auf Anteilseignerseite formu-
liert, erstreckt sich dabei auch auf die Arbeitnehmerbank (Interview Aufsichtsrats-
vorsitzender):

Befragter: Sie brauchen ein gehöriges Maß an Menschenkenntnis, (…) sonst äh, (.)
gerade im Dienstleistungsbereich, wo Sie mit Menschen zu tun haben, wenn Sie das nicht
haben, (..) wenn Sie nur von Zahlen leben, (.) haben Sie keine Chance.
Interviewer: Ach ja, genau, man hat es oder man hat es nicht.
Befragter: Ja, das ist ein bisschen was vorhanden, äh, aber man kann Menschenkenntnis
auch lernen, indem man (.) äh zuhört, indem man Menschen ja, einfach zuhört, wahr-
nimmt. Sie nicht nur (.), denn, dann hier so was auf dem Tisch gelegt wird und sagen,
das hat der auf den Tisch gelegt, das lese ich jetzt und dann ist es weg, sondern einfach
mal zuhört und den Mensch beobachtet und (.) seine Gestik, sein-sein Auftreten, seine
Erscheinung, seine Sprache, (..) äh sind viele Faktoren, die da zusammenkommen (..)
und äh ich habe äh (..), das sage ich immer wieder, Menschenkenntnis gelernt bei, in
meiner Militärzeit, (…) erstaunlicherweise, weil ich da mit Menschen zusammengekom-
men bin, mit denen ich sonst nie zusammengekommen wäre. Und ich musste mich als äh
(..), naja das war jetzt, ja, ich war äh (…), hatte Bank gelernt...
Interviewer: (lacht).
Befragter: … und bin dann mit den Bierbrauern und den Bauern und den Maurern äh
auf einer Stufe gewesen und das waren alles solche Kerle, nicht wahr? Wir haben immer
gesagt, ja, wir haben es hier [deutet auf seinen Kopf] und der hat es da [deutet seinen
Arm], nicht. (alles lacht). Gut, mit dem musste ich umgehen, ich musste mich durchset-
zen und ich musste dann äh (.) ja, am Ende waren die alle sehr happy mit mir und äh (.)
wir haben gut miteinander funktioniert und (..) ja, das, da, lernt man viel.
264 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

„Menschenkenntnis“ sei entscheidend, wenn man einen Aufsichtsrat führe, so der


Befragte. Die Proposition des Interviewers, dass man diese habe oder nicht, lehnt
er ab, sondern führt aus, dass man den Menschen zuhören lernen müsse. Dies habe
er während seiner Zeit bei der Bundeswehr gelernt, während der er mit „Bierbrau-
ern und den Maurern auf einer Stufe gewesen sei“. Diese hätten es nicht im Kopf,
sondern würden nur kräftig sein. Doch auch hier habe er sich durchsetzen gelernt.
Wenn der Begriff der „Menschenkenntnis“ auf den ersten Blick etwas wie eine
Dialogorientierung nahelegen mag, so stellt er sich auf den zweiten Blick als klare
hierarchische Orientierung heraus. Der Aufsichtsratsvorsitzende trennt klar zwi-
schen den Menschen, die „etwas im Kopf “ haben, und denjenigen, die „anpacken
können“. Ersteren wird dabei eine klare Führungsrolle zuerkannt. Sie müssten sich
„durchsetzen“, wozu sie „Menschenkenntnis“ bräuchten. Letztere erscheinen hin-
gegen vor allem als ausführende Kräfte für den Willen und den Intellekt Ersterer.
Aus dieser Perspektive kann für einen Dialog mit den Arbeitnehmervertretern
nicht viel Platz sein. Zwar muss man ihre Position kennen und verstehen und sie bei
der Entscheidungsfindung berücksichtigen („Menschenkenntnis“), jedoch kann
nicht die Rede davon sein, dass man diesen Arbeitnehmervertretern eine Form
der Kompetenz oder ein Mitspracherecht einräumt. Sie bleiben reine ausführende
Kräfte, die auf ihre Kraft zurückgeworfen sind und sich letztlich dem überlegenen
Intellekt des Managements zu unterwerfen haben.
Zusammenfassend kann man die hier vorliegende Konstruktion als funktio-
nal äquivalent zur Anteilseignerseite der Merz Services AG sehen. Auch dort wird
die Entscheidungs- und Deutungshoheit über die Position und die Interessen der
Arbeitnehmervertreter letztlich beim Management gesehen. Wie hier ist es auch
dort selbstverständlich, dass man die Position der Arbeitnehmervertreter ver-
stehen und auf sie eingehen muss. Inwieweit dies geschieht, ist jedoch Sache der
Anteilseignervertreter, keinesfalls Gegenstand einer Verhandlung mit den Arbeit-
nehmervertretern oder Resultat eines Dialogs. Hier wie auch dort sind die Anteils-
eignervertreter diejenigen, die in jedem Fall über das bessere Wissen verfügen und
allein die jeweiligen Entscheidungen treffen. Es besteht zwar die Auffassung, dass
dies in Rücksichtnahme auf die Arbeitnehmervertreter geschieht, nicht jedoch,
dass diese tatsächlich eine Sprecherposition dabei hätten.

4.5.2.2 Arbeitnehmervertreter: Unterordnung und Bewunderung


Die Arbeitnehmerbank unterscheidet sich strukturell von den zuvor vorgestellten
Arbeitnehmerbänken dadurch, dass sie sich nur aus betrieblichen Arbeitnehmer-
vertretern zusammensetzt und weder ein Vertreter der leitenden Angestellten
noch Gewerkschaftsvertreter Mandate innehaben. Des Weiteren besetzen die
Arbeitnehmervertreter hier nur ein Drittel des Aufsichtsrats. Dies ist Resultat der
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 265

Drittelmitbestimmung. In der Folge ist die zu bearbeitende interne Komplexität der


Arbeitnehmerseite geringer als in den bisher vorgestellten Unternehmen, da sämt-
liche Arbeitnehmervertreter Betriebsräte sind.
Die Positivstruktur der Arbeitnehmervertretung ist hier mit Blick auf den Auf-
sichtsrat jedoch funktional äquivalent zum Fall der Merz Services AG, wenn diese
funktionale Äquivalenz auch auf einem anderen Weg erreicht wird (Interview Ar-
beitnehmervertreter):

Interviewer: Was heißt denn, äh Arbeitnehmervertretung für Sie?


Befragter: Arbeitnehmervertretung heißt für mich, (.) dass ich die Mitarbeiter in ihren
Angelegenheiten vertrete. Das ist dieser allgemeine Satz, der immer so toll klingt, aber
schwierig zu machen ist.
Interviewer: Ja.
Befragter: Weil es ist eine Gratwanderung (.), denn auf der einen Seite, ich bin ja zum
Beispiel in [Bereich] tätig, (.) äh (.) trag ich in mir eine ungeheure Verantwortung für
dieses Unternehmen, für mich selber. (.) Ja, wo ich im, aus meiner eigenen Einstellung.
Die unternehmerische Denke gebe ich deswegen nicht ab (.), äh (.), ich weiß, dass-dass
strukturelle Maßnahmen äh für die Existenz des Unternehmens nötig sind (.), dürfte ich
aber gar nicht dann, so nach dem Motto die Einstellung haben, weil ich muss ja für die
Arbeitsplätze äh-äh Sorge tragen. Es ist, also dieser-diese Art von-von Arbeitnehmerver-
tretung ist immer ein Lauf auf der Kante. Ja und das-das macht es (.) auf der einen Seite
schwierig, aber auch auf der anderen Seite interessant. Also meine Pflicht ist es, ist es
auch (.), äh (.) Beispie-, ich, n-nur mal so ein Beispiel, als wir in den letzten äh (.) Auf-
sichtsratssitzung diskutiert hatten über das (.), äh da hatte dann äh ein Vorstand gesagt,
ja, wir müssen mit den Verwaltungskosten runter und wahrscheinlich so zehn Prozent.
Das ist für mich der Punkt, wo ich einhake (.), wo ich die Hand hebe und sage, (.) äh (.)
bitte denkt da drüber nach, äh über sämtliche, nicht nur Kosteneinsparungs-äh-poten-
ziale, sondern auch Ertragssteigerungspotenziale, weil Verwaltungskosten in der Regel
immer zu Lasten der Arbeitnehmer gehen und das ist mir zu einfach.

Die Arbeitnehmer zu vertreten klinge einfach, sei aber schwer zu machen, so der
Befragte. Denn in der eigenen Position trüge er selbst hohe Verantwortung für das
Geschäft und wisse auch, dass Arbeitsplatzabbau häufig nicht zu umgehen sei. Soll-
te der Vorstand jedoch mit solchen Plänen kommen, frage er dennoch nach.
Auf den ersten Blick zeichnet sich in diesem Zitat eine Ambivalenz ab, die sich
auch in anderen Arbeitnehmerbänken findet, insbesondere in den Unternehmen
des Typs 2 und 3: Auf der einen Seite steht die Verantwortung für das Unternehmen,
die wirtschaftliche Kontextur, auf der anderen Seite die politische Verpflichtung
gegenüber den Kollegen. Im Unterschied zu den Genannten lässt sich hier jedoch
eine eindeutige Präferenz für die ökonomische Kontextur beobachten. Denn wäh-
rend das Eintreten für Arbeitnehmerinteressen als strukturell bedingt angesehen
wird („meine Pflicht ist es“), wird die ökonomische Kontextur als primäre Kontex-
tur zur Deutung der eigenen Arbeit herangezogen. Die „unternehmerische Denke“
266 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

wird als die relevante betrachtet, trotz des Wissens um die Problematik dieser Re-
ferenz („dürfte ich aber gar nicht“). Während also Arbeitnehmervertretung theo-
retisch durchaus als Interessenvertretung gesehen wird – hierin unterscheidet sich
die Nürnberger Handelsgesellschaft von der Merz Services –, erscheint diese Di-
mension im Aufsichtsrat eher als lästige Pflicht. Noch deutlicher wird in diesem
Punkt der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende:

Befragter: Das ist, denke ich mal, eine kurzfristige Sichtweise, weil (.) äh ich verstehe es
auch nicht, wie man die Arbeitnehmerbank als Gegner bezeichnen kann, also die sind
abhängig von diesem Unternehmen, also wir können letztendlich keine Knüppel zwi-
schen die Sch-Beine schmeißen, das ist unser Arbeitgeber, ich werde bezahlt von dem, ich
bin kein Satellit, der von außen...
Interviewer 1: (lacht).
Befragter: … drüberguckt und äh jenseits dessen steht und mein Gehalt von irgendwo
beziehe. Nein, jeder Mitarbeiter hier trägt mein Gehalt mit bei und wenn sich da jemand
kümmert (.), um den Erhalt der Arbeitsplätze, selbst wenn es mal eine Entscheidung
gibt, die nicht so populär sind, auch für den Betriebsrat nicht populär sind, muss ich
wiederum da das Ganze sehen.
Interviewer 2: Klar.
Befragter: Und wenn das Ganze äh, sage ich mal, auf (.) äh gutem Boden steht, (.) äh
dann muss ich manchmal auch das schlucken, äh dass das ein oder andere äh nicht so
Erfreuliche (.) dann mit dabei ist.

