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Abstract
The paper’s title cites the question set in a 1982 competition by the Deutsche Akademie
für Sprache und Dichtung (German Academy for Language and Literature). The first part
focuses on this central issue, providing an account of answers given by linguistic research
in youth languages up to the present. In addition to this, it will consider various questions
that still remain unanswered, along with new questions that have arisen in the course of
research (Christa Dürscheid). Reviewing the development of the academic discussion
on youth languages in relevant publications and conference proceedings over this period,
the second part of the paper (Eva Neuland) gives a brief resumé of the major phases in
the history of research in this field. Although many detailed studies have been published
on key characteristics and functional modalities of youth language, important questions
concerning definition of the subject matter as well as its theory and methodology have
been left largely unsolved in the background. Furthermore, the ongoing differentiation and
internationalization of research, as well as the changing communication habits and practices
of young people, have given rise to new questions that should feature more systematically
in future research.
1 Uwe Pörksens Essay mit dem Titel »›Abi Nadek‹ oder: wer erfindet die Jugend?« ist als
fiktiver Brief verfasst. In diesem Brief wendet sich der Schreiber an seinen Verlag, der die
Erzählung Abi Nadek mit der Begründung abgelehnt hatte, sie sei im Jugendjargon geschrieben
und stellenweise unverständlich. Heinz Weber seinerseits betont in seinem Essay »Du hast
keine Chance, aber nutze sie!«, dass nicht die Jugend eine andere Sprache spreche, sondern es
jugendliche Subkulturen gebe, die unterschiedliche Sprachvarianten benutzen. An eben solche
Überlegungen knüpft die moderne Jugendsprachforschung an.
16 Christa Dürscheid/Eva Neuland
Dieses Zitat ist zu sehen im Kontext einer Zeit, in der in den Medien viel über
Jugendsprache berichtet wurde (vgl. Spitzmüller i. d. B.) und erste Jugendsprach-
Lexika erschienen. Ein bekannter Titel aus dieser Zeit ist beispielsweise das
Buch von Claus-Peter Müller-Thurau (1983), Laß uns mal ’ne Schnecke an-
graben – Sprache und Sprüche der Jugendszene, das schnell zum Beststeller
avancierte und seither mehrfach neu aufgelegt wurde. Empirische Studien zur
Jugendsprache lagen dagegen noch keine vor, auch eine vertiefte theoretische
Auseinandersetzung mit der Thematik fand, von einzelnen Arbeiten wie z. B.
Henne (1981) abgesehen, noch nicht statt. Darin liegt denn auch der Wert der
Preisschriften von Uwe Pörksen und Heinz Weber: Sie gaben den Anstoß zu
einer vertieften Diskussion über das Thema Jugendsprache – und zwar, wie im
Klappentext des Buches zu lesen, »im Sinne der Reflexion, nicht in dem üblichen
einer bloß anekdotischen Zusammenstellung.«
Vermutlich zielte die Frage der Akademie damals aber weniger auf den Sprach-
gebrauch selbst als vielmehr auf die Dialogfähigkeit der Jugendlichen, auf die
Kommunikation zwischen den Generationen. Auch dies legt das Nachwort von
Adolf Muschg nahe, in dem in distanzierender Weise von der ›Sprachlosig-
keit‹ der ›No future‹-Generation die Rede ist (Pörksen/Weber 1984: 127). Aber
wie dem auch sei: Die Preisfrage wurde zum Auftakt einer Serie von Arbeiten
zum jugendlichen Sprachgebrauch: Es folgten erste empirische Untersuchun-
gen zur Jugendsprache (vgl. Henne 1986), es erschien ein Zeitschriftenheft mit
linguistischen Beiträgen, in denen das Thema aus verschiedenen Perspektiven
angegangen wurde (vgl. Januschek/Schlobinski 1989), es wurden grundsätzliche
Fragen der neuen Disziplin behandelt (vgl. Neuland 1987) und es etablierte sich
der ethnographische Ansatz in der Jugendsprachforschung (vgl. Schlobinski/
Kohl/Ludewigt 1993, Androutsopoulos 1998 u. a.).
Die Preisfrage der Akademie setzte aber nicht nur einen fachinternen Diskurs
in Gang, sie wurde fast schon zu einem geflügelten Wort: Podiumsdiskussio-
nen und Vorträge wurden mit dieser Formulierung angekündigt2 , und auch ein
2 Vgl. http://www2.uni-wuppertal.de/FB4/germanistik/Homepage_Neuland/Neuland/
vollcool.htm.
