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B R E C H T- H A N D B U C H

Band 1
BRECHT
HANDBUCH
in fünf Bänden

Herausgegeben von
Jan Knopf

Wissenschaftliche Redaktion:
Brigitte Bergheim
Joachim Lucchesi

Gefördert durch die


Fritz Thyssen Stiftung
BRECHT
HANDBUCH
Band 1

Stücke

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
ISBN 978-3-476-01829-8
ISBN 978-3-476-05612-2 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-05612-2
Gesamtwerk: ISBN 978-3-476-01828-1
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist ur-
heberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außer-
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ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und
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© 2001 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Urspr ünglich erschienen bei
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2001
Brecht-Handbuch : in fünf Bänden / hrsg.
www.metzlerverlag.de
von Jan Knopf. – Stuttgart ; Weimar : Metzler
info@metzlerverlag.de
ISBN 978-3-476-01828-1
Bd. 1. Stücke. – 2001
ISBN 978-3-476-01829-8
V

Inhaltsverzeichnis

Vorwort VII Die Horatier und die Kuriatier 320


Hinweise für Benutzer VIII Das wirkliche Leben des Jakob Gehherda
Siglenliste X 326
Autorenverzeichnis XIV Die Gewehre der Frau Carrar 331
Goliath 336
Die Stücke. Einführung 1 Furcht und Elend des III. Reiches 339
Die Bearbeitungen 13 Leben des Galilei 357
Die Lehrstücke 28 Dansen / Was kostet das Eisen? 379
Praktische Theaterarbeit 39 Mutter Courage und ihre Kinder 383
Stückfragmente und Stückprojekte 52 Das Verhör des Lukullus / Die Verurteilung
Die Bibel 67 des Lukullus 401
Baal 69 Der gute Mensch von Sezuan 418
Trommeln in der Nacht 86 Herr Puntila und sein Knecht Matti 440
Die Einakter von 1919 100 Die Judith von Shimoda 456
Prärie 111 Der Aufstieg des Arturo Ui 459
Im Dickicht der Städte 113 Die Gesichte der Simone Machard 475
Hannibal 129 Schweyk 484
Leben Eduards des Zweiten von England 132 The Duchess of Malfi 500
Jae Fleischhacker in Chikago 147 Der kaukasische Kreidekreis 512
Mann ist Mann 152 Die Antigone des Sophokles 532
Fatzer 167 Die Tage der Kommune 544
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny 178 Der Hofmeister von Jacob Michael Reinhold
Die Dreigroschenoper 197 Lenz 563
Der Lindberghflug / Der Flug der Gerhart Hauptmann Biberpelz und roter
Lindberghs / Der Ozeanflug 216 Hahn 578
Lehrstück / Das Badener Lehrstück vom Büsching 582
Einverständnis 226 Coriolanus 585
Der Brotladen 238 Anna Seghers. Der Prozeß der Jeanne d’Arc
Der Jasager / Der Neinsager 242 zu Rouen 1431 591
Die Maßnahme 253 Turandot oder Der Kongreß der
Die heilige Johanna der Schlachthöfe 266 Weißwäscher 597
Die Ausnahme und die Regel 288 Don Juan von Molière 613
Die Mutter 294 Pauken und Trompeten 625
Die Rundköpfe und die Spitzköpfe 309
Die sieben Todsünden der Kleinbürger 316 Register 639
VII

Musikszene in ihrer kollektiven Produktion


Vorwort kaum zu denken. Hinzu kommt die breite in-
ternationale Wirkung Brechts, die sich bei-
spielhaft in The International Brecht Society
Das Wichtige war der Theaterabend,
(IBS) manifestiert: Im Jahr 2000 hatte sie 225
der Text hatte ihn lediglich zu ermöglichen;
in der Aufführung fand der Verschleiß des Textes statt, Mitglieder, darunter 92 Institutionen, aus 22
er ging in ihr auf wie das Pulver im Feuerwerk! Nationen. Die IBS publiziert regelmäßig über
B. (1948) zwei Organe, die Communications sowie The
Yearbook, deren offizielle Sprachen Englisch,
»Wenn Deutschland einmal vereint sein wird, Französisch, Spanisch und Deutsch sind.
jeder weiß, das wird kommen, niemand weiß, Brechts Werk beruht, weil es nicht auf den
wann – wird es nicht sein durch Krieg«, bloßen Text zu reduzieren ist, in seiner eigent-
schrieb Bertolt Brecht in seinem letzten Le- lichen Bedeutung auf der Mitarbeit weiterer
bensjahr und sollte damit Recht behalten. Künste und bedarf, um sich in seiner ganzen
Dem Propheten jedoch, von dem es bekannt- Breite ästhetisch entfalten zu können, der Um-
lich heißt, daß er im eigenen Land nichts gilt, setzung durch die darstellenden Künste; es
war mit der ›Wende‹ von 1989 seinerseits pro- gehört darum nicht, wie Martin Walser einmal
phezeit worden, mit dem gescheiterten Ver- formulierte, zum ›alten Gold‹, sondern es
such eines Sozialismus auf deutschem Boden harrt im Gegenteil noch weitgehend seiner
unterzugehen, nachdem sich an ihm und sei- Entdeckung. Gerade dadurch, dass das, was
nem Werk die Geister von Ost und West ge- einst Widerspruch, Kritik und Ablehnung he-
schieden hatten. Das Gegenteil geschah: mit rausforderte, sich mit der historischen Ent-
der Wiedervereinigung wurde vielmehr ein wicklung als ›Vorschein‹ ästhetischer Verfah-
neuer und freier Umgang mit ihm möglich. rensweisen erwiesen hat, beginnt dieser erst
Der politischen Kontroverse enthoben, konnte jetzt eigentlich zu leuchten.
es endlich in seinen Eigenheiten entdeckt und Das grundlegend neubearbeitete Brecht-
in seiner Vielfalt wahrgenommen sowie vor Handbuch bietet eine Einführung in Brechts
allem künstlerisch umgesetzt werden, was sich Werk, beruht auf den neuesten Forschungs-
in zahlreichen Produktionen in allen »Appara- ergebnissen und stellt ein benutzerfreundli-
ten«, also vom Theater bis zum Film, nieder- ches sowie zuverlässiges Nachschlagewerk
schlug. Allein im deutschsprachigen Raum gab und Lesebuch bereit. Verbindliche Grundlage
es im Jahr 2000 etwa 60 Inszenierungen seiner dafür ist der gegenwärtige Wissensstand der
Stücke. Allen Unkenrufen zum Trotz blieb Brecht-Forschung, wie er durch Edition Ber-
Brecht auch in der Öffentlichkeit einer der tolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berli-
meistzitierten Autoren, seiner haltbaren For- ner und Frankfurter Ausgabe in 30 Bänden,
mulierungen wegen, und der aktuelle Stand Berlin, Weimar, Frankfurt a. M. 1988–2000
des nun globalen Kapitalismus wird nach wie (GBA) zur Verfügung steht. Brechts Werk um-
vor an der Elle von Brechts Kritik an ihm ge- fasst alle wesentlichen Literatur-Gattungen,
messen. Seine umstrittene kollektive Arbeits- definiert diese aber auch zu großen Teilen neu.
weise hat sich längst als ›Rolle eines kreativen Es weist darüber hinaus erhebliche Anteile an
Geschäftsführers‹ etabliert, sein Plagiieren anderen Disziplinen wie Philosophie, Histo-
firmiert inzwischen unter ›Intertextualität‹ riographie, Politik oder Kunstgeschichte auf
und hat ein neues Forschungsgebiet erschlos- und ist durch einen bis dahin nicht bekannten
sen, seine Forderung nach Öffnung der Appa- Praxisbezug zu den Bereichen Theater, Film,
rate für die Rezipienten ist in zahlreichen Rundfunk, Presse und Musiktheater geprägt.
Shows des Fernsehens und des Rundfunks rea- Somit stellt es das Werk des letzten Univer-
lisiert und ohne das ästhetische Zusammen- salisten deutscher Sprache dar und ist in der
spiel von Musik und Text, wie es Brecht und deutschen Literatur nur mit dem Goethes zu
seine Komponisten vorgaben, ist die heutige vergleichen.
VIII Vorwort

Neben der Material- und Faktenvermittlung ›offenen Kunstwerk‹ der Literatur neue Di-
akzentuiert die Neubearbeitung des Brecht- mensionen eröffnet.
Handbuchs folgende Problemfelder: (3) Brecht hat für alle Bereiche seines Werks
(1) Die kollektive Arbeitsweise, mit der eine neue Ästhetik der Sprache entwickelt, die
Brecht den Autor als Produzenten (Walter sich an den Realitäten der modernen Indus-
Benjamin) neu bestimmt hat, wird Werk für triegesellschaft orientierte (»Technisierung«
Werk, soweit überprüfbare Fakten vorliegen, der Sprache und der literarischen Formen).
offengelegt und in ihrer spezifischen Kreativi- Seine Kunst galt, wie er im Dreigroschenpro-
tät beschrieben. Dazu gehört nicht nur die zeß ausführte, der Sichtbarmachung der »in
Mitwirkung von Mitarbeiterinnen und Mitar- die Funktionale gerutschten« und damit un-
beitern, die zugleich die ersten Kritiker dar- sichtbar gewordenen gesellschaftlichen Reali-
stellten, sondern auch die Verarbeitung von tät durch ästhetische Anschauung.
Quellen aller Art, von Zeitbezügen und son- (4) Brechts Werk dokumentiert wie kein an-
stigen Anregungen sowie die vielfach gege- deres die deutsche Geschichte der ersten fünf-
bene Zusammenarbeit mit Vertretern anderer zig Jahre des 20. Jh.s: zwei Weltkriege, fünf
Künste, vor allem mit Komponisten, Interpre- Staatsformen auf deutschem Boden (Kaiser-
ten, Schauspielern, sowohl der Bühne als auch reich, Weimarer Republik, faschistische Dik-
des Films, und Bühnenbildnern sowie die ei- tatur, zwei deutsche Staaten mit dem Beginn
gene Tätigkeit als Regisseur seiner und an- des Kalten Kriegs) sowie die rapide und ver-
derer Stücke. Entgegen anders lautender Ein- spätete Entwicklung der deutschen Verhält-
schätzungen und aufgrund der Kenntnis von nisse zur Industrie- und Massengesellschaft
Originalquellen steht die Autorschaft Brechts mit verschiedenen kapitalistischen Wirt-
an allen in diesem Handbuch behandelten schaftsformen und in der DDR mit verord-
Werken nicht in Frage; im Gegenteil: auch bei netem Sozialismus. Mit dieser Geschichte war
Werken, bei denen Brecht seinerseits nur Mit- ein 15-jähriges Exil verbunden, das Brecht
arbeiter war, hat sich seine dominierende einmal um die Erde trieb und weitere haupt-
Rolle immer wieder bestätigen lassen. Dieser sächlich westlich-kapitalistische Gesellschaf-
Befund gilt auch für die Intertextualität von ten, vor allem die USA, kennen lernen ließ.
Brechts Werk. Ganz abgesehen davon, daß z. B. Brechts Themen galten allen wesentlichen
der moderne Film das Zitieren bekannter Fragen der Staaten, in denen er sich aufhielt,
Filmsequenzen in neuen Zusammenhängen zu und den Grundproblemen ihres gesellschaft-
einem herausragenden Kunstmittel eigener lichen Zusammenlebens.
Art entwickelt hat, gilt nicht die Quantität der (5) Sowohl in der Lyrik als auch in den
Übernahmen, sondern die Qualität der Ände- Stücken Brechts spielt die Musik eine zentrale
rungen. Brecht vermochte mit einem Satzzei- Rolle. Brecht begann seine künstlerische Exis-
chen die Bedeutung eines Satzes in sein Ge- tenz als ›Liedermacher‹ und hat später für
genteil zu verkehren und zugleich dessen ge- seine Komponisten gezielt Texte geschrieben.
samte Tradition aufzurufen. So wurde aus dem Über Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
biblischen »Der Mensch denkt, Gott lenkt« in z. B. schrieb Kurt Weill, dass Brecht den Text
Mutter Courage und ihre Kinder »Der Mensch ausschließlich im Hinblick auf die Vertonung
denkt: Gott lenkt«. verfasst habe und dass dieser deshalb auf
(2) Indem Brecht seine Werke als ›Zeitdich- Weills Musik angewiesen sei. Daher haben
tung‹ verstand und als »Versuche« bezeich- Herausgeber und Redakteur darauf gedrun-
nete, hat er die Kategorie der Veränderung und gen, bei den betreffenden Artikeln nicht nur
der Veränderbarkeit in die Literatur einge- die Vertonungen und die dadurch gegebene
bracht und damit traditionelle literarische Be- Interpretation des Textes zu beschreiben, son-
griffe wie Ewigkeitswert, (harmonische) Ge- dern auch das produktive Wechselspiel von
schlossenheit oder Autonomie in Frage ge- Text und Musik offenzulegen.
stellt bzw. außer Kraft gesetzt und mit seinem (6) Die meisten Texte Brechts, vor allem
Vorwort IX

seine Stücke, thematisieren entweder direkt überdies, sie exemplarisch und eng auf
oder indirekt ihre Selbstreferentialität und da- Brechts Text bezogen zu beschreiben sowie
mit ihren Spielcharakter. Sie erfüllen, was ihre Bedeutung für diesen herauszuarbeiten.
Goethe in einem Brief vom 14. 11. 1808 an sei- Grundsatz war stets, Brechts Werk in seiner
nen Verleger Cotta für »ächte Kunstwerke« ge- Vieldeutigkeit ›zum Sprechen‹ zu bringen,
fordert hatte: dass sie nämlich »ihre eigene was keineswegs die Kritik an ihm ausschließt.
Theorie mit sich« zu bringen und zugleich »aus Da die Kommentare der GBA lediglich den
innig verbundenem Ernst und Spiel« zu ent- Ausgangspunkt für einen möglichst souverä-
springen haben, womit Goethe in Der Samm- nen Umgang mit dem dort bereitgestellten
ler und die Seinigen »wahre Kunst« definiert Material bildeten, konnten die Abschnitte
hatte (8. Brief). Brecht betonte immer wieder, über die Entstehungsgeschichte eines Werkes
dass über ein Theater, in dem man nicht lachen sowie vor allem die ausführlichen Text- bzw.
könne, seinerseits zu lachen sei, und dass nur Fassungs-Beschreibungen der GBA im Hand-
Leute mit Humor in der Lage seien, Dialektik buch auf das notwendige Minimum beschränkt
zu verstehen. Mit dem Spielerischen ist zu- bleiben, wobei darauf Wert gelegt wurde, neue
gleich Selbst-Distanzierung verbunden, die Erkenntnisse über die Mitarbeit anderer sowie
Brechts Werke als typisch modern ausweisen. die Anteile der Quellen und die zeitgenössi-
Anders als bei den konkurrierenden Goe- schen Bezüge bzw. Anlässe ins Zentrum zu
the-Ausgaben liegt mit der GBA für Brecht stellen. Bei der Wirkungsgeschichte wurde
eine nach neuen Editionsprinzipien kritisch der Schwerpunkt auf die Zeit nach Brechts Tod
erarbeitete und damit konkurrenzlose Werk- gelegt, auf die sowohl produktive als auch de-
ausgabe vor. Dadurch, dass sie Brechts Texte in struktive Auseinandersetzung mit den Wer-
ihren jeweiligen historischen Kontexten prä- ken, wohingegen die in der GBA ausführlich
sentiert und sie durch den Kommentar, der auf dokumentierte Rezeption zu dessen Lebzeiten
Grundlagenforschung basiert, auf – der auf die Vermittlung der wichtigsten Aspekte
Brecht-Forschung bis dahin – weitgehend un- reduziert werden konnte.
bekannte Weise erschlossen hat, wurde eine Im Zentrum jedes Artikels stehen die Be-
grundlegende Neubearbeitung des zweibändi- schreibung des Werks, seine ›objektivierba-
gen Brecht-Handbuchs (1980, 1984), dessen ren‹ Daten wie Inhaltsangabe, Formanalyse
Forschungsstand damit überholt ist, notwen- oder struktureller Aufbau, sowie die ausführ-
dig. Zugleich bot sich die Möglichkeit, Fehler liche Interpretation. Diese eröffnete den Auto-
der GBA richtigzustellen und über deren Kom- rinnen und Autoren genügend Spielraum für
mentar hinausgehende neue Einsichten und die Darstellung ihrer eigenen Ansätze sowie
Fakten zu vermitteln. Überdies konnten auch für neue Deutungen und gewährleistete da-
Quellen berücksichtigt werden, welche die durch, dass ein breites Spektrum der Brecht-
Forschung vermutet hatte, die in der GBA aber Forschung zu Wort kommt und die themati-
fehlen, weil ein Nachweis für deren Verwen- sche wie theoretische Gewichtung der Artikel
dung nicht beizubringen war (dies war einer differenziert ausfällt.
der Grundsätze für die ›Sachlichkeit‹ der Das Referat der Forschung, das entweder
Kommentare in der GBA). Die Autoren waren einen eigenen Abschnitt erhält oder in die In-
deshalb aufgefordert, Fehler, Lücken und vor terpretation integriert ist, berücksichtigt (fast
allem ›falsche‹ Textgrundlagen der GBA aus- ausschließlich) neuere Forschungsbeiträge so-
drücklich zu benennen und zu korrigieren, so wie möglichst kontroverse theoretische An-
dass in einigen Fällen, z. B. bei den Lehrstü- sätze und differente Deutungen. Damit blieb
cken, auf andere Textgrundlagen als die der ein nicht geringer und verdienstvoller Teil der
GBA zurückgegriffen oder auch nach den Ori- älteren Forschungsliteratur (weitgehend) un-
ginalquellen, vor allem des BBA, mit den ent- berücksichtigt, weil, worauf sich die Autoren
sprechenden Nachweisen zitiert werden einigen konnten, diese im Sinn Hegels in der
musste. Für die Darstellung der Quellen galt neueren Sekundärliteratur ›aufgehoben‹ (kon-
X Vorwort

serviert und negiert) ist. Alte ideologische De- doch wieder gezwungen ist, Gruppierungen
batten, wie sie 1998 zu Brechts 100. Geburtstag nach Gattungen vorzunehmen, wie es die
wieder vermehrt geführt wurden, brauchten so Münchner Goethe-Ausgabe zeigt. Da die Arti-
nicht erneuert zu werden. Der Gewinn ist be- kel ohnedies monographisch angelegt sind
trächtlich: Die Artikel haben so Raum, das für und für sich zu lesen sein sollen, ist der Ort,
Brecht spezifisch ästhetische Verfahren he- die Gattungsfrage zu thematisieren, die Be-
rauszuarbeiten, ein Verfahren, das immer auch schreibung und/oder die Interpretation des
sowohl seine gesellschaftskritisch-politischen Werks. Innerhalb der einzelnen Bände gilt
Implikationen hat als auch darauf bedacht ist, dann die chronologische Folge.
den technischen Standard, der sich an der Ent- Trotz der Tatsache, dass Brechts überra-
wicklung der modernern Industriegesellschaft gende Leistung heute vor allem auf dem Ge-
orientiert, zu wahren. Zu zeigen ist, dass die biet der Lyrik gesehen wird, muss das Hand-
Werke nicht in ihren zeitgenössischen Bezü- buch auf der Dominanz des »Stückeschrei-
gen und Anlässen steckengeblieben sind, diese bers«, wie er sich selbst genannt hat, bestehen
vielmehr durch ihre (fast) durchweg avantgar- und mit dieser Werkgattung das auf fünf Bände
distische ästhetische Form, aber auch durch konzipierte Projekt beginnen. Die weitaus
die haltbare Brisanz ihrer Inhalte überschrei- meiste Zeit hat Brecht mit dem Schreiben für
ten und so eine erstaunliche Anzahl von ihnen das Theater und zusätzlich als Dramaturg oder
in die Reihe der dauerhaften Kunstwerke Regisseur verbracht. Entgegen der Einschät-
stellt. zung von nicht wenigen Brecht-Forschern
Das neue Brecht-Handbuch orientiert sich haben die Theater die Spielbarkeit und spezi-
am Goethe-Handbuch in fünf Bänden, das fische Theatralität der Brecht’schen Texte im-
1996–1999 ebenfalls im Verlag J. B. Metzler mer wieder bewiesen, vor allem, nachdem ein
erschienen ist, das heißt, es folgt der Ein- freierer Umgang mit ihnen möglich geworden
teilung nach Gattungen und damit auch dem ist, was auch dadurch zum Ausdruck kommt,
häufiger kritisierten Anordnungsprinzip der dass Brecht auf den Bühnen (in aller Welt)
einzelnen Werke in der GBA. Obwohl Brecht präsent geblieben ist und längst einen festen
die Gattungen mit nicht wenigen seiner Werke zweiten Platz nach Shakespeare einnimmt.
in Frage gestellt oder z. B. mit den Lehrstü- Band 2 ist den Gedichten gewidmet. Den
cken an der Schaffung einer neuen Gattung nach Werk-Perioden gegliederten Überblicks-
maßgeblich beteiligt war, wurde bereits für die Artikeln folgen die Einzeldarstellungen. Bei
GBA geltend gemacht, dass Brecht in Abstim- den Gedichten mußte eine Auswahl getroffen
mung mit seinen Verlegern – mit Ausnahme werden, die sowohl von ihrer Bedeutung, wie
der Versuche – bei Werkausgaben die Trennung sie durch ihre Rezeption repräsentiert ist, als
in Gattungen vorgenommen hat: Dies gilt so- auch von ihrer Eigenart bestimmt war. Über-
wohl für die Gesammelten Werke im Malik- dies wurde darauf geachtet, daß die Vielfalt
Verlag (1938), die allerdings aufgrund der po- der Formen exemplarisch vertreten ist. Alle
litischen Ereignisse ein Torso blieben, als auch Sammlungen, die Brecht zusammengestellt
für die späteren Stücke, die Brecht 1953 mit hat, erhielten eigene Artikel am chronologi-
zwei Bänden Erste Stücke noch selbst begon- schen Ort.
nen hatte. Hinzu kommt, daß sich die nach Mit Band 3 folgt die (poetische) Prosa. Für
Gattungen aufgeteilten Ausgaben und Hand- dessen Aufteilung war dasselbe Prinzip maß-
bücher als benutzerfreundlich erwiesen ha- geblich wie für Band 2. Auch hier wurden alle
ben: Sie lassen einen schnellen Zugriff auf das Sammlungen, die drei Romane bzw. Roman-
Einzelwerk zu, ohne (in der Regel) die Regis- fragmente berücksichtigt, sowie eine Auswahl
ter benützen zu müssen. Überdies muß die bei den einzelnen Geschichten getroffen.
Eigenart eines Œuvres nicht über Äußerlich- Band 4 enthält die Artikel zu den theoreti-
keiten präsentiert werden, wie etwa eine chro- schen Schriften Brechts, für die ein gegenüber
nologische Ordnung aller Werke, die in sich den anderen Bänden modifiziertes Verfahren
Vorwort XI

getroffen werden musste. Die chronologische Bänden der GBA beteiligt waren. Für das
Ordnung ist zwar die Basis, darüber hinaus Handbuch konnte nicht nur ein wissenschaftli-
wurden jedoch Gruppierungen gebildet, die cher Beirat, der einen repräsentativen Quer-
nach Schriften zum Theater, Schriften zur schnitt durch die Brecht-Forschung bildet,
Kunst und Literatur und Schriften zu Politik sondern auch ein internationaler Kreis von
und Gesellschaft geordnet sind. Dies ergab Brecht-Spezialisten für das Verfassen der Arti-
sich aus der Tatsache, daß die Textmasse in der kel gewonnen werden. Über den Beirat sowie
Mehrzahl aus Manuskripten oder Typoskrip- die Autoren sind die wesentlichen Institutio-
ten minderen Umfangs besteht, die zu Lebzei- nen zu Brecht und seinen Mitarbeitern im
ten Brechts nicht veröffentlicht wurden und Handbuch vertreten: die IBS, das Bertolt-
von ihm auch keine systematische Anordnung Brecht-Archiv (BBA), Berlin, die Stadt- und
erhielten. Die von Brecht publizierten grö- Staatsbibliothek Augsburg, das Brecht-Lekto-
ßeren Schriften sind durch Einzelartikel ver- rat im Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M., die
treten. Außerhalb der Chronologie stehen Kurt Weill Gesellschaft Dessau sowie das
überdies die Artikel über die Versuche, die Hanns-Eisler-Archiv, Berlin. Ihnen und ihrer
Journale, die Briefe u. a. Sie bilden zusammen Bereitschaft zu kritisch-produktiver Koopera-
mit der Druckgeschichte und der Wirkungsge- tion ist in erster Linie das Gelingen des Pro-
schichte nach dem zweiten Weltkrieg den Ab- jekts zu verdanken.
schluss des Bandes. Der weitere Dank gilt der Fritz Thyssen Stif-
Jedem Band ist eine Einführung in den je- tung, Köln, die das Handbuch bis Juni 2001
weiligen Werkkomplex vorangestellt, der finanziell unterstützt hat, der Hochschulver-
seine Spezifika, seinen Umfang, die Schwer- einigung der Universität Karlsruhe, die bereit
punkte beschreibt sowie einen zusammenfas- war, Mittel für die Datenverarbeitung bereit-
senden historischen Überblick vermittelt. Da- zustellen, dem Rektorat der Universität Karls-
bei wird auch berücksichtigt, dass sich Brechts ruhe, das unbürokratisch half, wie auch der
Produktion durch einen einzigartigen Praxis- Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften
bezug auszeichnet, der die Texte nicht in erster der Universität Karlsruhe, die für moralische
Linie für das Papier, den Druck, bestimmte, und finanzielle Hilfestellung sorgte. Verpflich-
sondern für die »Apparate«, sei es Theater, tet ist die ABB weiterhin dem BBA, vertreten
Kino, Radio oder Konzertbühne, folglich für durch seinen Leiter Erdmut Wizisla, der nicht
eine primär audio-visuelle Rezeption. nur das gesamte für die GBA benötigte Mate-
Band 5 ist nach dem Muster des Goethe- rial der ABB als Dauerleihgabe zur Verfügung
Handbuchs angelegt. Er enthält eine Chrono- gestellt hat, sondern auch stets zu Auskünften
logie, die Brechts Leben und parallel die Zeit- bereit war. Geholfen haben uns weiterhin die
geschichte dokumentiert. Weiterhin wird ei- Stadt- und Staatsbibliothek in Augsburg, ver-
ne Auswahlbibliographie der Werkausgaben treten durch Helmut Gier und Jürgen Hilles-
Brechts sowie der Forschungsliteratur vor- heim, das Kulturreferat der Stadt Karlsruhe,
gelegt. Die Register erschließen die Werke vertreten durch Michael Heck, sowie das Team
Brechts, die im Handbuch genannten Personen des rührigen Dreigroschenhefts in Augsburg,
und ihre Werke sowie mythologische und bi- vertreten u. a. durch Christiane Hempel und
blische Namen. Der Nachweis von Sachen und Kurt Idrizovic. Ständiger Kontakt bestand zu
Begriffen bleibt einem Brecht-Wörterbuch Werner Hecht, der sein Arbeitsmaterial der
vorbehalten, das nach Abschluß des Hand- ABB überlassen hat, zu Werner Mittenzwei
buchs von der Arbeitsstelle Bertolt Brecht und vor allem zu Wolfgang Jeske im Suhrkamp
(ABB) am Institut für Literaturwissenschaft Verlag, dessen Hilfsbereitschaft sich wieder
der Universität Karlsruhe vorbereitet wird. einmal bewährt hat. Unser besonderer Dank
Das Brecht-Handbuch ist ein Projekt der gilt dem Verlagsleiter des Verlags J. B. Metzler,
ABB, deren Mitarbeiter maßgeblich an der Bernd Lutz, der für alle Probleme stets ein
Herausgabe und der Bearbeitung von acht offenes Ohr hatte und sie schnell zu lösen
XII Vorwort

wusste; er hat maßgeblich an der Vorbereitung Brecht, international ausgewiesen und be-
des Handbuchs und seiner Leitlinien mitge- kannt ist, sorgt er dafür, dass der immer noch
wirkt und uns mit seiner guten Laune und unterschätzte Anteil der Musik an Brechts Ge-
Sachlichkeit moralisch unterstützt. samtwerk angemessen gewürdigt wird. Außer-
Überschattet wurde das Unternehmen durch dem gewann er Autoren im In- und Ausland
den plötzlichen und unerwarteten Tod von Bri- für die noch offenen Artikel. Ana Kugli, die
gitte Bergheim im Mai 2000, die maßgeblich u. a. für die Korrekturen verantwortlich zeich-
an der Planung des Handbuchs beteiligt war net und stets eine kritische Mitleserin ist, hat
und die Redaktion innehatte. Sie war es, die dafür gesorgt, daß die schwierige Zeit nach
nach zwölfjähriger Zusammenarbeit an der Brigitte Bergheims Tod keine wesentliche Un-
GBA und als Gründungsmitglied der ABB da- terbrechung bedeutete. Zusammen mit ihr, mit
für einstand, dass das Projekt überhaupt auf Lucia Ferroni, die uns u. a. emsig mit Literatur
den Weg gebracht und der wissenschaftliche ausstattet und die Bibliographie auf dem neue-
Beirat, der im Mai 1999 in Karlsruhe getagt sten Stand hält, sowie mit Eva Maria Weile-
und die Leitlinien das Handbuchs verabschie- mann, die erst zur Endreaktion in die ABB kam
det hatte, gewonnen werden konnte. Im Au- und die Ausführung der Korrekturen über-
gust 2000 übernahm der Musikwissenschaftler nimmt, hat sich ein Arbeitsteam gebildet, das
Joachim Lucchesi die Redaktion und führt sich vor allem durch eines auszeichnet: durch
nach kürzester Zeit nun die Arbeit eigenver- fröhliche Wissenschaft.
antwortlich durch. Da er durch zahlreiche wis-
senschaftliche Bücher und Beiträge, darunter
als Co-Autor des Standardwerks Musik bei Karlsruhe, im März 2001 Jan Knopf
XIII

Hinweise für die Benutzung Zitierweise


Die Große kommentierte Berliner und Frank-
furter Ausgabe wird mit GBA, Bandnummer
Verantwortlich für den Inhalt der einzelnen
und Seitenzahl, bei Gedichten auch mit Zei-
Artikel sind die jeweiligen Autorinnen und
lenzähler, zitiert. Wenn irgend möglich, sind
Autoren.
die Nachweise von B.-Texten nach ihr erfolgt;
Abweichungen sind in den Ausführungen be-
gründet. Die Kommentare der GBA werden
nur in Ausnahmefällen zitiert, nämlich für
Formale Gestaltung und Aufbau
Richtigstellungen oder in wenigen Fällen,
der Artikel wenn bestimmte Informationen nur über ihn
zu finden waren. Gelegentlich musste auch auf
Der Name Bertolt Brecht wird mit »B.« bzw. im ältere Werkausgaben zurückgegriffen werden;
Genitiv mit »B.s« abgekürzt; dies gilt auch für sie sind im Verzeichnis der Siglen angeführt.
Wortzusammensetzungen wie »B.-Forschung«. Häufig genannte Titel der Sekundärliteratur
Weitere Abkürzungen, die vorwiegend für die sind sigliert und werden im Literaturverzeich-
Nachweise in runden Klammern gültig sind, nis nur mit der Sigle in Kapitälchen aufge-
finden sich auf S. XVI f. verzeichnet. Alle führt. Mehrere Beiträge eines Autors sind bei
Werktitel und Binnentitel erscheinen im Text den Nachweisen im Text mit Jahreszahlen
kursiv, nicht aber bei den Nachweisen bzw. im nach dem Namen, in Einzelfällen, wenn die
Literaturverzeichnis; dies gilt auch für Werke Beiträge aus einem Jahr stammen, zusätzlich
der Musik und der bildenden Kunst. Titel von mit »a« und »b« versehen; danach folgen, wenn
B.s Werken werden auch in Kurzform, wie z. B. gegeben, die Band- und stets die Seitenanga-
Courage, Ui, genannt. ben mit Ausnahme von Zeitungsartikeln.
Zur Unterteilung längerer Artikel in Sinnab- Zitate werden in doppelte, Zitate innerhalb
schnitte dienen Zwischenüberschriften. Sie von Zitaten in einfache Anführungszeichen ge-
orientieren sich an folgendem Schema, sind setzt mit Ausnahme der mit Einzug abgesetz-
aber für jeden Artikel modifiziert bzw. auch ten Zitate, die keine Anführungszeichen er-
erweitert: halten und deren Zitate in doppelten Anfüh-
rungszeichen stehen. Hervorhebungen in den
Entstehung, Überlieferung (Texte, Fassungen)
Zitaten werden grundsätzlich so wiedergege-
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen
ben, wie die Quelle sie auszeichnet (in der
Quellen, Arbeitsmaterialien
Regel durch Kursivierung, gegebenenfalls
Beschreibung des Werkes (Inhalt, Aufbau,
durch Sperrung oder Unterstreichung). Her-
Form)
vorhebungen des zitierenden Autors erschei-
Aspekte der Deutung (Forschungsliteratur)
nen grundsätzlich kursiv mit der Angabe »Hv.
Analyse (Eigeninterpretation)
v. Vf.«. Einfügungen oder Auslassungen in den
Rezeption/Wirkungsgeschichte
Zitaten stehen in eckigen Klammern ohne wei-
Vornamen werden nur bei der ersten Erwäh- tere Zusätze. Flexionsänderungen in Zitaten
nung im fortlaufenden Text, nicht aber bei den werden nicht gekennzeichnet.
Nachweisen in runden Klammern genannt. Wo wiederholt und ohne Verwechslungs-
Nur im Fall von Verwechslungsmöglichkeiten möglichkeit aus dem selben Text zitiert wird,
oder Personen gleichen Namens werden die folgt nach dem vollständigen Stellennachweis
Vornamen immer genannt, bei den Nachwei- beim ersten Zitat im Folgenden, jedoch auf die
sen jedoch nur mit dem ersten Buchstaben. Absätze beschränkt, nur noch die Seitenan-
Eindeutig bekannte Personen, wie Goethe, gabe bzw. Vers- (als Zeilenangabe nach dem
Shakespeare oder Hegel, erhalten keine Vor- Zeilenzähler der GBA), Szenen- oder Akt-
namen. zahlen.
XIV Hinweise für die Benutzung

Zitate aus Briefen, den Journalen und Tage- Literaturverzeichnis


büchern sind neben der Quellenangabe zusätz-
lich und möglichst im fortlaufenden Text mit
der Datierung versehen. Ungedruckte Quellen An jeden Artikel schließt sich ein Literaturver-
werden nach den Archivnummern, in der Re- zeichnis an, das alphabetisch geordnet ist und
gel Blätter und nicht Seiten, des jeweiligen nur die Titel berücksichtigt, die im Text zitiert
Archivs, insbesondere des Bertolt-Brecht-Ar- sind bzw. auf die verwiesen wird. Rezensio-
chivs nachgewiesen, wobei die originale Or- nen, die bei Wyss (s. Siglenverzeichnis, S. XVI
thographie erhalten bleibt. oder in Materialien-Bänden wiederabgedruckt
sind, werden nach diesen und nicht nach der
Originalquelle zitiert. Die jeweiligen Autoren-
namen erscheinen grundsätzlich im Text.
XV

Siglenliste

I. Ausgaben

BBA Bertolt-Brecht-Archiv (angegeben wird die Archiv-Signatur)


GBA Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter
Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-
Detlef Müller. 30 Bde. und ein Registerbd. Frankfurt a. M. 1988–2000.
Gedichte Brecht, Bertolt: Gedichte I-X. Frankfurt a. M. 1960–1976.
Prosa Brecht, Bertolt: Prosa I-V. Frankfurt a. M. 1965.
Schriften zum Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater 1–7. Frankfurt a. M. 1963–1964.
Theater
Schriften zur Lite- Brecht, Bertolt: Schriften zur Literatur und Kunst 1–3. Frankfurt a. M.
ratur und Kunst 1967.
Schriften zur Poli- Brecht, Bertolt: Schriften zur Politik und Gesellschaft. 1919–1956. Frank-
tik und Gesellschaft furt a. M. 1968.
Stücke Brecht, Bertolt: Stücke I-XIV. Frankfurt a. M. 1961–1967.
WA Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden (=Werkausgabe Edition
Suhrkamp). Frankfurt a. M. 1967.
WA, Suppl. Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden (=Werkausgabe Edition
Suhrkamp). Supplementbde. I-IV. Frankfurt a. M. 1969–1982.

II. Siglierte Einzelwerke

Benjamin Benjamin, Walter: Versuche über Brecht. Hg. von Rolf Tiedemann. Frank-
furt a. M. 1966.
Bunge Bunge, Hans (Hg.): Brechts Lai-Tu. Erinnerungen und Notate von Ruth
Berlau. Darmstadt 1985.
Drew Drew, David: Kurt Weill. A Handbook. Berkeley, Los Angeles 1987.
Dümling Dümling, Albrecht: Laßt euch nicht verführen. Brecht und die Musik.
München 1985.
Eisler/Bunge Eisler, Hanns: Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht
(= Hanns Eisler: Gesammelte Werke, III/7). Leipzig 1975.
Hecht Hecht, Werner: Brecht-Chronik 1898–1956. Frankfurt a. M. 1997.
Hinderer Hinderer, Walter (Hg.): Brechts Dramen. Neue Interpretationen. Stuttgart
1984.
Joost Joost, Jörg-Wilhelm/Müller, Klaus-Detlef/Voges, Michael: Epoche – Werk
– Wirkung. Hg. v. Klaus-Detlef Müller. München 1985.
Krabiel Krabiel, Klaus-Dieter. Brechts Lehrstücke. Entstehung und Entwicklung
eines Spieltyps. Stuttgart, Weimar 1993.
Lucchesi/Shull Lucchesi, Joachim/Shull, Ronald K.: Musik bei Brecht. Frankfurt a. M.
1988.
Mittenzwei, Bd. 1 Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit
den Welträtseln. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1987.
XVI Siglenliste

Mittenzwei, Bd. 2 Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit
den Welträtseln. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1987.
Steinweg Steinweg, Reiner: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhe-
tischen Erziehung. Stuttgart 1972.
Völker Völker, Klaus: Brecht-Kommentar zum dramatischen Werk. Mitarbeit
Hans-Jürgen Pullem. München 1983.
Wyss Wyss, Monika (Hg.): Brecht in der Kritik. Rezensionen aller Brecht-Urauf-
führungen sowie ausgewählter deutsch- und fremdsprachiger Premieren.
Eine Dokumentation. München 1977.

III. Zeitschriften und Jahrbücher

Communications Communications from the International Brecht Society


DD. Diskussion Deutsch
DU. Der Deutschunterricht
DVjs. Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesge-
schichte
GLL. German Life and Letters
BrechtJb. Brecht-Jahrbuch
Brecht heute Brecht heute. Brecht today. Jahrbuch der Internationalen Brecht-Gesell-
schaft
BrechtYb. The Brecht Yearbook
GQu. The German Quarterly
NDL. Neue Deutsche Literatur
SchillerJb. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft
WB. Weimarer Beiträge
WW. Wirkendes Wort
ZfdPh. Zeitschrift für deutsche Philologie

IV. Abkürzungen

Aufl. Auflage
B. Brecht
BBA Bertolt-Brecht-Archiv
Bd./ Bde. Band/ Bände
BHB. Brecht-Handbuch
Bl. Blatt/Blätter
ders./dies. derselbe/dieselbe
d. i. das ist
Diss. Dissertation
durchges. durchgesehen
ebd. ebenda
EHA Elisabeth-Hauptmann-Archiv
Siglenliste XVII

eingel. eingeleitet
Fs. Festschrift
H. Heft
Hg. Herausgeber(in)/Herausgegeben
Hs./hs. Handschrift/handschriftlich
Hv. Hervorhebung
Jb. Jahrbuch
Jh. Jahrhundert
Kap. Kapitel
Komm. Kommentar
Masch. maschinenschriftlich
Ms. Manuskript
N. F. Neue Folge
o. g. oben genannt
o. J. ohne Jahr
o. O. ohne Ort
Sp. Spalte
Str. Strophe
Sz. Szene
Tsd. Tausend
u. ä. und ähnliche(s)
u. a. unter anderem, unter anderen
u.a.m. und andere(s) mehr
u. ö. und öfter
v. vom, von
V. Vers
Vf. Verfasser(in)
Vol./vol. Volumen/volume
vollst. vollständig
Z. Zeile
zit. zitiert
XVIII

Wissenschaftlicher Beirat Autorenverzeichnis

Michael Duchardt (Karlsruhe) Bohnen, Klaus (Sæby/Dänemark)


Albrecht Dümling (Berlin) Bühler, Christine (Regensburg)
Jürgen Hillesheim (Augsburg) Dümling, Albrecht (Berlin)
Wolfgang Jeske (Frankfurt a. M.) Gerz, Raimund (Frankfurt a. M.)
Jörg-Wilhelm Joost (Kiel) Hillesheim, Jürgen (Augsburg)
Roland Jost (Ludwigsburg) Joost, Jörg Wilhelm (Kiel)
Klaus-Dieter Krabiel (Frankfurt a. M.) Jost, Roland (Ludwigsburg)
Burkhardt Lindner (Frankfurt a. M.) Knopf, Jan (Karlsruhe)
James K. Lyon (Provo, Utah/USA) Krabiel, Klaus-Dieter (Frankfurt a. M.)
Siegfried Mews (Chapel Hill, North Caro- Kugli, Ana (Karlsruhe)
lina/USA) Lindner, Burkhardt (Frankfurt a. M.)
Hans-Peter Neureuter (Regensburg) Lucchesi, Joachim (Berlin/Karlsruhe)
Antony Tatlow (Dublin/Irland) Lyon, James K. (Provo, Utah/USA)
Frank D. Wagner (Oldenburg) Mews, Siegfried (Chapel Hill, North Caro-
Erdmut Wizisla (Berlin) lina/USA)
Müller-Schöll, Nikolaus (Frankfurt a. M.)
Müller, Klaus-Detlef (Tübingen)
Münch-Kienast, Barbara (Machtlfing)
Neureuter, Hans Peter (Regensburg)
Primavesi, Patrick (Frankfurt a. M.)
Stuber, Petra (Leipzig)
Tatlow, Antony (Dublin/Irland)
Wilke, Judith (Frankfurt a. M.)
Wizisla, Erdmut (Berlin)
Zimmermann, Rainer E. (München)
1

rungen; da sich die Zeiten und damit die Zeit-


Die Stücke. Einführung bezüge gewandelt hatten, schrieb er neue Fas-
sungen. Das ausgeprägteste Beispiel dafür sind
die drei Fassungen des Galilei von 1938/39,
Stückeschreiben 1944/47 und 1955/56. Ebenfalls liefert die
amerikanische Fassung dieses Stücks, Galileo,
den wohl bezeichnendsten Fall dafür, dass erst
B., der sich selbst immer wieder als »Stücke- die praktische Theaterarbeit zum gültigen Text
schreiber« (GBA 14, S. 298) bezeichnet hat, führte. B., dessen Englisch-Kenntnisse freilich
verfasste im Lauf seines nur 58 Jahre wäh- nicht so schlecht waren, wie immer angenom-
renden Lebens 48 abgeschlossene Dramen und men worden ist, benötigte für die Übersetzung
etwa 50 Dramenfragmente, von denen minde- und Neubearbeitung des Stücks die Sprach-
stens sieben – darunter z. B. der umfangreiche kompetenz und Bühnen-Erfahrungen von Char-
Fatzer – als spielbar gelten und entsprechend les Laughton, der die Titelrolle spielte. Erst,
auch in z. T. vielbeachteten Inszenierungen nachdem die einzelnen Szenen mit Laughton
aufgeführt worden sind. Er arbeitete daneben geprobt und der passende Sprachduktus ge-
als Dramaturg und als Regisseur, inszenierte funden war, fixierte B. den gültigen Text, der
als solcher zahlreiche Dramen anderer Auto- zunächst nur in einer Rohfassung vorlag.
ren oder schrieb auch an deren Stücken mit,
wie z. B. an Lion Feuchtwangers Kalkutta, 4.
Mai (1925) oder an Erwin Strittmatters Katz-
graben (1952), dessen Text B. mindestens zur Zeitdichtung
Hälfte umformuliert hat (BBA 1864/11–100).
Überdies war B. tätig als Filmregisseur (Kuhle
Wampe; 1931) und schrieb zahlreiche Filmer- B.s dramatisches Werk lässt sich – orientiert
zählungen sowie auch einige Drehbücher für an den B. aufgezwungenen politischen Ver-
Filme; selbst an dem erfolgreichen Film von hältnissen in Deutschland – in drei Perioden
Fritz Lang, Hangmen Also Die (1943), war er, einteilen. Die erste Periode (1918–1933) um-
wie erst in den letzten Jahren bekannt ge- fasst – von den Schülerarbeiten abgesehen –
worden ist, als Koautor neben Lang beteiligt. die Zeit des Kriegsendes und der Weimarer
Die meisten seiner Dramentexte schrieb B. Republik. 1918 entstand die erste Fassung des
in enger Verbindung mit dem Theater, d. h. mit Baal als Gegenentwurf zu Hanns Johsts
deren praktischer Erprobung während der Ar- Grabbe-Stück Der Einsame. Der Titelheld, ein
beiten an der Inszenierung und deren Über- Lyriker, weigert sich, den Konventionen der
prüfung an den Reaktionen des Publikums so- (verlogenen) Gesellschaft zu folgen, und ver-
wie der Kritik nach den Aufführungen, und braucht sich stattdessen, über Leichen ge-
zwar nach dem Motto: »Das Wichtige war der hend, rücksichtslos selbst, bis er, der den Auf-
Theaterabend, der Text hatte ihn lediglich zu enthalt in der Natur bevorzugt, bei Holzfällern
ermöglichen; in der Aufführung fand der Ver- im Wald jämmerlich verreckt. Mit Trommeln
schleiß des Textes statt, er ging in ihr auf wie in der Nacht (1919) legte B. sein erstes explizit
ein Pulver im Feuerwerk!« (GBA 25, S. 12) gesellschaftskritisches Drama vor. Vor dem
Dies führte dazu, dass die veröffentlichten Hintergrund der Revolution vom November
Texte und die der Inszenierungen häufig nicht 1918 bzw. des Spartakusaufstands Januar 1919
identisch waren. Die Inszenierungen gingen, zeigt das Stück am Beispiel der Fabrikanten-
wenigstens während der Weimarer Zeit, dem familie Balicke, wie diejenigen, die bereits am
Druck in der Regel voraus, so dass B. die Krieg mit Geschosskörben verdient haben,
Erfahrungen, die er mit der Inszenierung ge- sich nach dem Krieg rücksichtslos neu etablie-
macht hatte, in der Druckfassung berücksich- ren, indem sie nun »Kinderwägen« (GBA 2,
tigen konnte. Dies galt auch für Neuinszenie- S. 183) für neues Kanonenfutter herstellen;
2 Die Stücke. Einführung

dabei zeigen sie sich von den revolutionären liche Kampfmaschine« (GBA 2, S. 157) Jeraiah
Ereignissen nur mäßig beeindruckt. Der Jip »ummontiert«, die als »Menschenmaterial«
Kriegsheimkehrer Andreas Kragler, der den (S. 154) beliebig einsetzbar ist und, wenn es
Platz ›auf seiner Braut‹, der Tochter Balickes, sein muss – »Der läßt uns noch alle köpfen!«,
durch den neu erkorenen Schwiegersohn lautet der Schlusssatz (S. 157) – auch vor den
Murk besetzt findet und von den Balickes ab- eigenen Leuten nicht halt macht.
gewiesen wird, will sich zunächst der Revolu- Zwei Wege beschritt B., die ihn zum erfolg-
tion anschließen, zieht es aber am Ende doch reichsten Autor der Republik werden ließen,
vor, sich in das gemachte Bett der ›beschädig- einen ›seriösen‹ über das Baden-Badener
ten‹ Frau, die von Murk ein Kind erwartet, zu Kammermusikfest mit den Lehrstücken (vgl.
legen. Krabiel) und einen ›kommerziellen‹ über die
Bereits die Trommeln zeigen die Tendenz Unterhaltungsindustrie mit der Dreigroschen-
an, die B.s dramatisches Werk bis 1933 weiter- oper und den Songs aus Aufstieg und Fall der
hin bestimmen sollten. Themen und Stoffe Stadt Mahagonny. Beide Wege waren nur
sind nachhaltig von den gesellschaftlichen Ak- möglich durch die Zusammenarbeit mit Kurt
tualitäten der Entstehungszeit bestimmt und Weill, ohne dessen Musik die Texte B.s, vor
reagieren auf die verborgenen bzw. nicht er- allem im Hinblick auf die Opern, nicht zu den-
kannten Defekte der gesellschaftlichen Ent- ken sind. Mit den Lehrstücken, deren erstes
wicklung in der Weimarer Republik, indem sie Der Lindberghflug (1929) ist und deren Höhe-
diese in einem ästhetisch-theatralischen An- punkt die mit Hanns Eisler zusammen ge-
schauungsmodell aufzudecken versuchen. B.s schriebene Maßnahme (1930) bildet, entwi-
Dramentexte sprechen wie »die Wirklichkeit ckelten zunächst B. und Weill sowie dann auch
selber« (GBA 11, S. 165), wie das Abschlussge- Paul Hindemith, der die erste Vertonung zum
dicht des Lesebuchs für Städtebewohner Lehrstück bzw. Badener Lehrstück vom Ein-
(1930) metaphorisch formuliert hat; sie sind in verständnis (1930) schrieb, und Eisler, einen
dem Sinn Zeitstücke, als sie von konkreten neuen musikalisch-theatralen Spieltypus, mit
gesellschaftlichen Vorgaben ausgehen, um sie dem sie einen nie wieder erreichten techni-
dann jedoch beispielhaft und als gesellschaft- schen Standard gewannen. Musik und Text
lich ›typisch‹ zu transzendieren. Der maßgeb- waren genau aufeinander bezogen, so dass sie
liche dieser gesellschaftlichen Defekte, der eine Einheit bildeten; die Einfachheit der
die Beziehung der Menschen untereinander, Sprache, die das Ergebnis einer Kunst von ho-
aber auch des Menschen zu sich selbst ent- hem Rang ist, sowie die musikalische Struktur
schieden bestimmte, war die sich in den Groß- wurden so aufeinander abgestimmt, dass die
städten ausbreitende Kälte bzw. Entfremdung Stücke für Rundfunk und Schallplatte geeig-
unter den Menschen und die damit verbun- net, also mediengerecht waren. Die Spielform
dene Auslöschung von Individualität. Im Di- war so organisiert und wurde entsprechend
ckicht der Städte (1923–1927) thematisierte B. auch so inszeniert, dass sie sich direkt an die
den Zerfall auch der engsten Beziehungen in Zuschauer wendete und ihre aktive Rezeption
der Familie sowie im »Kampf zweier Männer herausforderte. Damit gelang es B. und seinen
in der Riesenstadt Chicago« (GBA 1, S. 437) Komponisten ein vom traditionellen Musik-
die Entfremdung und Selbstentfremdung der betrieb nie erreichtes Publikum zu gewinnen,
Menschen in der Großstadt als objektiv ge- ganz abgesehen von der inhaltlichen Heraus-
walttätigen Tatbestand. Mit Mann ist Mann forderung, welche die Stücke dem Publikum
(1926) verwies B. auf den schleichenden Pro- zumuteten und die im Fall des Badener Lehr-
zess der Entindividualisierung in der moder- stücks zum Ende des Kammermusikfests in
nen Industriegesellschaft, die auch den Men- Baden-Baden führten.
schen zur bloßen Ware degradierte. Der ehe- Der Erfolg der Dreigroschenoper (1928) ist
malige, zurückhaltende und sensible Packer legendär. Die Uraufführung von Aufstieg und
Galy Gay wird wie ein Auto in die »mensch- Fall der Stadt Mahagonny (1930) löste den
Zeitdichtung 3

größten Theaterskandal in der Weimarer Re- tionären Dramatik wurde durch den Faschis-
publik aus. Beide Werke – die Dreigroschen- mus abgebrochen.« (GBA 22, S. 120) Mit dem
oper trug die traditionelle Genrebezeichnung Exil begann – von wenigen Ausnahmen, wie
sogar noch herausfordernd im Titel – zielten z. B. die Inszenierungen von Die Gewehre der
auf die Destruktion der Oper und ihres Be- Frau Carrar 1937 oder Furcht und Elend des
triebs, indem sie unerbittlich und brutal deren III. Reiches 1938 in Paris, abgesehen – als
herkömmliche Seichtheit, die Unvernünftig- zweite Periode seines Schaffens (1933–1947)
keit ihrer Kunstform und ihres Handlungsver- die Produktion für die Schublade ohne Kon-
laufs sowie ihre überkommene Kulinarik und takte mit Bühne und Publikum. Die Forschung
Romantik bloßstellten und in ihre Bestand- war und ist sich auch heute noch weitgehend
teile zerlegten. Weill und B. begründeten einig, dass B.s ›klassische‹ Dramen erst im
damit einen neuen Operntypus auf der Grund- Exil entstanden seien und er mit ihnen seine
lage der neuen Techniken des epischen Thea- ›eigentliche‹, sein episches Theater kenn-
ters, auf den keine der üblichen Gattungsbe- zeichnende Dramenkunst erst dann ausgebil-
zeichnungen mehr paßte. Die relativ selbst- det habe. Dieses Urteil aber verdankt sich ei-
ständigen Songs, die musikalisch durchaus ner Rezeption, welche die Sicht auf das Werk
anspruchsvoll sind und dennoch ›leicht‹ wir- der Weimarer Zeit nachhaltig verstellte. Sie
ken, wurden Schlager und eroberten sich begann 1954 mit der »révolution brechtienne«
durch zahlreiche Rundfunk- und Schallplat- in Paris (vgl. Hüfner, S. 50–52), die das Gast-
tenaufnahmen Spitzenplätze in der Unterhal- spiel des Berliner Ensembles mit Mutter Cou-
tungsindustrie: »Die gesellschaftliche Funk- rage und ihre Kinder bei der französischen
tion des Theaters änderte sich. Der Unter- Kritik auslöste und dazu führte, dass B.s Werk
schied gegen früher war nicht viel geringer als auch im eigenen Land langsam als bedeutend
der zwischen einem Tanz und einer Schieß- anerkannt werden musste, wobei aber eben
übung.« (GBA 22, S. 121) B. und Weill be- ein Exildrama das Zeichen gesetzt hatte. Sie
wiesen damit, dass sie die Zeichen der Zeit setzte sich mit der Verschärfung der deutschen
erkannt, aber auch durchschaut hatten, freilich Teilung Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre
mit dem paradoxen Ergebnis: Die neuen For- fort, die auch den Autor in einen Ost-B. und
men von Text und Musik, welche die herr- West-B. zerlegte, was sich nicht nur in diver-
schende Kunst in ihrer Warenform bloßlegten, gierenden Werkausgaben niederschlug, son-
wurden selbst zur erfolgreichen Ware und dern auch in weitgehend diametral gegenüber-
brachten deren Urhebern finanziellen Profit stehenden Forschungsmeinungen.
ein. Dass anspruchsvolle, hochartifizielle, mit Die DDR kanonisierte den überaus umstrit-
den neuen Mitteln des epischen Theaters spie- tenen und bis zur Gesinnungs-Überprüfung
lende und zugleich schärfste Gesellschaftskri- verfolgten Autor (vgl. Hecht, S. 1070 f.) nach
tik umsetzende Sprach- und Musikkunst ein seinem frühen Tod, als er sich nicht mehr weh-
Massenpublikum erreichte, und zwar im Lauf ren konnte, zum ›marxistischen Klassiker‹,
der Zeit weltweit und bis heute ungebrochen, der als Bürgerlicher allmählich zum Kommu-
ist in der deutschen Geschichte singulär. Die nismus gefunden hatte. Verhängnisvoll wirkte
Jahre 1928–1930, die Zeit der Lehrstücke und sich dabei die sog. Phasentheorie aus (vgl.
der Opern, bildeten den Höhepunkt in B.s dra- Knopf, S. 80), nach der B. nach bürgerlich-
matischem Schaffen. nihilistisch-anarchischen Anfängen (1. Phase:
Mit der Machtübergabe an die Nazis waren 1918–1926) über einen vulgärmarxistischen-
die Möglichkeiten, die erprobten und bewähr- behavioristischen Prozess der lernenden An-
ten neuen Techniken durchzusetzen und wo- näherung an die ›Arbeiterklasse‹ (2. Phase:
möglich in den Apparaten zu etablieren, vor- 1926–1933) im Exil endgültig zum ›sozialisti-
bei, oder wie B. 1935 rückblickend formu- schen Realismus‹ (3. Phase: 1933–1956) fand
lierte: »Die Entwicklung des revolutionären (vgl. Mittenzwei, passim). Besonders die
deutschen Theaters und der deutschen revolu- Lehrstücke, die in ihrem Charakter völlig ver-
4 Die Stücke. Einführung

kannt blieben, mussten als Belege für die Apparate zu sprengen oder wenigstens »umzu-
These dienen, B. habe mit ihnen zwar ehrlich funktionieren«, sondern weitgehend zu bedie-
gemeinte, aber an den Realitäten vorbeige- nen. Dies stellt weder ihre formale Kunstfer-
hende, vereinfachte (und deshalb gerade nicht tigkeit noch die epischen, gegen die bürger-
kommunistische) Lehren verbreitet (vgl. Mit- lich-autonome Ästhetik polemisch gerichteten
tenzwei, S. 120 f.). Elemente sowie ihre Spielformen in Frage und
In der Bundesrepublik der restaurativen berührt auch ihre hohe Sprachkunst nicht, ins-
Adenauer- und Erhard-Gesellschaft konnte gesamt jedoch bleiben sie im Rahmen dessen,
B. nur dadurch etabliert werden, dass sein was die Theater als Institutionen vorgeben.
angeblicher Kommunismus entschärft, wenn Dies gilt auch für die bekanntesten Dramen
nicht ganz beseitigt wurde. Der Dichter B. des Exils, für das klassische Antikriegsdrama
wurde vom Politiker B. getrennt und sein Werk Mutter Courage und ihre Kinder (1939), für
nach den Qualitäten bürgerlicher Ästhetik und das Modellstück des epischen Theaters, den
allgemein-menschlichen Ewigkeitswerten Guten Menschen von Sezuan (1939–1941), so-
durchsucht, die denn auch gefunden worden wie für das Historiendrama Leben des Galilei,
sind. Dazu taugten die Lehrstücke, die als of- das B. selbst als »technisch ein großer Rück-
fen kommunistische Propaganda-Stücke ohne schritt« (GBA 26, S. 330) einschätzte. Mit ih-
jeden künstlerischen Wert galten, sowie die nen verbinden sich die Techniken des epischen
antibürgerlichen Opern mit ihrer Aggressivität Theaters, die B. ab 1936, erstmals belegt im
und ihren ›Obszönitäten‹ nicht. Also blieben Aufsatz Verfremdungseffekte in der chinesi-
auch hier nur die Exilstücke übrig, um B. im schen Schauspielkunst (GBA 22, S. 200–210),
Unterricht der Schulen und Universitäten »Verfremdung« nannte und deren Wirkung er
überhaupt behandeln zu können. als »Verfremdungseffekt« oder kurz »V-Effekt«
Dabei blieb auf beiden Seiten völlig uner- (S. 205) bezeichnete. »Verfremdung« verstand
kannt, dass B. in den späten 20er- und frühen B. als ein Fremdmachen des Bekannten und
30er-Jahren mit den Lehrstücken und Opern Vertrauten, um »Staunen und Neugierde«
sowohl praktisch als auch theoretisch, insbe- (S. 554) darüber zu wecken, eine Definition,
sondere in seiner Schrift Der Dreigroschen- die B. unter Verwendung des Begriffs »ent-
prozeß (1931), eine Medienästhetik entwickelt fremden« bereits 1930 gefunden hatte (GBA
hatte, welche die Avantgarde in der Kunst sei- 21, S. 396). Verfremdung diente ästhetisch zur
ner Zeit bildete, die erst Ende der 80er-Jahre theatralischen Veranschaulichung der gesell-
von der Forschung in ihrer Bedeutung über- schaftlich verborgenen Funktionsgesetze, die
haupt erkannt wurde und noch heute aktuell das menschliche Zusammenleben regeln bzw.
ist (vgl. Wöhrle; Herrmann). Hinzu kommt, gerade stören, und erkenntnistheoretisch dem
dass insbesondere die Opern bereits alle we- Durchschauen und Erkennen dieser Gesetze,
sentlichen Techniken des epischen Theaters um auf sie, und zwar außerhalb des Theaters,
enthalten. Heiner Müller betonte, dass die einwirken und sie möglicherweise verändern
Lehrstücke sowie das Fatzer-Fragment, das er zu können: »Den Vorhang zu und alle Fragen
als »Jahrhunderttext« (Müller, S. 147) qualifi- offen. / [ … ] / Verehrtes Publikum, los, such
zierte, formal und sprachlich wesentlich her- dir selbst den Schluß! / Es muß ein guter da
ausfordernder, ›sperriger‹, d. h. moderner, sein, muß, muß, muß!« (GBA 6, S. 278 f.)
und damit womöglich aufgrund ihrer medi- Die dritte Periode (1947–1956) umfasste die
alen Tauglichkeit auch kunstvoller sind, wenn Zeit von B.s Rückkehr nach Europa. Zunächst
man den Stand der technischen Entwicklung, ging er auf Beobachtungsposten in die
gemessen an dem der Gesellschaft, auch in der Schweiz, um sich dann in Ost-Berlin zu eta-
Kunst berücksichtigt. blieren. Es war weiterhin die Zeit, in der He-
Gemessen daran, sind die Exilstücke als lene Weigel und er das Berliner Ensemble
Rückkehr zu ›normalen‹ Dramentexten ein- aufbauten, das mit dem Theater am Schiffbau-
zustufen, die nicht mehr angetreten sind, die erdamm, von dem 1928 sein Ruhm ausgegan-
Zeitdichtung 5

gen war, 1954 ein eigenes Haus erhielt, und es und blutrünstige Satire auf den aufkommen-
waren die wenigen Jahre, die B. für die Thea- den Nationalsozialismus – im Zuge der De-
terarbeit bis zu seinem frühen Tod blieben. Im fekte der Weimarer Republik und ihrer (an-
Vordergrund stand die praktische Theaterar- geblich) freiesten Verfassung der Welt – ge-
beit, weniger das Schreiben von weiteren dacht waren und nach dem 17. Juni 1953 nun
Stücken, denn B. stellte am 15. 4. 1948 im Anwendung auf die DDR-Verhältnisse fanden,
Journal von Zürich fest: »Schon bevor ich die denen B. vorwarf, dass sie unter »neuen Be-
Trümmer der Theaterhäuser sehe, bekomme fehlshabern« den alten »Naziapparat« wieder
ich die der Schauspielkunst zu sehen.« (GBA in Bewegung gebracht hätten: »Unüberzeugt,
27, S. 268) Es ging folglich darum, den Stan- aber feige«, schrieb B. 1954 in einem Vorwort
dard, den das Pathos und das Gebrüll der Na- zum Stück, »feindlich, aber sich duckend, be-
zis – sie waren noch in den 50er-Jahren in gannen verknöcherte Beamte wieder gegen die
Wochenschauen und im Rundfunk bis hin zu Bevölkerung zu regieren« (GBA 24, S. 410).
den Reportagen der Fußballweltmeisterschaft
von 1954 ausgeprägt – nachhaltig zerstört hat-
ten, durch Modellinszenierungen und Klassi-
kerbearbeitungen wieder zu restaurieren, ehe Modelle der gesellschaftlichen
daran gedacht werden konnte, neue Formen zu Realität
erproben. 1947/48 bearbeitete B. die Antigone
des Sophokles in der Übersetzung Hölderlins
für das Stadttheater von Chur. Mit Ruth Berlau Bereits B.s poetische Schülerarbeiten, wie sie
zusammen, welche die Inszenierung fotogra- durch das Tagebuch No. 10 (1913), durch die
fisch dokumentiert hatte, stellte B. das erste Zeitschrift Die Ernte (1913/14) und durch Pu-
Modellbuch her, das jede einzelne Szene der blikationen in Zeitungen (ab 1914) überliefert
Aufführung minuziös festhielt. Das zweite sind, dokumentieren eindrücklich, dass es
Modellbuch entstand 1949 zu B.s legendär ge- dem Autor nicht darum ging, wie es gerade im
wordener Inszenierung der Mutter Courage bürgerlichen Kontext üblich war, seine persön-
mit Helene Weigel in der Titelrolle. Weitere lichen Probleme zum ›Ausdruck‹ zu bringen.
Bearbeitungen galten u. a. Shakespeares Co- Vielmehr zeugen sie, wie Brigitte Bergheim im
riolanus 1951/53), dem Don Juan von Molière Hinblick auf die Sonette des Tagebuchs formu-
(1953/54) oder Georges Farquhars Pauken und liert hat, »von dem ausgeprägten Formbewußt-
Trompeten (1955). Mit der Inszenierung des sein des fünfzehnjährigen Brecht [ … ], der of-
Urfaust von Goethe sowie der Bearbeitung von fensichtlich gezielt darum bemüht war, sich
Jakob Michael Reinhold Lenz’ Hofmeister die Sonettform anzueignen« (Bergheim,
stellte B. beispielhaft der Doktrin des sozia- S. 246), was fast ausschließlich auch für alle
listischen Realismus, die meinte, nach den weiteren Formen gilt, in denen B. sich übte,
Verwüstungen durch den Faschismus unmittel- wie auch für den frühen Einakter Die Bibel, in
bar wieder an das ungeschmälerte ›Erbe‹ der dem er seine Hauptquelle bereits als Stein-
Klassik anknüpfen zu können, eine heiter-kri- bruch für Religionskritik benutzte.
tische Auseinandersetzung mit der Tradition B. war ein Schriftsteller, der neben der Aus-
gegenüber, die denn auch prompt auf herbe bildung eines möglichst perfekten Handwerks
Ablehnung durch die maßgeblichen Kultur- sich stofflich nicht für das Subjektive und sei-
funktionäre stieß. Kennzeichnend ist aller- nen ›Ausdruck‹ interessierte, sondern für das
dings auch, dass B. mit der Ausarbeitung des Intersubjektive, für das Zusammenleben der
einzigen ›Originalstücks‹ in dieser Periode, Menschen innerhalb der gesellschaftlichen
mit Turandot oder Der Kongreß der Weißwä- Verhältnisse, denen sie notwendig unterwor-
scher, einen unmittelbaren Bezug zu den 30er- fen und denen sie sich durch Sozialisation an-
Jahren herstellte. Er nahm Pläne und Ent- zupassen haben und in der Regel ihnen auch
würfe von 1930 wieder auf, die für eine bittere angepasst sind. Erst wenn diese, die einzelnen
6 Die Stücke. Einführung

bestimmenden Voraussetzungen der Verhält- was aufzubauen‹, etwas ›Künstliches‹, ›Ge-


nisse als ›Realität‹ erkannt und auch, seien sie stelltes‹. Es ist also ebenso tatsächlich Kunst
auch noch so schlecht und menschenverach- nötig. Aber der alte Begriff der Kunst, vom
tend, anerkannt sind, sind aktive, auf Verände- Erlebnis her, fällt eben aus.« (GBA 21, S. 469)
rungen zielende Eingriffe möglich; alles an- Daraus folgert, dass B.s Stücke am besten
dere wäre blinder Aktionismus, wie es etwa mit dem Begriff des ›Modells‹ zu charakte-
die Handlungen des jungen Genossen in der risieren sind, sekundiert von dem der »Ver-
Maßnahme zeigen. Dies ist keine Frage der suche«, den B. ab 1930 für die gleichnamige
Ideologie, sondern eine Frage nach den Vor- Reihe seiner Werk-Publikationen verwendet
gaben einer hoch industrialisierten Massen- hat. Beide Begriffe sind in modifizierter Ana-
gesellschaft, denen niemand entgeht, der in logie zum wissenschaftlichen Experiment zu
ihnen lebt bzw. leben muss. Zu verweisen wäre verstehen. Mit dem prinzipiell ›gebauten‹ wis-
dafür als Extremfall auf die Gettoisierung und senschaftlichen Experiment werden Teilvor-
dann fabrikmäßig organisierte Ermordung der gänge in der Natur nachgebildet und sind, im
deutschen Juden, die keine Mittel hatten, das Fall des Erfolgs, technisch anwendbar. Wie bei
faschistische Deutschland rechtzeitig zu ver- diesem versuchen B.s Modelle, die ›Realität‹,
lassen. was freilich nur in begrenzten und definierten
Es zeichnet B.s Stücke insgesamt aus, dass Ausschnitten, nur durch ›Vereinfachung‹ mög-
sie sich diesen Vorgaben stellen und sie danach lich ist, ›abzubilden‹. Zugleich kann dies je-
befragen, welche Auswirkungen sie auf die doch nur geschehen, wenn ›etwas aufgebaut‹
Menschen und ihr Zusammenleben haben; wird, also ein – vom Experimentator stam-
dass eben diese realen Bezüge zur Gesellschaft mendes – Konstrukt erstellt wird. Das Modell
der jeweiligen Zeit die thematische Klammer ist folglich immer zugleich (vereinfachtes) Ab-
aller seiner Dramen bildet, macht die Beson- bild von Realität und Konstruktion seines Ur-
derheit von B.s Werk aus. Um dies leisten zu hebers: Nachbildung von Wirklichkeit durch
können, bedarf es freilich der Ausbildung ge- künstliche Simulation im Experiment. Da es
eigneter ästhetischer Mittel, die in der Lage sich bei der Kunst um gesellschaftliche, sich
sind, diese Realitäten auch sichtbar zu ma- also stets verändernde und von Menschen ver-
chen. Hinzu kommt, dass diese Realitäts- änderte, geschichtliche prozessuale Realitäts-
›Abbildungen‹, deren Konstruktion sowohl Nachbildung handelt, sind die Modelle einer-
Einbildungskraft und Fantasie als auch einge- seits prinzipiell gesellschaftskritisch, insofern
hende Kenntnisse erfordern, künstlerisch so sie die Verdinglichungen und die Entfremdung
geformt sein müssen, dass sie »aus innig ver- der menschlichen Beziehungen in der moder-
bundenem Ernst und Spiel« entspringen, wie nen Gesellschaft offen legen, und andererseits
es Goethe in Der Sammler und die Seinigen als in der zweiten Bedeutung von »Versuch« zu-
notwendig für »wahre Kunst« definiert hat (8. gleich ›Proben‹, vorläufige Angebote, die wie
Brief), und damit nicht nur Erkenntnis vermit- die realen Prozesse ständiger Veränderung un-
teln, sondern auch Vergnügen und Genuss be- terliegen. Mit der grundlegenden Kategorie
reiten. Für die Realitätsdarstellung ergab sich der Veränderung bzw. der Veränderbarkeit
für B. das Problem: »Die Lage wird dadurch so bricht B.s Werk das traditionell als geschlos-
kompliziert, daß weniger denn je eine ein- sen und womöglich ›harmonisch‹ in sich ru-
fache ›Wiedergabe von Realität‹ etwas über hende, als autonom verstandene Kunstwerk
die Realität aussagt. Eine Fotografie der der bürgerlichen Ästhetik auf und öffnet es hin
Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe zur gesellschaftlichen Wirklichkeit der Zu-
nichts über diese Institute. Die eigentliche schauer: Ziel ist es, die dargestellte ›Kunst-
Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die welt‹ als veränderlich und vor allem durch die
Verdinglichung der menschlichen Beziehun- Menschen veränderbar zu zeigen.
gen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren Dieser Realitätsbezug brachte B.s Stücke
nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich ›et- von vornherein in den Verdacht, ›ideologisch‹
Modelle der gesellschaftlichen Realität 7

zu sein, und zwar nach dem überkommenen gängen auf der Bühne teil. Um dies zu errei-
Topos, wonach nicht die Botschaft, sondern chen, setzte B. alle möglichen traditionellen
der Bote vom Übel künde und folglich der Mittel des Theaters ein und erfand neue, an
Überbringer der Nachricht deren Urheber sei der modernen Technik und an den neuen Mas-
(den Topos hat Sophokles im Ödipus mit der sen-Medien orientierte Formen des Theater-
Figur des Sehers Teiresias vorgegeben). Da spiels. »Zeigt, daß ihr zeigt!« (GBA 15, S. 166),
sich diejenigen, welche die jeweils etablierte war die Maxime. In der Betonung des Spiel-
Ordnung vertreten und von ihr profitieren, charakters seiner Stücke sah B. die Garantie
nach der gängigen Übereinkunft, dass das, was dafür, dass Theater mit Genuss und Vergnügen
an der Macht ist, auch ›richtig‹ ist, ideologie- verbunden ist und berief sich dabei, wie
frei wähnen, liegt es nahe, Kritikern dieser Hauptmann 1926 in ihrem Tagebuch übermit-
Ordnung ›Ideologie‹ zu unterstellen bzw. telte, auf Shakespeare, der nur ausgeführt
»muckraker« (Netzbeschmutzer) zu sein. B.s habe, was ihm auch Spaß gemacht habe: »Fin-
Stücke (und sein Werk insgesamt) haben je- det er [B.], daß in seinen Sachen ihm etwas
doch im Verlauf ihrer Geschichte erwiesen, keinen Spaß macht, dann geht er sofort hin
dass die in ihnen sichtbar gewordenen gesell- und ändert um.« (Kebir, S. 47)
schaftlichen Defekte durch Faschismus, zwei- B.s Stück-Modelle beharren, indem sie ge-
ten Weltkrieg und den ihm nachfolgenden sellschaftlich Verborgenes sichtbar, erkennbar
Kriegen auf furchtbare Weise Wirklichkeiten machen und zugleich ihre Künstlichkeit, Ge-
hervorgebracht haben, die zur Zeit, als B. sie machtheit zeigen, auf der Untrennbarkeit von
schrieb, in nur scheinbar friedlichen Verhält- Kunst und Belehrung: »Die Freude an neuen
nissen noch verborgen waren. Erfahrungen und neuen Kenntnissen, beson-
Die Konstruktion dieser Nachbildungen im ders Kenntnissen über das menschliche Zu-
ästhetischen Anschauungsmodell erfordert, sammenleben, ist eine Hauptquelle des Kunst-
weil die »eigentlichen Realitäten« verborgen, machens und Kunstgenießens. Eine Kunst, die
unsichtbar, ›funktional‹ (geworden) sind, alle den Erfahrungen ihres Publikums nichts hin-
erdenkliche Fantasie und Einbildungskraft so- zufügt, die sie entläßt, wie sie kamen, die
wie den Einsatz aller formalen und sprach- nichts will, als rohen Instinkten zu schmei-
lichen Mittel, die dazu taugen, die – das Zu- cheln und unreife oder überreife Meinungen
sammenleben der Menschen bestimmenden – zu bestätigen, taugt nichts. Die sogenannte
Funktionsgesetze der Realität zur (ästheti- reine Unterhaltung ergibt nur Katzenjammer.«
schen) Anschauung zu bringen. Entsprechend (GBA 23, S. 222)
hat B. 1931 als Ergebnis seiner bis dahin ent-
wickelten Medienästhetik konstatiert: »Die
Technifizierung der literarischen Produktion
ist nicht mehr rückgängig zu machen«; der Intertextualität
Dichter müsse das, »was die Instrumente kön-
nen, ebenfalls können [ … ] wollen« sowie alles
das, was die Instrumente zeigen bzw. zeigen B.s Stücke – wie auch zahlreiche seiner wei-
könnten, zu der Realität rechnen, »die seinen teren Werke – sind, was in der deutschen Lite-
Stoff ausmacht« (GBA 21, S. 464). Da es sich raturgeschichte immer noch als maßgebliches
bei aller Nachbildung von Realität beim Thea- Qualitätsmerkmal gilt – weitestgehend keine
ter (und bei Literatur überhaupt) um eine Originalschöpfungen; sie verdanken sich viel-
künstlich hergestellte Spiel-Welt handelt, er- mehr allen möglichen Quellen wie Texten ver-
gibt sich darüber hinaus die Konsequenz, alle schiedenster Sorte aus der gesamten Weltlite-
ästhetischen Mittel und Techniken einzuset- ratur von der Antike bis zur Gegenwart, der
zen, um das Spiel als Spiel zu zeigen und damit Historiographie, der Kulturgeschichte und der
zu vermeiden, dass die Zuschauer in die Illu- Philosophie, aber auch Texten der Tagesme-
sion verfallen, sie nähmen an ›realen‹ Vor- dien sowie zahlreichen Dokumenten nicht-li-
8 Die Stücke. Einführung

terarischer Art. So geht z. B. Schweyk auf den det. Wer es erreicht, daß er umgearbeitet, also
Roman von Jaroslav Ha šek zurück, der Lu- im Persönlichen entfernt wird, der hält
kullus basiert auf Plutarchs Lebensbeschrei- ›sich‹.« (S. 318) Den Anspruch, der Autor sei
bungen und auf dem Lehrgedicht des Lukrez, ein herausragendes Individuum, das eine
die Horatier und die Kuriatier verarbeiten ein ›Welt‹ aus sich – wie einst Gott – schöpft und
Detail aus der Geschichtsschreibung des Li- ›Botschaften‹ verkündet, hat B. bewusst aufge-
vius, Herr Puntila und sein Knecht Matti setzt geben zugunsten eines multidimensionalen
die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft Textes, der seine Herkunft diverser kultureller
Hegels dramatisch um, die Wirtschaftshand- Provenienz verdankt und dadurch – ganz im
lung der Heiligen Johanna der Schlachthöfe Sinn von Roland Barthes – gerade nicht auf
beruht auf Nachrichten der Tagespresse über eine (angebliche) Intention des Autors oder
Börsenmanöver, oder das Bühnenbild von Lux auf ›Botschaften‹ und ›Lehren‹ zurückführbar
in tenebris gestaltet exakt das Aussehen der ist und stattdessen Ambivalenzen und Ambi-
Hasengasse, der Bordellgasse, von Augsburg guitäten entfaltet, die jede Eindeutigkeit aus-
in der Entstehungszeit des Stücks nach. B. er- schließen. Dieser Tatbestand lässt auch alle
fand nicht, sondern er fand seine Stoffe und psychoanalytischen Deutungen von B.s Werk
Themen und setzte damit um, was Frédéric von vornherein scheitern, weil sie versuchen,
Soret von Goethe überliefert hat: »Ich sam- ›Aussagen‹ der Texte auf die Persönlichkeit
melte und benutzte alles was mir vor Augen, des Autors, d. h. auf dessen angebliche Defekte
vor Ohren vor die Sinne kam. Zu meinen Wer- bzw. Sublimationen, zurückzuführen und da-
ken haben Tausende von Einzelwesen das bei das intertextuelle und ästhetische Spiel,
ihrige beigetragen, Toren und Weise, geist- das die Stücke B.s in hohem Maß auszeichnet –
reiche Leute und Dummköpfe, Kinder, Män- was auch ihre von den Theatern in aller Welt
ner und Greise, sie alle kamen und brachten dokumentierte Spielbarkeit belegt –, unter-
mir ihre Gedanken, ihr Können, ihre Erfah- schlagen. Dies kann ein prominentes Fehlur-
rungen, ihr Leben und ihr Sein; so erntete ich teil von Carl Pietzcker bestätigen, der im Fall
oft, was andere gesäet; mein Lebenswerk ist des Guten Menschen von Sezuan behauptet
das eines Kollektivwesens, und dies Werk hat, Shen Te und Shui Ta seien zwei (selbst-
trägt den Namen Goethe.« (Soret, S. 630) B. ständige) antithetische Figuren, die »ganz im
selbst berief sich 1929 im Rahmen der Pla- bürgerlichen Geschlechtsrollenschema« ver-
giatsaffäre um die Dreigroschenoper auf harrten und deshalb auf B.s »mangelnde Trian-
Shakespeare: »Von den großen sensationellen gulierung« (Fehlen der Vaterbindung durch
Fällen, wo es dem Autor glückte, ganze Akte Aushäusigkeit) schließen ließen (Pietzcker,
anderer sich einzuverleiben, schätzen wir am S. 243). Der Text jedoch besagt, dass es Shen
meisten Shakespeare, der mit schöner offener Te als Frau ist – B. zitiert die traditionelle
Großmut alles, was bei ihm auf der Bühne Hosenrolle der Frau u. a. bei Shakespeare –,
während eines Stückes gesprochen wird, mit die den Shui Ta als Mann widerstrebend spie-
seinem großen Namen deckt.« (GBA 21, len lernt, sich also das vorgegebene und ihr
S. 323 f.) Und er erklärte: »So ziemlich jede aufgezwungene »Geschlechtsrollenschema«
Blütezeit der Literatur ist charakterisiert durch spielerisch aneignet, um in einer räuberischen
die Kraft und Unschuld ihrer Plagiate.« und ausbeuterischen Welt überleben zu kön-
(S. 323) Auch den »Tod des Autors« (Barthes) nen. Die Frau ist der Mann. Wenn das Stück
nahm B. bereits vorweg, wenn er die »Zitier- eine ›Aussage‹ haben sollte, dann doch wohl
barkeit« als wichtigstes Stilmerkmal moder- die, dass B.s soziales Rollenspiel dieses
ner, auf Montagetechnik beruhender Literatur Schema, das die Persönlichkeit bis zur Aufgabe
bezeichnete: »›Plagiate‹ ausfindig zu machen, des Geschlechts auslöscht, als zutiefst inhu-
bedeutet hier Kunst. Es ist gesellschaftlich man entlarvt.
wertvolle ›Arbeit‹. Der ›Urheber‹ ist belang-
los, er setzt sich durch, indem er verschwin-
9

Kollektive Arbeitsweise den eigenen Ruhm zu sorgen und die »Appa-


rate«, wie B. es nannte, die Theater, aber vor
allem auch die Medien (Zeitung, Rundfunk,
Ein Foto von 1927 zeigt eine Arbeitssitzung in Film) zu erobern. Dazu war es nötig, in die
B.s Berliner Wohnung, Spichernstraße 16. Metropole, nach Berlin nämlich, überzuwech-
Paul Samson-Körner, der bekannte Boxer, über seln, was B. denn 1924 auch tat, und jede
den B. eine (fragmentarisch gebliebene) Bio- Gelegenheit zu nutzen, in der Öffentlichkeit
graphie schreiben wollte (Der Lebenslauf des aufzutreten. So beteiligte er sich an allen mög-
Boxers Samson-Körner), sitzt, offenbar spie- lichen Umfragen oder sorgte für Vorabdrucke
lend, am Klavier, B. steht, die Hände in den seiner Werke in der Tagespresse und hielt sich
Hosentaschen, vor einer Vitrine. Auf dem Sofa im Rundfunk durch Gespräche, Interviews,
sitzen der Philosoph und Schriftsteller Her- Rundfunkbearbeitungen eigener und fremder
mann Borchardt, der Komponist Edmund Werke, wie von Mann ist Mann (1927) oder
Meisel (vgl. Lucchesi/Shull, S. 23) sowie der Shakespeares Macbeth (1927) oder Hamlet
Dramaturg und Gelegenheitsdichter Hannes (1931), präsent. Für B. gilt »die Einführung
Küpper. Auf einem Stuhl sitzt Elisabeth Haupt- des Ökonomischen in die Kunst« , wie Thomas
mann und tippt in die Schreibmaschine. B. Wegmann formuliert hat: »Dabei denkt der
kommentierte eben diese Fotografie für die Autor sich zunehmend als Organisator und
Zeitschrift Uhu (Heft 11, August 1927) selbst- Funktionär. Nicht um originales Schaffen und
ironisch folgendermaßen: »Ich selber arbeite Schöpfen ist es ihm zu tun, sondern um Tätig-
fast alles mit andern zusammen, ließ also den keiten, die im wesentlichen aus Planung und
Photographen zu einer Zeit kommen, wo ich Steuerung bestehen. Kunst etabliert sich so als
das Zimmer voll hatte, wenn auch nicht gerade eine Methode, Zeitgeist und -läufte zu begrei-
zum Arbeiten. Zu unserer Entschuldigung fen und zu lenken. Literatur und Theater, Film
muß ich noch erwähnen, daß unsere unnatür- und Hörspiel werden zu strategischen Unter-
liche Haltung auf unserm Entschluß beruht, nehmen, mit denen sich die gesellschaftliche
ausnahmsweise so zu tun, als wüßten wir, daß Umwelt beeinflussen läßt.« (Wegmann, S. 13)
wir photographiert werden.« (GBA 21, S. 207) Die Kollektivität war also Programm. Ent-
B. berief sich für seine Arbeitsweise auf die sprechend sorgte B. – z. T. hartnäckig – für
Arbeitsteilung der Gesellschaft, in der er Kontakte. 1919 lud er sich bei Feuchtwanger
lebte, z. B. wenn er in seiner Geschichte Herr ein, um den bereits bekannten Schriftsteller
Keuner und die Originalität über die traditio- um die Meinung seines eben fertig gestellten
nellen Literaten, die ihre Texte einsam am Stücks Spartakus, das er nur des Geldes wegen
Schreibtisch verfertigen, ausführte: »Wie we- geschrieben habe, zu befragen. Daraus ent-
nig brauchen diese alle zu ihrer Tätigkeit! Ein wickelte sich eine lebenslange Freundschaft,
Federhalter und etwas Papier ist das einzige, die u. a. 1923 dazu führte, dass B. mit Feucht-
was sie vorzeigen können! Und ohne jede wanger zusammen Christopher Marlowes
Hilfe, nur mit dem kümmerlichen Material, Eduard-Stück für die Münchener Kammer-
das ein einzelner auf seinen Armen herbei- spiele bearbeitete. 1922 lernte B. in München
schaffen kann, errichten sie ihre Hütten! Grö- den Schriftsteller Arnolt Bronnen kennen.
ßere Gebäude kennen sie nicht, als solche, die Beide gründeten eine »Firma« und beschlos-
ein einziger zu bauen imstande ist!« (GBA 18, sen gemeinsam Dramen und Texte für Filme zu
S. 18) An die Stelle des ›armen Poeten‹ trat der schreiben. B. passte daraufhin die Schreibung
Organisator des Arbeitsteams, in dem B. »die seines Vornamens, auf dem Geburtsschein
Rolle eines kreativen Geschäftsführers über- »Berthold« (Abbildung in: Hecht 1978, S. 12),
nahm« (Wegmann, S. 12), wozu auch gehörte – dem Bronnens an: »Bertolt«. Karl Kraus titu-
innerhalb einer Gesellschaft, in der auch die lierte das neue Arbeitsgespann ironisch als
Kunst längst zur Ware geworden war und ent- »Fasolte [Figur in Wagners Rheingold] des
sprechend angepriesen werden musste –, für deutschen Expressionismus« (Die Fackel,
10 Die Stücke. Einführung

Nr. 649, S. 45). Über Bronnen, der die Gele- gehabt, auf die Bühne zu kommen – solche
genheit nutzte, B. als den neuen Geheimtipp Apparate waren den Männern vorbehalten –,
des Theaters anzupreisen, wurde er mit dem mit Hilfe von B. aber gelang es ihr mit Fege-
einflussreichen Kritiker Herbert Ihering be- feuer in Ingolstadt am Deutschen Theater Ber-
kannt, der ihm denn 1922 prompt den Kleist- lin (Premiere: 25. 4. 1926), freilich mit dem
Preis für Trommeln in der Nacht zusprach, für paradoxen Ergebnis: B. hatte das Stück so be-
das Spartakus-Stück, das durch Feuchtwangers arbeitet, dass sie es kaum als eigenes wieder
Frau Marta den neuen Titel erhalten hatte, erkannte.
und zwar mit dem bereits legendär gewor- Für Hauptmann galt: »Diese kluge, selbst-
denen Ausspruch: »Der vierundzwanzigjäh- bewußte Frau erfaßte deutlich den Unter-
rige Dichter Bert Brecht hat über Nacht das schied zwischen Genie und Talent und zog es
dichterische Antlitz Deutschlands verändert.« vor, im Arbeitsprozeß Brechts unentbehrlich
(Ihering, S. 4f.) Ihering verfolgte von da ab B.s zu sein, als mit eigenen Werken an die Öffent-
dramatische Arbeit bis über dessen Tod hinaus lichkeit zu drängen, ohne möglicherweise dem
und sorgte vor allem in den 20er-Jahren mit [sic] Qualitätsanspruch zu erfüllen, den sie an
seinen durchweg positiven Kritiken nachhaltig Brecht geschult hatte. Es hieße ihre selbst-
für seine Bekanntheit. bewußte Unterordnung zu banalisieren durch
Seine wichtigste lebenslange Mitarbeiterin den Verdacht, sie habe nicht freiwillig ihren
wurde Elisabeth Hauptmann, die B. im No- Platz gewählt.« (Marko, S. 181) Von 1925 ab
vember 1924 kennen lernte. Hauptmann war war Hauptmann an beinahe allen Stücken B.s
Lehrerin mit ausgezeichneten Englisch- der 20er- und frühen 30er-Jahre maßgeblich
Kenntnissen, die ihren Beruf aber nicht aus- beteiligt. Beispielhaft sei auf ihre Arbeit an der
üben wollte, weil die gesellschaftliche Kon- Dreigroschenoper verwiesen. Hauptmann
vention nur unverheirateten Frauen das Be- machte B. auf den anhaltenden Theatererfolg
rufsausübung zugestand. B., der zur Arbeit an der wiederentdeckten Beggar’s Opera von
den Dramen, wie Hauptmann mitteilte, »ein John Gay in London aufmerksam und über-
lebendiges Gegenüber, einen intellektuellen setzte Ende 1927 für ihn den Text ins Deut-
Mitspieler« (Kebir, S. 26) brauchte, besorgte sche. Ihre Übersetzung bildete dann die
ihr beim Kiepenheuer Verlag (Berlin) eine Grundlage für die Bearbeitung, die B. für die
Stelle als Lektorin, eine Anstellung, die sich vereinbarte Uraufführung im Theater am
aber ausschließlich auf B.s Arbeiten bezog und Schiffbauerdamm ab März 1928 begann und
nach ihren eigenen Aussagen gut bezahlt war dann mit Kurt Weill (ohne Hauptmann) in St.
(vgl. ebd., S. 29). Es kann folglich keine Rede Cyr (Südfrankreich) im Mai/Juni fortsetzte.
davon sein, dass B. seine Mitarbeiterin aus- Nach deren Rückkehr war Hauptmann an der
beutete. Sabine Kebir, die erstmals ein Ton- Fertigstellung des Bühnenmanuskripts wieder
band-Interview von 1972 mit Hauptmann beteiligt. Größere Teile des Textes stammen
ausgewertet und ihr Tagebuch von 1926 voll- zweifellos aus Hauptmanns Übersetzung; die
ständig ediert hat, verweist auf die »widrigen Eingriffe der Überarbeitung jedoch – ganz ab-
gesellschaftlichen Bedingungen«, die dazu ge- gesehen von den vielen neuen, mit Weill zu-
führt haben, dass Hauptmann sowie die wei- sammen verfassten Liedern – sind so gravie-
teren Mitarbeiterinnen an B.s Werk, zu denen rend, dass durchaus nicht von einem Werk
auch viele männliche Mitarbeiter gehörten, in Hauptmanns gesprochen werden kann. Die Ti-
den 20ern z. B. Emil Hesse-Burri, eine unter- tulatur der ersten Ausgabe der Dreigrosche-
geordnete, von B. dominierte Rolle einneh- noper von 1928, die da noch nicht so hieß,
men mussten; sie wurden mehr »Opfer einer belegt diesen Sachverhalt wie auch die Kollek-
patriarchalen Gesellschaft« als das »eines pa- tivität des Werks nachdrücklich: Sie hat den
triarchalen Individuums« (Kebir, S. 9). Marie- Doppeltitel Die Ludenoper sowie The Beggar’s
luise Fleißer z. B. hätte als Frau in der Gesell- Opera, nimmt also den ursprünglichen Titel
schaft der Weimarer Republik nie die Chance Gays auf, nennt als eigentlichen Autor John
Kollektive Arbeitsweise 11

Gay (»ein englisches Balladenstück von John Hauptfigur, der junge Genosse, erhält keine
Gay«) und gibt dann die Übersetzerin, Elisa- Identität, noch nicht einmal eine geschlecht-
beth Hauptmann, an; B. folgt erst an dritter liche, weil er »nacheinander« (GBA 3, S. 74)
Stelle bescheiden als Bearbeiter (»Deutsche von den vier Agitatoren, darunter von einer
Bearbeitung von Bert Brecht«), und den Ab- Frau, dargestellt wird. Mit diesem Spielarran-
schluss bildet der Komponist (»Musik von Kurt gement vermieden es die Autoren, Eisler und
Weill«). B., von vornherein, dass die ›Exekution‹ des
jungen Genossen auf der ›Realitätsebene‹ der
Handlung angesiedelt ist und stattdessen
›nachgespielt‹ wird; da der junge Genosse be-
Spaß und Spiel reits bei Spielbeginn ›tot‹ ist, wird auf der
Bühne noch nicht einmal (als ob) gestorben.
Diese Selbstreferentialtät kennzeichnet B.s
B.s Stücke zeichnet eine hohe Bewusstheit der Dramen – vom belanglosen dramatischen Erst-
Selbstreferentialität des Theaters aus, die sie, ling, Die Bibel (1913), abgesehen – von Beginn
sekundiert von den Verfremdungstechniken, an. Baal verschafft sich im gleichnamigen
durchweg – auch wenn sie das Genre ›Komö- Stück (1918), indem er den Bauern vorgaukelt,
die‹ nicht einlösen – mit komödiantischen Ele- sein Bruder wolle Stiere kaufen, und sie die
menten durchsetzt, und sie sind als solche, an Tiere zusammentreiben lässt, »ein göttliches
Shakespeare geschult, in erster Linie als Schauspiel« (GBA 1, S. 64). In Trommeln in der
Spiele für die Bühne geschrieben und nicht für Nacht (1919) wird am Ende das Hauptrequisit,
den Buchdruck. Als Lesedramen führen sie der rote Mond, »der ein Lampion war« (GBA
traditionell zu Missverständnissen, die, wer- 1, S. 229), abgeschossen und den Zuschauern
den die Stücke im Theater gespielt, weitge- empfohlen: »Glotzt nicht so romantisch!«
hend ausgeschlossen sind. Paradebeispiel da- (Ebd.) In Die Mutter (1930) dient der epische
für ist Der gute Mensch von Sezuan. Die ei- Bericht über den 1. Mai (GBA 3, S. 281–284),
gentliche Spielfigur, Shui Ta nämlich, der der ins Spiel übergeht, dazu, eine nach dem
Shen Te im Lauf der Handlung immer mehr Ablauf der Handlung bereits tote Figur noch
verdrängt, ist eine Fiktion zweiter Ordnung. einmal auf die Bühne zu bringen, sie also re-
Sie wird mitten im Spiel, und zwar durch eine gelrecht ›auferstehen‹ zu lassen, um zu zeigen,
Technik des Theaters, das Soufflieren, erfun- dass die noch Lebenden sein Vermächtnis
den und von einer Figur des Stücks, Shen Te übernehmen und er für »die dritte Sache«
nämlich, durch ausgewiesenes Rollenspiel (S. 307) gestorben ist, übrigens eine Vorweg-
übernommen. Es ist von daher ausgeschlos- nahme der Grundidee von Friedrich Dürren-
sen, wie Gert Ueding formulierte, Shen Te und matts Drama Der Meteor (1966). Im Galilei
Shui Ta »einmal als selbständige dramatische dient die Autoreferentialität dazu, das ptole-
Personen« (Ueding, S. 185) zu nehmen. Auch mäische Sehen mit dem ›alten Theater‹ zu
bezieht das Stück aufgrund der Hosenrolle identifizieren und entsprechend dem koperni-
seine Komik daher, dass die Zuschauer wissen, kanischen Sehen, welches das ›neue Theater‹
wie z. B. in der Hochzeitsszene: wenn Shen Te repräsentiert, zu kontrastieren. Dem stati-
auf der Bühne steht, kann Shui Ta nicht kom- schen Bild des Welttheaters stellt B. ein pro-
men (GBA 6, S. 233–240). zessuales Bild entgegen, das bis dahin Un-
Ähnliches gilt auch für das, immer noch um- sichtbares sichtbar werden lässt und Ausdruck
strittene und wohl gerade deshalb zu einem humorvoller Erkenntnis und ›fröhlicher Wis-
der meistinterpretierten Text B.s gewordene senschaft‹ wird: »die Theologen haben ihr
Lehrstück Die Maßnahme. Das Stück entfaltet Glockenläuten und die Physiker haben ihr La-
seine Handlung mit epischen Mitteln, indem chen« (GBA 5, S. 70). In geballter Form
der Bericht ins Spiel übergeht und als Spiel im schließlich thematisiert die letzte und unter-
Spiel vor dem Kontrollchor agiert wird. Die schätzte Bearbeitung Pauken und Trompeten
12 Die Stücke. Einführung

(1955) die Theatermetaphorik, indem B. die mentierender poetischer Meta-Text zu finden,


Handlung als historische Kostümkomödie ent- der auf die Funktion der späteren Lieder in
faltet, mit der die mediokre Hohlheit der Fi- den Stücken vorausweist.
guren und ihrer Aktionen humorvoll vorge- In der Dreigroschenoper dann ist die ver-
führt und entlarvt wird. fremdende Funktion des Songs in der Hoch-
zeitsszene paradigmatisch gestaltet. Die
Bühne, zunächst ein leerer Pferdestall, wird
mit dem geraubten Mobiliar der Macheath-
Lieder Bande in das, dem Ereignis angemessene,
denn aber doch nicht stimmige Bühnenbild
umgebaut; die Spielwelt wird eingerichtet. Als
Wie die Lyrik B.s sind seine Stücke ohne Mu- die Feier nicht so recht in Gang kommen will,
sik nicht zu denken. Es gibt außer der Gewehre ahmt Polly ein Küchenmädchen nach und baut
der Frau Carrar kein Stück, in dem nicht ge- dazu, um dann das Lied der Seeräuberjenny
sungen würde oder musikalische Einlagen zu vortragen zu können, die Bühne nochmals,
finden wären. Das kennzeichnendste Beispiel diesmal imaginär, um und weist dem anwesen-
ist der Kaukasische Kreidekreis, in dem ein den Personal neue Rollen als Mitspieler und
Sänger auf epische Weise die Doppelhandlung Zuschauer der Einlage zu. Das Lied selbst
um Grusche und ihr Kind sowie um den Rich- trägt Polly bei einer »Songbeleuchtung: gol-
ter Azdak vorträgt, Handlungen, die nach des- denes Licht« vor (GBA 2, S. 248), wobei der
sen einleitendem, begleitendem oder kom- Liedtitel auf einer Tafel, die sich von oben
mentierendem Gesang ins Spiel übergehen, herabsenkt, angezeigt wird. Der Inhalt des
das seinerseits wiederum mit Liedeinlagen Lieds, ein exotisches Abenteuerlied, aller-
versehen ist. Es handelt sich, nach dem Druck dings mit indirekt aktueller Gesellschaftskri-
in den Versuchen um »ein Stück mit Gesän- tik und umstürzlerischer Tendenz, weist mit
gen«, das Arkadi Tscheidse mit den Bauern des der Stück-Handlung keinen unmittelbaren Zu-
Obstbaumkolchos einstudiert hat, und zwar sammenhang auf, lässt aber gewisse Rück-
mit Gesängen, von denen eine Bäuerin sagt, schlüsse auf Ungereimtheiten und Unsicher-
sie habe sie »schon auf der Schulbank gehört« heiten der Figuren zu. Als Meta-Text kom-
(Heft 13, S. 12). mentiert das Lied die in der Oper versammelte
Lieder enthalten schon die ersten beiden Gesellschaft als historisch überholt und abge-
Stücke, Baal und Trommeln in der Nacht, sie lebt, plädiert folglich indirekt für deren Ab-
sind dort aber noch weitgehend naturalistisch schaffung. Darüber hinaus fordert Pollys Lied-
motiviert, wenn etwa Baal als Lyriker den Vortrag nach seinem Ende zur Kunstkritik he-
Fuhrleuten Orges Gesang vorträgt (GBA 1, raus, deren Urteile auf die besondere Ästhetik
S. 31) oder der Destillateur Glubb in der der Einlage zurückverweisen; zugleich wird
Schnapsdestille die Moritat vom toten Solda- die von Macheath vertretene traditionelle
ten zur Klampfe singt (GBA 1, S. 211). Dies Kunstauffassung diskreditiert und als über-
ändert sich in Mann ist Mann mit dem »Zwi- holte bürgerliche Ästhetik des (anwesenden)
schenspruch« (GBA 2, S. 123), einer Art poe- Publikums kritisch gespiegelt. Kunst präsen-
tischer Einlage, mit der der Autor sich selbst tiert sich als Kunst und reflektiert über Kunst.
vorstellt und sein eigenes Stück kommentiert; B. arbeitete sein Leben lang mit Kompo-
dieser Zwischenspruch wird freilich noch nisten zusammen, welche die Lieder in den
nicht gesungen – der Mann-ist-Mann-Song ist Stücken, aber auch andere lyrische Textpassa-
als Gesang der Soldaten beim jeweiligen Ab- gen und darüber hinaus musikalische Einla-
bau der Kantine weiterhin naturalistisch ein- gen, wie z. B. im Guten Menschen von Sezuan
gesetzt –, hier ist jedoch erstmals ein hand- oder Kaukasischen Kreidekreis, vertonten und
lungsunterbrechender, sich an die Zuschauer dadurch dafür sorgten, dass das Drama eine
wendender und die Dramenhandlung kom- neue, weitere Dimension erhielt. In den 20er-
13

Jahren waren es Weill, Hindemith und Eisler,


im Exil kam neben Eisler, der zugleich ein
Die Bearbeitungen
hervorragender Kritiker der Texte B.s war,
Paul Dessau hinzu, die ihm auch nach dem Exil
treu geblieben sind. B.s Stücke erhielten durch Anknüpfung und Distanzierung:
die Musik eine neue Qualität, die zur Kon-
sequenz hat, wie es die Forschung in den 80er-
Zur Problematik der Bearbeitungen
und 90er-Jahren (Dümling; Hennenberg; Luc-
chesi/Shull) herausarbeitete, dass B.s Stücke Die Dramenbearbeitungen sind in ihrem Um-
nicht mehr losgelöst von ihrer Musik ange- fang, in ihrer Komplexität und in ihrer Bedeu-
messen verstanden werden können. tung für das dramatische Werk B.s zwar unbe-
stritten, waren jedoch gegenüber den großen
Literatur: Stücken aus dem Exil, den »Meisterwerken«
Barthes, Roland: »The Death of the Author«. In: (Wittkowski, S. 344), ein von der älteren For-
Ders.: Image – Music – Text. London 1987, S. 142– schungsliteratur zunächst vernachlässigter Be-
148. – Bergheim, Brigitte: Die Sonette Bertolt reich. Jene von Jost Hermand beanstandete
Brechts. In: Stemmler, Theo/Horlacher, Stefan: Er- Herauslösung der Bearbeitungen als »Sonder-
scheinungsformen des Sonetts. 10. Kolloquium der gruppe aus seinem Gesamtœuvre« (Hermand,
Forschungsstelle für europäische Lyrik. Mannheim
1999, S. 245–270. – Dümling. – Hecht, Werner: Ber-
S. 126) sei im Westen als Reflex auf die Dis-
tolt Brecht. Sein Leben in Bildern und Texten. kussionen in der DDR über das literarische
Frankfurt a. M. 1978. – Hennenberg, Fritz (Hg.): Das ›Erbe‹ erfolgt, mit denen man B.s späte, nach
große Brecht-Liederbuch. Frankfurt a. M. 1984. – dem Exil entstandenen Bearbeitungen in Ver-
Herrmann, Hans-Christian von: Sang der Maschi- bindung brachte. Bei der Isolierung dieser
nen. Brechts Medienästhetik. München 1996. – Hüf- Werkgruppe wurde übersehen, dass »die Nei-
ner, Agnes: Brecht in Frankreich 1930–1963. Ver-
breitung, Aufnahme, Wirkung. Stuttgart 1968. – Ihe-
gung zur Bearbeitung [ … ] [B.s] dramatisches
ring, Herbert: Bert Brecht hat das dichterische Ant- Schaffen von Anfang an bestimmte« (S. 126).
litz Deutschlands verändert. Gesammelte Kritiken Unter ›Bearbeitung‹ habe schon der »ganz
zum Theaters Brechts. Hg. v. Klaus Völker. München frühe Brecht« (ebd.) im Gegensatz zum Ver-
1980. – Kebir, Sabine: Ich fragte nicht nach meinem ständnis des Begriffs in der bürgerlichen
Anteil. Elisabeth Hauptmanns Arbeit mit Bertolt Theatertradition und -kritik »Umfunktionie-
Brecht. Berlin 1997. – Knopf, Jan: Bertolt Brecht.
Ein kritischer Forschungsbericht. Fragwürdiges in
rung, politische Aktualisierung, Abbau des
der Brecht-Forschung. Frankfurt a. M. 1974. – Kra- Psychologischen, und damit Reduzierung auf
biel. – Mittenzwei, Werner: Bertolt Brecht. Von der Gesellschaftlich-Typisches« verstanden (ebd.)
»Maßnahme« zu »Leben des Galilei«. Berlin, Wei- und sich dadurch polemisch »gegen die bür-
mar 1965. – Marko, Gerda: Schreibende Paare. gerliche Originalitätssucht« abgegrenzt
Liebe, Freundschaft, Konkurrenz. Zürich, Düssel- (S. 127). Mit dieser Einschätzung schloss sich
dorf 1995. – Lucchesi/Shull. – Müller, Heiner:
Fatzer ± Keuner. In: Ders.: Rotwelsch. Berlin 1982,
Hermand der Sichtweise Werner Mittenzweis
S. 140–149. – Pietzcker, Carl: »Ich kommandiere an, der die Bearbeitungen »zum festen Be-
mein Herz«. Brechts Herzneurose – ein Schlüssel zu standteil des Gesamtwerkes« (Mittenzwei,
seinem Leben und Schreiben. Würzburg 1988. – So- S. 218) zählte und zugleich betonte: »Es gibt
ret, Frédéric: Zehn Jahre bei Goethe. Erinnerungen kein auch nur einigermaßen einheitliches Be-
an Weimars klassische Zeit 1822–1832. Hg. und arbeitungsmuster.« (Ebd.) Mittenzwei verwies
übersetzt v. H. H. Houben. Leipzig 1929. – Ueding,
Gert: »Der gute Mensch von Sezuan«. In: Hinderer,
darauf, dass die Bearbeitungen »auf sehr un-
S. 178–193. – Wegmann, Thomas: Marken, Medien terschiedliche Anlässe zurückzuführen« seien,
und Management. Vorschläge zur Lektüre eines aus denen »keine direkte Methode« abgeleitet
Klassikers. In: Delabar, Walter/Döring, Jörg (Hg.): werden könne, zumal auch die jeweiligen
Bertolt Brecht (1898–1956). Berlin 1998, S. 11–29. – Funktionen der Bearbeitungen unterschied-
Wöhrle, Dieter: Bertolt Brechts medienästhetische lich zu bestimmen seien. Gleichwohl ermög-
Versuche. München 1988.
Jan Knopf liche die Konzentration auf den »Bearbei-
14 Die Bearbeitungen

tungsgrad«, das »Ausmaß des Eingriffs in das Mit der Hervorhebung der großen Bedeu-
Original« (vgl. S. 221) zu beobachten und dar- tung von Bearbeitungstätigkeit für »Brechts
aus die Aufstellung und Differenzierung dreier Schaffen überhaupt« (Wittkowski, S. 344) ver-
›Bearbeitungstypen‹ zu gewinnen, die Mitten- band sich die resignative Einsicht, dass, wie
zwei mit Beispielen belegt. am Beispiel der Dreigroschenoper ersichtlich,
Der erste, durch B.s Antigone-Bearbeitung »Bearbeitung, Neudichtung und Gegenent-
repräsentierte Typus weise »kaum Eingriffe in wurf manchmal kaum voneinander zu unter-
die Fabelführung und die Gesamtstruktur der scheiden« seien (ebd.). Auch mit dem Hinweis
Originals« auf (Mittenzwei, S. 221). Der auf die Tatsache, dass das Drama Die Rund-
zweite, gegensätzliche Typus nehme einen »ra- köpfe und die Spitzköpfe, das im Zuge wieder-
dikalen Eingriff vor [ … ], der bis zur totalen holter Bearbeitungen von Shakespeares Mea-
Umformung der Vorlagen gehen« könne sure for Measure von B. schließlich als ›eige-
(ebd.). Das Resultat des Eingriffs sei »ein völ- nes Werk‹ deklariert worden war, sei außer
lig neues Werk« (ebd.). Die Skala dieses Typs dem Aspekt der Originalität als Differenzkri-
werde durch Bearbeitungen wie Der Hofmei- terium noch nicht viel gewonnen.
ster und Maß für Maß / Die Rundköpfe und die Als weiterführender Versuch der Begren-
Spitzköpfe repräsentiert. Kennzeichnend für zung und Differenzierung des weiten Untersu-
den dritten Typus sei, »daß einem alten Werk chungsfelds, in dem Theater- und Gesell-
ohne allzu weitgehende Veränderungen eine schaftstheorie einerseits, Theaterpraxis ande-
neue bzw. eindeutigere historisch konkretere rerseits argumentativ verbunden sind, kann
inhaltliche Stoßrichtung gegeben« werde die Untersuchung von Reflexionen B.s im
(ebd.). Repräsentativ dafür seien Coriolanus, Zusammenhang des ›gesellschaftlich Komi-
Don Juan sowie Biberpelz und roter Hahn. schen‹ (vgl. GBA 24, S. 312) gelten. Mit dem
Mittenzwei entwickelte seine Typologie fast Bezug auf die ›fortschrittliche‹ Gattung Komö-
ausnahmslos am Repertoire der späten Bear- die und der Klärung des Zusammenhangs von
beitungen B.s und bemühte sich, seine Vor- Gesellschaftskomödie und Bearbeitung wur-
gaben durch Einzelanalysen zu präzisieren den mit der gattungstheoretischen Reflexion
(Antigone, Der Hofmeister, Coriolanus). Er- zugleich die marxistische Gesellschafts- und
scheint die Kombination von quantitativen Misere-Theorie thematisiert. Der Begriff der
Kriterien und funktionalen Aspekten an sich ›deutschen Misere‹ geht auf einen Brief Fried-
schon problematisch, so blieben mit der Aus- rich Engels an Franz Mehring vom 14. 7. 1893
sparung eines Zuordnungsversuchs der frühen zurück und bezeichnet den verhängnisvollen,
Bearbeitungen, die von B. selbst als solche rückständigen Verlauf der deutschen Ge-
bezeichnet oder charakterisiert worden waren schichte, in der Revolutionen ausblieben oder
(Baal, Leben Eduards des Zweiten von Eng- scheiterten (vgl. Giese, S. 162–165). B. bezog
land, Die Dreigroschenoper), viele Fragen of- den Begriff auf die defizitären Bewusstseins-
fen. Allerdings verfestigte sich die von Mitten- formen der intellektuellen Avantgarde zur
zwei wiederholt betonte Unmöglichkeit, die Zeit der deutschen Klassik, deren Kritik an
Bearbeitungen auf ein einheitliches Konzept gesellschaftlichen Mißständen in idealisti-
zu reduzieren oder aus dem Vergleich von Text schen Reform-Konzepten utopisch aufgehoben
und Prä-Text eine bestimmte ›Methode‹ B.s zu wurde.
erschließen, zu einem Topos der wirkungsge- Durch die Rekonstruktion dieser Zusam-
schichtlich inspirierten Forschungsbeiträge menhänge traten im Problemfeld der Bearbei-
(Giese; Wittkowski). B. selbst hatte keinen tung die quantitativen Aspekte (Umfang des
Versuch unternommen, seine aus der prakti- Eingriffs) hinter die qualitativen Gesichts-
schen Theaterarbeit resultierenden verstreu- punkte (Standpunkt/point-of-view) zurück.
ten und zum Teil fragmentarischen Reflexio- Stattdessen wurde die Kategorie der ›Dialek-
nen systematisch zu ordnen und zu einer tik von Historizität und Aktualität‹ geltend ge-
Theorie der Bearbeitungen zu organisieren. macht, die bereits Mittenzwei als den zen-
Anknüpfung und Distanzierung: Zur Problematik der Bearbeitungen 15

tralen funktionalen Gesichtspunkt der späten Ebene des Textes bearbeitet, so dass durch
Bearbeitungen betont hatte. Seine Darstellung weitgehende Eingriffe eine Kontrafaktur ent-
der Konzeptionen von ›Traditionsbewälti- standen sei. Die Inszenierung des Urfaust be-
gung‹ und ›Erbeaneignung‹ wurden im histo- lege die Möglichkeit, den Text unbearbeitet zu
rischen Überblick von der Materialwert-Theo- spielen, das heißt durch Regieleistungen ein
rie über B.s sich veränderndes Verhältnis zur Resultat zu erzielen, das beim Hofmeister of-
deutschen Klassik bis zu den großen Bearbei- fensichtlich nur durch erhebliche Texteingriffe
tungen (Antigone, Der Hofmeister, Coriola- zustande kommen konnte.
nus) ausgeführt. Als leitende Gesichtspunkte Gieses Argumentation, die an B.s Bearbei-
der auf dem Vergleich der vormarxistischen tungen, den Erkenntnissen Mittenzweis fol-
und der marxistischen Positionen B.s ange- gend, den Aspekt der »Brauchbarkeit« (Giese,
legten Untersuchung wurden hier, im Blick auf S. 114) der Originale herausstellte, benannte
die Bearbeitungen, B.s polemische Befreiung damit eine der maßgeblichen Perspektiven,
der Kunstwerke von Interpretationsmustern unter denen die werk- und produktionsästhe-
der Wirkungsgeschichte und die Bestimmung tischen Bearbeitungsprozesse auch in späteren
ihrer ›Schönheit‹ aus der Gesamtheit, das Darstellungen interpretiert wurden.
heißt aus der Historizität ihrer ästhetischen In einer aktuellen Untersuchung zu Brechts
Momente, erörtert sowie das erst spät ent- Bearbeitungstheorie und Modellkonzeption
wickelte Verfahren der Historisierung darge- betont auch Werner Frick B.s »offensive Inge-
stellt, wobei die radikale Position der ›Früh- brauchnahme kanonischer Werke der Weltlite-
zeit‹ in apologetischer Absicht zurechtgerückt ratur« (Frick, S. 489). An die Stelle einer »ori-
und der Aspekt der Kontinuität von B.s An- ginalgetreuen Konservierung« der Klassiker
schauungen, aber auch der von Veränderung setze B. die »Leitvorstellung einer aktiven
betont wurden. [ … ] Aneignung« der Tradition (ebd.), die an
Mit der von Peter Christian Giese unter- der Antigone wie später an den klassischen
suchten »Problematik des Bearbeitungstypus Bearbeitungen die Erprobung der Wechselsei-
und der Brechtschen Komödie«, die er an Der tigkeit produktiver Leistungen – der Bear-
Hofmeister, Don Juan sowie Herr Puntila und beitung am Werk, des Werks zugunsten der
sein Knecht Matti erörterte, kam jedoch der Rezipienten – untersuchen wolle. Diese Ein-
synchrone Ansatz in der Darstellung der stellung bezeichnet eine für B.s Traditions-
Problematik erneut zur Geltung, der den verständnis generell symptomatische, das
Traditionsbezug B.s auf der Ebene der Gesell- heißt gattungs- und epochenübergreifende
schaftstheorie zwar differenzierte, die frühe- Haltung der »produktiven Ingebrauchnahme
ren Phasen aber nur punktuell und exempla- fremder Werke aus dem Horizont gegen-
risch an gesellschaftlich-komischen Motiven wärtiger Einsichten und Interessenlagen«
und Szenen abhandelte. Auch Giese betont die (S. 490), die als »dialektische Polarität von An-
Schwierigkeit, »das Problem der Bearbeitung knüpfung und Distanzierung, Traditionsbezug
auf einen einheitlichen Begriff zu bringen« und Innovation, Konservierung und Revision«
(Giese, S. 117). Er konstatiert an B.s Einstel- reflektiert wird (ebd.). Frick entwickelt »die
lung zu zwei Werken der vorklassischen Peri- Skizze einer Hermeneutik des Dialogs mit hi-
ode einen nicht auflösbaren »Widerspruch« storischen Werken« (S. 491), die unter dem
(S. 116). Während B. am Urfaust die im Werk Begriff einer »dialogisch-kommunikativen Si-
ursprünglich enthaltene progressive Qualität tuation« zu fassen ist und für B.s Dramatik »die
durch Inszenierung restituieren, also am fort- Kontinuität des Genres der in die Vorgänger-
schrittlichen »Standpunkt der sich jung füh- texte eingreifenden Bearbeitung« bezeuge
lenden bürgerlichen Klasse« (GBA 24, S. 432) (ebd.). Frick folgend, könnte Bearbeitung mit-
anknüpfen wollte und den Text daher unbe- hin als das konstante, kontinuitäts- und tradi-
arbeitet ließ, wurde der im Hofmeister analoge tionsstiftende Moment bezeichnet werden,
und radikalere Standpunkt bereits auf der dem die Variablen der jeweils gegebenen Pola-
16 Die Bearbeitungen

rität von ›Anknüpfung und Distanzierung‹ als widersprüchliche auf sich beruhen zu las-
unter den Voraussetzungen einer reichen »Re- sen, und erst dann auf der Meta-Ebene der
zeptions- und Applikationsgeschichte« zuge- Interpretation die Beziehung von Text und
ordnet sind (S. 490). Diese intertextuelle Prä-Text zu klären. Diese Erkenntnis verbietet
Grundspannung zeige im Vergleich einen es jedoch, dem jeweiligen Texteingriff theo-
unterschiedlichen Grad von Offensivität. B. retische Äußerungen B.s zu konfrontieren, die
betone die prinzipielle Notwendigkeit der aus dem historischen Kontext gelöst, den Wi-
Bearbeitung und entwickle »unterschiedliche derspruch als Divergenz von Theorie und Pra-
Argumentationslinien«. Unter dem »Leit-Be- xis feststellen und den Stückeschreiber der
griff« der Historisierung plädiere er für eine ›Inkonsequenz‹ überführen (vgl. Wittkowski,
»›rekonstruktive‹ und propädeutisch-vermit- S. 360 f.). Der Ansatz Fricks leuchtet ein, so-
telnde Funktion der Bearbeitung« (S. 493). fern er generell auf die Kontinuität der Klassi-
Das sei aber nur die eine Seite des Bearbei- ker-Bearbeitung bezogen ist und von der ge-
tungsverfahrens. Frick macht hier gegenüber wandelten Einstellung des Stückeschreibers
anderen Einschätzungen des Verfahrens, die zur Klassik ausgeht. Darauf hatte bereits Mit-
B.s konservierende Intentionen hervorheben tenzwei nachdrücklich hingewiesen, der von
(vgl. Joost, S. 337), dessen auch »gegenläufige einer seit dem Exil nachhaltig veränderten
[ … ] stärker ›destruktiv‹ akzentuierte und das Haltung B.s zu den Werken der Klassik spricht
Eigengewicht der Bearbeitung gegenüber der und in diesem Zusammenhang den Aspekt des
Vorlage betonenden Aussagen« geltend und ›Wendepunktes‹ (Mittenzwei, S. 157 f.) ein-
verweist in diesem Zusammenhang auch auf führte.
Wittkowski (Frick, S. 493). Frick spricht sich
angesichts des komplexen Sachverhalts ent-
schieden für die Annahme einer »Grundspan-
nung aller Brechtschen Klassiker-Bearbeitun- »Einschüchterung durch die
gen« aus, die als »in aller Regel nicht aufge- Klassizität«: Respekt versus
löste, sondern uneingestanden [ … ] bleibende Verehrung
Zweideutigkeit zwischen bewahrend-rekon-
struktiven und konkurrierend-destruktiven
Intentionen« zu begreifen sei (ebd.). Darin ist Die Annahme von Wendepunkten stützt sich in
gegenüber Giese, der diese Ambiguität zwar der Argumentation Mittenzweis im Wesentli-
auch gesehen, als unaufhebbare Wider- chen auf Eintragungen B.s ins Journal in der
spruchsstruktur gedeutet und die Ebene des Zeit des Exils. Auch B.s Studien von 1940
jeweils konkreten Bearbeitungsverfahrens, (GBA 11, S. 267–273) belegen bei aller Schärfe
also die dramaturgische Praxis B.s, als die der ideologiekritischen Perspektive auf die
letztlich maßgebliche Ebene bezeichnet hatte, Weltanschauung der deutschen Klassik ein ge-
gleichwohl ein Fortschritt der Argumentation wandeltes Verhältnis zu den Klassikern (vgl.
erreicht. Frick bezieht die Wahrnehmung die- Schulz 1973, S. 141 f.). Während B. zur Zeit
ser als »latente Grundspannung aller Brecht- der ›Materialwert-Theorie‹ mit extrem pro-
schen Klassiker-Bearbeitungen« bezeichnete vokativen Vergleichen (»Vandalismus«; GBA
Widerspruchsstruktur explizit auf beides, auf 21, S. 311) ausschließlich an den »Fabeln« und
B.s literarische Praxis (Bearbeitungsverfah- an den »Methoden«, nicht jedoch am Weltbild
ren) und auf die »Ebene der dramaturgischen der Klassiker anknüpfe, zeige sich nach der
Reflexionen« (ebd.). In der Konsequenz dieser theoretischen Erarbeitung einer marxistischen
Wahrnehmung folgt daraus für den Interpre- Betrachtungsweise der Tradition eine auffäl-
ten die Notwendigkeit, sich im Einzelfall der lige Veränderung der Einstellung durch den
Interpretation auf die auch synchron wider- Bezug auf die Ideengehalte der klassischen
sprüchlichen Reflexionen B.s einzulassen, das Werke. In den 20er-Jahren hatte B. die Ab-
heißt diese nicht einfach zu überspringen oder trennung der »stofflichen Elemente [ … ] von
»Einschüchterung durch die Klassizität«: Respekt versus Verehrung 17

dem Ideengehalt« (Mittenzwei, S. 197) propa- also durchaus nicht in die Richtung einer posi-
giert. Im Exil befürwortete er eine kritisch- tivistischen Rekonstruktion, die den Begriff
produktive Aneignung der Tradition, welche der ›Werktreue‹ usurpiert, sondern richten
die Wahrnehmung der Werke in ihren histori- sich rezeptionsbezogen auf die Entwicklung
schen Kontexten postulierte. Am Beispiel von des historischen und des ästhetischen Sinns
Balzac hob B. den Zusammenhang von Werk beim Publikum. Diese für die späten Bearbei-
und Epoche hervor: Es sei »nötig, die Romane tungen maßgeblichen Gesichtspunkte hat B.
des Balzac als Ganzes zu nehmen; wir müssen insbesondere an den Bearbeitungsprinzipien
uns in seine Zeit einfühlen können, wir müs- des Hofmeisters und des Don Juan hervor-
sen sie als ein Abgeschlossenes, Rundes, Eige- gehoben. Er betont unter dem Aspekt des
nes betrachten und dürfen nicht im einzelnen ›Poetischen und Artistischen‹ die »Eigentüm-
Kritik üben, Details beurteilen usw. [ … ] Wir lichkeit der theatralischen Mittel, daß sie Er-
verwandeln uns in Kritiker, wir lesen als Kon- kenntnisse und Impulse in Form von Genüssen
strukteure.« (GBA 22, S. 493) vermitteln« (GBA 24, S. 380), und entwickelt
Nach dem Exil richtete sich B.s Interesse den Vermittlungscharakter von Historizität
unter den gewandelten oder im Wandel be- und Ästhetik aus der Kritik verfälschender
griffenen gesellschaftlichen Bedingungen spe- Traditionsaneignung: »Die marxistische Be-
ziell unter dem Blickpunkt der »Dialektik von trachtungsweise, zu der wir uns bekennen,
Historizität und Aktualität« (Mittenzwei, führt bei großen Dichtwerken nicht zu einer
S. 196) gerade auf diese Ideengehalte. Dieses Feststellung ihrer Schwächen, sondern ihrer
Interesse erfolgte jedoch nicht aus einer kon- Stärken. Diese Betrachtungsweise räumt mit
servierenden Haltung der ›Pietät‹, die B. als den Restaurierungen, Verfälschungen und Ent-
spezifisch bürgerliche Haltung immer abge- stellungen auf, die in Verfallsepochen durch
lehnt und bekämpft hatte, sondern aus der das Eingehen auf schlechteren Geschmack
Besorgnis vor »Schädigung« (GBA 23, S. 316) oder durch [ … ] Versuche der herrschenden
durch eine verfehlte Praxis der Inszenierung. Klasse, sich durch eine selbstgefällige ›Inter-
Jetzt trat »an die Stelle der Rechtfertigung pretierung‹ von Meisterwerken [zu bestäti-
[ … ] die Warnung« (Mittenzwei, S. 195). In gen,] diese beschädigt haben« (GBA 24,
dem im Zusammenhang mit der Urfaust-In- S. 412).
szenierung entstandenen Aufsatz Einschüchte- Für die Ebene der dramaturgischen Refle-
rung durch die Klassizität bezog sich B. nach- xionen stellt auch Frick eine Kontinuität von
drücklich auf zwei Formen der Schädigung, den im Kontext der Urfaust-Inszenierung ent-
von denen er den eigenen Traditionsbezug auf standenen Schriften über die Antigone-Notate
die deutsche Klassik nicht nur kritisch abhob, und den Messingkauf bis zu den Reflexionen
sondern diesen geradezu legitimierte. B. er- der 20er-Jahre zum Materialwert der klassi-
setzte den Begriff der »Einschüchterung« schen Werke fest. B.s provokante Äußerungen
(GBA 23, S. 317), die zur falschen, weil un- auf die Rundfrage Wie soll man heute Klassiker
produktiven Haltung distanzloser Verehrung spielen?, welche die »Ungenießbarkeit« von
geführt hatte, durch den des »Respekts«: »Der Stücken betonen, deren »reiner Materialwert«
wahre Respekt vor den klassischen Werken nicht ausreiche, finden ihre Fortsetzung im
muß [ … ] der Größe ihrer Ideen und der Gespräch über Klassiker (GBA 21, S. 309–315).
Schönheit ihrer Formen gelten« (GBA 24, Sie belegen eine Haltung scharfer Distanzie-
S. 431; vgl. GBA 23, S. 318). Die Erkenntnis rung gegenüber dem Theaterbetrieb, dem
der ästhetischen Vollkommenheit und Diffe- philologischen Missbrauch der klassischen Li-
renziertheit, die den Begriff der Humanität teratur, in seiner Wechselbeziehung mit den
formal beglaubigt, fordert den bearbeitenden Erwartungen des Publikums. B. bestreitet in
Eingriff aus Gründen der beabsichtigten Wir- den 20er-Jahren dem bürgerlichen Theater-
kung. B.s Überlegungen zur Wiederherstel- publikum die Kompetenz und die Legitima-
lung des ursprünglichen Ideengehalts gehen tion in Fragen des Geschmacks mitreden und
18 Die Bearbeitungen

Ansprüche an die Produzenten von Stücken vor allem B.s Erstling Baal als Kontrafaktur zu
und Inszenierungen geltend machen zu kön- Hanns Johsts ekstatischem Grabbe-Drama Der
nen: »Ich gebe zu, daß ein Mensch, der für das Einsame. Ein Menschenuntergang zu nennen.
Theater eine Passion hat, heute den alten Ty- Dazu kommen die Bearbeitung von Marlowes
pus des Theaterbesuchers nicht mehr ernst Historie The Troublesome Raigne and Lamen-
nehmen kann. Aber, wenn man einen neuen table Death of Edward the Second, King of
Typus erwartet, so darf man keinen Augenblick England, with the Tragical Fall of Proud Mor-
vergessen, daß dieser Typus das Theaterbesu- timer zu Leben Eduards des Zweiten von Eng-
chen erst zu lernen haben wird, daß also auf land und John Gays The Beggar’s Opera zu Die
seine ersten Forderungen einzugehen keinen Dreigroschenoper. Unter den Aspekten der
Sinn hätte, da es einfach mißverständliche konkreten Anlässe der Bearbeitung, der Hand-
Forderungen sein werden.« (GBA 21, S. 199) lungsführung, Figurenkonzeption und der
Diese ›Entmündigung‹ des Publikums lässt sprachlichen Gestaltung stellt sich die Frage
sich jedoch nicht unter Bezugnahme auf die nach dem Verhältnis von Prä-Text und Text
späte Bearbeitungstätigkeit, welche die Inte- immer auch als Frage nach der Originalität,
ressen der »Kinder des wissenschaftlichen weil sich alle genannten Werke im Prozess
Zeitalters« im Blick hat, als »Bevormundung« fortgesetzter Bearbeitung von ihren Vorlagen
fortschreiben (GBA 23, S. 74). entfernten. Über die Umarbeitung des Baal
Die Rekonstruktion des Forschungsdiskur- hatte B. am 28. 4. 1919 an Jacob Geis geschrie-
ses zu den Bearbeitungen B.s belegt mit dem ben: »Jedenfalls hat Baal viel gewonnen [ … ],
Nachweis von Konstanten in den Urteilstruk- es sind Szenen ganz umgeändert, andre raus-
turen auch die Einseitigkeit einer dem Spät- geschmissen, etliche eingefügt. Er ist über-
werk gewidmeten synchronen Betrachtung, haupt erst jetzt aufführbar. [ … ] (Von Verlaine
die sich nur im Bereich der theoretischen und Johst ist das Stück jetzt ziemlich gesäu-
Schriften B.s einer diachronen Darstellung der bert. Bleibt zu letzterem nur mehr die Anti-
sich wandelnden Einstellungen des Stücke- these.)« (GBA 28, S. 84)
schreibers und Bearbeiters zur literarischen Textanalytische Einzel-Untersuchungen und
Tradition geöffnet hat. Die Einseitigkeit hat Ansätze zu einer Theorie der Bearbeitungen
ihre Ursachen auch in der gewandelten Ein- waren stets auf die theoretischen Vorgaben B.s
stellung B.s hinsichtlich der Einschätzung bezogen, weil seine Ausführungen eine avan-
seiner Bearbeitungen. Die von B. geplante cierte Position innerhalb der wirkungsge-
Edition der Bearbeitungen verzichtete auf die schichtlichen Diskussionen bezeichneten.
Aufnahme von Dramen, die im Frühwerk als Mochte auch an den Bearbeitungen selbst ein
Bearbeitung bezeichnet oder von B. in kon- Diskurs ansetzen, der, wie zuvor an den Para-
textuellen Äußerungen als solche charakteri- bel-Stücken, von der Absicht getragen war, die
siert worden waren. B. hatte sich in Bei Durch- Theaterpraxis gegen die Theorie polemisch
sicht meiner frühen Stücke kritisch zu diesen auszuspielen, so war doch das kritische Inter-
Dramen geäußert (GBA 23, S. 239–245). Im esse an den Bearbeitungen trotz aller Vorbe-
dramatischen Frühwerk sind jedoch Entspre- halte ungebrochen: Die ›Missverständnisse‹
chungen zum Spätwerk zu konstatieren, die konnten für die Analyse der Bearbeitungen B.s
sich einer vergleichenden, diachronen und produktiv genutzt werden, obwohl B., beim
synchronen Betrachtung der Anlässe, der Wort genommen, sich in unhaltbare Beurtei-
werk- und wirkungsästhetischen Verfahren lungen der literarischen Tradition und in pole-
und der gattungstheoretisch differenzieren- mische Ausfälle gegenüber der Theaterge-
den Reflexionen erschließen können. schichte verrannt hatte. Unter Bezugnahme auf
Ausgehend von den durch B.s Vertreibung die Verweisung der Antigone auf die »barbari-
ins Exil und seine Rückkehr konstituierten sche Pferdeschädelstätte« (GBA 27, S. 265)
Produktionsperioden – 1918–1933, 1933–1947, bemerkt Wittkowski: »Eine derartige Denun-
1947–1956 – sind für die erste Schaffensphase zierung ist historisch unhaltbar« (S. 354), und
»Einschüchterung durch die Klassizität«: Respekt versus Verehrung 19

bezieht sich kritisch auf die »neue Tonart«, die es sich um die großen Namen der Weltlite-
B. anlässlich der Aufführung 1951 in Greiz ratur: Sophokles, Shakespeare und Molière.
angeschlagen habe: »Von der Rückständigkeit Ihre Zurückgewinnung bedeutete nach An-
Antigones, 1948 noch unabdingbare Voraus- sicht B.s die Wiederherstellung der Klassiker.
setzung angemessenen Verstehens, kein Wort Dieses generelle Interesse erfuhr bei den ein-
mehr. Brecht praktiziert auf seine bekannte zelnen Werken spezifische Modifikationen,
Weise und nicht eben in Übereinstimmung mit die sich auf den Umfang und die Richtung der
seiner Theorie, was er unter Geschichtlichkeit Eingriffe in den Text auswirkten. Bezüglich
versteht und was sie für ihn aktuell macht: des Hofmeisters prangerte B. in einem Brief an
Veränderbarkeit, Anpassung.« (S. 355; vgl. Hans Mayer vom 25. 3. 1950 (vgl. GBA 30,
Flashar, S. 190) S. 20) die Unterdrückung von Lenz durch die
Nach B.s Tod edierte Elisabeth Hauptmann Literaturgeschichte an und betonte die Rele-
1959 die späten Bearbeitungen und hielt sich vanz einer Theatertheorie und Theaterpraxis,
an die von B. getroffene Auswahl. Die Edition die in der Wirkungstradition Shakespeares
umfasst in den Bänden Stücke XI und XII: Die stehend, »den Weg zum Shakespeare [ … ] bah-
Antigone des Sophokles, Der Hofmeister, Co- nen« könne (GBA 24, S. 388). Lenz’ Dramatik,
riolanus, Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu die auf dem deutschen Theater so gut wie un-
Rouen 1431 (nach Anna Seghers), Don Juan bekannt geblieben war, musste durch Bearbei-
(nach Molière) und Pauken und Trompeten tung überhaupt erst spielbar gemacht werden.
(nach George Farquhar). Mit dieser Edition Für ihn, wie auch für den bühnensicheren
war ein Kanon entstanden, der sich in der Hauptmann, kam es darauf an, die sozialen
Folgezeit faktisch auf vier Bearbeitungen re- Gehalte, die in den Dramen nicht stark genug
duzierte, die als »die großen Bearbeitungen« entwickelt waren, durch Bearbeitung zu ak-
(Mittenzwei, S. 218–247) das Forschungsin- zentuieren. Auf diesem Wege entstanden Bear-
teresse auf sich zogen. Maßgeblich dafür war beitungen, die dem Original den Gegenent-
auch, dass B. den Autoren, deren Werke er wurf konfrontierten.
bearbeitete, ein unterschiedlich starkes Inter- B. hatte anlässlich der Inszenierung des Don
esse entgegen brachte, sei es, dass er sie der Juan von Molière betont, dass die Ursprüng-
›realistischen‹ Tradition der Weltliteratur zu- lichkeit seiner semantischen Gehalte wieder-
rechnete, sei es, dass sie, wie z. B. die Klassi- hergestellt werden sollte (vgl. GBA 24,
ker, im Prozess ihrer Tradierung und durch die S. 412), entsprach aber in der Theaterpraxis
Formen ihrer Bühnenrealisationen ›geschä- dieser Forderung keineswegs. In Auseinander-
digt‹ worden waren (vgl. GBA 23, S. 316) und setzung mit B.s Prämissen und den Resultaten
daher faktisch für die Theaterpraxis ausfielen. der Bearbeitungen gelangte die Forschung zu
Einwände der Philologen und Historiker hin- durchaus unterschiedlichen und auch fragwür-
sichtlich der Texttreue begegnete B. mit dem digen Typologien. Der Geltungsbereich der
Hinweis auf die zeitbedingt unterschiedlichen Bearbeitung konnte je nach Begründung durch
Interessen von Kunst und Wissenschaft. »Ihr die Einbeziehung ganz unterschiedlicher
als Historiker seid verpflichtet, jede Epoche zu Textsorten erweitert und auf bestimmte Pha-
verstehen und zu deuten, wir Dichter und sen der Produktion konzentriert werden. So
Künstler aber sind nur dem heute verpflichtet. betont Schulz unter dem Aspekt der Klassiker-
Uns interessiert nicht, was die Wissenschaft- bearbeitungen: »Eine Eingrenzung des The-
ler herausbekommen, hier gelten andere Ge- mas auf die Phase der Klassikerbearbeitungen
setze.« (Wizisla, S. 136) Mit Ausnahme des aus marxistischer Perspektive ist geboten, da
Sturm-und-Drang-Dichters Lenz, dessen ›Ko- [ … ] der Stückeschreiber in seiner ›vorkriti-
mödie‹ Der Hofmeister oder Vorteile der Pri- schen‹ Arbeitsperiode das vorgeprägte litera-
vaterziehung B. der realistischen Tradition zu- rische Gut als Material konsumiert hat.«
rechnete, zu der er auch Gerhart Hauptmanns (Schulz 1973, S. 138) Dadurch entstand ein
Die Weber und Der Biberpelz zählte, handelte ganz anderer Kanon, in dem auch Die heilige
20 Die Bearbeitungen

Johanna der Schlachthöfe, Der Aufstieg des nach Inszenierung linientreuer Stücke einzu-
Arturo Ui, die Studien, die Übungsstücke für dämmen. Die Klassikerinszenierungen ließen
Schauspieler und Turandot oder Der Kongreß jedoch ideologische Aktualisierungen erken-
der Weißwäscher dem Genre der Bearbeitun- nen und erschienen B. daher als ein Politikum,
gen subsumiert werden konnten. von dem er sich in scharfer Form distanzierte.
Mit den Problemen der Bearbeitungs-Her- Angesichts der hohen Erwartungen der Öf-
meneutik waren die Rekonstruktionsversuche fentlichkeit, aber auch der verheerenden ma-
der Wirkungsforschung eng verbunden. Beide teriellen Einbußen und kulturellen Schäden
untersuchten vordringlich publikumssoziolo- ließ sich die Notwendigkeit, das Theater ver-
gische Funktionen. Zugleich stellte sich aber stärkt in den Wiederaufbau einzubeziehen,
im Einzelfall die Frage nach der spezifischen zwar gut begründen, aber nur schwer reali-
ästhetischen Qualität, die durch die Bearbei- sieren. Die verbreitete, auch von den Verant-
tung entstand. Fast alle der genannten Unter- wortlichen des Kulturbetriebs getragene Er-
suchungen betonen, dass ›Bearbeitung‹ sich wartung, durch »Weitermachen« (GBA 23,
nur als Zusammenhang von Text und Theater- S. 150), kulturelle Kontinuität Gewähr leisten
problematik darstellen lässt, also nicht isoliert zu können, erschien B. als eine gefährliche
von B.s Theaterarbeit diskutiert werden kann. Verdrängung der Krise, weil diese Einstellung
Verbunden ist diese Annahme mit dem Verweis die dringend erforderliche ideologische Auf-
darauf, dass die von B. zur Beurteilung seiner arbeitung der jüngsten Vergangenheit umging
Bearbeitungen entwickelten theaterprakti- (vgl. S. 150 f.). Darin sah der Stückeschreiber
schen Vorgaben für deren Interpretation un- und Regisseur jedoch die erste Voraussetzung
verzichtbar ist. für eine Vermittlung neuer Erkenntnis. Für B.
konnte es daher nicht darum gehen, das Re-
pertoire einfach nur auszuwechseln und die
»glänzende Technik« einer kompromittierten
»Theater im Geist des Fortschritts« Spielweise auf neue Inhalte zu pfropfen, »als
wäre solch eine Technik übernehmbar, gleich-
gültig, auf was da ihr Glanz nun gefallen war.
Unter dem Titel Einige Bemerkungen über Als ob eine Technik, die der Verhüllung der
mein Fach hielt B. im Mai 1951 eine Rede vor gesellschaftlichen Kausalität dient, zu ihrer
dem gesamtdeutschen Kulturkongress in Leip- Aufdeckung verwendet werden könnte!«
zig, die in gekürzter Fassung die Dokumenta- (S. 151) Die Alternative, mit einer neuen Tech-
tion seiner Theaterarbeit (1952) einleitet. In nik der Schauspielkunst die alten Stücke zu
Form einer kritischen Bestandsaufnahme er- inszenieren und das ›Erbe‹ »im Geiste des
läuterte B. die Schwierigkeiten, die das Berli- Fortschritts« (ebd.) anzutreten, schien nicht
ner Ensemble bewältigen musste, wollte es ein weniger problematisch. Abgesehen davon,
»Theater im Geist des Fortschritts« (GBA 23, dass eine ganze Schauspielergeneration nicht
S. 151) auf der Hinterlassenschaft des Nazi- zur Verfügung stand, weil sie im »Geist des
Kulturbetriebes aufbauen. Gustaf Gründgens, Rückschritts« (ebd.) falsch ausgebildet worden
von Göring zum Intendanten der preußischen war, ließ sich eine »Dramatik der Widersprü-
Staatstheater erhoben, und Heinz Hilpert, der che und dialektischen Prozesse« (ebd.) ebenso
von Goebbels eingesetzte Leiter des Deut- wenig kurzfristig entwickeln, wie sich auch
schen Theaters, waren ausgewiesene Theater- »der neue Mensch« (ebd.) nicht einfach ver-
leute, mit denen das Regime sich schmücken ordnen ließ. Seine Erziehung musste gerade
wollte, die sich jedoch ständig gegen politi- mit Hilfe des Theaters gefordert und geleistet
sche Bevormundung und Übergriffe bei der werden. Im Schoß der ›neuen‹ Zeit wucherten
Spielplangestaltung wehren mussten. Durch die Gewohnheiten, noch immer (GBA 12,
Ausweichen auf das Feld der Klassikerinsze- S. 307) der alten und fristeten ein parasitäres
nierungen versuchten beide die Forderung Dasein; das lehrten die Buckower Elegien.
»Theater im Geist des Fortschritts« 21

Diese Erfahrung musste auch der Lehrgegen- 20er-Jahren, als B. durch Eingriff in die Verfü-
stand des dialektischen Theaters werden, be- gungsstruktur den Vergnügungsapparat didak-
vor dem neuen »Publikum der Produzieren- tischen Zwecken unterstellen wollte (vgl.
den« (GBA 23, S. 151) ein neuer Inhalt in Joost, S. 162–182). Sie schloss mit den Texten
neuer Form geboten werden konnte. Diese auch deren Vermittlungsformen ein, wie über-
Stücke waren aber das Desiderat des Thea- haupt der Begriff des ›Vergnügens‹ nun eine
ters. vom landläufigen kulinarischen Verständnis
Nach Meinung B.s führte kein Weg an der abweichende Form des produktiven Erkennt-
Übernahme der Hinterlassenschaft des bür- nisgewinns bezeichnete. Wie eh und je ging es
gerlichen Theaters vorbei. Auf sein Repertoire B. darum, die träge, rezeptive Genusshaltung
konnte jedoch nicht unvermittelt zurückge- des Publikums zu überwinden. B. war sich
griffen werden. Die gesellschaftlich-fort- darüber im Klaren, dass auf Patentlösungen
schrittlichen Bedeutungen der Stücke, die B. nicht zurückgegriffen werden konnte, dass
an den Repräsentanten der realistischen Dra- vielmehr durch praktische Erprobung von
mentradition (z. B. Molière) feststellte, waren theoretischen Vorüberlegungen und Konzep-
durch Enthistorisierung, aber auch durch Ak- ten aus der Zeit des Exils Lösungen erst ge-
tualisierung im Tradierungsprozess des bür- funden und entwickelt werden mussten, soll-
gerlichen Zeitalters entstellt worden. Die ten die Versuche, »das verkommende Theater«
ideologischen Gehalte der Klassik mussten zu- (GBA 23, S. 151) durch die Rosskur der »aller-
sammen mit den Formen ihrer Tradierung sel- schwersten« Aufgaben (ebd.) wiederherzustel-
ber zum Gegenstand einer kritischen Ausein- len, nicht von vornherein zum Scheitern verur-
andersetzung gemacht und durch Historisie- teilt sein. Der erste Schritt zur Erarbeitung der
rung einer Funktionsveränderung unterzogen gestellten Aufgabe bestand in der Klärung der
werden. Durch diesen kritischen Bezug auf die Frage, aus welchen Werken das Repertoire zu-
Tradition wurden die Bearbeitungen und ihre sammengesetzt werden könnte.
Fixierung in Modellbüchern zwangsläufig zu
einem zentralen Sektor der Theaterarbeit (vgl.
Müller 1989, S. 317, S. 320). Ausdrücklich
wurde darin auch die eigene dramatische Pro- Neuer Inhalt / Neue Form
duktion aus den 20er-Jahren kritisch einbe-
zogen.
Die Erfahrung der Komplexität der Vermitt- Aus B.s späteren Schriften zum Theater lassen
lungsformen machte B. bereits anlässlich der sich Anhaltspunkte zu einer Theorie der Bear-
Inszenierung der Antigone des Sophokles in beitungen gewinnen, die der Regiearbeit Vor-
Chur, als er auf Anraten Caspar Nehers die gaben für die Schulung des historischen Sinns
freie Übersetzung Hölderlins anstelle philo- des Publikums, das heißt für die Wahrneh-
logisch zuverlässigerer Übertragungen wählte mung der gesellschaftlichen Vorgänge an den
und sich von der Hermetik des Textes pro- Gegenständen der kulturellen Tradition, ver-
duktiv anregen ließ. Auf neutralem Boden war mitteln sollten. Das begründet einerseits den
B. dergestalt mit Problemen der spezifisch Vorläufigkeitscharakter der Bearbeitungen,
deutschen Tradition konfrontiert. Griechisch- welche die Originale nicht ersetzen, sondern
deutsche Begegnungen (vgl. Beck) waren im zeitgemäße Zugänge zu deren Verständnis er-
Zeitalter der deutschen Klassik ein hochbe- möglichen sollen. Andererseits lassen sich die
deutsames Ereignis gewesen. B. schuf mit der durch Bearbeitung entstehenden Strukturmo-
Fixierung der Aufführung in einem verpflich- delle beispielhaft für die Inszenierung neuer
tenden Modell, das auf Zustimmung stieß (vgl. Stücke nutzen, deren neue Inhalte neue For-
Rilla, S. 346 f.), eine Grundlage für die weitere men der ästhetischen Vermittlung fordern.
Theaterarbeit. Umfunktionierung wurde ein Das Konzept der Bearbeitung leitet seine Legi-
didaktisches Programm, wie bereits in den timation aus der Beschaffenheit der Stücke
22 Die Bearbeitungen

und der Kenntnis des geschichtlichen Prozes- den »Katzgraben«-Notaten und in der Dialek-
ses, seine Notwendigkeit aber aus der verän- tik auf dem Theater fort. Die Paradigmen, auf
derten Lebenspraxis der Rezipienten ab. B. die sie sich beziehen, repräsentieren beide
betonte, dass die Werke ihre ursprüngliche Formen des Dramas, Komödie und Tragödie.
Gestalt bewahren sollten. Man dürfe sie nicht Zur Veranschaulichung seiner Überlegungen
durch Gesichtspunkte späterer Epochen ent- wählte B. Beispiele aus dem Werk Molières
stellen, »schlau ausdeuten« und willkürlich und Shakespeares.
verändern (GBA 24, S. 412). Damit geriet B.
jedoch in Argumentationsschwierigkeiten an-
gesichts der Art und Weise, wie er tatsächlich
mit den Stücken verfuhr. Über die Einwände Das ›Ewig-Menschliche‹: Zum
der Mitarbeiter setzte er sich hinweg (vgl. Wi- Problem falscher Unmittelbarkeit
zisla, S. 135 f.). Intensives Studium der Texte,
Rekonstruktion der historischen Antagonis-
men und Kenntnis des Autors sowie seiner »Jeder vermag noch immer die Eifersucht, die
Stellung in der Epoche und zu den jeweiligen Machtgier, den Geiz als Leidenschaft zu erken-
gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wa- nen. Aber die Leidenschaft, dem Ackerboden
ren die Orientierungspunkte für die Bearbei- mehr Früchte zu entreißen, oder die Leiden-
tungstätigkeit, die an den Werken verborgene schaft, die Menschen zu tätigen Kollektiven
Gehalte erschloss oder Aspekte wieder ent- zusammenzuschweißen, [ … ] werden heute
deckte, die im wirkungsgeschichtlichen Pro- noch schwerer gespürt und geteilt.« (GBA 25,
zess überlagert und verfälscht worden waren S. 482) Am Beginn der Überlegungen B.s steht
(vgl. Mayer, S. 9–26; Giese, S. 112–125). Der die kritische Erörterung des ›Ewig-Mensch-
Vermittlung neuer sozialistischer Inhalte stand lichen‹, worunter die bürgerliche Kunstauf-
das herkömmliche Rezeptionsverhalten im fassung Wesenseigentümlichkeiten versteht,
Wege. Diese neuen Themen waren aus der die als Variablen einer zu allen Zeiten und in
veränderten Lebenswelt zwar schon bekannt, allen Kulturkreisen konstanten anthropologi-
auf dem Theater aber noch ungewohnt und schen Größe, nämlich der menschlichen Na-
fremd, da das Publikum dort noch in den alten tur, in Erscheinung treten. B. bezieht diesen
Betrachtungsweisen, nämlich der Beobach- Begriff auf die Erfahrung, dass das Verständnis
tung der Dramencharaktere, befangen war und historischer Konfliktsituationen dem moder-
bestimmte Erwartungen hinsichtlich des Aus- nen Publikum immer noch spontan möglich
gangs ihrer schicksalsbedingten Konflikte ist. Daraus ergibt sich ein Vermittlungspro-
hegte. Aus Anlass der Inszenierung von Erwin blem. Die ›falsche‹ Unmittelbarkeit blockiert
Strittmatters Katzgraben nahm B. die im Mes- zwar das Verständnis für neue Themen- und
singkauf erörterten Probleme wieder auf und Konfliktkonstellationen, bietet aber den Pro-
hielt sie in Form von Notaten fest. Es geht duzenten die Möglichkeit, an den historischen
dabei im Wesentlichen um falsche, aber fest Situationen neue kritische Betrachtungswei-
verwurzelte Sichtweisen der Identifikations- sen zu entwickeln. Die Rezipienten werden
dramatik. Ihre Technik, durch Illusionierung dadurch in die Lage versetzt, diese Sichtwei-
den Zuschauer emotional auf den leidenden sen zu studieren und differenziert wahrneh-
Helden zu beziehen und Mitleid zu provozie- men zu können, ohne deshalb die Bühnenvor-
ren, bezweckt Reinigung der Leidenschaften, gänge mit den Erfahrungen ihrer Lebenspraxis
wie Lessing in Auseinandersetzung mit der zu verwechseln und sie darauf zu übertragen.
Katharsis-Lehre des Aristoteles in der Ham- Kurzschlüsse dieser Art lassen sich dadurch
burgischen Dramaturgie und zuvor im Brief- revidieren, dass an den typischen Konfliktsi-
wechsel über das Trauerspiel mit Mendelssohn tuationen angesetzt wird, die dem Publikum
und Nicolai ausgeführt hatte (vgl. Barner, vor allem aus dem Lustspiel vertraut sind, wie
S. 174–193). B. führte diese Überlegungen in die Auseinandersetzung um Geld, Glück und
Das ›Ewig-Menschliche‹: Zum Problem falscher Unmittelbarkeit 23

Ehre. Der Bearbeiter historischer Werke nutzt fixiert (GBA 24, S. 74–85). Er nahm es im Klei-
durch Historisierung (vgl. Joost, S. 224–229) nen Organ für das Theater wieder auf und
den Zeitenabstand zur Verdeutlichung des Un- vertiefte es (GBA 23, S. 65–97). Die Lösung
terschieds zwischen den Epochen, den Sub- des Problems setzte voraus, dass das Interesse
jekten und deren Interessenkonflikten und des Publikums an der szenischen Wiedergabe
vermag so, an den Werken der Vergangenheit elementarer Leidenschaften durch die Er-
historisches Bewusstsein zu entwickeln und neuerung und Wiederherstellung einer ur-
dabei ursprüngliche Ausdrucksformen und Re- sprünglichen Betrachtungsweise ersetzt wer-
zeptionsweisen zurückzugewinnen, die in der den könnte. B. unterstellte, die Charakterty-
literatur- und theatergeschichtlichen Tradition pen im Drama seien in früheren Epochen als
vergessen oder unterdrückt worden sind. Zu- Sozialcharaktere verstanden worden. Die von
gleich können an den historischen Texten auch B. sowohl für die Bearbeitung fremder Werke
neue Formen der Wahrnehmung und Perspek- wie für die der eigenen Epoche angestrebte
tiven der Beurteilung entwickelt werden, die Wiederherstellung und Fortführung einer dif-
das Theater der höfischen Repräsentationskul- ferenzierenden Betrachtungsweise kommt in
tur und das bürgerliche Theater noch nicht der Darstellung und Wahrnehmung des ›ge-
kannten. Das setzt aber den Abbau der verfehl- sellschaftlich Komischen‹ (vgl. GBA 24, S.
ten Sichtweise des »Ewig-Menschlichen« vor- 312; vgl. Giese) der Komödie zugute. So lässt
aus. B. bezeichnet damit das Interesse des Pu- sich an der Gesellschaftskomödie, die, wie
blikums an Leidenschaften, wie die Kämpfe Giese oder Walter Hinck gezeigt haben, Kritik
um Besitz und Macht in Shakespeares Kauf- leistet und darin utopische Desiderate zum
mann von Venedig und Molières Der Geizige. Vorschein bringt, also durch ihre Intentionali-
Sie erscheinen als typische Antagonismen, un- tät definiert wird, die Lösbarkeit der Konflikte
vergängliche, weil unverbrauchte Interessen- demonstrieren, die dadurch den Charakter
kollisionen, die als elementar empfunden und schicksalshafter Unabänderlichkeit verlieren.
daher spontan rezipiert werden. Sie sind in Diese Sichtweise legt die Perspektive der Be-
der Komödie zumeist an die erwarteten Mög- trachtung auf die Interaktionen der Charaktere
lichkeiten situativer Komik gebunden, schöp- im Drama und ist an deren psychischer Dis-
fen aus dem Reservoir traditioneller Intrigen position nur beiläufig interessiert. Konflikte,
und sind den in bürgerlichem Besitzdenken das zeigen die Bearbeitungen insgesamt, re-
befangenen Rezipienten daher vertraut. »In sultieren aus der Kollision von sozialen Inter-
unserer Wirklichkeit finden wir schwerer und essen, nicht aus der Versteifung der Charak-
schwerer Gegner für erbitterte Auseinander- tere auf quasi-metaphysische Prinzipien oder
setzungen auf der Bühne, deren Gegnerschaft dämonische Leidenschaften wie der Stolz des
vom Publikum als selbstverständlich, unmit- Helden im Coriolanus. Die Auseinanderset-
telbar, tödlich empfunden [Hv. v. Verf.] wird. zungen erweisen sich unter diesem Blickwin-
Gehen die Kämpfe um den Besitz, werden sie kel als typisch für ein bestimmtes Klassen-
als natürlich und eben interessant empfunden verhalten, das historisch konkret bezeichnet
[Hv. v. Verf.].« (GBA 25, S. 484) Entscheidend werden kann, anders als in einem ›Theater der
ist dabei der Modus der Rezeption. Die Dar- Leidenschaften‹, wo sie als typisch für die
stellung von Leidenschaften spricht nicht den menschliche Natur gelten. Unter dieser An-
Verstand, sondern das Gefühl des Zuschauers nahme verändern sich die Rezeptionsformen
an. Insofern stellt sich mit der Rezeption ein der Dramen grundlegend. Die an der bürger-
Erkenntnisproblem, das den Wahrnehmungs- lichen Rezeptionsgeschichte der komischen
prozess nicht auf der Gefühlsebene belässt, Gattung von B. beobachtete Aufwertung, ihre
sondern zu Erkenntnissen fortführt. Dieses Annäherung an die Tragödie durch die ›Ver-
Problem hatte B. schon im Zusammenhang der tiefung‹ der Charaktere zu tragischen und
Anmerkungen zu seiner Oper Aufstieg und Fall halbtragischen Charakterstudien bedeutet die
der Stadt Mahagonny erörtert und tabellarisch Enthistorisierung der Gattung. Dieser Prozess
24 Die Bearbeitungen

musste durch Bearbeitung revidiert wer- Kenntnis den angemessenen Standpunkt, um


den – und das bedeutete im Prinzip Kontrafak- die Beurteilung der psychischen Dispositionen
tur. der Handlungsträger als typische Normab-
Die Wiederherstellung der Komik aus sozia- weichungen zu begreifen, deren Verhalten un-
len Antagonismen ist darum der verbindliche ter den gegebenen Bedingungen plausibel er-
Ansatz. Das führt im Fall der Komödie zur scheint. B. wählt mit dem Geizigen des Mo-
Annäherung der Gattung an die Satire, wie B. lière ein besonders gut geeignetes Beispiel,
am Beispiel des Geizigen von Molière demon- um daran sowohl die zeitgenössische als auch
striert. B. verwirft die Darstellung von Leiden- die aktuelle Perspektive der Beurteilung von
schaften nicht generell, aber er verändert mit Konfliktdarstellung exemplarisch zu erläu-
der Bestimmung ihrer Funktion im Prozess tern: »Das Publikum Molières lachte über Har-
der Erkenntnisvermittlung auch deren Stel- pagon, seinen Geizigen. Der Wucherer und
lenwert. Anders als im bürgerlichen Theater- Hamsterer war lächerlich geworden in einer
betrieb ist im epischen Theater die Darstel- Zeit, in der der große Kaufmann aufkam, Ri-
lung von Leidenschaften kein Zweck an sich, siken eingehend und Kredite aufnehmend.
sondern resultiert aus ihrer Funktion, soziale Unser Publikum könnte über den Geiz des
Erkenntnis zu stiften. Diese neue Betrach- Harpagon besser lachen, wenn es diesen Geiz
tungsweise wirkt der verständnishemmenden nicht als Eigenschaft, Absonderlichkeit, ›All-
Fixierung des Interesses auf das »Ewig- zumenschliches‹ dargestellt sähe, sondern als
Menschliche« entgegen und hat weitgehende eine Art Standeskrankheit, als ein Verhalten,
Veränderungen der Handlungsmotivation und das eben erst lächerlich geworden ist, kurz als
der Fabelführung zur Folge. Zu diesem Zweck gesellschaftliches Laster. Wir müssen das
entwickelt die Bearbeitungstechnik Verfrem- Menschliche darstellen können, ohne es als
dungen, die in den deiktischen Formen des Ewigmenschliches zu behandeln.« (GBA 25,
Spiels umgesetzt werden. An die Stelle des S. 484 f.)
monumentalen Charakter-Tableaus des bür- B. bestimmte die Progressivität Molières
gerlichen Theaters tritt die Darstellung von aus der Perspektive der Rezeption. Im Kontext
dynamischen Prozessen, in denen sich modell- seiner Behauptungen, dass eine Darstellung
haft die ökonomischen Bewegungsgesetze des der Prägung des menschlichen Bewusstseins
gesellschaftlichen Lebens abzeichnen. Das durch das gesellschaftliche Sein als eine neue
Verhalten der Charaktere, die Form ihrer lei- Betrachtungsweise zu gelten habe, »die nicht
denschaftlichen Konfliktbewältigung wird hi- berücksichtigt ist in der alten Kunst, Stücke zu
storisch repräsentativ dadurch, dass von ihrem schreiben« (GBA 25, S. 485), gestand er dem
faktischen So-Sein abstrahiert und das zeitgenössischen Publikum dennoch die Kom-
gezeigte Verhalten Begriffspaaren wie ›zeitge- petenz zu, die Fundierung der Leidenschaften
mäß-unzeitgemäß‹, ›realitätsgerecht-realitäts- und Konflikte in den gesellschaftlichen Be-
fremd‹ zugeordnet werden können. Komische dingungen bereits wahrgenommen und das
Normverletzungen, die auf dem bürgerli- ›gesellschaftlich Komische‹ der anachronisti-
chen Theater zu pathologischen Kolossal- schen, aber typischen Handlungsweise des
gemälden hypostasiert werden (Don Juan), Geizigen verstanden zu haben: »[Molière] ver-
Handlungen, in denen der Sonderling sein spottet den Geiz zu einer Zeit, wo das Bürger-
Recht gegenüber der Gesellschaft behauptet, tum das Geld produktiv zu nutzen versteht,
werden aufgehoben. Das bedeutet, dass am neuerdings. Geiz ist ganz unpraktisch gewor-
Träger der fehlerhaften Eigenschaften deren den, steht dem Gelderwerb im Wege, ist also
soziale Relevanz vorgeführt, die individuelle lächerlich (und erntet auch noch das Gelächter
durch die gesellschaftliche Perspektive ersetzt der Feudalität, die großzügig ist und mit den
wird. Dass es in den Handlungen der Gesell- Arbeitsprodukten der unterdrückten Klasse
schaftskomödien in letzter Instanz um öko- nicht geizt.)« (Journal, 13. 9. 1953; GBA 27,
nomische Probleme geht, vermittelt deren S. 348)
25

Praxis versus Moral »Brechts Tragödie gegen den Coriolan«


(Kuczynski, S. 402) demonstrierte an einer ge-
sellschaftlichen Fabel die Lösbarkeit des Kon-
Indem B., wie eine Eintragung im Journal vom flikts unter pragmatischen Bedingungen: »Die
10. 4. 1948 belegt, die Darstellung von Leiden- scheinbare Unersetzlichkeit des Individuums
schaften unter dem Aspekt der Pragmatik erör- ist ein Riesenthema noch auf lange Zeit, von
terte und bewertete, wählte er einen Stand- der Antike bis zu uns führend. [ … ] Das Pro-
punkt der Betrachtung, der für das Drama ge- blem ist prinzipiell lösbar. [ … ] Im ›Corio-
nerell gelten sollte. Unter Bezugnahme auf die lan‹.« (Brecht, S. 5) Die bedeutsame Verschie-
Rezeption seiner Antigone-Bearbeitung führte bung des Gesichtspunkts, unter dem das
er aus, er habe »das Moralische in Zusammen- gesellschaftliche Verhalten vorgeführt und be-
hang gebracht mit dem Unpraktischen, wo- urteilt wird, lässt sich gattungsübergreifend an
durch es das Absolute, Starre, im Übersinnli- den großen Bearbeitungen B.s generell beob-
chen Thronende« verliere (GBA 27, S. 267). achten. In den gezeigten gesellschaftlichen
Kreons grausame Maßnahmen bewertete B. Konflikten setzt sich realitätsgerechtes Han-
als »unpraktische Unternehmungen« (ebd.), deln erfolgreich durch, das in kollektiven Pro-
die dem geforderten realitätsgerechten Ver- zessen gesellschaftlicher Bewusstseinsbildung
halten widersprächen und deshalb zum Schei- und daraus resultierender zielgerichteter Ak-
tern verurteilt seien. tionen über die Verstiegenheit der Helden tri-
Analog zu dieser Auffassung beurteilte B. umphiert. Der Aspekt des kollektiven Han-
auch Shakespeares Coriolan. Die in den »Katz- delns ist dabei ausschlaggebend.
graben«-Notaten betonte Möglichkeit eines In der vom Berliner Ensemble in Gemein-
Nebeneinanders von Konflikten und Leiden- schaftsarbeit geleisteten Bearbeitung des Dom
schaften der Vergangenheit und der Gegen- Juan Molières führte B. mit der Erfindung des
wart wurde in den Anmerkungen zu Coriolan tätigen Kollektivs der um den Lohn geprellten
und in der Dialektik auf dem Theater nach- Ruderer den plebejischen Gegenspieler ein,
drücklich bekräftigt. Der »bloßen Einfühlung der über den als Parasiten gekennzeichneten
in den Helden Marcius« dürften, »um zu einem großen Herrn die Oberhand behält. Wo der
reicheren Vergnügen zu gelangen«, die wei- ›Held‹ in seiner »erotischen Unersättlichkeit«
teren Tragik-Verständnisse nicht aufgeopfert als Figur gezeigt wird, die sich übernimmt und
werden; »wir müssen zumindest imstand sein, dadurch zwangsläufig in die Defensive gerät,
außer der Tragödie des Coriolan die Tragödie erscheint das Kollektiv dagegen mit seinen be-
Roms, insbesondere der Plebs zu ›erleben‹« rechtigten Forderungen in zielgerichteter Ak-
(GBA 24, S. 402). Das Hervortreten der Ge- tivität. Don Juan scheitert bei B. nicht an sei-
gensätze – der tragische »Glaube des Helden ner Unmoral und seiner Hybris, für die er bei
an seine Unersetzlichkeit« (ebd.) und der Wi- Molière von Gott und Welt zur Rechenschaft
derstand der Gesellschaft gegen diesen Glau- gezogen wird, sondern, wie Kreon, an seiner
ben, der das Gemeinwesen gefährdet – wurde »Unzulänglichkeit« (GBA 27, S. 261). Mit die-
zum tragenden Gesichtspunkt der Bearbei- sem Begriff stigmatisierte B. die abgelebte
tung. Dabei kam es darauf an, diese Gegen- Herrschaftsklasse. Anders als bei Molière sind
sätze nicht einfach als ›gegeben‹, sondern als es daher nicht die eigenen Standesgenossen,
›zustande gekommen‹ zu zeigen. Es erschien die den Helden verfolgen und in die Enge
B. vordringlich, zunächst das soziale Feld zu treiben. Bei B. repräsentieren sie, zusammen
entwickeln, in dem der ›Held‹ situiert wird, mit Don Juan, die parasitäre Klasse. Es sind
statt das Interesse von vornherein auf die he- vielmehr die in den neuen, kämpferischen Ge-
roische Gestalt zu konzentrieren. Die Legiti- brauchsformen des Ruders unterwiesenen Ple-
mation zu dieser Akzentverlagerung zog die bejer, die dem trägen Parasiten ›Beine ma-
Bearbeitung aus der Kritik an der Einseitigkeit chen‹, und die jungen Leute aus dem Volk, die
der bürgerlichen Lesart des Coriolan als einer »das Parasitäre seines Glanzes« (GBA 24,
»Tragödie des Stolzes« (ebd.).
26 Die Bearbeitungen

S. 415) durchschauen und verspotten, von de- Fortschritts außerhalb der Stückfabel im Epi-
nen die Handlung vorangetrieben wird. log. Noch sind hier die als »Schüler und Leh-
Auch in der Hofmeister-Bearbeitung brachte rer einer neuen Zeit« (GBA 8, S. 371) apostro-
B. den pragmatischen Standpunkt zur Gel- phierten Rezipienten, von den demonstrierten
tung, hier allerdings plakativ einseitig und in Verhaltensweisen affektiv betroffen und tragen
Form des Gegenentwurfs. Lenz hatte mit der an der Erblast »schiefer Denkweisen« (GBA
›Komödie‹ das utopische Desiderat des Klas- 24, S. 392), deren Genese ihnen im Tableau
senausgleichs gestaltet. Bürgerliche Interes- der Misere vorgeführt worden ist. Mit der Be-
sen konvergieren mit denen des Reformadels arbeitung des Hofmeisters wurde die resigna-
im Bild einer versöhnten Gesellschaft, die den tive Ebene des Trauerspiels zwar transzen-
gesellschaftlichen Wandel propagiert. B. nahm diert, die Komödie jedoch noch nicht erreicht.
diesen fortschrittlichen Entwurf zurück. Er de- Mit der Stellungnahme zu der Frage Ist der
monstriert die Zwangsläufigkeit des Schei- »Hofmeister« ein »negatives Stück«? reagierte
terns jeder Reform und zeigte die Stagnation B. auf die Kritik, die ihm Einseitigkeit vorwarf
gerade an der Möglichkeit auf, durch Oppor- und den positiven Gegenspieler vermisste. Er
tunismus (Pätus) und Zynismus (Bollwerk) brachte den Begriff der ›Satire‹ ins Spiel. Die
sich im Bestehenden behaglich einzurichten im Epilog reklamierte Bewusstseinshaltung
oder doch zu behaupten. Wo Lenz über die bezeichnet den klassenmäßig bestimmten
Gestaltung des Freundschaftsmotivs die Ange- Standpunkt des Stücks, der die Dynamisie-
hörigen der jungen Generation (Fritz von rung des gesellschaftlichen Fortschrittes durch
Berg, Pätus) als Hoffnungsträger idealistisch die Veränderung der Bewusstseinsformen be-
überhöhte und altruistisches Handeln propa- zweckt. Implizit wird hier das Programm der
giert hatte, steuerte B. die Desillusionierung Bearbeitung legitimiert: Unterbliebe sie, so
der optimistischen Erwartungen durch die bliebe die Tradition kritisch unbefragt, würde
Brechung der Figurenkonzepte bei: In der Be- die »Einschüchterung durch die Klassizität«
arbeitung handeln alle Figuren selbstsüchtig (GBA 23, S. 316) sich erkenntnishemmend
und betrügerisch. Zwar verhalten sich die Jun- auswirken.
gen unter den gegebenen Umständen pragma- Der Aspekt kollektiven pragmatischen Han-
tisch und realitätskonform – der Student Pätus delns kommt auch in B.s Bearbeitung von
schwört seinen philosophisch-revolutionären Hauptmanns Biberpelz und Der roter Hahn zur
Idealen ab, heiratet die Tochter des Rektors Geltung, deren vollständiger Text der For-
und kommt zu Amt und Brot; Bollwerk lebt schung erst 1992 durch die GBA zugänglich
seine Sexualität aus und repariert deren uner- gemacht worden ist. Durch die »tiefgreifende
wünschte Folgen mittels fremder Ressourcen –, Umarbeitung« von »Figurenkonzeption, Hand-
aber ihr Handeln hat verweisende Funktion. lungsführung und Motivation« (Müller 1993,
Es demonstriert zugleich das geschichtliche S. 87) ist ein Gegenentwurf zu den beiden
Versagen der deutschen Intellektuellen. Das Stücken Gerhart Hauptmanns entstanden. Die
Stück zeigt die Zersplitterung der bürgerli- Bearbeitung zeigt gegen Hauptmann die Rela-
chen Interessen in kurzsichtigen oder faulen tivierung der progressiven Anschauungen, der
Entscheidungen durch die Verdoppelung des im Biberpelz fortschrittlich konzipierten Figur
Kastrationsmotivs (vgl. Giese, S. 184–186) des Dr. Fleischer, dessen Liberalismus bei
und die Vereinzelung der bürgerlichen Pro- Hauptmann »als absoluter Fortschritt« gelte
tagonisten. (vgl. GBA 24, S. 393). Progressives Klassen-
Analog zur Bearbeitung der Antigone, in der bewusstsein demonstriert die Bearbeitung an
weder die Titelfigur noch die thebanischen der neu konzipierten Figur des arbeitslosen
Alten das Volk repräsentieren, sondern das Pu- sozialdemokratischen Eisendrehers Rauert,
blikum auf die in der dramatischen Fabel aus- der durch die kriminellen Machenschaften der
gesparte Position rückt, wählte Brecht in der Wolffen-Fielitz geschädigt wird. Rauert pran-
Hofmeister-Bearbeitung die Perspektive des gert den Opportunismus der Fielitz an, die auf
Praxis versus Moral 27

eigene Rechnung spekuliert und sich dabei chisch-deutsche Begegnungen. Das deutsche Grie-
verrechnet. Ihr Appell an die Solidarität des chenerlebnis im Sturm und Drang. Stuttgart 1947. –
Borchardt, Knut: Bertolt Brechts Inszenierung und
Sozialdemokraten beantwortet Rauert mit der
Bearbeitung des »Hofmeister« von Lenz. Unsyste-
Klarstellung, wer die Opfer und wer die Täter matische Bemerkungen über Brechts Auffassungen,
sind. An der Unbelehrbarkeit der Fielitz de- die ich in drei Gesprächen kennen lernte. In: Wi-
monstriert die Bearbeitung das defizitäre Be- zisla, S. 135 f. – Brecht, Bertolt: Shakespeares Corio-
wusstsein der abgelebten Klasse und ihrer lan im Berliner Ensemble. In: Theater der Zeit
Mitläufer. Im Schlussbild zeigt das Stück den (1964), H. 7, S. 4–6. – Flashar, Hellmut: Inszenie-
rung der Antike. Das griechische Drama auf der
Gegensatz von Aufstiegs- und Fortschrittsden-
Bühne der Neuzeit 1585–1990. München 1991. –
ken: Das Ende führt den betrogenen Betrüger Frick Werner: » … was wir tun können für die alten
als Opfer des Selbstbetrugs vor. Stücke und: was sie für uns tun können«: Brechts
Bearbeitungstheorie und Modellkonzeption. In:
Ders.: Die mythische Methode. Komparatistische
Studien zur Transformation der griechischen Tra-
gödie im Drama der klassischen Moderne. Tübingen
Ausblick 1998, S. 489–501. – Frühwald, Wolfgang: Eine Mori-
tat vom Ende des Individuums: Das Theaterstück
»Baal«. In: Hinderer, S. 33–47. – Giese, Peter Chri-
stian: Das »Gesellschaftlich-Komische«. Zu Komik
An allen Bearbeitungen B.s und seiner Mitar- und Komödie am Beispiel der Stücke und Bearbei-
beiter lässt sich beobachten, dass die Wieder- tungen Brechts. Stuttgart 1974. – Hermand, Jost:
herstellung von komischen Wirkungen und Zur Aktualität von Brechts Bearbeitungstechnik. In:
die deutliche Akzentuierung der sozialen Per- Haug, Wolfgang F. [u. a.] (Hg.): Aktualisierung
spektive in der Komödie durch die Betonung Brechts. Berlin 1980, S. 122–143. – Joost. – Kuczyn-
ski, Jürgen: Gestalten und Werke, soziologische Stu-
der dramatischen Handlung die bürgerliche
dien zur deutschen Literatur. Berlin, Weimar 1969. –
Fehleinschätzung und Verfälschung der histo- Mayer, Hans: Brecht in der Geschichte. Drei Ver-
rischen Stücke aufhebt. Die Wiederherstel- suche. Frankfurt a.M. 1971. – Mittenzwei, Werner:
lung der Komödie als Gesellschaftskomödie Brechts Verhältnis zur Tradition. Berlin 1973. – Mül-
nähert die Gattung der Satire an (Der Hof- ler, Klaus-Detlef: Brechts Theatermodelle: Histori-
meister, Don Juan, Biberpelz und roter Hahn). sche Begründung und Konzept. In: Valentin, Jean-
Marie (Hg.): Bertolt Brecht. Actes du Colloque
Die Modellierung der Konflikte und Antago-
franco-allemand tenu en Sorbonne. Bern [u. a.]
nismen in ihrer historischen Besonderheit und 1989, S. 315–332. – Ders. (Hg.): Bertolt Brecht. Bi-
gesellschaftlichen Relevanz bestimmt aber berpelz und roter Hahn. Bearbeitung zweier Stücke
auch die Bearbeitung der Konfliktstrukturen von Gerhart Hauptmann. Frankfurt a.M. 1993. –
in der Tragödie. Wenn generell gezeigt werden Rilla, Paul: Bühnenstück und Bühnemodell. In:
kann, dass ›das Schicksal der Menschen der Ders.: Literatur. Kritik und Polemik. Berlin 1950,
S. 343–349. – Schulz, Gudrun: Die Schillerbearbei-
Mensch‹ ist, so lässt sich in der Tragödie, die
tungen Brechts. Eine Untersuchung literarhistori-
nicht von vornherein durch tragische Ausweg- scher Bezüge im Hinblick auf Brechts Traditions-
losigkeit bestimmt ist, die Überzeugung von begriff. Tübingen 1972. – Dies.: Klassikerbearbei-
der Unabänderlichkeit elementarer Konflikte tungen Bertolt Brechts. Aspekte zur ›revolutionären
erschüttern und die Einsicht in die Veränder- Fortführung der Tradition‹. In: Arnold, Heinz Lud-
barkeit der Welt demonstrieren, die dann auch wig (Hg.): Bertolt Brecht II. Sonderbd. Text+Kritik.
München 1973, S. 138–151. – Theaterarbeit. 6 Auf-
auf die zeitgemäßen Konfliktstrukturen mit
führungen des Berliner Ensembles. Hg. v. Berliner
neuen Stücken produktiv übertragen werden Ensemble. Dresden 1952. – Wittkowski, Wolfgang:
kann. Aktualität der Historizität: Bevormundung des
Publikums in Brechts Bearbeitungen. In: Hinderer,
S. 343–368. – Wizisla, Erdmut (Hg.): » … und mein
Werk ist der Abgesang des Jahrtausends«. 22 Ver-
Literatur: suche, eine Arbeit zu beschreiben. Berlin 1998.
Barner, Wilfried: Lessing. Epoche – Werk – Wir-
kung. 4. Aufl. München 1981. – Beck, Adolf: Grie- Jörg Wilhelm Joost
28