Für ihn sei es nicht nachvollziehbar, wie das Management die Arbeitnehmervertre-
ter als Gegner betrachten könne, da diese doch auf das Unternehmen angewiesen
seien. Er sei kein „Satellit“ der Gewerkschaft, sondern um die Arbeitsplätze be-
sorgt. Und wenn Entscheidungen, die das Unternehmen erhalten, schwer vermit-
telbar seien, so müssten diese trotzdem getroffen werden.
Die klare ökonomische Orientierung gewinnt hier weiter an Profil. Die Möglich-
keit einer Oppositionsrolle gegenüber dem Management wird gänzlich abgelehnt.
Es kommt auch zu keiner Brückenkonstruktion, die eine abweichende ökonomi-
sche Meinung erlauben würde. Anders als im Fall der Arbeitnehmervertreter in den
Unternehmen des Typs 2, in denen etwa eine zu starke Kennzahl- oder Finanzmarkt-
orientierung vorgeworfen wird. Vielmehr entsteht im vorliegenden Fall, wie auch im
Fall der Merz Services AG, eine vollständige Akzeptanz der von den Anteilseigner-
vertretern vorgegebenen ökonomischen Situationsdefinition. Entsprechend sieht
die Arbeitnehmervertretung auch hier ihre Aufgabe vor allem darin, das Manage-
ment zu informieren (Interview stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Äh also man (.) trennt nicht strikt, äh lässt das eine draußen vor, geht rein
und sagt, jetzt bin ich jemand anderes und das, wenn (.) Themen angesprochen werden,
die (.), sag ich mal, auch Belange der Arbeitnehmer als solches äh tangieren, werden die
auch in das (.) Aufsichtsratsgremium hineingetragen, damit also auch diejenigen, die
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 267

Entscheidungen treffen (.), wissen, wie es von Arbeitnehmerseite aus, belegschaftsseit-


lich auch (.) äh getragen beziehungsweise gesehen wird. Weil manchmal macht es wenig
Sinn, gegen die Belegschaft Entscheidungen herbeizuführen, äh weil man dann nur (.),
sag ich mal, mit Schwierigkeiten zu tun hat, die (.) letztendlich wiederum (.) äh (.) es
bedeutet, dass man Dinge nicht so umsetzen kann, wie man das eigentlich möchte. (.)
Äh, sodass man dann über diesen Weg (.) und jetzt sind wir dann so ein bisschen bei
diesem Prozess, eben auch im Vorfeld mal sprechen kann und sagen kann, geht das nicht
auch (.) ein bisschen anders rum. (.) Äh, dass man einfach das Verständnis und die Mit-
arbeiter mitnehmen kann.

Auch im Aufsichtsrat habe man immer noch einen Hintergrund als Betriebsrat, so
der Befragte. Und die Themen, mit denen er sich als Betriebsrat befasse, bringe er
natürlich auch in den Aufsichtsrat ein. Hier sei es seine Aufgabe, dass „diejenigen,
die Entscheidungen treffen“, die Perspektive der Arbeitnehmer kennen und sie in
ihre Erwägungen aufnehmen. Denn Widerstand von den Arbeitnehmern könne zu
Problemen bei der Umsetzung von Entscheidungen führen.
Bezeichnend an dieser Passage ist das Selbstverständnis als reiner Informations-
vermittler gegenüber „denjenigen, die Entscheidungen treffen.“ So ist es denn für
den Befragten selbstverständlich, dass er nicht zu diesen gehört. Er trifft keine
Entscheidungen, wie auch die Arbeitnehmervertreter der Merz Services, sondern
informiert nur die „Experten“ (vgl. S. 239 f.). Diese Information dient auch nicht
dazu, dass die Interessen der Arbeitnehmer bedacht werden – anders als im Fall der
Merz Services, sondern nur dazu, mögliche operative Konsequenzen einschätzen
zu können. Wo im Fall der Merz Services die „Ängste“ der Arbeitnehmer bedacht
werden sollten, geht es hier nur darum, den Anteilseignervertretern und dem Vor-
stand ein umfassendes Bild zu geben, um die wirtschaftlich beste Entscheidung
herbeizuführen.
Ein weiterer Unterschied gerade zu den Arbeitnehmervertretern des Typs 2 und
3 besteht auch darin, dass die Arbeitnehmervertretung der Nürnberger Handels-
gesellschaft sich selbst keine Kompetenz zurechnet. Während Erstere für sich be-
sondere Kenntnisse interner Abläufe, Vertrautheit mit Standorten oder Produkten
in Anspruch nehmen und hier eine Komplementärkompetenz aufbauen, die sie
zur Mitsprache berechtigt, kommt es hier nicht zur Mitsprache, sondern nur zur
reinen Information der Entscheider. Wie weit diese Unterwerfung der Arbeitneh-
mer unter die Anteilseignervertretung geht, zeigt auch folgende Passage (Interview
betrieblicher Arbeitnehmervertreter):

Befragter: Nee, haben wir den äh-äh (…) äh Herrn [Anteilseignervertreter] (..), Herrn
Dr. [Anteilseignervertreter]. (.) Also der-der nun nur so ein bisschen aus einer anderen
Richtung kommt (.), der (.), der (.) die Fähigkeit hat (.), solange zu fragen und solange zu
bohren, dass zwar der Vorstand schon manchmal äh (.) genervt ist, (.) aber der ist dann
wie so ein Terrier und lässt sich da auch nicht abbringen.
268 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Interviewer: (lacht).
Befragter: Und das ist dann (.), das ist wirklich gut, dass wir solche Leute drin haben. Ja.
Interviewer: Hm a-aber was macht denn Herr-Herr [Aufsichtsratsvorsitzender] dann,
wenn Herr Dr. [besagter Anteilseignervertreter] loslegt?
Befragter: Äh der ist ganz geduldig.
Interviewer: Okay.
Befragter: Der ist ganz geduldig.
Interviewer: Also der wartet dann ab, bis die...
Befragter: Ja.
Interviewer: … Beißattacke vorbei ist?
Befragter: Ja (lacht).
Interviewer: (lacht)
Befragter: Weil-weil äh, weil ich glaube, äh (.), die vom Fach Ahnung haben, äh die
kriegen schon mit, dass er zwar äh manche Dinge nicht kennt, nicht weiß, was man (.),
was man ihm aber ja gar nicht übel nehmen darf, sondern er arbeitet damit ja an seinen
eigenen Qualifikationen (.) und stellt aber auch dann äh als vierte oder fünfte Frage
wirklich (.) essenzielle Sachen (.), wo dann auch der Vorstand noch mal na-, äh noch mal
in sich gehen muss und-und sagen muss, okay, (.) äh, denken wir mal drüber nach. Also
ist wirklich sehr gut. Diese zwei sind auch meine Vorbilder. (alles lacht). So-so-so stellt
man sich ja dann auch Aufsichtsratsarbeit vor, ja.

Ein bestimmter Anteilseignervertreter, der aus einer andern Branche stamme, habe
die Angewohnheit, den Vorstand lange und ermüdend auszufragen, und ließe sich
hiervon nicht abbringen. Der Aufsichtsratsvorsitzende nehme dies hin. Der Befrag-
te schätze dies. Denn der besagte Anteilseignervertreter kenne sich aus und stelle
wichtige Fragen, so dass dieser und der Aufsichtsratsvorsitzende seine „Vorbilder“
seien, die Aufsichtsratsarbeit so praktizierten, wie er sich dies vorstelle.
Wohl kein Arbeitnehmervertreter aus einem der Unternehmen des Typs 1, 2
oder 3 würde so weit gehen, Anteilseignervertreter als „Vorbild“ zu bezeichnen,
dem es nachzueifern gelte. Zwar findet man immer wieder Anerkennung für gute
Arbeit, Engagement und Qualifikation, doch wird stets die Berechtigung der eige-
nen Position gewahrt. Die Arbeitnehmervertreter der anderen Typen verfügen
ausnahmslos über semantische Konstruktionen, die der Arbeitnehmervertretung
einen Eigenwert gegenüber den Anteilseignervertretern geben – sei dies nun eine
politische Legitimation oder eine bestimmte Form der Komplementärkompetenz.
Dies geschieht hier nicht. Das Arbeitnehmervertreterdasein erscheint vielmehr als
eine defiziente Form der Mandatschaft, die sich durch geringere Kompetenz und
lästige politische Verpflichtungen auszeichnet, die es möglichst abzulegen gilt. Ideal
hingegen scheinen Anteilseignervertreter, die besonders stark auf ihrem eigenen
Vorgehen beharren und die als „Alphatiere“ gelten – wie der Aufsichtsratsvorsit-
zende – oder zumindest als solche gelten könnten.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Arbeitnehmervertretung im vor-
liegenden Fall funktional äquivalent zum Fall der Merz Services ist. In beiden Fällen
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 269

wird die übergeordnete Position der Anteilseignervertreter vorbehaltslos anerkannt.


Diese gelten als „Experten“, bzw. „Vorbilder“, sind „diejenigen, die Entscheidungen
treffen“, während die Arbeitnehmervertreter ihre Funktion einzig und allein dar-
in haben, diese Entscheider mit Informationen über die Stimmung der Mitarbeiter
zu versorgen. Während diese Informationen im Fall der Merz Services allerdings
dazu dienen sollen, dass die Anteilseignervertreter sich um die „Ängste“ der Arbeit-
nehmer kümmern, geht es im vorliegenden Fall darum, das ökonomisch möglichst
gute Entscheidungen getroffen werden. Politische Legitimität wird damit im vorlie-
genden Fall mit wirtschaftlichem Erfolg gleichgesetzt, der dann zur Sicherung von
Arbeitsplätzen führt, während politische Legitimität im Fall der Merz Services un-
mittelbare Sorge um das Wohl der Arbeitnehmer ist. Dies ist wohl der wesentliche
Unterschied der beiden Unternehmen. Beide Fälle haben jedoch gemein, dass die
Verantwortung für die politische Legitimität von Entscheidungen einzig und allein
aufseiten der Anteilseignervertreter liegt. Im einen Fall müssen sie die soziale Ver-
träglichkeit von Entscheidungen mitreflektieren, im anderen Fall für ökonomischen
Erfolg sorgen, der dann freilich wieder langfristig Arbeitsplätze sichern soll. Dies ist
wohl auch der Grund, warum es seitens der Anteilseignervertreter keiner zusätz-
lichen Reflexion auf die politische Dimension ihrer Entscheidung bedarf.

4.5.2.3 Zusammenarbeit: Wirtschaftlicher Erfolg als politische


Legitimität
Die Kontextur der Zusammenarbeit beider Seite ist auf dem Hintergrund der
Struktur von Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretung ohne weitere Überra-
schungen aufgebaut. So beschränkt sich die Einbindung der Arbeitnehmervertre-
ter durch den Aufsichtsratsvorsitzenden weitgehend auf symbolische Einbindung
(Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Es macht sich höchstens so bemerkbar, dass man aufpassen muss, dass die
Arbeitnehmervertreter nicht das Gefühl kriegen, dominiert zu werden, also man sollte
sehr sorgfältig und äh achtsam (.) ...
Interviewer: Okay.
Befragter: … äh mit ihnen umgehen, ich tue das jedenfalls, sie sollen immer das Gefühl
haben, dass sie ernst genommen werden (..) und dass sie nicht eine Restgröße sind äh-äh,
die man nur braucht, weil das Gesetz so ist, wie es ist. (…) Und das tut gut. (.) Den
Betroffenen.
Interviewer: M-hm.
Befragter: Und mir auch.

