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RUHIG BLUT!

Text: Christoph Sauer

Ich habe jetzt mal gewechselt. Nicht meinen Strom-Anbieter, auch nicht meine Freundin,
oder das Kreuz hinter dem Namen einer Partei bei der letzten Landtagswahl. Nein, ich bin
rasurtechnisch umgestiegen. Von Trocken- auf Nassrasur. Seit kurzem bin ich Besitzer eines
Rasierers mit dem Namen „Gilette Fusion Pro Glide. Golden Edition.“ Um den Umstieg zu
erleichtern, habe ich mir ein Ritual angewöhnt: zuerst einen nassen, heißen Waschlappen
auf das Gesicht legen, um die Barthaare einzuweichen, so kann die Haut sich in Ruhe auf
die Rasur vorbereiten. Männerhaut ist empfindlich.
Für Rituale ist heute allerdings keine Zeit. Eigentlich war ich schon aus dem Haus, in Hemd
und Hose, aber ein letzter Kontrollblick in den Spiegel offenbart das Desaster: Nach einem
rasurfreien verlängerten Wochenende hat sich auf den Wangen ein wildwucherndes
Gestrüpp breitgemacht, das beim besten Willen nicht mehr als Dreitagebart durchgeht. Also
zurück ins Bad.
Ich schnappe mir ein großes Frotteehandtuch und klemme es - quasi als Anti-
Rasierschaumschutz - zwischen Hals und Kragen meines frischgebügelten weißen
Oberhemds. Auf der Ablage über dem Waschbecken liegt immer noch die aufgebrochene
Verpackung meiner neuen Wunderwaffe. Darauf steht in grell-orangeblauen Lettern: „Der
Vier-Klingen-Rasierer mit der fortschrittlichsten Technologie.“ Wie hat es die Menschheit
bloß Tausende von Jahren mit weniger als vier Klingen ausgehalten? Selbst das
Vorgängermodell hatte nur drei Klingen. „Mach drei“ hieß der. Klingt (!) eigentlich nicht
schlecht, der Name: nach Abenteuer, Geschwindigkeit, Power. Männlichkeit. „Mach hin“, sagt
mir meine innere Stimme da, mahnend, dass ich rechtzeitig aus dem Haus komme. Doch
stattdessen lese ich weiter, meine Augen verschlingen den Text auf der
Verpackungsrückseite: „Der Gilette Fusion Pro Glide rasiert sogar gegen den Strich. Eine
Weiterentwicklung in den Bereichen Komfort und Performance.“
Während ich mir noch das Rasiergel aus der Gilette-Serie „Irritation Defense“ mit „3-fach
Schutz gegen rasurbedingte Hautirritationen“ auftrage, überlege ich, was die Werbetexter
von Gilette wohl unter „Performance“ verstehen? Ich habe meine Rasur bisher nie als
„Performance“ begriffen, sondern als notwendiges tägliches Übel.