Material allerdings nur an einer marginalen,


Die Lehrstücke wenig aussagekräftigen Stelle auf (S. 1145).
Auch das seit Frühjahr 1929 entstehende
Der Ursprung des Begriffs ›Lehrstück‹, der Stückprojekt Aus nichts wird nichts ist hier zu
einen besonderen Spieltypus bezeichnet, ist nennen (S. 679–718). Der Begriff ›Lehrstück‹
ungeklärt. Wörterbücher der ersten Hälfte des findet sich dort im Titel einer theoretischen
20. Jh.s verzeichnen ihn nicht. Auch wenn es Reflexion: Aus nichts wird nichts und Lehr-
sich nicht um eine Wortschöpfung B.s handeln stücke (S. 689); der Hinweis »und Lehr-
sollte: Geläufig wurde der Terminus zweifel- stücke«, der das Stückprojekt vom Spieltypus
los durch ihn. Kurioserweise taucht das Wort ›Lehrstück‹ abgrenzt, wurde später nachge-
bei B. zuerst im Titel eines seiner derb-eroti- tragen (S. 1193, S. 1196 f.). Ferner gehören die
schen Augsburger Sonette aus dem Jahre 1926 Fragmente Der böse Baal der asoziale aus der
auf: Lehrstück Nr. 2. Ratschläge einer älteren Zeit um 1929/30 in diesen Zusammenhang
Fohse an eine jüngere (GBA 11, S. 123). Eine (S. 663–675), in denen neben Chorpassagen,
Prostituierte unterweist eine jüngere Kollegin ähnlich wie im Fatzer, auch eine zusätzliche
in der Kunst der gewerblichen Liebe. ›Lehr- Kommentar-Ebene vorgesehen war. Als ›Lehr-
stück‹ wird hier verstanden als Form der Un- stück‹ wird das Projekt in einer Notiz aus-
terweisung, der Überlieferung von Lebenser- drücklich bezeichnet (»Das Lehrstück vom bö-
fahrung, etwa im Sinne traditioneller Lehr- sen Baal [ … ]«, S. 667); drei spätere Notate in
dichtung. Der Terminus findet sich erneut in Journalen der Jahre 1938 bis 1941 sprechen
einem Beitrag B.s zur Umfrage einer Tages- von den ›kleinen Lehrstücken‹ vom Bösen
zeitung, die einige Schriftsteller und Künstler Baal dem asozialen (vgl. S. 1186 f.). Hinweise,
um Mitteilung ihrer Zukunftspläne gebeten wie sich B. die dramaturgische Gestaltung vor-
hatte. In der vermutlich im Winter 1928/29 stellte, sind nicht überliefert. Diese Projekte
erschienenen Notiz schrieb B. seine Reflexio- blieben sämtlich unausgeführt. Einen eigen-
nen über die Erfordernisse einer aktuellen ständigen theatralischen Spieltypus ›Lehr-
Theaterpraxis fort (vgl. Zum Theater stück‹ im Sinne der eingangs zitierten Notiz
1924–1933, BHB 4). Anspielend auf die mit hat B. damals nicht realisiert; die dort an-
großem Erfolg aufgeführte Dreigroschenoper, visierten dramaturgischen Momente gingen in
kündigte er für die nähere Zukunft eine an- die Theorie und Praxis des epischen Theaters
dere, über den Songstil hinausführende Auf- ein.
gabe an: »Sie besteht darin, eine Art Lehr- Als Typusbezeichnung tatsächlich verwen-
stücke zu geben und von der Bühne herunter det hat B. den Begriff ›Lehrstück‹ in einem
zu philosophieren und zu reformieren. Aller- Bereich, der von der Theaterarbeit – auch von
dings stelle ich mir diese Aufgabe äußerst der Absicht, ›lebendige Anschaulichkeit‹ zu
schwierig vor, da das Drama an lebendiger bewahren – deutlich zu differenzieren ist. Als
Anschaulichkeit ja nichts verlieren darf.« Lehrstücke bezeichnete B. seit 1930 einen
(GBA 21, S. 343) Eine solche Theaterform ver- nach Ursprung, Form und Verwendungszweck
suchte B. in den folgenden Jahren auf ver- eigenständigen Spieltypus neben den Theater-
schiedene Weise zu realisieren, am überzeu- stücken. Dieser Spieltypus, dem er sechs
gendsten vielleicht in den Parabelstücken. kleine, in den Jahren 1929–1935 entstandene
In diese Richtung scheinen einige Frag- Arbeiten zurechnete, hat seinen Ursprung
mente und Projekte aus dieser Zeit (Ende 1928 nicht in theatertheoretischen Überlegungen,
bis Anfang 1930) zu weisen. So rückt in den sondern in Entwicklungen der Neuen Musik
späten Phasen der Arbeit am Fatzer-Projekt und des Musiklebens in der zweiten Hälfte der
das lehrhafte Element in den Vordergrund, 20er-Jahre. Die ersten Lehrstücke entstanden
u. a. durch die Einschaltung einer eigenen als Auftragsarbeiten in enger Abstimmung mit
Kommentar-Ebene (vgl. GBA 10, S. 1116 f.). Komponisten, die Musik war von Anfang an
Der Terminus ›Lehrstück‹ taucht im Fatzer- integraler Bestandteil des Konzepts. Musikali-
Begriff 29

sche und musikpolitische Intentionen haben griff genommen. Auf Anregung von Hinde-
die Formspezifika und Zweckbestimmungen mith, der der Festivalleitung angehörte, wur-
des Typus entscheidend mitgeprägt. den seit 1925 Arbeiten zu besonderen
kompositorischen Themen und Sonderproble-
men in Auftrag gegeben, die über den engen
Bereich der Kammermusik hinausführten und
Entstehung eines Spieltypus auf eine breitere Wirkung abzielten.
In diesem Zusammenhang spielte der Be-
griff ›Gebrauchsmusik‹ bald eine beherr-
Es war kein Zufall, dass die beiden ersten schende Rolle. Der schillernde Terminus be-
Beispiele des Genres – der von Weill und Hin- zeichnete die Gesamtheit der Versuche, die auf
demith gemeinsam vertonte Lindberghflug die Überwindung der Krise der Neuen Musik,
und das von Hindemith komponierte Lehr- ihrer Isolierung, Esoterik und mangelnden
stück (später: Das Badener Lehrstück vom Resonanz hinausliefen – durch Etablierung ei-
Einverständnis) – im Juli 1929 im Rahmen des ner aktuellen Musikpraxis außerhalb des Kon-
Baden-Badener Kammermusikfestes zur Ur- zertbetriebs. Dahinter stand die Erwartung,
aufführung gelangten. Beide Arbeiten waren das Musikschaffen könne von praktischen
auf Programmpunkte des Festivals zugeschnit- Zwecken, Bedürfnissen und Funktionen her
ten. Zur Aufführung vorgesehen waren zum erneuert und womöglich wieder in einen un-
einen Kompositionen für das damals junge mittelbaren Zusammenhang mit Formen der
Medium Rundfunk, zum anderen Arbeiten, die Lebenspraxis gebracht werden, sei es durch
unter den Schlagworten ›Gebrauchsmusik‹ die Hinwendung zum musizierenden Laien
und ›Gemeinschaftsmusik‹ in der Diskussion und die Förderung von Formen aktiver Musik-
waren. Um diese beiden Begriffe hatte sich rezeption (hierfür stand der Begriff ›Gemein-
eine von jüngeren Komponisten und Kritikern schaftsmusik‹), sei es durch Kompositionen
getragene Bewegung versammelt, die musika- für die neuen technischen Medien Rundfunk
lische Variante einer breiteren Strömung im und Schallplatte, zu denen bald auch der Ton-
Kulturleben der Weimarer Republik, deren film trat. Gemeinsam war beiden Tendenzen
Hintergrund die sich seit Mitte der 20er-Jahre die Orientierung auf ein breiteres, vom tradi-
abzeichnende Krise im Bereich der aktuellen tionellen Musikbetrieb nicht erreichtes Publi-
Musikproduktion war (vgl. Krabiel, S. 7–15). kum.
Der Neuen Musik, die eine scharfe Abkehr Seit dem Sommer 1927 wurde ›Gebrauchs-
von der Romantik des 19. Jh.s vollzogen hatte, musik‹ zum beherrschenden Thema des Ba-
war es noch nicht gelungen, ein breiteres Pu- den-Badener Festivals. Schwerpunkte waren
blikum zu erreichen. Das Konzertpublikum hier neben Kompositionen für mechanische
war mehrheitlich konservativ eingestellt, das Instrumente zunächst die Kammeroper und
öffentliche Konzert kam als Forum kaum in Filmmusik. Unter dem Programmpunkt ›Kam-
Betracht. Die Musik der Avantgarde war un- meropern‹ gelangte die erste gemeinsame Ar-
populär, sie blieb die Angelegenheit von Spe- beit von B. und Weill, das Songspiel Maha-
zialisten. So waren Anzeichen von Stagnation gonny, zur Uraufführung; es war B.s Einstand
bald unübersehbar. Diese Entwicklung hatte als Textautor in Baden-Baden. Folgenreich für
Auswirkungen auf die Programmatik des 1921 die weitere Entwicklung des Festivals und eine
in Donaueschingen gegründeten, 1927 nach unmittelbare Voraussetzung für die Entste-
Baden-Baden verlegten Kammermusikfestes, hung des Lehrstücks war die 1927 erstmals
des wichtigsten Festivals der Neuen Musik in praktizierte Zusammenarbeit mit den Musi-
den 20er-Jahren. Hier wurden die Probleme kantengilden Fritz Jödes, der damals mit-
des Musikbetriebs und der aktuellen Produk- gliederstärksten Laienmusikbewegung in
tion am deutlichsten erkannt und Möglichkei- Deutschland (vgl. Kolland). Während die an
ten ihrer Lösung am konsequentesten in An- älteren Musikformen, insbesondere am Volks-
30 Die Lehrstücke

lied orientierten Gilden von der Auseinander- dieser beiden Programmpunkte. In engem Zu-
setzung mit dem aktuellen Schaffen neue Im- sammenhang mit beiden Werken entwickelte
pulse erwarteten, suchten die Baden-Badener sich der neue Spieltypus ›Lehrstück‹.
den Kontakt zu den Laienmusikern. Erwartet
wurde eine in der Tonsprache gemäßigt mo-
derne, technisch einfache, von Laien zu be-
wältigende Musik, die möglichst ›musikan- Der Lindberghflug und Lehrstück
tisch‹ sein und vor allem eine gemeinschafts-
bildende Qualität haben sollte. Der bald als
Schlagwort kursierende Terminus ›Gemein- Komponieren für den Rundfunk bedeutete:
schaftsmusik‹, auch Sing- und Spielmusik, Berücksichtigung der technischen Besonder-
meinte eine Musik, die nicht für den konzer- heiten des Mediums und der veränderten Rah-
tanten Vortrag (vor passiv Zuhörenden), son- menbedingungen des Musizierens und der
dern für den Gebrauch durch Sing- und Spiel- Musikrezeption im Rundfunk. Neben den aku-
kreise bestimmt war – zum Zwecke des aktiven stischen Bedingungen der Radioübertragung
Musikvollzugs. Es war Gebrauchsmusik für musste auch der Zusammensetzung des Rund-
Musiziergemeinschaften. funkpublikums Rechnung getragen werden.
Das eindrucksvollste Ereignis des Sommers Das Thema des Lindberghflugs war in beson-
1928 war die von Jöde geleitete ›Offene Sing- derem Maße funkgerecht; der Ozeanflug Lind-
stunde‹, eine von den Gilden entwickelte berghs vom Mai 1927 war sogar ein typisches
Form öffentlicher Musikpflege, die allen In- Medienereignis. Während Presse und Rund-
teressierten die Teilnahme am Gesang ermög- funk die Pioniertat als Sensation vermarktet
lichen sollte. Höhepunkt der Veranstaltung hatten, hält B.s Text dokumentarisch exakt die
war die Aufführung von Hindemiths Kantate Details des Fluges fest und verleiht diesem
Frau Musica; sie sah die Einbeziehung des exemplarischen Charakter.
Publikums vor, das den Anfangs- und Schluss- In Baden-Baden fanden zwei Aufführungen
chor mitzusingen hatte. Nach dem großen Er- des Lindberghfluges statt, dessen Vertonung
folg der Veranstaltung, von der sich auch die Weill und Hindemith gemeinsam übernom-
Fachkritik beeindruckt zeigte, fasste man den men hatten, die erste am 27. 7. 1929 in der von
Entschluss, Musik dieser Art in den Mittel- der Festivalleitung geplanten Weise als Rund-
punkt des Programms für das Jahr 1929 zu funk-Kantate. Das Werk wurde in einem als
rücken. Aufnahmestudio hergerichteten Raum des
Hinzu kam ein Aufgabenbereich von beson- Kurhauses produziert und mittels Lautspre-
derer Aktualität: Originalkompositionen für cher in umliegende Säle übertragen, so dass
den Rundfunk. Im Einvernehmen mit der seine Eignung für das Medium unter den gege-
Reichs-Rundfunk-Gesellschaft, die als Mitver- benen Bedingungen der Übertragungstechnik
anstalterin beteiligt war und die übertragungs- überprüft werden konnte. Eine zweite Auffüh-
technische Apparatur zur Verfügung stellte, rung fand auf Betreiben B.s am Tag darauf
wurden Kammerorchesterwerke, Vokalmusik statt, diesmal konzertant, auf einem Konzert-
und musikalische Hörspiele in Auftrag gege- podium vor anwesendem Publikum. Auf dem
ben, die stilistisch und technisch für den zweigeteilten Podium demonstrierte B., wie
Rundfunk besonders geeignet sein sollten. Die der Radiohörer ganz im Sinne der Gebrauchs-
Programmpunkte ›Originalkompositionen für musik an der Rundfunkmusik beteiligt werden
den Rundfunk‹ und ›Gemeinschaftsmusik‹ ga- könnte (vgl. Der Lindberghflug / Der Flug der
ben dem Baden-Badener Musikfest des Som- Lindberghs / Der Ozeanflug, BHB 1).
mers 1929 das besondere Gepräge. Die Radio- Zum Programmpunkt ›Gemeinschaftsmu-
kantate Der Lindberghflug und die Gemein- sik / Musik für Liebhaber‹ gehörte das Lehr-
schaftsmusik mit dem Titel Lehrstück beweg- stück von B. und Hindemith, dessen Urauf-
ten sich konzeptionell präzise auf der Linie führung der Baden-Badener Veranstaltung
Der Lindberghflug und Lehrstück 31

zum Abschluss einen handfesten Skandal be- kontrovers das Lehrstück und seine erste Auf-
scherte. So neuartig und provokant sich das führung auch diskutiert worden waren: Die
Werk präsentierte – genau besehen setzte es Formidee ›Gemeinschaftsstück‹ im Sinne kol-
Bestrebungen fort (und spitzte sie zu), die be- lektiver Kunstübung wurde allgemein als
reits zur Baden-Badener Tradition gehörten. fruchtbar und zukunftsweisend empfunden.
Das Programmheft der Veranstaltung kündigte So war es für die Festivalleitung nahe liegend,
das Lehrstück als eine Darbietung »mit Einzel- für das Programm des folgenden Jahres Mu-
stimmen, kleinerem und allgemeinem Chor, siken nach dem Muster des Lehrstücks, kurz:
Liebhaberorchester, Blasmusik, Sprech- und ›Lehrstücke‹, vorzusehen.
Schauspielszenen und einer Filmeinlage« an. Im Programmheft des Baden-Badener Mu-
Wie in Hindemiths Kantate Frau Musica war sikfestes haben sowohl B. als auch Hindemith
die Mitwirkung des Publikums vorgesehen: auf den experimentellen Charakter der Lehr-
Als ›Menge‹ bzw. als ›allgemeiner Chor‹ hatte stück-Aufführung aufmerksam gemacht und
es bestimmte Teile der Partitur mitzusingen. den besonderen Verwendungszweck dieser Ar-
Es war eine große (oratorische) Form von ›Ge- beit erläutert. Solche Begleittexte theoretisch-
meinschaftsmusik‹, ein ›Gemeinschaftsspiel‹, konzeptioneller Art waren unabdingbar, wenn
das ohne die von Hindemith geschaffenen Vor- es darum ging, neue Formen musikalischer
aussetzungen nicht möglich gewesen wäre. Praxis vorzustellen. Hindemith stellte das
Der Text, den B. für Hindemith schrieb, war Lehrstück als Gemeinschaftsspiel in die Reihe
mit seiner locker gefügten Nummernfolge für der Gemeinschaftsmusiken für musizierende
den musikalischen Zweck in besonderem Laien, deren Zweck die gemeinschaftliche
Maße geeignet. Thematisch prägend war B.s Übung war. B. wies in seiner Anmerkung Zum
Gedanke, den im Terminus ›Gemeinschafts- »Lehrstück« auf die fragmentarische Gestalt
musik‹ steckenden Anspruch zum Thema und des Werkes hin und betonte den experimentel-
Untersuchungsobjekt zu machen: ›Gemein- len Charakter der Aufführung. ›Experiment‹
schaft‹ und das Verhältnis des einzelnen zu ihr bedeutete: Erprobung einer neuen Form ästhe-
wird im Lehrstück zum Problem und zum tischer Praxis – einer ›kollektiven Kunst-
Übungsgegenstand (vgl. Lehrstück / Das Bade- übung‹.
ner Lehrstück vom Einverständnis, BHB 1). Weder das Lehrstück noch der Lindbergh-
Mit der Wahl dieser Thematik, die in den spä- flug waren für B. nach den Baden-Badener
teren Lehrstücken aufgegriffen und von Mal Aufführungen abgeschlossene Kapitel. Weill
zu Mal differenzierter reflektiert wird, zielte hatte sich bereits vor der Uraufführung ent-
B. auch auf die naiv-harmonisierende Gemein- schlossen, eine eigene Vertonung des gesam-
schaftsideologie der Musikantengilden, deren ten Lindberghfluges zu komponieren. Die
musikalischer Praxis das Genre die entschei- neue Komposition, am 5. 12. 1929 in der Berli-
dende Anregung verdankte. ner Krolloper uraufgeführt, war kein Hörspiel
Lehrstück war zunächst lediglich ein Werk- mehr; ihre Bestimmung lag in der schulischen
titel. Nichts spricht dafür, dass die Entwick- Verwendung, wie der Komponist im Pro-
lung vom Werktitel zur Typusbezeichnung von grammheft der Uraufführung erläuterte (vgl.
B. geplant war, denn im Frühjahr 1929 gab es Der Lindberghflug / Der Flug der Lindberghs /
keinerlei konzeptionelle Vorstellungen im Der Ozeanflug, BHB 1). Auch B., für den das
Sinne des späteren Spieltypus. Erst seit 1930 Werk Teil seiner radiotheoretischen Reflexio-
hat B. die beiden in Baden-Baden aufgeführten nen blieb, formulierte anlässlich der neuen
Werke dem nun als Genrebezeichnung ver- Vertonung seine Verwendungstheorie erneut.
standenen Terminus ›Lehrstück‹ zugeordnet. In Anmerkungen zum Textbuch, das zur Urauf-
Ausschlaggebend für diese Entwicklung war, führung erschien, akzentuierte er den pädago-
dass das Werk dieses Titels in der Öffentlich- gischen Übungszweck einer Zusammenarbeit
keit sofort als Prototyp einer neuen Form musi- von Rundfunk und Hörer noch stärker als an-
kalischer Praxis aufgefasst wurde. Denn wie lässlich der Baden-Badener Demonstration.
32 Die Lehrstücke

Dieses Zusammenwirken wurde jetzt als He- Seinen unmittelbaren Niederschlag fand
bel zur Veränderung des Rundfunks interpre- dieses strategische Modell in der Konzeption
tiert: Die sich verfestigende einseitige Kom- der Versuche. Der Terminus, unter dem es hier
munikationsstruktur des Mediums sollte auf- diskutiert wurde und in dem sich um 1930 B.s
gebrochen, der Hörer als Übender Produzent politisch-ästhetisches Interesse konzentrierte,
und aktiver Partner des Rundfunks werden. war der des ›Experiments‹, der nun anders
Im Frühjahr 1930 entstand schließlich eine definiert wurde als noch in Baden-Baden.
neue, erheblich veränderte Textfassung. Im Dem ersten Heft der Versuche stellte B. eine
Titel Der Flug der Lindberghs. Ein Radiolehr- programmatische Notiz voran: »Die Publika-
stück für Knaben und Mädchen (erschienen im tion der Versuche erfolgt zu einem Zeitpunkt,
1. Heft der Versuche) wird der Text erstmals als wo gewisse Arbeiten nicht mehr so sehr in-
›Lehrstück‹ bezeichnet, d. h. der Werktitel als dividuelle Erlebnisse sein (Werkcharakter ha-
Typusbegriff verwendet. Beigefügt waren dem ben) sollen, sondern mehr auf die Benutzung
Abdruck wiederum Erläuterungen. (Umgestaltung) bestimmter Institute und Insti-
Die neue Bearbeitungsphase des Textes und tutionen gerichtet sind (Experimentcharakter
die Überlegungen zu seiner Verwendung haben) und zu dem Zweck, die einzelnen sehr
müssen im Kontext der politischen und ästhe- verzweigten Unternehmungen kontinuierlich
tischen Entwicklung B.s seit dem Winter aus ihrem Zusammenhang zu erklären.« (GBA
1929/30 gesehen werden. Sie betraf zwei den 10, S. 1118; bzw. GBA 22, S. 1049)
Lehrstück-Komplex unmittelbar tangierende Experimentellen Charakters sind die Versu-
Bereiche. Zum einen die Marxismus-Rezep- che danach wegen der auf »Benutzung (Umge-
tion, die 1926 mit der ersten Lektüre des Kapi- staltung)« der Apparate zielenden Werkinten-
tal begann und in den folgenden Jahren mit tion. Experimentiert wird also mit Strategien
dem Studium soziologischer und ökonomi- der Veränderung der kulturvermittelnden In-
scher Fragen fortgeführt wurde. In diesem An- stitutionen. Das Experiment hat seinen Zweck
eignungsprozess zeichnete sich insofern ein als bewegendes / umwälzendes Moment im
neuer Entwicklungsschritt ab, als der Wider- Verwertungsprozess; dies begründet jetzt sei-
spruch als bewegendes Moment von Ge- nen ›Gebrauchswert‹.
schichte und die sich daraus ergebenden Mög- Die neue Fassung des Lindberghfluges und
lichkeiten eingreifender, verändernder Praxis die Theorie seiner Verwendung ziehen daraus
nun für B. zentrale Bedeutung gewannen. Da- die Konsequenzen. Im Mittelpunkt des auf 17
mit wurde die Frage relevant, ob und in wel- Nummern erweiterten Lehrstücks Der Flug
cher Weise ästhetische Praxis einen Beitrag der Lindberghs steht nicht mehr die indivi-
zur Veränderung gesellschaftlicher Strukturen duelle Leistung des Fliegerhelden, sondern
leisten konnte. B.s Vorschläge zielten auf eine der in kollektiver Anstrengung erreichte Fort-
Veränderung der kulturvermittelnden Appa- schritt in der Naturbeherrschung (deshalb der
rate (Oper, Schaubühne, Presse, Rundfunk) Plural im Titel). Eingeführt wird auch, was mit
von innen heraus – durch die Entwicklung den Begriffen Kapitalismus- und Ideologiekri-
gleichsam subversiver ästhetischer Strategien. tik zu bezeichnen ist. Eine entsprechende Ent-
Diese Konzeption ging insofern einen Schritt wicklung ist in der zugehörigen Verwendungs-
über die Baden-Badener Projekte hinaus, als theorie zu beobachten. B. übernahm zunächst
der Prozess der Umfunktionierung jetzt im die Anmerkungen zum Lindberghflug aus dem
Kontext der Gesellschaftsveränderung gese- Textbuch vom Dezember 1929, die auf eine
hen wurde: Die Erschütterung der gesell- Veränderung des Rundfunks abzielten, vollzog
schaftlichen Funktion der Apparate, meinte B. nun aber in einem angefügten Passus insofern
jetzt, bedeute eine Erschütterung der Gesell- eine Korrektur, als er die Möglichkeit einer
schaftsstrukturen selbst. Allerdings könne die Veränderung des Rundfunks unter den gege-
Veränderung der Apparate erst mit der Umwäl- benen Voraussetzungen verneinte: Sie sei nur
zung der Gesellschaft vollständig gelingen. denkbar im Zuge einer Veränderung der Ge-
samtgesellschaft.
Der Lindberghflug und Lehrstück 33

Im Spätsommer 1930 entstand auch eine Der Jasager und Die Maßnahme
neue Textfassung des Lehrstücks: von sieben
auf elf Nummern erweitert, im Einzelnen
verändert und erheblich radikaler in der poli- 1930 wurde das Musikfest erneut verlegt, dies-
tischen Tendenz. Ihr Titel: Das Badener Lehr- mal nach Berlin. Nach dem Skandal, den die
stück vom Einverständnis (erschienen im De- Uraufführung des Lehrstücks verursacht hatte,
zember 1930 im 2. Heft der Versuche). Diese entzogen die Stadtväter der Veranstaltung die
Fassung blieb unvertont; sie hätte eine völlige finanzielle Unterstützung, so dass sie im fol-
Neuvertonung erfordert, die Hindemith ab- genden Jahr nicht mehr in Baden-Baden statt-
lehnte. Differenzen über das Verwendungs- finden konnte. Unter der Bezeichnung ›Neue
konzept waren zwischen Textautor und Kom- Musik Berlin 1930‹ fand das Festival seine
ponist schon bald nach der Baden-Badener (vorerst letzte) Fortsetzung. Ein Programm-
Aufführung des Lehrstücks zutage getreten. schwerpunkt war Musik für pädagogische
Hindemith hatte der Partitur, die Ende Okto- Zwecke. Die Tradition der Pflege von Musik
ber 1929 gedruckt vorlag, eine Spielanleitung für Liebhaber und Laienkreise sollte mit Blick
beigefügt, in der er den Übenden Text und auf die Schule erweitert werden. B./Hinde-
Musik zu beliebiger Verwendung und Verände- miths Lehrstück stand hierfür als Formmodell
rung auslieferte (vgl. Lehrstück / Das Badener zur Verfügung. ›Lehrstücke‹, Gemeinschafts-
Lehrstück vom Einverständnis, BHB 1). Dass stücke, szenische Stücke mit Musik für Kinder
der politisch-pädagogische Gehalt des Textes und Jugendliche sollten nun angeregt und er-
dabei marginal werden musste, liegt auf der probt werden. In Berlin fand die Bewegung für
Hand. Im Herbst 1930, anlässlich der Veröf- Gebrauchs- und Gemeinschaftsmusik An-
fentlichung der Neufassung, wies B. in einer schluss an die Schulmusikbewegung. In der
Anmerkung Hindemiths Spielanleitung als Schule war ein Bedarf an moderner Musik vor-
»abwegig« zurück (GBA 24, S. 90). Für den handen. Bemühungen, junge Menschen für
Vollblutmusiker Hindemith war der Text kaum neue Musik zu gewinnen, konnten an die Ar-
mehr als ein Anlass für Musik; das Lehrstück beit der Reformpädagogik und die Erfolge der
hatte allein den Zweck, eine gemeinschaft- musikpädagogischen Bewegung der 20er-
liche Musikübung zu ermöglichen. Aus B.s Jahre anknüpfen, die von der Jugendbewe-
Perspektive war gemeinschaftliches Musizie- gung vielfache Anregungen und durch Leo Ke-
ren dagegen allenfalls ein Mittel zu einem wei- stenbergs Reformen des Musikunterrichts
tergehenden Zweck. Seine Anmerkung zum auch administrative Förderung erfahren hatte.
Badener Lehrstück enthält implizit die Forde- Die Rolle, die der schöpferischen Selbsttätig-
rung nach Organisation politisch bewusster keit und spielerischen Produktivität des Kin-
Kollektive, auch mit den Mitteln einer reflek- des, auch dem Gemeinschaftserlebnis in der
tierten Gebrauchs- und Gemeinschaftskunst. Gruppe beigemessen wurde, begünstigte die
So existieren zwei erheblich differierende Entwicklung des musikalischen Schulspiels.
Textfassungen und zwei divergierende Ver- Dabei lag es in der Logik des pädagogischen
wendungstheorien, die beide auf dem Ge- Konzepts, dass das übende Spiel wichtiger war
brauchskunstkonzept beruhen, aber – den un- als eine eventuelle Aufführung vor Publikum.
terschiedlichen Interessen von Autor und Während der Tage der ›Neuen Musik Berlin
Komponist entsprechend – den Übungsvor- 1930‹ im Juni des Jahres kamen eine Reihe
gang und -zweck ganz unterschiedlich be- von Werken zur Aufführung, die entweder aus-
schreiben (vgl. Lehrstück und Pädagogik auf drücklich als ›Lehrstücke‹ angekündigt waren
dem Theater, BHB 4). oder sich deutlich an B./Hindemiths Modell
orientierten und von der Kritik diesem Typus
zugerechnet wurden. Das Genre erlebte eine
kräftige, wenn auch kurze Blüte. Seit Sommer
1930 gab es auch wiederholt Versuche, das
34 Die Lehrstücke

Lehrstück als eigenständigen Typus zu defi- gramm zurück; ihre Uraufführung fand daher
nieren. Die Grenzen zu benachbarten Gattun- außerhalb des Festivals statt. Das Programm-
gen, etwa zu Kantate, Oratorium und Schul- heft zur Aufführung brachte neben dem Ab-
oper, waren fließend. Begriffe wie ›Lehrspiel‹ druck des Textes Weills Beitrag Über meine
und ›Lehrkantate‹ kamen in Mode, Formen Schuloper »Der Jasager« (Weill, S. 61–63). B.
des musikalischen Lehrspiels für Kinder und äußerte sich diesmal nicht über die gemein-
Jugendliche entstanden. Das Lehrstück-Mo- same Arbeit; er überließ es dem Komponisten,
dell schien sich wegen seiner pädagogischen die Theorie der Verwendung der Schuloper als
Intention für die schulische Verwendung be- Lehrstück zu formulieren.
sonders anzubieten. Die von Schülern verschiedener Berliner
B./Weills Schuloper Der Jasager entstand Schulen realisierte Uraufführung am 23. 6.
als Beitrag für die Berliner Veranstaltung. Als 1930 hatte eine ungewöhnliche, überwiegend
Gebrauchsmusik für Laien steht das Lehrstück positive Resonanz in der Presse. Der Jasager,
vom Jasager, wie der Titel ursprünglich lau- die erste Schuloper des 20. Jh.s, war ein gro-
tete, erkennbar in der Baden-Badener Tradi- ßer Erfolg; sie wurde vielfach nachgeahmt und
tion. Es knüpft jedoch nicht an die oratorische leitete eine Renaissance der Gattung ein. Es
Form des Lehrstücks an, sondern bringt als gab allerdings auch kritische Stimmen, die ein
kleine musikdramatische Form mit geschlos- Motivationsdefizit in der Fabel bemängelten.
sener Fabel neue Formaspekte in den Spiel- B. nahm dies zum Anlass, eine neue Textfas-
typus ein. Der Text, auf Veranlassung Weills sung herzustellen. Dabei ging er von Vorschlä-
um die Jahreswende 1929/30 entstanden, hat gen aus, die Schüler einer Berliner Schule ge-
wie das Lehrstück das Verhältnis von Indivi- macht hatten; dort wurde die Anfang 1931 ent-
duum und Gemeinschaft zum Thema – in einer standene Neufassung im Mai des Jahres auch
aufs Äußerste zugespitzten Gestalt: Es geht um erstmals aufgeführt.
das Einverständnis eines Knaben mit seiner Konnte die erste Fassung des Jasager (GBA
Opferung im Interesse der Gemeinschaft (vgl. 3, S. 47–55) den Eindruck vermitteln, es gehe
Der Jasager / Der Neinsager, BHB 1). Als um blinde Unterwerfung unter eine Konven-
Thema einer Schuloper war die Gemein- tion, so ist das Einverständnis des Knaben mit
schaftsidee besonders geeignet, weil hier päd- seiner Opferung in der zweiten Fassung
agogisches Motiv und Verwendungszweck (S. 57–65) so motiviert, dass seine Unvermeid-
(Gemeinschaftsmusik für den schulischen Ge- barkeit einsehbar wird. Dieser Effekt wurde
brauch) zusammenfielen. durch vergleichsweise geringfügige Textände-
Die Fabel des Jasager war (lange vor der für rungen und einige Ergänzungen erzielt. Aus
den Juni 1930 geplanten Uraufführung) bei der Kritik an der ersten Fassung zog B. eine
einigen Freunden B.s, vor allem im Kreis um weitere Konsequenz: Er fügte der 2. Fassung
Eisler, auf Ablehnung gestoßen. Deren ver- des Jasager einen Neinsager hinzu, beruhend
nichtende Kritik veranlasste B., sofort ein Ge- auf der Fabelkonstruktion der ersten Fassung.
genstück zu entwerfen. Unter dem Stichwort Hier verweigert der betroffene Knabe sein
Der Jasager (Konkretisierung) entstanden be- Einverständnis mit einer Maßnahme, deren
reits im Frühjahr 1930 der Plan und erste Ent- Notwendigkeit nicht einzusehen ist. Beide
würfe zum Lehrstück Die Maßnahme (vgl. Die Texte, Der Jasager / 2. Fassung und Der Nein-
Maßnahme, BHB 1). Beide Arbeiten, die von sager, die komplementär aufeinander bezogen
Weill vertonte Schuloper und das von Eisler zu sind, erschienen im Herbst 1931 im 4. Heft der
komponierende Gegenstück, sollten zusam- Versuche mit der Notiz B.s: »Die zwei kleinen
men während der Tage der ›Neuen Musik Ber- Stücke sollten womöglich nicht eins ohne das
lin 1930‹ aufgeführt werden. Dazu kam es je- andere aufgeführt werden.« (S. 58) Der Nein-
doch nicht. Nach einer Kontroverse mit der sager blieb damals unvertont.
Festivalleitung wegen der Maßnahme zogen B. In der Arbeit an der Maßnahme seit dem
und Weill auch den Jasager aus dem Pro- Frühjahr 1930 fand B.s politische und künst-
Der Jasager und Die Maßnahme 35

lerische Entwicklung ihren deutlichsten Nie- erschien. Dem Text waren Anmerkungen bei-
derschlag. In dem in enger Abstimmung mit gefügt, in denen B. und Eisler politische Fra-
Eisler entstandenen Lehrstück wird das gen erläuterten und ansatzweise eine Verwen-
Thema der Schuloper vom Jasager in einen dungstheorie formulierten – ganz im Sinne des
politischen Kontext übertragen. Die aus der Gebrauchsmusikkonzeptes, wonach der pri-
Schuloper übernommene Fabelstruktur wird märe Zweck einer Aufführung in der übenden
zur Rahmenkonstruktion und zum Vehikel für Auseinandersetzung bestand (vgl. Lehrstück
den Transport von Inhalten politisch-takti- und Pädagogik auf dem Theater, BHB 4).
scher Art. Die Struktur der Maßnahme ist des-
halb komplizierter und vielschichtiger als die
des Jasager; sie steht der oratorischen Form
des Lehrstücks näher als der Schuloper. Die Ausnahme und die Regel,
Eislers Bemühungen liefen damals auf die Die Horatier und die Kuriatier
inhaltliche und musikalische Aktualisierung
der Arbeitermusik hinaus. Das Schlagwort da-
für lautete: ›Revolutionierung des Arbeiter- Das seit 1930 entstandene Lehrstück Die Aus-
chorgesangs‹. Hierzu bedurfte es neuer Kom- nahme und die Regel, von B. selbst nie zur
positionen und neuer musikalischer Vermitt- Aufführung gebracht, nimmt unter den Wer-
lungsformen. Das politische Lehrstück war ken dieses Genres in mehrfacher Hinsicht eine
nach Eislers Auffassung ein entscheidender Sonderstellung ein. Die Entstehungs- und Ar-
Schritt auf diesem Weg. Der politisch-agitato- beitssituation war eine andere als im Falle der
rische Gestus der Maßnahme richtete sich an ersten vier Lehrstücke. B. schrieb den Text
ein zuhörendes Publikum; das Lehrstück war weder für einen konkreten musikalischen
jedoch ›Gebrauchsmusik‹, insofern sein pri- Zweck, noch in Zusammenarbeit mit einem
märer Zweck im Gebrauch durch die Singen- Komponisten. Die ursprüngliche Konzeption
den / Spielenden selbst lag. Da sein Übungs- sah kein Lehrstück, sondern ein Theaterstück
ziel einen politischen Grundkonsens voraus- vor. Bemerkenswert ist, dass die Einführung
setzte, war es ›Gemeinschaftsmusik‹, d. h. der Typusbezeichnung ›Lehrstück‹ gleichzei-
Gebrauchsmusik für eine Gemeinschaft tig mit der Einführung eines Chores erfolgte.
Gleichgesinnter, und zwar der Zweckbestim- Erst durch den Chor, der die Einbeziehung
mung wie dem Inhalt nach; denn es geht in der einer größeren Anzahl von Laiensängern in
Maßnahme um das Selbstverständnis eines die Produktion ermöglichte, wird das Stück
Kollektivs (der Partei) und um das Verhältnis zum Lehrstück. Um 1934 entstand eine Text-
des einzelnen zum Ganzen (vgl. Die Maß- fassung mit einem zweigeteilten Chor: Ein
nahme, BHB 1). ›rechter‹ und ein ›linker‹ Chor kommentieren
Zugleich bot die Realisierung des Lehr- die Spielvorgänge aus politisch entgegenge-
stücks »die technischen Möglichkeiten der setzten Perspektiven (vgl. Die Ausnahme und
Veränderung eines Konzertes in ein politisches die Regel, BHB 1; ferner Krabiel, S. 240–258).
Meeting« (Eisler, S. 224). Wie die Kritik bestä- Diese Chorfassung zeigt strukturell die größte
tigte, war davon etwas zu spüren bei der von Nähe zum Typus, wie er mit dem Badener
drei Arbeiterchören getragenen Uraufführung Lehrstück und der Maßnahme realisiert wor-
der Maßnahme am 13. 12. 1930 in der Berliner den war.
Philharmonie. Anders als Die Ausnahme und die Regel wa-
Gegen den Text des Lehrstücks wurde von ren Die Horatier und die Kuriatier (1935) von
bürgerlich-konservativen Kritikern heftig po- vornherein als Lehrstück geplant. Die Entste-
lemisiert, aber auch von marxistischer Seite hungssituation, das Typuskonzept und der vor-
gab es Einwände. Das Ergebnis der Auswer- gesehene Verwendungszweck waren bei Be-
tung dieser Kritik war eine neue Textfassung, ginn der Arbeit die von den ersten Lehrstü-
die im Herbst 1931 im 4. Heft der Versuche cken her vertrauten (vgl. Die Horatier und die
36 Die Lehrstücke

Kuriatier, BHB 1). Das Projekt konnte damals ter auch der so verwendete Lehrstückbegriff in
in der geplanten Weise nicht realisiert wer- die Kritik geraten. Dieses Verdikt prägte in der
den; das Lehrstück blieb unvertont, die Ver- DDR bis in die 60er-Jahre auch die Bewertung
öffentlichung des Textes in der Moskauer Exil- der Lehrstücke B. s. Dass diese einen Typus
zeitschrift Internationale Literatur fand kei- ganz anderer Herkunft und eigener Art reprä-
nerlei Resonanz. sentierten, blieb lange Zeit unbemerkt.
Zahlreiche Fakten und Zeugnisse belegen
B.s fortdauerndes Interesse am Spieltypus
auch in den Jahren des Exils: Die Horatier und
Kontinuität und Entwicklung Kuriatier entstanden und wurden publiziert,
1931–1956 Ausnahme und Regel wurde bearbeitet und
veröffentlicht, wiederholt bemühte sich B. um
Vertonung und Aufführung. Eine große Zahl
Folgenreich für die Rezeption der Lehrstücke theoretischer Belege dokumentiert auch die
seit den 30er-Jahren war ein Missverständnis, Kontinuität in der konzeptionellen Bestim-
das die griffige, aber vieldeutige Typusbe- mung des Lehrstücks (vgl. Krabiel, S. 285–
zeichnung selbst provoziert hatte. Unter 294; und Lehrstück und Theorie der Pädago-
›Lehrstücken‹ verstand man um 1931/32 viel- gien, BHB 4). Wenn B.s Lehrstückarbeit im
fach eine Form moralischer Unterweisung in Exil gegenüber der Produktion für das Theater
episch-dramatischer Gestalt. Der Ursprung in den Hintergrund trat, so deshalb, weil alle
des Genres in der Gebrauchsmusikbewegung Voraussetzungen für eine Fortführung der
war allenfalls Musikkritikern und -pädagogen Lehrstückexperimente fehlten. Da die Lehr-
vertraut; in der Debatte um Formen des Zeit- stücke als Auftragsarbeiten entstanden, auf ei-
theaters und einer aktuellen Theaterpraxis nen konkreten Zweck und einen bestimmten
wusste man davon in der Regel nichts. So hielt Bedarf zugeschnitten und für spezielle Ziel-
man sich an das, was das Wort selbst auszu- gruppen gedacht waren, kam auch ihre Pro-
sagen schien, zumal es sich zur Bezeichnung duktion ›auf Vorrat‹ und für die Schublade
gewisser Tendenzen im zeitgenössischen nicht in Betracht. An der Unterscheidung der
Theater anbot. Anknüpfend an diesen Wort- Lehrstückexperimente von der Theaterarbeit
gebrauch, fasste die spätere Forschung den Be- hielt B. ebenso fest wie an den grundlegenden
griff als Synonym für (politisches) Lehrtheater Bestimmungen des Lehrstücks: am musikali-
auf, das entweder der Tradition des Arbeiter- schen Kontext, an der Auffassung des Lehr-
theaters oder des Ordens- und Schuldramas stücks als eigenständigen Spieltypus, der auf
im 17. Jh. zugerechnet wurde. Insbesondere die Beeinflussung des Denkens der Beteiligten
für Stücke dezidiert lehrhaften Charakters abzielte, an der Definition als Kunst für Produ-
wurde der bald zum Modewort avancierende zenten (für die an der Ausführung aktiv Be-
Begriff reklamiert: für Thesen- und Schu- teiligten), weniger für Konsumenten (die nur
lungsstücke, für Formen politisch-agitatori- Zuschauenden / Zuhörenden).
scher Dramatik. Vor allem Beispiel-Stücke, Auch nach der Rückkehr aus dem Exil war
Lehrbeispiele geschichtlichen Inhalts in dra- B.s Interesse am Lehrstück erheblich größer,
matisierter Form, wurden unter den Begriff als lange Zeit wahrgenommen wurde. Immer-
subsumiert (vgl. Krabiel, S. 97 f.). In der Wort- hin hielt er seine Lehrstückproduktion für
bedeutung ›Lehrstück = Lehrbeispiel‹ ist der wichtig genug, sie seit 1950 wenigstens dem
Begriff in den allgemeinen Sprachgebrauch Lesepublikum wieder zugänglich zu machen.
eingegangen. Auch bemühte er sich sehr um die Vertonung
In dem Maße, in dem sich in der marxisti- und eine Modellinszenierung der Horatier
schen Diskussion der 30er-Jahre die Doktrin und Kuriatier. Von den Stückplänen der 50er-
des sozialistischen Realismus durchsetzte, Jahre war zumindest einer unzweideutig als
musste mit dem politisch-agitatorischen Thea- Lehrstück definiert: das 1953 im Zusammen-
Kontinuität und Entwicklung 1931–1956 37

hang mit den Ereignissen des 17. Juni entstan- lektueller Provokation einkalkuliert, bleibt B.s
dene Projekt Die neue Sonne, in dem das Pro- Bemerkung im Kontext des Gesprächs irritie-
blem der Loyalität gegenüber einem neuen, rend und rätselhaft. Am ehesten plausibel er-
aber unvollkommenen Staat diskutiert werden scheint die Äußerung, wenn man davon aus-
sollte (vgl. Steinweg 1976, S. 194). Dass der geht, dass die Maßnahme stellvertretend für
Plan über das Entwurfsstadium nicht hinaus- den Spieltypus zitiert wird – im Sinne der
gelangte, hat mit B.s generellen Problemen bei Form musikalisch-theatralischer Gebrauchs-
der Gestaltung der DDR-Realität zu tun, auch kunst für Laien. Dies scheint es gewesen zu
mit den fehlenden Voraussetzungen für eine sein, was B. für die Zukunft ins Gespräch brin-
politische Gebrauchskunst. Der Faschismus gen wollte: die Aktivierung des Laien zu ei-
hatte die Traditionen der Arbeiterkulturbewe- gener Kunst-Übung, eine ebenso politisch-
gung in Deutschland liquidiert; auch das schu- pädagogische wie ästhetisch vergnügliche und
lische Musizieren befand sich nicht mehr auf genussvolle Angelegenheit, die die schöpferi-
dem Niveau der 20er-Jahre. Von der Kultur- schen Fähigkeiten der Beteiligten (nicht zu-
praxis der Weimarer Zeit war im Nachkriegs- letzt ihre ästhetisch-sinnliche Genussfähig-
deutschland wenig, von der Gebrauchsmusik- keit) entwickeln, zumindest den Anspruch
bewegung und den Lehrstückexperimenten so darauf manifestieren könnte. Wenn dem so ist
gut wie nichts bekannt. Für B. rückte die Thea- (der Gesprächszusammenhang lässt eine an-
terarbeit zwangsläufig in den Vordergrund. dere Deutung kaum zu), dann wäre am Ende
Sein episch-dialektisches Theater in der DDR der konzeptionellen Entwicklung des Typus
und international durchzusetzen, war zunächst noch einmal eine Akzentverschiebung zu kon-
die vordringliche Aufgabe. statieren: hin zum ästhetischen Vergnügen an
Während die Chancen für eine Lehrstück- der Kunst-Übung, das den pädagogischen
praxis in den 50er-Jahren gering waren, schien Aspekt nicht zu beeinträchtigen brauchte. Dies
B. durchaus eine Zukunftsperspektive für den korrespondierte beispielsweise mit B.s be-
Spieltypus zu sehen. Wenige Tage vor seinem kanntem Widerruf seiner früheren Absicht,
Tode soll er auf die Frage, welches Stück er »aus dem Reich des Wohlgefälligen zu emi-
»für die Form des Theaters der Zukunft« halte, grieren«, in der Vorrede zum Kleinen Organon
ohne Zögern die Maßnahme genannt haben für das Theater (GBA 23, S. 66). Das Moment
(Wekwerth, S. 78). Ausgangspunkt des Ge- von Disziplinierung und die Ausrichtung am
sprächs war Eislers Feststellung, es sei B. in Interesse des Kollektivs, die um 1930 eine
den Tagen der Kommune zum ersten Mal ge- Rolle spielten, haben angesichts der radikal
lungen, »›kulinarische Genüsse‹ ohne Polemik veränderten Voraussetzungen nun keinerlei
zu beschreiben« (S. 77). Von der »›verschwen- Bedeutung mehr. In der DDR war ein als Ar-
derischen‹ neuen Klasse« war dann die Rede – beiter- und Bauernstaat deklariertes Gemein-
ein Gedanke, der Brecht so gut gefiel, »daß er wesen etabliert worden, dessen Deformatio-
meinte, man müsse das in Zukunft beschrei- nen längst offenbar waren, zu dessen Defiziten
ben; Genüsse als Klassenkampf, Luxus als Re- auch fehlende Möglichkeiten zur Befriedigung
volution, Schnittlauch am Salat als Klassen- der sinnlichen Bedürfnisse der Massen gehör-
bewußtsein« (S. 78). Auf die Frage, wie das ten. B.s Bemerkungen vom August 1956 setz-
Theater der Zukunft aussehen werde, wenn es ten gegen die Anzeichen von Stagnation in
»Genüsse zu Kampfposten machen« wolle, Politik und Gesellschaft ein Konzept perma-
habe B. auf die Maßnahme verwiesen. Nicht nenter Revolutionierung, das neue Perspekti-
auf ein Theaterstück, sondern auf ein Lehr- ven für den Spieltypus Lehrstück hätte eröff-
stück, das keineswegs »Genüsse als Klassen- nen können.
kampf« in Szene setzt – eher das Gegenteil: die
Notwendigkeit revolutionärer Disziplin, der
Kontrolle der Affekte durch politische Ratio-
nalität. Selbst wenn man ein Moment intel-
38 Die Lehrstücke

Zur wissenschaftlichen Rezeption risch begrüßt und als eine die B.-Forschung
umwälzende Entdeckung gefeiert.
Steinwegs Lehrstücktheorie, die der älteren
In der B.-Literatur der 50er- und 60er-Jahre Beschreibung des Genres diametral entgegen-
fanden die Lehrstücke nur wenig Beachtung. stand, verband mit dieser ein gemeinsamer
Sie standen ganz im Schatten der großen Irrtum. Beide gingen von der Auffassung aus,
Theaterstücke aus der Zeit des Exils, die nach es handle sich um eine besondere Form von
dem zweiten Weltkrieg das Bild des Dramati- Theater. Tatsächlich ist das Lehrstück ein
kers B. in der Öffentlichkeit prägten. Der Ter- Genre anderer Herkunft und Typuszugehörig-
minus ›Lehrstück‹ stand (und steht im all- keit. Entstehung und Entwicklung der Lehr-
gemeinen Sprachgebrauch bis heute) für das stücke zeigen, dass für eine Aufwertung zur
politische Thesenstück, d. h. für eine dra- ›progressiveren‹ Theaterform so wenig Anlass
maturgisch simple, didaktisch-spröde Form besteht wie für die Abwertung der Lehrstück-
politischen Lehrtheaters, die im Zuge der arbeit zur Entwicklungsphase auf B.s Weg zur
Fortentwicklung des epischen / nichtaristote- späteren Theaterproduktion.
lischen Theaters seit Mitte der 30er-Jahre Die einschlägige musikwissenschaftliche Li-
obsolet geworden sei. Die Lehrstücke galten teratur hat die Lehrstücke auch seit längerem
deshalb als konzeptionell überholte Produkte berücksichtigt (vgl. Betz; Dümling; Lucchesi/
einer kurzen Übergangsphase in B.s drama- Shull u. a.). Ihre Ergebnisse blieben jedoch
tischem Schaffen. ohne Einfluss auf germanistische Werkanaly-
Diesem Typusverständnis hat Reiner Stein- sen, insbesondere auf die von Steinweg ange-
weg Anfang der 70er-Jahre entschieden wi- stoßene Lehrstück-Debatte. An dieser hat sich
dersprochen. Nach seiner Auffassung reprä- die Musikwissenschaft weder beteiligt, noch
sentierten eben jene kleinen Lehrstücke die hat sie eine eigene, musikorientierte Typusbe-
aktuellste und zukunftweisende Gestalt des schreibung vorgelegt.
Brecht-Theaters. »Nicht das epische Schau- Unterschiedlich beurteilt wird bis heute die
stück, sondern das Lehrstück kommt als Mo- Aktualität der Lehrstücke und des Lehrstück-
dell für ein sozialistisches Theater in einer Konzepts. Diese Frage ist seit der Bestimmung
sozialistischen Gesellschaft in Frage«, lautete des Genres als (vokal-)musikalischer Spiel-
seine verblüffende These (Steinweg 1971, typus Anfang der 90er-Jahre (Krabiel) anders
S. 103). Denn im Lehrstück gab es keine Zu- zu beantworten als von Steinweg. Sie kann
schauer mehr, nur Spielende. Im Lehrstück nicht abgehoben vom Entstehungs- und Ver-
war gewissermaßen die ›Arbeitsteilung‹ im wendungszusammenhang diskutiert werden,
Theater, die Trennung in Spielende und Zu- durch den das Lehrstück seine typische Prä-
schauende, aufgehoben. Ausgehend von der gung erhielt. Die Frage müsste deshalb lauten:
›Basisregel: Spielen für sich selber‹, bot Stein- Sind die Voraussetzungen und ist ein Bedarf
weg eine ausgearbeitete, systematisch ange- für eine anspruchsvolle politisch-pädagogi-
legte Spieltheorie, die als progressivstes Mo- sche und ›experimentelle‹ Gebrauchsmusik
dell einer politisch-ästhetischen Erziehung für Laien gegenwärtig gegeben? Heute und
und als konkret-utopischer Entwurf verstan- für die absehbare Zukunft wird man sie eher
den wurde, der seine volle Entfaltung erst in skeptisch beantworten müssen, was die Ver-
einer künftigen sozialistischen Gesellschaft wendbarkeit einzelner Lehrstücktexte oder
erfahren sollte. Wer die späten Stücke B.s zur -passagen zu anderen Zwecken – etwa in der
›Klassik‹ hochstilisiere, schrieb Steinweg, der Theaterpädagogik – selbstverständlich nicht
verschütte »den revolutionären Ansatz für ein ausschließt.
Theater der Zukunft, wie es mit dem Typus
Lehrstück gegeben« sei (S. 116; vgl. auch
Steinweg). In der Aufbruchsstimmung der frü-
hen 70er-Jahre wurden diese Thesen eupho-
39

Literatur: heißen: nicht auf der Bühne dichten, sondern


Betz, Albrecht: Hanns Eisler. Musik einer Zeit, die mit der Bühne«, schrieb Max Frisch 1948 in
sich eben bildet. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Mün- sein Tagebuch (S. 265) und verwies damit auf
chen 1976. – Dümling. – Eisler, Hanns: Gesammelte die Plurimedialität des dramatischen Textes,
Werke. Bd.III/1: Musik und Politik. Schriften der, wenn er in erster Linie für die Aufführung
1924–1948. Hg. v. Günter Mayer. Leipzig 1973. – verfasst wird, bereits viele Elemente enthält,
Fuhr, Werner: Proletarische Musik in Deutschland
die in der Inszenierung außersprachlich umge-
1928–1933. Göppingen 1977. – Hindemith, Paul:
Sämtliche Werke. Bd. I/6: Szenische Versuche. Hg. v. setzt werden: Hinweise auf die Figuren, ihre
Rudolf Stephan. Mainz 1982. – Kolland, Dorothea: Arrangements, Gestik, Mimik, Haltungen, Ak-
Die Jugendmusikbewegung. ›Gemeinschaftsmusik‹ tionen, dann auf den Raum, seine Aufteilung,
– Theorie und Praxis. Stuttgart 1979. – Krabiel. – Beleuchtung, Projektionen, Requisiten, Ko-
Ders.: Das Lehrstück – ein mißverstandenes Genre. stüme, schließlich auf das Akustische, auf Ge-
In: Der Deutschunterricht 46 (1994), H. 6, S. 8–16. –
räusche, Musik, auf Stimmlagen und Gesang.
Ders.: Literaturwissenschaft oder Weltveränderung:
Bemerkungen zu Reiner Steinwegs Kritik. In: Brecht Diese Hinweise finden sich sowohl im Haupt-
Yb. 21 (1996), S. 275–287. – Ders.: Die Lehrstücke text, als welcher der ›eigentliche‹ gesprochene
Brechts als editorisches Problem. In: Dürr, Walther (poetische) Text des Dramas gilt, als auch im
[u. a.](Hg.): Der Text im musikalischen Werk. Edi- Nebentext, zu dem in erster Linie die Bühnen-
tionsprobleme aus musikwissenschaftlicher und lite- anweisungen zählen, dann aber auch alle Ti-
raturwissenschaftlicher Sicht. Beihefte zur ZfdPh.,
tel, einschließlich des Dramentitels selbst,
H. 8 (1998), S. 331–345. – Lindner, Burkhardt: Das
Messer und die Schrift: Für die Revision der ›Lehr- Vorwörter, Akt- und Szenenangaben, Perso-
stückperiode‹. In: BrechtYb. 18 (1993), S. 43–57. – nenverzeichnis, Markierungen der jeweiligen
Lucchesi/Shull. – Schoeps, Karl-Heinz: Brecht’s Sprecher und weitere mögliche Angaben wie
Lehrstücke: A Laboratory for Epic and Dialectic z. B. Mottos (vgl. Pfister, S. 35). Kommt der
Theater. In: Mews, Siegfried (Hg.): A Bertolt Brecht Text auf die Bühne, so benötigt er die Zusam-
Reference Companion. Westport/Connecticut, Lon-
menarbeit zunächst mit dem »Apparat« (GBA
don 1997, S. 70–87. – Steinweg, Reiner: Das Lehr-
stück – ein Modell des sozialistischen Theaters. 24, S. 75), der Institution Theater, mit all dem,
Brechts Lehrstücktheorie. In: Alternative 14 (1971), was dazu gehört: von der Putzfrau, den Garde-
Nr. 78/79, S. 102–116. – Steinweg. – Steinweg, Rei- robieren bis zum Intendanten, von den Räum-
ner (Hg.): Brechts Modell der Lehrstücke. Zeug- lichkeiten bis zu allem technischen Zubehör
nisse, Diskussion, Erfahrungen. Frankfurt a. M. und dem geschulten Personal. Für die Insze-
1976. – Ders.: Re-Konstruktion, Irrtum, Entwick-
nierung ist dann überdies das Zusammenwir-
lung oder Denken fürs Museum: Eine Antwort auf
Klaus Krabiel. In: BrechtYb. 20 (1995), S. 217–237. – ken verschiedener Künste nötig: die Dichtung
Weill, Kurt: Ausgewählte Schriften. Hg. v. David als ›Vorgabe‹, die Regie, sekundiert von der
Drew. Frankfurt a. M. 1975. – Wekwerth, Manfred: Dramaturgie, das Schauspielen, der Bühnen-
Schriften. Arbeit mit Brecht. Berlin 1975. bau, das Kostüm- und Maskenbilden, die Be-
Klaus-Dieter Krabiel leuchtung sowie, wenn nicht durch die Regie
abgedeckt, die Choreographie. Bei B. kommt
als wesentliche weitere Kunst die Musik
hinzu, die mit Ausnahme von Die Gewehre der
Frau Carrar und einem Teil der Einakter, für
alle Stücke vorgesehen ist. Sie ist analog zur
Praktische Theaterarbeit Dichtkunst mit der Komposition (Noten) als
›Vorgabe‹ und mit der Ausführung durch die
Musiker beteiligt. Was durch die Zusammen-
Plurimedialität und Synästhesie arbeit der Künste und des Apparats entsteht,
ist eine plurimediale Kunstform, die auf das
Publikum synästhetisch wirkt und entspre-
»Wer auf die Bühne tritt und die Bühne nicht chend wahrgenommen werden muss. Ihre
braucht, hat sie gegen sich. Brauchen würde weitere entscheidende Eigenart liegt, im Ge-
40 Praktische Theaterarbeit

gensatz zum Film, darin, dass in jeder einzel- die Texte nach den Intentionen des Autors,
nen Vorstellung der Produktionsprozess mit nach ›Aussagen‹ vorwiegend weltanschauli-
dem Rezeptionsprozess simultan abläuft und cher Art sowie nach der ›eigentlichen‹ Bedeu-
sich als Zwei-Wege-Kommunikation gegensei- tung (Sinn) zu befragen, als gäbe es diese in
tig beeinflusst bzw. beeinflussen kann, so dass großer Dichtung, gehen an der spezifischen
es zu jeder Inszenierung, und sei sie durch die Eigenart von B.s Dramen-Texten (und nicht
Regie noch so rigide vorgegeben, je nach der nur diesen) grundsätzlich vorbei (was nicht
Disposition des Theaterpersonals und des Pu- zuletzt auch für einen Teil der B.-Forschung
blikums nur ›individuelle‹ Aufführungen gibt. gilt). »Wirkliche Theaterstücke sind über-
Die Simultaneität von Produktion und Rezep- haupt nur aufgeführt zu verstehen« (Brecht,
tion legt es von vornherein nahe – als Spezifi- S. 269), betonte B. im Juli 1926 in einem Ge-
kum des Theaters und ohne die »Verfremdun- spräch mit dem Journalisten Bernard Guille-
gen« B.s bemühen zu müssen –, die Zuschauer min. Es geht folglich darum, wie Werner
durch Ansprechen, Überspielen der Rampe Hecht der B.-Forschung (weitgehend unge-
usw. ins Spiel einzubeziehen. Dies galt be- hört) empfohlen hat, »die Theateraufführung
sonders für eine Zeit, in der das Kino als neue als einen für die Interpretation des Stückes
Massenkunst die traditionelle Illusionierung wesentlichen Prozeß bewußt zu machen«
des Theaters übernommen hatte. Das Theater (Hecht 1985, S. 35), wie umgekehrt für den
war folglich herausgefordert, seine eigenen Produktionsprozess gilt: »Allen nicht aufge-
Möglichkeiten zu nutzen. Es konnte seine Auf- führten Stücken fehlt dies und das. Ohne das
gabe nicht darin sehen, dem Film Paroli bieten Ausprobieren durch eine Aufführung kann
zu wollen, sondern darin, zu demonstrieren, kein Stück fertiggestellt werden.« (Journal,
dass es über andere und konkurrenzlose Mittel 11. 5. 1942; GBA 27, S. 93)
sowie Techniken als der Film verfügte. Wenn
B. forderte, auf der Bühne zu zeigen, dass
gespielt und das Theater als inszeniertes
Theater vorgeführt wird, zog er nur die längst Theaterpraktische Hinweise im
fällige und zeitgemäße Konsequenz aus der Dramen-Text
technischen Entwicklung neuer Kunstformen
in der industriellen Massengesellschaft. Darin
dürfte auch der eigentliche Grund für den Dass B.s Texte (wie Dramen von anderen Au-
weltweiten Erfolg des epischen Theaters B.s toren auch) in der Regel viele Vorgaben ent-
zu finden sein und weniger in dessen ›Theo- halten, die auf ihre praktische Umsetzung, und
rie‹. zwar in seinem Fall als episches Theater, ver-
B. gehörte zu den Stückeschreibern, die ihre weisen, ist an zwei Beispielen zu zeigen. So
Texte für und mit der Bühne schrieben, und er enthält die Urfassung der Oper Aufstieg und
gehörte zu denjenigen – und diese bilden eher Fall der Stadt Mahagonny (GBA Registerband,
die Ausnahme als die Regel –, die ihr Leben S. 683–735) in ihren Nebentexten bereits ei-
lang (mit Ausnahme der Zwangspausen im nen Großteil der Plurimedialität, die in der
Exil) im Doppelberuf zweier Künste arbeite- Inszenierung umzusetzen ist. Der Untertitel:
ten: als Dichter und Regisseur (bzw. Drama- Oper in drei Akten von Kurt Weill / Text von
turg); für B. kam als wesentlicher dritter Be- Bert Brecht nennt das Zusammenwirken von
ruf, der freilich überwiegend auf die Lyrik zwei Künsten sowie die Gattung (die dann
bezogen war, der Komponist hinzu. Werden freilich gegen die Erwartung nicht eingelöst
seine Stücke als bloße Lesedramen rezipiert, wird). Die Einteilung in drei Akte, die später
so werden sie von vornherein um Dimensio- entfällt, zitiert das traditionelle Genre, ver-
nen verkürzt und dadurch möglichen Fehldeu- stößt jedoch mit der lockeren Szenen-Mon-
tungen ausgesetzt. Die in der Schule und auf tage, die keine durchgehende Handlung auf-
den Universitäten übliche Vorgehensweise, weist, nachhaltig gegen das Muster und hebt
Theaterpraktische Hinweise im Dramen-Text 41

damit das Widersprüchliche des gesamten sowohl literarisch als auch unliterarisch. Lite-
Werks heraus, was entsprechend für die Parti- rarisch sind die Titel, die, wie im Stummfilm,
tur Weills gilt: die Tradition wird berufen und den Inhalt der Szenen vorwegnehmen und da-
zugleich negiert. Die erste Bühnenanweisung mit das Interesse des Publikums vom ›Was‹
führt erstmals im Text – nach ihrer schon hi- des Dargestellten aufs ›Wie‹ der Darstellung
storischen Verwendung in Mann ist Mann auf lenken. Die Projektion des Steckbriefs, eben-
der Bühne (1926) – die »kleine weiße Gardine« falls literarisch, wird ergänzt durch die »Pho-
an, die »sich an einem blechernen Draht nach tos der Gesuchten«, womit neben dem Film ein
rechts und links aufziehen läßt« (S. 685). Auf weiteres Massenmedium, die Zeitung oder das
sie werden, wie es der Text der Bühnenan- Plakat, zitiert wird. Auch die akustische Di-
weisung sagt, die Bilder und Titel projiziert. mension ist mit dem Knallen des defekten
Damit sind wesentliche Aussagen zum Büh- Lastauto-Motors, mit dem zugleich das mo-
nenraum sowie zur Verwendung von moderner derne Massenverkehrsmittel auf die Bühne
Technik im Theater gemacht. Da – wie es die gebracht ist, in der ersten Bühnenanweisung
weiteren Bühnenanweisungen vorschreiben eingebracht. Diese Bühnenanweisung enthält
(z. B. S. 687, als die sechs Mädchen aus der somit ein mulitmediales Zeichensystem, das
geschlossenen Gardine hervortreten und sin- unmissverständlich den Dramentext auf seine
gen) – vor und hinter der Gardine gespielt theatralische Umsetzung präpariert.
wird, ist die Bühne zweigeteilt, gibt es folglich Eine andere Möglichkeit, schon im Text und
zwei Spielplätze für die Darstellung. Ausge- diesmal im Haupttext auf die Notwendigkeit
schlossen ist damit die Guckkastenbühne mit hinzuweisen, ihn als Text für die Bühne zu
ihrem schweren Vorhang, also die Bühne, die lesen, hat B. im Vorspiel des Guten Menschen
vorwiegend für Illusionstheater genutzt von Sezuan umgesetzt. Wang hat erfahren,
wurde. Die Zuschauer haben, da die Gardine dass die drei Götter auf die Erde gekommen
maximal »zweieinhalb Meter vom Bühnenbo- sind und schätzt nun die Vorübergehenden da-
den aus gerechnet« (S. 685) hoch sein darf, nach ein, ob es die Götter sein könnten. Die
Einblick, je nach dem, wie sie sitzen, in das, erste Gruppe von Menschen, die er sieht,
was hinter dem Vorhang geschieht (z. B. Um- zeichnet sich durch ihre eingedrückten Schul-
bauten): die Bühnenarbeiten werden sichtbar, tern aus; sie werden daran als Arbeiter kennt-
das Theater wird als Theater selbstreferentiell lich. Ein vorüber gehender Mann hat Tinte an
ausgestellt. Ein eklatanter Widerspruch ergibt den Fingern und wird danach als Büroange-
sich aus der technischen Einrichtung und der stellter identifiziert. Zwei weitere Herren fal-
Verwendung der Gardine: Sie kommt mit einer len als Götter deshalb aus, weil sie brutale
primitiven technischen Apparatur aus (Blech- Gesichter haben, »wie Leute, die viel prügeln,
draht), ihr Einsatz gilt jedoch modernster und das haben die Götter nicht nötig« (GBA 6,
Theatertechnik, der Projektion, die vom Büh- S. 177). Erst als drei Leute auftreten, die
nenbild sekundiert wird, wenn der Text be- »wohlgenährt« sind und »kein Zeichen irgend-
sagt, dass »im Hintergrunde die Projektion einer Beschäftigung« (ebd.) aufweisen, sind
Nr. 1 (von Caspar Neher)« (ebd.) den Bühnen- die Götter erkannt. Wang lehrt die »Kunst der
raum bestimmt. Der Widerspruch verweist Beobachtung« (GBA 12, S. 322), die B. als eine
darauf, dass B. mit spezifischen Mitteln des der wichtigsten Voraussetzungen für die prak-
Theaters die »Technifizierung« (GBA 21, tische Theaterarbeit ansah und zu der er eine
S. 464) der Kunst zu realisieren anstrebte. Die Art Theorie der Zuschaukunst entwickelte
Angabe von Nehers Bühnenbild bringt über- (vgl. Hecht 1984, S. 209–218). Haltungen und
dies, bevor auch nur ein Wort auf der Bühne Verhalten von Menschen werden sichtbar ge-
gesprochen bzw. gesungen ist, die dritte, am macht und mit ihnen die sozialen Unter-
Theaterstück beteiligte Kunst ins Spiel. Der schiede verdeutlicht. Zugleich wird das Beob-
Inhalt der Projektionen, auch dies wird bereits achten – wie beim Spiel im Spiel – verdoppelt:
in der ersten Bühnenanweisung deutlich, ist Wang beobachtet die Vorübergehenden, die
42 Praktische Theaterarbeit

Zuschauer beobachten – neben dem, was ge- umzusetzen. Hinzu kam, dass Caspar Neher,
schieht –, wie Wang beobachtet. Diese Dupli- »eines Brecht analogen künstlerischen Natu-
kation der Beobachtung, die der Text bereits rells« (S. 249), das Bühnenbild übernommen
enthält, verlangt geradezu danach, ihn als hatte, der es verstand, mit schmutzigen Farben
Bühnentext zu rezipieren. die Bösartigkeit des Stücks seinerseits ange-
messen zu interpretieren. Erwin Faber, in der
Rolle des Königs, wollte diesen als König von
Gottes Gnaden anlegen, der sein Amt gegen
Geschichte Rebellen zu verteidigen hatte, wohingegen B.
durchsetzte, dass jener den Eduard nur dann
mit königlicher Würde spielten dürfe, wenn er
B.s praktische Theaterarbeit begann mit einer repräsentierte; ansonsten hatte er ihn als »un-
Niederlage, die er freilich als Sieg für sich besonnen, frech, zanksüchtig« sowie verstrickt
verbuchte. B. hatte die Regie zu Arnolt Bron- in »seine selbstherrlichen Exzesse« (S. 256) als
nens Drama Vatermord übernommen, das im Rowdy zu zeigen. B. verfolgte die Anlage der
April 1922 im Neuen Theater am Zoo in Berlin gesamten Inszenierung als moritatenhafte
herauskommen sollte. Die Rolle des Vaters Schaubuden-Aufführung bis in die Einzelhei-
spielte Heinrich George, der sich B.s Regie ten der Szenen hinein. So arrangierte er die
nicht unterordnen, vor allem den »unterkühl- Szene mit Baldocks Verrat, den B. als »etwas
ten Brecht-Ton« (Bronnen, S. 36) nicht anneh- unbeschreiblich Gemeines und Abscheuli-
men wollte und stattdessen auf seinem (pa- ches« (S. 258) bezeichnete, als holzschnittarti-
thetischen) Stil bestand, weshalb er B. ges, prägnantes Moritaten-Bild: Baldock über-
schließlich niederschrie. Als darauf die Dar- reichte Eduard mit gespielt ›treuherzig-zärt-
stellerin der Mutter Agnes Straub in einen licher Ergebenheit‹, die Judas in der Bibel
Weinkrampf verfiel, brach B. die Proben ab gegenüber Christus mimt, das Tuch. Marie-
und verließ triumphierend das Theater: »Mit luise Fleißer schrieb über B.s Arbeit in Mün-
denen wäre es nie was geworden.« (ebd., chen: »Brecht führte die Regie, auf eine unter-
S. 38). Im August 1923 war B. an der Auffüh- kühlende Art, sehr fremd, Schauspieler spra-
rung von Hanns Henny Jahnns Pastor Ephraim chen absichtlich hölzern, marionettenhaft, sie
Magnus unter der Regie Arnolt Bronnens be- ließen die Dinge in der Schwebe. Es war sehr
teiligt. B.s Arbeit bestand hauptsächlich in der ungewohnt, manches herrlich, mit Elementen
dramaturgischen Einrichtung des als schwer der Pantomime, sie gingen auf den Nerv,
spielbar geltenden Stücks. Brecht probierte was aus. Oft lief er über die
Die erste erfolgreiche Regie führte B. als kleine Treppe zum Schauspieler hinauf, rasch
vertraglich gebundener Regisseur (ab Oktober und jung, unbekümmert, als hätte er es ewig
1922) an den Münchner Kammerspielen mit getan. Er sagte alles simpel.« (Fleißer, S. 301)
der Bearbeitung von Christopher Marlowes Bei der Münchner Regiearbeit fand B. die
Eduard dem Zweiten, die er zusammen mit Linie, die seine späteren Inszenierungen aus-
Lion Feuchtwanger vorgenommen hatte. Die zeichnen sollte. So legte er entschiedenen
Proben dauerten von Anfang Januar 1924 bis Wert darauf, dass die Handlung, die ›Fabel‹,
zum 18.3. (Premiere: 19.3.), wobei der Pre- wie er sie vorwiegend nannte, in den Vorder-
mierentermin mehrfach hinausgeschoben grund rückte und klar herausgearbeitet wurde.
werden musste, weil B. nicht zufrieden war, Da B. unter ›Fabel‹ aber nicht die bloße dra-
aber noch ständig, und zwar bis in die General- matische Handlung verstand, sondern diese
probe hinein, Textänderungen vornahm. Bern- allein als Folge von menschlichem Verhaltens-
hard Reich berichtet, dass die Kammerspiele weisen ansah, kam es ihm vor allem darauf an,
»das einzige für das Neue empfängliche Thea- die zwischenmenschlichen Beziehungen und
ter in München« (Reich, S. 247) waren und B. Defekte zu betonen, eben das, was Menschen
deshalb freie Hand hatte, seine Vorstellungen tun und was ihnen widerfährt, als menschen-
Geschichte 43

gemacht zu zeigen. Statt des Subjektiven, des der Weimarer Republik. Piscator hat die Arbeit
Charakters, stand das Intersubjektive im Zen- an der Inszenierung ausführlicher in seinem
trum. Reich urteilte zusammenfassend: »Ich Buch Das Politische Theater beschrieben (Pis-
kenne kaum jemand, der einen so großen Ent- cator, S. 179–195); B.s Anteile jedoch erwähnt
wicklungsweg der Veränderung des Weltbilds, er nicht, wie es überhaupt zu dessen Arbeit im
der Vervollkommnung des Talents zurücklegte Kollektiv Piscators nur verstreute und zufäl-
wie er und der dabei beharrlich die Entdek- lige Hinweise gibt. B.s spätere Behauptung
kungen seiner Jugend nutzte. Das ›epische (am 24. 6. 1943 im Journal), er habe den
Theater‹ keimt schon im Eduard.« (Reich, Schwejk »für Piscator um 27 herum« (GBA 27,
S. 258) S. 152) geschrieben, ist unzutreffend. Wäh-
Als B. nach Berlin übergesiedelt war, erhielt rend des Exils aber kam B. in seinen theo-
er auf Veranlassung von Erich Engel einen Ver- retischen Aufzeichnungen immer wieder auf
trag, der von September 1924 bis Juni 1925 den Schwejk von 1928 zurück; er bildete dann
galt, als Dramaturg am Deutschen Theater, auch eine der entscheidenden Anregungen,
dessen Direktor Leopold Jessner war. Gleich 1943 einen eigenen Schweyk zu verfassen.
die erste Arbeit als Zweitregisseur neben Jür- Über B.s Mitwirkung an der Inszenierung
gen Fehling, wiederum sein Eduard, wurde der Dreigroschenoper (Regie: Erich Engel,
zum Desaster. Einer Anekdote zufolge soll Premiere: 31. 8. 1928), ranken sich zahlreiche
Jessner flehentlich an Feuchtwanger geschrie- Anekdoten, deren Realitätsgehalt häufig zwei-
ben haben, sofort nach Berlin zu kommen, felhaft ist. Ernst Josef Aufrichts Erinnerungen
weil B. ›wildgeworden‹ sei. Feuchtwanger zufolge – dieser hatte das Theater am Schiff-
wurde Zeuge, wie jener Probenkräche herbei- bauerdamm in Berlin übernommen und wollte
führte, weil er alles, was Fehling als Regisseur mit der Oper das Haus eröffnen – waren die
anordnete, mit »Scheiße« kommentierte, wor- Proben ein reines Chaos, das bis zur General-
auf Feuchtwanger ihm empfahl, wenigstens probe andauerte und die Uraufführung massiv
das harte Wort durch ›stilisiert‹ zu ersetzen. gefährdete (vgl. Aufricht, S. 112 f.). B.s Ar-
Als B. die Proben, diesmal mit dem Satz: »Das beitsmethode, Texte auf bzw. nach den Proben
ist ja alles schon wieder stilisiert!«, wiederum umzuschreiben oder neue zu liefern, hatte da-
unterbrach, schmiss Fehling beide aus dem durch verschärfende Wirkung, dass die für die
Theater (vgl. Jeske/Zahn, S. 102). Polly vorgesehene Carola Neher eine Woche
Nach einer Inszenierung seines Lebenslaufs vor der Premiere ausfiel und durch Roma Bahn
des Mannes Baal an der Jungen Bühne im ersetzt werden musste, und außerdem da-
Deutschen Theater (Premiere: 14. 2. 1926), durch, dass die Regie noch nach der General-
die er zusammen mit dem Hauptdarsteller Os- probe Songs streichen musste, weil das Stück
kar Homolka vornahm, arbeitete B., nachdem zu lang geworden war (vgl. S. 109 f.). Was den
er im März 1927 auf Erwin Piscator aufmerk- Stil der Aufführung anbetraf, so setzte B. bei
sam geworden war, gelegentlich in dessen Kol- Engel durch, die diesem fremde Technik anzu-
lektiv am ›Politischen Theater‹ mit. Sein ge- nehmen. B. wollte (und so weisen es in den
wichtigster Beitrag bestand in der Mitwirkung Drucken der Oper die Bühnenanweisungen
an der Dramatisierung und szenischen Um- aus; vgl. GBA 2, S. 248), dass die Songs so
setzung von Jaroslav Ha šeks Roman Die Aben- gesungen werden, als ob sie nicht zur Hand-
teuer des braven Soldaten Schwejk während lung gehörten, was durch Lichtwechsel und
des Weltkriegs, der 1926/27 auf Deutsch er- neue Haltung der Darsteller realisiert wurde.
schienen war. Die Inszenierung, die am 23. 1. Auch die epische Spielweise wirkte auf die
1928 im Berliner Theater am Nollendorfplatz Darsteller und den Regisseur zunächst sehr
Premiere (Bühnenbild: George Grosz) hatte, befremdend, und erst über die Beseitigung von
zeichnete sich durch technische Neuerungen, vielen Unsicherheiten, die B. offenbar hart-
Verwendung des ›laufenden Bands‹, aus und näckig vornahm, konnte die gültige Lösung
wurde zu einem der größten Theatererfolge gefunden werden (vgl. Aufricht, S. 108).
44 Praktische Theaterarbeit

Mit den Regiearbeiten in Baden-Baden trat die Songs beisteuerte, versuchte durch Text-
B. in Zusammenarbeit mit den Komponisten änderungen die Proben und ihren Stil zu
Paul Hindemith und Kurt Weill an, den vorge- beeinflussen, was schließlich zum Eklat führ-
gebenen »Apparat« dahingehend auf die Probe te. Engel legte die Regie nieder, B. musste
zu stellen, ob er für neue Kunst offen sei. Es sei sie übernehmen. Die Aufführung im Thea-
»Usus, jedes Kunstwerk auf seine Eignung für ter am Schiffbauerdamm (Premiere: 2. 9. 1929)
den Apparat, niemals aber den Apparat auf konnte den Erfolg der Dreigroschenoper nicht
seine Eignung für das Kunstwerk hin zu über- wiederholen, im Gegenteil. Die Tatsache, dass
prüfen. [ … ] Dieser Apparat aber ist durch die Hauptmann für die Aufführung das Pseud-
bestehende Gesellschaft bestimmt und nimmt onym »Dorothy Lane« wählte und im Pro-
nur auf, was ihn in dieser Gesellschaft hält.« grammzettel lediglich als ›Bearbeiterin‹ auf-
(GBA 24, S. 75) Neuerungen, so B. weiter, »die trat, führte dazu, das Stück B. zuzuschreiben,
auf seinen Funktionswandel drängten, die den ein Irrtum, der heftige Spekulationen über den
Apparat also anders in die Gesellschaft stellen, ›Plagiator‹ auslöste und sich bis in die jüngere
etwa ihn den Lehranstalten oder den großen B.-Forschung sowie auch in der Aufführungs-
Publikationsorganen anschließen wollten« praxis fortgeschrieben hat (vgl. Völker, S. 127–
(ebd.), seien ausgeschlossen. Eine Möglich- 130). Immerhin fanden Hauptmann und B. für
keit, den Apparat zu überprüfen, bot sich mit die Uraufführung den dann in die Dreigro-
der Deutschen Kammermusik Baden-Baden schenoper nachträglich eingebauten ›gültigen‹
1929, einem avantgardistisches Festival neuer Text: »Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie,
Gemeinschaftsmusik, zu der Hindemith und was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die
B. Das Lehrstück (später: Das Badener Lehr- Gründung einer Bank« (Hauptmann, S. 133;
stück vom Einverständnis) beisteuerten. Die vgl. GBA 2, S. 305), den Weigel als die
Uraufführung am 28. 7. 1929 geriet nach der ›Fliege‹, die Figur einer Kapitalistin, selbst-
Clownsszene, bei der ein Kritiker in Ohmacht bewusst zu verkünden hatte, um damit beim
gefallen sein soll, zu einem Skandal: Ein Teil Publikum, das ein Lustspiel erwartet hatte,
des Publikums äußerte lautstark seinen Unmut empörte Reaktionen auszulösen (vgl. Kebir,
und verließ den Saal. Die Konsequenzen für S. 111).
das Festival waren, dass die Stadtväter ihm Die letzte Regiearbeit B.s in der Weimarer
ihre Unterstützung entzogen und es daher im Republik – er ließ sich auf dem Programm-
kommenden Jahr nicht mehr stattfinden zettel als Regisseur verleugnen – war die In-
konnte. Wieder einmal war bewiesen worden, szenierung von Mann ist Mann am Staatlichen
dass die Künstler irrten, wenn sie meinten, Schauspielhaus Berlin (Premiere: 6. 2. 1931).
»sie seien im Besitz eines Apparates, da dieser Bei den Proben gab es Auseinandersetzungen
in Wirklichkeit sie besitzt« (ebd.). Was in der mit den Darstellern, die gern wissen wollten,
zeitgenössischen bürgerlichen Presse weitge- wen sie eigentlich darzustellen hatten. B. rea-
hend als ›Niederlage‹ der Autoren eingestuft gierte auf die Anfragen: »Wer Sie sind, braucht
wurde, muss im Rückblick als herausragender Sie überhaupt nicht zu kümmern. Wenn Sie es
Erfolg verbucht werden, der nicht nur die ge- interessiert, können Sie es vielleicht nach
gebenen Machtverhältnisse offen legte, son- Schluß bei dem Publikum erfahren, wer Sie
dern auch Wege zeigte, diese mit großer öf- waren. Jetzt gehen Sie hin, begrüßen Sie jenen
fentlicher Resonanz herauszufordern. oder beraten Sie sich mit diesen.« (Wege,
Um an den Erfolg der Dreigroschenoper an- S. 286) Alfred Kerr, der sich seit der Eduard-
zuknüpfen, entwarf B. die Grundzüge zur Inszenierung regelrechte Kritiker-Schlachten
Stück-Fabel von Happy End, mit dem Elisa- mit Ihering lieferte, die teilweise mehr Auf-
beth Hauptmann als Dramatikerin eigenstän- sehen erregten, als die besprochenen Auffüh-
dig in die Öffentlichkeit treten sollte (Text rungen selbst (vgl. Luma), war es, der, ohne zu
in: Hauptmann, S. 65–135; vgl. Kebir, S. 110). ahnen, was er anrichtete, die Inszenierung und
Engel übernahm die Regie, B. jedoch, der das Stück erbarmungslos verriss: »Jetzt ist es
Geschichte 45

genug [ … ]. Es geht hier nicht um die Person seur John Houseman erinnert (nach: Lyon,
Brechts. Sondern um den Unfug, der mit ei- S. 255). Da B. jedoch mit dem amerikanischen
nem Kleintalent betrieben wird.« (Wege, Theaterbetrieb nicht vertraut war, konnte er
S. 316) Kerr bescheinigte B. ›dramatische Un- ohne Losey die Arbeit nicht leisten und folgte
fähigkeit‹ (vgl. S. 317). Was die Schauspieler ihm auch in personellen Empfehlungen. Die
noch während der Uraufführung erfuhren, Proben begannen am 24. 6. 1947 und zeich-
war, dass es zu Tumulten im Publikum kam neten sich dadurch aus, dass B. mit Laughton
und die Vorstellung nicht zu Ende gespielt während der Probenarbeit weitgehend den
werden konnte. Nach vier weiteren Versuchen, amerikanischen Text erarbeitete (vgl. den Ar-
die bereits gezielt von Nazi-Trupps gestört tikel zu Leben des Galilei; BHB 1). Sie ist
wurden, setzte die Intendanz das Stück ab. ausführlich dokumentiert mit Notaten und Fo-
Auch hier hatte B. mit seiner Regie nochmals tos in Aufbau einer Rolle. Laughtons Galilei
nachhaltig auf die gesellschaftlichen Wider- (GBA 25, S. 7–69; vgl. den Artikel dazu in BHB
sprüche seiner Zeit aufmerksam gemacht, die 4). In einem Brief an Fritz Kortner von Juni
›sehenden Auges‹ auf den Faschismus zutrieb. 1947, dem B. die Rolle des Papstes anbot, be-
Nach den Zeugnissen von B.s praktischer gründete dieser seine Bitte: »Die Aufführung
Theaterarbeit in der Weimarer Republik gibt ist mein einziges theatralisches Unternehmen
es nichts Vergleichbares, das im Rückblick bes- in den Staaten; es scheint mir richtig, gerade
ser verdeutlichen könnte, welche Angebote B. dieses Stück im Land der fortgeschrittenen
sowohl den Apparaten als auch der Theater- Atomphysik aufzuführen.« (GBA 29, S. 418)
kunst gemacht hatte, die nicht angenommen Die Inszenierung hatte am 30.7. in Beverly
wurden. Zwölf Jahre Faschismus sollten dann Hills Premiere, an der u. a. Charles Chaplin,
die deutsche Schauspielkunst gründlich rui- Charles Boyer, Ingrid Bergmann und Anthony
nieren. Quinn teilnahmen und die in der amerikani-
Mit der Vertreibung aus Deutschland war B. schen Presse durchaus Beachtung fand, jedoch
weitgehend von den Theatern abgeschnitten, teilweise auch als langweilig eingestuft wurde
so dass er für die »Schublade« schreiben mus- (vgl. Hecht, S. 792).
ste, für die man, wie er aus Anlass des Guten Nach seiner Rückkehr aus dem Exil trieb
Menschen am 15. 3. 1939 ins Journal notierte, ihn, wie B. am 16. 12. 1947 ins Journal no-
»keine Konzessionen« brauche (GBA 26, tierte, »die Rückkehr in den deutschen Sprach-
S. 332). So gab es nur sporadisch Möglich- bereich« (GBA 27, S. 255) dazu, die Antigone
keiten, bei der Regie mitzuarbeiten. Das war des Sophokles nach der Übersetzung Hölder-
im dänischen Exil der Fall, als Berlau in der lins zu bearbeiten und für das Stadttheater in
Borups Højskole Kopenhagen eine deutsch- Chur (Schweiz) zu inszenieren (Premiere:
sprachige Inszenierung von Die Gewehre der 15. 2. 1948). Es war B.s erste Zusammenarbeit
Frau Carrar mit Exilanten und Weigel in der nach dem Krieg mit Neher, der sowohl für die
Titelrolle herausbrachte (Premiere: 14. 2. Regie mitzeichnete als auch das Bühnenbild
1938), an der B. teilweise mitgewirkt hatte, schuf; die Titelrolle spielte Weigel, die damit
was ihn freilich nicht daran hinderte, in einem nach langer Exilpause erfolgreich auf die
Brief an die Darsteller von Mitte/Ende Fe- Bühne zurückkehren konnte. Diese Inszenie-
bruar 1938 ausführliche Kritik zu üben (vgl. rung wie auch die erste in Berlin von Mutter
GBA 29, S. 74–76). Courage und ihre Kinder zusammen mit Erich
Gewichtiger war B.s Mitwirkung an der Re- Engel (Premiere: 11. 1. 1949) sind in Modell-
gie des Galileo, der amerikanischen Fassung Büchern dokumentiert, die B. unter seiner
von Leben des Galilei, mit Charles Laughton, Mitwirkung anfertigen ließ, um die »Trüm-
für die Joseph Losey offiziell verantwortlich mer« (GBA 27, S. 268) der Schauspielkunst zu
zeichnete, »was in Wirklichkeit hieß, daß beseitigen und einen Standard wiederzuge-
Brecht zusammen mit Laughton als Produzent winnen: das Antigonemodell 1948 (GBA 25,
und Regisseur fungierte«, wie sich der Regis- S. 71–168) und das Couragemodell 1949
46 Praktische Theaterarbeit

(S. 169–398; vgl. BHB 4). Nachdem B. im Ja- zukünftigen Mitwirkenden ab; unter ihnen
nuar 1949 zunächst ein (vorläufiges) Verbot waren im Mai des Jahres Therese Giehse und
von Aufführungen seiner Stücke ausgespro- Leonard Steckel als Schauspieler, Teo Otto
chen hatte, weil die deutschen Theater we- und Neher als Bühnenbildner sowie Benno
sentlich am »Verfall der Kunstmittel unter dem Besson, Berthold Viertel und Egon Monk als
Naziregime« (GBA 25, S. 73) mitgewirkt hat- Regisseure bzw. Dramaturgen. Wolfgang
ten, legte B. im Juli des Jahres, als die Städti- Langhoff, der Intendant des Deutschen Thea-
schen Bühnen um die Erlaubnis baten, die ters, erklärte seine Unterstützung und stellte
Courage aufzuführen, fest, dass für die Insze- dem Ensemble sein Haus zur Verfügung, in
nierung das Modell gebraucht werden muss, dem es bis zum 19. 3. 1954, als das Theater am
was auch für alle anderen Theater gelten Schiffbauerdamm mit dem Don Juan eröffnet
sollte. Die erste (fremde) Modell-Inszenie- wurde, gastierte.
rung der Courage brachten die Städtischen Für den Aufbau des Berliner Ensembles galt,
Bühnen Wuppertal (Premiere: 1. 10. 1949) erfahrene Schauspieler und junge Talente zu-
heraus, was zu einem heftiger Kritiker-Streit sammenzuführen und im wechselseitigen Ar-
in der Presse führte. »Als die Benutzung von beitsprozess herauszufordern: »Da lernen die
Modellen von Aufführungen vorgeschlagen Schüler als Meister und die Meister als Schü-
wurde, erhob sich ein lautes Geschrei, dies sei ler aufzutreten«, war B.s Maxime (nach: Hecht
Diktatur, ›freies Schöpfertum‹ solle verhin- 1985, S. 29). Dies schlug sich z. B. in der In-
dert werden. Der Stückschreiber, um ein allzu szenierung des Puntila im Deutschen Theater
freies Herumschöpfen mit seinen Stücken zu Gewinn bringend nieder (Premiere: 8. 11.
verhindern, griff tatsächlich zu sanfter Erpres- 1949, Regie: Erich Engel und B., Bühnenbild:
sung, indem er das Stück eine Zeitlang nur Caspar Neher). Friedrich Luft konstatierte in
Bühnen zur Verfügung stellte, welche die Vor- seiner Kritik: »Bertolt Brecht organisiert sei-
lage benutzten.« (GBA 25, S. 393) In ausge- nen Stil und seine Wirkung mit hausväterli-
klügelter ›Dialektik‹ begründete B. die Maß- cher Genauigkeit. Sein Ensemble, das den
nahme damit, dass er das Nachahmen von Mo- Brechtton nach der berechneten Vorschrift
dellen, die ohnehin nicht »völlig« (S. 398) herstellen und durchhalten kann, steht. Er wi-
nachzuahmen seien, zur eigenen Kunst er- derspricht aktiv den verbreiteten Seufzern, es
klärte, zu der »Phantasie nötig« sei (ebd.). gäbe keinen Schauspielernachwuchs. Er findet
»Das Angebot eines Modells ist das Einge- ihn durchaus und fängt ihn jung. Auf dem Zet-
ständnis eigener Leistung und zugleich die tel eigentlich nur vier bekanntere Namen. Der
Herausforderung zu ihrer ›Überwindung‹« Rest ist neu und vorzüglich und in drei Fällen
(Hecht 1984, S. 221). außergewöhnlich.« (Wyss, S. 281) Neben Leo-
Mit Datum des 18. 5. 1949 schickte der Refe- nard Steckel, der den Puntila mit der gewohn-
rent für Theater im Amt für Volksbildung, Kurt ten Souveränität spielte, stand der noch unbe-
Bork, nachdem B.s Bemühungen um ein eige- kannte Erwin Geschonneck als Matti auf der
nes Ensemble von der sowjetischen Militär- Bühne, über dessen Spiel Luft urteilte: »Die
administration unterstützt worden waren, B. Rolle hoch heikel, denn wer gegen die Gro-
eine »Bescheinigung«, in der bestätigt wurde, teske im Tonfall des Natürlichen [nämlich
»dass das Berliner Ensemble, Leitung Helene Steckels Puntila] recht behalten soll, muß viel
Weigel, eine Institution der Deutschen Verwal- können. Dieser kann’s und ist damit in einem
tung für Volksbildung in der sowjetischen Be- gelungenen Schlage zu einem unserer brauch-
satzungszone ist« (nach: Hecht, S. 869) und barsten Schauspieler geworden.« (S. 283) Die
Weigel mit dem Aufbau des Ensembles beauf- Schauspielerkarriere, die Geschonneck von da
tragt werde. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin ab machen sollte, gab Lufts Einschätzung in
richtete Weigel zunächst ein Büro in der jeder Hinsicht recht. Dies galt auch für die
›Möwe‹, einem Künstlerlokal unweit des weiteren jungen Talente, wie z. B. für Angelika
Reichstags, ein und schloss Verträge mit den Hurwicz und Regine Lutz, die in ihren klei-
Geschichte 47

neren Rollen als ›Bräute‹ des Puntila ebenfalls Hand‹ hatten. Mit seiner Inszenierung des Co-
überzeugten: »Jede ausgezeichnet und mit klu- riolanus (Premiere: 25. 9. 1964), setzten Wek-
gen Eigenarten ausgestattet« (S. 284). werth und Joachim Tenschert, die eine eigene
Das Gleiche gilt für den Regienachwuchs, Bühnenfassung herstellten, Weigels und B.s
den Weigel und B. ebenfalls von vornherein so Theaterarbeit überzeugend und, was die Dar-
organisierten, dass ihm schnell eigene Verant- stellung der Massenszenen anbetrifft, legen-
wortung übertragen werden konnte. Manfred där fort. Der Kritiker Franz Schonauer urteilte
Wekwerth kam im April 1951 mit Erich Franz, über die Regie dieser Aufführung: »Auch dies-
einem Laiendarsteller, zum Berliner Ensem- mal wurde nichts dem Zufall überlassen; jedes
ble. Schon der Empfang durch die Weigel war Detail war ins kleinste durchdacht und ausge-
auf positiv irritierende Weise verwunderlich: führt. Selbst die technische Apparatur, der
Ohne die übliche Anmeldung durften beide ihr Bühnenmechanismus ist in diesem Haus ein
Büro betreten, um von ihr sogleich zur Arbeit ästhetischer, zum Spiel gehörender Effekt.
gebeten zu werden, mit den Worten: »Guten Und die Aufführung selbst? Wer an westdeut-
Tag, es ist schön, daß ihr da seid. Geht’s mal schen Schnellschuß-Inszenierungen die Thea-
gleich auf die Probe.« (Wekwerth, S. 13) Dort ter-Freude eingebüßt hat, findet hier wieder
angekommen, unterbrach B. die Probe, be- zum ungetrübten Vergnügen am dramatischen
grüßte die Neuankömmlinge und sagte Gegenstand zurück.« (Wyss, S. 397)
»Schauen Sie zu, und notieren Sie alle Ein- Weitere Zielsetzung des Berliner Ensembles
wände« und setzte die Probe fort: »Die Proben, war eine auf die brennenden Fragen der Ge-
die sie selbst [Weigel und B.] ordinär Theater- genwart bezogenes Repertoire von Stücken.
arbeit nannten, schienen uns die schwierigste Den Beginn machte Mutter Courage und ihre
Arbeit der Welt. Dem widersprach vollkom- Kinder, ein Stück, das über die Unbelehrbar-
men die Leichtigkeit, mit der sie verrichtet keit der Courage dazu anregen sollte, über
wurde. Ihre einzige Sorge, daß alles auf der zukünftiges friedliches Zusammenleben und
Probe natürlich, verstehbar und deutlich zu dessen gesellschaftliche Grundlagen nachzu-
sehen sein muß, schien uns im krassen Wider- denken. Formal war die von Neher leerge-
spruch zu stehen zur philosophischen Unter- räumte Bühne gegen den bombastischen
nehmung der Verfremdung. Der Vereinbarkeit Kitsch des ›Göringtheaters‹ (vgl. GBA 25,
eben dieser Gegensätze war eigentlich meine S. 73) gerichtet, zugleich knüpften B. und sein
ganze Lehrzeit gewidmet.« (Ebd.) Nach einer Bühnenbauer mit ihr an die avantgardistischen
Regieassistenz bei der Inszenierung von Erwin Bühnenausstattungen der 20er- und frühen
Strittmatters Katzgraben (Premiere: 23. 5. 30er-Jahre an. Der Puntila (Premiere: 12. 11.
1953), übertrug B. die Regie für sein Stück Die 1949), mit dem das Berliner Ensemble eröffnet
Mutter noch im selben Jahr an Wekwerth (Pre- wurde, brachte das aktuelle Thema der Boden-
miere: 28. 10. 1953 im Neuen Theater in der reform in komödiantischer Form auf die
Scala, Wien). B. zeichnete zwar noch für die Bühne und zeigte im halbfeudalen Gewand der
künstlerische Leitung, überließ aber seinem Gutsherrschaft auf Puntila den (vermeintlich)
Schüler bereits weitgehend freie Hand und überstandenen ›Klassenkampf‹. Es folgte Ma-
präsentierte dessen Arbeit im Ausland. Für die xim Gorkis Wassa Schelesnowa (Premiere:
Inszenierung von Hirse für die Achte von Lo 23. 12. 1949) unter der Regie von Berthold
Ding (einer Bearbeitung eines chinesischen Viertel, ein Stück, das den Verfall der Pro-
Stücks durch das Ensemble) war Wekwerth vinzbourgeoisie im zaristischen Russland zum
bereits allein verantwortlich. Auch hier be- Thema hat. Mit ihm sollte exemplarisch unter-
weist der Werdegang Wekwerths – Analoges sucht werden, welche Ursachen und Wirkun-
wäre für die Meisterschüler Peter Palitzsch, gen die Barbarei hat und welche Ansätze zu
der seit Ende 1950 am Ensemble arbeitete, ihrer Überwindung zu finden sind. Die Bear-
oder Benno Besson und Egon Monk zu sa- beitung des Hofmeister von Lenz (Premiere:
gen –, dass Weigel und B. eine ›glückliche 15. 4. 1950) griff in die Diskussion um den
48 Praktische Theaterarbeit

Umgang mit der Tradition (im DDR-Jargon an der Spielweise, hängt wohl damit zusam-
›Erbe‹ genannt), vor allem der deutschen men, daß die erste beim Zusammenbruch des
Klassik. Mit der Wahl eines Sturm-und- Naziregimes, die letzte aber bei seinem Aufbau
Drang-Autors, der zu Unrecht vergessen wor- erfolgte.« (Theaterarbeit, S. 7) Entschieden
den war, umging B. zunächst die beiden gro- sprach er sich dagegen aus, in irgendeiner
ßen Klassiker, Goethe und Schiller, hatte aber Form der angeblich »›glänzenden Technik‹ der
mit Lenz’ Stück das Thema der ›deutschen Göringtheater« (ebd.) folgen zu wollen: »Als
Misere‹, der deutschen Rückständigkeit, ge- ob eine Technik, die der Verhüllung der gesell-
wonnen, das die Widersprüche der deutschen schaftlichen Kausalität dient, zu ihrer Aufdek-
Geschichte und der Auseinandersetzung mit kung verwendet werden könnte!« (S. 7f.) Es
ihr offen legen ließ. Mit der Mutter (Premiere: sei darauf verwiesen, was Rainer Werner Fass-
12. 1. 1951) konnte an eine proletarische Revo- binder in seinem Film Die Ehe der Maria
lution erinnert werden, die ihren Erfolg von Braun (1979) künstlerisch genutzt hat, dass
›unten‹ verdankte und mit der B. gegen den die am Ende eingeblendete Reportage vom
Aufbau eines Sozialismus von ›oben‹, ohne die Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft, in
»Weisheit des Volkes« (GBA 12, S. 311), pole- dem Deutschland die Ungarn besiegte (1954),
misieren konnte. Auf andere Weise als beim wie eine Sendung aus der Propaganda-Zen-
Hofmeister thematisierte B. mit der Bearbei- trale des Joseph Goebbels klingt. Noch Mitte
tung von Gerhart Hauptmanns Biberpelz und der 50er-Jahre brüllten die Sportreporter oder
Roter Hahn, die zu einem Drama zusammen- Wochenschausprecher im Nazi-Ton, und in
gezogen wurden (Premiere: 24. 3. 1951), die den Theatern wurde die ›hohe‹ Bühnenspra-
kritische Aneignung der Tradition. Die gesell- che bis in die 60er-Jahre gepflegt und sowohl
schaftlichen Widersprüche und sozialen Kon- vom Publikum als auch von der Kritik gefor-
flikte, die bei Hauptmann ungelöst blieben, in dert, was für beide deutschen Staaten galt. B.s
der Bearbeitung aber als lösbar erschienen, modernes Theater der Distanz mit der Beto-
wurden, um das Deutschland im Übergang nung des Kunstcharakters und dem Einsatz der
zum Imperialismus im letzten Drittel des Verfremdungseffekte war in erster Linie, wie
19. Jh.s zu zeigen, in der Inszenierung von bereits in den 20er Jahren, eine ästhetische
Egon Monk herausgearbeitet. Antwort auf die politischen Desaster in
Alle sechs Inszenierungen dokumentierte Deutschland.
das Berliner Ensemble unter der Leitung von B.s Theaterarbeit löste nach der ersten In-
Weigel im reich bebilderten Band Theaterar- szenierung (der Courage) in der SBZ einen
beit (1952), der neben den Fabelerzählungen heftigen Kritikerstreit aus, der dann in der
Szenenausschnitte, theoretische Überlegun- Zeit der DDR in die sog. Formalismusdebatte
gen verschiedener Autoren, Proben-Notate, überging (vgl. den Artikel Zur Formalismusde-
historische Erläuterungen und Analysen zu batte; BHB 4); diese hatte zur Folge, dass B.s
den Stücken, Beschreibungen der Bearbei- Theater bis zu seinem Tod nicht offiziell aner-
tungsprinzipien, des Spiels der Darsteller, der kannt wurde. Gleichzeitig stieß es in der Bun-
Musik u. a. enthält. Als Vorwort sind Auszüge desrepublik Deutschland aufgrund seiner
aus einer Rede B.s auf dem gesamtdeutschen angeblich ›kommunistischen‹ Ausrichtung
Kulturkongress in Leipzig (Mai 1951) voran- weitgehend auf Ablehnung. B. benötigte das
gestellt, in der B. – teilweise unter Verwen- Ausland, um sich durchzusetzen. Da es mit
dung von Formulierungen aus dem Antigone- zum Programm des Berliner Ensembles ge-
modell – nochmals den Ausgangspunkt der hörte, durch zahlreiche Gastspiele auf sich
Ensemble-Arbeit in der Notwendigkeit liegen aufmerksam zu machen, war es die Aufführung
sah, das durch die Nazis ruinierte Theater in der Mutter Courage im Pariser Théâtre Sarah
Deutschland mit ganz neuen Mitteln wieder Bernhardt anlässlich des ersten Internationa-
aufzubauen. »Daß die Beschädigung an den len Festivals der dramatischen Kunst, die B.
Theatergebäuden soviel sichtbarer war als die triumphal durchsetzte. Das Ensemble erhielt
Geschichte 49

den ersten Preis für das Stück und für die Systematische Hinweise
Regie (zusammen mit Erich Engel). Die fran-
zösische Kritik, unter ihnen Roland Barthes,
Bernard Dort und Pierre Abraham, feierte das Im Zentrum der Theaterarbeit stand die ›Fa-
epische Theater, und dies heißt sowohl die bel‹, deren Gewicht B. zusätzlich dadurch be-
Stücke selbst als auch die Theaterarbeit des tonte, dass er in vielen Fällen gesonderte Fa-
Ensembles, als »révolution brechtienne«, wel- bel-Erzählungen anfertigte, z. B. 1956 zum
ches das Motto des B.-Sonderhefts der Zeit- Kaukasischen Kreidekreis (GBA 20, S. 204–
schrift Théâtre Populaire, das nach dem Gast- 211), 1948 zur Antigone mit den sog. ›Brücken-
spiel zusammengestellt wurde, bildete (vgl. versen‹ (GBA 25, S. 79, S. 91–159 als Bild-
Hüfner, S. 50–54). unterschriften) oder zu allen sechs Aufführun-
Wie die offizielle DDR-Kulturpolitik B.s gen, die im Band Theaterarbeit dokumentiert
praktische Theaterarbeit bis zuletzt ein- sind, dort mit der Vorbemerkung versehen:
schätzte, beweist seine Bespitzelung durch »Das Berliner Ensemble geht in allen seinen
den Kulturfunktionär Wilhelm Girnus, den Aufführungen von der Fabel aus.« (Theater-
das Zentralkomitee der SED ab Mai 1951 als arbeit, S. 9) Im Gegensatz zu einem ›Mo-
›politischen Berater‹ B.s eingesetzt hatte (vgl. derne‹-Konzept, das der (menschlichen) Ge-
Hecht, S. 963). Dieser berichtete in einem schichte jegliches Sinn- und Ordnungsgefüge
Brief vom 27. 7. 1953 an den Generalsekretär abspricht und an seine Stelle fragmentarische
der SED, Walter Ulbricht, von einem längeren Bilder und eine komplexe Anspielungsvernet-
Gespräch, das er mit B. zwei Tage zuvor in zung setzt, beharrte B. auf einer »Reinstitutio-
Buckow geführt hatte. Neben einer ausführli- nalisierung des Prinzips der Narration auf
chen Darstellung von B.s (angeblich haltloser) dem Theater« (Streisand, S. 572). Die Domi-
Kritik der DDR-Kulturpolitik enthielt das nanz der Fabel verdankte sich B.s Überzeu-
Schreiben dennoch, und zwar aus internatio- gung, dass auch der sinnloseste Geschichtsver-
nalen Rücksichten, eine Empfehlung, B. das lauf menschengemacht und damit veränderbar
Theater am Schiffbauerdamm zu überlassen, ist, begründbar bleibt und deshalb auch lite-
was auf ihn »eine erzieherische Wirkung« rarische bzw. theatralische Darstellung her-
habe, weil er gezwungen wäre, das Publikum ausfordert: »Die Vorgänge in Auschwitz, im
zu gewinnen. Die weitere Begründung war: Warschauer Ghetto, in Buchenwald vertrügen
»Deshalb müßte man ihm nicht irgendeine zweifellos keine Beschreibung in literarischer
kleine Quetsche, sondern ein richtiges Thea- Form. Die Literatur war nicht vorbereitet auf
ter geben, damit er seinen Primitivismus und und hat keine Mittel entwickelt für solche Vor-
Puritanismus nicht durch mangelnde Technik gänge.« (GBA 23, S. 101) Was, positiv gewen-
entschuldigen kann.« (Nach: Hecht, S. 1071) det, heißt, dass die Literatur auch dafür Mittel
Girnus versprach, im Neuen Deutschland, dem zu finden hätte.
»Zentralorgan der SED« für entsprechende Damit ist jedoch B.s Theater durchaus nicht
Kritiken zu sorgen. Die Eröffnungspremiere als vormodern und anachronistisch ›unzeitge-
am 19. 3. 1954 mit Don Juan (Regie: Besson), mäß‹ bzw. gar als ›Lehr‹- oder Zeigetheater
in der sich das Publikum lautstark vergnügte, qualifiziert. Im Gegenteil zeichnet es sich ge-
wurde ein herausragender Erfolg, die Insze- rade dadurch aus, dass es die ›Erzählung‹ mit
nierung anschließend in 80 Vorstellungen ge- zahlreichen formalen Mitteln der ›Moderne‹
spielt. widerspruchsvoll und komplex verknüpft und
so verhindert, dass die gesellschaftlichen Wi-
dersprüche »in den Menschen und ihren Ver-
hältnissen zueinander und [ … ] die Bedingun-
gen, unter denen sie sich entwickeln« (GBA
23, S. 287), ›verschmiert‹ werden und »Vortäu-
schung von Harmonie« (ebd., S. 294) entsteht.
50 Praktische Theaterarbeit

Dazu gehört auch die bereits 1930 in den An- etwas erleben« (GBA 22, S. 854), mussten im-
merkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der mer »echt« sein und »der genauesten Unter-
Stadt Mahagonny« geforderte »Trennung der suchung« standhalten (ebd.). Dadurch, dass B.
Elemente«, welche die einzelnen Elemente, bzw. Neher für die Herstellung natürliche
Wort, Musik, Bühnenbau und Darstellung, im Stoffe, wie Holz oder Stroh, verwenden ließ,
Bühnenvorgang »alle gleichermaßen degra- waren die Requisiten individuell, lebendig, er-
diert [ … ], indem jedes nur Stichwortbringer innerten, eingebunden in einen Zusammen-
für das andere sein kann« (GBA 24, S. 79). hang von Tradition, an bekannte Gegenstände,
Dadurch wird verhindert, dass durch den und zeigten zugleich Veränderung an, kurz: sie
»Schmelzprozeß«, der für das »Gesamtkunst- waren naturalistisch und damit vormodern,
werk« (im Wagnerschen Sinn) kennzeichnend standen folglich im Widerspruch zur Aus-
ist, der Zuschauer »ebenfalls eingeschmolzen leuchtung der Bühne: »Beide Komponenten
wird und einen passiven (leidenden) Teil des arbeiteten gegeneinander und benötigten sich
Gesamtkunstwerks darstellt« (ebd.). B.s Thea- zugleich wechselseitig.« (Streisand, S. 568)
terarbeit setzt das Bühnenwerk »aus überaus In seiner Rede des Stückeschreibers über das
widersprüchlichen und heterogenen Momen- Theater des Bühnenbauers Caspar Neher in-
ten zusammen: vormoderne, gegenmoderne, nerhalb des Messingkaufs bezeichnete B. des-
moderne, auch andersmoderne Momente wa- sen »Dekoration« als »getränkt mit dem Geist
ren Bestandteile eines offenen, mehrdimensio- des betreffenden Stückes«, das den »Ehrgeiz
nalen Konzepts von Theater-Moderne« (Strei- der Schauspieler, in ihr zu bestehen« (GBA 22,
sand, S. 578). S. 853), errege. Wenn B. auch von ›Dekora-
Ein wesentliches dieser Momente stellt die tion‹ sprach, so gebrauchte er das Wort als
Beleuchtung dar. B. bestand auf einer totalen eingeführten, auf dem Theater üblichen Be-
Ausleuchtung der Bühne unter Einsatz aller griff, nicht aber im Sinn von dekorativ, wohin-
vorhandenen Lichtquellen, die vorwiegend gegen er den weiteren üblichen Begriff ›Büh-
weißes Licht, das keine oder nur geringe nenbild‹, der an ›Weltbild‹ erinnert, mied und
Schatten zuließ, ausstrahlten. »Das Publikum stattdessen ›Bühnenbau‹ benutzte, um einmal
bleibt sich dadurch immer bewußt, daß es auf das Handwerkliche zu betonen, aber auch das
Theater schaut, nicht auf wirkliches Leben« Menschengemachte, Handhabbare, das die
(GBA 23, S. 115). Überdies bewirkte die Aus- Darsteller nicht in eine fertige, ihnen als
leuchtung eine Entfaltung des gesamten Büh- ›Schicksal‹ vorausgesetzte ›Welt‹ zwang, son-
nenraums, ließ keine stimmungshafte Atmo- dern diese ihnen als änderbare und sich än-
sphäre zu und unterstützte die Komik: »Komik dernde auslieferte. B.s Beschreibung der Ar-
kommt bei Helle besser an, wie jeder Komiker beit seines, von ihm bevorzugten Bühnenbau-
weiß.« (S. 116) Eine leere und weiße Bühnen- ers zeigt, welchen maßgeblichen Einfluss Ne-
fläche gehörte zur Theater-Avantgarde des frü- her auf die Realisierung des Spiels hatte.
hen 20. Jh.s: »Brecht bleibt damit innerhalb Häufig gingen die Arrangements sowohl der
der Regeln einer Ästhetik der neusachlichen Figuren als auch der Requisiten auf dessen
Moderne.« (Streisand, S. 567) Vorstellungen zurück, die er, noch ehe auf der
Dem steht widerspruchsvoll gegenüber, wie Bühne geprobt wurde, in Zeichnungen fest-
Marianne Streisand gezeigt hat, B.s Beharren hielt. Ruth Berlau berichtet über beider Zu-
aufs Detail, »ein geradezu obsessives Verhält- sammenarbeit 1948 in der Schweiz: »Neher
nis« (Streisand, S. 567) bei Requisiten, Büh- saß mit einem Block da, nicht sehr groß, und
nenbild und Kostümen, für die von vornherein zeichnete, während Brecht erzählte und Vor-
jede bloß dekorative Funktion ausgeschlossen stellungen über die Inszenierung entwickelte.
war; auf der Bühne durfte nur das gezeigt wer- Am Schluss übergab Neher ein Packen Skizzen
den, was mitspielte und für die Darsteller mit Arrangements, Haltungen, Gesten, Deko-
handhabbar war. Requisiten und Bühnenbau, rationsentwürfen, Kostümen und so weiter.
der »ein Gelände [eröffnete], auf dem ›Leute‹ Beim Inszenieren kam Brecht leichter voran,
Systematische Hinweise 51

wenn er Nehers ›Protokolle‹ – ich sage es in fähigem Papier und dafür geeigneter Feder zu-
Anführungszeichen, weil Neher ja viele eigene stande kam, und gab durch die Wahl der Farb-
Ideen einbrachte – als Erinnerungshilfen vor Grundierung den Arrangements eine gezielte
sich hatte.« (Bunge, S. 209 f.) Streisand hat die ›Gestimmtheit‹ (rot z. B. für Zorn als Grund-
Umsetzung von Nehers Ideen am Beispiel der farbe für die Verabschiedung der Bräute; vgl.
Szene 9 des Puntila beschrieben, als Matti Abbildung in: Theaterarbeit, S. 27). Beides,
seine Ansprache an den Besen (als ›Richter‹) die Leichtigkeit und die ›Stimmung‹, kehrten
hält, um den vier ›Bräuten‹ Puntilas einen im Bühnenspiel sowie in der zarten Eindring-
schönen Tag auf dem Gut in Aussicht zu stel- lichkeit der Farbgebungen des Bühnenbaus
len. B. hat in seiner Eröffnungs-Inszenierung wieder (vgl. Streisand, S. 571 f.).
des Berliner Ensembles von 1949 die Skizze Wie genau B. bei der Regie arbeitete, zeigte
Nehers bis in Detail reproduziert: den mit dem sich auch in (scheinbaren) Kleinigkeiten. Wis-
Stiel in den Boden gerammten Besen, Mattis send darum, dass auch große Stücke schwache
Haltung, den Kopf gewendet zum Besen, und Stellen haben, achtete er sehr genau darauf,
dessen Gestik mit den zwei in Richtung der dass das »Gleichgewicht, das leicht zu stören
Bräute gestreckten Armen, die Handflächen ist« (Hecht 1985, S. 29) in der Inszenierung
offen, den Abstand zwischen Matti und den gewahrt blieb, was hieß, dass die Anstren-
Frauen sowie die eng zusammenstehende Fi- gung, eine schwache Szene stark zu inszenie-
gurengruppe der Bräute; auch die von Neher ren, womöglich die starke Szene schädigte.
nur angedeutete Kostümierung hat B. in die »Man muß, wenn eine Szene lang wirkt, sorg-
Szene übernommen (vgl. die Abbildungen in: fältig prüfen, ob nicht die vorhergehende zu
Theaterarbeit, S. 26, S. 312 f.). Ebenso minu- lang ist.« (Ebd.).
ziös verfuhr B. mit dem Ende der Szene, als Für die Wirkung von B.s Theaterarbeit lie-
der nüchterne Puntila die Frauen vom Hof gen folgende Zahlen vor: Zwischen 1946 und
schickt, sie empört über dessen Humorlosig- 1963 sind 315 Inszenierungen von 32 Stücken
keit ihre Strohkränze auf den Boden werfen B.s (einschließlich der Flüchtlingsgespräche
und Matti, traurig auf den Besen gestützt, zu- und Happy End von Elisabeth Hauptmann) auf
sieht. Interessant ist dabei, was in GBA 6 (zu den Bühnen der SBZ bzw. der DDR sowie in
S. 336–338) nicht kommentiert ist, dass B. den westlichen Besatzungszonen bzw. der
nach der Aufführung von 1949 Nehers Idee als Bundesrepublik Deutschland nachgewiesen,
Regieanweisung in den Text des Erstdrucks deren Aufführungszahl allerdings unbekannt
von 1950 aufnahm und sie damit für die wei- ist (vgl. Wurst, S. 128–130). Für die Spielzeit
teren Aufführungen verbindlich machte (»er 1958/59 verzeichnete anlässlich einer Ausstel-
[Matti] stößt den Besenstiel in den Boden und lung des Instituts für Theaterwissenschaft an
redet ihn an«; S. 337). Die Zeichnung des Ma- der Universität Köln Bertolt Brecht auf der
lers produzierte neuen poetischen Text. »Wort-, Bühne Carl Niessen 1140 Aufführungen ver-
Schrift-, Bild- und Raumkünste gehen in die- schiedener Inszenierungen B.s auf deutschen
sem Fall von szenisch praktizierter Interme- Bühnen (Niessen, S. 3).
dialität einen engen Arbeitszusammenhang
miteinander ein. Von der Story ausgehend,
zeichnet die Malerei gegenüber der Schrift Literatur:
hier die Eroberung des Raumes vor.« (Strei- Aufricht, Ernst Josef: Ein Ende war nicht abzusehen.
sand, S. 571) Da Nehers Skizzen »erzählende In: Hecht, Werner (Hg.): Brechts ›Dreigroschen-
Arrangements« (S. 572) sind, eröffnen sie auf oper‹. Frankfurt a. M. 1985, S. 102–115. – Brecht,
die im Text vorgegebenen Handlungen einen Bertolt: Schriften zum Theater 2. 1918–1933. Frank-
furt a. M. 1963. – Bronnen, Arnolt: Tage mit Bertolt
neuen Blick und belegen damit das erhellende
Brecht. Geschichte einer unvollendeten Freund-
Zusammenspiel zweier Künste. schaft. Darmstadt, Neuwied 1976. – Fleißer, Marie-
Neher verlieh darüber hinaus seinen Skiz- luise: Gesammelte Werke. 2. Bd. Roman. Erzäh-
zen Leichtigkeit, die durch die Wahl von saug- lende Prosa. Aufsätze. Frankfurt a. M. 1972. – Frisch,
52

Max: Tagebuch 1946–1949. Frankfurt a. M. 1958. – GBA daraus eine größere Auswahl von 48
Hauptmann, Elisabeth: Julia ohne Romeo. Ge- Fragmenten – zumeist im Erstdruck – und
schichten. Stücke. Aufsätze. Erinnerungen. Berlin,
dazu eine Liste weiterer 112 nicht gedruckter
Weimar 1977. – Hecht. – Hecht, Werner: Brecht.
Vielseitige Betrachtungen. 2. Aufl. Berlin 1984. – Projekte. Grob gerechnet heißt das, dass hin-
Ders.: Brechts Theaterarbeit. Seine Inszenierung ter jedem von B. abgeschlossenen Bühnen-
des »Kaukasischen Kreidekreises« 1954. Frankfurt werk wenigstens drei weitere stehen, die im
a. M. 1985. – Kebir, Sabine: Ich fragte nicht nach Wettlauf um die Ausführung auf der Strecke
meinem Anteil. Elisabeth Hauptmanns Arbeit mit geblieben sind. Zwei Höhepunkte hitziger
Bertolt Brecht. Berlin 1997. – Luma: Brecht, Bron-
Produktion zeichnen sich dabei ab: Zwischen
nen und ihre Kritiker. In: Der Deutschen-Spiegel,
19. 12. 1924, S. 49–53. – Lyon, James K.: Bertolt 1919 und 1922 stellte B. (nach der Einteilung
Brecht in Amerika. Frankfurt a. M. 1984. – Niessen, in der GBA) acht ›Stücke‹ (darunter fünf Ein-
Carl: Brecht auf der Bühne [= Katalog zur gleich- akter) fertig, ließ 14 ›Fragmente‹ liegen und
namigen Ausstellung]. Köln 1959. – Piscator, Erwin: entwarf 27 ›Projekte‹, das heißt auf zwei voll-
Das Politische Theater. Neubearbeitet v. Felix Gas- endete Stücke kommen im Jahresdurchschnitt
barra. Reinbek bei Hamburg 1979. – Pfister, Man-
gut zehn unbeendete. Der zweite Höhepunkt,
fred: Das Drama. Theorie und Analyse. München
1977. – Reich, Bernhard: München 1923. In: Grimm, die fünf Jahre zwischen 1926 und 1930, zeigen
Reinhold (Hg.): Bertolt Brecht. Leben Eduards des folgendes Zahlenverhältnis: neun Stücke,
Zweiten von England. Vorlage, Texte und Materia- zwölf Fragmente und 27 Projekte.
lien. Frankfurt a. M. 1968, S. 242–263. – Streisand, Dieser Befund ist in seiner Tragweite noch
Marianne: Stimmung bei Brecht. Über die Produk- wenig durchdacht, ja in seinem Ausmaß noch
tion von Stimmungen oder Atmosphären in der
kaum recht wahrgenommen worden, und er ist
Theaterarbeit des späten Brecht. In: Zeitschrift für
Germanistik 10 (2000), S. 562–578. – Theaterarbeit. nicht auf die Stücke begrenzt. Auch zwei sei-
6 Aufführungen des Berliner Ensembles. Hg. v. Berli- ner drei Romane hinterließ B. als Fragmente.
ner Ensemble. Dresden 1952. – Völker. – Wege, Die fragmentarischen Gedichte, Erzählungen,
Carl: Brechts »Mann ist Mann«. Frankfurt a. M. Filmgeschichten und Schriften fallen nur des-
1982. – Wekwerth, Manfred: Schriften. Arbeit mit halb nicht so stark ins Auge, weil sie in der
Brecht. Berlin 1975. – Wurst, Nicola: Schweyk im
Edition der GBA nicht von den fertigen Texten
Kalten Krieg. Harry Buckwitz und seine Brecht-In-
szenierungen in der Adenauer-Ära. Berlin 1998 gesondert wurden. Als fragmentarisch gelten
[Masch.]. – Wyss. ferner Das Buch der Wendungen, die verschie-
denen Sammlungen der Geschichten vom
Jan Knopf
Herrn Keuner und die Flüchtlingsgespräche.
Aber bei diesen ›offenen‹, aufs Fortschreiben
angelegten, locker gereihten Textkomplexen
ist es bereits schwierig, sich eine ›Vollendung‹
vorzustellen, so wie umgekehrt aus der Sze-
Stückfragmente nenfolge Furcht und Elend des III. Reiches
jede Szene als ein gesondertes Stück ausge-
und Stückprojekte wählt und gespielt werden kann. Die Wertung
›fragmentarisch‹ scheint hier einem grund-
sätzlich überholten Werk-Begriff zu huldigen.
Befund und Theorie In der Tat sind auch die abgeschlossenen
Stücke B.s nicht so radikal von den unfertigen
verschieden, wie es die klassische Ästhetik
In ihrem Bestandsverzeichnis des literarischen nahe legt, die in der Vollkommenheit des in
Nachlasses (Bd. 1, S. 275–398) verzeichnete sich vollendeten, organischen Ganzen den In-
Herta Ramthun unter der Rubrik Stückfrag- begriff des Kunstschönen sieht und imperfec-
mente, -entwürfe, -projekte 156 verschiedene tio mit deformitas gleichsetzt (vgl. Ostermann
Titel. Erst 1997 veröffentlichten die von Gün- S. 24–27). Dagegen stehen die weitgehende
ter Glaeser bearbeiteten Bände 10/1–2 der Selbstständigkeit der Teile bei B., das Ver-
Befund und Theorie 53

knüpfungsprinzip der Montage, der ›Versu- Ein Blick auf die entwickeltere Diskussion
che‹-Charakter der Texte im Rahmen eines über das Fragment in den Kunstwissenschaf-
›experimentellen Theaters‹, dessen Ergeb- ten ist hier hilfreich. Die notorische Schwie-
nisse wie die der Wissenschaft überholt wer- rigkeit, im Œuvre Cézannes die fertigen von
den können, dazu das Konzept einer Öffent- den unfertigen Bildern zu unterscheiden,
lichkeit, in der sich die Dichtung keine Denk- führte zu tragfähigen Begriffsdifferenzierun-
mäler setzt, sondern eingreift in den Streit der gen: Er »war kein Fragmentist« in dem Sinn,
Meinungen und Interessen, aus welchem erst dass er kurzerhand »das Unvollendete zum äs-
dialektisch die immer neu zu fassende ›Wahr- thetischen Ideal« erklärte (Boehm, S. 36 f.);
heit‹ hervorgeht: all das deutet auf eine ge- dies gilt nicht minder für B. In der eigentümli-
nerelle Vorläufigkeit aller Texte. chen ›Balance‹ von Cézannes Bildern war
Im Konkreten war die »prinzipielle Unabge- gleichwohl die Idee des Ganzen von vornhe-
schlossenheit des Arbeitsprozesses« bei B. der rein so präsent, dass die Arbeit auf fast jeder
Editionsphilologie früh bewusst: »der Prozeß Stufe der »Réalisation« abgebrochen werden
bricht ab mit dem Tod des Autors, aber er konnte. Beobachter des Arbeitsprozesses ha-
findet kein eigentliches Ende« (Seidel, S. 59). ben den ›Höhepunkt‹ der Réalisation biswei-
Nach vielzitierten Worten Lion Feuchtwangers len in den früheren Stadien gesehen. Diese
(1957) hielt B. »alles, was er geschaffen hatte, Gleichwertigkeit aller Werkzustände ent-
für ein Vorläufiges, im Entstehen Begriffenes spricht logisch der generellen Vorläufigkeit al-
[ … ] und gerade jene Werke, die ihm die lieb- les Gemalten und Geschriebenen auch im
sten waren, [ … ] betrachtete er als Fragmente« Endzustand. B. hat diesen Zusammenhang be-
(S. 58). Ganz auf derselben Linie liegt es, stätigt durch das penible Aufbewahren jedes
wenn Heiner Müller 1978 das Fatzer-Fragment Zettels, der den Arbeitsprozess dokumentie-
einen »Jahrhunderttext« nennt (Brecht, S. 7). ren und etwa Material für die Fortsetzung lie-
Die kühne Formulierung Feuchtwangers von fern konnte. Zu unterscheiden sind also nur
1928, B. sei »mehr an der Arbeit als an dem »Grade der Ausführung« und grundsätzlich
vollendeten Werk, mehr am Problem als an der »die Frage der Vollendung von derjenigen des
Lösung, mehr am Weg als am Ziel« gelegen, Beendens« (S. 39).
verbindet Gerhard Seidel allerdings mit der Der pragmatische Schlusspunkt des Been-
Warnung, sie dürfe nicht »im Sinne einer ro- dens liegt bei B.s Dramen – folgt man »einer
mantischen Ästhetik interpretiert werden« extensiven Auslegung« des Fragmentbegriffs
(Seidel, S. 58). Das wäre in einer Auseinan- (Glaeser, S. 2) – in der Aufführung. Eine
dersetzung mit dem frühromantischen Frag- »ganze Kette von Äußerungen» (Seidel, S. 102)
ment-Begriff noch genauer zu prüfen: Zwar belegt, dass B. es für unmöglich hielt, »ohne
gibt es keinen Kult und nur den Ansatz einer die Bühne ein Stück fertigzumachen« (ebd.;
Programmatik des Fragments bei B., aber die vgl. GBA 27, S. 93). Wenn so der Stückeschrei-
faktische »Krise des Werk-Begriffs« (Franz, ber vom Regisseur B. prinzipiell nicht zu tren-
S. 212) rückt ihn doch entschieden in den Kon- nen ist, muss doch ein Vorbehalt gemacht wer-
text der Moderne, für deren Avantgarde seit den. Gerade in der Zeit der hitzigsten Frag-
der Romantik die unaufgegebene Idee des mentproduktion, als B. noch kein ›eigenes‹
Ganzen »ewig außerhalb des Werks« bleibt Theater zur Verfügung hatte, löste er sich ex-
(Ueding, S. 353), eines ›Werks‹, das gerade als perimentierend bewusst vom Theaterapparat,
Fragment, »als eine Art Prisma der Utopie« in der Überzeugung, dass die Erneuerung des
(S. 360) gültig zum historischen Prozess ver- Theaters nicht von diesem Apparat ausgehen
mittelt: »Fürwahr, selten in ihrer Geschichte könne. Später im Exil, als er kein Theater
ist von der Literatur höher gedacht worden als mehr ›besaß‹, nutzte er die Zwangslage wie-
in dem Moment, da ihre Fragmentgestalt als derum als Freiheit zum Experimentieren. »Für
die eigentliche Form ihres Wesens proklamiert die Schublade braucht man keine Konzessio-
wurde!« (S. 353) nen«, notierte B., anlässlich seiner Arbeit am
54 Stückfragmente und Stückprojekte

Guten Menschen von Sezuan, am 15. 3. 1939 Der folgende Versuch eines Überblicks ori-
ins Journal (GBA 26, S. 332). In den Zeiten entiert sich daher nicht an den schwankenden
theaterferner Produktion muss sich die Frag- Genrebezeichnungen, sondern gruppiert und
ment-Diskussion daher mit dem Kriterium der periodisiert die Fragmente nach dem Vorbild
Spielbarkeit begnügen. eines Schemas, das B. 1946 sich selbst für die
Der Grad der Ausführung bis hin zur Spiel- Einleitung zu einer geplanten Stücke-Ausgabe
barkeit ist dabei für jedes Projekt besonders zu entwarf: »Untersuchung der Themen. [ … ]
bestimmen, nicht ohne Berücksichtigung der Untersuchung der Fabeln. [ … ] Untersuchung
Genres. Denn die Stückfragmente bieten ein der Rollen.« (GBA 23, S. 57) Besonders an-
womöglich noch breiteres Gattungsspektrum hand der Themen, Motive und Figuren wird
als die kanonisierten fertigen Stücke B.s: Das deutlich, wie eng das fragmentarische mit dem
Spektrum reicht vom Oratorium über das Bi- kanonisierten Werk zusammenhängt, dass es
beldrama (David, Sintflut, Goliath) bis zum sich um Teile desselben Gewebes handelt.
Zeitstück (Die Bälge, Jae Fleischhacker, Chine- Diesen Filiationen im Einzelnen nachzugehen
sischer Vatermord, Eisbrecher Krassin, Bü- und die Fragmente zusammen mit den Stücken
sching); von der Konversations- und Salonko- als eine Entwicklung zu interpretieren, stellt
mödie (Herr Makrok) über die Klamauk-Ko- die B.-Forschung vor eine Aufgabe, die hier
mödie (Galgei, Der Impotente) und »Kolpor- nur in den Umrissen anzudeuten ist.
tage-Dramatik« bis zur Revue (Revue, Die
Neandertaler), wieder aufgenommen in Ver-
bindung mit der aristophanischen Komödie
(Pluto, Der Wagen des Ares, Dante-Revue); 1919–1926
und nicht zuletzt von der Oper (Mann aus
Manhattan, Goliath, Reisen des Glücksgotts,
Leben Einsteins) über das Lehrstück (Fatzer, Den Reigen dominanter Themen in B.s frühen
Der Brotladen, Aus nichts wird nichts, Der Fragmenten eröffnet das Problem der Identi-
Brückenbauer, Der böse Baal der asoziale) bis tät, der Individualität in ihrem Verhältnis zur
zur dramatischen Biographie (Dan Drew, Die Gruppe. Seine erste Formulierung in Galgei
Judith von Shimoda, Das Leben des Konfutse, (1920/21) wird klarer erkennbar durch die
Leben des Menschenfreundes Henri Dunant, spätere Entfaltung in Mann ist Mann (1926).
Rosa Luxemburg) oder zum Legenden- und Der Materialienband von Carl Wege zum Stück
Historienstück (Päpstin Johanna, Hannibal, hat 1982 bereits die Korrespondenzen und
Alexander und seine Soldaten, Die Geschäfte Kontinuitäten so deutlich herausgestellt, dass
des Herrn Julius Caesar). Die meisten dieser beide Texte als dasselbe Projekt erscheinen.
Fragmente und Projekte changieren im Übri- Die Ausgangssituation wird in Galgei noch von
gen während ihrer Entstehung zwischen meh- einer etwas dünnen und verquälten Fabel her-
reren der unfest definierten Gattungen. Hinzu gestellt: Der Gruppe kommt ein seiner Funk-
kommt, dass B. fast überall eine mehr oder tion nach unentbehrliches Mitglied abhanden.
weniger intensive Einbeziehung von Musik Wichtiger scheint die Zeichnung des vorgese-
vorsah, reichend von der Verwendung musik- henen Ersatzmannes Galgei, der seine bishe-
bezogener Gattungsbegriffe (z. B. Oratorium), rige Identität verleugnen muss, um den Platz
über die Notierung eigener Notenskizzen des Toten einzunehmen. Sie ist alles andere als
(etwa im David), der Integration von Liedern psychologisch: »ein guter Kerl in rauher
B.s aus anderen Zusammenhängen (in der Re- Schale. Ein Bursche [ … ], der nie viel nach-
vue Die Neandertaler) oder, indem er Opern- dachte [ … ], er schwitzt vor Denken [ … ]. Er
Projekte mit Komponisten plante, beispiels- ist nicht zart, nicht sensationell gut, er ist nur
weise mit Hanns Eisler den Goliath und mit mittelgut, im Unglück wird er besser, aber
Paul Dessau Leben Einsteins (vgl. Lucchesi/ nicht aktiv; das ist der Haken: er ist nicht
Shull, S. 283 f., S. 305, S. 409, S. 663–665, besonders gut, er gehört zu den Lauen, hat
S. 964).
1919–1926 55

böse Züge« (GBA 10, S. 18); Galgei »ist nicht Bursch mit dickem Kopf, zottigen Haaren,
schlecht, sondern schwach« (S. 19); »unver- Strähne über die Stirn, etwas dumm, unge-
braucht, finster, ein Stier« (S. 28); »Ein sehr lenk« und doch gleichzeitig als der »Be-
ordentlicher Mann ist das. Lebt still und be- rauschte, Ekstatische, Selige« (GBA 10, S. 75).
scheiden mit seiner Frau [ … ]. Er ist ein so Das bemerkenswert stabile Gerüst der Fabel,
verläßlicher Arbeiter!« (S. 34) Ob wild und vi- das sich der Reigenstruktur des gleichnamigen
tal einerseits oder bürgerlich angepasst an- Grimm’schen Märchens verdankt, erlaubt
dererseits, deutlich wird die Reduktion der auch die Feststellung, dass das Stück bis zur
Figur auf eine Art tumbe Kreatürlichkeit bei Spielbarkeit ausgeführt ist und von B. nur als
diffusem moralischen Charakter. Den toten »mißlungen, ein Ei, das halb stinkt« (GBA 26,
Pick machen die Kameraden unkenntlich, in- S. 165) beiseite gelegt wurde, wie er im Tage-
dem sie sein Gesicht im Fischkasten in den buch am 14. 9. 1920 vermerkte: Hans verliert
Fluss hängen (S. 33). Galgei muss seine Iden- im Tausch Stück für Stück seines Besitzes, sei-
tität selbst auslöschen. Was für jenen der Fluss ner Existenz und zuletzt auch sein Leben, ein-
ist, ist für diesen die Schaukel: »Als ich aber gehend in die Natur. An die Stelle der letzten
dann auf der Schaukel stand und mich der Szene (Szene 11) der Folge B 1 (GBA 10,
Musik hingab, fühlte ich, daß ich alles S. 113 f.) – eine schon überdeutliche Reminis-
Schwere überwunden hatte und einverstanden zenz an Büchners Woyzeck (»Am Teich«), der
war, mich im Kreis zu bewegen, was ich schon auch bei der Modellierung der ganzen Figur
vorher getan hatte, aber wider meinen Willen. Pate gestanden haben dürfte – wäre nur die
[ … ] Ich hatte eine große Lust nun, denn ich letzte Szene (Szene 9) der Folge B 2 (S. 114 f.)
wußte, daß ich jetzt einverstanden war.« als Schluss zu setzen (vgl. GBA 10, S. 1010).
(S. 26) Keimhaft, aber vollkommen deutlich Eine Variation des gesellschaftlichen Außen-
taucht hier erstmals das zentrale Motiv des seiters, ja des Ausgestoßenen, mag man in der
›Einverständnisses‹ auf, das später dem Bade- David-Figur von 1920 sehen, deren Zeichnung
ner Lehrstück den Namen gab (vgl. Krabiel, über den ›bösen Realismus‹ der Bibel, wie B.
S. 60, S. 115). Die tänzerische Aufhebung der am 20. 10. 1916 im Tagebuch feststellte (vgl.
›Schwere‹, die freiwillige Selbstauslöschung GBA 26, S. 107) noch hinausgeht. Der junge
hat hier ekstatische Züge. Dabei ist das Kollek- David liegt faul bei den Bettlern in der Sonne,
tiv, in das sich das Individuum nach seiner drückt sich vor dem Wehrdienst, spottet lässig
›Auferstehung‹ unter anderem Namen einfügt, und respektlos über alles und sucht so seine
eine Schieberbande. Der Problematik einer ›Freiheit‹ (vgl. GBA 10, S. 132–142). Das gilt
solchen Verwandlung trägt B. erst in den spä- aber nur für den jungen David, nicht für den
ten Varianten und Kommentaren zu Mann ist König, der David als Nachfolger Sauls wird.
Mann Rechnung (vgl. Wege, S. 22–25; GBA 2, Von daher scheint es in der Tat »berechtigt, von
S. 225–227). zwei verschiedenen Stückprojekten zu spre-
Unter den Stückfragmenten bietet Galgei chen« (S. 1014), welche die GBA unter dem
die erste Formulierung des Identitätsthemas. Titel David vereinigt. Das vorhandene Mate-
Der erdenschwere Figurentyp, eine Barlach- rial jedoch zeigt keine Verbindung zwischen
und Baal-Figur, tritt dagegen früher und wohl ihnen, so dass die König-David-Sequenzen (A
noch eindrucksvoller in dem erstaunlichen 1–5, B 2–6 und 7–8) als eigenständiges Projekt
Stück Hans im Glück (1919) entgegen. Galgei abzutrennen wären. Als weibliche Variante des
verdankt seine frühe Einordnung in der GBA Galgei-Typs erscheint ferner die Bauerntoch-
nur einer brieflichen Erwähnung B.s vom Au- ter Johanna im Fragment Die Päpstin Jo-
gust 1918, nämlich er mache »gelegentlich ein hanna, »bösartig, berechnend, quadratschäd-
neues Stück fürs Theater der Zukunft: / Der lig« (S. 166), die aber widerborstig ihre Ver-
dicke Mann auf der Schiffschaukel!« (GBA 28, wandlung zur Päpstin als Manipulation durch-
S. 66; vgl. GBA 10, S. 996) Sehr ähnlich wird schaut und sich nicht in ihre neue Papstrolle
Hans im Glück charakterisiert: »Ein dicker einzwängen lässt.
56 Stückfragmente und Stückprojekte

Verwandt mit den Geschichten der Entper- das erst im zweiten Anlauf mit der Heiligen
sönlichung sind die vom Untergang der Gro- Johanna der Schlachthöfe glückte, ist im Übri-
ßen, der historischen Eroberer. B.s entheroi- gen der erhaltene Textbestand enttäuschend;
sierender Gegenentwurf zu Grabbes Hannibal eine »intensive gedankliche Durchdringung
(1922) fasst Hannibal als »Neger« (GBA 10, des Stoffes« (S. 1073), nämlich der Börsenvor-
S. 240) in der karthagischen Gesellschaft auf – gänge und des kapitalistischen Wirtschaftssys-
»denn ich glaube, er war von der Urbevölke- tems, ist eben das, was das Material vermis-
rung« (ebd.) –, der von der Gesellschaft be- sen lässt. Wesentlich konkreter und von sta-
nutzt, aber nicht geachtet sowie nicht unter- bilerer Struktur, dank der benutzten Biogra-
stützt wird und der, in verzweifelter Situation phie, sind die Kämpfe der amerikanischen
mit Wallensteinscher Willenslähmung ge- Eisenbahnkönige und Börsen-Hazardeure in
schlagen (vgl. S. 261), seiner Kreatürlichkeit Dan Drew (1925/26) dargestellt. Wiederum
inne wird. Die dramatische Kurve bis zu sei- geht es um die große Persönlichkeit (vgl.
nem jämmerlichen Tod ist ein Untergang S. 345), deren konsequent amoralischer Egois-
mehr, so wie ihn die Gewalttäter bei B. zuletzt mus krass hervortritt (vgl. S. 358). Allerdings
erleiden (vgl. Die Ballade von des Cortez Leu- steht der großen Rede des Pessimisten Dan
ten oder die Erzählung Bargan läßt es sein). Drew über »das entsetzliche New York«
Auch der kurze Text Alexander und seine Sol- (S. 339) zum ersten Mal, in Vanderbilts optimi-
daten (vermutlich um 1922/23) erfasst den stischer Perspektive, eine Auffassung vom
großen Eroberer nur im Moment seines Schei- Wachstum Amerikas gegenüber, die andeu-
terns, als er in Schweigen und Untätigkeit, wie tungsweise den Egoismus des Individuums
Hannibal in Langeweile versinkt (GBA 10, transzendiert (S. 373 f.); das entscheidende Fa-
S. 320) und für seine Soldaten zum Gerücht zit zieht jedoch nur eine Regiebemerkung:
wird. Nur noch in ihrer Melancholie spiegelt »Die Gebäude sind groß und für viele Jahr-
sich die Größe der antiken Helden wider. hunderte gebaut. Es ist nicht mehr das Werk
Vitaler stellte B. daneben die Kämpfe der einzelner« (S. 374).
bürgerlichen Giganten um ihre ›Größe‹. An- So wichtig nun aber die wiederkehrenden
ders als im abstrakten ›Kampf an sich‹ von Im Themen, Motive, Figuren und Grundfabeln
Dickicht der Städte geht es im Kampf der ame- als Leitfaden durch die verwirrende Vielfalt
rikanischen Tycoons Jae Fleischhacker und der frühen Fragmente auch sind, so zeigen
Dan Drew um hohe Einsätze. Wie Pierpont doch nicht zuletzt die überwiegend unfesten
Mauler in der Heiligen Johanna der Schlacht- Fabelstrukturen, wie stark alle diese Texte
höfe ist auch Fleischhacker am Großsein und noch vom Wort her bestimmt sind. Unüber-
am Monument seiner Persönlichkeit gelegen, trefflich plastisch und präzise hat der späte B.
er will nicht spurlos vom Erdboden verschwin- im Rückblick, Bei Durchsicht meiner ersten
den (vgl. GBA 10, S. 307). Das Kampfmotiv Stücke (1953), die Art seines Fantasierens zu
verbindet sich mit dem der kalten Fremdheit dieser Zeit festgehalten: »Ich stellte Wortmi-
der Städte (vgl. S. 287), hier Chicagos, die schungen zusammen wie scharfe Getränke,
aber von den Großen als Kampfplatz und ganze Szenen in sinnlich empfindbaren Wör-
Purgatorium angenommen wird: »Das ist eine tern bestimmter Stofflichkeit und Farbe.
gute scharfe Sache, diese Stadt, da fällt einfach Kirschkern, Revolver, Hosentasche, Papier-
ab, was faul ist« (S. 273). Am Ende steht auch gott: Mischungen von der Art.« (Über Im Dik-
hier eine Art Untergang, nur vollziehen sich kicht der Städte; GBA 23, S. 244) Auch viele
»die durch das Geld hervorgerufenen Kata- der Figuren sind wortverliebt und sprachtrun-
strophen [ … ] viel dünner, stimmungsloser ken, Park Gogh z. B. hat »einen solchen Spaß
und trockener« als die durch Krieg und Liebe an Worten« (GBA 10, S. 158), und Die Fleisch-
veranlassten (S. 279). Angesichts der schon le- barke (1920) bezeichnete B. in einer Tagebuch-
gendären Kommentare und Selbstkommenta- Notiz vom 21.–26. 6. 1920 als »eine Operette in
re zum Fleischhacker-Projekt (vgl. S. 1073 f.), Worten« (GBA 26, S. 122). Hinzuzufügen wäre
1919–1926 57

noch der ›Ausdruck‹, von dem sich B. bereits Projekt, das beide Topoi beispielhaft vorführt
1920, vergeblich, verabschieden wollte, wie er (in diesem Zusammenhang taucht erstmals
im Tagebuch am 7. 7. 1920 schrieb: »Noch der Name Paul Hindemith auf; vgl. GBA 10,
müssen ›Galgei‹ und die ›Sommersinfonie‹ S. 1087). Der ursprüngliche Titel Sodom und
aus der Hand, aber dann hat der Expressio- Gomorrha, der ein Strafgericht Gottes wie in
nismus abgewirtschaftet, und der ›Ausdruck‹ Mahagonny suggeriert, wird ersetzt durch den
wird auf den Mist geworfen!« (S. 126) sachlich-amerikanischen Mann aus Manhat-
›Ausdruck‹ in diesem Sinn, Ausdruck einer tan (1924). Hier ist, trotz der »noch oberfläch-
lyrischen Befindlichkeit im Psalmen-Ton, ist lichen Kenntnisse der nordamerikanischen
vor allem das Oratorium (vermutlich um Geographie« (Seliger, S. 67), der Gründungs-
1917): »Ich bin einsamer als ein Baum, den mythos des Landes in einen mitreißenden epi-
Gott zu töten vergessen hat, und ich bin zu- schen Gesang gebracht, und zwar aus india-
innerst morsch.« (GBA 10, S. 7) Der Text ist im nischer Perspektive: die Eroberung Amerikas,
Übrigen so abgeschlossen, wie ein Text nur der Aufbau der Städte und das Gold- und Öl-
sein kann, und gehört nicht unter die Frag- fieber (GBA 10, S. 331 f.). Die Periode wird
mente. Bei der Sommersinfonie (1917–1922) abgeschlossen durch die Travestie amerikani-
ist hingegen mit verloren gegangenem Text, scher Mythen in der Skizze einer ›Revue‹ für
das heißt mit einem Überlieferungsfragment, Max Reinhardt (1926). Zur ironischen Aus-
zu rechnen, denn alle Aufzeichnungen über stellung sind z. B. vorgemerkt der Rekord, das
das Projekt spiegeln einen weit fortgeschrit- Girl, das Lächeln, die Reklame, der Box-
teneren Zustand des Stücks wider als das Ma- kampf, Tarzan und Tahiti und damit nicht zu-
terial selbst. letzt die Revueform selbst (vgl. S. 382–385).
Die expressive Sprache ist noch atmosphä-
rehaltig und vergleichsweise erlebnisnah, be-
sonders in den Naturszenen. Autobiogra-
phisch ist das Atelier- und Bohème-Milieu, so 1926–1930
in Herr Makrok (1919) und Die Bälge (1920);
die Gruppen und Banden der Stücke (der
»Klub Klamauk« im Galgei; GBA 10, S. 37) mit Im Mittelpunkt der nächsten Periode steht die
ihrem teilweise noch juvenilen Sprachcode Herausbildung des Lehrstücks in den zentra-
sind unschwer als Figurationen der Augsbur- len Projekten Fatzer (1926–30) und Der Brot-
ger B.-Clique zu durchschauen; bisweilen sind laden (1929/30). Der bekannte Journal-Ein-
die Namen der Freunde in den Entwürfen so- trag vom 25. 2. 1939 nennt beide in einem
gar entschlüsselt (so Georg Pfanzelt in Hans Atem, sie seien notwendig zu studieren, um
im Glück; S. 104 oder Caspar Neher in Die nach den Rückschritten der Exildramatik wie-
Bälge; S. 144; vgl. S. 1022). Vitalistische der auf die Höhe zu kommen: »Diese beiden
Wunschprojektionen versetzen die Clique an Fragmente sind der höchste Standard tech-
exotische Schauplätze, in die Bar einer malaii- nisch.« (GBA 26, S. 330)
schen Wirtin, auf Schiffe und in Hafenkneipen Dass B. sich fünf Jahre lang beharrlich mit
zwischen Chile und Borneo in Der grüne Gar- dem Fatzer-Projekt abplagte, hat komplexe
raga (1920) und Park Gogh (1920/21). Gründe, zu denen aber sichtlich die Schwie-
Zu den exotischen Schauplätzen ist auch rigkeit gehört, sowohl den vital-egoistischen
Nordamerika zu rechnen mit den komplemen- Figurentyp des Frühwerks als auch sein ›Ein-
tären Topoi Prärie und Großstadt, wie eine verständnis‹ politisch zu definieren. Schon der
Tagebuch-Eintragung vom 18. 6. 1920 nahe erste Ansatz, der Baal, erschien ihm im Rück-
legt: »Wie mich dieses Deutschland langweilt! blick, wie er am 11. 9. 1938 ins Journal no-
[ … ] Bleibt: Amerika!« (GBA 26, S. 121) Der tierte, als »immer ein Torso«, der durch die
Höhepunkt des B.schen ›Amerikanismus‹ ›Operationen‹ zu seiner Beendigung »für die
1924–1926 wird eingeleitet durch ein Opern- (zwei) Buchausgaben und die Aufführung« fast
58 Stückfragmente und Stückprojekte

um seinen »Sinn« gebracht worden sei (GBA S. 468). Der letzte Titel des Projekts: Unter-
26, S. 323). Unerledigt scheint das Baalsche gang des Egoisten Johann Fatzer (A 32 und 33,
Lustprinzip: »Mach, was dir Spaß macht!« S. 469 f.) schließt zwar an die alte Untergangs-
(ebd.), an dem die Entwürfe zum Lehrstück thematik an; man mag sich aber fragen, ob
Der böse Baal der asoziale (1929/30) weiter- darin nicht auch eine Art Vorsatz mit ange-
denken und das seine subversive Sprengkraft deutet ist, hinfort »dem Typ Fatzer die Beach-
noch in den Reisen des Glücksgotts (1939–53) tung zu versagen« (S. 468).
erweist. Auf der anderen Seite zeigte sich das Das Fatzer-Projekt liefert die ersten Texte,
Frühwerk konsequent immun gegen das heroi- die B. bewusst als Fragmente im Druck ver-
sche Pathos der Revolution, und ein anderes öffentlichte, und zwar in Heft 1 der Versuche
Politikverständnis als dieses emphatische oder (1930). Zusammen mit der Aufführung des Ba-
das der »äußeren Zufälligkeiten« , wie es im dener Lehrstücks als Fragment und den Be-
Tagebuch vom 1. 7. 1920 heißt (S. 124), zeich- merkungen zum scheiternden Büsching-Pro-
nete sich nirgends ab. jekt (1950–54; vgl. GBA 10, S. 1280–1282) und
Das Fatzer-Fragment lässt seine Figuren nun zur Urfaust-Aufführung im Berliner Ensemble
in einem politischen Feld agieren, das nur am (1953) lässt sich diese Konstellation als Ansatz
Anfang noch von äußerer Zufälligkeit be- einer ›Fragment-Programmatik‹ interpretie-
stimmt ist. Vier Soldaten ergreifen spontan ren. Ein Theorierahmen dazu wäre aus dem
eine Gelegenheit, den Weltkrieg für sich zu dritten der veröffentlichten Fatzer-Fragmente
beenden. Zunächst nur aus dem Egoismus der herauszulesen, beachtet man seine poetologi-
Deserteure, die in ihrem Versteck auf das all- sche Dimension. Fatzer, komm (S. 511–513)
gemeine Ende des Kriegs lauern, beobachten vermittelt eine doppelte Botschaft: 1. Gib den
sie den Zustand des ›Volks‹ sowie seine Verän- Tisch (das Werk) heraus, Tischler (Autor), er/
derungen, die Kriegsmüdigkeit und den wach- es ist fertig, weil wir ihn/es brauchen. 2. Der
senden Widerstand. Als der individuelle Ego- Staat dagegen ist unfertig, gib ihn heraus, Ob-
ismus des Führers Fatzer nicht mehr bereit ist, rigkeit, weil wir alle an seiner Veränderung
den rationalen der ganzen Gruppe zu bedie- arbeiten müssen (vgl. S. 512 f.). Alles Ge-
nen, beschließen die drei seine Hinrichtung, schriebene also, gleich in welchem Zustand,
ein Akt, für den erst die Maßnahme (1930) kann dem übergeordneten historischen Pro-
eine Legitimation in der ›Wirklichkeit‹ der zess dienen. Das Fatzerdokument (S. 514) un-
Verhältnisse fand. Erwogen wird aber auch die terscheidet dazu ein doppeltes Werk-Telos.
Möglichkeit, dass sie »Solidarität anwenden Von der öffentlichen Funktion einer Arbeit
auf einen, der sie nicht hat«, und daran zu- wird der eigene Zweck des Produzenten be-
grunde gehen (GBA 10, S. 468 f.). Ihnen däm- grifflich getrennt und fast trotzig festgestellt:
mert auch (bald mit, bald ohne Fatzer), dass »Ich, der Schreibende, muß nichts fertigma-
nur der vollkommene Umsturz sie aus ihrer chen. Es genügt, daß ich mich unterrichte.«
verzweifelten Lage retten kann und es darum (Ebd.) Immerhin bliebe für die Zuschauer
geht, »den Krieg der Völker [in] / Den Krieg noch die Untersuchung seiner Methode lehr-
der Klassen und / Den Weltkrieg in den / reich.
Bürgerkrieg« zu verwandeln (S. 478); dass es Diese ›Methode‹ ist denn auch das eigent-
also falsch war, sich abzusondern und gegen liche Ergebnis: die Grundzüge nämlich einer
den Strom zu schwimmen (vgl. S. 498). Wie neuen Dramaturgie der kühnen Abstraktio-
aus dem »Furchtzentrum« der zerspaltenen nen, der ›Fatzervers‹ und seine gestische Spra-
Gruppe, aus Anarchie und Chaos eine neue che, die Dialektik von Chor und Gegenchor,
und gerechte Ordnung hervorgehen könne, ist die Multimedialität und die Kommentatorfi-
das gedankliche Kernproblem des Fragments gur des Keuner, das heißt, die künstlerische
(vgl. Wilke, bes. S. 159–161). Das neue Ziel Methode der Klärung von Problemen, mehr
des Einverständnisses ist jedenfalls die Soli- als diese Klärung selbst. Es scheint, dass das
darität mit der (revolutionären) Masse (vgl. Fatzer-Projekt so etwas wie das Versuchslabor
1926–1930 59

oder auch Kraftwerk darstellte, von dem in und stürzt nur ihn selbst ins Verderben: quod
dem Lustrum 1926–30 alle Stücke und Lehr- erat demonstrandum.
stücke profitierten, so sehr Begriff und Praxis Von hier aus ergibt sich ein Blick auf das
der letzteren auch von der Gebrauchsmusik- spätere Fragment Das wirkliche Leben des Ja-
bewegung inspiriert waren (vgl. Krabiel, pas- kob Gehherda. Auch der Kellner Jakob Geh-
sim). herda ist ein edler Ritter für alle Unterdrück-
Dramaturgisch interessant ist auch das Brot- ten, freilich nur in seinen Träumen, die alle
laden-Fragment (1929/30) mit seiner Montage von seinem wirklichen Verhalten widerlegt
klassischer Formen, der Teichoskopie (GBA werden. Tatsächlich verhält er sich angepasst
10, S. 629), dem homerischer Gestus, dem und nicht solidarisch, ein ängstlicher Ange-
Chor und der Verssprache (S. 630–634), sowie stellter, den man herumkommandiert (bay-
besonders seinen grotesken und burlesken risch: ›Geh her da!‹). Die unterdrückte bes-
Elementen (S. 637). Es ist eine formal locker- sere Natur aber bewirkt beim Kleinbürger die
distanzierte Befassung mit dem wohl bekann- Personspaltung oder, wie bei der Tabakhänd-
ten Antagonismus der Oberen und der Nie- lerin Shen Te im Guten Menschen von Sezuan,
deren. Sogar die Gattungsbezeichnung »Lust- – die Doppelrolle.
spiel« erwog B., denn: »Unglück im Übermaß Schon im Fatzer-Material tauchen bedeut-
ist nur komisch.« (S. 591) In der von vornher- same Hinweise auf die russische Revolution
ein scharf konturierten Klassengesellschaft und der Name Lenins auf (GBA 10, S. 483).
gilt im Kampf ums Dasein das »Gesetz: Nur Das Opernprojekt Eisbrecher Krassin
der Einzelne kann steigen« (S. 595) oder: »Wer (1929/30) will an einem aktuellen Fall die soli-
versucht, als Mensch hochzukommen, der geht darische Hilfe der neuen Sowjetmacht zeigen.
hoch / Wer versucht, als Menschheit hochzu- Es geht um den auf einer Polarexpedition im
kommen, der geht down« (S. 567). Der altböse Mai 1928 verunglückten italienischen General
Kampf der Giganten wird hier perspektivisch Umberto Nobile. Während der General ausge-
formuliert, als Fallgesetz, erinnernd an B.s flogen wird, gelingt es erst im Juli dem so-
späteren stereotypen Satz, dass »der Regen / wjetischen Eisbrecher Krassin, einen Teil der
Von oben nach unten fällt« (GBA 11, S. 210): überlebenden Mannschaft zu bergen (vgl.
»Denn die Giganten kämpfen / Aber unter den S. 1184). Die Schlüsselsätze von B.s Entwurf
Unbeteiligten fallen die Opfer!« (GBA 10, lauten: »Der Flieger der Reichen holt den Ge-
S. 608) Die Notwendigkeit der Solidarität un- neral [ … ]. Die Armen holen die Armen [ … ].
ter den Armen tritt klar hervor und wird in der Die einzelnen verlassen sich, die Masse hilft.«
Erstürmung des Brotladens auch getestet; aber (S. 661 f.)
die Widerstände überwiegen noch. Dazu ge- Eine Sonderrolle spielt der Intellektuelle als
hört die Heilsarmee, an deren Beispiel noch- Sympathisant der Niederen, als Katalysator ih-
mals (wie in Happy End von Elisabeth Haupt- rer Solidarität, wie etwa die David-Figur im
mann und in der Heiligen Johanna der Goliath-Fragment. Sein ›Einverständnis‹ wird
Schlachthöfe) das ›Unnütze der Religion‹ de- aber auch problematisiert und an seine Gren-
monstriert wird. Das Problemfeld Religion- zen geführt. Im Fragment Der Brückenbauer
Revolution wird sogar in einer tabellarischen (1929/30) ist der parabolische Schlüsseltext
Gegenüberstellung von Heilsarmee und Kom- der Keuner-Figur in den Mund gelegt: »Als
munistischen Partei abgesteckt (S. 593). Vor Herr Keuner gezeigt hatte, dass Einver-
diesem Horizont steht die Geschichte der ständnis nötig ist, zeigte er im Gleichnis
Witwe Queck, die nur dem traditionellen vom Brückenbauer, dass es schwierig ist,
Extremfall sozialen Elends ausgesetzt ist, der herauszufinden, womit man einverstanden
Exmittierung, sondern an der auch noch ein sein soll.« (GBA 10, S. 677 f.) Dieser Brük-
empörendes Unrecht verübt wird. Das hoch- kenbauer warnt vor dem Schmelzwasser und
herzige Eingreifen des Zeitungshändlers Wa- der Schwäche der Brücke und dringt beharr-
shington Meyer aber scheitert als Einzelaktion lich auf deren Reparatur, gegen den Willen
60 Stückfragmente und Stückprojekte

nicht nur der Obrigkeit, welche die Kosten aus Widerspruchsgeist hatte B. darum in den
scheut, sondern auch gegen die Sorglosigkeit Emigrantengesprächen des amerikanischen
aller anderen. Er ist einer der intellektuellen Exils der verbreiteten Auffassung, Hitler sei
Warner, die aus Sachverstand oder Klarblick als Persönlichkeit »ein Nichts«, eine Funkti-
unpopulär werden, durchaus der Kassandrafi- onsanalyse entgegengesetzt: »Aber der Ame-
gur Rosa Luxemburg im gleichnamigen Pro- rikaner versteht überhaupt nicht, wie ein
jekt (1944/1948–1952) an die Seite zu stellen, Mann nichts sein könnte, wenn die USA 40
die sich unfähig zeigte, »an der seelischen Er- Milliarden zu seiner Vertilgung ausgeben wol-
neuerung des Volkes 1914 teilzunehmen, ver- len« (S. 22), heißt es im Journal vom 1. 11.
krüppelt, ausländisch, jüdisch, spinnig, wie 1941. Das entspricht ungefähr der Linie des
sie gebaut ist« (S. 981), deren wahre Tragödie ersten Versuchs, einen ›aufhaltsamen Auf-
aber darin besteht, dass auch das Proletariat stieg‹ in eine dramatische Fabel zu bringen,
sie verlässt. nämlich in dem schon 1929 begonnenen Frag-
ment Aus nichts wird nichts. Der Ausgangs-
gedanke ist allerdings auch hier, dass der Auf-
steiger an sich, als Person, »nichts« sei. Sein
1933–1948 erster Name Goger Gogh verbindet im Übrigen
dieses Fragment mit dem wenig später be-
gonnenen Tuiroman-Fragment, wo die Kar-
Während Stücke wie Die Maßnahme (1930), riere des Gogher Gogh ebenfalls begleitet wird
Die Heilige Johanna der Schlachthöfe vom Spott der Intellektuellen über seine Un-
(1929–31) und Die Mutter (1931) die Notwen- wissenheit und Unbildung, während er »siegt«
digkeit des gewaltsamen Umsturzes der kapi- (vgl. GBA 17, S. 21, S. 26). Die Handlung des
talistischen Gesellschaftsordnung immer ent- Fragments scheint nun den Titel-Satz »Aus
schiedener und dringender herausstellten und nichts wird nichts« geradezu widerlegen zu
B. im Vorgriff auf eine Ordnung, in der »das wollen. Mit Bogderkhan, so der spätere Name
Interesse des Einzelnen das Interesse des Staa- des Helden, wird eben der Untauglichste, weil
tes ist« zu den radikalsten Konsequenzen sei- Billigste in ein Wächteramt als Schafhirt be-
ner Lehrstücktheorie in der »Großen Pädago- rufen, aber mit dieser Funktion sowie einem
gik« vordrang (GBA 10, S. 691), schaffte die Missverständnis und Betrug beginnt seine
Machtübergabe an Hitler tatsächlich eine ganz Karriere. Er wächst mit dem Gerücht seiner
andere und neue historische Situation. Deren Effizienz, er ist nur so viel wert wie der ›Kre-
Diagnose wurde zur zentralen Aufgabe des dit‹, den man ihm gibt. Um zu zeigen, dass
Exilwerks. Sie setzte mit der Analyse der Dik- exakt so auch die Börsenspekulation funktio-
tatorgestalt allerdings schon kurz vor 1933 ein, niert, richtete der Stückeschreiber unter den
so beispielhaft in den Rundköpfen und den Nomaden Mittelasiens eine Tierfell-Börse
Spitzköpfen, wo B. Shakespeares Fabel der ein: »Sie glauben ihm, er hat Leder, obwohl er
temporären Machtübertragung an einen keins hat« (GBA 10, S. 685). Auf diese Weise
›Durchgreifer‹ (Maß für Maß) allmählich zum schwingt er sich auch zum Diktator auf. Der
Modell seiner Faschismusdeutung ausbaute: weitere Weg bleibt dunkel, doch irgendwie
Der Faschismus sei grundsätzlich nur der geht er »zurück zu den Quellen des Nichts«
›Agent‹ des Finanzkapitals, in Entsprechung (S. 684). Durch die ›untersuchende‹ Methode
der ›Theorie‹ der Kommunistischen Interna- am parabolischen Modell (S. 689), durch die
tionale, und werde entlassen, wenn er seine Schauspielergespräche und die Theorietexte
Schuldigkeit getan habe. Er ist die ›Faust‹ des zur Großen und Kleinen Pädagogik, und nicht
Kapitalismus in Krisenzeiten, »aber die Faust zuletzt durch die Einführung eines kommen-
hat eine gewisse Selbständigkeit« (GBA 27, tierenden »Denkenden« schließt sich das Frag-
S. 63), wie B. später in einer Journal-Eintra- ment an die Lehrstücke an. Dieser Denkende
gung vom 28. 2. 1942 einschränkte. Nicht bloß liefert auch das generalisierende Schlüssel-
1933–1948 61

gleichnis, mit dem die Identitätsfrage durch Zum Stückprojekt Die Geschäfte des Herrn
eine allgemeine Rollentheorie abgelöst wird: Julius Caesar (1937/38) schrieb B. Ende Okto-
»Denkt euch, ihr spielt ein Spiel, in dem kei- ber / Anfang November 1937 an Karl Korsch,
ner die Maske kennt, die er aufhat. Wie soll er er wolle »nicht ein Anspielungsstück machen«
nun erkennen, wen er darstellt. Nur aus dem (GBA 29, S. 57). Dennoch wurde der umstrit-
Verhalten der anderen erkennt er, wer er ist. tene römische Urtypus aller europäischen Dik-
[ … ] So entsteht er« (S. 716). Dieses noch ab- tatoren durch mehr handfeste ›Anspielungen‹
strakte, aber doch erstaunliche Analysemodell als je zur Gegenwart hin durchsichtig gemacht,
scheint im Übrigen nicht ganz so früh zu datie- begünstigt durch den prinzipiell anachronisti-
ren, wie der Kommentar in der GBA annimmt. schen Darstellungsstil. Es beginnt mit Caesar
Die Vermutung, B. habe die Arbeit daran »spä- als Stammgast des »Café Forum« (GBA 10,
testens gegen Ende 1930 eingestellt« (S. 1191), S. 794), wo »Literaten und Börsianer« (ebd.)
wird durch den Text widerlegt. Der Zusatz verkehren (vgl. S. 790), entsprechend der
»30. Juni« zu dem Satz »Bogderkhan kommt Zuordnung des ›Kunstmalers‹ Hitler zur
auch hoch durch die Aufopferung der Gefähr- Schwabinger Boheme. Der Gestus des Befrem-
ten (am Fluß)« (S. 685) ist eine eindeutige An- det-Seins in der Frage »Wer wird Diktator?
spielung auf den sog. Röhm-Putsch und führt Vielleicht Herr Julius Caesar aus dem Café
wenigstens bis ins Jahr 1934. Forum?« (ebd.), spiegelt recht deutlich die
Im Opernplan Goliath (1937) greift B. nach skeptische Haltung intellektueller Beobachter
einem nicht weniger archaischen Modell der gegenüber Hitler vor 1933 (vgl. Klaus Mann,
Diktatur. Die Scheinlegitimität seiner Macht- S. 269–271; Scholdt, S. 279–287). Fast über-
ergreifung durch eine manipulierte Wahl, ein deutlich sind die Formulierungen zum ›römi-
ausgeprägter Führerkult um Goliath, der in schen‹, ja »faschistischen« Gruß (GBA 10,
dem höchsten Lob »der Bescheidene« gipfelt S. 804), zur »Achse« (»Mit den Deutschen exi-
(GBA 10, S. 776), auch die spöttische »Arie von stiert ein Freundschaftsvertrag. Man spricht
Goliaths schwacher Stelle« (S. 758), seinem viel über die Achse«; ebd.) und zur »Nichtin-
»schwachen Kopf. Darum kann er Köpfe nicht tervention« der Gallier (S. 793), der westli-
leiden«, dies alles macht die biblische Ge- chen Appeasement-Politik. Wichtiger freilich
schichte deutlich auf Hitler beziehbar; vor al- sind die politischen Grundeinsichten aus dem
lem aber die Situation der Unterdrückten, der strukturellen Vergleich: das »Hochkommen
›armen Leute von Gad‹ (vgl. S. 768), die tief der Diktaturen zwischen sich heftig bekämp-
zerspalten und demoralisiert sind. Erst mit der fenden Klassen« und ihre fortdauernde Ab-
Freundschaft zwischen David und Jonathan hängigkeit von der herrschenden (A 6, S. 799),
beginnt die Verbrüderung der Schafhirten, sowie, dass die Kriege des Diktators »zur Aus-
Bauern, Weber und Schmiede als Vorausset- beutung des eigenen Volkes unternommen
zung des Widerstands. Es ist eine unschwer zu werden« (GBA 29, S. 57). In der Notiz schließ-
entschlüsselnde Parabel auf die Einheitsfront lich, der »tragikomische Held des Stückes ist
der Arbeiterschaft gegen Hitler. David, dem das Bürgertum«, das, um seinen Besitz zu ret-
Intellektuellen, kommt dabei eine besondere ten, die eben gewonnene politische Macht an
Bedeutung zu: Er erhält und liest »das Buch«, den Diktator abgebe (GBA 10, S. 805), klingt
und in »dem Buch steht alles über die E i n i g - wohl nicht von ungefähr Marx’ Schrift Der 18.
k e i t « (ebd.), Wissen also, das in Praxis über- Brumaire des Louis Napoleon an. Kommuni-
geht. Und noch eine Parallele zum Faschismus stische Theoretiker hatten sich seit Mussolinis
lässt sich erkennen: aus dem großen Appetit Marsch auf Rom (1922) an ihr orientiert, um
des Goliath ergibt sich die Notwendigkeit des eine historische Erklärung für die faschisti-
Kriegs gegen sämtliche Nachbarn. Angesichts schen Regimes in ganz Europa zu finden. Der
ihrer erdrückenden Übermacht »lohnt es sich Bonapartismus lag auf der Linie zwischen Cae-
schon, zu überlegen [ … ], ob man nicht lieber sar und Hitler sehr nah bei letzterem und käme
eventuell den Goliath abschaffen muß?« sogar als Vorreiter für die »Theatralik des Fa-
(S. 758)
62 Stückfragmente und Stückprojekte

schismus« in Betracht (vgl. GBA 22, S. 561– linge Plutos, die Reichen, »einen berühmten
69). Einen Ansatz dazu projizierte B. bereits in römischen Arzt« (GBA 10, S. 825) engagieren,
die Caesar-Figur: Diese sagt »Publikum« statt der Plutos Blindheit kuriert (S. 828). Dass hier
›Volk‹ (GBA 10, S. 805). Solche Grundgedan- »römisch« aus »italienisch« korrigiert ist (BBA
ken schienen B. aber nicht genügt zu haben. 925/11), liefert zusätzlich ein philologisches
Die Aufmerksamkeit auf die »Geschäfte« des Indiz dafür, dass mit dem ›Arzt‹, der die alte
Diktators, die eigentlich materialistische Ana- Ordnung wiederherstellt, der Faschismus ge-
lyse seines Aufstiegs, trieb B. in immer weiter meint ist. Da der geheilte Pluto nun auch seine
ausgreifende Quellenstudien. Die Konkretheit alte Freundin, die Kriegsfurie, wieder sehen
und Fülle dieses vorgefundenen und fingier- kann, verfällt er ihr aufs Neue und zieht mit ihr
ten Materials sollte ab Anfang 1938 Platz im in den zweiten Peloponnesischen Krieg. Es ist
Caesar-Roman finden, der schließlich aber die parabolische Skizze einer Zwischenkriegs-
auch Fragment blieb. zeit, wie B. sie auch im Tuiroman und in der
In der Expressionismusdebatte berief sich Giacomo-Ui-Erzählung (Wenige wissen über)
B. auf die Arbeit an diesem Roman, um gegen vorführte, um auf die deutsche Nachkriegs-
die zu enge Auslegung des Realismusbegriffs republik und ihre bald erstickte ›halbe‹ Revo-
zu protestieren (vgl. GBA 22, S. 437 f.). Die lution zu deuten (vgl. Journal, 18. 6. 1942;
sowjetische Dekretierung des Sozialistischen GBA 27, S. 106).
Realismus war einer der herbsten Rück- In diesen Rahmen fügt das Szenario noch
schläge, welche die Moderne in den 30er-Jah- eine Vordergrundhandlung ein, in der die Re-
ren erfuhr. Die Theater seiner Exilländer fand vue sich selbst zum Gegenstand wird. Aristo-
B. im Allgemeinen ›vorsintflutlich‹ (vgl. GBA phanes in eigener Person kriecht als erster
28, S. 556) und den »Geist der Versuche« auf Kriegsheimkehrer aus seinem Thespis-Karren
der ganzen Linie geschlagen (GBA 22, S. 466– in Form eines Papptanks und plant sofort eine
468; vgl. GBA 26, S. 413 f.). Er selber beendete Revue. Pluto ist bereit, sie zu finanzieren, doch
Stücke wie Galilei, Mutter Courage, Der gute als er hört, dass auch er selbst und sein Ver-
Mensch von Sezuan, Herr Puntila und sein hältnis zur Kriegsfurie dargestellt werden soll,
Knecht Matti, die ihm später den Ruf der Klas- beschließt er, »das Nichtzustandekommen der
sizität eintrugen und als Überwindung seiner Revue zu finanzieren« (GBA 10, S. 827). Mit-
Sturm-und-Drang-Zeit galten. ten in der Vorstellung lässt er einen Goldregen
In zwei Adern pulsiert indessen die Theater- niedergehen, so dass niemand mehr dem Ari-
moderne entschieden fort: im Weiterspinnen stophanes zuhört. Es ist eine Art Allegorese
der Theorie des antiaristotelischen Theaters des Weimarer Kulturbetriebs und namentlich
und in einer Gruppe von Fragmenten, die den der paradoxen Rolle satirischer linker Kunst,
Zusammenhang von Kapitalismus und Krieg die materiell abhängig blieb von ihrem Geg-
umkreisen und dazu die moderne Revueform ner, dem Kapital. Ein Beispiel dafür war Erwin
mit der aristophanischen Komödie und ihrer Piscator und seine Verwertung der Revueform
Travestie der Mythen verbinden. Das erste ist für ein radikalsozialistisches Agitationsthea-
die Pluto-Revue von 1940: »Pluto, der Gott des ter.
Wohlstands, kehrt zurück aus dem ersten Pelo- Die Selbstironie des Revueschreibers wider-
ponnesischen Krieg, in den ihn seine unbe- legt freilich nicht seine Überzeugung, dass die
zähmbare Leidenschaft für die Kriegsfurie Revueform »fortschrittlich« sei (GBA 22,
[ … ] verwickelt hat.« (GBA 10, S. 824) Das S. 594). Sie nutzt das Unterhaltungsbedürfnis
Bündnis der beiden Götter von Krieg und Ka- der Großstadtmassen zu ihrer Aufklärung. Ge-
pital löst sich, und der erblindete Kriegsin- rade ihre aristophanische Spielart mit der ei-
valide Pluto verteilt den Wohlstand an alle genartigen wechselseitigen Verfremdung von
ohne Ansehen der Person. Doch die kurze an- Antike und Gegenwart liefert der Erkenntnis
archische Zeit »beinah der Gerechtigkeit« ein reizvolles Modell. B.s Hochschätzung die-
(GBA 8, S. 185) endet, als die früheren Günst- ses Modells beweist seine Wiederaufnahme,
1933–1948 63

als er aus dem Exil nach Europa zurückkehrte. lieferte seiner Gastgeberin Hella Wuolijoki
Zwischen 1947 und 1949 entstand eine Gruppe eine Vorlage für ihre finnische Bearbeitung ei-
von Entwürfen, die sowohl formal als auch nes Stücks des Japaners Yamamoto, die sie
thematisch an die Fragmente von 1940 und ihrerseits beendete. Thema ist das Judith-Op-
1941 anknüpften. Wiederum ging es um die fer der weiblichen Heldin zur Rettung ihrer
Reflexion eines Nachkriegszustands und um Heimatstadt. Der japanische Nationalismus
die Warnung vor einem neuen Krieg. Der um- und der amerikanische Imperialismus der
fangreichste Komplex trägt den Titel Der Wa- 50er-Jahre des 19. Jh.s werden transparent auf
gen des Ares. Die Fabel ähnelt derjenigen der die Gegenwart hin und anwendbar auf Hitlers
Pluto-Revue, nur dass in der erotischen Bezie- europäische Eroberungen.
hung zwischen Krieg und Kapital die Ge- Etwa gleichzeitig entstand die einzige aus-
schlechterrollen vertauscht sind. An die Stelle geführte Szene Der Ingwertopf zum Projekt
des Pluto tritt die Handelsgöttin, an die der Leben des Konfutse (1940/41). Es steht im
Kriegsfurie der Kriegsgott Ares. Die Heim- Kontext von B.s Reflexionen über die ›Ethi-
kehrsituation ist dieselbe: »Ares kommt übel ken‹, z. B. im Buch der Wendungen, und ist
zugerichtet von einem seiner Abenteuer zu- eine heitere Kritik an der Verkürzung des Kon-
rück. [ … ] Allerorten ist die Rede von seinen fuzianismus um seine Sozialethik (vgl. die
ungeheuerlichen Verbrechen« (GBA 10, Lehre vom ›goldenen Mittelweg‹ der Gerech-
S. 940). Dennoch wird der Kriegsgott »ent- tigkeit; GBA 10, S. 893 f.) sowie eine Entlar-
kriegisiert« (S. 944) und sogar »Richter einer vung des Formalismus im Prinzip der persönli-
Spruchkammer« (S. 939). Wie in der Pluto- chen Moral, des Gutseins und der feinen
Revue zeichnet sich auch hier eine bedrohliche Manieren. Eine Art Fortsetzung findet das
Wiederannäherung von Handelsgöttin und Fragment in dem ebenfalls asiatischen Projekt
Kriegsgott ab. Die Reisen des Glücksgotts (1939–53), das, wie
Dem Wagen des Ares verwandt, aber von ihm B. am 20. 7. 1943 ins Journal schrieb, »ein ganz
zu trennen sind die Entwürfe zu Proserpinas und gar materialistisches Werk, preisend [ … ]
Vermählung (GBA 10, S. 946), die in der GBA Essen, Trinken, Wohnen, Schlafen, Lieben,
als B 1–3, A 1 und A 10 als Bestandteile des Arbeiten, Denken, die großen Genüsse« (GBA
Ares-Fragments abgedruckt sind (GBA 10, 27, S. 159), denn dieser Glücksgott »hat keine
S. 945–950, S. 938, S. 945; vgl. den Kommen- Moral. Er lehrt nur, daß die Menschen alles
tar, S. 1263). Eine Verknüpfung der beiden tun sollen, glücklich zu sein.« (GBA 10, S. 926)
Handlungen ist im vorhandenen Material nir- Das führt zunächst zu Anarchie. »Nun aber
gends zu erkennen, nur rein spekulativ könnte bekommt er neue Schüler«, die den Kampf
man Proserpinas Vermählung als pantomimi- ums Glück »organisieren« und dieses Sum-
sches Zwischenspiel, etwa als Ballett zur mum Bonum zugleich als »Produktivität« defi-
Hochzeit des Ares mit der Handelsgöttin, auf- nieren (ebd.). Das bedeutet erstmals keine Ex-
fassen. Es ist vielleicht das kühnste Projekt, klusivität des Glücks, keine Privatisierung
mit albtraumartigen Bildern von einem Gang durch die Reichen. Die Armen aber wünschen
durch eine »fremde Stadt« im Bombenkrieg, »immer Glück für alle«; sie sind die »wahre
eine Hadeslandschaft. Zum Komplex der Gemeinde« des Glücksgotts (S. 926), der sich
Kriegsrevuen wäre schließlich noch die Dante- darum im Doppelsinn einen »Gott der Nied-
Revue (1948) zu zählen, Ansatz zu einer Satire rigkeit« nennen kann, einen Gott »Der Gau-
in Reimversen über den Waffenhandel, offen- men und der Hoden / Denn das Glück liegt
bar ein Versuch in Terzinen nach dem Vorbild nun einmal, tut mir leid / Ziemlich tief am
Dantes (S. 954). Boden.« (S. 929)
Zu erwähnen ist ferner die im skandinavi-
schen Exil entstandene Judith von Shimoda
(1940), eine Gelegenheitsarbeit, die doch fast
bis zur Spielbarkeit vorangetrieben wurde. B.
64 Stückfragmente und Stückprojekte