Deutlich wird hier, dass es keinesfalls darum geht, den Arbeitnehmervertretern tat-
sächlich Mitsprache einzuräumen. Die Praxis der Zusammenarbeit gestaltet sich
für den Aufsichtsratsvorsitzenden vielmehr so, dass Mitsprache simuliert wird.
Für ihn stellt sich nicht die Herausforderung darin, die Arbeitnehmervertreter von
270 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

der eigenen Position zu überzeugen, sondern vielmehr das Problem, so zu tun, als
wären sie an der Aufsichtsratsarbeit tatsächlich beteiligt, als hätten sie einen Bei-
trag zur Diskussion zu leisten. Dieser Beitrag beschränkt sich dann jedoch auch
auf ein reines Dabeigewesen-Sein; es wird weder eine besondere Kompetenz si-
muliert noch die Beachtung einer spezifischen Arbeitnehmerposition (Interview
Aufsichtsratsvorsitzender):

Befragter: Ich würde sie nicht so sehr als kontrollierendes Element jetzt äh in diesem
Ausschuss sehen, (.) sondern eher als ein begleitendes Element, das auch der Gesamt-
arbeitnehmervertretung das Gefühl sib-gibt, sie sind wahrgenommen.
Interviewer 1: M-hm.
Befragter: Und zwar richtig, (..) das ist für mich viel wichtiger in dem Zusammenhang.
Interviewer 1: Okay.
Interviewer 2: Also mehr so in Richtung Partizipation und ...
Befragter: Ja (.) richtig. Wenn Sie sagen können, sie haben an der Aufstellung der Bilanz
mitgewirkt, das ist doch ein wichtiges Signal für die Arbeitnehmer. Damit übernehmen
sie auch ein Haufen Verantwortung. (.) Weil das ist nicht immer lustig, was in der Bilanz
steht.
Interviewer 1: (lacht) Mischen die sich dann auch wirklich dann richtig ein in der Sit-
zung oder ist das mehr (..), sie sind halt sozusagen wie so eine Art Beobachter.
Befragter: Die Arbeitnehmer?
Interviewer 1: Arbeitnehmervertreter.
Befragter: Ja, ja, sie sind mehr Beobachter.

Die Arbeitnehmervertreter seien Beobachter im Aufsichtsrat, doch sei es wichtig,


ihnen das Gefühl zu geben, sie hätten an unternehmerischen Entscheidungen mit-
gewirkt. Auch für die Arbeitnehmervertreter, die nicht im Aufsichtsrat säßen, sei
dies von Bedeutung. So könne man ihnen etwa das Gefühl von Teilhabe geben,
wenn die Arbeitnehmervertreter sagen könnten, sie hätten an der Bilanz mitge-
arbeitet, was unternehmerisch eine wichtige Aufgabe sei.
Deutlich wird hier noch einmal, dass das Gefühl der Beachtung und Teilnah-
me, was den Arbeitnehmervertretern vermittelt werden soll, nicht das Gefühl der
Beachtung einer besonderen, von den Anteilseignervertretern abweichenden Posi-
tion liegt. Es geht nicht darum, die Arbeitnehmervertreter als Interessenvertreter
zu beachten. Vielmehr geht es darum, dass die Arbeitnehmervertreter symbolisch
an der Arbeit des Managements und der Anteilseignervertreter beteiligt werden.
Ihre Legitimität bekommen die Arbeitnehmervertreter paradoxerweise also durch
ihre Arbeitgeber-Eigenschaften. Je näher sie an die Anteilseignervertreter und den
Vorstand rücken, desto legitimer scheinen sie, weil sie damit das Gefühl vermitteln,
die Arbeitnehmer würden an der Steuerung des Konzerns selbst mitwirken.
Die Perspektive der Arbeitnehmervertreter zeigt sich hier völlig komplementär
(Interview Arbeitnehmervertreter)
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 271

Befragter: Äh (.) das ist das eine. Zu Herrn [Aufsichtsratsvorsitzender] (.) hm (.) muss
man den Mut haben, äh (.) ihn auch anzusprechen (.), äh (.) und das mache ich auch
(.) und äh (.) ich kriege da immer (.) auch eine fundierte Antwort (.) und auch ein Ent-
gegenkommen. Also l-selbst wenn eine Frage nicht ganz so (.) geschickt war vielleicht,
weil ich auch immer sehr-sehr direkt bin (.), äh (..) nimmt er es auf und lässt es mich
nicht merken, ne. Das-das macht er schon. (alles lacht). Ja ist schon in seiner Weise, ist
er schon (lacht) großzügig.
Interviewer 1: Sie sagen, dann Mut haben.
Befragter: (.) Ja.
Interviewer 1: W-w-warum denn, was macht ihn denn so (.) besonders oder unnahbar?
Interviewer 2: Gefährlich.
Befragter: Also (.) er (.), er ist von seinem (.) Erscheinungsbild schon ein unnahbare Typ
(..). Äh da muss man erst mal eine gewisse Barriere durchbrechen (.) und es ist (.) es ist
n-nonverbal, (.) dass man merkt, oh der Mann ist (.)/hat so viel Know-how, der ist so (.),
so clever, (.) äh bevor du an den rantrittst, musst du dir dreimal überlegen, was du sagst.

Mut müsse man haben, um den Aufsichtsratsvorsitzenden anzusprechen, da er


aufgrund seiner Kompetenz und seiner „Cleverness“ Respekt einflöße. Man müsse
sich seine Fragen gut überlegen. Und wenn man sie ihm dann stelle, ließe er den
Fragenden auch nie merken, dass die Frage vielleicht nicht „geschickt“ gewesen sei.
Hierin sei er sehr „großzügig“ und „entgegenkommend“.
Der Aufsichtsratsvorsitzende erscheint hier beinahe als quasi-sakrale Gestalt,
der gegenüber man nur als Fragender auftreten kann. Jedoch selbst eine Frage will
gut überlegt sein, da man sich aufgrund der eigenen Unkenntnis hier zu blamieren
droht. Als quasi-sakrale Gestalt nutzt der Aufsichtsratsvorsitzende diese Schwäche
jedoch nicht aus, sondern reagiert gutmütig und nachsichtig. Die Anteilseigner-
vertreter werden hiermit für die Arbeitnehmervertreter die Referenz, der es in der
Praxis zu folgen gilt. Dabei beschränkt sich aus dieser Sicht die Möglichkeit des Han-
delns im Aufsichtsrat rein auf das Nachfragen – und zwar um selbst etwas lernen zu
können. Wirtschaftliche Unternehmensführung ist damit die Kontextur, innerhalb
der sich die gesamte Aufsichtsratspraxis abspielt. Und hier sind die Anteilseigner-
vertreter offensichtlich nicht nur fachlich, sondern auch charakterlich („großzügig“
und „entgegenkommend“) die letzte Instanz, von der man nur lernen kann.
Diese Einseitigkeit im Verhältnis von Arbeitnehmer- und Anteilseignervertre-
tern lässt dabei die Frage der Legitimation der Arbeitnehmervertreter aufkommen.
Es stellt sich die Frage, welche Funktion sie im Aufsichtsrat haben, worauf auch die
Arbeitnehmervertreter keine schlüssige Antwort mehr finden (Interview stellver-
tretender Aufsichtsratsvorsitzender):

Interviewer: (lacht) Aber was ich äh ganz spannend finde, ist, Sie sind ja stellvertretender
Vorsitzender in dem, in dem Gremium, was ja, was von Gesetzwegen nicht so sein muss
bei der Drittelmitbestimmung.
Befragter: Das ist richtig.
272 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Interviewer: Äh (.) warum hat man sich entschlossen, (.) bei Ihnen im Aufsichtsrat, das
so zu regeln?
Befragter: Äh ich denke, das ist ein (.) äh Beweis dafür, dass man, sag ich mal, eine
(..) Gleichgewichtigkeit (.) nach außen hin darstellen möchte, um zu sagen, also äh die
Arbeitnehmervertreter haben also hier auch (.) von Amts wegen ein äh gewisses äh
Recht, mit dabei zu sein, (.) äh eingebunden zu sein, äh auch Informationen äh dann
mehr zu (.) äh bekommen und nach außen hin zu dokumentieren, äh hier findet also (.)
eine (.), ja (.) äh transparente oder eine Kommunikation statt, äh, die auf einer gewissen
Augenhöhe (.) äh (.) dann sich bewegt.

Auf die Frage danach, warum ein Arbeitnehmervertreter stellvertretender Auf-


sichtsratsvorsitzender geworden ist, antwortet der Befragte, dass dies „nach außen
hin“ die Beteiligung der Arbeitnehmervertreter symbolisiere. Auch das Gesetz sehe
die Beteiligung der Arbeitnehmervertreter vor und auf diese Weise könne eine „ge-
wisse Augenhöhe“ zwischen Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern „doku-
mentiert“ werden.
Die Position der Arbeitnehmervertreter scheint hier nur noch durch den recht-
lichen Rahmen begründet. Entsprechend ist das Amt des stellvertretenden Auf-
sichtsratsvorsitzenden hier nur noch ein Zeichen in das Unternehmen hinein. Es
soll symbolisieren, dass die Arbeitnehmervertreter ernst genommen werden, hat
jedoch kein tatsächliches Gewicht.
Die Position der Arbeitnehmervertreter hängt dann nur noch von der Insze-
nierung ihrer Bedeutung durch die Gunst des Aufsichtsratsvorsitzenden ab. Bricht
diese weg, so bleibt den Arbeitnehmervertretern wenig anderes als Schweigen üb-
rig (Interview Arbeitnehmervertreter):

Befragter: (.) Hm (…) hm (.), jede Gruppe hat ihre eigenen Interessen (..) in allererster
Linie. (.) Wir aus Arbeitnehmersicht (.) und wenn ich dann manchmal so Fragen stelle,
dann kriege ich auch vom Vorstand schon mal äh die Antwort, naja, aber die Arbeit-
nehmer und das hat da, damit nix zu tun (.) äh-äh die Arbeitnehmer Herr Trallala,
mir ging es dann gar nicht um die Arbeitnehmer (lacht), sondern das war von mir eine
reine Fachfrage. (alles lacht). Um hinter die Prozesse zu gucken (.), äh (.) also man wird
auch so wahrgenommen, dass man (.) äh sich auch nur zu Arbeitnehmersachen (lacht)
äußert, äh das ist...

Wenn er dem Vorstand eine Frage stelle, so der Befragte, bekäme er häufiger die
Antwort, dass das angesprochene Thema keine Arbeitnehmerinteressen tangiere,
die Frage daher überflüssig sei.
Eine legitime Sprecherposition haben die Arbeitnehmervertreter, wie sich hier
sehen lässt, nur noch dann, wenn sie inszeniert wird und diese Inszenierung von den
Anteilseignervertretern und Vorständen getragen wird. Wird diese Inszenierung
von einigen Personen nicht getragen – wie in diesem Fall von den Vorständen –,
4.5 Typ 4: Legitime Wirtschaft 273

zeigt sich die völlige Hilflosigkeit der Arbeitnehmervertreter. Die Sprecherposition


innerhalb der ökonomischen Kontextur – fachlicher Sachverstand – wird ihnen ab-
erkannt und die ihnen zugestandene Sprecherposition innerhalb einer politischen
Kontextur wollen sie nicht übernehmen. In der Konsequenz können sie nur noch
schweigen.
Einstimmige Entscheidungsfindung stellt auf diesem Hintergrund entspre-
chend kein Problem mehr dar (Interview Aufsichtsratsvorsitzender):

Interviewer: Aber kommt es bei der [Nürnberger Handelsgesellschaft] öfter vor, dass
nicht einstimmig abgestimmt wird?
Befragter: Nein, (..) also ich habe das jetzt seit, (.) gut, äh (..) es kann schon mal sein, dass
sich einer mal der Stimme enthalten hat oder so was, ja, aber dass jetzt einer, sagen wir
mal, dagegen, dass es jetzt eine Kampfabstimmung gab, wo sieben zu fünf abgestimmt
worden ist, also das können Sie vergessen, ja.