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Wie wohl der Chef von Gilette morgens in seinem Badezimmer steht: Vielleicht hat er da
schon seine fünfzig Liegestütze absolviert. Jetzt dreht er gutgelaunt das Radio laut auf und
entledigt sich zur Musik von „I‘m Too Sexy“ von „Right Said Fred“ seiner Barthaare, dabei
feuert er sich selbst an: „Ja, das ist dein Tag! Du bist schön, du bist gut drauf! Heute geht dir
nichts gegen den Strich!“ Muss schön sein: Chef zu sein.
Doch da habe ich mich geschnitten. Also wirklich geschnitten, in diesem Moment, an der
Oberlippe. Man sieht es deutlich im Spiegel: Erst ist da ein ganz kleiner winziger roter Punkt,
dann quillt wie in Zeitlupe ein dicker roter Tropfen hervor, eine Blutträne, die immer weiter
anschwillt. Ich habe keine Probleme mit Blut, ich kann jeden Vampirfilm im Fernsehen
anschauen, auch Reportagen über Schönheits-OPs, bei denen literweise Blut fließt, kann ich
ohne Probleme sehen. Blut ist ja was Positives. Blut ist Leben. Aber nicht hier, auf meiner
Oberlippe.
Bekanntermaßen sind die Lippen eine der am besten durchbluteten Regionen des
menschlichen Körpers. Bekanntermaßen lassen sich Blutungen in solchen Regionen nur
schwer stillen. Ich versuche es zunächst mit kaltem Wasser. Zwänge mühsam meinen Kopf
zwischen Wasserhahn und Waschbecken, drehe den Hahn bis zum Anschlag in Richtung
„kalt“. Lasse minutenlang das eiskalte Wasser über meine geschundene Oberlippe
rauschen. Solange, bis mein Kopf endlich ein gefühlter, einziger Eisklumpen ist und sich eine
seltsame, dumpfe Leere in meinem Hirn breitmacht. Benommen, aber hoffnungsfroh richte
ich mich wieder auf. Jedoch, meine Schockfrost-Methode bleibt ohne Erfolg: Aus der
Schnittstelle an der Lippe fließt jetzt unaufhörlich ein kleines rotes Rinnsal.
Also Plan B: Man nehme einen Fetzen Klopapier und presse ihn feste auf die verletzte
Stelle. So muss die blöde Blutung doch zu stillen sein. Funktioniert aber auch nicht. Ein Blick
auf die Uhr, seit zehn Minuten wollte ich eigentlich aus dem Haus sein. Aber dies ist ein
Notfall. Vielleicht weiß „Google“ Rat.
Verzweifelt stürze ich zum Computer und stolpere dabei fast über das Frotteehandtuch, das
sich aus der Halsregion gelöst hat. Haue die eine Frage in die Tasten: „Wie Blutung bei
Rasur stoppen?“ Auf der Website „www.gutefrage.net“ werde ich fündig. Zu meinem Thema
gibt es exakt dreiundachtzig Kommentare von Leidensgenossen. Ich bin also nicht allein. Der
User „Harald2008“ weiß zu berichten: „Wenn man sich schneidet, isses Mist. Das hatte ich
auch mal, dann hab ich n Arzt angerufen, weils nach 7 (!) Stunden nich aufgehört hat zu
bluten.“ Sieben Stunden? Soviel Zeit hab ich nicht. Ein „Rambo 4711“ empfiehlt schließlich:
„Alaunstift nehmen“. Alaunstift? Was ist das? Kenn ich nicht. Hab ich nicht. Und in dem
Zustand kann ich unmöglich vor die Tür. In diesem Moment passiert es: Blut tropft von
meiner Lippe. Direkt auf das schöne Oberhemd. Das einzige, das ich zur Zeit habe. Die
anderen sind in der Wäsche. Wie ein Krebsgeschwür frisst sich der hellrote Flecken in den
eben noch blütenweißen Stoff.

2
Ich zurück ins Bad. Will am liebsten laut schreien. Tue es auch. Verfluche wild gestikulierend
Gilette und „Rambo 4711“. Stampfe mit dem Fuß auf, wutentbrannt wie Rumpelstilzchen, das
ums Feuer hüpft und sich schließlich eigenhändig in Stücke reißt. Würde ich jetzt auch, wenn
ich wüsste, wie es geht. Doch da meldet sich noch einmal die innere Stimme: Ruhig Blut,
Brauner!
Als ich endlich zur Besinnung komme, blickt mir im Spiegel eine fremdartige Person
entgegen: eine einseitig-halbrasierte Fratze, das Gesicht zorngerötet und verschmiert von
Blut und Rasierschaum. Wenn mich jetzt ein Gilette-Werbetexter sehen würde. Er würde
denken: Mann, was für eine Performance!

Kontakt:

Christoph Sauer
Dahlemer Weg 73 A
14167 Berlin
Tel: +49 30 99407514
Mobil: +49 172 6151481
Skype: telefonatorium
Web: www.christophsauer.info

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