1948–1954 Aufbau in dem Staat einzugehen, in dem er


lebte. In Form und Intention unterschied sich
der Plan grundlegend von dem neusachlich
Welchen Auftrieb die Rückkehr nach Deutsch- inspirierten Ruhrepos von 1927 (vgl. Köhn).
land dem Stückeschreiber und Theatermann Das Material sollten die Erinnerungen des als
B. gab, wird auch sichtbar an der hochschnel- ›Held der Arbeit‹ ausgezeichneten Maurers
lenden Zahl der Projekte: zwischen 1948 und Hans Garbe liefern. Mit solchen Auszeichnun-
einschließlich 1950 weist die Liste 25 geplante gen wollte die DDR nach dem Vorbild der
oder begonnene Arbeiten auf (vgl. GBA 10, sowjetischen Stachanow-Bewegung freiwillige
S. 1309–1311), zumeist allerdings nur erste Übersoll-Leistungen stimulieren; der Bergar-
Notizen, Vormerkungen gleichsam. Zu den beiter Stachanow hatte 1935 in einer manipu-
verfolgten Stückprojekten gehört der Salzbur- lierten Aktion 1300% seiner Tagesnorm ge-
ger Totentanz für die Salzburger Festspiele, schafft. Es ging auch B. durchaus um den ›Hel-
eine Gelegenheitsarbeit, die im Zusammen- den‹ der sozialistischen Arbeit in seinem
hang mit B.s Antrag der österreichische Staats- Alltag, und die Form ergab zunächst ein Bio-
angehörigkeit stand. Mit der Übernahme der Interview, wie der Freund Sergej Tretjakow es
traditionsreichen Totentanz-Legende ver- einst genannt hatte: ein Schriftsteller befragt
suchte B. eine Vordergrundhandlung um einen den Arbeiter als Fachmann und schreibt des-
›Pestkaufmann‹ (vgl. GBA 10, S. 958) zu ver- sen Aussagen in künstlerische Form auf (vgl.
knüpfen: Dieser Kaufmann Frühwirt wird von z. B. Tretjakows Feld-Herren; dt. 1931). Die
seiner Familie aus Profitgier in ein Pestgebiet von Käthe Rülicke protokollierten Erzählun-
geschickt, um die Nachlässe der Pestopfer bil- gen Garbes ergaben indessen in zweifachem
lig aufzukaufen. Als Pestkranker kehrt er aus Sinn ›keinen Zusammenhang‹: Erstens konnte
Rache zurück, um auch seine Familie anzu- der Held die »Gesamtzusammenhänge der Ge-
stecken. Die nicht ausgeführte Grundidee des sellschaft« (GBA 10, S.- 1279), in der er ar-
Stücks kommt in der Klage des Todes zum beitete und lebte, nicht selbst erkennen; es
Ausdruck, dass er nicht mehr wie früher alle war also eine Kommentarebene mit Liedern
Menschen gleich behandle. Das Geld macht und Chören einzurichten. Zweitens war nicht
Unterschiede, der Tod ist parteiisch und kor- abzusehen, wie aus der »Anhäufung kleiner
rupt geworden: »Die Reichen verschont er« Einzelheiten [ … ] ein Stück« werden könnte
(S. 959; vgl. S. 968). Während B. in einigen (S. 1282). B. erwog den »Stücktypus der Histo-
ausgeführten Passagen den altdeutschen Knit- rien« oder auch »ein Fragment in großen, ro-
telvers in Reimpaaren beibehielt, verkehrte er hen Blöcken« (GBA 27, S. 324), wie er am 10.
also den eigentlichen, egalitären Sinn des al- und 11. 7. 1951 im Journal festhielt. Dass alles
ten Totentanz- und Jedermann-Stoffes, wo- zuletzt liegen blieb, hat sicherlich auch mit B.s
nach der Tod alles wieder gleich macht, pro- Absicht zu tun, den 17. Juni 1953 mitzube-
vokativ in sein Gegenteil. handeln, und darüber hinaus mit seinem zu-
Hartnäckiger, über vier Jahre hinweg, be- nehmend prekären, ambivalenten Verhältnis
schäftigte sich B. mit dem Büsching-Projekt zum ersten sozialistischen Staat auf deutschem
(1950–54). Zwar kann man es gerechterweise Boden überhaupt. Zu erinnern ist in diesem
nicht sein einziges Gegenwartsstück nennen Zusammenhang auch an den bereits erwähn-
(vgl. Wizisla, S. 190): er hatte immer sensibel ten Plan eines Rosa-Luxemburg-Stücks, der B.
auf aktuelle Situationen und Anlässe reagiert, bis 1952 beschäftigt hat. »Wenige Persönlich-
und nicht immer nur mit Parabeln und Histo- keiten aus der Geschichte der Arbeiterbewe-
rienstücken, sondern auch mit Zeitstücken wie gung haben Brecht mehr interessiert als diese
Die Gewehre der Frau Carrar, Furcht und ›Vorkämpferin deutscher Arbeiter‹.« Dabei
Elend des III. Reiches oder Dansen. Aber es ist blieb die stets Umstrittene »bekanntlich bis
doch der einzige Versuch, am konkret-fakti- zum Ende der DDR ein Ärgernis« (Wizisla,
schen Beispiel positiv auf den sozialistischen S. 48).
1948–1954 65

Zu den zahlreichen Arbeiten B.s, die vom geben, das eine substanzielle Diskussion und
Galilei bis zu Turandot das Intellektuellen- ein kritisches Weiterdenken erst ermöglicht.
Problem aufgriffen, gehören auch einige un- Zu diskutieren ist über die Auswahl der abge-
ausgeführte Projekte. Neben Kassandra (um druckten Texte, was freilich die Kenntnis auch
1940; vgl. GBA 10, S. 1309, Nr. 77) und Rosa der ungedruckten voraussetzt. Dass Die Verur-
Luxemburg ist vor allem das ebenfalls in der teilung des Prometheus und Kassandra (abge-
Exilzeit begonnene Fragment Die Verurteilung druckt bei Wizisla, S. 14 f.) nicht aufgenom-
des Prometheus (S. 1308, Nr. 71) zu nennen. men wurden, ist eine Fehlentscheidung; das
Auch dieser ›Träger des Wissens‹ (des Feuers) Engelbrecht-Fragment (GBA 10, S. 1308 f.,
ist, wie Galilei, vor die Entscheidung gestellt, Nr. 74) ist zwar dürftig, aber durch Peter
wem er sein Wissen aushändigen soll, den Weiss’ kongeniale Weiterdichtung in der Äs-
Oberen (den Göttern) oder den Niederen (den thetik des Widerstands (1971–1981) in die Li-
Menschen), und wen er dabei ›verrät‹. Aktuell teraturgeschichte eingegangen, so dass die
und dringlich wurde die Auseinandersetzung Veröffentlichung von Interesse wäre. Gravie-
mit der Rolle der Wissenschaft durch die rende Einwände sind gegen die Editionsweise
Atomphysiker in Los Alamos und die ame- selber zu erheben. Als Seidel vor der Gefahr
rikanische Atompolitik. Nach dem Tod Albert warnte, »bei dem Versuch, einen Werkzusam-
Einsteins (18. 4. 1955) und der Zeit, als welt- menhang herzustellen und eine Textgenese zu
weit der Fall des amerikanischen Dissidenten erkennen, das überlieferte Material zu über-
Robert J. Oppenheimer diskutiert wurde, fas- anstrengen«, und »Zurückhaltung« empfahl
ste B. den Entschluss, sein seit längerem ge- (Seidel, S. 101), hatte er einen anderen Philo-
sammeltes Einstein-Material und die eben er- logen-Typus vor Augen, den mitdichtend-
schienene Einsteinbiographie von Antonina nachschaffenden. Hier aber ist die editorische
Vallentin (1955) für ein Stück Leben des Ein- Anstrengung bei der Rekonstruktion der Text-
stein (1955) auszuwerten. Die wenigen Zeilen genese und -intention zweifellos nicht weit
der ersten Entwürfe erfassen den überzeugten genug getrieben worden: zum Schaden der
Pazifisten und »Vorkämpfer des Friedens« Texte. Die Klassifikation des Archivmaterials
(S. 984) in dem Moment, als er erkennt, dass in A-Teile (Pläne, konzeptionelle Notizen, Fa-
die »freundliche Macht« USA, die er einst auf- belentwürfe) und B-Teile (Werktexte im enge-
gefordert hatte, die Atombombe gegen die ren Sinn) ist rein mechanisch und auch nicht
»andere« Macht, Nazi-Deutschland, einzuset- konsequent durchzuführen, wenn A- und B-
zen, sich nach dem Sieg in diese »andere« Texte auf einem Blatt stehen und dieser Text-
verwandelt (S. 985): »Die Besieger des Fa- träger dann als editorische Einheit behandelt
schismus geben sich als Faschisten zu erken- wird. Die Anordnung der Texte aber folgt drei
nen« (S. 984). Die andere Kernthese des Ent- verschiedenen Prinzipien in einem Wechsel,
wurfs, die auch im Galilei stehen könnte, lau- der vom Leser nicht zu durchschauen ist, näm-
tet: »Fortschritt in der Erkenntnis der Natur / lich erstens dem Handlungsverlauf, zweitens
Bei Stillstand in der Erkenntnis der Gesell- der entstehungsgeschichtlichen Chronologie
schaft / Wird tödlich« (S. 985). Zeit zur Aus- und drittens dem Überlieferungszusammen-
führung des Plans blieb B. nicht, das Leben des hang. Letzterer kann unter Umständen auf
Einstein ist sein letztes Stückprojekt. eine vollkommene Resignation hinauslaufen,
denn dies heißt nichts anderes, als die Blätter
in der Reihenfolge zu drucken, wie sie bei B.s
Tod gerade und womöglich zufällig in der
Edition und Rezeption Mappe lagen. Nicht zuletzt trägt der gleich-
rangige Druck aller Varianten in zum Teil vie-
len Wiederholungen zur verwirrenden und
Mit der Edition der 48 Fragmente in der GBA auch zermürbenden Lektüre bei. Die Möglich-
ist der B.-Forschung ein neues Fundament ge- keiten der Edition und der kontrollierten Re-
66 Stückfragmente und Stückprojekte

staurierung sind noch auszuschöpfen, um Cha- (Hg.): Vollendet-Unvollendet. Cézanne [Ausstel-


rakter und Fragmentstatus der Texte klarer lungskatalog]. Kunstforum Wien, Kunsthaus Zürich.
Ostfildern-Ruit 2000, S. 29–39. – Brecht, Bertolt:
kenntlich zu machen.
Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer. Bühnen-
Die für B. wichtigsten Fragmente sind rela- fassung von Heiner Müller. Frankfurt a. M. 1994. –
tiv früh in restauriertem Zustand auch auf die Claas, Herbert: Die politische Ästhetik Bertolt
Bühne gekommen, Der Brotladen 1967 durch Brechts vom Baal zum Cäsar. Frankfurt a. M. 1977. –
Manfred Karge und Matthias Langhoff am Ber- Dermutz, Klaus: Spaß mit dem armen B. B. In:
liner Ensemble, Der Untergang des Egoisten Frankfurter Rundschau, 2. 7. 1997. – Franz, Michael:
Die Krise des »Werk«-Begriffs. In: Brecht 83. Brecht
Johann Fatzer in der Bühnenfassung von Hei-
und der Marxismus. Berlin 1983, S. 212–221. –
ner Müller 1978 in Hamburg, ebenfalls in der Gersch, Wolfgang: Film bei Brecht. Berlin 1975. –
Regie von Karge und Langhoff. Die zur Vor- Glaeser, Günter: Zum Beispiel Fatzer: einige Vor-
ankündigung der Fragment-Bände der Werk- überlegungen zur Edition der Stückfragmente
ausgabe veranstaltete Uraufführung des frü- Brechts. In: Notate (1987), H. 3, S. 2–4. – Hermand,
hen David-Fragments (erweitert um Bibel- Jost: Der Über-Vater. Brecht in der Ästhetik des Wi-
derstands. In: Brecht 83. Brecht und der Marxismus.
text) am Hebbel-Theater in Berlin (Premiere:
Berlin 1983, S. 190–202. – Janning, Jürgen: Die Dra-
4. 11. 1995, Regie: Brigitte Grothum) fand in maturgie Brechts – dargestellt an der Szene Der
der Kritik ein ausnahmslos vernichtendes Ingwertopf. In: Der Deutschunterricht 23 (1971) H.
Echo. Nicht besser erging es der Uraufführung 5, S. 41–52. – Koch, Gerd: Der böse Baal der aso-
der Judith von Shimoda im Berliner Ensemble ziale. Entwürfe, Fragmente, Szenen. In: Cisotti, Vir-
am 10. 12. 1997. Im Sommer 1997 veranstal- ginia/Kroker, Paul (Hg.): Poesia e politica. Bertolt
Brecht a 100 anni dalla nascita. Melegnano 1999,
tete das Berliner Ensemble überdies an einem
S. 99–104. – Köhn, Eckhardt: Das Ruhrepos. Doku-
einzigen Tag (27.6.) meist Uraufführungen von mentation eines gescheiterten Projekts. In:
zehn Fragmenten in 13 Inszenierungen ver- BrechtJb. (1977), S. 52–80. – Krabiel. – Lenze, Rai-
schiedener Regisseure. »Nur Ernst M. Binders ner: Bertolt Brecht. Untergang des Egoisten Johann
ästhetisch durchdachte und formal strenge In- Fatzer. Kritische Ausgabe. Münster 1986 [Masch.]. –
szenierung von Aus nichts wird nichts [ … ] Lucchesi/Shull. – Mann, Klaus: Der Wendepunkt.
Ein Lebensbericht. Frankfurt a. M. 1952. – Mantle,
war in diesem Fegefeuer der Eitelkeiten die
Rodney: Bertolt Brecht’s Galgei – an early dramatic
rühmliche Ausnahme« (Dermutz, S. 8). Durch fragment. In: Monatshefte 63 (1971), H. 4, S. 380–
solche Aufführungen entstand der Eindruck, 385. – Nägele, Rainer: Brechts Theater der Grau-
dass die Umsetzung von Fragmenten der samkeit: Lehrstücke und Stückwerke. In: Hinderer,
Bühne nur geringe Probleme bereitete, nach- S. 300–320. – Nieschmidt, H. W.: Weniger Gips. Zum
dem das Regietheater auch die fertigen Dra- Schlußakt in Brechts Hannibal-Fragment. In: Mo-
dern Language notes 89 (1974), S. 849–861. – Oster-
men B.s als Steinbruch zu beliebiger Verwen-
mann, Eberhard: Das Fragment. Geschichte einer
dung behandelt hat. Im Übrigen begriff die ästhetischen Idee. München 1991. – Schaper, Rü-
verblüffte Kritik das ganze ›Event‹ als »Spekta- diger: Ein Fisch namens Bertolt. In: Süddeutsche
kel« zur Vorbereitung des Brecht-Jahrs 1998 Zeitung, 2. 7. 1997. – Schmidt, Dieter (Hg.): Bertolt
und wunderte sich nur ironisch, »wieviel Staub Brecht: Baal. Der böse Baal der asoziale. Texte, Va-
und Asche Brecht aufwirbelt« (Schaper). rianten, Materialien. Frankfurt a. M. 1968. –
Scholdt, Günter: Autoren über Hitler. Deutschspra-
chige Schriftsteller 1919–1945 und ihr Bild vom
»Führer«. Bonn 1993. – Schumacher, Ernst: Die dra-
Literatur: matischen Versuche Bertolt Brechts 1918–1933. Ber-
Berg-Pan, Renata: Confucius in Modern Europe. On lin 1955. – Ders.: Drama und Geschichte. Bertolt
the Image of China in Brecht’s Work. In: German Brechts Leben des Galilei und andere Stücke. Berlin
Life and Letters 28 (1974/75), S. 387–395. – Bock, 1965. – Seidel, Gerhard: Bertolt Brecht – Arbeits-
Stephan: Chronik zu Brechts Garbe/Büsching-Pro- weise und Edition. Das literarische Werk als Prozeß.
jekt und Käthe Rülickes Bio-Interview Hans Garbe Stuttgart 1977. – Seliger, Helfried W.: Das Amerika-
erzählt sowie zu anderen Bearbeitungen des Garbe- bild Bertolt Brechts. Bonn 1974. – Sokel, Walter:
Stoffs von 1949 bis 1954. In: BrechtJb. (1977), S. 81– Brecht und der Expressionismus. In: Grimm, Rein-
99. – Boehm, Gottfried: Prekäre Balance. Cézanne hold/Hermand, Jost (Hg.): Die sogenannten Zwan-
und das Unvollendete. In: Baumann, Felix [u. a.] ziger Jahre. Bad Homburg 1970, S. 47–74. – Stein-
67

weg. – Ueding, Gerd: Das Fragment als literarische vierten B.s Bibelkenntnisse. Detzers nationali-
Form der Utopie. In: Études germaniques 41 (1986), stische Predigten aus dem Jahr 1914, die im
S. 351–362. – Voigts, Manfred: Brechts Theaterkon-
Druck vorliegen, beeinflussten den jungen B.
zeptionen. Entstehung und Entfaltung bis 1931.
München 1977. – Watson-Madler, Jennifer: Gösta bis in die Sprache hinein, was sich z. B. in den
Berlings saga: Bertolt Brecht and Selma Lagerlöf. In: Augsburger Kriegsbriefen von 1914 (GBA 21,
BrechtJb. 22 (1997), S. 439–460. – Wilke, Judith: S. 10–30) niederschlug. Im Stück gibt es – z. T.
Brechts Fatzer-Fragment. Lektüren zum Verhältnis wörtliche – Anspielungen auf Schriften des
von Dokument und Kommentar. Bielefeld 1998. – Alten Testaments (z. B. die Bücher Moses) so-
Wizisla, Erdmut (Hg.): » … und mein Werk ist ein
wie vor allem auf die Evangelien des Matthäus
Abgesang des Jahrtausends«. 22 Versuche, eine Ar-
beit zu beschreiben. Berlin 1998. und Lukas (vgl. GBA 1, S. 504 f.).
Eine weitere Quelle bildet Friedrich Heb-
Hans Peter Neureuter bels Drama Judith, das B. außerhalb des Schu-
lunterrichts las und das einen Stoff aus dem
gleichnamigen apokryphen Buch des Alten Te-
staments verarbeitet. B. übernimmt von Heb-
Die Bibel bel die Ausgangskonstellation der Handlung:
die Belagerung der Stadt, bei Hebbel einer
jüdischen Stadt, durch die Truppen des heid-
Von August 1913 bis Februar 1914 war B., ge- nisch-assyrischen Feldherrn Holofernes und
meinsam mit seinem Freund Fritz Gehweyer, die damit verbundene Not der Bevölkerung.
Herausgeber der Schülerzeitschrift Die Ernte Der das Geschehen auslösende Konflikt geht
und zugleich deren exponiertester Autor. Die ebenfalls auf Hebbel zurück: Holofernes will
Entstehung der Zeitschrift geht zurück auf B.s die Belagerung aufheben, wenn Judith bereit
frühe, im Tagebuch No. 10 von 1913 doku- ist, mit ihm eine Liebesnacht zu verbringen.
mentierte Überzeugung, er werde seinen Weg Als dritte Quelle ist Gotthold Ephraim Les-
als bedeutender Dichter machen, und auf die sings bürgerliches Trauerspiel Emilia Galotti
Erfahrung, dass erste literarische Versuche, anzusehen. Die Figur des Großvaters bei B.
die er Zeitschriften zur Veröffentlichung ange- trägt deutliche Züge des Tugendrigoristen
boten hatte, abgelehnt worden waren. Wie das Odoardo Galotti, dessen intellektuelle Unbe-
Tagebuch zeigt, experimentierte B. mit den weglichkeit in Lessings Drama zur Tötung der
verschiedensten Gattungen und Genres. Als Tochter aus (scheinbar) moralischen Gründen
ein solches Experiment mit der dramatischen führt. Der Großvater in B.s Stück verabsolu-
Form ist auch B.s erstes Stück anzusehen, das tiert vermeintlich christliche Maximen, die er
im Spätsommer 1913 entstand und als Heft 6 mit ausgiebigen Bibelzitaten begründet, sowie
der Ernte im Januar 1914 erschien: Die Bibel. entsprechend abgeleitete Wertsetzungen
Drama in 3 Scenen von Bertold Eugen. Das (»eine Seele ist mehr wert als 1000 Körper«;
Stück, in den verschiedenen Werkausgaben, GBA 1, S. 12) und führt dadurch den Unter-
einschließlich der GBA, nach Abschriften ei- gang der ganzen Stadt herbei.
nes verschollenen Originals ediert, liegt jetzt, Darüber hinaus erkennt Eberhard Rohse in
nachdem 1997 ein kompletter Satz der Ernte B.s erstem Einakter in der historisch-religiö-
aufgefunden wurde, wieder in einer originalen sen Problemorientierung sowie bei der Figu-
Überlieferung vor. ren- und Konfliktsituation Rückgriffe auf
Eine Quelle für das Stück ist die Bibel; die Werke des jungen Raabe (Rohse 1978, S. 19).
protestantische Erziehung durch die Mutter B.s Stück spielt in einer protestantischen
und biblische Erzählungen der Großmutter Stadt in den Niederlanden, die von katholi-
Friederike Brezing machten B. früh mit ihr schen Truppen belagert wird. Die Szenerie ist
vertraut. Der langjährige Religionsunterricht eine »behagliche Wohnstube eines Hauses am
durch Pfarrer Paul Detzer sowie der stark Markt« (GBA 1, S. 9), die Wohnstube nämlich
christlich gefärbte Deutschunterricht intensi- des Bürgermeisters der Stadt, deren Bewoh-
68 Die Bibel

ner – im Gegensatz zur Familie des Bürger- Eberhard Rohse akzentuiert die religiösen
meisters, die im Überfluss lebt (vgl. S. 11) – Implikationen und betrachtet das Stück als au-
Hunger leiden und schon dadurch vom Tode ßerschulische Kritik am dogmatisierenden
bedroht sind. Neben dem Bürgermeister, der und diskussionsfeindlichen Bibelunterricht.
wie die übrigen Figuren des Stücks keinen B. befrage »soziale Verhaltensweisen von skan-
individuellen Namen trägt und lediglich »Va- dalöser Nicht-Konventionalität« danach, ob
ter« genannt ist, treten seine Kinder, das sie nicht »angesichts einer ultimativen Not-
»Mädchen« und ihr »Bruder«, sowie der und Entscheidungssituation« als »Verwirkli-
»Großvater« auf. Die Stadt ist verloren, wenn chung biblischer, den Bedingungen dieser
ihre Bewohner nicht zum katholischen Glau- Welt sich aussetzender Imitatio Christi zu be-
ben übertreten und sich darüber hinaus das greifen wären«, die »durchaus nicht Glaubens-
Mädchen nicht ›opfert‹ (vgl. S. 12), den feind- verrat und soziale Schande bedeuten müßten«
lichen Feldherrn aufzusuchen. Während der (Rohse 1983, S. 47 f.). Insofern plädiere das
Vater mit Vorbehalten und der Bruder mit Stück für eine »genuin christliche Praxis täti-
Nachdruck das ›Opfer‹ aus existenzieller ger Nächstenliebe« jenseits der offiziellen pro-
Angst, aber auch aufgrund sozialer Verantwor- testantischen Moralvorstellungen.
tung für die Stadt befürworten, lehnt es der Im Stück steht die soziale Problematik im
Großvater unter Berufung auf die Bibel rigoros Vordergrund; sie bringt den Konflikt hervor
ab. Das Mädchen, das zunächst schwankt, lässt und treibt ihn bis zum bitteren Ende voran,
sich letztlich von der blinden Buchstabengläu- sekundiert von den Bibelzitaten des Großva-
bigkeit des Großvaters überzeugen und ver- ters, die im Verlauf der Handlung immer mehr
weigert sich, wohl wissend, dass sie damit den zu Leerformeln erstarren. »Deine Bibel ist
Untergang der Stadt und den Tod aller ihrer kalt«, konstatiert das Mädchen und fordert
Bewohner verantwortet. Den Schluss bildet vom Großvater Erzählungen »von dem guten,
ein Flammeninferno, mit dem die katholi- rettenden Gotte« (GBA 1, S. 10). Dadurch ver-
schen Truppen die Stadt auslöschen. Während tritt der Text nicht nur ein Christentum, wel-
der Großvater weiter auf die Bibel pocht und ches das Gebot der Nächstenliebe ernst nimmt
trotz aller Aussichtslosigkeit auf Gottes Bei- und für gesellschaftliche Verantwortung ein-
stand wartet, wendet sich das Mädchen von tritt, er enthält auch eine Kritik an der Reli-
ihm ab und geht »irr« (S. 15) in den Tod, ehe gion selbst, indem am Ende ihr heilbringender
das Feuer auch die Wohnstube erfasst und das Charakter in Frage gestellt und eine trans-
Ende des Großvaters herbeiführt. zendente Perspektive verweigert wird. Am
Reinhold Grimm sieht die soziale Proble- 5. 12. 1913 notierte Brecht ins Tagebuch: »Was
matik als zentral für das Stück an. Schon der ist das Christentum für eine bequeme Reli-
dramatische Erstling sei ein »Gegenentwurf«, gion: man glaubt fest an die Hilfe Gottes! –
der das Vorgegebene in schöpferischer Ausein- Und ich zweifle!« (GBA 26, S. 90). Eben diesen
andersetzung »umfunktioniert« (Grimm, Zweifel markiert auch das Ende des Stücks:
S. 148). B. formuliere damit eine Kritik am die vom Großvater erflehte Hilfe Gottes bleibt
Christentum und an den Christen, die dem aus, und der Herr ist nicht »mit« bzw. »bei uns«
Gebot der Nächstenliebe keine Taten folgen (vgl. GBA 1, S. 14 f.), wie auch der Wahnsinns-
lassen (so auch Kammerer, S. 199). In der Zu- ausbruch des Mädchens vor seinem Abgang
spitzung des Konflikts, nämlich das Opfer des zeigt. Der Schluss des Stücks zeigt folglich,
einzelnen für die Gemeinschaft ohne morali- dass der Mensch auf sich allein gestellt ist und
sche Rücksichten zu fordern, sei bereits auf Rettung nur von sich selber erwarten kann. B.
das Lehrstück Die Maßnahme vorausgedeutet, stellt keine Variante der ›frohen Botschaft‹ der
wie überhaupt »Keime zentraler Themen« in Bibel zur Diskussion, sie ist für ihn vielmehr
B.s Erstlingsstück »allenthalben und mit schon 1913 ein Steinbruch, aus dem er Mate-
bestürzender Deutlichkeit« zutage träten rial, Motive und Anregungen für seine Dich-
(Grimm, S. 149). tungen gewinnt. Trotz dieser Abgeklärtheit
69

der christlichen Heilsbotschaft gegenüber und pierfabriken, in der B.s Vater als Kaufmän-
der Vielfalt der verwendeten Quellen ragt die nischer Direktor angestellt war, diktiert habe,
literarische Qualität von B.s erstem dramati- so dass das Typoskript bereits am 20.5. von B.
schen Versuch jedoch nicht wesentlich über und Bezold gemeinsam durchgesehen werden
die einer ambitionierten Schülerarbeit hin- konnte. Damit ist die kurze Zeit zwischen kon-
aus. kreter Idee und 1. Fassung von B.s Drama
abgesteckt, das nicht nur charakteristisch für
B.s Werk ist (Frühwald, S. 33; Gellner, S. 75),
Literatur: sondern auch den Ausgangspunkt seines ge-
Hillesheim, Jürgen/Wolf, Ute (Hg.): Bertolt Brechts samten dramatischen Schaffens bildet. Alle
Die Ernte. Die Augsburger Schülerzeitschrift und ihr späteren theatertheoretischen und -prakti-
wichtigster Autor. Gesamtausgabe. Augsburg 1997. – schen Positionen haben als Weiterentwicklung
Grimm, Reinhold: Brechts Anfänge. In: Paulsen,
oder Negation jener ersten Konzeption zu gel-
Wolfgang (Hg.): Aspekte des Expressionismus. Hei-
delberg 1968, S. 133–153. – Kammerer, Hansjörg: ten (Joost, S. 93).
Bertolt Brechts Prägung durch schwäbische Fröm- Vor der Entstehung des Baal beschäftigte
migkeit. In: Blätter für württembergische Kirchen- sich B. nicht nur mit Villon, sondern ebenso
geschichte 98 (1998), S. 191–201. – Rohse, Eber- mit Verlaine und Rimbaud wie auch mit Wede-
hard: Raabe und der junge Brecht. Zur Rezeption kind, die allesamt durch ihr Leben und Werk
früher historischer Erzählungen Wilhelm Raabes in
Material für B.s Dramenentwurf boten. Der
Bertolt Brechts Gymnasiasten-Drama Die Bibel. In:
Jb. der Raabe-Gesellschaft (1978), S. 17–62. – Ders.: Anlass zur 1. Fassung des Stücks war jedoch
Der frühe Brecht und die Bibel. Studien zum Augs- ein anderer: Erklärtermaßen sollte Baal ein
burger Religionsunterricht und zu den literarischen Gegenentwurf zu Hanns Johsts Drama Der
Versuchen des Gymnasiasten. Göttingen 1983. Einsame. Ein Menschenuntergang sein. Flo-
Jürgen Hillesheim rian Vaßen ist gar der Ansicht, dass B. beim
Schreiben das Werk Johsts vorgelegen haben
könnte, er also »sozusagen direkt gegen ihn
anschrieb« (Vaßen, S. 17).
B. lernte den expressionistischen Dichter,
Baal der später zu einem der bekanntesten Nazi-
Schriftsteller und Präsidenten der Reichs-
schrifttumskammer avancieren sollte, 1917/18
im Seminar des Theaterwissenschaftlers Artur
Entstehung und Vergleich der Kutscher an der Münchner Universität ken-
Fassungen nen. B. hielt ein überaus kritisches Referat
über Johsts Roman Der Anfang. Das Drama
Der Einsame, seit 1917 im Druck vorliegend,
»Ich will ein Stück schreiben über François lernte B. spätestens mit der Uraufführung am
Villon, der im XV. Jahrhundert in der Bretagne 30. 3. 1918 kennen. Im April äußerte er die
Mörder, Straßenräuber und Balladendichter Absicht, sein geplantes Drama als Kontradik-
war« (GBA 28, S. 45), schreibt B. im März 1918 tion zu Johsts Werk zu verfassen. Schon we-
an Caspar Neher und am 5. 5. 1918 an Hans nige Wochen später lag die 1. Fassung vor. Eine
Otto Münsterer: »Baal frißt! Baal tanzt!! Baal offenbar veränderte, jedoch nicht überlieferte
verklärt sich!!!« (S. 51) und nennt damit den Abschrift entstand im Juni/Juli. B. legte das
geplanten Titel des Stückes, das bereits we- Stück Kutscher zur Begutachtung vor (Kut-
nige Tage nach diesem Brief in einer 1. Fas- scher, S. 73) und nannte diese früheste Fas-
sung abgeschlossen ist. Denn in einem Tage- sung, die er in einer Seminarveranstaltung
bucheintrag Otto Bezolds vom 21. 5. 1918 ist Kutschers bereits als »Antithese« zu Johsts
die Rede davon, dass er am Wochenende zuvor Stück angekündigt hatte, »Ur-Baal« (GBA 28,
den Text einer Sekretärin der Haindlschen Pa- S. 84), damit ganz bewusst in den Fußstapfen
70 Baal

Goethes wandelnd. Der »Theaterprofessor« seinem idealistischen Pathos gefällt, propa-


verriss B.s Stück, so wie dieser es zuvor mit giert der nicht nur hässliche, sondern gera-
dem Roman des von Kutscher hoch geschätz- dezu unästhetische und dennoch magische An-
ten Johst getan hatte. B. wandte sich diesbe- ziehungskraft besitzende Baal einen Materia-
züglich im August 1918 an Münsterer: »Bitte, lismus des Genusses und der Ausschweifung,
schreiben Sie mir was über den Leichen-Kut- der für seine dichterische Kraft ebenso uner-
scher! Er hat mir etwas über den Baal ge- lässlich ist wie die Weltferne für die Grabbes.
schrieben. Zum Speien! Es ist der flachste Im Gegensatz zu Letzterem strebt B.s Dichter-
Kumpan, der mir je vorgekommen ist.« (S. 66) figur keine intellektuelle Apotheose an: Ex-
Baal ist indessen nicht nur als Gegenent- zessive sinnliche Genüsse und inspirative
wurf zum Drama Johsts zu betrachten, son- Dichtung vielmehr bedingen einander. Her-
dern das Stück richtet sich darüber hinaus vorzuheben ist, dass bereits dieser 1. Fassung,
schon in der 1. Fassung im Allgemeinen gegen trotz ihrer, wenn auch antithetischen, Nähe
das Pathos expressionistischer Dichtung (Va- zum Werk Johsts, »ein komplexes Geflecht von
ßen, S. 8), wie es auch B.s Trommeln in der autobiographischen, religiösen, philosophi-
Nacht und die fünf im Herbst 1919 entstan- schen und soziologischen, vor allem aber lite-
denen Einakter tun. Der junge Autor versuchte rarischen Bezügen« (Vaßen, S. 8) zugrunde
damit, eine eigene Position und Dramaturgie liegt.
abzustecken. Dennoch entbehrt diese beinahe ausschließ-
Johst zeichnet das Schicksal des Dichters lich auf die Hauptfiguren fixierte Kontradik-
Christian Dietrich Grabbe (1801–1836), der an tion nicht einer gewissen Statik, weshalb B.
seinem selbstzerstörerischen Egoismus, aber schon bald damit begann, jenen Urbaal zu
auch an der Mittelmäßigkeit der Gesellschaft, überarbeiten: Das Stück sollte an Profil ge-
die seinem Genius nicht entsprechen und fol- winnen und deutlicher antibürgerlich werden.
gen kann, frühzeitig zugrunde geht. Jenes Mit- Deshalb strich B. Szenen, die Baals Rückkehr
einander von Exzentrik und Ausgeschlossen- in ein ›geregeltes Leben‹ als nicht ausge-
sein von einem ›normalen‹ bürgerlichen Le- schlossen erscheinen lassen. Er ergänzte die
ben ist jedoch die unabdingbare Voraussetzung Stierszene, die das vermeintlich Naturalisti-
für sein großes literarisches Werk, das ihn sche des Stücks relativierte und stattdessen
selbst zwar dem Untergang preisgibt, ihn aber das Manieristische und Gemachte des Textes
damit ins Überzeitliche erhebt, gleichsam un- in den Vordergrund rückte. Noch deutlicher
sterblich macht. Dies entspricht dem typi- als in der 1. Fassung wurde B.s Abgrenzung
schen expressionistischen Ideal des Dichters, zum Expressionismus, die sich unter anderem
der als Leitfigur zu einer erneuerten Mensch- in der Auseinandersetzung mit dem Lyriker
heit aufbrechen soll, und findet sich in den August Stramm (GBA 1, S. 23) und den Hin-
Werken Kaisers, Tollers, Hasenclevers und weisen auf die Zeitschrift Phoebus (S. 50) kon-
anderer. kretisierte. An dieser 2. Fassung arbeitete B.
B.s kontradiktorische Absicht verdeutlicht im Frühjahr und Sommer 1919 und profitierte
sich in dieser Urbaal-Fassung durch den Cha- dabei nicht zuletzt auch von der schriftstelleri-
rakter des Protagonisten: »Da kommt ein schen Erfahrung, die er in der Zwischenzeit
Hamster drin vor, ein ungeheurer Genüßling, durch andere Projekte, in erster Linie durch
ein Kloß, der am Himmel Fettflecken hinter- die Arbeit an Trommeln in der Nacht, gesam-
läßt, ein maitoller Bursche mit unsterblichen melt hatte. Mitten in der Arbeit schrieb er am
Gedärmen!«, schrieb B. an Neher (GBA 28, 28.4. an Jacob Geis, dass er das Stück weitge-
S. 57). Zwar sind Analyse und Kritik der bür- hend umgearbeitet habe, wodurch es erst auf-
gerlichen Gesellschaft erkennbar; in erster Li- führbar geworden sei. Er betonte, dass Baal
nie jedoch gestaltete B. die Figur des Baal in nun von Verlaine und Johst »gesäubert« sei, die
Antithese zu der Grabbes. Während sich Letz- Antithese zu Letzterem jedoch erhalten bleibe
terer als zerbrechlicher, schöner Jüngling in (GBA 28, S. 84).
Soziale Problematik 71

Es ist die 2. Fassung, auf deren Grundlage B. halten ist (Gier/Janota, S. 393 f.). Drei Szenen
ein Bühnenmanuskript herstellte und Verlagen des Baal wurden dann erstmals im Oktober
anbot. Darüber hinaus herrscht in der For- 1922 in der Bert-Brecht-Sondernummer der
schung Konsens, daß in dieser umfangreich- Zeitschrift Das Programm, dem Publikations-
sten Fassung, die unter dem Eindruck der ge- organ der Münchner Kammerspiele, abge-
scheiterten Räterepublik und dem Enthusias- druckt, bevor der Kiepenheuer Verlag Ende
mus intellektueller Monarchie entstand, der 1922 das Stück in einer Auflage von 800 Exem-
vom Kreise Mühsams, Tollers, Landauers und plaren komplett herausbrachte. Dieser Text
anderer ausging, das berauschende Lebens- bildete die Grundlage für die Uraufführung am
gefühl am markantesten in den Vordergrund 8. 12. 1923 in Leipzig. Nachdem B. im Novem-
tritt, die Gestaltung des Protagonisten und ber 1922 mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet
dessen radikaler Antibürgerlichkeit am diffe- worden war, entschloss sich der Verlag zu einer
renziertesten ist und das Stück am geschlos- zweiten, größeren Auflage, die Anfang 1923
sensten erscheint. Daher hat diese Version erschien. Alle drei Drucke basieren auf der 3.
auch die Basis einer adäquaten Interpretation Fassung; sie weichen nur geringfügig vonein-
zu sein (Frühwald, S. 34; Schmidt 1966b, ander ab.
S. 204). Unter dem Einfluss der Neuen Sachlichkeit
Eine 3. Fassung, mit der B. selbst unzu- und nicht zuletzt seiner Arbeit am Drama Im
frieden war – »Er ist zu Papier geworden, ver- Dickicht, arbeitete B. vermutlich Ende
akademisiert, glatt, rasiert und mit Badehosen 1925/Anfang 1926 Baal ein weiteres Mal um:
usw. Anstatt erdiger, unbedenklicher, frecher, Lebenslauf des Mannes Baal. Dramatische
einfältiger!« (GBA 26, S. 129) – entstand Ende Biografie hieß das Stück nun. Der äußere An-
1919/Anfang 1920. Zwar rückte die einstige lass für die neuerliche Fassung war die bevor-
Vorlage Johsts noch weiter in den Hinter- stehende Inszenierung von Moriz Seelers Jun-
grund, doch auch die gesellschaftlichen Im- ger Bühne am Deutschen Theater in Berlin.
plikationen wurden zurückgenommen. So er- Die Uraufführung fand unter B.s Regie am
scheint das Schicksal Baals als ein rein in- 14. 2. 1926 statt (vgl. Hollaender).
dividualistisches, und seine Lebensgier endet Diese 4. Fassung, die im Vergleich zu den
im Untergang. vorhergehenden so stark verändert ist, dass sie
B. schrieb diese Fassung, weil er mit der 2. beinahe ein ganz neues Stück darstellt, zeich-
bei Theatern und Verlagen kein Glück hatte. net sich durch ihre noch stärker radikalisierte
Sie ist ein Kompromiss, ein Zugeständnis, das Antibürgerlichkeit und eine nun deutlich anti-
er machte, damit das Stück überhaupt ge- individualistische Tendenz aus: Im ›Sumpf‹
druckt und aufgeführt wurde. Es ist die Fas- der Großstädte, der immer auch derjenige der
sung, die 1953 in die Ausgabe der Ersten bürgerlichen Gesellschaft ist, hat der Mensch
Stücke (Bd. 1) B.s aufgenommen wurde und nicht mehr die Möglichkeit, sich zu einem In-
die Rezeption lange Zeit bestimmte. Nachdem dividuum zu entwickeln oder ein solches zu
der Drei-Masken-Verlag nach anfänglichem bleiben. Darüber hinaus ist der Untertitel Pro-
Interesse Baal doch nicht herausbringen gramm: Es wird die Fiktion erzeugt, dass es
wollte, ließ der Georg Müller Verlag, wahr- sich um die Wiedergabe realer Ereignisse han-
scheinlich aufgrund der Vermittlung durch dele. Das Stück spielt von 1904 bis 1912. Die
Lion Feuchtwanger, den Text im Juli 1920 set- Hervorhebung des Artefakt-Charakters, der
zen. Obwohl eine Auflage von 600 Exemplaren für die 2. Fassung kennzeichnend ist, wird da-
geplant war, stellte der Verlag aus Angst vor mit zurückgenommen. Um die Historizität des
der Zensur, mit der er wegen der Publikation Dramas glaubwürdiger zu machen, publizierte
einiger erotischer Bücher bereits Schwierig- B. noch vor der Premiere dieser Fassung, im
keiten hatte, lediglich 20 oder 30 für B. privat Januar 1926, den Aufsatz Das Urbild Baals und
her, von denen nur ein einziges mit einer führte aus, dass das Stück das Leben des Mon-
handschriftlichen ›Bühneneinrichtung‹ B.s er- teurs Josef K. schildere, der zeitweise in Augs-
72 Baal

burg gelebt habe: »Als der Boden für ihn in A. ganz anderen Schaffensperiode B.s und eines
brennend wurde, zog er mit einem herunter- zu dem des Frühwerks geradezu kontradikto-
gekommenen Mediziner ziemlich weit herum, rischen Weltbildes. Das Vorhaben scheiterte
kam aber dann wieder, etwa im Jahre 1911, nach mehrmaligen Versuchen, B. gelang die
nach A. zurück. Dort kam bei einer Messer- dialektische Balance zwischen Baal und Herrn
stecherei [ … ] dieser Freund ums Leben, Keuner nicht (Milfull, S. 89): Die Figur des
ziemlich sicher durch K. selbst. Er verschwand Baal wusste sich hartnäckig gegen die marxi-
jedenfalls daraufhin fluchtartig aus A. und soll stische Ideologie durchzusetzen (Schnell,
im Schwarzwald elend verstorben sein.« (GBA S. 23). Stoffe und Motive aus Baal sollten spä-
24, S. 11) ter allerdings in den Geschichten von Herrn
Jener Monteur Josef K. ist eine Fiktion Keuner wiederkehren. Auch der Protagonist
(GBA 1, S. 515). Auch Münsterer, zur Entste- des Fragments Untergang des Egoisten Johann
hungszeit des Dramas dem engeren Freundes- Fatzer, das zwischen 1926 und 1930 entstand,
kreis um B. zugehörig, betrachtet den Hinweis erinnert an Baal. B. wollte ihn weiterhin als
auf Josef K. als »Mystifikation«, passend zu Asozialen in einer asozialen Gesellschaft zei-
»B.s Neigung zu Maskierungen« (Münsterer, gen.
S. 25). B. wollte damit eine Versachlichung Nachdem B. im September 1938 zu der Er-
seines Stücks erreichen, Baal vom Naturhaften kenntnis gelangte, dass Baal immer ein Torso
ins Historische transponieren. Gleichzeitig je- geblieben war und durch die Umarbeitungen
doch lenkte er durch den erfundenen Josef K. der ehemalige Sinn verloren gegangen sei
vom tatsächlichen Vorbild in einem vielschich- (GBA 26, S. 323), nannte er am 4. 3. 1939 im
tigen Miteinander von ›Dichtung und Wahr- Journal die Gründe, warum das Stück den
heit‹ ab. Dieses setzte B. fort, indem er Josef neuen gesellschaftlichen Einsichten nicht an-
K. nochmals historisierte: In einem seiner zupassen war: »Die asozialen Leute spielen
Augsburger Sonette (GBA 11, S. 129) be- keine Rolle. Es sind einfach die Besitzer der
schreibt B. die Hinrichtung Otto Kleins, die Produktionsmittel und sonstiger Lebensquel-
am 2. 7. 1927 in Augsburg vollzogen wurde. len, und sie sind es nur als solche. Natürlich
Klein hatte ein Vagabundenleben geführt, war sind es auch ihre Helfer und Helfershelfer,
mehrere Male straffällig geworden, bis er ei- aber eben auch nur als solche. Es ist geradezu
nen Dienstknecht im Schlaf ermordete. B. das Evangelium des Feindes der Menschheit,
nennt Klein im Sonett mit Vornamen »Josef«, daß es asoziale Triebe gibt, asoziale Persön-
somit »Josef K.«. Dadurch bringt er eine zwar lichkeiten usw.« (S. 331)
historische, aber ganz andere Person mit Baal Es ist abermals ein äußerer Anlass, der B.
in Verbindung, die mit ihm nichts zu tun, aber dazu brachte, sich gegen Ende seines Lebens
zufällig einige ähnliche Charaktereigenschaf- ein letztes Mal intensiver mit Baal zu befas-
ten hatte, um noch im Nachhinein den Schein sen: Für den Suhrkamp Verlag bereitete er
der Authentizität Josef K.s und somit Baals zu 1953 eine Edition Erster Stücke vor. Der Band
konsolidieren. sollte neben Baal Trommeln in der Nacht und
Auch nach dieser Fassung beschäftigte B. Im Dickicht der Städte enthalten. Als Textbasis
sich immer wieder mit seinem Stück und des- entschied B. sich zunächst für die zweite Aus-
sen Hauptfigur. Um 1930 entstanden unter gabe des Kiepenheuer Verlages (auf der
dem Titel Der böse Baal der asoziale fragmen- Grundlage der 3. Fassung von 1919/20), die
tarische Entwürfe zu einer Gestaltung des 1922 gedruckt worden war. B. entschloss sich
Stoffes auf der Basis der Lehrstücke B. s. Der jedoch beim Korrekturlesen der Druckfahnen
wollüstige, die ›Welt abgrasende‹ Baal sollte in der ersten Maihälfte 1953 zu einer neu-
zum ›Verwerter‹ von Produktionsmitteln wer- erlichen umfangreicheren Überarbeitung und
den. So kam es unter anderem zu den kurzen wollte auch die 4. Fassung von 1926, Lebens-
Dialogen zwischen Baal und Herrn Keuner lauf des Mannes Baal, ediert wissen. Dies
(GBA 10, S. 668 f.), dem Protagonisten einer scheiterte an der Zeitplanung des Verlages.
Soziale Problematik 73

Gedruckt wurde die nur geringfügig modifi- wendete, sondern gleichsam Authentizität be-
zierte 3. Fassung. Die letzte Fassung des Baal wahrte und so trotz der Vielschichtigkeit, dem
aus dem Jahr 1953 wurde dann erst 1955, in absichtlichen Legen falscher Fährten (wie im
der Ausgabe von B.s Stücken, die beim Auf- Falle Josef K.s) und dem dauernden Spiel mit
bau-Verlag erschien, gedruckt. den Ebenen der Realität und der Dichtung zu
B. nahm in dieser letzten Fassung umfang- einer in sich stimmigen, wenn auch tragisch-
reiche Änderungen vor. Er überarbeitete das zerrissenen Figur kam. B. profitierte dabei von
erste Bild, in dem er expressionistische Ge- dem Zufall, dass es eine mythologische Figur,
dichte zitieren ließ: Vorbereitung von Johan- eine reale Person und literarische Vorbilder
nes R. Becher und Der Baum von Georg Heym. gab, die hinsichtlich des Namens und der
Darüber hinaus nannte er die Münchner Zeit- Merkmale seines Protagonisten Ähnlichkeiten
schrift Revolution und erwähnte Cesare Lom- aufwiesen. Es ist ein grundsätzlicher Mangel
brosos in der Zeit nach Ende des ersten Welt- der Forschung, dass sie jenes virtuose Mitein-
kriegs lebhaft diskutiertes Buch Genie und ander von Mehrdeutig- und Stimmigkeit in
Wahnsinn (1864). Damit erinnerte B. Becher der Regel übersah, obwohl es die erste und
nicht nur an seine von ihm gerne geleugnete eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine
expressionistische Schaffensphase, sondern angemessene Interpretation des Stücks ist.
nahm auch indirekt Stellung zur Expressio- Fünf Ebenen oder Bereiche sind zu unterschei-
nismusdebatte. Zudem ergänzte er das Stück den, denen B. bei der Gestaltung der Figur
durch eine bereits 1920 entstandene Schluss- Material entlehnt: Es sind dies die Ebenen der
szene, die bis dahin in keine Fassung aufge- Theologie/Mythologie, der Realität, der
nommen worden war. Des Weiteren wollte B. künstlerischen bzw. literarischen Vorbilder
noch Szenen mit Baals Mutter aus der Fassung und der zeitgenössischen literarischen Strö-
von 1919 überarbeiten und in das Stück in- mungen und Tendenzen. Als fünfte Ebene ist
tegrieren. Dazu kam er wegen zu großer Ar- B.s eigenes Leben zu nennen, das er in Teil-
beitsbelastung jedoch nicht mehr. Verschie- aspekten in seine Figur projiziert, sei es in
dene Aussagen B.s aus dieser Zeit dokumen- Form biographischer Einzelheiten oder eige-
tieren, dass er Baal nie abschließen konnte. ner Wunschvorstellungen.
Gleichzeitig hielt er seinen ersten großen Pro- Bezüglich der Namengebung des Baal
tagonisten für unzeitgemäß und räumte ein, herrschte lange Zeit Konsens, dass die gleich-
dass dem Stück »Weisheit fehle« (GBA 23, namige heidnische Gottheit Vorbild war (Joost,
S. 242). S. 95). Hingewiesen wird in diesem Zusam-
menhang auf B.s hervorragende Bibelkennt-
nisse und seine Mansarde, die mit Baal-Dar-
stellungen Nehers wie eine »Kultstätte«
Die Vielschichtigkeit der Baal-Figur (Schmidt 1966a, S. 11 f.) eingerichtet war. Baal,
wörtlich übersetzt »Herr« oder »Besitzer«, ist
im Alten Testament der semitische Sturm- und
Die literarischen und historischen Vorbilder Fruchtbarkeitsgott, der später als heidnischer
der Baal-Figur sind zahlreich und vielschich- Götze erscheint und – im Gegensatz zum
tig. Sie ist nicht einer einzigen Person ver- strengen jüdischen Monotheismus – zum
pflichtet, sondern es handelt sich um einen Sinnbild polytheistischer Lasterhaftigkeit und
Protagonisten, der hinsichtlich seiner Namen- Zügellosigkeit wird. Die Ausrottung des Baal-
gebung wie auch der Charaktergestaltung Kultes wird im Alten Testament (2 Könige,
Merkmale verschiedener Gewährsleute aus 9 f.) ausführlich beschrieben. Ein weiteres In-
Kunst und Geschichte in sich vereint. Dabei ist diz für die biblische Vorlage des Baal ist B.s
es von besonderer Bedeutung, dass B. jene Kenntnis von Hebbels Drama Judith (1841),
Merkmale nicht entgegen ihrem ursprüngli- das bereits Material für den Einakter Die Bibel
chen Bezugsfeld und Sinnzusammenhang ver- lieferte. Auch hier kommt jene Gottheit vor,
74 Baal

die als hölzerne Statue zertrümmert wird. B. »verkommenen Menschen aus Pfersee« abge-
spielt in der 1. Fassung von 1918 direkt auf das geben habe, der dann allerdings plötzlich aus
Stück Hebbels an (Schmidt 1966a, S. 83). Des Augsburg verschwunden sei.
Weiteren lernte B. 1919 die Hebbel-Travestie Es handelt sich um den 1886 in Pfersee ge-
Judith und Holofernes (1849) von Nestroy ken- borenen Johann Baal (B. nennt ihn 1956 »Jo-
nen, in der Baal zu Beginn ebenfalls Erwäh- seph«, entweder aufgrund falscher Erinnerung
nung findet. oder um jenen Baal bewusst in Verbindung mit
Axel Schnell hält mit Nachdruck an diesem Josef K. zu bringen), Sohn eines Bürstenma-
biblischen Vorbild Baals fest. Dieses erscheine chers, der keine Berufsausbildung hatte, ein
nicht nur als Gegenspieler Jehovas, sondern unstetes, vagabundierendes Leben führte und
auch als »Widersacher« des christlichen Gottes trunksüchtig war. Er schrieb nie publizierte
und werde so zu einem Paradebeispiel für des Gedichte, die er in Augsburger Kneipen vor-
jungen B. »emphatisches Verhältnis zu dem trug, in denen B. ihn kennen lernte. Baal
Feind der christlich-jüdischen Tradition« wurde wegen seines Lebenswandels enterbt
(Schnell, S. 20; vgl. Rohse, S. 341 f.). Tatsäch- und im März 1918, kurz nach dem Tode seines
lich trägt die Figur des Baal unübersehbare Vaters, in eine Irrenanstalt in Bruckberg/
Züge der heidnischen Gottheit: Als Teil der Oberfranken gebracht. Es ist davon auszuge-
Natur saugt er genüsslich und ohne moralische hen, dass ähnliche Eigenschaften und die Na-
Vorbehalte Leben, d. h. Menschen, ein und mengleicheit zwischen dem biblischen Baal
wirft sie weg, nachdem er sie ›verbraucht‹ und Johann Baal für B. so herausfordernd war,
hat. dass es sich geradezu aufdrängte, seinem Pro-
Stark bezweifelt wurde bisher stets die Exi- tagonisten diesen Namen zu geben. Ein wei-
stenz einer realen Person, die Baals Vorbild terer Hinweis auf Johann Baals Nähe zu B.s
gewesen ist: B. selbst schrieb in der neu bear- Baal dürfte darin zu sehen sein, dass die spä-
beiteten Anleitung zur Hauspostille 1956: tere Figur des Fatzer, die eindeutig baalsche
»Das erste Kapitel dient der Erinnerung an den Züge trägt, mit Vornamen »Johann« heißt.
Lyriker Joseph Baal aus Pfersee, eine durch- Ebenfalls ähnliche Charaktereigenschaften
aus asoziale Erscheinung« (Gedichte I, S. 8). haben die literarischen Vorbilder des Baal:
Die Forschung ging davon aus, dass jener Jo- Wedekind und die Franzosen Villon, Rimbaud
seph Baal nicht existiert hat (GBA 11, S. 321), und Verlaine. Alle führten ein Leben außer-
nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass B. halb der Konventionen und moralischen Nor-
mit Josef K. bereits 1926 ein historisches Vor- men ihrer Zeit. Wedekind gilt als der Dichter,
bild fingiert hatte. Schon Max Högel, dessen der den größten Einfluss auf den jungen B.
Buch über die Jugendzeit B.s auf der Grund- hatte und von ihm verehrt wurde. Gemeinsam
lage von Gesprächen mit Freunden aus dem mit Verlaine wird Wedekind in der 1. und 2.
Kreis um den Dichter verfasst wurde, er- Fassung als Vorbild für das ›Diabolische‹ im
wähnte, dass Nehers Darstellungen in der Werk Baals genannt. Die deutsche Überset-
Mansarde möglicherweise nach B.s »Urbild« zung der Gedichte Villons durch K. L. Ammer
des Baal, »einem männlichen Vamp namens K. aus dem Jahr 1907, die B. kannte, ist eine
aus Pfersee bei Augsburg« (Högel, S. 19) ge- wichtige Quelle und Anregung zu Baal. Be-
zeichnet worden seien. Auch wenn hier die sonders in der 1. Fassung ist die Parallele zwi-
Abkürzung »K.« genauso irritiert, wie der Be- schen Leben und Werk Villons und dem Baals,
griff »Vamp«, handelt es sich um einen wei- das sich ebenfalls in Kneipen mit Huren und
teren Hinweis auf eine Person aus Pfersee von Gaunern vollzieht, evident. Die homoeroti-
einem Autor, der B.s Anleitung mit großer sche Freundschaft zwischen Rimbaud und Ver-
Wahrscheinlichkeit nicht gekannt hat. Dane- laine kehrt in der Verbindung zwischen Baal
ben ist überliefert, dass sich B.s Vater Berthold und Ekart wieder. Nach Münsterer sollen Ne-
Friedrich gesorgt habe, weil sich sein Sohn hers Baal-Darstellungen in B.s Mansarde »den
während des Krieges kurzfristig mit einem breitstirnigen, mongoloiden Verlainetyp« wie-
Die Vielschichtigkeit der Baal-Figur 75

dergegeben haben und keineswegs an der Details außer Frage stellen (Barth, S. 4), son-
heidnischen Gottheit orientiert gewesen sein dern er selbst wollte seinen Baal dem jungen
(Münsterer, S. 24). Für Schmidt ist daher der Verlag anbieten: »Ich schreibe an den Wende-
vom übermäßigen Alkoholgenuss gezeichnete verlag, er kann Baal haben« (GBA 26, S. 262).
und Sokrates ähnlich gewordene Schädel Ver- Die kritischste der überlieferten Besprechun-
laines das Urbild Baals (Schmidt 1966a, S. 12– gen des Werks Thoms stammt ausgerechnet
14). von Johst. Überdies ist festzuhalten, dass in
Name und Thematik des Baal waren in der den Seminaren Kutschers mit größter Wahr-
Literatur des Expressionismus, mit der B. sich scheinlichkeit auch über den Aufsehen erre-
kritisch auseinander setzte, durchaus präsent, genden Roman diskutiert wurde und dass
so dass Anregungen auch aus dieser Richtung Johst in der Gestaltung von Thoms negativem
vorauszusetzen sind. In Heyms Gedicht Der Protagonisten eine Attacke auf seine ideell
Gott der Stadt, veröffentlicht 1911, geht es um überhöhte Grabbe-Figur sah. Deshalb kannte
einen Baal, dort allerdings als Gottheit der Johsts Wut auf den damals fast erblindeten
Stadt, so dass B.s Baal auch hier als Kontradik- Autor kaum Grenzen: »Dieser Roman ist eine
tion zu betrachten wäre. 1913/14 erschien in jener häßlichen Grenzerscheinungen des
der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm Schrifttums, das zwischen literarischem Ver-
Zechs Erzählung Das Baalsopfer, 1917 seine mögen und pornographischem Talent ge-
viel diskutierte Novellensammlung Der schickt laviert. [ … ] Baal [ … ] wird homosexu-
schwarze Baal (GBA 1, S. 510 f.). Es ist nicht ell, später auch noch einer Minderjährigen ge-
nachzuweisen, ob B. diese Werke zur Kenntnis genüber pervers [ … ]. Derartige für den
genommen hat; dies ist jedoch durchaus mög- Nachttisch mondäner Impotenz geschriebene
lich, da er in dieser Zeit außergewöhnlich viel Geilheit-Rezepturen [ … ], derartige Spekula-
las, sich einen umfassenden Überblick über tionen auf das Dienstmädchen und die gnädige
die klassische und zeitgenössische Literatur Frau, auf den Snob und das Schwein verdie-
verschaffen wollte und sich mit ihr ausein- nen, daß ein erstrebtes und erreichtes Honorar
ander setzte. Über diese expressionistischen von der Staatskasse eingezogen wird.« (Leip-
Quellen hinaus verweist Vaßen auf Wedekinds ziger Illustrierte Zeitung vom 13. 11. 1919)
Lulu und Peter Glahn, den Protagonisten aus Nichts war daher für B. näher liegender und
Hamsuns Pan, als mögliche Vorbilder Baals provozierender, als seine Kontradiktion mit
(Vaßen, S. 9). Auch Goethes Faust wird als dem Titel eines Romans zu beginnen und zu-
mögliche Vorlage betrachtet (Beck). dem Inhalte aus Thoms Roman aufzunehmen,
Im Frühjahr 1918 erschien in dem neuen die Johst vernichtend kritisiert hatte.
Verlag Die Wende, der erklärtermaßen der Nicht zuletzt ist die Figur des Baal neben
Avantgarde und dem Expressionismus ver- anderem auch als Selbststilisierung B.s zu be-
pflichtet war, der Roman Ambros Maria Baal trachten, als »eigenes Wunschbild des Autors«
von Andreas Thom, den B. mit Gewissheit (Dümling, S. 78), das ›semi-autobiographi-
rezipiert hat. Das Buch, das innerhalb kürzes- sche‹ (Hayman, S. 1) Züge trägt. Die wichtig-
ter Zeit eine Auflage von 10 000 Exemplaren sten Parallelen zwischen Dichter und Figur
erreicht hatte, fand national wie international sind das Leben in der Dachkammer, sexuelle
außergewöhnlich große, meistenteils positive Beziehungen zu Frauen jenseits bürgerlich-
Resonanz, so dass im Herbst desselben Jahres moralischer Normen und in diesem Zusam-
in einer Sondernummer der Literaturzeit- menhang die Angst, Kinder zu zeugen, die Zu-
schrift Der Anbruch bis dahin unbekannte gehörigkeit zur Bohème, der Vortrag eigener
Baal-Kapitel publiziert wurden und Die Wende Lieder zur Gitarre – Baal hält in einer Dar-
1920 die von Thom nachgelieferte Novelle stellung Nehers die Gitarre so, wie B. es selbst
Baals Anfang veröffentlichte. B. schrieb sein getan haben soll, »regelwidrig den Gitarren-
Drama nicht nur in enger Anlehnung an hals nach unten« (Dümling, S. 78) – sowie die
Thoms Werk, was zahlreiche übernommene intensive Erfahrung der Natur. Carl Pietzcker
76 Baal

ist darüber hinaus der Ansicht, dass B. in Baal intensiven Auseinandersetzung mit Nietzsche
die eigene Herzneurose gestaltet habe, die auf. Das Werk Thomas Manns gar ist ohne die
Zeit seines Lebens die literarische Arbeit be- Gedankenwelt des Philosophen kaum versteh-
einflusst haben soll (Pietzcker, S. 8f.). bar.
Nietzsche postulierte eine Existenz jenseits
der moralischen Kategorien von gut und böse,
die Konventionen, Setzungen der christlichen
Baal und Nietzsche Religion sind. Gott existiert nicht; er ist intel-
lektuelles Produkt des ›Ressentiments‹ der
Schwachen, die sich Surrogate schaffen, um in
Vorangestellt ist dem Drama seit der 2. Fas- ihrer Schwäche legitimiert, mit ›gutem Ge-
sung der 1918 entstandene Choral vom Manne wissen‹, existieren zu können. Aufgabe ist es,
Baal, der als komprimiertes lyrisches Pro- dem an sich absurden, sinnlosen Leben, das
gramm und Inhaltsangabe des Stücks gelesen sich in immer wiederkehrenden Strukturen
werden kann. Der Lyriker Baal führt ein Le- vollzieht, gewachsen zu sein. Deshalb forderte
ben außerhalb der Gesellschaft und ihrer mo- Nietzsche eine »Umwertung aller Werte«
ralischen Normen und religiösen Ansprüche. (Nietzsche, Bd. 6, S. 365), zu der nur der
Auf sich allein gestellt, genießt er, scheinbar »Übermensch« (Bd. 4, S. 14) in der Lage ist,
unbekümmert und ohne Sorge für seinen Un- der erkannt hat, dass Gott »tot« (Bd. 3, S. 481)
terhalt zu tragen, das, was die Erde, seine ist und der Mensch aus sich selbst heraus
›Urheimat‹, ihm bietet. Ausschweifende Se- Werte zu schaffen hat. Indem er im Zustand
xualität, exzessiver Alkoholgenuss, intensives der Immoralität jene ›Herdenmoral‹ von gut
Naturerleben: »rasende Ekstase« und »Wol- und böse überwunden und zwangsläufig die
lust«, dabei dichtend und »singend«. Im ewi- Gesellschaft hinter sich gelassen hat, ist er
gen Kreislauf von Werden und Vergehen kehrt einsam, gleichsam ›asozial‹, woraus er eine
er am Schluss seines Lebens in den »dunklen neue Art von Lebens- und Seinsqualität
Schoß« zurück, der ihn als »weißer Mutter- schöpft.
schoß« (GBA 1, S. 19–21) einst hervorgebracht Die Ablehnung asketischer Ideale und mit
hatte. ihr der christlichen Religion und ihrer Jen-
In der Forschung herrscht im wesentlichen seitsgläubigkeit und die Hinwendung zur
Einigkeit, dass das Werk des jungen B. beein- Diesseitigkeit, Natur und Körperlichkeit im
flusst ist von der Philosophie Nietzsches Frühwerk B.s sind in erster Linie auf Nietz-
(Grimm; Knopf, S. 169; Vaßen, S. 8, S. 33). sches Einfluss zurückzuführen. Die augen-
Christof Šubik kann darüber hinaus plausibel scheinlichste dichterische Umsetzung jenes
machen, dass Nietzsches Werk zu den grund- amoralischen Vitalismus, der explizit im
legenden Leseerfahrungen des jungen B. ge- Künstler eine der wichtigsten lebensbejahen-
hörte und er sich Zeit seines Lebens mit ihm den Existenzformen sieht, ist Baal. Die Figur
auseinander setzte, war er doch »der erste und trägt zweifellos Züge des Übermenschen
nachhaltigste, aber von Anfang an vorsätzlich Nietzsches, insofern erfährt B. auch in weltan-
und sorgfältig verborgene Lehrer« B.s ( Šubik, schaulicher Hinsicht Anregungen, über die
S. 56). dargestellten, zum Teil sehr konkret fassbaren
Nietzsches Weltanschauung erfuhr in der Entlehnungen aus den Bereichen der histori-
Zeit um den ersten Weltkrieg, die in weiten schen und künstlerischen Vorbilder und der
Kreisen als Äonenwechsel empfunden wurde zeitgenössischen literarischen Strömungen
und auch für die Entstehung des Baal von maß- und Tendenzen hinaus und diese ergänzend.
gebender Bedeutung war (Speirs, S. 19), eine In diesem Sinne ist Baal der Asoziale, der
außerordentlich starke Rezeption. Besonders nach eigenen Maßstäben lebt und nach Nietz-
die Literatur vom Naturalismus bis zum Ex- sche aus sich heraus Werte schafft. Baals zügel-
pressionismus weist deutliche Spuren einer loses Sichausleben, die Realiserung seines in-
Die Vielschichtigkeit der Baal-Figur 77

dividualistischen Lebensethos, führt zum Ver- Szenen des Dramas der Vitalismus Nietzsche-
schleiß an Mitmenschen. Dennoch ist er nicht scher Manier, das enthusiastische Einver-
böse (Vaßen, S. 15), er ist nicht un-, sondern ständnis mit dem ewigen Gesetz des Werdens
immoralisch, »jenseits von Gut und Böse« und Vergehens ungebrochen scheint, vermit-
(Nietzsche, Bd. 5, S. 18), deren dualistisches telt die Darstellung von Baals Tod einen an-
Prinzip er aufbricht. Der Starke, von Nietzsche deren Eindruck. Es ist nicht mehr die Rede
als »Bestie« (Bd 2., S. 64) bezeichnet – B. sieht vom »Genuß noch im Sichkrümmen«, von der
Baal dementsprechend als »Tier« (GBA 1, euphorischen Rückkehr in den Heimat und
S. 18) –, fordert durch das Leben nach seinem Schutz gewährenden Schoß der Erde, der dann
eigenen Gesetz Tribut: Baal nimmt in Kauf, wieder zum Mutterschoß wird: Baal möchte
dass Leichen seinen Weg säumen. Damit führt sich dem Tod stellen, er kriecht ihm entgegen
er das Hauptgebot des Christentums, die (vgl. Schnell, S. 36). Die Anwesenden jedoch,
Nächstenliebe, ad absurdum (Frühwald, die ›Herde‹, über die er sich zuvor erhob und
S. 38). Baal benötigt nicht das ›Narkotikum‹ nur dann zur Kenntnis nahm, wenn er sie als
der Religion, er ist nicht nur in der Lage, mit ›Material verwerten‹ konnte, fleht er an, bei
totaler Gottesferne und der Absurdität der ihm zu bleiben, ihn beim Sterben nicht allein
Welt zu leben, sondern angesichts der Realität zu lassen. »Ich b i n keine Ratte« (GBA 1, S. 82,
seines Ichs, das einen eigenen Horizont S. 137), nimmt er sich vor und muss erfahren,
schafft, beschäftigt ihn die Theodizeeproble- dass er diesem Anspruch nicht ganz gerecht
matik nicht einmal mehr: »Ob es Gott gibt oder werden kann. Sterben fällt ihm schwer, das
keinen Gott / Kann solang es Baal gibt, Baal Individuum wird ausgelöscht (vgl. Vaßen,
gleich sein.« (GBA 1, S. 20) S. 31), ein realer und leidvoller Vorgang, dem
Es herrscht absolute Sinnleere, ein Schöp- er sich nicht entziehen kann. In dieser Situa-
fungsplan existiert nicht. Die Welt ist nichts tion scheint die eher philosophisch-abstrakte
als »ein Exkrement des lieben Gottes« (GBA 1, Idee von der ›ewigen Wiederkehr‹ wenig hilf-
S. 52). Es gibt nur den blinden Impuls der reich. Baals »gräßliche Agonie auf der Bühne
Natur, Nietzsches »Willen zur Macht« (Nietz- widerlegt auf sichtbare Weise den Tod als
sche, Bd. 5, S. 55): »Jeder will herrschen. Je- glückliche mystische Vereinigung mit der Na-
der will n u r herrschen.« (GBA 1, S. 24) Des tur« (Ekmann, S. 24). Dieser Eindruck bleibt
Leides als Realität ist Baal sich indessen bestehen, obwohl Baal in der 2. und 3. Fassung
durchaus bewusst. »Weite Felder schmatzend von 1919 bzw. 1922 zum Sterben nicht in der
abgrasend« (S. 21), stellt er sich ihm und der Hütte als Relikt der Zivilisation bleiben will,
radikalen Diesseitigkeit: »Es muß noch Genuß sondern hinauskriecht, um sich mit der Natur
sein im Sichkrümmen. Ich glaube an kein Fort- zu vereinigen, in sie zurückzukehren und
leben und bin aufs Hiesige angewiesen.« scheinbar, seinem Ideal entsprechend, bis zum
(S. 55) Ende die Fähigkeit behält, »das Leben zu ge-
nießen« (Vanhelleputte, S. 115). Die vitalisti-
sche Grundbefindlichkeit und die dieser ent-
sprechende Weltanschauung, die das Stück
Baals ›defekter‹ Vitalismus prägt, erweisen sich als Programm, dem nicht
in letzter Konsequenz gefolgt wird. Baals Le-
bensethos ist damit nicht relativiert, nicht am
So sehr Nietzsches Einfluss in Baal auf der Ende aufgehoben und ad absurdum geführt. Es
einen Seite deutlich wird, so wenig ist dieses zeigt jedoch Brüche, bleibt in bestimmten
Drama auf der anderen nur eine Umsetzung Punkten Postulat und führt dazu, dass der Zu-
jener Weltanschauung auf der Ebene der Dich- schauer Baal letztlich distanziert »als Fall« er-
tung. Auch hier erweist sich B.s Werk als viel- lebt (Heerich, S. 76). Dieser Bruch in der Ge-
schichtig. Während im vorangestellten Choral staltung Baals kann auf das Werk Büchners
vom großen Baal wie auch in vielen einzelnen zurückgeführt werden. Dantons Tod ist ge-
78 Baal

prägt von einer resignativen, fatalistischen Es handelt sich um die bürgerliche Gesell-
Weltsicht, die in einzelnen Zügen gar an den schaft des späten Wilhelminismus, mithin um
Pessimismus Arthur Schopenhauers erinnert jene, die B.s sozio-kulturellem Umfeld in
und Baals Vitalismus gelegentlich in ein an- Augsburg entspricht und durch die seine ei-
deres Licht zu stellen scheint. Dass B. zu- gene Antibürgerlichkeit an Profil gewinnt.
mindest Dantons Tod gelesen hat, wird von Gleich der Beginn des Dramas zeichnet ein
der Forschung nicht mehr bezweifelt. Paralle- konkretes Bild dieser Gesellschaft, mit ihm
len zur Sprache und zur Gestaltung der Motive werden die Ursachen für Baals Außenseiter-
und Metaphorik zwischen dem Stück Büchners tum dargestellt. Vermeintlich zu seinen Ehren
und Baal belegen dies eindeutig (Meldrum wird eine Soirée veranstaltet. Er soll ›einge-
Brown, S. 126; Zeindler, S. 64–68). Jener Fata- führt‹ werden, Gelegenheit haben, seine
lismus entlarvt besonders in der 2. Fassung des Werke vorzutragen; großzügige Förderung ist
Stücks Baals alles umfassendes vitalistisches in Aussicht gestellt. Man gibt sich kunstbe-
Ethos als Illusion, seinen propagierten Sub- flissen, vergleicht Baals Talent mit Produkten
jektivismus als artifiziell, nicht lebbar, letzt- zeitgenössischer Autoren und zitiert die Werke
lich nur in und als Dichtung existierend. anderer. Damit demaskiert sich jedoch das Bil-
dungsbürgertum und seine Instrumentalisie-
rung der Kunst: Über Whitman oder Verhaeren
wird nicht eigentlich gesprochen. Es werden
Baal und die bürgerliche ihre Namen genannt, um die eigene Belesen-
Kunstauffassung und Gesellschaft heit und Kompetenz nach außen zu kehren.
Über Literatur wird nicht eigentlich disku-
tiert: Man ergeht sich in Klischees, bleibt an
In einem weiteren, für eine angemessene Deu- der Oberfläche, betreibt peinlich anmutende
tung des Dramas entscheidenden Punkt weicht Galanterie: »Superbe! Welch ein Ton! Ich
B. deutlich von Nietzsche ab. Dieser hebt den finde die Verse ganz himmlisch! Fabelhafte
Übermenschen von der Moral der »Schwa- Technik! Diese raffinierte Einfachheit!« (GBA
chen« ab und erstellt auch ein psychologisches 1, S. 22) Einer der Gäste gibt Gedichte zeit-
Diagramm ihres Ressentiments (Nietzsche, genössischer Autoren als die eigenen aus und
Bd. 3, S. 33). Länger allerdings verweilt er in trägt sie vor (S. 23 f.). Stets findet sich auch
seinen bekanntesten Werken nicht bei der Gelegenheit, über Geschäfte zu sprechen, die
Herde, die der Übermensch hinter sich lässt. aktuellen Kursentwicklungen zu kommentie-
B. hingegen entwirft in Baal ein genaues wie ren (S. 22).
sublimes Bild jener Gesellschaft, von der sich Die Bedeutung, die der Kunst in dieser Ge-
seine Hauptfigur nicht nur distanziert, son- sellschaft zukommt, wird damit eindringlich
dern die Baal auch hervorgebracht hat. Bür- vor Augen geführt: Sie ist zum nichts sagenden
gerliche Scheinmoral wird erbarmungslos de- Gesprächsstoff degeneriert, ist Bestandteil der
maskiert (Schmidt 1966a, S. 108). Tatsächlich Etikette. Man kann sich mit ihr schmücken,
ist B.s Gesellschaftsanalyse, auch ohne den ohne sie ernst zu nehmen, bedient sich ihrer
Zynismus der 4. Fassung, von gleicher Radika- nach Belieben. Nur scheinbar geht es um in-
lität und Eindringlichkeit wie die Gestaltung dividuelle Talente und deren Förderung, so
des Baal. Er »hat als Bühnenfigur vor allem wenig, wie es der bürgerlichen Gesellschaft
deshalb wenig Eigenleben, weil er in allem um die Zulassung individueller Entfaltungs-
und jedem die totale Antiposition zu der von möglichkeiten geht, obwohl dies als eine ihrer
ihm provozierten sozialen Welt darstellt, in Grundlagen und Maximen definiert ist. Kunst
der er lebt und durch die er vagabundiert« hat gleichwohl jedoch die wichtige Funktion,
(Frühwald, S. 38). So ist Baals Denken und die Gesellschaft zu stabilisieren sowie die Ge-
Handeln in erster Linie als Reaktion auf diese winnmaximierung sicherzustellen. Deshalb
Welt zu betrachten, die konkret zu fassen ist: hat sie nach bestimmten Normen, nach fest-
Baal und die bürgerliche Kunstauffassung und Gesellschaft 79

gelegten Mustern zu funktionieren. Sie muss ebenfalls der Gesellschaft verweigert, ihr je-
in das System integrierbar sein, den ästhe- doch kein eigenes Lebensprinzip entgegenzu-
tischen Anforderungen der bürgerlichen Ge- setzen vermag, kulminieren, fallen auf diese
sellschaft und ihren Moralvorstellungen ent- Gesellschaft zurück. Sie hat Baal hervorge-
sprechen. Obwohl Baals Werk nicht selten bracht. Als ihr Produkt ist seine Hinwendung
obszön und provokant ist, scheint es dazu zu- zur Natur ›defekt‹, seine Laster erscheinen als
nächst besonders geeignet, denn es kommt in ›vergiftet‹ (Schnell, S. 47 f.), nicht naturwüch-
dieser Hinsicht dem Anspruch der Liberalität sig, sondern durch die ›Künstlichkeit‹ der Zi-
und der bürgerlichen Doppelmoral entgegen: vilisation und ihrer Gesetze der Unmittelbar-
»Machen Sie eigentlich die kleinen Lüderlich- keit beraubt. Er hat die Gesellschaft kompro-
keiten auch eigens hinein, wie Heine?« (GBA misslos und radikal hinter sich gelassen und
1, S. 22) Dies ist allerdings nur in engen Gren- ist dennoch von ihr determiniert; hieraus re-
zen gestattet, die durch letztlich ökonomische sultiert seine Tragik. Baals Leben ist daher
Interessen festgelegt sind. Denn nur unter der keineswegs die »konsequente Selbstverwirkli-
Voraussetzung, zweckorientierte Werke zu chung des starken, von allen beschränken-
schreiben, könnte Baal als gemäßigter Bohe- den Skrupeln befreiten Individuums« (Joost,
mian und gleichsam domestizierter Anarchist S. 96). Dem Bereich des Profits und der ›Ver-
einen Platz in der Gesellschaft finden und als wertung‹ entronnen, ›verwertet‹ er selbst
deren Exponent gefördert werden. Dem ver- Mensch und Natur und entspricht damit den
weigert er sich: In seinem überpotenzierten Gesetzen jener Zivilisation, die er verachtet.
Subjektivismus lebt er radikal und bisweilen Die dabei auftretende »Phallozentrik« (Füh-
zwanghaft das aus, was sich die bürgerliche rich, S. 19) und Aggression Baals als alles
Gesellschaft in ihrer Scheinmoral selbst ver- verschlingender Moloch sind deshalb gleich-
bietet. falls in erster Linie durch die Gesellschaft
Eine Szene noch ließe ein Arrangement zwi- und nicht durch einen angeborenen »phy-
schen Baal und dem Bürgertum zu: Um seinen logenetischen Trieb« (Rothstein, S. 255) be-
rasch fortschreitenden Abstieg zu verhindern, stimmt. Thesen der Frauenbewegung (vgl.
ist Baal bereit, sich einem Kabarett anzudie- Clos, S. 122 f.; Wedel, S. 130) und Ergebnisse
nen. Hier soll er Texte schreiben und vortra- der modernen Aggressionsforschung in dieser
gen, die nicht seiner Vorstellung von Kunst Art als heuristisches Mittel einer Interpreta-
und seiner Begabung entsprechen – »Mit Ta- tion des Baal heranzuziehen, bedeutet, die
lent verstimmt man die Leute nur« (GBA 1, produktionsästhetischen Aspekte des Stücks
S. 49) –, aber opportun sind, insofern einen allzu sehr in den Hintergrund zu drängen.
»Tauschwert« (Schnell, S. 46) haben und somit
eine Verdienstmöglichkeit darstellen. Baal je-
doch, seiner selbst beraubt und, bekleidet mit
Frack und Matrosenmützchen (GBA 1, S. 51), Bilder der Natur
lächerlich gemacht, verursacht einen Skandal,
indem er unerwartet seine eigenen provokan-
ten Lieder vorträgt. Trotz seiner Bitte lässt der Vor diesem Hintergrund ist auch die Natur-
»Neger« John, Teilhaber des Kabaretts, ihn metaphorik zu sehen, die, an die Tendenz der
nicht aus dem geschlossenen Vertrag: »Er muß Expressionisten erinnernd, die Natur zu my-
noch ausgenutzt werden. Kontraktlich« (S. 52) stifizieren, die den der Gesellschaft entgegen-
und treibt ihn damit endgültig in die Krimi- gesetzten Bereich markiert, dem Baal sich zu-
nalität. gehörig wissen will. Der Himmel bildet die
Selbst wenn die bürgerlich-christlichen Mo- bedeutungsträchtigste, im Choral vom Manne
ralkategorien, die Baal überwunden hat, ange- Baal wie im Drama immer wiederkehrende
wendet würden, ist er nicht ›böse‹. Seine Ta- Metapher. Wie im Christentum ist er die alles
ten, die im Mord an Ekart, einer Figur, die sich überragende und »allgegenwärtige« (Schuh-
80 Baal

mann 1971, S. 86) Größe, im entgegengesetz- wesungsfortgang im Wasser, die Entwicklung


ten Sinnzusammenhang allerdings, wodurch zu »Aas«, beschreibt Baal durchaus drastisch:
sich B.s Parodie der christlichen Religion kon- Man wird »ein bißchen verquollen und weiß-
kretisiert, die durchaus als Blasphemie emp- lich, gefüllt mit stinkendem Flußschlamm«
funden werden kann (Rohse, S. 341 f.; Hakka- (GBA 1, S. 76).
rainen, S. 36 f.) und noch heute in der Lage ist, Der Prozess der Rückkehr zur Erde vollzieht
die Theologen zu provozieren (Kuschel, sich. Auch mit ihr wähnt Baal sich eins, im
S. 21 f.). Der Himmel vermag sich in der Wahr- Einvernehmen mit ihrem Gesetz: »Wenn ich
nehmung Baals zu ändern und spiegelt ver- mich auf den Rücken lege, krümmt er sich
schiedene Seelenzustände, wie die Farbsym- hohl. So stark merke ich, daß die Erde eine
bolik suggeriert. Wenn Baal besoffen ist, sieht Kugel ist und von mir bedeckt wird.« (GBA 1,
er ihn violett (GBA 1, S. 48 f.), beim Ge- S. 63) ›Rund‹, ohne Anfang und Ende, ist sie
schlechtsakt erscheint er »blau und unermeß- auch im Sinne des vegetativen Kreislaufs: Als
lich« oder »grün und unsagbar« (S. 34, S. 46). »weißer Mutterschoß« (S. 19) von ihr hervor-
Sexualität ohne moralische Zwänge bedeutet gebracht, ist sie Baals ›Urheimat‹ und Ziel
für Baal die intensivste Form des Naturerle- gleichermaßen. Er ›bedeckt‹ die Erde mit sei-
bens und die weitestgehende Übereinstim- nem Körper, zwischen ihr und ihm existiert
mung mit dem Prinzip, das der Himmel ver- nichts Trennendes, Baal will eins mit ihr sein
körpert: »Jetzt ist Himmel über uns« (S. 46; und im Tod endgültig und vollkommen eins
vgl. auch S. 48). Dieser erscheint als geradezu mit ihr werden. Er will in ihren »dunklen
befreit von jeglicher Transzendenz und der Schoß« (S. 21) zurückkehren, um dort die Ge-
Aufgabe, einen teleologischen Sinnhorizont zu borgenheit zu finden, deren er durch die Zivi-
verkörpern. Als Metapher des Gesetzes der lisation, die Gesellschaft entfremdet wurde.
ewigen Wiederkehr, des unendlichen Werdens Baals ungezügelter Drang zur individuellen
und Vergehens, ist er starr und unveränderbar, Entfaltung, als Reaktion auf die künstliche und
unberührt vom Geschick des Menschen und somit lebensfeindliche Normierung durch die
seiner Vergänglichkeit. Damit ist er zwar auch Gesetze der Gesellschaft, findet seine prä-
»feindliche Natur« (Vaßen, S. 29), in seiner In- gnanteste dichterische Umsetzung durch die
differenz dem Weltenlauf gegenüber jedoch Metapher des Baumes bzw. des Waldes. Ganz
unbeschreiblich schön: »Schwimmst du hinun- allgemein ist in der Lyrik des frühen B. der
ter mit Ratten im Haar / Der Himmel drüber Baum Sinnbild für das Wachstum und die Ent-
bleibt wunderbar« (GBA 1, S. 62). faltung des Menschen, auch ohne soziale Im-
Wasser als die Metapher des Zerfließenden plikationen, man denke an das Gedicht Der
und Entgrenzenden meint zunächst das Sich- Geschwisterbaum (1918). Im Verlauf des Dra-
treibenlassen im Baalschen Lebensgefühl, die mas zieht sich Baal immer mehr von der Ge-
»sinnliche Erfahrung« (Vaßen, S. 29), im Fluss sellschaft zurück, flüchtet in die Natur, in den
des Stromes eins zu sein mit dem ›Puls‹ des Wald als das Refugium seiner selbst. Ein Ver-
Weltprinzips. »Das ist das Leben. Komm, Ek- bleiben in den großen Städten wäre gleich-
art, wir wollen uns im Fluß waschen!« (GBA 1, bedeutend mit dem Verlust jeglicher Entfal-
S. 63) Beispielhaft beschreibt der junge B. die- tungsmöglichkeit. Baal würde sich fühlen wie
ses Gefühl im Gedicht Vom Schwimmen in ein Baum in einem einengenden, ihn erdrük-
Seen und Flüssen (1919): »Der Leib wird leicht kenden Hof: »Ich erschrecke, wenn ich einen
im Wasser.« (GBA 11, S. 72) Der Normenzwang Baum sehe, der sich durch einen engen Hof
der Gesellschaft ist ebenso aufgehoben wie der qualvoll durch fünf dunkle Jahre in eine karge
Widerstand durch das eigene Gewicht, durch Helle hinaufarbeitete.« (GBA 1, S. 63) Was
das Ich. Darüber hinaus symbolisiert jenes diesem Baum gelingt – er hat sich nach einer
Treiben oder Mitgerissenwerden im fließen- Zeit des Sichdurchsetzens und -entfaltens zu-
den Wasser die Auflösung der Physis, der Ka- mindest ein wenig Licht erkämpft –, bleibt
tegorien von Zeit und Raum im Tod. Den Ver- Baal trotz seines propagierten und gelebten
Bilder der Natur 81

Vitalismus verwehrt: Die Zivilisation, die Baal nicht, ob es der in der Szene genannte oder
ablehnt, aber deren Produkt er gleichzeitig ist, Baal selbst ist – kniet im Wald, umgeben von
hat zu seiner Selbstentfremdung geführt, die Bäumen, und hebt flehend die Hände, gleich-
zwar noch die Erkenntnis ermöglicht, die bür- sam bittend, wieder aufgenommen zu werden.
gerliche Gesellschaft hinter sich lassen zu Es handelt sich um eine der wenigen Arbeiten
müssen, eine naturwüchsige Selbstentfaltung in Öl, die von Neher überliefert sind. Die Tat-
verhindert sie jedoch oder lässt sie nur in sache, dass er gerade diese Szene aus dem
übersteigerter, beinahe krankhafter Form zu. Drama des Freundes visuell umsetzt, deutet
Zu lösen ist dieses Dilemma, so hofft Baal, nur darauf, dass B. ihr eine Schlüsselfunktion bei-
im Tod, wenn er in »den ewigen Wald zum gemessen hat.
Schlaf hinab« (S. 21) steigt. Akzentuiert wird die Bedeutung dieses Hei-
Gleichnishaft kommt diese durch die Zivili- mat- und Ichverlusts im Verlauf des Dramas
sation verursachte Selbstentfremdung in einer durch das Auftreten der Holzfäller, die den
Unterhaltung zwischen Baal, dem Bettler und Wald als Bereich, in dem Individualität zu-
Bollebol zum Ausdruck, in der Baals eigener mindest möglich erscheint, roden und damit
Tod präfiguriert wird (vgl. Garner, S. 80). Es gleichzeitig die Städte vergrößern und die Zi-
ist die Rede von einem Mann, der aus dem vilisation ausbreiten (vgl. die widersprüchli-
Wald stammt. Er verließ diesen, um später che Übernahme der Figuren in Aufstieg und
zurückzukehren. Doch den »Wald fand er sehr Fall der Stadt Mahagonny). Selbst bei Baals
fremd und nicht mehr verwandt« (GBA 1, Tod sind die Holzfäller präsent (GBA 1,
S. 59). Der Mann spricht mit einem Baum, S. 80 f.) und machen sich, während sie ihn ver-
lehnt sich an ihn an und muss erfahren, dass er höhnen, mit ihren Äxten an die Arbeit. Nicht
anders und damit eine Rückkehr in die ›Ur- einmal in dieser Situation gelingt Baal der
heimat‹ unmöglich geworden ist. »Da warf er Rückzug in die Natur. Indem die Holzfäller
sich zu Boden, umschlang die wilden und har- den Wald vernichten, zerstören sie die Option
ten Wurzeln und weinte bitterlich.« (S. 60) Die naturhafter Selbstentfaltung für immer, erwei-
biblische Formulierung »und weinte bitter- sen den Individualismus, wie er von der bür-
lich« entlehnte B. den Passionsberichten des gerlichen Gesellschaft propagiert und vom Ex-
Neuen Testaments (Matthäus 26,75; Lukas pressionismus als Neuaufbruch thematisiert
22,62); Petrus hat Jesus dreimal verleugnet. wird, endgültig als Illusion.
Sein Weinen bringt die existenzielle Verzweif-
lung angesichts des Verlusts der Identität, des
einstigen Sinnhorizontes zum Ausdruck. B. Baals Leben als Kunstwerk
akzentuiert damit die gleichsam biblische Tra-
gik jenes Mannes, der seine Heimat und mit Insofern vollzieht sich in Baal die »erste Auf-
ihr sein Ich nicht mehr findet und so zum lösung des bürgerlichen Individuums« (Vaßen,
»verlorenen Sohn« wird und, im Gegensatz S. 34) in B.s Schaffen. Wie in Trommeln in der
zum neutestamentlichen Gleichnis (Lukas Nacht und im Einakter Die Hochzeit analysiert
15,11–32), ein solcher bleibt. und demaskiert der Autor die Gesellschaft und
Ein nicht textimmanenter Hinweis bestätigt ihre Scheinmoral; er stellt die Zivilisation dar
diese Sicht. 1919, B. arbeitete an der 2. und und entlarvt sie, bietet jedoch – und dies ist
maßgeblichen Fassung des Dramas, entstand kennzeichnend für den jungen B. –, keine so-
ein Ölgemälde Nehers mit einer Illustration zu ziale Utopie anstelle der bürgerlichen Gesell-
Baal, das später B. gehörte, dann in den Besitz schaft. Die Figur des Baal und ihr Vitalismus
Münsterers überging und von der Stadt Augs- stellt eine solche nicht anheim, sie ist Reak-
burg 1994 von dessen Witwe erworben werden tion, nicht Alternative. Sie ist Kunst, nicht Le-
konnte. Das Gemälde trägt den Titel Der ver- ben, ein Artefakt, zusammengesetzt aus einer
lorene Sohn und stellt beeindruckend genau Vielzahl von Einzelinspirationen aus den ver-
das Wald-Gleichnis dar: Ein Mann – man weiß schiedensten Bereichen und trotz ihrer Brüche
82 Baal

und Defekte, die eine Entfernung vom ›kulina- sammenhang kommt der Figur des Ekart als
rischen Theater‹ markieren, glaubwürdig. Nur Musikers Bedeutung zu: Zwar durchaus tradi-
deshalb konnte sich in B.s gesamten Werk eine tionellen Formen wie Messe und Quartett ver-
»Baal-Struktur« (Frühwald, S. 40) entwickeln, haftet (vgl. GBA 1, S. 127), vertritt er zugleich
von Puntila bis Galilei immer wieder Figuren eine avantgardistische Position des Komponie-
in Erscheinung treten, die Baal in spezifischen rens: »Meine Fuge baute sich auf Geräuschen
Charakterzügen verwandt sind. auf, die nicht schlechter sind als die gewöhn-
In einem weiteren wichtigen Punkt setzt B. lichen. Was ihre Mathematik betrifft, so ist sie
sich vom traditionellen ›kulinarischen Thea- mathematischer als der Wind.« (S. 158) Also
ter‹ ab: Er zerstört die Fiktion, dass das Thea- auch das Musikalische im Baal wird in seiner
terstück Wirklichkeit abbilde, indem er die Struktur gleichsam berechnet und selbstrefe-
Kunst als solche bewusst macht und themati- rentiell thematisiert. B. griff auf den Stoff zu-
siert. In Art einer poetologischen Einlage ge- rück, als er in den 40er-Jahren mit Paul Dessau
stattet B. es seinem Protagonisten, sich ge- an dem Opernprojekt Die Reisen des Glücks-
wissermaßen aus dem Stück zu lösen und es zu gotts arbeitete. 1981 wurde die Oper Baal des
betrachten. Nicht nur Baal ist ein Artefakt, er österreichischen Komponisten Friedrich Cer-
sieht auch sich selbst und das gesamte Leben tia bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt
als ein solches. Die in die 2. Fassung des (vgl. Lucchesi/Shull, S. 270).
Stücks neu eingefügte Stier-Szene ist in die-
sem Zusammenhang von zentraler Bedeutung:
Baal gaukelt Bauern vor, dass sein Bruder an Form und Sprache
einem Kauf von Stieren interessiert sei. Dabei
will Baal in Wahrheit nur den Anblick der Der zersetzenden Analyse der bürgerlichen
vielen zusammengetriebenen Tiere genießen. Gesellschaft, ihrer Kunstanschauung und der
Was für die Bauern Ernst, Realität und vor Zerissenheit der Persönlichkeit Baals ent-
allem Geschäft ist, denn sie sind in erster Li- spricht die äußere Form des Dramas in der
nie Repräsentanten der Gesellschaft, bedeutet Tradition Büchners, möglicherweise von die-
für ihn Inszenierung, Theater, »ein göttliches sem (Hayman, S. 5), wahrscheinlicher aber
Schauspiel« (GBA 1, S. 64), das Erlebnis eines durch Werke Wedekinds beeinflusst: Baal ist
»starken Anblicks« (S. 65). Ein solches ist in kein in sich geschlossenes fünfaktiges Werk
der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich ge- mit einem bestimmten Spannungsaufbau,
worden, da es, wie die einführende Soirée- funktionierenden Dialogen und der Einheit
Szene zeigt, keine Kunst mehr gibt, die nicht von Ort, Zeit und Handlung, wie es besonders
profitorientiert oder zumindest Zwecken un- bei Stücken der Aufklärung und der Klassik
terworfen ist. Der Zivilisation verweigert sich der Fall war, die im tektonischen Dramenmo-
Baal in der Kunst und in seinem Leben als dell von Gustav Freytag (Die Technik des Dra-
Kunstwerk. Damit deutet er entlarvend auf die mas, 1863) beschrieben wurden. Es handelt
Gesellschaft und B. bereits in diesem Drama in sich vielmehr um ein loses Miteinander einzel-
nuce auf andere Möglichkeiten des Theaters. ner Szenen und Episoden, von denen manche
Weiterhin wird der Artefakt-Charakter von in ihrer Reihenfolge durchaus austauschbar
Stück und Figur deutlich. B. fügte Lieder ein, wären. Bewusst vermeidet B. den Eindruck,
die er selbst bei verschiendenen Gelegenhei- dass das Stück ein organisches Ganzes sei. Er
ten gesungen hatte und nun Baal in den Mund deutet auch in seinem Aufbau auf das Artifi-
legte. Dieser wurde damit einerseits zum »sin- zielle, künstlich Gemachte, nicht Gewachsene
genden Sprachrohr« des Autors (Lucchesi/ hin und macht somit seine Ästhetik transpa-
Shull, S. 20), andererseits kam bereits in die- rent. Schlaglichtartig wird Baals Persönlich-
sem frühen Stück zum Ausdruck, dass Musik keit vorgeführt, werden Aspekte und Facetten
für B.s dramatisches Schaffen »nützlich und seines Charakters erhellt. So erscheint er als
brauchbar« (ebd.) sein konnte. In diesem Zu- Dichter, als Genießer, als Verführer, als Säufer,
Form und Sprache 83

als Vagabund, als Atheist, als Leidender, als Schauspielern zu arbeiten. Die Aufführung
Sterbender. Es gibt keine Entwicklung und brachte den bereits erwarteten Skandal. Sie
vorwärts drängende Handlung, von Baals fort- wurde immer wieder unterbrochen von Pfui-,
schreitendem sozialem Abstieg, seinem ste- aber auch von Bravo-Rufen. Nach tobenden
tigem ›Herunterkommen‹ abgesehen, das die Ovationen und Pfiffen am Ende kam es im
Szenenfolge zumindest lose zusammenhält. Zuschauerraum beinahe zu tätlichen Ausein-
Die Antithese zwischen Baal und der Gesell- andersetzungen, als B. selbst erschien (Fer-
schaft ist von Beginn bis zum Schluss starr, die nau, S. 9). Auf Veranlassung des Oberbürger-
Figuren bleiben verschiedenen Realitäten ver- meisters ordnete das Leipziger Stadtverordne-
haftet. Nicht ein Dialog – im klassischen tenkollegium an, dass das Stück nach der er-
Drama, das dem aufklärerisch-individualisti- sten Aufführung zur Verhütung weiterer
schen Menschenbild verpflichtet ist, Mittel Skandale abzusetzen sei. Jedoch war auch die
zur Verständigung, Konfliktbewältigung und Inszenierung an sich ein Misserfolg. Haupt-
Fortentwicklung zum Guten schlechthin – darsteller Lothar Körner war gestisch wie
führt zu einem Ergebnis, verkleinert die Kluft stimmlich der schwierigen Rolle nicht ge-
zwischen dem Protagonisten und seiner Um- wachsen. Die Kritik war durchweg negativ; B.
welt. Baal dichtet nicht nur in seinen Werken, selbst äußerte sich bezeichnenderweise später
sondern auch viele Dialogpassagen muten an nie mehr über die Uraufführung des Baal
wie Lyrik (Joost, S. 94): »Meine Seele ist das (Schuhmann 1998, S. 16).
Sonnenlicht, das in dem Diamanten bleibt, Die erste bedeutende Interpretation des
wenn er in das unterste Gestein vergraben Baal fand vor dem Horizont jenes Auflösungs-
wird. Und der Trieb zum Blühen der Bäume im prozesses des Individuums statt, den das
Frühling, wenn noch Frost ist. Und das Ächzen Drama thematisiert. Am 21. 3. 1926 wurde
der Kornfelder, wenn sie sich unter dem Wind Baal in Wien, auf der Studiobühne des Thea-
wälzen. Und das Funkeln in den Augen zweier ters in der Josefstadt, inszeniert, gleichzeitig
Insekten, die sich fressen wollen.« (GBA 1, die Uraufführung der 4. Fassung des Stücks.
S. 55) Sprache hat ihre Funktion als Mittel der Im Hinblick auf diese Inszenierung schrieb
Kommunikation beinahe vollständig verloren. Hugo von Hofmannsthal ein Vorspiel in der Art
Sie isoliert Baal, dient ihm in erster Linie, sich eines fingierten Gesprächs, in dem Schauspie-
selbst – vielfach in dicht gedrängten Meta- ler, Dramaturgen und der Regisseur (Herbert
phern – auszudrücken und damit als Kunst- Waniek) über die Probleme der Aufführung
produkt und seine Maximen als nicht gesell- neuer Werke im Allgemeinen diskutieren und
schaftstauglich zu erweisen. Beinahe zwangs- dabei B.s Drama deuten. Es stelle die zeit-
läufig geht mit der Auflösung des Indivi- genössische Sehnsucht dar, vom Begriff des
duums, die das Drama vorführt, auch die abendländischen Individuums erlöst zu wer-
Auflösung seiner klassischen Form und Spra- den. In der Aufführung solle Baal als Protago-
che einher, die ihre ›ideologische‹ Grundlage nist erscheinen, der das »sich gebärende Zu-
verloren haben und als nicht mehr zeitgemäß künftige, Überpersönliche, das zufällige Ich
erscheinen. zersprengen kann und muß« (Hofmannsthal,
S. 513). Diese Interpretation Hofmannsthals,
der auch in formal-sprachlicher Hinsicht vom
Inszenierungen und Verfilmungen Stück B.s, mit dem er ansonsten nichts zu tun
hatte, angetan war (vgl. Frühwald, S. 44), hat
Die Uraufführung des Baal fand am 8. 12. 1923 bis heute nichts an Gültigkeit verloren. Dem
im Alten Theater in Leipzig unter der Regie hohen Anspruch dieser Deutung jedoch
Alwin Kronachers statt. B., inzwischen mit an- konnte die Wiener Inszenierung, die freundli-
deren Projekten beschäftigt, lag wenig an der chen Beifall wie auch Unverständnis der Kritik
Inszenierung. Er kam erst wenige Tage vor der fand, nicht gerecht werden.
Premiere nach Leipzig, um mit einzelnen Nach B.s Tod wurde Baal zunächst selten
84 Baal

aufgeführt, mit dem wachsenden Interesse am 1969 produzierte Volker Schlöndorff für den
Frühwerk häufiger. Im Vergleich zu den gro- Hessischen Rundfunk ein Fernsehspiel nach
ßen Exilstücken sind Baal-Inszenierungen je- B.s Drama, das die Handlung in die Zeit der
doch nach wie vor rar, obwohl sich die For- Studentenbewegung verlegte. Schlöndorff
schung in steigendem Maße mit dem Stück hatte die Absicht, »dem letzten anarchisti-
beschäftigte. So stammen weit mehr als die schen Einzelkämpfer ein kritisches Denkmal«
Hälfte der Untersuchungen zu Baal aus der zu setzen (unpubliziertes Typoskript des Hes-
Zeit nach 1990. sischen Rundfunks o. O. o. J.; BBA C79). Ähn-
Von den neueren Aufführungen seien zwei lich plakativ und oberflächlich wie diese Sen-
exemplarisch hevorgehoben: 1981 inszenierte tenz ist der Film. Zu sehr steht der von Rainer
Jürgen Flimm in Köln B.s Drama und ver- Werner Fassbinder gespielte Protagonist im
suchte, mit kargen, kalt-nüchternen Darstel- Vordergrund (obwohl er im Film einen großen
lungsmitteln dem Stück nahe zu kommen. Er Teil seiner Sprachgewalt verliert), zu wenig
akzentuierte den Konflikt zwischen dem Pro- erscheint seine Handlungsweise als gesell-
tagonisten und der Gesellschaft (unter ande- schaftlich motiviert, als dass er glaubwürdig
rem durch eine überaus drastische Darstellung diese Gesellschaft entlarven und anprangern
der Großbürger-Soirée) und machte deutlich, könnte (Gersch, S. 385).
dass es das Refugium der Natur, in das Baal Sehr großzügig mit der Vorlage B.s ging die
sich zurückziehen möchte, nicht mehr gibt: 1981 entstandene Baal-Verfilmung von Alan
Die Rückwand des Bühnenbildes, das den Be- Clarke, produziert für die BBC TV, um. Der
reich der Gesellschaft markierte, öffnete sich, Regisseur, für den das Stück keinerlei gesell-
jedoch nicht Himmel, Flüsse, Wald wurden schaftliche Aussagen hatte, legte dem Film be-
sichtbar, sondern eine verwahrloste, über- zeichnenderweise die 3. Fassung zugrunde
breite, geflieste Treppe, die abwärts zum Zu- und zeigte Baal – gespielt von David Bowie,
schauerraum führte (Rischbieter, S. 3), Baal seit Beginn der 70er-Jahre einer der bekann-
also nicht den Weg zur Verwirklichung seiner testen und vielseitigsten britischen Rockstars
Selbst in der Natur öffnete, sondern ihn dahin – als ›celebration of life‹ schlechthin, als fre-
zurückführte, wo er herkam: in die Gesell- chen wie sensiblen Anarchisten, aber nie in
schaft. politischem Sinn (Rommersperger). Durchaus
Für das Berliner Ensemble brachte der chi- bemerkenswert ist, dass sich ein solcher Star
lenische Regisseur Alejandro Quintana Baal mit diesem Stück B.s beschäftigte, obwohl der
1987 auf die Bühne; die Titelrolle verkörper- Film allerdings in erster Linie dem eigenen
te Ekkehard Schall. Der Regisseur versuch- Mythos Bowies diente (es folgte noch eine
te, beim Zuschauer Distanz und Ablehnung Schallplattenversion der von ihm gesungenen
dem Protagonisten gegenüber hervorzurufen. Balladen Baals). Die Verfilmung machte B.s
Die Inszenierung wirkte gequält, »blutleer« Drama im angloamerikanischen Raum einem
(Beckelmann), Schall spielte seine Rolle be- größeren Kreis bekannt.
wusst so, dass von Beginn an der Eindruck
entstand, Baal glaube seinen eigenen Worten
nicht (Stone). Nichts von der kraftvollen wie Literatur:
destruktiv-egomanischen Faszination, die B.s Barth, Achim: Noch ein Baal. Ein vergessenes Pen-
erste große Theaterfigur kennzeichnet, wurde dant zu Brechts Stück. In: Theater heute (1981), H.
vermittelt. Zwar vom Neuen Deutschland als 4, S. 4. – Beck, Götz: Zu Entstehung und Erklärung
»Herausforderung zum Weiterdenken« (Ebert) von Brechts Baal. In: ZfdPh. 118 (1999), S. 110–143.
gelobt, galt die Inszenierung als gescheiterter – Beckelmann, Jürgen: In kritische Ferne gerückt.
Brechts Baal im Ost-Berliner Ensemble. In: Süd-
Versuch, B.s Frühwerk für die DDR fruchtbar
deutsche Zeitung (München), 20. 12. 1987. – Block,
zu machen: »was ideologisch nicht paßt, wird Richard: Baal dancing: The unsettling position of
denunziert und ad absurdum geführt. Es ist Baal in Brecht‘s theatre on the new. In: GQu. 68
traurig, das mitansehen zu müssen« (Stone). (1995), S. 117–130. – Claas, Herbert: Die politische
Baal 85

Ästhetik Bertolt Brechts vom Baal bis zum Caesar. Neues über Bertolt Brechts Augsburger Zeit. In:
Frankfurt a. M. 1977. – Clos, Annett: Bertolt Brechts Dreigroschenheft (2000) H. 1, S. 22–29. – Högel,
Baal oder Kann denn Liebe Sünde sein? In: Jung, Max: Bertolt Brecht. Ein Portrait. Augsburg 1962. –
Thomas (Hg.): Zweifel – Fragen – Vorschläge. Ber- Hofmannsthal, Hugo von: Das Theater des Neuen.
tolt Brecht anläßlich des Einhundertsten. Frankfurt In: Ders.: Gesammelte Werke. Lustspiele IV. Frank-
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hard: Die schockierende Mär vom Leben, Lieben Brecht: Baal in der Jungen Bühne. In: Ders.: Le-
und Sterben des Poeten Baal. Bertolt Brechts frühes bendiges Theater. Eine Berliner Dramaturgie. Berlin
Stück wurde am Berliner Ensemble inszeniert. In: 1932, S. 91–96. – Johst, Hanns: Der Einsame. Ein
Neues Deutschland. Berliner Ausgabe, 20. 12. 1987. Menschenuntergang. München 1917. – Joost. –
– Ekmann, Björn: Gesellschaft und Gewissen. Die Jordheim, Helge: Gefährdeter Nihilismus: Eine
sozialen und moralischen Anschauungen Bertolt Analyse der Mutterfigur in Brechts Baal. In: Jung,
Brechts und ihre Bedeutung für seine Dichtung. Ko- Thomas (Hg.): Zweifel-Fragen-Vorschläge. Bertolt
penhagen 1969. – Fernau, Rudolf: Uraufführung von Brecht anläßlich des Einhundertsten. Frankfurt a. M.
Bert Brechts Baal am 8. Dezember 1923 im alten 1999, S. 99–110. – Knopf, Jan: Bertolt Brecht. Ein
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86

Schoenleber, Ulrich: Baal meets Belacqua. Une re- Abfassungszeit spricht ebenfalls die Angabe in
contre entre Brecht et Beckett. In: Buning, Marius Hans Otto Münsterers freilich erst 1963 ver-
(Hg.): Samuel Beckett: crossroads and borderlines.
öffentlichten Erinnerungen, dass B. das
Amsterdam 1997, S. 99–110. – Schuhmann, Klaus:
Der Lyriker Bertolt Brecht. München 1971. – Ders.: Drama in München »in drei Tagen niederge-
Baal 1923. Zur Problematik einer Leipziger Urauf- schrieben« habe (Münsterer, S. 103).
führung. In: Klein, Alfred [u. a.] (Hg.): Leipziger B.s Beschäftigung mit dem Stück ist sehr
Brecht-Begegnungen 1923–1994. Leipzig 1998, wahrscheinlich durch die revolutionären Er-
S. 15–20. – Speirs, Ronald: Baal. In: Mews, Sieg- eignisse hauptsächlich in München, in denen
fried (Hg.): Critical Essays on Bertolt Brecht. Boston
die aus dem Krieg heimgekehrten Soldaten
1989, S. 19–30. – Stone, Michael: Die alte Krankheit.
Das Berliner Ensemble spielt Brechts Baal. In: Der eine wesentliche Rolle spielten, angeregt wor-
Tagesspiegel (Berlin), 20. 12. 1987. – Šubik, Chri- den. B. war Zeuge dieser Ereignisse und be-
stof: Einverständnis, Verfremdung und Produktivi- kundete sein Interesse durch gelegentliche
tät. Versuche über die Philosophie Bertolt Brechts. Teilnahme an politischen Veranstaltungen. Er
Wien 1982. – Vanhelleputte, Michel: Baal und der und Münsterer besuchten am Tage nach der
Hedonismus des jungen Brecht. In: Ders./Boussart,
Ermordung Luxemburgs und Liebknechts
Monique (Hg.): Engagement, Formgefühl, Humani-
tät. Franfurt a. M. 1997, S. 114–125. – Vaßen, Florian: Wahlversammlungen, und B. war am 6. 2. 1919
Die »Verwerter« und ihr »Material« – Brecht und bei einer Trauerfeier der USPD für Luxem-
Baal. Bertolt Brechts Baal – ein Gegenentwurf zu burg, Liebknecht und Franz Mehring anwe-
Hanns Johsts Der Einsame. In: Grabbe-Jahrbuch send. Die USPD, der abgespaltene linke Flügel
(1989), H. 8, S. 7–43. – Wedel, Ute: Die Rolle der der SPD, schloss sich 1920 mehrheitlich der
Frau bei Bertolt Brecht. Frankfurt a. M. 1983. –
1918 gegründeten KPD an. Weiterhin nahm B.
Zeindler, Peter: Der negative Held im Drama. Ver-
such einer Interpretation am Beispiel von Klingers am 26.2. am Trauerzug für den ermordeten
Sturm und Drang, Büchners Dantons Tod und Woy- bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner
zeck sowie Brechts Baal. Zürich 1969. von der USPD teil. Münsterer charakterisierte
Jürgen Hillesheim B.s und seine eigene Haltung wie folgt: »unser
Herz schlägt weit links, wenn auch weniger
aus politischer Einsicht als aus jugendlichem
Draufgängertum« (Münsterer, S. 99). Kriti-
scher äußerte sich ein anderer Zeitgenosse,
der 1922 schrieb: »Bertolt Brecht hat die Revo-
lution miterlebt, sicherlich weniger aktiv han-
Trommeln in der Nacht delnd, denn als Zuschauer, als in die aufge-
rissenen Tiefen des Umsturzes Hineingesto-
ßener« (Abusch, S. 285).
Entstehung Auf Rat des Schauspielers Arnold Marlé
legte B. Ende Februar 1922 (vgl. Hecht, S. 66)
oder Anfang März Spartakus Lion Feuchtwan-
Wenige Tage nach der Niederschlagung des ger vor, der gute Kontakte zu den Münchner
Januaraufstands der Berliner Spartakisten und Kammerspielen hatte. Am 4.4. schrieb B. an
der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Banholzer, dass Feuchtwanger das Stück »ge-
Liebknechts durch monarchistisch gesinnte nial« fände und sich dafür einsetzen wolle
Truppen am 15. 1. 1919 begann B. mit der 1. (GBA 28, S. 77). Die Anregung zur Änderung
Fassung des Stücks Spartakus. Am 22./23.1. des Titels in Trommeln in der Nacht kam von
schrieb er aus München an seine Freundin Feuchtwangers Frau Marta. Feuchtwanger
Paula (Bi/Bie) Banholzer, dass er »mit einem selbst erinnerte sich 1928 an die »zügig hinge-
neuen Stück angefangen« habe (GBA 28, worfene dramatische Ballade von einem Sol-
S. 70); bereits am 13.2. vermerkte B. in einem daten, der aus dem Krieg nach Haus kommt,
Notizbuch den Abschluss der 1. Fassung (vgl. sein Mädchen von einem andern geschwängert
Hecht, S. 65). Für eine außerordentlich kurze findet, von ihren geldverdienenden Eltern
Entstehung 87

hinausgeschmissen wird, in den Kneipen und für B. so überaus schwierig erwies, im Herbst
Straßen der Proletarier die Arbeiter zur Revo- 1920. Das von dem Dramaturgen Wolfgang
lution aufhetzt, an ihrer Spitze die Zeitungs- Manfred Schwiedrzik wieder entdeckte Typo-
viertel stürmt« und die »außermodische, skript der frühen »Augsburger Fassung«, re-
wilde, kräftige, farbige Sprache« (Feuchtwan- flektiert im Wesentlichen den Stand der Arbeit
ger, S. 213). im Jahre 1920 (Abdruck in Schwiedrzik, S. 9–
Trotz der positiven Aufnahme durch Feucht- 74). Diese Fassung hatte ursprünglich vier
wanger kam es zunächst weder zu einer Auf- Akte; ein neuer dritter Akt (Walkürenritt)
führung noch zum Druck des Dramas. Die von wurde nachträglich eingefügt (vgl. Schwiedr-
Feuchtwanger gelesene Version hatte verschie- zik, S. 102), womit sich die Zahl der Akte auf
dene Fassungen, und B. setzte seine Beschäfti- fünf erhöhte. B.s Schwanken zwischen einem
gung mit Trommeln in der Nacht fort. Im Juni vier- oder fünfaktigen Drama – er entschied
1920 schrieb er ins Tagebuch, dass er »ein sich schließlich für Letzteres – erklärt seine
schlechtes Stück (zum 4. Mal!)« mache (GBA inkonsequenten Aktbezeichnungen in den Ta-
26, S. 121), im Juli, dass er einen »abschlie- gebüchern.
ßenden« vierten Akt (den späteren fünften) B. begann sich erst wieder im Juli/August
fertig gestellt habe (S. 129), und im August 1922 mit Trommeln in der Nacht zu beschäfti-
schien die Arbeit abgeschlossen: »Ich habe den gen, nachdem der Regisseur Otto Falckenberg
Anfang des 3. Aktes der ›Trommeln‹ neu ge- von den Münchner Kammerspielen im Juni
macht und den zweiten Schluss (ad libitum) eine Aufnahme in den Spielplan für den
des 4. Aktes. Jetzt ist das Ganze fertig [ … ]. Herbst in Aussicht gestellt hatte (vgl. Hecht,
Den 4. Akt habe ich viermal, den 5. dreimal S. 141 f.); die Uraufführung fand am 29. 9.
gemacht. Jetzt habe ich zwei Schlüsse: ko- 1922 statt. Für die Münchner Aufführung wie
misch und tragisch.« (S. 132) Am 23.8. dik- für die ein Vierteljahr später stattfindende am
tierte er das Drama (vgl. S. 139), aber am 2.9. Berliner Deutschen Theater diente die Augs-
grübelte er immer noch über Trommeln in der burger Fassung als Grundlage, deren Münch-
Nacht nach und ging bei seinen Überlegungen ner und Berliner Varianten aber nicht völlig
wiederum von einem vieraktigen Drama aus: identisch mit dem Text des Erstdrucks sind.
»Es ist scheußlich schwer, diesen 4. Akt groß- Der Erstdruck erschien mit der Widmung »Der
zügig und einfach an die drei ersten anzu- Bie Banholzer« im Dezember 1922 im Drei
schließen, darin die äußere Steigerung des 3., Masken Verlag München unter der Gattungs-
die ziemlich gelungen ist, fortzuführen und bezeichnung »Drama« (»Komoedie« in der
die innere Umwandlung [Kraglers] (in 15 Mi- Augsburger Fassung; diese Gattungsbezeich-
nuten) stark zu gestalten. Und der starke, ge- nung findet sich auch in der Münchner und
sunde, untragische Ausgang, den das Stück Berliner Bühnenfassung). Aus einer Bemer-
von Anfang an gehabt hat, wegen dem es ge- kung in der nach der Münchner Uraufführung
schrieben ist, ist doch der einzige Ausgang, geschriebenen Glosse für die Bühne im Erst-
alles andere ist ein Ausweg, ein schwächliches druck geht hervor (dieser Hinweis fehlt in der
Zusammenwerfen, Kapitulation vor der Ro- nicht betitelten Vorbemerkung der Augsburger
mantik.« (S. 151) Weitere Eintragungen über Fassung), dass B. das Problem der vier oder
seine »Unfähigkeit« (S. 159) kulminierten in fünf Akte noch immer nicht für optimal gelöst
dem Eingeständnis vom 10.9.: »Es ist kein Ge- hielt: »Der dritte Akt kann, wenn er nicht flie-
heimnis: Ich habe einen Akt nicht zusammen- gend und musikalisch wirkt und das Tempo
gebracht, ich bin fünfmal angelaufen, zwei beschwingt, ausgelassen werden« (GBA 1,
Jahre lang, und nie über die Hürde gekom- S. 176). – Der Text des Erstdrucks liegt allen
men, ich schäme mich und bin unruhig.« weiteren Ausgaben in den 20er-Jahren zu-
(S. 162) grunde; er bildet ebenfalls die Textgrundlage
Vermutlich endete die erste Bearbeitungs- für die GBA.
phase des Stücks, dessen Fertigstellung sich
88 Trommeln in der Nacht

Fassungen meln in der Nacht und Im Dickicht der Städte


nahm B. größere Eingriffe im Text des Erst-
drucks vor. Die Änderungen, die sich haupt-
Der wesentliche Unterschied zwischen der sächlich auf den vierten Akt bezogen, begrün-
Augsburger Fassung und dem Erstdruck dete er im Vorwort Bei Durchsicht meiner er-
besteht in der Tendenz zur Verknappung, die sten Stücke; Peter Suhrkamp lehnte jedoch
freilich zu erheblichen Einschnitten führte. dessen Druck ab, so dass das Vorwort zuerst in
Besonders der vierte Akt, in dem die später der Ostberliner Zeitschrift Aufbau (November
zusammengestrichene Afrika-Erzählung Krag- 1954) und dann in Band 1 der Ausgabe der
lers breiten Raum einnimmt (vgl. Augsburger Stücke (1955) im Aufbau-Verlag der DDR er-
Fassung, S. 49–52), und der fünfte mit der lan- schien. Im Vorwort formulierte B. Gedanken,
gen Auseinandersetzung zwischen Glubb und die er bereits 1928 geäußert hatte. Seine große
Kragler (vgl. S. 64–67) sind von dieser Ver- »Unzufriedenheit« mit dem dritten, vierten
knappung betroffen. Weiterhin erscheint Krag- und fünften Akt, die auf seiner damaligen
lers Verhalten wenig verurteilenswert, und unzulänglichen Einschätzung der November-
die revolutionären Berliner Vorgänge vom No- revolution beruhte, führte ihn jetzt zu der Er-
vember 1918 oder Januar 1919 bleiben blasser wägung, das Stück ganz zu unterdrücken.
Hintergrund. Im Erstdruck schienen B. die Letztlich entschied er sich allerdings gegen
»poetische Naivität, Offenheit und Verletztheit die Unterdrückung und für die Korrektur:
[ … ], die sich zum Teil in rhetorischem Über- »Falsches muß korrigiert werden« (GBA 23,
schwang äußerten, [ … ] nicht mehr möglich. S. 240). Da er die »Figur des Soldaten Kragler,
An ihre Stelle trat der knappe zynisch- des Kleinbürgers, [ … ] nicht antasten« wollte,
schnoddrige Ton der beginnenden Zwanziger schien er den Einwand Piscators aufzugreifen:
Jahre bzw. der neuen Sachlichkeit.« »Ich verstärkte [ … ] vorsichtig die Gegenseite.
(Schwiedrzik, S. 111) Ich gab dem Schankwirt Glubb einen Neffen,
Im November 1928 erwog B. in zwei Gesprä- einen jungen Arbeiter, der in den November-
chen mit Erwin Piscator und Fritz Sternberg tagen als Revolutionär gefallen ist. In diesem
eine Umarbeitung von Trommeln in der Nacht Arbeiter, freilich nur skizzenhaft sichtbar, [ … ]
für eine Neuinszenierung, die aber nicht zu- gewann der Soldat Kragler eine Art Gegen-
stande kam; es bestehen Zweifel an der Au- part.« (S. 241)
thentizität der Äußerungen B.s, die Gespräche Spätere Ausgaben brachten im Wesentlichen
sind deshalb nicht in die GBA aufgenommen den umgearbeiteten Text von 1953. Die Glosse
worden. B. verteidigte den »Typ Kragler« ge- für die Bühne der Erstausgabe erschien zuerst
gen die Kritik Piscators, der das Stück als – ohne Bezeichnung – in Band 1 der Stücke des
»Individualdrama« bezeichnete und die »Ge- Aufbau-Verlags und wurde später von Suhr-
genkräfte [ … ], die ihn zwingen müßten, mit- kamp in Nachdrucken von Trommeln in der
zugehen, das Proletariat selbst« vermisste Nacht übernommen. In der Augsburger Fas-
(Protokolle, S. 272 f.). B. wollte »an der Hand sung gibt es nur im Text eine Angabe der Spiel-
seines [Kraglers] Schicksals« die »deutsche zeit; der aus der Erstausgabe stammende Ver-
Revolution« selbst angreifen (S. 189), um merk – »Das Drama spielt in einer November-
durch dessen »Geschichte« zu zeigen, dass die nacht von der Abend- bis zur Frühdämme-
»große Masse« so war (S. 194). Er war zwar zu rung« (GBA 1, S. 176) – wurde erst in der WA
Änderungen bereit und beabsichtigte, im fünf- von 1967 (WA 1, S. 70) getilgt, da er einer
ten Akt die Wahl, vor der Kragler steht, »schär- Zeitangabe im Text des vierten Akts von 1953
fer« herauszuarbeiten: »Gehst du zurück zum zu widersprechen schien; die GBA, die dem
Kleinbürgertum oder gehst du mit rein in die Erstdruck folgt und den vierten Akt von 1953
Revolution?« (S. 202) Aber erst nach 1950, an- als Anhang bietet (vgl. GBA 1, S. 233–239),
lässlich der Vorbereitung der Neuausgabe sei- führte sie wieder ein.
ner Ersten Stücke (Bd. 1; 1953) Baal, Trom- Schon in der Augsburger Fassung gab es
Fassungen 89

Hinweise darauf, dass das Stück in Berlin Zeitangabe. Die Hinzufügung konkreter Berli-
spielt, z. B. durch die Erwähnung der Stadt ner Ortsangaben wie die Lokalisierung von
selbst und des Tiergartenviertels (vgl. Augs- »Glubbs Destille« in der Chausseestraße (WA
burger Fassung, S. 24, S. 26; GBA 1, S. 189, 1, S. 107) sowie die Erwähnung des Hausvog-
S. 191). Dagegen erinnert das nach einer teiplatzes und Anhalter Bahnhofs (GBA 1,
Weinstube in Augsburg benannte »Grüne S. 233) ergaben ein stärkeres Lokalkolorit. Hi-
Haus« (vgl. Augsburger Fassung, S. 24), in storische Details wie die Hinweise auf die Be-
dem die Verlobungsfeier der Balickes stattfin- setzung der großen Zeitungsverlage Ullstein
det, an den Augsburger und Münchner Ur- und Mosse und den Aufmarsch der Arbeiter
sprung des Stücks. Der Erstdruck verstärkte vom »roten« Wedding (WA 1, S. 118 f.) sowie
das Berliner Kolorit etwa durch die Umbenen- das Singen der Internationale (WA 1, S. 97),
nung des »Grünen Hauses« in »Piccadillybar«, die die Marseillaise ersetzte (GBA 1, S. 212,
eines als pompös geltenden Kaffeehauses in 234), präzisierten die Januarereignisse und
der Nähe des Potsdamer Platzes, das bei Aus- gaben ihnen durch den implizierten Vergleich
bruch des ersten Weltkriegs den Namen »Café mit der bolschewistischen Oktoberrevolution
Vaterland« erhielt (vgl. GBA 1, S. 561). größeres Gewicht (vgl. Bathrick, S. 138 f.).
Anstelle der Glosse für die Bühne des Erst- B.s Änderungen beschränkten sich somit
drucks hat die Augsburger Fassung folgende nicht auf die Einführung des in den November-
Vorbemerkung: »Die Bühne ist klein und be- tagen gefallenen, jungen, revolutionären Nef-
steht aus Holz und Pappendeckel. Die Kartons fen des Schankwirts Glubb. Die mehrfache Er-
sind dünn und unvollständig bemalt, Tür, Fen- wähnung des Drehers Paule und seines Todes
ster und Wand, das sieht alles provisorisch im November (GBA 1, S. 236) weist darauf hin,
aus. Desgleichen wirkt die grosse revolutio- dass die Handlung zu einem späteren Zeit-
näre Aktion, die hinter den Szenen immer stär- punkt als dem der Novemberrevolution statt-
ker wird, im Zuschauerraum nur dünn und findet, und das Lied des besoffenen Menschen
gespenstig. Die Menschen aber müssen sehr thematisiert den Unterschied zwischen No-
leibhaftig und das Spiel muss kindlich sein. Im vember und Januar explizit (S. 236, S. 238).
Zuschauerraum hängen rote und grüne Plakate Dagegen betont Kraglers Gesang das Zeitlose
mit Sprüchen aus dem Stück, wie ›Jeder Mann und Unhistorische, denn es handelt sich um
ist der beste in seiner Haut‹ und ›des Herrn ein Rundgedicht, dessen Ende wieder in den
Auge machet das Vieh fett‹ und ›glotzt nicht so Anfang mündet und daher unendlich wieder-
romantisch!‹« (Augsburger Fassung, S. 12). holbar ist. In der Augsburger Fassung und im
Die »grosse revolutionäre Aktion« des Hinter- Erstdruck »summt« Kragler die ersten beiden
grundgeschehens hängt wesentlich mit dem Zeilen der ersten Strophe des obszönen Liedes
Sturm auf das Zeitungsviertel im Zentrum des »Ein Hund ging in die Küche und stahl dem
damaligen Berlin zusammen (vgl. S. 56); da Koch ein Ei« und singt etwas später die letzten
die Besetzung des Zeitungsviertels erst nach beiden Zeilen der vierzeiligen ersten Strophe:
der gescheiterten Novemberrevolution im Ja- »Da nahm der Koch sein Hackebeil / Und
nuar 1919 stattfand, sind die Zeitangaben »9. schlug den Hund entzwei« (Augsburger Fas-
November« (S. 67) und »Novembernacht« sung, S. 54, S. 55; GBA 1, S. 217, S. 218). In
(GBA 1, S. 176) in der Augsburger Fassung und der Fassung von 1953 singt Kragler auch die
im Erstdruck irreführend. Eine Konkretisie- zweite Strophe – »Da kamen die andern Hunde
rung und Historisierung des Geschehens des / Und gruben dem Hund das Grab / Und setz-
durch einen Generalstreik ausgelösten Auf- ten ihm einen Grabstein / Der folgende In-
stands, der am 8. 1. 1919 durch das dem So- schrift hat:« (S. 237) – und wiederholt die An-
zialdemokraten Gustav Noske unterstehende fangszeile des Lieds, womit er seine »klein-
Militär niedergeschlagen wurde, geschah bürgerliche und fatalistische Grundposition«
dann erst in B.s Überarbeitung von 1953, frei- und »die schlechte Unendlichkeit und die
lich zunächst ohne Tilgung der irrtümlichen ewige Wiederkehr des Gleichen« demonstriert
90 Trommeln in der Nacht

(Mayer, S. 25, S. 27). B. mag bei der Lektüre Gewissheit grenzende Hoffnung auf den Sieg
von Samuel Becketts Warten auf Godot, die der Revolution bleibt freilich, wie der bittere
etwa gleichzeitig mit der Umarbeitung von und satirische Kontext sowohl der Moritat ins-
Trommeln in der Nacht 1953 lag, wieder auf gesamt wie der der letzten Strophe nahe legt,
das Lied gestoßen sein (Anfang des zweiten zunächst unerfüllt: »Die Sterne sind nicht im-
Akts). Die im Lied ausgedrückte »ohnmäch- mer da. / Es kommt ein Morgenrot. / Doch der
tige Unendlichkeit« (Mayer, S. 27) entspricht Soldat, so wie er’s gelernt / Zieht in den Hel-
der Haltung Kraglers, der freilich nicht das dentod.« (GBA 1, S. 232)
Schicksal des Kochs teilt; er hat seine »Hoden« Auch ohne die Gleichsetzung vom »toten
noch (GBA 1, S. 228) und beabsichtigt, sich zu Soldaten«, der als Gespenst wiederaufersteht
›vervielfältigen‹ (S. 229). (vgl. Gottfried August Bürgers Schauerballade
Während B. 1953 erkannte, dass Kraglers Lenore) mit Kragler lässt sich Glubbs Singen
Verzicht auf die Teilnahme an der Revolution, der Moritat wegen ihrer Kritik an den auf dem
der durch sein Singen des Lieds vom Hund Kadavergehorsam des Soldaten beruhenden
vorweggenommen wird, »geradezu die schä- gesellschaftlichen Zuständen als Aufforderung
bigste aller möglichen Varianten« (GBA 23, an Kragler verstehen, sich der revolutionären
S. 239) zu sein schien, deuten die beiden an- Bewegung anzuschließen (vgl. Tabbert-Jones,
deren Lieder des vierten Akts andere Haltun- S. 70 f.). Dass er es nicht tut, hatte B. schon in
gen und Handlungsmöglichkeiten an. Vorder- einem vermutlich für die Buchausgabe im Pro-
gründig handelt es sich bei dem zweimal pyläenverlag 1927 geschriebenen Vorwort be-
gesungenen, leicht variierten Lied des besof- dauert, in dem er einige mögliche Publikums-
fenen Menschen um eine Bestätigung der fa- reaktionen auf Kragler skizzierte: »Die wirkli-
talistischen Grundhaltung Kraglers: »Meine chen Revolutionäre konnten eine Zeitlang das
Brüder, die sind tot / Und ich selbst wär‘s um Stück bedauern, indem sie den Kragler für
ein Haar / Im November war ich rot / Aber einen Proletarier hielten und sie Grund hat-
jetzt ist Januar« (GBA 1, S. 236, S. 238). In ten, sich für solche Proletarier als Helden zu
seinem Bekenntnislied erweist sich der Sänger bedanken. Sie konnten auch dagegen sein,
als Teilnehmer an der Revolution vom Novem- weil sie den Kragler für einen Bourgeois hiel-
ber 1918. Er hat aber inzwischen der aktiven ten, und sich für solch einen Helden bedan-
politischen Betätigung abgeschworen und sich ken. Denn es bestand kein Zweifel, daß dies
ins Privatleben zurückgezogen; vermutlich ein Held war.« (GBA 24, S. 21) Aber während
lässt sich sein Betrunkensein auf den Versuch, B. sich 1953 von dem »Unernst der Beteiligung
sein unsolidarisches Verhalten zu vergessen, meines randalierenden ›Helden‹ an der Er-
zurückführen (vgl. Mayer, S. 26). Ein weiteres hebung« distanzierte und vom Leser oder
Lied dient der Artikulation einer Position, die Zuschauer erwartete, dass er, obwohl er »die
einen völligen Gegensatz zu der Kraglers bil- relative Billigung seiner Haltung« erhielt, Krag-
det. Glubb »spielt« oder »singt« in allen er- ler »Antipathie« entgegenbringe (GBA 23,
haltenen Fassungen die Ballade (Augsburger S. 240 f.), hatte er 1927 Trommeln in der Nacht
Fassung, S. 45) bzw. Moritat vom toten Solda- als »ein eminent politisches Stück«: »Ein An-
ten (GBA 1, S. 211, S. 233). Aber in der überar- schauungsmaterial wie nicht leicht eines« be-
beiteten Fassung von 1953 erhält die Moritat zeichnet, da es dazu beitrage, »diesen Typ er-
durch die Verwendung einer Zeile aus der letz- kennen zu lernen« (GBA 24, S. 21). Schließlich
ten Strophe als Aktüberschrift besonderes Ge- hatte der »Typ« Kragler, »dieser Sozialdemo-
wicht. Der Schnapstanz der Augsburger Fas- krat, dieser falsche Proletarier, dieser fatale
sung und des Erstdrucks wird zu Es kommt ein Revolutionär« (ebd.) durch seine Inaktivität
Morgenrot – die Aktüberschriften des ersten zum Scheitern der Revolution beigetragen
(Afrika), zweiten (Pfeffer), dritten (Walküren- (vgl. Schumacher, S. 44 f.). Mit der vorsich-
ritt) und fünften Akts (Das Bett) bleiben un- tigen Einführung eines freilich nicht auf der
verändert. Die in dieser Zeile enthaltene, an Bühne auftretenden positiven Helden, und der
Fassungen 91

dadurch bedingten, allerdings kaum ins Ge- ser ganzes Deutschland ist so heraufgekom-
wicht fallenden, Minderung der Mittelpunkts- men!« (S. 182) Der brutale Einsatz genagelter
rolle Kraglers bei seiner letzten Umarbeitung Stiefel setzt Murk dann in den Stand, »Knopf-
scheint B. Konzessionen an die in der DDR stiefeln« (S. 186), das Zeichen bürgerlicher
geltende ästhetische Doktrin des sozialisti- Wohlanständigkeit, zu tragen.
schen Realismus gemacht zu haben (vgl. Ba- Die von Balicke vorgetäuschte bürgerliche
thrick, S. 138). Familienidylle – »Hier ist ’n stiller Herd! Die
Familie! Die deutsche Familie! My home is my
castle« (GBA 1, S. 184) – wird überschattet von
den neuesten Nachrichten über den Spartakus-
Beschreibung und Analyse aufstand, die der Journalist Babusch bringt.
Die Furcht vor Spartakus konkretisiert sich in
der Befürchtung, dass der verschollene Artil-
Das Drama beginnt im Hause des Fabrikbesit- lerist Kragler zurückkehren könnte. Balicke
zerehepaares Balicke, dessen Tochter Anna will Anna ihre von ihm als sentimental be-
sich mit Murk verlobt. Die gutbürgerlichen trachtete Anhänglichkeit an Kragler austrei-
Balickes sind Kriegsgewinnler, eine Tatsache, ben, indem er in immer neuen Wendungen
die Karl Balicke offen ausspricht: »Der Krieg darauf besteht, dass Kragler »verfault« (S.
hat mich auf den berühmten grünen Zweig 178), »vermodert« (ebd.), »mausetot« (S. 179)
gebracht! Es lag ja auf der Straße, warum’s und ein »Leichnam« (S. 177) sei. Er versucht,
nicht nehmen, wäre zu irrsinnig. Nähm’s eben Anna ihre »Angst vor Gespenstern« (S. 179) zu
ein anderer. Der Sau Ende ist der Wurst An- nehmen und ihr die »Affenliebe zu dem Leich-
fang! Richtig betrachtet, war der Krieg ein nam« auszureden (S. 185), der bei seiner Rück-
Glück für uns!« (GBA 1, S. 183) Das Geschäft kehr eine Bedrohung der familiären und
mit dem Krieg hat den gewünschten Profit er- bürgerlichen Ordnung darstellen würde, wie
bracht; jetzt ist es Zeit, die Kriegsproduktion er in einem für die Literatur der frühen
von »Geschoßkörben« auf den neuen Bedarf 20er-Jahre »thematisch leitenden Satz« (Früh-
von »Kinderwägen« (ebd.) umzustellen. Der wald, S. 176) formuliert: »Die Demobilisation
Massenvernichtung wird ein Ansteigen der schwemmt Unordnung, Gier, viehische Ent-
Geburtenzahlen bei den Davongekommenen menschung in die Oasen friedlicher Arbeit.
folgen, daher wird der verlorene Krieg die [ … ] Die aufgepeitschten Massen sind ohne
Geschäftslage nicht wesentlich ändern. Die Ideale. Das Schlimmste aber, [ … ] die Front-
Balickes verschachern ihre Tochter Anna an soldaten, verwilderte, verlotterte, der Arbeit
Murk, den Aufsteiger und zukünftigen Kompa- entwöhnte Abenteurer, denen nichts mehr hei-
gnon Balickes, um die im Krieg geknüpfte Ge- lig ist.« (S. 182) Nun gehört der durch den
schäftsbeziehung zu konsolidieren. Weder bei großen, roten Mond angekündigte und plötz-
Anna, die von Murk schwanger ist, noch bei lich auftauchende Kragler (vgl. S. 176, S. 186)
Murk ist Liebe im Spiel; wie sie sehr wohl streng genommen nicht zu den Demobilisier-
weiß, geht es Murk um die »Korbfabrik« ten, sondern er ist aus der Kriegsgefangen-
(S. 181), und er befriedigt ihre ›fleischlichen‹ schaft in Afrika entflohen. Trotz seiner Leiden
Begierden (S. 180), während sie vergeblich auf und Opfer in dem Krieg, von dem Balicke pro-
die Rückkehr des seit vier Jahren vermissten fitierte, wird er von letzterem barsch abge-
Andreas Kragler wartet. Murk ist stolz auf sein wiesen, als er seinen Anspruch auf Anna gel-
rücksichtsloses Durchsetzungsvermögen, für tend machen will. Balicke will seine durch die
das der Stiefel, mit dem man anderen ins Ge- Verlobung zementierte Geschäftsverbindung
sicht tritt, als Leitmetapher dient: »Was ein mit Murk nicht gefährden und erschwert somit
Mann ist, kommt durch. Ellenbögen muß man Kraglers Reintegration in die bürgerliche Ge-
haben, genagelte Stiefel muß man haben und sellschaft.
ein Gesicht und nicht hinabschauen. [ … ] Un- Auch bei der Verlobungsfeier in der Picca-
92 Trommeln in der Nacht

dillybar (zweiter Akt) fährt Balicke fort, Krag- zu lösen beginnt. Auch Kragler hat sich in der
ler nicht nur als sozialen Außenseiter zu be- Auseinandersetzung mit seinem Nebenbuhler
schimpfen, sondern ihm seine Existenzberech- Murk behauptet, der ihm »seine alten Stiefel«
tigung durch den Verweis auf das Reich des (S. 198) abkaufen wollte, eine symbolische
Gespenstischen, Unwirklichen abzusprechen: Handlung, die Kragler seiner potenziellen
»Habenichts! Anarchist! Frontsoldat! Sie See- Aufstiegschancen durch das Treten nach unten
räuber! Sie Zibebengespenst! Wo haben Sie beraubt hätte.
Ihr Bettlaken?« (GBA 1, S. 192) Freilich kann Nach Kraglers fluchtartigem Aufbruch aus
sich Balicke dem Einwand Babuschs, dass der Piccadillybar führt ihn und die ihn be-
Kragler der eigentlich »Leidtragende« (ebd.) gleitende Prostituierte Marie im dritten Akt
sei, nicht ganz verschließen, und er zeigt vo- sein »Weg in die Vorstädte« (GBA 1, S. 204). In
rübergehend sogar ein gewisses Verständnis für der Fassung von 1953 handelt es sich um den
Kraglers Situation: »Es ist Ihnen also schlecht »Weg in die Zeitungsviertel« (WA 1, S. 102), wo
gegangen? Sie haben für Kaiser und Reich ge- »geschossen« wird; Kraglers Bemerkung:
kämpft? Es tut mir leid um Sie. Wollen Sie »Vielleicht können sie uns dort brauchen«
was?« (S. 196) Letztlich speist er ihn jedoch (ebd.), lässt auf seinen Wunsch der Teilnahme
mit patriotischen Phrasen ab: »Sie sind im an den revolutionären Kämpfen schließen, für
Granatenhagel gestanden? Wie Eisen? Das ist die er freilich bisher keinerlei Interesse ge-
brav. Unsere Armee hat Gewaltiges geleistet. zeigt hatte und mit denen ihn hauptsächlich
Sie ist lachend in den Heldentod gezogen.« die Balickes und Murk in Verbindung gebracht
(Ebd.) Schließlich identifiziert Balicke Kragler hatten. Die gleiche Antwort auf Maries Fest-
wiederum mit den ›dunklen Kumpanen‹ des stellung in der ersten Druckfassung: »Heute
Spartakus, die »ausgetilgt« gehörten (S. 200). Nacht schwimmen sie [die Revolutionäre]
Er beruft sich auf »Realpolitik« (S. 197) und drunten in Schnaps« (GBA 1, S. 205), dagegen
das »Hauptbuch« (S. 203) als Grundlage sei- legt die Vermutung nahe, dass Kragler die
nes Weltverständnisses und weigert sich er- Flucht in den Alkohol antreten will, um zu
neut, Kraglers Existenz im bürgerlich-rechtli- vergessen: Kragler und Marie landen daher im
chen Sinne zur Kenntnis zu nehmen: »Sie sind vierten Akt in Glubbs »Schnapsdestille«
überhaupt nur aus einem Roman. Wo haben (S. 211).
Sie Ihren Geburtsschein?« (S. 203) Kraglers Der aus Anna, dem Kellner Manke aus der
Nichtzugehörigkeit wird durch seinen Hinaus- Piccadillybar, Babusch und dem betrunkenen
wurf bestätigt, wenn Balicke dem Kellner ge- Murk bestehende »Walkürenritt« (GBA 1,
gen Ende des Aktes befiehlt: »Führen Sie das S. 206) leitet B. die Wende des Geschehens ein
da hinaus!« (Ebd.; Hv. v. Vf.) und befindet sich damit in Übereinstimmung
Kraglers pathetische Bitte an Anna – »[ich] mit der von Gustav Freytag in Die Technik des
bitte [ … ] dich, aus dem Grunde meines Her- Dramas (1863) aus dem klassischen Drama
zens, mit mir zu gehen an meiner Seite« (GBA (Tragödie) abgeleiteten fünfaktigen Struktur,
1, S. 197) – weicht einer völlig nüchternen For- bei der im dritten Akt der Höhe- und Wende-
mulierung, die seine Absicht präzis erläutert: punkt, die Peripetie oder das plötzliche Um-
»Ich bin allein gewesen und will meine Frau schlagen der Handlung, stattfindet (vgl.
haben« (S. 201). Anna, die Kragler allmählich Knopf, S. 57). Murks Siegerpose als vermeint-
vergessen hatte – B. verwendet hier das in licher Bezwinger Kraglers im Zweikampf um
seiner frühen Lyrik oft verwendete Motiv des Anna: »Wir haben ihn erledigt! Mit Haut und
verblassenden Gesichts (vgl. S. 193) – glaubt Haar! [ … ] Aus war es mit ihm und er war ganz
ihm wegen ihrer Schwangerschaft nicht »ange- und gar erledigt« (GBA 1, S. 209), stellt sich
hören« zu können (S. 203). Nachdem Kragler als leere Geste heraus, denn Anna gibt ihm den
die Piccadillybar verlassen hat, unternimmt Laufpass und setzt die Suche nach Kragler, nur
sie einen Abtreibungsversuch mit »Pfeffer« von Babusch begleitet, fort.
(S. 204), ein Zeichen, dass sie sich von Murk Trotz der durch die Aktüberschrift und die
Beschreibung und Analyse 93

mehrfache Erwähnung des Walkürenritts her- sie sich finden?« (WA 1, S. 107) Letztlich han-
vorgerufene Reminiszenz an den Walkürenritt delt es sich jedoch um eine rhetorische Frage,
zu Beginn des dritten Akts in Richard Wagners da B. schon in seinen Ausführungen von 1927
Oper Die Walküre (1870), liegt keine »direkte einen tragischen Ausgang ausgeschlossen
Parallelität im Stoff« vor (Stern, S. 152). B. hatte: »Die tragische Möglichkeit einer Lie-
hatte den Terminus »Walkürenritt« schon in besbeziehung besteht heute darin, daß das
dem 1917 begonnenen Stückentwurf Sommer- Paar kein Zimmer auftreibt«. (GBA 24, S. 19)
sinfonie verwendet (GBA 10, S. 14). Seine Ab- Weiterhin merkte er an, dass seine »Stoffwahl«
neigung gegen Wagner kulminierte 1930 in von »finanziellen Spekulationen bestimmt«
den Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall gewesen sei und dass er die Liebesgeschichte,
der Stadt Mahagonny«, einer theoretischen an der ohnehin nur die »Besitzfrage« von Be-
Auseinandersetzung, in der er gegen die »Hyp- lang sei, nur geliefert habe, um »die Bedürf-
notisierversuche« im Wagnerschen »›Gesamt- nisse des zahlenden Publikums zu erfassen«
kunstwerk‹«, die »unwürdige Räusche« er- (S. 18).
zeugten (GBA 24, S. 79), polemisierte. Bereits Diesen Bedürfnissen kommt Manke bereits
in Trommeln in der Nacht entlarvte B. das im zweiten Akt entgegen, wenn er einem am
Wagnersche Pathos in dem kurzen Dialog zwi- Geschehen interessierten Zuhörer in den Ku-
schen Manke und Babusch: »Der Liebhaber ist lissen eine höchst romantische und (für den
schon verschollen, aber die Geliebte eilt ihm naiven Zuschauer) Spannung erzeugende Ver-
nach auf Flügeln der Liebe. Der Held ist zu sion der Liebesgeschichte auftischt: »Der kro-
Fall gebracht, aber die Himmelfahrt ist schon kodilhäuterne Liebhaber aus Afrika hat vier
vorbereitet.« – »Aber der Liebhaber wird die Jahre gewartet und die Braut hat jetzt noch
Geliebte in den Rinnstein hauen und die Höl- ihre Lilie in der Hand. Aber der andere Lieb-
lenfahrt vorziehen.« (GBA 1, S. 210) Lässt man haber, ein Mensch mit Knopfstiefeln, gibt sie
die Handlung bei Wagner beiseite, wo die Wal- nicht frei und die Braut [ … ] weiß nicht, an
küre Brünhilde das Gebot Wotans missachtet, welcher Seite sie weggehen soll. [ … ] Die Re-
den gefallenen Helden Sigmund nach Walhall volution in den Zeitungsvierteln spielt auch
zu führen, und sich stattdessen der mit Sieg- eine Rolle und dann ist da ein Geheimnis, das
fried schwangeren Sieglinde annimmt und sie die Braut hat, etwas, das der Liebhaber aus
beschützt, so erscheint Anna in der Rolle der Afrika, der vier Jahre gewartet hat, nicht weiß.
Walküre, »die einen der beiden ›Helden‹ zu Es ist ja noch ganz unentschieden.« (GBA 1,
erwählen hat. Weil aber der Himmel bei S. 203)
Brecht leer ist, bedeutet ihre Wahl eben ganz Obwohl sich Anna im dritten Akt dafür ent-
profan die Wahl ihres künftigen Ehemanns« schieden hat, Kragler zu suchen, und damit die
(Knopf, S. 59). Wenn Anna als Walküre zu- Voraussetzung für einen glücklichen Ausgang
nächst Murk gewählt zu haben scheint, so wird vorliegt, bringt der vierte Akt – B. folgt auch
spätestens nach ihrer Verabschiedung Murks hierin dem Freytagschen Schema – eine Art
klar, dass, wie Babusch bemerkt, »der Walkü- retardierendes Moment, welches das »happy
renritt in die Binsen« gegangen ist (GBA 1, ending« (bei Freytag die Katastrophe) verzö-
S. 210), indem Anna der von den Eltern sank- gert. Kragler, dem »ein kleines Unrecht« ge-
tionierten, sicheren Verbindung mit Murk den schehen ist (GBA 1, S. 217, S. 218), wie der
ungewissen Ausgang einer Suche nach Kragler Schankwirt wiederholt, schließt sich der Revo-
vorzieht, wie Manke mit großer Gebärde am lution eher aus einer depressiven »Schnaps-
Aktschluss ausruft: »Die Vorstädte verschlin- laune« heraus an (Knopf, S. 54) als aus irgend-
gen sie. Werden sie sich finden?« (S. 210) Die welchen umstürzlerischen Motiven: »Schluß-
Verquickung von Liebesgeschichte (Annas Un- machen ist besser als Schnaps. [ … ] Ich bin ein
terfangen) und revolutionärem Geschehen Leichnam, den könnt ihr haben! Bös. Her mit
wird in der Fassung von 1953 stärker akzentu- euch, an die Brust mit euch, in die Zeitungen
iert: »Die Revolution verschlingt sie, werden mit uns.« (GBA 1, S. 219) Die stark gekürzte
94 Trommeln in der Nacht

Version des vierten Akts in der Fassung von will nicht verrecken. Jeder Mann ist der beste
1953 lässt den Solidarisierungsversuch Krag- Mann in seiner Haut.« (S. 225) Kragler macht
lers mit den Pseudorevolutionären, die sich in sich keine Illusionen über seine egoistischen
Glubbs Destille ausgiebig dem Schnapstrinken Beweggründe: »ich bin ein Schwein und das
widmen, fort und bringt nur den knappen Auf- Schwein geht heim« (S. 228 f.). Angesichts der
ruf Kraglers: »In die Zeitungen mit uns!« »Fleischbank, die allein [ … ] leibhaftig« ist
(S. 239), der aber durch sein an- und den Akt (S. 228), schwört er aller Revolutionsromantik
abschließendes Singen der ersten Strophe des ab. Er nähert sich jetzt der Position von Ba-
Rundlieds sofort wieder relativiert wird. Wäh- busch an, der zu Aktbeginn festgestellt hatte:
rend das Lied hier als Ausdruck von Kraglers »Sie trommeln schon wieder drunten. Sie fet-
Haltung gelten kann, sind es insbesondere die zen Zeitungen in die Regenlachen, schreien
musikalischen Einlagen der Schallplattenlie- Maschinengewehre an, schießen sich ins Ohr,
der, die als Kontrast zum Sozialverhaltens der meinen, sie machen eine neue Welt.« (GBA 1,
Balickes dienen. Wenn Balicke das Grammo- S. 220), indem er die rhetorische Frage stellt:
phon aufzieht, um Ich bete an die Macht der »Mein Fleisch soll im Rinnstein verwesen, daß
Liebe erklingen zu lassen (S. 182), ist bereits eure Idee in den Himmel kommt? Seid Ihr
bekannt, wie es um die Liebe zwischen Anna besoffen?« (S. 228) Ehe der »Bourgeois« Krag-
und Murk bestellt ist. Und der sich vom ler und seine »Hure« (S. 223), sein »Schieber-
Deutschlandlied ergriffen zeigende Balicke mensch« Anna (S. 227), in »das Bett, das
hatte sich gerade über seine Gewinnchancen große, weiße, breite Bett« gehen (S. 229), zer-
bei der Umstellung von der Kriegs- auf die stört er die Illusion, das der Aufführung eine
Friedensproduktion verbreitet (vgl. S. 183). »wahre« Geschichte zugrunde liege: »Es ist ge-
Die Versöhnung Kraglers mit Anna, die er wöhnliches Theater« (S. 228). Der allgegen-
auf dem Marsch in die Zeitungsviertel wieder- wärtige rote Mond entpuppt sich als billiges
trifft, findet im fünften Akt statt. Es fällt Anna Bühnenrequisit (ein Lampion), und die ge-
relativ leicht, Kragler, für den die Revolution wöhnlich mit dem Aufruf zum Kampf assozi-
nie eine positive Bedeutung gewonnen hat, ierte Trommel ist ein der Unterhaltung die-
von seinem Vorhaben abzubringen. Er akzep- nendes Spielzeug aus dem Orchestrion von
tiert die Tatsache, dass Anna »nicht unbeschä- Glubbs Kneipe. Beide Requisiten »fallen in den
digt, unschuldig« ist (GBA 1, S. 226) und un- Fluß, der kein Wasser hat« (S. 229). Kragler
terbricht ihr Geständnis über ihr Verhältnis verkündet marktschreierisch mögliche Titel
mit Murk mit einem barschen »Halt’s Maul!« für das abgelaufene Bühnengeschehen, die
(S. 227). Weder die Überredungsversuche vom Sentimentalen bis zum Blutrünstigen rei-
Glubbs noch die der Prostituierten Auguste, chen und die Sensationsgier der Zuschauer
die an Kraglers Leiden in Afrika, die einen ansprechen: »Der halbverfaulte Liebhaber
Grund böten, sich der Revolution anzuschlie- oder die Macht der Liebe, das Blutbad im Zei-
ßen, zu zweifeln beginnt, machen Eindruck auf tungsviertel oder Rechtfertigung eines Man-
ihn. Auch die Kommentare von vorübereilen- nes durch sich selbst« (S. 228). Obwohl B.
den Passanten über die im Hintergrund statt- 1953 schrieb, dass ihm bei Trommeln in der
findenden Kämpfe – »Es geht viel zu langsam, Nacht die »Technik der Verfremdung [ … ]
es sind viel zu wenig.« (S. 223) – und das frei- noch nicht zur Verfügung« gestanden habe
lich etwas unmotivierte Warten der Revolutio- (GBA 23, S. 240), bildet doch die am Akt-
näre auf Kragler (vgl. S. 226) können ihn nicht schluss durch Kragler vorgenommene Desillu-
von seinem Entschluss abbringen: »Schmeißt sionierung eine Vorstufe dazu. Seine rüde,
Steine auf mich, hier stehe ich: ich kann das auch in die Glosse für die Bühne aufgenom-
Hemd ausziehen für euch, aber den Hals hin- mene Aufforderung an die Zuschauer: »Glotzt
halten ans Messer, das will ich nicht. [ … ] Ich nicht so romantisch!« (GBA 1, S. 176, S. 229),
lasse mich nicht noch im Hemd in die Zeitun- enthält zumindest den Appell zu einem neuen
gen schleifen. Ich bin kein Lamm mehr. Ich Sehen. Das »Frührot [ … ] im morgengrauen
Beschreibung und Analyse 95

rauchigen Himmel« (S. 229) der ersten Druck- als entfernte Möglichkeit, wenn Frau Balicke
fassung weicht zwar dem metaphorischen die Folgen einer unerwarteten Rückkehr des
»Morgenrot« im revidierten Akt von 1953, aber betrogenen Liebhabers Kragler befürchtet:
in beiden Fassungen ist das Geschrei in den »die Anna ginge ins Wasser!« (GBA 1, S. 177)
Zeitungsvierteln beim Abgang von Kragler Für den nüchtern denkenden Balicke jedoch
und Anna »hoch, sehr fern« (S. 229; WA 1, kommt ein tragischer Ausgang nicht in Be-
S. 124): es berührt sie nicht mehr. tracht: »Wenn sie das sagt, ist sie eine Gans
und ich habe noch keine Gans im Wasser ge-
sehen« (ebd.). In der Tat ist Annas »realisti-
sches, unpathetisch-saloppes Verhalten«
Aspekte der Forschung (Stern, S. 246) weit von dem im bürgerlichen
Trauerspiel vorgegebenen Muster entfernt:
»Einen Balg, ja, das habe ich. [ … ] Hier drin-
In einer der ersten ausführlicheren Deutungen nen ist er, der Pfeffer hat nicht geholfen und
von Trommeln in der Nacht postulierte Hans meine Hüften sind hin für viele Wochen.«
Kaufmann »die Einheit des Helden mit der (GBA 1, S. 226) Denn eine »Heldin, die bei der
Revolution« und behauptete, »Kragler ist Geburt ihres unehelichen Kindes an ihre Taille
›Spartacus‹« (Kaufmann, S. 317), obwohl Ba- und nicht an ihre Schande denkt, verwandelt
licke diese Zuordnung Kraglers vornimmt und bürgerliche Tragik zur Groteske« (Stern,
Kragler durch nichts zu erkennen gibt, dass er S. 246). Trotz der Fülle der von Stern zitierten
die revolutionären Ziele des Spartakus teilt. Es Beispiele schränkt er die Gültigkeit seines An-
handele sich um ein »Revolutionsstück«, wenn satzes ein, indem er zugesteht, dass nicht die
auch die Revolution völlig im Hintergrund »parodistische Absicht das primäre Anliegen«
bleibe und wir nur durch »Wagenrollen und B.s gewesen sei (Stern, S. 257).
Kanonendonner, [ … ] ›Botenberichte‹ und al- In den 70er- und frühen 80er-Jahren ist das
lenfalls durch kleine Dialoge anonymer Perso- Stück verschiedentlich als Allegorie gedeutet
nen« (S. 321) davon erführen. Die Vermutung, worden. Peter Christian Giese schreibt, dass
dass in »dem Bild des Soldaten Kragler [ … ] »in der ›Braut‹, die Kragler (zurück)gewinnen
ein Stück Autobiographie« stecke und dass B. will, Deutschland zu sehen [wäre] – ein Land,
von der »Novemberrevolution« »tief ergriffen« das sich den Kraglers nur schenkt, wenn diese
worden sei (S. 330), stellt einen wenig über- auf eine grundlegende Veränderung der gesell-
zeugenden Versuch dar, die Umwege, auf de- schaftlichen Verhältnisse verzichten. Die
nen B. zur »revolutionären Arbeiterbewegung« ›Braut‹ Deutschland muß aber in beschädigter
(ebd.) stieß, zu rekonstruieren und ihn für die Form übernommen werden, sie ist bereits wie-
DDR zu reklamieren. Während Kaufmann die der von den alten, restaurativen Kräften ge-
Entwicklung B.s im Wesentlichen positiv be- schwängert« (Giese, S. 67). Aber Giese nimmt
wertet, stellt Bathrick die »orthodoxe« Hal- nicht zur Kenntnis, dass der Text keinen Hin-
tung B.s bei der Umarbeitung des Stücks he- weis darauf bietet, dass die »Braut« sich an
raus (Bathrick, S. 138). Kragler festhält, »damit er sich nicht der Revo-
Guy Stern sieht Trommeln in der Nacht als lution anschließe« (ebd.); weiterhin ist Murk
»vielschichtige Satire« auf die traditionelle nur mit Einschränkung zu den »alten, restau-
Form des bürgerlichen Trauerspiels (Stern, rativen Kräften« zu zählen. Vielmehr verkör-
S. 243), wie sich etwa an B.s Gestaltung des pert er den Typ des rücksichtslosen Aufstei-
Prototyps der unverheirateten Mutter zeige. gers, der nur durch den Glücksfall seines Zivi-
Der tragische Ausgang in Friedrich Hebbels listenstatus während des Kriegs in die Lage
Maria Magdalena (1844) durch den Selbst- versetzt wurde, Kragler die Braut abspenstig
mord Klaras, die die rigiden Moralvorstellun- machen zu können. Differenzierter als Giese
gen ihres Vaters Meister Anton verinnerlicht geht Wolfgang Frühwald vor, der »in der
hat, erscheint lediglich am Anfang des Stücks Heimkehrergestalt auch den inneren Zustand
96 Trommeln in der Nacht