Die Struktur der Zusammenarbeit des Aufsichtsrats der Nürnberger Handelsgesell-


schaft stellt sich somit als funktional äquivalent zu derjenigen der Merz Services
dar. In beiden Fällen sind es die Anteilseignervertreter, die den Raum dominieren
und ihn bestimmen. Ihre Entscheidungen sind gleichsam die Träger politischer
Legitimität und ökonomischer Rationalität. Im Fall der Merz Services heißt dies,
das die Anteilseignervertreter die politische Dimension mitführen. Im Fall der
Nürnberger Handelsgesellschaft heißt dies, dass der ökonomische Erfolg zugleich
das politisch Legitime ist. In beiden Fällen haben die Arbeitnehmervertreter damit
keine eigene Sprecherposition. Sie hängen vollständig an der Definitionsmacht der
Anteilseignervertreter und können hier bestenfalls Informationen über die Stim-
mung im Unternehmen liefern – ohne dass dies jedoch als eigene Kompetenz im
Unterschied zu den Anteilseignervertretern aufgebaut würde. Bei Letzteren liegt
die Entscheidungsmacht und Letztere bestimmen, inwieweit die Arbeitnehmerver-
treter eingebunden werden.

4.5.3 Zusammenfassung

Der Typ 4 ist vielleicht dahingehend der ungewöhnlichste, als dass es hier überhaupt
nicht zu einer Differenz zwischen Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretern
kommt, die durch eine Kompromissorientierung (Typ 2) oder durch die Installa-
tion einer sekundären Differenz von „Internen“ und „Externen“ (Typ 3) überbrückt
wird. Vielmehr besteht hier ein Kontextur der Aufsichtsratsarbeit, in dem die An-
teilseignervertreter sowohl für das Arbeitnehmer- als auch Anteilseignerinteresse
274 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

zuständig sind. Für die Arbeitnehmervertretung bleibt hier dann die Rolle der Ma-
nagementassistenz.
Arbeitnehmervertreter des Typs 4 geben ihre Rolle zwar mit dem Begriff der
Interessenvertretung an, klammern dies jedoch sofort wieder ein. Stets wird das,
was Arbeitnehmerinteresse de facto heißt, auf die Seite der Anteilseignervertreter
verschoben. Dies kann wie im Fall der Merz Services so geschehen, dass es die
Anteilseigner sind, die darüber entscheiden, welche Sorgen der Arbeitnehmer be-
gründet sind und welche Maßnahmen ergriffen werden. Oder es kann wie im Fall
der Nürnberger Handelsgesellschaft im Sinne der Vorschaltung einer wirtschaft-
lichen Rationalität geschehen: Hier ist die Sorge der Arbeitnehmervertreter vor
allem, dass sie den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens nicht behindern,
und dieser wird in den Händen der Anteilseignervertreter und des Managements
gesehen. In jedem Fall heißt Arbeitnehmervertretung dann nur Managementassis-
tenz oder Zuarbeit für die Anteilseignervertreter. Arbeitnehmervertreter können
Informationen aus dem Betrieb und von den Arbeitnehmern an die Anteilseigner-
vertreter überbringen; wie mit diesen jedoch dann umgegangen wird, dafür sehen
sich die Arbeitnehmervertreter nicht mehr zuständig.
Die Anteilseignervertreter reflektieren diese Erwartungen. Sie antizipieren zu
einem großen Teil das, was als Arbeitnehmerinteresse formuliert werden würde,
würde die Arbeitnehmervertretung ihre Aufgabe hierin sehen. Sie beobachten also
die Dimension politischer Legitimität, die jeder Entscheidung anhaftet, mit und be-
rücksichtigen diese. Dies heißt im Fall der Merz Services AG, dass eine patriarchale
Kultur entsteht, in der das Management sich der Sorgen der Arbeitnehmervertreter
annimmt, soweit dies wirtschaftlich vertretbar ist. Im Fall der Nürnberger Handels-
gesellschaft ist diese fürsorgliche Dimension weniger stark ausgeprägt. Dafür wird
den Arbeitnehmervertretern konstant das Gefühl vermittelt, an dem wirtschaftli-
chen Erfolg des Unternehmens mit beteiligt zu sein und davon zu profitieren.

4.6 Basistypik: Politik und Wirtschaft

Die Basistypik einer mehrdimensionalen Typologie stellt im Sinne einer funktio-


nalen Analyse das Bezugsproblem dar, auf das die verschiedenen Typen eine Ant-
wort geben. Die Basistypik ist das Problem, das auf die eine oder andere Weise
bearbeitet werden kann. Die Typen sind die Form der Bearbeitung. Die Basisty-
pik hängt damit zum größten Teil von der Forschungsfrage ab. Bohnsack (2001,
S. 237) geht sogar so weit zu sagen, dass die Basistypik „durch das Erkenntnisinte-
resse eines Projektes vorgegeben“ ist. Diese Basistypik kann Verschiedenes sein. Sie
wird letztlich bestimmt durch die metatheoretischen Entscheidungen, aus denen
4.6 Basistypik: Politik und Wirtschaft 275

eine Fragestellung resultiert. Es kann sich etwa um eine Migrationstypik handeln,


die durch die Annahme motiviert ist, dass Migranten Probleme mit der Differenz
zwischen der Herkunftskultur und der Kultur, in der sie derzeit leben, haben. Die
darauf aufbauende Typologie fragt dann nach funktional äquivalenten Formen der
Bearbeitung dieses Konflikts (Nohl 2000). Sie kann auch etwa im Hinblick auf ärzt-
liche Entscheidungsfindung das Verhältnis von ökonomisch-administrativer Logik
als Bezugsproblem erkennen und verschiedene Umgangsformen hierzu beobach-
ten (Vogd 2004). In jedem Fall ist die Basistypik jedoch für die Typologie selbst
unhintergehbar. Sie muss sich damit zwar in der Auseinandersetzung mit dem Ma-
terial bewähren, kann hier auch modifiziert und angepasst werden. Jedoch nimmt
sie ihren Ausgang bei theoretischen Vorüberlegungen, die das Forschungsinteresse
formulieren.
Eine solche theoretische Vorüberlegung ist für die vorliegende Studie insofern
vorgenommen worden, als dass die Arbeit auf Entscheidungsfindung als Vermitt-
lung zwischen Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern fokussiert. Es geht in
diesem Sinne nicht darum, ob die Arbeitnehmervertreter ihre Interessen erfolg-
reich durchsetzen, wie dies bei Bamberg et al. (1987) oder von Kotthoff (1981, 1994)
im Fall von Betriebsräten vorgenommen wird. Stattdessen war das Erkenntnisinte-
resse der Frage nach der Vermittlung zwischen zwei logischen Räumen gewidmet.
Dabei wurde jedoch zu Beginn der Studie die Annahme getroffen, dass die Arbeit-
nehmervertreter mit einer politischen, die Anteilseignervertreter jedoch mit einer
wirtschaftlichen Referenz arbeiten. Diese Annahme wurde getroffen, um dem ins-
titutionellen Rahmen einer Organisation gerecht zu werden.
Die Basistypik hat diese Annahme jedoch nicht unverändert stehen gelassen.
Vielmehr ist nach der Analyse der verschiedenen Orientierungsrahmen klar, dass
die Kontexturen von Politik und Wirtschaft nicht klar an bestimmte Gruppen ge-
bunden werden können. Arbeitnehmervertreter sind nicht in jedem Fall die Ver-
treter der politischen Kontextur gegenüber einer wirtschaftlichen. Dies wird ins-
besondere bei den Typen 3 und 4 klar. Im Fall von Typ 3 werden die Kontexturen
weitgehend von den beiden Seiten entkoppelt und gemeinsam Sache der „Inter-
nen“. Im Fall von Typ 4 ist die Anteilseignerseite gleichsam für beide Kontexturen
verantwortlich. Sie sorgt für politische Legitimität und wirtschaftlichen Erfolg. Das
heißt aber auch, dass die Typen 1 und 2 dann nur noch Bearbeitungen eines Pro-
blems darstellen. Die klare Zuordnung einer Kontextur zu den Anteilseigner- bzw.
Arbeitnehmervertretern ist offensichtlich nicht das Bezugsproblem, sondern eine
Form der Bearbeitung des Bezugsproblems.
Damit wird die Frage aufgeworfen, was das Bezugsproblem, also die Basistypik,
darstellt, wenn nicht die Differenz von Anteilseigner- und Arbeitnehmervertretern.
Die Antwort darauf kann nur lauten: die Differenz der Kontexturen Politik und
276 4 Typologie mitbestimmter Aufsichtsratsarbeit

Wirtschaft. Beide Kontexturen stehen als Realität der Organisation nicht vereinbar
nebeneinander. Sie ragen ineinander, ohne dass sie je zur Deckung gebracht werden
können. Die politische Organisation ist nicht die wirtschaftliche, die wirtschaftliche
nicht die politische. Dennoch müssen beide in ein Verhältnis gebracht werden. Die
Unvereinbarkeit von Politik und Wirtschaft als die zweier logischer Räume stellt
damit das eigentliche Bezugsproblem und damit die Basistypik der vorliegenden
Studie dar. Auf dieses Problem, auf dieses pure Abstraktum antworten die hier vor-
gestellten Typen. Selbstverständlich ist dabei die Differenz von Arbeitnehmer- und
Anteilseignervertretern nicht völlig auszuklammern. Der institutionelle Rahmen
sichert eine Bindung beider Seiten an eine Primärreferenz. Diese Bindung ist aber
kein ontologisch unhintergehbarer Sachverhalt. Er determiniert weder die Position
der einzelnen Parteien noch ihren Umgang miteinander. Vielmehr stellt die insti-
tutionelle Einbindung auch nur einen Faktor dar, mit dem auf eine bestimmte Art
und Weise umgegangen werden muss. In Aufsichtsräten – und vermutlich in allen
modernen Organisationen – bilden sich hoch abstrakte Reflexionsverhältnisse, die
nicht mehr ohne Weiteres in einer Seinsverbundenheit im Sinne Mannheims ver-
ortet werden können. Das ist an dieser Stelle noch festzuhalten.
Schluss
5

5.1 Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit hat ihren Ausgangspunkt bei der Frage nach der Praxis mit-
bestimmter Aufsichtsratsarbeit genommen und nach den Formen des Umgangs
mit der Differenz von Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretung gesucht. Die-
se Frage wurde auf dem Hintergrund der theoretischen Annahme getroffen, dass
die Mitbestimmung ein spezifisches Problem für die Aufsichtsratsarbeit darstellt,
das andere Gremien der Unternehmensführung nicht haben. Diese arbeiten zu-
meist im Hinblick auf wirtschaftlichen Erfolg. Das Management beobachtet das
Unternehmen unter dem Gesichtspunkt knapper Ressourcen und mit Referenz auf
Kommunikation im Medium Geld. Es wird beobachtet, wie sich Märkte und Preise
entwickeln, welche Ressourcen knapp sind und welche Entscheidung Gewinn ver-
spricht. Theoretisch wurde dieser Sachverhalt mithilfe des Begriffs der Kontextur
(Günther 1979a, b), eines logischen Raumes, gefasst. Management arbeitet im Hin-
blick auf die Kontextur Wirtschaft, die eine bestimmte Positivstruktur aufbaut, die
bestimmt, was wirtschaftlich rational ist, und mit einer bestimmten Negativstruk-
tur, die Nichtpassendes ausschließt. Zwar werden auch andere logische Räume
beobachtet – insofern arbeiten Organisationen auch hier schon immer polykon-
textural –, doch sie werden im Bezug auf die primäre Referenz der Wirtschaft hin
begriffen. Politik, Recht und die öffentliche Meinung interessieren im Hinblick auf
ihre wirtschaftlichen Folgen.
Schon hier ist die Entscheidungsfindung problematisch genug, da durch die Pri-
märreferenz auf die Kontextur Wirtschaft keinesfalls das Entscheidungsproblem
aufgelöst wird. Das Problem der Wahl zwischen kontingenten Alternativen und
der Ex-post-Rationalisierung derselben bleibt bestehen. Der Glaube an Rationalität
fungiert hier bestenfalls als funktionale Fiktion, als Ex-post-Rationalisierung, die
ein Weiter-so erlaubt (vgl. Weick 1985; Brunsson 2006). Die Unternehmensmitbe-
stimmung führt jedoch eine zweite Kontextur in das Gremium Aufsichtsrat ein:

T. Jansen, Mitbestimmung in Aufsichtsräten, 277


DOI 10.1007/978-3-658-01432-2_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013
278 5 Schluss

Entscheidungsfindung wird hier nicht mehr rein an einer wirtschaftlichen Kon-


textur ausgerichtet, sondern sie muss politische Rücksichten nehmen, die nicht
ohne Weiteres mit Hinweis auf negative ökonomische Implikationen ausgeräumt
werden können. Die Arbeitnehmervertreter sind über ihr Mandat an Fragen der
politischen Legitimität gebunden. Sie müssen Entscheidungen auf ihre Vermittel-
barkeit gegenüber der Belegschaft beobachten und nicht nur der operativen Fiktion
ökonomischer Rationalität gerecht werden, sondern sich auch an der operativen
Fiktion eines objektiv bestehenden Arbeitnehmerinteresses ausrichten (vgl. Seifert
2007). Es wird mit Referenz auf eine unternehmenspolitische Kontextur gearbeitet,
die eine Positivstruktur des legitimen Arbeitnehmerinteresses aufweist.
Dabei hat sich jedoch im Zuge der Auswertung gezeigt, dass selbst die getroffe-
nen Annahmen den Verhältnissen des Feldes nicht immer gerecht wurden. Insbe-
sondere die Identifikation der Arbeitnehmervertretung mit einer politischen und
der Anteilseignervertretung mit einer wirtschaftlichen Kontextur erwies sich als
problematisch. Es wurde immer noch von einer Identifizierung einer Art Seinsge-
bundenheit (Mannheim 1965, S. 70) beider Seiten ausgegangen. Diese Annahme
ließ sich nicht halten. Zwar blieb die Differenz von Anteilseigner- und Arbeitneh-
mervertretung bestehen, doch zeigte sich, dass nicht eine Seite eine Entscheidung
auf politische Legitimität und die andere Seite die Entscheidung auf wirtschaftli-
chen Erfolg hin betrachtete. Vielmehr zeigten sich die politische sowie die wirt-
schaftliche Kontextur als relevante Reflexionsräume, die jedoch zwischen beiden
Seiten auf verschiedenste Art und Weise verschoben wurde. In einigen Fällen wa-
ren die Anteilseignervertreter ebenso für die politische Legitimität zuständig wie
für den wirtschaftlichen Erfolg. In anderen Fällen hatten Arbeitnehmervertreter
eine weit wichtigere Position in der wirtschaftlichen Entscheidungsfindung als vie-
le Anteilseignervertreter.
Es entstand so im Zuge der Rekonstruktion der Aufsichtsratsarbeit eine Basis-
typik der Bearbeitung der politischen und der wirtschaftlichen Kontextur durch
Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreter. Die Zuordnung beider Seiten zu einer
Primärreferenz war damit von Fall zu Fall verschieden. In jedem Fall wurde diese
Basistypik jedoch als Bezugsproblem für eine mehrstufige Typenbildung begriffen.
Es wurden drei Bereiche der Analyse angelegt. In einem ersten Schritt wurde re-
konstruiert, wie der logische Raum der Arbeitnehmer- und der logische Raum der
Anteilseignervertretung strukturiert sind. Wie wird mit Wirtschaft und Politik in
beiden Fällen umgegangen? In einem zweiten Schritt wurde ein Blick auf die Zu-
sammenarbeit geworfen. Welche Strukturen der Zusammenarbeit zwischen beiden
Seiten ließen sich finden und wie wurde mit dem zugrunde liegenden Bezugspro-
blem umgegangen. Dabei interessierte besonders, wie die Strukturen der Zusam-
menarbeit im Aufsichtsrat auf den Strukturen der beiden Seiten aufbauen.
5.1 Zusammenfassung 279

Das Ergebnis dieser Fragestellung war eine zweistufige Typologie verschränkter


Erfahrungsräume, die insgesamt vier verschiedene Typen des Umgangs mit dem
Dilemma von Politik und Wirtschaft, Knappheit und Arbeitnehmerinteresse um-
fasst. Die ersten beiden Typen können dabei noch als klassisch aufgefasst werden.
Arbeitnehmervertreter sehen sich hier primär als politische Akteure, Anteilseig-
nervertreter als Agenten einer wirtschaftlichen Rationalität. Es werden jedoch zwei
verschiedene Formen des Umgangs gefunden. Während Typ 1 einen Dauerkonflikt
zwischen Politik und Wirtschaft aufweist, kommt es in den Unternehmen des Typs
2 zu Brückenkonstruktionen. Insbesondere die Figur des „Betriebs“ bietet eine
Lösung zur Verbindung von wirtschaftlicher und politischer Perspektive an. Der
„Betrieb“ erscheint als bivalentes Konstrukt. Er kann politisch und wirtschaftlich
interpretiert werden. Die Stimmung im „Betrieb“ ist politisch und wirtschaftlich
relevant, Wissen um den „Betrieb“ kann eine wirtschaftliche Sprecherposition
legitimieren, Verantwortung für den „Betrieb“ Einsicht in ökonomisch sinnvolle
Maßnahmen.
In den Typen 3 und 4 zeigen sich jedoch Reflexionsverhältnisse, die sich weitge-
hend von der klassischen Vorstellung abkoppeln, dass Arbeitnehmervertreter das
Arbeitnehmerinteresse und Anteilseignervertreter das Aktionärsinteresse vertre-
ten. Es zeigt sich vielmehr, dass es sich sowohl im Fall des Anteilseigner- wie auch
des Arbeitnehmerinteresses um Fiktionen handelt, die bedient werden müssen, die
jedoch nicht notwendig mit einzelnen Personen verbunden sind. Die politische
und die wirtschaftliche Kontextur lösen sich von der Arbeitnehmer- und Anteils-
eignervertretung und werden zu Reflexionsdimensionen der Aufsichtsratsarbeit.
Die Unternehmen des Typs 3 weisen etwa eine neue Unterscheidung auf, die die-
jenige von Arbeitnehmer- und Anteilseignervertretung unterläuft. Hier findet sich
eine Gruppe der „Internen“ zusammen, die sowohl aus Arbeitnehmer- als auch
aus Anteilseignervertretern besteht, die gut mit dem Unternehmen vertraut sind.
Diese diskutieren sowohl in wirtschaftlicher als auch in unternehmenspolitischer
Hinsicht und treffen Entscheidungen, die von den „Externen“ nur noch abgesegnet
werden. In Aufsichtsräten des Typs 4 verschiebt sich sowohl die wirtschaftliche als
auch die unternehmenspolitische Reflexion auf die Anteilseignerseite.

5.1.1 Typ 1: Kollision von Wirtschaft und Politik

Der erste Typ kann mit dem Begriff der Kollision oder des Konflikts gefasst wer-
den. Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat wird von den Arbeitnehmervertre-
tern vor allem als politische Aktivität begriffen: Man befindet sich in einer Oppo-
sitionsposition gegenüber den Anteilseignervertretern, formuliert gegen diese das
280 5 Schluss

Arbeitnehmerinteresse und sieht seine Aufgabe darin, dieses möglichst durchzu-


setzen. Die Verantwortung für die wirtschaftliche Dimension einer Entscheidung
wird dabei nahezu vollständig aufseiten der Anteilseignervertreter gesehen. Die in-
haltliche Bestimmung des Arbeitnehmerinteresses wird hier häufig durch die Linie
der Gewerkschaft bestimmt.
Die Sicht wird von den Anteilseignervertretern geteilt: Für die wirtschaftliche
Führung des Unternehmens sehen sich die Anteilseignervertreter als einzig zustän-
dig und auch kompetent an. Allerdings geht dies in der einen oder anderen Form
mit der Erwartung einher, dass die Arbeitnehmervertreter der wirtschaftlichen Di-
mension einer Entscheidung Vorrang einräumen. Auf politische Ansprüche, die
der von den Anteilseignervertretern definierten Wirtschaftlichkeit entgegenstehen,
wird mit Unverständnis reagiert. Der Modus der Zusammenarbeit beschränkt sich
in Konfliktfragen so zumeist entweder auf eine Überstimmung der Arbeitneh-
mer- durch die Anteilseignervertreter oder aber auf einen „faulen Kompromiss“,
also eine Kompromissentscheidung, hinter der keine gemeinsame Deutung steht.
Die Arbeitnehmervertreter machen ihre Zustimmung zu einem für die Anteilseig-
nervertreter wesentlichen Punkt hier abhängig von deren Zustimmung zu einem
völlig anderen Thema. So kann es etwa passieren, dass die Arbeitnehmervertreter
der Berufung eines neuen Finanzvorstands, in der sie keine politischen Probleme
sehen, nur zustimmen, wenn dafür Förderungen für einen bestimmten Standort
zugesichert werden.
Verbreitet ist dieser Typ der Zusammenarbeit in verschiedenen Ausprägungen
vor allem in großen Dienstleistungsunternehmen, die einen – für Dienstleistungs-
unternehmen – hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad aufweisen. Die Grö-
ße scheint zudem nicht unbedeutend zu sein. Gerade kleinere und jüngere Unter-
nehmen der Dienstleistung lassen sich hier nicht finden. Da diese jedoch in den
untersuchten Fällen auch einen geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad
aufwiesen, kann hier nicht klar die entscheidende Variable identifiziert werden.
Fünf Unternehmen aus dem Sample lassen sich diesem Typ recht eindeutig zu-
ordnen, wobei eines hiervon nach jüngster Entwicklung während der Erhebung
(Konflikt zwischen betrieblichen und gewerkschaftlichen Arbeitnehmervertretern)
in Richtung einer stärkeren Zusammenarbeit zu rücken begann (Typ 2). Ein Unter-
nehmen stellte zudem einen Ausreißer dar, weil es sich um einen Maschinenbau-
konzern handelte.