Spricht die Jugend eine andere Sprache? 17
linguistischer Aufsatz aus den 90er Jahren trägt diesen Titel (Studer 1998). Al-
lerdings erwähnt der Verfasser im Text nicht, dass die Formulierung angelehnt
ist an die Preisfrage der Akademie. Anders ist es in dem Aufsatz mit dem Titel
»Spricht die Jugend eine andere Sprache?« von Neuland/Schubert 2005, der im
Text explizit Bezug auf die Preisfrage der Akademie nimmt.
Alte Fragen:
1. Welche empirischen Methoden der Datenerhebung sind in der Jugendsprach-
forschung geeignet? Ist es die teilnehmende Beobachtung, das Interview, das
Experiment oder der Fragebogen? Oder eignet sich nur eine Kombination
aller dieser Verfahren?
2. Gibt es die Jugendsprache? Einigkeit besteht darin: Jugendsprache ist keine
homogene Varietät, allenfalls gibt es eine Summe an Jugendsprachen. Doch
auch wenn es die Jugendsprache nicht gibt, auch wenn sie keinen ontologi-
schen Status hat, braucht die Jugendsprachforschung diesen Terminus nicht
doch, schlicht zur Bezeichnung ihres Reflexionsgegenstandes?3
3. Ist die Jugendsprache ein Register, ein bestimmter Sprechstil? Oder reprä-
sentiert sie eine eigene Varietät im Sprachsystem? Damit zusammen hängt
auch die Frage, ob sich jugendsprachliche Merkmale identifizieren lassen, die
unabhängig von der Situation, auf lexikalischer, morphologischer und syntak-
tischer Ebene zu bestimmen sind und dazu berechtigen, die Jugendsprache
als eine spezifische Varietät anzusehen.
4. Wie stellt sich die Linguistik zum öffentlichen Diskurs über Jugendsprache?
Wie sieht dieser Diskurs gegenwärtig überhaupt aus? Trifft es immer noch zu,
dass die Jugendsprache in den Medien v. a. negativ dargestellt wird?
3 So wird auch hier dieser Terminus verwendet, aber eben sogleich mit dem Hinweis darauf,
dass es die Jugendsprache nicht gibt.
18 Christa Dürscheid/Eva Neuland
4 Auf diese Frage, die an der Schnittstelle der Medienlinguistik und Jugendsprachforschung
steht, gehe ich in meinem Beitrag »Medienkommunikation und Jugendsprache« (i. d. B.) mit
Blick auf das Instant Messaging ein.
20 Christa Dürscheid/Eva Neuland
2.1 Rückblick
Noch bevor Jugendsprachen zum Thema der wissenschaftlichen Diskussion wur-
den, waren sie bereits ein Thema der öffentlichen Diskussionen um die vermeint-
liche Dialogunfähigkeit von Jugendlichen und den gefürchteten Sprachverfall
durch Jugendliche. Diese beiden Ebenen der öffentlichen, medial gesteuerten
Diskurse sowie der wissenschaftlichen Diskurse und vor allem die Vermengung
dieser Diskurse sind bis heute mit dem Thema Jugendsprachen eng verbunden
geblieben.
Die Jugendsprachforschung machte indessen »in kurzer Zeit rasante Fortschrit-
te« und entwickelte sich zu einem »blühenden Zweig« einer sprachgebrauchsori-
entierten Linguistik, wie es die beiden Einleitungsbeiträge in der Dokumentation
der Wuppertaler Vorgängertagung aus dem Jahre 2003 charakterisierten.5 Viele
Forschungsprojekte wurden mittlerweile in Gang gesetzt, um das Gegenstands-
feld zu bearbeiten, die Methodenentwicklung voranzutreiben und Forschungsde-
siderate aufzuarbeiten. Dass die Studienbibliographie aus dem Jahre 1999 heute
schon längst nicht mehr aktuell ist, dokumentiert die Entwicklungsfortschritte
der Jugendsprachforschung.