Deutschlands nach der ›verlorenen Revolu- poststrukturalistische Ansätze durchzusetzen,


tion‹ und die Position des Autors« problemati- deren Betonung auf ästhetisch-formalen
siert sieht (Frühwald, S. 178). Demnach ist Aspekten liegt. Della Pollock, die die deutsch-
Trommeln in der Nacht »auch Allegorie der sprachige Forschung nicht zur Kenntnis
Frontgeneration, Figuration jener, die aus nimmt, beschäftigt sich mit den Nebenfiguren
›Afrika‹ [ … ] zurückkehren und Deutschland, (den beiden Mankes, Babusch) als Erzähler
die Braut, als ein ›Schiebermensch‹ wieder- oder Kommentatoren, hebt die dialogische
finden, welches Murk, dem Schwein in Knopf- Qualität des Stücks im Sinne Michail M. Bach-
stiefeln, in die Hände gefallen ist.« Kragler tins hervor und schlussfolgert, dass das
nimmt Anna, »das in sich gespaltene, zwischen radikale epische Theater B.s bereits seine Ver-
Friedrich und Andreas hin- und hergerissene wirklichung in Trommeln in der Nacht gefun-
Deutschland, so an wie es ist: entehrt, ge- den habe (Pollock, S. 307). Jutta Kolkenbrock-
schändet, ohne Orientierung« (Frühwald, Netz dagegen legt das Schwergewicht auf B.s
S. 195). Gegen die Auffassung von Kragler als Bruch »mit der Tradition des Geschichtsdra-
Typ des »Heimkehrers« wendet sich Klaus Völ- mas des 19. Jahrhunderts«: »Statt die Revolu-
ker, der die Figur auf literarische Vorbilder tion auf dem Theater darzustellen, beginnt
zurückführt: »er war ein verunglückter Ab- Brecht 1919 mit der Revolutionierung des bür-
kömmling von Baal, von Rimbaud, ein wenig gerlichen Theaters« auch durch das Erzählen
Woyzeck auch, jedenfalls ein exotisches ›Ge- von Geschichten (z. B. die komisch verfrem-
spenst‹, das unglücklicherweise in das Berlin dete Liebesgeschichte), »welche auf die Ab-
der Spartakus-Zeit verschlagen wird« (Völker, wesenheit eines literarisch verbürgten Sinns
S. 82 f.). von Geschichte verweisen« (Kolkenbrock-
Konrad Feilchenfeldt leitet »Brechts Theo- Netz, S. 174 f.). Gegen die »teleologische Sinn-
rie des Epischen Theaters« aus den »dramatur- produktion« durch eine »politische« Deutung
gischen Techniken« des Expressionismus ab der dargestellten historischen Vorgänge wen-
und fährt fort: »Das epische Theater Brechts det sich auch Astrid Oesmann, die den zum
ist eine folgerichtige Fortsetzung der in der »Neger« gewordenen Kragler als ein seiner
Realität des Lebens missglückten auf Wand- Identität beraubtes Subjekt begreift, für den
lung zielenden Aktion als Bühnenvorgang, die Revolution lediglich eine Fortsetzung sei-
eine Revolution nicht der Wirklichkeit, son- ner in »Afrika« erlittenen Leiden bildet, die im
dern der Gattungstradition des klassischen »theatralischen Spektakel« der Bühnenhand-
Dramas. Es ist eine Allegorie auf die Veränder- lung gezeigt werden (Oesmann, S. 147 f.). Es
barkeit einer Welt, die in der Tat nicht verän- bleibt offen, ob die radikale Abkehr von einer
derbar ist.« (Feilchenfeldt, S. 88) Obwohl B. von der älteren Forschung bevorzugten »politi-
»noch keinen realen Ausweg aus den Wider- schen« Interpretation dem Stellenwert der im
sprüchen« anzubieten hatte (Schumacher, Stück thematisierten revolutionären Vorgänge
S. 59), bleibt doch die Tatsache, dass durch die gerecht wird.
Bloßstellung des »Typs« Kragler und seines Die Weigerung Kraglers, sich der Revolu-
Verhaltens »alle ästhetisch-moralischen Publi- tion anzuschließen, sieht Hedwig Fraunhofer
kumserwartungen durchkreuzt« werden (Kol- als B.s Billigung der Gewaltlosigkeit, die das
kenbrock-Netz, S. 176). Freilich wird das Di- Drama zu einem Antikriegsstück im weiteren
lemma, wie dieses Verhalten zu definieren sei, Sinne und zu einer Kritik der (proto)faschisti-
offensichtlich, wenn man der Argumentation schen Mentalität mache (Fraunhofer, S. 370).
von Nicholas Greenland folgt, der behauptet, Sie erweitert damit die oft konstatierte Kapita-
dass Kragler sowohl den egoistischen Materia- lismus- und Bourgeoisiekritik B.s um die
lismus der Balickes wie den romantischen Komponente des Protofaschismus (S. 367), um
Idealismus der Revolutionäre ablehne (Green- die These John Fuegis von B.s faschistischer
land, S. 227 f.). und frauenfeindlicher Disposition zurückzu-
In den späten 80er-Jahren beginnen sich weisen. Dabei erscheint das Weibliche (Anna,
Aspekte der Forschung 97

aber auch Kragler) als positiv zu wertende Be- wein, S. 272; weitere Rezensionen der Münch-
drohung der patriarchalisch-kapitalistischen ner Uraufführung bei Schwiedrzik, S. 263–
Ordnung, die schließlich im Faschismus kul- 286).
minierte (S. 368). Am 13. 11. 1922 verkündete Ihering seine
Entscheidung, den Kleist-Preis an B. zu ver-
leihen, den letzterer Ende November in Berlin
entgegennahm. Die Berliner Premiere fand
Wirkungsgeschichte am 20.12. am Deutschen Theater statt; Regie
führte wiederum Falckenberg, nachdem sich
B. mit seinem Wunsch, selbst Regie führen zu
Als B.s erstem erfolgreich auf der Bühne auf- wollen, nicht durchsetzen konnte. Die Insze-
geführten Stück kommt Trommeln in der nierung erzielte eine breite Resonanz und
Nacht eine besondere Bedeutung zu. Die Ur- führte zu Kontroversen. Der Großkritiker Al-
aufführung fand am 29. 9. 1922 an den Münch- fred Kerr, ein Rivale Iherings, lehnte das Stück
ner Kammerspielen unter der Regie von Otto im Berliner Tageblatt vom 21. 12. 1922 trotz
Falckenberg (unterstützt von Lion Feuchtwan- »kenntlicher Begabung« B.s ab: B. »im Ver-
ger) und mit Erwin Faber in der Hauptrolle gleich zu Toller denkt etwa, dass der ›Abglanz
statt. Das Bühnenbild von Otto Reigbert ent- einer Zeit‹ heute durch sinnloses Gebrüll,
sprach B.s Forderungen; auf »Pappschirmen« Suff, Durcheinander zu machen ist!« (Kerr,
war »die große Stadt in kindlicher Weise« ge- S. 297) Kerrs Verriss rief Ihering auf den Plan,
malt (GBA 1, S. 176; Abbildungen bei Feil- der die »beispiellos schwer kämpfende schrift-
chenfeldt, S. 143–146; Frühwald, S. 186–188). stellerische Jugend« und ihren Repräsentan-
Der von B. eingeladene Kritiker Herbert Ihe- ten B. am 22. 12. 1922 im Berliner Börsen-
ring kam zur Premiere aus Berlin und ver- Courier verteidigte (Ihering, S. 300) und Kerr
öffentlichte zunächst eine kurze Notiz im Ber- der Inkonsequenz bezichtigte, indem Letzte-
liner Börsen-Courier und am 5.10., ebenfalls in rer »in jeder Rezension den Expressionismus
dieser Zeitung, eine längere, begeisterte und und die dichterische Jugend« begrabe (S. 299),
oft nachgedruckte Besprechung, in der sich die aber im Falle B.s den Expressionismus als
häufig zitierten Sätze finden: »Der vierund- Wertmaßstab benutze. Obwohl Ihering in sei-
zwanzigjährige Dichter Bert Brecht hat über ner Auseinandersetzung mit Kerr zweifellos
Nacht das dichterische Antlitz Deutschlands die progressivere und gegenüber neuen Ent-
verändert. Mit Bert Brecht ist ein neuer Ton, wicklungen auf dem Theater aufgeschlosse-
eine neue Melodie, eine neue Vision in der nere Position vertrat, gingen beide Kritiker
Zeit.« (Ihering, S. 275) Ihering ging von einer von der bürgerlichen Dramatik aus. Alexander
»schon fast programmatisch« zu nennenden Abusch dagegen sah am 23. 12. 1923 in der
»antiexpressionistischen Rezeptionsperspek- Bayerischen Arbeiterzeitung in Trommeln in
tive« (Steinlein, S. 18) aus; auch andere Re- der Nacht B.s »Versuch, unklare Gesinnung
zensenten, so zum Beispiel Hermann Sinshei- durch besser lohnendes Theater zu ersetzen«,
mer am 30. 9. 1922 in den Münchner Neuesten und wollte sich bezüglich der weiteren Ent-
Nachrichten, beurteilten Stück und Auffüh- wicklung B.s nicht festlegen: »Die nächsten
rung im Allgemeinen positiv: »ein Dramatiker Stücke Brechts werden zeigen, ob er jenseits
zeigte seine Klaue, ein Regisseur seine Kunst, seines literarischen Revolutionsausschnittes
ein Dutzend Darsteller ihr Talent« (Sins- der Bourgeoisie das Theater macht, das diese
heimer, S. 266). B. wurde am 1. 10. 1922 in zum Kitzel ihres abgestumpften Gaumens sich
der München-Augsburger Abendzeitung als wünscht.« (Abusch, S. 286)
»starke Kraft« bezeichnet (Geißler, S. 269), Obwohl das Stück in Berlin bereits Anfang
und ein Rezensent der Münchner Post vom 1923 vom Spielplan abgesetzt wurde, setzte es
2. 10. 1922 sah in dem Stück »das moderne sich nicht zuletzt dank der Förderung Iherings
soziale Drama« schlechthin verkörpert (Eß- in der Weimarer Republik durch und gehörte
98 Trommeln in der Nacht

zu B.s meistgespielten. Um 1926 behauptete (Roßmann, S. 342), als zunächst das Mecklen-
B., dass Trommeln in der Nacht »auf etwa 50 burgische Staatstheater Schwerin und dann im
bourgeoisen Bühnen aufgeführt« worden sei folgenden Jahr das Berliner Ensemble (in bei-
(GBA 24, S. 17); nachweisen lassen sich 25 den Fällen unter der Regie von Christoph
Inszenierungen, einschließlich der von 1930 in Schroth) Trommeln in der Nacht aufführten.
Kopenhagen (vgl. die Liste der Aufführungen Die Kritiker des Neuen Deutschland vom 23. 3.
bei Schwiedrzik, S. 429 f.). Gegen die letzte 1983 und der Süddeutschen Zeitung vom 25. 3.
Aufführung in Deutschland vor dem Macht- 1983 stimmten in Hinblick der »vielschichti-
antritt der Nazis während der Spielzeit gen Anlage« der Regiekonzeption überein
1928/29 am Hessischen Staatstheater in Wies- (Kranz, S. 344); während Ersterer meinte, die
baden veröffentlichten NSDAP, DNP und Zen- Inszenierung ziele darauf, die »Gründe für das
trumspartei einen »öffentlichen Protest« (vgl. Scheitern der Novemberrevolution deutlich zu
GBA 1, S. 559). machen« (S. 345), konnte Letzterer keine
Die erste deutsche Nachkriegsinszenierung klare Aussage erkennen und berief sich auf B.
gab es im Juni 1955 in Stuttgart durch die selbst, der das Stück als das »zwieschlächtig-
Studiobühne der Technischen Hochschule; sie ste« seiner frühen Dramen betrachtet hatte
wurde einen Monat später von der Studenten- (GBA 23, S. 239; Beckelmann, S. 347).
bühne in Erlangen gezeigt. B. und sein Stück Wiederholt tendierten Rezensenten dazu,
erwiesen sich als Politikum, da die Frage de- im Drama Bezüge zu zeitgenössischen ›Be-
battiert wurde, »ob es die Aufgabe der studen- findlichkeiten‹ aufzuspüren. So bemängelte
tischen Studiobühne sei, politisch zu dem Stel- ein westdeutscher Kritiker an der Schweriner
lung zu nehmen, was heute in Deutschland Aufführung, dass sie den »Rückzug Kraglers«
geschieht«, nämlich die Wiederaufrüstung der nicht als »aktuelle Mentalität in der DDR (und
Bundesrepublik. Die Aufführung selbst war, nicht nur dort)« deutlich gemacht habe (Roß-
der Rezension vom 26. 7. 1955 in der Nürnber- mann, S. 341). Ähnlich hieß es in einer Rezen-
ger Zeitung zufolge, »entsetzlich«, und »ohne sion der Inszenierung von 1987 im Schauspiel-
regieliche Führung« überboten sich die Dar- haus Bochum, die am 18. 3. 1987 in der Tages-
steller »an Dilettantismus, an verschlampter zeitung (TAZ) veröffentlicht wurde, dass
Sprache« (Merck, S. 319). Von Anfang bis »Kraglers Geschichte [ … ] mitten in die Pro-
Mitte der 60er-Jahre wurde das Stück bevor- bleme des Selbstverständnisses der gealterten
zugt von Studenten- oder Studiobühnen (auch 68-er Generation« treffe (Preußer, S. 348), die
im Ausland) aufgeführt. 1968, fünfzig Jahre ebenfalls zwischen dem Rückzug ins Private
nach der Novemberrevolution, kehrten Trom- und politischem Engagement schwanke. Die
meln in der Nacht im Zuge der Entdeckung der Aufführung an der Berliner Schaubühne 1987,
frühen Stücke B.s, die nach 1945 zunächst im bei der die Augsburger Fassung als Textgrund-
Schatten der »großen« Dramen aus der Exilzeit lage benutzt wurde, zeigte Kragler, wie Roland
gestanden hatten, nach München zurück, al- Wiegenstein am 16. 6. 1987 in der Frankfurter
lerdings nur als Lesedrama. Einschließlich Rundschau schrieb, als »durchaus positive Fi-
dieser Lesung lassen sich für 1968 insgesamt gur« (Wiegenstein, S. 355) und setzte die Be-
neun Inszenierungen nachweisen (vgl. vorzugung der ersten Dramen durch die Thea-
Schwiedrzik, S. 432). In den 70er- und 80er- termacher fort: »Wer heute in der BRD noch
Jahren erschien das Stück häufig auf den ernsthaft Brecht spielt, der greift zu den frü-
Spielplänen von Stadttheatern und anderer hen Stücken. Brechts früh-existentialisti-
Bühnen in der Bundesrepublik und Theatern scher Nihilismus liegt uns heute nahe, nicht
im Ausland. Gespielt wurden sowohl die Fas- seine sozialistische Besserwisserei.« (Preußer,
sung von 1922 (z. B. 1974 in Wuppertal) wie die S. 348 f.)
von 1953 (z. B. 1975 in Düsseldorf). Auch nach der Wende wurde das Stück wie-
In der DDR wurde die über das Stück ver- derholt in die Spielpläne von Theatern im In-
hängte »Quarantäne« erst 1982 aufgehoben und Ausland aufgenommen. Der Pariser Regis-
Wirkungsgeschichte 99

seur Georges Lavaudant, dessen Inszenierung Schwiedrzik, S. 295–299. – Knopf, Jan: »Trommeln
von Trommeln in der Nacht anlässlich der Fei- in der Nacht«. In: Hinderer, S. 48–66. – Kolken-
brock-Netz, Jutta: Geschichte und Geschichten in
ern zu B.s 100. Geburtstag 1998 ebenfalls in
Brechts Trommeln in der Nacht (1922/53). In: Eg-
Barcelona, Lyon, Stockholm und Madrid ge- gert, Hartmut [u. a.](Hg.): Geschichte als Literatur.
zeigt wurde, interessierte sich »wie die mei- Formen und Grenzen der Repräsentation von Ver-
sten seiner französischen Kollegen eher für gangenheit. Stuttgart 1990, S. 172–181. – Kranz,
den jungen, programmstutzigen Brecht als für Dieter: Frühes Stück von Brecht in einer vielschich-
die politischen Windungen des reifen Werks« tigen Interpretation. In: Schwiedrzik, S. 342–345. –
Mayer, Hans: Brecht, Beckett und ein Hund. In:
(Hanimann, S. 45) und gab »Ideen, die 1968
Theater heute (1972), H. 6, S. 25–27. – Merck,
noch en vogue waren« dem Gelächter preis Hanns: Erlanger Theaterwoche zwischen Bert
(Sucher). Brecht und Marcel Achard. In: Schwiedrzik, S. 319.
– Münsterer, Hans Otto: Bert Brecht. Erinnerungen
aus den Jahren 1917–22. Zürich 1963. – Oesmann,
Astrid: The Theatrical Destruction of Subjectivity
Literatur: and History: Brecht’s Trommeln in der Nacht. In:
Abusch, Alexander: [Rezension]. In: Schwiedrzik, GQu. 70 (1997), S. 136–150. – Pollock, Della: The
S. 284–286. – Bathrick, David: »Anschauungsmate- Play as Novel: Reappropriating Brecht’s Drums in
rial« for Marx. Brecht Returns to Trommeln in der the Night. In: Quarterly Journal of Speech 74 (1988),
Nacht. In: Brecht heute 2 (1972), S. 136–148. – Be- S. 296–308. – Preußer, Gerhard: Entpolitisierter
ckelmann, Jürgen: »Glotzt nicht so romantisch!« Brecht? »Trommeln in der Nacht« im Schauspielhaus
Brechts »Trommeln in der Nacht« im Berliner En- Bochum. In: Schwiedrzik, S. 348–350. – Protokolle
semble. In: Schwiedrzik, S. 345–347. – Eßwein, Her- von Gesprächen über »Trommeln in der Nacht«. In:
mann. Trommeln in der Nacht. In: Schwiedrzik, Schriften zum Theater 2, S. 272–293. – Roßmann,
S. 271–273. – Feilchenfeldt, Konrad: Bertolt Brecht. Andreas: Nachrichten aus der Provinz. In: Deutsch-
»Trommeln in der Nacht«. Materialien, Abbildun- land-Archiv 16 (März 1983), H. 3, S. 340–342. –
gen, Kommentar. München 1976. – Feuchtwanger, Schumacher, Ernst: Die dramatischen Versuche Ber-
Lion: Bertolt Brecht, dargestellt für Engländer. In: tolt Brechts 1918–1933. Berlin 1955. – Schwiedrzik,
Schwiedrzik, S. 212–217. – Fraunhofer, Hedwig: Wolfgang M. (Hg.): Brechts »Trommeln in der
The Fascist Brecht? The Rhetoric of Alterity in Nacht«. Frankfurt a. M. 1988. – Sinsheimer, Her-
Drums in the Night. In: BrechtYb. 22 (1997), S. 357– mann: Trommeln in der Nacht. In: Schwiedrzik,
373. – Frühwald, Wolfgang: Der Heimkehrer auf der S. 263–266. – Steinlein, Rüdiger: Expressionismusü-
Bühne. Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht und die berwindung. Restitution bürgerlicher Dramaturgie
Erneuerung des Volksstücks in den zwanziger Jah- oder Beginn eines neuen Dramas? In: Dyck, Joachim
ren. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte [u. a.](Hg.): Brechtdiskussion. Kronberg/Ts. 1974,
der deutschen Literatur 8 (1983), S. 169–199. – S. 7–51. – Stern, Guy: »Trommeln in der Nacht« als
Fuegi, John: Brecht & Co. Biographie. Autorisierte, literarische Satire. In: Monatshefte für deutschen
erweiterte und berichtigte deutsche Fassung von Se- Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 61
bastian Wohlfeil. Hamburg 1997. – Geißler, Horst (1969), S. 241–259. – Sucher, C. Bernd. Jede Dumm-
Wolfram: Trommeln in der Nacht. In: Schwiedrzik, heit, jede Sauerei. Georges Lavaudant inszeniert in
S. 268–270. – Giese, Peter Christian: Das »Gesell- Paris Brechts »Kleinbürgerhochzeit« und »Trommeln
schaftlich-Komische«. Zu Komik und Komödie am in der Nacht«. In: Süddeutsche Zeitung (München),
Beispiel der Stücke und Bearbeitungen Brechts. 27. 5. 1998. – Tabbert-Jones, Gudrun: Die Funktion
Stuttgart 1974. – Greenland, Nicholas: Kragler and der liedhaften Einlage in den frühen Stücken
the Petty-Bourgeoisie in Bertolt Brecht’s Trommeln Brechts: »Baal«, »Trommeln in der Nacht«, »Im Dik-
in der Nacht. Ontario 1984 [Masch.]. – Hanimann, kicht«, »Eduard II. von England« und »Mann ist
Joseph: Plötzlich lacht eine Frau furchtbar auf. La- Mann«. Frankfurt a. M. 1984. – Völker. – Wiegen-
vaudants Doppelprogramm am Odéon. In: Frank- stein, Roland H.: Shepard trivial, Brecht vorzüglich.
furter Allgemeine Zeitung, 22. 5. 1998. – Hecht. – Schaubühne: »Unsichtbare Hand« und »Trommeln in
Ihering, Herbert: Der Dramatiker Bert Brecht. In: der Nacht«. In: Schwiedrzik, S. 355–356.
Schwiedrzik, S. 274–277. – Ders.: Zu Brechts Trom- Siegfried Mews
meln in der Nacht. In: Schwiedrzik, S. 299–301. –
Kaufmann, Hans: Drama der Revolution und des
Individualismus. Brechts Drama »Trommeln in der
Nacht«. In: WB. 7 (1961), H. 8, S. 316–331. – Kerr,
Alfred: Bert Brecht: Trommeln in der Nacht. In:
100

schen Schaubuden-›Vorführungen‹ kehren in


Die Einakter von 1919 Lux in tenebris wieder.
B.s erste Schaffensphase ist unter anderem
geprägt von Versuchen, in den verschiedenen
1963 äußert sich Brechts Freund Hans Otto literarischen Gattungen zu experimentieren.
Münsterer in seinen Jugenderinnerungen über Bereits sein Tagebuch No. 10 aus dem Jahr
die Einakter B.s aus dem Jahr 1919. Es handelt 1913 und die Schülerzeitschrift Die Ernte
sich dabei um das einzige Zeugnis überhaupt, (1913/1914) sind dafür Belege. Unter diesem
das über ihre Entstehungszeit Auskunft gibt. Vorzeichen sind auch die Einakter zu betrach-
B. verfasste die Stücke demnach im Herbst ten, ein Genre, das sich in der Zeit des sich
1919; Münsterer erinnert sich, dass er am etablierenden Kinos großer Beliebtheit er-
28. 11. 1919 von B. ein Typoskript der Einakter, freute. War doch, einhergehend mit dem
mit Ausnahme des Fischzuges, zur Durchsicht »Wunsch nach Unterhaltung und Zerstreuung,
erhielt, woraus sich ergibt, dass zu diesem nach einem möglichst raschen Wechsel immer
Zeitpunkt Die Hochzeit, Der Bettler oder Der neuer Eindrücke, [ … ] die Vorliebe für die
tote Hund, Er treibt einen Teufel aus und Lux Kleinform« (Kaes, S. 5) die gattungsgeschicht-
in tenebris im Wesentlichen fertig gestellt wa- liche Folge.
ren (Münsterer, S. 140 f.). Nicht ausgeschlos- Die Theatergeschichte hat eine Reihe von
sen scheint allerdings, dass in dieser Zeit wei- volkstümlichen Vorformen und Abwandlungen
tere Stücke entstanden, die nicht überliefert des Einakters aufzuweisen; als Farcen,
sind. Als konkretes Vorbild gibt Münsterer Schwänke, Possen und Fastnachtsspiele han-
Cervantes (1547–1616) an; ebenso in Verbin- delt es sich dabei in der Regel um Komödien
dung mit den Einaktern bringt er Valentin geringeren Umfangs, meist ohne Szenenwech-
(1882–1948), Courteline (1860–1929) und sel. Daneben gibt es auch eine ›klassische‹
Ionesco (1909–1994). Valentins szenische Tradition der Einakter als meist gesungene
Sketche sind in ihrem derben und teilweise Zwischenspiele, auch in der Oper, bei Mozart
abstrusen Humor den Einaktern B.s durchaus und vor allem in Italien als »Intermedium«.
nahe; er lernte den Münchner Komiker zwar Um 1890 entwickelte sich ein eigenständiger
erst 1920 persönlich kennen, könnte jedoch Formentypus, eng verbunden mit den Prämis-
bereits zuvor seine Stücke gelesen oder ge- sen zweier literarischer Strömungen, dem Na-
sehen haben. Mit Courteline, der ebenfalls turalismus und Expressionismus. Besonders
Einakter schrieb, wird die Verbindung zum Letzterer hat den Einakter als literarische Gat-
Naturalismus gezogen. B. selbst erwähnt den tung ernst genommen und weitergeführt.
Dramatiker 1920 (GBA 21, S. 89) und 1933 B.s Einakter dagegen gelten, wie auch sein
(GBA 28, S. 354). Mit dem Hinweis auf Io- erstes großes Drama Baal, in der Forschung
nesco deutet Münsterer auf spätere Thesen der als bewusste »anti-expressionistische Ent-
Forschung voraus, die in den Einaktern B.s würfe« (Bayerdörfer, S. 248). Dabei stellen sie
Elemente des absurden Theaters vorwegge- keineswegs nur Wiederbelebungsversuche ei-
nommen sehen. Darüber hinaus hat B. mit ner überkommenen Komödienform dar; viel-
Sicherheit den Dramen Wedekinds Anregun- mehr nehme B. die im 19. Jh. teilweise ver-
gen zu verdanken, der zu den wichtigsten lite- lorenen didaktischen Impulse der Komödie in
rarischen Gewährsmännern dieser Zeit zählt, neuer und zeitgemäßer Art wieder auf und
ebenso dem Jahrmarkttreiben des Augsburger komme durch Kontrast- und Verblüffungs-
Volksfestes »Plärrer«. Dieses findet bis heute effekte, hochintellektuelle Bedeutungskon-
zweimal jährlich statt, gehörte in B.s Jugend struktionen und schärfste Detail-Beobachtun-
zu den bevorzugten Aufenthaltsorten des gen alltäglicher Realität in statu nascendi zu
Freundeskreises um den Dichter und findet in einer Erneuerung der Komödie auf nach-ex-
biographischen Aufzeichnungen und Briefen pressionistischer Grundlage (S. 262 f.). Auch
immer wieder Erwähnung. Die damals typi- Peter Christian Giese stellt in der ersten, nur
Die Hochzeit 101

wenige Seiten umfassenden Analyse der Ein- jet des Einakters übernahm er für eine Episode
akter die Elemente des »Gesellschaftlich-Ko- des Films Kuhle Wampe (GBA 19, S. 718).
mischen« in den Mittelpunkt und kommt zu Das Stück zeigt eine Hochzeitsfeier, die in
dem Ergebnis, dass die Einakter deutlich er- der neuen Wohnung des frisch vermählten
kennen ließen, welche Formen von Komik und Paares stattfindet. Ebenfalls neu sind die Mö-
Komödie, die auf die späteren Stücke B.s vor- bel, die der Bräutigam in Handarbeit selbst
ausweisen, in ihnen entwickelt sind (Giese, gefertigt hat. Obwohl der Einakter im klassi-
S. 36), wobei die sexuelle Komponente gera- schen Sinne keine dramatische Handlung hat,
dezu strukturbildende Funktion habe (S. 37). läuft er mit steigender Spannung auf sein Ende
Inge Vinçon weist den Einaktern den Begriff zu: Die Möbelstücke brechen eines nach dem
›provokatorischer Realismus‹ zu, was bedeute, anderen aufgrund ihrer dilettantischen Aus-
dass B. sich weder der naturalistischen Milieu- führung zusammen. Als Letztes geht das Bett
theorie noch dem Expressionismus verpflich- in die Brüche, in das die längst schon schwan-
tet gefühlt habe, sondern, vornehmlich mit gere Braut mit ihrem Mann steigt, und gleich-
Mitteln der Parodie, »anfängt, einen vergebli- zeitig die kleinbürgerliche Illusion von einem
chen Realismus provokatorisch zu überzeich- intakten Familienleben, für das die Hochzeits-
nen« (Vinçon, S. 178). Sie betrachtet die feier der Beginn sein sollte.
Stücke ganz unter dem Blickwinkel des späte- In der Forschung herrscht einhellig die Mei-
ren marxistischen Autors. Der deutlich wer- nung, daß dem Stück eine parodistische Kritik
dende Realismus sei »noch kein parteiischer am Kleinbürgertum zugrunde liege, dem B.
im Sinne des historischen Materialismus« den Spiegel entgegenhalte. Uneinig ist man
(S. 108), jedoch ein erster Schritt auf dieses sich allerdings in der Frage, wie seine Kritik
Ziel hin. Trotz teilweise erhellender Detail- zu deuten sei. Giese hält, orientiert an marxi-
analysen reduziert die Autorin die Stücke zu stischer Gesellschaftstheorie, fest: »Brechts
sehr auf das Stationenhafte innerhalb der Ent- Kleinbürgerhochzeit ist die erste seiner Komö-
wicklung zu einer explizit politischen und agi- dien, in denen eine alte Gestalt ›zu Grabe ge-
tatorischen Ästhetik. Dabei verliert sie den tragen‹ wird, nämlich die bürgerliche Ehe und
durchaus vorhandenen Eigenwert und literari- Familie« (Giese, S. 35). Eine ähnliche Tendenz
schen Reiz der Einakter allzu oft aus den Au- vertritt Vinçon: Sie konstatiert, dass sich die
gen und wird vor allem ihrer erneuernden Be- Kleinbürger aufgrund ihrer Kommunikations-
deutung für die Gattung der Komödie nicht unfähigkeit und ihrer Egozentrik als destruk-
gerecht. tiv erweisen, unfähig, aus ihren Verhältnissen
Mit Ausnahme der Hochzeit wurden B.s Ein- Kollektivität zu entwickeln (Vinçon, S. 71 f.).
akter bis heute vom Theater kaum wahrge- Es scheint jedoch ratsam, Die Hochzeit we-
nommen, erst postum gedruckt und uraufge- niger von der Frage ausgehend zu betrachten,
führt, dann nur äußerst selten gespielt. wie weit B. in seiner Kritik des Bürgertums
noch entfernt ist von einer soziologisch ausge-
wogenen Analyse der Bourgeoisie. Den pro-
duktionsästhetischen Kontext bilden vielmehr
Die Hochzeit die Stücke Baal und Trommeln in der Nacht,
die etwa zur selben Zeit entstanden und zur
Deutung der Hochzeit heranzuziehen sind. So
Von den fünf Einaktern des Jahres 1919 ist Die betrachtet Bayerdörfer B.s Kritik am Klein-
Hochzeit der bekannteste und umfangreichste. bürgertum in engem Zusammenhang mit Baal,
Es existiert ein Typoskript aus der Zeit um in dem der Spießbürger und sein sozio-kultu-
1919. In einem vervielfältigten Bühnenmanu- relles Umfeld entlarvt werden, der Protagonist
skript vom Arcadia Verlag (Berlin) aus der jedoch keine Position einnimmt, die man als
zweiten Hälfte der 20er-Jahre, korrigierte B. moralische oder gesellschaftliche Alternative
den Titel in Die Kleinbürgerhochzeit. Das Su- betrachten könnte: »Statt der hochgespannten
102 Die Einakter von 1919

Thematik und der überspannten Person Baals deutlich wird: Er als Autor des Baal steht auf
entsteht ein Bild der kleinkarierten Gesell- der Seite derer, die das Bürgertum mit seinen
schaft und ihrer ebenso kümmerlichen wie lä- überkommenen Formen und Riten kritisieren
cherlichen Prätentionen« (Bayerdörfer, und damit Stein des Anstoßes für jene Bürger
S. 250). Die Kleinbürger hielten am Ideal der sind.
intakten Familie fest, um sich »soziale Stabili- In Baal bildet die klein- und bildungsbür-
tät vorzugaukeln«, die im gesellschaftlich-öko- gerliche Gesellschaft lediglich den Hinter-
nomischen Prozess längst abhanden gekom- grund für den agierenden Protagonisten, der
men sei (ebd.). Tatsächlich stellte B. selbst in sich als Einzelgänger von ihr abhebt. In Trom-
seinem Einakter die Beziehung zu Baal her: meln in der Nacht hingegen stehen die Bürger
in einem helleren Licht, erfahren eine tiefer-
DER JUNGE MANN Haben Sie auch das
gehende Analyse. Manche Dialoge (z. B. GBA
Stück »Baal« im Theater gesehen?
1, S. 177–187) und der überraschende, keines-
MANN Ja, es ist eine Sauerei.
wegs von Komik freie Schluss deuten auf die
DER JUNGE MANN Aber es ist Kraft da-
Nähe zur Hochzeit. Ein klarer Hinweis auf
rinnen.
Trommeln in der Nacht ist auch in der Re-
MANN Es ist also eine kraftvolle Sauerei.
quisite der roten Laterne bzw. des Lampions
Das ist schlimmer als eine schwache. Wenn
zu sehen, die in beiden Stücken Verwendung
einer ein Talent zu Schweinereien hat, ist
findet (GBA 1, S. 229, S. 243). Während Baal
das etwa entschuldigend? Sie gehören über-
jedoch eindeutig eine Gegenposition zur bür-
haupt nicht in so ein Stück!
gerlichen einnimmt, arrangiert sich Kragler in
Stille.
seinem Falle mit der Bourgeoisie, denn seine
VATER Bei den Modernen wird das Fami-
künftigen Schwiegereltern sind Fabrikbesit-
lienleben so in den Schmutz gezogen. Und
zer. Er entscheidet sich gegen einen Einsatz für
das ist doch das Beste, was wir Deutschen
die Ziele der Räterepublik, legt sich stattdes-
haben. (GBA 1, S. 258)
sen in das gemachte Bett mit der Aussicht auf
B. legt seinen Figuren Worte in den Mund, die das Erbe der Fabrik, nimmt dafür jedoch, wie
auch der zeitgenössische Bürger über das der Bräutigam in der Hochzeit, in Kauf, dass
Stück äußern könnte. Neben vielen anderen seine Braut eine ›beschädigte‹ ist, die ihm
Eigenschaften, die die Hochzeitsgesellschaft während seiner Abwesenheit nicht die Treue
aufzuweisen hat, erscheint sie hier als gehalten hat.
deutschtümelnd, prüde und ›modernen‹ Ten- In der Hochzeit sind die Kleinbürger unter
denzen in der Literatur gegenüber durchaus sich. Bild und Bewertung der Gesellschaft ent-
nicht aufgeschlossen. Dabei erweist sich die sprechen sich jedoch trotz verschiedener
Rede als doppelbödig: Indem man sich ver- Blickwinkel in allen drei Stücken durchaus. Es
meintlich brüsk von der »Sauerei« in Baal di- wird gleichsam die Frage gestellt und letztlich
stanziert, wird gleichzeitig deutlich, dass ge- auch beantwortet, was das für eine Gesell-
rade sie es ist, die Faszination ausübt, die die schaft ist, der Baal sich verweigert und mit der
reglementierte bzw. verdrängte Sexualität Kragler sich arrangiert.
kleinbürgerlicher Manier anspricht. Man er- Es sind im Wesentlichen zwei Eigenschaf-
liegt der Lüsternheit unter dem Vorwand mo- ten, die charakteristisch sind für die in der
ralischen Denkens und Handelns, im Stück Hochzeit skizzierte Gesellschaft: zum einen ist
nochmals thematisiert durch die Keuschheits- dies die große Diskrepanz zwischen Schein
ballade (GBA 1, S. 255; vgl. GBA 11, S. 13 f.). und Sein, zwischen Anspruch und Wirklich-
In Art einer poetologischen Einlage, eine keit, zum anderen ist es das Fehlen jeglicher
Meta-Ebene einnehmend, stilisiert B. sich mit Individualität und Handlungsfreiheit. Die Fi-
dieser ›Einlage‹ zugleich selbst. Er schreibt guren mögen sich durch Aussehen, Alter, Fa-
sich literarisches Talent zu, charakterisiert milienstand und verschieden stark ausge-
und ironisiert sein Stück, wobei seine Position prägte Affekte und Triebe unterscheiden, letzt-
Die Hochzeit 103

lich jedoch sind sie kalkulierbar, sie handeln, ›neuen Hausstand‹ und somit eine Familie zu
sprechen und reagieren nach bestimmten vor- gründen, erweisen sich als schlecht zusam-
hersehbaren Mustern und Gesetzmäßigkeiten. mengebautes Gerümpel, das keiner Belastung
Sie sind Typen; Spielraum für Eigenarten, die standhält. Das Unvermögen und vorprogram-
das Wesen einer Person ausmachen, gibt es mierte Scheitern des Bräutigams sowie seiner
nicht. Ehe werden hiermit angekündigt: Gerade das,
Welche Eigenschaften und Wesensmerk- was in ganz besonderem Maße haltbar und
male haben die Bürger oder nehmen sie für dauerhaft sein sollte, weil besonders viel
sich in Anspruch? Man ist, wie dargelegt, pa- Liebe, Zeit und Mühe investiert wurde, er-
triotisch-national, Neuerungen gegenüber ab- weist sich als Trümmerhaufen. Deutlich wird
lehnend; man hat hohe sittlich-moralische An- aber auch die Tatsache, dass, nicht aus Spar-
sprüche, besonders in sexueller Hinsicht. Man samkeit, sondern aus Geiz, offenbar an der
ist sparsam und fleißig, Werte eines harmoni- falschen Stelle, zum Beispiel am Leim, gespart
schen und familiären, ›geregelten‹ Lebens wurde.
sind dominant. Darüber hinaus hat man das Bisher von der Forschung unbemerkt blieb
Bewusstsein, ›jemand zu sein‹, ›etwas darzu- eine Anspielung B.s auf das Mobiliar, die nicht
stellen‹ und nimmt nicht zuletzt für sich in nur dem speziellen Humor dieses Einakters
Anspruch, gute Umgangsformen zu haben und eine weitere Nuance hinzufügt, sondern dem
auf solche zu achten (z. B. GBA 1, S. 244). Tat- Stück darüber hinaus auch ein gewisses Maß
sächlich jedoch haben die Kleinbürger keines- an Lokalkolorit und scheinbarer Historizität
wegs ›gute Manieren‹, und die äußeren For- verleiht. In den Geschichten des Vaters spielt
men, auf die man sehr bedacht ist, werden ein wassersüchtiger Onkel eine Rolle, der Au-
dauernd unterlaufen, weil man sich eigentlich gust heißt (GBA 1, S. 249 f.). Man könnte einen
nichts zu sagen hat. Es werden Unappetitlich- Fingerzeig auf B.s eigenen Onkel August ver-
keiten vom Wasserklosett bis hin zu detail- muten, der, im Gegensatz zu dem im Stück
getreuen Symptomen der Wassersucht zum erwähnten, 1919 allerdings noch lebte. Ein
Besten gegeben. Die rührselige wie klischee- weiterer Hinweis mit ›historischem‹ Hinter-
beladene Hochzeitsrede, die der junge Mann grund in den Erzählungen des Vaters legt nun
hält, erweist sich als einem Buch entnommen die Vermutung nahe, dass auch die Anspielung
und auswendig gelernt, worauf, entgegen aller auf Onkel August authentisch ist und B. in
Regeln der Höflichkeit, von einem Gast ex- seinem Stück ganz bewusst mit Bezügen zur
plizit hingewiesen wird. Familiäre Bindungen Wirklichkeit spielt, so auch wenn der Bräuti-
existieren nur formal. Verwandtschaftliche gam großspurig erläutert, warum er seine Mö-
Nähe oder Gefühle nehmen nicht erst im Laufe bel selbst angefertigt habe:
der Handlung ab, sondern existieren von vorn-
BRÄUTIGAM Auf das Lumpenzeug in den
herein nicht. Der Vater versucht durch Erzäh-
Läden kann man sich ja nicht verlassen!
len seiner langweiligen wie teilweise Ekel er-
DER MANN Eine gute Idee. Man verwächst
regenden Episoden, die eigentlich niemand
dann mehr mit den Sachen. Gibt auch besser
hören mag, einerseits dafür einzustehen, dass
darauf acht. Ich wollte zur Frau: du hättest
die Konversation nicht abbricht, andererseits
unsere Sachen selber gemacht.
sorgen seine Geschichten, von ihrem Inhalt
[…]
abgesehen, auch dafür, dass eine gewisse Dis-
DER VATER Die Geschichte mit Johannes
tanz, ein unverbindliches Nebeneinander, er-
Segmüller war sehr komisch.« (GBA 1,
halten bleibt. Die Möbel, die der Bräutigam in
S. 245).
eigener Handarbeit hergestellt hat, ein Ana-
chronismus in einer arbeitsteiligen Gesell- Jener Johannes Segmüller, den der Vater un-
schaft, und nicht nur Werte und Tugenden wie mittelbar, nachdem das selbst gezimmerte Mo-
Fleiß, Sparsamkeit und Solidität, sondern biliar thematisiert wurde, aber dennoch
auch das Bestreben symbolisieren, einen scheinbar zusammenhanglos erwähnt, war ein
104 Die Einakter von 1919

Polsterer aus Friedberg bei Augsburg, der sich erwartet. Vor diesem Horizont betrachtet, ist
bereits als junger Mann einen Namen als findi- das Bett das einzige Möbelstück, das am Ende
ger und geschickter Handwerker gemacht mit gutem Grund zusammenbrechen darf,
hatte und 1925 eine Firma gründete, die heute denn es hat ja, so B.s derbe Anspielung, ge-
in Süddeutschland mit zehn Filialen und etwa wissermaßen eine Person mehr als eingeplant
3000 Mitarbeitern eine der größten in ihrer und öffentlich zugegeben zu tragen. Die Gäste
Branche ist. Der Name Segmüller, der insge- erweisen sich auch hier als wenig diskret. Sie
samt dreimal erwähnt wird und so Eigenschaf- sind nach einiger Zeit und steigendem Aggres-
ten eines Leitmotivs erlangt, galt bereits da- sionsspiegel nicht mehr bereit, den Schein zu
mals in Augsburg und Umgebung als Synonym wahren und sprechen offen von der Schwan-
für preisgünstige, aber ebenso haltbare Möbel. gerschaft (S. 261 f.).
Man wäre also besser mit Einrichtungsgegen- Der Schluss des Einakters scheint indessen
ständen ›von der Stange‹ und nicht ganz so eine Art Happy End zu sein. Schnell wird je-
hehren moralischen Ansprüchen zurecht ge- doch deutlich, dass es keinerlei Veränderung
kommen. Die Kleinbürger jedoch verachten oder Entwicklung der Figuren gegeben hat.
nach dem Motto ›Selbst ist der Mann‹ die neue Das Ehepaar, inzwischen alleine, hat sich
Massenware, womit ihre anachronistische scheinbar, nicht zuletzt Dank reichlichen Alko-
Einstellung zur arbeitsteiligen Gesellschaft holgenusses, arrangiert, die Aggressionen
und Produktion zum Ausdruck kommt. Die scheinen überwunden. Man hat sich damit ab-
selbstgezimmerten Möbel werden damit zum gefunden, dass die Einrichtung zu Bruch ge-
Symbol eines überholten Individualismus und gangen ist, und beide wissen wohl, dass die
gesellschaftlicher Rückständigkeit. Ehe schon an ihrem Beginn zum Scheitern ver-
Die Entlarvung und Desillusionierung der urteilt ist. Sie wollen sich dies jedoch nicht
heilen kleinbürgerlichen Welt findet schließ- bewusst machen und mit einer Art Galgen-
lich ihren Höhepunkt in der Art, wie mit Se- humor die Hochzeitsnacht genießen. Da diese
xualität umgegangen wird. Man gibt sich auf längst vollzogen ist, bleibt nichts als Geilheit,
der einen Seite äußerst moralisch, wenn nicht die im Suff dann doch aggressive Formen an-
gar prüde, legt Wert auf Anstand, auf der an- nimmt: Der Bräutigam zerreißt der Braut nicht
deren findet die durchaus vorhandene und nur nur das Kleid, sondern reißt auch sie selbst
unzureichend kompensierte Geilheit ihren brutal an sich (GBA 1, S. 267). Es handelt sich
Ausdruck in einer Reihe direkter und in ihrer um einen gewaltsamen Akt der Inbesitznahme
Art völlig humorloser und primitiver Anspie- der Frau, entsprechend einer kritischen Sicht-
lungen und Doppeldeutigkeiten, etwa durch weise auf die bürgerlichen Ehe.
die Verwendung des Begriffs »Eier« (GBA 1, Die Form des Stücks spiegelt seinen Inhalt
S. 246). Ihre Steigerung erfahren die sexuellen wider: Trotz steigender Spannung gibt es kei-
Anspielungen in konkreten Handlungen, etwa nen Handlungszusammenhang. Einzelne Ge-
im Tanz »wie im Puff« (S. 264) zwischen schichten, Episoden und Kleinstvorfälle rei-
Freund und Braut. Die Sexualmoral der Klein- hen sich aneinander, einzig die aggressive
bürger wird jedoch durch die Tatsache ad ab- Stimmung entwickelt sich, indem sie konti-
surdum geführt, dass jeder Anwesende von nuierlich bis zum Platzen des Festes wächst.
vornherein weiß, dass die Braut schon schwan- Aufgrund der Kommunikationsunfähigkeit der
ger und die Hochzeit mit der in Aussicht ge- Figuren führen deren Gespräche nicht zur Ver-
stellten Hochzeitsnacht somit eine Farce ist. ständigung, sondern bewirken das Gegenteil
Auch die Diskrepanz zwischen Äußerlichkei- und treiben die Verschlechterung der Atmo-
ten und wirklichem Verhalten wird hier auf die sphäre voran. Die Hochzeitsgesellschaft ist
Spitze getrieben: Die Braut trägt ein weißes weit entfernt vom aufklärerisch-individualisti-
Kleid, das im christlichen Ritus bis heute Un- schen Menschenbild, das die Protagonisten
schuld und Unberührtheit symbolisiert, und der bürgerlichen Literatur des 18. und 19. Jh.s
jeder weiß, dass sie längst schon ein Kind bestimmte. Der funktionierende Dialog, das
Die Hochzeit 105

Gegen- und Miteinander von These und Anti- keit gelingt es dem Bettler, den Herrscher zu
these, war hier eine der wichtigsten Grund- verunsichern und zu provozieren, bis er, ei-
lagen. In der Hochzeit ist nicht zuletzt diese gentlich frohen Mutes auf dem Wege zu einer
unorganische Struktur verantwortlich für die Siegesfeier, in schlechter Laune davonzieht.
gebrochene, desillusionierende Komik und für Erst am Schluss erfährt der Zuschauer, dass
den Effekt, dass die Harmonie am Schluss vom der Bettler blind ist und den Dialog mit dem
Zuschauer sehr deutlich als lediglich eine Kaiser nicht aus Streitlust, sondern nur des-
scheinbare wahrgenommen werden kann. halb geführt hat, weil er sich von der Trauer
Die Hochzeit ist der einzige der frühen Ein- über den Tod seines Hundes ablenken wollte.
akter B.s, der noch zu Lebzeiten des Dichters Dem Stück liegt das seit der mittelalterli-
aufgeführt wurde, am 11. 12. 1926 am Frank- chen Literatur bekannte Motiv vom Herrscher
furter Schauspielhaus, in einer Inszenierung und Untertan in abgewandelter Form zu-
von Melchior Vischer. Der Erfolg war mäßig. grunde. Dessen Reiz bestand darin, fiktiv die
Demgegenüber ist das Stück in den letzten Schranken gesellschaftlicher Macht aufzuhe-
Jahren häufig auf den Spielplänen der Theater ben, um die Kontrahenten dann, auf gleicher
zu finden. Bereits 1968 von Rainer Wolffhardt Ebene, einen Disput austragen zu lassen. Da-
als Fernsehspiel für Radio Bremen, 1970 in bei erwies sich der Untertan aufgrund seiner
Dänemark, und 1973 in Schweden, ebenfalls ›Bauernschläue‹ und des ›gesunden Men-
für das Fernsehen verfilmt, bildete es 1978/79 schenverstands‹ stets als der Überlegene. Der
die Grundlage für ein tunesisches Filmexperi- Märchenton des Einakters ist motiviert durch
ment, das am Ende der Hochzeit anknüpft und Lessings Nathan der Weise und hat in B.s Werk
versucht, den Ehealltag des Brautpaares dar- ein Vorbild, die 1913 im ersten Heft der Schü-
zustellen und weiterzuführen. lerzeitschrift Die Ernte erschienene Parabel
Balkankrieg.
Während in der Hochzeit die Kleinbürger,
also gewissermaßen der selbst ernannte Mit-
Der Bettler oder Der tote Hund telstand, die Charaktere stellt, treffen in Der
Bettler oder Der tote Hund die gesellschaft-
lichen Extreme aufeinander: Der Bettler ist
Die Dialoge des griechischen Satyrikers Lu- das niedrigste und verachtetste Mitglied der
kian, die B. in der Übersetzung Wielands Gesellschaft, als ›asozial‹ von dieser kaum
besaß, bilden die literarische Tradition des noch als ihr zugehörig erachtet. Er trifft auf
Einakters Der Bettler oder Der tote Hund. Da- den höchsten Herrscher und Repräsentanten,
neben werden in der Forschung als mögliche die Weisheit und Pfiffigkeit des Beherrschten
Vorbilder oder analoge Werke das Spruchge- auf das Bewusstsein größter Machtfülle.
dicht Salomon und Markolf (Bayerdörfer, Gleich zu Beginn des Gespräches wird deut-
S. 257) und, in Zusammenhang mit B.s Aus- lich, dass nun dieses Verhältnis auf den Kopf
einandersetzung mit dem expressionistischen gestellt, dass der Bettler der Überlegene ist.
Drama, Hanns Johsts Der König (1919) ge- »Die Pointe der Form liegt darin, dass der
nannt, zu dem der Einakter ein Gegenentwurf sozial Schwächste den sozial Stärksten, als sei-
sei (Vinçon, S. 85 f.). nen Disputationsgegner, überwindet, überli-
Das Stück besteht aus einem einzigen Dia- stet und blamiert, wobei der Akzent je nach
log. Ein Bettler sitzt auf der Straße. Der Kaiser dem stärker auf der intellektuellen oder auf
kommt vorbei und lässt sich dazu herab, mit der sozialkritischen Seite des dialogischen Ge-
dem Bettler ein Gespräch zu beginnen. Im Ver- fechts liegen kann.« (Bayerdörfer, S. 257)
lauf dieser Unterhaltung erweist sich der Ganz eindeutig hingegen ist B.s Aussageab-
vermeintlich Stärkere schnell als der Unter- sicht für Vinçon. Sie betrachtet den Einakter
legene. Durch philosophisch anmutende als rein sozialkritisch motiviert, B. kritisiere
Schläue, Redegewandtheit und Respektlosig- mit ihm eine Staatsform, die von nur wenigen
106 Die Einakter von 1919

Autoritäten bestimmt werde (Vinçon, S. 87). schaftswissen‹ und fast hellseherischer Weit-
Darüber hinaus betrachtet es die Autorin als sicht des Beherrschten (vgl. Bayerdörfer,
Einschränkung, dass die soziale Wirkung des S. 257). Weder aber wird eine Gesellschafts-
Stückes sehr zugunsten seiner komischen Ele- form konkret abgebildet, noch will der Ein-
mente in den Hintergrund trete (S. 82). Es ist akter Modell für eine andere sein. Der Kaiser
unzweifelhaft, dass mit der Bloßstellung des wird vorgeführt und seine Ohnmacht wird de-
Kaisers auch die Gesellschaft tangiert ist, die monstriert; ihn und die dazugehörige Staats-
einen Kaiser hat, ebenso wie die Vorführung form abzuschaffen, ist nicht B.s Thema.
der Kleinbürger in der Hochzeit eine Attacke
auf das Bürgertum in soziologischer Hinsicht
mit sich bringt. Es scheint sogar nicht ausge-
schlossen, dass B. konkret auf den deutschen Er treibt einen Teufel aus
Kaiser Wilhelm II. anspielt. Ähnlich wie der
Kontrahent des Bettlers, der einerseits so
machtbewusst wie andererseits naiv erscheint, Die Bauernposse ist in ihrer teilweise abstrus
bestand der Eindruck, dass Wilhelm geistig anmutenden Dialogführung und der Paradoxie
etwas zurückgeblieben war, was bei öffentli- semantischer Mehrdeutigkeiten Szenen Karl
chen Auftritten durchaus zu bemerken war. Ein Valentins sehr ähnlich und motiviert durch
solcher Fingerzeig auf eine historische Person biographische Bezüge aus B.s Leben. Die Fa-
aus der jüngeren Vergangenheit wäre typisch milie, deren Haus der Schauplatz des Schwan-
für die Vielschichtigkeit, die bereits im Früh- kes ist, heißt Frick (GBA 1, S. 288f). B.s Augs-
werk B.s zu konstatieren ist. Dennoch geht es burger Freundin Paula Banholzer, die ein Kind
in dieser Schaffensperiode in erster Linie um von ihm erwartete, musste im Februar 1919
die Analyse und Bloßstellung gesellschaftli- aufs Land, nach Kimratshofen im Allgäu, um
cher Strukturen, nicht selten mit Mitteln der dort ihr Kind auszutragen und zur Welt zu
Komik und Parodie. So soll auch in Der Bettler bringen. Ihre Eltern wollten in Augsburg einen
oder Der tote Hund in erster Linie die Person Skandal vermeiden. Untergebracht war sie im
des Kaisers lächerlich gemacht werden, die, so Haus der Hebamme Walburga Frick und ihres
B.s Übersteigerung, sogar unter dem Bettler Mannes, wo B. sie regelmäßig besuchte (Ban-
steht. Dieser lässt sich nur dazu herab, mit holzer, S. 50) und die er in seinen Briefen an
dem Herrscher zu sprechen, weil er nichts Paula auch grüßen lässt. Am 30. 7. 1919 kam
Besseres zu tun hat und Ablenkung finden der Sohn Frank zur Welt, wenige Wochen spä-
will. Der Bettler ist letztlich der ›Erhabene‹, ter schrieb B. den Einakter. Am 4.4. beklagte er
ihm ist nicht einmal mit Mitteln der Gewalt sich in einem Brief über die Schwierigkeiten,
beizukommen, die der Kaiser als letzte Kon- die seine Besuche im Allgäu mit sich brachten:
sequenz in Aussicht stellt und damit seine »Ich habe Dich sehr lieb und ich komme, so-
Ohnmacht zur Schau stellt. Denn das Leben bald ich kann. Aber nach Kimratshofen …
scheint dem Bettler nichts wert, und anson- weißt Du, nicht nach Kimratshofen. Ich könnte
sten besitzt er nichts, was man ihm nehmen ja doch nicht bei Euch wohnen und wir hätten
könnte, womit er unangreifbar wird. Auf die keine Gelegenheit, allein zu sein, ohne Anstoß
Drohung des Kaisers, er könne ihn auch töten zu erregen.« (GBA 28, S. 78) Es ist nicht be-
lassen, reagiert er entsprechend: »Dann regnet kannt, ob B. bei Paula Banholzer in Kimrats-
es nicht mehr auf meinen Kopf, das Ungeziefer hofen im Haus der Fricks tatsächlich heimlich
verläuft sich, mein Magen gibt Ruhe, und es eingestiegen ist oder ob vielleicht im Spaß nur
gibt die größte Stille, die ich je genossen die Rede davon war. Die Situation jedoch ist
habe.« (GBA 1, S. 275) der im Einakter geschilderten so ähnlich, dass
So mag in Der Bettler oder Der tote Hund von einem Zusammenhang auszugehen ist.
durchaus ein Ur-Thema B.s als Keimzelle ge- Dieser wird letztlich durch den Namen »Frick«
staltet sein, der Wettstreit zwischen ›Herr- hergestellt, nach der Anspielung auf den
Er treibt einen Teufel aus 107

Schreiner Segmüller in der Hochzeit ein wei- der Bauernposse. Weder eine psychologische
teres Beispiel für B.s Tendenz, sich in den Differenzierung der Figuren findet statt, noch
Einaktern auf reale Personen und Vorgänge zu hat analytische Satire einen Platz.
beziehen.
Ein Bursche klettert heimlich über die Lei-
ter in das Fenster seiner Freundin, um mit ihr
die Nacht zu verbringen. Der Vater des Mäd- Lux in tenebris
chens erwischt das Paar, das vor ihm auf das
Dach des Hauses flieht. Die Honoratioren des
Dorfes kommen vorbei, erkennen die Situa- Der Titel des Stücks, aus dem Lateinischen
tion und teilen dem konfusen Vater schaden- übersetzt »Das Licht in der Finsternis«, ist
froh mit, dass der Teufel, in der dörflichen mehrdeutig zu verstehen und weist auch auf
Scheinmoral Sinnbild für Sexualität, seine die Entstehung des Einakters hin. In dieser
Tochter geholt habe und mit ihr auf dem Dach Zeit wurde eine Reihe von äußerst erfolgrei-
sitze. Man bricht in Gelächter aus, und der Ruf chen wie provozierenden ›Aufklärungsfilmen‹
der Familie ist dahin. gedreht, einer unter ihnen 1917 mit dem Titel
Abermals steht die bürgerliche Gesellschaft Es werde Licht von Richard Oswald. Im Artikel
und ihre fragwürdige Sexualmoral im Mittel- Aus dem Theaterleben schreibt B. am 7. 11.
punkt des Geschehens. In der Forschung gilt 1919 in Bezug auf diese Filme: »Wenn die Ki-
Er treibt einen Teufel aus als der schwächste nos weiterhin solche Schweinereien wie eben
der Einakter B.s (Michaelis, S. 33), käme er jetzt spielen dürfen, dann geht bald kein
doch über das übliche Schwanksujet kaum hin- Mensch mehr in die Theater rein. In dem Mo-
aus (Bayerdörfer, S. 254). Dem widerspricht, ment, wo den Kinomenschen republikanische
dass die Posse nicht mit einem Happy End Freiheit erblühte, entdeckten sie ihr Mitleid
schließt, wie es den Gesetzen des Schwanks mit armen Mädchen und ihre Pflicht, der Re-
entspräche. Das Liebespaar, dem erkennbar publik die Augen zu öffnen: Es wurde Aufklä-
die Sympathie des Autors gehört, sitzt zum rung gefilmt. Neu war die Ware nicht, weil sie
Schluss bloßgestellt auf dem Dach und ist dem einträglich sein musste. Nur hatte die Polizei,
Gelächter von Nachtwächter, Pfarrer und Bür- die mit den Puffs auch nicht gerade befreundet
germeister preisgegeben. Diejenigen also la- war, diese Art Aufklärung bisher verboten.
chen, deren Moralcodex befragt wird. Das Lie- Aber nun verdiente sie massig Geld« (GBA 21,
bespaar ist gezwungen, vor diesen sittlichen S. 40 f.). B. spricht damit genau das Thema
Ansprüchen auf das Dach zu fliehen. Des Wei- seines Einakters an. Wo man aus scheinbar
teren deutet die Gesprächsform über sich hin- moralischen Gründen ›Aufklärung‹ gegen das
aus, indem sie einen Versuch darstellt, »eine Laster betreibt, wird in Wahrheit Geld mit ihm
neue Dialogbasis zu gewinnen«: »Die fast sty- verdient.
chomythische Engführung der Repliken in Als mögliche direkte Anregung zu Lux in
Stichwortketten, die ohne direkte Nennung tenebris gilt eine Ausstellung der Deutschen
um das Thema der erotischen Wünsche krei- Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts-
sen, stellt ein weiterführendes Moment dar. krankheiten, die vom 5. bis 21. 9. 1919 in Augs-
Der ganz an der Oberfläche bleibende, gleich- burg zu sehen war. Den einführenden Vortrag,
wohl pointierte Wortwechsel ist ein Stück artis- unter dem Titel Der Kampf gegen eine ver-
tisch organisierter Trivialität, ein Verfahren, heerende Volksseuche am 5. 9. 1919 in den
welches für Brechts Dialogtechnik auch in der Augsburger Neuesten Nachrichten publiziert,
späteren Ausprägung noch eine wichtige hielt bei der Eröffnung ein Sanitätsrat Dr. Ju-
Grundlage darstellt.« (Bayerdörfer, S. 253 f.) lius Raff, der anschließend auch die ausge-
Von diesen bemerkenswerten Punkten abge- stellten Wachsnachbildungen von erkrankten
sehen, bewegt sich der kleine Einakter jedoch Geschlechtsteilen erläuterte. Raff war ein Be-
innerhalb der üblichen Grenzen des Genres kannter von B.s Familie; ihm war es mit größ-
108 Die Einakter von 1919

ter Wahrscheinlichkeit zu verdanken, dass der Aufklärung überflüssig werde. Paduk einigt
junge Dichter nicht zum Kriegsdienst einge- sich mit Frau Hogge. Er schließt sein Zelt und
zogen wurde (Frisch/Obermeier, S. 139 f.). investiert das verdiente Geld in das Bordell,
Stattdessen arbeitete er vom 1. 10. 1918 bis dessen Teilhaber er wird. Sein Geschäft führt
9. 1. 1919 bei Raff im provisorisch errichteten er auf andere Weise weiter: er zeigt seine
Reservelazarett in Augsburg als Militärkran- Filme fortan im Bordell. Dieses floriert wie-
kenwärter, wo er der Station D, der Abteilung der, und Paduk hat damit die Möglichkeit,
für geschlechtskranke Soldaten, zugeteilt und nach außen an seinem moralischen Anspruch,
täglich mit dem konfrontiert war, was später die Männer aufzuklären, festzuhalten, gleich-
zum Inhalt von Lux in tenebris oder vom Lied zeitig seinen Gewinn zu maximieren und die
an die Kavaliere der Station D gehören sollte. Dienste der Prostituierten wie ehedem, nun
Die zu Beginn beschriebene Bordellgasse aber kostenlos, in Anspruch zu nehmen.
»führt nach hinten zu und biegt dann in rech- Ein weiteres Mal stehen in einem Einakter
tem Winkel nach links um« (GBA 1, S. 293). B.s die bürgerliche Doppelmoral und Schein-
Damit ist eindeutig auf die Hasengasse in heiligkeit im Mittelpunkt. Er entlarvt den
Augsburg angespielt, die, heute immer noch Trick, der das geschäftliche Überleben Paduks
Bordellstraße, aber umbenannt und in ihrem und Frau Hogges sichert, als ›Vernunft‹ jener
Verlauf geändert, sich zur Zeit der Entstehung Gesellschaft: Statt Konkurrenz einigt man sich
des Einakters tatsächlich gegen Ende hin in auf Zusammenlegung der ›Betriebe‹ und er-
einem rechten Winkel nach links öffnete möglicht und legalisiert so die sog. Aufklärung
(Schabert). Ein weiterer konkreter Hinweis und die Prostitution gleichermaßen. B. kriti-
auf Augsburg ist der Titel der genannten Zei- siert durch die Offenlegung dieses Geschäfts-
tung »Neueste Nachrichten« (GBA 1, S. 294), gebarens das Bürgertum, enthält sich jedoch,
bei der es sich um die Augsburger Neuesten wie in dieser Zeit oft, selbst jeglicher mora-
Nachrichten handeln dürfte, die stets in dieser lischer Stellungnahme. Damit deutet der Ein-
abgekürzten Form genannt wurden. Somit akter über sich hinaus: »Das eigentliche
kann man davon ausgehen, dass Augsburg Thema bildet die Dialektik von Lust und Aus-
Schauplatz von Lux in tenebris ist. Ernst Schu- beutung, die in Brechts späterem Werk, etwa
machers Hinweis, dass das geschilderte Milieu im Mahagonny-Songspiel, erneut aufgegriffen
genau das der katholischen Kreise der Pro- und dargestellt werden wird. Die provokative
vinzstadt Augsburg sei (Schumacher, S. 91), Form, die Grellheit des Details, die bündige
geht indessen trotz dieser konkreten Bezüge Moral entsprechen sich.« (Bayerdörfer,
zu weit; der Einakter geht über eine naturali- S. 254)
stische Milieustudie weit hinaus. – Literari- Durchaus bemerkenswert ist dabei der vir-
sches Vorbild ist Wedekinds Einakter Tod und tuose Umgang mit der Mehrdeutigkeit des Ti-
Teufel (1909), dessen Schlusspointe B. sich an- tels, von konkreten Anspielungen bis hin zu
eignete (Bayerdörfer, S. 255). einem erstaunlich hohen Abstraktionsgrad. Er
Herr Paduk wurde, weil er zu wenig Geld ist wörtlich dem Johannes-Evangelium ent-
hatte, aus dem Bordell geworfen. Aus Rache lehnt (Johannes 1,5); diesem biblischen Voka-
eröffnet er in der Bordellgasse ein Zelt, in dem bular entspricht auch der Titel des Aufklä-
man gegen Eintrittsgeld Vorträge über Ge- rungsfilms Es werde Licht, auf den B. konkret
schlechtskrankheiten hören kann. Er will da- anspielt (GBA 1, S. 293). Jenes »kalkig weiße
mit ›aufklären‹ und der Prostitution die Licht«, das »die ganze Gasse überspiegelt«
Grundlage entziehen, was ihm zunächst zu ge- (ebd.), setzt den Imperativ »Es werde Licht«
lingen scheint. Gleichzeitig verdient er mit der zunächst in ganz gegenständlicher Form um:
Sensationsgier der Besucher Geld. Er lässt Das Bordell wird angestrahlt, damit es nicht
sich von Frau Hogge, der Bordellbesitzerin, mehr ungesehen betreten werden kann. Da-
davon überzeugen, dass mit der Vernichtung rüber hinaus will Paduk ›aufklärerisch‹ ans
der Prostitution auch sein Geschäft mit der Licht bringen, was im Bordell vorgeht: »Ich
Lux in tenebris 109

besann mich lediglich, wie ich diese Gasse bergen, im ökonomischen Konkurrenzkampf
b e l e u c h t e n könnte. Wie in Ihr [Frau Hog- zu siegen. Er kleidet sein geschäftliches Inter-
ges] schändliches Gewerbe hineingeleuchtet esse in theologische Formeln, betreibt damit
werden könnte!« (S. 300). Die Motivation in- Blasphemie, die er noch steigert, indem er die
dessen ist seine »Erleuchtung« (S. 296), die religiöse Auferstehungshoffung den Gesetzen
Paduk als moralische Erkenntnis verstanden der Ökonomie dienstbar macht: »Und ich habe
wissen will. Dabei erfährt der Leser, dass er nie besser gesprochen. Jetzt weiß ich, was
nur deshalb sein Etablissement betreibt, weil Pfingsten ist. Heute war der Geist über mir.«
er aus dem Bordell hinausgeworfen wurde. (S. 303)
Dieses Spiel mit der mehrfachen Bedeutung Nicht nur B.s außerordentlich gute Bibel-
der Begriffe ›Licht‹, ›erleuchten‹, ›beleuch- kenntnisse, die er seiner protestantischen Er-
ten‹ entlarvt so Paduks Doppelmoral. Eine ziehung durch Mutter und Pfarrer Paul Detzer,
weitere ›Erleuchtung‹ hat er, indem er ein- der ihm Religions- und Konfirmandenunter-
sieht, dass seine Aufklärungskampagne dem richt erteilt hatte, zeigen sich in diesen rheto-
eigenen Profit schadet, sich geschäftlich asso- risch virtuosen Passagen, sondern B. erweist
ziiert und eine Gewinnmaximierung erzielt. auch die Sprache als Instrument der Manipula-
Es ist konsequent, dass am Ende, nach der tion. Damit deutet Lux in tenebris auf eines
Einigung mit Frau Hogge, das Licht wieder der wichtigen Themen des späteren Werkes
ausgeschaltet wird, damit Paduk und andere B.s voraus.
unbeobachtet in das Bordell können (S. 304).
Daneben spielt bei dieser Thematik und dem
verwendeten Vokabular immer auch die Auf-
klärung als philosophiegeschichtliche Epoche Der Fischzug
mit, die parodiert wird: Der ›kategorische Im-
perativ‹ Kants degeneriert zur Aufklärung
über Geschlechtskrankheiten. B. entlehnt die Fabel aus Homers Odyssee (8.
Vor diesem Hintergrund von Sensations- Gesang, Verse 266–366). Ares und Aphrodite
und Lustgier, Ausbeutung und Profit stellt sich werden von ihrem Mann beim Ehebruch er-
auch die christliche Moral als doppelbödig dar. tappt und in einem Netz gefangen. Die an-
Unter dem Vorwand der Aufklärung handelt deren Götter brechen beim Anblick des ge-
der Kaplan mit Herrn Paduk eine Ermäßigung fangenen Paares in Gelächter aus. Die zweite
des Eintrittspreises aus, um dann für den wichtige Quelle ist die Bibel.
christkatholischen Gesellenverein gleich das Ein sich häufig dem Suff hingebender und
ganze Zelt zu mieten (GBA 1, S. 298). In der deshalb ohne Fang heimkehrender Fischer
Manier eines christlichen Predigers wendet kommt nachts mit zwei Freunden nach Hause,
sich Paduk gegen den Bordellbetrieb: Die Pro- weckt seine Frau und befiehlt ihr roh, ihn zu
stituierten »müssen ihre unsterbliche Seele waschen und für ihn und seine beiden Zechge-
verkommen und ihren Leib verfaulen sehen nossen Kaffee zu kochen. Den beiden Freun-
[ … ]. Dieser Mund mit dem von Geschwüren den gefällt die Frau. Sie verachten den stets
zerfressenen Gaumen hat einst so gut wie euer betrunkenen Fischer, der bald schon ein-
Mund in der Kirche Choräle gesungen, diesen schläft, und versuchen, sich an die auch in
von Aussatz verheerten Kopf hat die Hand ei- sexueller Hinsicht vernachlässigte Frau her-
ner Mutter gestreichelt, wie euren. Über die- anzumachen. Dies bemerkt der Fischer in ei-
ser Brust [ … ], die von Eiter durchlöchert ist, nem hellen Moment. Er hält seine Frau jedoch
hat ein Kreuzlein gehangen, wie über eurer.« nicht vom Ehebruch ab, sondern stellt ihr und
(S. 302) Paduk zitiert die Bibel und bedient dem Nebenbuhler eine Falle mit seinem Netz,
sich liturgischer Formeln, nicht jedoch, um in dem sich das Paar verfängt. Der Fischer ruft
moralisches Denken und Handeln zu fordern, die Dorfbewohner zusammen und lässt die
sondern um seine eigentliche Absicht zu ver- Ehebrecher ins Meer werfen. Hinterher lädt er
110 Die Einakter von 1919

zu einer Art Totenfeier ein, die zu einem Be- Christi, für deren Seelenrettung somit (Lukas
säufnis ausartet. Am Schluss kehrt die Frau 5,1–11). »Ich hab was gefangen, in Christo Ge-
wassertriefend zurück. Das Netz als wichtig- liebte!« (GBA 1, S. 320), sagt B.s Fischer, der
stes Handwerkszeug ihres Mannes bringt sie ebenfalls Menschen gefangen hat, um dann
mit. Sie wirft die Anwesenden hinaus, packt nochmals den Bezug zum Neuen Testament
sich ihren schlafenden Mann auf den Rücken herzustellen: »Das ist der liebe Gott, der im
und bringt ihn ins Bett. Wetterbrausen kommt! Gehe hinaus, sagt er,
Mit dem scheinbar einfachen und grob ge- so wirst du einen großen Fang machen!«
strickten Einakter gelingt B. ein vielschichti- (S. 321) Während es Petrus jedoch um die Ent-
ges und subtiles Miteinander von literarischen sagung von allem Fleischlichen geht, will der
Anspielungen, eine Darstellung seelischer Fischer das Paar ertränken, also das ›gefan-
Zwischenlagen, etwa die Gleichzeitigkeit von gene Fleisch‹ nicht läutern, sondern vernich-
Triumph-, Rache- und Schmerzgefühlen (Bay- ten, um dann hinterher weiter zu saufen, als
erdörfer, S. 259) und eine genaue Milieuzeich- sei nichts geschehen.
nung. Um gleichsam alltägliche zwischen- Diese literarische Gotteslästerung in bei-
menschliche Beziehungen im Fischermilieu nahe Wedekindscher Manier wird am Schluss
geht es. Die Handlung vollzieht sich im We- nochmals akzentuiert: Die Frau will Kaffee
sentlichen in der Hütte des Fischers, verbleibt kochen und ihren besoffenen Mann ins Bett
also im Bereich des Privaten, außerhalb der bringen. Sie übernimmt ihre alltäglichen Auf-
Gesellschaft. Der Text vertritt keinen morali- gaben wie ehedem. Der in christlichem Sinne
schen Standpunkt und schließt auch damit an unerhörte Vorgang des Ehebruchs und die da-
die Vorlage Homers an. Denn auch hier wird rauf folgende Tat des Fischers werden nicht
die Haltung des Hephaistos, der seine Frau mehr reflektiert. Es gibt keine Reue, keine
bloßstellen, sie als unmoralisch erweisen wirkliche Versöhnung, niemals das Bewusst-
wollte, sich jedoch selbst zum Gespött ge- sein ›sündigen‹ Verhaltens, es sei denn als
macht hat, in Frage gestellt. B. modifiziert die sprachliche Floskel. Der Fischer ist froh, seine
Vorlage: Nicht der Fischer macht sich lächer- Frau wiederzuhaben. Diese wiederum freut
lich, sondern der Liebhaber. Damit weicht er sich, bei ihm bleiben zu können. Der christ-
von der in der Komödie traditionellen Figur liche Moralkodex interessiert trotz vieler Bi-
des ›gehörnten Ehemanns‹ ab. belzitate letztlich niemanden. Die Realität von
Die Mehrdeutigkeit zentraler Begriffe und einst wird am Ende wiederhergestellt. Man
Motive bestimmt den Reiz dieses Einakters arrangiert sich, lebt weiter, als sei nichts ge-
und bildet zugleich die Grundlage für die aus- schehen.
geprägte blasphemische Tendenz des Stücks.
So wird aus dem biblischen Bild des Fisches
als Symbol christlicher Seelenrettung ein Literatur:
Symbol für Ehebruch, denn nicht Menschen in [Anonymus]: Blick auf den Bildschirm. In: Göppin-
christlich-missionarischem Sinne werden ge- ger Kreisnachrichten, 27. 3. 1969. – [Anonymus]:
fangen, sondern eine Frau, die mit anderen Den unge satirikern Brecht. In: Svenska Dagbladet
(Stockholm), 13. 2. 1973. – [Anonymus]: Lystspil af
Männer verkehrt (Knust, S. 104 f.). Auch das
Brecht in tv. In: Jyllands Posten (Aarhus/Kopenha-
Fischernetz ist mehrfach konnotiert: Bei Ho- gen), 13. 10. 1970. – Banholzer, Paula: So viel wie
mer wird es als Fangnetz für Ehebrecher her- eine Liebe. Der unbekannte Brecht. Erinnerungen
gestellt, im Fischzug gehört es zur Berufsaus- und Gespräche. München 1981. – Bayerdörfer,
stattung des Fischers und wird seiner ur- Hans-Peter: Die Einakter – Gehversuche auf
sprünglichen Funktion ›entfremdet‹ benutzt. schwankhaftem Boden. In: Hinderer, S. 245–265. –
Bräuer, Gerd/Strathausen, Carsten: Brechts Klein-
Auch Petrus als ›Menschenfischer‹, so das bi-
bürgerhochzeit. Ein Beispiel für die Arbeit mit dra-
blische Bild, auf das B. mit äußerster Deutlich- matischen Texten im Unterricht Deutsch als Fremd-
keit anspielt, benutzt sein Netz zweckentfrem- sprache. In: Zielsprache Deutsch (1995), H. 2, S. 94–
det: Er fischt Menschen für die Heilsbotschaft 100. – Frisch, Werner/Obermeier, K. W.: Brecht in
111

Augsburg. Erinnerungen, Dokumente, Texte, Fotos. zündenden und über mehrere Wochen hinzie-
Berlin, Weimar 1975. – Giese, Peter Christian: Das henden Kampf zwischen den Landarbeitern
»Gesellschaftlich-Komische«. Zu Komik und Komö-
Polly und Zachäus. Nach einer Reihe von De-
die am Beispiel der Stücke und Bearbeitungen
Brechts. Stuttgart 1974. – Hillesheim, Jürgen: Kei- mütigungen durch den körperlich überlegenen
ner achtet auf Segmüller. In Brechts Theaterstück Polly erschießt der fast blinde, schwächliche
Kleinbürgerhochzeit gibt es bisher unbekanntes Lo- Zachäus seinen Peiniger. Als wäre nichts ge-
kalkolorit. In: Augsburger Allgemeine Zeitung, schehen, verrichten alle wieder ihr Tagesge-
2. 10. 1999. – Kaes, Anton (Hg.): Kino-Debatte. schäft, das Weizenernten, bevor man am Ende
Texte zum Verhältnis von Literatur und Film
der Erntesaison in alle Richtungen auseinan-
1909–1929. Tübingen 1978. – Knust, Herbert:
Brechts Fischzug. In: Brecht heute 1 (1971), S. 98– der geht und die Prärie »gleich einem end-
109. – Ders./Marx, Leonie: Brechts Lux in tenebris. losen Meer, über das die Oktobersonne ihre
In: Monatshefte 65 (1973), S. 117–125. – Michaelis, langen Strahlen wirft« (Hamsun, S. 93), zu-
Rolf: Schwierigkeiten mit dem jungen Brecht. In: rückbleibt.
Theater heute (1967), H. 4, S. 29–32. – Münsterer, B. übernahm zahlreiche Stellen wörtlich,
Hans Otto: Bert Brecht. Zürich 1963. – Richter, Rolf:
vor allem für Dialoge und zur Beschreibung
La noce. Tunesisches Filmexperiment nach Brecht-
Motiven. In: Brecht 80. Brecht in Afrika, Asien und von Figuren und ihrem Verhalten, anderes je-
Lateinamerika. Berlin 1980, S. 193–197. – Schabert, doch veränderte er entscheidend und weit rei-
B. (Hg.): Augsburg’s neuester Stadtplan. Augsburg chend. So konstruierte er durch massive Re-
1924. – Schumacher, Ernst: Die dramatischen Ver- duktionen und Umstellungen eine ›sparsame‹,
suche Bertolt Brechts 1918–1933. Berlin 1955. – Vin- nur einen Abend umfassende Handlung und
çon, Inge: Die Einakter Bertolt Brechts. Königstein
präsentierte das Ganze in einer knappen,
1980.
nüchternen Sprache, wobei einige Rhythmi-
Jürgen Hillesheim sierungen und Großschreibungen am Zeilen-
anfang nahe legen, hier tendenziell von Vers-
zeilen zu sprechen, ohne dass diese Frage ein-
deutig zu klären ist (vgl. auch GBA 1, S. 583).
Den Arbeitsunfall, bei dem Zachäus ein Fin-
Prärie ger abgerissen wird, hat B. in die Vorge-
schichte verlegt. Andererseits nimmt die bei
Hamsun bereits vorausgesetzte »ewige Feind-
Der in der GBA erstmals gedruckte 16 Szenen schaft« (Hamsun, S. 74) zwischen Polly und
umfassende Einakter Prärie (GBA 1, S. 329– Zachäus bei B. in der Eingangsszene erst ihren
341) trägt auf dem Deckblatt die Datierung »3 / Anfang, allerdings aus dem gleichen (nichti-
10 / 19« (GBA 1, S. 582), ist also im Zusam- gen) Anlass. Während Hamsun seinen Erzäh-
menhang mit den anderen Einaktern des Jah- ler noch ausdrücklich betonen lässt, dass »sich
res 1919 entstanden. Die Untertitelung Oper keine Frau, nicht eine einzige Frau auf der
nach Hamsun belegt den ersten Musiktheater- Billybory-Farm [befindet]« (S. 72), fügte B.
Versuch B.s, allerdings ist eine Musik nicht mit der Figur der Lizzie, um die sich Polly und
komponiert und das gesamte Vorhaben von B. Zachäus intensiv bemühen, dem Kampf der
nicht weiter verfolgt worden. beiden Kontrahenten die Liebesthematik als
Zugleich verweist der Untertitel auf die Zentralmotiv hinzu. Die Titeländerung gegen-
Quelle: Es handelt sich um die in fünf Kapitel über der Quelle lenkt das Augenmerk weg von
gegliederte Novelle Zachäus (1903) aus Knut der Figur des Zachäus hin zum Ort der Hand-
Hamsuns 1914 auf Deutsch erschienener lung, nämlich auf das dezidiert ›Amerikani-
Sammlung Abenteurer (nicht Abenteuer, wie sche‹ und die sich vor diesem Hintergrund
bislang durchgängig falsch zitiert). Hamsun entwickelnden Beziehungen zwischen den
schildert darin den auf einer Farm im ame- Protagonisten. Vorbereitet werden damit die
rikanischen Westen aus Langeweile und – da- späteren Formulierungen in Im Dickicht der
raus erwachsend – aus Nichtigkeiten sich ent- Städte, wenn dort die Rede ist vom »Prärie
112 Prärie

aufmachen« (GBA 1, S. 352) und von »Sie ha- B. eine der wenigen Erweiterungen gegenüber
ben Prärie gemacht« (S. 358): Gemeint sind der Quelle darstellt: So zählt er Katastrophen-
das Recht und Gesetz des Stärkeren, die als meldungen unvermittelt neben Geschäftli-
Erbe der Pionierzeit des Wilden Westens zum chem und neben (anrührend) ›Menschlichem‹
Signum der Beziehungen von Menschen in der auf, um es mit seinem augenblicklichen Da-
modernen (kapitalistischen) Industriegesell- sein zu konfrontieren: »Alles stand darinnen
schaft geworden sind. So ist es auch folge- und ich las es. / Wo es hier doch so einsam ist!«
richtig, dass sich in B.s Stück am Ende Polly als (S. 338) Polly erkennt nicht, dass das Gesetz
der Stärkere durchsetzt, Zachäus auf der des ›Präriemachens‹, dem er selbst folgt, auch
Strecke bleibt und damit Kälte und Brutalität in das Gesicht der Großstadt eingeschrieben
im Vergleich zur Vorlage gesteigert erscheinen, ist, wo er sich »die Finger in Fetzen« (S. 333)
während bei Hamsun mit dem ›Sieg‹ des Ge- arbeiten müsste, um zu überleben, wie er Liz-
peinigten ein Rest von (versöhnlicher) Hoff- zie gegenüber zuvor versichert hat. Eine gro-
nung bleibt. tesk anmutende Steigerung der Illusionen Pol-
Die Forschung, in der das Werk schon auf lys über das Leben in der Stadt stellt zudem
Grund der Publikationslage kaum eine Rolle der Umstand dar, dass er nur ein Exemplar
spielte, stellte den Charakter einer »Vorarbeit« einer Zeitung besitzt, das er »alle Abend«
für das 1921/22 angefertigte Stück Im Dickicht (S. 331) liest, ein Aspekt, der auch schon bei
der Städte heraus: Es war die Zeit, in der B. Hamsun angelegt ist. Die Besonderheit des
sich mit dem Thema Amerika und dem Aspekt Mediums Zeitung, nämlich nur einen Tag ak-
des Kampfes unter Menschen als (gesellschaft- tuell und dann schon wieder wertlos zu sein,
liche) Fortsetzung des brutalen Gesetzes der wird ad absurdum geführt. Polly gründet sein
Natur – der Stärkere bezwingt den Schwäche- Wissen über und seine Hoffnung auf die Stadt,
ren – auseinander setzte (vgl. Seliger, S. 18– die sowieso nur aus vermittelten Erfahrungen
28). B.s Vorstellung vom typisch Amerikani- bestehen, auf überholten Tatsachen, die somit
schen und der (amerikanischen) Großstadt zu Stereotypen über die Stadt gerinnen. Auch
und seine Faszination »für die Gestaltung ei- Zachäus liest aus Langeweile (ohne Pollys Er-
nes Zweikampfes bis ans bittere Ende« (S. 27) laubnis) dessen Zeitung, erkennt allerdings,
leiteten ihn daher bei der Arbeit und bei den dass darin »so nur Schund« (S. 332) steht und
Veränderungen gegenüber der Vorlage an (vgl. verweigert sich der Illusionierung im Hinblick
S. 18–23). auf ein besseres Leben in der Großstadt, was
Er verstärkte die Motive der Langeweile Folgen hat: Auf Grund dieser Einschätzung
und der Großstadt und gewichtete den Aspekt entwickelt Lizzie ihre Zuneigung zu Zachäus,
der Zeitung stärker, indem er diese drei Ele- was sie später Polly eröffnet.
mente entschiedener als Hamsun miteinander Damit erhalten Entwicklung und Ausgang
verknüpfte sowie Details hinzufügte. So er- des Kampfes zwischen Polly und Zachäus eine
scheint für Polly die Zeitung als ›Fenster‹ zur größere Stringenz als bei Hamsun: Dort ist es
(großen) Welt und Garant der eigenen trüge- die Abfolge von nichtigen Anlässen und die
rischen Hoffnung auf ein abwechslungsreiches Reihung von sadistischen Einfällen Pollys, die
Leben, das er zusammen mit Lizzie in Boston das Ende provozieren, während bei B. ein
oder San Francisco führen könnte, was Lizzie nichtiger Anlass genügt – Zachäus nimmt Pol-
jedoch als Aussicht auf Alkohol- und Glücks- lys Wasser zum Hemdenwaschen –, um den
spielexzesse entlarvt (vgl. GBA 1, S. 333). Wie ersten (Ring-)Kampf auszulösen. Auch das Sa-
blind Polly gegenüber dem Moloch Großstadt distische ist auf einen Vorgang reduziert, der
ist, verdeutlichen die Schlagzeilen, die er in darin besteht, dass Polly Zachäus dessen abge-
Szene 10 aus der inzwischen von Zachäus ent- trennten Finger zum Essen vorsetzt. Dagegen
wendeten und ›verbrauchten‹ Zeitung – »Aber erhält die Auseinandersetzung um die Zeitung
jetzt habe ich sie nimmer. / Ich hatte Verwen- neben dem Kampf um Lizzie zentrale Bedeu-
dung dafür« (S. 337) – paraphrasiert, was bei tung. Indem Zachäus die Zeitung verschwin-
Präriemachen 113

den lässt bzw. sie zerstört, nachdem er ihren Nachdem wegen der Publikationslage und
Inhalt zuvor als Schund bezeichnet hat, raubt der fehlenden Partitur das Werk 75 Jahre lang
er Polly die materiellen und ideellen Grund- nicht aufgeführt worden war, wurde es 1994 in
lagen seines Weltverständnisses. Pollys Be- Rostock in einer »episch klaren Urauffüh-
merkung eingangs der dritten Szene, dass Za- rungsinszenierung« (Krug, S. 55) von Michael
chäus nicht lesen könne und deshalb von Baumgarten auf die Bühne gebracht. Die
Schund spreche (vgl. S. 333), zielt nicht (wie »flotte, zitatenreich jazzige Musik« (ebd.) dazu
bei Hamsun) auf die physische Blindheit Za- hatte Wolfgang Florey 1993 komponiert.
chäus’ – so redet er nur davon, dass er nicht Baumgarten stellte den Abend unter das Motto
gut sehe (vgl. S. 339) –, sondern auf das »Auf nach Mahagonny« und ergänzte die nur
(vermeintliche) Nicht-Begreifen der ›neuen‹ 35 Minuten dauernde Inszenierung des Stücks
Wirklichkeiten der Großstadt. In Pollys Ver- durch zwei weitere kleinere B.-Stücke, deren
ständnis ist dieser ›Anachronismus‹ zu bestra- Themen und Motive im Umkreis von Prärie
fen bzw. auszulöschen: »Ich drehe ihm den anzusiedeln sind: durch Lux in Tenebris und
Hals um, gelegentlich.« (S. 333), formuliert er durch das Songspiel Mahagonny (vgl. ebd.).
›folgerichtig‹ zwei Zeilen später. Aber gerade
die Distanz Zachäus’ gegenüber den Illusio-
nen Pollys ermöglicht die sich anbahnende Literatur:
Nähe zu Lizzie, was zur zweiten entscheiden- Hamsun, Knut: Zachäus. In: Ders.: Abenteurer. Aus-
den Bedrohung Pollys wird, denn der Kampf gewählte Erzählungen. München 1914, S. 71–93. –
um das Objekt der Begierde ist dabei, verloren Krug, Hartmut: Rostock: Streit auf der Billybony-
zu gehen. Also kann er nach dem Gesetz des [sic]-Farm. In: Theater heute (1994), H. 5, S. 55. –
Kussel, Henning: Zwischen Brechtmusik und »Mon-
›Präriemachens‹ nicht anders, als den Kon-
strum« Oper. Gedanken zu Wolfgang Floreys »Prä-
kurrenten auszuschalten. Dies wird von den rie«. In: Dreigroschenheft (1996), Nr. 4, S. 50–52. –
anderen Farmarbeitern, die den Kampf als Seliger, Helfried W.: Das Amerikabild Bertolt
willkommene Abwechslung goutieren, akzep- Brechts. Bonn 1974.
tiert, »denn der Kampf beider wird als Privat- Roland Jost
angelegenheit betrachtet, in die man sich nicht
einmischt« (Seliger, S. 24). Dass diese Privat-
angelegenheit jedoch vor den Augen der an-
deren ›verhandelt‹ wird und diese keine
Anstalten machen, einzugreifen und zu
schlichten, um die fatalen Folgen zu verhin-
Im Dickicht der Städte
dern, sondern geradezu den Kampf einfor-
dern, zeigt das ganze Ausmaß der Kälte und
des Zynismus in den Beziehungen der Men- Entstehung
schen, das lediglich durch das Verhalten Liz-
zies ansatzweise relativiert wird.
Schon B.s Anweisung für die Bühnengestal- Nach dem Abschluss der 3. Fassung des Baal
tung, die den »Ausblick auf die Prärie« (GBA 1, und seit seiner ersten Erkundung von Berlin
S. 331) für alle 16 Szenen festlegt, gibt das im Frühjahr 1920 hatte B. Schwierigkeiten,
Motiv vor, das im Stück sozusagen eingelöst sich literarisch zu orientieren, über die er sich
wird: Das ›Präriemachen‹, herrscht überall, es im Tagebuch am 27. 6. 1920 Rechenschaft ab-
gibt nicht (mehr) den Gegensatz zwischen be- legte: »Mitunter überfällt es mich, daß meine
schaulichem Landleben und existenzbedro- Arbeiten vielleicht zu primitiv und altmodisch
hendem städtischem Dasein, und auch der seien, oder plump und zuwenig kühn. Ich su-
Versuch, eine Liebesbeziehung aufzubauen, ist che herum nach neuen Formen und experi-
dem Gesetz der Prärie unterworfen. B. spitzte mentiere mit meinem Gefühl wie die Jüng-
somit gegenüber der Vorlage das Motiv der sten. Aber dann komme ich doch immer wie-
Kälte und des Kampfes entscheidend zu.
114 Im Dickicht der Städte

der drauf, daß das Wesen der Kunst Einfach- einer Fabel. B. sprach von einem »Kampfstück,
heit, Größe und Empfindung ist und das östlich-westlich, mit einem unterirdischen
Wesen ihrer Form Kühle.« (GBA 26, S. 122) Austrag, Ort: die Hinterwelt« (GBA 26,
Gefahr drohe vor allem »von seiten des S. 237). Im Oktober 1921 arbeitete er konse-
Sprachlichen her, nämlich vor [sic] der Rou- quent an dem Stück und fuhr damit bei seinem
tine, und des sprachlichen Götzendienstes!« Berlin-Aufenthalt von November 1921 bis
(GBA 26, S. 124) Die sprachliche Routine der März 1922 fort, jetzt auch mit der sehr persön-
»verkrusteten Wörter« versperre den Zugang lichen Erfahrung der Kälte der Großstadt. Im
zu den Dingen: »Im Anfang war nicht das März 1922 lag ein erster vollständiger Text von
Wort. Das Wort ist am Ende. Es ist die Leiche Im Dickicht vor, der die Grundlage für weitere
des Dinges.« (GBA 26, S. 158) Dennoch kon- Umarbeitungen bildete. Auf Vermittlung von
statierte er einen »Appetit auf Sätze, die hin- Jakob Geis, des Dramaturgen des Darmstädter
ausgeschleudert werden, auf die verrückten Theaters, wurde die Uraufführung in Mün-
Genüsse des Wortfleischs und die raffinierte chen vereinbart, mit deren Vorbereitung aller-
Andeutung der Bühne« (GBA 26, S. 193). dings erst Anfang 1923 begonnen werden
Im Kontext solcher Überlegungen notierte konnte. Dafür arbeitete B. das Stück mit Erich
er am 4. 9. 1921 im Anschluss an die Lektüre Engel noch einmal gründlich durch und gab
von Rudyard Kipling die »epochale Entdek- den Protagonisten Garga und Shlink genaue-
kung, daß eigentlich noch kein Mensch die res und stärker kontrastierendes Profil (Bron-
große Stadt als Dschungel beschrieben hat. Wo nen, S. 90). Die Premiere fand am 9. 5. 1923 im
sind ihre Helden, ihre Kolonisatoren, ihre Op- Münchner Residenztheater statt (Regie: En-
fer? Die Feindseligkeit der großen Stadt, ihre gel, Bühnenbild: Caspar Neher). Eine weitere
bösartige steinerne Konsistenz, ihre babyloni- Aufführung, wieder mit Engel und Neher, die
sche Sprachverwirrung, kurz: ihre Poesie ist auf die Initiative des Dramaturgen Felix Hol-
noch nicht geschaffen.« (GBA 26, S. 236) Das länder zurückging, folgte am 29. 10. 1924 am
bezeichnet die Initiation des Dickicht-Pro- Deutschen Theater in Berlin. Für den Druck
jekts, obwohl die Bemerkung in der Sache (Berlin: Propyläenverlag 1927) arbeitete B.
nicht zutrifft, denn B. kannte und schätzte Sin- das Stück noch einmal vollständig um. Nach-
clairs Chicagoroman Der Sumpf (The Jungle, dem er zuerst eine Versifizierung in Jamben,
1906) und hatte auf ihn bereits in seiner Re- »in Granit« (Elisabeth Hauptmann zit. nach:
zension einer Don Carlos-Aufführung des Kebir, S. 55), ins Auge gefasst hatte, verkürzte
Augsburger Stadttheaters am 15. 4. 1920 hin- er den Text von 16 auf elf Szenen (vgl. die
gewiesen(GBA 21, S. 59). Schon hier nannte er Synopse in: GBA 1, S. 595), blieb aber bei der
die zentralen Stichwörter für sein poetisches Prosa. Die gedruckte Fassung erhielt den Titel
Verständnis der Großstadtwirklichkeit: Feind- Im Dickicht der Städte. Der Kampf zweier
seligkeit, Härte und Kälte, Grenzen der Männer in der Riesenstadt Chicago. Schau-
sprachlichen Verständigung. Zehn Tage nach spiel. Die Uraufführung dieser Fassung fand
der »epochalen Entdeckung« arbeitete er an am 10. 12. 1927 im Hessischen Landestheater
einem Stück, als dessen Titel er außer Freiheit Darmstadt statt, eine weitere Aufführung, für
auch Hinterwelt oder Dickicht oder Der Wald deren Programmheft B. einen kommentieren-
oder Die Feindseligen oder George Garga er- den Beitrag schrieb (GBA 24, S. 27–29), 1928
wog (GBA 26, S. 237). In Briefen an Marianne in Heidelberg.
Zoff verwendete er den Titel George Garga
oder Das Dickicht (GBA 28, S. 128).
Zuerst entstand »die periphere Szene
›Grünliche Tapetenmansarde‹« (GBA 26,
S. 237; in der Erstfassung: Mankyboddles
Mansarde; GBA 1, S. 389–391). Die Nieder-
schrift erfolgte zunächst ohne Orientierung an
115

Quellen / Anregungen / Mitarbeiter liebt. Aber in diesen Tagen lese ich in Sinclairs
›Sumpf‹ die Geschichte eines Arbeiters, der in
den Schlachthöfen Chicagos zu Tode gehun-
Das Stück ist in besonderer Weise literarisch gert wird. [ … ] Seine Freiheit hat mit Carlos’
inspiriert und ist damit ein Zeugnis für B.s Freiheit nicht das mindeste zu tun, ich weiß
Bemühen, im zeitgenössischen literarischen es: aber ich kann Carlos’ Knechtschaft nicht
Kontext einen eigenen Standpunkt zu gewin- mehr recht ernst nehmen« (GBA 21, S. 59; zu
nen und die Möglichkeiten der Literatur neu B.s kritischer Auseinandersetzung mit Schiller
zu bestimmen. Dabei setzte er sich mit der vgl. Schulz).
literarischen Tradition auseinander, die er zu Bei Sinclair geht es um das Schicksal einer
diesem Zeitpunkt nicht verabschieden, son- litauischen Einwandererfamilie, die im Groß-
dern zeitgemäß erneuern wollte, durchaus mit stadtdschungel von Chicago alle Erniedrigun-
dem Anspruch großer Kunst. In seiner Ab- gen des kapitalistischen Wirtschaftslebens
handlung Bei Durchsicht meiner ersten Stücke erfährt: Ausbeutung, Vergewaltigung, Zwang
von 1953 verwies er, wie bereits 1925 in einer zur Prostitution, Obdachlosigkeit, Gefängnis-
autobiographischen Notiz (GBA 26, S. 282), strafe usw. B. war allerdings zu diesem Zeit-
auf Schillers Die Räuber: »In diesem Stück punkt an den sozialen Bedingungen des mo-
wird um bürgerliches Erbe mit teilweise un- dernen Großstadtlebens, anders als in der Hei-
bürgerlichen Mitteln ein äußerster, wildester, ligen Johanna der Schlachthöfe, in der er
zerreißender Kampf geführt. Es war die Wild- ebenfalls Anregungen Sinclairs verarbeitete,
heit, die mich an diesem Kampf interessierte, nur mittelbar interessiert. Daher wurde für
und da in diesen Jahren (nach 1920) der Sport, ihn ein anderer Chicago-Roman, den er aus-
besonders der Boxsport mir Spaß bereitete, als drücklich erwähnte (GBA 23, S. 243), noch
eine der ›großen mythischen Vergnügungen wichtiger: Das Rad (Hjulet 1905) des däni-
der Riesenstädte von jenseits des großen Tei- schen Schriftstellers Johannes Vilhelm Jen-
ches‹, sollte in meinem neuen Stück ein sen. Hier geht es um den geistigen Kampf
›Kampf an sich‹, ein Kampf ohne andere Ur- zweier ungleicher Männer, des alternden skru-
sache als den Spaß am Kampf, mit keinem pellosen Sektengründers Evanston, genannt
anderen Ziel als der Festlegung des ›besseren Cancer, und des jungen Schriftstellers Lee, der
Mannes‹ ausgefochten werden.« (GBA 23, ein glühender Anhänger Walt Whitmans ist
S. 242) Mindestens so wichtig wie die Räuber- und dessen Verse er ständig zitiert. Evanston
Inszenierung von Oktober 1920 dürfte die will Lee dafür gewinnen, seine Ideologie pro-
Augsburger Aufführung des Don Carlos im pagandistisch zu formulieren, und arbeitet
April 1920 gewesen sein. Das klassisch-ideali- deshalb planvoll und skrupellos an der Ver-
stische Motiv der Gedankenfreiheit, das auch nichtung von dessen Identität, bis hin zur Ver-
Gargas anfängliche Haltung bestimmt, er- breitung eines Mordverdachts. Es kommt zu
klärte B. für unzeitgemäß, zumal da »Freiheit einem tödlichen Kampf, der von Evanstons
beim Schiller immer nur gefordert«, nicht aber Seite auch homoerotisch motiviert ist und in
als Realität gezeigt werde (GBA 21, S. 59). Das dem Lee den Widersacher schließlich in Not-
Schiller’sche Freiheitspathos marginalisierte wehr tötet, um sich anschließend von der
er durch den Hinweis auf Sinclairs Roman Der Dichtung ab- und dem realen Leben zuzuwen-
Sumpf, also durch ein Buch, das die »epochale den. B. übernahm von Jensen wesentliche Ele-
Entdeckung« der Großstadt (Chicago) als mente der Fabel und der Handlungsführung,
Dschungel vorwegnahm (»Aber lest auch gele- allerdings nicht im Sinne einer dramatischen
gentlich Sinclairs Roman ›Der Sumpf‹«; GBA Bearbeitung des Romans, sondern als inter-
21, S. 60). Hier zeige sich, wie fragwürdig die textuellen Horizont.
Idee der Freiheit angesichts der Bedingungen Eine wichtige Rolle für die Konzeption
der modernen Wirklichkeit geworden sei: »Ich spielte die für 1921 bezeugte Lektüre Arthur
habe den Don Carlos, weißgott, je und je ge- Rimbauds. In den Münchner Blättern für die
116 Im Dickicht der Städte

Dichtung und Graphik 1919 waren Texte Rim- Die Anleihen bei Rimbaud wurden von der
bauds in der Übersetzung Adolph Christmanns Kritik sofort bemerkt, da Rimbaud eine Art
erschienen, und 1921 wurde auch die Rim- Kult-Autor der 20er-Jahre war und die Über-
baud-Übertragung K. L. Ammers von 1907 im setzung Ammers weite Verbreitung gefunden
Insel-Verlag neu aufgelegt, zusammen mit ei- hatte. Am 31. 10. 1924 warf Herwarth Walden
nem einleitenden Essay von Stefan Zweig und in der Zeitung Die Republik B. vor, er habe
einer biographischen Darstellung Ammers Rimbaud ohne Zitatnachweis verwendet: der
(Arthur Rimbaud, Leben und Dichtung. Über- erste der sich wiederholenden Plagiatsvor-
tragen v. K. L. Ammer. Leipzig 1921). B. kannte würfe. B. entgegnete am 4. 11. 1924 im Berli-
beide Übersetzungen (vgl. Brown, S. 665– ner Börsen-Courier mit dem Hinweis: »Im
668). Am 4. 10. 1921 notierte er mitten in der Buch [das zu diesem Zeitpunkt noch nicht ge-
Arbeit am Dickicht: »Ich wälze den Rimbaud- druckt ist] sind diese Stellen durch Anfüh-
Band und mache einige Anleihen. Wie glü- rungszeichen als Zitate kenntlich gemacht.
hend dies alles ist! Leuchtendes Papier! Und Die Bühne besitzt anscheinend keine Technik,
er hat Schultern von Erz!« (GBA 26, S. 248) Anführungszeichen auszudrücken. Besäße sie
Die »Anleihen« beziehen sich auf Prosage- eine, so würde sie eine große Anzahl anderer
dichte aus Ein Sommer in der Hölle (Une sai- beliebter Werke für Philologen vielleicht
son en enfer) und Erleuchtungen (Illumina- schmackhafter, für das Publikum aber ziemlich
tions), die Garga zitiert, und sie bestimmen unleidlich machen.« (GBA 21, S. 103) Im Übri-
auch einige Passagen im Rimbaud-Stil, wobei gen werde »das Drama, wenn es überhaupt
die Gestalt Gargas zugleich Züge Rimbauds schreiten sollte, in jedem Fall mit Gelassen-
annimmt, wie Zweig sie in seinem Essay be- heit über die Leichen der Philologen schrei-
schrieben hat: »George Garga gleicht A. Rim- ten« (GBA 21, S. 103; vgl. S. 629). In der Aus-
baud im Aussehen. Er ist im Wesentlichen eine gabe von 1953 sind dann sowohl die Rimbaud-
deutsche Übersetzung aus dem Französischen Zitate wie auch die an Rimbaud angelehnten
ins Amerikanische.« (GBA 1, S. 587) Die Ver- Äußerungen Gargas in Anführungszeichen ge-
fahrensweise der Aneignung hat B. in Bei setzt.
Durchsicht meiner ersten Stücke folgenderma- Zu stilistischen Anregungen verwies B. auf
ßen beschrieben: »Ich stellte Wortmischungen »die Lektüre einer Briefsammlung, deren Ti-
zusammen wie scharfe Getränke, ganze Sze- tel ich vergessen habe; die Briefe hatten einen
nen in sinnlich empfindbaren Wörtern be- kalten, endgültigen Ton, fast den eines Testa-
stimmter Stofflichkeit und Farbe. Kirschkern, ments« (GBA 23, S. 243). Reinhold Grimm hat
Revolver, Hosentasche, Papiergott: Mischun- angenommen, dass es sich dabei um Charlotte
gen von der Art.« (GBA 23, S. 244) Westermanns Knabenbriefe (1908) handelt,
Zu solchen »Mischungen« gehörte auch der von denen ein Exemplar in Brechts Bibliothek
Einbau des Tahiti-Motivs aus Paul Gaugins au- vorhanden ist. Michael Morley hat hingegen
tobiographischem Roman Noa Noa, das auch auf George Horace Lorimers sehr erfolgreiche
in den Tagebüchern der Zeit häufiger er- und auch in Deutschland weit verbreitete Let-
scheint (vgl. GBA 26, S. 156, S. 191), sowie die ters from a Self-Made Merchant to his Son
assoziativen Bezüge zu Kiplings Dschungel- (1902; dt.: Briefe eines Dollarkönigs an seinen
buch und zur taoistischen Lehre des Wu-Wei Sohn; 1905) hingewiesen, auf die Brecht bei
in Alfred Döblins Roman Die drei Sprünge des Überlegungen zu Fragen des Stils am 15. 9.
Wang-lun (1915), einer Lehre des Nicht-Han- 1920 im Tagebuch hinweist(GBA 21, S. 167).
delns und Nicht-Widerstrebens, wie sie für die Erwähnenswert ist schließlich ein bisher
passive Kampfesweise Shlinks bestimmend ist nicht nachprüfbarer Hinweis Hans Otto Mün-
(GBA 21, S. 262; vgl. S. 167). Auch die Ost- sterers auf einen angeblich aus dem Engli-
West-Konstellation des Kampfes zwischen schen übersetzten Kriminalreißer, der in Augs-
Shlink und Garga dürfte auf diese Quellen zu- burg 1919 unter dem Titel Mister Wu oder die
rückgehen. Rache des Chinesen gespielt wurde und den B.
Quellen / Anregungen / Mitarbeiter 117

sich zweimal angesehen habe (Münsterer, Zu Konzeption und Fabel


S. 113 f.). Hier ging es um die »raffinierten Vor-
bereitungen eines reichen Chinesen zur Er-
mordung eines verhaßten Schwiegersohnes, Das Stück ist in einem harten lyrischen
bei dem er allerdings selbst durch einen Zufall Sprachgestus konzipiert, den B. zu Beginn der
ums Leben kommt«. Auf einem Foto von B.s 20er-Jahre kultivierte und der seine Tagebuch-
Mitwirkung als Kleindarsteller in Karl Valen- aufzeichnungen ebenso bestimmte wie die
tins Oktoberfest-Schaubude 1920 hing ein Projekte des Galgei (später Mann ist Mann)
Rollbild mit der Aufschrift »Mister Wu-Wau« und des David, wie seine Seeräuber- und
(Hecht 1978, Abb. 40). Abenteurer-Balladen, seine Psalmen und seine
Der Boxsport als eine der »›großen mythi- frühe Prosa (vor allem Bargan läßt es sein).
schen Vergnügungen [ … ] von jenseits des gro- Für diese Sprachform war die lyrische Prosa
ßen Teiches‹« (GBA 23, S. 242), den B. als (poème en prose) Rimbauds grundsätzlich
Anregung erwähnte, hat ihn erst seit 1925/26 eher Bestätigung als Initiation, auch wenn B.
stärker beschäftigt, dürfte also vor allem für Formulierungen direkt übernahm oder im Stil
die Präzisierungen des Dickichts der Städte des französischen Autors nachbildete. Die Ver-
wichtig geworden sein. fahrensweise ist einigermaßen paradox, denn
Für die sehr genauen Vorstellungen über die der lyrische Stil ist in hohem Maße monolo-
bühnenmäßige Realisierung wurde die Berli- gisch und solipsistisch, was einer dramati-
ner Inszenierung von Shakespeares Othello im schen Kommunikationssituation widerspricht,
Staatlichen Schauspielhaus am Gendarmen- umso mehr, als der Redegestus alle Figuren
markt durch Leopold Jessner wichtig, die eine bestimmt, so dass etwa Repliken Gargas und
neue Art der Beleuchtung verwendete: »Durch Shlinks im Arbeitsprozess ausgetauscht wer-
gekreuzte Scheinwerfer hatte Jessner ein ei- den konnten und damit eine Unterscheidung
gentümlich zerstäubtes Licht auf der Bühne von Spiel und Gegenspiel nicht ohne weiteres
erzeugt, das die Figuren mächtig hervortreten möglich war. Außerdem hat das Sprechen in
ließ: sie bewegten sich im Licht wie die Fi- Lyrismen eine starke Tendenz zum Hermeti-
guren Rembrandts.« (GBA 23, S. 243) schen, so dass Handlungsmotivation und Sach-
Die Mitarbeit Nehers ist durch einen Brief verhalte tendenziell unklar bleiben. Wenn B.
B.s vom Dezember 1921 / Januar 1922 bezeugt mit dem Stück beweisen wollte, »daß Kampf
(GBA 28, S. 148 f.). B. bat den Freund um wei- unmöglich sei wegen der Unzulänglichkeit der
tere Korrekturen und reagierte zugleich mit Sprache« (GBA 26, S. 282), dann demon-
Textergänzungen auf dessen Änderungsvor- strierte er die sprachlichen Defizite in einer
schläge. Er hoffte, wie er im Tagebuch am Äußerungsweise von großer Kraft und lyri-
14. 10. 1921 notierte, auf Dekorationsanregun- scher Kühnheit, die sich von ihrer interperso-
gen, wenigstens zum Material, wie er denn nellen Mitteilungsfunktion weitgehend eman-
von Anfang an präzise Vorstellungen zur Rea- zipierte. Noch stärker als Baal ist das Dickicht
lisierung hatte: »[ … ]die Szenen sollen ganz lyrische Rede, bedingt wohl vor allem durch
leicht, auf provisorischer Bühne, vor Pappdek- die kontrastierende Wirklichkeit der Groß-
keln, auf Wasserfarben spielen, leicht gezim- stadt, deren Sprachlosigkeit so eine poetische
mert!« (GBA 26, S. 253) Änderungen des Tex- Ausdrucksmöglichkeit erhielt. Die dramatur-
tes ergaben sich auch aus der Zusammenarbeit gische Schwierigkeit einer solchen Verfah-
mit Feuchtwanger bei der Vorbereitung der Ur- rensweise bemerkte B., wenn er am 12. 10.
aufführung in München 1923 sowie durch An- 1921 im Tagebuch notierte: »Die Aktion im
regungen Engels bei der Regiearbeit. – Das ›Dickicht‹ kam ins Stocken; es ist zuviel Lite-
Stück ist in seiner Zweitfassung B.s erster ratur drin. Das Gewäsch zweier Literaten.«
Ehefrau Marianne Zoff gewidmet, um die er (S. 251) Das strukturelle Problem des Stücks
mit dem Geschäftsmann Oscar Camillus Recht führte dazu, dass es von Anfang an unverständ-
einen im Tagebuch nachvollziehbaren erbitter- lich wirkte, wobei sich dieser Eindruck trotz
ten Kampf geführt hat.
118 Im Dickicht der Städte

der systematischen Bemühungen um Klärung Szene äußerte B. aber die Befürchtung, dass
und Straffung bis zum Dickicht der Städte be- bei allem Bemühen, »die Verhältnisse mensch-
hauptet und auch in der Folge dazu geführt hat, licher und einfacher« zu gestalten, die Gefahr
dass das Stück als eines der schwierigsten und besteht, dass »vielleicht ein zu geistiger
unverständlichsten in der Produktion des Kampf« entsteht (GBA 26, S. 245).
Stückeschreibers gilt. Seine Fehleinschätzung Während Shlink (»der Malaie«) als ein
als Vorläufer des absurden Theaters ist hier »Selbstmörder« konzipiert und als solcher fol-
begründet. gerichtig »unangreifbar« ist (GBA 26, S. 243),
Der Eindruck der Unverständlichkeit er- ergeben sich für die Figur des Garga größere
weist sich als unberechtigt, wenn man die mit Schwierigkeiten: »Es wäre nötig, Garga zu ei-
guten Grund zahlreichen Äußerungen zum nem Genie zu machen. Denn sonst wird er zu
Selbstklärungsprozess im Tagebuch und zur einem Preiskämpfer. [ … ] Seine Ausdrucks-
Vermittlung in den publizierten Hinweisen zu kraft genügt nicht. Es muß sein Handeln sein.
Stück und Aufführung heranzieht. Schon ein [ … ] Ich gehe eigentlich von der Idee der Fabel
früher Fabelentwurf von 1921 bestimmte die aus. Diese und die Menschen habe ich zuerst.
Gesamtstruktur als einen »Vernichtungs- Die Fabel mache ich, oder besser: sie macht
kampf« (GBA 24, S. 25), der den beiden Geg- sich. / Die schwarze Sucht des Gehirns: sie-
nern die Demonstration »ihrer menschlichen gen.« (S. 249)
Qualitäten« (ebd.) ermöglicht. Dabei operiert Da B. aber an einer Motivierung des Kamp-
Shlink mit einem »geistigen System schein- fes nicht interessiert war, schon gar nicht an
barer Passivität« (ebd.), was Garga dazu einer wie immer gearteten psychologischen
zwingt, in »einem verzweifelten Freiheits- Begründung, und da es unter diesen Umstän-
kampf gegen das um ihn dichter und dichter den ein großes Problem war, die Protagonisten
werdende Dickicht Shlinkscher Intrigen zu überhaupt in einen Kampf zu verwickeln (vgl.
kämpfen« (ebd.), bis er den »realen Boden« GBA 23, S. 243), blieb die Organisation einer
(ebd.) wiedergewinnt und den Sieg erringt, Fabel ein schwieriges Unterfangen. B. ver-
indem er den Kampf abbricht und Shlinks stand die Vorgänge, wie er am 10. 2. 1922
Holzhandel übernimmt. schrieb, als »Gleichnis«, nicht als ein zur Iden-
Das zentrale Motiv war also von Anfang an tifikation einladendes Bild von Wirklichkeit
der Kampf als zwingende Notwendigkeit der (GBA 26, S. 270), so dass der thematische Ge-
Großstadtwirklichkeit. B. bemerkte zugleich, sichtspunkt dem dramaturgischen übergeord-
dass es darauf ankam, den Antagonismus und net war: »Eines ist im ›Dickicht‹: die Stadt.
damit die Kampfpositionen figurenspezifisch Die ihre Wildheit zurückhat, ihre Dunkelheit
zu organisieren und damit in dramatische und ihre Mysterien. Wie Baal der Gesang der
Handlung umzusetzen; so notierte er am 30. 9. Landschaft ist, der Schwanengesang. Hier
1921 im Tagebuch: »Will ich einen Kampf dar- wird eine Mythologie aufgeschnuppert.«
stellen, muß er wohl der zweier Menschen (S. 261) Dabei erwies sich der Großstadt-
werden, nicht der zweier Systeme. Die äuße- Komplex als ein fruchtbares Feld für eine neue
ren Kurven aller Figuren sind dadurch be- Dramatik, die es rechtfertigte, wie er Ende Juli
stimmt: sie haben den Kampf darzustellen. im Tagebuch notierte, sich gegen alles Zögern
Das Schicksal der Figuren bleibt Geschmacks- »der Literatur zu verschreiben«: »Als heroi-
sache. Wieweit die einzelnen ihre Kurven sche Landschaft habe ich die Stadt. Als Ge-
durchblicken, dann: ihnen widerstreben, das sichtspunkt die Relativität. Als Situation den
gibt die persönliche Atmosphäre ab, kurz: das Einzug der Menschheit in die großen Städte zu
Dichterische. Widerstände bilden das Kosmi- Beginn des dritten Jahrtausends, als Inhalt die
sche. Man muß jedem Kämpfer jedmögliche Appetite (zu groß oder zu klein), als Training
Gelegenheit lassen, aber man darf nichts be- des Publikums die sozialen Riesenkämpfe.«
weisen wollen.« (GBA 26, S. 243) (S. 282 f.) In einem Programmzettel für die Ur-
Schon bei der Überarbeitung der zweiten aufführung 1923 (GBA 24, S. 25 f.), dessen
Zu Konzeption und Fabel 119

Stichworte von Zeitungsweibern und Zei- horizont der Figuren des Stücks und ihre Äu-
tungsjungen vor Beginn des Spiels ausge- ßerungsweisen bestimmt, zum Gegenstand
schrien werden, stellte B. das Geschehen als kritischer Reflexion.
dramatische Bearbeitung einer Kriminalhand- Andererseits nahm B. schon 1927 an, dass
lung im Chicagoer Chinesenviertel dar, beru- das Theater sich zunächst »dem wichtigsten
hend auf einem Prozess um die »Aufklärung aller zeitgemäßen Kämpfe, dem Klassen-
des Mordes an der J a n e G a r g a« (S. 25). Die kampf, zu widmen« habe (GBA 24, S. 28), so
Darstellung sei »ziemlich lückenhaft« (ebd.) dass die Darstellung eines »so idealen Kamp-
und konzentriere sich bei »vielleicht zu ro- fes, wie man ihn in dem Stück ›Im Dickicht der
mantischer Ausschmückung« (S. 26) auf ein Städte‹ sehen kann«, vorerst eine Antizipation
paar Gespräche, indem sie »lediglich die wich- sei, die voraussetze, dass die sozialen Kämpfe
tigsten Sätze« (ebd.) wiedergebe, »die hier an »wegorganisiert werden« (ebd.). Als weitere
einem bestimmten Punkt des Globus zu be- Verständnishilfe bot er nun das Modell des
stimmten Minuten der Menschheitsgeschichte Sports an, also einen Kampf ohne Feindschaft,
fielen« (ebd.). Mit einer solchen fiktiven Be- der hier in den Kampfzonen von »Vorstellungs-
gründung knüpfte er offenbar an die Sehge- komplexen« (ebd.) geführt werde. Das »ame-
wohnheiten des Publikums an, indem er sie rikanische Milieu« (S. 29) diene dabei der Ver-
zugleich unterlief und unbefriedigt ließ. fremdung. Chicago stehe für die Großstadt,
Nach der Umarbeitung und stärkeren hand- also auch für Berlin. Der relativ fremde Ort
lungsbezogenen Strukturierung zum Dickicht ermögliche es, »das Augenmerk [ … ] auf die
der Städte kam B. auf dieses Wahrnehmungs- eigenartige Handlungsweise zeitgemäßer gro-
und Vorstellungsmuster noch einmal zurück. ßer Menschentypen lenken zu können« und sie
In einem Beitrag Für das Programmheft zur in einen Gegensatz zu einem in falschen Denk-
Heidelberger Aufführung (GBA 24, S. 27–29) horizonten befangenen »romantischen Publi-
stellte er eine Parallele zur Darstellungsweise kum« zu setzen (S. 29).
von Zeitungs- und Polizeiberichten her. Die Im Vorspruch zum Dickicht der Städte führte
Handlungsweisen und Verbrechen der »Men- B. die Sportmetaphorik weiter aus, indem er
schen unserer Zeit« könnten nicht mehr aus den Gegenstand des Stücks als »unerklärli-
Motiven erklärt werden, schon gar nicht aus chen Ringkampf zweier Menschen« bestimmte
solchen, die der Literatur entlehnt seien. Ge- und als Rezeptionsanweisung formulierte:
nau auf diese zeitgemäße Erfahrung beziehe »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die
sich das Stück, dessen Protagonisten einen Motive dieses Kampfes, sondern beteiligen Sie
neuen »Typus Mensch« bezeichneten, »der ei- sich an den menschlichen Einsätzen, beurtei-
nen Kampf ohne Feindschaft mit bisher uner- len Sie unparteiisch die Kampfform der Geg-
hörten, d. h. noch nicht gestalteten Methoden« ner und lenken Sie ihr Interesse auf das Fi-
(S. 26) führe, wie er in Neu und Alt. Vorrede nish.« (GBA 1, S. 438)
zum Dickicht schrieb. Zur Vermittlung machte Natürlich ist eine auf das zentrale Motiv des
B. zwei Angebote. Zum einen wies er darauf Kampfes konzentrierte Erfassung des Hand-
hin, dass in »dieser Welt und in dieser Drama- lungsverlaufs eine einseitige Hilfskonstruk-
tik [ … ] sich der Philosoph besser zurecht [fin- tion, die aber deutlich macht, dass das schwer
det] als der Psychologe« (S. 27). Nicht sub- zugängliche Stück sehr wohl einem kohären-
jektiv motivierte, sondern objektiv begründete ten Ablauf folgt, wenn auch nicht nach dem
Handlungen, die sich sowohl für die Betei- geläufigen Muster einer unmittelbar nachvoll-
ligten als auch für die Zuschauer den gewohn- ziehbaren Handlungsmotivation. Die Umar-
ten Erklärungsmustern verweigerten, seien beitung des wilderen und anarchischeren, sich
angemessener Gegenstand einer zeitgemäßen dem Orientierungsbedürfnis noch stärker ver-
und wirklichkeitsgerechten Dramatik, die weigernden Dickicht zum Dickicht der Städte,
nicht literarische Muster fortschreibt. Damit das durch genaue Orts-, Datums- und Zeit-
wird aber die Literatur, die den Erfahrungs- angaben zusätzlich strukturiert ist, bewirkte
120 Im Dickicht der Städte

nicht eine Veränderung, sondern nur eine Ver- matisches wie die ›Räuber‹ schreiben [ … ]«
deutlichung und bessere Übersichtlichkeit der (GBA 27, S. 339). Diese retrospektive Histori-
Vorgänge. Der Handlungsverlauf ist also durch sierung wurde mit dem Hinweis präzisiert:
die Phasen eines Kampfes bestimmt, der ange- »Die Dialektik des Stücks ist rein idealisti-
sichts der asiatisch-passiven Kampfesweise scher Art.« (GBA 23, S. 243) Schumacher hat
Shlinks immer wieder aufzuhören scheint und diese Selbstdeutung zur Grundlage der ersten
dennoch vernichtende Konsequenzen hat: Interpretation des Stücks gemacht (Schuma-
Garga erinnert sich an die taoistische Lehre, cher, S. 64–72). Seine ideologisch begründete
»daß die schwachen Wasser es mit ganzen Ge- Kritik, die B.s sehr viel differenziertere Selbst-
birgen aufnehmen« (GBA 1, S. 478), ein Weis- einschätzung simplifizierend vereindeutigt, ist
heitssatz, auf den B. immer wieder, wie z. B. in zwar nicht folgenlos geblieben, hat aber in der
der Legende von der Entstehung des Buches weiteren Diskussion keine wesentliche Rolle
Taoteking auf dem Wege des Laotse in die Emi- gespielt.
gration, hingewiesen hat. Der Vorspruch er- Ein Vergleich der beiden Fassungen des
weist sich mithin als eine praktikable Rezep- Stücks wurde in den Arbeiten von Gisela E.
tionsanweisung: die »menschlichen Einsätze« Bahr (Bahr 1966 und 1984) vorgelegt, die auch
sind wichtiger als die Motive, das »Finish« die Erstfassung zum ersten Mal edierte (Bahr
macht deutlich, dass in der Großstadtwirklich- 1968). Sie konnte nachweisen, dass die schein-
keit selbst der Kampf nahezu unmöglich ist, bar verwirrende Struktur des Stücks in der
obwohl er zu unwiederbringlichen Verlusten Zweitfassung tatsächlich einem klaren Muster
führt. folgt, insofern jeweils zwei Szenen (mit Aus-
nahme der 6. Szene) einander gegenüber ge-
stellt sind, so dass sich eine »bogenförmige
Struktur« (Bahr 1984, S. 84) nachweisen lässt.
Einen weiteren Akzent setzte Bahr, indem sie
Aspekte der Deutung auf die Bedeutung der Frauengestalten ein-
ging, die im Kampf als einer Männersache in
einer Männerwelt zum Opfer bestimmt sind
Das Dickicht der Städte gehörte zu den lange (S. 78). Demgegenüber betonte Wolfgang
Zeit wenig beachteten Stücken B. s. Der Stü- Wittkowski die Selbstständigkeit der Frauen
ckeschreiber selbst notierte am 30. 1. 1941 im als eine »säkularisierte Heiligkeit« (Wittkow-
Journal, dass es ihm, ebenso wie Trommeln in ski, S. 174), die sich in der Fähigkeit beweise,
der Nacht, fremd geworden sei (GBA 26, sich von der Reinheit im konventionellen
S. 462). Bei Gesprächen mit Ernst Schumacher Sinne zu befreien (S. 158).
anlässlich der Vorarbeiten zu dessen Disserta- Im Zeichen einer vorübergehenden Kon-
tion über die frühen Stücke kam es zu einer junktur des absurden Theaters und dessen la-
Einschätzung, die die Überlegungen im Auf- tent soziologischer Begründungsversuche
satz Bei Durchsicht meiner ersten Stücke vor- wurde das Dickicht der Städte als Vorläufer des
bereitete, wenn er am 6. 12. 1952 im Journal absurden Theaters interpretiert. Einer Anre-
schrieb: »Das Stück behandelt die Unmöglich- gung Martin Esslins folgend (Esslin, S. 32), hat
keit des Kampfes, der hier positiv, als Sport Arnold Heidsieck das Stück als »erstes kon-
genommen ist (im Kapitalismus – was nicht sequentes Beispiel moderner absurder Dra-
herauskommt, d. h. was übersehen ist). [ … ] matik einschließlich deren geschichtsphilo-
Das Stück bedeutet einen enormen Fortschritt sophisch-ästhetischer Aporie« interpretiert
in der Dramatik, bei all seinen Schwächen; sie (Heidsieck, S. 64) und dabei die vorgebliche
hatte die idealistische Dialektik Hegels ›nach- Motivlosigkeit des Kampfes als einen grund-
zuholen‹, bevor sie weitergehen konnte. Dabei legenden Widerspruch verstanden, den B.
kannte ich (wie die ganze Dramatik) keine auch bei der Überarbeitung der Erstfassung
Zeile von Hegel. Ich wollte bloß etwas so Dra- nicht habe beseitigen können (S. 57). Eine
Aspekte der Deutung 121

Nähe zum absurden Theater nahm auch Nor- in der Absicht unternimmt, in der Anerken-
bert Mennemeier an (Mennemeier, S. 272). nung durch den Anderen sich selber definiert
Als Beispiel für B.s Amerikanismus wurde zu sehen« (S. 277). Im Anschluss an Menne-
das Stück wiederholt untersucht, wobei schon meier betonte auch Manfred Voigts die Bedeu-
Frederic Ewen darauf hinwies, dass der Ame- tung der Sprachkritik, die »eine starke Ten-
rikanismus ein Mythos der 20er-Jahre war. denz zur Autonomisierung der Kunst« (Voigts,
Helfried W. Seliger hat die zahlreichen Unge- S. 65) aufweise. »Der tradierte bürgerliche
nauigkeiten im Detail aufgelistet, zugleich Humanismus der zugleich sinngebenden als
aber eingeräumt, dass B. den »in Amerikas auch sinndarstellenden Sprache war für Brecht
Großstädten bereits existierenden Dschungel- zerstört« (ebd.).
mensch der Zukunft« wahrgenommen habe Von den zahlreichen intertextuellen Bezie-
(Seliger, S. 44). Als eine mythisierende Dar- hungen ist vor allem die implizite Auseinan-
stellung Chicagos als des Inbegriffs moderner dersetzung mit Schillers Räubern (Menne-
Großstadtwirklichkeit haben auch James K. meier; Voigts) und Don Carlos (Schulz; Hin-
Lyon und Gudrun Tabbert-Jones B.s Vorge- derer) mehrfach untersucht worden. B.s
hensweise gedeutet. In einem weiteren Sinne Gegenentwurf wurde als eine kritische Verab-
zum Amerikanismus des Stücks gehört auch schiedung der Tradition verstanden, insofern
der fragwürdige Nachweis behavioristischer die Handlungsmöglichkeiten des Subjekts
Elemente, lange bevor B. sich mit der Lehre durch die veränderte Wirklichkeit grundsätz-
Watsons auseinander gesetzt hat: die schein- lich aufgehoben werden, wobei die taoistisch
bare Motivlosigkeit des Kampfes lasse sich begründete Verhaltensweise der beiden Pro-
nach den Ausführungen von Hansjürgen Ro- tagonisten eine amerikanisch-asiatische Ver-
senbauer relativieren, wenn man davon aus- fremdung der deutschen und europäischen
gehe, dass Shlink Stimuli verwende, die sich Verhältnisse bezeichne (Hinderer).
auf Gargas sozial begründete Vorstellungs- Einen anderen Komplex der intertextuellen
komplexe beziehen,und auf die dieser dann Bezüge hat H. M. Brown untersucht: die Be-
auf vorhersehbare Weise reagiert, so dass sich deutung der Rimbaud-Zitate. In kritischer
ein Anpassungsprozess und eine Veränderung Auseinandersetzung mit Volker Klotz und und
der Vorstellungskomplexe ergebe (vgl. Voigts, im Anschluss an Bahr 1966 und Dorothy War-
S. 65). tenberg nimmt Brown an, dass B. die Rim-
Das Sprachproblem stellte Mennemeier ins baud-Zitate sehr bewusst eingesetzt habe
Zentrum seiner Interpretation. Weil B. die (Brown, S. 664). Sie bezögen sich auf Rim-
sprachlichen Mittel für erschöpft hielt, de- bauds radikale anarchische und negative Sicht
monstrierte er die Unmöglichkeit eines Dra- des Lebens in seinen Prosagedichten (S. 665).
mas im herkömmlichen Sinne, indem er aus Da B. keine konventionelle Psychologie an-
dem Zerfall der poetischen Sprache eine strebte, musste er andere Wege gehen, um
Meta-Sprache erzeugte (Mennemeier, S. 272). Gargas komplexe Reaktionsweise zu begrün-
Besonders deutlich werde das an Gargas Un- den. Dafür seien die Rimbaud-Zitate ein prak-
fähigkeit, seine subjektivistisch-ästhetische tikables Verfahren. Die Schwierigkeit der In-
Wahrheit auch nur zu artikulieren: Die Kon- terpretation liege darin, dass die Identifizie-
sequenz solcher Stummheit sei Flucht in rung mit Rimbaud zugleich den ersten Schritt
»schon vorgeprägte Literatur« (S. 273), in die zu einer Distanzierung bezeichne, der zum
geschichtlich verbrauchte romantisch-symbo- marxistischen Umschlag führt.
lische Sprache Rimbauds. Auf struktureller
Ebene entspreche dem eine vielfältige inter-
textuelle Verfahrensweise, die durch die
Sport-Metapher neu akzentuiert werde. Die
scheiternde Beziehung Shlink-Garga sei »das
Nichtgelingen des Versuchs [ … ], den ein Ich
122 Im Dickicht der Städte

Analyse verhältnisse angepasst. Als Angestellter in ei-


ner Leihbibliothek ernährt er seine Familie,
die im äußersten Elend lebt, träumt von Tahiti
Die Vorgänge entwickeln sich aus einer Kon- oder von einem einfachen Leben als Holzfäller
stellation, die in der Großstadtwirklichkeit im Süden, ist in seinen Vorstellungen von der
vorgegeben ist. Sie werden ausgelöst durch Literatur bestimmt, die für ihn mehr ist als
eine Provokation des Malaien Shlink, der ein eine Ware, und besteht auf seiner Autonomie:
typischer Großstadtbewohner ist, wie im Ver- »Seit seiner frühesten Kindheit verträgt er es
lauf des Geschehens deutlich wird. Er war in nicht, daß etwas über ihm ist.« (S. 454) Beim
seiner Jugend Rudersklave auf dem Jangtse- Überfall in der Leihbibliothek, dem Beginn
kiang und ist durch die unmenschlichen des Kampfes, zeigt es sich, dass Shlink ihn sich
Arbeits- und Lebensbedingungen fühllos ge- als Gegner ausgesucht hat, weil er dünnhäutig
worden, was die ihn liebende Marie als ist. Es sind Gargas »Vorstellungskomplexe
»Krankheit« erkennt, als er seinen Habitus be- [ … ] von der Familie, von der Ehe oder von
schreibt: »Mein Körper ist wie taub, davon seiner Ehre« (GBA 24, S. 28), die Shlink zu
wird sogar meine Haut betroffen. Die Men- »Kampfzonen« macht, indem er die in der total
schenhaut im natürlichen Zustande ist zu dünn verdinglichten Warenwelt völlig unangemes-
für diese Welt, deshalb sorgt der Mensch da- sene Idee der Gedankenfreiheit durch sein
für, daß sie dicker wird. Die Methode wäre Kampfangebot in Frage stellt und Gargas
unanfechtbar, wenn man das Wachstum stop- (wirtschaftliche) »Plattform« (GBA 1, S. 441),
pen könnte. Ein Stück präpariertes Leder zum die Grundlage für Familie und Ehe, erschüt-
Beispiel bleibt, aber eine Haut wächst, sie wird tert. Gargas Reaktion entspricht seinen Erwar-
dicker und dicker.« (GBA 1, S. 462) Das Motiv tungen: er fährt aus der Haut (S. 446).
der Haut, das in den bisherigen Interpreta- Da Shlink nicht daran interessiert ist, ihn zu
tionen viel zu wenig beachtet wurde, ist ein vernichten, sondern ihn zum Kampf heraus-
Schlüsselmotiv des Stücks, das in der Erst- fordern will, stellt er faire Bedingungen her,
fassung des Dickichts an mehr als 50 Stellen in indem er seinen Holzhandel, die Summe sei-
vielen Variationen durchgespielt wird und ner verdinglichten Existenz (GBA 1, S. 452),
auch im Tagebuch zeitgleich mit der ersten als Einsatz preisgibt, den Garga aber nicht
Phase der Konzeption immer wieder erscheint übernimmt, sondern ruiniert: »Sie haben Prä-
(vgl. z. B. GBA 26, S. 125, S. 141, S. 143, rie gemacht. Ich akzeptiere die Prärie. Sie ha-
S. 157, S. 158, S. 159, S. 166). In der 2. Fassung ben mir die Haut abgezogen aus Liebhaberei.
ist die Zahl der Erwähnungen zwar geringer, Durch eine neue Haut ersetzen Sie nichts.«
die strukturelle Bedeutung des Motivs aber die (S. 448) Er ist jetzt schon zu einer ebensolchen
gleiche. Als Abgehärteter und Dickhäutiger Gemeinheit fähig, wie Shlink sie ihm gegen-
hat Shlink es im Großstadtdschungel Chicagos über praktiziert hat, indem er dem Geistlichen
als Holzhändler zu Erfolg gebracht. Er ist der Heilsarmee, dem er das Haus schenkt –
reich, »hatte nie die Spur eines Herzens [ … ]. Marie nimmt an, dass Shlink es liebt (S. 365) -,
Seine Hand lag dem ganzen Viertel am Hals.« ins Gesicht spucken lässt. In der Erstfassung
(GBA 1, S. 464) Aber er erfährt den Erfolg als versteht Shlink das als den Verkauf seiner
Selbstentfremdung: »Zehn Jahre war es leicht, »Haut an hymnensingende Halsabschneider«
so hinzuleben. Bequem, seßhaft, jede Reibung (S. 406).
war zu überwinden. Jetzt gewöhne ich mich an Überraschend ist Shlinks Reaktion: die to-
die Leichtigkeit und alles ist mir zum Über- tale Unterwürfigkeit, mit der er sich zu Gargas
druß.« (S. 356 f.) Unter diesen Umständen ist »Kreatur« (GBA 1, S. 448) erklärt, nachdem
Garga für ihn eine Provokation und ein Faszi- dieser den Kampf aufgenommen hat, »ohne
nosum. Er ist erst vor vier Jahren mit seiner nach einem Grund zu fragen«: »Für mich ge-
Familie aus der Savanne in die Stadt gekom- nügt es, daß Sie sich für den besseren Mann
men und ist noch nicht an die neuen Lebens- halten.« (Ebd.) So entsteht scheinbar ein
Analyse 123

sportlicher Wettkampf. Tatsächlich aber be- ten. Für ihn war der Kampf eine metaphysi-
setzt Shlink Gargas Feld – »Sie ziehen sich sche Aktion, Suche nach Fühlung durch »die
zurück auf meine Position« (S. 467) –, wäh- Feindschaft« (S. 490). Er gesteht Garga seine
rend er selbst sich aus seiner Sohnesrolle ent- Liebe, aber er sieht auch, dass dessen Gesicht,
fernt, um für den Kampf frei zu sein (S. 456). in dem noch seine Kindheit, die andere Le-
Er schont dabei sogar nicht einmal die Mutter, bensform der Savanne war – die »Ölfelder mit
obwohl er sie ›notwendig braucht‹ (S. 457), dem blauen Raps. Der Iltis in den Schluchten
und treibt die Schwester, die Shlink liebt und und die leichten Wasserschnellen« (ebd.) –,
gerade weil sie ihn liebt, in die Prostitution. verhärtet ist: »Jetzt ist es hart wie Bernstein,
Die Mutter Maë ist fassungslos: »was ist das man findet mitunter Tierleichen in ihm, der
für eine Stadt, was sind das für Menschen!« durchsichtig ist.« (Ebd.) In der Erstfassung
(S. 459) Marie, die sich an die Savanne erin- konstatiert Garga in diesem Zusammenhang:
nert (S. 463) und aus Chicago fortgehen möch- »Ich bin ein Stück gewachsen, jetzt fülle ich
te, muss Gargas Einsicht akzeptieren: »Wir meine Haut aus.« (S. 424) Und so bleibt Shlink
sind im flachen Land aufgewachsen, Ma. Wir nur die Bestätigung der Einsicht, dass die »un-
sind hier auf der Auktion.« (S. 450) Zugleich endliche Vereinzelung des Menschen [ … ] eine
erkennen aber Shlinks Kumpane, dass sich der Feindschaft zum unerreichbaren Ziel« macht,
fühllose, hartherzige und dickhäutige Shlink was Garga bestätigt: »Die Sprache reicht zur
durch eine »Leidenschaft« (S. 464) ruiniert hat. Verständigung nicht aus.« (S. 491) Shlink muss
Auf eine paradoxe Weise kommt jedoch ein resignieren: »Jetzt endet es in Niedrigkeit. Sie
Kampf im eigentlichen Sinne nicht zustande, haben nicht begriffen, was es war. Sie wollten
da einer der Gegner sich immer zurückzieht. mein Ende, aber ich wollte den Kampf. Nicht
Zugleich steigt aber die Zahl der Opfer. Shlink das Körperliche, sondern das Geistige war es.«
ist für Garga wie eine »harte Betelnuß« (GBA (S. 493) Aber der verhärtete Garga, der zum
1, S. 467): seine dicke Haut erweist sich als Großstadtmenschen und zum Dickhäuter ge-
eine Schale, die jedem Gebiss widersteht: »Sie worden ist, lässt sich nicht beschwatzen: »Es
machen einen metaphysischen Kampf und hin- ist nicht wichtig, der Stärkere zu sein, sondern
terlassen eine Fleischerbank.« (Ebd.) Der Geg- der Lebendige« (ebd.), »der jüngere Mann ge-
ner mit seiner »blatternnarbigen Seele« (also winnt die Partie« (S. 492). War er am Anfang
auch im Inneren harthäutig), zwingt ihn wider »ein Idealist, der nicht seine Beine unterschei-
Willen in die Metaphysik (S. 467). Faktisch den konnte« (S. 493), so hat er nun seine Illu-
bedeutet das aber in der Logik der harten Haut sionen aufgegeben: Er geht nicht nach Tahiti,
einen Vernichtungskampf gegen seine Familie: sondern nach New York, in die größere Stadt;
»Ich will sie jetzt alle schlachten.« (S. 471) das Rimbaud-Zitat, mit dem er seinen Auf-
Garga gibt also seine Vorstellung von Familie, bruch beschreibt, wird ironisch-zynisch einge-
Ehe und Ehre auf, er wird vom Savannenbe- setzt. Und er geht allein, lässt die Reste seiner
wohner zum Großstadtmenschen. In der Erst- Familie in Chicago zurück, den Vater und die
fassung erkennt Garga, was das heißt: »Es sind an den widerlichen Manky verkaufte Schwe-
alles Dickhäuter.« (S. 383) ster: »Allein sein ist eine gute Sache. Das
Sobald aber Garga seine Dünnhäutigkeit Chaos ist aufgebraucht. Es war die beste Zeit.«
verliert, ist der Kampf für Shlink sinnlos ge- (S. 497)
worden. Während Garga im Gefängnis sitzt, Die Vorgänge sind also durchaus nicht voll-
wird er wieder, was er schon war, »einer der ständig unmotiviert und unverständlich, schon
Mächtigsten in Chicago« (GBA 1, S. 483), gar nicht absurd, sie sind nur nicht psycho-
muss es dann aber hinnehmen, dass der an die logisch begründet, wie es die herkömmliche
Gesetze der Großstadtwelt angepasste Garga Dramatik verlangte, sondern sie zeigen die
ihn durch seine Denunziation vernichten Selbstentfremdung und Entfremdung der
kann. Er kann nur noch die Möglichkeit er- Großstadtwelt in einem objektiv gewalttätigen
zwingen, die Vorgänge abschließend zu deu- Lernprozess, den der Savannenbewohner
124 Im Dickicht der Städte

Garga durchmachen muss, um zum Großstadt- milie, als Garga ihr erklärt: »Ich weiß, Mutter,
bewohner sozialisiert zu werden. du verstehst es nicht. Wie schwierig es ist,
An Gargas Familie werden die Konsequen- einem Menschen zu schaden, ihn zu vernich-
zen einer solchen Lebensform deutlich, wobei ten, glatt unmöglich. Die Welt ist zu arm. Wir
vor allem die Frauen als Opfer gezeigt werden. müssen uns abarbeiten, Kampfobjekte auf sie
Die Schwester Marie, die ihm durch die ge- zu werfen.« (S. 477) Das wird durch den Geist-
meinsame Kindheit in der Savanne besonders lichen bestätigt, dem Garga Shlinks Haus ge-
nahe steht und die seine Veränderung hellsich- schenkt hat und der vergeblich versucht, sich
tig erkennt und konstatiert, wird von Shlink mit dem Revolver umzubringen, den Garga
schon in der 2. Szene in den Kampf einbe- ihm auch überlassen hat: »Der Mensch ist zu
zogen. Sie bemerkt, dass Garga »unterliegt« haltbar. Das ist sein Hauptfehler. Er kann zu-
(GBA 1, S. 452), dass er »verzweifelt« ist viel mit sich anfangen. Er geht zu schwer ka-
(S. 453), dass er, der »immer ohne Maß ge- putt.« (S. 487) Die Mutter, »der Grundpfeiler
wesen« ist (S. 454), auch gegen sie kämpft. Sie des Haushalts« (S. 485), verlässt die Familie,
erkennt auch, dass Shlink einen »Gegner fin- die damit endgültig liquidiert ist. Sie wird spä-
den« will, weil er an seiner Dickhäutigkeit als ter noch einmal gesichtet: »Sie hatte ein neues
einer »Krankheit« leidet (S. 462). Sie liebt Geschäft angefangen. Ihr altes Gesicht war in
Shlink, der sie zurückweist, weil er eine Ver- guter Ordnung.« (Ebd.) Die Frauen erleiden
ständigung durch die Liebe nicht für möglich also in Prostitution und Vereinzelung, was die
hält. Garga nutzt auch das aus: »Liebe ihn! Das Männer zu ihrer vermeintlichen Selbstbe-
schwächt ihn!« (S. 465). Shlink macht ihm hauptung im Großstadtdschungel für unver-
klar, dass er die »Objekte« seiner »Neigungen« meidlich halten.
ins »Leichenhaus« bringen muss (S. 468). Es Die »unendliche Vereinzelung des Men-
kommt zu einer Art Versteigerung, die Marie schen« wird im Dickicht der Städte in besonde-
nicht erträgt, so dass sie sich Shlink, den sie rer Weise als ein Problem der »Entzweiung der
liebt, verweigert und die Werbung des von Sprache« thematisiert: »Die Sprache reicht zur
Anfang an verabscheuten Manky annimmt Verständigung nicht aus« (GBA 1, S. 491). B.
(S. 470). Shlink benennt die Konsequenz: »Sie hatte die »babylonische Sprachverwirrung«
haben ihr die Augen geöffnet darüber, daß sie (als ein wesentliches Moment der »Poesie« der
in alle Ewigkeit ein Objekt ist unter den Män- großen Stadt verstanden (GBA 26, S. 236). Das
nern!« (S. 471). Mit ›beflecktem Leib‹ (S. 472) hat aber paradoxerweise dazu geführt, dass
kehrt sie zu Shlink zurück, gibt sich ihm in sich die Sprache verselbstständigt hatte, so
einem Akt der Verzweiflung als Opfer hin, ver- dass die Aktion im Verlauf der Arbeit ins Stok-
langt aber dafür Geld und hat so den Weg in ken geriet. Mit gutem Grund ist Garga ja Ange-
die Prostitution als eine Lebensform der Frau stellter in einer Leihbibliothek. Er wirft mit
in der Großstadt gefunden, wie zuvor schon Zitaten, mit fremder Sprache, vor allem mit
Gargas Verlobte Jane, die Städtebewohnerin, Sätzen Rimbauds um sich, wobei sich der Ges-
die er in einer Art Vergewaltigung nur vorüber- tus des Zitierens von der Identifikation zur
gehend dem Zuhälter Pavian abjagen kann distanzierten Ironisierung verändert. Stückin-
(S. 471). An Gargas Stelle ist Marie am Ende tern wird das Problem einer Kommunikation,
die Zeugin von Shlinks Selbstmord und die nicht Verständigung sein kann, ausgerech-
schützt sein Gesicht vor den Lynchern net von dem geschwätzigen Vater thematisiert:
(S. 495), bevor sie in der Schlussszene von »Ja, in zwei Minuten wäre alles verschwiegen,
Garga endgültig an den verabscheuten Manky was es zu sagen gibt.« (GBA 1, S. 480) Zu
verkauft wird (S. 496 f.). diesem leeren Automatismus der Sprache hat
Opfer des Kampfes ist auch die von Garga B. notiert: »Die Gemeinheit der Menschen
geliebte Mutter, die vom Lebenskampf ver- läßt sich in ihrer Sprache nicht beschreiben.«
braucht ist und doch noch »so viele Zeit« zu (Bahr 1968, S. 128) Aber wenn die Sprache
leben hat (GBA 1, S. 457). Sie verlässt die Fa- auch nur begrenzt zum Dialog taugt, weil das
Analyse 125

im Grunde monologische Sprechen nur punk- nicht unbedingt ein negativer Befund bezeich-
tuelle Korrespondenzen aufweist, die sich in net.
einer eingeschränkten Wahrnehmung des je-
weils anderen zudem noch ständig verschie-
ben, und wenn so eine Kommunikation nur
eingeschränkt und eine Verständigung über- Wirkung
haupt nicht möglich ist, so wird die Mittei-
lungsfunktion der Sprache doch keineswegs
aufgehoben. Sie sagt im Gegenteil sehr viel Die Reaktionen auf die ersten Aufführungen
über die Wirklichkeit der entfremdeten, ver- sowohl des Dickichts wie des Dickichts der
dinglichten und menschenfeindlichen Groß- Städte waren durchgängig von dem Eindruck
stadtwelt und über die Isolierung und Ein- des Unverständlichen bestimmt, der besten-
samkeit der Menschen, die sich völlig fremd falls zu Ratlosigkeit, in der Regel aber zu ag-
sind, obwohl oder gerade weil sie zur größten gressiver Polemik führte. Die Münchner Ur-
physischen Nähe zusammengepfercht sind. aufführung war zudem noch kurz vor dem Hit-
Das Stück ist in seiner extrem monologischen lerputsch ein Anlass für antisemitische Hetze.
Fraktur außerordentlich lyrisch, doch ist diese Der Kritiker des Völkischen Beobachters Josef
Lyrik, die ›Poesie‹ der Großstadt, nicht mehr, Stolzing, der sich außerstande erklärte, auch
wie im Baal, subjektiver Ausdruck. Es ist des- nur eine Inhaltsangabe zu liefern, sah in der
halb konsequent, dass die ins Extrem gestei- Inszenierung eine Referenz an die Münchner
gerte Kommunikationslosigkeit außerordent- ›Judengemeinde‹: »Im Theater roch es nach
lich beredt ist und vielfach den Gestus des Foetor judaicus« (Wyss, S. 20). Prompt wurde
(Literatur-) Zitats annimmt. Daher ist es ver- dann eine der Aufführungen durch eine von
kehrt, die Sprachverwirrung in die Nähe von Nazis geworfene Stinkbombe gestört. Thomas
Hofmannsthals Sprachskepsis im Sinne des Mann, der in seinem 3. Brief aus Deutschland
Chandos-Briefs zu bringen (Voigts, S. 65). München als die »Stadt Hitlers« bezeichnet, in
Nicht die Sprache selbst wird in Frage gestellt, der der »literarisch-kritizistische Geist euro-
sondern ihre kommunikative Funktion in ei- päischer Demokratie, der in Deutschland vor-
ner Welt der Entfremdung. B. hat hier den nehmlich durch das Judentum vertreten
äußerst anspruchsvollen Versuch unternom- wird«, niemals Heimatrecht erworben habe,
men, die verdinglichende Macht der Wirklich- ironisierte den Vorgang: der »volkstümliche
keit buchstäblich zur Sprache zu bringen, Konservatismus war auf seinem Posten gewe-
Selbstentfremdung und totale Vereinsamung sen. Er duldet keine bolschewistische Kunst«
zu artikulieren. Die Wirklichkeit selbst wird und wehrte sich mit Gestank (Mann, S. 290).
also thematisch, indem sie jede zielgerichtete Aus einer Kritik Siegfried Jacobsohns in der
Interaktion verhindert. In diesem Sinne ist die Weltbühne geht hervor, dass der ›Vorspruch‹
sehr viel beredtere und zugleich handlungs- der Zweitfassung bei dieser Aufführung in ei-
losere Erstfassung mit ihren reichhaltigen ner variierenden Version »durch einen Schall-
Sprechetüden sogar noch konsequenter als die trichter« eingespielt wurde.
straffer organisierte Zweitfassung, die auf die Das Stück wurde Gegenstand einer erbitter-
Erfahrung der Unverständlichkeit beim Publi- ten Kontroverse zwischen den Starkritikern
kum reagiert und deshalb die Handlung deutli- der 20er-Jahre von Herbert Ihering und Alfred
cher akzentuiert. Auf diese Weise gewinnt B. Kerr. Kerr hatte 1924 erklärt: »Ich halte mich
einen neuen Gegenstandsbereich, der vorerst nicht für verpflichtet, über Derartiges eine
rein phänomenologisch zur Wahrnehmung ge- ›Kritik‹ zu verfassen [ … ]. Schluß der Höflich-
bracht wird, ähnlich wie in der Lyriksamm- keiten: es handelt sich hier um wertlosen
lung Lesebuch für Städtebewohner. Auch wenn Kram. Bums ohne Inhalt.« (Kerr) Während
man ihm folgt und die Verfahrensweise als auch Thomas Mann, wie die meisten Kritiker,
idealistische Dialektik bezeichnet, ist damit im Dickicht einen (bedauerlichen) Rückfall
126 Im Dickicht der Städte

hinter die dramatischen Qualitäten von Trom- S. 27) Und so kam dann auch zu Lebzeiten B.s
meln in der Nacht sah, die Anlass zu Hoff- nur noch eine einzige professionelle Auffüh-
nungen auf B.s Talent für das Theater geweckt rung in Gotha 1928 zustande.
hatten, ergriff Ihering entschieden Partei für Erst 1960 wurde das Stück am Züricher
B. und für das Stück, das er als »eine der Schauspielhaus, das während der Nazizeit die
kühnsten dichterischen Visionen« verstand wichtigste Bühne für die Uraufführung B.scher
und dessen sprachliche Suggestionskraft er Stücke gewesen war, unter der Regie von Kurt
rühmte (Ihering 1958, S. 312). Er wiederholte Hirschfeld wieder aufgeführt. Die Inszenie-
diese Einschätzung anlässlich der Berliner rung wurde als erster Schritt zur Wiederent-
Aufführung von 1924, deren im Unterschied zu deckung des jungen vormarxistischen B. ver-
München erstklassige Besetzung die Qualitä- standen und war vor allem durch das Spiel
ten des Stücks erst voll zur Geltung brachte. Es Ernst Ginsbergs (Shlink) und Ernst Schröders
sei bestimmt von dem »Anfangsgefühl« einer (Garga) ein Erfolg. Allerdings sprach Elisa-
neuen Zeit und »in der Stofferfindung, ein beth Brock-Sulzer zugleich von einem, »kano-
Wurf unerhört« (Ihering 1959, S. 57–58). Al- nisch gesprochen, verfehlten Drama«: »Ein gu-
lerdings sei eine größere Klarheit gegenüber tes Stück ist dieses Im Dickicht der Städte aus
der Münchner Fassung mit einem Verlust der dem Jahre 1923 nicht, wenn es überhaupt ein
sprachlichen und der lyrischen Elemente ver- Stück genannt werden darf. Aber ein starkes
bunden, was insofern problematisch sei, als Werk.« (Brock-Sulzer) Anders Hans Heinz
»Brechts stärkste Suggestion von seiner Spra- Holz, der zwar die Ratlosigkeit des Publikums
che ausgeht« (S. 59). Andere Kritiker rühmten konstatierte, aber zugleich feststellte: »Selten
diese Aufführung vor allem wegen Fritz Kort- hat man so wie in dieser Inszenierung gespürt,
ners Spiel als Shlink, ohne jedoch ihr nega- daß B. das A und O des modernen Theaters
tives Urteil über das unverständliche Stück zu ist«. Er sah im Stück eine »subtile Umkehrung
relativieren. des Verhältnisses von Herr und Knecht durch
Ihering machte dann 1927 im Vergleich von die nackte Ausübung der Macht«, die Garga
Dickicht und Dickicht der Städte eine Gewinn- zum Repräsentanten einer neuen Generation
und Verlustrechnung auf: »Das neue Dickicht, macht.
das Dickicht der Städte, hat an Farbe und At- Große Resonanz fand auch eine Inszenie-
mosphäre verloren. Es hat an Übersichtlich- rung des New Yorker Living Theatre unter der
keit und Konzentration gewonnen.« Damit sei Regie von Judith Malina, die 1962 als Gast-
es aber ein »Übergangswerk« geworden, »hin- spiel an den Düsseldorfer Kammerspielen zu
weisend auf große Städte- und Industrieschau- sehen war. Sie zeigte den Prozess der zerstöre-
spiele, langsam die Sinnlosigkeit in der rein rischen Vereinzelung in einer rhythmisierten
ästhetischen Wertung aufdeckend und ein an- und durch Jazz-Elemente gegliederten Kör-
deres Urteil herausfordernd als ›gut oder persprache von großer theatralischer Wir-
schlecht‹« (Ihering 1959, S. 264 f.). kung.
Es war bei diesem Rezeptionsklima nicht Auf körperliche Aktion hin hat dann auch
verwunderlich, dass die Uraufführung des Peter Stein das Stück 1968 in einer stark be-
Dickichts der Städte nur an einer Provinz- achteten und sehr erfolgreichen Aufführung
bühne, dem Hessischen Landestheater in der Münchner Kammerspiele inszeniert. Er
Darmstadt, möglich war (Premiere am 10. 12. legte einen Mischtext zugrunde, indem er Pas-
1927). Im Programmheft zur Wiederauffüh- sagen aus der gerade von Bahr neu edierten
rung in Heidelberg 1928 hat B. angemerkt, Erstfassung übernahm, obwohl er nicht vom
dass der Besuch des Stücks sich als so schwie- Dialogtext, sondern vom körpersprachlichen
rig herausgestellt habe, »daß nur die mutig- Potenzial der Aktion her inszenierte. Ganz be-
sten Theater sich daran wagten. Tatsächlich ist wusst ging er von der Unmöglichkeit einer
eine völlige Ablehnung des Stückes durch das zeitgerechten Aktualisierung aus und präsen-
Publikum nichts Unbegreifliches.« (GBA 24, tierte deshalb die Vorgänge als reines Theater.
Wirkung 127

Mit dieser Inszenierung wurde das Stück trotz hatte ein hohes artistisches Niveau. Rolf Mi-
der weiterwirkenden Irritation als ein bedeu- chaelis konstatierte deshalb, dass »das als
tender Beitrag zur modernen Dramatik akzep- ›Brecht-Museum‹ gescholtene ›Berliner En-
tiert. Repräsentativ ist das Urteil Urs Jennys: semble‹ [ … ] den Anschluß ans moderne Welt-
»Ungeheuer dieses Formats gibt es nicht viele. theater wiedergefunden« habe. Ruth Berghaus
Brechts Im Dickicht der Städte wiegt leicht sei »eine der stärksten Regiebegabungen nicht
und gern das Lebenswerk einiger braver Dra- nur der DDR, sondern überhaupt des deutsch-
matiker auf [ … ]. Ja, man fragt sich fast, ob sprachigen Theaters«. Das »wilde Stück« sei
Brecht ganz gehalten habe, was seine Anfänge »eine Herausforderung, in Ost und West«, sein
versprachen«. Wahrheitsgehalt verbiete ein »kulinarisches
Auch Joachim Kaiser würdigte das Werk als Abschmecken schöner Poesie«. Als bedenklich
»Brechts modernstes – was nicht unbedingt wurde, wie auch in verschiedenen anderen
auch heißen muss: sein bedeutendstes – Kritiken, die völlige Aussparung der homoero-
Stück«, indem er darauf hinwies, dass es tischen Beziehung zwischen Shlink und Garga
»ganze Szenerien des absurden Theaters« vor- kritisiert. Die DDR-Presse reagierte auf die
wegnimmt (Kaiser 1968). Anlässlich einer Aufführung mit Befremden und Distanz.
Aufführung der Münchner Studiobühne hatte Als gänzlich verfehlt wurde die Frankfurter
er 1963 noch von einem »seltsamen, aufregen- Inszenierung von Klaus Michael Grüber (1973)
den, wilden, unreifen und genialischen Stück« von der Kritik wahrgenommen. Sie war ein
gesprochen (Kaiser 1963). Jetzt überzeugte ihn erstes Beispiel für die in der Folgezeit bestim-
die »radikale Zivilisations- und Großstadtkri- mende Diktatur des entfesselten Regietheaters
tik«. Wolfgang Drews kritisierte hingegen an über den Text, der »nur noch die Gleitschiene
Steins Inszenierung, dass der »Lärm der Auf- für Grübers Produkt« ist (Rühle). »Brecht
führung« »die Magie der Dichtung übertönt« schwierigstes Stück« entziehe sich hier völlig
und die »Macht des Wortes« nicht zur Geltung den Wahrnehmungsmöglichkeiten des Publi-
brachte. kums. Deutlich sei nur noch das homoeroti-
1971 wurde das Dickicht der Städte von Ruth sche Motiv in der Form eines »Oratoriums der
Berghaus am Berliner Ensemble inszeniert, traurigen Einsamkeit«. Mit »hilfloser Erbitte-
ausdrücklich mit der Absicht, die Aufarbeitung rung« konstatierte Kaiser eine »Kampfansage
des jungen B. nicht dem Westen zu überlassen. gegen einen Text und ein Premierenpubli-
Zur Rechtfertigung des Vorhabens wurde auf kum«. Nicht der Text, sondern die Inszenie-
den Spielplankontext hingewiesen, der mit rung produziere Unverständlichkeit: »Grübers
Dickicht, Heiliger Johanna der Schlachthöfe, Sinnverweigerung schlägt um in Unsinn.
Mutter, Tage der Kommune und Turandot eine Seine Kommunikationsverweigerung in Tor-
Entwicklungslinie im dramatischen Schaffen heit, seine passive Resistenz in Nichtdrama-
B.s verdeutliche. Im Programmheft wurde das tik« (Kaiser 1973). – Die recht zahlreichen In-
Stück als »Gleichnis für alle Kämpfe innerhalb szenierungen der 80er und 90er-Jahre haben
der kapitalistischen Gesellschaft, die nicht di- für das Stück keine neuen Gesichtspunkte
rekt gegen diese Gesellschaft geführt werden«, entwickelt.
gedeutet, als Hinweis auf »die Degradation des
Menschlichen in der spätbürgerlichen Gesell-
schaft.« Zusätzlich wurde festgehalten: »Wir Literatur:
begegnen dem Stück kritisch.« Der heutige Bahr, Gisela Elise: Im Dickicht der Städte: Ein Bei-
Theaterbesucher sehe B.s Stück »mit Erkennt- trag zur Bestimmung von Bertolt Brechts drama-
nissen und Erfahrungen der neuen gesell- tischem Frühstil. New York 1966 [Masch.]. – Dies.
(Hg.): Bertolt Brecht. Im Dickicht der Städte. Erst-
schaftlichen Wirklichkeit«. Zwischen den Ak-
fassung und Materialien. Frankfurt a. M. 1968. –
ten wurden auf Vorhänge Informationen über Dies.: »Und niemals wird eine Verständigung sein«.
antihumane Vorgänge in der gegenwärtigen Im Dickicht der Städte. In: Hinderer, S. 67–88. –
westlichen Welt projiziert. Die Aufführung Brock-Sulzer, Elsabeth: Brecht am Scheideweg. In:
128 Im Dickicht der Städte

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Quotations in Brecht’s Im Dickicht der Städte. In: Albee’s The Zoo Story. - Mankowe, Hanspeter:
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Quelle 129

beiden großen Systemen Karthagos und Roms


Hannibal zerrieben wird, spielte Grabbe auf die Restau-
rationsepoche an (vgl. Kutzmutz, S. 167): Die
neuen Zeiten lassen keine Helden mehr zu,
Das zwischen August und Oktober 1922 erar- der große Einzelne formt nicht mehr die Ge-
beitete, auf 18 Szenen in fünf Akten geplante schichte, sondern ist Spielball ökonomischer
und Fragment gebliebene Stück Hannibal ist und egoistischer Interessen vieler anderer. Ei-
in der Gesamtheit des Materials erst in der nen Rest an Heroismus bewahrt sich Hannibal
GBA allgemein zugänglich (GBA 10, S. 239– im Freitod, und dennoch erscheint auch im
270; Kommentar ebd., S. 1057–1069), nach- pathetisch monumentalen Schluss das Heldi-
dem zu Lebzeiten B.s lediglich die erste Szene sche gebrochen: Der inszenierte Selbstmord
im Berliner Börsen-Courier veröffentlicht Hannibals spielt sich am Hof des lächerlichen
wurde. B. wollte das Stück Grabbes 1922 in- Königs Prusias ab, der Hannibal an die Römer
szenieren, wohl auch aus der Absicht heraus, verraten hat, sich nun beim Anblick des Toten
dem im Zusammenhang mit der Dolchstoß- an selbst geschriebene Tragödien erinnert und
Legende nach 1918 auffällig häufig gespielten dafür von seinen Gefolgsleuten bejubelt wird.
Stück eine Fassung zu geben, die sich gegen Das »Hoch Prusias, größter aller Könige!«
die Auffassung richten könnte, die ›Helden‹ (Grabbe, S. 154) ist der ernüchternde Schluss-
des deutschen Heeres seien 1918 nur durch satz des Stücks. An dem Widerspruch der
den ›unheldischen‹ Verrat der Heimatfront um Grabbeschen Konzeption, über den Nieder-
den durchaus (noch) möglich gewesenen Sieg gang des heldischen Individuums fatalistisch
betrogen worden. Obwohl diese Inszenierung zu trauern und ihn zugleich als historisch un-
nicht stattfand, belegen eine Aufstellung von ausweichlich zu prognostizieren, konnte B. an-
B.s Arbeitsvorhaben vom Juli 1924, in der setzen und die für ihn grundlegenden Fragen
Hannibal angeführt ist (vgl. GBA 26, S. 279), nach Individualität sowie (historischer) Größe
und ein Aufsatz von 1926 mit dem Titel We- des Einzelnen durchspielen.
niger Gips (GBA 21, S. 184–187), dass er das B.s Material setzt sich aus dem Stückplan A
Interesse am Stoff nicht völlig aufgegeben 1 (GBA 10, S. 239 f.), einer Sammlung von Ar-
hatte. Mit diesem Aufsatz reagierte Brecht auf beits- bzw. Gedankenskizzen A 2 bis A 5
die Inszenierung des Grabbe-Stücks durch (S. 240–242), zwei Vorstufen der ersten Szene
Leopold Jessner (18. 10. 1925 im Staatstheater B 1 und B 2 (S. 243–247) und der eigentlichen
Berlin) spöttelnd: »Es ist harmlos. Es ist Welt- Szenenfolge B 3 bis B 16 (S. 247–270) zusam-
anschauung als Kunstgewerbe, und es ist nicht men; die Szenen B 14 bis B 16 bleiben dabei
monumental.« (S. 186) außerhalb der Chronologie und sind in ihrer
Grabbes Hannibal umfasst 28 Szenen in fünf Bruchstückhaftigkeit schwer einzuordnen. Die
Teilen und ist mit 86 Rollenträgern sowie einer Szenenfolge B 3 bis B 13 zeigt Hannibal in
Reihe von Straßen- und Schlachtenszenen mo- seinen (militärischen) Aktionen, Gesprächen
numental angelegt. Die Vermeidung traditio- und Reflexionen. Sie umfassen in mehreren
neller Versform, das Ineinandergreifen von sa- Stationen die Zeit vom Zug über die Alpen bis
tirischen, tragischen und utopischen Hand- zu seinem Tod (B 13). Dazwischen eingestreut
lungssträngen (vgl. Nieschmidt 1982, S. 25), spielen eine Szene in Karthago (B 4) und zwei
weisen ebenso in die Richtung des offenen in Rom (B 7 und B 10). Das gesamte Material
Dramas wie eine relative Selbstständigkeit der dokumentiert, dass B., trotz einiger wörtlicher
einzelnen Szenen (vgl. Schneilin, S. 211). Übernahmen sowie der Gliederung in fünf
Schon in der Exposition wird sichtbar, dass Teile, über seine Vorstellungen zur Konzeption
Karthago aus Eigeninteresse (vgl. Kutzmutz, und zum Handeln der Figur des Hannibal zu
S. 157) seinen großen Feldherrn hat fallen las- einer Neufassung des Stoffs gelangte. So erin-
sen. Mit dem vorbestimmten Untergang des nert sich der Theaterregisseur Bernhard
heroischen Individuums, das zwischen den Reich, dass B. ihm mitgeteilt habe, an einer
130 Hannibal

eigenen Hannibal-Konzeption zu arbeiten, da Himmeln« und damit »Nirgends« (GBA 10,


Grabbe zwar den Handelsgeist der Karthager S. 244) ist. Er glaubt nicht an Karthago und
und deren Schuld an der Niederlage Hannibals »wagt nicht das Lebendige zu zerstören« (ebd).
zeige, aber dabei nicht deutlich werden lasse, Mit diesen Befindlichkeiten, Bedürfnissen
»daß die Patrizier sich mehr Profit von einer bzw. Defiziten geht das von Hannibal verant-
Niederlage als von einem Sieg versprechen« wortete, in allen (Kriegs-)Szenen sichtbare
(Reich, S. 283). In A 2 (vgl. GBA 10, 240 f.) Elend der Soldaten, die für ihn nur ›Material‹
formulierte B. weitere Leitgedanken: Erstens sind, einher. Die ›animalische‹, vor Brutalitä-
müsse das Geschichtsbild über Hannibal revi- ten nicht zurückschreckende Kreatur Hannibal
diert werden, zweitens habe dieser für seinen findet in der Natur, die zumeist als bedroh-
Staat gekämpft, »dessen führender Rasse er liche Landschaft in Sumpf, Eis oder glühender
wahrscheinlich nicht einmal angehörte« Sonne von den Figuren beschrieben wird, ihr
(S. 240), und drittens habe Hannibal sein Le- Pendant. Solchermaßen ist das kreatürliche
ben zwischen Schlachten, Erfindungen und Dasein Spiegel der sozialen Realität des un-
Vertragsentwürfen »auf irgendeine Art unter- heroischen Berufssöldners. Auch die Skizzie-
bringen [müssen] wie Rockefeller das seine rung der zweiten Hauptrolle, die B. in Gestalt
zwischen den Ölgeschäften« (S. 241). Zudem des Elefanten Moti geplant hat, stützt dies:
sei Hannibal »ein Soldat mit einiger Weisheit »Ein Schnapssäufer, Trunkenbold, Wüstling,
der Urvölker« (ebd., A3), der »ein Gefühl für Meuterer. Ein Onanist!!! Hannibals täglicher
das Kosmische, Witterung für Wind und Men- Umgang!« (S. 1057)
schengerüche« (ebd.) in sich trage. So verdeut- Die zu Karthago ausgeführte Szene (B 4)
lichen schon die Gedankenskizzen, wie massiv zeigt eine wichtige Voraussetzung für Hanni-
B. die Figur Hannibals gegenüber der Vorlage bals Scheitern: In der öffentlichen Debatte um
veränderte: Hannibal sollte einerseits die öf- den von Hannibal geforderten Nachschub
fentlich agierende, historisch verbürgte Figur stöhnen alle auf, da dies Kosten bedeutet. Als
sein, eingespannt in bestimmte politische eine Stimme aus dem Volk den Kostenfaktor
Konstellationen, andererseits eine Größe, in »Mannschaften« in »Menschenleben« (GBA
der sich Objektives und Subjektives mitein- 10, S. 249) konkretisiert, schlägt das Stöhnen
ander verknüpfen. Es galt, aus den sozialen in Beifall um – sein Leben für das Vaterland
Determinationen heraus – Hannibal ist Be- einzusetzen und zu opfern, gilt eben als höch-
rufssoldat, der nur dieses Handwerk be- ste Tugend. In der verfremdenden Doppelung
herrscht, das auch ihn beherrscht – die Wider- des Bezeichneten, die sozusagen Ökonomie
sprüche zwischen ›Arbeit‹ und ›Privatheit‹, und Ideologie einander gegenüberstellt, offen-
zwischen rationaler Funktionalität »als ein bart sich der Zustand der ›Krämergesell-
vollkommener Handwerker« (ebd.,A2) und schaft‹, für die der Verlust von 30 000 Men-
emotionalem, blindem Handeln – »verbiß sich schenleben (vgl. S. 250) ein Faktor innerhalb
in seinen Gegner und hörte auf als Privat- der Kosten-Nutzen-Rechnung darstellt, denn:
soldat« (S. 240 f.) – ins Zentrum der Handlung »die Gruben Sardiniens wiegen zehnmal al-
zu setzen. Anders als bei Grabbe treten die les auf« (ebd.). Die (einzige) im Unterschied
›einfachen‹ Soldaten nicht nur als Hinter- zu Grabbe sozial motivierte Gegenstimme
grundfiguren auf, sondern man sieht die Inter- aus dem Volk wird gewaltsam unterdrückt:
aktionen zwischen ihnen und ihrem Feldherrn Das entgegengeschleuderte »Volksverhetzer«
(vgl. auch Nieschmidt 1982, S. 35), dem sie (ebd.) und »Nieder mit den Vaterlandslosen«
einerseits blind folgen, gegen den sie aber (S. 251) ist eine Anspielung auf die mit den
auch zunehmend murren und meutern. Hinzu gleichen Begriffen titulierten Kriegsgegner in
kommt, dass Hannibal schon im ersten Ent- Deutschland vor bzw. während des ersten
wurf der ersten Szene (B 1) entgegen Grabbes Weltkriegs (SPD, Rosa Luxemburg, Karl Lieb-
Konzeption als Zauderer und Entwurzelter ge- knecht), in dem es auch um die ökonomische
zeichnet wird, dessen Heimat »unter allen Vorherrschaft in Europa sowie um Kolonien
Unheldisches 131

und damit Bodenschätze gegangen ist. Damit mit dem Material und den Massen, erkennt
wird schon in der zweiten Szene das Agieren jedoch deren Bedeutung und ›Weisheit‹ nicht.
Hannibals von B. in die Zuspitzung der sozia- Während die anderen im Verlaufe der wei-
len Gegensätze und in das Prinzip des ›Klas- teren Szenen immer deutlicher die Sinnlosig-
senkampfes‹ eingebettet. Der Übergang von keit dieses Kriegs formulieren, stoßen sie bei
der Händlermentalität in die »reine Opfer- und Hannibal auf taube Ohren, denn der Krieg ist
Todesbereitschaft« (Porrmann, S. 155) und der »die Existenzweise Hannibals« (Porrmann,
daraus resultierende monumentale Untergang S. 155). Magos und Mattans schonungslose
Karthagos aus Grabbes Drama waren daher für Denunziation seiner Kriegsführung, »wir sie-
B. nicht denkbar, wie auch die Betitelung gen uns zu Tod« (GBA 10, S. 251) und »Siege
zweier weiterer Szenen zu Karthago aus dem wie Mückenstiche« (S. 258) kann Hannibal
Stückplan mit »Der Markt von Karthago« (GBA nicht nachvollziehen. Seine zu spät kommende
10, S. 239,S. 240) belegt: Die Realität des Ge- Reflexion in der vorletzten Szene (B 12): »Ich
schäftemachens sollte das ›Wahrzeichen‹ Kar- glaube nicht, daß es Karthago gibt. Ich fürchte,
thagos im Stück bleiben. Die bei Grabbe an- Karthago das bin ich und auch die Armee, die
gelegte »Schicksalsgemeinschaft von Held und zur Verteidigung Karthagos notwendig ist, bin
Volk« (Nieschmidt 1979, S 14) im gemeinsa- ich [ … ]« (S. 266), ist eine hyperbolische
men Untergang von Hannibal und Karthago Gleichsetzung des einzelnen mit dem Staat
(entgegen der Realgeschichte), die gerade den und zugleich das ironische Eingeständnis des
Anknüpfungspunkt nationalistischer Grabbe- eigenen Anachronismus. Der als Konsequenz
Rezeptionen nach 1918 abgab, wurde damit daraus vollzogene Rückzug in die Anonymität
von B. unterminiert. bei den Schiffsziehern, den Geschundenen des
Der zweite Gegenspieler Hannibals ist eigenen Volkes, misslingt, da diese nicht bereit
Roms Fabius (B7 und B10), der nüchtern-ge- sind, die sozialen Grenzen zu den Herrschen-
schickte Zauderer, »der Zeit hat« (GBA 10, den aufzuheben. Hannibal spielt die Zugehö-
S. 239) und gerade deshalb Hannibal überle- rigkeit zum Volk, macht sozusagen Illusions-
gen ist: Fabius analysiert Hannibals Kriegs- theater und wird deswegen von den Schiffs-
taktik und Verhalten als leicht durchschaubar ziehern in die ›Wirklichkeit‹ der völligen
und entlarvt ihn als vom Gefühl und einsamen Einsamkeit und Bedeutungslosigkeit entlas-
individuellen Entscheidungen Geleiteten, der sen.
noch nichts von der Bedeutung des Prinzips So bleibt auch sein Selbstmord unheroisch:
›Masse‹ begriffen hat: »Es ist Wind mit ihm, Im Unterschied zu Grabbe ist Hannibal ein
ein einzelner Mann, hier sitzen sie zu Klum- einsamer, im »Turm« (GBA 10, S. 267 f.) Ge-
pen geballt, das gibt einmal den Ausschlag, die fangener. Gleichwohl bewahrt er sich ange-
Welt ist für die Klumpen [ … ]« (S. 262). Fabius sichts der herannahenden Mörder mit dem
reflektiert hier B.s Auffassung von der moder- Suizid einen Rest an Identität und thematisiert
nen Massengesellschaft und vor allem die ein letztes Mal seine kreatürliche Vergänglich-
Erfahrung des Massenvernichtungskriegs keit, der trotz allen Angstgefühls (vgl. Nie-
1914/18, die jeden heroischen Gestus des schmidt 1979, S. 19) zu einer heiteren Stim-
›großen‹ Einzelnen anachronistisch erschei- mung findet: »Aber es ist ein komisches Ge-
nen lassen. fühl heute / [ … ] jetzt es [sic] handelt sich
So ist Hannibals Scheitern, wie in der For- darum, den Augenblick / Auszunützen und /
schung formuliert worden ist (vgl. Porrmann), [ … ] das Leben zu genießen / Auch mit einem
auch ein Ergebnis des Prozesses der sozialen Auge / Einen heiteren Eindruck zu machen«
Entfremdung von seinen Soldaten und Offizie- (S. 268).
ren, die schon in der ersten Szene des Stücks Schließlich räsoniert Hannibal in einem dia-
erkennbar wird und sich steigert. Hannibal ist logisch angelegten Selbstgespräch über seine
zwar einer ›von unten‹, hält mit seinen Moti- Beziehung zum einzigen noch verbliebenen
vationskünsten das Heer zusammen und agiert Freund, dem Elefanten Moti. Diesem ›Sub-
132 Hannibal

jekt‹ fühlt er sich verbunden, er ist sozusagen schen Erbes. Detmold 1979. – Ders.: »Fechte der
Teil seiner Selbst, und dieser ist Teil von ihm: Satan, wo Kaufleute rechnen!« Zur dramatischen Ex-
position in Grabbes Hannibal und ihrer Neufassung
»wir verstanden unsre Sprache, ich die deine,
in Brechts Hannibal-Fragment. In: Grabbe-Jb. 1
du die meine« (S. 269). In dieser unheroischen (1982), S. 25–41. – Ders.: Weniger Gips: Zum
Sprache der ›einfachen Kreatürlichkeit‹ ist der Schlußakt in Brechts Hannibal-Fragment. In: Mo-
Schlusspunkt eines Prozesses angezeigt, in dern Language Notes 89 (1974), S. 849–861. – Porr-
dem Hannibal erkennt, dass sein Dasein als mann, Maria: Abschluß: Die »umgewendete« Han-
»Privatsoldat« die realen (Macht-)Verhältnisse nibal-Rezeption. Brechts Fragment Hannibal nach
Grabbe. In: Dies.: Grabbe – Dichter für das Vater-
›übersehen‹ hat.
land. Die Geschichtsdramen auf deutschen Bühnen
Dem Tatmenschen aus Grabbes Tragödie im 19. und 20. Jahrhundert. Lemgo 1982, S. 147–
stellte B. einen Krieger gegenüber, der etwa 162. – Reich, Bernhard: Im Wettlauf mit der Zeit.
auf die Frage Hannibals, ob er das belagerte Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten deutscher Thea-
Rom nicht stürmen wolle, entgegnet: »Hast du tergeschichte. Berlin/DDR 1970. – Schneilin, Gé-
jetzt nicht nachts ein Gefühl für das Lebende« rard: Brecht et Grabbe: réflexions sur le fragment
Hannibal. In: Bertolt Brecht. Colloque franco-alle-
(S. 260). Indem er solchen Empfindungen
mand tenu en Sorbonne (15–19 novembre 1988).
freien Lauf lässt, ›erlebt‹ er die Widersprüche Bern [u. a.] 1990, S. 203–216. – Völker, Klaus: Ber-
seines Verhaltens und kann sie im Unterschied tolt Brecht. Eine Biographie. München 1976.
zu Grabbes Figur auf der Bühne auch benen-
Roland Jost
nen: »Zuerst war ich wie ein Wirbelwind, aber
dann überlebte ich mich oftmals [ … ]« (S. 270;
B 15).
So pflegten in der traditionellen bürgerli-
chen Tragödie Helden nicht in der Welt zu Leben Eduards des Zweiten
agieren oder sie zu verlassen. Demontage des
einzelnen als (historischem) Heroen und die von England
Befragung der sozialen Zusammenhänge und
Beziehungen sowie der ›kreatürlichen‹ Bedin-
gungen und Empfindungen dieses einzelnen, Entstehung
wie es schon Baal demonstrierte, wurden in
Hannibal zum ersten Mal an einem histori-
schen Stoff erprobt. Hierin wies das Fragment Im Rahmen seines Vertrags als Dramaturg und
schon auf Leben Eduards des Zweiten von Eng- Regisseur mit den Münchener Kammerspielen
land voraus und war damit auch Teil der Ex- vom Oktober 1922 hatte B. die Verpflichtung
perimente des Stückeschreibers für seine Kon- übernommen, Shakespeares Macbeth zu insze-
zeption des epischen Theaters. nieren. Da er sich für Shakespeare noch nicht
reif genug sah, suchte er nach einem Ersatz.
Lion Feuchtwanger, der während seiner Arbeit
Literatur: an Jud Süß (1922) auf Christopher Marlowes
The Troublesome Raigne and Lamentable
Ehrlich, Lothar: Brechts Hannibal-Fragment. In:
Death of Edward the Second, King of England,
Wissenschaftliche Zeitschrift der pädagogischen
Hochschule Erfurt/Mühlhausen 9 (1972), H. 2, S. 63– with the Tragical Fall of Proud Mortimer
70. – Ders.: Zur Tradition des epischen Theaters. (1592) aufmerksam geworden war, schlug B.
Brecht und Grabbe. In: WB. 24 (1978), H. 2, S. 148– vor, dieses Stück eines Zeitgenossen Shake-
160. – Grabbe, Christian Dietrich: Hannibal. End- speares zu nehmen. Ihn habe dort das ›Sich-
gültige Fassung. In: Ders.: Werke und Briefe. Hist.- Fallen-Lassen‹ der Helden beeindruckt, das er
krit. Gesamtausgabe in sechs Bänden. Dritter Band.
auch bei Jud Süß vorfinde, was B. offenbar
Emsdetten 1961, S. 83–154. – Kutzmutz, Olaf: Han-
nibal. In: Ders.: Grabbe. Klassiker ex negativo. Bie- überzeugte (vgl. Jeske/Zahn, S. 101). Da
lefeld 1995, S. 155–173. – Nieschmidt, Hans-Wer- Feuchtwanger zugleich im respektlosen Um-
ner: Brecht und Grabbe. Rezeption eines dramati- gang mit der Historie geübt war und überdies
Entstehung 133

im Gegensatz zu B. vorzüglich Englisch be- (nicht im Nachlass B.s). Mit dem Eduard rea-
herrschte, vereinbarten beide eine gemein- lisierte B. erstmals konsequent die dann für
same Bearbeitung des Stücks von Marlowe, ihn typisch werdende Produktionsweise, den
die »nötig« wurde, weil, wie B. in einer Notiz endgültigen Text erst während der Proben fer-
von Ende Juli 1925 rückblickend festhielt, er tig zu stellen: »Der nervöse Regisseur Brecht
den Marlowe machen wollte »und er [der Mar- setzte dem ›theaterfremden‹ Dramatiker
lowesche Text] nicht ausreichte« (GBA 26, Brecht so lange zu, bis der schließlich mit Ach
S. 282). Die Bearbeitung begann offenbar un- und Krach eine vernünftige Variante zusam-
verzüglich, wurde aber immer wieder durch menkritzelte.« (Ebd.)
andere Projekte B.s unterbrochen. Im Februar 1924 kam es zwischen den Au-
Im August 1923 mahnte der Cheflektor des toren zu einer Kontroverse darüber, ob und
Kiepenheuer Verlags Hermann Kasack neben wie Feuchtwangers Name als Mitverfasser ge-
der Hauspostille auch den Text des Stücks, der nannt werden sollte. B., der offenbar allein
noch nicht fertig war, für den vereinbarten zeichnen und Feuchtwangers Mitarbeit ledig-
Druck an. Im September ging die Arbeit mit lich auf der zweiten Buchseite erwähnen
Feuchtwanger weiter, wurde aber trotz der be- wollte (vgl. GBA 28, S. 209), schaltete Herbert
ginnenden Vorproben nicht abgeschlossen. Am Ihering als Vermittler ein, der, wie ein Dankes-
17. 10. 1923 bat B. Herbert Ihering im Berliner brief B.s an diesen dokumentiert, einen Kom-
Börsen-Courier eine Notiz zu veröffentlichen, promiss zustande brachte. B.s Name erschien
dass er »seit längerer Zeit zusammen mit Lion allein auf dem Titelblatt, auf der zweiten
Feuchtwanger an einer Neudichtung von Mar- Buchseite folgte der Satz: »Dieses Stück
lowes ›Eduard II.‹ arbeite« (GBA 28, S. 202). schrieb ich zusammen mit Lion Feuchtwanger
Mitte/Ende Oktober schrieb B. an Alexander / Bertolt Brecht« (GBA 2, S. 8; vgl. GBA 28,
Granach, doch dafür zu sorgen, dass der Mar- S. 210). Carl Zuckmayer, der Zeuge der Zu-
lowesche Edward am Schauspielertheater sammenarbeit war, berichtet, dass B. sich zwar
Heinrich Georges in München nicht gebracht in vieler Hinsicht von Feuchtwanger anregen
werde, »laßt den armen ›Edward‹ mir über« und beraten ließ, jedoch »die Formung, die
(S. 203): »Das Lyrische ist großartig, aber das sprachliche Gestalt, das Atmosphärische, die
andere ist sehr alt und das werdet Ihr bald Dialoge« (Zuckmayer, S. 378) seien allein von
merken« (ebd.), eine Bitte, die viel zu spät B. gekommen: »da war er der absolute Souve-
kam: die Inszenierung hatte am 2.11. Premiere rän« (ebd.). Marta Feuchtwanger dagegen er-
(Regie: Karl-Heinz Martin). Eine Fassung innert sich an eine intensive gemeinsame Ar-
(nicht im Nachlass B.s) muss im Dezember beit beider Autoren: »da haben sie so gewisser-
1923 vorgelegen haben, da der Dramaturg des maßen Rollen gespielt und sich gegenseitig die
Staatlichen Schauspielhauses Berlin Heinz Worte zugerufen« (M. Feuchtwanger, S. 113).
Liepmann am 5. 1. 1924 einen Brief an B. Feuchtwangers Verzicht auf Namensnennung
schrieb, in dem er das Stück lobte und es für begründet sie damit: »Er selber war ja schon
eine Inszenierung an seinem Haus annahm etabliert, darum hat er dem Brecht das ganz
(BBA 463/67 f.). Mitte Februar 1924 wurde allein gelassen.« (S. 108)
zwar mit den eigentlichen Proben begonnen, Ein Vorabdruck der ersten zwölf, vom späte-
während der, und zwar ohne Feuchtwanger, B. ren Druck abweichenden Szenen, von Rein-
noch zahlreiche Textänderungen vornahm; hold Grimm als »1. Fassung« bezeichnet
noch »in der letzten Probe wurden ganze Pa- (Grimm, S. 233), erschien im Februar 1924 in
pierrollen von neuen Texten den probierenden der Zeitschrift Der neue Merkur (München).
Schauspielern auf die Bühne gereicht« (Reich, Der Text ist abgedruckt bei Grimm (S. 109–
S. 261). So schloss B. die Spielfassung erst 148). Einen Vergleich dieser Fassung mit Mar-
unmittelbar vor der Premiere am 19.3. ab. lowes Original hat Ulrich Weisstein vorgelegt.
Ende Januar hatte er noch eine weitere Fas- Die erste Buchausgabe kam im Sommer 1924
sung für den Druck an den Verlag geschickt bei Kiepenheuer in Potsdam heraus; sie bildet
die Textgrundlage in der GBA.
134 Leben Eduards des Zweiten von England