5.1.2 Typ 2: Brücken zwischen Wirtschaft und Politik

Der zweite Typ lebt von der Installation einer Art Brückenkonstruktion. So sehen
sich die Arbeitnehmervertreter hier als Vertreter des „Betriebs“. Diese Vertretung
5.1 Zusammenfassung 281

interpretieren sie jedoch nicht als reine Interessenvertretung, sondern eher im Sin-
ne einer politischen Ökonomie: Es gilt für den Betrieb zu sorgen, sowohl für sein
wirtschaftliches Fortbestehen als auch für das Wohlergehen derjenigen, die in ihm
arbeiten. Das Unternehmen ist in diesem Sinne primär für die Arbeitnehmer da,
was jedoch nur durch wirtschaftlichen Erfolg möglich wird, der manchmal seinen
Preis fordert. Diese Vorstellung impliziert somit sowohl wirtschaftliche als auch
politische Verantwortung. Darüber hinaus wird mit der Figur des „Betriebs“ je-
doch auch wirtschaftliches Mitspracherecht eingefordert: Die Arbeitnehmerver-
treter sehen sich als Vertraute mit dem Alltag des „Betriebs“ und begreifen dies
als eine spezifische Kompetenz für die Unternehmensführung, über die die An-
teilseignerseite nicht verfügt. Die Oppositionsposition gegenüber diesen wird so
in einer anderen Form eingenommen: Man sieht sich als Korrektiv einer zu stark
an Zahlen ausgerichteten Form der Unternehmensführung, der jedoch auch eine
Berechtigung zugestanden wird.
Die Anteilseignervertreter nehmen die Figur des „Betriebs“ auf. Zwar sehen sie
sich als Hauptverantwortliche für wirtschaftliche Fragen, wobei auch hier im Zwei-
felsfall durch den Aufsichtsratsvorsitzenden entschieden wird, was ökonomisch
rational ist. Im Unterschied zum ersten Typ wird hier jedoch den Arbeitnehmer-
vertretern eben jene Vertrautheit mit dem Unternehmen zugestanden, die sie sich
selbst auch zurechnen. Darüber hinaus wird in einer ausgeprägten Kompromisso-
rientierung gegenüber den Arbeitnehmervertretern ein Merkmal guten Manage-
ments gesehen. Letztlich jedoch ist es der Aufsichtsratsvorsitzende, der darüber
entscheidet, inwieweit ein politisches Argument tragbar ist und inwieweit nicht.
Entscheidet dieser dagegen, wird von der Arbeitnehmerseite in umstrittenen Fällen
ein Einlenken erwartet.
In der Folge entsteht eine stabile Form der Zusammenarbeit, die stark auf das
Motiv des Betriebs zurückgreift und dies unter dieser oder einer funktional äqui-
valenten Semantik zur Zusammenarbeit verwendet. So kann etwa die Rede davon
sein, dass man zwar Rollen als Arbeitnehmer- bzw. Anteilseignervertreter inneha-
be, der Dialog aber zwischen „den Menschen“ dahinter stattfinde. Die Differenz
der Bänke wird somit performativ eingeklammert, aber semantisch in ihrer Gültig-
keit belassen. Dieses bietet eine Ebene der Verständigung, die sowohl die politische
wie auch die wirtschaftliche Dimension einer Entscheidung zu reflektieren vermag.
Beide Seiten stehen einander spezifische Kompetenzen zu, darüber hinaus wird die
Verpflichtung gegenüber der jeweils anderen Primärreferenz akzeptiert. Entschei-
dungen werden in der Folge so zumeist einstimmig und konsensual getroffen, wo-
bei im Einzelfall aufseiten der Arbeitnehmervertreter symbolische Gegenstimmen
gezogen werden, was von den Anteilseignervertretern dann jedoch akzeptiert wird.
Dieser Typ der Zusammenarbeit ist in vielen Unternehmen der verarbeiten-
den Industrie zu finden, vor allem im MDAX. Den Löwenanteil machen dabei
282 5 Schluss

Unternehmen des Maschinenbaus aus. So können alle mittleren Unternehmen des


Maschinenbaus, die untersucht wurden, sowie vereinzelte andere hierzu gerechnet
werden. Insgesamt sind mindestens acht Unternehmen hier eindeutig einzuord-
nen. Drei weitere befinden sich im Übergang zu Typ 4.

5.1.3 Typ 3: Die „Internen“ und die „Externen“

Der dritte Typ der Zusammenarbeit überlagert die Ausgangsdifferenz der Basis-
typik mit einer sekundären Differenz, der Unterscheidung von „Internen“ und
„Externen“. Die Arbeitnehmervertreter internalisieren die wirtschaftliche Kon-
textur noch stärker als im Fall von Typ 2. Sie ziehen eine klare Trennlinie zwi-
schen der Betriebsratsarbeit, die als Interessenvertretung begriffen wird, und
der Aufsichtsratsarbeit, in der sie sich selbst als Teil der Unternehmensführung
betrachten. Anders als im Fall der Arbeitnehmervertreter des Typs 2 wird diese
Orientierung zudem nicht über das Motiv des Betriebs getragen. Zwar rechnen
sich die Arbeitnehmervertreter auch hier Kompetenzen aufgrund ihrer Vertraut-
heit mit dem operativen Geschäft zu, doch wird dieser nicht als politisch-wirt-
schaftlich indifferente Einheit gesehen, die gegenüber einer zu starken Kennzah-
lenorientierung der Anteilseignervertreter verteidigt werden muss. Stattdessen
sehen die Arbeitnehmervertreter sich zusammen mit dem Vorstand sowie den-
jenigen Anteilseignervertretern, die zuvor ein Mandat im Vorstand hatten, in
der Verantwortung für das Gesamtunternehmen. Anders als im Typ 2 wird diese
Orientierung zudem nicht vor allem durch die Betriebsräte, sondern durch die
Gewerkschaften getragen und aufrechterhalten. Diese haben eine starke Position
und sichern ihre Auffassung von der richtigen Arbeitnehmervertretung durch eine
ausgeprägte hierarchische Orientierung ab. Im Zweifelsfall gilt es hier, die „ver-
nünftige“ – als die wirtschaftlichere Position – gegenüber vereinzelten „irrationa-
len“ Betriebsräten durchzusetzen.
Aufseiten der Anteilseignervertreter findet sich eine komplementäre Orientie-
rung unter denjenigen Anteilseignervertretern, die zuvor im Vorstand waren. Sie
betrachten ihre Kollegen, die nicht mit dem jeweiligen Unternehmen vertraut sind,
als zwar für fachlich geeignet, ihr Mandat auszufüllen, doch nur in einem engen
Bereich. Ein volles Verständnis für das jeweilige Unternehmen wird ihnen nicht
zugebilligt. Stattdessen wird auch hier das Motiv der „Internen“ aufgegriffen, derje-
nigen, die mit dem Unternehmen vertraut sind. Diese werden als die relevante Re-
ferenzgruppe betrachtet. Diese Orientierung wird von den „Externen“ akzeptiert,
da die „Internen“ den Aufsichtsratsvorsitz stellen und dieser – wie in allen anderen
Unternehmen auch – im Zweifelsfall die Richtung vorgibt.
5.1 Zusammenfassung 283

In der Zusammenarbeit führt diese Orientierung zu einem weitgehenden Aus-


schluss der „externen“ Anteilseignervertreter. Es bildet sich ein kleiner Kreis aus
„Internen“, dem Vorstände, „interner“ Anteilseignervertreter und ausgewählte
Arbeitnehmervertreter – zumeist ein Gewerkschaftsvertreter und der Betriebsrats-
vorsitzende – angehören. Hier werden Entscheidungen getroffen, die in den Auf-
sichtsrat weitergereicht und dort offiziell beschlossen werden.
Zu finden ist dieser Typ der Zusammenarbeit vor allem in großen Chemiekon-
zernen. Aber auch kleinere Konzerne im Bereich Rohstoffe tendieren in Einzelfäl-
len in diese Richtung. Insgesamt ist dieser Typ jedoch eher selten anzutreffen und
scheint recht instabil zu sein, da er seine volle Ausprägung nur dann findet, wenn
die Anteilseignerseite tatsächlich von ehemaligen Vorständen dominiert wird. Zu-
dem scheint die Größe des Konzerns ein wesentliches Kriterium zu sein, da diese
eine ausgeprägte Hierarchie ermöglicht und eine Entfernung der Arbeitnehmer-
vertreter von der Unmittelbarkeit des „Betriebs“. So können nur drei der unter-
suchten Unternehmen klar diesem Typ zugeordnet werden, während drei weitere
teilweise in diesen Bereich fallen, aber auch schon Merkmale des Typs 2 aufweisen.
Gerade bei mittleren Unternehmen scheint der Übergang hier fließend zu sein.

5.1.4 Typ 4: Legitime Wirtschaft

Der vierte Typus der Zusammenarbeit mag auf den ersten Blick ein wenig wie eine
Residualkategorie wirken, was jedoch mit der Art der Typenbildung zusammen-
hängt. Die hier gebildeten Typen nehmen die Form der Zusammenarbeit zwischen
den Bänken als Grundlage und stellen in Rechnung, dass diese auf funktional äqui-
valenten, aber sehr verschiedenen Orientierungen auf der Arbeitnehmer- und An-
teilseignerseite beruhen können. Unterschiedliche Strukturen einer Seite – unter
Umständen sogar beider Seiten – können dennoch zu ähnlichen Formen der Auf-
sichtsratspraxis führen. Dies ist hier der Fall. Aufsichtsräte des Typus 4 zeichnen
sich dadurch aus, dass die Anteilseignervertreter sowohl für die unternehmenspoli-
tische Legitimität als auch für die wirtschaftliche Rationalität einer Entscheidung
als zuständig erscheinen.
Diese Asymmetrie wird aufseiten der Arbeitnehmervertreter durch zwei funk-
tional äquivalente Konstruktionsleistungen möglich gemacht. Entweder wird von
den Anteilseignervertretern erwartet, dass diese in ihren Entscheidungen die politi-
sche Dimension berücksichtigen. Es wird eine Form der Fürsorge erwartet. Dies ge-
schieht vor allem in Unternehmen, in denen eine starke Gründerfigur, bzw. -familie
präsent ist. Alternativ wird aufseiten der Arbeitnehmervertreter der wirtschaftliche
Erfolg weitgehend mit dem politischen Arbeitnehmerinteresse gleichgesetzt. Ein
284 5 Schluss

erfolgreiches Unternehmen ist hier zugleich ein politisch legitimes Unternehmen.


In beiden Fällen sehen die Arbeitnehmervertreter ihre Funktion in der Informati-
on des Managements über Meinungen der Arbeitnehmer. Der gewerkschaftliche
Organisationsgrad ist in diesen Unternehmen zumeist verschwindend gering. Ge-
werkschaftsvertreter – wo vorhanden – werden im Aufsichtsrat entsprechend mar-
ginalisiert.
Auf Anteilseignerseite werden Entscheidungen im klaren Rückgriff auf Hierar-
chie getroffen: Der Aufsichtsratsvorsitzende entscheidet auch hier im Zweifelsfall
über Wohl und Wehe des Unternehmens. Ist dieser hier Vertreter der Familie in
einem Familienunternehmen oder Gründer des Unternehmens, ist diese Hierar-
chie besonders ausgeprägt. In den untersuchten Familienunternehmen werden
dabei häufig die Erwartungen, die die Arbeitnehmervertreter formulieren, auf-
gegriffen: Der Aufsichtsratsvorsitzende sieht sich hier in der Verantwortung für
den wirtschaftlichen Erfolg und in einer Fürsorgestellung für seine Mitarbeiter. In
denjenigen Unternehmen, die eine solche Gründerfigur nicht aufweisen, ist diese
Orientierung meist wesentlich geringer ausgeprägt. Doch auch hier wird von den
Arbeitnehmervertretern nicht erwartet, eigene Positionen zu vertreten. In beiden
Fällen sehen die Anteilseignervertreter sich als Entscheider und die Arbeitnehmer-
vertreter als Informationsquelle.
Die Zusammenarbeit ist entsprechend einfach strukturiert. Da es so gut wie
keine Opposition gegenüber den Anteilseignervertretern gibt, treffen diese die
Entscheidungen, die von den Arbeitnehmervertretern akzeptiert werden. Dies ge-
schieht in manchen Unternehmen mit einer ausgeprägten Referenz auf die unter-
nehmenspolitische Legitimität, in anderen Fällen mit einer geringer ausgeprägten.
Verbreitetet ist diese Form der Zusammenarbeit vor allem in Familienunterneh-
men, die an die Börse gegangen sind, in denen die Familie aber immer noch stark
als Aktionär vertreten ist, oder aber in Unternehmen, die quasi keinen gewerk-
schaftlichen Organisationsgrad aufweisen. In jedem Fall handelte es sich hier stets
um MDAX-Unternehmen, von denen die meisten aus der Dienstleistungsbranche
stammten. Fünf Unternehmen können hier ohne Weiteres eingeordnet werden.