Insbesondere aber wurde die Kontinuität des wissenschaftlichen Austauschs
durch die bislang vier internationalen Kolloquien in Deutschland gewährleistet,
deren Stationen zugleich die Forschungsentwicklung charakterisieren:
– die von Margot Heinemann 1992 ausgerichtete Leipziger Tagung »Jugend-
sprache – theoretische Standpunkte und methodische Zugriffe«, die die Ent-
wicklungsansätze in Ost- und Westdeutschland vor allem mit denen aus dem
osteuropäischen Raum verknüpfte,
– das von Klaus Mattheier und Edgar Radtke im Rahmen des Graduierten-
kollegs »Dynamik von Substandard-Varietäten« 1997 ausgerichtete und von
Jannis Androutsopoulos und Arno Scholz 1998 veröffentlichte internationale
Heidelberger Kolloquium »Soziolinguistische und linguistische Aspekte von
Jugendsprache«, das die Ausdifferenzierung von theoretischen und methodi-
schen Ansätzen der Jugendsprachforschung in Europa dokumentiert,
– die von Peter Schlobinski als gemeinsames Projekt der Universität Hanno-
ver und des Ratsgymnasiums Osnabrück 1998 veranstaltete Osnabrücker
Fachkonferenz »Jugendsprache(n) – Jugendkulturen – Wertsysteme«. Die
von Schlobinski/Heins unter dem Titel »Jugendliche und ›ihre‹ Sprache«
2.2 Zwischenbilanz
Wie lässt sich nun die Entwicklung der Jugendsprachforschung zumindest an-
satzweise charakterisieren? Ich greife zurück auf ein Zwischenfazit, das ich
meiner Einführung in den Sammelband der Wuppertaler Fachkonferenz von
2003 entnehme:
Die in diesem Band versammelten Beiträge der internationalen Fachkonferenz veranschauli-
chen die theoretische und methodische Bandbreite der aktuellen Jugendsprachforschung,
ebenso aber auch das breite Spektrum ihrer Gegenstandsfelder. (Neuland 2003b: 13)
Zu 2: Von daher erklärt sich aber auch die Methodenvielfalt als zweites Cha-
rakteristikum der Entwicklung der Jugendsprachforschung, deren unter-
schiedliche Gegenstandsfelder vielfältige Bearbeitungsmethoden geradezu
zwingend erforderlich machten. Die anfänglich kontrastiven, bald darauf
eher komplementären Diskussionen um Methodenkonzepte von Frage-
bogenerhebungen und Kommunikationsanalysen, von korrelativen und
kontextuellen Studien, von Sprachgebrauchs- und Spracheinstellungsun-
tersuchungen sind schon längst der Einsicht gewichen, dass es keine all-
gemein geeignete oder ungeeignete, sondern nur zweckentsprechende
Methoden geben kann.
Ein zweiter Fragekomplex eröffnet sich im Zusammenhang mit dem eben zitier-
ten Gemeinplatz der Heterogenität und den kulturtypischen Ausprägungsformen
der Jugendsprache:
– Wie viele (besser gesagt: wie wenige) Kenntnisse haben wir denn schon (bzw.
erst) über die Auswirkung soziolinguistischer Faktoren wie Alter, Geschlecht,
Bildungsgang, regionale Herkunft, Migration auf den Sprachgebrauch Jugend-
licher?
– Erst ansatzweise und überdies noch in einer unzulänglichen Untersuchung
aus den frühen 90er Jahren8 ist der gerade für die Schweiz so wesentliche
Zusammenhang von Jugendsprache und Dialekt bzw. regionaler Herkunft in
den Blick genommen worden.
– Geschlechtstypischen Unterschieden im Sprachgebrauch Jugendlicher sind
erst allerjüngste Studien gewidmet.9
– Die Dimension des biologischen und sozialen Alters hat die Jugendsprachfor-
schung, wie ich meine, in ungerechtfertigter Weise eigentlich seit Anbeginn
schon als unerheblich beiseite gestellt.
– Und der Auswirkung der unterschiedlichen sozialen Herkunft und der unter-
schiedlichen Bildungsgänge sowie auch der Migrationshintergründe haben
wir uns, auch nach den Ereignissen der Pisa-Studien, eigentlich noch gar nicht
zugewandt.
Die Auswirkung soziolinguistischer Effekte auf den Sprachgebrauch Jugendli-
cher konnte in ersten Ansätzen vom Wuppertaler Forschungsprojekt in systemati-
scher Weise erarbeitet werden10 , wobei gleichzeitig weitere Forschungsaufgaben
deutlich werden.
Die folgenden offenen Fragekomplexe und Forschungsdesiderate möchte ich
nur noch in aller Kürze anführen. Dabei soll insbesondere die vergleichende
Betrachtungsweise betont werden. Oftmals werden erst durch Vergleiche mit
dem Sprachgebrauch Jugendlicher zu anderen Zeiten, in anderen Ländern und
Gesellschaftsformen, mit dem Sprachgebrauch anderer Generationen und nicht
zuletzt der Standardsprache typische gemeinsame und unterscheidende jugend-
sprachliche Merkmale deutlich:
– Jugendsprache und Sprachgeschichte:
Wie unzulänglich ist unser Wissen bis heute über die immer noch sehr lücken-
hafte Geschichte der Jugendsprachen, besonders der nicht akademischen
8 Ehmann 1992.
9 Branner 2003.
10 Vgl. dazu Neuland/Schubert 2005 sowie Neuland i. d. B.
Spricht die Jugend eine andere Sprache? 25
Jugend? Und welche Rolle spielen diese historischen Dimensionen für die
aktuelle Jugendsprachforschung?