Zeitgeschichtlich steht die Bearbeitung der Königshaus stammt; sie haben einen gemein-
»Historie« (GBA 2, S. 7) im Zusammenhang samen jungen Sohn, den späteren König Edu-
einer beginnenden Diskussion in Deutschland ard III. Dem König als ›Getreue‹ zugeordnet
über die Frage, »wie historische Vorgänge, wie sind die aus dem Volk stammenden, in der
historische Größe auf der Bühne noch abbild- Balladenverkäufer-Szene als Opportunisten
bar seien« (Rühle, S. 556). Diese Diskussion eingeführten (S. 14 f.), Spencer und Baldock –
war eine Reaktion auf die Erfahrungen des bei Marlowe Bedienstete aus dem niederen
ersten Weltkriegs und führte zu »Distanz, Des- Adel –, die von Gaveston ›eingestellt‹ werden.
illusionierung der historischen Figur, Ent- Während Spencer seinem Herrn treu zur Seite
spannung des Szenengefüges« (ebd.), wie es steht, verrät Baldock diesen, um sein Leben zu
Günther Rühle für Max Reinhardts Inszenie- retten; als »Erster« tritt Baldock nochmals in
rung von George Bernard Shaws Inszenierung der Straßenszene vor Westminster am ›elften
der Heiligen Johanna konstatierte (Premiere: Feber‹ auf; nach der Regieanweisung gehört er
14. 10. 1924). Da B.s und Feuchtwangers Bear- nun zum »Gesindel« (S. 78). Das Haupt der
beitung zeitlich vor der Epoche machenden Gegenpartei ist zunächst der Erzbischof von
Inszenierung Reinhardts liegt, die dafür Westminster, den dann Mortimer ablöst. Ih-
sorgte, dass Historien dieser Art in der zwei- nen zugeordnet sind die Peers, die Vertreter
ten Hälfte der 20er-Jahre die Bühnen domi- des Hochadels, deren ›Sprecher‹ Lancaster
nierten, kann im Eduard, zumal das Stück ist, sowie der Erzabt von Coventry; als deren
nicht unbeachtet blieb und 1924 in Berlin, Untergebener agiert der Dienstmann James,
1925 in Köln, 1927 in Hamburg, 1928 in Leip- der Gaveston bewacht und schließlich um-
zig weitere Inszenierungen folgten, die Initial- bringt.
zündung zu diesem neuen Theatertrend ge- Gaveston, bei Marlowe ein feudaler Empor-
sehen werden. Überdies reagierten B. und kömmling, bei B. »eines schlichten Fleisch-
Feuchtwanger mit dem Stück, dessen Insze- hauers Sohn« (GBA 2, S. 12), ist der Geliebte
nierung Roda-Roda eine ›kinogemäße‹ Ein- Eduards. B. verschärft mit Gavestons niederer
richtung bescheinigte (Hecht, S. 169), auf die Herkunft den Standesunterschied beider
Mode der historischen Ausstattungsfilme, nachdrücklich und hat mit ihr zugleich eine
welche die UFA ab 1919 in die Kinos brachte, Metapher für die späteren Schlächtereien. Ga-
so die Kolossalfilme Madame Dubarry (1919; veston ist durch seinen frühen Tod in erster
Regie: Erich Lubitsch) über die französische Linie der Handlungsauslöser und spielt da-
Revolution oder Anna Boleyn (1920; Regie: durch nur im ersten Teil, bis zur Schlacht von
Lubitsch) über das Liebesleben Heinrichs Killingworth (S. 41), eine gewisse Rolle.
VIII., Filme, die auch im Ausland zu großen Hinzu kommt der Bruder des Königs, Kent,
Publikumserfolgen wurden. der zunächst zwischen den Fronten steht, den-
noch aber Eduards Festhalten an Gaveston
scharf kritisiert.
Die Konstellation ändert sich nach der Er-
Figurenkonstellation mordung der Peers (außer Mortimer) und des
Erzbischofs von Winchester (GBA 2, S. 44),
dessen Nachfolger der Erzabt von Coventry
Im Zentrum des Stücks stehen die Gegenspie- wird. Kent ist schon vor der Schlacht von Kil-
ler König Eduard und der Vertreter des Hoch- lingworth zu den Peers übergelaufen, Anna
adels, Lord Mortimer, der allerdings als und Mortimer verbünden sich jetzt, um Rache
›Bücherwurm‹, »abgekehrt / In klassischen an Eduard zu nehmen. Die Rolle Lancasters
Schriften« (GBA 2, S. 16), sich nur widerstre- übernimmt der Adlige Rice ap Howell (erster
bend in die politischen Händel hineinziehen Auftritt S. 52). Als niedere Schergen Morti-
lässt. Eduard ist verheiratet mit Anna, bei mers kommen Berkeley, als erster Bewacher
Marlowe Isabella, die aus dem französischen Eduards, und nach dessen Ermordung durch
Figurenkonstellation 135

die Gurneys, diese als dessen zweite Bewacher tige Hinrichtung aufschieben, übergibt aber
sowie schließlich der Mörder Eduards, Light- den Gefangenen an James mit dem Auftrag,
born, hinzu. ihn zum Schindanger zu führen. Königin
Anna, die das Schlachtfeld aufsucht, trifft Ja-
mes, der Gaveston zum Kalkbruch schleppt
und sie von seinem Auftrag unterrichtet. Als
Inhalt bei B. sie im Lager Eduards eintrifft, berichtet sie
diesem, Gaveston sei zum Schindanger ge-
führt worden, was Eduard als dessen Tod in-
Am 14. 12. 1307, bei Regierungsantritt terpretiert, worauf er Rache schwört und ein
Eduards, kehrt Gaveston, vom König gerufen, Friedensangebot der Peers zum Schein an-
aus der irischen Verbannung nach London zu- nimmt. Dadurch gelingt es ihm, sich der Peers
rück, in die ihn Eduards Vater und die Peers im Kalkbruch von Killingworth zu bemächti-
geschickt haben. Obwohl die Peers und der gen, was James als Zeichen dafür nimmt, Ga-
Erzbischof Eduard warnen und einen Bürger- veston endgültig sein Grab schaufeln zu las-
krieg prophezeien, besteht dieser stur darauf: sen. Eduard begnadigt seinen Bruder Kent und
»Ich will Gaveston haben.« (GBA 2, S. 11) Als lässt Mortimer als lebendigen Zeugen für
Gaveston erscheint, überhäuft ihn der König seine Rache laufen. Der Erzbischof und die
mit hohen Ämtern und sieht höhnisch zu, wie Peers werden hingerichtet, nachdem ihr Heer
Gaveston den Erzabt aus Rache mit »Spülicht« in einer großen Schlacht vernichtet worden
(»Gossenwasser«; S. 13) balbiert. Eduard ver- ist.
bannt diesen und setzt Gaveston in dessen Amt Mortimer verbündet sich mit Anna und geht
ein. mit ihr nach Schottland. Eduard bleibt bei sei-
In den Jahren 1307–1312 herrscht in Eng- nen Truppen, während der Krieg vier Jahre
land Misswirtschaft aufgrund der Vernachläs- andauert, bis die Soldaten, als die eigentlichen
sigung des Herrscheramts, welche die Lieb- Opfer, auf ihre Heimkehr drängen. Der Um-
schaft nach sich zieht und die durch das Volk schlag erfolgt durch die Schlacht von Harwich
mit Liedern verspottet wird. Die Peers können am 23. 9. 1324, als Anna (und Mortimer) mit
den mächtigen Lord Mortimer überreden, Ga- den schottischen Truppen in England landen
vestons Ausweisung am 9. 5. 1311 vor dem Par- und die des Königs, der längst eingesehen hat,
lament zu vertreten. Anna hält trotz der Tat- dass es ein Fehler war, Mortimer laufen zu
sache, dass sie »verwitwet« ist (GBA 2, S. 18), lassen, besiegen. Eduard muss fliehen, wird
noch zu Eduard und weist Mortimers Antrag, aber von Baldock, der in Mortimers Hände
ihr ›rohes Fleisch zu benetzen‹ (S. 19), ab. gefallen ist, in der Mehlkammer der Abtei von
Währenddessen schreibt Gaveston, der eine Neath am 19.10. verraten und gefangen ge-
Niederlage Eduards im Parlament und damit nommen. Nachdem der neue Erzbischof von
seinen Tod befürchtet, sein Testament. Ob- Winchester vergeblich versucht hat, Eduard
wohl Eduard im Parlament den Sinn der von zum Verzicht auf die Krone zu bewegen, muss
Mortimer vorgetragenen Troja-Erzählung er- Rice ap Howell, der bisher Eduard auf
kennt, beharrt er weiterhin auf Gaveston, wo- menschliche Weise bewacht hat, diesen nach
durch es zum Bürgerkrieg kommt, der 13 Jahre Mortimers Weisung dem ›grausamen‹ Berke-
andauert. ley übergeben (vgl. GBA 2, S. 63).
Die Schlacht von Killingworth am 15. und Mortimer hat wider besseres Wissen das
16. 8. 1320 geht zunächst für die Peers günstig Gerücht verbreitet, der König habe der Krone
aus; sie können Gaveston gefangen nehmen entsagt. Kent, der von Rice ap Howell das Ge-
und den wichtigen Vorposten Boroughbrigde genteil versichert erhält, will sich selbst bei
besetzen. Eduard bittet die Lords, seinen Ge- Berkeley von der Wahrheit überzeugen, was
liebten nochmals sehen zu dürfen. Mortimer Mortimer seinerseits veranlasst, Berkeley er-
lässt darauf zwar die schon beschlossene sofor- morden zu lassen und Eduard dem Schergen-
136 Leben Eduards des Zweiten von England

paar Gurney auszuliefern, die ihm »England Teil auch bis auf die Stunde genau angegeben
zeigen« sollen, »einem Mann / Der es zu wenig sind, halten sich fast ausschließlich nicht an
kannte« (GBA 2, S. 65), das heißt, ihn durch die Tatsachen, weichen im Gegenteil eklatant
das Land zu schleifen »wie ein Kalb« (S. 70), von ihnen ab. So erfolgte die Ermordung des
um damit zu verhindern, dass er als Zeuge historischen Eduard nicht am ›11. Feber 1326‹
angerufen werden kann. Kent hat seinen Bru- (vgl. GBA 2, S. 78), sondern am 21. 9. 1327,
der bei Berkeley nicht gefunden, trifft aber entsprechend seines Sohnes Inthronisation
Eduard mit seinen Schergen auf einer Land- ebenfalls 1327. Die Schlacht bei Killingworth
straße und wird von diesen mit Gewalt abge- von 1320 ist B.s freie Erfindung; zwar über-
halten, Eduard zu befragen. nahm B. den Namen von Marlowe (»Schloß
Kent, der mit den Peers, vertreten durch Killingworth«, wo Eduard gefangen gehalten
Rice ap Howell, Mortimer wegen des ver- wird; Marlowe, S. 93), setzte ihn aber spre-
schwundenen Königs bedrängt (3. 12. 1325), chend ein, um einen passenden Namen für das
wird, nachdem Mortimer seinen Kopf gefor- Gemetzel zu haben (›tötenswert‹). Auch fast
dert hat, von Anna des Landes verwiesen. Eine alle weiteren Daten sind fiktiv und verweisen
Parlamentssitzung, die auf den 11. 2. 1326 an- ebenso wenig auf Historisches, wie auch die
gesetzt ist, soll die Abdankung Eduards be- Umbenennung der historischen Königin Isa-
stätigen. Mortimer beauftragt die Gurneys, bella in Anna, ein Lieblingsname B.s, dafür
Eduard so lange zu bearbeiten, bis er auf jede kennzeichnend ist, dass B. sich bewusst nicht
Frage nur noch »Ja« sagt: »Ihr ätzt es ihm ein.« an die leicht eruierbaren Fakten halten wollte.
(GBA 2, S. 77) Nachdem er brav jede Frage mit Damit rückt das Stück schon mit den Titeln
»Ja« beantwortet hat, balbieren sie Eduard mit weit weg, ein ›Historienstück‹ zu sein. Die
Spülicht. Als dieser zu Mortimer (vor der Par- Suggestion von Authentizität gehört mit zum
lamentssitzung) gebracht wird, weigert er sich Spiel, das den Untertitel »Historie« scheinbar
dennoch, seine Abdankung zu bestätigen, wor- einlöst, ihn in Wirklichkeit aber dadurch un-
auf Mortimer beschließt, ihn ermorden zu las- terläuft, dass es historische Genauigkeit nur
sen. Mit einer zweideutigen Nachricht schickt vortäuscht. Wie der Untertitel wirklich zu le-
er Lightborn in den Tower, wo Eduard von den sen ist, erläutert sein Gebrauch im Stück. Anna
Gurneys in der Kloake gehalten wird. Diese stellt bei der Nachricht von Berkeleys Beseiti-
verstehen die Nachricht als Mordauftrag und gung fest, es gäbe »zu viel / Historie zwischen
lassen Lightborn gewähren. Der junge Edu- den Wänden von / Westminster« (GBA 2,
ard, nach dem Tod seines Vaters König ge- S. 65). Der Sinn ergibt sich aus dem Kontext:
worden, hat sich kundig gemacht, verurteilt es wird zuviel (und überflüssig) gemordet. Die
Mortimer als Mörder seines Vaters zum Tod historischen Daten werden nicht durch ›Poli-
und schickt seine Mutter wegen ihrer Mittä- tik‹, sondern durch die Schlächtereien und
terschaft in den Tower. ihre Opfer markiert; entsprechend interessie-
ren die Figuren nicht in ihrem Bezug zu den
historischen Personen, sie stellen vielmehr
moritatenhafte Zitate aus dem Kuriositäten-
»Historie« kabinett der Schauergeschichten dar.
Auch die Zeit verliert ihren Charakter, hi-
storische Abläufe anzuzeigen, und ist durchaus
Die Handlung erstreckt sich im Gegensatz zu nicht »die Triebkraft der Geschichte« (Canaris,
Marlowe, der das historische Geschehen S. 104). B. setzte sie vielmehr als Zeichen-
(1307–1327) auf etwa ein Jahr zusammen- system ein. Das zeigt sich besonders deutlich
drängte, in B.s Eduard über einen Zeitraum an der eigentümlichen Heraushebung des
von fast 20 Jahren, nämlich vom 14. 12. 1307 ›Donnerstag‹, des »9. Mai 1311« (GBA 2,
bis zum 11. 2. 1326. Die ›historischen‹ Daten, S. 21). Gaveston schreibt sein Testament »an
die in vielen Szenentiteln auf den Tag und zum gewöhnlichem Donnerstag« (S. 20), also an ei-
»Historie« 137

nem Tag, an dem er sich selbst schon aufgege- seinen inneren Zustand, dem äußerlich sein
ben hat. In der Parlamentssitzung am gleichen Soldatenleben entspricht, zurückzuführen; am
Tag – und bezeichnenderweise nennt der Titel Ende trotzt er Mortimer mit erneuter Kraft,
erst hier das Datum – wird Eduard gleich zwei- die er aus dem Boden Londons zieht (vgl. GBA
mal aufgefordert, Gavestons Ausweisung des- 2, S. 80), um schließlich in den Abwässern des
halb zu unterschreiben, weil »’s ist Donners- Towers seine Gliedmaßen zu härten. Hinzu
tag« (S. 24, S. 25), als ob ein ursächlicher Zu- kommt ein bezeichnender Widerspruch in den
sammenhang zwischen dem Testament und Angaben: Die Dauer der Misswirtschaft ist mit
der Unterschrift bestünde und diese durch die den Jahreszahlen 1307–1312 angegeben; der
Identität des Tages zwingend vorgeschrieben später folgende verhängnisvolle Donnerstag
wäre. Rückblickend erhält der Donnerstag je- aber ist der 9. 5. 1311, auf den dann die 13
doch entscheidende Bedeutung, wird aus dem Jahre Krieg folgen. Da auch die »1. Fassung«
gewöhnlichen Tag ein ungewöhnlicher. Wäh- diesen Widerspruch aufweist und er in allen
rend Gaveston sein Testament schreibt, fällt Drucken erhalten ist, kann er kein Zufall sein,
Eduard gleichzeitig seine Entscheidung zu woraus folgert: Nicht die zeitliche Abfolge ist
dessen ›Gunsten‹, was jedoch völlig sinnlos maßgeblich, sondern das zeitliche Ineinander,
geworden ist, weil Gaveston sich und seine die zeitliche Bezogenheit der Ereignisse, was
Liebe gerade aufgibt (»Daß jener Eduard, der inhaltlich zugleich bedeutet, dass Misswirt-
jetzt König ist / Nicht von mir abließ«; S. 20). schaft und Krieg keine qualitativ anderen ge-
Dass Eduard, trotz der zweimaligen Mahnung, sellschaftlichen Verhältnisse, sondern vor al-
nicht erkennt, was er auslösen und verlieren lem für die leidende Bevölkerung, deren Opfer
wird, hebt der Text in der Gleichzeitigkeit der B. verstärkt herausgearbeitet hat, gleicherma-
Szenen bedeutsam hervor. Nicht die Zeit treibt ßen brutal sind (womit die später für B. wich-
die Geschichte an, sondern der König, dem die tig werdende Gleichung: Handel/Ökonomie =
Bedeutung des Tages verschlossen bleibt. Krieg zumindest angedeutet ist).
Nicht anders funktionieren die Uhrzeiten.
Besonders in der Schlacht von Killingworth
tauchen sowohl in den Szenen-Überschriften
als auch im Text vermehrt Angaben von Uhr- Interpretation
zeiten auf, zu denen die Ereignisse stattfinden.
Sie dienen aber nicht der historischen Beglau-
bigung, sondern dazu, um trotz szenischem Die Ausgangskonstellation ist dadurch ge-
Nacheinander Gleichzeitigkeiten anzuzeigen kennzeichnet, dass Eduard unmittelbar nach
und damit die unheilvolle Verflechtung der an seiner Thronbesteigung das neue Amt dazu
verschiedenen Orten lokalisierten Gescheh- nutzt, seinen Günstling Gaveston zurückzuru-
nisse zu markieren. Nicht die Qualität der Zeit fen. Den angeblichen Eid, den sein Vater auf
ist entscheidend, vielmehr wird die Zeit In- dem Totenbett geleistet hat, Gaveston dürfe
dikator dafür, dass alles, was geschieht, auf- nie wieder nach England kommen, ignoriert
einander bezogen ist und alle Mitwirkenden er. Ungeachtet der politischen Spannungen
vom verhängnisvollen Verhalten des Königs mit den Peers besteht er hartnäckig auf seinem
abhängig sind (vgl. Canaris, S. 105–107). Geliebten; zweimal betont er »Ich will Gave-
Auch die größeren Zeiträume, die in den ston haben«, um sich dann ganz auf ihn fest-
Szenentiteln angegeben sind, zeigen nicht die zulegen: »Ich falle oder leb mit Gaveston«
Dynamik der historischen Zeit an, sondern (GBA 2, S. 11), eine Festlegung, die sich dann
unterstreichen lediglich durch ihre lange verhängnisvoll erfüllen soll. Trotz der Miss-
Dauer das gewaltige Ausmaß der Missstände wirtschaft über fünf Jahre lässt sich Eduard
und Metzeleien, die der König verursacht. nicht dazu bewegen, Gaveston auszuweisen;
Dass Eduard »verfällt« und alt wird, ist auch und obwohl er nach der Troja-Erzählung Mor-
nicht auf die Qualität der Zeit, sondern auf timers weint, also erkennt, welche Bedeutung
138 Leben Eduards des Zweiten von England

sie für ihn und England hat, geht er das Risiko sche‹, das heißt kriegerische Folgen haben.
des Bürgerkriegs ein. Das Amt verhindert überdies paradox, die
Obwohl Gaveston zunächst im Zentrum des Liebe so zu leben, wie Eduard sie sich vor-
Stücks zu stehen scheint, ist seine Rolle stellt: »Wir gehen an den Teich von Tynemouth
schnell ausgespielt. Auffällig ist, dass er nichts / Fischend, Fische essend, reitend, schlen-
von sich hält und immer wieder betont, von dernd / Auf den Ballistenwällen Knie an
seinen Eltern als »höchst gemein« (GBA 2, Knie.« (GBA 2, S. 15) Stattdessen folgt Kampf
S. 20) eingeschätzt worden zu sein. Auch und Kampf, und Gavestons »Himmel« (S. 9)
Eduards überschwängliche Begrüßung emp- auf Erden wird schnell zur Hölle und entspre-
findet er als »zuviel / Für eines schlichten chend die Liebe schnell desillusioniert, das
Fleischhauers Sohn« (S. 12). Er selbst charak- heißt, die Liebe, die alles verursacht, wird gar
terisiert sich als Säufer und Spieler. London nicht gelebt.
begrüßt er zunächst als »Himmel« (S. 9), um Im Kontrast zu dieser geradezu kindischen
dann schnell bemerken, dass er nur die ver- Hartnäckigkeit Eduards steht das Motiv der
hängnisvolle Ursache der Schlächtereien ist. Verdinglichung, die dessen Menschenverach-
Bestätigt wird seine Selbsteinschätzung durch tung (und damit auch Liebesunfähigkeit) deut-
den Balladenverkäufer, sozusagen als des Vol- lich markiert. Anna, die trotz aller öffentlichen
kes Stimme, der in »Edis Kebsweib« (S. 14) Erniedrigung aus Liebe zunächst an Eduard
den Grund dafür sieht, dass das Volk hungern festhält, wird von Eduard schamlos ›gebun-
muss und in sinnlosen Kriegen geopfert wird, den‹ und zum »Ding« degradiert: »Ein Ding,
weil der König sich nur um sich und seine überantwortet testamentlich / Seid ihr mir ei-
Liebe kümmert. Gaveston verabschiedet sich gen. Mir verschrieben, unerwünscht / Ohne
schnell von seiner Gleichstellung eines »Cä- mein Einverständnis nie frei.« (GBA 2, S. 37)
sarn« (S. 12), vielmehr wird ihm die Liebe Anna antwortet darauf fassungslos in dreimal
Eduards zur Fessel, die für ihn zur Konsequenz variierter Form: »Ihr schickt mich fort und
hat, dass er meint, London nicht mehr lebend bindet mich zugleich?« (ebd.), was der König
verlassen zu können, weil er, »der nicht weiß / mit einem knappen und zynischen »Ja« beant-
Was an mir fehlte oder zu viel war« (S. 20), wortet, um dann zweimal nach Gaveston zu
schuld daran ist, dass »manch einer ausge- fragen, und für die Worte Annas taub bleibt.
wischt« (ebd.) wird. In der Schlacht von Kil- Später, kurz vor seiner Verhaftung, beschwert
lingworth warnt er Eduard, der sich mitten im er sich über Annas ›Untreue‹ und qualifiziert
Kampf ausschließlich seinem Geliebten wid- die Königin, »Mir widerlich einst durch hündi-
met, sein Herz an ihn zu hängen, weil »viele sches Anhangen / Und von so schlechter Art,
mehr als einer sind« (S. 27). Als die Schlacht daß Lieb ihr nicht / Zu eigen«, als »Ding,
wegen der Nachlässigkeit des Königs verloren wechselnd mit Wechselndem / Befleckt mein
geht, lässt Gaveston sich frühzeitig fallen, in- Ehbett mir« (S. 58), um dann sich und seine
dem er seine Flucht abbricht; dabei qualifiziert Sorgen selbstsüchtig zu bejammern. Mit der
er die Liebe Eduards als ›Qual‹ (vgl. S. 28); Verdinglichung Annas stellte B. zugleich einen
von seiner Liebe zu Eduard hingegen ist im aktuellen Bezug zu seiner Zeit her: zur Instru-
Gegensatz zu Marlowe (vgl. Marlowe, S. 11) mentalisierung der Menschen im ersten Welt-
nie die Rede. Das Verhängnis der Liebe ist, krieg sowie durch die zunehmende Industria-
dass sie an Eduards Königtum gebunden lisierung in der Wirtschaft.
bleibt. Nur als König kann er Gaveston aus der Hinzu kommt ein weiteres Paradox. Wie be-
Verbannung zurückholen, nur als König kann reits Volker Canaris herausgearbeitet hat, ver-
er seine erneute Ausweisung verhindern; da ursacht Eduard, indem er Verständigung ab-
jedoch mit dem Königtum zugleich ein poli- lehnt und borniert auf seiner Ansicht der
tisches Amt verbunden ist und alte Spannun- Dinge beharrt, seines Freundes Tod. Als Anna
gen zwischen dem König und dem Adel be- dem König die Antwort der Peers mit dem
stehen, muss die private Entscheidung ›politi- Friedensangebot überbringt und es heißt, dass
Interpretation 139

Gaveston »jetzt aus dem Streit ist« (GBA 2, stalten für eine weitere Flucht. Den Verrat und
S. 38), missversteht er die Mitteilung starsin- seine Folgen lässt er willenlos über sich er-
nig als »aus der Welt ist« (S. 39). Er verhandelt gehen (vgl. S. 63), um dann freilich, sobald er
nicht mit den Peers, sondern lässt sie gefangen in London ist, auf merkwürdige Weise wieder
nehmen und dazu die Trommeln schlagen, um stark und kraftvoll zu werden.
ihre Schreie zu übertönen. Genau dies aber ist Auch Mortimer sieht sich als »Objekt, mit
für James das Signal, Gaveston sein Grab dem Geschichte gemacht wird« (Schalk,
schaufeln zu lassen: der »Freund [tötet] den S. 62): »es ist / Nie zu errechnen, auf welche
Freund [ … ], gerade wo er ihn retten will« Seit sich wälzt / Der Büffel Staat. Gut und
(Canaris, S. 40). moralisch / Der Platz wo er sich nicht hin-
Bezeichnend ist, dass die beiden männli- wälzt. / Der Büffel wälzte sich und fiel auf
chen Hauptfiguren sehenden Auges ihr Ver- mich.« (GBA 2, S. 88) Nur widerwillig hat er
derben wählen. Eduard wird bereits, als Gave- sich überhaupt in die Politik begeben, und er
ston noch nicht öffentlich aufgetreten ist, vor erkennt sofort, dass sie nur Krieg bedeuten
den kriegerischen Folgen gewarnt, und er kon- kann. Seine Entscheidungen bleiben halbher-
statiert in der entscheidenden Parlaments- zig. Zuerst soll Gaveston sofort hingerichtet
sitzung: »Eh mir mein Gaveston genommen werden, dann lässt er ihn doch am Leben, als
wird / Lasse ich die Insel.« (GBA 2, S. 25) Und Eduard ihn nochmals zu sehen wünscht, und
genau dies geschieht: Ȇber uns ein Krieg schickt James mit unklarem Auftrag mit dem
zieht her / Der stürzt am End die Insel ins Gefangenen weg. Den Sieg von Killingworth
Weltmeer« (S. 47). Im Zentrum von Mortimers nutzt er nicht, um Eduard endgültig zu schla-
erstem großen Auftritt in der Öffentlichkeit gen, sondern macht ein Friedensangebot, des-
steht die Troja-Erzählung, die nach dem Mus- sen Opfer er wird, obwohl er wissen konnte,
ter ›kleine Ursache – große Wirkung‹ funk- dass Eduard nicht zu trauen ist. Bei dessen
tioniert und die das »Modell« ist, zu dem der Gefangennahme verfährt Mortimer unsicher.
Fall Gaveston »das gegenwärtige Exempel bil- Auch hier schickt er den Gefangenen mit sei-
det« (Canaris, S. 78). Auch hier löst sich alles nen Schergen auf Reisen, um ihn für die Ab-
ein, was das Modell vorgibt. Da Eduard nach dankung mürbe zu machen. Erst als ihm dies
Beendigung der Rede Mortimers weint und nicht gelingt, sieht er sich zum Mord, wie-
ihm »unpaß« wird (GBA 2, S. 24), gibt er offen derum mit zweideutigem Auftrag, gezwungen.
zu, dass er um die Folgen seiner Entscheidung Der Mord aber hat zur Folge, dass er zum
weiß. Opfer seiner eigenen Machenschaften wird.
Damit verbindet sich das Motiv des ›Sich- B. erfasste das von der Forschung als »irra-
Fallen-Lassens‹, das einer der Gründe war, tionale Kraft« (Canaris, S. 63) eingeschätzte
warum B. die Bearbeitung des Stücks reizte. Gesetz, unter dem die Handlung steht, im To-
Schon Gaveston hat sich fallen lassen, als er pos vom Rad der Fortuna, den er von Marlowe
erkannte, dass die Liebe nur Qual für ihn und übernahm (vgl. Marlowe, S. 107). Als der
andere ist. Eduard bleibt nach Gavestons Tod junge Eduard den Hinrichtungsbefehl gegeben
bei seinen Soldaten und »verfällt« (GBA 2, hat, sagt ihm Mortimer: »’s ist, Knabe, die
S. 49), obwohl er »zu einem Tiger ward« schlumpichte Fortuna treibt’s / Ein Rad. ’s
(S. 45), und zwar so sehr, dass er unkenntlich treibt dich mit nach aufwärts. / Aufwärts und
wird (vgl. S. 53). Der Bedrohung am Tag von Aufwärts. Du hältst fest. Aufwärts. / Da
Harwich begegnet er weitgehend mit Ignoranz kommt ein Punkt, der höchste. Von dem siehst
und Desinteresse; zur Flucht kann er nur im du / ’s ist keine Leiter, ’s treibt dich nach
letzten Moment und durch Spencers Eingrei- unten. / Weil’s eben rund ist. Wer dies gesehn
fen bewegt werden. Als Zeichen seiner Müdig- hat, fällt er / Knabe, oder läßt er sich fallen?
keit legt er, als er Zuflucht in der Abtei von Die Frage / Ist spaßhaft. Schmeck Sie!« (GBA
Neath gefunden hat, sein Haupt dem Erzabt in 2, S. 89 f.) Bei Marlowe steht der Topos wie
den Schoß (vgl. S. 56) und trifft keinerlei An- üblich für das Schicksal, das unerbittlich je-
140 Leben Eduards des Zweiten von England

den, der noch oben gestiegen ist, wieder fallen wetten die Soldaten auf ihre Herrscher, als
lässt (Fallhöhe). B. übernahm den Topos weit- wären sie Preisboxer, was in sarkastischem
gehend, modifizierte ihn aber an drei Stellen Widerspruch zu Baldocks Feststellung steht:
entscheidend. Die Begründung, warum das »Der elfte Feber wird einer der wichtigsten
Rad den nach oben Getragenen nach unten Tage sein in der Geschichte Englands.« (GBA
stürzt, ist mechanistisch: »Weil’s eben rund 2, S. 78)
ist«; damit entfällt gerade der Irrationalismus
der Vorlage, eine rationale Erklärung erfolgt
stattdessen. Bei der Aufwärts-Bewegung hält
sich das angesprochene Du am Rad fest und Der »letzte Saurier«
wird nicht, wie im traditionellen Topos, auto-
matisch nach oben getragen. Das mehrfach be-
tonte »Aufwärts« ist folglich ein willentlicher In einer Notiz von um 1926 schrieb B. rück-
Akt und bricht nicht über das Du herein. Und blickend zum Stück: »So habe ich im ›Edward‹
schließlich stürzt das Du nicht wie in der Vor- [ … ] jenes große und finstere Tier zu zeichnen
lage einfach »kopfüber« (Marlowe, S. 107) unternommen, das wie in der Witterung eines
hinab, sondern es lässt sich fallen, macht also Erdbebens die ersten Wellen einer das Indivi-
das, was ihm geschieht, zu seiner eigenen Ak- duum bedrohenden gewaltigen Erdkatastro-
tion. Indem Mortimer die ›spaßige Frage‹ dem phe wahrnahm. Ich habe seine primitiven und
politisch-materiellen Sieger als Denkaufgabe hoffnungslosen Maßnahmen gezeigt, sein
überlässt, macht sich Mortimer am Ende doch schreckliches Ende in anachronistischer Ver-
noch zum geistigen Sieger. Er, der Intellektu- einsamung. Also taucht in meinen Jahren, dem
elle, der im Gegensatz zu den Königen, die Nachgeborenen sichtbar, der letzte Saurier
nicht lesen, seine Klassiker kennt, räumt als auf, der die Sintflut kommen fühlt.« (GBA 21,
der geistige Überlegene das Schlachtfeld; er S. 180 f.) Die Forschung hat betont, dass B.
hat wenigstens durchschaut, wie Schlacht- trotz aller einschneidenden Änderungen nicht
hauspolitik, die eben darum keine Politik nur den ›hohen Stil‹ seiner Vorlage, sondern
(Staatsgeschäfte für das Allgemeinwohl) ist, auch dessen »menschliche Größe« (Menne-
funktioniert. Sie hat sehr wohl rational zu er- meier, S. 283) bewahrt habe. Axel Schalk über-
schließende Gründe und ist durchaus kein schreibt sein Kapitel gar mit »Die Monumen-
Schicksal, das hinzunehmen ist. Das Stück de- talität des Leidenden« (Schalk, S. 66) und
monstriert vielmehr, indem es sich auf das führt aus: »So sehr Brecht sich auch um die
Modell von Troja verpflichtet und es unerbitt- Entfaltung einer antiidealistischen Dramatik
lich einlöst, den Wahnsinn einer ›Politik‹, die und eines objektivierenden, episierenden Stil
privaten Interessen verpflichtet ist. kümmerte, er verbannte die Subjektivität sei-
B. hat diesen Aspekt gegenüber seiner Vor- ner Figur nie«, denn er glaube »noch an die
lage durch den Einbau von Volksszenen ver- Größe von Menschlichkeit« (S. 67). Gerade
stärkt. Die Bänkelverkäufer-Szene zeigt, wel- das schmähliche Leiden Eduards stelle B. »als
che Folgen Eduards Misswirtschaft für das Sieg in menschlicher Hinsicht« (ebd.) dar. Ca-
Volk hat, sowie, dass es nur mit Hohn und naris dagegen erfasst die ›Größe‹ als Wider-
Spott auf das Verhalten der Herrscher reagiert spruch und sieht eine Entwicklung im Selbst-
und sich nicht scheut, das Verhältnis der Ge- verständnis des Königs. Während er zunächst
liebten zumindest andeutungsweise umzukeh- sein Königtum dazu benutzte, um seiner Liebe
ren, so wenn Spencer und Baldock spotten, zu Gaveston zu frönen, postuliert er nach sei-
Eduard sei ohnmächtig geworden, weil Gave- ner Gefangennahme auf die Forderung, seiner
ston zu ihm gesagt habe, er lasse sich einen Krone zu entsagen, »die absolute Herrschaft
Bart stehen. Auf diese Weise wird im ›Volks- des Individuums«, die »freilich nur in der Auf-
mund‹ der König zur Hure seines plebejischen lösung des Individuums« zu verwirklichen sei
Geliebten. Und in der Szene vor Westminster (Canaris, S. 57).
Der »letzte Saurier« 141

Schon in der Szene, in der Baldock Eduard Muster des Antaios zum ›Riesen‹ um. Obwohl
an Mortimer ausliefert, ist als Muster der dop- Eduard dann im »Kot Londons« (GBA 2, S. 85)
pelte Verrat Christi durch Petrus (»Hahnen- steht, der so stinkt, dass seine Schergen fast an
schrei«; GBA 2, S. 56) nach Matthäus 26,34 ihm ersticken, und der seine Augen so ver-
und durch Judas nach Matthäus 26,48, hier im klebt, dass er sie nicht mehr aufbekommt,
leicht modifizierten Nachspiel der biblischen macht ihn der Geruch des Abfalls »noch / Maß-
Szene, unterlegt. Eduards kommendes Leiden los vor Größe« (ebd.). B. führt das Antaios-
wird damit in Parallele zur Passion Christi Motiv konsequent und gegen die Vorlage zu
gesetzt und entsprechend zum ›großen‹ Lei- Ende. Bei Marlowe befiehlt Lightborn Matre-
den stilisiert. Eine entschiedene Steigerung vis (eine Figur, aus der bei B. einer der Gur-
erfährt die biblische Parallele, wenn Eduard in neys geworden ist) und Gurney, über Eduard
der ersten Abdankungsszene mit dem Erzabt einen Tisch zu stülpen und darauf herumzu-
in deutlicher Anspielung auf Josua 10,12 trampeln, worauf er stirbt (vgl. Marlowe,
(»›Sonne, stehe still zu Gibeon, und Mond, im S. 104). B. lässt dagegen Lightborn mit einem
Tal Ajalon!‹«) befiehlt: »Steht still am Rand, Bett auftreten, in das er Eduard lockt. Aus der
ihr Flut und Ebbe! Steht! / Ihr Mond und Kloake gehoben, verliert er seine Kraft und
Jahreszeiten all, bleibt stehn / Daß ich noch kann erstickt werden.
König bleib des schönen England!« (GBA 2, B.s Schluss zeigt gar nicht mehr das Leiden
S. 60) Kurz darauf konstatiert er, die Krone des Königs (vgl. Canaris, S. 60), sondern seine
nicht abtun zu können: »mein Haar geht mit / selbstgefällige Aufblähung zunächst zur Gott-
Das ganz verwachsen ist mir ihr« (ebd.). Edu- Gleichheit und dann zu riesenhafter Größe,
ard reklamiert die Krone nicht nur als einen die gerade nicht menschlich, sondern deutlich
»Teil seines Selbst« (Canaris, S. 46), er sti- ›unmenschlich‹ ist und noch zusätzlich da-
lisiert vielmehr sein ›Gottesgnadentum‹, sich durch ironisch gebrochen wird, dass Eduard,
in sein Königtum zur Kenntlichkeit zurückver- statt zu lamentieren wie der Marlowes, mitten
wandelnd, auch noch zur Gott-Gleichheit. in der Kloake wie David Psalmen singt, »Weil’s
Diese Steigerung des Selbst wird im ent- Frühjahr wird« (GBA 2, S. 84), und mit Kir-
scheidenden Dialog zwischen Mortimer und chenlied-Parodien auf den Lippen, die Man-
Eduard, der fast nur noch im majestätischen gel, Misshandlung und Finsternis loben
Plural von sich spricht, fortgeführt und ver- (S. 85), von der Welt abtritt. Radikaler kann
tieft. Nachdem Eduard in seinem Soldaten- das Vorbild kaum unterlaufen und zur histo-
leben verfallen bis zur Unkenntlichkeit war, risch überständigen sowie zur nicht mehr ernst
zieht er, nach London zurückgekehrt, also zum zu nehmenden Schaubuden-Kuriosität umge-
Sitz seines Königtums, auf einmal »Antäisch deutet werden, als durch diese Umwandlung
aus Westminsters Boden Kraft« (GBA 2, S. 80), des im ersten Teil des Stücks noch mensch-
wie Mortimer erstaunt und im Beiseite fest- lichen Egoisten und Gewaltherrschers in ein
stellen muss (bei Marlowe wird Eduard auf unmenschliches ›überlebensgroßes‹ Monster,
Schloss Berkeley ermordet; Marlowe, S. 100– das B. als das Auftreten des ›letzten Sauriers
104). Antaios, Sohn der Erde, war im grie- vor der Sintflut‹ beschrieb. Paul Kussmaul hat
chischem Mythos ein Riese, der, sobald er mit bereits 1974 der Forschung vergeblich ange-
seinem Leib den Boden berührte, von seiner boten, Eduards antäische Verwandlung als An-
Mutter neue und größere Kraft erhielt. Hera- maßung einer Herrschaft »aus Lust am Herr-
kles konnte ihn nur durch die List besiegen, schen« (Kussmaul, S. 52) zu deuten. Der König
indem er ihn in die Luft hob. Der gesamte werde »zum ›Triebherrscher‹, um eine Ana-
Schluss, der das Leiden des Königs bei Mar- logiebildung zum Triebverbrecher oder Trieb-
lowe als »Lamentable« in aller Ausführlichkeit mörder zu gebrauchen« (ebd.), und er fragt
demonstriert, deutet B.s Text als maßloses An- danach, ob B. damit »eine Gestalt wie Hitler
wachsen des Königs, der seinen ›königlichen‹ vorausgeahnt« habe (ebd.). In Eduards
Boden wieder unter den Füßen hat, nach dem ›Größe‹ spiegelt sich folglich das bei B. dann
142 Leben Eduards des Zweiten von England

immer mehr zentral werdende Thema der »Hier wird öffentlich vorgeführt die Historie
übersteigerten und hybriden (bürgerlichen) von der unruhigen Regierung Eduards des
Individualität wider, die, weil sie hier im feu- Zweiten, Königs von England, und sein jam-
dalen Gewand auftritt, noch einmal als ana- mervoller Tod / Sowie Glück und Ende seines
chronistische Schaubuden-Anomalität be- Günstlings Gaveston / Ferner das wirre
staunt werden darf, um dann endgültig ab- Schicksal der Königin Anna / Desgleichen
zutreten (um in Wirklichkeit wenige Jahre Aufstieg und Untergang des großen Earl Roger
später mit dem Auftritt Hitlers und seiner Mortimer / Was alles sich ereignete in Eng-
Schergen noch einmal in maßloser ›Größe‹ die land, vornehmlich zu London, vor nunmehr
›Weltbühne‹ zu besteigen). sechshundert Jahren« (GBA 2, S. 8). Wie in
der Moritat geht es in B.s Stück nicht darum,
›reale‹ Geschichte in dramatischen Bildern
vorzuführen, sondern Sensationen auszubrei-
Selbstreferentialität ten und damit den Kitzel des Publikums her-
auszufordern. Canaris hat den Effekt dieser
Ankündigung als »ästhetische Distanzierung«
B. hat 1940 rückblickend in seinem Aufsatz (Canaris, S. 152) bezeichnet, die das (nur
Kurze Beschreibung einer neuen Technik der scheinbar) Historische der Handlung »auf die
Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt formale Qualität des Abrückens in die ästhe-
hervorbringt die Szenentitel des Eduard, tische Ebene« (S. 151) verschiebt.
»welche den Inhalt ankündigten« (GBA 22, Die Selbstreferentialität ist im Stück auch
S. 651), als ersten Einsatz eines Verfremdungs- inhaltlich thematisiert. Eduard, der keine Bü-
effekts reklamiert, wobei anzumerken ist, dass cher liest, wirft Mortimer vor, bevor er ihn
die Titel in der Münchener Inszenierung hochmütig als Zeugen seiner Wandlung zum
nicht, wie später üblich, projiziert, sondern Tiger entlässt, nur ein Bücherwurm zu sein,
von einem Ansager gesprochen wurden. Ne- der in seinen Büchern nichts von Eduard, »der
ben der Funktion, längere Zeiträume entwe- mit Natur verknüpft ist / Und von sehr andrer
der zusammenzuziehen oder zu überbrücken, Speise sich nährt« (GBA 2, S. 44), finde. Edu-
lenken die den Szenen vorangestellten Titel ard reklamiert damit für sich eine alternative
das Interesse der Zuschauer vom ›Was‹ auf das ›Realität‹, als die, welche Mortimer mit dem
›Wie‹ der Darstellung, »nicht mehr auf den Modell der Troja-Erzählung vorgegeben hat,
Ausgang, sondern vielmehr auf den Gang der und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als er
Handlung« (Canaris, S. 148), und vor allem meint, das Geschehen wieder in der Hand zu
weisen sie die gesamte Handlung als gespiel- haben. Tatsächlich scheint Mortimer diese
tes Spiel aus: »Distanz wird hergestellt, indem ›Natur-Verbundenheit‹ zu bestätigen, wenn er
eine andere Realitätsdimension ins Spiel ge- feststellt, die Tatsache, sich in die Händel ein-
bracht wird« (S. 147). B. nutzte also die tradi- gelassen und sich dadurch »von Büchern und
tionell vorgegebene Selbstreferentialität des Wissen« (S. 71) verabschiedet zu haben, habe
Theaters, die Bühne als Bühne zu zeigen, und dazu geführt, dass er gesünder schlafe und
verhinderte damit, dass die Zuschauer das besser verdaue (ebd.). Die Berufung auf die
Dargestellte mit Realitätswiedergabe ver- Natur zielt auf nichts anderes, als auf den er-
wechselten. klärten Willen Eduards, aus der Geschichte
Dadurch, dass die Szenentitel angesagt bzw. des Troja-Modells aussteigen und damit neue
ausgerufen wurden, rückte B. das Stück in die Geschichte ›schreiben‹, neue geschichtliche
Nähe einer bebilderten Moritat, in die Schau- ›Realitäten‹ schaffen zu wollen.
budenatmosphäre, wie er sie vom Augsburger Als Gegenbild dazu entwirft Mortimer in
Plärrer (Volksfest) her kannte. Diesen Cha- seinem ersten Auftritt, da noch über seinen
rakter unterstreicht auch die dem Stück voran- Büchern, den Cäsar, wie Plutarch ihn beschrie-
gestellte marktschreierische Ankündigung: ben hat: »Daß er in einem las und schrieb und
Selbstreferentialität 143

seinem Schreiber / Diktierte und die Gallier Antithese zur Sinnlosigkeit des Vorgangs Tro-
schlug.« (GBA 2, S. 16) In der insistierenden janischer Krieg« (Canaris, S. 80) Die Brisanz
Wiederholung der Kopula »und« zeichnet der der Pointe liegt aber darin, dass sie durchaus
Text auf kürzestem Raum die Karikatur des zynisch feststellt, der geschilderte Wahnsinn,
Dichters als Produzenten bzw. Organisators der vom Einzelfall auf Viele und schließlich
seiner Arbeiten, die dann Feuchtwanger 1930 auf »Sämtliche« (GBA 2, S. 23) mit sturer Un-
mit der Figur des Jacques Tüverlin in seinem logik übergreift, ist notwendige Voraussetzung
Romans Erfolg ausführte (L. Feuchtwanger, für das Heldenepos der Antike: ohne Schläch-
S. 208–211), mit dem Unterschied freilich, tereien keine Weltliteratur, ohne Barbarei
dass Cäsar während seiner Lektüre und keine Kultur (die ihrerseits wiederum durch
schriftstellerischen Arbeit auch noch seine die Barbarei zerstört wird). Angewendet auf
Kriege führt. Mortimers Erläuterung, dass B.s Stück heißt dies: Indem es mit seinem
»Leute seines Wuchses« ihren Ruhm »aus ei- Exempel diese Barbarei auf die Bühne bringt,
nem eigentümlichen Mangel / An Einsicht in vollzieht es nochmals nach, was das Modell
die Nichtigkeit menschlicher / Dinge und Ta- zum Inhalt hat: (Welt-)Literatur entsteht (al-
ten, gepaart mit einem / Erstaunlichen Mangel lein) dadurch, dass sich die Menschen gegen-
an Ernst« (GBA 2, S. 16), zogen, charakteri- seitig abgeschlachtet haben und weiterhin ab-
siert, was für die Agierenden des Stücks nicht schlachten, wie es der erste Weltkrieg, der zur
(mehr) gilt: Sie haben Einsicht in die ›Eitel- Entstehungszeit des Stücks in seinen Folgen
keit‹ (vgl. S. 55, S. 58) der menschlichen Exi- noch sehr sichtbar war, wieder einmal doku-
stenz und verfügen nicht (mehr) über die Hei- mentiert hatte. Selbstreferentiell stellt sich
terkeit Cäsars. Tatsächlich gibt es in B.s Stück damit das Stück in die lange Reihe der Lite-
durchaus keinen Humor, und wenn, dann ist es ratur, die sich der Barbarei verdankt, signali-
Galgenhumor, wie Annas Lachen über die siert aber zugleich auch seine hohe Bewusst-
Leere der Welt, in dem beide ›Mängel‹, sozu- heit von dem, was es darstellt. Die Sinnlosig-
sagen positiv gewendet, zusammenfallen. Und keit triumphiert nur deshalb, um sie als solche
wenn Gaveston meint, er sei durch Eduards mit aller Brutalität und allen Scheußlichkeiten
Gunst »Cäsarn gleichgestellt« (S. 12), so muss nochmals eindringlich und demonstrativ vor
er sich schnell belehren lassen, dass dies ge- Augen zu führen, nicht aber um in ihr den
rade nicht der Fall ist. In diesem Stück gibt es paradoxen ›Sinn‹ (von Geschichte) zu finden
keine menschliche ›Größe‹, keinen Humor (vgl. dagegen Canaris, S. 115).
und keine »Oberflächlichkeit« (S. 16), die über
menschliche Schwächen hinwegsehen könnte.
Eduards und Mortimers ›Schicksale‹ wer-
den dadurch bestimmt, dass die ›Natur‹, die Hinweise zur Forschung
sie bei ihren kriegerischen Aktionen zu finden
meinen, keine Alternative zu dem eröffnet,
was die Bücher vorgezeichnet haben, eben das Die eingehendste Analyse des Stücks legte Ca-
Modell der Troja-Erzählung, das die angeb- naris 1973 vor, der, wie schon der Titel besagt,
liche Natur als Kriegsschauplatz deutet. Die in der Bearbeitung ein »vormarxistisches
Erzählung hat freilich noch eine selbstreferen- Stück« sieht und entsprechend die These ver-
tielle Schlusspointe. Nachdem Mortimer seine tritt, die Struktur des Eduard sei: »nicht Fort-
Geschichte über die Unerbittlichkeit des blut- schritt zu Neuem, sondern Rückkehr zum je
rünstigen Geschehens um »’ne Hur« mit einem schon Vorhandenen und zugleich immer Wie-
»Quod erat demonstrandum« abgeschlossen derkehrenden«, was »aus der biologistisch-ir-
hat, fügt er noch an: »Freilich / Hätten wir rationalistischen Sicht« entwickelt werde (Ca-
dann auch nicht die Ilias.« (GBA 2, S. 23) Ca- naris, S. 115). Die durchgängigen Tiermeta-
naris deutet sie als Ausdruck von Mortimers phern, der Triumph der Sinnlosigkeiten, die
»Zynismus« und nicht etwa als »ernstgemeinte Unbegreifbarkeit des Geschehens, Eduards
144 Leben Eduards des Zweiten von England

Berufungen auf die Natur, Gavestons Eingehen schenliebe setzt Schalk dabei gleich mit dessen
in die Natur mit dem Tod, alles deute darauf Liebe zu Gaveston, die er als »Flucht vor der
hin, dass B.s Text Materialismus nicht als hi- Geschichte« in die »Idee utopischer Liebe«
storische, sondern biologistische Kategorie (S. 64) qualifiziert und die dadurch zum Aus-
vermittele (vgl. S. 114) und ihn so mythisiere, druck kommt, dass sich Eduard »poetisierend
dass er die »Funktion (nicht die Erscheinungs- nach der naturhaften, utopischen Liebeszwei-
form) beinahe des klassischen Fatums« ge- samkeit, jenseits der Kämpfe der Geschichte«
winnt (S. 115): »der Krieg ist danach ein an- sehnt (S. 65; vgl. GBA 2, S. 15). Eduard er-
onymes, nach eigenen Gesetzen ablaufendes scheint dadurch als »utopischer Rationalist«,
Geschehen, das den natürlich-organischen was »schwerlich als irrational und unpolitisch
Stoffwechsel vollzieht und das den Menschen gewertet« werden könne (Schalk, S. 65). Im
als körperlichen Wesen zugefügt wird, ohne Gegenteil, indem B. diese Menschenliebe
daß sie es begreifen« (S. 169). Der Begriff »Le- ›monumentalisiert‹ habe, sei überhaupt erst
ben« im Titel ist danach mit »biologisch exi- das epische Theater, wie es in der Bearbeitung
stieren« (S. 139, S. 172) zu übersetzen. Ent- erstmals umgesetzt sei, möglich geworden:
sprechend sei das Verhältnis zur Marlowes »Erst in der großen monumentalen Figur kann
Schauerdrama dadurch gekennzeichnet, dass sich das epische Theater etablieren.« (S. 51)
B. den politischen Stoff seines Vorgängers Schalk beruft sich für seine These auf B.s fikti-
gründlich ›entpolitisiert‹ (vgl. S. 63). ves Gespräch über Klassiker mit Herbert Ihe-
Da Canaris aber in der Dramaturgie des ring, wonach B.s »theatergeschichtliche Tat«
Stücks bereits Elemente und Ansätze findet, (GBA 21, S. 313) mit dem Eduard die gewesen
die auf B.s späteres episches Theaters voraus- sei, die von Marlowe vorgegebene Größe in
weisen, muss er eine »Trennung von Form und »Distanz« (ebd.) verwandelt zu haben: »Das
Inhalt« (Canaris, S. 119) konstatieren, so dass ergab den objektiven, den epischen Stil.«
ein alter und reaktionärer Stoff in einer neuen (Ebd.) Schalk, der Iherings Distanz-Begriff zu
und progressiven Form realisiert ist. Damit sei »Distanzierung«, die Größe schaffe, modifi-
die gängige Annahme der Forschung, »erst das ziert (Schalk, S. 70), folgert: »Bei der Geburt
Studium der marxistischen Klassiker und der des epischen Theaters durchbricht sein
ökonomisch-politischen Zusammenhänge Schölpfer [sic] das klassische Pathos durch die
[habe] die neue Form des epischen Theaters Entfernung des Gewohnten und seine Reduk-
möglich und notwendig gemacht« (S. 173) zu- tion auf eine Vorgangsdramatik, also auf das
mindest in Frage zu stellen. Canaris entwickelt Material.« (S. 57)
seine Thesen in einer eingehenden, auch De- B.s Monumentalisierung erstrecke sich bis
tails beachtenden vergleichenden Analyse von in »stilistische Feinheiten«, was Schalk vor al-
B.s Text im Hinblick auf seine Übernahmen lem im Verfremdungseffekt der Überführung
und Änderungen der Vorlage Marlowes. Das in die 3. Person realisiert sieht, so wenn der
Fazit des Vergleichs lautet: mit B.s Bearbei- König von sich als Eduard spricht (vgl. GBA 2,
tung liegt ein »durchaus neues Stück« vor S. 81): »Der ›große Mensch‹ etabliert sich
(S. 49). durch die Distanz zu sich selbst und seinem
Schalk widerspricht Canaris’ ›Entpolitisie- eigenen Schicksal« (Schalk, S. 68); der epische
rungsthese‹ insofern, als er sie nur »für die Bericht werde »zum formalen Mittel seiner
Handlungsmotivation gelten« lässt (Schalk, Erhöhung« (S. 69). Dem korrespondiere
S. 65), also für Eduards Insistieren auf Gave- Eduards Vorherwissen; dieser ahnt, dass er
ston und der damit verbundenen Verweige- durchs Land verschleppt werden wird (vgl.
rung der Machtpolitik. Eduard aber verhalte GBA 2, S. 63): »Eduards Souveränität als dra-
sich durchaus »politisch, denn er formuliert matisch agierendes episches Ich weiß um die
mit seiner Verweigerung gleichzeitig positiv von der Fortuna bestimmten Zeitläufe der Ge-
eine auf Utopie und Menschenliebe gerichtete schichte.« (Schalk, S. 69)
Weltanschauung« (ebd.). Des Königs Men- Insgesamt gesehen, bleibt der Eduard ein in
Hinweise zur Forschung 145

der Forschung wenig beachtetes Stück, obwohl ›Einlagen‹ lautet das Fazit: Sie haben »eine
seit 1960 mit Richards Beckleys Studien meh- den dramatischen Handlungsverlauf bestim-
rere Arbeiten vorliegen, die sich eingehender mende Funktion« (S. 128) und sind noch nicht
mit dem Vergleich von Vorlage (meist in der wie die späteren Songs verfremdend einge-
deutschen Übersetzung von Heymel) und Be- setzt. Das erste Lied singt der Balladenver-
arbeitung beschäftigt haben und auf die exem- käufer; es bleibt handlungsgebunden. Wohin-
plarisch mit Ute Baums Ausführungen verwie- gegen das zweite Lied, das Mortimer unver-
sen sein soll, die sich auch eingehender mit mittelt als Reaktion auf Eduards Vernichtung
der neuen Verssprache, die B. mit der Aufrau- der Urkunde singt, befremdlich wirkt, freilich
ung der vorgegebene Blankverse geschaffen vom König als Haltung, die demonstrativ seine
hat, beschäftigen, worauf ebenfalls nur ver- Person missachtet, interpretiert wird. Canaris
wiesen sein soll (vgl. Baum, S. 53–67). Der deutet das Befremdliche der Liedeinlage als
Vergleich Marlowe-Brecht führt übereinstim- erste Tendenz zum epischen Theater. Die Lie-
mend zum Urteil, B. habe ein neues Stück der komponierte für die Berliner Erstauffüh-
geschrieben. Wolfgang Wittkowski, der eine rung am 4. 12. 1924 Erwin Dressel, vermutlich
der jüngsten Arbeiten zum Stück lieferte, be- ohne B.s Zutun. Für die Leipziger Aufführung
hauptet sogar, B. habe Marlowe »zur Unkennt- 1928 soll Kurt Weill die Musik zu den Liedern
lichkeit« (Wittkowski, S. 345) verändert (etwa geschrieben haben; es liegt jedoch lediglich
fünf Sechstel von Marlowes Text seien ersetzt; ein Autograph der Gesangsstimme zum ersten
ebd.). Bei aller Nachvollziehbarkeit der Ur- Lied vor. Für die Uraufführung wurde vermut-
teile bleibt doch zu wenig berücksichtigt, dass lich eine Komposition B.s benutzt (vgl. Luc-
dieses Stück – im Gegensatz zu den eigent- chesi/Shull, S. 324 f.).
lichen ›Original‹-Dramen B.s – ohne sein Vor-
bild nicht zu denken ist. Wenn B. zwar die
Sprache des Vorgängers nur als ›Material‹ be-
nutzte, so sind auch B.s Neuformulierungen, Wirkung
wie es sich im Einzelnen nachweisen ließe,
sehr häufig von Marlowe angeregt; sie verän-
dern zwar eingehend die Vorlage, bleiben den- Der Kritiker und Schriftsteller Rudolf Frank,
noch aber häufig, vor allem bei den poetischen der zur Zeit der Aufführung als Dramaturg an
Bildern, mit ihr verbunden. Überdies gilt, dass den Kammerspielen arbeitete, beschrieb rück-
B. bei aller Umdeutung den gesamten Stoff, blickend die Uraufführung in München, für
die Figurenkonstellation (in vereinfachter deren Inszenierung B. die unübliche lange
Weise) sowie den Handlungsverlauf (im gro- Zeit von über zwei Monaten hatte, als »Mar-
ben) übernahm. Es wird denn durchaus be- lowe-Brecht-Lazis-Homolka-Débacle« (Frank,
rechtigt bleiben, beim Stück doch von einer S. 273). Obwohl Frank dafür gesorgt hatte,
(radikalen) Bearbeitung zu sprechen. dass Oskar Homolka, der den Mortimer
Die Funktion der »liedhaften Einlage« (Ti- spielte, auf Alkoholentzug saß, hatte B. einen
tel) untersucht Gudrun Tabbert-Jones, berück- Liter Cognac mitten in der Aufführung mitge-
sichtigt dabei aber nicht die Musik, vielmehr bracht, den Homolka während einer Spiel-
benutzt sie die zwei Lieder Edis Kebsweib hat pause austrank, um dann auf die Bühne zu-
einen Bart auf der Brust (GBA 2, S. 14 f.) und rückzutorkeln. Asja Lacis, die russische Frau
Die Mädchen von England (S. 25), das von des am selben Theaters als Regisseur arbei-
Marlowe angeregt ist (vgl. Marlowe, S. 47), tenden Bernhard Reich, wurde von B. gegen
sowie die »einlagehaften Äußerungen« (Tab- Franks Rat, für die Rolle des jungen Eduard
bert-Jones, S. 132), zu denen die Passage über engagiert. Sie hatte dem betrunkenen Ho-
das Rad der Fortuna oder die Troja-Erzählung molka »Mörder!« zuzurufen, was, da sie nicht
kurzerhand deklariert werden, um weitreiche genügend Deutsch konnte, wie »Merde!« ge-
interpretatorische Schlüsse zu ziehen. Für die klungen habe, was einen »Lacherfolg« beim
146 Leben Eduards des Zweiten von England

Publikum auslöste, »fast wie bei Valentins 1998) und durch Frank Castorf am Deutschen
›Christbaumbrettl‹« (ebd.); damit war der ge- Theater Berlin (März 1999) griffen wieder auf
samte Schluss der Vorstellung erledigt. Den- Marlowe zurück, auf den Vorläufer des ›Thea-
noch bescheinigte B. die Kritik – Ihering ters der Grausamkeit‹.
machte sich wieder für ihn stark (Ihering, Als »Endspiel«, so der Kritiker Friedrich
S. 20–23) – eine gute Regieleistung, die dafür Roemer, inszenierte Gustav Rudolf Sellner am
sorgen sollte, dass B. sie 1924 am Staatlichen Schiller-Theater in Berlin (Premiere: 24. 10.
Schauspielhaus in Berlin fortsetzte, was je- 1969, Bühnenbild: Hans Bohrer) das Stück.
doch nach einer Auseinandersetzung über die Auf weitgehend leerer Bühne, die »das meta-
Regiekonzeption zwischen dem Spielleiter physische Medium für das ins Nichts gerin-
Jürgen Fehling und B. dann nicht der Fall war. nende Leben des Königs« (Wyss, S. 51) bil-
Fehling übernahm nach dem Zerwürfnis selbst dete, wurde der ›Leidensweg‹ Eduards als
die Regie; die Premiere fand am 4. 12. 1924 »Hiobsdasein« zelebriert und dieser selbst, ge-
statt, die Vorstellung hatte eine Dauer von vier spielt von Erich Schellow, zum »Schicksals-
Stunden und wurde von Alfred Kerr mit einer bruder Lears« (ebd.) gemacht, dessen ›Größe‹
vernichtenden Kritik bedacht (vgl. Hecht, mit seinem Unglück und mit der »Ausweg-
S. 178 f.), wohingegen die übrige Presse weit- losigkeit des Nichts« (ebd.) endete. Obwohl
gehend wohl wollend reagierte. B., welcher Sellner auf B.s Regiekonzeption der Urauf-
der Premiere mit Feuchtwanger demonstrativ führung zurückgriff, indem er die Titel an-
fern blieb, sah sich die zweite Vorstellung an sagen und das Spiel balladesk ablaufen ließ,
und meinte, wie er später, am 10. 6. 1926, an arbeitete er gegen den Text das angeblich Exi-
Ihering schrieb, sein Stück sei »sorgfältig ge- stenzielle der Figur heraus, was freilich das
schlachtet« worden (GBA 28, S. 271), wohin- Publikum mit Ovationen, vor allem für Schel-
gegen er im selben Brief die Aufführung in lows Spiel, quittierte.
Köln (Regie: Ernst Hardt), die B. im Juni 1926 Als »blanken Naturalismus« (Schumacher,
besuchte, als »Erfolg« wertete (ebd.). S. 102) inszenierten Ekkehard Schall und Bar-
Nach dem zweiten Weltkrieg kam die Bear- bara Berg die Bearbeitung am Berliner Ensem-
beitung zu B.s Lebzeiten nicht mehr auf die ble (Premiere: 18. 6. 1974, Eduard: Michael
Bühne, zumal sich B. in der Vorbemerkung zur Gerber), indem sie z. B. für die Kloakenszene
zweiten Ausgabe seiner Ersten Stücke (Bd. 1, »kackeähnlichen Farbstoff aus einer Leitung
erschienen 1957, geschrieben 1953) von ihr über den armen Eduard« schütten ließen. Die
distanziert hatte: »Mit der Bearbeitung von Aufführung sollte zeigen, welche Folgen eine
Marlowes ›Leben Eduards des Zweiten von Machtpolitik hat, »die nicht auf Frieden ausge-
England‹ [ … ] kann ich heute nicht mehr viel richtet ist« (S. 99), sowie das hybride Indivi-
anfangen.« (GBA 23, S. 244) Bis 1982 sind acht duum, das seine Bedürfnisse ohne Rücksicht
Inszenierungen nachgewiesen. Den Beginn auf die gesellschaftlichen Interessen auslebt.
machte das Staatsschauspiel in München im Dadurch, nämlich durch die Konzentration auf
Residenztheater 29. 10. 1958; es folgten In- das Spiel der Mächtigen, seien, so Ernst Schu-
szenierungen am Württembergischen Staats- macher, die Opfer weitgehend an den Rand
theater Stuttgart 1959, am Schauspielhaus Bo- gedrängt, als »Mitläufer und Mittäter« (S. 100)
chum 1966, am Schiller-Theater 1969, an den gezeigt worden. Überdies bemängelte die Kri-
Kammerspielen in München 1970, durch die tik das zu affektvolle Spiel der Darsteller, das
Landesbühne Hannover 1971, das Thalia- »fast in jedem Falle die verdeutlichende Gestik
Theater in Hamburg 1975 sowie 1982 durch außer Präzision und Kontrolle geraten« ließ
das Stadttheater Augsburg. Der Eduard gehört (ebd.).
damit zu den wenig gespielten Stücken, was Im Dezember 1989 eröffnete Peter Palitzsch
sich bis heute nicht geändert hat, im Gegen- das renovierte Bockenheimer Depot in Frank-
teil: die beiden jüngsten Inszenierungen des furt mit einer monumentalen Inszenierung des
Stücks, durch Claus Peymann in Wien (März Eduard: In der Riesenhalle waren vier Zu-
Wirkung 147

schauertribünen um das Spielkaree aufgebaut, Nacht, Im Dickicht der Städte, Eduard II. [sic] von
das als Ährenfeld bepflanzt und mit Bretter- England und Mann ist Mann. Frankfurt a. M. 1984. –
Weisstein, Ulrich: The First Version of Brecht/
stegen durchzogen war. Darüber wölbte sich
Feuchtwanger’s Leben Eduards des Zweiten von
ein riesiger Halbbogen mit Sternkreiszeichen England and its Relation to the Standard Text. In:
und Jahreszahlen: »Fortunabogen und Schick- Ders.: Links und Links gesellt sich nicht. New York
salsbrücke in einem« (Franke, S. 61). Die [u. a.] 1986, S. 327–347. – Wittkowski, Wolfgang:
Kritik konstatierte eine deutlich unfertige In- Aktualität der Historizität: Bevormundung des Pu-
szenierung, die das Stück durch die Größe der blikums in Brechts Bearbeitungen. In: Hinderer,
S. 343–368. – Wyss. – Zuckmayer, Carl: Als wär’s ein
Halle und durch das von Palitzsch entfessel-
Stück von mir. Frankfurt a. M. 1966.
te Schlachtgetümmel »fast stummgetreten«
(ebd.) habe. Jan Knopf

Literatur:
Baum, Ute: Bertolt Brechts Verhältnis zu Shake- Jae Fleischhacker
speare. Berlin 1981. – Berkeley, Richard: Some
Aspects of Brecht’s Dramatic Technique in the Light in Chikago
of his Adaptions of English Plays. London 1960. –
Canaris, Volker: »Leben Eduards des Zweiten von
England« als vormarxistisches Stück Bertolt Brechts. Das Dramen-Fragment entstand zwischen
Bonn 1973. – Feuchtwanger, Lion: Erfolg. Drei Jahre 1924 und 1929; erstmals erwähnt ist es unter
Geschichte einer Provinz. Roman. Berlin 1930. –
dem Titel Mortimer Fleischhacker in einer
Feuchtwanger, Marta: Zeugen des Jahrhunderts.
Marta Feuchtwanger im Gespräch mit Reinhart Hoff- Aufzählung geplanter oder zu überarbeitender
mann. In: BrechtYb. 12 (1983), S. 107–116. – Frank, Stücke (u. a. Galgei, Dickicht, Hannibal; vgl.
Rudolf: Spielzeit meines Lebens. Heidelberg 1960. – GBA 26, S. 179). Von dem später auch Weizen
Franke, Eckard: Brecht/Marlowe »Leben Eduard und dann Joe bzw. Jae Fleischhacker betitelten
II.« In: Theater heute (1989), H. 1, S. 61 f. – Grimm Projekt ist ein Konvolut von über 100 Seiten
Reinhold (Hg.): Bertolt Brecht. Leben Eduards des
mit Handschriften oder Typoskripten erhal-
Zweiten von England. Vorlage, Texte und Materia-
lien. Frankfurt a. M. 1968. – Hecht. – Ihering, Her- ten: neben Stichworten und Fabelentwürfen
bert: Bert Brecht hat das dichterische Antlitz auch bereits in unregelmäßigen Versen ange-
Deutschlands verändert. Gesammelte Kritiken zum legte Szenen. Durchgängiges Thema dieser
Theater Brechts. Hg. v. Klaus Völker. München 1980. Texte sind die Spekulation mit Weizen an der
– Jeske, Wolfgang/Zahn, Peter: Lion Feuchtwanger Börse von Chicago und ihre Auswirkungen auf
oder Der arge Weg der Erkenntnis. Eine Biographie.
die Lebensbedingungen der Massen in der
Stuttgart 1984. – Kussmaul, Paul: Bertolt Brecht und
das englische Drama der Renaissance. Bern, Frank- Großstadt. Ohne als Drama abgeschlossen zu
furt a. M. 1974. – Lucchesi/Shull. – Marlowe, werden, führte das Projekt, wie B. 1935 rück-
Christopher: Eduard II. Tragödie von Christopher blickend festhielt, zu einem genaueren Stu-
Marlowe. Deutsch v. Alfred Walter Heymel. In: dium der Ökonomie mithilfe von Marx’ Kapi-
Grimm, S. 9–108. – Mennemeier, Franz Norbert: tal. Zusammen mit den thematisch verwand-
Modernes Deutsches Drama. Kritiken und Charak-
ten Stückentwürfen Dan Drew (1925/26) und
teristiken. Bd. 1: 1910–1933. München 1973. –
Reich, Bernhard: München 1923. In: Grimm, Der Brotladen (1929/30) ist Jae Fleischhacker
S. 242–263. – Rühle, Günther: Theater für die Repu- eine der Vorstufen für Die heilige Johanna der
blik. Im Spiegel der Kritik: Bd. 1. 1917–1925. Berlin Schlachthöfe. Der übergreifende Stoffkreis,
1988. – Schalk, Axel: Geschichtsmaschinen. Über der »Einzug der Menschheit in die großen
den Umgang mit der Historie in der Dramatik des Städte zu Beginn des dritten Jahrtausends«
technischen Zeitalters. Eine vergleichende Unter-
(GBA 26, S. 282 f.), reicht mit B.s Interesse für
suchung. Heidelberg 1989. – Schumacher, Ernst:
Brecht-Kritiken. Berlin 1977. – Tabbert-Jones, Gud- das ›kalte Chicago‹ zurück in die frühen 20er-
run: Die Funktion der liedhaften Einlage in den Jahre (vgl. das Stück Im Dickicht), konnte aber
frühen Stücken Brechts: Baal, Trommeln in der erst durch seine Auseinandersetzung mit Fra-
148 Jae Fleischhacker in Chikago

gen der politischen Ökonomie an Kontur ge- dazu beigetragen, dass er sich mit dem Fleisch-
winnen. hacker-Projekt auf das Thema Weizen konzen-
Der im Fleischhacker-Projekt dokumen- trierte.
tierte Versuch, die Vorgänge an der Weizen- Bei den Recherchen war B. auf jede Hilfe
börse zu analysieren, hatte noch einen wei- angewiesen. So bat er seinen Bruder Walter,
teren Effekt. Wie Elisabeth Hauptmann am der damals Amerika bereiste, in einem Brief
26. 7. 1926 in ihrem Arbeitstagebuch (Text in: vom August 1925 um »alles Auftreibbare über
Kebir, S. 34–63) notierte, kam B. zu der Ein- Weizenbörse, Weizenspekulation usw. [ … ] (in
sicht, dass die Verteilung des Weltweizens und Englisch). Also Romane (außer denen von
andere »Handlungen mit Folgen« kaum mehr Norris), Stücke, short stories, Feuilletons, Po-
durch traditionelle Formen des Dramas darzu- pulärwissenschaftliches?« (GBA 28, S. 238)
stellen seien. Während der Arbeit am Fleisch- Die B. damals schon bekannten Werke von
hacker habe er, so Hauptmann, seine Theorie Frank Norris können als die wichtigsten Quel-
des »epischen Dramas« aufgestellt (Kebir, len für das Fleischhacker-Projekt gelten: die
S. 61). Auch unter diesem Aspekt ist das Frag- ersten beiden Teile eines als The Epic of the
ment im Kontext von B.s dramatischer Pro- Wheat geplanten Zyklus über die Produktion,
duktion der damaligen Zeit zu sehen, von den Transport und den spekulativen Verkauf
Mann ist Mann über das Mahagonny-Song- von Weizen. The Octopus. A Story of Cali-
spiel und die Dreigroschenoper bis hin zu den fornia (1901; dt.: Der Oktopus, 1907) schildert
Lehrstücken. Die Probleme bei der Arbeit an den Kampf einer Eisenbahngesellschaft gegen
den neuen Stoffen führten B. jedenfalls nicht die Farmer, die sich bei fallenden Weizenprei-
nur zur Beschäftigung mit sozialökonomischen sen nicht mehr gegen die überhöhten Trans-
Theorien, sondern auch zu einer prinzipiellen portzölle wehren können und ihr Land ver-
Auseinandersetzung mit der Funktion des kaufen müssen. Ihr Widerstand wird von der
Theaters in der Industriegesellschaft. Armee blutig niedergeschlagen. Zuletzt hat
Quellen für die Arbeit an Fleischhacker wa- Norris den Weg in die Großstadt beschrieben:
ren Reportagen, Zeitungsberichte über Bör- wie die Familie eines der beim Aufstand Er-
senmanöver und Romane, die alle B.s dama- mordeten in San Francisco dem Hungertod
liges Interesse an Amerika belegen. Für die ausgesetzt ist und die ältere Tochter zur Pro-
wiederholte Darstellung der Großstadt Chi- stitution gezwungen wird. Der zweite Teil des
cago und ihres Wirtschaftslebens stützte er Epos, The Pit. A Story of Chicago (1903; dt.:
sich auf eine Vielzahl literarischer Texte und Die Getreidebörse, 1912), erzählt, wie der Spe-
historischer Quellen (vgl. Grimm, S. 184–186; kulant Jadwin an der Weizenbörse aufsteigt
Knopf, S. 67, S. 72, S. 75, S. 89, S. 112 f.). Nach und scheitert. Der dritte (nicht mehr ausge-
Upton Sinclairs The Jungle (1906; dt.: Der führte) Teil sollte unter dem Titel The Wolf. A
Sumpf. Roman aus Chicagos Schlachthäusern, Story of Europe die Auswirkungen des Ge-
1906) und Gustavus Myers’ The History of treidemarktes auf die ›Alte Welt‹ (Europa)
Great American Fortunes (1907; dt.: Money. zeigen.
Die großen amerikanischen Vermögen, 1916) Bis in einzelne Details greifen B.s Fleisch-
las er schon für das Dan Drew-Fragment den hacker-Texte auf Norris zurück, vor allem für
Tatsachenbericht von Bouck White The Book die Vorgänge an der Börse. Hauptmann, die
of Daniel Drew (1910; Das Buch des Daniel nicht nur durch ihre Schreibarbeiten und
Drew, 1922) über den Machtkampf der Eisen- Übersetzungen, sondern auch durch Recher-
bahnmagnaten Vanderbilt und Drew. Dabei chen und eigene Ideen an dem Projekt maß-
war B. aber weniger am Typus des Einzel- geblich beteiligt war, hatte die Börsenhand-
kämpfers interessiert als an der Unberechen- lung aus The Pit in einem Exzerpt zusammen-
barkeit des Marktes, deren Folgen, z. B. Hun- gefasst (vgl. Seliger, S. 111–113). Als Referenz
gersnöte, bei der Getreidespekulation beson- an den Roman The Pit ist wohl auch der Name
ders drastisch sichtbar wurden. Das hat wohl »Jae« zu lesen, da Jadwin bei Norris die Ab-
Börsengeschehen 149

kürzung »J.« trägt (»Jae« bzw. »Jay« ausgespro- entwarf B. als Parallelhandlung den »Einzug
chen). Die Pointe der Handlung, dass J. vom der Familie Mitchel in die große Stadt Chi-
Niedrigpreisspekulanten (»Bären«) plötzlich kago« (GBA 10, S. 278). Dabei handelt es sich
zum rücksichtslosen Hochpreisspekulanten um die zunächst als eigenes Stück geplante
(»Bullen«) wird, hat B. übernommen, ebenso Geschichte einer Farmerfamilie mit dem Titel
die Strategie des »Corners« (vgl. Knopf, S. 87– Eine Familie aus Savannah. Historie in elf Bil-
111). Dieser weitere Fachbegriff der Börsen- dern (BBA 524/92 f.; in der GBA als Vorstufe
sprache bezeichnet die Bildung eines Mono- zum Fleischhacker gewertet). Schon beinahe
pols, wenn es einem Hausse-Spekulanten ge- ruiniert, versuchen die Mitchels einen Neuan-
lingt, den Weizenmarkt zu kontrollieren, d. h. fang in der Stadt. Doch das Unglück verfolgt
sich einen Großteil der zu erwartenden Pro- sie wie ein »Hurrikan« (vgl. GBA 10, S. 279 f.),
duktion durch Optionskäufe zu sichern, bis er alle Mitglieder der Familie gehen zugrunde.
den Preis diktieren kann. Seine Lieferanten, Angesichts zunehmender Probleme mit dem
von denen er die Optionen billig gekauft hat, Fleischhacker-Stück setzte B. auf eine Ver-
müssen nun, um diese Verkäufe an ihn zu de- knüpfung der Börsenhandlung mit diesem Fa-
cken, bei ihm selbst den überteuerten Weizen milienschicksal, wie Hauptmann 1926 notiert
einkaufen. Das Verhältnis von Angebot und hat: »Idee: Fleischhacker und Hurrikanstück
Nachfrage begrenzt allerdings die Dauer sol- zusammenlegen! Scheint die Lösung zu sein.«
cher Corner, da jederzeit neuer Weizen auf den (Kebir, S. 43) Diese Idee verweist ebenfalls auf
Markt kommen kann und die Gegenseite den Norris, und zwar auf seine Geschichte A Deal
Preis zu drücken versucht. Eine nach den gro- in Wheat aus einem (in B.s Nachlassbibliothek
ßen Cornern um die Jh.-Wende in Amerika erhaltenen) gleichnamigen Band von Erzäh-
aufkommende öffentliche Kritik bewirkte 1910 lungen (A Deal in Wheat and Other Stories of
immerhin ein Gesetz zur Kontrolle der Spe- the New and Old West, 1903). Die Erzählung
kulation mit Lebensmitteln; an den Voraus- bietet einen Abriss des gesamten Weizenthe-
setzungen für Terminwarengeschäfte änderte mas: Ein Farmer muss wegen des niedrigen
sich damit aber wenig. Norris’ und Sinclairs Getreidepreises sein Land aufgeben; Speku-
Romane trugen einiges zur Empörung über die lanten betrügen sich gegenseitig und verdie-
Verhältnisse bei, auch wenn sie die Triebkräfte nen an Luftgeschäften; der Farmer erlebt
des Marktes mitunter noch mystifizierten. schließlich, wie die Armen in der Großstadt
Während B.s Fragment in der Darstellung des wegen der steigenden Brotpreise verhungern.
Corners mit Norris übereinstimmt, ist ein an- So ging es Norris mehr noch als in seinen
deres Element des Romans in sein Gegenteil Romanen um die Effekte der Spekulation. B.
verkehrt: die Liebesgeschichte zwischen J. wollte die kausalen Beziehungen zwischen
und der aus ärmlichen Verhältnissen stam- Börse und Armut ebenfalls durch eine Ver-
menden Laura Dearborn. Im Roman setzt J. knüpfung der Handlungsstränge verdeutli-
auch das ihr überschriebene Vermögen aufs chen. Es sollte sich herausstellen, dass der
Spiel, dennoch ist sie bereit, mit ihm eine neue Spekulant Fleischhacker ein verlorener Sohn
Existenz aufzubauen. Bei B. verlangt Fleisch- der Familie Mitchel ist. Außerdem war ge-
hackers Frau Annabel vor der entscheidenden plant, dass Calvin, ein anderer Sohn der viel-
Weizenschlacht eine Garantie von ihm, dass köpfigen Familie, einen Streik anführen und
ihr Besitz unangetastet bleibt: »Ich wünscht als Aufrührer schließlich mit dem Tod auf dem
nicht Abrechnung, wenn ich nicht wüßt / Daß elektrischen Stuhl bestraft würde. Durch diese
viele Rechnung mir nicht mehr bevorsteht« Entwicklung hätte der politische Widerstand
(GBA 10, S. 318). So wollte B. weniger den eine zentrale Bedeutung erlangt und die Mas-
Kampf des großen Mannes zeigen, dem die sen erstmals als ›handelnde‹ Instanz erschei-
Frau alles opfert, als vielmehr die Verhält- nen lassen.
nisse, die solche Einstellungen nicht zulassen. Den erhaltenen Schemata zufolge dachte B.
Zur Konkretisierung des Börsengeschehens zeitweise an eine Einteilung in fünf oder auch
150 Jae Fleischhacker in Chikago

sieben Akte. Die noch für das Hurrikanstück dem er bald vollends ersoffen wäre, in eine
konzipierte Form »Historie in elf Bildern« be- von ihm selbst nicht geahnte Goldgrube.«
gegnet aber auch in einem übergreifenden (S. 301) Die Stelle zeigt, dass B. plante, das
Stückplan mit elf Stationen: »1 / Einzug der Geschehen an der Börse auf einen größeren
Familie Mitchel in die große Stadt Chikago / 2 historischen und politischen Kontext zu bezie-
/ an deren Markt hervortritt J Fleischhacker hen.
mit einer Gruppe Bullen, die das Getreide auf- In diese Richtung weist ebenfalls die Ausge-
kaufen / 3 / Beraubung der Mitchels am ersten staltung der Familienhandlung, die mit dem
Tag / 4 / Fleischhackers Verrat durch Regen Weg in die Großstadt einsetzt. Im Lied einer
begünstigt / 5 / Zerfall der Familie Mitchel in Familie aus der Savannah werden als Etappen
Invasion / 6 / Andauernder Regen und unver- auch San Francisco und Massachusetts ge-
ständige Furcht beirrt Fleischhacker. Er wird nannt, bis die Irrfahrt in Chicago endet, wo es
heimlich Bulle und gerät in einen Corner / keine Aussichten mehr gibt. Ein längerer Sze-
Radio. Streik / 7 / Tod der Familie Mitchel / 8 / nenentwurf beginnt damit, dass die Familie
Fleischhackers großer Corner / 9 / Calvin Mit- nach »Mißernt, Viehseuch im Weizendistrikt /
chels Rede und Tod / 10 / Die Weizenschlacht Verursacht durch Hochwasser, Regen, Dürre«,
/ 11 / Ende« (GBA 10, S. 278 f.). Diese Abfolge sowie »nach zwei verlorenen Prozessen / Ge-
legt eine kausale Verknüpfung des Corners mit gen die Nordsüdliche« auf ein neues Glück in
dem Elend der Massen nahe, sie führt aber den der Großstadt hofft (GBA 10, S. 283). Der
Untergang der Familie Mitchel auch schon mit Sohn Calvin ist bereits skeptisch; als »leeres
der Niederlage Fleischhackers zusammen. Blatt« (S. 284) der Familie wird er zum Vor-
Während B. sich für die einzelnen Transak- boten ihres Untergangs. Aber auch die Tochter
tionen an der Börse an die von Norris vorgege- Kate Mitchel, von ihrer Familie zur Prostitu-
bene Beschreibung des Weizen-Corners hielt, tion verkauft, verwirft die Doppelmoral ihrer
entwarf er als zusätzlichen Konflikt das Ver- Eltern, indem sie sich in pathetischen Versen
hältnis Jaes zu seinen Leuten, einer Gruppe ganz offen zu einer destruktiven Lust bekennt:
überzeugter Bären. Indem er ihnen falsche »Wißt, daß, seit wir in diese Städt geworfen
Ratschläge gibt, kann Jae seinen Corner auf- sind, Verführung / Uns so ausgedörrt hat, daß
häufen. Er spielt mit seiner Autorität (»Mein unser Durst nach mehr als / Einem Mann äugt,
Wort ist / Frisch gedruckte Zeitung«; GBA 10, kommt nicht / Mit Bibelspruch und Essig-
S. 304), um sich zum Beherrscher Chikagos schwamm. Die Zeit / Ist weiter.« (S. 286) Die
aufzuschwingen (»Die Stadt wartet auf ihren Titel dieser von B. mehrfach variierten Szene
Genickschlag!«; S. 302). In Versen, die wie bei verweisen auf ein asoziales Moment im Groß-
B. häufig den Gestus von Bibeltexten anneh- stadtleben, zugleich aber auf den Umschlag
men, wird seine Selbstüberschätzung ange- von Elend und Lust in Revolution: »Kate Mit-
deutet und zugleich ein großer Spaß: »Ich habe chel enthüllt ihren Eltern schlechte Be-
gehabt / Den Weizen Amerikas und ich wollte gierden« (S. 286 f.), »Kate Mitchel kündigt
/ Haben den Weizen der Erde [ … ] / Ich bin ihrer Familie künftigen Aufruhr an«
gewesen zweimal zwei Ernten der größte (S. 287).
Mann / Und ich wollte / Größer sein, als ich Seine konkreteste Form nimmt der Aufruhr
selber es war / Großer Spaß« (S. 299). An- in einer Skizze an, die den Protest der Masse
gelehnt an die von Hauptmann gesammelten gegen die Unmenschlichkeit der Spekulation
Artikel produzierte B. ›Dokumente‹: Eine mit vorführt: »In dieser Stunde zieht das Volk Chi-
»Der Sturm am Getreidemarkt« (S. 300) kagos / Acht Menschen breit und schweigend /
überschriebene Chronik schildert nicht nur Waffenlos durch Chikagos Straßen, zu bekun-
das Scheitern des Corners, sondern auch eine den / Daß menschliche Umtrieb gegen das
rasche Wendung der Lage: »Die Kriegsge- Brot der Menschheit / Unmenschlich sind«
rüchte verwandelten über Nacht Joe Fleisch- (GBA 10, S. 314). Der Kontext des Fragments
hackers verhängnisvollen Weizenvorrat, in legt nahe, dass der Protest der Masse sich
Unbegreiflichkeit des Marktes 151

nicht nur gegen Spekulation wenden, sondern Szenen mit Fleischhacker und seiner Clique
auch die Familie als solche angreifen sollte. vorgebildet ist. Die Weizenthematik ist außer-
Jedenfalls erscheint der Streik für das Schick- dem in Exposees für Filme fortgeführt (Der
sal der Familie ebenso verheerend wie Jaes Hamlet der Weizenbörse, The King’s Bread und
Spekulationen. Beide Söhne sind, wie Haupt- Bagaglia) und lässt sich weiterverfolgen bis
mann in ihr Tagebuch notierte, am Untergang hin zum Caesar-Roman. B.s Auseinanderset-
der Familie schuld: »Durch Calvin + Joe geht zung mit der Unbegreiflichkeit des kapitalisti-
die Familie kaputt.« (Kebir, S. 50) Dass Calvins schen Marktes kann aber auch insofern als
Untergang von J. beschlossen werden sollte produktive Krise erscheinen (»Dann half mir
(GBA 10, S. 277), hätte die Handlung um das eine Art Betriebsunfall weiter«; GBA 22,
bei B. häufige Motiv des Zweikampfes erwei- S. 138), als sie einen Funktionswechsel des
tert. Den ausgeführten Szenen nach ging es B. Theaters (GBA 21, S. 440) nahe legte. So be-
insgesamt darum, die Verwüstung der Bezie- tonte B. um 1930 den Schock, welchen »die
hungen unter dem Gesetz des Marktes und Sichtung der Ökonomie« seiner neuen Drama-
dessen Eigendynamik zu zeigen, die »Eigen- tik versetzt hatte. »Als realste Realität trat eine
artigkeit von Geldkatastrophen« (S. 279) bestimmte Literatur auf (schon in den Vor-
zwischen der Naturgewalt des Hurrikans und studien zu Stücken wie ›Der Weizen‹!), in der
der von Menschen entfachten Gewalt des nicht nur über die neue Materie des Dramati-
(Wirtschafts-)Kriegs. schen, nämlich die Beziehungen der Men-
Grundlegend für die Deutung des Frag- schen untereinander, Konkretes bereits vor-
ments bleiben die Arbeiten von Seliger und handen war, sondern auch die Dialektik als
Parmalee, die Fleischhacker im Kontext von solche erkannt und ausgebaut vorhanden war«
B.s Amerika-Bild und als Anlass für seine Aus- (S. 443). Insofern kann das Fragment als wich-
einandersetzung mit Fragen der Ökonomie tiger Anstoß für B.s Arbeit an neuen Theater-
diskutiert haben. Parmalee macht deutlich, formen gelten, die den bürgerlichen Unter-
wie zwiespältig B.s Haltung dem Projekt ge- haltungsapparat ebenso wie die Rolle des Zu-
genüber war (Parmalee, S. 135–140). Schon schauers darin in Frage stellten.
1926 hatte er es in dem Gedicht Diese babiloni- Der Tragweite des Fragments konnte die oh-
sche Verwirrung der Wörter als auswegloses nehin spärliche Rezeption bislang nur ansatz-
Unterfangen kommentiert: »Da erkannte ich, weise Rechnung tragen. Die Erstveröffentli-
daß ich / Etwas erzählte, was / Ein Mensch chung des Materials in der GBA ist da ein
nicht verstehen kann« (GBA 13, S. 357). Und notwendiger Schritt, der aber mit einigen
noch 1935, auch nach dem Studium des Kapi- Mängeln behaftet bleibt: Wichtige Textstellen,
tals, behielt das Thema seine Unbegreiflich- z. B. auch die Exzerpte aus The Pit, und zahl-
keit: »Als ich vor Jahren bei dem Studium der reiche Varianten fehlen, außerdem verstellt
Vorgänge auf der Weizenbörse Chikagos / eine schwer nachzuvollziehende Anordnung
Plötzlich begriff, wie sie dort das Getreide der der Texte den wegen der Verknüpfung ver-
Welt verwalteten / Und es zugleich auch nicht schiedener Stückentwürfe besonders wichti-
begriff und das Buch senkte / Wußte ich gen Entstehungsprozess.
gleich: du bist / In eine böse Sache geraten.« Der Uraufführung von Jae Fleischhacker im
(GBA 14, S. 296) Diese Einsicht in die Irratio- Berliner Ensemble am 21. 3. 1998 (Regie: Tho-
nalität des Kapitalismus hat B. in verschie- mas Heise, Bühnenfassung: Thomas Heise
denen Zusammenhängen weiter beschäftigt. und Ute Scharfenberg, Musik: Wolfram Krabi-
Die Bedeutung des Projekts als Katalysator für ell, gespielt von der »Bolschewistischen Kur-
B.s weitere Produktion zeigt sich nicht nur mit kapelle Schwarz-Rot«) kommt das Verdienst
der Heiligen Johanna, auf die auch eine Szene einer längst fälligen szenischen Arbeit am Text
»Heilsarmee. Musik mit Blech« vorausweist zu. Mit plakativen Effekten (von der fern-
(GBA 10, S. 273) oder im Arturo Ui, dessen sehenden Mutter im Plastiksessel bis zur Auf-
Milieu aus Spekulanten und Gangstern in den hängung der verkauften Tochter neben
152 Jae Fleischhacker in Chikago

Fleischteilen) suggerierte die Aufführung eine


eingängige Kritik am aktuellen Kapitalismus.
Mann ist Mann
Dabei stand die Selbstzerstörung der Klein-
bürger-Familie im Mittelpunkt. Ein stärkeres
Gewicht auf die Weizenhandlung und die da- Entstehung
von bedingte Heterogenität des Materials
legte eine Rundfunkbearbeitung von Ulrich
Gerhardt (Deutschlandfunk/Bayrischer Rund- Die Entstehungsgeschichte von Mann ist
funk 1997; Ursendung: 21. 2. 1998). In dieser Mann kann in vier Arbeitsphasen unterteilt
Radiocollage sind Texte aus dem Fragment werden. In der ersten Phase, die von Sommer
und den daraus hervorgegangenen Erzählun- 1918 bis Anfang 1921 reichte, entwickelte B.
gen B.s mit aktuellen Berichten von deutschen die Grundidee von der Auswechselbarkeit der
und amerikanischen Aktienbörsen durchsetzt; Individualität, entwarf die Grundfabel zu dem
auch der Anfang des Kommunistischen Mani- Stück Galgei und führte drei Szenen aus (vgl.
fests ist zu hören. Musik, O-Töne und rhythmi- Wege, S. 29–52). Im Sommer 1920 schrieb B.
siertes Sprechen erweisen die Aktualität des außerdem das Gedicht Das war der Bürger
Fragments auch von seiner Form her und ge- Galgei, das in konzentrierter Form die Grund-
ben mitunter eine Ahnung von der poetischen problematik von Galgei darlegt: Dem Bürger
Qualität der Texte sowie der in ihnen ange- Galgei wird von »Schurken« (GBA 13, S. 157)
legten Vielstimmigkeit. gesagt, »er sei / Der Butterhändler Pick«
(ebd.). Obwohl Galgei es nicht will, wird er
am »End der böse Pick« (ebd.), weil er seine
Literatur: Identität nicht beweisen kann. Wie später bei
Bahr, Gisela E. (Hg.): Bertolt Brecht. Die heilige Mann ist Mann noch deutlicher herausgear-
Johanna der Schlachthöfe. Bühnenfassung, Frag- beitet wurde, scheint der Austausch der In-
mente, Varianten. Frankfurt a. M. 1976. – Gerund, dividualität prinzipiell nicht negativ: »Der
Sigmar: Lernen als ›Produktion‹. Lernen, Lehre Bürger Galgei konnte / Gut auch ein andrer
und Lehrer im Leben Bertolt Brechts. Aachen 1996. sein.« (Ebd.) Handlungsort des Galgei-Frag-
– Grimm, Reinhold: Bertolt Brechts Chicago – ein
ments war im Gegensatz zu den späteren
deutscher Mythos? In: Lützeler, Paul Michael (Hg.):
Zeitgenossenschaft: Studien zur deutschsprachigen Ausarbeitungen Augsburg. Da andere Projekte
Literatur im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1987, für B. an Priorität gewannen, stellte er die
S. 176–190. – Kebir, Sabine: Ich fragte nicht nach Arbeit am Galgei Anfang 1921 ein (Näheres zu
meinem Anteil. Elisabeth Hauptmanns Arbeit mit Galgei vgl. Stückfragmente und Stückprojekte,
Bertolt Brecht. Berlin 1997. – Knopf, Jan (Hg.): BHB 1).
Brechts ›Heilige Johanna der Schlachthöfe‹. Frank-
Ende 1924 ist der Beginn der zweiten Ar-
furt a. M. 1986. – Mittenzwei, Bd. 1. – Parmalee,
Patty Lee: Brecht’s America. Miami 1981. – Seliger, beitsphase anzusetzen, die 1928 mit den Bear-
Helfried W.: Das Amerikabild Bertolt Brechts. Bonn beitungen für die erste Berliner Aufführung
1974. abschloss. In diesem Zeitraum entstand die
Patrick Primavesi
erste Fassung von Mann ist Mann. Unter dem
Einfluss der Lektüre Rudyard Kiplings wurde
der Schauplatz der Handlung nach Indien ver-
legt, das bürgerliche Milieu wurde durch ein
militärisches ersetzt. In Zusammenarbeit mit
Elisabeth Hauptmann, die auf B.s Wunsch ab
Januar 1925 vom Kiepenheuer Verlag für die
redaktionelle Betreuung unter anderem von
Mann ist Mann, angestellt wurde (Hecht,
S. 180; vgl. auch Kebir, S. 29 f.), entstanden bis
Ende 1925 zahlreiche Entwürfe und Szenen.
Entstehung 153

Eine frühe Variante der zweiten Szene (Straße der Nationalsozialisten und der von ihnen aus-
bei der alten Gelbherrpagode) wurde Mitte gehenden Fanatisierung großer Menschen-
April im Berliner Börsen-Courier veröffent- massen erschien B. eine positive Darstellung
licht. Weihnachten 1925 übergab B. seiner des Protagonisten, der sein Ich ohne großen
Mitarbeiterin Hauptmann eine Mappe, in der Widerspruch ummontieren lässt, nicht länger
er sämtliche bis dahin vorliegenden Arbeits- haltbar. 1929 entstand eine zweite Fassung von
ergebnisse zu Mann ist Mann zusammenge- Mann ist Mann, die diesen Bedenken Rech-
stellt hatte (vgl. Wege, S. 65–153). Das nung trug. Um Galy Gays Verwandlung als ne-
›Hauptmann-Manuskript‹ dokumentiert in gativen Akt zu zeigen, wurde das Lustspiel von
sehr umfangreicher Weise den Arbeits- und B. an wichtigen Stellen verändert. Die bedeu-
Entstehungsprozess des Lustspiels. tendste Änderung stellte hierbei die ersatzlose
Bis zum Frühsommer 1926 wurde die erste Streichung der letzten beiden Szenen dar, so
Fassung von Mann ist Mann sowie der Anhang dass die Szene 9 mit abgewandeltem Ende den
Das Elefantenkalb / oder Die Beweisbarkeit Stückschluss bildete (zu weiteren Modifika-
jeglicher Behauptung fertig gestellt. Neben tionen vgl. GBA 2, S. 411 f.). Außerdem wurde
Hauptmann sind im geringeren Maße Emil Das Elefantenkalb gestrichen und bis 1953
Burri, Caspar Neher und Bernhard Reich als nicht wieder aufgenommen. Die Fassung von
Mitarbeiter zu nennen. 1929 wurde als Bühnenmanuskript im Arcadia
Die Uraufführung des Stücks fand Ende Sep- Verlag publiziert.
tember parallel in Darmstadt und Düsseldorf Eine dritte Fassung des Stücks entstand
statt. Anfang 1927 lag das Lustspiel im Erst- 1930/31, als B. die zweite Berliner Inszenie-
druck (Propyläen-Verlag) vor. Zu dieser Zeit rung, die im Februar 1931 Premiere hatte und
arbeitete B. eine Hörspielfassung aus, die am bei der B. selbst Regie führte, vorbereitete.
18. 3. 1927 in der Funkstunde Berlin gesendet Wiederum verzichtete B. auf die ursprüngli-
wurde. In seiner Vorrede wertete B. den Akt chen Szenen 10 und 11, das Ende des Stücks
der Ummontierung Galy Gays eindeutig als wurde abermals verändert, um die Negativität
positiv: »Sie sind gewohnt, einen Menschen, der Verwandlung Galy Gays weiter zu verstär-
der nicht nein sagen kann, als einen Schwäch- ken. Dies geschah auch durch eine neue Posi-
ling zu betrachten, aber dieser Galy Gay ist gar tion des ›Zwischenspruchs‹, der nun zur
kein Schwächling, im Gegenteil, er ist der Vorrede wurde und durch vier neu eingefügte
Stärkste. Er ist allerdings erst der Stärkste, Zeilen die Beurteilung von Galy Gays Ummon-
nachdem er aufgehört hat, eine Privatperson tierung vorwegnahm. Eingebaut wurde außer-
zu sein, er wird erst in der Masse stark.« (GBA dem das Lied vom Fluß der Dinge. 1936 erar-
24, S. 41) Weitere Ausstrahlungen als Hörspiel beitete B. auf der Grundlage des Aufführungs-
folgten. textes von 1931 die Fassung, die 1938 in den
Für die erste Berliner Inszenierung, die im Gesammelten Werken (Malik-Verlag, London)
Januar 1928 Premiere hatte, steigerte B. die erschien. Änderungen sind zwar vorhanden,
positive Bewertung der Ummontierung des insgesamt aber nicht als einschneidend ein-
Protagonisten zusätzlich, indem er drei neue zustufen, da die Tendenz der Bewertung Galy
Texte einfügte. Neben dem Kanonensong, der Gays nicht revidiert wurde (Näheres vgl. GBA
später in die Dreigroschenoper übernommen 2, S. 413). Ebenfalls 1936 (zum Teil auch schon
wurde, kamen ein Schlußsong des Galy Gay, 1931) entstanden außerdem die Anmerkungen
sowie ein Monolog der Begbick hinzu, der ex- zum Lustspiel ›Mann ist Mann‹ (GBA 24,
plizit festhielt: »der ›neue‹ Mann / Ist der S. 45–51), die in der Malik-Ausgabe Aufnahme
bessere Mann« (GBA 2, S. 411). fanden. B. machte darin Vorschläge zur Kon-
Die dritte Arbeitsphase, die den Zeitraum kretisierung der Parabel; so sollte diese »statt
von 1929 bis 1938 umfasste, stand im Zeichen in Indien in Deutschland spielen. Die Samm-
einer Umwertung der Verwandelbarkeit Galy lung der Armee zu Kilkoa kann in den Partei-
Gays. Angesichts des zunehmenden Einflusses tag der NSDAP zu Nürnberg verwandelt wer-
154 Mann ist Mann

den.« (S. 51) Anstelle des Elefanten sollte Galy Quellen


Gay ein gestohlenes SA-Auto verschieben, der
buddhistische Tempel sollte in einen jüdi-
schen Trödlerladen umgewandelt werden Die Grundthematik von Mann ist Mann, die
(ebd.). An den Korrekturen für die Malik-Aus- Austauschbarkeit der menschlichen Identität,
gabe war Margarete Steffin beteiligt. kann als Gegenentwurf zum expressionisti-
In den darauf folgenden 15 Jahren beschäf- schen Wandlungsdrama verstanden werden,
tigte B. sich nicht mehr mit Mann ist Mann. was ein Vergleich mit zeitgleich entstandenen
Die vierte und letzte Arbeitsphase ergab sich Dramen wie Ernst Tollers Die Wandlung (vgl.
1953, als B. für die Ausgabe der Ersten Stücke Wege, S. 253) oder Georg Kaisers Stücken Die
im Suhrkamp Verlag die letzte Fassung des Lederköpfe und Zweimal Oliver (vgl. S. 256 f.)
Lustspiels entwickelte. Diese war eine Zwi- offen legt. B. stellte »dem irrational-metaphy-
schenlösung der Fassungen von 1926 und 1938 sisch besetzten Begriff der Verwandlung den
und bildete eine Annäherung der beiden Be- technischen der Montage« entgegen (Heinze,
wertungspositionen. Die ursprünglichen elf S. 198). Während Tollers Friedrich durch ein
Szenen von 1926 wurden durch die Aufnahme Schlüsselerlebnis sein ›wahres Ich‹ entdeckt
der gestrichenen Szenen 10 und 11 wieder- und sich zum ›Menschen‹ wandelt sowie Kai-
hergestellt, der Text folgte primär der Fassung sers Oliver durch den Tausch der Identität
von 1938. Durch Einfügungen in der letzten wahnsinnig wird, entwickelt sich B.s Galy Gay
Szene wurde das »Wachstum ins Verbrecheri- von einem armen, friedlichen Packer in eine
sche« (Bei Durchsicht meiner ersten Stücke; ›menschliche Kampfmaschine‹ und wird (zu-
GBA 23, S. 245) gegenüber der Fassung von mindest in der ersten Fassung) durch die Auf-
1926 deutlicher herausgestellt (Näheres vgl. gabe seines »kostbaren Ich« (Rede im Rund-
GBA 2, S. 413 f.). Als Anhang fügte B. Das funk; GBA 24, S. 42) nicht einmal unglücklich,
Elefantenkalb mit dem neuen Untertitel Ein denn es ist »eine lustige Sache« (ebd.). Wie
Zwischenspiel für das Foyer wieder hinzu. Carl Wege hervorhebt, liegt der wesentliche
Die Musik zu Mann ist Mann spiegelt die Unterschied zwischen B. und beispielsweise
mehrstufige Entstehungsgeschichte des Stücks Kaiser darin, dass bei Kaiser »der Identitäts-
wider. Schon in den Vorstufen des Lustspiels verlust noch ganz als individueller Sonderfall
räumte B. der Musik eine hohen Stellenwert [erscheint] – als ›Fall‹ für die Pathologie«, wo-
ein (vgl. Lucchesi/Shull, S. 345 f.). Der 1926 hingegen für B. »der Ich-Verlust, obwohl am
veröffentlichte Stücktext enthielt neben dem Einzelbeispiel vorgeführt, bereits kein Indivi-
Mann-ist-Mann-Song sowie dem Song von dualschicksal mehr [ist], sondern ein massen-
Witwe Begbicks Trinksalon nur »einige Hin- haft auftretendes soziales Phänomen – ein Fall
weise auf Märsche, Trompetensignale, Trom- für die Soziologie« (Wege, S. 257).
melwirbel« (S. 346). In der Düsseldorfer Ur- In der zweiten Arbeitsphase sind zudem
aufführung wurde eine Musik von Josef Vors- zahlreiche Umgestaltungen durch die Lektüre
mann verwendet. Für das Hörspiel 1927 Rudyard Kiplings angeregt worden, so dass
schrieb Edmund Meisel eine Musik, diese James K. Lyon von einer »Kiplingisierung« der
wurde auch bei der ersten Berliner Inszenie- Dramenidee spricht (Lyon 1976, S. 81). Auf-
rung eingesetzt. In der zweiten Berliner Auf- fälligste Veränderung ist die Verlegung der
führung wurden neben der Vertonung von Lied Handlung nach Indien, was vor allem auf die
vom Fluß der Dinge (S. 354) vermutlich zwei atmosphärische Wirkung zielte; für B. stellte
weitere Musikstücke von Kurt Weill verwen- Indien im Stückkontext »einfach ein fremdes
det; diese gelten als verschollen (vgl. S. 347; Land« (Allgemeine Theorie der Verfremdung;
Drew, 236 f.). Für die Stuttgarter Inszenierung GBA 22, S. 219) dar. Ansonsten sind viele klei-
von 1956 schrieb Paul Dessau eine Musik. nere Elemente und Abläufe Gedichten und vor
allem den Erzählungen Kiplings entnommen
(vgl. dazu im einzelnen Lyon 1976, S. 84–97).
Quellen 155

Bemerkenswert ist aber, dass die Grundthema- Galy Gays in gereimter Form kommentiert,
tik von Mann ist Mann, die menschliche In- dem Stück durch »einen beweisenden, demon-
dividualität und ihre Veränderbarkeit, in Kip- strierenden Gestus« (Müller, S. 93) den Stel-
lings Werk keine Rolle spielt, weshalb das lenwert eines »gesellschaftlichen Experi-
Stück »mehr und zugleich weniger von Kipling ments« (ebd.) verleiht und damit die Parabel-
[enthält] als irgendein anderes Werk Brechts« form begründet.
(S. 80). Im Mittelpunkt der Handlung steht der Pak-
Ferner zeigen sich in der ersten Pagoden- ker Galy Gay, der sich auf den Weg macht,
szene, in welcher der Soldat Jeriah Jip bei dem einen Fisch zu kaufen. Unterwegs trifft er auf
Versuch, Geld aus dem Tempel zu stehlen, mit die drei Soldaten Uria Shelley, Jesse Mahoney
den Haaren kleben bleibt, Parallelen zu Alfred und Polly Baker, die ihren vierten Mann bei
Döblins Roman Die drei Sprünge des Wang-lun dem Einbruch in einen Tempel zurücklassen
(Schumacher, S. 517, Anm. 2). Der Stücktitel mussten und nun für den Appell einen vierten
Mann ist Mann wird in Ivan Golls Gedicht Der Mann benötigen, den sie in Galy Gay finden.
Panamakanal (1924; erschienen in der Antho- Der Bonze Wang entdeckt den versteckten
logie Der Eiffelturm) vorweggenommen. Auf vierten Mann, Jeraiah Jip, aber in der Pagode,
die mittelbaren Einflüsse von Karl Marx identifiziert ihn als den Dieb und beschließt,
(Schechter, S. 69 f.), Karl Valentin (S. 70 f.) und den finanziellen Verlust, der durch den Dieb-
Charlie Chaplin (S. 72 f.) hat Joel Schechter stahl entstanden ist, auszugleichen, indem er
hingewiesen. Bezüge zwischen Mann ist Mann Jip als Gott in einem Gebetskasten präsentiert.
und der Philosophie Friedrich Nietzsches, be- Da Jip sich durch gutes Essen und Alkohol
sonders hinsichtlich der Aspekte ›Verlust der zunächst von Wang ködern lässt, sind die drei
Identität‹ und ›Infragestellung des traditionel- verbleibenden Soldaten genötigt, Galy Gay
len Wahrheitsbegriffs‹, stellt Ralf Witzler nun langfristig in ihren vierten Mann zu ver-
überzeugend her (vgl. Witzler, S. 145–155). wandeln. Sie verwickeln den Packer, der seine
Identität nicht bereitwillig aufgeben will, mit
Hilfe der Kantinenbesitzerin Leokadja Beg-
bick in einen skurrilen Handel und verurtei-
Beschreibung len ihn zum Tode, als sich das scheinbare Ge-
schäft als kriminell herausstellt. Angesichts
der Todesgefahr ist Galy Gay bereit, die Identi-
Die Fassung erster Hand umfasst elf Szenen, tät des fehlenden Soldaten, zwar zunächst nur
von denen vier in Witwe Begbicks Kantine äußerlich, später aber auch innerlich anzu-
spielen und drei in der Pagode, die von den nehmen.
Soldaten zu Beginn ausgeraubt wird. Zwei Mann ist Mann ist B.s erstes Parabelstück
Szenen zeigen Galy Gay ›unterwegs‹, in Szene und verwendet bereits einige epische Mittel,
3 befindet er sich auf der Landstraße zwischen die B. später systematischer eingesetzt hat: die
Kilkoa und dem Militärkamp, in Szene 10 in direkte Anrede des Publikums; die Kommen-
einem rollenden Eisenbahnwaggon, der die tierung des Geschehenen durch Figuren, die
Soldaten zum Kriegsgeschehen bringt. Korres- aus ihrer Rolle heraustreten, sich zum Teil
pondierend mit dem Inhalt besteht der größte auch selbst vorstellen; Gedichte und Songs.
Kontrast der Schauplätze zwischen Szene 1,
die den Packer Galy Gay bei sich zu Hause in
Kilkoa zeigt, und Szene 11, in der Galy Gay
sich vollständig in den Soldaten Jeraiah Jip Musik und Songs
verwandelt hat und eine Bergfestung in Tibet
erobert. Zwischen Szene 8 und 9 wird von der
Witwe Begbick außerdem ein »Zwischen- Mehrere Märsche betonen das militärische
spruch« vorgetragen, der die Verwandlung Milieu, in dem das Stück spielt. Musikalisch
156 Mann ist Mann

untermalt sind außerdem wichtige gespro- ten, die schließlich vollständig gelingt. Die
chene Textpartien, so z. B. der »Zwischen- zweite wichtige Figur, die sich anders als Galy
spruch« oder Galy Gays Leichenrede. Gay an die selbstdefinierte Identität klammert
Von besonderer Bedeutung sind der Mann- und alle Maßnahmen ergreift, diese zu erhal-
ist-Mann-Song, der Song von Witwe Begbicks ten, ist der Sergeant Fairchild. Von der Ver-
Trinksalon sowie in der späteren Fassung das wandlung Galy Gays außerdem betroffen sind
Lied vom Fluß der Dinge. Der Mann-ist- Jeraiah Jip, dessen Identität Galy Gay am
Mann-Song hat leitmotivische Funktion und Ende beansprucht, sowie die drei Soldaten,
wird an mehreren Stellen des Lustpiels ge- deren Identität als Gruppe sich durch die Auf-
sungen, so in Szene 2, nach jeder Nummer in nahme Galy Gays als Ersatz für Jip ebenfalls
der neunten Szene und am Ende des Lust- stark verändert. Nur der Kantinenbesitzerin
spiels, beim Einmarsch nach Tibet. Er thema- Begbick gelingt es, den Kern ihrer Individuali-
tisiert zum einen wieder die Armee-Atmo- tät zu bewahren.
sphäre, zum anderen nimmt er auch Bezug auf Galy Gay charakterisiert sich selbst in der
Titel (und These) des Stücks: »Denn Mann ist Szene 1 als »einen Packer, der nicht trinkt,
Mann!« (GBA 2, S. 126 u. a.) ganz wenig raucht und fast keine Leidenschaf-
Der Song von Witwe Begbicks Trinksalon ten hat« (GBA 2, S. 95). Außerdem hat er, wie
kommentiert die Funktion der Armeekantine seine Frau bemerkt, »ein weiches Gemüt«
und ihrer Besitzerin. Der Trinksalon besteht (ebd.), was sich dann augenscheinlich darin
schon so lange, dass er als Institution zu be- äußert, dass Galy Gay, der nur kurz einen Fisch
zeichnen ist: »Er fuhr durch dieses Indien kaufen gehen wollte, statt wie versprochen,
schon / Als statt Whisky du der Mutter Milch »in einer Minute« (ebd.) nach Hause zurück-
noch trankst.« (GBA 2, S. 104) Auch dieser zukehren, sich »fast zehn Stunden durch lauter
Song verlebendigt das Milieu der Soldaten, in Unvorhergesehenes« (S. 101) von seinem ei-
dem das Stück spielt. gentlichen Ziel abhalten lässt. Szene 3 zeigt
In der Fassung von 1938 wurde der Mann- ihn der Kantinenbesitzerin Witwe Begbick ei-
ist-Mann-Song gestrichen. Stattdessen kehrte nen Gurkenkorb hinterher tragen. Auf die ein-
das von der Witwe Begbick gesungene Lied deutigen sexuellen Angebote der Begbick geht
vom Fluß der Dinge an wichtigen Stellen wie- er zwar nicht ein, sieht sich aber zumindest
der. Inhaltlich deckt es sich stärker mit der genötigt, ihr eine Gurke abzukaufen, denn er
Verwandlung Galy Gays. Es thematisiert Ver- will sie »keinesfalls enttäuschen« (S. 102). Die
änderung und die Anpassung an diese in dem drei Soldaten, die im Gebüsch das Gespräch
Bewusstsein, dass auf das Alte immer etwas zwischen Galy Gay und der Kantinenbesitzerin
Neues folgt: »Beharre nicht auf der Welle / Die belauschen, schließen aus seinem Verhalten,
sich an deinem Fuß bricht, solange er / Im dass er »ein Mann [ist], der nicht nein sagen
Wasser steht, werden sich / Neue Wellen an kann« (ebd.), weshalb sich Polly mit ihm be-
ihm brechen.« (GBA 2, S. 203, vgl. auch S. 204, kannt macht und den Packer auf raffinierte Art
S. 210 u. a.) dazu bewegt, ihn in die Kantine der Soldaten
zu begleiten (S. 103).
Polly ist es auch, der Galy Gay dann um
»einen kleinen Gefallen« bittet (GBA 2,
Die Austauschbarkeit der S. 105); auch hier gelingt es dem Soldaten
menschlichen Individualität sprachgewandt, die Abweisung des Packers als
Zusage zu deuten, worauf Galy Gay keine Ge-
genwehr leistet. Schüchtern erkundigt er sich
Mann ist Mann behandelt die Thematik der nur, ob die Aktion »nicht gefährlich« (S. 106)
Auswechselbarkeit der Individualität auf meh- sei, was Polly verneint. Galy Gay meldet sich
reren Ebenen. Der zentrale Handlungsstrang dann beim Appell wie von den Soldaten aufge-
ist die Verwandlung Galy Gays in einen Solda- tragen mit »Jeraiah Jip« (S. 108). Da keine
Die Austauschbarkeit der menschlichen Individualität 157

negativen Folgen durch die Aktion für ihn ent- ligkeit ein »Geschäft« (S. 119) an, was tatsäch-
stehen, freut er sich, behilflich gewesen sein lich Galy Gays Neugier weckt, ihn zum Bleiben
zu können: »Und es kommt ja auch nur darauf bewegt und schließlich dazu führt, dass er
an in der Welt, daß man auch einmal [ … ] so seine Identität vor der eigenen Frau leugnet
ist, wie die Leute einen haben wollen, denn es (S. 120 f.). Das gelingt ihm so überzeugend,
ist ja so leicht.« (S. 109) Übermütig bietet er dass diese in dem Bewusstsein geht, »als sei er
weitere Mitarbeit an: »Könnte ich Ihnen nicht etwas anders als mein Mann Galy Gay, der
auch da behilflich sein?« (Ebd.) Die Soldaten Packer« (S. 122). Doch auch dieser Rollen-
lehnen das Angebot ab, da sie noch mit der tausch ist ein von Galy Gay gespielter, er gibt
Wiederkehr des echten Jip rechnen. Galy Gay vor, nicht Galy Gay zu sein, glaubt es selbst
verleugnet am Ende der Szene gegenüber der aber nicht. Uria definiert sein Ziel indes wei-
Witwe Begbick erstmals unaufgefordert seine tergehender: »Vor die Sonne siebenmal unter-
Identität. Der Mann, der angeblich ›nicht nein gegangen ist, muß der Mann ein anderer Mann
sagen kann‹, beteuert zweimal mit einem sein.« (Ebd.) Um das zu erreichen, inszenieren
Kopfschütteln, nicht Galy Gay zu sein und er- sie ein Geschäft mit einem Elefanten, den es
klärt dann auch verbal: »Nein, ich bin es gar nicht gibt und für den Galy Gay einen
nicht.« (Ebd.) Das zeigt, dass Galy Gay – zu- Scheck annimmt. Danach verhaften sie ihn. In
mindest unter dem Einfluss von Alkohol und Anbetracht der Gefahr leugnet Galy Gay seine
Zigarren – in dieser frühen Phase, ohne den Identität (S. 131), Jeraiah Jip will er aber auch
Druck, eine langfristige Entscheidung treffen nicht sein (ebd.) und auf die Frage, wer er
zu müssen, durchaus Spaß am Identitätstausch denn dann sei, gibt er keine Antwort (S. 132).
zu haben scheint. Als er aber hört, dass Galy Gay mit dem Tode
Das ändert sich, als die drei Soldaten erken- bestraft werden soll, gibt er vor, mit den an-
nen, dass ihr vierter Mann nicht mehr zurück- deren drei Soldaten in »Kankerdan« (S. 133)
kehren wird und sie Galy Gay dazu bewegen gewesen zu sein und behauptet: »Mein Name
müssen, dauerhaft als ›Jeraiah Jip‹ bei ihnen ist Jip, ich kann es beschwören.« (Ebd.) Kurz
zu bleiben. Prinzipielle Schwierigkeiten, eine vor der Erschießung nimmt er diese Behaup-
Person in eine andere zu verwandeln, sehen tung wieder zurück: »ich bin einer, der nicht
sie nicht, denn »Einer ist keiner.« (GBA 2, weiß, wer er ist« (S. 136), stellt aber dennoch
S. 117) Erst über die Gruppe bzw. über das klar: »Der erschossen werden soll, bin ich
Kollektiv, in dem er lebt, werde der Mensch nicht.« (Ebd.) Er fällt in Ohnmacht, als die
definiert, weshalb man über »weniger als 200 Soldaten schießen.
zusammen [ … ] gar nichts sagen« (ebd.) Aus der Bewusstlosigkeit erwacht, wird er
könne. Speziell Galy Gays Verwandlung sehen mit »Jip« (GBA 2, S. 140) angesprochen und
sie als umso einfacher an, als er, in ärmlichen gebeten, die Leichenrede für den »toten Galy
Verhältnissen lebend, ohnehin nichts zu ver- Gay« (ebd.) zu halten. Galy Gay vermag es
lieren hat: »So einer verwandelt sich ganz von nicht, in den Sarg hineinzuschauen; er be-
selber. Wenn ihr den in einen Tümpel zeichnet sich als »der Beide« (S. 142), befindet
schmeißt, dann wachsen ihm in zwei Tagen sich also in einer Übergangsphase zwischen
zwischen den Fingern Schwimmhäute.« den Identitäten. Er erkennt, dass ein einzelner
(Ebd.) Mensch seine Identität erst durch den Bezug
Zunächst versuchen die drei Soldaten, Galy zu anderen Menschen definieren kann: »Einer
Gay von den angenehmen Seiten des Soldaten- ist keiner. Es muß ihn einer anrufen.« (Ebd.)
lebens zu überzeugen (GBA 2, S. 118), doch Deshalb fragt er die drei Soldaten: »Wie sagt
dieser bittet sie, ihn nicht »unglücklich« (ebd.) ihr aber zu mir, wenn ihr was von mir wollt?«
zu machen. Auf die Frage, warum er nicht Jip (S. 143) Da er die Antwort »Jip« (ebd.) be-
sein will, antwortet er: »Weil ich Galy Gay kommt, ist er bereit, das als seine Identität zu
bin.« (Ebd.) Um ihn zu halten, bieten ihm die akzeptieren und kann Galy Gays Leichenrede
Soldaten als Ausgleich für die geleistete Gefäl- (S. 143 f.) halten. Bei dem Abmarsch Richtung
158 Mann ist Mann

Tibet beginnt Galy Gay bereits, Ansprüche an che Stelle‹ sind sein »weiches Gemüt« (S. 95)
sein Kochgeschirr und sein Gewehr zu stellen und seine Vitalität, weshalb es den drei Solda-
(S. 144). ten auch gelingt, die ›Festung‹ seiner Identität
Schon in der nächsten Szene hat er seinen zum Zusammensturz zu bringen.
›Kameraden‹ auch noch die Schlafdecken ab- Nach dem Sieg lässt Galy Gay sich von den
genommen (GBA 2, S. 145). Trotz der Vorteile, Kameraden als »Jeraiah Jip, menschliche
die seine neue Identität mit sich bringt, hat Kampfmaschine« (GBA 2, S. 157) feiern. Das
Galy Gay bezüglich seiner Identität einen Ende des Stücks betont seinen Aufstieg inner-
›Rückfall‹, im Zug nach Tibet entdeckt er wie- halb der Vierereinheit: er ist es, der die Pässe
der: »Ich weiß nur, daß ich Galy Gay heiße.« der anderen drei Soldaten einsammelt (ebd.).
(S. 148) Kurz darauf beobachtet er aber Serge- So ist aus Galy Gay, dem Packer aus Kilkoa, der
ant Fairchilds Kastration durch die eigene nicht trank, nur wenig rauchte und fast keine
Hand. Dieses »Schlüsselerlebnis« (Witzler, Leidenschaft besaß (vgl. S. 95), der Soldat Je-
S. 147) ist als Wendepunkt seiner Identitäts- raiah Jip geworden, der auf das auf ihn »ent-
krise zu sehen, denn jetzt begreift er, »wohin fallende Quantum Whisky« (S. 153) besteht
diese Hartnäckigkeit führt und wie blutig es und das Schießen und Töten leidenschaftlich
ist, wenn ein Mann [ … ] so viel Aufhebens aus betreibt.
seinem Namen macht« (GBA 2, S. 150). Ab Im Gegensatz zu Galy Gay, der als mittel-
diesem Zeitpunkt ist er bereitwillig Jeraiah Jip loser Packer sein Dasein fristet, ist der Serge-
und beschließt, die Vorzüge dieser Entschei- ant Fairchild innerhalb seines sozialen Sy-
dung zu genießen. In direktem Gegensatz zum stems ein respektierter und gefürchteter
Sergeanten, der vor seiner Selbstverstümme- Mann. Die Soldaten nennen ihn »Blody Five«
lung behauptete: »Daß ich esse, ist nicht wich- und »Tiger von Kilkoa« (GBA 2, S. 104). Au-
tig, sondern daß ich Blody Five bin« (S. 149), ßerdem hat er einen guten Instinkt, denn »er
zieht Galy Gay für sich den Schluss: »Ja, es ist riecht Verbrechen. Und wenn er ein Verbre-
sehr wichtig, daß ich esse.« (S. 151) Uria deu- chen riecht, singt er [ … ]: Johnny, pack deinen
tet Galy Gays Lossagung von der eigenen Iden- Koffer!« (S. 105) Dies wird durch die Hand-
tität als »Beweis von Lebenskraft« (S. 152). lung bestätigt: wiederholt summt er das Lied,
Die letzte Szene zeigt, wie gut sich Galy Gay vornehmlich in Situationen, in denen es um
in seine neue Identität hineingefunden hat. Galy Gays Ummontierung geht (vgl. S. 108,
Das Kriegsgeschehen bereitet ihm gehörigen S. 122, S. 127 u. a.).
Spaß: »Heraus aus dem Waggon, hinein in die Nur wenn es regnet, geschieht mit dem »ge-
Schlacht! Das gefällt mir!« (GBA 2, S. 152). fährlichsten Mann der indischen Armee«
Den gefürchteten Sergeanten, der nach wie (GBA 2, S. 107) Eigenartiges: er verfällt »in
vor vermutet, Galy Gay sei nicht Jeraiah Jip, schreckliche Zustände von Sinnlichkeit«, wird
hat er in der Hand, weil er dessen Selbst- »ungefährlich wie ein Milchzahn« und »befaßt
kastration beobachtet hat: »Mann ist Mann! sich drei Tage lang nur mit Mädchen« (ebd.).
Aber kein Mann ist kein Mann. Aber ich sage Gegen seine ›Natur‹, die er nicht zulassen,
es niemand.« (S. 153) Seine Machtposition bei sondern beherrschen will, setzt Fairchild die
den Kameraden hat er weiter ausgebaut, denn Regeln des Militärs: »Das Exerzierreglement
er isst auch deren Reisportionen auf (S. 154 f.). ist [ … ] das einzige, an das man sich als
Galy Gay gelingt es, mit fünf Schüssen die Mensch halten kann, weil es einem Rückgrat
Bergfestung zum Einsturz zu bringen, die den gibt« (S. 108). Die Selbstverleugnung seiner
Weg nach Tibet blockiert hat, indem er ihre sexuellen Seite grenzt an Schizophrenie; als
»weiche Stelle« (S. 153) findet. Das korre- die Begbick ihm vorhält, beim nächsten Regen
spondiert mit seiner Vorstellung, dass »wenn werde er wieder zahm werden gegen die Ver-
man einen Koffer tragen soll, und sei er noch brecher, antwortet er: »da würden wir gegen
so schwer, so heißt es doch, jeder Koffer hat dieses kleine, mutwillige Blodyfivechen in
seine weiche Stelle« (S. 149). Galy Gays ›wei- einer grundlegenden Weise durchgreifen«
(ebd.).
Die Austauschbarkeit der menschlichen Individualität 159

Doch Witwe Begbicks Behauptungen erwei- wissen, weil er seine Freunde im Stich ge-
sen sich als richtig. Sie verlangt von Blody lassen hat, angesichts des Beefsteaks, das
Five, der aufgrund des Regens die Töchter der Wang ihm vorsetzt, siegt jedoch seine Genuss-
Kantinenbesitzerin sehen will, dass er ihren freude: »Es ist ganz verkehrt, daß ich hier
Salon nur in Zivilkleidung betreten darf. Fair- sitze, aber es ist gutes Fleisch.« (GBA 2, S. 116)
child will dieser Forderung »nie« (GBA 2, Erst in Szene 11 trifft er wieder auf seine drei
S. 130) nachgeben, tut es wegen seiner »sinnli- Kameraden und gibt an, sie »längere Zeit nicht
chen Natur« (ebd.) dann aber doch, was ihn mehr gesehen« zu haben (S. 153). Obwohl
den Respekt seiner Soldaten kostet, die ihn über die Zwischenzeit nichts genaueres gesagt
lächerlich machen und beschimpfen: »Halt das wird – Jip spricht nur von einem »gutgehenden
Maul, Zivilist!« (S. 137) Aus der Nacht, die er Unternehmen« (S. 154) –, ist anzunehmen,
saufend mit seinen Soldaten und schließlich dass er für Wang auch weiterhin den Gott im
noch mit Witwe Begbick verbringt, zieht er Gebetskasten gespielt, im Gegenzug gutes Es-
Konsequenzen: er entmannt sich, »damit ich sen und Whisky bekommen hat. Er ist sehr
Blody Five bleibe« (S. 150). Sein Instinkt gibt enttäuscht, als er sieht, dass seine Kameraden
ihm aber gleichzeitig zu verstehen, dass er vorgeben, ihn nicht mehr zu kennen, und
damit ein Verbrechen begeht, denn er singt überrascht, dass sie sich ihre Reisportionen
»Johnny, pack deinen Koffer.« (Ebd.) von einem ihm unbekannten vierten Mann ab-
Im Gegensatz zu Galy Gay, bei dem die »Vi- nehmen lassen (ebd.). Zuletzt fordert er sei-
talität [ … ] über die Individualität [trium- nen Pass heraus und bekommt Galy Gays alten
phiert]« (Joost, S. 120), opfert der Sergeant Pass ausgehändigt. Bevor er geht, verflucht er
seine Sinnlichkeit für seinen Namen und den die drei ehemaligen Freunde, »weil ihr einen
damit verbundenen Respekt und soziale Posi- Kameraden in der Not verraten habt« (S. 155).
tion. Während Klaus-Detlef Müller in Bezug Jip ist es auch, der seinen Kameraden vor-
auf Galy Gay betont, dass dieser »zu wenig hält, sich stark verändert zu haben. Die drei
eigene Existenz [hatte], um eine persönliche Soldaten, vormals »die berühmte Maschinen-
Identität auszubilden; er hat nicht mehr zu gewehrabteilung, die die Schlacht von Haidar-
verlieren als seinen Namen« (Müller, S. 95), abad entschieden hat und die der Abschaum
ist Witzler der Ansicht, es seien »nicht wirt- genannt« (GBA 2, S. 106) wurde, geben nun
schaftliche Verhältnisse, die den Ausschlag ge- einem ehemaligen Packer ihr Essen und ihren
ben« (Witzler, S. 147), vielmehr sei Fairchild Whisky ab. Die Veränderung ist so tiefgrei-
»um seiner Identität willen zu Opfern bereit, fend, dass Jip zu Polly bemerkt: »Du hast eine
die Galy Gay nicht aufbringen würde« (ebd.). ganz andere Stimme bekommen« (S. 154).
Witzler übersieht dabei, dass Fairchild im Ge- Auch über die Gruppe insgesamt hält er fest:
gensatz zu Galy Gay eine Identität hat, für die »Ihr seid wirklich sehr anders geworden, wißt
(zumindest aus Fairchilds eigener Sicht) sich ihr.« (Ebd.)
Opfer lohnen. Galy Gays Existenz dagegen ist Die einzige gewichtigere Figur, deren Iden-
so ›armselig‹, dass ein Verlust dieser Identität tität innerhalb des Stücks keiner grundlegen-
eher ein Gewinn ist, der sogar in materiellen den Verwandlung anheim fällt, ist die Witwe
Werten wie Zigarren, Whisky, Essen, Güter, Begbick. Der Grund hierfür ist ihre Anpas-
die Galy Gay sich als Packer versagen muss sungsfähigkeit an die Notwendigkeiten, sie
(vgl. GBA 2, S. 95), gemessen werden kann. ist, um bei einem Begriff B.s zu bleiben, ›ein-
Ähnlich wie Galy Gay lässt auch Jeraiah Jip verstanden‹ mit Veränderungen, die sie be-
sich durch sinnliche Genüsse dazu überreden, wusst vollzieht, eine Haltung, die durch das in
sich (kurzfristig) als jemand anders auszuge- spätere Fassungen eingefügte Lied vom Fluß
ben; von dem Packer unterscheidet ihn aller- der Dinge weiter verdeutlicht wurde. So ist die
dings, dass sein Leben zu keinem Zeitpunkt Kantinenbesitzerin zu einer selbstbewussten,
bedroht wird. Zwar hat er, als er in der Pagode unnachgiebigen, profitorientierten Geschäfts-
aus seinem Rausch erwacht, ein schlechtes Ge- frau geworden, die sich Klischees gegenüber
160 Mann ist Mann

Frauen wohlweislich zu Nutze zu machen Polly fragt »Meint Ihr nicht, daß Jip wieder-
weiß. Ihres Wertes sicher, betont sie ihren ei- kommt?«, antwortet Jesse »Uria, ich weiß es,
genen Verdienst an den Siegen der Soldaten: Jip kommt nicht wieder.« (S. 113).
»Eine Umarmung der beliebten Irländerin Außerdem wird Komik auf der Sprachebene
brachte ihr Blut in Ordnung. Lest in der Times durch Missverständnisse erzeugt, so zum Bei-
nach, mit welcher Ruhe sie kämpften in den spiel als Polly über Galy Gay bemerkt, er sei
Gefechten bei Bourabay, Kamathura und Da- »der reinste Elefant« (GBA 2, S. 119), woraus
guth.« (GBA 2, S. 156; vgl. zu diesem Motiv Galy Gay schließt, dass ein Elefant zum Ver-
auch Fragen eines lesenden Arbeiters) Leoka- kauf stünde. Ferner wirken auch die verein-
dja Begbick gilt als erste große Frauengestalt zelten anzüglichen Bemerkungen der Soldaten
des B.schen Frühwerks. Mit ihr hat B. erstmals (»Einem geschenkten Barsch schaut man nicht
eine weibliche Figur geschaffen, die »Sexuali- in den – Mund.«; GBA 2, S. 102) oder doppel-
tät kontrolliert und nicht deren Opfer wird« deutige Formulierungen wie beispielsweise
(Führich, S. 26; vgl. auch Fenn, S. 112–117; Fairchilds im Hinblick auf seine Selbstkastra-
Ritchie, S. 226). tion vorgebrachte Begründung, »Aufständige
werden erschossen« (S. 150), komisch.
Gleichfalls amüsant wirkt der »Zwischen-
spruch« (S. 123), in dem sich B. selbst als
Der Verlust der Individualität als Autor ›ins Spiel‹ bringt. Witwe Begbick
Lustspiel spricht »neben dem Bildnis des Herrn Bertolt
Brecht« (ebd.) die These des Stücks (»Mann ist
Mann«), die »Herr Bertolt Brecht« angeblich
Obwohl für einen ernsten Gegenstand wie den nicht nur »behauptet«, sondern auch »beweist«
Verlust der eigenen Individualität als Gattung (ebd.). Diese Art der Selbstreferenz verwen-
eher ein Trauerspiel zu erwarten wäre (Joost, dete B. häufiger, so zum Beispiel in Die Hoch-
S. 122; Witzler, S. 159), hat B. Mann ist Mann zeit, wo sich Figuren des Einakters über »das
als Lustspiel gestaltet. Komisch ist das Stück Stück ›Baal‹ im Theater« (GBA 1, S. 258) un-
auf verschiedenen Ebenen. Auffällig ist auf der terhalten.
Sprachebene zunächst die Selbstironie, mit Belustigend gestaltet sind zudem ganze Sze-
der durch parallel zum Titel Mann ist Mann nen wie der Einbruch der vier betrunkenen
gebildete Identitätssätze wiederholt auf diesen Soldaten in die Pagode (Szene 2). Ein weiteres
Bezug genommen wird. So bemerkt Uria beim amüsantes Motiv ist, dass prinzipiell immer
Einbruch in die Pagode: »Tempel ist Tempel.« genau das passiert, was die drei Soldaten in
(GBA 2, S. 97) Und Galy Gay stellt angesichts der jeweiligen Situation als schlimmste Be-
einer Käuferin über den vermeintlichen Ar- fürchtung definieren. So regnet es, kurz nach-
mee-Elefanten Billy Humph fest: »Elefant ist dem Polly festgehalten hat: »Es darf nur nicht
Elefant« (S. 128). Ebenso kommentiert Serge- regnen. Es darf nicht regnen!« (GBA 2, S. 109).
ant Fairchild, der eigentlich ein Auge auf Und kaum dass Uria seine Überzeugung, »daß
Hiobja Begbick geworfen hat, den bevorste- Gott Leute wie uns nicht verderben läßt, in-
henden Beischlaf mit deren Mutter mit: »Weib dem er die Armee noch heute auf die Beine
ist Weib!« (S. 140) Den Titel kehrt Galy Gay bringt« (S. 122) formuliert hat, hört man schon
ironisch um, als er dem durch seine eigene »Abmarschsignale« (ebd.). Auch auf Urias Be-
Hand kastrierten Sergeanten Fairchild lä- merkung: »Ich bin froh, daß die Kanonen noch
chelnd vorhält: »Mann ist Mann! Aber kein nicht vorbeigekommen sind« (S. 134), folgt die
Mann ist kein Mann.« (S. 153) Regieanweisung: »Man hört hinten die Kano-
Auch inhaltlich wird die Grundthematik der nen vorbeirollen.« (Ebd.) Obendrein taucht der
menschlichen Individualität ironisch gebro- echte Jeraiah Jip gerade dann wieder auf, als
chen, so zum Beispiel als die drei Soldaten Uria die Verwandlung Galy Gays als abge-
sich selbst untereinander verwechseln: Als schlossen betrachtet und selbstsicher äußert:
Der Verlust der Individualität als Lustspiel 161

»Wenn jetzt nicht Jip selber hinter uns her- Gay und spielt im Auftrag der drei anderen
kommt, [ … ] sind wir über den Berg.« (S. 152) Soldaten, mit ihm die Nacht verbracht zu ha-
Die Penetranz, mit der das Motiv der sich er- ben (GBA 2, S. 146–148). Und als Galy Gay
füllenden Befürchtung wiederkehrt, erhellt doch wieder er selbst sein möchte, geben die
auch, was sich jenseits der eroberten Berg- drei Soldaten vor, er (als Jip) sei krank und
festung in Tibet ereignen wird, denn die letzte bilde sich das ein. Um Galy Gay dazu zu be-
Mutmaßung Pollys ist zugleich das Ende des wegen, in Jeraiah Jips Pass hineinzusehen und
Stücks: »Der [Galy Gay] läßt uns noch alle ihn für seinen zu halten, bemerkt Polly
köpfen!« (S. 157) »scheinbar heimlich zu Jesse: Laß ihn nur nicht
Lyon hat darauf hingewiesen, dass »the in seinen Brustbeutel langen, sonst liest er in
choice of the term ›Lustspiel‹ instead of ›Ko- seinem Paß seinen richtigen Namen« (S. 149).
mödie‹ was probably not accidental« (Lyon Ferner ist ein ›Spiel im Spiel‹ auch in klei-
1994, S. 514). In der Tat verweist die Wahl der neren Ausmaßen durchgehend umgesetzt: Jip
Gattungsbezeichnung auf eine wesentliches wird genötigt, einen Gott zu spielen, Polly
Element innerhalb des Stücks, das ›Spiel im mimt den Elefanten Billy Humph, Witwe Be-
Spiel‹, was besonders im ›Elefantengeschäft‹ gbick gibt vor, eine Käuferin zu sein, später
deutlich wird. Dieses wird eigens für Galy Gay muss sie auch den »Dschadseefluß« (GBA 2,
inszeniert: »Wir wollen ihm den Elefanten S. 139) darstellen, die drei Soldaten tun in
zum Geschenk machen und ihm sagen, er solle Szene 11 so, als würden sie Jip nicht kennen,
ihn verkaufen, und wenn er ihn verkauft, dann nicht zuletzt spielt Galy Gay selbst zu Beginn
verhaften wir ihn.« (GBA 2, S. 125). Genau mehr oder minder freiwillig die Rolle des vier-
dieses geschieht dann in den Nummern 1–6, ten Mannes, sogar ein ›Kostüm‹ wird bei der
die von Uria eigens angesagt werden: »Num- Witwe Begbick dafür erworben.
mer eins: Das Elefantengeschäft.« (S. 126; vgl. In Das Elefantenkalb / oder Die Beweisbar-
auch S. 127, S. 130, S. 135, S. 140) In Nummer keit jeglicher Behauptung, das zu B.s Lebzei-
5 wird – außerhalb der Ummontierung Galy ten offenbar nie aufgeführt wurde (GBA 2,
Gays – Sergeant Fairchild »noch dem Erdbo- S. 420), wird das ›Spiel im Spiel‹ noch erheb-
den gleichgemacht«, weil er »seine Nase im- lich gesteigert, indem die Spielebene auf der
mer in alles stecken muß« (S. 137). Dass der Bühne verdoppelt wird, das heißt, dass neben
eigentliche Handlungsstrang dabei unterbro- den auftretenden Darstellern des Spiels auch
chen wird, kündigt Uria ebenfalls an: »Das ist Zuschauer auf der Bühne sind, die das Stück,
eine Nebennummer.« (Ebd.) Das ›Spiel im das sie sehen, ständig kommentieren.
Spiel‹ wird aber wiederum durchbrochen, da Noch bevor das eigentliche Stück beginnt,
einer der an der Inszenierung beteiligten Sol- spricht Polly die Zuschauer direkt an und gibt
daten das Spiel mit der Realität (der Spiel- ihnen Anweisungen zur Rezeption. Diese un-
ebene) verwechselt: Als die ›Erschießung‹ terscheiden sich natürlich beträchtlich von den
Galy Gays vorbereitet wird, hält Uria seinem Vorstellungen eines durchschnittlichen Thea-
Kameraden vor: »Aber was machst du denn da, terbesuchers, umfassen unter anderem die
Polly? Du tust ja wirklich eine Kugel in den Aufforderung, »tüchtig zu rauchen« (GBA 2,
Lauf.« (S. 135) Doch auch Galy Gay ist dem S. 158) und auf den Ausgang der Handlung zu
Spiel gewachsen; er hält nicht nur seine eigene wetten (ebd.) sowie die Bitte, »nicht auf den
Leichenrede (S. 143 f.), sondern gibt den an- Klavierspieler zu schießen« (ebd.). Von vorn-
deren Soldaten auch den Text vor: So fordert herein wird klargestellt, dass die Handlung
Galy Gay auf »Sagt einmal: Jip, geh herum«, »unverständlich« (ebd.) sei. Außerdem stellt
und Polly reagiert mit »Jip, geh herum.« Polly die ›Schauspieler‹ in ihren Rollen vor:
(S. 143) Jesse spiele die Mutter des Elefantenkalbes,
Doch selbst über die Szene 9 hinaus ist der Uria stelle den Mond, er selbst einen Bananen-
spielerische Charakter des Stücks offensicht- baum dar (ebd.). Das Elefantenkalb würde von
lich. So legt die Witwe Begbick sich zu Galy »Kamerad Jip« (ebd.) dargestellt werden, die-
162 Mann ist Mann

ser wiederum ist aber Galy Gay. Polly hält au- spielerischen Komponente von Mann ist Mann
ßerdem die Handlung fest: es gehe um ein ein hoher Stellenwert einzuräumen ist. Erst in
»Verbrechen, das das Elefantenkalb begangen den späteren Fassungen wurde dieser Aspekt
hat« (ebd.), wie sich herausstellt, soll es seine aufgrund der geänderten Bewertung des Pro-
Mutter ermordet haben (S. 159), diese ist aber tagonisten, unter anderem eben durch die
bei der Verhandlung, bei welcher der Mond als Streichung von Das Elefantenkalb, zurückge-
Kläger und der Bananenbaum als Richter auf- nommen.
tritt, anwesend (S. 160). Die eigentliche
Handlung wird mehrmals durch Pausen unter-
brochen, in denen die Darsteller die Reaktio-
nen des Publikums diskutieren, sich mit den Das militärische Milieu
Zuschauern auch unterhalten und sie zum wet-
ten bewegen wollen. Die hanebüchene Ge-
schichte inklusive kitschigem »Mutter- Von der Forschung wurde gelegentlich kriti-
schmerzmonolog« (S. 164) und Kreidekreis- siert, dass B. die positiv dargestellte Verwand-
probe (S. 166) – ein Motiv, das B. später mit lung Galy Gays ausgerechnet im militärischen
umgekehrtem Ausgang auch im Augsburger Milieu ansiedelte (vgl. Joost, S. 123). Nicht
Kreidekreis und im Kaukasischen Kreidekreis zuletzt aus diesem Grund stellte B. in späteren
verwendet hat –, wird schließlich durch Polly Fassungen den Austausch der Identität nega-
abrupt beendet, indem er erklärt, dass das Ele- tiver dar.
fantenkalb gar kein Elefantenkalb sei, sondern Dennoch bleibt festzuhalten, dass das Mili-
Jeraiah Jip (S. 167; was auch nicht richtig ist, tär selbst auch in der Fassung erster Hand in
denn eigentlich ist es ja Galy Gay). Folgerich- keiner Weise positiv dargestellt ist. Schon
tig wehrt sich dieser gegen die Aufhebung der Galy Gays Frau bezeichnet in der ersten Szene
zweiten Spielebene: »Das gilt nicht!« (ebd.) Soldaten als »die schlimmsten Menschen auf
Polly aber ist in einem ›Beweisrausch‹ gefan- der Welt« (GBA 2, S. 95). In Szene 2 wird die
gen: »Aber ich beweise es. Ich beweise, ich Maschinengewehrabteilung dann beim Ein-
beweise, ich beweise.« (Ebd.) Nach einem bruch in eine Pagode gezeigt, bei dem sie ihren
Song erklären die Darsteller das Stück dann vierten Mann zurücklassen und später den
für beendet, wogegen sich das Publikum wehrt Priester der Pagode bedrohen, als er ihnen den
und androht, handgreiflich zu werden. Galy Dieb nicht wieder aushändigen will. Skrupel-
Gay löst die Situation, indem er zum Box- los verwandeln sie den armen Packer in ihren
kampf einlädt (S. 168). vierten Mann, schrecken auch nicht davor zu-
Wie Witzler schlüssig ausführt, ist Das Ele- rück, Galy Gay mit dem Elefantengeschäft zu
fantenkalb im Hinblick auf das gesamte Lust- manipulieren und ihn in Todesangst zu ver-
spiel »von kaum zu unterschätzender Bedeu- setzen.
tung« (Witzler, S. 155). Da gerade das Bewei- Neben Galy Gays Frau äußert sich auch
sen im »Zwischenspiel« ad absurdum geführt Wang negativ über die Armee, wie selbstver-
wird, erschließt sich für Mann ist Mann, dass ständlich hält er über den gefundenen Dieb
die »Beweisbarkeit der These von der belie- Jeraiah Jip fest: »Da er ein Soldat ist, kann er
bigen Manipulierbarkeit des Menschen keine keinen Verstand haben.« (GBA 2, S. 110) Er
letzte Wahrheit besitzt« (S. 156). B. selbst hat empfindet es auch als unangenehm, »daß die
in seiner Rede im Rundfunk festgehalten, dass Herren Soldaten alle die gleichen Kleider ha-
Zuhörer und Zuschauer »zu einer ganz ande- ben« (S. 111), was Jesse aber als »nicht unange-
ren Ansicht« über das Stück gelangen könnten nehm« (ebd.) ansieht, schließlich können sich
als er selbst und dass er dagegen »am we- die stehlenden und randalierenden Soldaten
nigsten etwas einzuwenden habe« (GBA 24, hinter ihren Uniformen verstecken.
S. 42). Diese Aussage und die Rolle des Ele- Zudem wird der militärische Heroismus
fantenkalbs belegen zusätzlich, dass der (lust-) durch die Figuren Fairchild und Galy Gay lä-
Das militärische Milieu 163

cherlich gemacht, denn die Entwicklungen vor, nicht mit jedem Geschäfte zu machen, so
dieser Figuren zeigen, dass Mörder und Ba- will sie z. B. nichts an »eingeborene Stänker«
nausen es im Militär bis an die Spitze schaffen. (S. 116) ausschenken, sie lässt sich aber
Blody Five ist zu seinem Furcht einflößenden schnell zum Gegenteil überreden. Beim Ele-
Namen gekommen, weil er fünf gefesselte In- fantengeschäft tritt sie als Käuferin auf, weil
der erschossen hat (GBA 2, S. 139). Und der ihr die Soldaten versprechen, dafür ihre Kan-
Weichling Galy Gay steigt in kürzester Zeit zu tine abzubauen. Die Begbick äußert offen, dass
einem Helden auf, wobei ihm die Kantinenbe- nur der Profit sie an ihren Gästen interessiert.
sitzerin zeigen muss, wie man die Waffen Als Blody Five ihr und ihren Töchtern Foto-
handhabt (S. 155). grafien zeigen will, erklärt sie ihm: »Wenn Sie
sieben Gläser auf ihr Wohl trinken, dann wer-
den sie Ihre Photographien gern anschauen«
(S. 138).
Die Rolle des Geschäfts Das wichtigste Geschäft innerhalb des
Stücks ist das skurrile ›Elefantengeschäft‹, das
für Galy Gay inszeniert wird. Zwar erschrickt
Wie unter anderem Helmut Heinze feststellt, Galy Gay, als er den Elefanten sieht, der aus
sind die »Beziehungen, in denen die Figuren einem Elefantenkopf, einem Besenstiel und
der Handlung zueinander stehen, [ … ] in er- einer Landkarte besteht, beruhigt sich aber,
ster Linie ökonomische« (Heinze, S. 198; vgl. weil die Begbick als interessierte Käuferin auf-
S. 198–202). Das ›Geschäftemachen‹ spielt bei tritt: »Da er gekauft wird, habe ich keinen
allen Figuren eine wesentliche Rolle und mo- Zweifel.« (GBA 2, S. 128) Er besteht allerdings
tiviert viele der Handlungen. Selbst der bud- darauf, dass sein Name »nicht genannt wer-
dhistische Priester Wang bewertet ideelle Gü- den« (ebd.) soll und verweist damit auf die
ter niedriger als materielle: »Wenn das Geld Anonymität innerhalb der Handelswelt. B.
weg [sic], was hilft da die Gerechtigkeit?« hielt in einem 1931 nach der Aufführung in
(GBA 2, S. 110) Aus diesem Grund zieht er es Berlin entstandenem Typoskript fest, »daß sich
vor, den Dieb als Tempelgott zu vermarkten ein großer Geschäftsmann die Aufführung an-
und so den Verlust des gestohlenen Geldes sah und den vom gewöhnlichen Publikum ab-
wieder auszugleichen. Auch die Gesetze des gelehnten Elefantenverkauf sehr verstanden
Marktes hat er begriffen. Um den ›Gott‹ publik habe. So ist es, sagte er grinsend, so vollzieht
zu machen, leitet er sogleich eine ›Werbekam- sich in unserer Zeit ein Geschäft.« (GBA 24,
pagne‹ ein, indem er Plakate malt, denn: »Was S. 45) Was der Geschäftsmann im Gegensatz
hilft ein Gott, wenn er sich nicht herum- zum ›gewöhnlichen Publikum‹ erkannt hatte,
spricht?« (Ebd.) war, dass B. im Elefantengeschäft Realität
Überhaupt beherrschen die Figuren, wenn nicht direkt abbildete, sondern das Funktio-
sie anderen eine Idee oder einen Vorschlag nieren der Geschäftsrealität vorführte. Das
›verkaufen‹ wollen, sehr souverän eine ›Mar- Produkt an sich hat demnach den Wert, der
ketingsprache‹, so z. B. Polly, als er Galy Gay ihm durch den potenziellen Käufer gegeben
von den Annehmlichkeiten des Soldatenle- wird, unabhängig davon, ob es ›objektiv‹ die-
bens überzeugen will: »Belieben Sie dabei die sem Wert entspricht oder nicht. Deshalb spielt
komfortablen Schlafsäcke aus Leder zu be- es für Galy Gay keine Rolle, dass der Elefant
trachten, die der Soldat umsonst geliefert be- nicht echt ist, denn die Begbick ist bereit, auch
kommt, werfen Sie einen Blick auf dieses Ge- für einen unechten zu bezahlen. Galy Gays
wehr mit dem Stempel der Firma Everett & Haltung spiegelt das Verständnis von Produk-
Co.« (GBA 2, S. 118) Bei der Kantinenbesit- tion und Konsum wider, das Mitte der 20er-
zerin Leokadja Begbick liegt das Geschäfts- Jahre unter dem Schlagwort ›Fordismus‹ –
interesse auf der Hand: ihr Salon ist darauf nach dem Erfinder der Fließbandproduktion
ausgelegt, Profit abzuwerfen. Zwar gibt sie Henry Ford – Verbreitung fand.
164 Mann ist Mann

Änderungen in der Fassung 1938 Rezeption

Im Folgenden werden die wesentlichen inhalt- Am 25. 9. 1926 fand die Uraufführung von
lichen Unterschiede zwischen der Fassung er- Mann ist Mann gleichzeitig in Darmstadt und
ster Hand, die oben ausführlich beschrieben in Düsseldorf statt, wobei das Interesse an der
und analysiert wurde, zur Fassung 1938 dar- Inszenierung in Darmstadt wegen der Leitung
gelegt, deren Textintention am stärksten von ›brechterfahrener‹ Mitarbeiter (Regie: Jakob
der Fassung des Erstdrucks abweicht. Vorab Geis, Bühnenbild: Caspar Neher) stärker war.
kann festgehalten werden, dass die Fassung Die Kritiker urteilten sehr unterschiedlich
von 1938 ernsthafter, weniger spielerisch in über das Stück und die Darmstädter Umset-
der Ausführung und eindeutiger in der Aus- zung. Durchweg für positiv erachtet wurde die
sage wirkt. Leistung von Ernst Legal, der den Galy Gay
So wird Galy Gays Ummontierung gewalt- spielte. Als ein »harmloses Stück« (Wege,
tätiger dargestellt als in der ersten Fassung, S. 304) bewertete Alfred Kerr Mann ist Mann
denn die drei Soldaten »stürzen sich [ … ] auf am 27. 9. 1926 im Berliner Tageblatt, die Um-
ihn und ziehen ihn bis aufs Hemd aus« (GBA 2, montierung eines Packers in einen Soldaten
S. 183). Auch ist Galy Gays Einverständnis, sah er als »Schwankthema« (S. 301). Bernhard
Jeraiah Jip beim Appell zu vertreten, stärker Diebold unterstellte B. in der Frankfurter Zei-
materiell motiviert, denn er fragt sogleich: tung des gleichen Tages eine bolschewistische
»Und was ist mit dem Trinkgeld?« (S. 185) Im Aussage, die B. aber »nicht auf bolschewistisch
Zwischenspruch ist eine neue Passage einge- sagen [will]. Er benutzt die gute alte Militär-
fügt, welche die Gefahren der Verwandlung methode zur Köpfung des ›Charakterkopfs‹.«
stärker betont: »Man kann, wenn wir nicht (Wyss, S. 54) Obwohl er auch die Entwicklung
über ihn wachen / Ihn uns über Nacht auch der Fabel selbst kritisierte, kam er dennoch zu
zum Schlächter machen.« (S. 203) Auffallend dem Schluss, dass die »Aufführung [ … ] für
ist ferner die unterschiedliche Reaktion der Frankfurt und seine weitere Umgebung etwas
Soldaten auf Fairchilds Bericht, dass er durch vom Allerbesten« war (S. 55). Dagegen waren
das Töten gefesselter Gefangener zu seinem die Kritiken von Herbert Ihering im Berliner
Beinamen gekommen sei. Während in der ers- Börsen-Courier vom 28. 9. 1926 (vgl. Wege,
ten Fassung die Soldaten »klatschen« (S. 139), S. 304–306) und Elisabeth Langgässer in der
beschimpft ihn Jesse in der Fassung von 1938 Rhein-Mainischen Volkszeitung vom 29. 9.
als »Sau!« (S. 219) 1926 äußerst positiv: »Man sieht wohl, daß
Am Ende des Stücks steht der Beweis, dass dieses Lustspiel durch seine scharfe, gegen
Galy Gay sich, wie im Zwischenspruch be- sich selbst gerichtete, Konsequenz von hoher
fürchtet, in einen ›Schlächter‹ verwandelt hat. zeitgeschichtlicher Bedeutung und in seinen
Vor dem Abmarsch der Truppen spürt er den Elementen symbolkräftig und wahrhaft dich-
»Wunsch, meine Zähne zu graben / In den Hals terisch ist.« (Wyss, S. 58) In dieser Inszenie-
des Feinds« (GBA 2, S. 227). Die Begbick be- rung wurde erstmals ein halbhoher Leinenvor-
endet das Stück mit dem Satz, mit dem ma- hang verwendet, so dass das Publikum den
thematische Beweise abgeschlossen zu werden Umbau auf der Bühne mitverfolgen konnte
pflegen: quod erat demonstrandum, »Was zu (Hecht, S. 219). 1927 wurde Mann ist Mann in
beweisen war!« (Ebd.) Gera, Stuttgart, Magdeburg, Kiel und Kassel
gespielt (vgl. Wege, S. 324).
Die erste Berliner Inszenierung unter der
Leitung von Erich Engel (Bühnenbild: Caspar
Neher) hatte am 5. 1. 1928 an der Volksbühne
Premiere und wurde ein großer Erfolg. Be-
sonders hervorgehoben, so z. B. in der Rezen-
Rezeption 165

sion von Adam Kuckhoff in der Volksbühne »sich eigentlich in der satten Wohlstandsge-
vom 15. 1. 1928, wurden die schauspieleri- sellschaft von Theaterschaffenden, die sich an
schen Leistungen von Heinrich George (Galy dieses Milieu gewöhnt haben, richtig spielen«
Gay) und Helene Weigel, welche die Witwe lasse (ebd.).
Begbick spielte (Wyss, S. 61). Ihering äußerte Doch auch für westdeutsche Stellungnah-
im Berliner Börsen-Courier vom 5. 1. 1928 al- men zur DDR wurde das Stück missbraucht, so
lerdings die Befürchtung, dass die Zeitgenos- in der Ulmer Inszenierung 1966 (Regie: Axel
sen mit der Verarbeitung der Thematik als Corti), gegen die sowohl Helene Weigel als
Lustspiel durchaus Schwierigkeiten haben auch der Suhrkamp-Verlag Protest einlegten.
könnten: »Solange die Welt noch das Problem Durch Kostüme (so trug Witwe Begbick eine
des Kollektiv- und Individualmenschen tra- blaue FDJ-Bluse) und den Wechsel der Spiel-
gisch und philosophisch betrachtet, kann sie orte (Galy Gay zielte nicht auf eine Bergfes-
sich nicht auf Humor umstellen.« (Wege, tung, sondern auf fünf Menschen über eine
S. 310) Art Mauer hinweg) »wurden in der Ulmer Auf-
Die Fassung mit der negativen Bewertung führung aus Indien die DDR, aus einem Bon-
von Galy Gays Ummontierung wird erstmals zen ein Parteisekretär, aus Gläubigen Pio-
am 6. 2. 1931, wiederum in Berlin, aufgeführt. niere« (Birnbaum). Uta Birnbaum, die das
Die Regiearbeit wurde zunächst von B. und Stück selbst vier Monate später am Berliner
Ernst Legal (Bühnenbild: Caspar Neher, Galy Ensemble (bereits zum zweiten Mal) insze-
Gay: Peter Lorre) geteilt, Letzterer lehnte aber nierte und sich Mann ist Mann in Ulm als
kurz vor der Premiere eine weitere Zusam- Impuls für die eigene Inszenierungsarbeit an-
menarbeit ab, auch zu Auseinandersetzungen gesehen hatte, reagierte auf die Aufführung
mit dem Ensemble kam es (vgl. GBA 2, S. 418). »mit Schrecken und Zorn« (Birnbaum).
Selbst B. wohlgesonnene Kritiker wie Ihering Birnbaums Aufführung hatte am 10. 2. 1967,
sahen in der Premiere eine »böse, eine un- B.s 69. Geburtstag, am Berliner Ensemble Pre-
heimliche, eine radikale Aufführung« und miere (Ausstattung: Hans Brosch, Galy Gay:
lehnten sie aufgrund des Widerspruchs, »daß Hilmar Thate) und stützte sich auf die Fassung
Brecht eine Theorie, die er bejaht, an Perso- von 1931. Kritiker Horst Gebhardt lobte die
nen demonstriert, die er verneint« (Wege, »von großer politischer Verantwortung getra-
S. 315) ab. Die Inszenierung wurde nach nur gene Inszenierung, die die besten Traditionen
vier Vorstellungen abgesetzt. des Brecht-Theaters fortsetzt« (Gebhardt,
Abgesehen von zwei Laienaufführungen in S. 10).
Leiden/Niederlande 1933 und Ann Arbor/ Die vollständige Fassung sowie auch erst-
USA 1952 ist Mann ist Mann 25 Jahre lange mals Das Elefantenkalb wurde 1972 in Gott-
nicht gespielt worden. Erst am 27. 5. 1956 kam waldov (Tschechoslowakei) gespielt. Kritike-
es in Stuttgart wieder auf die Bühne (Regie: rin Irene Böhme wertete die Inszenierung von
Werner Kraut, Bühnenbild: Helmut Koniarsky, Alois Hajda (Bühnenbild: Ladislav Vychodil,
Galy Gay: Benno Sterzenbach). Gespielt Galy Gay: Stanislav Navratil) als »schöpferi-
wurde die Fassung von 1953. schen Beitrag«, »ebenso amüsant wie poli-
In den 60er-Jahren entdeckten die Theater tisch« und lobte besonders die »Werktreue«
und Kritiker in Mann ist Mann »eine fast un- des Regisseurs (Böhme).
heimliche Aktualität: Kolonialkriege, von Im Gegensatz zu den politisch konkreten
Söldnern geführt, sind wieder in Südasien und Inszenierungen im Osten neigte man in West-
im Kongo im Gange« (Gyssling) und führten deutschland zu einer unverbindlicheren Aus-
das als Maßstab an die Inszenierungen heran, legung des Lustspiels, so 1974 in München
weshalb Walter Gyssling die Züricher Insze- (Regie: Hagen Mueller-Stahl), wo Kritiker Mi-
nierung 1966 (Regie: Michael Hampe, Büh- chael Skasa »Zirkusnummern ohne gültigen
nenbild: Teo Otto, Galy Gay: Kurt Beck) ab- Parabelwert« umgesetzt sah, »eine Folge von
lehnte und provokativ die Frage stellte, ob B. Verbal-Slapsticks [ … ] und eine Nummernre-
vue für Akrobaten« (Skasa 1974).
166 Mann ist Mann

Oder aber man versuchte Mann ist Mann zu als »harmlose Bildchen« gewertet wurden
aktualisieren, indem man das Geschehen wie (S. 70).
bei der Freiburger Inszenierung 1980 (Regie:
Hans Peter Cloos) »in die Gegenwart der Kon-
sum- und Sexwelt transponiert, ein Bertolt
Brecht, erst frei ab 16 Jahren» (Knopf, S. 50). Literatur:
Aus Galy Gay (Martin Sperr) wurde folglich Birnbaum, Uta: Politisches Theater in Westdeutsch-
statt einer ›Kampfmaschine‹ eine ›Konsum- land? In: Theater der Zeit (1966), H. 23, S. 27. –
maschine‹, der Bezug zur zeitgenössischen Böhme, Irene: Der verspielte Kleinbürger. In: Thea-
ter der Zeit (1973), H. 2, S. 30. – Fenn, Bernard:
Medienwelt wurde über den Einsatz von Mo-
Characterisation of Women in the Plays of Bertolt
nitoren und Lautsprechern hergestellt. Von Brecht. Frankfurt a. M. [u. a.] 1982. – Drew. – Füh-
B.s Mann ist Mann war die Inszenierung des- rich, Angelika: Aufbrüche des Weiblichen im Drama
halb aber »ziemlich weit entfernt« (ebd.). der Weimarer Republik. Brecht – Fleißer – Horvath –
Konrad Zschiedrichs Inszenierung am Berli- Gmeyner. Heidelberg 1992. – Gebhardt, Horst: Der
ner Ensemble von 1981 wurde sowohl in ost- Fall eines Kleinbürgers. In: Theater der Zeit (1967),
H. 7, S. 10–13, S. 34. – Gyssling, Walter: Mann ist
als auch in westdeutschen Rezensionen kriti-
Mann von Bertolt Brecht. In: Theater der Zeit
siert. Mann ist Mann sei in dieser Umsetzung (1966), H. 21, S. 32. – Hecht. - Heinze, Helmut:
ein »derber Soldatenulk« (John, S. 39) und Brechts Ästhetik des Gestischen. Versuch einer Re-
»zur (nicht einmal schmissigen) Militär-Kla- konstruktion. Heidelberg 1992. – John, Hans-Rai-
motte [verflacht]« (Roßmann) worden. An- ner: Ohne die Härte der Realität. In: Theater der
dreas Roßmann von der westdeutschen Thea- Zeit (1981), H. 6, S. 39 f. – Joost. – Kebir, Sabine:
Ich fragte nicht nach meinem Anteil. Elisabeth
terzeitschrift Theater heute schloss daraus wei-
Hauptmanns Arbeit mit Bertolt Brecht. Berlin 1997.
ter: »Es ist ein Umgang mit Brecht, der als – Knopf, Jan: Zur Konsummaschine ummontiert. In:
Luxus erscheint, weil er impliziert, daß die Theater heute (1980), H. 11, S. 50 f. - Lucchesi/
gesellschaftspolitischen Veränderungen, die Shull. – Lyon, James K.: Bertolt Brecht und Ru-
seine Parabeln [ … ] als Notwendigkeit erkenn- dyard Kipling. Frankfurt a. M. 1976. – Ders.:
bar machen, vom ›real existierenden Sozia- Brecht’s Mann ist Mann and the death of Tragedy in
the 20th Century. In: GQu. 67 (1994), S. 513–520. –
lismus‹ bereits (vollständig] vollzogen seien«
Meier, Simone: Altertümelndes Männergetümmel.
(ebd.). In: Theater heute (1999), H. 8/9, S. 70 f. – Michaelis,
Einen »dicken Erfolg« (Michaelis, S. 50) Rolf: Pimmel-Power. In: Theater heute (1989), H. 8,
konnte Katharina Thalbach 1989 mit einer In- S. 49 f. – Müller, Klaus-Detlef: »Mann ist Mann«. In:
szenierung des Stücks in Hamburg verbuchen. Hinderer, S. 89–105. – Ritchie, Gisela F.: Der Dich-
Thalbach versetzte die Handlung »nach 1918 ter und die Frau. Literarische Frauengestalten durch
die Jahrhunderte. Bonn 1989. – Roßmann, Andreas:
in »eine von der Commedia dell’Arte inspi-
Brecht als Kleinkunst. In: Theater heute (1981), H.
rierte Zirkus-Welt« (S. 49). Die Schauspieler 6, S. 20. – Schechter, Joel: Brecht’s clowns: Man is
traten in Watte-Kostümen und Polster-Masken Man and after. In: Thomson, Peter/Sacks, Glendyr
auf, der »männliche Totschlagswahn« wurde in (Hg.): The Cambridge Companion to Brecht. Cam-
die »sexuelle Aggression« verlagert (S. 50). bridge 1994, S. 68–78. – Schumacher, Ernst: Die dra-
Günther Gerstner, der Mann ist Mann be- matischen Versuche Bertolt Brechts 1918–1933. Ber-
lin 1955. – Skasa, Michael: »Mann ist Mann« in
reits 1987 in München inszeniert hatte (vgl.
München. In: Theater heute (1974), H. 1, S. 8. –
Skasa 1988), führte bei der Freiburger Auffüh- Ders.: Behaupten, enthaupten – egal: Was »Mann ist
rung 1999 Regie. Positiv bewertet wurden die Mann« so alles kann. In: Theater heute (1988), H. 9,
schauspielerischen Leistungen von Ueli S. 42 f. – Wege, Carl (Hg.): Brechts »Mann ist
Schweizer als Galy Gay und Isabel Martinez Mann«. Frankfurt a. M. 1982. – Witzler, Ralf: Bertolt
als Witwe Begbick (Meier, S. 70 f.), wohinge- Brechts »Mann ist Mann« oder von der Lust, die
Identität zu verlieren. In: Gier, Helmut/Hillesheim,
gen die Slapstick-Einlagen kritisiert und die
Jürgen (Hg.): Der junge Brecht. Aspekte seines Den-
Aktualisierungsversuche (der zivile Fairchild kens und Schaffens. Würzburg 1996, S. 144–165. –
als Uncle Sam, Jip in der Rolle des Tempel- Wyss.
gotts als Marilyn Manson mit Christuskrone) Ana Kugli
167

Sommer 1927 entstanden nur einzelne Ent-


Fatzer würfe, darunter zwei Varianten der die Hand-
lung eröffnenden Desertionsszene. In der
zweiten Arbeitsphase (September 1927) er-
Das zwischen 1926 und 1930 entstandene Fat-
hielt das Stückprojekt erste Konturen. Aus die-
zer-Fragment ist das umfangreichste Bruch-
ser Zeit stammt neben Szenenentwürfen, Fi-
stück in B.s Nachlass: Auf über 500 Seiten
guren- und Fabelskizzen, Gedichtfragmenten
finden sich Typoskripte neben flüchtig notier-
und Chören die einzige zusammenhängende
ten Handschriften in Notizbüchern und auf lo-
Szenenfolge des Fragments (GBA 10, S. 403–
sen Zetteln, darunter einige Skizzen und aus
423): Die Soldaten Fatzer, Kaumann, Koch und
Zeitungen ausgeschnittene Photographien.
Büsching verlassen ihren Tank und beschlie-
Disparat ist auch die Fülle der in diesem Kon-
ßen die Desertion. Sie verstecken sich in der
volut versammelten Textsorten und Schreib-
Wohnung der »Frau des Kaumann«, und Fatzer
weisen: Dialog-, Szenen- und Fabelentwürfe,
verbürgt sich, für Lebensmittel zu sorgen, bis
Stück- und Szenenpläne, konzeptionelle Über-
»es los geht« (S. 409 f.). Die folgenden Szenen,
legungen, Chöre und Monologe sowie Ge-
die B. später für eine Teilpublikation über-
dichte, Prosatexte und theoretische Reflexio-
arbeitet hat, zeigen Fatzer beim Versuch, Essen
nen. Die Handlung des geplanten Stücks re-
zu beschaffen. Er verabredet sich mit einem
flektiert die Erfahrung des ersten Weltkriegs
Soldaten, kommt aber zweimal nicht zur ver-
aus der Perspektive der krisengeschüttelten
einbarten Proviantübergabe. Eine weitere, den
Weimarer Republik: Vier Männer desertieren
Unmut der Gruppe provozierende Eigenmäch-
aus dem Krieg, verstecken sich hinter der
tigkeit Fatzers liegt darin, dass er Kaumanns
Front in Mülheim a. d. Ruhr und warten auf die
Frau verführt. Bei seinen Kameraden taucht
Revolution. B.s Entwürfe schildern, wie diese
daraufhin der Gedanke auf, Fatzer zu töten:
kleine Gruppe von Illegalen den Krieg an der
Auf die Feststellung Büschings »Er tut viel-
›Heimatfront‹ erlebt und wie sich die Wut über
leicht nur, wozu / Der Lust hat«, antwortet
ihre Lage und das Ausbleiben der Revolution
Koch »Dann muß man diesen / Aussatz aus-
nach innen entlädt, vor allem gegen ihren An-
kratzen.« (S. 420) In der dritten Arbeitsphase
führer, den Fatzer. Der überwiegende Teil des
(Ende 1927 bis zur Arbeit an der Dreigroschen-
Fragments kreist um diese Fabel, während un-
oper ab Frühjahr 1928) wurde die sexuelle
gefähr ein Viertel der Entwürfe keinen Bezug
Problematik, das Zusammenleben der vier
zur Handlung aufweist. Die Entstehungsge-
Männer und einer Frau, zum zentralen Kon-
schichte des Fatzer lässt sich nur bedingt re-
flikt. Dabei verlegte B. die Handlung z. T. in
konstruieren, und die Edition der Texte bleibt
die Besatzungszeit nach dem Krieg. Hinzu ka-
in hohem Maße abhängig von interpretatori-
men u. a. die »Letzte Szene«, in der die Tö-
schen Entscheidungen.
tung Fatzers vorbereitet wird (S. 445–449), so-
wie vermehrt Texte mit reflektorischem Cha-
rakter. Das Titelblatt eines Notizbuchs mit Fa-
Arbeitsphasen bel- und Szenenentwürfen aus dieser Zeit trägt
die Aufschrift »das fatzerdokument« (BBA
821/01), womit im weitesten Sinne das drama-
Die Erschließung des Materials nach Chrono- tische Material sowie Chortexte bezeichnet
logie, Umfang und Texttypen erfolgte zuerst sind.
durch Reiner Steinweg, der es in neun Arbeits- Eine Erweiterung der dramaturgischen Kon-
stufen, inhaltlich in 56 Fabel- bzw. Handlungs- zeption brachte die vierte Arbeitsphase (Früh-
elemente einteilte (vgl. Steinweg, S. 230– herbst 1928 bis Ende 1929), in der B. die kom-
253). Die im Rahmen der GBA von Günter mentierende, die Handlung einrahmende
Glaeser betreute Fatzer-Edition geht von fünf Funktion der Chöre verstärkte (vgl. GBA 10,
Arbeitsphasen aus: Von August 1926 bis zum S. 477 f.). Im Herbst 1928 kündigte er gegen-
168 Fatzer