5.2 Fazit

5.2.1 Gute Unternehmensmitbestimmung?

Die vorliegende Studie hatte die Entscheidungsfindung in mitbestimmten Auf-


sichtsräten zum Gegenstand. Sie hat danach gefragt, welche Formen des Umgangs
5.2 Fazit 285

mit den Herausforderungen der Mitbestimmung sich finden lassen und welche
Faktoren welche Formen begünstigen. Damit kann diese Studie keine Aussage da-
rüber treffen, ob die Unternehmensmitbestimmung nun eine gute Institution ist
oder nicht – wie auch immer man dieses „Gut“ definieren mag, da kein Vergleich
mit einer nicht mitbestimmten Aufsichtsratspraxis gezogen werden kann.1 Ein Ver-
gleichshorizont besteht hier nur zwischen verschiedenen Formen der Praxis, über
die eine Aussage getroffen werden kann.
Eine Aussage darüber, welche Praxis nun „gut“, welche „schlecht“ ist, bedarf da-
bei allerdings brauchbarer Kriterien, „gut“ und „schlecht“ zu bestimmen. Es muss
eine weitere Kontextur angelegt werden, die ihre eigene Zweiwertigkeit auf das Feld
bezieht – und dieses damit freilich wieder reduziert, in ihre eigene Beschränkt-
heit zwingt. Am Beispiel der klassischen Debatten über die Mitbestimmung wurde
dieses Problem diskutiert. Ein Rückgriff auf beide Stränge auf beide schließt sich
entsprechend aus. Weder eine Beurteilung unter dem Gesichtspunkt der „Interes-
senwirksamkeit“ wie auch der wirtschaftlichen Effizienz würde an der Ausgangs-
frage der Arbeit vorbeigehen und den gewonnenen Boden wieder preisgeben. Ein
Rückzug auf die vollständige Wertfreiheit der Soziologie hätte so gute Gründe und
würde in bester Tradition stehen (Weber 1988).
Gleichzeitig lässt sich eine Bewertung der vorliegenden Ergebnisse nicht voll-
ständig umgehen. Daher soll an dieser Stelle eine Bewertung der Ergebnisse im
Anschluss an eine rekonstruktive Evaluationsforschung versucht werden (Bohn-
sack 2010b). Wo, kann man hier die Frage stellen, gelingt die Vermittlung zwi-
schen politischer und wirtschaftlicher Kontextur erwartungsstabil? Wo bilden
sich Strukturen, die eine zuverlässige Übersetzungsleistung zwischen den beiden
Kontexturen ermöglichen, bei denen ein Minimum an Erwartungsenttäuschung
gewährleistet wird.
Diese Form der Bewertung ist dabei eine immanente. Sie geht letztlich von der
Zufriedenheit der Beteiligten mit der jeweiligen Praxis aus, ohne sich dabei aber auf
die immanenten Bewertungen zu beschränken. Frei nach Larry Davids Bonmot,
„a good compromise is when both parties are dissatisfied“, könnte man hier sagen,
dass auch bei Unzufriedenheit auf beiden Seiten eine gute Zusammenarbeit mög-
lich sein kann, solange es zu keinen größeren Erwartungsenttäuschungen kommt
und das Bezugsproblem bearbeitet wird, also eine Entscheidung getroffen wird.
Diese Form der Evaluation sagt dann zwar nichts über die Interessenwirksam-
keit oder die ökonomische Effizienz der Unternehmensmitbestimmung aus, hat

1
Diese Einschränkung trifft freilich auch auf andere Studien zu, die diese Aussage dennoch
treffen (etwa Jürgens et al. 2008; Raabe 2010).
286 5 Schluss

aber den Vorteil, dass keine externe Kontextur an den Gegenstand herangetragen
werden muss.
Legt man also diese Unterscheidung an, so zeigt sich, dass in beinahe allen un-
tersuchten Typen der Unternehmen eine erwartungsstabile Form der Aufsichts-
ratspraxis entsteht. Dies trifft insbesondere auf die Typen 2, 3 und 4 zu. In allen drei
Fällen haben sich Reflexionsformen gebildet, in der beide Seiten eine bestimmte
Erwartungshaltung aufweisen, die von der anderen Seite aufgegriffen und erfüllt
wird. Dies schafft die Möglichkeit einer gemeinsamen Entscheidungsfindung da-
hingehend, dass eine gemeinsame Deutung der jeweiligen Entscheidung entsteht.
Wird hier eine Entscheidung getroffen, so ist diese nicht nur im verfahrensmäßigen
Sinn eine gemeinsame Entscheidung, sondern auch im Sinn einer gemeinsamen
Interpretation dieser Entscheidung.
Eine solche gemeinsame Interpretation ist insbesondere in den Aufsichtsräten
des Typs 1 nicht zu finden. Hier kommt es auf der einen oder der anderen Seite zu
konsequenten Erwartungsenttäuschungen. Auf der Anteilseignerseite ist dies zu-
meist die immer wieder enttäuschte Erwartung, dass die Arbeitnehmervertreter
sich auf wirtschaftliche Argumente einlassen müssten, was sie häufig nicht tun.
Auf Arbeitnehmerseite wird diese Enttäuschung durch das Überstimmt-Werden
gespiegelt. Wenn dies auch in einzelnen Fällen akzeptiert wird, stellt es für die Ar-
beitnehmervertretung – gerade für die betrieblichen Vertreter – immer wieder ein
Problem dar, das auch zu Brüchen auf Arbeitnehmerseite führt. In der Folge sind
die Entscheidungen des Gremiums – wenn sie überhaupt einstimmig getroffen
werden – nur formal einstimmige Entscheidungen. In vielen Fällen handelt es sich
um „faule Kompromisse“ oder „Deals“, denen keine gemeinsame Deutung hin-
terliegt. Hier kann die Mitbestimmungspraxis dann nur als gescheitert betrachtet
werden. Die Struktur der Aufsichtsratsarbeit ist nicht in der Lage, die Komplexität
der politischen sowie der wirtschaftlichen Kontextur angemessen zu reflektieren.
Interessant ist im Vergleich dieser Typen zudem die Tatsache, dass Konflikte
zwischen betrieblichen und gewerkschaftlichen Arbeitnehmervertretern eher
dann auftreten, wenn die Übernahme der wirtschaftlichen Perspektive kein zentra-
ler Bestandteil der Positivstruktur der Arbeitnehmervertretung ist. Dieses Ergeb-
nis widerspricht der Position, dass eine Annäherung an Konzepte des „Mit-“ oder
„Co-Managements“ eher zu Konflikten zwischen Gewerkschaften und Betriebsrä-
ten führen (Bamberg et al. 1987, S. 243 ff.; Höpner 2003, S. 195 ff.). Die Reflexion
der wirtschaftlichen Dimension einer Entscheidung scheint sogar in Einzelfällen
(Typ 3) von den Gewerkschaften noch besser geleistet werden zu können, ohne
dass es hier zu Brüchen mit den betrieblichen Vertretern kommt. Ausschlaggebend
scheint hier die jeweilige Gewerkschaft zu sein.
5.2 Fazit 287

Einen Sonderfall stellt dabei der letzte Typ, Typ 4, dar. Denn hier besteht
die Situation, dass es in den Unternehmen zumeist praktisch keine organisier-
te Arbeitnehmervertretung gibt und die Oppositionsposition damit gar kein
Bezugsproblem des Aufsichtsrats ist. Es gibt hier keine Arbeitnehmervertretung,
die ihre Legitimität im Gegensatz zu den Arbeitgebern konstruiert, keine „Gegen-
macht“. Die Arbeitnehmervertreter stehen hier nicht vor dem Problem, gleichzeitig
Teil der Unternehmensleitung und ihr Gegner zu sein. Doch durch den Kurzschluss
beider Kontexturen – ob nun nur auf Arbeitnehmerseite oder auch auf Anteilseig-
nerseite – kommt es praktisch zu keiner Erwartungsenttäuschung. Diese Form der
Mitbestimmungspraxis kann so mit Sicherheit für die Arbeit des Aufsichtsrats als
die stabilste begriffen werden (wobei man hier dann darüber diskutieren könn-
te, inwieweit eine Arbeitnehmervertretung ohne Position gegen die Arbeitgeber
überhaupt eine Arbeitnehmervertretung ist). Voraussetzung ist und bleibt dabei
freilich, dass die Anteilseignervertreter auch tatsächlich die Reflexion auf die poli-
tische Kontextur leisten. Der Patriarch, könnte man sagen, muss eben ein „guter“
Patriarch sein, einer, der sich um seine Leute kümmert. Ob man das nun gut oder
schlecht, zeitgemäß oder unzeitgemäß findet, in der Aufsichtsratsarbeit kann es
durchaus zu stabilen Verhältnissen führen.
Betrachtet man diese Ergebnisse in Zahlen, so kann man sagen, dass in 5 von 26
Fällen die Unternehmensmitbestimmung eine problematische Praxis ausgebildet
hat. In allen anderen untersuchten Fällen – und damit vermutlich im allergrößten
Teil der deutschen Unternehmen – kommt es hingegen zu einer sehr stabilen Form
des Umgangs, bei der es sich keine der beiden Seiten leicht macht.
Im Hinblick auf die Branchen fällt dabei auf, dass es vor allem die Dienstleistung
ist, in der sich konfliktträchtige Formen des Umgangs bilden. Dies ist zum einen
sicher der Gewerkschafspolitik in der Dienstleistung zuzurechnen, die aber zu-
mindest in den untersuchten Unternehmen wiederum aufs Engste mit einem – im
Verhältnis zur Industrie – relativ geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad
einhergeht. Gleichzeitig scheinen die Erwartungsstrukturen des Managements hier
jedoch auch etwas anders gelagert zu sein.
Bezieht man diese Ergebnisse auf die bisherigen Arbeiten zur Unternehmens-
mitbestimmung, so gilt für mitbestimmte Aufsichtsräte dasselbe, was Frick (2008)
für die betriebliche Mitbestimmung feststellt: Man weiß viel zu wenig über ver-
schiedene Typen der mitbestimmten Aufsichtsratspraxis, als dass man allgemei-
ne Schlüsse über die Folgen der Mitbestimmung ziehen könnte. So werden etwa
die wirtschaftlichen Folgen der Mitbestimmung ganz wesentlich davon abhängen,
ob die Arbeitnehmervertreter sich als verantwortlich für die Unternehmensfüh-
rung begreifen und ob es gelingt, die Kompetenzen der Arbeitnehmervertreter
für das Gremium aus dieser Perspektive nutzbar zu machen. So wäre etwa anzu-
288 5 Schluss