– Jugendsprache und Standardsprache:
Wie können die wechselseitigen Einflüsse differenziert und verlässlich be-
schrieben werden, welche präzisen Indikatoren können wir für eine mögliche
Sprachwandelwirkung der Jugendsprache heranziehen?
– Jugendsprache und Jugendkultur:
Welche Fortschritte sind zu verzeichnen für interdisziplinäre Zugänge zur
Erforschung von Jugendsprache im semiotischen Kontext jugendkulturellen
Habitus und anderer jugendkultureller Äußerungsformen? Und vor allem:
Was wissen wir über die internationalen Auswirkungen der kulturellen Globa-
lisierung auf Jugendsprachen?
– Jugendsprache, Bildung und Öffentlichkeit:
Welche Aufklärung kann die Jugendsprachforschung der Öffentlichkeit, vor
allem aber der Schule und dem Bildungswesen über sprachliche und kommu-
nikative Kompetenzen von Jugendlichen leisten?
Welche Konsequenzen kann der Sprachunterricht daraus ziehen (z. B. Verfü-
gung über unterschiedliche Sprachstile und einen bewussten Umgang mit der
stilistischen Variation)?
Die Bearbeitung dieser und weiterer Fragen bildet ein großes Arbeitsprogramm
für die künftige Jugendsprachforschung, für die aber auch entsprechende Rah-
menbedingungen zu schaffen sind. Denn die Tatsache, dass so viele Fragen noch
offen sind, betrifft schließlich nicht ein den einzelnen Forschern anzulastendes
Problem. Daher möchte ich am Ende meiner Ausführungen noch einmal an
ihren Anfang zurück erinnern: dass nämlich die Jugendsprachforschung, den
sozialen und kulturellen Entwicklungen nachlaufend, unter einem besonderen
öffentlichen Erwartungsdruck stand und bis heute auch noch steht. Anfragen
aus der sprachinteressierten Öffentlichkeit, der Eltern- und Lehrerschaft, vor
allem aber auch der ergebnisorientierten Medienöffentlichkeit waren und sind
bis heute auf kurzfristige und rasche Antworten auf unsere eingangs zitierte Fra-
gestellung gerichtet. Damit ist zweifellos die Gefahr verbunden, dass nicht nur
die Jugendsprache zum Modethema geworden ist, sondern dass auch die Jugend-
sprachforschung zu einer Modeerscheinung von zweifelhafter tagespolitischer
Aktualität zu werden droht.
Der Reduktion der Perspektivenvielfalt gerade auch des Gegenstandsfeldes
entgegenzuwirken, das ist eine wichtige Aufgabe für die wissenschaftliche For-
schung, aber auch die wissenschaftliche Öffentlichkeits- und Vermittlungsarbeit.
Klischees zu bedienen, die ständig neuesten »In- und Out-Hitlisten« der Jugend-
sprache zu liefern und somit zugleich den Verdinglichungen des öffentlichen
26 Christa Dürscheid/Eva Neuland
erfassen zu können. Wichtig aber ist, dass innerhalb der Disziplin das »Gan-
ze«, das Verbindende und das Vergleichbare, nicht aus dem Blick gerät, dass
also – um für die Sprachwissenschaft zu sprechen – die Einzeluntersuchungen
zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei kann es nach dem bisher
erreichten Forschungsstand nicht mehr um eine künstlich-vereinfachende
Konstruktion einer nicht der Sprachwirklichkeit entsprechenden Homogenität
des Forschungsgegenstands Jugendsprache gehen. Vielmehr bieten gerade
die Vielzahl der Fragestellungen, die Erweiterung des Gegenstandsfeldes
und die Differenzierung der Methoden künftige Forschungspotentiale und
Vernetzungsmöglichkeiten. Wenn es auch vielleicht nicht möglich ist, »ein
gemeinsames Dach« zu bauen, sollte man zumindest verstärkt dafür Sorge
tragen, dass »viele kleine Dächer« entstehen.13 Auch damit wäre schon viel
gewonnen.
Literatur
13 DieMetapher stammt aus der Schlussdiskussion zur Zürcher Jugendsprachtagung (vgl. die
Berichte von Spitzmüller/Giger 2005 sowie von Balsliemke 2005).
28 Christa Dürscheid/Eva Neuland