über Helene Weigel »einen ›Urfatzer‹« (GBA Steinweg, S. 19) gilt aber nicht nur für den
28, S. 312) an, musste aber wenig später fest- Autor, sondern auch für seine Leser.
stellen: »Dieser ›Fatzer‹ ist ein harter Bissen, Rückblickend notierte B. im Journal vom
ich baue immer noch am Rahmen herum« 25. 2. 1939, die Fragmente Fatzer und Brot-
(S. 313). Zu den Chören kam als weitere kon- laden seien, im Gegensatz zu Galilei, »der
zeptionelle Ebene der »Fatzerkommentar«, höchste Standard technisch« aufgrund der
u. a. mit theatertheoretischen Texten und Ge- Nähe zum »Praktikum«, dem »Kontakt mit ei-
schichten vom »Denkenden« bzw. vom Herrn ner Bühne« (GBA 26, S. 330). Dass B. in Fatzer
Keuner (außerdem wurde der Figurenname keineswegs bloß ein gescheitertes Drama, son-
Koch in Keuner geändert). In den »Kommen- dern eine eigene ästhetische Form sah, zeigt
tar«-Texten reflektierte B. die Funktion des auch sein Rekurs bei der Arbeit am Büsching-
Staates sowie die Anwendbarkeit von Erkennt- Projekt über den Aktivisten Garbe (vgl. Bü-
nissen. So entwarf er – parallel zu seiner Ar- sching, BHB 1), wofür er, wie am 10. und 11. 7.
beit am neuen Stücktypus der Lehrstücke (vgl. 1951 im Journal notierte, den »Fatzervers« stu-
Die Lehrstücke, BHB 1) – die Institution von dieren wollte: »Was mir vorschwebt, formal,
»Pädagogien«, worin »die jungen Leute durch ist: ein Fragment in großen, rohen Blöcken.«
Theaterspielen« erzogen werden sollten (GBA (GBA 27, S. 324) Vermutlich traute B. dem
10, S. 524). Im Kontext des Fatzer plante er Fragment am ehesten zu, zeitnahe historische
nun die Bearbeitung elementarer Stoffkom- Erfahrungen festzuhalten; in ihm ist der Ar-
plexe: Liebe und Sexualität (»Geschlechtska- beitsprozess erkennbar und seine Lücken for-
pitel«; BBA 111/43), Verstädterung, gesell- dern die Auseinandersetzung heraus. Vor die-
schaftliche Umwälzung und Gewalt (Kapitel sem Hintergrund muss konstatiert werden,
der »lähmenden Gesichte« oder der »Zertrüm- dass die auch bei der Fatzer-Edition erfolgte
merung der Anschauungen durch die Verhält- Angleichung aller Texte in der GBA (Inter-
nisse«; GBA 10, S. 527 f.), Tod und Sterben punktion, Groß- und Kleinschreibung, Versifi-
(»Todeskapitel«; S. 518). zierung etc.) den Charakter des Fragments
Die fünfte und letzte Arbeitsphase (Ende verfälscht hat, insofern sie eine formale Ein-
1929 bis Frühjahr 1930) führte zur Veröffentli- heitlichkeit suggeriert. Auch wenn B. selbst
chung einiger Texte im ersten Versuche-Heft die Texte nicht in Kleinschrift und ohne Inter-
(Juni 1930) als »3. Abschnitt des Stückes Un- punktion publiziert hätte, wäre die Edition
tergang des Egoisten Johann Fatzer«. Abge- kaum auf eine rein formale Angleichung be-
druckt waren die Szenen »Rundgang des Fat- schränkt gewesen. Ebenfalls nicht einsichtig
zer durch die Stadt Mülheim« und »Fatzers ist, nach welchen Kriterien etliche Notizen in
zweite Abweichung«, sowie das Gedicht »Fat- die Anmerkungen gestellt wurden. Fragwür-
zer komm« (GBA 10, S. 499–513). Die im Vor- dig ist darüber hinaus auch die kategorische
wort B.s für spätere Hefte in Aussicht gestell- Aufteilung des Konvoluts in dramatische (Fat-
ten Abschnitte 1 und 2 erschienen nicht mehr; zerdokument) und theoretische Texte (Fatzer-
das Stück blieb Fragment. Den Experiment- kommentar), da die Edition so eine Hierarchie
charakter seiner Arbeiten (im Gegensatz zum festschreibt (unter Aussetzung der sonst chro-
Werkcharakter) hatte B. ausdrücklich zum nologischen Anordnung), die von B. durchaus
Prinzip der Versuche-Hefte erhoben. Dem ge- spielerisch gehandhabt worden ist.
planten Drama vom »Untergang des Egoisten«
stand er aber in besonderem Maße zwiespältig
gegenüber: »Das ganze Stück, da ja unmög-
lich, einfach zerschmeißen für Experiment
ohne Realität! Zur ›Selbstverständigung‹«
(GBA 10, S. 1120). Dieser Begriff (mit ihm
hatte bereits Marx den Abbruch am Manu-
skript Deutsche Ideologie begründet; vgl.
169

Mitarbeiter, Quellen, ten Heftchenserie Räuberhauptmann Fetzer,


die in den 1910er-Jahren ein Küchenmädchen
Intertextualität der Familie B. abonniert hatte. Vermutlich wa-
ren darin die historischen Prozessakten ver-
Vereinzelte handschriftliche Notate und Ab- arbeitet, die u. a. im Hinblick auf den Ort – ein
schriften von Elisabeth Hauptmann sowie eine Standquartier des Räubers war Mülheim a. d.
Korrektur von Hermann Borchardt lassen auf Ruhr – und die Darstellung des »Untergangs«
die Mitarbeit beider schließen, die dennoch, Parallelen zur Fatzer-Handlung aufweisen. B.s
zumal B. oft im Augsburger Elternhaus arbei- Texte enthalten außerdem bis ins Detail Paral-
tete, eher marginal erscheint. Direkte Quellen lelen zu den für Räuberbanden typischen Or-
sind für Fatzer kaum nachweisbar, dagegen je- ganisationsformen sowie Anklänge an das Rot-
doch zahlreiche intertextuelle Selbst- und welsche (vgl. Wilke, S. 162–167).
Fremdbezüge. Hervorzuheben ist besonders Den Namen »Büsching« entlehnte B. wohl
der Konnex zum Badener Lehrstück, in dem zeitgenössischen Prozessberichten über Ange-
der »Fatzerkommentar, Sterbekapitel« vor den hörige rechtsradikaler Gruppierungen, die in
gestürzten Fliegern verlesen wird (GBA 3, den Jahren 1923/24 zahlreiche Fememorde
S. 37 f.). Anspielungen reichen von der grie- verübt hatten. Unter den zum Tode Verurteil-
chischen Mythologie (u. a. Vergleich der Fat- ten befand sich der Feldwebel Hein Büsching,
zer-Figur mit »Prometheus ›gefesselt‹«; GBA der während des Prozesses gegen ihn selbst
10, S. 432) und Platons Dialog Der Staat und drei Mittäter untergetaucht war (vgl.
(S. 524 f.) über motivische Anklänge an Nietz- Bock, S. 21). Für B. war die Büsching-Figur,
sches Zarathustra (Untergangsthematik, die das Exekutionskommando gegen Fatzer
neuer Mensch) und Halbzitate u. a. von Wede- führt, auch ein »aggressiver Schweyk« (GBA
kind (»das schöne Tier Fatzer«; S. 427; vgl. 10, S. 396), anknüpfend an Jaroslav Ha šeks
Erdgeist, Prolog) bis hin zu stilistischen und Roman Die Abenteuer des braven Soldaten
thematischen Anklängen an die Bibel (Deser- Schwejk, bei dessen Dramatisierung und deut-
tion als »Sündefall [sic]«; S. 475) sowie zahl- scher Uraufführung an der Piscator-Bühne B.
reichen idiomatischen und umgangssprachli- Ende 1927 mitwirkte.
chen Ausdrücken. Die Wahl des Schauplatzes (Mülheim a. d.
Die Bezeichnung »Fatzer« (lesbar auch als Ruhr bzw. »Ruhrort«, ein Stadtteil Duisburgs
Anagramm von ›Fratze‹), an der B. für die mit dem in den 20er-Jahren größten europäi-
Titelfigur durchgängig festhielt, bedeutet neu- schen Binnenhafen) verdankt sich möglicher-
hochdeutsch Schwätzer, Spötter, Aufschneider, weise B.s Arbeit am Ruhrepos im Juni 1927,
abgeleitet von dem in der Literatur des einer Auftragsarbeit für die Oper der Städti-
16. Jh.s verbreiteten Verb »fatzen«: verspotten, schen Bühnen Essen; Industrie (Stahlproduk-
täuschen, plündern. Noch 1950/51 verglich B. tion) und Geologie des Ruhrgebiets waren ihm
den Fatzer mit dem in Homers Ilias beschrie- dabei »ein außerordentlicher Stoff« (GBA 21,
benen Thersites, dem von Achill erschlagenen S. 205). Hinzu kommen Hinweise auf reale
Spötter im Lager der Griechen. Der Name Fat- historische Vorgänge und Schauplätze im Kon-
zer spielt aber vermutlich auch auf den Räu- text des ersten Weltkriegs (als Material-
berhauptmann Fetzer an, d. i. der historische schlacht und Wirtschaftskrieg) und der russi-
Räuber Mathias Weber (1778–1803), der im schen Revolution, sowie auf Theoreme von
rheinischen Grenzgebiet in der Umbruchszeit Marx und Lenin. So liest Keuner vor Arbeitern
der 1790er-Jahre (im Zuge der sog. Koalitions- das Kommunistische Manifest vor, »bekämpft
kriege gegen die französischen Revolutions- Anarchismus, Radikalismus und Opportunis-
truppen) sein Unwesen trieb und vor großem mus« und führt ein »pazifistisches Gespräch
Publikum durch die Guillotine hingerichtet über den Krieg« (GBA 10, S. 491 f.). Mit der
wurde. B. kannte die nachträglich romanti- ›Liquidierung‹ Fatzers aufgrund seiner »Ab-
sierte Figur aus einer von ihm hoch geschätz- weichung[en]« (S. 470) klingen der Jargon
170 Fatzer

und die zeitgenössische Praxis der KP-Leitung Stücks« (S. 428) spitzte B. die Situation weiter
an, ultralinke und -rechte ›Abweichler‹ aus zu: Der Hunger wächst, und die von ihrem
der Partei auszuschließen. Daneben setzte B. eigenen Mann zurückgewiesene Frau will,
sich unter dem Motto »Fatzer Sex-Stück« nachdem Fatzer sie verführt hat, die Wohnung
(S. 517 f.) mit Engels Schrift Der Ursprung der nicht länger mit den Männern teilen. Aus die-
Familie, des Privateigentums und des Staates sem Chaos soll etwas Neues, aus dem schlech-
(1884) auseinander, speziell mit dem Zusam- ten ein gutes Kollektiv entstehen: »Anarchie.
menhang von Sexual- und Besitzverhältnis- Verwilderung. Dann konstituiert sich eine Art
sen. Sowjet. / Die Uneinigkeit führt zum System
der Stimmenmehrheit« (ebd.).
Koch betreibt nun »bewußt (zynisch)« die
Ausnutzung aller Probleme »für die Revolu-
Stoff, Form, »Schreibweise« tionierung« (GBA 10, S. 428), was zur Heraus-
bildung einer männlichen »Ideologie« gegen
die Wünsche der Frau führt: Eintretend für
Den Anfang des Stücks situierte B. im Nie- »die Freiheit der Frau und gegen den Besitz«
mandsland zwischen den Fronten: »Über ein (S. 434), begründet Koch, warum die Männer
zerschossenes Gelände rollt ein Tank« (GBA 10, sich notfalls an der Frau vergreifen können
S. 388); vier Soldaten steigen aus und be- und außerdem in der Wohnung bleiben sollen.
schließen, angeführt von ihrem »besten Mann« Heimarbeit, im Sinne eigener Produktion, und
Fatzer (S. 441), zu desertieren. Auslöser sind der Kontakt zu Arbeitern werden als Wege aus
der Überdruss am Krieg und die Aussicht auf der Misere geplant. Der Ehebruch wird nun
den sicheren Tod (Fatzer: »ich scheiße / Auf mit Verweis auf die intakte Gemeinschaft ge-
die Ordnung der Welt. Ich bin / Verloren«; rechtfertigt: »Fatzer müsse bekommen, was
S. 394). Gleichzeitig haben sie als potenzielle Fatzer brauche, aber Fatzer müsse hergeben,
Revolutionäre erkannt, dass der »Erbfeind« was sie brauchten« (ebd.). Dem entspricht die
nicht nur vor, sondern auch hinter ihnen steht. positive Bewertung von Fatzers Egoismus, der
Diese Erkenntnis macht die Desertion zum Akt »für uns vier« ausreicht (S. 442). Die Zweck-
der Befreiung: »Dieser Tank hat uns das zwei- gemeinschaft ist jedoch wegen der Unbere-
temal geboren« (S. 450). Die vier verlassen die chenbarkeit Fatzers nicht realisierbar: Er ist
Front (»vor Verdun«; S. 469) und tauchen in »der stärkste«, aber »ganz unnütz« (S. 449); die
Mülheim wieder auf, wo sie sich in der Woh- anderen verachtet er, gerade weil sie ihn brau-
nung des Kaumann (bei dessen Frau) verstek- chen. Nach einem Streit mit Fleischern, bei
ken und auf die Revolution warten. Fatzer pro- dem er niedergeschlagen wurde, hält er ihnen
phezeit den Zusammenschluss aller Menschen fehlende Solidarität vor, auch wenn sie viel-
zur Masse bzw. zum »Massemensch« (S. 410); leicht gefährlich gewesen wäre (»Etwas Unver-
er verbürgt sich, bis dahin für Lebensmittel zu nunft bitte!«; S. 456). So wie Fatzer die Lust
sorgen. Das Zusammenleben im engen Ver- am Nutzlosen und Destruktiven verteidigt,
steck ist explosiv, die Gruppe ist uneinig, zu- fordert er auch für sich das Recht ein, nicht zu
mal Fatzer die Essensbeschaffung scheitern genügen: »Behaltet von allem, was an mir ist /
lässt. Die anderen stellen ihn auf die Probe, Nur das euch Nützliche. / Der Rest ist Fatzer.«
geben ihm alles Geld und ihre Pässe, die er (S. 495) Aufgrund seiner »Abweichungen« ma-
lachend wegwirft, eine weiteres Vergehen, zu chen ihm die anderen den Prozess: Er soll sich
dem dann noch die Verführung der Frau mit seinem Tod einverstanden erklären (Nähe
kommt. Einen Selbstmordversuch Fatzers ver- zum Lehrstück). Die Exekution scheitert je-
hindern die Männer jedoch, da sie ihn brau- doch an Fatzers Protest. In keiner Szene wird
chen. Umgekehrt ist auch Fatzer von der die Tötung vollzogen, mehrmals aber in kras-
Gruppe abhängig: »Ich muß mit vier Lungen ser Form von Koch imaginiert (»weil [ … ] ich
atmen.« (S. 426) Im »Furchtzentrum des ihn sehn will ausgetreten / Und da, wo sein
Stoff, Form, »Schreibweise« 171

Gesicht war / Der Dreck von meinem Stiefel«; die Deutung aber an die Zuschauer (»denn /
S. 459). So hat die Koch-Figur, die für Gerech- Wir waren uneinig«; S. 477). Zugleich wird
tigkeit und Gruppenmoral steht, unübersehbar die Tötung Fatzers bürokratisiert: Der Chor
fanatische Züge (vgl. S. 1127). Die Konsequenz »ernennt Koch zu einer Art Liquidationsver-
deutet sich in einem radikalen Antihumanis- walter und trägt ihm auf, den Typus Fatzer zu
mus an, dem Töten als Pflicht erscheint: »Der liquidieren« (S. 475). Mit der Umbenennung
Mensch ist der Feind und muß aufhörn« von Koch in Keuner wird jedoch das Affektive
(S. 452). Konträr dazu stehen Reden Fatzers an dieser Figur getilgt und der Einfluss Fatzers
über die Wandel- und Verletzbarkeit des Men- als Gegenfigur herabgesetzt. Anhand von zwei
schen (»Von Natur durchlässig und undicht«; Zeichnungen (»Fatzer-Schema« und »Keuner
S. 1138) sowie die kopflose Mechanik des Fatzer Schema«; BBA 826/29 f.) wird Keuner
»Massemenschen« (S. 465 f.). vom Chor belehrt, dass die Desertion falsch
Die Frage nach Tötungslust und Unzuläng- war. Stattdessen müsse, Lenin entsprechend,
lichkeit des Menschen im Rahmen existenziel- der »Weltkrieg in den / Bürgerkrieg« verwan-
ler Grundsituationen ist eng verknüpft mit B.s delt werden (S. 478; vgl. S. 1145 f.). Dass
Blick auf den ersten Weltkrieg und dessen Fol- Zeichnungen und einzelne Sätze von den Fi-
gen, für ihn der »große praktische Anschau- guren auf die Tank- oder Zimmerwand ge-
ungsunterricht für ein neues Sehen der Dinge« schrieben und korrigiert werden, demon-
(GBA 21, S. 305). Die Frage, wie der Krieg striert den Schreibvorgang als Lernprozess,
darzustellen sei, leitete auch B.s Dokument- entsprechend der »Schreibweise des Kommen-
und Kommentar-Begriff. In Abgrenzung von tars« (S. 514). Mit fortschreitender Arbeit
Piscators dokumentarischem Theater (Doku- experimentierte B. unabhängig von der Hand-
ment als authentischer Beleg) entwickelte er lung mit Formen des wissenschaftlichen Dis-
in Fatzer das Dokument als Konstrukt, das auf kurses: Traktat, Katechismus und Lehrge-
dem Theater durch Beglaubigung des Publi- dicht; darunter auch Selbstreflexionen über
kums potenziell ebenso »wirklich« ist wie his- den Schreibprozess: »Ich, der Schreibende,
torische Fakten (vgl. GBA 10, S. 516 f.). Kom- muß nichts fertig machen. Es genügt, daß ich
mentar und Dokument durchdringen einander mich [über das ›Fatzerdokument‹] unter-
in der Versuche-Szene »Rundgang des Fatzer richte«, das »späterhin zum Lehrgegenstand«
durch die Stadt Mülheim« (S. 499–505), für Schüler würde (S. 514).
worin der Deserteur das Kriegselend mitleid- Mit der Verknüpfung von Dokument und
los kommentiert und dabei selbst auf Beute aus Kommentar entwarf B. ein Rezeptionsmodell,
ist. Ablehnung des subjektiven Erlebnisbe- das Theorie und Praxis verbinden sollte: »Zum
richts, eine karge Sprache, die den Kriegsraum Fatzerdokument gehört das [sic] Fatzerkom-
immer nur schlaglichtartig beleuchtet, sowie mentar. Das Fatzerkommentar enthält zwei-
die Beschäftigung mit Deserteuren, den von erlei Anleitungen für die Spieler: solche, die
der Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft Ge- die Darstellung, und solche, die den Sinn und
ächteten: all dies rückt Fatzer in Kontrast zur die Anwendung des Dokuments betreffen.«
Kriegsliteratur der späten 20er-Jahre (z. B. (GBA 10, S. 515) Vor letzteren seien unbedingt
Erich Maria Remarque, Im Westen nichts erst die Anleitungen für die Darstellung des
Neues; 1929). Dokuments zu studieren. Diese müsse nach
Der Einbau der Chöre bringt eine weitere dem Vorbild der »ersten Künstler« (ebd.) der
Distanzierung und Umdeutung des Gesche- Zeit erfolgen, »mündlich und schriftlich kriti-
hens. Der »Sündefall« besteht nun in der Tren- siert« (ebd.) und dadurch abgeändert werden.
nung der Deserteure von der »Masse«, woraus Auf gleiche Weise könnten auch die Anwei-
der Untergang aller vier notwendig folgen soll sungen des Kommentars geändert werden, da
(GBA 10, S. 475). Das von zwei Chören ge- sie »voller Fehler« (S. 516) seien. So erfordert
zeigte Schlussbild eines zerstörten Zimmers der Kommentar seinerseits Kommentierung;
mit ›vier Toten und einem Namen‹ delegiert er ist Vorschrift und zugleich Material des Ler-
172 Fatzer

nens, institutionalisiert nach Art antiker Rhe- Analyse und Deutungen


toriklehren und jesuitischer Lateinschulen:
»Bei der Abfassung der jährlichen Rede mit
den drei ketzerischen Einwendungen gegen Da das Fragment bis 1997 nur in Bruchteilen
die Spielart und bei der Abfassung der großen publiziert war, entwickelte sich die Rezeption
Rede am Schluß der Lernzeit mit dem einen nur zögerlich. Während der Historiker und
ketzerischen Einwand gegen den Kommentar Theologe Karl Thieme in der Zeitschrift Hoch-
und bei der Abfassung der monatlichen Rede land die im Versuche-Heft publizierten Fatzer-
mit der Anwendung des Kommentars auf eine Texte lediglich als »das Schwerstverständli-
staatliche Frage bedient sich der Studierende che« von B. bezeichnete (Thieme, S. 410),
der Schreibweise des Kommentars. [ … ] Den- begann die eigentliche Rezeption mit zwei
kend in den Gedanken des Kommentars« er- kurzen Studien von Walter Benjamin. Benja-
kennt er dessen »Unvollkommenheiten« min zufolge ging es B. um die Darstellung
(S. 514). einer neuen Haltung und neuer Gesten, die am
Entsprechend einem Regelwerk, das mit der Herrn Keuner – für Benjamin der höfliche und
Befolgung zugleich seine Kritik vorschreibt, zugleich kalte »Denkende« – wie auch an B.s
steht die theatrale »Darstellung des Asozialen ältesten Figuren, der »Horde von Hooligans
[ … ] nach genauen und großartigen Mustern« und Verbrechern« wie Baal, Mackie Messer
im Zentrum von B.s Idee der »Pädagogien«, und Fatzer, zu studieren wären (Benjamin
wo Schüler vom Staat zu dessen Nutzen er- 1980, S. 665). In seiner Lektüre des Gedichts
zogen werden sollen (GBA 10, S. 524 f.). B.s »Fatzer, komm« sah er den Zweck des »Kom-
Vorstellungen von diesem Staat, der nicht von mentars« darin, die pädagogische, politische
einzelnen regiert, sondern von allen, bei und poetische Wirkung der zitierten Gesten
gleichzeitiger Achtung der Ordnung, je nach und Worte zu fördern, speziell »Gesten der
Bedürfnislage verändert wird, folgen dem Armut, Unwissenheit, Ohnmacht« (Benjamin,
gleichen Prinzip wie die »Schreibweise des S. 35)im Sinne einer »Mimikry« (S. 38)an die
Kommentars«: Staat wie Kommentar dürfen Wirklichkeit. Indem er in einer rechten Spalte
nicht »fertig« werden, um ihre Brauchbarkeit den in einer linken Spalte abgedruckten Text
nicht einzubüßen (vgl. »Fatzer, komm«; B.s fortlaufend kommentierte, führte Benja-
S. 511ff.). Dabei stehen Fatzerdokument (im min erstmals den »Kommentar« als konkrete
Sinne von Stückhandlung) und Fatzerkommen- Praxis des Zitierens, Auslegens und Erwei-
tar relativ selbstständig nebeneinander; the- terns vor Augen.
matische Anklänge gibt es am ehesten noch in Einen besonders für die Theaterrezeption
den bruchstückhaften »Kapitel«-Entwürfen. und die literarische Einschätzung des Fatzer
Diese erörtern z. B. die Frage, wie das Sterben, wichtigen Impuls brachte – nach der Erschlie-
das Sexuelle, das »Mechanische« und eine kol- ßung des Konvoluts durch Steinweg (1976) –
lektive Moral gelehrt und gelernt werden sol- 1978 die Bühnenfassung von Heiner Müller.
len angesichts der menschlichen Furcht davor Aufgrund von Müllers Fatzer-Rezeption gilt
(S. 527 f.). Das Verhältnis der Teile des Frag- das Fragment seit den 80er-Jahren nicht mehr
ments zueinander bleibt jedenfalls ein Pro- als Nebenprodukt, sondern als ein zentrales
blem der Deutung, angefangen mit der Frage, Projekt B.s aus der Zeit vor dem Exil. Müller
ob der Kommentar eher als Anleitung für Stu- sah in ihm einen »Jahrhunderttext«, weil er
dierende im Rahmen einer (pädagogischen) sprachlich hoch verdichtet und von schockarti-
Übung zu betrachten ist oder als ein litera- gen Großstadterfahrungen geprägt sei (Müller
rischer Text, der während einer Aufführung 1994, S. 7): B.s »größten Entwurf und einzigen
(wie im Badener Lehrstück angedeutet; GBA Text, in dem er sich, wie Goethe mit dem
3, S. 37 f.) vorgetragen wird. Fauststoff, die Freiheit des Experiments her-
ausnahm [ … ]. Der Text ist präideologisch, die
Sprache formuliert nicht Denkresultate, son-
Analyse und Deutungen 173

dern skandiert den Denkprozess. Er hat die Körperlichkeit des Menschen (Lust, Schmerz,
Authentizität des ersten Blicks auf ein Unbe- Gewalt) die Schnittstelle zwischen Subjekt
kanntes, den Schrecken der ersten Erschei- und Gemeinschaft (vgl. Nägele; Mahlke). In
nung des Neuen.« (Müller 1982, S. 147) In die- Fatzer führte B.s Interesse immer wieder über
sem Sinn ist festzuhalten, dass der Verzicht auf eine Dramaturgie der Gegenspieler (Fatzer /
dramaturgische Rahmung und politische Par- Koch bzw. Keuner) hinaus auf Konflikte der
teinahme im Fatzer eng verknüpft ist mit dem Gruppe sowie auf die Frage nach der krisen-
Stoff, der »aller Moral entblößten Zeit des er- haften menschlichen »Natur«. Ausgehend von
sten Weltkrieges« (GBA 10, S. 469), d. h. den der kriminellen Bande, die das »große Ich«
regressiven, barbarischen Zügen der moder- Fatzer nur so lange trägt, wie es nützt, war B.
nen Zivilisation. Das kollektive Trauma des fasziniert vom ›schlechten‹ Kollektiv. Benja-
Massensterbens im hoch technisierten Krieg min zufolge wollte er den Verbrecher und Aso-
hat B. als Rückfall in archaische Zustände be- zialen (auch Fatzer) als »virtuellen Revolutio-
schrieben (Verkriechen der Deserteure in der när« zeichnen, ihn »in der Retorte aus Niedrig-
»Höhle«, Jagd nach Beute und »Fressen«, Hor- keit und Gemeinheit entwickeln« (Benjamin
denbildung; vgl. S. 398), die eine verschärfte 1980, S. 665). Das Umschlagen von revolutio-
Wahrnehmung ermöglichen. närer in konterrevolutionäre Energie provo-
Frühere Lesarten deuteten das Fragment zierte vielfältige Assoziationen, nicht nur die
biographisch, als Versuch B.s, im Zuge seiner Fememorde der rechtsextremen »Schwarzen
Marx-Lektüre die eigene anarchisch-indivi- Reichswehr« (Bock, S. 20), sondern auch die
dualistische Vergangenheit zu bewältigen zu- Vorwegnahme einer »kommunistischen Dikta-
gunsten einer kollektivistischen Position. Am tur (Zelle)« (Müller 1982, S. 143) oder den
Konflikt zwischen dem Egoisten Fatzer und bundesdeutschen Terrorismus (Müller 1994,
dem »Denkenden« Koch / Keuner habe er die- S. 8f.). So kann die Gruppe der Deserteure als
sen Prozess ausgetragen, allerdings ohne ihn Modell gelten für die Situation gesellschaft-
lösen zu können (Milfull; Voigts). Auch Müller licher Außenseiter, für politischen Extre-
sah in der Einführung des Keuner den »Umbau mismus sowie für das selbstzerstörerische Po-
des rebellischen Sohns in die Vaterfigur«, wo- tenzial terroristischer Gewalt. Erst in einer
mit die »Materialschlacht Brecht gegen Brecht späteren Phase begründete B. den notwendi-
(= Nietzsche gegen Marx, Marx gegen Nietz- gen Untergang der Deserteure mit ihrem Al-
sche)« beendet worden sei (Müller 1982, leingang, der Trennung von der Masse, wobei
S. 148). Ebenfalls biographisch, aber konträr »die große unteilbare und unzerstörbare
zur These der Selbstkorrektur, hat Florian Va- Masse« (GBA 10, S. 522) in Fatzer sowohl Uto-
ßen das Fragment als »ästhetischen Versuch pie als auch Schreckbild blieb.
der Selbstverwirklichung« gedeutet, wobei B. Auf der Ebene des »Fatzerkommentars« keh-
seine Moralkritik und das Recht des Asozialen ren affektbesetzte Themen der Stückhandlung
besonders konsequent formuliert habe (Vaßen, wieder, wo sie zum Gegenstand des nüchter-
S. 57). Davon ausgehend kann gerade die nen Kommentierens und Lernens werden.
Frage nach dem Asozialen als »Heuristik [Er- Eine zentrale Rolle spielt dabei die Furcht, die
kenntnismoment] der Produktion« gelten im Fatzer Gradmesser für gesellschaftliche
(Girshausen, S. 330). Umwälzungen ist. So geht es in den »Kom-
Im Konflikt zwischen Individuum und Kol- mentaren« darum, den Affekt der Furcht offen-
lektiv bzw. Masse wurde häufig ein Leitmotiv siv zu bearbeiten, etwa im »Einverständnis«
des Fragments gesehen (Völker, S. 121). Wie mit dem Sterben (vgl. den »Fatzerkommentar«
die Lehrstückforschung in der Nachfolge von im Badener Lehrstück; GBA 3, S. 38) oder in
Steinweg gezeigt hat, handelt es sich hier je- der Lehre vom »Schrecken« des Sexuellen
doch um keinen Gegensatz, der dialektisch (GBA 10, S. 527). Gewalt, Schmerz und Furcht
aufgelöst werden könnte. Vielmehr markiert sind immer wieder Anlass des Kommentie-
die Lehre von Haltungen und Gesten an der rens; an die Stelle von Mitleiden setzt der
174 Fatzer

»Kommentar« Mitdenken sowie »Einverständ- Acht ließ. Mit diesen Kategorien versuchte B.,
nis« statt Einfühlung. Auch daran zeigt sich, das Material zu ordnen und zugleich einen
dass im Fatzer verschiedene Theaterformen Modus der Rezeption nahe zu legen, die Praxis
aufeinander prallen: Versatzstücke des epi- und Theorie, Aktion und Reflexion verbindet.
schen Dramas, in dem familiäre und Ge- Der damit suggerierte gegenseitige Bezug
schlechterverhältnisse als Relikte des bürger- muss aber erst in Lektüre und Theaterarbeit
lichen Trauerspiels (Furcht und Mitleid) noch hergestellt werden, die Theorien und Anwei-
zentral sind, und Elemente des Lehrstücks, sungen des »Kommentars« bedürfen der prak-
das die Institutionalisierung der Verhältnisse tischen Anwendung. So wird der »Untergang
vorführt, Privates tilgt und mit der Zuspitzung des Egoisten« notwendig zum Gegenstand des
der Affekte und der Einführung von Chören Theaters als einer kollektiven Verhandlung,
(auch über die antike Tragödie hinaus) auf die sich als solche unablässig aufs Spiel setzt.
dem Schrecken als einem Erkenntnismoment
beharrt. Anstatt den Untergang des Egoisten
als Drama zu gestalten, hat B. die Verhandlung
darüber, »Was eigentlich los war«, an die Zu- Theaterrezeption
schauer delegiert (S. 477). Für das Projekt ei-
nes Theaters, in dem es nur Spieler, keine Das Fatzer-Fragment steht quer zu traditionel-
Zuschauer geben sollte (»Pädagogium«), len Vorstellungen vom Drama und seiner in-
wurde dann die Darstellung des Asozialen szenatorischen Umsetzung; B. notierte sogar
grundlegend: Die »asozialen Triebe« seien da- »fatzer unaufführbar« (BBA 220/13). Dennoch
durch zu »verbessern«, dass sie auf dem Thea- gab es zahlreiche Aufführungen, die, den bür-
ter von jedem erzwungen würden (S. 525). Der gerlichen Theaterkonventionen folgend, das
Umgang mit dem Asozialen blieb für B. bis Fragment als episches Drama zeigten (vgl. zur
zum Abbruch der Arbeit an Fatzer ein Problem, Aufführungsgeschichte ausführlich: Wilke,
das nicht moralisch eindeutig entscheidbar ist, S. 219–253). Die Uraufführung fand am 11. 3.
sondern in der Gesellschaft (im Theater) im- 1976 an der Schaubühne am Halleschen Ufer
mer wieder neu verhandelt werden muss. in West-Berlin statt (Regie: Frank-Patrick
Vor diesem Hintergrund verstand Steinweg Steckel). Auf der Grundlage von Steinwegs
das Fragment als »Produktionsstätte der Theo- philologischer Arbeit wurde eine Stückhand-
rie der Großen Pädagogik«, ein ideales, sozia- lung aus frühen szenischen Entwürfen mon-
listisches Theater der Zukunft (Vorstufe sei die tiert (mit zwei Versionen der Desertion).
Kleine Pädagogik mit den Lehrstücken zur Während die Aufführung – mit einem Tank-
Aufklärung innerhalb bürgerlicher Gesell- Nachbau in knöchelhohem Schlamm – auf eine
schaften). Entsprechend würden die »Kom- realistisch-konkrete Darstellung und Spiel-
mentare« die vollzogene proletarische Revolu- weise setzte, wurde zugleich der Werkstatt-
tion bzw. einen sozialistisch organisierten charakter durch Einbau eines Kommentators
Staat voraussetzen, in dem die Massen über betont, der die Arbeit als (Gerichts-)Prozess
die Theaterapparate (»Pädagogien«) verfügen. sowie als Prozess der Textdeutung auswies.
Der »Untergang des Egoisten« diene darin als Der Kritiker Rolf Michaelis z. B. lehnte die
Lehrzweck für die Einübung kollektivistischen Inszenierung als »Archiv-Festspiel [ … ] aus
Verhaltens. Fatzer sei damit der fortschrittlich- den Zettelkästen der Brecht-Philologie« ab
ste, aber an der Realität gescheiterte Theater- (Wyss, S. 442 f.), zugleich aber wurde Fatzer
Entwurf B.s (vgl. Steinweg, S. 205–210). Diese auch als der »fremdeste Brecht« erkannt
Deutung stützte sich jedoch nur auf die (Rischbieter 1976).
schmale Textschicht der »Kommentare« (deren In der Aufführung 1978 am Hamburger
Staats-Entwürfe zudem höchst abstrakt sind), Schauspielhaus (Regie: Manfred Karge und
während sie die rhetorische Funktion der Matthias Langhoff, Textfassung: Heiner Mül-
Begriffe »Dokument« und »Kommentar« außer ler) wurde ebenfalls zwischen Spiel- und Kom-
Theaterrezeption 175

mentarebene unterschieden: »links vor wei- kunft in Fatzer wie später in der Ideologie der
ßen, mit Projektionen gelegentlich markier- bundesdeutschen Terrororganisation und
ten, später zerstörten Papierwänden die ›Stadtguerilla‹ RAF (Rote-Armee-Fraktion)
Spielszenen, rechts am präparierten Klavier, zentral gewesen sei (S. 8f.). Vor allem in der
vor Mischpulten und Mikrophon Sängerin, Schlussszene, der geplanten Exekution des
Rezitatoren, Sprecher, dazu Nummerntafeln, Abweichlers durch das Kollektiv, sah Müller
Kinoprojektion, aus dem Lautsprecher Heiner einen Kommentar zur RAF (speziell zur ge-
Müllers Stimme mit Zwischentexten.« (Risch- waltsam beendeten Flugzeugentführung in
bieter 1978, S. 10) Die Aufführung wurde als Mogadischu im Oktober 1977). Anders als bei
Doppelprojekt mit Kleists Prinz von Homburg B. bricht die »Letzte Szene« bei Müller nicht
realisiert. Mit dem Kontrast der deutschen mit Fatzers Protest ab; stattdessen wird zu-
Ideale wie Disziplin und Ordnung zu Anarchie nächst Koch, der das Exekutionskommando
und sozialem Ungehorsam ging es vor allem führt (bei B. ist es Büsching), von Eindring-
um den westdeutschen Umgang mit dem Ter- lingen erschossen, bevor das ganze Zimmer
rorismus, um das Leben von Untergetauchten durch eine Explosion zerstört wird. Während
und politisch Verfolgten. Die Verwandlung der das Schlussbild – vier Tote und das zerstörte
Bühne des Homburg (ein roher Kartoffel- Zimmer – gezeigt wird, endet die Bühnenfas-
acker) in die nüchterne »Lehrstück-Bühne« sung mit dem Text »Fatzer, komm«.
des Fatzer versinnbildlichte für den Kritiker Müllers Fatzer-Fassung diente als Grund-
Benjamin Henrichs selbst »ein Stück deutsche lage für fast alle weiteren Inszenierungen,
Misere« (Henrichs). auch wenn er in B.s Fragment zumindest theo-
Heiner Müllers anlässlich der Hamburger retisch einen Anti-Theatertext gesehen hatte,
Aufführung entstandene Bühnenfassung des das Gegenteil von bürgerlichem Theater. Auf-
Fatzer ist eine Montage in thematischen Blök- führungen am Théâtre de Gennevilliers (1981;
ken: erster Weltkrieg und Desertion, »Rund- frz. Übersetzung: François Rey), an den Städti-
gang des Fatzer« (Versuche-Szene), Kampf schen Bühnen Augsburg (1988), am Schauspiel
ums Überleben in Mülheim, Verführung der Bonn (1988) und am Kölner Schauspiel (1990;
Frau, Scheitern der Revolution, Fatzer wird hier wurde Fatzer im Anschluss an die Drei-
auf die Probe gestellt, »Letzte Szene« und Un- groschenoper in deren Kulisse, unter einer
tergang aller vier Männer. Die sieben Ab- großen Stahltreppe, gespielt) folgten dem im
schnitte setzen sich aus Chören (darunter Re- Titel »Untergang des Egoisten Johann Fatzer«
flexionen B.s zur Handlung sowie »Kommen- vorgezeichneten Geschehen und übernahmen
tare«) und ihrerseits montierten Dialogen und Müllers effektvollen Schluss. So verfuhr auch,
Reden zusammen. Die als »Fatzerdokumente« mit eigener Textauswahl, die Aufführung am
bezeichneten Chorpassagen sind um Angaben Schauspielhaus Bochum (1992), die auf einer
für Text- oder Bildprojektionen ergänzt, nach ansonsten existenzialistisch grauen Bühne das
dem Vorbild eines (am Anfang der Bühnenfas- revolutionäre Pathos durch pompöse Theater-
sung stehenden) Texts, zu dem »auf den effekte brach.
Schautafeln die Kriegsgeräte gezeigt werden« Die DDR-Erstaufführung am 16. 6. 1987 am
(GBA 10, S. 452). An einzelnen Stellen fügte Berliner Ensemble (Regie: Manfred Wekwerth
Müller zusätzlich Text ein, vor der Verführung und Joachim Tenschert) verband eine natura-
der Frau einen Abschnitt aus Nietzsches Fröh- listische Kriegslandschaft mit einer Eisenkon-
licher Wissenschaft über die Effektivität der struktion für die Szenen in Mülheim. Die
»stärksten und bösesten Geister«, den Fatzer Spielhandlung (gelegentlich unterbrochen von
spricht (Müller 1994, S. 78). Für ihn war einem Chor / 19 Sprechern in bunter Straßen-
»Koch der Terrorist, Fatzer der Anarchist, kleidung) konzentrierte sich auf den Gegen-
Koch / Keuner die Verbindung von Disziplin satz zwischen dem starken Individualisten Fat-
und Terror«, wobei die »Verbindung von De- zer und dem furchtsamen Kollektivisten Koch,
mut und Töten« im Dienst einer besseren Zu- der am Ende zum Märtyrer stilisiert wurde.
176 Fatzer

Von dieser Aufführung wie von einer Negativ- den darin zum Gegenstand des Theaterpro-
folie setzte sich Müllers eigene Inszenierung zesses, das hierarchische Verhältnis von Bühne
Duell Traktor Fatzer 1993 am Berliner Ensem- und Publikum aufgelöst. Bereits 1977 erarbei-
ble ab: Vier Jahre nach dem Fall der Berliner tete Andrzej Wirth mit Studierenden der Stan-
Mauer führte sie die spukhafte Verflüchtigung ford University (1978 auch an der Freien Uni-
dramatischer Konflikte und eine Situation der versität Berlin und 1994 an der University of
Lähmung vor. Von seiner Bühnenfassung hatte Sydney) ein Fatzer-Projekt in Form einer kol-
Müller bereits in der Hörspielbearbeitung des lektiven Textlektüre. Aus einem im Kreis auf-
Fatzer 1988 für den Rundfunk der DDR, einer gestellten Sprechchor (Kommentar-Ebene)
Orchestrierung disparater Stimmen, Abschied wurden nach festgelegten Regeln Spieler in
genommen (vgl. Kruger). In Duell Traktor Fat- das Kreisinnere gerufen, um dort einzelne
zer, einer Auseinandersetzung mit deutscher Szenen darzustellen (Dokument-Ebene). Mit
Geschichte anhand von literarischen Doku- dem Wechsel von Rollen und Positionen ging
menten, griff er auch auf verschiedene eigene es vor allem um die Dynamik von Spontanei-
Texte zurück, die enttäuschte Utopien behan- tät, Protest und Reglementierung (vgl. Wirth).
deln: »Findling« und »Duell« aus Wolokolams- Auf die besondere Sprache und Gestik des
ker Chaussee (1984–87), das Stück Traktor Fragments richteten sich von 1979 bis 1981 die
(1955–74) und das Versgedicht Mommsens von Ralf Schnell und Vaßen geleiteten Work-
Block (1993; vgl. Wilke, S. 240–251). Die shops mit Studierenden der Universität Han-
Bühne wurde von einem überdimensionalen nover (vgl. Schnell/Vaßen).
Tisch beherrscht, zugleich Schlacht- und Mi- Das Fatzer-Projekt des Wiener »TheaterAn-
nenfeld, Küchen- und Funktionärstisch, der gelusNovus« um die Regisseure Josef Szeiler
das Gemeinwesen verkörperte; Fatzer wurde und Anne Mertin knüpfte 1985 ebenfalls an
zuletzt von seinen Genossen daran festgebun- Theorie und Praxis der Lehrstücke an und hob
den. Indem die Inszenierung ein begrenztes die Trennung von Bühne und Zuschauerraum
Repertoire an Konstellationen und Gängen va- auf: Das Spielfeld war eine 3000 Quadratmeter
riierte, entfaltete sich ein Zusammenhang zwi- große Werkhalle der Österreichischen Bun-
schen den Texten und ihren Figuren (Polarität: desbahnen in Wien, auf dem sich sowohl sie-
Vater / Sohn, Funktionär / Abweichler, Koch / ben in Rugby-Anzügen agierende Spieler als
Fatzer). Einem gelähmten Fatzer (Hermann auch die Zuschauer (ausgestattet in weißen
Beyer) stand Koch als vergreister Funktionär Kitteln) frei bewegten, während der reguläre
gegenüber (Ekkehard Schall, in der DDR-Erst- Werkstattbetrieb weiterging. Anstatt einer
aufführung noch in der Rolle des Fatzer), wo- Stückhandlung und Charakteren zu folgen, sah
bei auch das Pathos des Untergangs durch des- man den Spielern bei einem zeremoniellen,
sen dreimalige Wiederholung verhindert nach festen Zeiteinheiten strukturierten Kör-
wurde, jeweils eingeleitet durch den Satz: per- und Sprechtraining zu (Auslegung des
»Und von jetzt ab und eine ganze Zeit über / Texts als körperliche Arbeit). Gleichzeitig er-
Wird es keinen Sieger mehr geben / Auf eurer lebte jeder Zuschauer sich als Teil des Thea-
Welt, sondern nur mehr / Besiegte.« (GBA 10, terprozesses, den er als Ganzes nicht über-
S. 427) Die Kritik verurteilte die Inszenierung blicken konnte. Das darauf folgende Fatzer-
als »gespenstisch-kalkiges Familientreffen« Projekt unter der Leitung von Josef Szeiler am
(Stadelmaier) und »Gruftie-Parade« (Iden) Wiener Institut für Theaterwissenschaft
und übersah dabei, dass Müller das Theater (1988/89) stellte den universitären Wissen-
auch als politischen Gedächtnisraum ausge- schaftsbetrieb und seinen konventionell-histo-
lotet hatte. rischen Theaterbegriff radikal in Frage: Im
Anknüpfend an B.s Lehrstück- und Pädago- Zentrum standen mehrere achtstündige (über
gienkonzeption entstanden zahlreiche Fatzer- zwei Jahre verteilte), exerzitienartige Übungs-
Projekte auch außerhalb des institutionalisier- einheiten, in denen eine Gruppe von Studie-
ten Theaters. Produktion und Rezeption wur- renden in streng geregelten Abläufen und
Theaterrezeption 177

Konstellationen Fatzer-Texte lasen, körperlich len des stillgelegten Schlachthofes St. Marx an
trainierten, diskutierten oder ihre Erfahrun- den Aktionen der Schauspieler teilnehmen,
gen schriftlich protokollierten. Der so entstan- u. a. beim Beschreiben der Hallenwände mit
dene »Kommentar« (vgl. FatzerMaterial 1990) Fatzer- und Orestie-Texten. So zeigt die Ge-
dokumentiert einen gruppendynamischen schichte von Aufführungen und Projekten,
Prozess, der sich immer weiter vom konkreten dass Fatzer eine Herausforderung nicht nur für
Textmaterial entfernte, dabei der Problematik traditionelles, sondern vor allem für experi-
des Fragments (unbewusst) aber umso näher mentelles Theater bleibt.
kam: der Frage nach dem Umgang mit ›Ab-
weichlern‹ und Aussteigern, der Widerstän-
digkeit des Körpers und dem Verlust an Moti- Literatur:
vation für die ›gemeinsame Sache‹.
Unter dem Titel FATZER/Monologie zeigte Benjamin, Walter: Bert Brecht. In: Ders.: Gesam-
die Gruppe »Lose Combo« 1997 im Karl-von- melte Schriften II, 2. Hg. v. Rolf Tiedemann und
Appen-Zimmer des Berliner Ensembles eine Herrmann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1980,
S. 660–667. – Benjamin. – Bock, Stephan: Die Tage
zehnstündige Installation: In diffusem Däm-
des Büsching. Brechts Garbe – ein deutsches Lehr-
merlicht waren an Schnüren auf einer großen stück. In: Profitlich, Ulrich (Hg.): Dramatik der
Tischplatte fünfzig kleine Lautsprecher ausge- DDR. Frankfurt a. M. 1987, S. 19–39. – FatzerMate-
breitet, aus denen Fatzer-Texte (Monologe und rial. In: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge
Chöre) als polyphones Stimmen-Material hör- zur Theaterwissenschaft 34 (1988). Wien, Köln
bar wurden. In regelmäßigen Abständen betrat 1990, S. 9–334. – Girshausen, Theo: Baal, Fatzer –
und Fondrak. Die Figur des Asozialen bei Brecht und
der Schauspieler Hermann Beyer den Raum,
Müller. In: Profitlich, Ulrich (Hg.): Dramatik der
setzte sich zwischen die Zuschauer / Besucher DDR. Frankfurt a. M. 1987, S. 327–343. – Henrichs,
an den Tisch und sprach dieselben Texte. So Benjamin: Etwas Unvernunft bitte! In: Die Zeit,
verknüpfte die Monologie die Entgrenzung des 17. 3. 1978. – Iden, Peter: Vorhang zu und keine
Theaters auf andere Kunstformen mit einer Fragen. In: Frankfurter Rundschau, 4. 10. 1993. –
Textlektüre, die das Publikum sich selbst vor- Kruger, Loren: Heterophony as Critique. Brecht,
Müller and Radio Fatzer. In: BrechtYb. 17 (1992),
führte und das Theater als Ort kollektiver Er-
S. 235–251. – Lenze, Rainer: Bertolt Brecht, Unter-
innerung erfahrbar machte. Eine ganze Nacht gang des Egoisten Johann Fatzer. Kritische Ausgabe.
lang dauerte 1998 das Fatzer-Projekt von Münster 1986 [Masch.]. – Mahlke, Stefan: Zwangs-
Hans-Thies Lehmann mit Studierenden der lagen: Brechts Fragment Der Untergang des Egoisten
Theaterwissenschaft im ehemaligen Casino Fatzer. In: BrechtYb. 20 (1995), S. 174–199. – Mil-
des geschichtsträchtigen IG-Farben-Hauses in full, John: From Baal to Keuner. The ›Second Opti-
mism‹ of Bertolt Brecht. Bern, Frankfurt a. M. 1974.
Frankfurt a. M. Die Spieler agierten zum Teil
- Müller, Heiner: Notate zu Fatzer. Einige Überle-
parallel an verschiedenen Orten der weitläufi- gungen zu meiner Brecht-Bearbeitung. In: Die Zeit,
gen, aus den 20er-Jahren stammenden Archi- 17. 3. 1978. – Ders.: Fatzer ± Keuner. In: Ders.:
tektur, in der die Zuschauer herumgehen und Rotwelsch. Berlin 1982, S. 140–149. – Ders.: Bertolt
mit »Textgutscheinen« bestimmte Fatzer-Texte Brecht. Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer.
von den Akteuren einlösen, d. h. sprechen las- Bühnenfassung (1978). Frankfurt a. M. 1994. – Nä-
gele, Rainer: Brechts Theater der Grausamkeit.
sen konnten. Zwei weitere Fatzer-Projekte
Lehrstücke und Stückwerke. In: Hinderer, S. 300–
zeigte das Wiener »theatercombinat« unter der 320. – Rischbieter, Henning: Der fremdeste Brecht.
Leitung von Josef Szeiler und Claudia Bosse, In: Theater heute (1976), H. 4, S. 57. – Ders.: »Fat-
zunächst 1998 die Schweizer Erstaufführung zer«, fatal. In: Theater heute (1978), H. 4, S. 9f. –
des Fragments als chorische Improvisation im Schnell, Ralf/Vaßen, Florian: Ästhetische Erfahrung
Genfer Grütli-Theater; im November 2000 in als Widerstandsform. Zur gestischen Interpretation
des Fatzer-Fragments. In: Koch, Gerd [u. a.](Hg.):
Wien dann nach zweijähriger Vorbereitung
Assoziales Theater. Spielversuche mit Lehrstücken
MassakerMykene, wobei Fatzer-Texte mit Ai- und Anstiftung zur Praxis. Köln 1983, S. 158–174. –
schylos’ Tragödie Agamemnon verknüpft wur- Schumacher, Ernst: Brecht-Kritiken. Berlin 1977.-
den. 36 Stunden lang konnte man in den Hal- Stadelmaier, Gerhard: Abgestanden in Ruinen. In:
178 Fatzer

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. 10. 1993. – der Zusammenstellung nicht beteiligt war, ist
Steinweg, Reiner (Hg.): Brechts Modell der Lehr- die Aufnahme des Texts in eine B.-Werkaus-
stücke. Zeugnisse, Diskussion, Erfahrungen. Frank-
gabe, wie in der GBA geschehen (GBA 2,
furt a. M. 1976. – Thieme, Karl: Des Teufels Gebet-
buch? Eine Auseinandersetzung mit dem Werke Ber- S. 323–331), nicht gerechtfertigt. Der Erfolg
tolt Brechts. In: Hochland 29 (1932), H. 5, S. 397– der Aufführung am 17. 7. 1927, dem allerdings
413. – Vaßen, Florian: Die Vertreibung des auch heftige Ablehnung gegenüberstand, er-
Glücksgotts. Brechts asoziale Lehrstück-Muster und mutigte Weill und B. das Spiel zu einer abend-
Freuds Unbehagen in der Kultur – der Versuch eines füllenden Oper auszuarbeiten, mit der sie er-
Vergleichs. In: Korrespondenzen. Zeitschrift für
klärtermaßen, wie Weill am 25. 8. 1927 an die
Theaterpädagogik 10 (1994), H. 19/20/21, S. 52–63.
– Völker. – Voigts, Manfred: Brechts Theaterkon- Universal Edition (Wien) schrieb, »das neue
zeptionen. Entstehung und Entwicklung bis 1931. Genre« schaffen wollten, »das die völlig verän-
München 1977. – Wilke, Judith: Brechts »Fatzer«- derten Lebensäußerungen unserer Zeit in ei-
Fragment. Lektüren zum Verhältnis von Dokument ner entsprechenden Form behandelt« (Far-
und Kommentar. Bielefeld 1998. – Wirth, Andrzej: neth, S. 77). In intensiver Zusammenarbeit
Lehrspiel als Sprechmaschine. In: Theater heute
entstand von Oktober bis Dezember des Jahres
(1978), H. 4, S. 12ff. – Wyss.
eine erste Fassung der Oper, die dem Direktor
Judith Wilke der Universal Edition, Emil Hertzka, im De-
zember als Typoskript zur Begutachtung vor-
lag. Da dieses Typoskript, das drei Akte mit 18
Szenen aufweist (Text in: GBA Registerband,
S. 683–735), weitgehend, von einigen Ände-
Aufstieg und Fall der Stadt rungen abgesehen, den poetischen Kerntext
enthält, ist das Libretto entstehungsgeschicht-
Mahagonny lich für B.s Werk vor der Dreigroschenoper
anzusetzen und hätte entsprechend in der GBA
vor dieser platziert werden müssen (vgl. die
Entstehung und Fassungen Richtigstellung S. 758).
Emil Hertzka, dem Weill »einen vollkom-
men neuen, sehr ausbaufähigen Opernstil« an-
Im März 1927 lernte B. den Komponisten Kurt gekündigt hatte (Brief vom 8. 12. 1927; Far-
Weill im Rahmen ihrer Rundfunkarbeiten ken- neth, S. 78), reagierte postwendend mit einem
nen. Weill suchte nach einem geeigneten Brief vom 16.12., in dem er zwar »eine sym-
Kurzopernstoff für die Deutsche Kammermu- bolhafte faßbare Opernhandlung« konsta-
sik Baden-Baden 1927 (15.–17.7.) und stieß tierte, aber bemängelte, dass es sich nur um
auf B.s Hauspostille mit den Mahagonnyge- »aneinandergereihte, allerdings manchmal
sängen. Nach Absprache mit B. im April des sehr spannende und originelle Szenen« han-
Jahres stellte Weill die fünf Gedichte selbst- delte, die möglicherweise einen »neuen Typ
ständig in abweichender Reihenfolge zu einem ›Opern-Revue‹ bilden« könnten. »Boxkampf,
Songspiel zusammen, komponierte sie als Mord, Todschlag, Trunkenheit und dergl.«, so
Songs, schrieb instrumentale Zwischenspiele, Hertzka weiter, könnten »wohl für einen gan-
ein Vorspiel sowie ein Nachspiel und forderte zen Abend schwer erträglich werden«. Als
B. auf, das Finale zu liefern, dessen Text lau- »Gegengewicht zu der allzu stark betonten
tete: »Aber dieses ganze Mahagonny / ist nur, Wildwest-Realistik« wünschte er sich »eine
weil alles so schlecht ist / weil keine Ruhe Dosis positiver menschlicher Eigenschaften,
herrscht / und keine Eintracht / und weil es ob nun Freundschaft, Liebe, Treue« und bat
nichts gibt / woran man sich halten kann. // deshalb um Unterrichtung B.s (Farneth, S. 78).
Mahagonny – das gibt es nicht / Mahagonny – Weill antwortete am 27.12. mit Unverständnis
das ist kein Ort / Mahagonny – das ist nur ein und hielt fest, dass er an dem Text nicht un-
erfundenes Wort.« (Weill 1927, S. 12) Da B. an schuldig sei und darauf geachtet habe, »eine
Entstehung und Fassungen 179

möglichst konsequente, gradlinige u. leicht wandelt und um vier Verse am Ende erweitert.
verständliche Handlung zu erreichen«, bei der Wer diese Umarbeitung vornahm, ist nicht
»nicht einen Moment lang Langeweile« auf- überliefert. Der ursprüngliche Text stammt
käme und die traditionelle Bravourarie durch von fremder Hand und ist der Urfassung ange-
den Song ersetzt wäre: Die Musik spiele »eine fügt worden. Für die Druckfassung, die An-
weit wesentlichere Rolle als in der reinen fang November vorlag, wurde, wiederum ohne
Handlungsoper« und der Text sei »rein für die Überlieferung der Verfasserschaft, das ange-
Bedürfnisse der Musik« geschrieben worden: fügte Duett in die Szene 14 eingebaut und ihr
»Es ist seit langen Jahren zum erstenmal ein ursprünglicher Text leicht gekürzt. Diese erste
Libretto, das vollkommen auf die Musik, ja Druckfassung war überschrieben Aufstieg und
sogar auf meine Musik angewiesen ist«. Er Fall der Stadt Mahagonny. Oper in drei Akten.
erwägt freilich eine »Änderung, durch die die Text von Brecht. Musik von Kurt Weill (Wien,
Liebeshandlung Jimmy-Jenny stärker in den Leipzig 1929) – das eigentliche Titelblatt
Vordergrund« gerückt werden könnte (ebd.). nennt nur Weill als Urheber – und umfasste
Weill arbeitete bis März 1928 weiterhin an der drei Akte mit 21 Szenen. Da die GBA behaup-
Partitur; im April jedoch unterbrach der Auf- tet, wie ihr Editionsbericht besagt (GBA Regi-
trag der Dreigroschenoper jegliche Weiterar- sterband, S. 807), jeweils die ersten autorisier-
beit, so dass Weill die Komposition der Oper ten Drucke als Textgrundlagen gewählt zu
erst im April 1929 abschließen konnte. Wie die haben, widerspricht der Abdruck der Versuche-
Original-Partitur in der Österreichischen Fassung von 1930 (Heft 2) ihren eigenen Prin-
Nationalbibliothek Wien zeigt, lag auch ihr zipien (vgl. GBA 2, S. 456, S. 462). Diese Fas-
noch der ursprüngliche Text zugrunde; die sung lag auch der Urauführung am 9. 3. 1930
Änderungen wurden erst nachträglich einge- im Neuen Theater Leipzig zugrunde, wenn
fügt. auch die Liebesszene »aus moralischen Grün-
Hertzkas Beanstandungen galten in erster den« (Lucchesi/Shull, S. 412) abgewandelt
Linie der ursprünglichen Szene 13 (mit Lieben werden musste (das Regiebuch verfassten
überschrieben), die in der gültigen Fassung Weill und Caspar Neher ohne B.s Mitwir-
der Oper dann an die Stelle 14 rückte. Aus kung).
Weills Briefwechsel mit dem Verlag geht her- Umarbeitungen erfolgten während des Jah-
vor, dass die Universal Edition den Druck der res 1930 aus Anlass von weiteren Aufführun-
fertigen Partitur zurückstellte, bis diese Szene gen in Kassel, Braunschweig und Berlin, die
neu gefasst war. Weill hatte dafür, wie er am sich dann in der Fassung des Versuche-Drucks
25. 5. 1929 schrieb, die »Idee, die Szene in eine niederschlugen. Die wichtigsten Änderungen
Art von ›Statistik des Liebeslebens in Maha- bestanden in der Umbenennung der Figuren;
gonny‹ umzuwandeln, die teilweise gesungen, statt der amerikanischen Namen wählte B.
teilweise mit Lichtbildern oder Trickfilm dar- deutsche, so dass aus Jim Mahoney Paul Ak-
gestellt werden müsste, wobei der ›Song von kermann, aus Jack O’Brien Jakob Schmidt
Mandelay‹, der jetzt an dieser Stelle steht, in usw. wurden; der Text wurde um eine Szene
irgendeiner Form eingearbeitet werden müs- gekürzt, die Szene 19 entsprechend geändert,
ste« (Farneth, S. 107). Am 10.6. kündigte Weill indem nun Verurteilung und Hinrichtung Paul
dann endlich die Zusendung der Neufassung Ackermanns unmittelbar aufeinander folgten;
an, die kurz darauf erfolgt sein dürfte. Die weitere Änderungen galten verschiedenen
Partitur überarbeitete Weill mit der Änderung Szenen, in die B. frühere Texte von sich ein-
der betreffenden Stellen im Oktober 1929. baute und andere dafür strich (zu den Ände-
Weill und B. griffen für die Neufassung der rungen im Einzelnen vgl. GBA 2, S. 461–463).
Szene 14 auf ein Gedicht B.s zurück, das 1928 Überdies hatte die Schlussrede Jimmys im
entstanden und mit Die Liebenden (BBA Erstdruck einen völlig anderen, gegensätzli-
598/58) überschrieben war (vgl. Terzinen über chen Wortlaut: »Ich wünsche, daß ihr alle euch
die Liebe). Der Text wurde in ein Duett umge- durch meinen schrecklichen Tod nicht abhal-
180 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

ten laßt, zu leben, wie es euch paßt, ohne szenierungen jedenfalls, die 1933 noch folg-
Sorge. Denn auch ich bereue nicht, daß ich ten, am 20.6. in Paris, im Juli in London und
getan habe, was mir beliebt. Hört meine An- am 29.12. in Rom spielten die Pariser Fas-
weisung:« es folgt das Lied Gegen Verführung sung.
(Weill 1929, S. 54). Da der Versuche-Druck ne-
ben Weill als weitere Mitarbeiter am Text Ne-
her und Elisabeth Hauptmann nennt, dürfte
ihr Anteil vor allem mit dieser Neufassung Der Name »Mahagonny«, Quellen
verbunden sein. Mit diesem Druck ist die Text-
geschichte von Mahagonny für B., der die Ver-
suche-Fassung als die für ihn gültige ansah, Herkunft und Bedeutung des Namens »Maha-
abgeschlossen. gonny« waren in der B.-Forschung lange Zeit
Weill hingegen stellte unabhängig von B. umstritten. So wurde vielfach verbreitet, der
1932 eine verkürzte Version der Oper, die sog. Begriff sei bereits 1919 oder spätestens 1920
»Pariser Fassung«, her, deren Textgrundlage in von B. gebraucht worden (zu den Einzelheiten
der Weill-Forschung umstritten ist. Behauptet vgl. GBA 11, S. 320; vgl. auch die falsche Datie-
wird, dass der Inszenierung vom 11. 12. 1932 rung GBA 2, S. 470 und die Richtigstellung
in der Salle Gaveau in Paris »an expanded GBA 13, S. 389, S. 545). Inzwischen aber hat
version of the Songspiel« (Drew, S. 174) zu- Andreas Hauff nachgewiesen, dass der Name
grunde lag, die der Regisseur Hans Curjel und auf den 1922 publizierten und rasch populär
der Dirigent Maurice Abravanel hergestellt gewordenden »afrikanischen Shimmy« Komm
hatten, sie also keine eigene Textfassung dar- nach Mahagonne! (Text von O. A. Alberts, Mu-
stellt: »a mere patchwork in which the compo- sik von Leopold Krauss-Elka) zurückgeht
ser had taken no active part« (Drew 1963, (Hauff 1995) und bei B. erstmals in einem
S. 22). Ein Manuskript der Partitur mit unter- Brief an Arnolt Bronnen Ende Juli 1923 nach-
legtem französischen und deutschen Text, ver- weisbar ist, in dem es heißt: »Mahagonny
mutlich von Weills Hand, lag bis 1990 in der weist alle Bayern aus« (GBA 28, S. 198), dort
Universal-Edition vor und gilt ab 1992 als ver- bezogen auf den aufkommenden Nationalso-
schollen. Einen Druck dieser Fassung, die nur zialismus. Der Inhalt des Shimmy weist einige
mehr elf Szenen umfasst, aber z. B. das Kra- Parallelen zur Oper auf. Auch hier geht es
niche-Duett (Nr. 9) und viele weitere Passagen darum, dem alltäglichen »Jammertal« zu ent-
der Oper enthält, vertreibt die Universal Edi- fliehen und ein imaginäres Afrika aufzusu-
tion als Bühnenmanuskript mit dem Titelblatt: chen, wo es keine Steuern mehr gibt und wo
Kurt Weill. Mahogonny; der Innentitel lautet: man sich ganz dem Liebesleben widmen kann.
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Ein Eine weitere Parallele besteht zwischen dem
Songspiel. Text von Berthold [sic] Brecht. Mu- Refrain des Shimmy und B.s Mahagonnyge-
sik von Kurt Weill (Wien 1953); der eigentliche sang in der Szene 4 der Oper. Das Wortspiel
Text umfasst 17 Seiten im Typoskript. Die des Shimmy »Zi-Zi-Zi-Zi-Ziehharmonika«
Textgrundlage dieses Drucks ist der Universal wird von Brecht in veränderter Form über-
Edition nicht bekannt; Drew verzeichnet ihn nommen: »Auf nach Mahagonny / Das Schiff
in seinem Handbook nicht, sieht ihn folglich ist losgeseilt / Die Zi-zi-zi-zi-zivilis / Die wird
nicht als autorisierten Text an. Wenige Tage uns dort geheilt.« (GBA 2, S. 340) Die »Zivi-
nach der Pariser Aufführung, am 21. 12. 1932, lis«, zusammengesetzt aus »Syphilis« und »Zi-
fragte Hertzka bei Weill an, ob »die Pariser vilisation«, ist offenbar die Krankheit, der die
Fassung jetzt weiter vertrieben werden soll« Menschen in den neuen Großstädten ausge-
und bat um das Material, das Weill ihm dann setzt sind und der sie in Mahagonny entgehen
auch zugesandt haben muss. Es ist durchaus wollen (Hauff 1995, S. 9). Danach stellt »Ma-
möglich, dass Weill die verkürzte Version der hagonny« eine Gegengründung zu den Städten
Oper als die für ihn gültige ansah. Die In- der »Zivilis« dar. Ein weiterer Nachweis für
Der Name »Mahagonny«, Quellen 181

den Namen liegt mit einem Brief von B. an seinem Stück Mann ist Mann (1926): (Jesse)
Helene Weigel Mitte/Ende Dezember 1923 Mahoney, ein Name, der sich auf »Mahagonny«
vor, in dem es heißt: »Auf nach Mahagonny« reimt, ist einer der Soldaten der britischen
(GBA 28, S. 205), hier bezogen auf seine be- Armee, die Begbick betreibt im früheren Stück
vorstehende Reise nach Berlin und die damit einen »Trinksalon« (GBA 2, S. 103) und später
verbundenen Vorhaben. Darüber hinaus gibt einen Bierwaggon, der mit der Armee
es einen Plan zu einer »Mahagonny-Oper«, mitzieht. In »Mahagonny« wird ein »übel
den B. in einer autobiographischen Notiz vom zugerichtetes Lastauto« (S. 335) zur »Hier-
Juli 1924 festgehalten hat, versehen mit der darfst-du-Schenke« (Weill 1929, S. 7) umfunk-
Anmerkung »Mar« (GBA 26, S. 279); danach tioniert. Eine, allerdings durch Wasser, unter-
hatte B. vermutlich daran gedacht, die Oper gehende »Paradiesstadt« (GBA 10, S. 536) gibt
für seine Frau Marianne Zoff zu schreiben. Die es bereits im Stück-Fragment Sintflut
in der GBA unsicher auf um 1924/25 datierten (1926/27), für das B. und Hauptmann zahl-
ersten zwei (fragmentarischen) Mahagonny- reiche Zeitungsberichte über Wirbelstürme
songs (vgl. GBA 13, S. 297–299) dürften mit und Überschwemmungen, darunter einen Be-
dieser Notiz in Zusammenhang stehen und al- richt über das zerstörte Pensacola (vgl. GBA 2,
ler Wahrscheinlichkeit nach zur Zeit von deren S. 360), ausgewertet hatten; diese Berichte
Niederschrift entstanden sein. dürften auch für die Oper Quellen gewesen
Nach Bronnens Erinnerungen bezog B. den sein. Der Mandelay-Song (um 1926), der in
Begriff »Mahagonny«, was auch der erste verschiedenen Fassungen vorliegt (GBA 13,
schriftliche Nachweis im Brief vom Juli 1923 S. 359, S. 534 f.), sowie die Gedichte Über die
nahe legt, zunächst auf die Nazis und Hitler: Städte (um 1926; S. 356), Gegen Verführung
»in jenem Sommer mochte er ihm zunächst (1918; GBA 11, S. 116) aus der Hauspostille,
Spießers Utopia bedeuten, jenen zynisch- Blasphemie (1927; S. 172), das im Zusammen-
dummen Stammtisch-Staat, der aus Anarchie hang mit dem Lesebuch für Städtebewohner
und Alkohol die bis dahin gefährlichste Mixtur entstanden ist, und Tahiti (um 1921; GBA 13,
für Europas Hexenkessel zusammenbraute« S. 238 f.), in das B. Verse aus Adolf Martells
(Bronnen, S. 116). Die ersten zwei Mahagon- Lied Des Seemanns Los (1857)eingefügt hatte,
nysongs zeigen dagegen wieder eine stärkere übernahm B. ebenfalls aus seinem vorliegen-
Nähe zur eigentlichen Quelle des Shimmy, wo- den Werk, so dass Ulrich Weisstein von »einem
durch der Bezug auf die Nazis – was denn auch mageren Ergebnis« sprechen konnte, weil da-
für die Songs in der Hauspostille, des Songs- mit »kaum mehr als die Hälfte seines Textes
piels und für die Oper gilt – jedoch nicht aus- neu ist« (Weisstein, S. 290), und sich fragt, ob
geschlossen ist. Gunter G. Sehms Versuch, den dem Libretto überhaupt ein Platz in B.s Werk-
Namen »aus der Bibel zu erklären«, und zwar ausgaben zustehe (S. 292).
als Anspielung auf die zweite sündhafte Stadt In der zweiten Auflage des Operntexts
nach Babylon Magog in der Johannes-Apoka- (Wien, Leipzig 1929) empfahlen Weill und B.
lypse (Sehm, S. 97), ist, was die Herkunft an- für Aufführungen die Namen »in jeweils lan-
betrifft, spekulativ, schließt aber aufgrund der desübliche« (S. 3) umzuändern, für deutsche
weiteren nachweisbaren Bibelanspielungen Aufführungen z. B. Johann Ackermann –
ebenfalls einen Bezug nicht aus (Sehm, S. 97). Ackermann ist der Name von Weills Großvater
Eine weitere Bedeutung des Namens stellte B. mütterlicherseits bzw. der Mädchenname sei-
später zur Edelholzart Mahagoni über den ner Mutter (Lucchesi/Shull, S. 412) – oder Jo-
Dreigroschenroman (1933) her, wenn er im sef Lettner. Die dann für die Versuche-Ausgabe
Zusammenhang mit dem aufwändig ausgestat- gewählten Namen Paul, Joseph und Heinrich
teten Haus des Maklers Coax von »Mahagon- (Merg) beziehen sich anspielungsreich auf
nymöbeln« (GBA 16, S. 117) spricht. Paul Hindemith, Joseph Haas und Heinrich
Die Namen der Hauptfiguren Leokadja Be- Burkhard, welche die Leitung der Baden-Ba-
gbick und (Jimmy) Mahoney übernahm B. aus dener Musiktage innehatten. 1929 überwarfen
182 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

sich B. und Weill mit Haas und Burkhard nach im Frühjahr 1928 bereits abgeschlossen vor-
dem Skandal, den das Badener Lehrstück lag, B. Gilbrichts Spiel folglich gar nicht ken-
(28.7.) ausgelöst hatte. Der Bruch mit Hinde- nen konnte, was ja auch den Tatsachen ent-
mith erfolgte 1930 (vgl. Völker, S. 113 f.). Ver- sprach (vgl. B.s Entgegnung dazu in: GBA 21,
mutlich war die Wahl der Vornamen eine Art S. 399).
›Abrechnung‹ der Autoren.
Als weitere Quellen, vor allem für das Kolo-
rit und die Atmosphäre, die den Songs eigen
sind, werden in der Forschung die Gedichte Struktur
von François Villon und Rudyard Kipling ge-
nannt sowie für das mythische Alaska die
Goldgräbergeschichte The Luck of Roaring Die Druckfassung von 1929 ist in drei Akte
Camp von Bret Harte (1870; B. besaß die deut- eingeteilt, nach denen jeweils der Vorhang
sche Sammelausgabe Kalifornische Erzählun- fällt. Die 21 Szenen sind als Nummern dekla-
gen, Leipzig o. J.). Helfried W. Seliger weist riert, entsprechend bezeichnet (»Nr. 1« usw.)
darüber hinaus auf einen Shanty Fifteen men und werden während des Spiels durch das Öff-
on the dead man’s chest aus Robert Louis Ste- nen und Schließen einer ›kleinen weißen Gar-
vensons Treasure Island (1883; dt.: Die dine‹ (Weill 1929, S. 5) voneinander getrennt,
Schatzinsel) hin als mögliche Quelle für den so dass durchaus von einer Nummernoper ge-
Alabama-Song (Seliger, S. 337 f.). Die Szene, sprochen werden kann. Trotz der ursprüngli-
in der Paul seinen Schuh aufessen will, geht chen Akteinteilung ist die Oper nach dem
vermutlich zurück auf Charles Chaplins Film Montageprinzip strukturiert, »gewendet gegen
Gold Rush (1925), in dem Charlie in ärgster die Einheit des ›organischen Werkes‹« (Kahnt,
Hungersnot mit vollem Genuss einen gekoch- S. 78), d. h., dass das Libretto »sowohl in den
ten Schuh isst. Über den Namen »Ackermann« Inhalten als auch den Sprachformen aus dis-
hat zudem Klaus Völker einen Bezug zum Ak- paraten Einzelteilen zusammengesetzt« ist
kermann aus Böhmen (1400) des Johannes von (ebd.). Der Revue-Charakter kommt durch die
Tepl hergestellt. Die sarkastisch-spöttische Dominanz der Songs zustande, die zwar hand-
Art, mit der B. den Tod darstellt, qualifiziere lungsbezogen sind, zugleich aber auch eine
die Oper als »eine moderne Variante des mit- gewisse Selbstständigkeit beanspruchen, was
telalterlichen Totentanzes« (Völker, S. 114). in der Urfassung noch dadurch hervorgehoben
Am 2. 6. 1930 erhob der Leipziger Drama- wird, dass die Gesangseinlagen entweder mit
tiker Walter Gilbricht in der Zeitung Der Mon- einer Gattungsbezeichnung (Arie, Ariette
tag Morgen (Berlin)unter dem Titel Neue Pla- usw.) oder mit dem Songtitel (z. B. Alabama-
giatsaffäre um Brecht den Vorwurf, B. habe mit Song) versehen sind. Projektionen auf die
Mahagonny sein »Spiel in 15 Bildern« Die weiße Gardine, die jeweils kurz den Inhalt der
Großstadt mit einem Einwohner (1928) plagi- Szene wiedergeben, stellen das auffälligste
iert und führte erstaunliche Parallelen zwi- Merkmal des mit Mahagonny erstmals kon-
schen seinem und B.s Text an. Gilbrichts Ver- sequent umgesetzten epischen Theaters dar.
mutung, B. habe sein Stück, das er im Frühjahr Häufige Wiederholungen, die durch die musi-
1928 einreichte, weil Erwin Piscator eine In- kalische Umsetzung gegenüber dem gedruck-
szenierung erwog, im Piscator-Kolletiv zur ten Text entschieden verstärkt werden, genau
Kenntnis genommen, wurde am 16.6. in der- kalkulierte Selbstbezüge des Texts und eine
selben Zeitung vom Dramaturgen Felix Gas- einfache, oft an der Lutherbibel orientierte
berra mit dem Hinweis, B. habe dem Kollektiv Sprache, die darauf abgestellt ist, dass sich der
zu diesem Zeitpunkt nicht mehr angehört, zu- Text durch Hören einprägt, sind weitere wich-
rückgewiesen. Anstelle B.s hatte schon am tige Kennzeichen des Librettos. Im Gegensatz
10.6. ebenfalls im Montag Morgen Weill dar- zur Dreigroschenoper, die viele Sprechpartien
auf verwiesen, dass der Text von Mahagonny enthält, ist Mahagonny von Anfang bis Ende
Struktur 183

durchkomponiert, abgesehen von wenigen weitere Kennzeichnung), zeichnet die Projek-


Sprecheinlagen, die im Erstdruck durch Re- tionen der ersten Druckfassung als Titel der
gieanweisungen im Text ausgewiesen, aber – Szenen aus und kürzt die Regieanweisungen
von wenigen Ausnahmen abgesehen – von Mu- auf ein Minimum, so dass z. B. auch der Hin-
sik begleitet sind; Mahagonny ist insofern nä- weis auf die weiße Gardine entfällt.
her an der traditionellen Oper als die Drei-
groschenoper. An kompositorischen Techniken
verwendete Weill neben der Übernahme der
Songs aus dem Songspiel und dem Einbau wei-
terer Songs, die gewisse musikalische Einhei- Inhalt
ten bilden, den Sprechgesang, das Summen
(z. B. in Sz. 9), den Gesangspart mit Orchester-
begleitung, rein instrumentale Partien, musi- Die Fabel der Oper stellt »eine neuartige Ver-
kalische Zitate und Tanz-, Shanty- und Jazz- bindung zwischen kollektiven Prozessen und
rhythmen. Weitere neue technische Mittel individueller Figurenhandlung« (Joost,
sind, dass in die Musik und die Pausen gespro- S. 139) her, indem sie zum einen die Ge-
chen wird, der eigenständige Chor, Sologe- schichte der Stadt, zum anderen die des Holz-
sang a capella, die Verlangsamungstechnik und fällers Paul Ackermann (und seiner Freunde)
der Einbau von Elementen der traditionellen erzählt, und zwar, wie in der Projektion zu
Oper (vgl. Wagner, S. 192). Verbunden sind die Szene 5 deutlich wird, durch einen auktorialen
Techniken mit dem Verzicht auf Ornament und Wir-Erzähler, der sich direkt an das Publikum
Beiwerk sowie auf alles, was vom Text ab- wendet (GBA 2, S. 341; vgl. S. 351). Die In-
lenkte. Alles zielte im Gegenteil darauf ab, die dividual-Handlung, mit der Paul »den Dingen
Sprache B.s herauszuheben und die Musik so auf den Grund« geht, »treibt so die verborgene
zu gestalten, dass jedes Wort gut verständlich Anarchie der Konsumtion« (Joost, S. 139) in
blieb: »Musik und Text wurden hier zu gleich- der Kollektiv-Handlung hervor.
wertigen Elementen« (Seliger, S. 143). Auf der Flucht vor den Konstablern gründen
Die Aktgrenzen markieren jeweils die ent- drei Schwindler, Leokadja Begbick, Dreieinig-
scheidenden Handlungseinschnitte. Der erste keitsmoses und Willy, der Prokurist, in einer
Akt schildert die Gründung von Mahagonny öden Gegend am Meer die »Netzestadt« (GBA
und das, zunächst scheinbar erfolgreiche, Le- 2, S. 336) Mahagonny, um die Goldgräber der
ben in Ruhe und Eintracht, bis der auf Maha- Umgebung einzufangen, da es leichter sei, das
gonny zurasende Hurrikan alles in Frage stellt. Gold von den Männern als von den Flüssen zu
Der zweite Akt enthält dann den eigentlichen bekommen. In Mahagonny, das es nur gibt,
»Aufstieg« der Stadt nach dem Motto »Du »weil alles so schlecht ist« (S. 337), gilt: »Sie-
darfst es!« (GBA 2, S. 358 f.), nachdem der ben Tage ohne Arbeit«; statt »Mühe und Ar-
Hurrikan einen Bogen um Mahagonny ge- beit« gibt es nur »Spaß«: »Gin und Wisky«,
macht hat; es beginnt das zerstörerische Leben »Mädchen und Knaben« sowie jeden dritten
mit Fressen, Lieben, Boxen, Saufen, an dessen Tag faire Kämpfe (S. 336). Ruhe und Eintracht
Ende Jims Zahlungsunfähigkeit steht. Der ist die Maxime. Die Stadt wächst rasch an,
dritte Akt zeigt die Verurteilung sowie Hin- weil »die Unzufriedenen aller Konti-
richtung Jims (bzw. Pauls) und schließt mit nente« der »Goldstadt« entgegenziehen
dem »Fall« der Stadt ab. (S. 339), darunter auch die Hure Jenny mit
Die Versuche-Fassung von 1930, die für B. sechs Mädchen, »Haifische« genannt
die gültige war, der einschlägigen Forschung (S. 337), sowie die vier Holzfäller Paul Acker-
bisher ausnahmslos zugrundelag und die des- mann, dessen »Geschichte [es] ist, die wir
halb auch die Textgrundlage für die folgenden Ihnen erzählen wollen« (S. 341), Jakob
Ausführungen bildet, tilgt die Akteinteilung, Schmidt, Heinrich Merg und Joseph Lettner
zählt die Szenen mit arabischen Ziffern (ohne aus Alaska, wo sie sieben Jahre schwer ge-
184 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

schuftet haben, aber reich davon geworden Jedoch Paul Ackermann hat sein gesamtes
sind. Geld auf Joe gesetzt und ist pleite. Das an-
Jedoch bereits bei ihrer Ankunft, bei der schließende »Saufen« (S. 369) besiegelt Pauls
Paul sich Jenny ›nimmt‹ (vgl. GBA 2, S. 344), Tod. Nachdem er die Männer von Mahagonny
sehen sie Leute, die aus Mahagonny fliehen: eingeladen hat, auf seine Kosten zu essen und
»Wenn da nur nicht etwas faul ist.« (Ebd.) Dass zu trinken, kann er, als es an die Zeche geht,
etwas faul ist, erfahren auch die Holzfäller, nicht bezahlen. Der letzte verbliebene Holz-
die, obwohl sie alles haben – Essen, Trinken, fäller aus Alaska, Heinrich, wendet sich von
Rauchen, Gespräche unter Männern, Mädchen Paul ab, und auch Jenny ist nicht bereit, ihm zu
– und die Preise ständig sinken, nicht glück- helfen. Paul wird gefesselt und zum Tode ver-
lich werden. Als ein Hurrikan auf Mahagonny urteilt; denn das größte Verbrechen in Maha-
zurast und der Untergang der Stadt beschlos- gonny ist, kein Geld zu haben (S. 381), wohin-
sen scheint, gibt Paul den neuen »Leitspruch gegen Mörder vor den Gerichten in Maha-
der Mahagonny-Leute« aus »Du darfst« gonny, die »nicht schlechter [waren] als
(S. 361) und zerschlägt damit – vermutlich in andere Gerichte« (S. 376), gegen Beste-
kontradiktorischer Anspielung auf die Geset- chung freigesprochen werden, wobei die Rich-
zestafeln Moses (vgl. 2 Mose 31,18) – alle Ver- ter eben die sind, die Mahagonny gegründet
botstafeln, die in Mahagonny ein Leben in haben. Paul wird auf dem elektrischen Stuhl
Ruhe und Eintracht garantiert haben. Wäh- hingerichtet, nachdem ihm im »Spiel von Gott
rend der Hurrikan in der »Nacht des Entset- in Mahagonny« (S. 384) bewiesen worden ist,
zens« (S. 355) alle umliegenden Städte zer- dass es keinen Gott und folglich keine Gnade
stört, macht er einen Bogen um Mahagonny. gibt. Die Hölle ist bereits auf Erden verwirk-
Ungefähr ein Jahr nach dem Hurrikan« licht (S. 386). Der versprochene Genuss bzw.
herrscht »Hochbetrieb« (GBA 2, S. 362) in das ›Schlürfen‹ des Lebens »in vollen Zügen«
Mahagonny, dessen eigentlicher »Aufstieg« (S. 358) war nicht zu haben: »Die Freude, die
nun beginnt. In lockerer Nummernfolge (Sze- ich kaufte, war keine Freude, und die Freiheit
nen 13–16) wird das selbstzerstörerische Le- für Geld war keine Freiheit« (S. 386), konsta-
ben exemplarisch an Jakob, Joe und Paul vor- tiert Paul vor seiner Hinrichtung. Da in Maha-
gestellt, und zwar nach dem dreimal wieder- gonny weiterhin das Gesetz gilt, dass es
holten Motto: »Erstens vergeßt nicht, kommt »nichts gibt, was man nicht kaufen kann«
das Fressen / Zweitens kommt der Liebesakt / (S. 387), besiegeln »Teuerung und Feind-
Drittens das Boxen nicht vergessen / Viertens schaft aller gegen alle« (S. 386) den Unter-
Saufen, das steht im Kontrakt. / Vor allem aber gang der Stadt. In der Schlussszene demon-
achtet scharf / Daß man hier alles dürfen strieren »die noch nicht Erledigten für
darf.« (S. 362, vgl. auch S. 365, S. 368 f.) Die ihre Ideale – unbelehrt«, während die Stadt
erste Nummer »Essen« (S. 362) zeigt, wie sich abbrennt (ebd).
Jakob Schmidt glücklich zu Tode frisst. In der
zweiten Nummer »Lieben« (S. 363) stehen die
Männer, unter ihnen Paul, vor dem Bordell an
und werden nacheinander eingelassen; post- Aspekte der Forschung
coital singen Jenny und Paul das Lied von den
Kranichen, nach dem »die Liebe Liebenden
ein Halt« (S. 365) scheint. Die Nummer Im Zentrum der Diskussion steht die Frage,
»Kämpfen« (S. 366) bringt das nächste Opfer. welchen Charakter Mahagonny hat, das im
Der Dreieinigkeitsmoses, ein Riese, schlägt Text neben »Netzestadt« (GBA 2, S. 336,
den hoffnungslos unterlegenen Joseph Lett- S. 347, S. 348, S. 386) »Goldstadt« (S. 338,
ner, den »Alaskawolfjoe« (S. 366), zu »Hack- S. 339), »Stadt der Freude« (S. 355, S. 361) und
fleisch« (S. 368); sein Tod erntet unter den von Paul auch »Dreckhaufen« (S. 352) genannt
Männern in Mahagonny lediglich Gelächter. wird, wobei die Forschung sich weitgehend
Aspekte der Forschung 185

einig ist, dass es sich um »ein Spiegelbild der (Völker, S. 112). Weisstein betont darüber hin-
kapitalistischen Gesellschaft, für die das Geld aus Illusionierung und Desillusionierung als
das Maß aller Dinge ist« (Payrhuber, S. 50), wesentliche Elemente der Oper, so wenn Paul
handelt oder dass der »bürgerlichen Welt« mit nach dem Fehlschlagen der eigenen Utopie,
der Netzestadt »und den in ihr unverhüllt wal- dem Ausleben in »schrankenloser Freiheit«
tenden Gesetzen des Kapitalismus ein uner- nur noch die Flucht »in die Illusion, den
bittlicher Zerrspiegel vorgehalten« (Schebera, Rausch-Traum [ … ] in Gestalt einer imaginä-
S. 126) werde oder dass es als »Spiegelbild der ren Fahrt nach Alaska« bleibe, die sich dann als
kapitalistischen Welt« (Völker, S. 112) und da- ebenso falsch herausstellt und zum blutigen
mit als typische moderne Großstadt anzusehen Ende führt (Weisstein, S. 291). Jörg-Wilhelm
ist, dessen reales Vorbild das »kapitalistische Joost hingegen beschreibt die Oper in Bezug
Paradies und Sündenbabel [ … ] Berlin mit sei- auf B. als »ein Werk des Übergangs«, das »zen-
nen Vergnügungszentren« (ebd.) gewesen sei. trale Bestandteile des Frühwerks« enthält,
Seliger plädiert dagegen für »bestimmte ame- z. B. den Baalschen Vitalitätskult, die »in er-
rikanische Vergnüngungszentren wie Miami heblichen Maße zur ästhetischen Komplexität
oder Las Vegas, Städte, die von gerissenen der Oper« beitragen, und das zugleich »Er-
Spekulanten oder gar Verbrechern aus dem Bo- kenntnis- und Darbietungsweisen vorweg-
den gestampft wurden« (Seliger, S. 150), nimmt, die später als Verfremdung/Historisie-
Städte ohne Arbeiter und Industrie, als mögli- rung bezeichnet werden« (Joost, S. 143). Die
che reale Vorbilder und meint, dass »Baden- Ambiguität und damit der Übergangscharakter
Baden mit seinen Spielkasinos und sonstigen zeige sich vor allem »in dem erkenntniskriti-
Vergnügungen für Wohlhabende, mit seinem schen Zusammenspiel von mythologischen Fo-
langweiligen Kurbetrieb« (S. 150 f.), ein »Ba- lien und parabelhafter Reduktion« (ebd.).
den-Baden/Las Vegas« (S. 151), Modell ge- Neben der Gesellschaftskritik weisen Seli-
standen haben könnte mit dem Ergebnis: »Der ger und Wagner auf die mit ihr verbundene
Kapitalismus fördert den Egoismus [ … ], be- »Kunstkritik« (Seliger, S. 134) hin: den geziel-
straft menschliche Regungen und muß zur ten Angriff auf die kulinarische Oper und ihre
Überwindung der Krisen notgedrungener- traditionelle unlogische, unvernünftige und
weise immer grausamer werden, bis er zum oberflächliche Handlung. Mahagonny habe
Untergang in absoluter Anarchie führt« (ebd.). »den Zuschauer (Brecht und Weill dachten im-
Einen Ausweg zeige B. nicht. mer an ein Opernpublikum) in einen dialekti-
Theodor W. Adornos bereits 1930 geäußer- schen Erkenntnisprozeß hineinzwingen [sol-
ter Meinung folgend, dass keine klassenlose len], der ihm die anarchischen Zustände in-
Gesellschaft »als positives Maß des verwor- nerhalb der kapitalistischen Gesellschaft am
fenen Gegenwärtigen in Mahagonny« (Ador- Beispiel der so überaus geschätzten, Auge und
no, S. 114) offenbar werde, konstatiert Gott- Ohr verwöhnenden Kunstform Oper bewußt
fried Wagner, Mahagonny sei zwar »aus marxi- machte« (Wagner, S. 184). Das Stück führe
stischer Perspektive konzipiert«, entwerfe je- »die Trümmer der alten Oper« vor, indem sie
doch keine bessere Gesellschaftsordnung, durch Verfremdung der die traditionelle Oper
sondern »kritisiert die Mängel der derzeit be- »konstituierenden Strukturelemente« diese
stehenden« (Wagner, S. 186), und zwar in Pa- »als kulinarisch, spätbürgerlich-kapitalistisch
rabelform als negative Utopie der kapitalisti- und verlogen« entlarve (S. 185), wobei jedoch
schen Gesellschaft, deren »auf Geld basieren- Seliger meint, dass die »illusionistische Gat-
des anarchisches Verhalten« von Paul zum tung der Oper« der »beabsichtigten Konfronta-
Leitprinzip gewählt werde (S. 189). Auch Völ- tion mit der gesellschaftlichen Realität« wi-
ker sieht im Stück »eine realistische Parabel« derstrebe; die »epische Oper« müsse so eine
ohne Moral, die unter dem »Gesetz des Geldes »contradictio in adjecto« bleiben (Seliger,
[ … ] die totale Verdinglichung der zwischen- S. 144). Weisstein dagegen erkennt im Text
menschlichen Beziehungen mit sich bringt« lediglich ein »Skelett, das Brecht mit dem
186 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

Fleisch (und der Haut) seiner Sprache beklei- Matthäus 25,35), schließt er, dass die »bisher
det und Weill mit dem Blut seiner Musik als Auswüchse des Kapitalismus« gedeuteten
füllt«; die Obduktion zeige allerdings dieses Szenen »nicht die Konsequenz eines bestimm-
Fleisch als »wenig fest und organisch gewach- ten politischen Systems [sind], sondern die bis
sen« (Weisstein, S. 290). Weisstein relativiert zum Exzeß ausgelebten Grundtriebe des Men-
jedoch sein Urteil dadurch, dass er (mit Recht) schen« (S. 91). Im Gegenteil gilt: »gerade der
vermutet, B. habe mit der Oper seinen »Spiel- Bedeutungsüberschuß der ästhetisch einge-
trieb« ausgelebt und sei »bis an die Grenze des fangenen Mythen«, wie eben auch der Bibel,
Unsinns« vorgestoßen (S. 291). Dies trifft sich bewahren die Oper davor, »ein antikapitali-
mit Charakterisierungen von Mahagonny als stischer Abzählreim zu werden« (Joost,
»absurd« in der Tradition Kafkas (Adorno, S. 142).
S. 114; vgl. Wagner, S. 189 f.) oder auch als
»grotesk«, wenn B. als Gericht »eben die aus-
beuterischen Gauner fungieren läßt, die Ma-
hagonny inszeniert haben« (Mennemeier, Interpretation
S. 302), oder wenn die vier Nummern des Es-
sens, Saufens usw. »auf drastische Weise die
fatale Gleichung von totalem Selbstgenuß und Die Nichtbeachtung der klaren dreiaktigen
Selbstzerstörung« (Joost, S. 141) grotesk über- Strukturierung im Erstdruck, die der Versuche-
zeichnen. Adorno nannte Mahagonny gar »die Druck unkenntlich werden ließ, hat in der
erste surrealistische Oper« (Adorno, S. 119), Forschung dazu geführt, Mahagonny von vorn-
ein Urteil, das Weisstein als literaturge- herein mit einer typisch kapitalistischen Groß-
schichtlich »verfehlt« (Weisstein, S. 291) zu- stadt zu identifizieren. Übersehen wurde da-
rückgewiesen hat, weil die Kreisbewegung des bei, dass Mahagonny zunächst (im ersten Akt)
Stücks, sein circulus vitiosus (von Alaska nach eindeutig eine Gegengründung zu den großen
Alaska), die Adorno zu diesem Urteil gebracht Städten darstellt, die als »Paradiesstadt« eben
habe, noch keinen Surrealismus mache. darum die Leute aus den großen Städten, ja
Als »Bibel-Parodie« hat Sehm B.s Text ge- sogar die »Unzufriedenen aller Konti-
lesen. Die Gründung der Stadt zitiert danach nente« (GBA 2, S. 339) anzieht, nachdem die
den Auszug der Kinder Israel aus Ägypten, im Nachricht ihrer Gründung sie erreicht hat. Die
Gangstertrio (s. a. den Namen Dreieinigkeits- Differenz zu diesen Städten wird mehrfach
moses) wiederholt sich das »Urbild der altbe- ausdrücklich betont, z. B. wenn es heißt, dass
kannten biblischen Konstellation« (Sehm, die Städte in Übernahme der Nihilismus-Me-
S. 87): die Begbick als alttestamentarischer tapher aus Nietzsches Gedicht Der Freigeist
Gott, Moses als ihr Sachwalter und Willy als (1884; auch: Vereinsamt) wie Rauch vergehen
Aaron. In der Geschichte Paul Ackermanns (S. 338) und in ihnen »der Lärm zu groß [sei] /
spiegelt sich die Passion Christi, seine Gesetz- Nichts als Unruhe und Zwietracht / Und
gebung löst die von Moses ab; das Gericht nichts, woran man sich halten kann« (S. 339).
wiederholt die Szenerie vor Pontius Pilatus, in Auch der Hurrikan weiß genau zu unterschei-
Pauls Bitte um ein Glas Wasser klingt das den: Während er u. a. Pensacola und Atsena
»Mich dürstet« Christi an, und das brutale zerstört, lässt er Mahagonny unbehelligt. Die
»Fertig!« (GBA 2, S. 386) steht anstelle von »Es Umdeutung der Rauch-Metapher steht eben-
ist vollbracht« (vgl. Sehm, S. 94). Zweifelhaft falls für eine Differenzierung: Während sie
freilich bleibt Sehms Schlussfolgerung. Aus den großen Städten den Untergang anzeigt,
den offenbar vorhandenen und gar nicht so steigt der Rauch in Mahagonny »aus euren gel-
»befremdlich« (S. 92) erscheinenden Paralle- ben Häuten« (ebd.), wird er zum Zeichen des
len, zu denen auch eindeutige sprachliche Genusses (unter Männern). Insofern steht Ma-
Übereinstimmungen kommen, wie »Du hast hagonny im ersten Akt für ein irreales, uto-
uns gespeist und hast uns getränkt« (nach pisches Paradies auf Erden, als, freilich nur
Interpretation 187

irreal auf der Bühne verwirklichte, Utopie des Theaters, indem während des Spiels weitere
vollkommenen Genusses, ist es im Wortsinn Spiele mit entsprechenden Requisiten und Zu-
von Utopie ein ›Nicht-Ort‹. schauern auf der Bühne inszeniert werden, so
Dass es Mahagonny nicht gibt, hatte bereits dass sich die ohnehin künstliche Handlung
das Songspiel mit seinem Schlusssatz behaup- nochmals künstlich verdoppelt. Dies alles gilt
tet und damit den Kunstcharakter dieser Ge- schon für den Text; es kommt aber hinzu, dass
gengründung betont. Wenn der Satz auch nicht es sich um eine Oper handelt, also um das
in die Oper übernommen wurde, so ist doch ohnehin antinaturalistischste Kunstgenre
ihr gesamter Text mit antinaturalistischen Ele- überhaupt, das mit ›Wirklichkeitsabbildung‹
menten durchsetzt. Dies beginnt mit der kaum verwechselt werden kann.
Gründung der Stadt, die buchstäblich aus dem Dieser durchgängige Antinaturalismus cha-
Boden gestampft wird, wobei sich der Text rakterisiert das Mahagonny der gesamten
völlig unbekümmert darum zeigt, wie in einer Oper als eine Scheinwelt mit eigenen Geset-
öden Gegend in kürzester Zeit eine »Millio- zen, die eben darum auch rigoros auf ›normale
nenstadt« (GBA 2, S. 338) aufgebaut werden Verhältnisse‹ angewendet werden können. In
kann, ohne dass irgendein Mensch in ihr ar- den Szenen 1–9, dem ehemaligen ersten Akt,
beitet. Es setzt sich fort mit der eigentümli- sorgen die Verbotstafeln dafür, dass die Män-
chen Tatsache, dass der Begbick die Holzfäller ner in Ruhe und Eintracht leben können, dass
aus Alaska und ihre Gewohnheiten bekannt ihre Kämpfe fair und ohne Opfer bleiben. Nur
sind und sie diese »zu Hause« (S. 341) begrüßt. »Sieben Tage ohne Arbeit« (GBA 2, S. 336), die
Es folgt das Zitat der weißen Wolke aus der den »sieben Wintern« der Schufterei in Alaska
Erinnerung an die Marie A., »sehr weiß und (S. 352) radikal entgegenstehen und symbo-
ungeheuer oben« (GBA 11, S. 92), die er- lisch auf die sieben Schöpfungstage der Gene-
schrocken den Schauplatz verlässt, als Paul die sis anspielen – auch hier ein Hinweis auf die
Stadt Mahagonny empört einen »Dreckhau- Absolutheit und Ausschließlichkeit des Texts
fen« nennt: »Die Wolke erzittert und geht eilig ohne den Ruhetag (Gottes) oder wenigstens
ab« (GBA 2, S. 352), eine kleine humoristische mit einem Tag Arbeit in Mahagonny –, werden
Einlage, die davon zeugt, dass B. und Weill auf Dauer langweilig und führen dazu, dass die
alles nicht so ernst gemeint hatten. Der Mond Leute bereits bei der Ankunft der Holzfäller
von Alabama ist ein »grüner« (S. 340), weil die flüchten, was die Begbick kommentiert:
Holzfäller aus Alaska kommen, das seinerseits »Dummköpfe, Quadratschädel! Da laufen sie
aus der Literatur stammt und keine Entspre- hin auf das Schiff. Und ihre Taschen sind noch
chung zum realen Alaska hat. Auch die Namen voll von Geld. Schlechte Rasse! Leute ohne
wie Alabama, Georgia usw. verweisen auf eine Humor!« (S. 344) Der Grund für ihre Flucht
Kunstwelt und kaum auf die realen US-Staa- kann, was die Begbick ausdrücklich betont,
ten, wie auch die Übernahme von Figuren aus nicht Geldmangel sein, an dem Paul zugrunde
Mann ist Mann ihre literarische Herkunft un- geht. Die Begründung kann nur darin zu fin-
terstreicht. Auf »wunderbare« Weise (S. 361) den sein, dass das Leben in Eintracht und
und wie auf einer Militär-Landkarte, auf wel- Genuss kein Leben ist, dass vielmehr zum Le-
cher der Frontverlauf abgesteckt wird (vgl. ben die Arbeit gehört, die in Mahagonny abge-
Hauff 2000, S. 666), schlägt der Hurrikan ei- schafft worden ist. Dieser Mangel an Arbeit ist
nen Bogen um die Stadt und setzt seinen Weg auch als Ursache dafür anzusehen, dass Paul
der Zerstörung fort. Auch Kleinigkeiten, wie sich langweilt, dass er lieber nach Georgia will
das Fressen von zwei Kälbern durch Jakob (S. 350) und als Meister im »Messerspitzeln«
Schmidt, zeigen die Irrealität der Kunstwelt (S. 341) den Dolch zückt (S. 353), damit we-
an. Schließlich verweisen die beiden Spiele im nigstens irgendetwas passiert.
Spiel, die Alaskafahrt auf dem Billardtisch und Der Begriff der Arbeit, den der Text ex nega-
das Spiel von Gott in Mahagonny, auf die ex- tivo und indirekt als Mangel definiert, rekur-
plizit thematisierte Selbstreferentialität des riert auf den Arbeitsbegriff in der klassischen
188 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

Dialektik Hegels. Hegel hat über die nicht- S. 50). Die Vergnügungen finden nicht vor den
entfremdete Arbeit des Knechtes den Men- Toren, sondern in klar abgesteckten, mit Ver-
schen als Arbeitenden bestimmt, der sich mit botstafeln versehenen Räumen statt und ma-
seiner Arbeit (bei Hegel ist es die geistige chen deshalb gerade nicht »frei«, wie es von
Arbeit) entäußert und damit vergegenständ- den Gründern der Stadt versprochen worden
licht. Seine kurze Formel heißt: ›Arbeit bildet‹ ist. Hinzu kommt, dass die mit den schwarzen
(Hegel, S. 148). Das ursprünglich in sich ru- Wäldern von Alaska beschworene erste, von
hende »Selbst« tritt durch die Arbeit aus sich den Menschen unabhängige Natur ebenfalls
heraus und stellt sich »dem Tage« aus. Das eine Illusion darstellt, denn die Holzfäller ha-
durch Arbeit geschaffene Werk ist Garant da- ben mit dieser Natur ihr Geld verdient und
für, dass der Mensch »wird«, was er ist. Zu- dazu beigetragen, dass sie beseitigt wird
gleich ist die »Entäußerung« die Grundlage für (schon im Baal stehen die Holzfäller für die
soziale Kommunikation. Nur ein Mensch, der Niederlegung der Natur; vgl. GBA 1, S. 80 f.,
sich entäußert, kann mit anderen Menschen in S. 135–137). Damit ist auch die Arbeit, die im
Kontakt kommen. Der Herr dagegen, der nicht Stück die Voraussetzung für das Vergnügen bil-
arbeitet und bloß die ihm fremden Produkte det, negativ besetzt: Sie dient der Zerstörung
genießt, muss ohne Entwicklung bleiben, ver- der ersten Natur und macht reich, und nicht
harren in dem, was ihm fremd ist (vgl. Hegel, umsonst reimt sich schon an früher Stelle des
S. 141–150). Das Leben in der ersten Phase Texts »Toten« – die Holzfäller »hatten’s
von Mahagonny (vor dem Hurrikan) kann ent- schlimmer dort als selbst die Toten« – auf
sprechend sozial nur dadurch funktionieren, »Banknoten« ( GBA 2, S. 344), als eine un-
dass strenge Verbote gelten. Die nicht arbei- scheinbare Vorausweisung auf den Schluss.
tenden »Herren« lassen sich nur so ruhig stel- Auch der am Ende mehrfach auf den Tafeln
len. Die Leere, die dabei entsteht, ist die not- gezeigte Spruch »FÜR DEN FORTBESTAND
wendige Folge. DES GOLDENEN ZEITALTERS« ( S. 387,
Ein weiterer Aspekt, der die Gründung von S. 389) gehört in diesen Zusammenhang. Die
Mahagonny suspekt macht, ist, dass der mit Vorstellung von den vier Zeit- oder Weltaltern,
ihm eröffnete Freizeit-Raum nicht in der Na- an dessen erster Stelle das »goldene« steht,
tur, sondern in einer Großstadt mit Geschäften geht zurück auf Ovids Metamorphosen, wo es
angesiedelt ist. Ernst Bloch hat darauf auf- u. a. so charakterisiert ist: »Als erstes entstand
merksam gemacht, dass die Utopie eines Para- das goldene Geschlecht, das keinen Rächer
dieses »seit je unter Bäumen, an Quellen und kannte und freiwillig, ohne Gesetz, Treue und
andere Paradieselemente gelegt« ist und »die Redlichkeit übte. Strafe und Furcht waren
sozusagen selbstzufriedene Natur [ … ] als der fern, keine drohenden Worte las man auf öf-
arkadische Inhalt« erscheint, »die zur Idylle fentlich angebrachten Erztafeln [ … ]. Noch
utopisierte Natur« ist (Bloch, S. 1074). Wenn nicht war die Fichte gefällt [ … ]. Noch um-
Paul mehrfach feststellt »Aber etwas fehlt« zogen keine steil abfallenden Gräben die
(GBA 2, S. 349 f.), so klagt er eben diese Idylle Städte [ … ], lebten die Völker sorglos in sanf-
ein, die es in Mahagonny nicht gibt, auch wenn ter Ruhe dahin. Auch gab die Erde [ … ] alles
Jakob, Heinrich und Joe illusionär behaupten: von selbst.« (Ovid, S. 13) Ovids Text liest sich
»Herrlich ist das einfache Leben / Und ohne- wie ein Gegenentwurf zu Mahagonny, und er
gleichen ist die Größe der Natur.« (S. 350) Na- zeigt nochmals an, dass die Leute der Para-
tur und einfaches Leben sind schon deshalb diesstadt ihre eigenen Gesetze nicht verste-
nicht gegeben, weil in Mahagonny das Geld hen, ein illusionäres Leben führen und ver-
regiert und jeder Genuss nur als Ware, ein- gessen haben, dass sie die Natur, die sie be-
schließlich der Menschen, zu haben ist (später, schwören, mit ihrer Arbeit bereits zerstört ha-
im USA-Exil, vermeinte B., »an jedem Zitro- ben. Diese Utopie ist eben kein Paradies.
nenbaum ein kleines Preisschildchen [ … ], Mahagonny ist deshalb schon in den Szenen
auch den Menschen«, zu sehen; GBA 27, 1–9 zum Untergang verurteilt.
Interpretation 189

Mit dem Nahen des Hurrikans erfolgt der vor Geld in unserer Zeit« zählt (GBA 2,
Umschlag. Es gibt doch noch erste Natur, der S. 382), keine Chance und gibt eben keinen
die Menschen trotz neuer Behaustheit in den »Halt« (S. 365), zumal es sich um gekaufte
großen Städten weiterhin schutzlos und ohn- Liebe handelt und die Verse des Kraniche-Du-
mächtig ausgeliefert sind, wenn auch nur in etts zu ihr in ironischem Kontrast stehen. Ein-
Gestalt von Zerstörung. Da die Leute von Ma- zig Jakob Schmidt ist, indem er sich zu Tode
hagonny ohnehin mit ihrem Untergang rech- frisst, klüger: Er hat erkannt, dass nur in der
nen, erkennen sie: »Schlimm ist der Hurrikan perversen und asozialen Selbstzerstörung –
/ Schlimmer ist der Taifun / Doch am auch hier greift der Text auf den Baal zurück –
schlimmsten ist der Mensch«, und ziehen fol- noch Glück zu haben ist (vgl. S. 363).
gerichtig den Schluss: »Wir brauchen keinen Die durch das groteske Gericht, eine
Hurrikan / Wir brauchen keinen Taifun / Denn »schwarze Satire auf die Korruptheit der Klas-
was er an Schrecken tun kann / Das können senjustiz« (Joost, S. 141), ausgesprochene Ver-
wir selber tun.« (GBA 2, S. 357) Paul Acker- urteilung und schließliche Hinrichtung Pauls
mann ruft unter dem Leitspruch »Du darfst sind konsequent: Wer kein Geld hat, hat auch
es!« (S. 358 f.) die Anarchie aus, und der Hurri- kein Anrecht auf Leben. Mit Hilfe oder Gnade
kan verschont die Stadt. Mahagonny hat sich kann nicht gerechnet werden, und auch jeg-
demnach bereits so von der ersten Natur ent- liche Hoffnungen auf ein besseres Jenseits
fremdet, dass ihr direktes Eingreifen nicht sind ausgeschlossen, wie es das »Spiel von
mehr nötig ist. Die Menschen, die allein auf Gott in Mahagonny« (GBA 2, S. 384) demon-
Genuss durch Geld setzen, schaffen sich mit striert. Ausgerechnet der Dreieinigkeitsmoses
dem neuen Wahlspruch ein Lebensmodell, das spielt die Rolle Gottes und versucht den Män-
alle zerstörerischen Kräfte der ersten Natur nern einzubläuen, dass sie zur Hölle verdammt
enthält und garantiert, dass sie sich selbst er- seien, was diese aber mit der Feststellung zu-
ledigen werden. Die erste Natur leistet sich rückweisen, dass »wir immer in der Hölle wa-
großzügig den Verzicht – und darin liegt auch ren« (S. 386), sie damit folglich nicht bekehr-
ein witzig-spielerischer Effekt –, Mahagonny bar sind. Das falsche Paradies hat sich als
heimzusuchen, und überlässt dies den Män- Hölle erwiesen, eine andere Welt ist nicht ver-
nern selbst. fügbar, alle Auswege sind versperrt. Im Einzel-
Es folgen die Szenen 13–16, die den Kampf schicksal Ackermanns spiegelt sich exempla-
aller gegen alle zeigen und damit den Schein- risch das Kollektivschicksal der Stadt. Wo es
Aufstieg der Stadt garantieren. Die »Herren« keine Gemeinsamkeit mehr gibt, ist Sozialität
werden damit beschäftigt, dass sie gegenein- grundsätzlich ausgeschlossen. Statt Kommu-
ander und auch gegen sich selbst kämpfen. Da nikation herrschen Entfremdung und Verding-
es sich wieder nicht um Arbeit im Hegelschen lichung, statt Solidarität ist Kampf angesagt,
Sinn handelt, folglich alles, was in Mahagonny statt Selbstverwirklichung steht Selbstent-
geschieht, asozial ist, müssen die Beschäfti- fremdung auf dem Plan: bis zur Auslöschung
gungen für die Leute von Mahagonny zur Kata- der Person.
strophe führen. Die Männerfreundschaft, wel- Mahagonny ist ein Spiel der Desillusionie-
che die vier Akteure in Alaska aufgrund ihrer rungen. Was zunächst als Gegengründung zu
schweren Arbeit (»die Toten«) wenigstens ver- den kapitalistischen Großstädten gedacht war,
bunden hat, zerbricht in Mahagonny. Paul erweist sich in Wahrheit als falsches, nicht
bleibt gegenüber der tödlichen Bedrohung, lebbares Paradies, weil es auf Geld gegründet
der Joe durch den Boxkampf gegen den Drei- ist und damit die zerstörerische Naturgewalt
einigkeitsmoses ausgesetzt ist, blind. Heinrich im Menschen herausfordert. Somit wird Ma-
wendet sich von Paul ab, als es um dessen hagonny nach dem Hurrikan vom kapitalisti-
Rettung geht. Und auch die Liebe zwischen schen Warengesetz buchstäblich heimgeholt,
den Geschlechtern (Paul-Jenny) hat in der von einem Gesetz, das die Oper auf radikale
Stadt ohne Arbeit, in der nur die »Achtung Weise durchspielt, indem sie die in der gesell-
190 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

schaftlichen Realität nur bedingt sichtbaren Geschichte exemplarisch für die Stadt steht,
oder unsichtbaren Auswirkungen in brutale kann Mahagonny auch als Modell des herauf-
Anschauung umsetzt. Das Geld verwandelt al- kommenden Faschismus mit all seinen Kon-
les in Ware, lässt kein Recht, schon gar nicht sequenzen gesehen werden.
Gnade zu und degradiert die Menschen zur Das Finale der Oper lässt es überdies zu, den
Sache, mit der beliebig umgesprungen werden Schluss als »Parodie militärischer Begräbnis-
kann. Eine solche Gesellschaft hat keine Über- zeremonien« (Hauff 2000, S. 667) zu lesen. In
lebenschance. Insofern lässt sich Mahagonny der Fassung von 1929 heißt es auf der Projek-
als künstliches und kunstvolles Anschauungs- tion noch: »Bei diesen Umzügen trugen die
Modell, weniger als Parabel, des ersten Funk- Männer die Leiche Jimmy Mahoneys mit
tionsgesetzes des Kapitalismus verstehen, das sich« (GBA 2, S. 390), was in den späteren
unerbittlich die Konsequenzen aus ihm zieht Fassungen gestrichen wurde. In der Urauffüh-
und in aufreizenden Bildern vorführt. Die ver- rung von Leipzig trug überdies eine Gruppe
knappte einfache Sprache des Texts, das Aus- von Männern im Demonstrationszug Jimmys
sparen aller menschlichen Zwischentöne, die Hut und Stock, eine andere seinen Ring, seine
weitgehende Reduktion der Handlung auf die Uhr, den Revolver sowie sein Scheckbuch.
(brutalen) Höhepunkte, die Ausblendung jeg- Eine Gruppe von Mädchen zog mit seinem
licher Moral und zwischenmenschlicher Hemd über die Bühne. Danach erst folgten die
Wärme sind die von den Autoren, offenbar Züge mit den Demonstrationstafeln. Gesun-
gezielt, eingesetzten Mittel, um ihrem Modell gen wurde »Können einem toten Mann nicht
die nötige Stoßkraft zu geben, ein seltener Fall helfen« (S. 389) aus Weills Berliner Requiem,
von Literatur, in dem die strukturellen Ele- das an das Massensterben im ersten Weltkrieg
mente den zu vermittelnden Gehalt regelrecht zu erinnern suchte. Der so inszenierte Schluss
hervortreiben. »zielte auf ein gesellschaftliches Trauma, das
Der Bezug zu den Nationalsozialisten, den allen im Publikum gemeinsam war, über das
B. und Bronnen über den Namen der Stadt eine Verständigung jedoch in der polarisierten
hergestellt hatten, wurde von Neher für die Atmosphäre der frühen dreißiger Jahre kaum
Uraufführung der Oper 1930 aufgenommen: mehr möglich war« (Hauff 2000, S. 668). Der
Im Schlussbild zeigte sein Prospekt in stili- Schlussvers der Oper lautet: »Können uns und
sierter Form Bombengeschwader über der euch und niemand helfen.« (GBA 2, S. 389) Vor
brennenden Stadt als prophetische Antizipa- dem Hintergrund des deutschen Militarismus,
tion des kommenden Weltkriegs (Abbildung der in der Uraufführung offenbar unmissver-
in: Wagner, zwischen S. 160 und S. 161). Nicht ständlich aufgerufen und aufgrund der Aus-
Hurrikane, sondern die tödliche Maschinerie wirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1929
der selbsterzeugten Kriegsindustrie löschen wohl auch erkannt wurde, bleibt der »Fall« von
die Ausgeburt des Kapitalismus aus. Einmal Mahagonny nicht unverbindlich: Eine solche
mehr wird damit deutlich, dass B. in der kapi- Welt wird ins nächste Massensterben taumeln,
talistischen Raubgesellschaft den faschisti- gleichgültig, ob sie nun verbal – wie auf den
schen Umschlag verborgen sah, der jederzeit Demonstrationstafeln – »FÜR DIE NATÜRLI-
erfolgen konnte. Die Stammtisch-Atmo- CHE ORDNUNG DER DINGE« oder »FÜR
sphäre, die sich im ersten Teil von Mahagonny DIE NATÜRLICHE UNORDNUNG DER
ausbreitet, die Männerfreundschaft, die ohne DINGE« (S. 391) eintritt.
Substanz bleibt, die oberflächlichen Gesprä-
che unter Männern, die zwar als »schön« (GBA
2, S. 349) deklariert werden, in Wahrheit aber
nur der bloßen Selbstbestätigung dienen, ver-
weisen ebenso auf Nazi-Standards wie der
Umschlag in die Brutalität, der ein Menschen-
leben nichts mehr wert ist. Da die Individual-
191

Musik Verdis erinnert, gefolgt von einem Choral, der


dem Bibelstil des Texts angeglichen ist; in ihn
hinein singt Jenny »leise und traurig« (GBA 2,
Die Oper beginnt einer orchestralen Aktions- S. 355) den Refrain des Alabama-Songs, mit
musik, gefolgt von einem ausgreifenden dem die Schicksalsergebenheit der Männer
Arioso der Begbick, einem Gesangsstück zwi- unterhöhlt wird. Die Menschenverachtung,
schen Rezitativ und Arie, das aber so ummon- die das dominante Thema der Szene 11 ist,
tiert ist, dass sein traditioneller Einsatz zwar gipfelt im »Hohelied des Egoismus« (Dümling,
noch erkennbar ist, aber zugleich befremdend S. 163): »Denn wie man sich bettet …« (GBA 2,
wirkt, indem Weill die Gesangslinie und die S. 360). Der Wohllaut der Melodie kontrastiert
melodiöse sowie rhythmische Begleitung aus- dem Wort und »verurteilt den kulinarischen
einander klaffen lässt. Als der rote Wimpel Stil als Lüge« (Hennenberg, S. 414). Die Sze-
gehisst wird (GBA 2, S. 337), folgt ein Largo- nen 13–16 verbindet ein Chor (»Erstens ver-
satz in Anspielung auf Georg Friedrich Hän- geßt nicht …«; GBA 2, S. 362–375), der »die
dels Oper Serse, mit der Xerxes den schattigen Funktion einer gesungenen Schrifttafel«
Platz in seinem Garten besingt. Weitere musi- (Dümling, S. 167) hat; er gehört »zu den stärk-
kalische Anspielungen finden sich im Quartett sten musikalischen Erfindungen der Partitur«
»Auf nach Mahagonny« (S. 339 f.), in dem der (Schebera, S. 127). Anschließend frisst sich
Brautjungfern-Refrain aus Carl Maria von We- Jakob Schmidt zu einer Heurigenmusik, einem
bers Freischütz parodistisch zitiert wird. Das Walzer mit Zither- und Bandeon-Begleitung,
Zitat unterstreicht »den käuflichen Erwerb ei- zu Tode. Der Mandeley-Song folgt dem Rhyth-
ner Illusion und die Illusion selbst« (Wagner, mus des Geschlechtsverkehrs. Zum Kämpfen
S. 171). Die Szene 9 wird eröffnet mit einer spielt die Blaskapelle einen flotten Marsch mit
schwülstigen Bearbeitung des Gebets einer aufgesetzter Fröhlichkeit, die »sich zuerst in
Jungfrau auf dem Klavier, das in schroffem Aggressivität und schließlich in einen echten
Kontrast zum vor dem Hotel aufgestellten Pla- Schock« (Dümling, S. 168) verwandelt. Das
kat mit der Inschrift »Vermeiden Sie anstößige Saufen vollzieht sich im Stil eines übertrie-
Gesänge« (GBA 2, S. 351) steht. Das Gebet ist benen Männergesangsvereins, gefolgt vom ge-
leere Virtuosität, die dem äußeren Glanz von grölten Zitat aus Martells Seemannslos wäh-
Mahagonny entspricht, zugleich aber phrasen- rend der visionären Ausfahrt nach Alaska, das
haft, gefühlvoll die Kälte und Brutalität Maha- von der Geldforderung des Dreieinigkeitsmo-
gonnys übertüncht. Mit diesem Zitat, das Ja- ses abrupt unterbrochen wird. Die »Form« die-
kob mit »Das ist ewige Kunst« (nicht in den ser Szene, meinte Adorno, sei der »Rausch«
Drucken) kommentiert, wird überdies der und bilde der Oper »positives Zentrum«
schlechte Geschmack der Mahagonny-Leute (Adorno, S. 117). Das Finale schließlich mit
entlarvt und zugleich »die zum Kitsch herun- dem Demonstrationszug vor dem brennenden
tergekommene bürgerliche Kunstreligion des Mahagonny ist »ein einziges großes musikali-
19. Jahrhunderts« (Wagner, S. 198) persifliert. sches Quodlibet aus bereits bekannten Ele-
Der sich anschließenden sehnsuchtsvollen Er- menten der Oper, zusammengehalten durch
innerung Pauls an die verschneiten Wälder den gemeinsamen Marschrhythmus« (Düm-
Alaskas ist ein verzerrter Walzerrhythmus un- ling, S. 169), eine Collagetechnik, die »im
terlegt: »Kitsch des bürgerlichen Salons (Jung- Rahmen der Zusammenarbeit von Brecht und
frau-Gebet) und Kitsch der bürgerlichen Oper Weill einzigartig« (Wagner, S. 211) ist. Den Ab-
(Sehnsuchtsarie) werden gekontert und schluss bildet der fatalistische Chor »Können
gleichzeitig zertrümmert« (Schebera, S. 126). einem toten Mann nicht helfen« (GBA 2,
Für den ausbrechenden Schrecken, den der S. 388 f.), der auf den Marsch der Gralsritter
Hurrikan auslöst, griff Weill zu Mitteln der vor Titurels Leichenfeier aus Richard Wagners
traditionellen großen Oper, gesungen von ei- Parsifal und auf den Tod Christi verweist (vgl.
nem dreiteiligen Chor, der an die Opernchöre Dümling, S. 169). Die letzten Takte schließlich
192 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

greifen auf das Largo des Beginns zurück und fert, über die Gattung und ihre Tradition her-
bilden so den zerstörerischen circulus vitiosus, zustellen sowie an den Gewohnheiten des Pu-
in dem sich die kapitalistischen Gesellschaften blikums festzumachen, das die übliche kulina-
befinden, musikalisch ab (vgl. Wagner, rische Oper einforderte, stattdessen jedoch
S. 212). Auch die Musik stellt keine Lösung in ihre Selbstzerstörung, eine ins Satirische ge-
Aussicht. steigerte Parodie ihrer selbst, demonstriert er-
hielt. Das ebenfalls paradoxe Ergebnis war,
dass mit Mahagonny die erste, nie wieder ein-
geholte epische Oper geschaffen wurde, der
Kritik der Oper schon bei der Textherstellung »eine Gestaltung
nach rein musikalischen Gesetzen« (Schebera,
S. 125) zugrunde lag und die zugleich einen
Prinzipiell gilt: Die Bühnenmusik ist eigen- völlig neuen Opernstil entwickelte: »Denn die
ständig. Sie soll »die Handlung weder illu- Form der Chronik, die hier gewählt werden
strieren noch weitertreiben [ … ], sondern die konnte, ist nichts als eine ›Aneinanderreihung
nur gestische Grundhaltung der aneinander- von Zuständen‹. [ … ] Bei der Inszenierung der
gereihten Situationen auffangen und realisie- Oper muß stets berücksichtigt werden, daß
ren« (Weill 1997, S, 48). Gesten sind dabei hier abgeschlossene musikalische Formen vor-
zunächst »sozusagen die Sitten und Gebräuche liegen« (Weill 1975, S. 58 f.), was B. in seinen
des Körpers« (GBA 24, S. 65), kein »Gesti- Anmerkungen zur Oper als radikale »Trennung
kulieren«, nicht »unterstreichende und er- der Elemente« (GBA 24, S. 79) bezeichnete, die
läuternde Handlungsbewegungen«, sondern den Songs denn auch den Weg in die Medien
»Gesamthaltungen« (GBA 22, S. 329), die ebnete.
Rückschlüsse auf gesellschaftliche Zustände Über die Erwartungshaltung des Publikums
zulassen (vgl. Kahnt, S. 84). Wichtig sei dann stellt sich noch ein weiterer realistischer Be-
aber, so betonte B., dass das gestische Prinzip zug her: zum Konsum. Mit Opern wurde und
dem Musiker ermögliche, »musizierend eine wird die Lieferung von Ohren- und Augen-
politische Haltung einzunehmen« (GBA 24, schmauß verbunden und in erster Linie eine
S. 329 f.). »Mit Hilfe des musikalischen Gestus ›gehobene‹ Unterhaltung erwartet. Diese Er-
wird der Rahmen einer ›Gesamthaltung‹ abge- wartung findet ihre künstlich-modellhafte
steckt, in den verschiedene Einzelszenen und Entsprechung im Thema der Oper, ohne dass
Vorgänge eingebettet sind. Auf diese Weise der Text sie explizit herstellen müsste. Maha-
kann die Musik ihre strukturbildende Aufgabe gonny ist eine Stadt des Konsums und spielt
erfüllen. Zugleich knüpft sie eigenständig Be- damit indirekt auf den Fordismus an, den B.
ziehungen: dem gleichen Gestus entspricht bereits im Gedicht 700 Intellektuelle beten ei-
die Wiederholung bzw. Variante ganzer Ab- nen Öltank (1927) ironisch kritisiert hatte und
schnitte.« (Kahnt, S. 86) mit dem Henry Ford die marxistische Verelen-
Die Desillusionierung, die den Inhalt be- dungstheorie, wonach die sich steigernde Aus-
stimmt, spiegelt sich in der gewählten Gattung beutung der Arbeiter (notwendig) die Revolu-
»Oper«, welche die Autoren ausdrücklich als tion nach sich zog, widerlegen sollte. Der ame-
Bezeichnung erhalten haben, obwohl sie diese rikanische Automobilfabrikant hatte in den
nicht einlösen, sondern in paradoxer Weise 20er-Jahren das Fließband nach Europa expor-
offen destruieren. Die traditionelle Oper wird tiert und damit eine neue Form der Rationali-
»an dem ihr eigenen gesellschaftlich-kulturel- sierung eingeführt. Diese ermöglichte es, die
len Ort, dem Opernhaus« (Wagner, S. 185), Arbeiter besser zu bezahlen und sie so als Kon-
musikalisch auseinander genommen, in ihre sumenten zu gewinnen. Über den Konsum ließ
kenntlichen Teile zerlegt und als verbrauchtes sich die Produktion absichern. Der Fordismus
Material entlarvt. Damit gelang es Weill und wurde damit zum Motor der Massenproduk-
B., die realen Bezüge, die der Text nicht lie- tion und Massenkonsumtion in den kapitalisti-
Kritik der Oper 193

schen Gesellschaften. Sein Effekt war, dass tionellen Konzertstruktur« (Kahnt, S. 73)
nicht mehr die Arbeit, die ihren Wert verlor, suchte Weill nach »breiteren, neuen Auswir-
die Räder antrieb, sondern der Konsum. Ent- kungsmöglichkeiten« (Weill 1975, S. 63), die
sprechend mussten, um die Nachfrage zu stei- er durch unkomplizierte Stoffe und einfache
gern, die Produkte als (angeblich lebensnot- Ausdrucksmittel gewährleistet sah. Diese
wendige) Waren angepriesen und verkauft »Unkompliziertheit« führte zu einer »epischen
werden, was wiederum zu einer rapiden Ver- Haltung des musikalischen Bühnenwerkes,
breitung der Werbung führte. Es galt nicht die es uns erst ermöglicht, eine absolut musi-
mehr, was man tat, sondern was man hatte und kalische, konzertante Gestaltung zu geben,
genoss. B. hat diesen Bezug in den Anmer- ohne dabei die Gesetze der Bühne vernach-
kungen explizit hergestellt: »Was den Inhalt lässigen zu müssen« (S. 36). Diese »Ausrich-
dieser Oper betrifft – ihr Inhalt ist der Genuß. tung am Hörer« (Kahnt, S. 74) brachte den
Spaß also nicht nur als Form, sondern auch als »Einbruch in eine Verbrauchsindustrie« (Weill
Gegenstand. Das Vergnügen sollte wenigstens 1975, S. 54) mit sich. Wie einer der Songs von
Gegenstand der Untersuchung sein, wenn Weill (GBA 2, S. 339) seine Herkunft der
schon die Untersuchung Gegenstand des Ver- Schallplatte mit dem Shimmy Auf nach Maha-
gnügens sein sollte. Es tritt hier in seiner ge- gonne verdankte, so kehrten mit dem Erfolg
genwärtigen historischen Gestalt auf: als der Oper die nachgebildeten und parodierten
Ware.« (GBA 24, S. 77) Der Theaterskandal, Songs wieder auf die Schallplatte zurück. So
den die Uraufführung auslöste und einer der ließ Ernst Josef Aufricht eine kolorierte
größten Skandale dieser Art in der Weimarer Schallplatte herstellen, die als eine der ersten
Republik war, bewies, dass das Publikum sich ihrer Art Illustrationen zu Mahagonny zeigte
trotz der nicht-naturalistischen Anlage des und selbstreferentiell in der oberen Mitte ei-
Stücks herausgefordert und unmittelbar ange- nen dreifachen Grammophontrichter abbil-
sprochen fühlte. »Im Provokatorischen sehen dete, über dem ein Spruchband mit der Auf-
wir die Realität wiederhergestellt. ›Maha- schrift »Wie man sich bettet …« stand (Ab-
gonny‹ mag nicht sehr schmackhaft sein, es bildung in: Schebera, S. 137). »Ohren und
mag sogar (aus schlechtem Gewissen) seinen Münder sind nun medientechnisch rückgekop-
Ehrgeiz darein setzen, es nicht zu sein – es ist pelt, und zwischen ihnen laufen die Songs als
durch und durch kulinarisch.« (S. 78) endlose Grammophonie« (Herrmann, S. 28).
Hinzu kommt die Technifizierung der Mu- Hans Peter von Herrmann hat entsprechend
sik, oder wie Weill rückblickend in einem die Frage »Wo Mahagonny liegt« mit »Dixie-
Brief an die Universal Edition vom 14. 10. 1929 land« beantwortet, das sich nach seinen Aus-
formulierte: »Daß meine Musik [ … ] indu- führungen vom »DIX« auf den Zehndollarno-
strialisiert worden ist, spricht ja nach unserem ten einer Bank in New Orleans herleitet und
Standpunkt nicht gegen, sondern für sie [ … ], Name für das »gelobte ›Dixie‹-Land New Or-
wir können nicht verkennen, dass dieser Stil leans samt seiner dort geborenen Musik« ge-
Schule gemacht hat, und dass heute mehr als worden ist (ebd.). Weill und B. haben auf ihre
die Hälfte der jungen Komponisten der ver- Weise das »unterhaltungsmusikalische Traum-
schiedensten Richtungen davon leben.« (Far- land« (S. 29) für das deutsche Publikum er-
neth, S. 114) Dieser Stil ist vor allem dadurch schlossen, das die Songs, nun vom Kontext der
bestimmt, dass er Melodien aus der Unter- Oper gelöst, als Schlager rein kulinarisch ge-
haltungsmusik sowie aus der Kunstmusik auf- nießen konnte, wobei deren Herkunft oft gar
griff und umfunktionierte sowie dass er medi- nicht bewusst war. Weill und B. hatten damit
engerecht ist, konkret auch für Schallplatte erreicht, dass ihre Kunst wie »ein anonymes
und Rundfunk gedacht und von vornherein Volksgut« (Dümling, S. 169) aufgenommen
auch für diese Medien konzipiert war. Auf- und als solches zum kollektiven Allgemeinbe-
grund der massenhaften Verbreitung von Mu- sitz wurde. Das in der Oper angeprangerte
sik im Radio sowie »der Auflösung der tradi- Geldpapier setzte sich auf diese Weise für ihre
194 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

Urheber in reales Geld um. Dass dies geschah, szenierung in Kassel am 12. 3. 1930 vgl. GBA
dass die Strophen der Songs »nach Jahrzehn- 2, S. 464–469 und Knopf/Hennenberg). Allein
ten, in denen es volkstümliche Dichtung nicht die Berliner Inszenierung, die am 21. 12. 1931
gegeben hatte, jedermann bekannt« waren, ist Premiere hatte (Regie und Bühnenbild: Ca-
»in ihrer Sensationalität« immer noch nicht spar Neher), brachte es mit fast 50 Vorstellun-
genügend gewürdigt (Anders, S. 46). Maha- gen zu einem Serienrekord. Insgesamt jedoch
gonny ist »das Zentrum und der Gipfel der war das politische Klima in Deutschland
Zusammenarbeit« von Weill und B.: ihr »opus 1930/31 bereits so verpestet, dass die Erneue-
magnum« (Schebera, S. 124). rung der Oper, die mit Mahagonny angestrebt
war, keine Chancen mehr hatte; im Gegenteil:
als »abschreckende Beispiele« der »schlimm-
sten Zersetzungen unserer Kunst« wurden
Aufführungen Schallplattenaufnahmen aus Mahagonny in
den Ausstellungen »Entarteter Kunst« (Mün-
chen/Berlin 1937, Düsseldorf 1938) gespielt
»Von hier und heute geht eine Epoche aus, und (vgl. GBA 2, S. 469).
ihr könnt sagen, ihr seyd dabei gewesen«, zi- Die österreichische Erstaufführung in Wien
tierte Hans Polgar Goethe (Wyss, S. 110), um am 26. 4. 1932 (Regie: Max Brand und Hans
die aus der »Affäre Leipzig-Mahagonny« ent- Heinsheimer, Bühnenbild: Lissi Pisk) mit
standenen Folgen des Theaterskandals, den Lotte Lenja in der Rolle der Jenny stieß in der
die Uraufführung der Oper am 9. 3. 1930 im Presse auf massive Ablehnung, war jedoch
Neuen Theater Leipzig (Regie: Neher) aus- beim Publikum ein Erfolg wie auch die Pre-
löste, anzudeuten. Dass die »Epoche« nicht miere des umstrittenen Werks von einem re-
folgen durfte, war – als ob die Oper ihren gelrechten Gesellschafts-Rummel begleitet
eigenen Schluss vorausgenommen hätte – in war. Die Begeisterung freilich schrieb der Kri-
den politischen Zuständen am Ende der Wei- tiker B. (nicht identifiziert) »gewissen jungen
marer Republik begründet, hatte sie doch, wie Leuten« zu, »die auch in der Kunst Freiheit mit
der Programmzettel besagte, »lediglich die Anarchie verwechseln und sich durch manche
Konsequenz aus dem unaufhaltsamen Verfall besonders rohe und hemmungslose Textstel-
der bestehenden Gesellschaftsschichten« ge- len sozusagen parteimäßig angeregt fühlten«
zogen (GBA 2, S. 454). Mahagonny war nach (Wyss, S. 122). Ansonsten qualifizierte die
der Uraufführung vor allem politischer Zünd- Presse die Oper als eine »sinnlos zügellose
stoff, wie auch die Premiere bereits gezielt von Orgie rohester Instinkte und Ansichten«, in
Nationalsozialisten und Deutschnationalen der nur der »Haß gegen die Unzulänglichkeit
gestört worden war. Die gesamte deutsche der Welt« regiere. Dem »Nihilismus des Text-
Presse berichtete über den Uraufführungs- dichters« erweise sich die Musik Weills als
Krach. Ein Einspruch im Leipziger Stadtrat, ebenbürtig: »Diese den Jazzrhythmus bevor-
die Inszenierung vom Spielplan abzusetzen, zugende Musik schreckt vor den grellsten Ka-
scheiterte nach heftiger Debatte, so dass die kophonien nicht zurück«, und sie sei »eine
Oper am 16.3. zum zweiten Mal aufgeführt Pein für jedes an den Meistern der Tonkunst
werden konnte (insgesamt aber folgten nur hörend gewordene Ohr« (ebd.). Der Premie-
noch vier Aufführungen). Vertraglich verein- ren-Erfolg schlug sich in den weiteren elf Auf-
barte Inszenierungen in Essen, Oldenburg und führungen dieser Inszenierung nicht nieder.
Dortmund wurden vom Spielplan abgesetzt. Die letzte Inszenierung der Oper (Premiere
Die wenigen weiteren Inszenierungen in am 30. 12. 1933) zu Lebzeiten von B. und Weill
Braunschweig (Premiere: 12. 3. 1930) oder erfolgte durch eine »Operngesellschaft von
Frankfurt a. M. (15. 10. 1930) waren für die 1932« in Kopenhagen.
Nazis Anlass, die Aufführungen massiv zu stö- Die Inszenierung an der Hamburger Staats-
ren (zur Wirkung dieser und der weiteren In- oper 1962 (Regie: Egon Monk), als eine der
Aufführungen 195

ersten in der Nachkriegszeit, verwendete Ne- nische Hochleistung« (S. 125) führte zu einem
hers Tafeln aus der Uraufführung; sie war für der größten Theatererfolge in der DDR.
Hennig Rischbieter Anlass festzustellen, dass Als »Spiegelbild einer längst vergangenen
Mahagonny sich für Aufführungen nach wie Zeit« (Heinsheimer) dagegen wirkte die In-
vor lohne, dessen Text »zum Frischesten, Si- szenierung an der New Yorker Metropolitan
chersten, was Brecht überhaupt geschrieben Opera im Dezember 1979 (Regie: John Den-
hat« (Rischbieter, S. 33), gehöre. Von der Mu- ter) auf das mondäne Publikum, das dreifach
sik Weills war der Kritiker allerdings weniger erhöhte Preise zu zahlen gehabt hatte: ein hal-
begeistert, denn sie bilde mit dem Text keine bes Jh. nach einem »der wüstesten Theater-
Einheit: »Text und Musik fördern einander skandale der Geschichte [ … ] perlten die
nicht« (S. 32). Die »provozierende, hartnäk- Brechtschen Parolen an den New Yorker Hö-
kige Weltlichkeit, Diesseitigkeit« (ebd.) von rern ab wie Wasser an den Enten« (ebd.). Den-
B.s Text hingegen, sorge nach wie vor für seine noch befand die New York Times, dass Maha-
kulinarische Wirkung. gonny an die »Met« gehörte. Alle elf angesetz-
1964 inszenierte Giorgio Strehler Maha- ten Aufführungen waren bereits vor der Pre-
gonny an der Piccolo Scala in Mailand (Büh- miere ausverkauft, drei Liveübertragungen
nenbild: Lucio Damiani) als, wie Siegfried wurden im Fernsehen über das ganze Land
Melchinger befand, »Mysterienspiel« (Mel- ausgestrahlt, und eine Rundfunkübertragung
chinger, S. 32). Strehler habe es geschafft, erfolgte über vierhundert Stationen.
»jede Erinnerung an ein ideologisches Pro- Im Ballermann-Milieu Mallorcas mit Sauna-
gramm zu vernichten« und stattdessen die klubfreuden siedelte der Bühnenbildner Hel-
Kümmerlichkeit des Lebens hervorgehoben, mut Brade das aktuelle Mahagonny in der In-
dessen hemmungslosen Genuss das Lied Ge- szenierung an der Hamburger Staatsoper im
gen Verführung (GBA 2, S. 357 f.) empfiehlt. November 2000 an (Regie: Peter Konwit-
Die Inszenierung habe bewiesen, dass Maha- schny). Als Zielgruppe sah die Kritik die neue
gonny ein »Wurf«, »dessen Genialität im Werk »Spaßgesellschaft« der Bundesrepublik, deren
der beiden Autoren Brecht sowohl wie Weill, ›reifere‹ Jahrgänge sich aber nicht betroffen
was die Geschlossenheit von Inhalt und Form fühlten (Berndt). Auch wenn Claus Spahn die
anlangt, unerreicht ist« (Melchinger, S. 33). abgenutzten Topoi der (intellektuellen) B.-
Die Erstaufführung in der DDR fand am Schelte nochmals wiederholte – »alte klassen-
30. 4. 1977 an der Komischen Oper Berlin statt kämpferische Revoluzzerfreude«, »das auf-
(Regie: Joachim Herz, Bühnenbild: Reinhart dringliche Aroma von saurer Moral und poli-
Zimmermann). Herz verwendete Weills und tisch korrekter Volkshochschule« –, gestand er
B.s Oper als Rohstoff, um zu demonstrieren, doch ein, dass die Wirklichkeit den Maha-
dass, wie der Musikkritiker Hans Heinz Stuk- gonny-Stoff längst eingeholt habe: »Das Ant-
kenschmidt übermittelt, »im Fall der Netze- litz unserer Aktienfieber-Schmiergeld-Baller-
stadt die Prophetie des bitteren Endes« (Wyss, mann-Swinger-Gesellschaft, das uns (nicht
S. 123), nämlich des zweiten Weltkriegs und nur) aus den Medien entgegenblickt, lässt
der Nazi-Diktatur, bereits enthalten gewesen Brechts fratzenhaftes Zerrbild der anarchi-
war. Herz erreichte dies durch die Entfesse- schen Paradiesstadt [ … ] fast ein wenig blass
lung einer »Art totalen Schaustücks« (ebd.), aussehen«. Weills Musik klinge »vital wie eh
das die ursprüngliche Oper kaum mehr erken- und je«. Der Jubel, den die Inszenierung beim
nen ließ. In der Manier ›sozialistischer Futu- Publikum auslöste, habe jedoch kaum auf ein
rologie‹ habe die Inszenierung »Naziterror »kritisches Bewusstsein« gedeutet.
und Bombenkrieg« über die Zuschauer ausbre- Nach Theateraufzeichnungen der Oper, die
chen lassen (Wyss, S. 124), was »an der hoch- 1963 durch die ARD und 1970 durch das ZDF
politischen Deutung der Brecht-Weillschen ausgestrahlt worden waren, inszenierte Ru-
Oper keine Spur eines Zweifels« gelassen habe dolf Küfner die Oper speziell für das Fern-
(S. 123). Die »künstlerische und theatertech- sehen, und zwar im Studio des hessischen
196 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

Rundfunks unter Einbeziehung der Zuschauer v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1982, S. 114–122.
(Sendung in der ARD am 30. 11. 1977). Küfner – Anders, Alfred: Bert Brecht. Gespräche und Erin-
nerungen. Zürich 1962. – Berndt, Hans: Brecht/
griff auf die Fassung des Erstdrucks von 1929
Weill: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In:
zurück und veranstaltete ein Riesenspektakel Theater Rundschau 46 (Dezember 2000), S. 11. –
unter Verwendung einer Multivisionswand mit Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. In fünf Teilen,
Fress- und Sauforgien, Striptease, handgreif- Kapitel 33–42 (= Werkausgabe, Bd. 5). Frankfurt
licher Hinrichtung Paul Ackermanns sowie mit a. M. 1985. – Brecht, Bert/Weill, Kurt: Mahagonny-
einem aggressiven, optisch aufreizenden Fi- Songspiel. Das kleine Mahagonny. Urfassung 1927.
Hg. v. David Drew. Wien o. J. – Bronnen, Arnolt:
nale, mit dem der ›Spätkapitalismus‹ buch-
Tage mit Bertolt Brecht. Wien [u. a.] 1960. – Drew,
stäblich zu Grabe getragen wurde. Der bun- David: The History of Mahagonny. In: The Musical
desdeutschen Gesellschaft sollte das Zerrbild Times 104 (1963), S. 18–24. – Ders. (Hg.): Über Kurt
ihrer selbst vorgehalten werden. Die Inszenie- Weill. Frankfurt a. M. 1975. – Drew. – Dümling. –
rung stellte für das Fernsehen in dieser Zeit Hauff, Andreas: Mahagonnys Ursprung in Maha-
eine mutige Herausforderung dar. gonne. In: Mahagonny Quellen. Hg. v. Joanna Lee
[u. a.]. New York 1995, S. 5–9. – Ders.: Aufstieg und
Zum Jahreswechsel 1999/2000 schickten B.s
Fall der Stadt Mahagonny als Zeitstück. Historische
Tochter Hanne Hiob und die Schauspiel- Anmerkungen zu einer unterschätzten Repertoireo-
Truppe »Roter Wecker« einen Leichenzug als per. In: Eberl, Kathrin/Ruf, Wolfgang (Hg.): Musik-
»Totentanz des Jahrtausends« über die »Sylve- konzepte – Konzepte der Musikwissenschaft. Bericht
stermeile« von München, wobei nicht klar über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft
wurde, ob die Bundesrepublik oder (nur) die für Musikforschung Halle (Saale) 1998. Bd. II. Kas-
sel [u. a.] 2001, S. 661–668. – Heinsheimer, Hans:
Epoche des 20. Jh.s zu Grabe getragen werden
Vom Nihilismus zum Luxus. »Mahagonny« in der
sollte. B. habe mit Mahagonny das »präfaschi- Met. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. 12.
stische München« gemeint (http://maha- 1979. – Hennenberg, Fritz (Hg.): Brecht-Lieder-
gonny.-online.de). Getragen wurden die De- buch. Frankfurt a. M. 1985. – Ders./Knopf, Jan
monstrationstafeln aus dem Finale Mahagon- (Hg.): Brechts Aufstieg und Fall der Stadt Maha-
nys mit einigen Varianten, z. B. »Für die Ar- gonny. Materialien. Frankfurt a. M. 2001. – Herr-
mann, Hans-Christian von: Wo Mahagonny liegt.
beitslosigkeit« oder »Für die Ehre der
Bertolt Brecht, ein Dichter unter Bedingungen von
Mörder«. Man habe, so ein beteiligter Arbeiter Unterhaltungsmedien. In: Dreigroschenheft 2
bei einer Parallelveranstaltung in Bremen, (1995), S. 24–30. – Joost. – Kahnt, Harmut: Die
»den Mahagonnys die Milleniumsbesoffenheit Opernversuche Weills und Brechts mit »Maha-
ein wenig versalzen« wollen (ebd.). Eine Wie- gonny«. In: Kühn, Hellmut (Hg.): Musiktheater
derholung der Veranstaltung fand zum »Jahr- heute. Sechs Kongreßbeiträge. Mainz [u. a.] 1982. –
Lucchesi/Shull. – Melchinger, Siegfried: Maha-
tausendsylvester 2000/2001« statt (»vom Alex
gonny als Mysterienspiel. In: Theater heute (1964),
zum Brandenburger Tor«), um »die Straßen H. 5, S. 32–34. – Mennemeier, Franz Norbert: Mo-
Berlins mit Bertolt Brecht unsicher zu ma- dernes Deutsches Drama. Kritiken und Charakte-
chen« (ebd.). Hiob habe, so ein Bericht, »die ristiken. Bd. 1: 1910–1933. München 1973. – Ovidius
letzte Chance des Jahrtausends« genutzt, »der Naso: Metamorphosen. Übersetzt und hg. v. Michael
Bourgeoisie noch einmal die Maske vom be- von Albrecht. Stuttgart 1994. – Payrhuber, Franz-
Josef: Bertolt Brecht. Stuttgart 1995. – Rischbieter,
trunkenen Gesicht zu reißen: die Veranstal-
Henning: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In:
tung »hinterließ [ … ] im allgemeinen Sylve- Theater heute (1962), H. 10, S. 12 f. – Schebera,
sterfeldzug für mehr Fröhlichkeit einen her- Jürgen: Kurt Weill. Eine Biographie in Texten, Bil-
vorragenden Eindruck« (jöm). dern und Dokumenten. Leipzig 1990. – Sehm, Gun-
ter G.: Moses, Christus und Paul Ackermann.
Brechts Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. In:
BrechtJb. 1976, S. 83–100. – Seliger, Helfried W.:
Literatur: Das Amerikabild Bertolt Brechts. Bonn 1974. –
Adorno, Theodor W.: Mahagonny. In: Der Schein- Spahn, Claus: Nimm Brecht, du darfst es. In: Die
werfer [= Blätter der Städtischen Bühnen Essen] Zeit, 16. 11. 2000. – Völker. – Wagner, Gottfried:
(1930), H. 14, S. 111–118. In: Ders.: Musikalische Weill und Brecht. Das musikalische Zeitalter. Mün-
Schriften IV (= Gesammelte Schriften, Bd. 17). Hg. chen 1977. – Weill, Kurt: Mahagonny. Songspiel
197

nach Texten von Bert Brecht. Wien 1927. – Ders.:


Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny [Erstdruck].
Entstehung
Wien, Leipzig 1929. – Ders.: Ausgewählte Schriften.
Hg. v. David Drew. Frankfurt a. M. 1975. – Weisstein,
Ulrich: Von reitenden Boten und singenden Holz- Im Winter 1927/28 übersetzte Elisabeth
fällern: Bertolt Brecht und die Oper. In: Hinderer, Hauptmann das englische Stück The Beggar’s
S. 266–299. – Wyss. Opera (1728) von John Gay. Motiviert wurde
Jan Knopf sie durch das Presseecho dieses in England
wieder entdeckten und ab 1920 mit großem
Erfolg dort gespielten Stücks. »Aber daß das so
akut war in England – wegen dem Datum
1928 –, das hatte ich gar nicht so mitbekom-
Die Dreigroschenoper men«, erinnerte sich Hauptmann 1972 (Kebir,
S. 102). Galt in der Literatur bisher Haupt-
mann als ›Entdeckerin‹ der englischen Stoff-
In B.s Œuvre ist Die Dreigroschenoper sein vorlage für B., so wird neuerlich auch Helene
bekanntestes Werk. Unmittelbar nach ihrer Weigel dafür verantwortlich gemacht (ebd.).
Uraufführung wurde sie international zum Hauptmanns Rohübersetzung fand zunächst
treffendsten Ausdruck der 20er-Jahre in Berlin nur die geringe Aufmerksamkeit B.s, denn er
deklariert, zum Markenzeichen B.s und Kurt war zu dem Zeitpunkt mit Arbeiten am Jae
Weills sowie der zu Unrecht verklärten ›roa- Fleischhacker und am Fatzer befasst. Den Im-
ring twenties‹. Ihre Rezeptionsgeschichte ist puls gab der Schauspieler Ernst Josef Aufricht.
ungleich anderen Stücken mit einer Aura des Dieser war im Dezember 1927 nach Über-
Legendären behaftet, die bis heute kolportiert nahme der Leitung des Berliner Theaters am
wird. Diese besteht zum einen aus Verklärun- Schiffbauerdamm vor das Problem gestellt,
gen, Missverständnissen, Erinnerungslücken, mit einem möglichst erfolgreichen Stück die
zählebigen Anekdoten und (bis heute immer Theatersaison 1928/29, und mit ihr seine Di-
wieder) aufgeworfenen urheberrechtlichen rektion zu eröffnen. Aufricht führte Anfang
Fragen. Zum anderen weist sie eine ungesi- 1928 Verhandlungen mit einigen Dramatikern
cherte Quellenlage auf, die diametral zur in- und entschied sich schließlich, nachdem er
tensiven Aufführungspraxis steht, denn Die auch mit B. Gespräche geführt hatte, für das
Dreigroschenoper zählt weltweit in der Stati- nach wie vor unfertige, im Wesentlichen aus
stik zu den meistgespielten Stücken über- Hauptmanns Rohübersetzung bestehende
haupt. Ihr musikalisches ›Logo‹, Die Moritat Stück. Für die Komposition schlug B. – trotz
von Mackie Messer, existiert inzwischen in der Bedenken Aufrichts gegen dessen Musik –
über 200 verschiedenen Fassungen und reicht Weill vor, der zu diesem Zeitpunkt an der Oper
von der 1930 in Berlin entstandenen Schall- Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ar-
plattenaufnahme mit dem singenden B. bis beitete. Aufgrund von Presseveröffentlichun-
zum heutigen Werbetrailer für McDonald’s in gen, die vermutlich von Aufricht veranlasst
den USA. Wenn es etwas gibt, mit dem B. im wurden (vgl. Fischer, S. 2159), schrieb der Lei-
öffentlichen Bewusstsein assoziiert wird, dann ter der Opernabteilung in der Universal Edi-
ist es Die Dreigroschenoper. B. wusste dies, tion Wien Hans W. Heinsheimer am 10. 3. 1928
und so äußerte er skeptisch einige Jahre vor an den vertraglich mit seinem Verlag verbun-
seinem Tod, er werde »in die Literatur einge- denen Weill: »Wir entnehmen einer Zeitungs-
hen als ein Mann, der den Vers geschrieben notiz, daß Sie mit Bert Brecht die Bettler-Oper
hat: ›Erst kommt das Fressen, dann kommt die bearbeiten. Es würde uns sehr interessieren,
Moral.‹« (Mayer, S. 56). darüber Näheres zu hören.« (Archiv der Uni-
versal Edition, Wien).
Im Hinblick auf das festgesetzte Premieren-
datum (und den 30. Geburtstag Aufrichts) am
198 Die Dreigroschenoper

31. 8. 1928 stellte B. zwischen März und An- ten bereits am 5.5. nach Frankreich ab und
fang Mai aus Hauptmanns (nicht mehr vor- nahmen vom 26.5. bis 4.6. Quartier in der
handener) Rohübersetzung der englischen Hostellerie de la Plage in Saint Cyr. »Tag und
Vorlage und in enger Zusammenarbeit mit ihr Nacht« arbeiteten B. und Weill nach Auskunft
die erste Fassung her. Sie trug zunächst den Lenyas »wie die Verrückten, schrieben, änder-
Titel Gesindel, dann Die Luden-Oper. Auch ten, strichen, schrieben aufs Neue, und unter-
der Titel Die Mörder sind unter uns (BBA brachen ihre Arbeit nur, um ein paar Minuten
2106/02) wurde erwogen und dann wieder ans Meer hinunter zu gehen« (Weill-Lenya,
verworfen (1946 diente er als Titel für einen S. 223). In dieser Zeit entstanden eine neue
Spielfilm von Wolfgang Staudte). Ende April Textfassung sowie wesentliche Teile der Kom-
war der Text so weit gediehen, dass Weill mit position. Hier schrieb B. auch Liedtexte, die in
der Komposition beginnen konnte. B. und der ersten als Bühnenmanuskript gedruckten
Weill schlossen daraufhin am 26.4. mit dem Fassung enthalten sind, jedoch im nachfolgen-
Berliner Verlag Felix Bloch Erben einen Ge- den Probenprozess wieder entfernt wurden:
sellschaftsvertrag über die Bearbeitung von Als ich mein Brautkleid anzog, Die Jungfraun-
Gays Beggar’s Opera ab (Abbildung in: Far- ballade, Maria, Fürsprecherin der Frauen,
neth, S. 84; vgl. Fischer). Man einigte sich in Wenn’s einer Hur gefällt, Ballade von der Trau-
der Tantiemenaufteilung auf 62 1⁄2 % für B., auf rigkeit der Laster und Der Ehesong (GBA 14,
25% für Weill und auf 12 1⁄2 % für Hauptmann. S. 7–12). B. hat später Dritten (unter anderen
Nach der Vertragsunterzeichnung begann der auch Eric Bentley) gegenüber behauptet, er
Verlag in seiner hauseigenen Zeitschrift Chari- hätte eigene Melodien an Weill weitergege-
vari. Für Theater, Musik, Film und Rundfunk ben, die dieser dann in seine Musik zur Drei-
mit Anzeigen für das Werk zu werben. In der groschenoper übernahm (Hennenberg 1985,
ersten Ankündigung am 18.7. lautete der Titel S. 284). So sehr diese apodiktischen Behaup-
Des Bettler’s Oper. tungen zu relativieren sind, lassen sich doch
Die erste Textfassung wurde im Juni 1928 Spuren musikalischer Anregungen durch B.
vom Verlag als hektographiertes Bühnenmanu- nachweisen, den die musikalisch versierte
skript veröffentlicht und trug den Titel: The Hauptmann nicht nur hier als das »organisie-
Beggar’s Opera / Die Luden-Oper / Von John rende Zentrum der Song-Produktion« bezeich-
Gray [sic]. / Übersetzt von Elisabeth Haupt- nete (Kebir, S. 104). B.s erster professioneller
mann. / Deutsche Bearbeitung: Bert Brecht. Komponist war Franz S. Bruinier (vgl. Hen-
Musik: Kurt Weill (BBA 1782/1–66). Zwei Ex- nenberg 1987; Lucchesi 1985), der u. a. B.s
emplare davon, die dem Regisseur Erich Engel eigene Melodie zur bereits vor der Dreigro-
und seinem Regieassistenten Halewicz als Ar- schenoper entstandenen Seeräuberjenny auf-
beitsgrundlage für die Inszenierung dienten, zeichnete. Da sich in Weills späterer Komposi-
sind ebenfalls erhalten (BBA 2104/1–83, BBA tion die Refrainmelodie B.s wieder findet, ist
2106/1–146). hier eine unmittelbare musikalische Anregung
Da der Beginn der Theaterproben, wie aus durch B. nachzuweisen. Auch der ebenfalls vor
einem Brief Weills an die Universal Edition der Dreigroschenoper entstandene Barbara-
vom 22. 7. 1928 hervorgeht (Archiv der Uni- Song wurde von Bruinier mit einer Melodie
versal Edition, Wien), für den 10.8. festgelegt B.s aufgezeichnet, von Weill jedoch nicht
worden war und die verbleibende Zeit zur Fer- übernommen. Musikalische Anregungen ka-
tigstellung des Stücks für B. und Weill knapp men auch von Hauptmann, die nach dem Stu-
wurde, entschlossen sich beide zu einem Ar- dium von Pepuschs Musik vorschlug, lediglich
beitsurlaub im südfranzösischen Saint Cyr dessen erste ›Air‹ Thro’ all the emloyments of
(Hecht, S. 246; in der Sekundärliteratur sowie Life zu belassen, die dann von Weill für den
in der GBA 2, S. 425, wurde bisher irrtümlich Morgenchoral des Peachum verwendet wurde
Le Lavandou angegeben), wo sich B. vom 10.5. (vgl. Kebir, S. 102).
bis 13.6. aufhielt. Weill und Lotte Lenya reis- Weill berichtete der Universal Edition am
Entstehung 199