nehmen, dass die Arbeitnehmervertretung vermutlich nur im Fall der Aufsichts-


räte des Typs 1 wirklich negative Folgen für das Unternehmen hat, im Fall der an-
deren Typen jedoch unter Umständen sogar ein ökonomischer Gewinn aus der
Unternehmensmitbestimmung gezogen werden kann. Hier wäre weitere Forschung
nötig, die mit einem wesentlich höheren Auflösungsvermögen arbeiten müsste, als
es die bisherige ökonometrische Forschung tut (vgl. Abschn. 2.2.2 Mitbestimmung
als ökonomischer Faktor).
Dasselbe gilt auch für die Frage nach dem Einflusspotenzial der Arbeitnehmer-
vertreter (vgl. Abschn. 2.2.1 Mitbestimmung als Machtstruktur). Dabei wird ge-
rade in dem vorliegenden Fall deutlich, dass es sich bei Einfluss bzw. Macht um
eine soziale Beziehung handelt, um Kommunikation, die sich einer Seite zurechnet,
aber letztlich reziprok ist (Luhmann 1975, S. 15). Das wird nirgendwo so deutlich
wie hier, da sich die Frage stellt, ob mehr Einfluss durch ein Eingehen auf wirt-
schaftliche Argumente gewährleistet wird oder nicht. Denn während diese Interna-
lisierung des Ökonomischen auf der einen Seite eine Sprecherposition gegenüber
Vorständen und Anteilseignern sichert, unterläuft sie auf der anderen Seite die
Differenz (Bamberg et al. 1987, S. 243 ff.). Die Antwort, dass „Mitmanagement“
eine Gefahr darstellt (ebd.) greift dabei klar zu kurz. Denn ein gutes Verhältnis zur
anderen Seite sichert ebenso Einflussmöglichkeiten wie sie die eigene Position der
anderen annähert. Aus Sicht eines Anteilseignervertreters in einem Unternehmen
des Typs 3 stellte sich diese Situation ebenfalls als sehr ambivalent dar: Die Ge-
werkschaft sei eine gute, da sie unternehmerisch sei, sagte er. Nur leider sei dieses
Unternehmerisch-Sein eben sehr teuer. Damit deutet er daraufhin, dass die Wirt-
schaftsfreundlichkeit der Arbeitnehmervertreter nur solange Bestand haben kann,
wie sie zu politisch legitimen Ergebnissen führt. Ganz lapidar könnte man sagen,
die Arbeitnehmervertreter müssen ein dickes Stück vom Kuchen abbekommen,
wenn es möglich ist, um die Frustration an anderer Stelle zu kompensieren. Ist
man als Manager nicht in einer solchen Situation, sondern mit einer wenig wirt-
schaftsaffinen Gewerkschaft konfrontiert, die sich auf wirtschaftliche Argumente
sowieso nicht einlässt, muss man dann hingegen auch nur im Ausnahmefall einen
Kompromiss suchen und kann den Kuchen für sich behalten.
Die Frage nach dem Einfluss stellt sich damit als wesentlich komplexer dar,
als sie bisher behandelt worden ist. Auf jeden Fall reicht es nicht, von einfachen
Strukturmerkmalen einen Rückschluss auf den Einfluss von Arbeitnehmervertre-
tern zu ziehen. So lässt etwa auf dem Hintergrund der vorliegenden Ergebnisse die
Antwort auf die Frage, ob ein Gewerkschaftsvertreter stellvertretender Aufsichts-
ratsvorsitzender ist oder nicht, genauso wenig einen Schluss auf den Einfluss von
Arbeitnehmervertretern zu wie die Antwort auf die Frage, ob der Prüfungsaus-
schuss paritätisch besetzt ist oder nicht (Höpner und Müllenborn 2010). Beides
5.2 Fazit 289

ist sowohl in Unternehmen des Typs 1 wie auch in Unternehmen des Typs 3 der
Fall gewesen. Die Aufsichtsratsarbeit zeigt sich so als ein Reflexionsverhältnis, das
zumeist komplexer und vielfältiger ist, als gemeinhin angenommen wird.

5.2.2 Unternehmensmitbestimmung als
Kontexturmanagement

Möchte man das bisher Gesagte verallgemeinern, so lässt sich vielleicht sagen, dass
eine erfolgreiche Aufsichtsratsratsarbeit von der Fähigkeit zum Kontexturmanage-
ment abhängt. Es geht darum, „Übersetzungsverhältnisse“ (Renn 2006, S. 449) zu
schaffen, welche die Differenz aller relevanten Kontexturen aufrechterhalten, aber
eine Verbindung schaffen, die funktioniert. Ein solches Übersetzungsverhältnis
schafft als Entscheidungen, die politisch legitim und wirtschaftlich sinnvoll sind,
ohne dass diese Entscheidungen Wirtschaft und Politik ineinander überführen
würden. Sie sind in diesem Sinne keine Hybride. Sie sind nur in beiden Kontextu-
ren abgetastet und markieren in ihnen einen bestimmten Wert. Sie gewinnen in je-
der Dimension ihren je eigenen Wert und damit ihre eigene Identität, die nicht mit
der Identität in der anderen Kontextur identisch ist. Dieser kann durchaus auf eine
andere Kontextur verweisen. So kann etwa politische Legitimität dadurch gewon-
nen werden, dass Verzicht in der Gegenwart auf Gewinn in der Zukunft verweist
(etwa im Fall einer Restrukturierung oder einer Lohnkürzung). Doch dann ist die
Entscheidung zur Restrukturierung eben ein politischer Verzicht in der Gegen-
wart, während sie ein wirtschaftlicher Gewinn der Zukunft ist. Das Arrangement
ist dann im Moment geglückt. Der wirtschaftlich positive Wert ist dann mit dem
politisch positiven gekoppelt. Doch eben nur solange, bis eine neue Situation ein-
tritt – etwa die prosperierende Zukunft, in der es darum geht, ob nun Dividenden
ausgeschüttet oder Gehälter erhöht werden.
Mitbestimmte Aufsichtsratsarbeit ist in diesem Sinne dann immer die Arbeit an
diesem Arrangement. Und nur wenn es gelingt, die politische und die wirtschaft-
liche Kontextur ineinander zu verzahnen, gelingt eine erfolgreiche Aufsichtsrats-
arbeit. Diese Verzahnung kann dabei auf verschiedene Arten geschehen und äu-
ßerst verschieden aussehen. Sie geschieht in den Fällen 2, 3 und 4 – nur jeweils auf
andere Art und Weise. Im Fall 2 ist die Technik noch relativ wenig ausgeprägt. Eine
allgemeine Kompromissorientierung und eine Vorrangstellung der Wirtschaft löst
das Problem hier. Die Reflexionsverhältnisse bleiben dabei insofern beschränkt,
als dass die jeweils andere Seite nur begrenzt mitgedacht wird. Die Sphärentren-
nung ist hier noch weitgehend aufrechterhalten. Den raffiniertesten Fall stellt wohl
der Typ 3 dar. Hier werden die Kontexturen Wirtschaft und Politik erstmals fast
290 5 Schluss

vollständig von den institutionalisierten Positionen entkoppelt. Die Arbeitnehmer-


vertreter treten hier nicht mehr als Arbeitnehmervertreter auf, die Anteilseigner-
vertreter nicht mehr als Anteilseignervertreter. Stattdessen entsteht mit dem Raum
der „Internen“ eine neue Kontextur, der die Zugehörigkeit der einzelnen Personen
weitgehend suspendiert und beide Kontexturen als das erscheinen lässt, was sie
de facto sind: relevante Dimensionen einer Entscheidung, die sich nicht ineinan-
der überführen lassen und die stattdessen arrangiert werden müssen. Die „Inter-
nen“ arbeiten hier zusammen an diesem Arrangement und zerfallen erst wieder
in Arbeitnehmer- und Anteilseignervertreter, wenn der Kreis geöffnet und das
Unternehmen hineingelassen wird. Arbeitnehmervertretung wird hier dann eben-
so wie Wirtschaftlichkeit virtualisiert. Sie erscheint als Konstrukt, das immer neu
geschaffen werden, immer wieder neu interpretiert werden muss, damit die Arbeit
weitergehen kann. An die Ontologie der jeweiligen Kontexturen glaubt dann schon
keiner mehr. Weder gibt es hier Manager, die sich als kompetente Instanz des Ratio-
nalen sehen, das es gegen das Irrationale zu verteidigen gilt, noch gibt es Kämpfer
für das Arbeitnehmerinteresse. Die Beteiligten werden vielmehr Spieler mit abs-
trakten Reflexionsräumen, die immer wieder aufs Neue kunstvoll ineinander ver-
woben werden. Als fester Grund bleibt hier nur noch die Einheit der Organisation,
die bewahrt werden muss. Dies kann jedoch nur geschehen, wenn sowohl Ratio-
nalitätsbestrebungen als auch politischer Aktivismus mit einem gesunden Maß an
Skepsis betrachtet werden, wenn klar ist, dass Arbeitnehmerinteresse, wirtschaftli-
che Rationalität, soziale Rationalität oder Ähnliches nichts weiter sind als reflexive
Operatoren, Begriffe, die weniger etwas Existentes bezeichnen, sondern vielmehr
immer wieder neu in Relation zueinander definiert werden müssen.
Wie flexibel diese semantischen Operatoren sind, wird insbesondere im Typ 4
deutlich. Hier wird das Arbeitnehmerinteresse kurzum mit den Anteilseignerver-
tretern kurzgeschlossen. Arbeitnehmerinteresse ist hier das, was die Anteilseigner-
vertreter als solches definieren. Arbeitnehmerinteresse kann hier wirtschaftlicher
Erfolg sein, unter Umständen bis hin zu Stellenabbau, Kündigungen, Gehaltskür-
zungen. Gerade im Fall der Nürnberger Handelsgesellschaft wird dies deutlich.
Politische Legitimität ist dann hier unter Umständen das Gegenteil dessen, was es
im Fall eines Unternehmens des Typs 1 ist. Aber gerade das macht deutlich, dass es
auch hier ohne die Reflexion der politischen Kontextur nicht geht – nur findet diese
Reflexion anderswo statt. Sie ist komplett auf die Seite des Managements und der
Anteilseignervertreter verlegt worden. Diese leisten hier das, was in den Aufsichts-
räten der Typen 1 bis 3 auf die eine oder andere Weise durch die Arbeitnehmerver-
tretung institutionalisiert worden ist.
Transkriptionsrichtlinien

(.) kurze Pause (ca. 1 Sekunde)


(..) mittlere Pause (ca. 2 Sekunden)
(…) längere Pause
wei- Wortabbruch
äh Planungspausen
hm überlegend
m-hm zustimmend
(Türklappern) nicht-sprachliche Handlungen
(lacht) Begleiterscheinungen des Sprechens
sicher Wortbetonung
/ Bruch im Sprechverlauf

Aufnahme aller gesprochenen Inhalte incl. Wortwiederholungen (mit-mit-mit),


Stottern etc.
Affirmative Äußerungen der Frageperson („mhm“) werden nur dann notiert,
wenn sie als eigenständige Redebeiträge aufgefasst werden können, z. B. in eine
deutliche Redepause der interviewten Person fallen.
Eigennamen werden so notiert, wie sie verstanden wurden.
Dialekt wird behutsam ans Hochdeutsche angepasst: So werden beispielsweise
„Schüschtem“ zu „System“ geändert, „bissele“ aber nicht zu „bisschen“, so dass ein
starker Akzent oder Dialekt in der Transkription erkennbar bleibt.
Berücksichtigung nicht-sprachlicher Handlungen wie auffällige Pausen, Räus-
pern, Lachen etc., jedoch keine Nebengeräusche

T. Jansen, Mitbestimmung in Aufsichtsräten, 291


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