4. 6. 1928, seinem vermutlichen Abreiseter- wieder gestrichen, nur der von Weill vertonte
min, aus St. Cyr: »Unterdessen arbeite ich mit Pollys Song (eine Übersetzung von Kiplings
Hochdruck an der Komposition der Beggar’s Mary, Pity Woman) blieb erhalten, doch zu-
Opera, die mir viel Spaß macht. Sie wird in nächst unaufgeführt. Die Bühnenrolle der
einem sehr leicht sangbaren Stil geschrieben, Frau Coaxer wurde entfernt, da Helene Weigel
da sie ja von Schauspielern aufgeführt werden aus Krankheitsgründen plötzlich ausfiel, und
soll. Ich hoffe bis Ende Juni damit fertig zu schließlich der Titel selbst, wohl auf einen
sein, um dann in einem Zuge Mahagonny fer- Vorschlag Lion Feuchtwangers hin, kurzfristig
tigzustellen.« (Archiv der Universal Edition, in Die Dreigroschenoper geändert. Carola Ne-
Wien) B. schrieb Mitte Juli an Helene Weigel: her (in der Rolle der Polly) unterbrach die
»ich habe ›Beggar’s Opera‹ usw. fertiggemacht Probenarbeit und reiste am 14.8. zu ihrem
und war fast immer schlecht gelaunt, weil es sterbenden Ehemann Klabund nach Davos ab.
zu heiß war« (GBA 28, S. 306). Weill bemühte Statt ihrer wurde Roma Bahn verpflichtet. We-
sich unterdessen um die Herstellung des Stim- gen der tiefen Stimmlage von Kate Kühl (Dar-
menmaterials durch die Universal Edition auf stellerin der Lucy) musste die Szene 8 ge-
der Grundlage des von ihm selber hergestell- strichen werden, da sie die darin enthaltene
ten Klavierauszugs. Doch hatte er sich mit dem opernparodistische Arie der Lucy nicht bewäl-
Abschlusstermin seiner Komposition ver- tigen konnte. Die kolportierten Berichte über
schätzt, bat er noch am 22.7, den Klavieraus- dramatische Zuspitzungen vor der Urauffüh-
zug »als Ganzes vorläufig noch nicht zu ver- rung sind zahlreich und tragen oft zweifel-
vielfältigen, da die Nummerneinteilung noch haften anekdotischen Charakter.
nicht feststeht und auch noch zwei Nummern Weill schrieb am 21.8. seinem Verlag, dass
fehlen.« Da er Schauspieler habe, mit denen er die Orchesterproben am 25.8. begännen und
vom ersten Probentag an musikalisch intensiv er froh darüber sei, dass das Stimmenmaterial
arbeiten wolle, drängte er auf eine rasche Her- wegen der knappen Zeit im Auftrag der Uni-
stellung der fertigen Teile (Archiv der Univer- versal Edition nun in Berlin hergestellt würde.
sal Edition, Wien). Zugleich bat er, beim Theater am Schiffbau-
Bis zum Tag der Uraufführung, ja nur we- erdamm durchzusetzen, dass »der Musik der
nige Stunden vor dem Spielbeginn, wurde die ihr gebührende Platz eingeräumt wird« (Far-
Bühnenfassung durch probenbedingte Striche neth, S. 89). Er befürchtete, dass man am
oder Hinzufügungen gravierend verändert. Theater etwas »Angst vor der Durchschlags-
Tatsächlich ›aufgeführt‹ wurde eine den Pro- kraft der Musik« habe und dass seine Kompo-
benverhältnissen geschuldete Fassung, die sition »in Ankündigungen, Pressenotizen usw.
sich erheblich von allen nachfolgenden mehr als Bühnenmusik ausgegeben« werde,
(Druck-)Fassungen unterschied: der Salomon- »obwohl sie mit ihren 20 Nummern weit über
Song wurde aus Zeitgründen gestrichen, die den Rahmen einer Schauspielmusik hinaus-
Ballade von der sexuellen Hörigkeit konnte geht« (ebd.). Nach der Generalprobe, bei der
wegen moralischer Bedenken Rosa Valettis ge- die Inszenierung noch um eine Dreiviertel-
genüber dem Text nicht gegeben werden, die stunde gekürzt wurde, kam es am Abend des
Moritat von Mackie Messer wurde erst kurz 31. 8. 1928 zur Uraufführung. Hauptmann wi-
vorher hinzugefügt. Hauptmann widersprach dersprach jedoch der verbreiteten Auffassung,
jedoch der weithin kolportierten Darstellung, dass diese zu einem triumphalen Erfolg für B.
dass Harald Paulsen auf einem Einführungs- und Weill wurde. Vielmehr sei im Publikum
song bestanden hätte. Vielmehr habe die Mo- ein skeptisches, ja kritisches Verhalten deut-
ritat »einen dramaturgischen Zweck [ … ]: lich geworden, auch nach dem Erfolg des Ka-
schon auf den ganzen Inhalt zu verweisen, eine nonensongs. Vor allem B.s neue theatrale Mit-
Zusammenfassung« (Kebir, S. 105). Die be- tel wie offener Szenenumbau usw. wirkten be-
reits auf dem Premierenzettel angekündigten fremdlich. »Nein, das Publikum reagierte
Texte von Ruyard Kipling wurden sämtlich sauer. [ … ] Wir waren am nächsten Tag durch
200 Die Dreigroschenoper

die Kritik ja ganz baß erstaunt. Das war doch eine weitere Fläche für Nehers Bühnenpro-
ganz merkwürdig, als das mittags raus kam.« jektionen. Der halbhohe Vorhang (die so ge-
(Kebir, S. 107, vgl. S. 106). Hauptmanns Ur- nannte ›Brecht-Gardine‹), spielte nicht nur
aufführungsbericht lässt schlussfolgern, dass auf improvisiertes Straßentheater und dessen
einer der größten Theatererfolge der Weima- ärmliche Verhältnisse an, sondern ermöglichte
rer Republik mit über 350 Aufführungen in- den Zuschauern auch das Beobachten von
nerhalb zweier Jahre durch die Printmedien Theaterarbeit: der Sichtbarmachung des Sze-
entschieden stimuliert wurde. nenumbaus beim Blick über die Gardine als
Die diffizile Entstehungsgeschichte und kol- antiillusionistischen Effekt (vgl. Abbildung in:
lektive Produktion der Dreigroschenoper fan- Farneth, S. 91). Die Dreigroschenoper ist zu-
den ihren Niederschlag im Programmzettel gleich ein Musterbeispiel für B.s episches
der Uraufführung, der in seiner Ausführlich- Theater, wie am Beispiel der zweiten Szene
keit ungewöhnlich ist: »Die Dreigroschen- des ersten Aktes nachgewiesen worden ist
oper / (The Beggar’s Opera) / Ein Stück mit (vgl. Die Stücke. Einleitung, BHB 1; Knopf,
Musik in einem Vorspiel und 8 Bildern nach S. 117–120). Neu ist auch das Agieren des Or-
dem / Englischen des John Gay. / (Eingelegte chesters auf dem hinteren Teil der Bühne, so-
Balladen von Francois Villon und Rudyard zusagen in einem künstlichen Orgelprospekt,
Kipling) / Übersetzung: Elisabeth Haupt- dessen Glühlampen-Beleuchtung ein Zitat aus
mann / Bearbeitung: Brecht / Musik: Kurt B.s Augsburger Zeit und seinem Gedicht Oh!
Weill / Regie: Erich Engel / Bühnenbild: Ca- Ihr Zeiten meiner Jugend! gewesen sein
spar Neher / Musikalische Leitung: Theo Mak- könnte. Daraus resultierte, dass das Agieren
keben / Kapelle: Lewis Ruth Band.« (Abbil- der Schauspieler mit dem Rücken zum Diri-
dung in: Farneth, S. 90) Wenn in den jüngsten genten und den Musikern eine »Asynchronizi-
Diskussionen um Urheberschaftsfragen immer tät zwischen Musik und Text, also ein leichtes
wieder auch Die Dreigroschenoper als ›Fall‹ Aus-dem-Takt-Singen« begünstigte und da-
herangezogen worden ist (vgl. Fischer), so ist durch als eingebautes Störmoment Einfühlung
diesem Dokument keine Unterlassung nach- verhinderte (Pache, S. 211). Embleme, Sze-
zuweisen. nenüberschriften, Aus-der-Handlung-treten,
Die aus sieben Musikern bestehende Lewis Lichtwechsel, abrupte Wechsel vom Sprechen
Ruth Band – für die Uraufführung zeitmodisch in den Gesang, vom Agieren auf der Bühne
amerikanisiert nach ihrem Flötisten und Saxo- zum statuarischen Ansingen des Publikums
phonisten Ludwig Rüth – spielte im Bühnen- vor geschlossenem Vorhang, sichtbarer Umbau
hintergrund auf einem Podest mit einer Orgel- auf der Bühne: all das waren die Mittel B.s, die
attrappe, emblematisch als ›Musik-Symbol‹ einzig dem Zweck dienten, das Publikum zum
genutzt. Geleitet wurde dieses äußerst flexible Mit-Denken zu bewegen.
Ensemble, dessen Musiker jeweils mehrere Hinzu kommt, dass für den Theatermann B.
Instrumente beherrschten, von dem vom Kla- das epische Theater kein theoretisches Ge-
vier aus dirigierenden Mackeben. Dies erklärt, spinst war, sondern sich auf der Bühne konkret
dass die 23 Instrumente erfordernde Musik bei zeigen ließ, und zwar mit Schauspielern, die es
der Uraufführung nur von knapp einem Drittel damals vermochten, B.s und Weills Intentio-
an Musikern realisiert wurde. Gegen den Wi- nen spielerisch und musikalisch umzusetzen.
derstand von Engel setzte B. neue Mittel des B. betonte: »Tatsächlich ist das epische Theater
epischen Theaters ein, die er später als ›Tren- eine sehr künstlerische Angelegenheit, kaum
nung der Elemente‹ (vgl. GBA 22, S. 156; GBA zu denken ohne Künstler und Artistik, Phanta-
24, S. 79) bezeichnete: Es entstanden Projek- sie, Humor, Mitgefühl, ohne das und viel mehr
tionsflächen für die »Literarisierung des Thea- kann es nicht praktiziert werden. Es hat unter-
ters« (GBA 24, S. 58), also der Einblendung haltend zu sein, es hat belehrend zu sein.«
von kommentierenden, sich widersprüchlich (GBA 22, S. 378 f.) Die Widersprüche werden
zum Gezeigten gebenden Szenentitel, sowie schon im Titel unvermittelt stehen gelassen,
Entstehung 201

denn Die Dreigroschenoper ist keine Oper, versal Edition Wien und dem Verlag Felix
sondern »Ein Stück mit Musik« (so der Unter- Bloch Erben gemeinsam veröffentlicht unter
titel der ersten Ausgaben). Die sie bei der dem nun lautenden Titel: Die / Dreigroschen-
Uraufführung und späterhin Aufführenden oper / (The Beggar’s Opera) / Ein Stück mit
stammten aus verschiedenen theatralischen Musik in einem Vorspiel / und acht Bildern
Sparten: vom Kabarett kamen Rosa Valetti, nach dem Englischen des John Gay. / Übersetzt
Roma Bahn, Kate Kühl und Kurt Gerron, von von Elisabeth Hauptmann / Deutsche Bearbei-
der Operette Harald Paulsen und vom Sprech- tung von / Bert Brecht / Musik von / Kurt Weill.
theater Lotte Lenya, Carola Neher, Ernst Diese erste Druckfassung des Stücktexts er-
Busch und Erich Ponto. Die einzige musikali- schien im Oktober 1928 mit einer Auflage von
sche Einlage, die selbstreferentiell und par- 300 Exemplaren. Eine zweite Auflage kam im
odistisch auf die Oper verweist, ist die Arie der November 1928 und eine dritte im Dezember
Lucy, die einen Koloratursopran verlangt, der 1929 mit jeweils 500 Exemplaren heraus (Hin-
bei der Uraufführung nicht vorhanden war. ton, S. 13). Dieser Druck unterscheidet sich
Erst im November 1932 wurde diese nur in von den nachfolgenden Editionen nicht nur
Klavierbegleitung vorliegende Arie in der durch abweichende Text-Passagen sowie durch
Zeitschrift Die Musik separat als Notendruck ausführlichere Regieangaben, sondern auch
und mit einem Kommentar Weills veröffent- durch Hinweise auf Zwischenaktmusiken, die
licht (Abbildung in: Farneth, S. 95; vgl. Weill, entweder aus gesungenen Liedern oder in de-
S. 141 f.). B.s Text wurde in die GBA nicht mit ren instrumentaler Version bestanden. Diese
aufgenommen, da er den gewählten Editions- die Umbaupausen überbrückenden und z. T.
prinzipien widerspricht. Es wurde allerdings wohl improvisierten Musikeinlagen sollen bei
versäumt, ihn im Kommentar zur Dreigrosche- der Uraufführung gespielt worden sein (Hen-
noper zu berücksichtigen. Er lautet (unter Hin- nenberg 1984, S. 382).
zufügung von Versgrenzen, die in der Original- Es nimmt nicht wunder, dass sich andere
quelle fehlen): »Eifersucht! Wut! Liebe und Verlage den einsetzenden Erfolg der Dreigro-
Furcht / zugleich reißen mich in Stücke. / Vom schenoper zunutze machen wollten. So er-
Sturm hin und her geworfen, / von Kummer schien bereits im Oktober 1928 im Potsdamer
zerbrochen. / Das Rattengift steht bereit. / Seit Gustav Kiepenheuer Verlag eine erste, sepa-
gestern kommt sie alle paar Stunden her, / um rate Edition von Songs unter dem Titel Brecht
mich zu sprechen. / O dieses falsche Aas! / / Die Songs der / Dreigroschenoper (ohne No-
Wahrscheinlich will sie sich / an meiner Ver- tenbeigabe) mit einer Auflagenhöhe von 10 000
zweiflung weiden! / O Welt! O Menschen! Wie Exemplaren, die nach zwei weiteren Nach-
seid ihr schlecht! / Diese Dame kennt mich drucken insgesamt 25 000 Exemplare er-
noch nicht. / Meinen Gin wird sie nicht trin- reichte. Diese Edition löste die in der Öffent-
ken, / damit sie nachher mit ihrem Mackie lichkeit stark beachtete ›Plagiatsaffäre‹ aus,
lustig sein kann. / Sie stirbt durch meinen indem Alfred Kerr im Berliner Tageblatt am
Gin! / Sie stirbt durch meinen Gin! / Sie stirbt! 3. 5. 1929 unter dem Titel Brechts Copyright
Sie stirbt! Sie stirbt! / Ja, hier! Hier! will ich B. des widerrechtlichen Plagiats von Villon-
sie sich winden sehen. / Ich rette ihm das Balladen in der Übertragung Karl Klammers
Leben. / Und diese Person soll den Rahm ab- (Pseudonym: K. L. Ammer) bezichtigte. B.
schöpfen? / Wenn ich dieses Mensch vergifte, hatte später betont, dass »Anführungszeichen
/ dann kann die Welt aufatmen.« (Weill/ [ … ] riesig schwer zu dramatisieren« seien
Brecht) (GBA 29, S. 57), und beglich die Affäre damit,
Die (nach der Uraufführung) vorliegende dass er 2 1⁄2 % seiner Tantiemen an Klammer
Bühnenfassung – bestehend aus der überar- abtrat.
beiteten Luden-Oper sowie den die praktische Die Veröffentlichung der Musik erfolgte erst
Probenarbeit widerspiegelnden Regiebüchern nach der Premiere. Während die Universal
von Engel und Halewicz – wurde von der Uni- Edition, durch den Medientriumph aufgerüt-
202 Die Dreigroschenoper

telt, telegraphisch von Weill am 1.9. den Kla- nie in Angriff genommen, stattdessen erschien
vierauszug anforderte (Archiv der Universal im November 1928 der Klavierauszug (UE
Edition, Wien), konnte dieser nicht unmittel- 8851), eingerichtet von Norbert Gingold. (Die
bar liefern, weil durch die vielen Änderungen Ballade von der sexuellen Hörigkeit war hier
während der Proben dem Komponisten keine nicht enthalten.) Weiterhin stellte der Verlag
Zeit blieb, das gesamte Notenmaterial in eine parallel dazu eine Klavierdirektion als Leih-
druckreife Form zu bringen. Fünf Tage später material her.
mahnte der Verlag mit einem weiteren Tele- In der Herstellungsphase des Klavieraus-
gramm (ebd.). Am 7.9. antwortete Weill, dass zugs unterbreitete Weill der Universal Edition
die Partitur im Theater für die laufenden Vor- in einem am 24.9. eingegangenen Brief fol-
stellungen benötigt würde und er augenblick- gende Idee: »Herr Karl Koch, einer unserer
lich noch damit beschäftigt sei, die Partitur besten Filmproduzenten, hat große Teile der
»nach den Erfahrungen der hiesigen Auffüh- Dreigroschenoper während der Aufführung fil-
rung fertig einzurichten, und den Klavieraus- misch aufgenommen. Aus diesem Material
zug mit dem Textbuch genau in Einklang zu könnte man etwa 50 hervorragend gelungene
bringen«, was eine »ziemlich große Arbeit« sei Fotografien, in denen dann sämtliche für eine
(ebd.). »Außerdem mußte ich manches«, be- Aufführung wichtigen Stellungen und Stel-
tonte Weill in einem weiteren Brief vom 12.9., lungswechsel zu sehen wären, auswählen, ver-
»was ich bei den hiesigen Musikern nur anzu- größern und auf vier Seiten dem Klavierauszug
sagen brauchte, für die gedruckte Ausgabe erst beifügen. Dies wäre eine ganz moderne, bis-
fixieren« (ebd.). Er deutete als weiteren Grund her einzigartige Neueinführung, die den Wert
für die Verzögerungen an, dass die Partitur für des Klavierauszugs für die Bühnen, aber auch
eine in Kürze zu erwartende Schallplattenauf- für das kaufende Publikum außerordentlich
nahme benötigt würde. Am 10.9. bat er, bei der steigern würde« (Farneth, S. 95). Der Verlag
Herstellung des Klavierauszuges der Nr. 2 lehnte jedoch aus Kostengründen diese Anre-
(Moritat) Folgendes hinzuzufügen: »Dieses gung ebenso ab wie den für die Umschlagge-
Stück kann bei den Auftritten des Macheath staltung vorgesehenen Neher. Das für eine Do-
mehrfach leise im Orchester angestimmt wer- kumentation der Uraufführung so wichtige
den. Zu Beginn der 8. Scene [sic] wird es in Filmmaterial ist verschollen.
langsamem Tempo als Trauermarsch gespielt.« 1929 gab die Universal Edition noch sechs
(Ebd.) Diese und andere Aufführungshinweise Songs in Einzelausgaben für Gesang und Kla-
Weills wurden jedoch aus ungeklärten Grün- vier heraus (angekündigt als Kanonensong,
den in den publizierten Klavierauszug nicht Barbarasong, Ballade vom angenehmen Le-
übernommen. Im selben Brief schrieb Weill ben, Liebeslied, Seeräuber-Jenny und Tango-
weiterhin: »Es scheint vor allem, daß das Ballade). Hinzu kamen ebenfalls die von Jerzy
Stück eine völlige Revolutionierung der ge- Fitelberg eingerichteten Ausgaben des Kano-
samten Operetten ›Industrie‹ mit sich bringt nensongs und der Tango Ballade für Jazzor-
[ … ]. In jedem Fall erscheint auch mir das chester. Der Berliner Ullstein Verlag publi-
wichtigste, fertig zu bringen, daß die Schlager zierte darüber hinaus in seiner beliebten Reihe
in spätestens 2 Wochen in Caféhäusern usw. Musik für alle, einer Notensammlung zur
gespielt werden.« (Ebd.) Da Weill am 12.9. Pflege guter Hausmusik, 1929 zehn Songs so-
neben der Partitur die Einrichtung einer Kla- wie die Ouvertüre in leichten Klaviersätzen
vierdirektionsstimme (zur Leitung des Diri- mit beigefügtem Text.
genten vom Klavier / Harmonium aus) brief- Auch der Konzertsektor wurde vom Erfolg
lich forderte (ebd.), machte ihm der Verlag am beeinflusst. Der renommierte Geiger Stefan
nächsten Tag den Gegenvorschlag, die Her- Frenkel legte 1929 bei der Universal Edition
stellung einer »richtigen Partitur entfallen« zu eine Bearbeitung Weill-Frenkel / Sieben
lassen (ebd.). Dies geschah dann auch. Eine Stücke / nach der / Dreigroschenoper / Violine
gedruckte Partitur wurde zu Lebzeiten Weills und Klavier vor, die 1932 in einer spieltech-
Entstehung 203

nisch erleichterten Ausgabe nochmals er- tale Jazz-Bearbeitungen vom Haller-Revue-


schien (Hennenberg 1984, S. 383). Otto Klem- Jazz-Orchester und von Paul Godwin mit sei-
perer schließlich beauftragte Weill mit der nen Jazz-Symphonikern. Auch B. ist mit zwei
Komposition einer Orchestersuite, die in Blä- Songs zu hören, mit der Moritat von Mackie
serbesetzung und unter Rückgriff auf die be- Messer und dem Lied von der Unzulänglichkeit
liebtesten Songs unter dem Titel Kleine Drei- menschlichen Strebens, den, neben dem später
groschen-Musik am 7. 2. 1929 in der Berliner produzierten Kälbermarsch einzigen tondoku-
Staatsoper uraufgeführt wurde. Adorno mentarischen Zeugnissen des ›singenden B.‹.
schrieb dazu: »Es beginnt mit der Händel-Ou- 1929 erschien außerdem ein Tanzpotpourri
vertüre aus Nachtcafé-Perspektive, mit Stra- mit dem im Berliner Hotel Adlon aufspielen-
winskyschen verkürzten und zerdehnten Ka- den Orchester Marek Weber und gab Zeugnis
denzen, Posaune und Tuba fungieren, zu nah von der schnell beliebt werdenden Musik
gleichsam im Klang, als schreckhaft rohe Weills. Diese Produktionen hatten wesentli-
Überbässe. [ … ] Zu guter Letzt das leibhaftige chen Anteil an der weiteren Popularisierung
Potpourri [ … ]. Das ist alles, kaum eine Melo- des Werks.
die fehlt, sie ziehen gedrängt vorbei, so ge- Wird dazu noch der unter der Regie von
drängt, daß manchmal eine in die andere gerät Georg Wilhelm Papst entstandene Spielfilm
und sie stößt; und in ihrem engen Zuge halten Die Dreigroschenoper von 1930/31 sowie der
sie sich aneinander, die verstümmelten, ge- 1933/34 im Exil geschriebene und im Amster-
schädigten und abgenutzten und doch wieder damer Verlag Allert de Lange veröffentlichte
aufrührerischen, die sich zum Demonstrati- Dreigroschenroman hinzugezählt, in dem sich
onszug formieren.« (Adorno, S. 542 f.) Mit fast alle Songtexte, z. T. gekürzt, als Mottos
dieser ›geschärften‹ Musik ist Weill den Inten- wieder finden, entsteht das Modell einer völ-
tionen B.s näher, als es für beide in der Drei- lig neuartigen Marketing-Strategie, welches
groschenoper der Fall war; denn es fehlt hier die Praktiken des späten 20. Jh.s mit seinem
der romantisch-versöhnliche Ton, das Lyri- medial vernetzten Kunstbetrieb bereits längst
sche (vgl. Lucchesi 1994, S. 328). Für die Pari- vorausgenommen hatte. Der Dreigroschen-
ser Produktion der Dreigroschenoper 1937 un- Komplex gehört mit seiner in alle medialen
ter Aufricht komponierte Weill zu einem Text (und sozialen) Bereiche hineinwirkenden Di-
von Yvette Guilbert (Frau Peachum) eine wei- mension zu dem gewichtigsten Teil von B.s
tere Songeinlage. Und ein Jahr später griff Gesamtwerk (vgl. Wöhrle 1988, S. 87–156).
Weill nochmals auf seine Kleine Dreigroschen- 1931 publizierte B. Die Dreigroschenoper im
musik bearbeitend zurück, als er für das Lon- Heft 3 der Versuche zusammen mit dem Drei-
doner Westminster Theatre sein unveröffent- groschenfilm und dem Dreigroschenprozeß. In
lichtes Ballett Judgment of Paris schrieb. seinen Anmerkungen zur Dreigroschenoper,
Die Schallplattenindustrie reagierte eben- die in diesem Versuche-Heft erstmals erschie-
falls schnell. Elf Firmen produzierten zwi- nen, und dann in seinem längeren Beitrag
schen 1929 und 1931 die Musik sowohl in Über die Verwendung von Musik für ein epi-
modischer Bearbeitung als auch in teilweiser sches Theater von 1936 untermauerte B. Die
Originalbesetzung. Für die Ultraphon/Tele- Dreigroschenoper theoretisch. Hier jedoch,
funken-Produktion Aus der 3-Groschenoper wie auch in anderen Fällen, kam B. erst im
am 7. 12. 1930, zu der Lenya, Erika Helmke, Rückblick und von veränderten Positionen aus
Willy Trenk-Trebitsch, Kurt Gerron und Ponto zu Schlussfolgerungen, die das Stück im Nach-
verpflichtet wurden, verfasste B. eigens von hinein aufluden. Dies führte zu einer entschie-
Gerron eingesprochene Zwischentexte (vgl. denen Diskrepanz zwischen dem theoreti-
GBA 24, S. 68-70, S. 474 f.; vgl. Hinton, S. 1- schem Anspruch und der ihm durch den Erfolg
7). Auf den Labels Homocord und Orchestrola suspekt gewordenen Aufführung. Stand in den
hörte man die Stimmen von Carola Neher, wenigen Monaten der Entstehung naiver Spaß
Paulsen und Gerron. Hinzu kamen instrumen- im Vordergrund – Hauptmann soll 1966 mitge-
204 Die Dreigroschenoper

teilt haben: »Vergessen Sie nicht, in jenen Jah- Werks zwischen 1946 und 1949 lagen zum ei-
ren haben wir oft einfach Sachen gemacht, nen in den veränderten historischen Bedin-
weil sie uns Spaß machten«. (Hill, S. 56)-, so gungen im Nachkriegsdeutschland und ihrer
bekannte B. 1933 in einem wahrscheinlich fik- zwangsläufigen Rückwirkung auf die Werkre-
tiven, in die GBA nicht mit aufgenommenen zeption, zum anderen aber auch in dem juristi-
Interview: »Was, meinen Sie, machte den Er- schen Kunstgriff, mittels einer Neubearbei-
folg der Dreigroschenoper aus? / Ich fürchte, tung die noch bestehende vertragliche Bin-
all das, worauf es mir nicht ankam: die ro- dung mit dem Verlag Felix Bloch Erben lösen
mantische Handlung, die Liebesgeschichte, zu können. Abgesehen von der bereits 1933 aus
das Musikalische. Als die Dreigroschenoper aktuellem Anlass entstandenen Moritat vom
Erfolg gehabt hatte, machte man einen Film Reichstagsbrand verfasste B. 1946 in den USA
daraus. Man nahm für den Film all das, was ich noch zwei weitere Bearbeitungen: Die Ballade
in dem Stück verspottet hatte, die Romantik, vom angenehmen Leben der Hitlersatrapen
die Sentimentalität usw., und ließ den Spott und Der neue Kanonen-Song. Zwei Jahre spä-
weg. Da war der Erfolg noch größer. / Und ter folgten die Bearbeitungen der Moritat, der
worauf wäre es Ihnen angekommen? / Auf die Ballade vom angenehmen Leben sowie der
Gesellschaftskritik.« (Lucchesi/Shull, S. 145 f.; Ballade, in der Macheath jedermann Abbitte
vgl. GBA 22, S. 883) leistet. Der Gebrüder Weiss Verlag Berlin ver-
Die in den Versuchen veröffentlichte Text- öffentlichte 1949 eine Textausgabe von Songs
fassung der Dreigroschenoper hat vor allem aus der Dreigroschenoper, in der, neben den
mit ihrem Urbild, aber auch den ersten Text- ursprünglichen Textfassungen (GBA 2, S. 309–
drucken recht wenig zu tun. Da aber diese 315), auch die neuen Bearbeitungen wieder-
Fassung für die Veröffentlichung in der GBA gegeben waren (vgl. GBA 2, S. 309–315; GBA
ausgewählt wurde, haben sich die Herausge- 11, S. 334 f.)
ber für einen Text entschieden, der im Wider- Im gerade gegründeten Verlag seines lang-
spruch zu ihrem eigenen editorischen Prinzip jährigen Freundes Peter Suhrkamp erschien
des Erstdrucks steht; auch haben sie offenbar Anfang 1950 ein weiteres, mit Die Dreigro-
das Libretto nicht als eigenständige Textfas- schen-Oper betiteltes Bühnenmanuskript, in
sung erkannt. Somit können die komplizierten dem zwei Songs (Ballade von der sexuellen
Stufen dieses ›work in progress‹-Arbeitens Hörigkeit und Anstatt-daß-Song) nicht aufge-
(ein typisches, lebenslanges Kennzeichen für nommen wurden. Weiterhin bearbeitete B.
B. und Weill) nicht hinreichend dokumentiert 1948/49 für diese Edition einige Szenen (vgl.
werden. Tatsächlich hätte die vom Oktober GBA 2, S. 315–322), in denen vor allem Krüp-
1928 stammende erste Druckfassung die Text- pel auftreten. Am 28. 1. 1949 schrieb er in
grundlage für die GBA bilden müssen. In ihr einem Brief an Weill: »Die Szenenänderungen
wären dann auch die Songtexte enthalten ge- habe ich gemacht aus sehr einfachen Gründen:
wesen, die nunmehr in der GBA an einem Die Krüppelkopien des Herrn Peachum sind
anderen Ort veröffentlicht sind (Band 11). im Augenblick in Deutschland nicht attraktiv,
1938 erschien Die Dreigroschenoper im er- da im Zuschauerraum selbst zu viele echte
sten Band der vom Malik-Verlag London (Kriegs-)Krüppel oder Anverwandte von
edierten Gesammelten Werke, parallel dazu Krüppeln sitzen. Es mußte da einfach ein Er-
kam im selben Verlag eine Einzelausgabe des satz gefunden werden. Glücklicherweise
Stücks heraus. Die Änderungen gegenüber der konnten die Änderungen so klein sein, daß sie
Versuche-Fassung von 1931 sind geringfügig. den Charakter des Stückes nicht verändern.
Auch hier ist die direkte oder indirekte Zensur Hier wie in den Zusatzstrophen der Songs han-
wirksam: die dritte Strophe der Zuhälterbal- delt es sich tatsächlich nur um eine zeitweilige
lade ist ebenso ausgelassen wie die Ballade Änderung, die nur für diese Zeit gelten (und
von der sexuellen Hörigkeit. auch nicht gedruckt werden) soll.« (GBA 29,
Die Gründe für B.s Neubearbeitung des S. 494) Weill, der im März 1950 in New York
Entstehung 205

verstarb, hatte diese Neufassung jedoch nicht die Methode des Materialgebrauchs mittels
autorisiert. Plünderung auszeichnete. Zunächst konnte
Gays Werk auf dem europäischen Kontinent
keine Verbreitung erfahren. Grund dafür wa-
ren zum einen die spezifischen, nur im eng-
Die Vorlagen, die Intertextualität lischen Kontext verständlichen Anspielungen,
die eine Rezeption erschwerten. Zum anderen
konnte die Effizienz der deutschen und franzö-
Die Geschichte der Dreigroschenoper reicht sischen Zensur die Aufführung des Stücks ver-
ins 18. Jh. zurück. 1725 wurde in London Jo- hindern. Allerdings gelangte der Text durch
nathan Wild hingerichtet, der Anführer einer Übersetzungen in die Öffentlichkeit. Die deut-
verzweigten kriminellen Organisation, die sche Übersetzung erschien unter dem Titel Die
sich nicht nur durch zahlreiche Raubzüge aus- Straßenräuber von Engelbert Ehrenfried
gezeichnet, sondern auch mittels einer parallel Buschmann (d. i. Caspar Wilhelm von Borck),
arbeitenden ›Wiederbeschaffungsabteilung‹ der preußischer Gesandter in London und
das Geraubte an die Beraubten zurückverkauft Shakespeare-Übersetzer war. Diese Überset-
hatte. Zudem lieferte Wild missliebige Mit- zung wurde für das Hamburgische Theater an-
glieder seiner Organisation an die Polizei aus, gefertigt, kam jedoch nicht zur Aufführung. Im
um auch dorthin seine nutzbringenden Bezie- englischen Sprachraum hielt sich das Theater-
hungen auszubauen. Aus diesem Figurenta- stück auch im 19. Jh., hatte jedoch erst 1920
bleau, zu dem der ebenfalls berüchtigte ›High- wieder beträchtlichen Erfolg durch die Londo-
wayman‹ (Straßenräuber) Jack Shepard ge- ner Neubearbeitung (vgl. Hennenberg 1986,
hörte, entwickelte John Gay (1685–1732) aus S. 108 f.).
der realen Person Jonathan Wild die Bühnen- Der englische Originaltitel wird fälschli-
figur des Jonathan Peachum für sein Stück cherweise im Deutschen oft mit Bettleroper
Beggar’s Opera. übersetzt. Der Genitivus possessivus verweist
Bei der Entstehung des Stücks soll Gay bei aber stattdessen auf Des Bettlers Oper, worauf
Alexander Pope gewohnt haben, auch Jona- auch B. aufmerksam gemacht hat (vgl. GBA 24,
than Swift habe sich dort eingefunden, so dass S. 56). Genau genommen handelt es sich im
nach dem Erfolg der Beggar’s Opera der Vor- vierfachen Sinn um eine ›arme‹ Oper. Sie ist
wurf erhoben wurde, Swift und Pope hätten zum Ersten das geistige Produkt eines Bett-
die sozialkritischen Passagen des Stücks ge- lers, zum Zweiten sind der überwiegende Teil
schrieben. Pope verteidigte daraufhin Gay: der handelnden Personen selbst Bettler. Auf-
Dieser habe ihnen zwar Teile des Stücks ge- geführt sei sie bereits, so des Bettlers weitere
zeigt, sie hätten auch darüber diskutiert und Ausführung, auf einer Feier seiner Gefährten
Änderungsvorschläge unterbreitet, doch das im Londoner Stadtteil St. Giles (Gay 1988,
geistige Eigentum sei nicht verletzt worden. S. 3), der im beginnenden 18. Jh. vor allem
Schließlich wurde Gay des Plagiats bezichtigt, von der Unterwelt dominiert wurde. Das
da er sein Werk von Christopher Bullock ge- heißt, es ist zum Dritten auch eine Oper für ein
stohlen haben soll und jener wiederum von Bettler-Publikum, visiert also im Titel die so-
John Marston. Dies konnte jedoch den großen ziale Zielgruppe an. Und zum Vierten ist diese
Erfolg des Stücks in England, Irland und ›Ballad opera‹ (so ihre Gattungsbezeichnung)
Nordamerika nicht verhindern. Deutlich wird, auf der strukturellen Ebene, gemessen am For-
dass schon in der Vorlage zur Dreigroscheno- menkanon der zeitgenössischen Barockoper,
per das Moment kollektiver Arbeitsweise und schäbig und amputiert konstruiert: »Ich
die durch sie provozierte öffentliche Irritation hoffe«, meint der Bettler im Vorspiel, »man
gegenüber der »Laxheit in Fragen geistigen wird mir vergeben, wenn meine Oper nicht so
Eigentums« (GBA 21, S. 316) dominant war, ganz und gar unnatürlich ist wie die, die heute
und sich bereits das englische Modell durch Mode sind – sie enthält nämlich keine Rezita-
206 Die Dreigroschenoper

tive.« (Gay 1961, S. 8) Da die formalen Im- senden ›Whigs‹ (vgl. Hecht 1972, S. 83). Gay
plikationen der klassischen Oper ohnehin au- wollte das rigorose Empordrängen der neuen
ßer kraft gesetzt sind, konnte sich die Beggar’s bürgerlichen Unternehmerklasse und das Ent-
Opera unbekümmert die Freiheit leisten, eini- stehen einer damit einhergehenden Ellenbo-
ges aus dem reichhaltigen Warenbestand der gengesellschaft kritisieren. Freilich ermög-
populären und artifiziellen Musikkulturen Eu- lichte die schillernde Ambiguität dieser Kritik
ropas ›zusammenzuplündern‹ (wenn nicht gar die Vereinnahmung der Oper durch beide Sei-
zu stehlen). So habe sie durchaus jene Ele- ten: Bei den das Uraufführungspublikum bil-
mente »that are in all your celebrated Operas« denden Tories und Whigs kam sie gleicher-
(Gay 1988, S. 3), also den Kanon der poeti- maßen gut an und potenzierte den Erfolg,
schen Bilder, Anspielungen und Vergleiche denn das Werk konnte als Geschütz für die
herkömmlicher Arientexte. Die Stillosigkeit jeweilige Gegenpartei aufgefahren werden.
ist des Bettlers Methode der Stilkritik am zeit- Hier ergeben sich ebenfalls Parallelen. 1929
genössischen Opernkult, der ›destruktive hatte Adorno in seiner Rezension jene Ambi-
Blick von unten‹, der intelligent mit den wir- guität auch Weills Musik attestiert, die selbst
kungsvollsten Waffen der Herrschaftskultur jene im Publikum eint, welche sich im Alltag
spielt, um sie lachend unschädlich zu machen. als politische Gegner gegenüberstehen: »Eine
Gays Freund Swift soll die Anregung zu ei- Fülle an ungebrochen Vitalem aus der Jazzre-
ner »Newgate Pastorale« (Wöhrle 1996, S. 10) gion steckt darin, die jene anreizt, welche als
über die Ärmsten der Armen gegeben haben, Leichen auf der Bühne sich begegnen müßten;
wobei der Begriff ›Pastorale‹ als idyllisches dicht genug, spiegelnd und bunt ist die par-
Schäferspiel in Wortkombination mit dem be- odische Oberfläche, um die an Spaß glauben
rüchtigten Londoner Kerker Newgate ein Wi- zu machen, die ein wenig besser, aber doch
derspruch in sich ist. Bei Gay dient dieser nicht gar zu scharf hinsehen.« (Adorno,
Kerker nebst Insassen, als Spiel im Spiel, dem S. 539)
Schauplatz einer ›Oper‹, in welcher der Typus Der in Berlin geborene und nach England
der gerade modischen ›Opera seria‹ mit ihrem (wie Händel) ausgewanderte Johann Christo-
musikalischen Pathos, der geschwollenen ita- pher Pepusch (1667–1752), seinerzeit Musika-
lienischen Bühnensprache sowie den unreali- lischer Leiter am Londoner Theatre Royal
stisch überzeichneten Gefängnis- und Liebes- Lincoln’s Inn Fields, gilt in der Forschungsli-
szenen als Zielscheibe der Kritik diente. Statt teratur weithin als Komponist von The Beg-
Königen und Adligen sah das Publikum inhaf- gar’s Opera. Die zahlreichen musikalischen
tierte Bettler und Huren. Zugleich wurde eine Einschübe – anstelle der Arien aus der klassi-
Berührungsangst vor Kunstprodukten des Aus- schen Oper traten nun die Straßenballaden
lands, insbesondere der Italiener, manifest, und andere volkstümliche Liedformen – wur-
aber auch gegenüber dem in London wirken- den von Pepusch mit einem Generalbaß ver-
den Georg Friedrich Händel, der die ›italieni- sehen. Als Eigenleistung stammt von diesem
schen‹ Opern wie Radamisto (1720), Floriante zu seiner Zeit recht erfolgreichen Komponi-
(1721) und Tamerlano (1724) geschrieben sten jedoch nur die Ouvertüre, so dass ihm
hatte (vgl. ebd.). treffender die Rolle des musikalischen Bear-
Gays Kritik in der Beggar’s Opera an der beiters oder Arrangeurs zugewiesen werden
rücksichtslosen Anbetung des Geldes jenseits sollte. Zudem hatte Gay bereits die meisten
aller Moralvorstellungen erfolgte nicht aus ei- Melodien selber ausgesucht und auf diese
ner aufklärerisch-kritischen Haltung gegen- dann, entsprechend ihrer metrisch-rhythmi-
über sozialen Missständen; vielmehr kam sie schen Struktur, seine Texte in ironischer oder
aus einer konservativen, feudalistischen Ge- sarkastischer Weise als Parodieverfahren hin-
sinnung der ›Tories‹, zu denen Gay sich zählte, zugeschrieben. Wenn im Kommentar Pepuschs
gegenüber den bürgerlich modernen, merkan- »Originalmusik« (GBA 2, S. 425) benannt
til erfolgreichen und die Hofpolitik beeinflus- wird, ist dies angesichts des tatsächlichen ei-
genkompositorischen Anteils irreführend.
Die Vorlagen, die Intertextualität 207

Die 69 ›Airs‹ der Beggar’s Opera bestehen und Chico Buarque de Holanda (vgl. Wöhrle
vor allem aus englischen, irischen und schotti- 1996, S. 81–83). Der dem Umkreis B.s zuge-
schen Straßenballaden sowie volkstümlichen hörige Dirigent Hermann Scherchen plante
Liedern. Sie entstammen zeitgenössischen 1963 eine Bearbeitung von Gays Polly, der Beg-
Balladen-Sammlungen von John Playford, Ja- gar’s Opera zweiter Teil, die er in den 50er-
mes Thomson und Thomas D’Urfey (vgl. Pet- Jahren in Manchester entdeckte und aufführen
zoldt, S. 167). Ebenfalls kommen Zitate von wollte (Brief an Boleslav Barlog, 1. 7. 1963;
Händel, Henry Purcell, Giovanni Bononcini Musikarchiv der Akademie der Künste Berlin).
und Girolamo Frescobaldi vor, denen eines Gays Fortsetzungsstück, welches das weitere
gemeinsam ist: sie waren beliebt und galten Schicksal der Protagonisten Macheath und
nach heutigem Sprachgebrauch als ›Hits‹. Polly in Westindien verfolgt, wurde zwar 1729
Durch ihren Bekanntheitsgrad in Text und Me- in einer sehr erfolgreichen Druckfassung ver-
lodie verfügte Gay über eine virtuos gehand- öffentlicht, jedoch als Theateraufführung
habte Klaviatur von Anspielungen. durch Lord Chamberlain verboten und erst
Auch Pepusch verwendete im Allegroteil der 1777 in einer »cut version« aufgeführt (Gay
Ouvertüre ein musikalisches Zitat des Gas- 1988, S. 384). Polly gelangte in Frederic Aus-
senhauers Walpole or The Happy Clown, das tins Bearbeitung am 30. 12. 1922 am Kingsway
dem Publikum als politisches Spottlied auf den Theatre London ebenfalls zur Wiederauffüh-
damaligen Premierminister Robert Walpole rung.
bereits bekannt war und damit andeutete, dass Am 5. 6. 1920 wurde The Beggar’s Opera in
keineswegs die vorgeführten ›Ärmsten der Ar- einer Neufassung von Austin und Nigel Play-
men‹ Gegenstand des Stücks seien (vgl. Hecht fair am Londoner Lyric Theatre, Hammer-
1972, S. 82). Musikalische, textliche und thea- smith uraufgeführt und geriet mit 1463 Auf-
tralische Anspielungen waren so präsent und führungen in zweieinhalb Jahren zu einem der
obendrein so geschickt verarbeitet, dass die größten Theatererfolge Englands. Dies konnte
Inszenierung – vergleichbar der Dreigroschen- auf dem Kontinent nicht unbemerkt bleiben.
oper – ein enormer Erfolg wurde. Nach der Der Publizist Stefan Großmann schrieb am
Uraufführung am 29. 1. 1728 waren bereits im 4. 12. 1926 in der Zeitschrift Das Tagebuch:
Juni 62 Aufführungen erfolgt, eine für dama- »Das volkstümliche Theater braucht das Groß-
lige Verhältnisse beträchtliche Zahl (vgl. stadt-Singspiel, uns fehlt die Legende und
Hecht 1985, S. 297). Bei der Erstveröffentli- Musik der Armenleutequartiere, das bißchen
chung am 14. 2. 1728 wurde zwar auch die auf Mondscheinvergoldung der Mietskasernen-
Kupferplatten eingravierte »Musick« veröf- höfe, die musikalische Erhöhung des Leier-
fentlicht, doch Pepuschs Name blieb uner- kastens.« (Dümling, S. 176) 1925 unternahm
wähnt. Erst in der dritten Edition von 1729 der Mainzer Musikverlag Schott’s Söhne den
erschien der Hinweis »Compos’d by Dr. Pe- Versuch, seinen Komponisten Paul Hindemith
pusch« (Gay 1988, S. 373 f.). Weitere Arrange- für eine musikalische Bearbeitung der Beg-
ments von Pepuschs Musik nahmen in der Fol- gar’s Opera zu interessieren. Am 28.1. kam die
gezeit Frederic Austin, Darius Milhaud, Ed- briefliche Anfrage: »Die Art, wie Sie den Fox-
ward J. Dent, Benjamin Britten und Arthur trott in Ihrer Kammermusik in das Gebiet der
Bliss vor (vgl. ebd., S. 374 f.). Auch hier zeigen ernsten Musik gezogen haben, würde auch in
sich Parallelen zu den durch Weills Dreigro- diesem Fall das Richtige sein: eine veredelte
schenoper-Musik angeregten zahlreichen Be- Gassenhauermusik bzw. deren Karikatur, zu-
arbeitungen. gleich eine Persiflage auf die moderne Opern-
Der Erfolg des Stücks hielt bis in die Mitte musik eines d’Albert« (Schubert, S. 47). Sei-
des 18. Jh.s vor und hatte seine späte Auswir- tens der Forschung ungeklärt ist bis heute eine
kung im 20. Jh. nicht nur auf B., sondern auch am 30.1., also zwei Tage später, erschienene
auf Benjamin Britten, Rainer Werner Fassbin- Notiz des Berliner Börsen-Courier in ihrem
der, Vaclav Havel, Heinz Kahlau, Wole Soyinka möglichen Bezug auf die Beggar’s Opera: »Zu
208 Die Dreigroschenoper

Paul Hindemiths nächster Oper schreibt Ber- ›Ich befinde mich auf der Welt in Notwehr‹,
tolt Brecht den Text.« (Lucchesi/Shull, S. 70) das ist sein Grundsatz, der ihn in allen seinen
1928 erschien die deutsche Übersetzung der Handlungen zur schärfsten Entschiedenheit
von Playfair und Austin bearbeiteten Beggar’s zwingt. Er hat in der Londoner Verbrecherwelt
Opera im Schott Verlag. In dieser Bearbeitung nur einen ernsthaften Gegner, und das ist der
ist der Handlungsort von London nach Berlin junge, von den Dämchen vergötterte Gentle-
verlegt, das Gefängnis in Newgate wird zum man Macheath. Dieser hat Peachums Tochter
heute noch existierenden Gefängnis in Berlin- Polly entführt und auf eine ganz groteske
Moabit. Weise in einem Pferdestall geheiratet. Als Pea-
Gays Stück hat folgenden Handlungsver- chum von der Heirat mit seiner Tochter erfährt
lauf: Der Hehler Peachum muss den Räuber – die ihn nicht so sehr aus moralischen Grün-
Macheath polizeilich anzeigen, da dieser des- den schmerzt wie aus sozialen-, beginnt er
sen Tochter Polly heimlich geehelicht hat. Der einen Krieg auf Tod und Leben mit Macheath
Grund für die Anzeige liegt vor allem in dem und seiner Gaunerplatte, dessen Hin und Her
›geschäftlichen‹ Verlust der Tochter, über die den Inhalt der ›Dreigroschenoper‹ bildet.«
Peachum seinen Bettlerunternehmen kontrol- (GBA 24, S. 56)
lieren lässt, zum anderen in einer dem Unter-
nehmen schädlichen, weil ›unkontrollierten‹
Gefühls- und Liebesbeziehung zwischen den
beiden. Macheath hat jedoch mit Lucy, der Analyse
Tochter des Gefängnisaufsehers Lockit, ein
Verhältnis, das von Macheath zu seiner Befrei-
ung aus dem Gefängnis genutzt wird. Nach Schon an den verschiedenen Stücktiteln lassen
dessen nochmaligem Verrat und einer zweiten sich Entwicklungen feststellen. In B.s frühes-
Verhaftung droht ihm die Hinrichtung. Den tem Titel Gesindel ist der kennzeichnende
dramatisch zugespitzten Handlungsverlauf un- Gattungsverweis ›Oper‹ eliminiert, zugleich
terbrechend, treten die Personen der Intro- weist er eine soziale Unschärfe auf, die dann,
duktion, der Bettler und der Schauspieler, in sicher auch durch die Hinzuziehung Weills, in
ihn hinein. Letzterer übt sich als Kritiker, Luden-Oper korrigiert wurde. ›Lude‹, ein Jar-
denn der Strafvollzug am Galgen gehöre gat- gon-Ausdruck für ›Zuhälter‹, fasst die Verhält-
tungstypologisch zur Tragödie, doch »an Opera nisse wesentlich genauer, denn Peachum und
must end happily« (Gay 1988, S. 64). So Macheath sind in der Tat Zuhälter: Der eine
kommt der Bettler-Autor zur Erkenntnis: lässt die Bettler, der andere die Huren unter
»Wäre das Stück nun geblieben, wie ich es dem bezahlbaren Einsatz ihrer zur Schau ge-
ursprünglich beabsichtigt hatte, so hätte es stellten Körper für sich arbeiten. Es geht um
eine höchst lehrreiche und vortreffliche Moral den Ausverkauf von Menschen allenthalben,
enthalten. Es hätte nämlich gezeigt, daß die um ihren Preis, den sie zahlen müssen (das
Armen dieselben Laster haben wie die Rei- Thema, was ein Mensch kostet, hat B. nicht
chen – daß die Armen jedoch dafür bestraft nur in der Maßnahme wiederholt angespro-
werden.« (Gay 1961, S. 141) chen): die Bettler an Peachum, die Huren an
Im August 1928 verfasste B. eine als Ein- Macheath, die Polizei an Jenny, da sie Ma-
führung benannte Inhaltsangabe seiner Bear- cheath verraten hat. Während hier die schärf-
beitung: »Herr Jonathan Peachum schlägt aus sten Ausbeutungsbedingungen herrschen, ist
dem Elend auf seine originelle Weise Kapital, die unter den Normen des Gesetzes und der
indem er gesunde Menschen künstlich zu bürgerlichen Moral sich geradezu ausschlie-
Krüppeln herausstaffiert und sie betteln ßende Beziehung zwischen Macheath und Po-
schickt, um aus dem Mitleid der wohlhaben- lizeichef Tigerbrown ins Freundschaftliche
den Stände seinen Profit zu ziehen. Er tut das verkehrt. Die Verhältnisse sind durchschaubar
keineswegs aus angeborener Schlechtigkeit. auf den Kopf gestellt und werden, am Ende des
Analyse 209

Stücks, relativiert. Denn der Verbrecher Ma- gibt, lässt er – unausgesprochen, aber dennoch
cheath tritt nicht unter der vortäuschenden deutlich für ein Schlüsse ziehendes Publikum
Maske bürgerlicher Sittsamkeit auf, sondern – die Überlebtheit dieser Gesellschaft auf-
ist ernsthaft bemüht, sein Leben konsequent scheinen, in der die menschenverachtenden
ins Bürgerliche zu wenden. Mit seinem ver- Verhältnisse nur durch einen in der Seeräuber-
borgenen Messer und der Berufsbezeichnung Jenny formulierten Umsturz aufgelöst werden
›Räuber‹ ist er eigentlich ein längst veralteter können. Dies hatten damals Zuschauer wie
Vertreter dieser Spezies. Doch seine Einsicht, Ernst Bloch erkannt (Bloch).
die althergebrachte Form des Straßenraubs B. hat im Zusammenhang mit seinem Drei-
aufzugeben und ins Bankfach zu wechseln, groschenroman hervorgehoben, dass er Lon-
zeigt, dass er die Zeichen der Zeit verstanden don hauptsächlich durch Kriminalromane
hat. Sein Prinzip des ›Mann gegen Mann‹ wird kenne (vgl. Jeske, S. 105). So ist die Drei-
aufgelöst zugunsten des viel moderneren Prin- groschenoper in einem Schein-London ange-
zips der lautlosen Kontenbewegungen, die siedelt, in dem touristische Versatzstücke im-
zwar von Gewinn und Verlust sprechen, aber mer wieder auftauchen und Lokalkolorit her-
den tödlichen Kampf der Märkte mit dem Gla- stellen: Old Bailey, Scotland Yard, die
céhandschuh verbergen. Macheath hält sein Themse, Westminster-Glocken, Baker Street,
Messer nicht nur aus krimineller Vorsicht ver- die Geschäftsstraße The Strand u. a. Es ging B.
borgen, das wäre zu altertümlich; er verbirgt nicht um eine authentische Zeichnung oder
es, weil es ihm peinlich ist. Adorno hob hervor, um historische Abbildung, es ging ihm ver-
dass Ärzte deshalb so gern Kammermusik mutlich nicht einmal mehr um Gay, den er in
spielen, weil es eine Sublimierung ihres blu- seiner Einführung 1929 zu nennen vergaß (vgl.
tigen Handwerks sei (Adorno 1990, S. 275). GBA 24, S. 56 f.). Auch bemühte sich B. keines-
B. wollte diese modernen Verhältnisse zum wegs um eine präzise Ansiedlung der Stück-
Tanzen bringen und sie durchschaubar machen handlung in das Viktorianische Zeitalter vor
wie das löchrige Gewand der Bettler. In einem der Jh.wende, um Distanz zu den Verhältnis-
Brief an George Grosz vom Januar 1935 sen von 1928 zu schaffen. Dies wird deutlich
schrieb er zur Dreigroschenoper: »Hauptlinie: an den sehr unterschiedlichen Zeitebenen im
Die Räuber sind Bürger. / Die Bettler haben Stück. Die Krüppel, die entweder Opfer des
Sparkassenbücher in der Tasche. Auch die industriellen Aufschwungs, der Kriegskunst
Räuber. Auch die Huren. [ … ] / Der Galgen oder des Verkehrsfortschritts sind, weisen
›zur Verfügung gestellt von der Firma X und eher auf das durch den Dawes-Plan zwischen
Co.‹« (GBA 28, S. 484). Während Gay noch 1923 und 1928 prosperierende Berlin hin, auf
den brutal-merkantilen Charakter moderner extreme Verkehrsdichte und »große Lastwa-
bürgerlicher Unternehmer entlarven und ver- gen« (GBA 2, S. 241) rund um den Potsdamer
spotten wollte, zeigt B. die kriminellen Unter- Platz und auf die Kriegskrüppel des ersten
nehmungen von Bürgern und meint damit die Weltkriegs, wie den Bildern von Grosz oder
Banken, das Großkapital, den staatlich sank- Ernst Friedrichs Fotoband Krieg dem Kriege
tionierten Waffenhandel, die Korruptheit der entnommen, der 1926 für B. »ein gelungenes
Politiker, die Bestechungsaffären von Parteien Porträt der Menschheit zeigt« (GBA 21,
und Politikern in großem Stil. So ist die Drei- S. 176). Macheath und Brown, im Stück ehe-
groschenoper auch ein Stück über die Krank- malige Kriegskameraden in bereits fortge-
heiten einer alten bürgerlichen Ordnung (die schrittenem Alter, haben die Manieren des
200 Jahre zuvor in Gays Stück hoffnungsvoll zu Dandytums und der imperialistischen Kolo-
herrschen anfing) und deren ›Verjüngung‹ nialkriege verinnerlicht, gehören also noch zu
durch eine wesentlich verfeinertere, schwerer der im späten 19. Jh. aufgewachsenen Genera-
durchschaubarere, doch in der Substanz ›alt‹ tion. Im britischen Commonwealth, im fernen
gebliebene Verkehrsform. Da B. deren Ent- Indien haben beide getötet, geraubt, gebrand-
wicklungsstadien seiner linken Kritik preis- schatzt, freilich sanktioniert im offiziellen Mi-
210 Die Dreigroschenoper

litärauftrag ihres Landes. Die Parallele zwi- der Dreigroschenoper zu einer »literarischen
schen dem Dietrich und der Aktie wird auch Seifenblase« (Weisstein, S. 284) darf inzwi-
hier offenbar: Das private Töten Macs unter schen als überholt gelten. Denn selbst da, wo
der stillschweigenden Schirmherrschaft des B. nur einige Worte hinzufügt oder weglässt,
Kriegskameraden und Polizeichefs Brown ist entsteht eine qualitativ neue Textur mit einer
die legale Fortsetzung des Kriegs mit anderen Aussage, welche die Vorlage in ein Original B.s
Mitteln. Und das Segelschiff mit 50 Kanonen, umprägt. So lautet der Schlussvers aller Stro-
die Räuber, der reitende Bote des Königs: alles phen zur Ballade vom angenehmen Leben in
dies ist eine surreale Fantasie- und Gegenwelt, Klammers Übertragung der Balladen François
in der sich die Gegenwart der 20er-Jahre mit Villons: »nur wer in Wohlstand schwelgt, lebt
der Vergangenheit, mit Augsburg, Berlin und angenehm.« (Villon, S. 86 f.) B. verändert den
dem fiktiven London mischen. Vers mit nur einem Wort: »Nur wer im Wohl-
Zur Dreigroschenoper gehören die zahlrei- stand lebt, lebt angenehm!« (GBA 2, S. 275
chen verdeckten und offenen Anspielungen u. S. 276.) Durch die Einführung des Worts
auf die Bibel. Nicht nur Peachum benutzt sie in »lebt« weitet B. die Aussage in eine Allge-
seiner Firma – freilich ist es eine an Ketten meingültigkeit und Zeitlosigkeit, die im er-
gelegte Religion (vgl. GBA 24, S. 60) –, son- setzten Wort »schwelgt« noch ihren feudal be-
dern sie strukturiert auch die handlungsimma- grenzten Ort fand. Zugleich führt B. damit
nente Zeitebene des Stücks. So spielt B.s hin- eine Wortwiederholung ein, welche im rhyth-
tersinnige Wahl des Wochentags, ein Donners- mischen Gebrauch die Klanglandschaft des in-
tag, an dem Jenny ›ihren‹ Macheath dreimal dustriellen Zeitalters spiegelt und damit zu
›verrät‹ (wenn man das Vorspiel mitzählt), auf einer zitierbaren, prägnanten Losung gerinnt,
die Jünger und die Kreuzigung Christi am verwendbar für die Kämpfe der Straße.
nachfolgenden Freitag an. Auch Macheath soll Die Frage, was Die Dreigroschenoper für
am Freitagmorgen hingerichtet werden. Die eine Werkgattung sei, also ein Schauspiel mit
Hochzeitsszene im Pferdestall – »Setz dich Musik, eine Operette, ein Singspiel, eine Ur-
einstweilen auf die Krippe, Polly« (GBA 2, form der Oper, ein Musical usw. führt nicht
S. 240) – verweist auf den Stall in Bethlehem, weiter. Das Werk ist ein Versatzstück aus vie-
zu dem die drei Könige des Morgenlandes mit lem und zielt in seinem Gegenentwurf auf
ihren reichen Geschenken pilgern, in denen nicht nur eine traditionelle Gattung. Es ist in
sich wiederum die Gang und ihr Diebesgut erster Linie (und darin sehr genau Gays Vor-
spiegeln (vgl. Lucchesi 1994, S. 324). Oder lage folgend) ein zusammengeräubertes Stück.
Brown lehnt sich wie der verräterische Petrus B. benutzt virtuos verschiedene Sprachebe-
an die Mauer und weint, während Macheath nen, reichend vom kraftvollen Luther-Deutsch
den eigenen strafenden Blick mit »Den Trick (»Wenn alle gut sind, ist Sein Reich nicht
habe ich aus der Bibel« (GBA 2, S. 274) kom- fern«; GBA 2, S. 262), vom Gefühlskitsch billi-
mentiert. Einen Monat nach der Uraufführung ger Unterhaltungslektüre oder Operettentexte
der Dreigroschenoper veröffentlichte die Zeit- (»Mackie und ich, wir lebten wie die Tauben«;
schrift ›Die Dame‹ ein Interview mit B., in S. 278) bis hin zum Berliner Gassenjargon
dem dieser, nach seiner Lieblingslektüre be- (»Ich möchte Sie doch bitten, Ihre dreckige
fragt, antwortete: »Sie werden lachen: die Bi- Fresse zu halten«; S. 287). B. beleiht die Bibel,
bel.« (GBA 1, S. 503 f.) die Kulturgeschichte, Gay, Villon, Kipling und
Die bis heute anzutreffende Verwunderung das London der Kriminalromane, einen exoti-
darüber, dass B. und Weill ausgerechnet mit schen Ort, dem Vergangenes und Gegenwär-
einer »fremden Bearbeitung« (z. B. Hill, S. 53; tiges, Deutsches, Amerikanisches und Briti-
Dümling, S. 177) ihr Markenzeichen geschaf- sches beigesellt werden. Autobiographisches
fen haben, zeigt, dass die gravierenden Ein- von B. ist ebenso darin enthalten wie Teile von
griffe B.s in den Text noch immer verkannt Gays Fabelführung. Sprachliche Reste der Beg-
werden. Ulrich Weissteins Abqualifizierung gar’s Opera und ihrer Handlung mischen sich
Analyse 211

mit Splittern aus B.s früheren Werken (z. B. Zur Forschung


Songs) und verhelfen auch Gays »Laxheit in
Fragen geistigen Eigentums« (GBA 21, S. 316)
zu neuer, eindrücklicher Wirkung. Dem einge- Nachdem in der Forschungsliteratur seit den
denk ist die Dreigroschenoper mit ihrer eige- 60er-Jahren vor allem die vergleichende Dar-
nen, anspruchslosen Benennung als »Stück mit stellung der Quellen zur Dreigroschenoper,
Musik« am besten umschrieben, das 1928 an- ihre verschiedenen Fassungen, die Kommen-
trat, die pathetischen Ausdrucksformen des tare B.s zum Werk sowie die internationale
19. und 20. Jh.s im Drama und Musiktheater Rezeption seit ihrer Uraufführung im Mittel-
subversiv und dekonstruktiv zu unterlaufen. punkt standen (vgl. Unseld; Hecht 1972; Hecht
Auch Weills Musik spiegelt den Reichtum an 1985), ist seit den 80er-Jahren eine sich bis
stilistisch Zusammengeborgtem, einge- heute verstärkende neue Qualität zu verzeich-
schmolzen durch seinen Personalstil: Da fin- nen. Diese beruht auf der Erkenntnis, dass die
den sich Elemente der Oper neben denen der meisten Dramen und Lehrstücke B.s ohne den
Operette, barocken Kontrapunktik und Kir- tragenden Anteil der Musik nicht mehr ange-
chenchoral sowie Stilzitate von Tanz- und messen zu analysieren sind, weil die Isolie-
Jazzmusik mit Saxophon und Banjo der 20er- rung des Textes zum falschen Eindruck von
Jahre. ›Primitivität‹ führt und das komplexe Zusam-
Dem Stück und seinem Text gesellt sich eine menspiel von Text und Musik so unterschlagen
moderne Stadtmusik zu, die wiederum in ih- wird. Wegbereitend dafür waren eine Reihe
rem expressiven Ton, ihrem Verweis auf zeit- von Arbeiten, die B.s eigene Musikpraxis so-
genössische Tanz- und Jazzmusik, oft diame- wie seine lebenslange Zusammenarbeit mit
tral zum geschäftlich-kalten Ton, zu den Zynis- Komponisten in den Mittelpunkt stellten (vgl.
men der Texte steht. »Dadurch entsteht ein Wagner; Hennenberg 1984; Dümling; Luc-
eigentümlich ausdrucksstarkes Pathos, das chesi/Shull; Krabiel). Hinzu kamen neue
aber zugleich wieder durch einen gezielt fal- Resultate und Publikationen zu den mit B. ver-
schen Ton entschärft und desavouiert wird« bundenen Komponisten, so in der Eisler-For-
(Pache, S. 210). Weills Musik gelingt das schung (vgl. Eisler) oder in der Weill-For-
Kunststück, enorm gesanglich und gleichzeitig schung. Im letzteren Bereich ist ein Erkennt-
extrem textverständlich zu sein. Der oft kunst- niszuwachs vor allem durch die Arbeit der
voll-lapidare und rhythmisch-prägnante Text New Yorker Kurt Weill Foundation for Music
wird durch die Musik wie mit verdoppelter direkt oder indirekt stimuliert worden, der
Kraft zu einem sich festsetzenden Widerhaken sich auch auf eine differenziertere Bewertung
im Gedächtnis der Zuschauer. Das war es, was der Dreigroschenoper auswirkte (vgl. Drew;
Weill vor anderen auszeichnete: so zu kompo- Hinton; Wöhrle; Farneth; Weill). Grundtenor
nieren, dass nicht – wie bei vielen Werken der dieser Forschung ist das Bemühen um eine
Musikliteratur – der Text über die Melodie eigenständige, ganzheitliche Bewertung
vergessen wird. Damit sei der »Einbruch [eine Weills als eines der bedeutenden Komponisten
doppelbödige Anspielung auf das Werk] in des 20. Jh.s, der nicht länger mehr als ›dienen-
eine Verbrauchsindustrie gelungen« (Weill, der B.-Komponist‹ abqualifiziert ist. Dies er-
S. 72), die bisher der populären Musik reser- öffnet die Möglichkeit, B.s und Weills Anteil
viert war. Dieses Ziel, die undurchlässigen an Werken ihrer Zusammenarbeit neu zu be-
Grenzen zwischen ›hoher Kunst‹ und ›popu- werten und den eigenschöpferischen Part
lärer Kunst‹ niedergerissen zu haben, schie- Weills, das modellhafte Zusammenspiel von
nen B. und Weill damals für erreicht gehalten Wort und Musik gleichberechtigt darzustellen.
zu haben. Gerade zur Dreigroschenoper sind in jüngster
Zeit Bemühungen zu verzeichnen, die nach
wie vor offenen Fragen zu ihrer musikalischen
Aufführungspraxis durch eine kritisch kom-
212 Die Dreigroschenoper

mentierte Faksimile-Edition der Autograph- verständnis bis zum Morgenrot im Kunstwerk


partitur als Teil einer begonnenen Weill-Ge- (»Vor einem Dutzend Jahren wäre Senta noch
samtausgabe klären zu helfen (vgl. Harsh). nicht als Braut des roten Freibeuters erschie-
nen«; S. 396), sieht er die »unzuverlässige Mu-
sik«, die »dicke Luft im Amüsement« (ebd.) als
Vorboten eines unausgesprochenen gesell-
Wirkung schaftlichen Gegenentwurfs aufleuchten.
Während weithin Einigkeit über Weills Lei-
stung herrschte, fielen die Besprechungen zur
Nach der Uraufführung und in den Wochen Inszenierung und zu B.s Stücktext erheblich
danach ging von Der Dreigroschenoper die divergenter aus. So lässt sich der mit ›Gl.‹
Hoffnung aus, sie könnte zur Durchsetzung zeichnende Kritiker der Neuen Preußischen
einer neuen Theater-Gattung führen. Der Mu- Kreuz-Zeitung unter dem Eindruck der Urauf-
sikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt führung am 1. 9. 1928 nur zu einer negativen
schrieb am 21. 10. 1928: »Daß die Dreigro- Besprechung herab: »Das Ganze ließe sich am
schenoper eine werdende Kunstform von un- besten als eine literarische Leichenschändung
schätzbarer Wichtigkeit und Fruchtbarkeit bezeichnen, an der das einzig Bemerkenswerte
zum erstenmal auf die Bühne gestellt hat, ist wäre, die Nichtigkeit des Objektes, an welcher
eine Tatsache, die die Historiker der Musik sie vollzogen wurde« (Wyss, S. 80). Insgesamt
und der Dramatik getrost buchen können.« gilt, dass die konservativen und nationalisti-
(Wyss, S. 85) schen Printmedien Die Dreigroschenoper ne-
Die Musik Weills zur Dreigroschenoper gativ besprachen, während die bürgerlich-
wurde weithin als eine Neuerung des Musik- liberale und sozialistische Presse zu unter-
theaters beschrieben und diskutiert. Namhafte schiedlichen Wertungen gelangten. Monty
Autoren wie Adorno und Bloch hoben die Jacobs dagegen vermerkte am 3.9. in der Vossi-
Sprengkraft, das Subversive der Musik hervor, schen Zeitung: »Gestern blitzte alles von Wa-
die sich gleichsam unter den Trümmern ihrer gemut, Temperament, Angriffslaune, ohne daß
Tonalität verbargen und hinter dem musika- die Seiten des Parteibuch knisternd umgeblät-
lisch scheinbar Vertrauten die Abgründe umso tert wurden.« Er konzedierte B. einen großen
offenbarer werden ließen. Adorno verwies in Erfolg, denn dieser habe ihn »mit der Bearbei-
seinem Aufsatz Zur Musik der ›Dreigroschen- tung einer fremden Vorlage gefunden, mit ei-
oper‹ von 1929 vor allem auf ihre Widerstands- nem Werk also, an das er gewiß nicht den
fähigkeit gegenüber jeglichen Vereinnah- vollen Einsatz seines Ehrgeizes gewandt hat.
mungsversuchen: »Viele Wege hat die Gesell- Aber gerade in dieser Arbeit ist Bert Brechts
schaft, mit unbequemen Werken fertig zu wer- bestes Teil zu spüren: der Lyriker, der Bänkel-
den. Sie kann sie ignorieren, sie kann sie sänger, der Balladenschöpfer.« (Wyss, S. 80 f.)
kritisch vernichten, sie kann sie schlucken, so, Dagegen ist der mit »-er-« zeichnende Kritiker
daß nichts mehr davon übrig bleibt. Die Drei- der Roten Fahne vom 4.9. hinsichtlich der ge-
groschenoper hat ihr zum letzten Appetit ge- sellschaftlichen Sprengkraft des Werks ganz
macht. Indessen, es ist noch die Frage, wie ihr anderer Meinung, denn »steht man der Gegen-
die Mahlzeit bekommt.« (Adorno 1984, S. 539) wart mehr oder minder verständnislos gegen-
Bloch, der sich ebenfalls in seinem Aufsatz über, so flüchtet man in die Vergangenheit
Lied der Seeräuberjenny in der ›Dreigrosche- [ … ]. Von moderner sozialer oder politischer
noper‹ (1929) äußerte, zeigt am Lied, dass hier Satire keine Spur.« (Wyss, S. 82 f.) Dümling
ein »neuer Volksmond [ … ] durch die nimmt an, dass sich hinter dem Pseudonym
Schmachtfetzen am Dienstmädchen- und An- des Kritikers der für die Rote Fahne schrei-
sichtskartenhimmel« bricht (Bloch, S. 394). bende Hanns Eisler verbirgt (Dümling,
Eingebettet in große Tradition, reichend von S. 195 f.). Doch ist kaum vorstellbar, dass Eis-
Mozart bis Wagner, von rebellischem Bibel- ler, der den »Dichter« B. bereits Anfang 1928
Wirkung 213

in der selben Zeitschrift zu einer »Anzahl Fressen, dann kommt die Moral‹ angeführt.
linksgerichteter revolutionärer Köpfe« zählte Ich selbst hätte das Stück nicht aufführen las-
(Eisler, S. 64), ihn wenige Monate später als sen. In Abwesenheit einer revolutionären Be-
einen »Bohemien« (Wyss, S. 82) mit mangeln- wegung wird die ›message‹ purer Anarchis-
dem politischen Bewusstsein tituliert hätte. So mus.« (GBA 27, S. 232) B. spielte damit auf die
ist mit Bestimmtheit diese Rezension einem am 15.8. als Eröffnungsstück des Berliner Heb-
anderen Kritiker zuzuschreiben. bel-Theaters dienende erste Nachkriegsauf-
Noch beeindruckender als die ausführliche führung der Dreigroschenoper an, die von
Beachtung in der internationalen Presse war Karlheinz Martin inszeniert und mit Hubert
die hohe Zahl von Inszenierungen, die sich von Meyerinck als Mackie Messer besetzt
geradezu explosionsartig über ganz Europa wurde. Günther Weisenborn schrieb in der
ausbreiteten. Das Stück wurde innerhalb eines Deutschen Volkszeitung am 23.8.: »Wenn drau-
Jahres an etwa 120 Bühnen inszeniert und bis ßen vor dem Theater Dynamit an die Ruinen
1933 in 18 Sprachen übersetzt (Dümling, gelegt wird, um sie wegzusprengen, so wirkt
S. 194; eine aufschlussreiche Auflistung von das Dynamit der Dreigroschenoper ebenso in
Theateraufführungen zwischen 1928 und 1950 den Ruinen hinter den Stirnen der heutigen
ist zu finden in: Farneth, S. 90). Formen eines Öffentlichkeit.« Es folgten dann in kurzen Ab-
frühen ›Merchandising‹ finden sich im Ver- ständen Inszenierungen des Stücks u. a. 1946
kauf einer Tapete mit figürlichen Szenen aus in Prag (Regie: Emil Franti šˇ ek Burian) und
dem Werk, die als ›Dreigroschenoper-Tapete‹ 1949 in München (Regie: Harry Buckwitz).
bekannt wurde (Abbildung in: ebd., S. 95). Während es B. in seiner gesamten amerikani-
Vor allem das mit dem Plagiatsvorwurf ge- schen Exilzeit nicht gelang, das Stück zur Auf-
gen B. zusammenhängende Medienereignis führung zu bringen – 1933 scheiterte die ein-
tat ein Übriges zur Popularisierung des Werks. zige Inszenierung nach wenigen Aufführungen
Deutlich wird dies an der wohl ersten wissen- in New York –, kam am 10. 3. 1954 am New
schaftlichen Auseinandersetzung mit B., die Yorker Theatre de Lys der an den sensationel-
einen sicher durch den Plagiatsvorwurf stimu- len Berliner Erfolg von 1928 erinnernde
lierten Vergleich zwischen der Dreigroschen- Durchbruch. Mit Lotte Lenya in der Rolle der
oper und ihrer Vorlage zog (vgl. Tolksdorf). Jenny erzielte die Threepenny Opera in der
Die Rezeption des, nach der Machtübergabe Übersetzung Marc Blitzsteins innerhalb von
an Hitler sofort verbotenen, Werks wurde noch sieben Jahren 2611 Vorstellungen en suite.
einmal 1938 unter ganz anderen Vorzeichen Während B. für die amerikanische Produk-
akzentuiert, als die Propaganda-Ausstellung tion nicht tätig wurde, engagierte er sich bei
Entartete Musik Fotos von Weill, Notenauto- einer anderen ausländischen Inszenierung
graph- und Tonbeispiele aus der Dreigroschen- umso mehr. In Vorbereitung einer Aufführung
oper zeigte (Abbildung in: Farneth, S. 203). am Mailänder Piccolo Teatro gab B. dem nach
Dies war für einen Teil der Besucher auch eine Berlin angereisten Giorgio Strehler nicht nur
(von den Veranstaltern unbeabsichtigte) Mög- Aufführungshinweise, sondern war auch sel-
lichkeit, Tonaufnahmen bzw. Ausschnitte des ber bei der Premiere am 10. 2. 1956 (zugleich
verbotenen Werks ›legal‹ zu rezipieren. sein 58. Geburtstag) anwesend. Das Publikum
Nach den Erfahrungen des zweiten Welt- bereitete B., Strehler und den Schauspielern
kriegs war B. zunächst sehr zurückhaltend ge- einen großen Erfolg, den letzten in den B.
genüber einer Wiederaufnahme der Dreigro- noch verbleibenden wenigen Monaten bis zu
schenoper. Er notierte am 25. 9. 1945 in sein seinem Tod. An das Theater schrieb er am
Journal: »Wir hören, daß in Berlin die ›Drei- 27.2. als Dank: »Feuer und Kühle, Lockerheit
groschenoper‹ aufgeführt wurde, vor vollen und Exaktheit zeichnen diese Aufführung vor
Häusern; dann abgesetzt werden mußte, auf vielen aus, die ich gesehen habe. Sie verschaf-
Betreiben der Russen. Die BBC (London) habe fen dem Werk eine echte Wiedergeburt.«
als Protestgrund die Ballade ›Erst kommt das (GBA 30, S. 431)
214 Die Dreigroschenoper

Wie sehr sich die Bewertung des Werks im in ihr Weltbild einbezogen hat.« (Wöhrle 1996,
Lauf der zweiten Hälfte des 20. Jh.s änderte, S. 80).
zeigte sich 1960 an der Inszenierung des Berli- 1957 und 1963 kam Die Dreigroschenoper
ner Ensembles durch Erich Engel (seiner zwei- auch als Fernseh- bzw. Spielfilm heraus, aller-
ten an diesem Theater nach der Uraufführung dings war sich die Kritik größtenteils darin
1928). Im Neuen Deutschland vermerkte Hen- einig, dass der Spielfilm im Vergleich zum
ryk Keisch am 5. 5. 1960: »Diejenigen, die früh Dreigroschenfilm von 1931 eher als misslun-
mit dem Haifischsong aufwachten und abends gen einzustufen sei. Wie entschärft 1965 das
mit der Ballade vom angenehmen Leben ein- Werk rezipiert wurde, zeigt eine Besprechung
schliefen, gehörten in weitaus überwiegender zur Inszenierung von Harry Buckwitz, die am
Zahl einer intellektuellen oder halbintellektu- 9.4. in der Frankfurter Rundschau erschien.
ellen Schicht von meist kleinbürgerlicher Prä- Der Kritiker versetzte sich in einen Theater-
gung an, die seit dem Ersten Weltkrieg ihre besucher, der sich vorstellt, er säße in My Fair
Wurzeln verlor. Das waren Menschen, die sich Lady und glaube, »Mackie Messer sei ein di-
dem Proletariat näherten, ohne noch alle Kon- rekter Nachkomme des Räuberhauptmanns
sequenzen solcher Annäherung auf sich neh- Rinaldo Rinaldini« (Wöhrle, S. 80). Doch die
men zu können oder zu wollen. Die anarchis- zunehmende Politisierung der westdeutschen
tischen Züge der ›Dreigroschenoper‹, das Gesellschaft durch die Studentenbewegung
Äußerlich-Provokante, die Bürgerschreckele- Ende der 60er-Jahre hatte Einfluss auf die Re-
mente ersetzten ihnen wirksame revolutionäre zeption des Werks. So wurde 1968 die Ober-
Taten. Zwar ging Brecht ohne Zweifel bereits hausener Inszenierung (Regie: Günther Büch)
einige beträchtliche Schritte über den nur-for- mit Vietnam-Bildern verbunden, wie Henning
malen Protest mancher Literatur- und Kunst- Rischbieter in Theater heute beschrieb. Hans-
bewegungen jener Zeit hinaus. Aber er befand günther Heyme führte es 1975 in Köln als ein
sich doch erst auf dem Weg zu seinen späteren »Schlüsselstück für die Nazizeit« auf (Wöhrle,
marxistischen Positionen. Die ›Dreigrosche- S. 80), das dann schließlich nach Kontroversen
noper‹ ist das Werk eines Moralisten, daher in den Medien von den Brecht-Erben verboten
eines Hassers der Bourgeoisie. Sie ist noch wurde. Ulrich Schreiber äußerte sich am 14. 3.
nicht das Werk eines Klassenkämpfers.« Diese 1975 in der Frankfurter Rundschau über die
Auffassung sollte viele Jahre in der DDR das Inszenierung Heymes: »Zur Moritat von
Bild des Werks prägen, eines, dessen ›Bot- Mackie-Messer, dem Anstatt-daß-Song, der
schaft‹ in diesen Verhältnissen ›museal‹ ge- Ballade vom angenehmen Leben oder dem
worden war und daher die (überwundene) Ver- Kanonensong sehen wir Bilder von frühen
gangenheit oder bestenfalls das andere Nazi-Umzügen in Deutschland, von herzigen
Deutschland meinte. BdM-Gören und KdF-Gläubigen, von Auto-
Am 8. 10. 1958 hieß es dagegen in der Frank- bahnbau, Judendeportationen, Stuka-Einsät-
furter Allgemeinen Zeitung: »Heute ist die zen und schließlich vom Nürnberger Prozeß,
›Dreigroschenoper‹ in den Zustand eines klas- wenn Göring & Co. Ihr ›Nicht schuldig‹ spre-
sischen Stückes entrückt, was noch dadurch chen.«
verstärkt wird, dass jedermann die Songs der Während sich in den 70er-Jahren eine (poli-
ersten Besetzung als Schallplattenkonserven tisch) aktualisierte und experimentelle Sicht-
zu Haus im Plattenschrank hat. Paradox auch weise durchsetzte, kam in den 80er-Jahren
dies: Man kann die klassisch gewordene Drei- wieder der Trend zu einer mehr textgebunde-
groschenoper eigentlich nur nachspielen. Sie nen und damit auch weniger aufregenden
eignet sich wenig zur neuen Interpretation, Dreigroschenoper auf. Jedoch erregten Büh-
jedenfalls nicht, solange die westliche Gesell- nenbilder in einigen Inszenierungen Aufse-
schaft an der Übereinkunft festhält, sich selbst hen, so 1981 in Budapest, wo Juri Ljubimow
intakt zu finden, andrerseits den Mangel an das Stück in einem englischen Doppeldecker
Konvention, der 1928 noch schockierte, längst spielen ließ. Jürgen Flimm zeigte 1983 in Köln
Wirkung 215

einen zerstörten Borgward, umgeben von ›Dreigroschenoper‹. In: Österreichische Musikzeit-


Wohlstandssymbolen der 50er-Jahre, und schrift (1985), H. 6, S. 281–291. – Ders.: Studien zu
Brechts Dreigroschenoper. In: Brecht, Bertolt: Die
Günter Krämer ließ 1987 in seiner Inszenie-
Dreigroschenoper. Leipzig 1986. – Ders.: Neue
rung am Theater des Westens das Stück auf Funktionsweisen der Musik und des Musiktheaters
einer die gesamte Bühne einnehmenden Ei- in den zwanziger Jahren. Studien über die Zusam-
sentreppe spielen. menarbeit Bertolt Brechts mit Franz S. Bruinier und
Die 90er-Jahre schienen unter dem Zeichen Kurt Weill. Halle 1987 [Masch.]. – Hill, Claude:
einer postmodernen Beliebigkeit zu stehen: So Bertolt Brecht. München 1978. – Hinderer. – Hin-
ton, Stephen (Hg.): Kurt Weill. The Threepenny
gerann das Werk 1991 in Dresden zu einer
Opera. Cambridge [u. a.] 1990. – Jeske, Wolfgang
»›Sex and Crime‹-Revue«, wie in der Berliner (Hg.): Brechts Romane. Frankfurt a. M. 1984. – Ke-
Zeitung vom 2. 9. 1991 stand (Wöhrle, S. 81), bir, Sabine: Ich fragte nicht nach meinem Anteil.
oder Regisseur Herbert Wernicke zeigte 1995 Elisabeth Hauptmanns Arbeit mit Bertolt Brecht.
in Zürich, wie Gerhard Persché in der Wochen- Berlin 1997. – Keisch, Henryk: [Rezension]. In:
post am 9.3. beschrieb, einen »Graffiti-Ein- Neues Deutschland (Berlin), 5. 5. 1960. – Knopf,
Jan: Bertolt Brecht. Stuttgart 2000. – Lucchesi, Joa-
heits-Raum, zahlreiche Falltüren. Einige Sze-
chim: Franz S. Bruinier – Illustrator der Moderne.
nen von der Unterbühne, quasi als Hörspiel. In: Musik und Gesellschaft (1985), H. 5, S. 276–278.
Ein roter Ballon mit Blähsucht, zuletzt büh- – Lucchesi/Shull. – Lucchesi, Joachim: Ge-
nenfüllend: der Mond von Soho, Symbol der schärfte Musik. Bertolt Brecht/Kurt Weill: »Die
Poesie des Stücks. Zu Mackies Hinrichtung Dreigroschenoper«. In: Diskussion Deutsch (1994),
räumt Peachum ihn weg. Erst kommt das Fres- H. 139, S. 323–328. – Mayer, Hans: Brecht in der
Geschichte. Drei Versuche. Frankfurt a. M. 1976. –
sen, dann die Moral, steht in Leuchtschrift im
Pache, Walter: Brecht und die Briten. Von der Beg-
Zuschauerraum. Den Zürchern muß man das gar’s Opera zur Dreigroschenoper. In: Koopmann,
nicht erst sagen. Wohlwollendes Lachen daher Helmut (Hg.): Brechts Lyrik – neue Deutungen.
bei aktuellen Anspielungen, Applaussturm am Würzburg 1999, S. 199–214. – Persché, Gerhard:
Schluß für eine vor allem ästhetisch hervor- [Rezension] In: Wochenpost, 9. 3. 1995. – Petzoldt,
ragende Inszenierung.« Richard: Die Musik der Bettleroper. In: Gay 1961,
S. 159–175. – Schubert, Giselher: Paul Hindemith
mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek
bei Hamburg 1981. – Rischbieter, Henning: Blinde
Literatur: Agitation. In: Theater heute (1968), H. 3, S. 26. –
Adorno, Theodor W.: Musikalische Schriften V (= Schreiber, Ulrich: Oper plus Revue: eine halbe Sa-
Gesammelte Schriften, Bd. 18). Frankfurt a. M. che. In: Frankfurter Rundschau, 14. 3. 1975. – Tolks-
1984. – Ders.: Einleitung in die Musiksoziologie. dorf, Cäcilie: John Gays »Beggar’s Opera« und Bert
Zwölf theoretische Vorlesungen (= Gesammelte Brechts »Dreigroschenoper«. Rheinberg 1934. – Un-
Schriften, Bd. 14). Frankfurt a. M. 1990. – Bloch, seld, Siegfried (Hg.): Bertolt Brechts Dreigroschen-
Ernst: Lied der Seeräuberjenny in der »Dreigrosche- buch. Frankfurt a. M. 1960. – Villon, François: Des
noper«. In: Ders.: Literarische Aufsätze (= Gesamt- Meisters Werke. Ins Deutsche übertragen von K. L.
ausgabe, Bd. 9). Frankfurt a. M. 1965, S. 392–396. – Ammer. Leipzig 1907. – Wagner, Gottfried: Weill
Drew. – Dümling. – Eisler, Hanns: Schriften und Brecht. Das musikalische Zeittheater. München
1924–1948. Hg. v. Günter Mayer. Leipzig 1985. – 1977. – Weill, Kurt: Musik und musikalisches Thea-
Farneth, David: Kurt Weill. Ein Leben in Bildern ter. Gesammelte Schriften. Hg. v. Stephan Hinton
und Dokumenten. Berlin 2000. – Fischer, Ulrich: Die und Jürgen Schebera. Mainz 2000. – Ders./Brecht,
Dreigroschenoper – Ein Fall für (mehr als) Zwei. In: Bertolt: Die unterdrückte Arie der Lucy aus der
Neue Juristische Wochenschrift. Sonderdruck Dreigroschenoper. Erste Veröffentlichung. In: Die
(2000), H. 3. – Gay, John: Die Bettleroper. Leipzig Musik. Musikbeilage 25 (1932), H. 2. – Weill-Lenya,
1961. – Ders.: Dramatic Works. Bd. 2. Hg. v. John Lotte: Das waren Zeiten. In: Unseld, S. 220–225. –
Fuller. Oxford 1988. – Harsh, Edward (Hg.): Die Weisstein, Ulrich: Von reitenden Boten und singen-
Dreigroschenoper. A Facsimile of the Holograph Full den Holzfällern: Bertolt Brecht und die Oper. In:
Score. Mainz 2000. – Hecht, Werner: Sieben Studien Hinderer, S. 266–299. – Wöhrle, Dieter: Bertolt
über Brecht. Frankfurt a. M. 1972. – Ders. (Hg.): Brechts medienästhetische Versuche. Köln 1988. –
Brechts ›Dreigroschenoper‹. Frankfurt a. M. 1985. – Ders.: Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper. Frank-
Hecht. – Hennenberg, Fritz: Brecht-Lieberbuch. furt a. M. 1996. – Wyss.
Frankfurt a. M. 1984. – Ders.: Weill, Brecht und die Joachim Lucchesi
216

Ihn interessierte an der Tat Lindberghs, die


Der Lindberghflug / inzwischen fast zwei Jahre zurücklag, weder
Der Flug der Lindberghs / die Sensation noch die Legende, sondern al-
lein der mit dem Flug demonstrierte Fort-
Der Ozeanflug schritt in der Naturbeherrschung und die mit
gestischen Mitteln dokumentierbare Haltung
des Piloten bei seinem Flug. B.s Text hält do-
kumentarisch exakt die Details des Fluges fest
Entstehung, Quellen / und verleiht ihnen im literarischen Medium
Erste Textfassung: Lindbergh exemplarischen Charakter.
Die Einzelheiten der Vorbereitung und
Durchführung des Fluges waren den Zeitge-
Im April 1929 erschien in einem populären nossen vertraut, Funk und Presse hatten da-
Monatsmagazin ein kleiner Text von B., über- rüber berichtet. Wenige Monate nach dem Er-
schrieben: LINDBERGH. EIN RADIO-HÖR- eignis erschien Lindberghs Autobiographie We
SPIEL FÜR DIE FESTWOCHE IN BADEN- (New York, London 1927) mit einer ausführli-
BADEN. Mit einer Musik von Kurt Weill (Uhu. chen Darstellung des ersten Ozeanfluges; sie
Das Monatsmagazin [des Ullstein-Verlags, kam noch im selben Jahr in deutscher Über-
Berlin] 5 (1928/29), H. 7, S. [10–16]; danach setzung heraus (Wir zwei. Im Flugzeug über
die Zitate). Es war die erste Textfassung eines den Atlantik. Leipzig 1927). Neben den Pres-
musikalischen Hörspiels, entstanden für den seberichten stellt dieses Buch die Hauptquelle
Programmpunkt ›Originalkompositionen für für das Hörspiel dar. Alle wesentlichen Fakten
den Rundfunk‹ des Baden-Badener Musikfes- sind dieser Darstellung entnommen, insbe-
tes (vgl. Die Lehrstücke, BHB 1). Erwartet sondere den Kapiteln 9 und 10; an einigen
wurden Werke, die neben den akustischen Be- Stellen übernahm B. Textteile nahezu wört-
dingungen der Radioübertragung auch der Zu- lich. Auch die stilistische Sachlichkeit und
sammensetzung des Rundfunkpublikums Nüchternheit ist in Lindberghs Darstellung
Rechnung tragen sollten. vorgeprägt. Das Hörspiel nähert sich damit
Das Thema des Hörspiels, das B. und Weill einer dokumentarischen, reportagehaften
gegen Ende 1928 verabredeten, war in beson- Form.
derem Maße funkgerecht. Die erste Überflie- Der im Uhu publizierte Text umfasst neun
gung des Atlantik durch Charles Lindbergh im Teile. Zwischentitel, von einem Sprecher zu
Mai 1927 war ein aktuelles, jedermann inter- verlesen, setzen den Hörer über den Fortgang
essierendes, besonderer Bildungsvorausset- des Unternehmens in Kenntnis. Das Hörspiel
zungen nicht bedürfendes Thema, daher brei- beginnt mit der Aufforderung an die Flieger,
testen Hörerschichten zugänglich. Das Ereig- den Ozean zu überfliegen. Lindberghs Flug
nis hatte ein ungewöhnliches Aufsehen erregt wird als Heldentat aufgefasst, die mit Ruhm
und war diesseits und jenseits des Atlantik als belohnt wird: Im Alleingang überwindet er die
Sensation von Presse und Rundfunk vermark- Naturgewalten und sich selbst und demon-
tet worden. Der 25-jährige amerikanische striert so die Beherrschbarkeit der Natur
Postflieger Lindbergh aus St. Louis wurde durch technische Intelligenz und individuel-
über Nacht zum Nationalhelden. Seine Person len Wagemut. – Die drei folgenden Nummern
und seine Leistung, als Pioniertat zum Ruhme haben in besonderem Maße die Form nüchter-
Amerikas und seiner Technik und Industrie ner, an technischen Details interessierter Be-
gefeiert, wuchsen in der Darstellung der ame- richte. Lindbergh stellt sich vor und be-
rikanischen Presse ins Überdimensionale. schreibt sein Fluggerät, den ›Geist von St.
Angesichts dieser Stilisierung und Verklä- Louis‹, dessen Herstellung und technische
rung fällt auf, mit welcher Sachlichkeit und Daten, die mit Sorgfalt getroffenen Vorberei-
Nüchternheit sich B. dem Gegenstand nähert. tungen. Trotz der Qualität seines Apparats ist
Entstehung, Quellen / Erste Textfassung: Lindbergh 217

der Flug ein Wagnis, da die Wetterprognosen der Natur erzielt hat. Am Ende aber wird der
ungünstig sind. Aufbrechend versichert sich menschlichen Erkenntnisfähigkeit und der
der Flieger noch einmal seiner Ausrüstung technischen Naturbeherrschung – so scheint
(die Angaben sind – geringfügig verändert – es – eine Grenze gesetzt, der Fortschrittsopti-
der Quelle entnommen). Die vierte Nummer mismus relativiert: »aufzeigend das mögliche /
wechselt in eine andere Perspektive: Die Stadt ohne uns vergessend zu machen: das / UNER-
New York tritt mit den Schiffen in Funkkontakt REICHBARE. / diesem ist dieser bericht ge-
und bittet sie, den Standort des Fliegers zu widmet.« (Ebd.) Die irrtümliche Zählung »3.
melden. Die folgenden Nummern kehren zu jahrtausend« und das grammatikalisch falsche
Lindbergh zurück. Teils monologisch, teils in »vergessend« ziehen sich durch alle Text-
Dialogen zwischen dem Flieger und den per- drucke bis zur Versuche-Fassung und werden
sonifizierten Naturgewalten wird der Kampf auch in das Lehrstück (Partitur-Fassung)über-
mit Nebel, Schneesturm und Schlaf, mit der nommen; erst die Versuche-Fassung des Bade-
objektiven und der subjektiven Natur, aku- ner Lehrstücks korrigiert kommentarlos:
stisch wahrnehmbar gemacht. Diese Textpas- »Ende des zweiten Jahrtausend« bzw. »ohne
sagen, die sich ebenfalls auf Lindberghs Be- uns vergessen zu machen«.
richt stützen, verdeutlichen mit teilweise dra- Die Verbeugung vor dem ominösen ›Uner-
matischen Akzenten die Größe des Risikos und reichbaren‹ in einem ›neusachlichen‹ Kontext
den Grad der zu bewältigenden Schwierigkei- ist überwiegend mit Verwunderung registriert
ten. worden. Der Sinn der Zeilen ist unklar, weil
Im Mittelpunkt steht hier die Haltung des der Begriff des Unerreichbaren vieldeutig
Fliegers. Lindbergh wird als Kämpfender prä- bleibt. Eindeutig ist nur, dass der Mensch mit
sentiert, der unbeirrbar und mutig sein Ziel seinen Möglichkeiten an eine Grenze gerät.
verfolgt, gleichwohl auch Furcht kennt, im Au- Trotz seiner Fähigkeit, die Natur mit Hilfe
genblick höchster Gefahr sogar seinen Auf- technischer Intelligenz zu übertreffen und der
stieg bereut: »warum bin ich narr aufgestiegen Schwerkraft zu trotzen, bleibt der Mensch als
/ jetzt habe ich furcht zu sterben« (S. 14). Sein Teil der Natur deren Gesetzen unterworfen:
zärtlich zu nennendes Gespräch mit seinem Dies scheint B. zum Ausdruck bringen zu wol-
Motor – »hast du genug öl? / meinst du das len. Die Grenzen denkbarer Naturbeherr-
benzin reicht dir aus? / hast du kühl genug? / schung sind durch die Naturgesetze selbst ab-
geht es dir gut?« (S. 15) – verleiht der Ma- gesteckt; ihrem Wirken wäre demnach der Be-
schine personale Qualität. Es zeigt an, dass richt über das Erreichte gewidmet.
sich Lindbergh des wechselseitigen Angewie- Der Schlusschor des Lindbergh-Hörspiels
senseins von Mensch und Maschine bewusst kehrt als Eingangschor des Lehrstücks wieder,
ist, was ebenfalls der Quelle entstammt: Der das als antithetisches Gegenstück zum ›Hel-
Titel von Lindberghs Bericht We meint diese denlied‹ des Hörspiels konzipiert ist: Dem ge-
Gemeinschaft von Pilot und Fluggerät. Auf den lungenen Flug hier steht ein gescheiterter Flug
deutschen Titel Wir zwei spielt B. in der ach- dort gegenüber (vgl. Lehrstück / Das Badener
ten Nummer wiederholt an (S. 15 f.). Lehrstück vom Einverständnis, BHB 1). Am
Die Darstellung des Fluges bricht an dieser Modellfall eines abgestürzten, der Hilfe be-
Stelle unvermittelt ab (eine unterbrochene Li- dürftigen Fliegers, der sich im Augenblick der
nie scheint anzudeuten, dass der Text noch Niederlage seiner Nichtigkeit bewusst wird,
unvollständig und eine Erweiterung vorgese- werden die Grenzen und die Problematik der
hen war). Der abschließende Bericht über das Naturbeherrschung aufgezeigt. Hat das Hör-
Erreichte wertet die Überwindung der Schwer- spiel noch teil an neusachlicher Naivität, in-
kraft durch den Bau von Flugapparaten (»ge- dem es zwischen technischem und sozialem
gen ende des 3. jahrtausend unserer zeitrech- Fortschritt nicht differenziert, so reflektiert
nung«; S. 16)als Beleg für die gewaltigen Fort- das Lehrstück die Thematik des Hörspiels
schritte, die der Mensch in der Beherrschung auch mit Blick auf die sozialen Konsequenzen
218 Der Lindberghflug / Der Flug der Lindberghs / Der Ozeanflug

technischen Fortschritts. – Bevor beide Arbei- pation an funktechnisch vermittelter Musik


ten im Juli 1929 in Baden-Baden zur Auffüh- wiederholt erläutert, erstmals in den »Grund-
rung gelangten, veränderte sich sowohl die sätzen über die Radioverwendung« (GBA 28,
Textgestalt des Hörspiels als auch B.s Vorstel- S. 322), die dem Schreiben an Hardt beigefügt
lung von seiner Verwertung im Rundfunk noch waren (S. 323). In einer auf den ersten Blick
erheblich. keineswegs durchsichtigen Weise werden in
Die Gelegenheit, sich in die Rundfunkde- dem von B. mehrfach leicht variierten Text
batten einzuschalten, war günstig, die Auf- Sinn und Zweck gemeinsamen Musizierens
merksamkeit der Fachwelt war auf Baden-Ba- von Rundfunk und Hörer reflektiert. Der
den gerichtet, man erwartete entscheidende »Staat« wird dort als jene Instanz angespro-
Impulse zur Lösung der Probleme einer spe- chen, die über den (privatwirtschaftlich orga-
ziell für den Rundfunk geeigneten Musik. Ei- nisierten, aber staatlich kontrollierten) Rund-
nige Wochen vor der Aufführung des Hörspiels funk und dessen kommunikationstechnische
teilte B. Ernst Hardt, dem Generalintendanten Mittel verfügte. Die reklamierte Verpflichtung
des Kölner Senders, der die Regie der musika- des Staates, »vieles zu können« (S. 323),
lischen Hörspiele für Baden-Baden übernom- nimmt die kulturelle Verantwortung beim
men hatte, anlässlich der Übersendung des Wort, die von den Sendeanstalten von Anfang
Manuskripts Überlegungen zu einem Radio- an beansprucht wurde, und berücksichtigt die
experiment mit. Er wollte die vorgesehene öf- Konzentration von Spezialisten (Berufsmusi-
fentliche Generalprobe zur Demonstration ei- kern und technischen Fachkräften) beim
ner neuen Art und Weise der Verwendung des Rundfunk. Der musikalische Laie dagegen,
Hörspiels nutzen, die zugleich eine neue Ver- der Hörer, hat »alles das [zu] lernen, was zum
wendung des Rundfunks selbst wäre: »Es Genuß nötig ist« (ebd.). Die Notwendigkeit
könnte wenigstens optisch gezeigt werden, der »Beteiligung des Hörers an der Radio-
wie eine Beteiligung des Hörers an der Radio- kunst« (S. 322) wird rezeptionspsychologisch
kunst möglich wäre. (Diese Beteiligung halte begründet: Der ›Genuss‹ an der Musik ver-
ich für notwendig zum Zustandekommen des lange die volle Konzentration auf das Werk,
›Kunstaktes‹.)« (GBA 28, S. 322) Beteiligung die vor dem Empfangsgerät, in der Alltagsum-
des Hörers an der Radiokunst: ein damals ori- gebung mit ihren Ablenkungen und möglichen
gineller Gedanke. B.s Vorschlag zielte auf eine Störungen, nicht ohne weiteres gegeben ist. In
medienspezifische Kunstform ab. Radiokunst, der Konzentration auf das Werk liegt der äs-
›radiophonisches‹ Musizieren war nach seiner thetische Nutzen (»Genuß«) des Mitwirkens.
Auffassung ohne die Mithilfe des Hörers nicht B.s Vorstellungen vom Zusammenwirken
realisierbar. Wie diese zuwege gebracht wer- von Radio und Hörer gingen über das hinaus,
den könnte, wollte B. auf einem zweigeteilten was die Sender sich damals zumuten und die
Podium demonstrieren: Auf der einen Seite Fachleute sich unter funkspezifischem Musi-
sollte der »Radioapparat« (Sänger, Musiker, zieren vorstellen wollten. Aber in Baden-Ba-
Sprecher usw.) platziert werden, auf der an- den, in einer von institutionellen Zwängen
deren Seite »sitzt ein Mann in Hemdärmeln vergleichsweise freien Atmosphäre, konnte
mit der Partitur und summt, spricht und singt das (im Festivalprogramm übrigens nicht an-
den Lindberghpart. Dies ist der Hörer.« (Ebd.) gekündigte) Experiment doch realisiert wer-
Der Hörer hätte den Lindberghpart auszufüh- den. Ein Experiment war das Lindbergh-Hör-
ren, der Rundfunk die anderen Teile des Hör- spiel noch in anderer Hinsicht. Seit März 1929
spiels zu liefern; auf diese Weise würden war bekannt, dass sich Hindemith an der Ver-
Rundfunk und Hörer, einander ergänzend, ge- tonung beteiligen würde. Es handelt sich also
meinsam das Werk zur Aufführung bringen. um die Gemeinschaftsarbeit zweier Kompo-
Dies wäre eine dem Medium eigentümliche nisten, die einen Ausnahmefall im Bereich
Form musikalischer Praxis. neuer Musik bildet und außerhalb des Festi-
B. hat Notwendigkeit und Sinn der Partizi- vals kaum vorstellbar war.
219

Der Lindberghflug. Text, Vertonung deutschen Rundfunks. Künstlerische Leitung:


Heinrich Burkard, Joseph Haas, Paul Hinde-
mith; danach die Zitate). Zu den Naturgewal-
Der Baden-Badener Aufführung lag eine ge- ten, mit denen sich der Pilot auseinander zu
genüber dem Erstdruck erheblich erweiterte setzen hat (Nebel, Schneesturm, Schlaf), tritt
Textfassung zugrunde. Eine Woche vor der Ur- die Schwerkraft hinzu: Das Flugzeug droht ins
aufführung druckten drei Radio-Programm- Meer zu stürzen (Nr. 7). Zwischen die beiden
zeitschriften eine auf zwölf Nummern erwei- neueren, Amerika und Europa konfrontieren-
terte Fassung ab; ihr Titel: Der Lindberghflug den Textteile werden die gedanken des glück-
(Südwestdeutsche Rundfunk-Zeitung 5 [1929], lichen (Nr. 10) eingeschoben. Sie lesen sich
Nr. 29 vom 21.7., S. 5f., danach die Zitate; Ar- wie eine ironische Replik auf den unerschüt-
beiterfunk 4 [1929], Heft 30 vom 26.7.; Die terlichen Glauben Amerikas, »daß der glück-
Werag 4 [1929], Heft 30 vom 28.7.). Hinzuge- liche ankommt«. Was den Fliegenden bewegt
kommen waren zwei Textteile, in denen die und ihn motiviert, sein Letztes zu geben, ist
Erwartungshaltungen diesseits und jenseits die Furcht, die in ihn gesetzten Erwartungen
des Atlantik konfrontiert werden: Während zu enttäuschen (»zwei kontinente / warten auf
»ganz amerika glaubt daß der ozeanflug / des mich ich / muß ankommen«); und noch etwas
capitän lindbergh glücken wird« (Die Stadt anderes: »wer auf das meer / hinausfliegt und
New York), ist man in Europa skeptisch, sieht ersauft / der ist ein verdammter narr denn /
man zu viele Schwierigkeiten natürlicher, auf dem meer ersauft man / also muß ich an-
technischer und menschlicher Art (Die Stadt kommen.« Der faule Konsens der Spruchweis-
Paris). Bemerkenswert ist, dass sich die Zu- heit ›Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin
versicht Amerikas nicht primär auf den hohen um‹ kann nur durch die Tat widerlegt werden.
Standard amerikanischer Technik gründet. Eingefügt wurde zwischen Lindberghs Ge-
Die amerikanische Presse ist voller Optimis- spräch mit seinem Motor (jetzt Nr. 12) und der
mus, weil »niemals […] ein mann / unseres Ankunft in Paris (Nr. 14) das so genannte Fi-
landes so sehr / für einen glücklichen gehalten scherduett. Die beiden schottischen Fischer,
worden« sei: »also darum glauben wir / daß die Lindbergh unweit der europäischen Küste
der glückliche ankommt«. Ein Stück jenes sichtet und mit denen er in Kontakt zu treten
›amerikanischen Traums‹ scheint hier artiku- versucht (B.s Quelle hierfür ist wiederum
liert zu sein, zu dessen Credo das unerschüt- Lindberghs Autobiographie), repräsentieren
terliche Vertrauen in das Glück des Tüchtigen den rückständigsten Teil Europas. Die Über-
gehört. Der Optimismus Amerikas behält zwar zeugung von der Unmöglichkeit eines Fluges
recht, aber die anderen Textteile belegen auch, über den Ozean ist bei einem der Fischer so
welchen Faktoren das Gelingen des Fluges stark, dass er selbst auf den empirischen Au-
tatsächlich zu danken war. Vor dem abschlie- genschein glaubt verzichten zu können (»wozu
ßenden Bericht über das Erreichte wurde ein da schauen wo es / doch niemals sein kann?«),
kurzer Text eingefügt, der die Landung des ein Motiv, das B. später in der Szene 4 des
Fliegers auf dem Pariser Flugplatz aus der Per- Galilei erneut verwendete. Als Nr. 15 folgt ein
spektive der wartenden Menge beschreibt (Die Zwischentitel ohne weiteren Text, der die An-
Stadt Paris). kunft des Fliegers in Paris meldet. Der ab-
Vor der Uraufführung bearbeitete B. den schließende Bericht, unverändert aus der ers-
Text noch einmal geringfügig, formulierte ei- ten Fassung übernommen, erhielt nun – den
nige Zwischentitel neu und erweiterte das Schlusszeilen entsprechend – den Titel bericht
Hörspiel auf nunmehr 16 Nummern; in dieser über das unerreichbare (Nr. 16). In dieser
Gestalt findet es sich im Programmheft des Textgestalt wurde Der Lindberghflug (in kei-
Festivals (Deutsche Kammermusik Baden-Ba- ner B.-Ausgabe enthalten; zugänglich in: Hin-
den 1929 / 25.–28. Juli. Veranstaltet von der demith, S. XIX-XXIII) in Baden-Baden aufge-
Stadt Baden-Baden unter Mitwirkung des führt.
220 Der Lindberghflug / Der Flug der Lindberghs / Der Ozeanflug

Weill komponierte im Februar/März 1929 Uraufführung / Brechts


zunächst die Nummern 1 bis 4 und 9 (zur Ent-
stehungsgeschichte der Musik: Hindemith, S.
Radiodemonstration / Ursendung
XIf.). Die sparsam instrumentierte Vertonung
hält sich überwiegend in der Nähe eines von In Baden-Baden fanden zwei Aufführungen
Jazzrhythmen untermalten Rezitativs. Weill des Lindberghfluges statt, zunächst am 27. 7.
verwendet neben Blasinstrumenten und Strei- 1929 als Rundfunk-Kantate, wie von der Fe-
chern auch Pauken und Schlagzeug, daneben stivalleitung geplant. Der Programmpunkt
Banjo und Klavier. Neben Tenor (Lindbergh) ›Originalmusik für den Rundfunk‹ wurde am
und Bariton (›Die Stadt New York‹, Nr. 4 und Vormittag im großen Saal des Kurhauses mit
Nr. 9a) ist ein vierstimmig besetzter Kammer- einem Experimentalvortrag von Karl Willy
chor vorgesehen, der die Nr. 1, die Stimme des Wagner, dem Präsidenten der Heinrich-Hertz-
Schiffes ›Empress of Scotland‹ (Nr. 4) sowie Gesellschaft, über elektro-akustische Pro-
Nr. 9b (»wenn der glückliche über das meer bleme der Klangwiedergabe im Rundfunk er-
fliegt«) zu singen hat. Hindemith steuerte zu- öffnet. Wagner demonstrierte und erläuterte
nächst die drei Naturstücke Nr. 5, 6a und 8 bei. die Ursachen und Formen der Klangverzer-
Die Soloparts sind für Bariton (›Nebel‹ Nr. 5), rung bei radiophonischer Übermittlung und
Bass (›Schneesturm‹ Nr. 6a) und Alt (›Schlaf‹ deutete Möglichkeiten an, wie man sie in Zu-
Nr. 8) gesetzt. Da Weill mit den Nummern 2 kunft technisch in den Griff bekommen
und 3 die großen Lindbergh-Passagen vertont könnte. Sein Vortrag steckte den Rahmen ab,
hatte, lag es nahe, dass er auch die beiden in dem die Probleme funkspezifischer Musik
restlichen Monologe der Titelfigur (Nr. 6b und in Baden-Baden behandelt werden sollten.
12) übernahm. Hindemith sparte deshalb in Absicht der Veranstalter war es, den Komponi-
seinen Nummern konsequent die Worte Lind- sten und reproduzierenden Musikern die akus-
berghs aus; sie werden dort ausnahmslos rezi- tische Differenz zwischen konzertant vorge-
tiert. Die Chornummern 11 und 14 (Nr. 11 ist tragener und radiophonisch übermittelter
nicht erhalten) fielen Hindemith zu, ebenso Musik und damit die besonderen Erforder-
der Schlusschor (Nr. 16). In diesem a cappella nisse des Rundfunkmusizierens zu verdeutli-
und polyphon gesetzten Stück erhält »das Un- chen. Die vorgestellten Radiomusiken fun-
erreichbare« besonderen Nachdruck, indem es gierten mehr oder weniger als Demonstrati-
vom vierstimmigen Chor kanonartig und in onsobjekte in diesem Rahmen. Auch der öf-
verlangsamtem Tempo viermal vorgetragen fentlichen Generalprobe des Lindberghfluges,
wird, bevor die Zeile »diesem ist dieser bericht in unmittelbarem Anschluss an den Vortrag
gewidmet« – langsam, aber fortissimo gesun- von Wagner angesetzt, war diese Aufgabe zu-
gen – das Hörspiel abschließt. Die von B. erst gedacht: Das Publikum sollte Gelegenheit er-
unmittelbar vor Festivalbeginn ergänzten Text- halten, das Hörspiel zunächst konzertant zu
teile Nr. 7, 10, 13 und 15 blieben unvertont, hören, bevor es bei der Uraufführung radio-
mit Ausnahme des Fischerduetts (Nr. 13), das phonisch zu Gehör gebracht würde. – B. dage-
Weill offensichtlich in letzter Minute (für Bass gen, der funkspezifisches Musizieren nicht auf
und Bariton) komponierte. Die Nummern 7 das übertragungstechnische Problem reduziert
und 10 sind vom Sänger des Lindberghparts zu sehen wollte, hatte die Absicht, die öffentliche
rezitieren; Nr. 15, die Ankunft des Fliegers in Generalprobe zur Demonstration einer neuen
Paris, ein Zwischentitel ohne weiteren Text, Art und Weise der Kommunikation von Rund-
wurde bei der Erstaufführung mit funkspezifi- funk und Hörer umzufunktionieren. Die Ge-
schen Mitteln ausgestaltet. neralprobe musste jedoch abgesetzt werden,
weil der Vortrag von Wagner erheblich länger
dauerte als vorgesehen und auch die für den
Lindberghflug reservierte Zeit in Anspruch
nahm (die Angaben GBA 3, S. 406, und GBA
Uraufführung / Brechts Radiodemonstration / Ursendung 221

24, S. 482, sind unzutreffend). So war B.s Vor- auf statt, am Sonntag (28.7.) im Anschluss an
haben zunächst einmal vertagt. die für den Vormittag angesetzten Rundfunk-
Programmgemäß fand am späten Nachmit- musiken – diesmal konzertant auf dem Podium
tag des 27.7. die Uraufführung des Hörspiels im großen Saal des Kurhauses. Sie wurde we-
statt. Wie die beiden anderen Rundfunkmu- der vom Rundfunk übertragen, noch handelte
siken des Tages – die Serenade für Rundfunk es sich um ein theatralisches Experiment, noch
von Jerzy Fitelberg und das Funkkabarett Pep war es Hardt, der den Lindberghflug den Vor-
oder God’s own country von Walter Goehr stellungen B.s entsprechend arrangiert hatte
nach Texten von Lion Feuchtwanger – wurde (so GBA 3, S. 406). Auf dem zweigeteilten Po-
der Lindberghflug in einem als Aufnahmestu- dium demonstrierte B., der die Leitung der
dio hergerichteten Raum des Kurhauses pro- Vorführung selbst übernommen hatte, wie der
duziert und über Lautsprecher in mehrere um- Hörer an der Rundfunkmusik beteiligt werden
liegende Säle übertragen. Die Regie hatte könnte. Während das ›Radio‹ (Instrumentali-
Hardt, die musikalische Leitung Hermann sten und Sänger) auf der einen Seite des Po-
Scherchen; auch Weill war an der Einstudie- diums den Teil der Partitur produzierten, der
rung beteiligt. Als Sprecher fungierte Paul La- über den Sender gehen sollte, steuerte der
ven vom Frankfurter Sender, der Schöpfer der ›Hörer‹ (der Sänger des Lindbergh), auf der
Livereportage, der auch im Mai 1927 über anderen Seite sitzend, seinen Teil an der Pro-
Lindberghs Ankunft in Paris berichtet hatte. duktion bei. Der Hörer sollte zu Hause mit der
Die Sänger waren Josef Witt (Stadttheater Partitur vor seinem Empfangsgerät sitzen – als
Dortmund), Johannes Willy (Frankfurter Hörer der vom Radio gesendeten Partien und
Oper), Oskar Kálmán, (Berliner Krolloper) als Sänger des Lindberghparts, den der Rund-
und Betty Mergler (Opernhaus Frankfurt). funk aussparte. ›Das Radio‹ und ›Der Hörer‹
Den Kammerchor stellte Hugo Holles Madri- waren durch große Schrifttafeln kenntlich ge-
galvereinigung aus Stuttgart, den instrumen- macht. Auf einer im Hintergrund gespann-
talen Teil übernahm das Frankfurter Rund- ten Leinwand stand in großen Lettern die
funkorchester. – Neben den sprachlichen und Theorie, die der Demonstration zugrunde lag:
musikalischen Mitteln wurden bei der Über- die (oben zitierten) »Grundsätze über die
tragung auch andere Geräuschmittel verwen- Radioverwendung«. B. erläuterte in einer
det: leise Motorgeräusche, eine Schallplatten- Einführungsrede diese eigentümliche Art der
aufnahme mit Sirenen und großstädtischem Verwendung des Lindberghfluges; er war auch
Lärm bei Lindberghs Start in New York, Mor- während der Aufführung auf dem Podium
sezeichen der Funker, Geräusche des Windes anwesend, fungierte als Ansager und griff
und des Wassers, das Geräusch eines leise mit zusätzlichen Hinweisen ein (vgl. den
klopfenden Motors in Nr. 12; bei der Ankunft von B. und Elisabeth Hauptmann verfassten
in Paris wurde eine Schallplatte mit Original- Bericht [in GBA nicht enthalten] in: Stein-
aufnahmen eingespielt. Dass der Einsatz die- weg, S. 64 f.; dazu Krabiel, S. 45-47 und 335 f.,
ser Mittel von der Kritik vielfach bemängelt Anm. 19).
wurde, belegt, in welchem Maße das Genre In seiner im Entwurf überlieferten Einfüh-
›Hörspiel‹ als musikalische Gattung verstan- rungsrede (in GBA ebenfalls nicht enthalten;
den wurde, deren stilistische Reinheit durch zit. nach: Steinweg, S. 39–41; dazu Krabiel,
Vermischung mit naturalistischem Geräusch- S. 335, Anm. 18) setzte B. die Akzente deutlich
material nicht beeinträchtigt werden sollte. anders als noch im Schreiben an Hardt. Ein-
Der Lindberghflug wurde vom Publikum und leitend wird die »Wiedergabe durch den
von der Kritik gleichwohl mit Beifall aufge- Rundfunk« (d. h. die per Lautsprecher über-
nommen. Die Aufführung galt als herausra- tragene Uraufführung) vom Vortag als »künst-
gendes Ereignis des Festivals. lerische Suggestion […] auf den Hörer« zu
Eine zweite, ursprünglich nicht geplante dem Zweck, »in ihm Illusionen zu erzeugen«,
Aufführung fand auf Betreiben B.s am Tag dar- einer – mit Rücksicht auf Hardt – maßvollen,
222 Der Lindberghflug / Der Flug der Lindberghs / Der Ozeanflug

aber unüberhörbaren Kritik unterzogen den, in: Musik im Leben 5 [1929], S. 119).
(S. 39). Demonstrieren wollte B. nun »eine an- Seine Kritik ließ B. nicht unbeeindruckt; die
dere Verwendungsmöglichkeit« des Hörspiels, späteren Korrekturversuche an Text und Theo-
»die zugleich auch eine andere Verwendung rie betrafen nicht zuletzt diesen Punkt.
des Rundfunks bedeuten würde« (ebd.). Be- Die erste Ausstrahlung des Lindberghfluges
merkenswert ist, dass die Beteiligung des Hö- erfolgte am Montag, den 29. 7. 1929. Sechs der
rers jetzt nicht mehr ästhetisch und rezepti- acht Baden-Badener Rundfunkmusiken wur-
onspsychologisch, sondern pädagogisch mo- den nach Abschluss des Festivals in identi-
tiviert wird: Der Hörer übernimmt »jenen scher Besetzung im Frankfurter Sendehaus
Part, der geeignet ist, ihn zu erziehen« (S. 40). noch einmal produziert und im Abendpro-
Diese Akzentverschiebung machte Korrektu- gramm in einer eigenen Sendung ausgestrahlt;
ren an den »Grundsätzen über die Radiover- sie lief über alle deutschen Sender mit Aus-
wendung« erforderlich, die dem Schreiben an nahme der Deutschen Welle und der Deut-
Hardt beigefügt waren. Gestrichen werden schen Stunde in Bayern. Das publizistische
musste insbesondere der Hinweis auf das äs- Echo auf diese Sendung unterschied sich er-
thetische Vergnügen (»Genuß«) als Zweck und heblich von der freundlichen Aufnahme durch
Motiv einer Partizipation des Hörers. Das Mit- das Festivalpublikum. Zwar fehlte es nicht an
tun hatte seinen Sinn jetzt im pädagogischen positiven Würdigungen des Hörspiels; über-
Zweck der Übung vor dem Empfangsgerät. Da- wiegend aber zeigte sich hier, wo Neue Musik
mit hatten B.s radio- und musiktheoretische aus dem abgeschirmten Bereich des Musik-
Überlegungen Anschluss an seine theateräs- festes in die Öffentlichkeit des Massenme-
thetischen Reflexionen gefunden, in denen diums trat, eine sich bis zur Aggressivität stei-
pädagogische Interessen eine Zeit lang domi- gernde Ablehnung moderner Tonkunst (vgl.
nierten (»Kunst und Radio sind pädagogischen Krabiel, S. 47–50).
Absichten zur Verfügung zu stellen«; GBA 21, Die Partitur der von Weill und Hindemith
S. 219). gemeinsam komponierten Fassung, die bis
Neben den organisatorischen und musikpä- heute nicht aufgeführt werden darf, blieb da-
dagogischen Problemen sprach B. die grund- mals unpubliziert (zugänglich in: Hindemith,
sätzlichere Frage an, wer den Hörer »zwingen S. 105–207). Weill hatte sich noch vor der Ur-
könne, mitzutun und erzogen zu werden« aufführung zu einer eigenen Vertonung des ge-
(S. 40). Seine lapidare Antwort: »nur der samten Lindberghfluges entschlossen. Sie war
Staat« (ebd.). Damit kam in erster Linie die im Spätherbst 1929 abgeschlossen und wurde
Schule als institutioneller Rahmen einer sol- am 5. 12. des Jahres von Otto Klemperer in der
chen ›Kunstübung‹ in Betracht. Ihr pädago- Berliner Krolloper in konzertanter Form ur-
gischer Wert »für den Staat« leuchte ein, wenn aufgeführt. Die neue Komposition war kein
man sich vorstelle, »dass die Knabenschulen Hörspiel mehr, ihre Bestimmung lag in der
mit dem Rundfunk zusammen solch ein Werk schulischen Verwendung. Weill bezeichnete
aufführten. Tausende junge Leute würden in das Werk als »Kantate für Soli, Chor und Or-
ihren Klassenzimmern angehalten werden, chester« (Programmheft der Uraufführung:
jene heroische Haltung einzunehmen, die Staatstheater Berlin / Staatsoper am Platz der
Lindbergh in diesem Werke auf seinem Fluge Republik: 3. Sinfonie-Konzert. Donnerstag,
einnimmt.« (Ebd.) Diese Lernzielbestimmung den 5. Dezember 1929. Berlin, [S. 1]) und
rief die Reformpädagogik auf den Plan, die ihr sprach gelegentlich von der ›Schulfassung‹
Ideal einer Erziehung zur Gemeinschaft tan- des Lindberghfluges (Wo steht der Musiker?
giert sah. Der Musikpädagoge und Musikkri- In: Berliner Börsen-Courier Nr. 601 vom
tiker Eberhard Preußner zeigte sich angesichts 25. 12. 1929, Morgen-Ausgabe). Textgrund-
der »Glorifizierung des Fliegerhelden« und lage ist im Wesentlichen die Baden-Badener
der »neuen Form von Heldenanbetung« ent- Fassung; Nr. 7 (Wasser) wurde gestrichen, da
täuscht (Deutsche Kammermusik Baden-Ba- ihre Wirkung auf nichtmusikalische Geräusch-
Uraufführung / Brechts Radiodemonstration / Ursendung 223

mittel angewiesen war. Weill komponierte die derum Erläuterungen hinzu. Damit liegt eine
ursprünglich von Hindemith vertonten Teile neue Bearbeitungsphase des Textes und der
neu und paßte seine eigenen Vertonungen dem Theorie seiner Verwendung vor.
neuen Verwendungszweck an, etwa durch Ver- Eine dem Text vorangestellte Notiz charak-
einfachung der Instrumentalbegleitung. Den terisiert den Verwendungszweck folgenderma-
pädagogischen Zweck der Neuvertonung er- ßen: »Der erste Versuch ›Flug der Lindberghs‹
läuterte er in einer Notiz zum »Lindberghflug« ein Radiolehrstück für Knaben und Mädchen,
im Programmheft der Uraufführung (der in nicht die Beschreibung eines Atlantikflugs,
der Weill-Literatur unbekannte Text ist mitge- sondern ein pädagogisches Unternehmen, ist
teilt in: Krabiel, S. 86). zugleich eine bisher nicht erprobte Verwen-
Auch B. formulierte anlässlich der neuen dungsart des Rundfunks, bei weitem nicht die
Vertonung seine Verwendungstheorie erneut – wichtigste, aber einer aus einer Reihe von Ver-
in Anmerkungen zum Textbuch, das aus die- suchen, welche Dichtung für Übungszwecke
sem Anlass erschien (Lindberghflug. Vorab- verwenden.« (Versuche. Potsdam 1930. Heft 1,
druck aus B., Versuche 1–3, Berlin 1929), an- S. [1]; in GBA nicht enthalten)
knüpfend an seine Überlegungen zum Baden- »Dichtung für Übungszwecke« ist die all-
Badener Radioexperiment. Für ihn blieb das gemeine Bestimmung jenes Typs von ›Versu-
Lindberghflug-Projekt Teil seiner radiotheo- chen‹, den B. jetzt unter dem Genrebegriff
retischen Reflexionen. Der pädagogische ›Lehrstück‹ subsumierte. Die neue Verwen-
Übungszweck einer Zusammenarbeit von dungsart des Rundfunks, das Zusammenwir-
Rundfunk und Hörer wird noch stärker akzen- ken von technischem Medium und Übenden,
tuiert, das Zusammenwirken als Hebel zur stellt die Besonderheit des Radiolehrstücks
Veränderung des Rundfunks interpretiert: dar; dessen ›Experiment‹-charakter (vgl. Die
Dessen einseitige Kommunikationsstruktur Lehrstücke, BHB 1) wird in den Erläuterungen
sollte aufgebrochen, der Hörer als Übender ausführlicher dargestellt.
Produzent und aktiver Partner des Rundfunks Die neue, aus 17 Nummern bestehende
werden. Textfassung, im Frühjahr 1930 entstanden, ist
das Ergebnis von Ergänzungen und Einfügun-
gen, auch kleineren Umstellungen. Für die
Analyse ist der Hinweis wichtig, der Flug der
Der Flug der Lindberghs – ein Lindberghs sei nicht die Beschreibung eines
Radiolehrstück für Knaben und Atlantikfluges (die früheren Fassungen waren
Mädchen dies sehr wohl), sondern ein pädagogisches
Unternehmen. Pädagogisch motiviert war die
Beteiligung des Hörers an der musikalischen
Mit dem Textbuch zur Aufführung in der Kroll- Übung zwar bereits in Baden-Baden. Jetzt
oper ist die Textgeschichte des Lindberghflu- wird der Übungscharakter einer Reproduktion
ges noch nicht beendet. Im Elisabeth-Haupt- durch eine kleine Textkorrektur unterstrichen
mann-Archiv in Berlin befindet sich eines der und anders akzentuiert: Die Aufforderung
seltenen Exemplare dieses Textbuchs vom De- (Nr. 1) richtet sich nicht mehr »an die ame-
zember 1929 (Kopie: BBA 2229/1–8). In dieses rikanischen Flieger«; formuliert vom »Ge-
trug B. zahlreiche Korrekturen und Ergänzun- meinwesen«, richtet sie sich »an jedermann«
gen ein, aus denen eine neue, erheblich verän- (GBA 3, S. 9). Aufgerufen wird nicht mehr zur
derte Fassung hervorging. Sie erschien im Juni ersten Überfliegung des Ozeans, sondern zu
1930 in Heft 1 der Versuche. Der Titel lautete deren Nachvollzug »Durch das gemeinsame /
nun: Der Flug der Lindberghs; im Untertitel – Absingen der Noten / Und das Ablesen des
Ein Radiolehrstück für Knaben und Mädchen Textes« (ebd.). Damit verändert sich die Per-
– wird die Arbeit erstmals als ›Lehrstück‹ be- spektive: Es wird von der Beschreibung des
zeichnet. Der neuen Fassung fügte Brecht wie- singulären Fluges weg- und zu den Übenden
224 Der Lindberghflug / Der Flug der Lindberghs / Der Ozeanflug

hingelenkt. Um diese geht es: um die Erfah- (S. 23). Wichtig ist allein der in kollektiver
rungen und Erkenntnisse, die sie im Vollzug Anstrengung erreichte Fortschritt in der Na-
der Übung erwerben können – im Nachvollzug turbeherrschung. Der Kampf mit der feind-
des Lindberghparts, der jetzt konsequenter- lichen Natur (»Mir sind feindlich Wasser und
weise im Titel und in der Rollenbezeichnung Luft, und ich / Bin ihr Feind«; S. 15) wird in
im Plural erscheint. Die neue Fassung hat den Zusammenhang der Entwicklung der wis-
nicht mehr die Verherrlichung des individuel- senschaftlich-technischen Produktivkräfte ge-
len Helden zum Inhalt; in den Vordergrund stellt. Das geschieht in einer neu eingefügten
treten die Übenden als Subjekte eines päd- umfänglichen Nummer, in der »die Lind-
agogischen Unternehmens: der (vokalmusika- berghs« die Grundlagen des Unternehmens re-
lischen) Übung vor dem Empfangsgerät. flektieren (Nr. 8: Ideologie, S. 15–17); sie mar-
Dass die Versuche-Fassung noch in anderer kiert die entschiedenste Korrektur an der frü-
Hinsicht das Ergebnis einer ›Selbstkorrektur‹ heren Textfassung. Es ist ein Hymnus auf den
war, hat Walter Benjamin erkannt. Die Be- Beginn einer neuen Zeit (»Viele sagen, die
geisterung über Lindberghs ersten Atlantik- Zeit sei alt / Aber ich habe immer gewußt, es
flug »verpuffte als Sensation. Brecht bemüht ist eine neue Zeit«; ebd.). B.s aufklärerischer
sich, im ›Flug der Lindberghs‹ das Spektrum Fortschrittsoptimismus ist hier noch ungebro-
des ›Erlebnisses‹ zu zerlegen, um ihm die Far- chen.
ben der ›Erfahrung‹ abzugewinnen. Der Er- Der Flug (»eine Schlacht gegen das Primi-
fahrung, die nur aus Lindberghs Arbeit, nicht tive / Und eine Anstrengung zur Verbesserung
aus der Erregung des Publikums zu schöpfen des Planeten«; GBA 3, S. 16) ist ein Kampf mit
war und ›den Lindberghs‹ zugeführt werden dreifacher Stoßrichtung: »gegen mein Flug-
sollte.« (Benjamin, S. 28) Die sensationelle zeug« und »Gegen mich selber«, aber auch »ge-
Leistung des Fliegers wird nun als Teil der gen die Natur« (ebd.). Hierzu heißt es im Ideo-
weniger spektakulären, aber folgenreicheren logie-Kapitel: »Jetzt nämlich / Laßt uns be-
Arbeit des Kollektivs der Flugzeugbauer be- kämpfen die Natur / Bis wir selber natürlich
griffen. Der Flug ist Teil der kollektiven »An- geworden sind. / Wir und unsere Technik sind
strengung zur Verbesserung des Planeten« noch nicht natürlich / Wir und unsere Technik
(GBA 3, S. 16). Er ist vor allem das Ergebnis / Sind primitiv.« (Ebd.)
gemeinsamer Arbeit von Flugzeugbauer und Das Ziel dieses ›Kampfes‹ ist nicht die Un-
Flieger: »Sieben Männer haben meinen Appa- terwerfung oder Zerstörung der Natur, son-
rat gebaut in San Diego / […] / Sie haben dern das Natürlichwerden des Menschen und
gearbeitet, ich / Arbeite weiter, ich bin nicht seiner Technik. ›Primitiv‹ ist sowohl der tech-
allein, wir sind / Acht, die hier fliegen.« nisch-wissenschaftliche Entwicklungsstand
(S. 13) als auch der Zustand des menschlichen Ge-
Der Flieger ist kein Abenteurer und Drauf- meinwesens (die »Unordnung / Der Men-
gänger, er hat eine schwierige Aufgabe über- schenklassen, weil es zweierlei Menschen gibt
nommen und steht in der Verantwortung. Die / Ausbeutung und Unkenntnis«; S. 17). ›Primi-
amerikanischen Zeitungen rühmen zu Unrecht tiv‹ ist drittens deren gedankliches Korrelat:
seinen »Leichtsinn« (Nr. 2); er hat sich sorgfäl- das falsche Bild der Welt in den Köpfen der
tig vorbereitet und wird kein unverantwortba- Menschen in Gestalt des Gottes- und Jenseits-
res Risiko eingehen (»Entweder mit dem glaubens. Er verschwände mit fortschreiten-
Schild oder auf dem Schild / Mache ich nicht der Naturbeherrschung und im Vollzug eines
mit«; S. 12). Aber er ist gefordert. Die in ihn ›natürlichen‹ Zusammenlebens der Menschen
gesetzte Erwartung spornt ihn an, sein Bestes (vgl. ebd.).
zu geben. Entsprechend präsentiert er sich Im Ideologie-Kapitel gerät Lindberghs At-
nach seiner Landung nicht als strahlender lantikflug unversehens zum Paradigma gesell-
Held, sondern verweist – im Zustand völliger schaftlichen Fortschritts. Er wird zum Modell-
Erschöpfung – auf die Leistung des Kollektivs fall für die Marx‘sche Auffassung, wonach die
Der Flug der Lindberghs – ein Radiolehrstück für Knaben und Mädchen 225

Dialektik von Produktivkraftentfaltung und wiegenden Teil aus den Anmerkungen vom
Produktionsverhältnissen das bewegende Mo- Dezember 1929, die auf eine Veränderung des
ment von Geschichte sei. Aber die Rechnung Rundfunks abzielten. In einem angefügten
geht im Falle Lindberghs nicht auf. Nicht von Passus (vgl. GBA 24, S. 88, Z. 25–38) vollzog
ungefähr zeigt der Text an diesem Punkt eine B. nun jedoch eine entschiedene Korrektur,
Blindstelle, erkennbar im ungeklärten Neben- indem er die Möglichkeit einer Veränderung
einander von Naturbeherrschung und sozialer des Rundfunks unter den gegebenen Voraus-
Revolution: Der Flug ist »eine Anstrengung setzungen radikal in Frage stellte. Seine Auf-
zur Verbesserung des Planeten / Gleich [sic] fassung lautete jetzt: Eine Veränderung des
der dialektischen Ökonomie / Welche die Welt Rundfunks ist nur möglich im Kontext einer
verändern wird von Grund auf.« (S. 16) Deren Veränderung der Gesamtgesellschaft. Erstmals
Zusammenhang wird so wenig entfaltet wie differenziert B. im hier diskutierten Zusam-
der zwischen den Maschinen und den Arbei- menhang zwischen dem existierenden und ei-
tern: »So auch herrscht immer noch / In den nem (denkbaren) künftigen Staat; erstmals
verbesserten Städten die Unordnung / Welche wird auch im Verwendungskonzept des Lind-
kommt von der Unwissenheit und Gott gleicht. berghfluges eine utopische Intention artiku-
/ Aber die Maschinen und die Arbeiter / Wer- liert. Die Verwendung des Übungstextes als
den sie bekämpfen« (S. 17). Radiolehrstück, heißt es in den Erläuterun-
Die Last an pädagogisch verwertbarem gen, könne nur der Staat organisieren – jene
Sinn, die B. dem ersten Atlantikflug im Nach- Instanz, die Verfügungsgewalt über den Rund-
hinein aufbürdete, konnte dieser schwerlich funk wie über die Schule hat. »Seine richtige
tragen. Der Versuch, das Hörspiel als ›Lehr- Anwendung aber macht ihn immerhin so weit
stück‹ auf den Stand des inzwischen erreichten ›revolutionär‹, daß der gegenwärtige Staat
Problembewusstseins zu bringen, war zum kein Interesse hat, diese Übungen zu veran-
Scheitern verurteilt, B.s ›Selbstkorrektur‹ stalten.« (Ebd.) ›Revolutionär‹ (so wollte B.
fand an seinem Gegenstand ihre Grenze. Auch seine Theorie wohl verstanden wissen) wäre
der abschließende Bericht über das Unerreich- die richtige Anwendung des Lindberghfluges,
bare, aus den früheren Fassungen übernom- weil sie die gegenwärtige Funktion und Struk-
men, befand sich nicht mehr im Einklang mit tur des Rundfunks in Frage stellte. Der Zweck
der Textintention. Die fällige Korrektur lie- des Radiolehrstücks wäre die Veränderung des
ferte erst eine Fußnote zum Badener Lehrstück Rundfunks; die Theorie seiner Verwendung
vom Einverständnis im 2. Heft der Versuche führt den Nachweis, dass es als strategisches
nach: »Im ersten Versuch heißt es fälschlich: Konzept im Dienste der Veränderung des Me-
Das Unerreichbare. Dies ist auszubessern in: diums nicht einsetzbar ist. So führt sich B.
das noch nicht Erreichte.« (GBA 3, S. 27) gewissermaßen selbst ad absurdum. Es ist
daran zu erinnern, dass seine Erläuterungen
das letzte Glied in einer Kette konzeptioneller
Überlegungen sind, an deren Anfang Absich-
ten ganz anderer Art standen. Sie sind das
Das Radiolehrstück als Produkt einer Reihe von Korrekturversuchen
›Experiment‹ an Text und Verwendungstheorie, die auf bei-
den Ebenen zu in sich schlüssigen Ergebnissen
kaum führen konnten.
Ein ähnlich zwiespältiges Bild zeigen die dem
Textdruck beigefügten Erläuterungen. Als Mit-
autor wird Peter Suhrkamp genannt, damals
Lektor bei Ullstein und Redakteur des Uhu;
sein Anteil an den Überlegungen ist nicht
mehr zu ermitteln. Sie bestehen zum über-
226 Der Lindberghflug / Der Flug der Lindberghs / Der Ozeanflug

Der Ozeanflug (1950) Der Süddeutsche Rundfunk verzichtete da-


mals auf eine Sendung des Hörspiels. Erst am
14. 12. 1966 kam eine Übertragung zustande
Der Flug der Lindberghs ist zwar als Radio- (Regie: Peter Schulze-Rohr), die erste nach
lehrstück nie realisiert worden, als Hörspiel 1945. Sie fand nur eine geringe Resonanz (vgl.
hat er einen Platz als frühes Beispiel des Gen- die verständnislose Kritik in der Stuttgarter
res gleichwohl behaupten können. Auch Weills Zeitung vom 16. 12. 1966, S. 36). Radio DDR I
Kantate wurde nach Ende des zweiten Welt- brachte den Ozeanflug am 25. 12. 1969 erst-
kriegs gelegentlich gespielt. – Am 19. 12. 1949 mals heraus, gestaltet als literarisches Hör-
bat der Süddeutsche Rundfunk in Stuttgart B. spiel ohne musikalische Begleitung. Seitdem
um Genehmigung zur Sendung des Hörspiels wurde das Hörspiel mehrfach gesendet. Dane-
im Rahmen einer historischen Retrospektive. ben gab es konzertante Aufführungen, auch
B. stimmte einer Produktion unter der Bedin- szenische Realisierungen. Es existiert eine
gung zu, dass eine Reihe von Änderungen vor- amerikanische, von Richard Meyer produ-
genommen würden: Das Hörspiel müsse unter zierte Fernsehfassung.
dem Titel Der Ozeanflug gesendet werden;
der Name Lindberghs, der während des Krie-
ges Sympathien für Hitler-Deutschland geäu- Literatur:
ßert hatte, sollte auch im Text getilgt bzw. Benjamin. – Dümling. – Hay, Gerhard: Bertolt
durch neutrale Formulierungen ersetzt und Brechts und Ernst Hardts gemeinsame Rundfunk-
der Sendung ein Prolog vorangestellt werden. arbeit. In: SchillerJb. 12 (1968), S. 112–131. -Hinde-
Die geforderten Textkorrekturen haben B.s mith, Paul: Sämtliche Werke. Bd. I/6: Szenische Ver-
Mitarbeiter und sein Verlag postum ausge- suche. Hg. v. Rudolf Stephan. Mainz 1982. – Kra-
biel. – Lucchesi/Shull. – Plachta, Bodo: »Himmel
führt. Zunächst 1959 in einem Reprint des Ver-
abgeschafft«. Technischer Fortschritt und sozialer
suche-Heftes vom Sommer 1930 (Versuche Wandel in Franz Kafkas Die Aeroplane in Brescia
1–12, H. 1–4, Berlin, Frankfurt a. M.), der ein und in Bertolt Brechts Der Flug der Lindberghs. In:
Kuriosum, wohl auch ein Unikum in der Ge- Delabar, Walter / Döring, Jörg (Hg.): Bertolt Brecht
schichte literarischer Textdrucke darstellt. Er (1898–1956). Berlin 1998, S. 163–188. – Steinweg,
beruht zwar auf der Ausgabe von 1930, es wer- Reiner (Hg.): Brechts Modell der Lehrstücke. Zeug-
nisse, Diskussion, Erfahrungen. Frankfurt a. M.
den jedoch alle Textstellen (lesbar) mit zwei
1976.
kräftigen Strichen überdruckt, in denen der
Name Lindberghs vorkommt, und andere For- Klaus-Dieter Krabiel
mulierungen werden darüber- bzw. daneben-
gesetzt. Spätere Ausgaben, die nach dem Prin-
zip der Ausgabe letzter Hand verfuhren, boten
den Text in der entsprechend durchkorrigier-
ten Form. Die GBA geht dagegen auf die Ver- Lehrstück / Das Badener
suche-Fassung von 1930 zurück; die früheren
Fassungen bleiben unberücksichtigt(dies steht Lehrstück vom
im Widerspruch zu den Editionsprinzipien,
nach denen die Ausgabe »grundsätzlich die au-
Einverständnis
torisierten und wirksam gewordenen Erst-
drucke« enthalten soll; GBA 3, S. 503). Der
Prolog, der die Ausmerzung des Namens be- Entstehung des Lehrstücks
gründet, endet mit den Zeilen: »Ihr aber / Seid
gewarnt: Nicht Mut noch Kenntnis / Von Mo-
toren und Seekarten tragen den Asozialen / Ins Erstmals erwähnt wird das Projekt in einem
Heldenglied.« (Ebd., S. 405; die Lesung »Hel- am 10. 3. 1929 eingegangenen Schreiben Hin-
denglied« statt »Heldenlied« beruht vermut- demiths an seinen Verleger Strecker, in dem es
lich auf einem Tippfehler)
Entstehung des Lehrstücks 227

heißt: »Mit Brecht plane ich eine Art Volks- Text, Vertonung
Oratorium für Baden.« (Hindemith, S. XIII)
Die Genrebezeichnung blieb noch unbe-
stimmt. Anfang Mai war dann von der »Baden- Das Lehrstück war ein Text nach Maß. Er hatte
Badener Kantate« die Rede (Strecker an Hin- einen (formalen) Gebrauchswert, sofern er
demith, ebd.). Zu diesem Zeitpunkt dürften sich für den musikalischen Zweck in hohem
zumindest Teile des Textes vorgelegen haben. Maße eignete. Mit Blick auf den sozialen Ge-
Am 25. Juni meldete Gertrud Hindemith, die brauchswert war B.s Idee entscheidend, den
Frau des Komponisten, dem Verlag: »Das im Genre Gemeinschaftsmusik steckenden
Lehrstück ist fast fertig« (ebd.). Die Arbeit, Anspruch zum Thema und Untersuchungsob-
deren Titel hier erstmals erwähnt wird, bleibt jekt eines Gemeinschaftsspiels zu machen:
gleichwohl Fragment und wird als solches in Gemeinschaft und das Verhältnis des Einzel-
Baden-Baden präsentiert. nen zu ihr ist im Lehrstück Problem und
Das Lehrstück entstand als Beitrag für den Übungsgegenstand. Es gibt kaum ein zweites
Programmpunkt ›Gemeinschaftsmusik / Mu- Motiv, mit dem B. sich damals so intensiv aus-
sik für Liebhaber‹ (vgl. Die Lehrstücke, BHB einander gesetzt hätte. Dass er mit der Wahl
1). Es setzte Bestrebungen fort, die bereits zur dieser Thematik die naiv-harmonisierende
Baden-Badener Tradition gehörten. Der Er- Gemeinschaftsideologie jener Kreise ins Vi-
folg seiner Kantate Frau Musica im Sommer sier nahm, deren musikalischer Praxis das
1928 scheint Hindemith ermutigt zu haben, auf Genre die entscheidende Anregung verdankte,
dem eingeschlagenen Weg noch ein Stück wei- erklärt manche Überspitzungen und eine ge-
terzugehen. Was ihm offenbar vorschwebte, wisse Forciertheit bei der Behandlung des
war eine Gemeinschaftsmusik nach dem Mo- Themas.
dell der Frau Musica – in etwas größeren Di- Das Lehrstück ist als Gegenentwurf zum
mensionen und auf aktueller Textgrundlage. Lindberghflug konzipiert; dessen Schlusschor
Seine Erwartungen an den Text waren vom als Eingangschor aufnehmend, knüpft es un-
musikalischen Zweck bestimmt: Es musste ein mittelbar an das Hörspiel an (vgl. Der Lind-
locker strukturiertes Gebilde sein, thematisch berghflug, Der Flug der Lindberghs, Der Oze-
einer gemeinschaftlichen Musikübung dien- anflug, BHB 1). Dem strahlenden Helden des
lich und einen differenziert-abwechslungsrei- Lindberghflugs steht im Lehrstück ein abge-
chen Einsatz musikalischer Mittel ermögli- stürzter Flieger gegenüber, ein Gescheiterter,
chend. der nun über sein Tun Rechenschaft ablegen
Für die Zusammenarbeit zwischen Autor muss. Damit wird ein zweites Thema relevant:
und Komponist war im Frühjahr 1929 zwei- Als Gemeinschaftsspiel thematisiert das Lehr-
fellos eine Basis vorhanden. In der Einschät- stück die Beziehung von Individuum und
zung des Kulturbetriebs und seiner Institu- Gemeinschaft, als Gegenstück zum Lind-
tionen, auch hinsichtlich möglicher Alterna- bergh-Hörspiel stellt es das Verhältnis von
tiven vertraten beide zu diesem Zeitpunkt technischem und sozialem Fortschritt zur Dis-
durchaus vergleichbare Positionen. Gemein- kussion. Während der Lindberghflug weitge-
sam war ihnen das pädagogische Interesse und hend dokumentarisch-reportagehaft angelegt
die Auffassung, Kunst müsse einen ›Ge- ist, präsentiert sich das Lehrstück als abstrakt-
brauchswert‹ haben. Die These vom gemein- philosophisches Modell.
schaftsfördernden Wert des Musizierens fin- Das in Baden-Baden aufgeführte Fragment
det sich auch bei B. in einer für ihn typischen bestand aus sieben Nummern (in GBA – ab-
radikalisierten Ausprägung. In einem vermut- weichend von den Editionsprinzipien [s. GBA
lich im Zusammenhang mit der Arbeit am 3, S. 503] – nicht enthalten; zit. nach: Hinde-
Lehrstück entstandenen Notat definierte er mith, S. XXIII-XXIX; zu weiteren frühen
Musik als »Organisation von Menschen auf Drucken: Krabiel, S. 62 f.). Zu seiner Auffüh-
Grundlage der Organisation von Tönen« (GBA rung war ein umfänglicher Apparat erforder-
21, S. 268).
228 Lehrstück / Das Badener Lehrstück vom Einverständnis

lich: zwei Männerstimmen – Tenor (der Ge- war sein Flugzeug nicht mehr gesehen worden
stürzte) und Bariton oder Bass (der Führer des und blieb trotz sofort eingeleiteter Suchaktio-
Chors) –, ein kleiner Chor, ein Orchester in nen verschollen. – Für B. war Nungesser der
beliebiger Stärke und Zusammensetzung, eine Prototyp des allein auf seinen persönlichen
als Fernorchester eingesetzte Blechbläser- Ruhm bedachten Individualisten, insofern
gruppe (ebenfalls variabel besetzbar), ferner Kontrastfigur zum sympathisch-bescheidenen,
eine Tänzerin, drei Clowns und ein Sprecher. seiner Aufgabe verpflichteten Lindbergh.
Daneben war die Mitwirkung des Publikums Nicht als Vorbild tritt er in Erscheinung, son-
in Text und Partitur vorgesehen: Als ›Menge‹ dern als Problemfall. Der allgemeine Gestus
bzw. als ›allgemeiner Chor‹ hatte es einzelne des Lehrstücks ist deshalb der der Untersu-
Teile des Lehrstücks mitzusingen. chung und Belehrung. Untersuchender und
Der einleitende Chor (Nr. 1: Bericht vom Lehrender ist der Chor; als ›gelernter Chor‹
Fliegen), mit dem Schlusschor des Lindbergh- repräsentiert er den aufgeklärten Teil des Ge-
Hörspiels im Wesentlichen textidentisch, fei- meinwesens. Gegenstand der Untersuchung
ert die Erfolge im Flugwesen als Triumph tech- und belehrtes / lernendes Subjekt ist der Ge-
nischer Naturbeherrschung, erinnert jedoch stürzte. In den Prozess der Untersuchung und
am Ende an das »Unerreichbare«. Die verän- Belehrung wird die ›Menge‹, das anwesende
derte Zweckbestimmung machte eine Neuver- Publikum in seiner Funktion als ›allgemeiner
tonung erforderlich. Es ist jetzt ein vier- Chor‹, mehrfach einbezogen.
stimmiger, von Laien zu singender Chor, in- Das einleitende Gespräch zwischen dem
strumentell begleitet, an einigen Stellen auch Führer des Chors und dem Gestürzten, von
von den Bläsern des Fernorchesters. (Zur Ver- Streichern und Bläsern begleitet, ist eine Art
tonung: Strobel, S. 53 f.; Lehmann; Dümling, säkularisierte Beichte: Rechenschaft im Ange-
S. 250–253.) sicht des Todes. Aufgefordert zu sagen, wer er
B.s Text diskutiert Aspekte des technischen sei, hebt der Gestürzte sein Engagement im
Fortschritts, die das Lindbergh-Hörspiel aus- Kampf um den technischen Fortschritt hervor.
klammerte. Protagonist ist ein abgestürzter, Die Frage nach der personalen Identität wird
der Hilfe bedürftiger Flieger. Der im Kontext beantwortet mit dem Geständnis, der Faszina-
des Lindberghfluges überraschende Hinweis tion der Technik erlegen zu sein (»mich hat
auf das »Unerreichbare« erscheint mit Blick erfaßt das fieber / des städtebaus und des öls«,
auf die Figur des Abgestürzten einleuchtender Hindemith, S. XXIII) – Ausdruck der Selbst-
motiviert: Er deutet die Möglichkeit des entfremdung, die dem Betroffenen im Augen-
Scheiterns an, die Grenzen der Beherrschbar- blick der Niederlage, der ein Augenblick der
keit der Natur durch den Menschen. Das Besinnung ist, auch zu Bewusstsein kommt:
Scheitern des Fliegers wird zum Anlass einer »ich vergaß über den kämpfen / meinen namen
Untersuchung seines Tuns: Gefragt wird nach und mein gesicht / und über dem geschwinde-
dem gesellschaftlichen Nutzen technischen ren aufbruch / vergaß ich meines aufbruchs
Fortschritts und nach dem Wert der indivi- ziel.« (Ebd.)
duellen Leistung für die Gemeinschaft. Seine Bitte um Hilfe – »wasser […] / und
Vorbild für die Figur des Gestürzten war der unter den kopf ein kissen« (ebd.) –, unter
französische Pilot Charles Nungesser, ein er- Streicherbegleitung rezitiert, gibt der Chor a
folgreicher Jagdflieger des ersten Weltkriegs. cappella an die ›Menge‹ weiter: »sagt uns / ob
Er galt als besonders waghalsig; als Drauf- wir ihm helfen sollen« (ebd.). Die Antwort der
gänger war er in dem Kinofilm The Sky Raider ›Menge‹: »warum sollen wir ihm helfen?« und
aufgetreten. Gemeinsam mit seinem Kopilo- »er hat uns auch nicht geholfen!« (S. XXIV)
ten François Coli war Nungesser am 8. 5. 1927, Dabei fungieren ›Einige aus der Menge‹ – im
zwölf Tage vor Lindbergh, in Le Bourget zum Zuschauerraum verteilte, mit Text und Musik
Atlantikflug in Ost-West-Richtung aufgebro- vertraute Sänger – als Vorsänger, während die
chen. Seit Verlassen der europäischen Küste ›Menge‹ die vorgesungenen Sätze nach dem
Text, Vertonung 229

Muster der Responsorialgesänge des grego- sammenhang von Selbstentfremdung und Ent-
rianischen Chorals wiederholt. Darauf folgt fremdung von der Gemeinschaft: Dem Verlust
die vom Chor und der ›Menge‹ gemeinsam des Subjekts an die Sache korrespondiert ein
vorgenommene Untersuchung: Ob der Mensch Verlust seines sozialen Wesens. Beides kommt
dem Menschen hilft (Nr. 2). in der Sprachlosigkeit des Gestürzten zum
›Einer aus dem Chor‹ berichtet von der Ent- Ausdruck; die Aufforderung des Chors:
deckung Amerikas und den großen Städten, »mensch, rede mit uns, wir erwarten / an dem
die dort »mit / vieler mühe und klugheit« er- gewohnten platz deine stimme. sprich!«
richtet wurden; von der Erfindung der Dampf- (ebd.), bleibt ohne Resonanz. Nach einer vom
maschine, der »mutter vieler maschinen« Fernorchester mit einem langsamen Marsch
(ebd.), an denen seitdem gearbeitet wird; von ausgefüllten Pause singt der Chor: »er spricht
Fortschritten in der Naturerkenntnis. Dem nicht. seine stimme / bleibt aus. jetzt erschrick
hält der Chor entgegen, dass diese Fortschritte nicht, mensch! / jetzt mußt du weggehen. gehe
die Not der Massen nicht gelindert, zur Ver- rasch. / blick dich nicht um. Geh / weg von
wirklichung von Menschlichkeit nicht beige- uns!« (Ebd.)
tragen haben. Die Aufhebung der Selbstentfremdung und
Wer sich der Konsequenzen seines Tuns für der Entfremdung von der Gesellschaft erfor-
die Gemeinschaft nicht bewusst bleibt, hat von dert eine außerordentliche Leistung, deren
dieser keine Nachsicht zu erwarten: Die Tragweite im Motiv des Sterbens zum Aus-
›Menge‹ plädiert dafür, dem Gestürzten die druck kommt: Der Gestürzte muss das ›Ster-
Hilfe zu verweigern. Diese Entscheidung wird ben‹ lernen. Diesen Lernprozess organisieren
wieder von ›Einigen aus der Menge‹ vorge- die folgenden Nummern.
tragen, von der ›Menge‹ wiederholt, dann vom Um dem Betroffenen die Größe der gefor-
Führer des Chors und vom Chor bestätigt, be- derten Leistung zu Bewusstsein zu bringen,
vor ein Instrumentalteil die Nummer be- wird ihm der Tod schonungslos vor Augen ge-
schließt. führt (Nr. 4: Betrachtet den Tod). Die Partitur
Der Gestürzte, dem Hilfe verweigert wird, sieht hier die Darstellung des Todes durch
muss ›sterben‹ (Nr. 3: Der Chor spricht zum einen Tanz vor, der – wie in der Uraufführung
Abgestürzten). Das Sterbemotiv, das in den – mittels Filmeinblendung realisiert werden
folgenden Nummern breiten Raum einnimmt kann. Auf die eindringliche Todesvision rea-
und das Lehrstück in einem Maße dominiert, giert der Gestürzte (über einigen Akkorden
dass die Problematik technischer Naturbe- des Fernorchesters sprechend) mit dem Auf-
herrschung ganz aus dem Blick gerät, ist im schrei »ich kann nicht sterben« (S. XXV). Aber
Textzusammenhang angemessen nur zu inter- diese Leistung kann ihm niemand abnehmen;
pretieren, wenn es nicht auf den biologischen die Gemeinschaft kann lediglich die Rolle des
Vorgang verkürzt wird. Mit diesem möglichen Lehrers übernehmen. Dem Gestürzten wird
Missverständnis scheint B. im Rahmen seiner eine Belehrung zuteil (Nr. 5). Ein Sprecher tritt
Strategie der Provokation bewusst gespielt zu mit einem Buch aus dem Chor heraus und liest
haben, riskierte allerdings, dass es sich auch »sätze aus einem kommentar« (ebd.). In einer
im Nachhinein nicht aufklärte. Das Motiv die gleichnishafte Sprache der Bibel imitier-
meint hier durchaus gesellschaftliche Sachver- enden Diktion wird zunächst zum Ausdruck
halte. Der Gestürzte hat sich von der Gemein- gebracht: Sterben bedeutet die Preisgabe aller
schaft und deren Interessen entfernt, seines erworbenen Dinge und Erfahrungen. Diese
»aufbruchs ziel« vergessen: »er ist gezeichnet bedarf wie jede große Leistung der Übung.
über nacht, und / seit heut morgen ist sein Hierauf reagiert der Gestürzte mit der Ein-
atem faulig. / seine gestalt verfällt, sein ge- sicht, dass falsch war, was er bisher tat. Der
sicht / einst uns vertraut, wird schon unbe- Sprecher fährt fort mit dem – auch im Fatzer-
kannt.« (Ebd.) Fragment (GBA 10, S. 518) und in den Keuner-
Die Sätze des Chors artikulieren den Zu- Geschichten (GBA 18, S. 28) verwendeten –
230 Lehrstück / Das Badener Lehrstück vom Einverständnis

Gleichnis vom Denkenden, der den Sturm schrieben hat. Sie ist als »parodistisches Ge-
überwand, indem er seine ›kleinste Größe‹ genspiel« (Mersmann u. a., S. 127) zur ersten
einnahm, dem Sturm einen möglichst gerin- Untersuchung (Nr. 2) angelegt, die mit der
gen Widerstand entgegensetzte. Die Frage des Hilfeverweigerung endete: Demonstriert
Gestürzten, ob er so den Sturm überstand, be- wird, welche Hilfe der Mensch vom Menschen
stätigen nacheinander Chor, Einige aus der zu erwarten hat.
Menge und die Menge: »in seiner kleinsten Drei Clowns, von denen einer (›Herr
größe / überstand er den sturm« (S. XXV). Schmitt‹) von überdimensionaler Größe ist,
Darauf der Sprecher (über einem Streicherak- führen zur Marschmusik des Fernorchesters,
kord rezitierend): »um einen menschen zu sei- die eine Zirkusatmosphäre evoziert, ein gro-
nem tode zu ermutigen, bat der denkende ihn, tesk-makabres Spiel auf, hinter dessen Slap-
seine güter abzulegen. als er alles abgelegt stick-Komik sich ein sublimes Spiel um Macht
hatte, blieb nur das leben übrig. / lege weiter und Ohnmacht, Herrschaft und Abhängigkeit,
ab, sagte der denkende.« (Ebd.) Der Satz »lege Hilfe und Zerstörung verbirgt. Am Anfang ste-
weiter ab« wird wiederum dreifach wieder- hen die beiden Clowns dem Riesen unterwür-
holt, vom Orchester mit ansteigender Laut- fig gegenüber; am Ende haben sie ihn im wört-
stärke begleitet. lichen Sinne demontiert. Die Demontage ge-
Das Gleichnis vom Denkenden, das der lingt, weil sie den Riesen im Gefühl bestärken,
Sprecher im Folgenden auslegt, zeigt ein wei- mächtig zu sein, ihm nach dem Munde reden,
teres Erfordernis an: »wenn der denkende den sich ihm als dienstbare Geister anempfehlen
sturm überwand, so überwand er ihn, weil er und auf diese Weise sein Vertrauen erwerben.
einverstanden war mit dem sturm. also wenn Ein unbestimmtes Gefühl von Unwohlsein,
ihr den tod überwinden wollt, so überwindet Unzufriedenheit, Wehleidigkeit nutzend, sug-
ihr ihn, wenn ihr einverstanden seid mit dem gerieren sie ihm, ihrer Hilfe überhaupt zu be-
tod.« (Ebd.) Hier taucht ein Motiv zum ersten dürfen. Sobald er sich darauf einlässt, ist er
Mal auf, das in den späteren Lehrstücken eine nicht mehr Herr seiner Entschlüsse: Das Maß
zentrale Bedeutung erlangte: das des Einver- seiner Ohnmacht wächst direkt proportional
ständnisses. Voraussetzung für die Überwin- mit der ›Hilfe‹, die er in Anspruch nimmt.
dung des Todes ist Einverstandensein mit dem Diese Hilfeleistung ergreift scheinbar immer
Tod. Gefordert wird die einverständliche Auf- die nächstliegende Maßnahme, die in Wahr-
gabe all dessen, was dem Menschen genom- heit die absurdeste ist. So wird ›Herr Schmitt‹
men werden kann: der Dinge, des Lebens, der auch Opfer einer grotesken Logik. Hinzu
Gedanken. Es ist die Aufgabe dessen, was den kommt, dass in den Hilfeleistungen ein perfi-
Menschen zur individuellen Person macht. Im der Sachzwang waltet, derart, dass die eine
Kontext des Lehrstücks kann dies nur bedeu- (katastrophale) Maßnahme die andere (noch
ten: Der Weg zurück in die Gesellschaft, die katastrophalere) zwangsläufig nach sich zieht.
Überwindung des ›Todes‹ (im Sinne der Der Absurdität der Hilfe korrespondieren
Nichtexistenz für die Gemeinschaft, der A-so- absurde Vorstellungen des Betroffenen über
zialität), führt über die Preisgabe der Indivi- seinen Zustand. Absurd der Besitzanspruch
dualität, erfordert die Reduktion auf die auf die abgetrennten Glieder: »den fuß müßt
›kleinste Größe‹. ihr mir aber geben, ich möchte ihn nicht ver-
Nach der Belehrung folgt die Zweite Unter- lieren.« (S. XXVII) In diesem Punkt zeigt
suchung: Ob der Mensch dem Menschen hilft ›Herr Schmitt‹ sogar Courage: »liefern sie so-
(Nr. 6). Es ist eine Szene für Clowns, neben der fort die in verlust geratenen gliedmaßen an
Tanzeinlage in Nr. 4 die einzige mit darstelle- mich, ihren eigentümer, zurück.« (Ebd.) Einer
rischen Mitteln zu realisierende Nummer des der Clowns, indem man Herrn Schmitt »alle
Lehrstücks. Die Clownsszene, die sich als abgenommenen gliedmaßen in den schoß«
grobschlächtige Posse präsentiert, gehört zu legt: »so, herr schmitt, da haben sie alles, was
den hintersinnigsten Texten, die B. damals ge- ihnen gehört, das kann ihnen keiner mehr rau-
Text, Vertonung 231

ben.« (Ebd.) Solcher Widersinn ist konse- zeugt nicht, denn die Musik, die vor allem den
quentes Strukturprinzip des Dialogs. ›Hilfeleistungen‹ der beiden Clowns unterge-
Die Wahrheit über seinen Zustand, über den legt ist, charakterisiert nicht den Riesen
Grad der Zerstörung, will Herr Schmitt nicht Schmitt, sondern die Spielvorgänge der Szene
zur Kenntnis nehmen – also schreitet das Werk insgesamt. Da diese nicht den Status einer
der Zerstörung fort: Das linke Ohr wird abge- Parabel hat, scheint angesichts der Versuche
schraubt, damit es die Wahrheit nicht höre. einer soziologischen Zuordnung der drei
»Unangenehme gedanken im kopf« (ebd.) will Clowns generell Skepsis geboten. Überzeu-
er sich durch angenehme Geschichten vertrei- gende Argumente liegen bisher jedenfalls
ben lassen. Doch die ›schönen Künste‹ haben nicht vor.
den Trost angenehmer Geschichten nicht mehr Auf die Untersuchung: Ob der Mensch dem
zu bieten; die Geschichte, die man ihm er- Menschen hilft, deren Ergebnis niederschmet-
zählt, ist im Gegenteil höchst unschön. Die ternder nicht ausfallen könnte, folgt das ab-
Lösung des Problems: Die obere Kopfhälfte, schließende Examen (Nr. 7). Nach einem ein-
Ursprung und Sitz der unangenehmen Gedan- leitenden Instrumentalteil überprüft der Chor
ken, wird abgesägt. Das Ende ist völlige Hilf- »im angesicht der menge« (S. XXVIII), inwie-
und Orientierungslosigkeit. Ein bescheidener weit der Gestürzte seine Lektion gelernt hat.
Einwand dessen, dem nichts verblieben ist, Er hat sie gelernt; am Ende »weiß er: / nie-
wird quittiert mit der Entgegnung: »ja, herr mand / stirbt, wenn er stirbt« (S. XXIX). Der
schmitt, alles können sie nicht haben.« (S. Satz, vom Chor gesungen (instrumental ver-
XXVIII) stärkt und vom Orchester und Fernorchester
Reiner Steinweg hat versucht, die drei begleitet), wird noch zweimal wiederholt, wo-
Clowns soziologisch auf den Begriff zu brin- bei zunächst ›Einzelne aus der Menge‹, dann
gen. Danach repräsentiert der Riesenclown die ›Menge‹ in den Gesang einfallen. Ebenso
»die Masse der Kleinbürger, die sich durch die wird musikalisch mit dem letzten Satz des
Vertreter der Großbourgeoisie gegen ihre eige- Lehrstücks verfahren: »jetzt hat er / seine
nen Interessen lenken läßt und dafür eine ver- kleinste größe erreicht« (ebd.).
schleiernde Ideologie geliefert bekommt und Spätestens vom Ende her erweist sich die
fordert« (Steinweg, S. 194). Dass sich diese Lektion als fragwürdig. Der Weg des Asozialen
Deutung »an der Kleidung der drei Clowns auf zurück in die Gesellschaft scheint mit der
den erhaltenen Aufnahmen der Uraufführung Preisgabe seiner Individualität und der De-
ablesen« lasse (ebd.; auch GBA 3, S. 415), trifft montage seiner Subjektivität abgeschlossen.
nicht zu. Die Fotos (vgl. Schumacher, S. 97), Der Prozess endet bei der Demontage, er führt
meinte Steinweg, zeigten den Riesenclown nicht zur Entwicklung einer neuen Identität
Schmitt »als ›einfachen Mann‹«, »die beiden auf der Grundlage des Einverständnisses mit
andern Clowns in einer Art Frack mit Zylin- der Gemeinschaft. Diese Defizite scheinen mit
der: Vertreter der Bourgeoisie« (Steinweg zwei Intentionen des Lehrstücks ursächlich
1973, S. 115). Tatsächlich tragen alle drei zusammenzuhängen: mit B.s Absicht, ein anti-
Clowns lange, gehrockähnliche Jacken; die thetisches Korrelat zum Heldenlied des Lind-
Kopfbedeckungen der drei haben keine Ähn- berghfluges zu schaffen, das mit dem Nachweis
lichkeit mit Zylindern. – Andreas Lehmann der Nichtigkeit des Protagonisten enden muss-
schloss aus der Nähe der Musik der Clowns- te; zum anderen mit dem provokativen, bür-
szene zu Tanzmusik und Jazz auf den klein- gerlichen Individualismus und rückwärts ge-
bürgerlichen Sozialstatus des Riesenclowns: wandte Gemeinschaftsideologie attackieren-
»die Musik – und nur sie! – weist Herrn den Interesse. Bei der späteren Neufassung
Schmidt [sic] als Kleinbürger aus«, da Blas- des Textes, die auf jene mit dem Badener Fe-
musik und populäre Tanzmusik als Lieblings- stival verbundenen Absichten keine Rücksicht
musik des Kleinbürgers anzusehen seien (Leh- mehr zu nehmen brauchte, versuchte B., die-
mann, S. 58). Auch diese Argumentation über- ses Problem in den Griff zu bekommen.
232 Lehrstück / Das Badener Lehrstück vom Einverständnis

Im Unterschied zu den anderen Baden-Ba- ständlich brachte B. in das oratorienartige


dener Texten erschien das Lehrstück nicht im Werk Elemente seiner epischen Dramaturgie
Programmheft der Veranstaltung, sondern se- ein; sie prägt sich in der Textstruktur, in der
parat als kleine Broschüre. Der Druck besteht episch lockeren Folge relativ selbstständiger
aus einem Titelblatt (Deutsche Kammermusik Nummern ebenso aus wie im reflektierenden,
Baden-Baden 1929. Lehrstück. Fragment. untersuchend-demonstrierenden Gestus des
Text: Bertolt Brecht / Musik: Paul Hindemith) Lehrstücks. Am entschiedensten ging B. im
und sieben unpaginierten Seiten. Der Text war Hinblick auf den politischen Gehalt über die
im Wesentlichen identisch mit der Fassung der Intentionen des Komponisten hinaus. Der im
Partitur, sparte jedoch einige Textteile aus. Ne- Begriff »kollektive Kunstübung« steckende
ben den von der ›Menge‹ zu singenden Sätzen Anspruch wird zum Thema der Übung: Ein
in Nr. 1 und 2 fehlten insbesondere die Kom- Kollektiv untersucht seine eigenen Vorausset-
mentare aus Nr. 5 und die Szene für Clowns. zungen, die Bedingungen seiner Möglichkeit –
Dies geschah wohl mit Bedacht: Offenbar vor dem Hintergrund einer durch stürmischen
wollte B. das Publikum vorläufig noch im Un- technischen Fortschritt gekennzeichneten so-
klaren lassen, was es zu erwarten hatte. zialen Entwicklung.
Im Programmheft gaben sowohl der Autor Die Badener Aufführung des Lehrstücks war
wie der Komponist Auskunft über Zweck und nicht Kunstproduktion im Sinne konzertanter
Funktion des Lehrstücks. Eine Musik für Lieb- Darbietung. B.s Anmerkung zielte darauf ab,
haber überschriebene, von der künstlerischen den Widerspruch zwischen dem Zweck der
Leitung des Festivals gezeichnete Notiz, die Übung und ihrer öffentlichen Präsentation
Hindemith entweder selbst verfasst oder zu- aufzuklären: Sofern das anwesende Publikum
mindest gebilligt hatte, beschrieb das Lehr- nicht zum Experiment durch aktives Mittun
stück als große Form einer Gemeinschaftsmu- beitrüge, würde es »nicht die Rolle des Emp-
sik für Laien, deren Zweckbestimmung in der fangenden, sondern eines schlicht Anwesen-
musikalischen Übung lag. Diesen Punkt den spielen« (GBA 24, S. 90). Reaktionen und
sprach auch B. in seiner Anmerkung Zum Urteile eines in der Erwartungshaltung von
»Lehrstück« an (GBA 24, S. 90), setzte die Ak- Konzerthörern sich einfindenden Publikums
zente allerdings etwas anders. Die kleine No- werden damit von vornherein als irrelevant,
tiz enthält in komprimierter Form die Punkte, der ›kollektiven Kunstübung‹ unangemessen
die dem Textautor wichtig waren. Genauer disqualifiziert.
und im Ton schärfer als Hindemith nahm B.
auf den Zweck der Badener Aufführung Bezug.
Er bestätigte die fragmentarische Gestalt des
Lehrstücks (»Es ist nicht einmal ganz fertig Die Uraufführung
gemacht«; ebd.) und unterstrich den experi-
mentellen Charakter der Aufführung. ›Experi-
ment‹ bedeutet hier: Erprobung einer neuen Die Uraufführung des Lehrstücks am Abend
Form ästhetischer Praxis – einer »kollektiven des 28. 7. 1929, die den Abschluss des Baden-
Kunstübung« (ebd.). Dieser liegen, so heißt es Badener Musikfestes bildete, fand nicht im
vage und viel sagend, »einige Theorien musi- Kurhaus, sondern in der Stadthalle, einer ehe-
kalischer, dramatischer und politischer Art« maligen Turnhalle, statt. Der nüchterne, mit
(ebd.) zugrunde. Was die musikalische Theo- einfachen Stühlen ausgestattete Raum war
rie betrifft, so dachte B. wie Hindemith an eine dicht besetzt. Das Publikum bestand zu einem
Kunstpraxis musizierender Laien im Sinne der Teil aus Fachleuten, zum anderen aus mondä-
Gemeinschaftsmusik, deren Zweck die ge- nem Kurpublikum. Daneben war viel Promi-
meinschaftliche Übung war. Seine weiterge- nenz aus Politik und Kultur anwesend, dar-
henden Ambitionen kommen in den beiden unter Gerhart Hauptmann, der einer persönli-
folgenden Punkten zur Geltung. Selbstver- chen Einladung B.s gefolgt war (vgl. GBA 28,
Die Uraufführung 233

S. 323 f.). Ein Plakat an der Wand verkündete gemäß. Das Publikum zeigte Interesse und be-
in riesigen Lettern: »Besser als Musik hören teiligte sich lebhaft an den chorischen Stellen.
ist Musik machen« – ein Satz, der sowohl B. als Die erste Unruhe entstand, als der Film Toten-
auch Hindemith zugeschrieben worden ist. tanz mit Valeska Gert eingeblendet wurde
Die Aufführung wurde zu einem Teil von Laien (Nr. 4), den Carl Koch in B.s Auftrag gedreht
getragen. Den ›gelernten Chor‹ stellte Hugo hatte. Es waren Sequenzen von quälender In-
Holles Madrigalvereinigung, die auch im tensität – eine Zumutung für ein Publikum,
Lindbergh-Hörspiel mitwirkte. Das kleine Or- das auf festlich-unterhaltsames Musizieren
chester bestand teilweise aus Berufsmusikern, eingestellt war. Pfiffe waren zu hören, einige
teilweise aus Liebhabern; das Fernorchester forderten den Abbruch der Vorführung. Zum
stellte der Musikverein Lichtental. Die übri- eigentlichen Skandal kam es dann bei der gro-
gen Parts waren professionell besetzt: Den tesk-derben, drastisch präsentierten Szene für
›Gestürzten‹ sang Josef Witt (Tenor), den Füh- Clowns. Die Zuhörer, eben noch zum Mittun
rer des Chors Oskar Kálmán, beide ebenfalls aufgefordert, hatten nun das Gefühl, auf dem
Mitwirkende am Lindberghflug. Die drei Podium mit der eigenen Demontage konfron-
Clowns spielten Theo Lingen (›Herr tiert zu werden. Ein ohrenbetäubender Lärm
Schmitt‹), Karl Paulsen und Benno Carlé. Ihre setzte ein, das Publikum verließ in Scharen
Masken und Kostüme hatte Heinz Porep ent- den Saal. Die drei Clowns aber führten die
worfen. Die in Nr. 4 vorgesehene Tanzeinlage Szene zu Ende, auch B. und Hindemith zeigten
wurde durch eine Filmeinblendung ersetzt. sich unbeeindruckt. Es gab am Schluss der
Als Sprecherin fungierte die Schauspielerin Aufführung neben lautstarken Unmutsäuße-
Gerda Müller. Dirigenten waren Alfons Dres- rungen auch demonstrativ anhaltenden Bei-
sel und Ernst Wolff; den ›allgemeinen Chor‹ fall, der aber, wie ein Kritiker wohl zu Recht
(das Publikum) dirigierte Hindemith selbst. vermutete, vor allem der Vertonung galt. Der
Die Regie hatte B. (Hardt und Caspar Neher Skandal um das Lehrstück, für Hindemith der
waren an der Aufführung nicht beteiligt; so größte seiner Laufbahn, hatte Konsequenzen
GBA 3, S. 415.) für das Festival: Die Stadtväter entzogen der
Auf dem einfach ausgestatteten Podium be- Veranstaltung fortan die finanzielle Unterstüt-
fand sich auf einem Podest im Hintergrund der zung, so dass sie im folgenden Jahr nicht mehr
kleine Chor und das Orchester, an einem Tisch in Baden-Baden stattfinden konnte.
im Vordergrund saßen Hindemith, B. und Die Aufführung des Lehrstücks löste eine
Gerda Müller. Deutlich getrennt von Chor und Pressedebatte aus, die kontroverser nicht hätte
Orchester saß rechts im Vordergrund Josef geführt werden können (vgl. Krabiel, S. 67–
Witt (der ›Gestürzte‹). Jeder Naturalismus in 70). Die der Gebrauchsmusikbewegung nahe
Erscheinungsbild und Rollenverhalten war bei stehende Kritik charakterisierte das Werk mit
dieser Figur vermieden; in heller Sommer- Superlativen; die Komposition fand auch sonst
kleidung vor einem Notenpult sitzend, sang er eine überwiegend positive Aufnahme. Die Be-
seinen Part. Hinter ihm als einziges Requisit rechtigung der neuen Form musikalischer Pra-
das Wrack eines Fluggeräts. In der Mitte des xis wurde kaum ernsthaft bestritten. Dagegen
Podiums war eine Spielfläche für die Clowns- fuhr die konservative Tages- und Fachpresse
szene ausgespart. – Auf eine Leinwand im vor allem gegen den Textautor grobes Ge-
Hintergrund wurden die Zwischentitel, die schütz auf. Ratlosigkeit, Missverständnisse
Filmeinlage und die vom Publikum mitzusin- und Fehldeutungen auch der wohl wollenden
genden Teile der Partitur in einfachem Noten- Kritik zeigten allerdings, dass es nicht gelun-
satz projiziert. Auf der Galerie im hinteren Teil gen war, die politisch-pädagogischen Absich-
des Saales, im Rücken der Zuhörer, war das ten deutlich zu vermitteln. Dies war zum Teil
aus Blechbläsern bestehende Fernorchester auf den hohen Abstraktionsgrad des Textes,
postiert. aber auch auf Unklarheiten der Motivverknüp-
Die Aufführung verlief zunächst programm- fung zurückzuführen, die mit dem fragmen-
234 Lehrstück / Das Badener Lehrstück vom Einverständnis

tarischen Charakter des Lehrstücks zusam- schen dem Flieger auf der einen, den Mon-
menhingen. teuren auf der anderen Seite kann nach Tätig-
keit und sozialem Status, auch nach sozialer
Lernfähigkeit differenziert werden. Die übri-
gen Mitwirkenden sind die des Fragments;
Das Badener Lehrstück vom auch das Publikum ist als ›Menge‹ bzw. als
Einverständnis (1930) ›allgemeiner Chor‹ in die Übung einbezogen.
Der einleitende Bericht vom Fliegen (Nr. 1)
wird nicht mehr vom ›gelernten Chor‹, son-
Als B. im Spätsommer 1930 gemeinsam mit dern von den vier Abgestürzten gesungen
Elisabeth Hauptmann und Slatan Dudow die (GBA 3, S. 27). So bringt der Hymnus auf die
Bearbeitung des Lehrstücks in Angriff nahm, Errungenschaften der Flugtechnik zunächst
war der Jasager bereits uraufgeführt, die Maß- nur deren unreflektiertes Selbstverständnis
nahme lag in einer ersten Fassung vor. Das zum Ausdruck. Daher ist es folgerichtig, dass
Badener Lehrstück vom Einverständnis, Ende jetzt das Moment von Irrationalität am Ende
September 1930 abgeschlossen, erschien im des Eingangschors getilgt wird: Der Bericht
Dezember im 2. Heft der Versuche. Der von vom Fliegen erinnert nicht mehr an das »Uner-
sieben auf elf Nummern erweiterte, durch Ein- reichbare«, sondern verweist auf das »Noch
fügungen und Umstellungen veränderte Text nicht Erreichte« (ebd.). Wie im Badener Frag-
ist präziser, auch radikaler als das Baden-Ba- ment verlangt der Chor Rechenschaft von den
dener Fragment. Das dort im Gleichnis vom Gestürzten (Nr. 2: Der Sturz), fördert deren
Denkenden (Nr. 5) eher beiläufig eingeführte, Befragung die Problematik ihres Tuns zutage.
im Jasager und in der Maßnahme bereits zen- Anders als im Fragment beantwortet die
trale Motiv des ›Einverständnisses‹, wird nun ›Menge‹ ihre Bitte um Hilfe zunächst positiv.
zum ausdrücklichen Übungsziel. Die Entwick- Daraufhin wird über »die Erkaltenden hinweg
lung B.s seit dem Sommer 1929, die in der […] untersucht, ob / Es üblich ist, daß der
Maßnahme ihren entschiedensten Nieder- Mensch dem Menschen hilft.« (S. 29) Die drei
schlag fand, prägte auch die Neufassung dieses Untersuchungen (Nr. 3) erhalten mehr Ge-
Textes. wicht als in der Badener Fassung, weil sie sich
Thematisiert wird der Zustand eines Ge- mit der spontan geäußerten Hilfsbereitschaft
meinwesens unter den Bedingungen einer un- der ›Menge‹ auseinander zu setzen haben.
gezügelten, von sozialutopischen Illusionen Die Erste Untersuchung belegt exempla-
begleiteten, erhebliches Konfliktpotenzial risch, dass technische Errungenschaften und
bergenden technisch-industriellen Entwick- wissenschaftliche Erkenntnisse die Not der
lung. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt Massen nicht beseitigt, zur Verwirklichung
und soziale Entwicklung sind nicht im Ein- von Menschlichkeit nicht geführt haben. Hin-
klang. Da der Nutzen technischen Fortschritts zugefügt ist die Zweite Untersuchung: Doku-
davon abhängt, wie und mit welchem Interesse mentarisches Material wird gezeigt, »zwanzig
darüber verfügt wird, sind die Ursachen hier- Photographien […], die darstellen, wie in un-
für gesellschaftlicher Art; sie haben etwas zu serer Zeit Menschen von Menschen abge-
tun mit dem Verhältnis von Partikularinter- schlachtet werden« (S. 30). Als Dritte Unter-
essen und gesellschaftlichem Gesamtinter- suchung folgt die »Clownsnummer, in der /
esse. In diesem Kontext hat das Motiv des Menschen einem Menschen helfen!« (S. 31)
›Einverständnisses‹ seinen Stellenwert. Die drei Untersuchungen zeigen mit zuneh-
Die Möglichkeit, soziale Momente differen- mender Eindringlichkeit: »Der Mensch hilft
zierter ins Spiel zu bringen, hatte sich B. durch dem Menschen nicht.« (S. 35) Mit diesem Fazit
die Ersetzung des einen abgestürzten Fliegers korrigiert die ›Menge‹ ihre spontan getroffene
durch eine aus dem Piloten und drei Mon- Entscheidung: Den Gestürzten wird die Hilfe
teuren bestehende Gruppe geschaffen: Zwi- verweigert.
Das Badener Lehrstück vom Einverständnis (1930) 235

Dass diese Weigerung nicht die Billigung sein, sondern »Charles Nungesser« (S. 40).
von Inhumanität bedeutet, belegt die neu ein- Die Häufung der 1. Person Singular in seiner
gefügte vierte Nummer (Die Hilfeverweige- Rede macht seine Haltung sinnfällig: »Ich
rung); der Text, von der ›Menge‹ »für sich« wurde nicht genug gerühmt, ich / Kann nicht
gelesen (ebd.), ist eine Schlüsselpassage des genug gerühmt werden / Ich bin für nichts und
Lehrstücks. Hilfsbedürftigkeit, so lautet die niemand geflogen. / Ich bin für das Fliegen
These, hat etwas mit der herrschenden (struk- geflogen.« (S. 41 f.)
turellen) Gewalt zu tun. Es gilt, die Dialektik Er weigert sich, das Ergebnis der gemein-
von Hilfe und Gewalt zu erkennen. Hilfever- samen Arbeit der Gemeinschaft zu überant-
weigerung, zweifellos ein Gewaltakt, ist eine worten, das Fluggerät freiwillig auszuliefern
Maßnahme, die auf die Notwendigkeit der Be- (Nr. 9: Ruhm und Enteignung). Während das
seitigung des Gewaltsystems selbst verweist: Flugzeug nun ›enteignet‹ wird, rühmt der
Ein Zustand muss verändert werden, der, in- Chor die Gestürzten – mit den Worten des
dem er Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit Berichts vom Fliegen, mit dem die vier Abge-
fortwährend reproduziert, Hilfeleistung im- stürzten sich eingangs vorgestellt hatten. Der
mer erneut erzwingt. Das Badener Lehrstück Chor kann sich den Hymnus auf die Über-
vom Einverständnis plädiert nicht gegen Mit- windung der Schwerkraft jetzt zu Eigen ma-
leid und menschliche Solidarität, es ist kein chen, nachdem die drei Monteure das Er-
kasuistischer Ratgeber in Fragen praktischer reichte in Gestalt des Flugapparats der Ge-
Moral. Die Reflexion des Zusammenhangs von meinschaft ausgeliefert, ihre Arbeit in den
Hilfe und Gewalt zielt auf einen Erkenntnisakt Dienst der Gemeinschaft gestellt haben.
ab: Sie provoziert die illusionslose Sicht des- ›Ruhm‹, vom Flieger für seine aus privatem
sen, was ist – conditio sine qua non ihrer Ehrgeiz vollbrachte Leistung eingefordert,
Transformation in einen humaneren Zustand. wird der solidarischen, dem gemeinsamen
(Dies belegt auch B.s Hinweis auf das Gedicht Nutzen verpflichteten Arbeit zuteil. – Dass der
Nr. 10 aus dem Lesebuch für Städtebewohner Flieger während der Enteignung plötzlich
im selben Heft der Versuche; vgl. GBA 11, »Völlig unkenntlich« wird (S. 43), ist Zeichen
S. 165). seiner sozialen Unbelehrbarkeit. Denn sein
Den vier Abgestürzten wird nach der Hilfe- ›Gesicht‹, seinen unverwechselbaren Aus-
verweigerung bewusst, dass sie »sterben« wer- druck, erhält der Einzelne nur im solidari-
den (Nr. 5: Die Beratung). Es folgt die Betrach- schen Wirken für die Gemeinschaft.
tung der Toten (Nr. 6). Die Tanzeinlage des Das Badener Lehrstück denkt die gesell-
Badener Fragments ist an dieser Stelle gestri- schaftliche Natur des Menschen radikal zu
chen, dafür »werden sehr groß zehn Photo- Ende: Der Flieger kündigt mit der Verantwor-
graphien von Toten gezeigt« (S. 37), die den tung für die Gemeinschaft auch sein mensch-
Betroffenen das Sterben eindringlich vor Au- liches Wesen auf; er ist »nichts Menschliches
gen führen sollen. Bei der Verlesung der Kom- mehr« (S. 44). Es vollzieht auf drastische
mentartexte (Nr. 7) durch den Sprecher geht es Weise die Kritik an einem auf Kosten und zu
um die Notwendigkeit, das ›Sterben‹ zu lernen Lasten des Ganzen gepflegten Subjektivismus.
(im Sinne der Aufgabe aller erworbenen und Den Satz des Fliegers »Ich kann nicht sterben«
noch zu erwerbenden Dinge und Erfahrungen, (ebd.) quittieren die drei Monteure mit dem
auch des Anspruchs auf Besonderheit und Ein- ironischen Kommentar: »Du bist zu groß, du
maligkeit), mit dem Tode ›einverstanden‹ zu bist zu reich. / Du bist zu eigentümlich. /
sein. Während die drei Monteure ihre Lektion Darum kannst du nicht sterben.« (Ebd.)
gelernt, ihre »kleinste Größe erreicht« haben Deutlicher als im Fragment steht ›Sterben‹
(S. 41), verweigert der Flieger sein Einver- hier als Metapher für die Aufgabe egoistischer
ständnis (Nr. 8: Examen). Er besteht auf seiner Interessen und des Anspruchs auf Besonder-
Einmaligkeit und auf dem Anspruch auf Ruhm heit. Mit der Weigerung oder Unfähigkeit, sich
und Anerkennung. Er will nicht »niemand« als ein der Gemeinschaft verpflichtetes Wesen
236 Lehrstück / Das Badener Lehrstück vom Einverständnis

zu begreifen, hat der Flieger das Urteil über dete den Abdruck des Lehrstücks trotz dieser
sich gesprochen, seine Nichtigkeit wird offen- Bedenken damit, dass es, »aufgeführt, immer-
bar. Die Gemeinschaft trennt sich von ihm, sie hin einen kollektiven Apparat organisiert«
treibt ihn aus wie einen bösen Geist (Nr. 10: (ebd.). Auch das Badener Lehrstück war ein
Die Austreibung). Der Sänger des Fliegerparts (auf die Verwendung / Umgestaltung bestimm-
verlässt das Podium und scheidet aus dem ter Institutionen abzielendes) ›Experiment‹:
Kreis der Lernenden aus. – Die drei Monteure Klangkörper, Figuren, Rollenträger, die tradi-
dagegen befinden sich jetzt im Einverständnis tionellerweise in verschiedenen Institutionen
mit der Gemeinschaft (Nr. 11: Das Einver- bestimmte Funktionen wahrnehmen (Solis-
ständnis). Ihr ›Sterben‹ führt in eine neue, von ten, Laienorchester, Blaskapelle, Laienchor,
sozialer Verantwortung geprägte Existenz- Clowns, Sprecher, Publikum), werden zum
form, Ergebnis der im Lernprozess vollzoge- Zwecke einer kollektiven Kunstübung zusam-
nen Bewusstseinsveränderung. Ihr ›Sterben‹ mengeführt. Indem das Lehrstück diese
ist Voraussetzung und Modell einer fortwäh- Übung organisiert, fördert es jenes Lernziel
renden Umwälzung von Bewusstsein und ›kollektives Denken und Verhalten‹, das sein
Wirklichkeit; es ist das Einverstandensein Text, für sich betrachtet, nicht hinreichend
»mit dem Fluß der Dinge« (S. 45). deutlich vermitteln konnte.
Das Badener Lehrstück endet mit einem em-
phatischen, an die drei Monteure wie an die
›Menge‹ gerichteten Appell, die Veränderung
der Welt und des Menschen voranzutreiben, Brechts Anmerkung: Replik auf
im Interesse der Verwirklichung einer huma- Hindemiths Spielanweisung
neren Ordnung sich mit keinem erreichten
Zustand zufrieden zu geben. Der von unge-
brochenem Fortschrittsoptimismus getragene Eine Aufführung erlebte das Badener Lehr-
Appell beschreibt ›Fortschritt‹ als Dialektik stück in der neuen Fassung damals nicht, die
von wissenschaftlich-technischer Verbesse- hierfür erforderliche Neuvertonung lehnte
rung der Welt, Vervollständigung menschli- Hindemith ab. Differenzen zwischen Autor
chen Wissens und Veränderung der Gesell- und Komponist über die Verwendung des
schaft (S. 46). Dieser Veränderungsprozess ist Lehrstücks waren bereits wenige Wochen nach
ein schwerwiegender, psychische Widerstände der Baden-Badener Uraufführung zutage ge-
mobilisierender Vorgang. Die Sterbe-Meta- treten (vgl. Krabiel, S. 71–73). Hindemith
pher bringt dies deutlich zum Ausdruck. B. hat hatte der Partitur eine Spielanleitung beige-
gegen die Dominanz des Sterbe-Motivs nach- fügt (Lehrstück. Text: Bertolt Brecht, Musik:
träglich Bedenken angemeldet. In einer dem Paul Hindemith. Mainz 1929, S. [III]), in der
Textabdruck beigefügten Notiz heißt es: »Das er die äußerste Konsequenz aus dem Prinzip
Lehrstück erwies sich beim Abschluß als un- des Komponierens ›nach Maß‹ und für den
fertig: dem Sterben ist im Vergleich zu seinem speziellen Gebrauch zog, indem er den Üben-
doch wohl nur geringen Gebrauchswert zuviel den Text und Musik zu beliebiger Veränderung
Gewicht beigemessen.« (S. 26) Gebrauchswert auslieferte. »Auslassungen, Zusätze und Um-
des Sterbens: Auch die selbstkritische Anmer- stellungen sind möglich. Ganze Musiknum-
kung ist noch provokant formuliert. B. hatte mern können wegbleiben, der Tanz kann aus-
erkannt, dass die individualpsychologischen fallen, die Clownszene kann gekürzt oder
und existenziellen Konnotationen des Sterbe- ausgelassen werden. Andere Musikstücke,
Motivs dessen metaphorischen Sinn und den Szenen, Tänze oder Vorlesungen können
gemeinten sozialpädagogischen Prozess ver- eingefügt werden«, heißt es in der Spielan-
deckten, dass die Verquickung existenzieller weisung (zit. nach: Hindemith, S. 52). Diese
und religiöser Momente in dem Motiv zu Anweisungen bedeuteten die Preisgabe des
Missverständnissen führen musste. Er begrün- traditionellen Werkbegriffs (Rexroth, S. 44);
Brechts Anmerkung: Replik auf Hindemiths Spielanweisung 237

extensiv befolgt, mussten sie den politisch- gesellschaftlichen Nutzens suggerierte. B. ließ
pädagogischen Sinn des Ganzen bis zur Un- ästhetische Neuerungen jetzt nur in dem Maße
kenntlichkeit zerstören. B. nutzte die Gele- als Fortschritte gelten, in dem sie »einen
genheit der Veröffentlichung der neuen Text- grundsätzlichen Funktionswechsel« der kunst-
fassung zu einer Replik. In einer Anmerkung vermittelnden Institutionen (ebd., S. 83), d. h.
wies er Hindemiths Anweisungen, die auf die die ›experimentelle‹ Umwandlung der »Vergnü-
Empfehlung hinausliefen, das unbequeme und gungsstätten in Publikationsorgane« (S. 84)
anstößige Werk den Bedürfnissen unverbindli- beförderten (vgl. Zum Theater 1924–1933,
chen Musizierens anzupassen, entschieden zu- BHB 4).
rück. Dieses ›Missverständnis‹ führte er auf Während die Baden-Badener Fassung des
seine Bereitwilligkeit zurück, »einen unabge- Lehrstücks vor 1933 vielfach mit Erfolg ge-
schlossenen und mißverständlichen Textteil, spielt wurde (vgl. Krabiel, S. 73–80), fand die
wie es die in Baden-Baden aufgeführte Fas- Versuche-Fassung damals wenig Beachtung.
sung des Lehrstücks war, zu rein experimen- Seit 1959 gab es gelegentliche Aufführungen,
talen Zwecken auszuliefern […], so daß tat- u. a. in der Berliner Schaubühne am Halle-
sächlich der einzige Schulungszweck, der in schen Ufer (17. 11. 1969, zusammen mit dem
Betracht kommen konnte, ein rein musikalisch Jasager) und im Münchner Werkraumtheater
formaler war« (GBA 24, S. 91). Den Lehrwert (1970). Die DDR-Erstaufführung fand 1973
einer solchen Übung schätzte B. nicht sehr auf der Probebühne des Berliner Ensembles
hoch ein. Seine Ausführungen bestreiten die statt (vgl. ebd., S. 368, Anm. 10). Dabei wurde
gesellschaftlich relevante Wirksamkeit des- das Badener Lehrstück allerdings regelmäßig
sen, was unter dem Schlagwort ›Gemein- nicht als vokalmusikalisches Werk realisiert,
schaftsmusik‹ propagiert und praktiziert sondern als Theaterstück missverstanden. Die
wurde. B.s Haltung hierzu hatte sich seit dem Presse reagierte überwiegend wenig verständ-
Sommer 1929 insofern verändert, als er den in nisvoll. Kritisiert wurde vor allem, was unter
diesem Begriff steckenden Anspruch nun defi- den inzwischen völlig veränderten Bedingun-
nitiv ins politisch Verbindliche wendete. Seine gen der Theaterpraxis nun als aufdringliche
Anmerkung enthält implizit die Forderung, Lehrhaftigkeit, als Dramaturgie des erhobe-
»den die Menschen unserer Zeit […] ausein- nen Zeigefingers erschien.
ander zerrenden Kollektivbildungen« (ebd.)
ein Gegengewicht zu schaffen, auch mit den
Mitteln einer politisch reflektierten Ge- Literatur:
brauchs- und Gemeinschaftskunst. B. konnte
Dümling. – Hindemith, Paul: Sämtliche Werke. Bd.
sich hier auf wenige Andeutungen beschrän-
I/6: Szenische Versuche. Hg. v. Rudolf Stephan.
ken, weil er in den Anmerkungen zur Oper Mainz 1982. – Hinton, Stephen: »Musik nach Maß«.
›Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‹ im Zum Begriff der Gebrauchsmusik bei Paul Hinde-
selben Versuche-Heft bereits zum Thema Stel- mith. In: Hindemith-Jb. 14 (1985), S. 22–80. – Ire-
lung bezogen hatte (vgl. GBA 24, S. 74–84). ton, Sean: Brechts »Zertrümmerung« von Heidegger.
Neben einer grundlegenden Auseinanderset- Das Badener Lehrstück vom Einverständnis als mög-
liche Kritik an Sein und Zeit. In: BrechtYb. 24
zung mit der neueren Oper enthielten diese
(1999), S. 293–309. – Krabiel. – Krabiel, Klaus-Die-
auch B.s definitive Absage an das, was nun aus ter: Das Lehrstück von Brecht und Hindemith. Von
seiner Sicht als die ›bürgerliche‹ Variante der der Geburt eines Genres aus dem Geist der ›Ge-
Gebrauchs- und Gemeinschaftsmusik zu be- brauchsmusik‹. In: Hindemith-Jb. 24 (1995), S. 146–
zeichnen wäre. Aufmerksam gemacht wird 179. – Lehmann, Andreas: Hindemiths Lehrstück.
dort vor allem auf den fortschreitenden Verfall In: Hindemith-Jb. 11 (1982), S. 36–76. – Lucchesi/
Shull. – Mersmann, Hans/Schultze-Ritter, Hans/
der Inhalte, ihr Aufgehen in reine Kulinarik
Strobel, Heinrich: Hindemiths Lehrstück. In: Melos
und die Verwechslung von Mittel und Zweck in 9 (1930), H. 3, S. 126–128. – Rexroth, Dieter: Paul
der Musik. Der Begriff ›Gebrauchsmusik‹ war Hindemith und Brechts Lehrstück. In: Hindemith-
irreführend, sofern er Brauchbarkeit im Sinne Jb. 12 (1983), S. 41–52. – Schumacher, Ernst und
238 Lehrstück / Das Badener Lehrstück vom Einverständnis

Renate (Hg.): Leben Brechts in Wort und Bild. Ber- Insofern gibt es B.s Brotladen in zwei Ver-
lin 1978. – Steinweg. – Steinweg, Reiner: Das Bade- sionen: zum einen als ein jetzt in der GBA
ner Lehrstück vom Einverständnis. Mystik, Religi-
zugängliches fast 100 Seiten umfassendes Kon-
onsersatz oder Parodie? In: Arnold, Heinz Ludwig
(Hg.): Bertolt Brecht II. Sonderbd. Text+Kritik. volut von Fragmenten, zum andern als ein dra-
München 1973, S. 109–130. – Strobel, Heinrich: Paul maturgisch schlüssiges, gut spielbares Stück,
Hindemith. Mainz 1948. das vielfach aufgeführt worden ist. Daraus er-
Klaus-Dieter Krabiel
öffnen sich zwei unterschiedliche Möglichkei-
ten der Analyse und Interpretation, so dass
zunächst das Fragment und sodann die Büh-
nenfassung behandelt werden.

Der Brotladen
Das Fragment
Das Brotladen-Fragment gehört in den Kon-
text einer Reihe von Projekten, in denen B.
Ende der 20er-Jahre das Thema der Wirt- Das Fragment ist editorisch nach zwei Arbeits-
schaftskrise und den Motivkomplex der Heils- phasen gegliedert, die sich aus dem Wechsel
armee miteinander verknüpfte. Von ihnen des ursprünglichen Handlungsorts ergeben.
wurde lediglich die Heilige Johanna der Zunächst sollte der Brotladen in einem ärmli-
Schlachthöfe abgeschlossen. Der Brotladen ist chen Viertel New Yorks spielen, dann verlegte
nicht als Vorfassung oder Übergangsfragment B. die Handlung in eine deutsche Großstadt
zu diesem Stück anzusehen, auch wenn sich (etwa Berlin). Daraus ergeben sich Namenän-
einzelne Motive und Textteile finden, die dort derungen, wobei auch in der zweiten Arbeits-
übernommen wurden (vgl. GBA 10, S. 643, phase Amerikanismen erhalten blieben (Wa-
S. 651 f.). In seiner Fabel und Dramaturgie völ- shington Myers wird zu Washington Meyer
lig anders ausgerichtet, hatte es B. im Heft 2 usw.). Für eine entstehungsgeschichtliche In-
der Versuche als Lustspiel angekündigt. Wie terpretation ist freilich die Grobaufteilung in
die GBA nachweist, wurde die Arbeit am Brot- zwei Arbeitsphasen nicht ergiebig, da sie
laden im Winter 1929 begonnen und im Ver- grundlegende Veränderungen der Motive und
lauf des Jahres 1930 wieder eingestellt. Fabelelemente nicht berührt. Das hat seinen
Gründe dafür sind nicht bekannt. Wie wichtig Grund in B.s Arbeitsweise, die jede postume
B. das Stück war, lässt sich einer Eintragung im philologisch-kritische Edition vor große
Journal vom 25. 2. 1939 entnehmen, in der Schwierigkeiten stellt.
er es mit dem Fatzer zusammenrückt: »Diese Zum einen arbeitete B. (wie auch sonst)
beiden Fragmente sind der höchste Stan- nicht allein, sondern mit Mitarbeitern: hier
dard technisch« (GBA 26, S. 330). Konzeptio- vor allem mit Elisabeth Hauptmann, aber auch
nelle Schwierigkeiten, an denen der Fatzer mit Emil Burri und Hermann Borchardt. Rein
gescheitert ist, dürften für den Abbruch des textphilologisch, z. B. nach dem Handschrif-
Brotladen keine entscheidende Rolle gespielt ten-Kriterium, lassen sich die Anteile der Au-
haben. torschaft nicht ermitteln. Zum andern befolgte
Manfred Karge und Matthias Langhoff B. keine deduktive Arbeitsweise, die einen
konnten ohne massive Eingriffe aus dem Ma- ersten Gesamtentwurf schrittweise konkreti-
terial eine »Bühnenfassung« zusammenstel- siert. Vielmehr finden sich gleichzeitig Skiz-
len, die 1967 im Berliner Ensemble (ur)auf- zen des Stückplans, isolierte Details, Zusam-
geführt wurde und mit weiteren nicht benutz- menfassungen von auszuarbeitenden Episoden
ten Fragmenten als Einzelausgabe 1969 im und theoretische Reflexionen. Es besteht der
Suhrkamp Verlag erschien (Der Brotladen. Ein Eindruck, dass während der Arbeit fortlaufend
Stückfragment). einzelne Überlegungen und neue Einfälle, die
Das Fragment 239

eventuell wichtig werden könnten, festgehal- Funktion der Heilsarmee betont. Darüber hin-
ten wurden. Deshalb lässt sich nicht ausma- aus finden sich überraschende Textverbindun-
chen, was definitiv verworfen wurde oder als gen zum Lesebuch für Städtebewohner (S. 656,
abgeschlossene Version anzusehen ist, wobei S. 582), wie auch zum Motiv der »Auslö-
immerhin der Ausarbeitungsgrad – einzelne schung« in der Maßnahme (S. 637). Weitere
Szenen sind sorgfältig und ohne jegliche Eintragungen beziehen sich auf die christli-
Lücke ausgearbeitet – ein postumes Kriterium chen Konnotationen von Brot (Abendmahl)
abgibt. und Holz (Kreuzigung) und zeigen an, dass B.
Eine Lektüre des Brotladens als Fragment die ›primitiven‹ Hauptobjekte des Stücks
kann sich deshalb nicht an einem Werkbegriff (Brot, Holz) mit einer doppelten Semantik als
orientieren, der aus den Stücken postum die Ware und als Gabe versehen wollte (S. 585,
intendierte Vollendung herausliest, sondern S. 594 f.).
wird sich eher an Walter Benjamins Devise aus Derart sind im Fragment Entdeckungen zu
der Einbahnstraße halten müssen: »Das Werk machen, welche die marxistische Neuorientie-
ist die Totenmaske der Konzeption« (Benja- rung B.s bis zum Exil nicht als zielgerichtete
min, S. 49). In den Fragmenten schieben sich Entwicklung begreift, sondern als ein Text-
verschiedene Projekte, an denen B. gleichzei- Laboratorium, das von Motiven, Metaphern,
tig arbeitete, ineinander. So ist der Hosianna- Impulsen beherrscht wird, welche die Ab-
Chor und auch das Kampflied der Strohhüte schließbarkeit einzelner Werke überborden
aus der Heiligen Johanna hier bereits zu fin- und quer zu den ideologischen Fronten über
den (z. B. GBA 10, S. 651 f.). Bestimmte Motive das ›Kollektive‹ nachdenken. So heißt es:
kehren hartnäckig wieder, als habe B. nicht »Kern-Chor verurteilt alle, die helfen / die nicht
von ihnen loskommen können. Das Motiv der helfen / die einbrechen / die den Einbruch ver-
Mietkündigung und der Vorgang des Möbel- hindern / Kern lehnt alles ab, preist nichts an /
heraustragens etwa finden sich verändert wie- Kern hat magische Anziehungskraft.« (GBA
der in der Heiligen Johanna (GBA 3, S. 206), 10, S. 569) Hier könnte eine Erörterung des
ebenso, wenn auch nur kurz erwähnt, das Mo- ›revolutionären Nihilismus‹ bei B. ansetzen.
tiv des Holzhackens (S. 173). Schließlich fal-
len einzelne Passagen und Details auf, die
nicht weiter bearbeitet wurden, und in diesem
Abbruch symptomatischen Charakter haben. Das Stück
Eine Notiz lautet z. B.: »Die SA / Die herr-
schende Moral« (GBA 10, S. 576). Sie ist be-
merkenswert, weil B. in der Weimarer Zeit es Muss man das Fragment Brotladen als ein Do-
durchweg vermieden hat, den Aufstieg der Na- kument experimenteller Produktivität und un-
zibewegung zu reflektieren oder direkt zu the- gelöster Widersprüche lesen, so hat es sich als
matisieren. Dies geschieht erst mit der Arbeit Bühnenfassung davon frei gemacht. Die Bear-
an den Rundköpfen und Spitzköpfen ab Mitte beitung von Karge und Langhoff bewies, dass
1932. Dort wird das Heilsarmee-Motiv der im Fragment eine griffige Fabel und ein at-
»scharlachroten Sünde« (vgl. GBA 10, S. 642) traktives Spielkonzept steckt. Ihr Vorgehen be-
zur NS-Kritik eingesetzt (vgl. GBA 4, S. 475). stand darin, das fragmentarische Material auf
An anderer Stelle erfolgt die ausdrückliche die »Zusammenstellung einer Geschichte«, die
Charakterisierung des Bäckers als Faschisten »theatralische Zwecke« ermöglicht, zu durch-
und Antisemiten (GBA 10, S. 651). Eine wei- forsten. Dabei hatten sie den Anspruch auf
tere Eintragung stellt »Die Heilsarmee« und eine authentische Rekonstruktion von vorn-
»Die Kommunistische Partei« einander gegen- herein relativiert: »Der Verlauf der Geschichte
über (S. 593). Gleich darauf wird aus der Feu- in unserer Fassung ist […] eine Möglichkeit,
erbach-Schrift von Friedrich Engels zitiert die das Material liefert – ein Vorschlag«
(S. 1180 f.), welche die antikapitalistische (Brecht, S. 64).
240 Der Brotladen

In der Tat stellt sich die Frage, ob nicht auch Washington Meyer Hilfe zu kommen: Die Ar-
eine viel weniger auf einzelne Plots ausge- beitslosen sollen das Holz hacken und Frau
richtete Bühnenfassung des Brotladens mög- Queck das gehackte Holz an Meininger ver-
lich wäre, die den unfertigen, mit verschie- kaufen. Stattdessen tritt die Heilsarmee auf
denen Möglichkeiten experimentierenden Zu- den Plan und vereinbart mit ihm, das Holz
stand der Textvorlage selbst zum Prinzip der abzutransportieren (auch dies ist eine Anspie-
Darstellung macht. Die Entscheidung für die lung auf die Arbeitsbeschaffungspraxis der
Zusammenstellung einer Geschichte hatte Heilsarmee; vgl. S. 1171.) Die getäuschten Ar-
aber den Vorteil, dass die ausgearbeiteten Sze- beitslosen beginnen nun den Brotladen anzu-
nen als eigenständige Episoden herausgelöst greifen, während der Bäcker seine Mieter zum
werden konnten und somit der an commedia Beistand auffordert, um mit Semmeln und
dell’arte und Slapstick orientierte grotesk-ko- Brotlaiben die Als (die Arbeitslosen) in die
mische Charakter des Stücks deutlich hervor- Flucht zu schlagen. Sie ziehen sich zurück, als
trat. Es handelt sich um drei Hauptszenen, der Polizist erscheint, der den Anführer der
deren Abfolge und Titel sich aus dem Material Brotschlacht, Washington Meyer, mit einer
ergeben und in der Edition der Fragmente er- Semmel erschlägt.
kennbare Blöcke bilden: Der Kampf (des Zei-
tungsjungen Washington Meyer) um den Gro-
schen (GBA 10, S. 596–603), das Holz der
Witwe Niobe Queck (S. 603–614), die Fort- Slapstick
setzung der Holzgeschichte, Brotschlacht und
Tod des Washington Meyer (S. 630–638)
Die Handlung spielt auf der Straße vor dem B. hat die kleinen Vorgänge karikaturhaft
Back- und Mietshaus des Bäckers Meininger überhöht, so dass sie zugleich als Travestie
im Ablauf eines einzigen Tags. Zunächst ge- eines mythischen Geschehens erscheinen. Die
lingt es dem Zeitungsjungen Washington Brotschlacht z. B. wird von den Kämpfenden
Meyer, seinen ersten Groschen zu erkämpfen nicht bloß dialogisch vollzogen, sondern zu-
(und damit aus dem »Schlamm« aufzusteigen; gleich im hohen Ton des antiken Epos berich-
GBA 10, S. 581), indem er den ›Zeitungsräu- tet (vgl. GBA 10, S. 634 f.). Auch sonst epi-
ber‹ Ajax Januschek (Bäckergeselle Meinin- sieren die Chöre der Als das Geschehen, das
gers) durch List zur Bezahlung zwingt. In der dadurch einen demonstrierenden Charakter
zweiten Episode wird der Witwe Queck, eben- erhält. Das turbulente Geschehen unter lauter
falls Mieterin bei Meininger, ihre Willfährig- ›kleinen‹ Leuten spielt sich auf, als vollzöge es
keit zum Verhängnis: im Auftrag des Bäckers sich in der Dimension weltgeschichtlicher
lässt sie den Holzhändler zehn Kubikmeter Vorgänge. Schon die Namen verweisen darauf:
Holz bringen und bleibt auf ihnen ›sitzen‹. In Meyer ist ein Washington, der seinen Unab-
der Hierarchie der ökonomisch Untergehen- hängigkeitskrieg kämpft, an dem staatsmän-
den – der Holzhändler muss sein Holz los- nisches Benehmen gerühmt wird, als er sich
werden, der Bäcker ist beim Immobilienmak- mit List seinen Groschen erkämpft, der auf
ler Flamm verschuldet, den wiederum die dem Wege ist, ein »Gigant« (S. 608), wie der
Kleinbanken an der Gurgel halten – ist die Brotladenbesitzer, zu werden; die Witwe
Witwe mit ihrem Mietrückstand und ihren sie- Queck ist eine Niobe, die Tantalustochter mit
ben Kindern die Ärmste, aber noch nicht ihren sieben Kindern (im griechischen Mythos
nichts. Meininger lässt sie mit ihren Möbeln hat Niobe zweimal sieben Kinder), das Urbild
auf die Straße setzen (eine damals übliche Pra- der schmerzensreichen Standhaftigkeit, die
xis der »Exmittierung«; vgl. S. 1171 f.); die Mö- stoisch ihr Schicksal erträgt (Niobe verwandelt
bel werden vom Holzhändler als Entschädi- sich, als ihr die Kinder abgeschlachtet worden
gung für die Holzlieferung weggeschafft. In sind, vor Schmerz in eine Steinsäule); Janu-
der dritten Episode scheint zunächst durch schek hört auf den Vornamen »Ajax«, den grie-
Slapstick 241

chischen Helden vor Troja; der Kioskbesitzer Hätte er das Fragment abgeschlossen, wäre als
Herr Schmitt, der Fatalist, der die Als vor al- Gegengewicht dazu die epische und gestische
lem Mitleid mit der Witwe Queck warnt, weil Stilisierung sehr viel weiter fortgeführt wor-
es ihnen nichts nützt, heißt mit Vornamen den. »Technischer Standard« hieß für B.: ein
Ulysses (Odysseus). Auch der Name »Als« er- rhythmisch kalkulierter Wechsel der Spiel-
hält in diesem Zusammenhang mythischen und Stil-Lagen, zwischen dialogischen Passa-
Klang; sie erscheinen wie ein gestaltloser gen und polyphonen Chören, gewiss auch ein
Klumpen vorzivilisatorischer Wesen, die nach Wechsel zwischen gesungenem und gespro-
ihrer Chance äugen, die Gefahren wittern und chenem Text. Aber das, was als spielbarer Text
in ihrer Mischung aus Feigheit und Aggressivi- sich aus dem Brotladen-Fragment als heraus-
tät unberechenbar sind. Sie haben gelernt, sich lösbar erwies, bietet vielleicht die beste Wi-
von keiner moralischen Stimme verführen zu derlegung des Vorbehalts, das epische Theater
lassen: »Tut Wachs in eure Ohren / Sonst seid B.s habe mit Vergnügen und anarchischer
ihr bald verloren / Drum Wachs in eure Ohren Spiellust nichts zu tun.
/ Sonst seid auch ihr verloren / Warum seid ihr
geboren / Tut Wachs in eure Ohren!« (S. 617)
Überdeutlich ist zugleich die Nähe des
Stücks zur Stummfilmgroteske, insbesondere Inszenierungen
zu Chaplins Filmen, die B. außerordentlich
bewunderte: Easy Street (1917) und Dogs Life
(1918) wären hier ergiebige Vergleichsobjekte. Die Uraufführung des Fragments brachte das
Bei der Musterung der Als durch den Zei- Berliner Ensemble am 13. 4. 1967 heraus
tungshändler kriecht Washington Meyer zwi- (Bühnenfassung: Karge und Langhoff, Musik:
schen den Beinen durch, um den Pack Zeitun- Hans-Dieter Hosalla, Bühnenbild und Ko-
gen zu bekommen. Er arbeitet »auf einem lau- stüme: Karl von Appen). 1980 spielte die
fenden Band als Straße« (GBA 10, S. 599). Er Schlicksupptheatertrupp den Brotladen im
überlistet den hünenhaften Bäckergesellen Hansa-Palast in Düsseldorf, in Frankfurt 1981
(Alex Januschek), der sich die Zeitung, ohne im Theater im Zelt und 1982 in Recklinghau-
zu zahlen, nimmt, durch kindische Mittel: sen. Arie de Mol inszenierte 1997 an der Rot-
schneidet mit dem Taschenmesser den Ton- terdamse Schouwburg »De naakte Stad – drie
nenboden aus; täuscht seinen Tod vor, stellt manieren om to overleven«, eine Collage, be-
Januschek vor seiner Mutter bloß. Einer der stehend aus B.s Der Brotladen, Camus’ De
Entwürfe sieht als Szene vor: »Mary stellt Poli- Rechtvaardigen und einem Text des nieder-
zisten ein Bein, ohne daß es jemand merkt. ländischen Autors und Theaterregisseurs Paul
Polizist fällt um, bricht Bein, wird mit Kran Feld. Das »Mittwoch Theater« in Hannover
fortgeschafft, oben auf den Möbeln.« (S. 571) spielte (nach einer früheren Inszenierung
Das Körperliche des Vollzugs wird übertrie- 1981/82) 1998 im Theater am Lindener Berg
ben, die Dinge gewinnen ihre kindliche Größe im Rahmen der Reihe »Brecht 100« den Brot-
und Fantastik wieder. Es herrscht Improvisa- laden in einer schrillen Inszenierung von Till
tion und Karnevalistik auch da, wo es todernst Büthe mit der Musik von Brigitte Scanner, in
zugeht und der Chor in der Sprache der Maß- der die Arbeitslosen als clowneske Figuren mit
nahme spricht: »Geh vor, Gewarnter, verlaß grotesken Masken agierten. Gunter Seidler in-
die Masse, die dich verbirgt! / Du bist gesehen szenierte 1997–2000 an der Berliner Volks-
worden, jetzt / Vollzieht sich deine Ausmer- bühne den Brotladen auf der Bühne von Bernd
zung!« (S. 637) Danach wird Meyer vom Poli- Schneider mit den Kostümen von Michaela
zisten mit der Semmel erschlagen. Barth. Die Darsteller gehörten dem Obdach-
B. hat vermutlich ein weitgehend durch losen-Theater »Ratten 07« an, die das Publi-
Slapstick-Komik und Groteske beherrschtes kum mit der Realität wachsender Arbeitslosig-
Stück mit dem Brotladen nicht intendiert. keit konfrontierten, bis es am Ende zu einer
242 Der Brotladen

fingierten Massenschlägerei und zum Bombar- Falle des Lindberghflugs und des Lehrstücks
dement des Publikums mit Requisiten kam. ging die Initiative auch diesmal vom Kompo-
Eine Spielleitung übernahm es, während der nisten aus.
Aufführung die Rollen zu verteilen, Kommen- Ein Programmschwerpunkt der ›Neuen Mu-
tare zuzulassen und ordnend einzugreifen. sik Berlin 1930‹, der Folgeveranstaltung des
1998 wurde diese Inszenierung auch im Ham- Baden-Badener Musikfestes, war Musik für
burger Schauspielhaus im Malersaal gezeigt. pädagogische Zwecke (vgl. Die Lehrstücke,
BHB 1). Die Gebrauchs- und Gemeinschafts-
musik fand hier Anschluss an die Schulmusik-
Literatur: bewegung, die der Arbeit der Reformpädago-
Benjamin, Walter: Einbahnstraße. Frankfurt a. M. gik in vielfältiger Weise verpflichtet war.
1962. – Berger-Prößdorf, Tamara: Die Funktion der Schöpferische Selbsttätigkeit und spielerische
Heilsarmeegeistlichen in den Dramen Brechts. New Produktivität des Kindes, auch das Gemein-
York [u. a.] 1993. – Brecht, Bertolt: Der Brotladen. schaftserlebnis in der Gruppe waren pädagogi-
Ein Stückfragment. Bühnenfassung und Texte aus
sche Ziele, welche die Entwicklung des musi-
dem Fragment. Frankfurt a. M. 1967. – Laux, Bern-
hard: »Erlaubt, daß wir euch vortragen …«. Bericht kalischen Schulspiels begünstigten. Der Form-
über die Erarbeitung einer Fassung des »Brotladen«- typus ›Schuloper‹, wie Weill ihn auffasste, als
Fragments durch den »workshop« des 6. Norddeut- spezifisch pädagogische Gebrauchsform, die
schen Theatertreffens. In: Steinweg, Reiner (Hg.): musikalische und geistige Schulung miteinan-
Auf Anregung Bertolt Brechts: Lehrstücke mit Schü- der verband (Weill, S. 62), bot sich für diese
lern, Arbeitern, Theaterleuten. Frankfurt a. M. 1978,
Zwecke besonders an.
S. 260–301. – Lindner, Burkhardt: Das Messer und
die Schrift: Für eine Revision der ›Lehrstückperi- Das Lehrstück vom Jasager, wie der Titel
ode‹. In: BrechtYb. 18 (1993), S. 42–57. – Seliger, zunächst lautete, knüpft nicht an die oratori-
Helfried W.: Das Amerikabild Bertolt Brechts. Bonn sche Form des Lehrstücks an; als Schuloper,
1974. als kleine musikdramatische Form mit ge-
Burkhardt Lindner schlossener Fabel, bringt es neue Formaspekte
in den Spieltypus ein. Das Thema, die Erzie-
hung zur Gemeinschaft, unumstrittenes Ziel
der Reformpädagogik, war für eine Schuloper
besonders geeignet, weil hier das pädagogi-
Der Jasager / Der Neinsager sche Motiv mit dem Verwendungszweck (Ge-
meinschaftsmusik für den schulischen Ge-
brauch) zusammenfiel.
Der Text der Schuloper Der Jasager, als Bei- Über den Text, der Ende Dezember 1929 /
trag für die Tage der ›Neuen Musik Berlin Anfang Januar 1930 entstand und weitgehend
1930‹ entstanden, geht auf das Nô-Spiel Ta- auf Hauptmanns Übersetzung zurückging, ha-
nikô zurück. Elisabeth Hauptmann hatte im ben sich Autor und Komponist im Einzelnen
Winter 1928/29 die englischen Nachdichtun- verständigt. Noch im Januar begann Weill mit
gen japanischer Nô-Stücke von Arthur Waley der Vertonung. Am 14.4. teilte er seinem Ver-
(The No Plays of Japan, London 1921) kennen lag, der Universal-Edition (Wien), mit: »Die
gelernt und neun der Texte ins Deutsche über- Komposition des Jasagers ist beendet.« (Ar-
setzt. Eine der Übertragungen, Taniko oder chiv der Universal-Edition, Stadtbibliothek
Der Wurf ins Tal, erschien im Dezember 1929 Wien) Wegen der Versuche der Kritik, ihn auf
in der Zeitschrift Der Scheinwerfer (Blätter der die Dreigroschenoper und den Songstil fest-
Städtischen Bühnen Essen 3 [1929/30], H. 6/7, zulegen, hielt Weill das neue Werk für außer-
S. 7–14). Weill, der sich seit dem Sommer ordentlich wichtig. »Auch die völlig unpoliti-
1929 mit dem Gedanken trug, eine Schuloper sche, rein menschliche Haltung des Textes ist
zu komponieren (vgl. Weill, S. 61), schlug B. günstig in diesem Moment.« (Ebd.)
eine Bearbeitung der Übertragung vor. Wie im Anfang April 1930 erschien der Text unter
Entstehung 243

dem Titel Lehrstück vom Jasager (Schuloper tigen Kostümen, die Art und Charakter der
von Kurt Weill. Text nach einem japanischen Figuren anzeigen. Das Nô kennt nur wenige,
Märchen von Bert Brecht) in der Zeitschrift genau fixierte Rollentypen. Auch die Verwen-
Die Musikpflege (1 [1930/31], H. 1, S. 53–58). dung der holzgeschnitzten Masken ist festge-
Dem Abdruck vorangestellt war das Aktuelle legt. Die Spielweise ist absolut nicht-illusio-
Zwiegespräch über die Schuloper zwischen nistisch. Alles, was an Sinn mitgeteilt werden
Weill und Hans Fischer (vgl. Weill, S. 63–70). soll, wird in körperliche Bewegung, Panto-
Der Klavierauszug lag im Juni des Jahres vor, mime, Tanz und Gestik übersetzt. Jede Geste
die Partitur Anfang 1931. Beide beruhen auf hat ihre Bedeutung. Ein kleiner Chor kom-
der Textfassung des Erstdrucks, bringen je- mentiert die Vorgänge, spricht auch (etwa
doch Szenen- und Regieanweisungen, die dort während des Tanzes) für die Spieler. Die musi-
noch fehlten. Etwa gleichzeitig mit dem Kla- kalische Begleitung besorgen im Hintergrund
vierauszug erschien der Text auch als Vorab- der Bühne sitzende Musiker auf der Nô-Flöte
druck aus den Versuchen (Der Jasager. Schu- und auf verschiedenen Trommeln. Ein Pro-
loper. Versuche 10. Aus dem 4. Heft Versuche, gramm besteht aus fünf Stücken, deren Rei-
Berlin 1930. – Weill wird hier und seitdem henfolge genau festgelegt ist.
regelmäßig neben Hauptmann als Mitarbei- Stoffliche Grundlage der Nô-Spiele sind
ter genannt). Ein dritter Abdruck findet sich Mythen, Legenden und Sagen, insbesondere
im Programmheft der Uraufführung (vgl. un- aus der buddhistischen Überlieferung. Thema
ten). ist der Widerspruch zwischen empirischer Er-
scheinung und metaphysischer Wirklichkeit,
das Erscheinen des Überirdischen in der Welt.
Tanz und Bewegung versinnlichen die meta-
Das japanische Nô-Spiel Tanikô / physische Realität der buddhistischen, von der
Arthur Waleys Übertragung Vergänglichkeit des irdischen Lebens und der
Bedeutungslosigkeit des Todes geprägten
Weltsicht. Sie korrespondiert den feudalisti-
Das im 15. Jh. entstandene Stück Tanikô (sein schen Werten der Hinnahme des Schicksals
Vf. ist wahrscheinlich Komparu Zenchiku Uji- und der Notwendigkeit des Opfers: Wie der
nobu, 1405–1468) gehört zum Bestand der Buddhist seine Vergänglichkeit akzeptiert, so
etwa 240 Stücke, die heute noch gespielt wer- akzeptiert der Samurai den Opfertod im
den. Das Nô, eine der klassischen Formen des Dienst seines Herrn. Im Nô fand das Selbst-
japanischen Theaters (Nô bedeutet: Können, verständnis einer gesellschaftlichen Elite sei-
Kunst, Kunstfertigkeit), hatte seine Blütezeit nen kultisch-künstlerischen Ausdruck.
im 14. und 15. Jh. Sein Ursprung liegt in kulti- Die Fabel des Nô-Spiels Tanikô stammt aus
schen Aufführungen mit Tanz, Chor und Ge- dem Legendenbereich um En no Gyôja (7. /
sang. Es war das Theater der aristokratischen 8. Jh.), dem Gründer des Ordens der Yama-
Kriegerkaste der Samurai, eine exklusive bushi, einer Sekte des japanischen Bergbud-
Kunstform, die im Unterschied zum volkstüm- dhismus. Der im 6. Jh. aus Korea nach Japan
lichen Kabuki nie populär wurde. Das Nô ist eingeführte Buddhismus überlagerte und ver-
eine strenge, hochstilisierte Theaterform, in drängte dort allmählich den bis dahin herr-
der lyrische Dichtung, pantomimische Dar- schenden Shintoismus. Tanikô reflektiert die-
stellung, Tanz und Musik als gleichwertige sen Übergang in der Entwicklung religiöser
Elemente eine eigentümliche Verbindung ein- Vorstellungen und Kulthandlungen in Japan.
gehen. Es wird auf einer nach drei Seiten offe- Zentrales Motiv ist ein aus shintoistischer Tra-
nen, kulissenlosen Bühne gespielt, deren dition stammendes Menschenopfer Tanikô be-
Rückwand die Darstellung einer alten Kiefer deutet etwa: »jemanden dem Brauch des Tal-
schmückt, ohne Dekoration, mit wenigen Re- wurfs unterwerfen« (Sembritzki, S. 97), das
quisiten, aber in prunkvollen und farbenpräch- am Ende im Lichte der buddhistischen Lehre
244 Der Jasager / Der Neinsager

von der Wiedergeburt einen neuen, spirituel- enthüllt sich dessen wahre Identität: Er ist
len Sinn erhält. eine Reinkarnation des En no Gyôja. – Der
Kultischer Hintergrund der Fabel ist eine Knabe wird nun zu neuem Leben erweckt.
rituelle Wallfahrt ins Gebirge, die strengste Auf dieses Ende hin ist das Geschehen an-
Askese verlangte. Ein ranghoher Yamabushi, gelegt, in der Wiedererweckung des Knaben
der mit einigen Begleitern zu der Wallfahrt findet die Pilgerreise ihre Erfüllung. Subjek-
aufbricht, will von seinem vaterlos aufwach- tive Voraussetzung auf Seiten des Knaben ist
senden Schüler Matsuwaka und dessen Mutter neben der Liebe zur Mutter die selbstver-
Abschied nehmen. Der Knabe aber besteht ständliche Unterwerfung unter das Große Ge-
darauf, seinen Meister zu begleiten. Er lässt setz. Indem auch die Pilger – obgleich wider-
sich auch von der Vorstellung, dass die Wall- willig und zögernd – den ›Großen Brauch‹
fahrt »strenger Satzung unterworfen« sei und vollzogen, retteten sie sich, die Pilgerfahrt und
»harte Übungen« verlange (in: Szondi, S. 86), den Knaben vor dem Verderben; sie sind es,
nicht beeindrucken; er will sich ihnen unter- die geprüft wurden, weniger der Knabe Matsu-
ziehen, um für das Wohl seiner erkrankten waka (Tatlow, S. 183). Da sie die Prüfung be-
Mutter in diesem Leben zu beten. Da ihn stehen, enthüllt sich ihnen die wahre Sicht des
nichts von seinem Entschluss abzubringen ver- Schicksals – der Sinn des Talwurfs als not-
mag, willigen der Meister und die Mutter end- wendige Stufe auf dem Wege zu höherer Voll-
lich ein, tief bewegt von der großen Kindes- kommenheit. Das grausam erscheinende shin-
liebe, ein hoher Wert der alten japanischen toistische Opfermotiv wird aufgehoben durch
Ethik und ein wichtiges Motiv des Stücks. Un- buddhistische Metaphysik (S. 202). Dies
terwegs erkrankt der Knabe. Der Meister ver- scheint auch die Botschaft gewesen zu sein, die
sucht, seinen Zustand zu bagatellisieren, aber das Nô-Spiel Tanikô seinem Publikum zu ver-
die begleitenden Pilger halten ihn für bedenk- mitteln hatte: Es schärfte dem Samurai die
lich. Sie beschließen, dem ›Großen Gesetz‹ zu Notwendigkeit des Opfertodes im Dienste sei-
folgen: »Erkrankt ein Pilger unterwegs, so ist nes Herrn ein und erleichterte ihm zugleich
das ein göttlicher Hinweis auf seine Unrein- die Bereitschaft zum Opfer, indem es diesem
heit. Er gefährdet damit seine Mitpilger und einen religiös-spirituellen Sinn verlieh, die
den Erfolg der Wallfahrt. Um sich selbst zu gegenwärtige Existenz als Durchgangsstadium
retten, müssen sie ihn töten.« (Sembritzki, zu höherer Vollkommenheit in der Kette der
S. 100) Bei dem Gedanken, den Knaben opfern Reinkarnationen vorstellte.
zu müssen, ergreift die Pilger großer Schmerz. Die englische Fassung, die Waley 1921 vor-
Angesichts ihrer Klage mahnt der Chor, die legte – Taniko. (The Valley-Hurling; in:
Scheinhaftigkeit und Vergänglichkeit der irdi- Szondi) – stellt eine Bearbeitung dar, die den
schen Welt zu bedenken. Zögernd und wider- Sinn des Originals eher verdeckt als sichtbar
willig vollziehen die Pilger das Große Gesetz. macht. Waley, der das Stück dem Geschmack
– Aber der Schmerz des Meisters ist so groß, und Verständnis europäischer Leser anzunä-
dass er sich weigert, die Pilgerfahrt fortzu- hern versuchte, reduzierte die Fabel auf den
setzen. »Im Grunde ist kein Unterschied zwi- reinen Handlungsablauf. Seiner Bearbeitung
schen Krankheit und Schmerz. So unterwerft fiel nahezu der gesamte religiös-kultische
denn auch mich dem Brauch des Talwurfs.« Hintergrund zum Opfer. Aus dem Yamabushi
(In: Szondi, S. 94) Daraufhin beschließen wird der Lehrer einer Tempelschule. Der Sinn
seine Begleiter, En no Gyôja und die Dämonen der Wallfahrt – »a ritual mountain-climbing«,
zu bitten, Matsuwaka noch einmal ins Leben »a difficult and dangerous excursion« (S. 8) –
zurückkehren zu lassen. Der Meister: »Solches ist so wenig erkennbar wie die Zeichenhaftig-
zu hören war mein Wunsch.« (S. 95) Auf ihre keit der Erkrankung des Knaben oder die Be-
Bitte schwebt »der Engel himmlischer Musik« deutung des ›Großen Gesetzes‹. Da Waley den
(ebd.) herbei, lässt sich vor dem Meister nie- Leser über den metaphysischen Hintergrund
der und nimmt seinen Befehl entgegen. Damit des Talwurfs im Unklaren ließ, musste die Op-
Das japanische Nô-Spiel Tanikô / Arthur Waleys Übertragung 245

ferung des Knaben als ein Akt sinnloser Grau- Funktion wie der kleine Chor im Nô. Darüber
samkeit erscheinen. Dagegen führte er im Zu- hinaus repräsentiert er die Gemeinschaft, um
sammenhang mit dem Vollzug des Brauches deren Belange es geht, ist insofern innerlich
das Schuldmotiv ein – »Foot to foot / They beteiligter Zuschauer des Geschehens. ›Ein-
stood together / Heaving blindly, / None guil- verständnis‹ als Lernziel bedeutet nicht Ein-
tier than his neighbour« (S. 11 f.) –, das im übung von Schicksalsergebenheit oder blinder
Kontext des Originals ganz sinnlos ist. Sein Gefolgschaft, sondern das Gegenteil. Der Ein-
Text endet mit dem Talwurf, die Wiederer- gangschor (GBA 3, S. 49), nach Anweisung der
weckung des Knaben wird lediglich in einer Partitur zwischen den Akten und am Schluss zu
Fußnote referiert. wiederholen, macht darauf aufmerksam, dass
recht verstandenes Einverständnis auf dreier-
lei Weise verfehlt werden kann: Wenn der Zu-
stimmung Bewusstheit oder innere Überzeu-
Der Jasager: Text und Vertonung gung fehlt (V. 2); wenn Einverständnis vom
Betroffenen stillschweigend vorausgesetzt
wird (V. 3); wenn es aus mangelndem Urteils-
In dieser Gestalt lernte B. durch Hauptmanns vermögen an falscher Stelle erklärt wird (V.
Übersetzung das Nô-Spiel kennen. B. und 3 f.). Deshalb muss Einverständnis gelernt
Weill übernahmen ihren Text zu einem erheb- werden.
lichen Teil wörtlich, nahmen jedoch eine Die säkularisierende Umformung und die
Reihe von Veränderungen vor, die das Stück Einführung eines neuen Motivs machten Ein-
noch weiter vom japanischen Original entfern- griffe in die Figuren und in die Motivation des
ten und zusätzliche Probleme aufwarfen. Spielverlaufs erforderlich. War der Yamabushi
Im Programmheft der Uraufführung berich- des Nô-Spiels bei Waley Lehrer einer Tempel-
tete Weill, dass ihnen das Stück »seiner ganzen schule, so ist er im Jasager Lehrer einer
Grundhaltung nach sofort für den Gebrauch in »Schule in der Stadt« (S. 49). Aus der Pilger-
Schulen geeignet« schien (Weill, S. 62). Pä- fahrt wird »eine gefährliche Wanderung«
dagogisch verwertbar war die Fabel, wenn der (S. 50), eine »Forschungsreise in die Berge.
religiöse Kontext in einen aufgeklärt-rationa- Denn in der Stadt jenseits der Berge sind die
len übertragen und die Anforderungen der Re- großen Lehrer.« (S. 49) Aus den begleitenden
ligion ersetzt wurden durch die Ansprüche, Pilgern werden drei Studenten. Zweck der
die eine Gemeinschaft an ihre einzelnen Glie- Reise ist es, zu Wissen und Erkenntnis zu ge-
der stellt. Dem diente auch eine wichtige Ver- langen. Der Knabe besteht auf seiner Teil-
änderung der Fabel: Der Knabe wird nicht nahme, um für seine erkrankte Mutter bei
»willenlos ins Tal hinabgeworfen, sondern er »den großen Ärzten in der Stadt jenseits der
wird vorher befragt, und er beweist durch die Berge / Medizin zu holen und Unterweisung.«
Erklärung seines Einverständnisses, daß er ge- (S. 50) Dieser Wunsch, Ausdruck rechten Ein-
lernt hat, alle Konsequenzen auf sich zu neh- verständnisses, findet die Anerkennung des
men.« (S. 63) Einverständnis, im Lehrstück im Lehrers und der Mutter; denn Einverständnis
Gleichnis vom Denkenden (Nr. 5) eher bei- bedeutet auch: Nicht-Einverstandensein mit
läufig eingeführt, wurde pädagogisches Kern- Änderbarem. Anders motiviert wird auch die
motiv der Schuloper, bevor es im Herbst 1930 Kindesliebe zur Mutter. Offenbar handelt es
als Titelmotiv und Lernziel im Badener Lehr- sich bei der Mutter um eine proletarische
stück vom Einverständnis erneut Verwendung Frau; in der Liebe des Knaben kommt seine
fand (vgl. Lehrstück / Das Badener Lehrstück Dankbarkeit für ihre aufopfernde Fürsorge
vom Einverständnis, BHB 1). zum Ausdruck. So werden ansatzhaft soziale
Der ›Große Chor‹, der im Jasager das Motiv Momente in die Fabel eingebracht. Auch für
einführt, hat im Spielablauf eine ähnliche, die die Erkrankung des Knaben wird eine ratio-
Handlung begleitende und kommentierende nale Erklärung eingeführt: »Der Knabe war
246 Der Jasager / Der Neinsager

den Anstrengungen nicht gewachsen: / Er veranlassen, diesen Grundsatz in voller Be-


überanstrengte sein Herz / Das die schnelle wusstheit anzuerkennen. Die Befragung signa-
Heimkehr verlangte.« (S. 52) lisiert nicht Entscheidungsfreiheit (das Lehr-
Anders als in Waleys Fassung musste vor stück thematisiert Freiheit allenfalls im Sinne
allem der für die Fabelkonstruktion unver- der Einsicht in die Notwendigkeit); sie gibt
zichtbare Brauch des Talwurfs motiviert wer- dem Betroffenen vielmehr Gelegenheit zu be-
den. Nicht bereits die Erkrankung des Knaben, kunden, dass er berechtigte Ansprüche der Ge-
sondern erst die Beschaffenheit des Gebirges meinschaft mit allen persönlichen Konsequen-
(ein schmaler Grad lässt den Transport des zen anzuerkennen bereit ist. Die Zurückwei-
Erkrankten nicht zu) »schafft den Fall, auf den sung dieser Ansprüche änderte nichts an deren
der große Brauch Anwendung finden soll« (in: objektiver Geltung; sie zeigte lediglich die
Szondi, S. 106). Der Brauch selbst wird nicht Asozialität dessen an, der sich ihnen entzöge.
unverändert übernommen. Er beinhaltet auch Der Knabe, mit der Frage konfrontiert, ob
die Vorschrift, dass man den Erkrankten fragt, man seinetwegen umkehren soll, antwortet
ob man seinetwegen umkehren soll. In schein- ohne Zögern: »Ihr sollt nicht umkehren.«
barem Widerspruch hierzu steht eine weitere (GBA 3, S. 54) Indem er verlangt, dass mit ihm
Anweisung; sie verlangt, dass der Betroffene nicht anders als mit allen Gliedern der Ge-
antwortet: »Ihr sollt nicht umkehren.« (GBA 3, meinschaft verfahren werde, anerkennt er die
S. 54) Noch fragwürdiger muss der Brauch Verbindlichkeit ihrer sozialen Regeln. Die
durch die Mitteilung erscheinen, dass die drei vielfach geäußerte moralische Kritik am Ver-
Studenten ihn in jedem Fall vollziehen werden halten der Studenten und des Lehrers ver-
– wie der Befragte sich auch entscheiden mag. kennt, dass hier nicht deren in eigener Kom-
Es scheint, als werde dem Betroffenen mit der petenz getroffene Entscheidung vollzogen
einen Hand Entscheidungsfreiheit und Selbst- wird; sie artikulieren und vertreten nur die
bestimmung zugebilligt, mit der anderen wie- verbindlichen, über ihren Fortbestand ent-
der genommen und der ganze Vorgang durch scheidenden Prinzipien der Gemeinschaft.
die Vorentscheidung der drei Begleiter voll- Auch handelt es sich nicht um dramatische
ends ad absurdum geführt. Szondi urteilte des- Personen im Sinne des realistischen Theaters.
halb, es werde hier, wo »eine Auseinander- Ihr Status ist so eigenartig wie die Fabel, in der
setzung zwischen Mythos und Aufklärung, sie agieren, die eher der Logik der Parabel als
zwischen dem großen Brauch und der Selbst- den Erwartungen psychologischer Plausibilität
bestimmung des Subjekts hätte stattfinden folgt.
können, […] diese jenem in den Rachen ge- B. hat im Übrigen alles getan, um dem Ein-
worfen« (in: Szondi, S. 107 f.). Übersehen wird druck entgegenzuwirken, es seien auf Seiten
dabei das Thema und Lernziel der Schuloper: der Studenten Bosheit und Brutalität im Spiel.
das sich im ›Einverständnis‹-Motiv verdich- Vom großen Brauch berichten sie »mit Ent-
tende Verhältnis von Individuum und Gemein- setzen« (GBA 3, S. 53). Der Vorlage hinzuge-
schaft. Eine soziale Gemeinschaft kann dauer- fügt wurden auch Mitleid und Anteilnahme
haft nur Bestand haben, wenn im Konfliktfall artikulierende Worte (S. 54). Unter Klagen
die einzelnen Glieder dem Ganzen Opfer zu vollziehen sie den Brauch. Vollkommen uniro-
bringen bereit sind, wenn dem Gesamtinter- nisch werden sie in der abschließenden Chor-
esse Vorrang vor den Partikularinteressen ein- passage als »Freunde« bezeichnet (S. 55; ohne
geräumt wird: Dieser höchst unbequeme, auch Entsprechung bei Waley). Das Lehrstück en-
gefährliche (da missbrauchbare), gleichwohl det mit dem Ausdruck tiefen Bedauerns da-
kaum abweisbare Gedanke liegt dem Lehr- rüber, dass angesichts einer Interessenkolli-
stück zugrunde. Wenn der ›große Brauch‹ im sion der Einzelne sein vitales Eigeninteresse
Jasager sowohl die Befragung des Betroffenen der Gemeinschaft zum Opfer zu bringen hat;
als auch seine zustimmende Antwort vor- die Klage über »die traurigen Wege der Welt /
schreibt, so in der Absicht, den Befragten zu Und ihr bitteres Gesetz« (ebd.) meint diese
Der Jasager: Text und Vertonung 247

Notwendigkeit, die tragisch zu nennende Kon- schrieben. Ihre besondere Qualität lag in der
sequenzen haben kann. um optimale Verständlichkeit bemühten rhyth-
Bei der Beurteilung des Jasager ist neben mischen Fixierung des Textes. Neben den
dem parabelhaften Textstatus die pädagogi- Singstimmen – Knabe (Sopran), Mutter (So-
sche Funktion des Einverständnis-Motivs im pran), Lehrer (Bariton), drei Studenten (Te-
Übungskonzept der Schuloper zu beachten: nor), ein vierstimmig besetzter großer Chor –
Das provozierende Motiv zwingt Spielende sieht die Partitur ein aus zwei Klavieren, Har-
und Zuhörer zur Stellungnahme, es stellt sie monium und Streichern bestehendes Orche-
vor eine Entscheidung, der sich niemand ent- ster vor, zu denen weitere Instrumente ad libi-
ziehen kann. Aber auch in der Parabel muss tum hinzutreten können. Die Komposition be-
das Opfer plausibel sein. Es ist nur akzeptabel, steht aus zehn musikalisch geschlossenen
wenn seine Unabdingbarkeit zwingend moti- Nummern. Der Eröffnungschor (Nr. 1: »Wich-
viert ist. Dies aber ist im Jasager keineswegs tig zu lernen …«) ist als zweistimmiger Kanon
der Fall. Der Bestand des Gemeinwesens steht gesetzt, wobei Sopran und Tenor bzw. Alt und
nicht auf dem Spiel. Die unbedingte Notwen- Bass paarweise singen, während das Orchester
digkeit der Fortsetzung der Reise zu den gro- nach und nach einfällt. Die orchesterbeglei-
ßen Lehrern jenseits der Berge leuchtet nicht teten Wechselgesänge von Lehrer, Mutter und
ein, zumal auch die Erkrankung der Mutter als Knabe (Nr. 2 bis 4) entwickeln die Exposition
bereits überwunden bezeichnet wurde (GBA 3, der Fabel. Im Mittelpunkt von Nr. 5 (»Ich bin
S. 49), die Beschaffung von Medizin daher noch einmal zurückgekommen«) steht die
nicht dringlich erscheint. Das Konstruktions- rhythmisch ostinat begleitete Arie der Mutter
problem der Fabel liegt in diesem Motivations- (»Seit dem Tag, …«). In Nr. 6 (»Sie sahen, daß
defizit, im Missverhältnis zwischen Intention keine Vorstellungen …«) fällt der Chor kom-
und Realisation. An einem aufs Äußerste zuge- mentierend und berichtend ein, bevor der 1.
spitzten Modellfall sollte Einverständnis mit Akt mit der Zustimmung der Mutter zur Reise
den berechtigten Ansprüchen der Gemein- des Knaben schließt. – Nach der Wiederho-
schaft demonstriert und gelernt werden, aber lung der ersten Nummer beginnt mit dem
die Unumgänglichkeit des Opfers für die Ge- Chorbericht in Nr. 7 (»Die Leute haben die
meinschaft leuchtete nicht ein. So konnte der Reise …«) der 2. Akt, der rasch zur Erkenntnis
Eindruck entstehen, es werde blinde Gefolg- der Erkrankung des Knaben (Nr. 8: »Wir sind
schaft gefordert, Unterwerfung unter ein schnell hinangestiegen«) und – im Wechselge-
schicksalhaft verhängtes Gebot, das seine Le- sang der drei Studenten und des Lehrers, teil-
gitimität und Rationalität nicht darzutun hätte. weise vom Chor unterstützt – zur Einführung
Irritierend blieb auch, dass B. in den von re- des großen Brauches führt (Nr. 9: »Wir wollen
ligiös-kultischen Vorstellungen konsequent es dem Lehrer sagen«). Nr. 10 (»Hör gut zu!«)
gereinigten Text den Begriff des Brauchs über- beginnt »mit einer vom Klavier intonierten
nommen hatte, der nun in der Tat »in die auf- zweitaktigen Phrase, die in ihrem dumpfen
geklärte Welt des Stückes als Relikt von My- Klang wohl Tod andeuten soll« (Schebera,
thischem fremd hineinragt« (in: Szondi, S. 141); dann erläutert der Lehrer in einem
S. 107). Rezitativ dem Knaben den Brauch. »Während
Wenn die Crux der Fabelkonstruktion in der die Szene bis hierhin äußerst verhalten ist, alle
zeitgenössischen Diskussion vielfach unbe- Worte des Lehrers im rezitativischen Piano
merkt blieb, so war dies vermutlich auf die sehr vorsichtig artikuliert werden, wechselt
Qualität der Vertonung zurückzuführen, die Weill urplötzlich ins Fortissimo, wenn der ent-
unter Musikkritikern und -pädagogen fast ein- scheidende Dialog beginnt. Mächtige Akkorde
hellige Zustimmung fand. Dem Verwendungs- leiten die Frage ein: ›Verlangst du, daß man
zweck entsprechend hatte Weill eine leicht umkehrt deinetwegen?‹ Das Orchester ver-
ausführbare und singbare, auf lied- oder song- stummt, die Antwort des Knaben erfolgt ohne
hafte Formen ganz verzichtende Musik ge- jede musikalische Begleitung, aber auch noch
248 Der Jasager / Der Neinsager

im Fortissimo: ›Ihr sollt nicht umkehren‹. Da- des Podiums, und im Hintergrund in der
nach geht die Musik in einen Marschrhythmus Mitte, etwas erhöht, das Orchester. Nur spar-
über, von stampfenden Vierteln begleitet […] samste szenische Mittel wurden verwendet:
singen die drei Studenten das bestätigende ›Er eine spanische Wand und eine Tür im 1. Akt,
hat ja gesagt, er hat dem Brauch gemäß geant- ein Podest und Treppenstufen im 2. Akt, dane-
wortet‹« (ebd.), bevor der Brauch vollzogen ben einige Stühle und zwei Schrifttafeln mit
wird. Dann wird der einleitende Chor (Nr. 1) den Aufschriften »Bergpfad« und »Bergspitze«.
als Schlusschor noch einmal wiederholt. Illusionsfördernde Requisiten und Prospekte
fehlten, die Spieler trugen normale Straßen-
kleidung.
Die Aufführung, von der Berliner Funk-
Die Uraufführung / Kontroversen / stunde direkt übertragen, war ein unbestritte-
Überprüfung der Schuloper ner Erfolg. Das musikalische Niveau scheint
beachtlich gewesen zu sein, die Leistung der
jugendlichen Sänger und Instrumentalisten
Die Uraufführung war ursprünglich für den fand den ungeteilten Beifall von Publikum und
21.6. im Rahmen der ›Neuen Musik Berlin Presse. Weill wurde zusammen mit den Sän-
1930‹ angesetzt. Nach Auseinandersetzungen gern mehrfach hervorgerufen und begeistert
mit der Festivalleitung wegen der Maßnahme gefeiert. Noch im selben Jahr spielten 15
zog Weill seine Schuloper jedoch aus Solidari- Schulen den Jasager nach. Am 21. 12. 1930
tät mit B. und Eisler zurück. Die Aufführung übertrug der Frankfurter Sender das Werk.
fand deshalb erst am 23.6. statt, im Rahmen 1931/32 folgten etwa 40 weitere Aufführungen
einer Veranstaltung der Musikabteilung des an Schulen und Theatern, in größerer Zahl
Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht auch im Ausland.
in der Potsdamer Straße. Im Programmheft Das Echo in Tagespresse und Fachkritik war
(Neue Musik und Schule), das auch den Text keineswegs so einhellig positiv, wie der Erfolg
der Schuloper enthielt, erläuterte Weill die der Uraufführung erwarten ließ. Breite Zu-
Theorie der Verwendung der Schuloper (Über stimmung fand neben Weills Vertonung das
meine Schuloper »Der Jasager«; vgl. Weill, musikalisch-pädagogische Modell Schuloper.
S. 61–63). B. äußerte sich diesmal nicht über Auch Beobachter, die dem Text reserviert ge-
das Lehrstück. genüberstanden, bestätigten die Qualität der
Die erste Aufführung besorgten der Jugend- Vertonung und ihre Eignung für den pädagogi-
chor und die Jugendinstrumentalgruppe der schen Zweck ganz überwiegend. Augenschein-
Staatlichen Akademie für Kirchen- und Schul- lich lag hier vor, was Skeptiker nicht für
musik in Berlin-Charlottenburg unter Leitung möglich hielten: ästhetisch anspruchsvolle
von Heinrich Martens. Für die Soloparts wur- Gebrauchsmusik. Der Jasager, die erste Schul-
den Schülerinnen und Schüler verschiedener oper des 20. Jh.s, wurde in der Folge vielfach
Berliner Schulen herangezogen. An den Pro- nachgeahmt und leitete eine kräftige Renais-
ben, die Anfang Mai 1930 begannen, waren B. sance der Gattung ein.
und Weill beteiligt. B. legte vor allem Wert auf Bemerkenswert ist, dass die der Gemein-
eine schlichte, fast statuarische Spielweise. schafts- und Schulmusik verpflichteten Publi-
Auf seinen Wunsch wurden Bewegungen, Ge- zisten das pädagogische Motiv der Fabel in
stik und Mimik auf ein Minimum reduziert. aller Regel ohne weiteres akzeptierten. Ge-
Als Dirigent fungierte ein Oberprimaner. Die meinschaftsethos als Inhalt und Motiv einer
szenische Realisation auf dem Podium der gemeinschaftlichen Kunstübung: Es lag hier
Aula war bewusst einfach gehalten. Es wurde der Idealfall einer Kongruenz von Inhalt, Form
ohne Vorhang und bei voller Beleuchtung ge- und Zweckbestimmung vor. Die überzeugend-
spielt. Die erhaltenen Szenenfotos zeigen ne- sten Argumente für Text und Musik finden sich
ben den Solisten den Chor auf der linken Seite dort, wo der Übungscharakter betont und die
Die Uraufführung / Kontroversen / Überprüfung der Schuloper 249

Eignung als Übungsstück für den schulischen vgl. GBA 24, S. 92–95) stellte B. eine neue
Gebrauch als Wertungskriterium zugrunde ge- Textfassung her, anknüpfend an die Einwände
legt wurde. – Ganz anders verlief die Diskus- und Änderungsvorschläge der Schüler.
sion bei isolierter Betrachtung des Textes. Der Szondi hat darauf aufmerksam gemacht,
Jasager lieferte Argumente für beinahe jede dass die Kritik der Schüler »vornehmlich in
beliebige Interpretation. Was B. zu denken ge- Ritzen einhakte«, die erst durch B.s Bearbei-
ben musste, waren nicht grobschlächtige At- tung seiner Vorlage entstanden waren (in:
tacken rechtskonservativer Kritiker; Schwä- Szondi, S. 106 f.). Vor allem der Brauch des
chen des Lehrstücks traten eher in fragwürdi- Talwurfs geriet im säkularisierten Kontext des
gen Thesen der zustimmenden Kritik zutage Jasager unter einen kaum befriedigend aufzu-
(vgl. Krabiel, S. 147–150). Es gab daneben ver- lösenden Legitimations- und Motivations-
nichtende Urteile, die nicht einfach beiseite zwang. »Man könnte das Stück gerade dazu
geschoben werden konnten. Frank War- benutzen, die Schädlichkeit des Aberglaubens
schauer, mit dem B. in den ersten Berliner zu zeigen«, wurde in einer Untertertia einge-
Jahren befreundet war, sprach von der Ver- wandt (GBA 24, S. 94). Teilnehmer des Arbei-
herrlichung des Kadavergehorsams und einer ter-Kurses forderten Solidarität der Gesell-
Lebensanschauung, »die alle bösen Ingredien- schaft mit den hilfsbedürftigen Gliedern und
zen eines auf sinnlose Autorität gegründeten triftige Argumente, wenn diese verweigert
reaktionären Denkens« enthalte (in: Szondi, werde: »Die Frage ist zu prüfen, ob der Vorteil
S. 73). Auch im engsten Freundeskreis war des Gewonnenen so groß ist, daß der Opfertod
herbe Kritik geäußert worden; sie veranlasste des Knaben notwendig ist.« (S. 95) Von dieser
B., sofort ein ›Gegenstück‹ zu entwerfen. So Frage scheint B. bei der Neufassung des Lehr-
entstanden bereits im Frühjahr 1930, vor der stücks, die zwischen Januar und Mitte März
Aufführung des Jasager, Plan und erste Ent- 1931 entstand, unmittelbar ausgegangen zu
würfe zum Lehrstück Die Maßnahme (vgl. Die sein.
Maßnahme, BHB 1). Die Beliebigkeit der Aus-
legungen, auch der Beifall von der falschen
Seite, scheinen B. überrascht zu haben, als er,
aus Südfrankreich nach Berlin zurückgekehrt, Der Jasager (2. Fassung),
Kenntnis von den Diskussionen um den Ja- Der Neinsager
sager erhielt. Er begrüßte deshalb die Mög-
lichkeit, die Schuloper im Kontakt mit jenen
zu überprüfen, für die sie geschrieben worden Es kam darauf an, die Opferung des Knaben
war. und sein Einverständnis so zu begründen, dass
Sie ergab sich im Herbst des Jahres, als die ihre Unvermeidbarkeit einsehbar wurde. Der
von Fritz Karsen geleitete Karl-Marx-Schule in Brauch musste eliminiert, der Spielverlauf
Berlin-Neukölln, eine Arbeits- und Gemein- stringenter motiviert werden. Aus der »For-
schaftsschule, eine Aufführung plante. Die in schungsreise in die Berge« wird in der neuen
der Pressedebatte zutage getretene Missver- Fassung eine überlebensnotwendige »Hilfsex-
ständlichkeit der Lehrstückfabel war Gegen- pedition« (GBA 3, S. 60); denn in der Stadt ist
stand einer ersten Unterredung zwischen B. eine Seuche ausgebrochen; jenseits der Berge
und Lehrern der Schule. B. erklärte sich zur aber wohnen die großen Ärzte. Die Reise hat
Bearbeitung des Jasager bereit, erbat hierfür den Zweck, von ihnen die dringend benötigte
aber Vorschläge von den Schülern. Daraufhin Medizin und Unterweisung zu holen. Der
wurde der Text mit Schülern verschiedener Knabe besteht auf seiner Teilnahme an der
Altersstufen diskutiert, Änderungsvorschläge schwierigen Expedition, weil auch seine Mut-
erarbeitet und die Protokolle B. zur Verfügung ter von der Krankheit betroffen ist. So ver-
gestellt. Nach der Lektüre der Protokolle (aus- bindet die Reisenden ein gemeinsamer Zweck.
zugsweise im 4. Heft der Versuche mitgeteilt; Nicht mehr auf den großen Brauch berufen
250 Der Jasager / Der Neinsager

sich seine Begleiter, als der Knabe im Gebirge führt. Als die Studenten zögern, weiterzuge-
erkrankt, sondern auf eine Zwangslage: »wenn hen und den Knaben seinem Schicksal zu über-
er nicht weiter kann, müssen wir ihn / Hier lassen, bringt dieser selbst den Talwurf ins
zurücklassen« (S. 63). Der Lehrer beugt sich Spiel: »Ich bitte euch, mich nicht hier liegen-
diesem Argument erst, nachdem versucht zulassen, sondern mich ins Tal hinabzuwerfen,
wurde, den Erkrankten über den ›schmalen denn ich fürchte mich, allein zu sterben.«
Grat‹ zu tragen. Da der ›große Brauch‹ getilgt (GBA 3, S. 64) Mit dieser Bitte wird die den
wurde, ist vom Talwurf zunächst nicht die Begleitern offensichtlich höchst unbehagliche
Rede. (passive) Hinnahme des Opfers zur (aktiven)
Auch in der Neufassung ist die Befragung Tötung erheblich verschärft. Als sich die Stu-
des Betroffenen und seine zustimmende Ant- denten weigern, verlangt der Knabe, dass sei-
wort vorgeschrieben; selbst die Vorentschei- nem Wunsch entsprochen werde. Die Gemein-
dung der drei Begleiter wird aus der 1. Fas- schaft darf sich der Verantwortung für das
sung übernommen. Allerdings werden diese Schicksal des Einzelnen nicht entziehen;
Vorschriften nicht mehr von einem Brauch daran erinnert der Lehrer die Studenten: »Ihr
hergeleitet, sondern folgen den Kriterien ver- habt beschlossen, weiterzugehen und ihn da-
nünftiger Argumentation. Der Lehrer hält »es zulassen / Es ist leicht, sein Schicksal zu be-
für richtig, daß man den, welcher krank stimmen / Aber schwer, es zu vollstrecken.«
wurde, befragt, ob man umkehren soll sei- (Ebd.) Postuliert wird eine wechselseitige Zu-
netwegen« (GBA 3, S. 63). In diesem Kontext ständigkeit und Verantwortung von Indivi-
wird – ein einziges Mal – vom ›Brauch‹ ge- duum und Gemeinschaft – eine Konsequenz
sprochen: »Und der Brauch schreibt auch vor, aus der Säkularisierung der mythischen Fabel.
daß der, welcher krank wurde, antwortet: Ihr Erst nach der Ermahnung durch den Lehrer
sollt nicht umkehren.« (S. 64) Ein Versehen? sind die drei Begleiter bereit, dem Wunsch des
Nicht unbedingt. Indem vom Brauch ganz un- Knaben zu entsprechen. Sie erfahren jetzt:
vermittelt die Rede ist, »kann er weder vom Auch die Annahme des Opfers durch die Ge-
Knaben noch vom Publikum als das seit alters meinschaft ist für diese ein schmerzhafter Vor-
her bestehende Gesetz aufgefaßt werden, das gang; ihre Klage über »die traurigen Wege der
er in der ersten Version war, eher noch wird er Welt / Und ihr bitteres Gesetz« (S. 65) gewinnt
[…] dem vom Lehrer zuvor zweimal verwen- durch diese Erfahrung an Glaubwürdigkeit.
deten Kriterium der Richtigkeit subsumiert, Dass »Keiner schuldiger als sein Nachbar« sei
das ihm einst selber unterstand« (in: Szondi, (ebd.), weist nun auch darauf hin, dass jeder
S. 109). Wenn auch in der neuen Fassung ne- das gleiche Maß an Verantwortung zu tragen
ben der Befragung die zustimmende Antwort hat; denn über das Opfer, das die Gemein-
vorgesehen und diese durch die Vorentschei- schaft dem Einzelnen abzuverlangen gezwun-
dung der drei Begleiter vorweggenommen ist, gen ist, kann sie nicht getrost zur Tagesord-
so belegt dies nur, dass die Textintention in nung übergehen. Diese Erfahrung den drei Be-
diesem Punkt keine andere ist als die der 1. gleitern (und den Spielenden / Übenden) zu
Fassung: Der Betroffene soll sein Einverständ- vermitteln, ist die Aufgabe der neu eingefüg-
nis mit dem im Interesse des Gemeinwesens ten Textteile.
als notwendig vorgestellten Opfer in voller Be- Was die Notwendigkeit der Opferung des
wusstheit zum Ausdruck bringen. Deshalb Knaben betrifft, so lässt auch die 2. Fassung bei
kann der Lehrer, nachdem der Knabe nach spitzfindiger Auslegung noch Fragen offen.
einer »Pause des Nachdenkens« sein Einver- Warum teilt sich die Gruppe nicht, bringen die
ständnis erklärt hat, im Gebirge zurückgelas- einen den Erkrankten nicht zur Stadt zurück,
sen zu werden, ausrufen: »Er hat der Not- während die anderen die Hilfsexpedition fort-
wendigkeit gemäß geantwortet.« (GBA 3, setzen? Es bestätigt sich, was anlässlich der 1.
S. 64) Fassung schon bemerkt wurde: Sobald der
An dieser Stelle wird ein neues Motiv einge- Raum des Mythischen, der rationaler Motiva-
Der Jasager (2. Fassung), Der Neinsager 251

tion nicht zugänglich ist und keiner Legitima- tigter, da unvernünftiger, insofern unmorali-
tion bedarf, verlassen, das für die Fabel kon- scher Anspruch der Gemeinschaft abgewiesen
stitutive Opfermotiv aber beibehalten wird, wird. Der Spielverlauf, die Voraussetzungen
gerät der Autor in einen kaum befriedigend zu der Reise, somit die Entscheidungsgrundlage
lösenden Legitimationszwang. An diesem für den Knaben, sind die der 1. Fassung des
Punkt treten die Grenzen der Säkularisierbar- Jasager: Es handelt sich um eine »Forschungs-
keit kultisch-religiöser Motive deutlich zu- reise in die Berge« (GBA 3, S. 67) zu den gro-
tage. Eine das Lehrstück als Übungsmodell ßen Lehrern; der Knabe schließt sich ihr an,
begreifende Interpretation wird die dramatur- um für seine (nicht sehr ernstlich) erkrankte
gisch-pädagogische Funktion des Opfermotivs Mutter bei den »großen Ärzten« Medizin und
und die Parabelhaftigkeit der Fabel nicht ver- Unterweisung zu holen (ebd.). Neu eingefügt
kennen. Letztere allerdings nimmt in dem ist die Frage des Lehrers vor Antritt der Reise:
Maße Schaden, in dem der Spielverlauf strin- »Aber wärest du denn auch einverstanden mit
genter und konkreter, auch ›vernünftiger‹ mo- allem, was dir auf der Reise zustoßen könnte?«
tiviert wird – ein Problem, dessen Lösung al- (Ebd.) Indem der Knabe sie ohne weiteres be-
lenfalls im Übungszusammenhang gelingen jaht, liefert er ein Beispiel falschen Einver-
kann. ständnisses, das zu korrigieren sein wird. Als
Der Text der Neufassung erschien im April / er unterwegs erkrankt und mit dem ›großen
Mai 1931 in einem erneuten Vorabdruck des 4. Brauch‹ konfrontiert wird, verweigert er sein
Heftes der Versuche (Versuche 8. Der Jasager. Einverständnis. Worauf man ihn an sein gege-
Schuloper. Aus dem 4. Heft der Versuche. Ber- benes Wort erinnert: »Warum antwortest du
lin [mit Copyright 1930, jedoch erst 1931 er- nicht dem Brauch gemäß? Wer a gesagt hat,
schienen]), übrigens ohne jeden Hinweis, dass der muß auch b sagen.« (S. 71) Der Knabe hat
es sich um eine veränderte Fassung handelte. jedoch erkannt, dass seine Antwort so wenig
Da die neue Textfassung durch vergleichs- vernünftig war wie die Frage, denn man kann
weise geringfügige Änderungen und einige Er- Einverständnis mit Unvorhersehbarem ver-
gänzungen erreicht worden war, bedurfte es nünftigerweise weder verlangen noch erklä-
nur weniger Ergänzungen der Komposition, ren: »Die Antwort, die ich gegeben habe, war
die Weill zumindest zum Teil auch vornahm. falsch, aber eure Frage war falscher. Wer a
Es existieren 10 Blätter, überschrieben Jasager sagt, der muß nicht b sagen. Er kann auch
(Neue Fassung) und von Weill signiert (vgl. erkennen, daß a falsch war. […] Und was den
Lucchesi/Shull, S. 485, 488). Sie enthalten alten großen Brauch betrifft, so sehe ich keine
bisher unveröffentlichte Vertonungen zweier Vernunft an ihm. Ich brauche vielmehr einen
wichtiger Textänderungen bzw. -einschübe. neuen großen Brauch, den wir sofort einfüh-
Vermutlich entstanden sie für die Erstauffüh- ren müssen, nämlich den Brauch, in jeder
rung der Neufassung am 18. 5. 1931 in der neuen Lage neu nachzudenken.« (Ebd.)
Karl-Marx-Schule in Berlin (vgl. Krabiel, Es ist ein Plädoyer für die Vernunft, gegen
S. 154 f.). die sinnlose Autorität der Konvention. Der
Aus der Kritik am Jasager zog B. eine wei- Knabe fordert die Ersetzung des alten irratio-
tere Konsequenz: Er fügte der 2. Fassung des nalen Brauchs durch einen neuen: »Metho-
Jasager einen Neinsager hinzu, beruhend auf discher Gebrauch der Ratio soll fortan der ein-
der Fabelkonstruktion der Erstfassung. Hier zige Brauch sein.« (in: Szondi, S. 109) Seine
verweigert der Knabe sein Einverständnis mit Begleiter gestehen seiner Argumentation zu,
einer Maßnahme, deren Notwendigkeit nicht »vernünftig, wenn […] auch nicht heldenhaft«
einzusehen ist. Auch im Neinsager, vermutlich zu sein, haben aber noch Bedenken, ob es denn
im Sommer 1931 entstanden, ist das Thema keine Schande sei, »daß er für sich selber
die Unterscheidung von rechtem und falschem spricht« (GBA 3, S. 72). Erst als der Lehrer
Einverständnis. Dieses Lern- und Übungsziel diese zerstreut, beschließen sie, sich von kei-
wird nun realisiert, indem ein ungerechtfer- ner Schmähung abhalten zu lassen, »das Ver-
252 Der Jasager / Der Neinsager

nünftige zu tun«, und von keinem alten Brauch das Werk im Mai 1951 und erneut im Dezem-
hindern zu lassen, »einen richtigen Gedanken ber 1952. Daneben gab es 1951/52 Schüler-
anzunehmen« (ebd.). und Studentenaufführungen in Amsterdam,
Jasager / 2. Fassung und Neinsager erschie- Hamburg und Stockholm, 1953/54 drei Auf-
nen im Herbst 1931 im 4. Heft der Versuche führungen durch das Teatro Olimpico in Vi-
(Versuche 11–12, Berlin 1931). In einer Notiz in cenza. Seit Ende der 50er-Jahre wurden die
diesem Heft schrieb B.: »Die zwei kleinen beiden Lehrstücke wieder häufiger gespielt,
Stücke sollten womöglich nicht eins ohne das insbesondere an Schulen, verstärkt auch im
andere aufgeführt werden.« (Zit. nach: GBA 3, Ausland. Am 23. 1. 1961 war die Schuloper im
S. 58.) Diese Empfehlung unterstreicht die Süddeutschen Rundfunk (Stuttgart) zu hören.
Zusammengehörigkeit beider Lehrstücke. Ihr Die erste englische Aufführung veranstaltete
gemeinsames Lern- und Übungsziel ist ›Ein- die BBC London im Dezember 1965. Die
verständnis‹: Der Übende soll lernen, sich als DDR-Erstaufführung fand am 28. 4. 1966 im
integralen, mitverantwortlichen Teil der Ge- Maxim Gorki Theater in Berlin statt, besorgt
meinschaft zu begreifen. Darin steckt eine von Oberschülern unter Leitung von Ruth
doppelte Anforderung: sowohl die Unterord- Berghaus. Am 17. 11. 1969 hatte der Jasager an
nung des individuellen Interesses unter die der Berliner Schaubühne am Halleschen Ufer
legitimen Ansprüche der Gemeinschaft (Ja- zusammen mit dem Badener Lehrstück vom
sager, 2. Fassung) als auch die Überprüfung Einverständnis Premiere. George Tabori ver-
der Legitimität (d. h. Vernünftigkeit) der An- wendete die beiden Fassungen des Jasager und
sprüche, die an ihn gestellt werden (Neinsa- den Neinsager 1981 in Kassel lediglich als
ger) – eine Aufgabe, die auch und gerade in die Spielmaterial für eine Textvorlage, die eine
Kompetenz des Betroffenen fällt. Auf diese krititsche Auseinandersetzung mit B. aus der
Weise nimmt das einzelne Glied einer Ge- Perspektive der historischen Erfahrungen der
meinschaft seine Mitverantwortung für das ge- letzten fünfzig Jahre beabsichtigte (vgl. Wirth,
meinsame Normen- und Wertesystem wahr. S. 32–35). Dagegen stieß Peter Zadeks wortge-
Beide Lehrstücke sind komplementär aufein- treue Inszenierung von Jasager und Neinsager
ander bezogen; sie verhalten sich zueinander als Theaterstücke (ohne die Musik Weills) am
nicht wie These und Gegenthese, wie häufig 18. 12. 1993 im Berliner Ensemble als »un-
behauptet wurde, sondern entfalten zwei Sei- schuldiges Zeigefingertheater« (so Wille,
ten eines Zusammenhangs. S. 11) allgemein auf herbe Kritik.
Soweit heute bekannt, wurde der Neinsager,
der damals unvertont blieb, vor 1933 nicht
aufgeführt. Auch in der zeitgenössischen Dis- Literatur:
kussion fanden die beiden Versionen der Drew, David: Weill’s School Opera. In: Osborne,
Schuloper nur eine geringe Resonanz. Die ers- Charles (Hg.): Opera 66. A New Opera Annual. Lon-
te gemeinsame Aufführung erlebten sie nach don 1966, S. 169–179. – Köhler, Ursula E. E.: »Wer a
heutigem Kenntnisstand 1951 durch das Li- sagt, der muß nicht b sagen«. Brechts dialektische
ving Theatre in New York (vgl. GBA 3, Methode oder das Spiel mit Spielräumen. In: Rau,
Peter (Hg.): Widersprüche im Widersprechen. His-
S. 429 f.). Nach dem zweiten Weltkrieg war das
torische und aktuelle Ansichten der Verneinung. Fs.
Interesse an den beiden Lehrstücken zunächst für Horst Meixner zum 60. Geburtstag. Frankfurt
gering. Weills Schuloper wurde im Mai 1946 a. M. [u. a.] 1996, S. 115–136. – Krabiel. – Krusche,
von Karl Heinz Martin auf der Studiobühne Dietrich: Mythos als Lehrstück. Das No-Spiel Ta-
des Berliner Hebbel-Theaters aufgeführt, im niko und Brechts Schulopern Der Jasager und Der
selben Jahr von Studenten der Dresdner Neinsager. In: Jb. der literar. Fakultät der Universität
Okayama 29 (1969), S. 1–15. – Lee, Sang-Kyong: Das
Hochschule für Musik und Theater (Zeugnisse
Lehrtheater Bertolt Brechts in seiner Beziehung zum
zur Wirkung, auch zu den folgenden Auffüh- japanischen Nô. In: Modern Language Notes 93
rungen: vgl. Krabiel, S. 385 f., Anm. 11–19). (1978), Nr. 3, S. 448–478. – Lucchesi/Shull. –
Die italienische Rundfunkanstalt RAI übertrug Schebera, Jürgen: Theater der Zukunft? Brecht/
Der Jasager (2. Fassung), Der Neinsager 253

Weills Der Jasager – Brecht/Eislers Die Maßnahme. Bedeutung zu. Dessen Engagement galt da-
Eine vergleichende Studie. In: Musik und Gesell- mals der Aktualisierung der Musik der Arbei-
schaft 34 (1984), H. 3, S. 138–145. – Sembritzki,
terbewegung, der ›Revolutionierung des Ar-
Johannes: Anmerkungen des Übersetzers [Der Wurf
ins Tal]. In: Szondi, S. 97–102. – Steinweg, Reiner beiterchorgesangs‹, wie das Schlagwort lau-
(Hg.): Brechts Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, tete. Neben neuen Kompositionen waren neue
Diskussion, Erfahrungen. Frankfurt a. M. 1976. – Vermittlungsformen, abseits des traditionellen
Szondi, Peter (Hg.): Bertolt Brecht: Der Jasager und Konzertbetriebs, erforderlich. Vor allem muss-
Der Neinsager. Vorlagen, Fassungen, Materialien. ten die großen Formen der klassischen Vokal-
Frankfurt a. M. 1966. – Tatlow, Antony: The Mask of
musik durch eine für die Zwecke des Arbeiter-
Evil. Brecht’s Response to the Poetry, Theatre and
Thought of China and Japan. A Comparative and gesangs geeignete Musikliteratur ersetzt wer-
Critical Evaluation. Bern [u. a.] 1977. – Weill, Kurt: den (vgl. Die Lehrstücke, BHB 1). In diesem
Ausgewählte Schriften. Hg. mit einem Vorwort von Kontext interessierte Eisler damals die Zu-
David Drew. Frankfurt a. M. 1975. – Wille, Franz: sammenarbeit mit B.
Dialektik des Scheiterns. Über die Altmännerriege Der erste, vielleicht schon im Februar 1930
am Berliner Ensemble, über »Baal« und O’Caseys
entstandene handschriftliche Entwurf zur
»Juno und der Pfau«. In: Theater heute (1994), H. 2,
S. 9–11. – Willett, John: Production as Learning Ex- Maßnahme ist überschrieben: »der jasager
perience. Taniko – He Who Says Yes – The Measures (konkretisierung)« (Steinweg 1972, S. 202 f.).
Taken. In: Tatlow, Antony/Wong, Tak-Wai (Hg.): Das Thema der Schuloper – ›Einverständnis‹
Brecht and East Asian Theatre. The Proceedings of a des Einzelnen mit den Ansprüchen der Ge-
Conference on Brecht in East Asian Theatre. Hong meinschaft bis zur Selbstaufgabe – sollte in
Kong 1982, S. 145–161. – Wirth, Andrzej: Ein So-
einen aktuellen und politisch konkreten Kon-
Sager im Ja-Sager-Land. George Tabori inszeniert
Brechts Lehrstück in Kassel. In: Theater heute text übertragen werden. Die Fabelstruktur der
(1981), H. 7, S. 32–35. Schuloper wird zur Rahmenkonstruktion und
zum Vehikel für den Transport von Inhalten
Klaus-Dieter Krabiel
politisch-taktischer Art. Die Struktur der
Maßnahme ist vielschichtiger als die des Ja-
sager; sie steht der oratorischen Form des Ba-
dener Lehrstücks näher als der Schuloper. Die
in ihrer Zusammensetzung heterogene
Die Maßnahme Gruppe, die sich im Jasager auf eine For-
schungsreise begibt (vgl. Der Jasager / Der
Neinsager, BHB 1), wird durch ein Kollektiv
Fassung von 1930, Vertonung von Agitatoren ersetzt, die ein konkreter Auf-
trag miteinander verbindet: kommunistische
Agitation unter den Bedingungen der Illegali-
Das Lehrstück Die Maßnahme entstand als tät in China.
Gegenstück zur Schuloper vom Jasager, deren Obwohl unter dem Stichwort »Konkretisie-
Fabel schon vor der Uraufführung im Juni 1930 rung« entstanden, wahrt der Entwurf deutlich
im Freundeskreis auf Ablehnung gestoßen die Nähe zur Parabel. Angelpunkt der Fabel ist
war. Ausschlaggebend für B.s Entschluss, so- das vorgängige Einverständnis mit einer Auf-
fort ein Gegenstück zu entwerfen, scheint das gabe, über deren Notwendigkeit Einverneh-
Urteil Hanns Eislers gewesen zu sein, der den men besteht. Das Versagen des jungen Ge-
Jasager als »ein schwachsinniges feudalisti- nossen, der aus der Figur des Knaben in der
sches Stück« bezeichnet hatte (Notowicz, Schuloper hervorging, wird statt mit körper-
S. 191). Mit der Arbeit an der Maßnahme be- licher Schwäche mit politischer Unreife mo-
gann eine neue Phase in B.s politisch-ästhe- tiviert. Er sei »einverstanden, aber nur ge-
tischer Entwicklung. Bei diesem Prozess, der fühlsmäßig«, heißt es in einer Aufzeichnung;
sich seit dem Winter 1929/30 abzeichnete, »er trennt gefühl vom verstand, indem er es
kommt Eisler eine kaum zu überschätzende über diesen stellt!« (Steinweg 1972, S. 204)
254 Die Maßnahme

Die Folge ist gravierendes Fehlverhalten, das partien werden die demonstrierten Vorgänge
nicht nur den Erfolg, sondern auch die Exi- analysiert, das Verhalten des jungen Genossen
stenz des Kollektivs gefährdet. Die Tötung, und die Entscheidungen der Agitatoren disku-
die ›Maßnahme‹, vom japanischen Nô-Spiel tiert und bewertet. Die musikalisch-szenische
her Kernstück der Fabel, ist Ultima Ratio in Vergegenwärtigung vergangenen Geschehens
einer vom Betroffenen verursachten Zwangs- mit verschiedenen Mitteln der Indirektheit
lage. stellt ein äußerstes Maß an Distanz zu jener
Der Text entstand in enger Abstimmung mit Maßnahme her, deren dramaturgische Funk-
Eisler. Im Juli/August 1930 komponierte Eis- tion primär darin besteht, die Reflexion poli-
ler die Lieder und Chöre, etwa gleichzeitig lag tisch-strategischer Grundsatzfragen zu er-
eine erste vollständige Textfassung vor (Stein- möglichen.
weg 1972, S. 7–33, S. 175 f.). Im Herbst des 1. Die Schriften der Klassiker. Der Auftrag
Jahres brachte Eislers Verlag, die Universal- lautet, in der Stadt Mukden Propagandaarbeit
Edition in Wien, einen Chorstimmen-Druck zu leisten und die chinesische Partei aufzu-
heraus. Der Text wurde erstmals im Oktober/ bauen. Die Worte, mit denen sich der junge
November 1930 als Vorabdruck aus dem 4. Heft Genosse an der chinesischen Grenze den vier
der Versuche (Versuche 9) publiziert. Agitatoren vorstellt, zeigen die ausgeprägte
Auf dem Programmzettel der Uraufführung Emotionalität seines Engagements: »Mein
kündigte B. das Lehrstück als »eine Veranstal- Herz schlägt für die Revolution. Der Anblick
tung von einem Massenchor und 4 Schauspie- des Unrechts trieb mich in die Reihen der
lern« an (GBA 24, S. 96). Aus dem Schulchor Kämpfer. Ich bin für die Freiheit. Ich glaube an
des Jasager wird ein proletarischer Massen- die Menschheit.« (GBA 3, S. 75) Es sind ste-
chor. In seiner Rollenfunktion als Kontrollchor reotype Wendungen von äußerster Abstrakt-
steht er durchweg in dialogischem Kontakt zu heit. Das Chorlied Lob der U.S.S.R. belegt
den vier Spielenden. Er repräsentiert die Par- jedoch, dass die fiktive Fabel sporadisch auch
tei: die politische Gemeinschaft, der alle Spie- auf Momente der Realgeschichte zurückgreift.
lenden/Singenden angehören. Zur Auffüh- 2. Die Auslöschung. Die Illegalität der Ar-
rung sind neben Männerchor und gemischtem beit in China schreibt die Geheimhaltung der
Chor ein Tenor, drei Sprecher und eine aus Identität über den Tod hinaus zwingend vor.
Blechbläsern und verschiedenen Schlaginstru- Voraussetzung für die Auslöschung (GBA 3,
menten bestehende Instrumentalgruppe, in S. 77) – die Aufgabe der bisherigen und den
der 5. Szene ist zusätzlich ein Klavier erfor- Erwerb einer neuen Identität, sinnfällig ge-
derlich. macht durch das Aufsetzen von Masken – ist
Struktureller Rahmen ist eine Gerichtsver- das ›Einverständnis‹ der Betroffenen. Dass
handlung, angelegt als kurzes, die Einleitung der junge Genosse sein Einverständnis erklärt,
von Bachs Matthäuspassion zitierendes Prälu- ist Bedingung der gemeinsamen Arbeit und
dium. Vor einem Parteigericht, dargestellt auch dafür, dass später Disziplin im Interesse
durch den Massenchor, versuchen vier nach des Ganzen von ihm gefordert werden kann.
erfolgreicher Arbeit aus China zurückgekehrte Die im folgenden Sprechchor formulierte
Agitatoren, die Notwendigkeit der Erschie- Zweckethik (»Wer für den Kommunismus
ßung des jungen Genossen zu begründen. Die kämpft«; S. 78) – bei skandierender Beglei-
titelgebende »Maßnahme« ist bereits vollzo- tung durch Trommel- und Beckenschläge vom
gen, wenn der Spielvorgang beginnt. Mit den Chor und den vier Spielern gemeinsam auszu-
Mitteln des Berichts und szenischer Demon- führen – haben die Autoren trotz vielfacher
stration (Spiel im Spiel) vergegenwärtigen die Kritik unverändert in spätere Textfassungen
Agitatoren das Geschehene, wobei sie in die übernommen. Eisler wies darauf hin, dass die
Rollen der jeweils agierenden Figuren, auch in inkriminierten Sätze dialektisches Verhalten
die des jungen Genossen, schlüpfen. Im Wech- zu lehren versuchten. Die Wahrheit sagen und
sel von Solo- und Chorgesang und Sprech- die Wahrheit nicht sagen: Es seien zwei ver-
Fassung von 1930, Vertonung 255

schiedene Dinge, ob man in einer Versamm- scher, von kleiner Trommel begleiteter
lung oder im Polizeiverhör spreche (Eisler, Sprechchor realisiert, als zweistimmiger Ka-
S. 136). Das abschließende Lob der illegalen non a cappella wiederholt wird.
Arbeit (GBA 3, S. 79), ein metrisch, rhyth- 4. Gerechtigkeit. In den Baumwollspinne-
misch und harmonisch vielgestaltiges Lied, reien der Stadt ist ein Widerstandspotenzial
vom Männerchor, dann vom gemischten Chor bereits vorhanden. Der Gesang der Textilar-
orchesterbegleitet zu singen, reklamiert den beiter (GBA 3, S. 84), vom Männerchor orche-
höheren moralischen Wert für jene Arbeit, die sterbegleitet vorgetragen, bringt die Unzufrie-
dem Licht der Öffentlichkeit verborgen denheit, aber auch die subjektiven Hemmun-
bleibt. gen zum Ausdruck, die der Auflehnung gegen
3. Der Stein. Die Szene bei den Reiskahn- Ausbeutung und Unterdrückung entgegenste-
schleppern diskutiert das Prinzip agitatori- hen. Der junge Genosse erhält den Auftrag,
scher Praxis als Grundsatzentscheidung zwi- vor dem Fabriktor Flugblätter zu verteilen, die
schen unmittelbarer Hilfeleistung (im Sinne zum Streik aufrufen, verbunden mit der Mah-
karitativer Zuwendung) oder revolutionärer, nung, sich nicht zu verraten. Als ein Polizist
auf umfassende Abhilfe angelegte Propaganda, einen der Arbeiter verdächtigt, die Flugblätter
ein damals aktuelles, auch in der Heiligen Jo- verteilt zu haben, greift der junge Genosse ein,
hanna behandeltes Thema. Der Auftrag an den von spontanem Gerechtigkeitsgefühl bewegt.
jungen Genossen, bei den Kulis Propaganda zu Hieraus entsteht ein Handgemenge, in dessen
treiben, ist verbunden mit der Mahnung, nicht Verlauf der Polizist einen Unbeteiligten er-
dem Mitleid zu verfallen. Der szenische Ablauf schlägt. Es kommt nun zwar zum Streik, aber
wird bestimmt vom Gesang der Reiskahn- der junge Genosse hat die Unzufriedenheit der
schlepper (GBA 3, S. 80 f.), »ein Lamento von Textilarbeiter in die falsche Richtung gelenkt.
orientalisch-psalmodierendem Charakter, das Auf die Frage des Kontrollchors, ob es denn
einzige lyrische Stück in der Maßnahme« nicht richtig sei, »gerecht zu handeln und im-
(Stuckenschmidt in: Steinweg 1972, S. 347). mer zu bekämpfen die Ungerechtigkeit, wo
Aufgabe des jungen Genossen wäre es, den immer sie vorkommt« (S. 86), antworten die
Hoffnungslosen Mut zu solidarischem Wider- Agitatoren: »Um die große Ungerechtigkeit zu
stand zu machen. Angesichts ihrer Qual greift erhalten, wurde die kleine Gerechtigkeit ge-
er jedoch mit einer unmittelbaren Hilfelei- währt [der Polizist wurde bestraft]. Aber uns
stung ein, die zur Problemlösung nicht bei- wurde der große Streik aus den Händen ge-
trägt. Auch seine vage Andeutung eines Wis- schlagen.« (Ebd.)
sens um Abhilfe führt lediglich dazu, dass der 5. Was ist eigentlich ein Mensch? Der Streit
Aufseher ihn identifiziert als einen »von de- um die Zölle zwischen einheimischen Kauf-
nen, die uns die Leute aufhetzen« (GBA 3, leuten und den Engländern, welche die Stadt
S. 82). Er wird verjagt und verfolgt, die Chance beherrschen, eröffnet die Chance, »den Streit
politischer Aufklärungsarbeit ist vertan. Die unter den Herrschenden auszunutzen für die
von spontanem Mitleid getragene, unmittel- Beherrschten« (GBA 3, S. 86). Der junge Ge-
bare Hilfe bringt keine Abhilfe, weil sie keine nosse soll das Vertrauen des reichsten der
Perspektive zur Lösung des sozialen Problems Kaufleute gewinnen und ihn veranlassen, die
aufzeigt, eine Einschätzung, die der Kontroll- Kulis gegen die Engländer zu bewaffnen. In
chor in der anschließenden Diskussion bestä- einem liedhaft angelegten, von Orchester und
tigt. »Der junge Genosse sah ein, daß er das Klavier begleiteten Dialog formuliert der
Gefühl über den Verstand gestellt hatte«, resü- Händler in provokanter Weise seine Auffas-
mieren die Agitatoren (S. 83). Sie trösten ihn sung über die Kulis, kulminierend im Song
mit dem Satz »Klug ist nicht, der keine Fehler von Angebot und Nachfrage (S. 88 f.). Das
macht, sondern / Klug ist, der sie schnell zu »Leiblied« des Händlers (S. 88) demonstriert,
verbessern versteht« (ebd.; ein Zitat aus Le- wie die marktwirtschaftliche Preisgestaltung
nins Radikalismus-Schrift), der, als rhythmi- nach dem Prinzip von Angebot und Nachfrage
256 Die Maßnahme

durch künstliche Verknappung einer Ware ma- 6. Empörung gegen die Lehre. In einer Zeit
nipuliert werden kann. Während dies bei den zunehmender Verfolgung und steigender Ver-
Waren Reis und Baumwolle reibungslos funk- antwortung hat sich der junge Genosse von
tioniert, verwickelt die Kalkulation der Ware neuen Führern der Arbeitslosen überreden
Arbeitskraft den Händler in einen Interessen- lassen, sofort zum Generalstreik aufzurufen.
konflikt. Denn als Kaufmann hat er ein Inter- Er verkennt (angesichts der militärischen
esse an hohen Reispreisen; als Unternehmer Stärke des Gegners) die Notwendigkeit eines
ist er an niedrigen Löhnen interessiert. Diese gemeinsamen Vorgehens von Arbeitslosen, Ar-
aber hängen auch vom Preis des Reises ab, beitenden und armen Bauern. Die Agitatoren
vorausgesetzt, die Arbeitskraft soll sich immer teilen ihm mit, dass sie »auf Befehl der Partei
wieder reproduzieren. In diesem Punkt sieht mit dem Kuliverband« gesprochen und be-
der Händler die Lösung seines Problems: »Es schlossen haben, mit der Aktion noch zu war-
gibt überhaupt zuwenig Menschen.« (Ebd.) ten (GBA 3, S. 91). Ihre Position ist insofern
Mit anderen Worten: Gäbe es mehr Menschen problematisch, als sie sich nicht auf Argu-
(hohes Angebot bei niedriger Nachfrage), mente, sondern auf einen Befehl der Partei
dann bedürfte es der Reproduktion der Ar- berufen, deren Autorität zudem im Chor Lob
beitskraft nicht, könnte der Lohn unter das der Partei (S. 92 f.) mit fragwürdigen Thesen
Existenzminimum abgesenkt werden. begründet wird. Absicht der Autoren war es,
Angesichts solchen Zynismus sieht sich der die Überlegenheit kollektiver Erfahrung zu
junge Genosse zur Kooperation mit dem Händ- pointieren. Gegenüber der Vergänglichkeit,
ler außerstande. Im entscheidenden Moment Fehlbarkeit und Borniertheit des Einzelnen re-
stellt er seine Selbstachtung, sein spontanes präsentiert die Partei Kontinuität, Beständig-
Ehrgefühl, über den strategischen Vorteil. Das keit, kollektive Erfahrung und historischen
knappe »Nein« der Agitatoren auf die Frage Weitblick. Aber die Verse, vor allem die Beru-
des Kontrollchors, ob es denn nicht richtig sei, fung auf die »Lehre der Klassiker« und das
»die Ehre zu stellen über alles« (GBA 3, S. 89), unterstellte Verhältnis von Theorie und Praxis
findet in der folgenden Choreinlage seine Be- (S. 91 f.), fanden trotz der Marx-Reminiszenz
gründung. Das Lied Ändere die Welt, sie (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie.
braucht es (ebd.), vom Chor forte bis fortis- Einleitung; vgl. GBA 3, S. 447) nicht die Zu-
simo zu singen bei harmonischer und rhythmi- stimmung der marxistischen Kritik.
scher Stützung durch das Orchester, das seit Der junge Genosse empfindet die Theorie
der Uraufführung als eine der anstößigsten als Fessel seiner Spontaneität; ihm fehlt die
Passagen des Lehrstücks gilt, ist angemessen Einsicht, dass auch das stärkste, von Mitgefühl
nur als Replik auf den zynischen Song des getragene Engagement die Macht des Fakti-
Händlers zu bewerten. In provokanten Formu- schen nicht überspringen kann. Sein Bruch mit
lierungen bekräftigt der Chor die Forderung, allem, »was gestern noch galt« (GBA 3, S. 93),
die persönliche Integrität im Kampf um die bedeutet den illusorischen Versuch, aus dem
Verwirklichung einer sozialen Ordnung zu- Zusammenhang geschichtlicher Erfahrung
rückzustellen, in der die Integrität aller ge- auszuscheren. Die Preisgabe ihrer Identität –
währleistet wäre. Die vier letzten Zeilen: er nimmt seine Maske ab und zerreißt sie –
»Stinkend verschwinde aus / Dem gesäuberten zwingt die Agitatoren zum Handeln; denn sie
Raum! Wärest du / Doch der letzte Schmutz, werden als Fremde erkannt und als Aufwiegler
den du / Entfernen mußt!« (Ebd.), nach An- verfolgt, ihre Existenz ist unmittelbar bedroht.
weisung der Partitur von einem Sprecher mit Sie schlagen den jungen Genossen nieder und
Megaphon zu wiederholen, wurden bei der verlassen mit ihm die Stadt.
Uraufführung weggelassen und in spätere 7. Äußerste Verfolgung und Analyse. Zwi-
Textfassungen nicht übernommen. Sie waren schen dem Kontrollchor und den Agitatoren
bei den Sängern, die die Aufführung ausrich- entwickelt sich ein dramatisch zugespitzter
teten, offenbar auf Ablehnung gestoßen. Wortwechsel, der die Dramatik der Situation
Fassung von 1930, Vertonung 257

reproduziert, in der die Agitatoren ihre Ent- will seine Spontaneität hier und jetzt verwirk-
scheidung zu treffen hatten. Die Umstände von lichen, unmittelbar helfen, wo Hilfe nottut, für
Flucht und Verfolgung und die eskalierende Gerechtigkeit eintreten, wo Recht gebrochen
Situation in der Stadt sind so konstruiert, dass wird, auf Menschenwürde bestehen, wo zyni-
ein anderer Ausweg als die physische Auslö- sche Menschenverachtung herrscht, mit der
schung des jungen Genossen nicht möglich Revolution beginnen, wo das Elend am größ-
erscheint, andernfalls drohte die Liquidierung ten ist. Demonstriert wird sein Scheitern: Von
der Agitatoren und der revolutionären Bewe- emotionalen Antrieben geleitetes Handeln
gung in der Stadt. Der Chor Wir sind der Ab- verfehlt immer wieder sein Ziel. Als politisch
schaum der Welt (GBA 3, S. 95 f.), in kraft- richtig wird die rational argumentierende, die
vollem Marschtempo vorgetragen, bestätigt Ursachen des Elends in den Blick nehmende
und begründet diese Position. Strategie der Agitatoren präsentiert.
8. Die Grablegung. Das Tötungs-/Opfer- Aber die Lehren des Lehrstücks sind miss-
Motiv war als Kernstück der Fabelkonstruk- verständlich. Es kann der Eindruck entstehen,
tion nicht eliminierbar; nicht zufällig finden es werde die von Gefühlen nicht tangierte po-
sich in der abschließenden Szene eine Reihe litische Vernunft gegen Emotionalität und
wörtlicher Zitate aus dem Jasager. Die Maß- spontane Mitmenschlichkeit ausgespielt, als
nahme geht allerdings über die 1. Fassung der sei die abstrakte Grundsatzentscheidung ›poli-
Schuloper – nur diese lag damals vor – inso- tische Rationalität oder Gefühl‹ das Kernprob-
fern hinaus, als die Tötung bereits als Ultima lem politischen Handelns. Die Spielszenen
Ratio in einer anders nicht lösbaren Zwangs- der Maßnahme schließen das Missverständnis
lage erscheint (vgl. Der Jasager / Der Neinsa- nicht aus, unmittelbare Hilfe sei zu verweigern
ger, BHB 1). Das Einverständnis des jungen im Interesse umfassender Abhilfe, das kleine
Genossen kommentiert der Chor mit dem for- Unrecht sei hinzunehmen im Interesse der
tissimo gesungenen Satz: »Er hat der Wirk- Herstellung einer gerechten Ordnung, Selbst-
lichkeit gemäß geantwortet« (GBA 3, S. 96; im erniedrigung sei eine Tugend und Disziplin
Jasager wurde hier noch auf den »Brauch« ver- oberstes Gebot. Die Missverständlichkeit und
wiesen; ebd., S. 53). Sein Einverständnis er- der Rigorismus des Lehrstücks haben B., trotz
klärend, bestätigt der junge Genosse die Basis der Anleihen bei Marx und Lenin, den Vorwurf
ihrer gemeinsamen Arbeit: »Ja sagend zur Re- mangelnder Kenntnis der Praxis der Arbeiter-
volutionierung der Welt« (S. 97). In diesem bewegung eingetragen.
Kontext erhält das Opfermotiv im Lehrstück Gleichwohl hatte Eisler gute Gründe, Die
seine Legitimation. Nicht von ungefähr assozi- Maßnahme retrospektiv als das interessantes-
iert der Szenentitel Die Grablegung (S. 96) te Ergebnis planvollen Experimentierens und
christliche Motivik: Der Opfertod des jungen als avanciertestes Produkt der Bemühungen
Genossen wird in Parallele gesetzt zum Opfer- um eine proletarische Musikpraxis in der Wei-
tod Christi, wobei an die Stelle des religiösen marer Zeit zu beurteilen (Eisler, S. 181,
Heilsversprechens der Wille zur revolutionä- S. 224). In dem Lehrstück trafen zwei Tradi-
ren Veränderung der Welt tritt. Diesen Willen tionslinien zusammen. Die kleinen agitato-
bestätigt der resümierende Schlusschor, der, risch-kämpferischen Formen (Kampflieder,
zum Ausgangspunkt zurücklenkend, auch mu- Sprechchöre, aggressive Chansons und Balla-
sikalisch das Material des Eingangschors auf- den) stammten aus der Praxis der Agitprop-
greift. Truppen; den dramaturgisch-organisatori-
»Der Zweck des Lehrstückes ist […], poli- schen Rahmen lieferte das Lehrstück-Modell
tisch unrichtiges Verhalten zu zeigen und da- von B. und Hindemith: die oratorische, pä-
durch richtiges Verhalten zu lehren«, heißt es dagogisch motivierte Form von Gebrauchs-
in B.s Notiz auf dem Programmzettel der Ur- und Gemeinschaftsmusik für Laien (vgl. Die
aufführung (GBA 24, S. 96). Welche ›Lehren‹ Lehrstücke, BHB 1). Der agitierende Gestus
vermittelt das Lehrstück? Der junge Genosse der Maßnahme richtete sich auch an ein zu-
258 Die Maßnahme

hörendes Publikum; ihr primärer Zweck lag Die Uraufführung fand am späten Abend des
jedoch im Gebrauch durch die Singenden/ 13. 12. 1930 in der Berliner Philharmonie
Spielenden selbst. Insofern war das Lehrstück statt. Das Haus, eine der Hochburgen des
›Gebrauchsmusik‹. Da es einen Grundkonsens kommerziellen Konzertbetriebs, bot an die-
voraussetzte, war es ›Gemeinschaftsmusik‹, sem Abend ein ganz ungewohntes Bild, die
d. h. Gebrauchsmusik für eine Gemeinschaft Veranstaltung ähnelte mehr einer politischen
Gleichgesinnter. Es bot zugleich die Voraus- Versammlung als einem Konzertabend. Unge-
setzung für die Verwandlung des Konzerts in wöhnlich auch das Publikum: »Neben den
einen Veranstaltungstypus neuer Art, indem es Spitzen der fortschrittlichen Berliner Intelli-
die übliche Rollenzuweisung von Ausführen- genz Scharen von Arbeitern und Arbeiterin-
den und Publikum veränderte: Die Arbeiter- nen: […] eine Hörerschaft, wie sie wohl noch
sänger wurden nicht nur als Interpreten, son- kein musikalisches Ereignis geformt hat, nicht
dern zugleich als Lernende betrachtet, die Zu- unähnlich den besten Abenden bei Piscator«
hörer nicht länger in eine passiv-genießende (Stuckenschmidt (a), S. 324 f.). Dem Pro-
Haltung gedrängt, sondern mittels agitatori- grammzettel war ein »Fragebogen« beigefügt,
scher Musik aktiviert. »Das Zusammenwirken beides perforiert eingebunden in den Vorab-
von Agitproptruppen, Arbeiterchören, Arbei- druck aus dem 4. Heft der Versuche. Gefragt
terorchestern und projizierten Schriften bot wurde nach dem politischen Lehrwert der Ver-
die technischen Möglichkeiten der Verän- anstaltung für den Zuschauer und für die Aus-
derung eines Konzertes in ein politisches führenden, nach eventuellen Einwänden ge-
Meeting.« (Eisler, S. 224) Beide Ziele, die ›Re- gen die »Lehrtendenzen« der Maßnahme,
volutionierung‹ der Arbeitersänger und die nach der Zweckmäßigkeit des Veranstaltungs-
Veränderung der Konzertform, hatten in der typs und nach möglichen Alternativen (GBA
Maßnahme ihre praktikable musikalische und 24, S. 96). Diese Fragen sollten Gegenstand
organisatorische Form gefunden. einer für den 20.12. angesetzten öffentlichen
Diskussion sein.
Der Massenchor – die Sänger trugen blaue
Arbeitskittel – nahm die ganze Breite des stu-
Uraufführung / Diskussionen / fenförmig ansteigenden Podiums ein. Im Vor-
Pressekritik dergrund war das Orchester postiert. Rechts
befand sich eine kleine, an zwei Seiten nach
Art eines Boxrings mit Seilen abgetrennte
Zur Aufführung hatten sich drei Berliner Ar- Spielfläche für die vier Spieler (vgl. Abb. 6 und
beiterchöre zusammengeschlossen (musikali- 7). Nur wenige Requisiten wurden verwendet.
sche Leitung: Karl Rankl, Regie: Slatan Du- Ausgewählte Textteile aus dem Lehrstück wur-
dow). Die etwa 300 Sängerinnen und Sängern den auf eine Leinwand projiziert. Die Spieler
führten den Part des Kontrollchors aus. Die waren mit Lederjacken bzw. -mänteln beklei-
vier Agitatoren waren mit Helene Weigel, det; sie setzten gelbe Halbmasken auf, wenn
Ernst Busch, Alexander Granach und dem Te- sie sich in Chinesen zu verwandeln hatten.
nor Anton Maria Topitz professionell besetzt, Ihre Spielweise war einfach und plakativ. »Die
allerdings nur für die erste Aufführung, die Maßnahme war kein Theaterstück, sondern
»mehr eine Art Ausstellung« sein sollte (GBA ein Oratorium, ein Podiumsstück«, berichtete
24, S. 96). Dem Lehrstück-Konzept entspre- Busch. »Wir saßen auf Stühlen und standen
chend sollten später Laienspieler den Part der auf, wenn wir an der Reihe waren. […] Es war
vier Agitatoren übernehmen: »dieser Part kann ein Bericht, und wir mußten ihn in einer Form
natürlich auch in ganz einfacher und primi- geben, daß er dem ganzen Chor verständlich
tiver Weise von jungen Leuten ausgeführt wer- wurde« (Busch, S. 465 f.).
den und gerade das ist sein Hauptzweck« Die Aufführung, die am 18. 1. 1931 in einer
(ebd.). Matinee im Großen Schauspielhaus wieder-
Uraufführung / Diskussionen / Pressekritik 259

holt wurde, hinterließ einen starken Eindruck, bruch vor. Die Maßnahme, schrieb er, »dieses
die Zeitungen meldeten einen ›Riesenerfolg‹. dialektische Oratorium von breit ausladenden
Als erstes der Lehrstücke B.s wurde die Maß- Formen, von ebenso kunstvoller Technik wie
nahme auch in der KP-nahen Presse ausführ- einfachen Konturen ist ein Riesenschritt zu
lich diskutiert. Bei aller Kritik an inhaltlichen einer Aktivierung der Musik und des Podiums,
Detailfragen war die Bedeutung der Einstudie- es ist eines der wenigen großen Meisterwerke
rung für die Arbeitersängerbewegung unbe- jener Sphäre der Avantgarde, in der künst-
stritten. Diese Auffassung setzte sich auch auf lerisches und politisches Denken nicht mehr
der von Karl August Wittfogel geleiteten öf- getrennt werden dürfen« (Stuckenschmidt (b),
fentlichen Diskussion am 20. 12. 1930 in der S. 346).
Aula der Schule Weinmeisterstraße durch. In Die marxistische Kritik konzedierte über-
einem zentralen Punkt stießen die Autoren je- wiegend, dass es sich um ein Werk von epo-
doch auf entschiedenes Unverständnis. »Die chaler Bedeutung handelte. Uneingeschränkte
Auffassung Brechts und Eislers, daß das ganze Zustimmung fand die Vertonung. Dagegen
Werk mehr zu Lehrzwecken für Produzenten wurden schwerwiegende Einwände gegen den
als für Konsumenten geschrieben sei, wurde Text vorgebracht. Dass sich B., der Autor von
scharf zurückgewiesen«, hieß es in der Welt am Hauspostille, Mann ist Mann und Dreigro-
Abend ([Anonymus; G 30/18], S. 341). schenoper, erstmals auf den Boden der revolu-
In rechtskonservativen Blättern wurde ge- tionären Bewegung stellte, wurde mit Über-
gen das Lehrstück in grober Weise polemi- raschung registriert und als ein »begrüßens-
siert. Aber die Eindeutigkeit der politischen wertes Symptom des Klärungsprozesses«
Tendenz irritierte auch liberale Köpfe unter gewertet, »der bei dem besten Teil der Intel-
den Kritikern. Dass für den neuen Typus poli- lektuellen unserer Zeit begonnen« habe (Biha,
tischer Gebrauchskunst eingeführte Kriterien S. 352). Allerdings konnte auch die Maß-
nicht zur Verfügung standen, erklärt zu einem nahme nicht alle Vorbehalte gegen B. ausräu-
Teil die auffallende Beliebigkeit und Unsicher- men. Man bemängelte ideologische Unklar-
heit in der Bewertung von Text und Vertonung. heiten und fehlende Kenntnis der Praxis der
Während beispielsweise Alfred Einstein vom Arbeiterbewegung. Zwar wollte man seine An-
Berliner Tageblatt die Maßnahme als ein näherung an Positionen der KP nicht durch
»Lehrstück des kommunistischen Militaris- massive Kritik gefährden, empfand es aber als
mus« und ein »miserables Stück« beurteilte, inakzeptabel, dass ein außerhalb der Bewe-
Eislers Musik dagegen überwiegend hervor- gung stehender Autor mit dem Anspruch auf-
ragend fand ([Anonymus; d. i. Alfred Ein- trat, der revolutionären Arbeiterschaft politi-
stein], S. 335 f.), wertete Klaus Pringsheim im sche Lehren erteilen zu wollen. So blieb die
Münchner Merkur die Dichtung als den bei Kritik zwar überwiegend kameradschaftlich,
weitem stärkeren Teil, die Vertonung als dürf- ließ an Deutlichkeit aber nichts zu wünschen
tig, hölzern und ohne Substanz (Pringsheim, übrig. Dabei zeigte sich ein hohes Maß an
S. 329). Um Sachlichkeit bemühte Beiträge gab Übereinstimmung unter den Kritikern. Wäh-
es vor allem von Kritikern, die experimentel- rend die Fabel insgesamt als konstruiert
len Formen von Gebrauchskunst wohl wollen- und idealistisch auf Ablehnung stieß, wurde
des Interesse entgegenbrachten. Sie verwiesen betont, dass wichtige Detailfragen richtig
auf das Lehrstück von B. und Hindemith und behandelt seien. »Die Maßnahme ist ein idea-
schätzten den Spieltypus, das Verhältnis von listisches Lehrstück mit marxistischer Termi-
Text und Musik und die begrenzte Zuständig- nologie und mit marxistisch-leninistisch ein-
keit ästhetischer Maßstäbe bei der Beurteilung wandfreien Einzelheiten«, schrieb Durus (d. i.
von Lehrstücken im Ganzen zutreffend ein. Alfred Kemény, S. 371). Kritisiert wurden vor
Die kompetenteste Analyse der Vertonung allem die abstrakte Auffassung der Rolle der
legte der mit Eisler befreundete Hans Heinz Partei, die undialektische Entgegensetzung
Stuckenschmidt in den Musikblättern des An- von Gefühl und Verstand und nicht zuletzt das
260 Die Maßnahme

Tötungsmotiv. Die Erschießung des jungen Herbst erschien der Text in wesentlich verän-
Genossen sei weder unter dem Aspekt revolu- derter Fassung zusammen mit Jasager (2. Fas-
tionärer Praxis gerechtfertigt, noch handele es sung) und Neinsager im 4. Heft der Versuche
sich um einen typischen, für ein Lehrstück (Berlin 1931; neben Eisler wird Dudow als
geeigneten Fall. Mitarbeiter genannt). Im Dezember 1931 lag
Diese Einwände tauchten allesamt in der der Klavierauszug vor (op. 20. Klavierauszug
Analyse wieder auf, die Alfred Kurella im von Erwin Ratz. Wien, Leipzig 1931), auch ein
Herbst 1931 in der in Moskau erscheinenden zweiter Chorstimmen-Druck mit dem Text der
Zeitschrift Literatur der Weltrevolution ver- Neufassung.
öffentlichte. Sie gewann für die weitere Text- In der Neufassung hat B. die marxistische
geschichte der Maßnahme besondere Bedeu- Kritik, insbesondere die Kurellas, sofern sie
tung, denn wichtige Änderungen in der Neu- konkrete Details politischer Strategie und
fassung des Lehrstücks gehen auf Einwände Taktik betraf, in erheblichem Umfang berück-
Kurellas zurück. Kurella gelangte zu der sichtigt. Er ist ihr allerdings nicht gefolgt, wo
These, »der junge Genosse vertrete tatsächlich typusspezifische Aspekte berührt waren. Das
den Standpunkt des konsequenten Revolutio- Lehrstück-Konzept und die Fabelkonstruktion
närs und Bolschewisten, während die Agita- insgesamt standen nicht zur Disposition.
toren Musterbeispiele für opportunistisches Der Prolog und die beiden ersten Szenen
Verhalten seien« (Kurella, S. 381). Die Erklä- wurden in geringfügig bearbeiteter Form über-
rung dafür, dass die Autoren »ein bolschewi- nommen. Veränderungen in der politischen
stisches Lehrstück schreiben wollten und ein Substanz erfuhren die Szenen, die das Fehl-
opportunistisches dabei herauskam« (S. 384), verhalten des jungen Genossen demonstrie-
fand der Kritiker in ihrem ästhetischen Ver- ren, der – so hieß es nun – »das Richtige«
fahren: Sie gestalteten »nicht die ganze Reali- wollte und »das Falsche« tat (GBA 3, S. 101).
tät einer konkreten revolutionären Situation«, Die abstrakte Grundsatzentscheidung – un-
sondern stellten »ein künstlich begrenztes mittelbare Hilfe oder auf umfassende Abhilfe
›Manövriergelände‹ aus Stückchen von Wirk- angelegte Propaganda – wird durch eine Stra-
lichkeit« her, mit einem Wort: Sie gingen tegie ersetzt, die einen Prozess der Solidarisie-
»idealistisch (im philosophischen Sinne) an rung unter den Kulis einleiten soll (Der Stein).
die Wirklichkeit und an ihren Stoff« heran Der Auftrag des jungen Genossen läuft auf
(ebd.). Kurella, der sich später der von Georg eine Verbindung von Teilforderung und poli-
Lukács entwickelten Theorie des sozialisti- tischer Aufklärungsarbeit hinaus. Der Fatalis-
schen Realismus anschloss, orientierte sich mus der Kulis soll durch die Erfahrung aufge-
hier noch am Agitprop-Konzept, das von aktu- brochen werden, die eigene Situation in soli-
ellen politischen Vorgängen ausging, sie analy- darischer Aktion verändern zu können. Der
sierte und propagandistisch auswertete. Fehler des jungen Genossen liegt jetzt auf ei-
ner anderen Ebene: Er macht den Erfolg seiner
Arbeit durch helfendes Eingreifen in dem Au-
genblick zunichte, als Ansätze eines solidari-
schen Verhaltens unter den Kulis erkennbar
Die Versuche-Fassung (1931) werden. Über die gebotene taktische Klugheit
siegt im entscheidenden Moment das spontane
Mitgefühl; die beginnende Solidarisierung un-
Bereits während der Probenarbeit hatte B. ei- ter den Kulis wird untergraben, die erreich-
nige Textänderungen vorgenommen. Die Pres- bare Verbesserung ihrer Lage sabotiert. Der
sediskussion und die Auswertung der Frage- Kommentar der Agitatoren, »Der junge Ge-
bogen veranlassten ihn dann zu einer gründ- nosse sah ein, daß er das Gefühl vom Verstand
lichen Durchsicht des Lehrstücks, die nicht getrennt hatte« (GBA 3, S. 110), belässt der
vor Sommer 1931 abgeschlossen war. Im Emotionalität ihr Recht im Kontext sozialen
Die Versuche-Fassung (1931) 261

Handelns, besteht gleichwohl auf der Kon- nicht mehr als anonyme Instanz auf, sondern
trolle durch politische Rationalität. wird als notwendige Organisationsform der
Vollkommen neu konstruiert ist die vierte vielen Individuen verstanden. Der Einzelne ist
Szene (Gerechtigkeit). Die Ausgangssituation Mitträger der kollektiven Entscheidungspro-
ist jetzt eine andere: Ein Streik ist im Gang, er zesse. Nur wo innerparteiliche Demokratie ge-
ist jedoch durch Streikbrecher gefährdet. Der währleistet ist, kann auch Parteidisziplin ge-
junge Genosse soll diese zu solidarischem Ver- fordert werden. Damit hat sich der Begriff
halten auffordern. Nicht um das Verhältnis von dessen verändert, was im Chor Lob der Partei
›kleiner‹ und ›großer Gerechtigkeit‹ geht es gefeiert wird. Er nimmt beide Seiten in die
jetzt; ›Solidarität‹ ist Thema und Lernziel der Pflicht: Der Einzelne soll die größere Kom-
Szene. Der Gesang der Textilarbeiter ist ersetzt petenz kollektiver Erfahrung akzeptieren, die
durch das Streiklied, einen Appell zur Solida- Partei aber muss diese Kompetenz auf dem
rität (GBA 3, S. 110 f.). Hatten in der früheren Wege innerparteilicher Demokratie immer er-
Fassung die Agitatoren vor den Normen pro- neut erwerben. In eine ähnliche, dialektisches
letarischer Solidarität versagt, so jetzt der Denken anzeigende Richtung weisen Ände-
junge Genosse. Mit seiner Attacke gegen einen rungen im Schlussteil des Chors. Die Verse
der Streikbrecher treibt er einen Keil zwischen setzen Theorie und Praxis in ein neues Ver-
beide Seiten, was zur Liquidierung des Streiks hältnis. Die Ersetzung der ›Lehre‹ durch die
führt. »Methoden der Klassiker« (S. 120) ist mehr als
Die Szene beim Händler (Was ist eigentlich ein Spiel mit Worten – der Titel der Szene
ein Mensch?) ist im Wesentlichen unverändert lautet nicht mehr Empörung gegen die Lehre,
übernommen. Veränderungen nahm B. dage- sondern, mit Bezug auf die Preisgabe ihrer
gen in der sechsten Szene (Der Verrat) vor. Die Identität durch den jungen Genossen, Der Ver-
politisch-didaktische Intention bleibt erhal- rat –; denn der Begriff ›Methode‹ meint die
ten, der Beschluss der Agitatoren, mit der Ak- Beherrschung jener Dialektik von Welter-
tion noch zu warten, wird jedoch anders mo- kenntnis und Weltveränderung, die seit der
tiviert. Denn es gibt zwar Unruhen in der Stadt Maßnahme konstitutives Moment in B.s Den-
und auf dem Lande, die Bewegung ist jedoch ken war.
nicht stark genug, um losschlagen zu können. In der Substanz unverändert – bei erhebli-
Vor diesem Hintergrund ist der Plan des jun- chen Kürzungen und kleineren Textumstellun-
gen Genossen, allein auf die Arbeitslosen ge- gen – blieben die letzten beiden Szenen (Äu-
stützt die Kasernen zu stürmen, offensichtlich ßerste Verfolgung und Analyse, Die Grable-
zum Scheitern verurteilt. Die Agitatoren be- gung). Erweitert wurde der Schlusschor, der
rufen sich nicht mehr auf einen Befehl der jetzt auch das allgemeine Lernziel des Lehr-
Partei, sondern ausschließlich auf politische stücks formuliert. Die Neufassung der Maß-
Argumente. Sie handeln zwar als Teil der Par- nahme lehrt ›richtiges‹ politisches Verhalten
tei, aber in eigener Kompetenz, auf der Basis nicht mehr auf Kosten einer Abwertung von
einer kollektiven Lagebeurteilung. Wenn der Spontaneität und Emotionalität. Gefühl und
junge Genosse dann »im Namen der Partei« Verstand werden in ein produktives Wechsel-
(GBA 3, S. 119) aufgefordert wird, mit der Ak- verhältnis gesetzt, Wirklichkeitsveränderung
tion noch zu warten, so geschieht dies auf der an verarbeitete Wirklichkeitserfahrung defini-
Grundlage der Autorität politischer Argu- tiv gebunden: »Nur belehrt von der Wirklich-
mente. Dem Thema ›innerparteiliche Demo- keit, können wir / Die Wirklichkeit ändern.«
kratie‹ ist eine neu eingefügte Textpassage ge- (GBA 3, S. 125)
widmet. Die Frage des jungen Genossen »Wer Zwei von marxistischer Seite vorgetragene
aber ist die Partei?« (ebd.) beantworten die Einwände ließ B. unbeachtet: die Kritik am
Agitatoren in einer Weise, die das Verhältnis Tötungsmotiv und an der Abstraktheit der Fa-
von Einzelnem und Partei auf eine neue belkonstruktion. Trotz assoziativer Bezug-
Grundlage stellt (S. 119 f.). Die Partei tritt nahme auf realgeschichtliche Fakten blieb der
262 Die Maßnahme

Spielrahmen der Maßnahme fiktiv und para- Das Moment von Irrationalität, das ihm unlös-
belhaft. Im Unterschied zu Agitprop und Schu- bar anhaftete, rückte die politische Rationali-
lungsstück hatte es das Lehrstück nicht auf die tät des Lehrstücks wieder in die Nähe des
Vermittlung konkreter Anweisungen zu tages- Mythos. Unter diesem Aspekt erscheint der
politischen Zwecken abgesehen; es bot über Prozess fortwährender Textänderung und -be-
die Tagesaktualität hinaus Diskussions- und arbeitung vom ersten Jasager bis zu den späte-
Übungsstoff für grundsätzliche Fragen politi- ren Fassungen der Maßnahme als ein aus-
schen Denkens und Verhaltens. Durch Übung sichtsloser Korrekturversuch an einer von
und Auseinandersetzung sollte die Fähigkeit ihrem Ursprung her problematischen Fabel-
zu taktisch-strategischer Reflexion entwickelt konstruktion.
und gefördert werden. Hierfür war Abstrak- Als Bestandteil einer aufgeklärten politi-
tion ein kaum verzichtbares Mittel, an dem B. schen Ethik ist das Tötungs-/Opfermotiv in-
auch weiterhin festhielt, wie die Lehrstücke akzeptabel. Die Polemik gegen das Motiv war
Die Ausnahme und die Regel und Die Horatier vorhersehbar, B. hat es seinen Kritikern in
und die Kuriatier belegen. diesem Punkt sehr leicht gemacht. Wenn er
Auch das Festhalten am Tötungsmotiv hat das Motiv beibehielt, so offenbar deshalb, weil
mit Spezifika des Spieltyps zu tun. In der Dis- er das Moment von Provokation brauchte, das
kussion war vorgeschlagen worden, die Er- im Lehrstück eine unverzichtbare didaktisch-
schießung durch ein Parteiausschlussverfah- dramaturgische Aufgabe hat: Es setzt den Re-
ren zu ersetzen (vgl. [Anonymus; G 30/18], flexionsprozess in Gang, der einer der Zwecke
S. 341, [Anonymus; G 30/19], S. 342, Thieme, der Lehrstückübung war. Die bis heute an-
S. 398 f.). Nichts wäre einfacher gewesen als dauernden Debatten um die Maßnahme be-
die Konstruktion eines solchermaßen ›untra- legen, dass das provokante Motiv diese Funk-
gischen‹ Ausgangs. Eine Erklärung für die Bei- tion auch tatsächlich erfüllt hat. Das Dilemma
behaltung des Motivs ist in der Genese der der Maßnahme liegt darin, dass das Motiv, das
Fabelstruktur, auch in der typusspezifischen den Denkprozess in Gang setzt, diesen fast
Funktion des Motivs zu suchen. B. und Eisler zwangsläufig auch fehlleitet. Zumal unter den
haben mehrfach auf den gleichnishaften Cha- schwierigen Rezeptionsbedingungen seit den
rakter des Motivs hingewiesen (vgl. u. a. ihren 30er-Jahren konnte das Stück (gegen die Text-
Brief an das Proletarische Theater, Wien, vom evidenz) das Missverständnis befördern, es
September 1932; GBA 28, S. 343). Im politi- gehe um die Legitimierung der physischen
schen Lehrstück entsteht allerdings an diesem Ausschaltung der innerparteilichen Opposi-
Punkt ein Problem, das die Autoren nicht hin- tion, ein Sachverhalt, aus dem B. und Eisler in
reichend bedacht zu haben scheinen. Während den 50er-Jahren Konsequenzen gezogen ha-
im Jasager die Gleichnishaftigkeit des Motivs ben.
unmittelbar evident war, konnte dies nicht Dem Abdruck der Neufassung waren An-
mehr ohne weiteres für die ›konkretisierte‹ merkungen zur ›Maßnahme‹ beigefügt (vgl.
Gestalt der Fabel in der Maßnahme gelten. Zu Lehrstück und Pädagogik auf dem Theater,
Der metaphorische Charakter des Motivs BHB 4), in denen B. und Eisler politische Fra-
leuchtete spätestens dann nicht mehr ein, als gen erläuterten, aber auch Hinweise für die
die Tötung von Menschen aus Gründen der Verwendung formulierten, ganz im Sinn des
Partei- und Staatsräson im Namen des Marxis- Gebrauchsmusikkonzepts, wonach der pri-
mus politische Realität geworden war. märe Zweck einer Lehrstück-Aufführung in
Potenziert wird das Problem durch die am- der übenden Auseinandersetzung bestand. Die
bitiösere Gestaltung des Motivs in der Maß- Erläuterungen zur Spielweise der vier Spieler
nahme mit ihren Anspielungen auf den Opfer- verdeutlichen die spieltypische Didaktik des
tod Christi. Aber so wenig wie die Säkularisie- Lehrstücks; »einfach und nüchtern« müsse die
rung des altjapanischen Mythos im Jasager »dramatische Vorführung« sein, denn Aufgabe
konnte die des christlichen restlos gelingen. der Spieler sei es lediglich, »das jeweilige Ver-
Die Versuche-Fassung (1931) 263

halten der Vier [zu] zeigen, welches zum Ver- Fassung von 1931. Nach wie vor unentbehrlich
ständnis und zur Beurteilung des Falles ge- ist Steinwegs Edition der fünf Fassungen des
kannt werden muß« (GBA 24, S. 100). »Die Lehrstücks (Steinweg 1972).
Vorführenden (Sänger und Spieler)«, heißt es
weiter, »haben die Aufgabe, lernend zu leh-
ren.« (S. 101) Was die Musik betrifft, so wird
neben der disziplinierenden und organisato- Aufführungen, Verbote,
risch-kämpferischen Funktion bestimmter Kommentare 1932–1956 /
Teile der Partitur auch das heroisch-patheti- Zur neueren Rezeption
sche Moment betont. Das Bestreben ist er-
kennbar, den proletarisch-revolutionären Stoff
durch die musikalische Diktion auf eine hohe Nach den Produktionen vom Dezember 1930
Stilebene zu heben. Eisler hat wenig später und Januar 1931 blieb die Maßnahme ein Jahr
ergänzend Einige Ratschläge zur Einstudie- lang ungespielt. 1932 erlebte das Werk dann
rung der Maßnahme publiziert (vgl. Eisler, eine Serie von Aufführungen: in Düsseldorf,
S. 168), die die Eigenart der Musik im Lehr- Leipzig, Limbach bei Chemnitz, in Wien, Köln
stück und Besonderheiten des musikalischen und in Hanau. Auf ihren großen Erfolg ist es
Vortrags verdeutlichen. Das Lernziel des wohl zurückzuführen, dass das Stück zuneh-
Lehrstücks wird noch zurückhaltender formu- mend die Aufmerksamkeit der Polizeibehör-
liert als anlässlich seiner Uraufführung. Der den erregte. Seit den Notverordnungen zur
Anspruch, »politisch unrichtiges Verhalten zu Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom
zeigen und dadurch richtiges Verhalten zu leh- Juli und Oktober 1931 gab es eine Handhabe
ren« (GBA 24, S. 96), wird nicht mehr explizit gegen politisch missliebige Werke und Auto-
erhoben. Die Maßnahme sei »der Versuch«, ren. Das Lehrstück konnte nun im Sinne des
hieß es nun in einer Vorbemerkung, »durch ein Straftatbestands der intellektuellen Aufrei-
Lehrstück ein bestimmtes eingreifendes Ver- zung zu politischen Gewalthandlungen ausge-
halten einzuüben« (GBA 3, S. 100). legt werden. Am 21. 1. 1933, wenige Tage vor
Im BBA findet sich ein Exemplar des 4. Hitlers Machtantritt, brach die Polizei eine
Hefts der Versuche aus dem Nachlass von Aufführung im Erfurter Reichshallentheater
Steffin mit handschriftlichen Eintragungen mit der Begründung ab, es handele sich um
und Korrekturen B.s, die im Zusammenhang »eine kommunistisch-revolutionäre Darstel-
mit der 4. Fassung des Lehrstücks (vgl. Stein- lung des Klassenkampfes zur Herbeiführung
weg 1972, S. 99–101; dazu S. 177, S. 198–200) der Weltrevolution« ([Anonymus; G 33/2],
entstanden sein dürften, konzipiert für eine S. 411). Gegen die Autoren wurde beim
1935/36 geplante Moskauer Ausgabe. Für den Reichsgericht ein Strafverfahren wegen Auf-
Abdruck im 2. Band der Gesammelten Werke forderung zum Hochverrat eingeleitet.
des Malik-Verlags (London 1938) stellte B. In der Zeit der NS-Herrschaft in Deutsch-
Ende 1937/Anfang 1938 gemeinsam mit Stef- land hat die Maßnahme nach heutigem Kennt-
fin eine 5. Textfassung her (ebd., S. 105–134; nisstand auch im Ausland nur eine einzige Auf-
dazu S. 177 f., S. 200 f.). In den 50er-Jahren gab führungsserie erlebt. Unter dem Titel The Ex-
B. zunächst der Versuche-Fassung den Vorzug pedient produzierte die London Labour Choral
(vgl. Stücke IV von 1955), meinte dann aber, Union unter Leitung von Alan Bush das Lehr-
»man solle für eine spätere Auflage doch viel- stück im März 1936 im Westminster Theatre,
leicht die Malik-Fassung« nehmen (Haupt- dann an weiteren Londoner Spielstätten. Eine
mann, S. 271). Im Aufbau-Verlag wurde seit im Jahre 1935 geplante Aufführung in den USA
der 3. Auflage der Stücke (1958), im Suhrkamp kam nicht zustande.
Verlag in WA (1967) entsprechend verfahren. In der Nachkriegszeit fehlten für eine prak-
Band 3 der GBA teilt zwei Fassungen mit: die tische Arbeit mit der Maßnahme alle Voraus-
zweite vom Spätherbst 1930 und die Versuche- setzungen. Bekanntlich haben B. und Eisler in
264 Die Maßnahme

den 50er-Jahren öffentlichen Aufführungen Gegenstand des Lehrstücks, dem revolutionä-


ihre Zustimmung versagt, ein Verbot, das Ge- ren Marxismus, hatten sich gravierende Verän-
genstand vielfältiger Spekulationen war. Den derungen vollzogen. In der DDR verstellte das
Kern der Sache hat Eisler 1958 im Gespräch Dogma des sozialistischen Realismus den Zu-
mit Nathan Notowicz formuliert. Eine Auffüh- gang zur proletarischen Gebrauchskunst aus
rung der Maßnahme wäre wichtig, meinte Eis- der Zeit der Weimarer Republik. Während
ler, man werde damit aber warten müssen, bis sich die westliche Kritik des Lehrstücks viel-
es wieder möglich sei, das Lehrstück als Para- fach als wohlfeiles Argument im Kalten Krieg
bel wahrzunehmen (vgl. Notowicz, S. 193). bediente, blieb das Werk für die marxistische
Obwohl sein Wortlaut dieses Missverständnis Forschung ein ungeliebtes Produkt aus der
nicht zulässt, konnte der Text nun als vorweg- Frühphase von B.s Marxismusrezeption.
genommene Rechtfertigung der Liquidierung Eine größere argumentative Sachlichkeit
der innerparteilichen Opposition durch Stalin setzte sich seit Ende der 60er-Jahre durch. Die
gelesen werden. Die Maßnahme war nicht Arbeiten Steinwegs und seine Edition (1972)
mehr das Werk, das seine Autoren 1930 ge- gaben den Anstoß zu einer erneuten und inten-
schrieben hatten. Die Gefahr einer miss- sivierten Diskussion der Maßnahme, die eine
bräuchlichen Verwendung lag in den Jahren Vielzahl konkurrierender Analyseansätze zu-
des Kalten Kriegs auf der Hand. Mit dem erst tage förderte. Neben der Darstellung des
1997 durch die B.-Erben aufgehobenen Auf- Lehrstücks als Übungsstoff für dialektisches
führungsverbot wollten B. und Eisler den Denken, als Versuchsanordnung und veränder-
Missbrauch der Maßnahme, soweit es in ihrer barer Übungstext (Steinweg 1971), wurde das
Macht stand, unterbinden, eines Lehrstücks, besondere Verhältnis von Revolution und Hu-
das B. im August 1956 als »Form des Theaters manität im Lehrstück reflektiert (v. Bormann
der Zukunft« eingeschätzt haben soll (vgl. Die u. a.), gab es Bemühungen um Aufklärung der
Lehrstücke, BHB 1). Trotz des Verbots hat es politischen und theoretischen Kontexte (Har-
eine Reihe (meist nichtöffentlicher) Auffüh- tung; Horn; Jost u. a.). Andere Interpreten un-
rungen gegeben, wobei allerdings das Lehr- terzogen die Darstellung revolutionärer Ge-
stück stets auf den Text reduziert, d. h. als walt in der Maßnahme, die Unterordnung des
Theaterstück behandelt wurde. Soweit heute Einzelnen unter das Kollektiv (›Einverständ-
bekannt, brachte Giorgio Strehler die Maß- nis‹) und die Rolle der Partei einer politischen
nahme als Erster nach dem Krieg zur Auffüh- Kritik, vielfach in Anlehnung an die Totalita-
rung: in der dem Piccolo Teatro in Mailand rismustheorie (u. a. Kaiser; Eibl; Kiesel in:
angeschlossenen Scuola D‘Arte Drammatica Gellert, S. 83–100), oder suchten die politi-
(1954/55). Es gab daneben Aufführungen an sche Rationalität des Lehrstücks durch Hin-
Schulen und Universitäten im In- und Aus- weis auf den quasi-religiösen, sakral-rituellen
land. Rahmen zu relativieren, in dem das Opfer-
Die Maßnahme gehört zu den umstrittens- motiv Verwendung findet (Lazarowicz; Dahl;
ten Texten der deutschen Literatur des Fischbach u. a.). Das Unbehagen an einer har-
20. Jh.s. Kein anderes Werk B.s ist derart kon- monisierenden Lehrstückauffassung kam in
trovers diskutiert worden, keines hat so nach- der These von Lehmann/Lethen zum Aus-
haltig Anstoß erregt wie dieses. Die Diskus- druck, die Struktur der Maßnahme bestehe
sion nach dem zweiten Weltkrieg (vgl. Krabiel, nicht in einer Dialektik, sondern in einer dop-
S. 206–239), die an einigen Punkten ältere Ar- pelten Antithetik; es bleibe im Lehrstück eine
gumente aufgriff, war insgesamt keine Neu- nicht auflösbare Widersprüchlichkeit von
auflage der Anfang der 30er-Jahre geführten Spontaneität und Einsicht. Mehrfach aufge-
Debatte; zu grundlegend hatten sich die Re- griffen wurde die These vom Lehrstück als
zeptionsbedingungen inzwischen verändert. »Tragödie«, die Grimm 1959 in die Debatte
Die Traditionen der Arbeiterkulturbewegung eingeführt hatte (Sokel; Nelson; v. Bormann;
waren in Deutschland abgerissen; mit dem Hill u. a.), wobei strittig blieb, auf welcher
Aufführungen, Verbote, Kommentare 1932–1956 / Zur neueren Rezeption 265

Konfliktebene von ›Tragik‹ gesprochen wer- Literatur:


den könne.
Kennzeichnend für die germanistische Dis- [Anonymus; G 30/18]: Aussprache über »Die Maß-
nahme«. In: Steinweg 1972, S. 341. – [Anonymus; G
kussion war bis in die jüngste Vergangenheit
30/19]: [Bericht]. In. Steinweg: 1972, S. 341–343. –
die Beschränkung auf den Text. Die Vertonung [Anonymus; G 33/2]: Ein »Lehrstück« von Bert
und der musikalische Kontext wurden nicht Brecht verboten. In: Steinweg 1972, S. 411. – Botz,
zur Kenntnis genommen, obwohl seit 1972 Albrecht: Hanns Eisler. Musik einer Zeit, die sich
eine Beschreibung der Komposition vorlag eben bildet. München 1976. – Biha, Otto: Maß-
(Grabs, S. 213–232) und die Musikwissen- nahme. In: Steinweg 1972, S. 352–356. – Bormann,
Alexander v.: Nämlich der Mensch ist unbekannt.
schaft, speziell die Eisler-Literatur, das Lehr-
Ein dramatischer Disput über Humanität und Revo-
stück seit langem berücksichtigt hatte (Betz; lution (Masse-Mensch, Die Maßnahme, Mauser). In:
Dümling; Schebera; Lucchesi/Shull u. a.). Ders. (Hg.): Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff
Dies erklärt die Überraschung, mit der Eislers und Interpretation heute. Fs. für Herman Meyer zum
Musik aufgenommen wurde, als im September 65. Geburtstag. Tübingen 1976, S. 851–880. – Busch,
1997 mit der ersten öffentlichen Aufführung Ernst: [ohne Titel]. In: Steinweg 1972, S. 465 f. –
Dahl, Mary Karen: Political Violence in Drama.
seit den 30er-Jahren, inszeniert von Klaus Em-
Classical Models, Contemporary Variations. Ann Ar-
merich am Berliner Ensemble, eine konkrete bor/Michigan 1987. – Dümling. – Eibl, Karl: Lehr-
Anschauung der Maßnahme als oratorisches stücke vom Einverständnis. Kleists Prinz Friedrich
Werk wieder möglich war. Seitdem beginnt die von Homburg und Brechts Die Maßnahme. In: Jb.
Literaturwissenschaft (wenn auch zögerlich), des Freien Deutschen Hochstifts 1995, S. 238–281. –
den musikalischen Status von Werk und Spiel- Einstein, Alfred: Brecht und Eisler: »Die Maß-
nahme«. In: Steinweg 1972, S. 334–336. – Eisler,
typus zur Kenntnis zu nehmen (vgl. Die Lehr-
Hanns: Gesammelte Werke. Bd. III / 1: Musik und
stücke, BHB 1), wie beispielsweise einige Au- Politik. Schriften 1924–1948. Hg. v. Günter Mayer.
toren des Bandes Maßnehmen (Gellert), einer Leipzig 1973. – Fischbach, Fred: Brecht, Eisler et les
Sammlung von Beiträgen einer Fachtagung pièces didactiques. In: Valentin, Jean-Marie/Buck,
über das Lehrstück vom Juli 1998. Theo (Hg.): Bertolt Brecht. Actes du Colloque
Mit der Aufhebung des Aufführungsverbots franco-allemand tenu en Sorbonne (15–19 novembre
1988). Bern [u. a.] 1990, S. 139–162. – Fuhr, Werner:
ist eine neue Rezeptionssituation entstanden.
Proletarische Musik in Deutschland 1928–1933.
An eine Arbeit mit der Maßnahme im Sinne Göppingen 1977. – Gellert, Inge [u. a.](Hg.): Maß-
der ursprünglichen Verwendungstheorie ist nehmen. Bertolt Brecht/Hanns Eislers Lehrstück
nicht mehr zu denken, das Werk proletarischer Die Maßnahme. Kontroverse, Perspektive, Praxis.
Gebrauchs- und Gemeinschaftskunst hat kei- Köthen 1999. – Grabs, Manfred: Charakteristik. In:
nen Adressaten mehr. Damit stellt sich die Steinweg, 1972, S. 213–215. – Ders.: Analyse. In:
Steinweg, 1972, S. 216–232. – Grimm, Reinhold:
Frage nach Möglichkeiten seiner aktuellen
Ideologische Tragödie und Tragödie der Ideologie.
Verwendung. Obwohl die ideologischen Vor- Versuch über ein Lehrstück von Brecht. In: ZfdPh. 78
aussetzungen des Lehrstücks und das daraus (1959), S. 394–424. – Hartung, Günther: Leninismus
abgeleitete Politik-Verständnis historisch ob- und Lehrstück. Brechts Maßnahme im politischen
solet sind, wird gerade in jüngster Zeit ein und ästhetischen Kontext. In: Brecht 85. Zur Ästhe-
aktuelles Interesse an der Maßnahme rekla- tik Brechts. Berlin 1986, S. 126–143. – Hauptmann,
Elisabeth: [ohne Titel]. In: Steinweg 1972, S. 270 f. –
miert (Völker; Fiebach; Amzoll; Rienäcker
Highkin, John G.: »Words Make You Think, Music
u. a. in: Gellert). Ob sich hieraus Perspektiven Makes You Feel. And Songs Make You Feel
für die Praxis ergeben werden und die Maß- Thoughts«: the Function of Song and Music in
nahme sich im Bereich des (Musik-)Theaters Brecht‘s and Eisler‘s The Measures Taken. In:
oder des Konzerts auf Dauer etablieren kann, BrechtYb. 21 (1996), S. 159–177. – Hill, Claude: Ber-
ist heute eine ganz offene Frage. tolt Brecht. München 1978. – Horn, Peter: Die Wahr-
heit ist konkret. Bertolt Brechts Maßnahme und die
Frage der Parteidisziplin. In: BrechtJb. 1978, S. 39–
65. – Jost, Roland: »Er war unser Lehrer«. Bertolt
Brechts Leninrezeption am Beispiel der Maßnahme,
des Me-ti/Buch der Wendungen und der Marxisti-
266 Die Maßnahme

schen Studien. Köln 1981. – Kaiser, Joachim: Brechts


Maßnahme – und die linke Angst. Warum ein ›Lehr- Die heilige Johanna
stück‹ so viel Verlegenheit und Verlogenheit provo-
zierte. In: Neue Rundschau 84 (1973), H. 1, S. 96– der Schlachthöfe
125. – Kemény, Alfred: Die »Maßnahme«, ein Lehr-
stück. In: Steinweg 1972, S. 371–375. – Krabiel. –
Kurella, Alfred: [ohne Titel]. In: Steinweg 1972, Am 18. 1. 1949 schrieb B. an Gustaf Gründ-
S. 378–393. – Lazarowicz, Klaus: Die Rote Messe. gens: »Sie fragten mich 1932 um die Erlaubnis,
Liturgische Elemente in Brechts Maßnahme. In: Li-
›Die heilige Johanna der Schlachthöfe‹ auf-
teraturwissenschaftliches Jb. der Görres-Gesell-
schaft N. F. 16 (1975), S. 205–220. – Lehmann, Hans- führen zu dürfen. Meine Antwort ist ja. Ihr
Thies/Lethen, Helmut: Ein Vorschlag zur Güte. (Zur bertolt brecht« (GBA 29, S. 487). So kam es,
doppelten Polarität des Lehrstücks). In: Steinweg, allerdings erst zehn Jahre später, zur Urauf-
Reiner (Hg.): Auf Anregung Bertolt Brechts: Lehr- führung des Stücks durch Gründgens. B. gab
stücke mit Schülern, Arbeitern, Theaterleuten. das Stück sogleich mit seiner Rückkehr nach
Frankfurt a. M. 1978, S. 302–318. – Lucchesi/
Deutschland für die Bühne frei. Daraus lässt
Shull. – Mennemeier, Franz Norbert: Modernes
deutsches Drama. Kritiken und Charakteristiken. sich erschließen, dass er es für abgeschlossen
Bd. 1: 1920–1933. München 1973. – Nelson, G. E.: hielt; entsprechend heißt es in einem Brief an
The Birth of Tragedy out of Pedagogy: Brecht‘s Thorkild Roose vom 12. 6. 1935 wegen einer
›Learning Play‹ Die Maßnahme. In: GQu. 46 (1973), erhofften Aufführung in Kopenhagen: »Es ist
S. 566–580. – Notowicz, Nathan: Wir reden hier vollständig fertiggestaltet.« (GBA 28, S. 508)
nicht von Napoleon. Wir reden von Ihnen! Gesprä-
B. sah es nicht für eine Erprobung durch das
che mit Hanns Eisler und Gerhart Eisler. Hg. v. Jür-
gen Elsner. Berlin 1971. – Pringsheim, Klaus: Berliner Ensemble vor, und er hielt es nicht für
Brecht-Eisler / Die Maßnahme / Philharmonie. In: überholt, sondern auf den Spielplan gehörig.
Steinweg 1972, S. 328f – Rasch, William: Theories of Die Heilige Johanna der Schlachthöfe war B.s
the Partisan: Die Maßnahme and the Politics of Re- erstes großes ›Schauspiel‹ im Stil des epischen
volution. In: BrechtYb. 24 (1999), S. 331–343. – Rey, Theaters und zugleich das einzige, das B. im
William H.: Brechts Maßnahme – ein Stein des An-
Zusammenhang mit einem riesigen Komplex
stoßes. In: Sprachkunst 8 (1977), S. 202–222. – Sche-
bera, Jürgen: Theater der Zukunft? Brecht/Weills weiterer dramatischer ›Ökonomieprojekte‹
Der Jasager – Brecht/Eislers Die Maßnahme. Eine (1927–1933) fertig stellte. Die Rezeptionsge-
vergleichende Studie. In: Musik und Gesellschaft 34 schichte, bestimmt vom B.-Streit des Kalten
(1984), H. 3, S. 138–145. – Sokel, Walter H.: Brechts Kriegs und von den Marxismus-Debatten der
gespaltene Charaktere und ihr Verhältnis zur Tragik. 60er- und 70er-Jahre, überdeckte das, worin
In: Sander, Volkmar (Hg.): Tragik und Tragödie.
sich das Stück zu allererst mitteilt: dass es
Darmstadt 1971, S. 381–396. – Steinweg, Reiner:
Brechts Die Maßnahme – Übungstext, nicht Tragö- Schrecken verbreitet. Notwendig ist eine neue
die. In: Alternative 14 (1971), Nr. 78/79, S. 102–116. Lektüre, die ohne die Befangenheiten der frü-
– Ders. (Hg.): Bertolt Brecht: Die Maßnahme. Kriti- heren B.-Orthodoxie den Blick auf die ästhe-
sche Ausgabe mit einer Spielanleitung. Frankfurt tische Komplexität und politische Radikalität
a. M. 1972. – Stuckenschmidt (a), Hans Heinz: Ein des Stücks freigibt.
politisches Oratorium / Brecht-Eisler »Die Maß-
nahme«. In: Steinweg 1972, S. 324–326. – Ders. (b):
Politische Musik zu Brecht-Eislers »Maßnahme«. In:
Steinweg 1972, S. 343–348. – Tatlow, Antony: The
Mask of Evil. Brecht’s Response to the Poetry, Thea- Stückfassungen, Entstehungs-
tre and Thought of China and Japan. A Comparative geschichte, Quellen
and Critical Evaluation. Bern [u. a.] 1977. – Thieme,
Karl: Des Teufels Gebetbuch? In: Steinweg 1972,
S. 393–400.
Das Stück liegt in drei publizierten Fassungen
Klaus-Dieter Krabiel vor: als Bühnen-Typoskript (1931, Berlin: Fe-
lix Bloch Erben), als 13. Versuch (Versuche, H.
5, 1932, Berlin: Kiepenheuer) und als Teil der
Gesammelten Werke im Malik-Verlag London
Stückfassungen, Entstehungsgeschichte, Quellen 267

(1938). Die letzte Version übernahmen die risierung der Arbeitsphasen und der Stückent-
späteren B.-Ausgaben (Stücke, WA). Die GBA wicklung (vgl. GBA 3, S. 452 f.) nachträglich
legt hingegen die Versuche-Fassung zugrunde nur tentativ vorgenommen werden. Für die
und bietet zusätzlich die wesentlichen Textab- erste Arbeitsphase ist der Zusammenhang zu
weichungen der früheren und der späteren Happy End und zu den Amerikaprojekten
Fassung (vgl. GBA 3, S. 454–456). Das Büh- (Börsenspekulation, Schlachthof) charakteri-
nen-Typoskript ist vollständig abgedruckt bei stisch. Das Gerüst der Ökonomie-Handlung
Gisela E. Bahr, wo außerdem ein Großteil der liegt bereits vor. Es gibt noch keinen Bezug
Teilfassungen, Fragmente und Varianten zum Jeanne d’Arc-Stoff und zum klassischen
ediert wurden. Diese Ausgabe bleibt für den, Drama; über die Verwendung von Prosa und
der sich über die komplexe Entstehungsge- Vers ist noch nicht entschieden. Beides ge-
schichte des Textes unterrichten will, unver- schieht in der zweiten Arbeitsphase, die auch
zichtbar. Bahr suchte Textschichten auszuma- schon die Kanonisierung Johannas als Stücks-
chen, die vor der Bühnenfassung liegen, und chluss vorsieht. In der dritten Arbeitsphase
rekonstruierte mit Unterstützung von Elisa- werden die literarischen Bezüge weiter ausge-
beth Hauptmann das in den »Johanna-Map- baut, die Verssprache überarbeitet und der
pen« des B.-Archivs vorhandene Material. Schluss als opernhafte Schillerparodie gestal-
Dass die Entscheidung der GBA sinnvoll war, tet. Die Bühnenfassung und der Druck in den
die Versuche-Fassung (statt der Fassung letzter Versuchen unterscheiden sich dadurch, dass in
Hand) abzudrucken, wird im späteren Inter- letzterem der parodierende Schiller-Bezug im
pretationsabschnitt erläutert. Schlussbild entschiedener ausgebaut ist und
Die Arbeit an der Heiligen Johanna begann der Schluss verändert wurde. In der Bühnen-
in der zweiten Jahreshälfte 1929; doch reicht fassung wird am Ende die Bühne als Bühne
ihre Vorgeschichte sehr viel weiter zurück. Das gezeigt, als Spiel mit doppeltem Boden umge-
betrifft den Komplex ›Kritik der kapitalisti- deutet: »Während der letzten Strophen ist das
schen Ökonomie‹, den Komplex ›Heilsarmee‹, Fundament sichtbar geworden, auf dem alle
den Komplex ›Amerika‹ und den Komplex stehen: Die ganze Bühne wird von einer dunk-
›Materialwert‹ klassischer Dichtung. Damit len Masse von Arbeitern getragen.« (GBA 3,
ergeben sich Verbindungen zu Stücken und S. 234)
Stückfragmenten wie Jae Fleischhacker, zum Die stofflichen und literarischen Quellen
Brotladen, zu Happy End und zu Klassikerbe- der Heiligen Johanna sind durch die B.-For-
arbeitungen wie dem Eduard-Stück. Als Vor- schung in umfangreichem Maß erschlossen
stufen im eigentlichen Sinne sind sie nicht zu worden (vgl. Knopf 1986; Parmalee; Schoeps;
betrachten, eher als ›Zubringer‹ von drama- Schulz; Seliger). Es handelt sich, was den
turgischem Material, das in einen neuen Zu- Amerika-/Fleischhof-Komplex angeht, um
sammenhang gerückt wird. Die Heilige Jo- Upton Sinclairs The Jungle (1906; dt.: Der
hanna ist jedenfalls B.s einziges Stück, das Sumpf, 1906), Frank Norris’ The Pit (1903;
diese Themen- und Motivstränge in einer ab- dt.: Die Getreidebörse, 1921), Gustavus Myers’
geschlossenen dramatischen Handlung zu- The History of Great American Fortunes (1907;
sammenführt. dt.: Geschichte der großen amerikanischen Ver-
Bahr unterscheidet mehrere Textschichten, mögen, 1916), George Horrace Lorimers Let-
zu denen noch weitere hand- und maschinen- ters from a Self-Made Merchant to his Son
schriftliche Blätter hinzukommen, die nicht (1902; dt.: Briefe eines Dollar-Königs an sei-
einzuordnen waren: Die Schicht erster Ent- nen Sohn, 1904), und Bouck Whites The Book
würfe, die Typoskripte der frühen Schicht, die of Daniel Drew (1910; dt.: Das Buch des Da-
Typoskripte der späteren Schicht, das Typo- niel Drew, 1922). Dem Heilsarmee-Komplex
skript der ersten Reinschrift. Aus den Text- liegen Recherchen (und praktische Erkundun-
schichten ist kein vollständiger Dramentext gen in Berlin) zugrunde, die wesentlich auf
rekonstruierbar. Insofern kann die Charakte- Hauptmann zurückgehen. Ebenso gab es An-
268 Die heilige Johanna der Schlachthöfe

stöße durch Shaws Major Barbara (Heilsar- dass B.s Handschrift das Projekt definitiv ent-
mee-Thema) und Saint Joan (Heilige Jo- schied (vgl. auch »Großer Stückplan« in:
hanna-Thema). Ein letzter Bereich von Quel- Knopf 1986, S. 42–45). Diesen konzeptionel-
len, nämlich Anspielungen, Adaptionen, Zi- len Primat unterstreichen auch die von ihm
tate, dramaturgische Übernahmen, betrifft vorgenommenen Veränderungen zwischen der
nachweisliche Bezüge zu Schillers Die Jung- Bühnenfassung, dem Versuche-Druck, der ver-
frau von Orleans, zu Goethes Faust, aber auch loren gegangenen Hörspiel-Einrichtung und
zu Hölderlins Hyperion, zu Homer, zu Vergil der späteren Malik-Ausgabe.
und nicht zuletzt zur Bibel (vgl. die Einzel- Dass der Rückgriff auf die Jungfrau von Or-
nachweise im Zeilenkommentar der GBA). leans einen überzeugenden Stückschluss fin-
Die äußerst verdienstvollen Nachweise des den ließ, gibt einen Hinweis auf die allge-
Quellenmaterials durch die B.-Forschung kön- meine Bedeutung Schillers für B. Mit Recht
nen freilich auch von der Aufmerksamkeit auf hat Gudrun Schulz in ihrer Untersuchung die
das Stück selbst ablenken und seine Eigenart frühe Schiller-Rezeption hervorgehoben und
aus dem Blick rücken. Denn anders als etwa in B.s Don Carlos-Besprechung (1920) eine
bei der Mutter, der Dreigroschenoper oder Schlüsselstelle für das spätere Stück gesehen.
dem Jasager stellt sich gerade bei der Heiligen Die Theaterkritik beginnt: »Ich habe den ›Don
Johanna die Frage nach der Vorlage und deren Carlos‹, weißgott, je und je geliebt. Aber in
Bearbeitung nicht. Das Stück weist eine frei diesen Tagen lese ich in Sinclairs ›Sumpf‹ die
stehende Konzeption auf, in die es seine Quel- Geschichte eines Arbeiters, der in den
len eingeschmolzen hat. Diese konzeptionelle Schlachthöfen Chicagos zu Tod gehungert
Originalität muss umso mehr hervorgehoben wird. Es handelt sich um einfachen Hunger,
werden, weil B. auch hier Mitarbeiter und Dis- Kälte, Krankheit, die einen Mann unterkrie-
kussionspartner in seine Regie nahm, so dass gen, so sicher, als ob sie von Gott eingesetzt
rein philologisch sein eigener Anteil nicht zu seien. […] Seine Freiheit hat mit Carlos’ Frei-
erschließen ist. Trotzdem kann nur mit Vorbe- heit nicht das mindeste zu tun, ich weiß es:
halt die Heilige Johanna als Produkt eines Ar- aber ich kann Carlos’ Knechtschaft nicht mehr
beitskollektivs bezeichnet werden. Es bestand recht ernst nehmen.« (GBA 21, S. 59) Das hin-
aus B., Hauptmann, zugleich Schreibmaschi- dert ihn aber nicht, die opernhafte Schönheit
nistin, und Emil Burri, die sich in der Hauptar- weiter anzuerkennen. Abschließend heißt es:
beitszeit regelmäßig morgens in B.s Berliner »Seht euch also den ›Don Carlos‹ an, er ist
Wohnung trafen und die ausgearbeiteten Ent- ebenso spannend wie der Film ›Le pain‹,
würfe diskutierten. Burri und Hauptmann ha- glaubt mir! (Aber lest auch gelegentlich Sin-
ben, so lässt sich aus dem Material erschlie- clairs Roman ›Der Sumpf‹.)« (S. 60) Schiller,
ßen, einen nicht geringen Teil der, auch text- der Dramatiker wie der Theatertheoretiker,
lichen, Arbeiten geliefert. Hinzu kam der hat B. zeitlebens beschäftigt und diente ihm
ebenfalls als Mitarbeiter am Stück genannte als Bezugsfigur wie Antipode dazu, wie eine
Hermann Borchardt, von dem sich hand- längere Journal-Eintragung vom 9. 5. 1941
schriftliche Notizen nachweisen lassen. Aber ausführt, sich über »die Unterschiede in der
auch Walter Benjamin und Bernhard Reich, Arbeitsweise, die sich aus den Unterschieden
die von ausführlichen Gesprächen über das der aristotelischen und nichtaristotelischen
Stück berichten, haben Einfluss genommen Dramaturgie ergeben«, klar zu werden (GBA
sowie Anregungen und Kritik geliefert. Auf- 26, S. 482).
grund dieses ungewöhnlichen Team-Works Für das Verständnis der Heiligen Johanna ist
sind Anteil und Einfluss der Mitarbeiter nur im Übrigen wichtig, das Stück nicht vorschnell
teilweise zu bestimmen (vgl. Bahr, S. 212– in den Kontext der Bearbeitungen des Jeanne
214). Bahrs penible Edition der Entwürfe und d’Arc-Stoffes einzurücken. B. hat hier eine ei-
Fragmente gibt aber einen guten Einblick in gene Johanna Dark erfunden und auf die
die Arbeitsweise und lässt zugleich erkennen, Schlachthöfe versetzt, die mit dem Mythos der
Stückfassungen, Entstehungsgeschichte, Quellen 269

nationalen Befreiungskämpferin, die gegen täuscht, geht sie zu den Arbeitern, die auf den
die fremden Truppen zum Schwert greift und Schlachthöfen warten, bleibt ihnen gegenüber
in die Schlacht zieht, nichts zu tun hat. Der aber zwiespältig. Ein Wintereinbruch lässt sie
Jeanne d’Arc-Stoff wird hingegen von ihm di- tödlich erkranken; sterbend wird sie von den
rekt aufgegriffen und politisch neu gewendet Siegern im Haus der Strohhüte zur Heiligen
in den Stücken Die Gesichte der Simone Ma- der Schlachthöfe kanonisiert.
chard (zusammen mit Lion Feuchtwanger) Aus dieser Inhaltsangabe lässt sich freilich
und Anna Seghers. Der Prozess der Jeanne die dramaturgische Konzeption und theatrale
d’Arc zu Rouen 1431 (Bühneneinrichtung des Ausrichtung, d. h. die epische Form, nicht
Segherschen Hörspiels). erschließen. Das Stück reiht Handlungs-Epi-
soden aneinander, vollzieht einen raschen
Wechsel der Schauplätze, bedient sich sehr
verschiedener Prosa- und Versformen und ver-
Inhalt, Handlungsstränge, weist zudem noch auf ein Geschehen hinter
Deutungen den Kulissen, das sich in vertraulichen Briefen
an Mauler abspielt. Die Handlungsstränge
sind also keineswegs synthetisch verknüpft,
Es geht um ein Geschehen, das, wie B. im sondern eher bruchstückhaft ineinander mon-
Bühnenmanuskript ausdrücklich angibt, in tiert.
Chicago um 1900 angesiedelt ist. Zugleich Die Johanna-Mauler-Handlung: Für sich
werden Bezüge zur Weltwirtschaftskrise Ende genommen enthält die Johanna-Mauler-Hand-
der 20er-Jahre hergestellt. Der Fleischhandel lung alle Züge eines Melodrams, das durch
ist in eine Krise geraten; die Schlachthof- Johannas Erkenntnisweg durchkreuzt wird.
Fabriken machen zu; die Arbeiter sind ausge- Gezeigt wird zunächst das Bild einer religiö-
sperrt. Die Krise eröffnet die Möglichkeit, die sen Agitatorin, die »Sinn für Höheres« und
ökonomischen Machtverhältnisse auf dem Abkehr von »niederen Genüssen« predigt, also
Fleischmarkt – vertreten durch Büchsen- die hungernden Arbeiter der Fleischfabriken
fleisch-Fabrikanten Mauler, Cridle, Lennox mit guten Worten tröstet: »Gottes Wort aber ist
sowie durch die Banken an der Viehbörse und ein viel feinerer und innerlicherer und raffi-
die Viehzüchter – zu verändern. Aufgrund von nierterer Genuß« (GBA 3, S. 135). Sie glaubt
undurchsichtigen, von New Yorker Börsianern an die moralische Veränderbarkeit der ver-
(Wall-Street) beeinflussten Spekulationen ge- derbten Welt durch Gewaltlosigkeit und durch
lingt es Pierpont Mauler, das Monopol an sich das Vorbild des guten Menschen, im Gegensatz
zu reißen, indem er seine Konkurrenten in den zu Mauler und seinem Makler Slift, die Jo-
Bankrott treibt, die Viehzüchter zur Vernich- hanna demonstrieren, dass die Schlechtigkeit
tung eines Teils des Viehs verpflichtet und den der Armen der Grund für ihre Armut sei. Zwar
durch Rationalisierung überflüssig geworde- sieht Johanna, wie z. B. Frau Lukkerniddle,
nen Teil der Arbeiter nicht wieder einstellt. deren Mann in den Sudkessel der Fleischfab-
Während dieses Machtkampfes beginnen die rik gefallen und selbst zu Ochsenfleisch ver-
Arbeiter der Schlachthöfe gegen ihre Aussper- arbeitet worden ist, durch ein paar Mittag-
rung einen Generalstreik zu organisieren, der essen käuflich gemacht wird und auf weitere
gewaltsam niedergeschlagen wird. Da »Die Nachforschungen nach ihrem Mann verzich-
schwarzen Strohhüte« (GBA 3, S. 128), eine tet. Sie zieht jedoch einen anderen Schluss, als
religiös-ideologische Organisation der Ar- Slift ihn ihr nahe legt: »Ist ihre Schlechtigkeit
menhilfe, sich aus dem Arbeitskonflikt heraus- ohne Maß, so ist’s / Ihre Armut auch. Nicht
halten, versucht das junge Strohhüte-Mädchen der Armen Schlechtigkeit / Hast du mir ge-
Johanna Dark ganz allein, den reichen zeigt, sondern / Der Armen Armut« (S. 154).
Fleischfabrikanten Mauler zum Handeln zu- Johanna hat mit dieser Erkenntnis die erste
gunsten der Arbeiter zu bringen. Von ihm ent- Stufe ihres Erkenntnisprozesses erreicht: Die
270 Die heilige Johanna der Schlachthöfe

Armut ist die Wurzel der Schlechtigkeit, also nierung vorgegeben war. Diese Inszenierung,
sind zunächst Armut und Arbeitslosigkeit zu mit B.s Tochter Hanne Hiob als Johanna, mit
beseitigen, wenn man die Menschen gut ma- B.s Freund Caspar Neher als Bühnenbildner
chen will. So kommt sie zu Mauler zurück, der und Helene Weigel als Ehrengast, fand, in ei-
über die materielle Voraussetzungen, gut sein nem politisch aufgeheizten Klima statt. Da B.
und Abhilfe schaffen zu können, verfügt. In als DDR-Kommunist eingeschätzt wurde und
der zweiten Stufe tritt sie als praktisch Han- als nicht spielbar galt, schon gar nicht mit
delnde hervor, überzeugt davon, dass durch ihr einem antikapitalistischen und antichristli-
Einwirken auf Mauler die katastrophalen Zu- chen Stück wie der Heiligen Johanna. Davon
stände reformierbar seien. Scheint dies zu- zeugen auch die Rezeptionsformeln, durch die
nächst zu gelingen, so muss sie bald einsehen, Stück und Autor akzeptierbar gemacht werden
dass Mauler sich nicht länger erweichen lässt. sollten: B. sei trotz seines Marxismus in Wahr-
Durch diese Enttäuschung erreicht sie die heit ein Dichter; die existenziale Symbolik des
dritte Stufe, die sie nun an die Seite der strei- Schlachthofs überlagere das überholte Klas-
kenden Arbeiter bringt. In diesem Entschluss senkampfschema; im Zentrum stehe das tragi-
bleibt sie freilich zwiespältig und schwan- sche Scheitern des guten Menschen; es han-
kend: Sie setzt sich zu den Wartenden auf den dele sich um das elementare Drama zwischen
Schlachthöfen, wartet aber auf Mauler, der armem Mädchen und reichem Mann. Diese
nach ihr suchen lässt. Und sie misstraut den Rezeptionsformeln, die sowohl die (positive)
Arbeitern, sie würden Gewalttätiges planen, Theaterkritik wie auch die germanistische In-
will sich aber doch am Streik beteiligen. Als terpretation bestimmten, werden ausführlich
sie einen Auftrag erhält, führt sie ihn nicht aus bei Hans-Peter Herrmann dargestellt. Inter-
– Kälte und Hunger sind stärker –, sondern essanterweise verhielt sich die ältere östliche
geht weg. Als sie ihren Verrat einsieht, will sie Rezeption zu B. kaum weniger adäquat. Einem
umkehren, hat sich aber eine Lungenentzün- dogmatischen Konzept des sozialistischen
dung zugezogen, bricht zusammen und wird Realismus gehorchend, wurde an der Jo-
ins Haus der Schwarzen Strohhüte gebracht, hanna-Figur bemängelt, sie bleibe Kleinbür-
wo sich auch Mauler befindet. Sterbend ge- gerin und schaudere, wie der Autor selbst, vor
langt sie zu der Erkenntnis: »Es hilft nur Ge- dem letzten Schritt, der rückhaltslosen Identi-
walt, wo Gewalt herrscht« (GBA 3, S. 224, fizierung mit der Partei der Arbeiterklasse
S. 232). zurück. Zugleich gehe die Dominanz von Mau-
So etwa erscheint in einer moralisch-psy- ler und Johanna auf Kosten der Darstellung
chologischen Deutung der Weg des Heilsar- des Proletariats, das nur in undeutlich charak-
meemädchens Johanna. Mit ihr wird eine be- terisierten Figuren auftrete: »Die klassen-
stimmte, durchaus wirksam gewordene Re- bewußten Arbeiter des Stückes sind schemati-
zeptionsmöglichkeit aufgezeigt, die auch die sche Bestandteile eines Kollektivs. Es ist
Darstellung der übrigen Figurenbereiche psy- bezeichnend, daß B. die Theorie, daß Organi-
chologisch plausibel macht: die Kälte und Ge- sation und Gewalt für das Proletariat un-
sichtslosigkeit, die den Arbeitern anhaftet, abdingbar sind, von den Arbeitern als Chor
und die wechselseitige Faszination, welche die vortragen läßt, nicht aber in derselben Kon-
naiv-entschlossene Johanna und den zynisch- kretheit zu gestalten vermag wie Manöver und
geschäftserfahrenen, vom Ekel angekränkel- Machenschaften der Kapitalisten. Wenn Mau-
ten Mauler verbindet. ler ein ›negativer Held‹ ist, so fehlt der ›posi-
Ohne allzu grobe Vereinfachung lässt sich tive Held‹ auf Seiten der Arbeiterschaft.«
sagen, dass in der älteren westlichen Rezep- (Schumacher, S. 480) B. hat darauf auswei-
tion und Interpretation der Heiligen Johanna chend und defensiv reagiert (Antwortbrief in:
die Beziehung der beiden Hauptfiguren Jo- Bahr, S. 216).
hanna und Mauler im Zentrum stand, ein In- Die Arbeiter- und Streik-Handlung: In der
teresse, das schon von der Gründgens-Insze- Tat hatte B., anders als die Darstellung der
Inhalt, Handlungsstränge, Deutungen 271

Ausbeutung auf den Schlachthöfen, eine pro- Johanna der Schlachthöfe« ein realistisches
letarische Streik-Handlung (Szene 9) über- Werk?). In der verfremdenden ›Historisie-
haupt erst spät in die Bühnenfassung einge- rung‹ des Bekannten und im Aufzeigen der
fügt. In den bei Bahr abgedruckten Entwürfen Effekte der ›Vorgänge hinter den Vorgängen‹,
und Fragmenten kommt sie noch nicht vor, so B.s theatertheoretischer und -praktischer
vielmehr nehmen die den amerikanischen Anspruch (vgl. Der Messingkauf), besteht ein
Quellen entnommenen Einzelheiten über die wesentlicher, praktischer Erkenntnisgewinn
Schlachthof-Zustände einen noch größeren des epischen Theaters, der durch ›zu vollstän-
Raum ein. Die Streikhandlung bleibt eine Ein- dige‹ Abbildungen gerade nicht erreicht wer-
fügung: sie wird nur so weit sichtbar, wie sie den kann.
für das Verhalten von Johanna von Bedeutung Die Marxsche Krisentheorie als Schlüssel?:
ist. Von einer kritischen, das Niveau ihres Gegen-
Die Arbeiter (Gloomb, Luckerniddle) wer- stands überhaupt erreichenden B.-Forschung
den zunächst als wehrlose und entmenschte kann deshalb erst dort gesprochen werden, wo
Opfer gezeigt; aus Not ist jeder einzelne kor- die theatralen Spezifika des epischen Theaters
rumpierbar und unfähig zu gemeinsamer Soli- ernst genommen und freigelegt wurden, damit
darität. Der geplante Generalstreik ragt in das zugleich B.s Interesse am Marxismus und an
dramenimmanente Geschehen von außen hin- der Marx‘schen Kritik der politischen Ökono-
ein und bleibt schemenhaft; die gewaltsame mie als eigenständige intellektuelle Position in
Niederschlagung des Streiks findet nur am den Blick trat. So wurde, angestoßen durch
Rande oder hinter den Kulissen statt. Johan- Käthe Rülicke-Weilers Untersuchung Die Dra-
nas Verwicklung in den Streit – sie versäumt maturgie Brechts (1966), die Heilige Johanna
einen konspirativen Brief abzugeben und als erstes sowohl theatertechnisch wie theo-
bricht wegen dieses Versagens zusammen – retisch an der »revolutionären Methode« von
bleibt der Streik-Handlung gegenüber äußer- Marx orientiertes Drama B.s anerkannt und
lich. Für die Werkausgabe von 1938 hat B. in dem Stück eine unüberschätzbare Bedeutung
die Brief-Episode die Figur der Arbeiterin in der Ausprägung des epischen Theaters ein-
Luckerniddle als Gegenposition zu Johanna geräumt. Entsprechend galt die bislang abge-
eingefügt (vgl. GBA 3, S. 456–458). Damit tane ökonomische Konstruktion nun als Zent-
wird die Anonymität der Streikenden an einer rum der Stückhandlung: Rülicke-Weiler be-
Stelle aufgehoben. Eine ›politische Verbesse- schrieb sie als detailgetreue Übernahme des
rung‹ gegenüber der Versuche-Fassung ist da- Marx‘schen Modells, seiner Analyse der kapi-
durch nicht zustande gekommen, eher ein talistischen Krisenzyklik. Aus der Diskussion
kleines Zugeständnis an die offizielle Realis- dieser These ergaben sich neue Probleme,
mus-Doktrin. Denn das Stückmodell der Hei- welche die genauere Erschließung des Stücks
ligen Johanna – und darin unterscheidet es aber einen guten Schritt weiter gebracht ha-
sich etwa von dem der Mutter oder der Frau ben.
Carrar – schließt einen weiteren Protagonis- Der Versuch, die Marx‘sche Krisentheorie
ten auf der Arbeiter-Seite aus. Es richtet be- als Schlüssel-Quelle der Heiligen Johanna auf-
wusst den dramatischen Focus auf die beiden zuweisen, hatte für die folgende B.-Rezeption
Figuren Mauler und Johanna. geradezu kanonischen Rang. Das Bild von B.,
B. zufolge sollten die Stücke des epischen der, weil er sich die Vorgänge auf der Börse
Theaters eine Reihe von Versuchen bilden, die nicht erklären konnte, begann, Marx zu stu-
niemals die gesellschaftliche Realität als Gan- dieren, entsprach ganz und gar dem neuen
zes abbilden oder symbolisieren wollen, Interesse am Marxismus im Kontext von 1968
sondern Realitätsausschnitte verfremdend (1967 war, mit einer Startauflage von 50 000
modellieren, um das Selbstverständliche, die Exemplaren, die sehr preiswerte zwanzigbän-
›Natur‹, des Bestehenden als Veränderbares dige Taschenbuchausgabe der Werke B.s, die
aufzuzeigen (vgl. B.s Schrift Ist »Die heilige WA, erschienen). In der Folge wurde die These
272 Die heilige Johanna der Schlachthöfe

modifiziert, aber nicht grundsätzlich in Frage zuarbeiten. Es ergibt sich folgende Rekon-
gestellt. Es wurde darauf hingewiesen, dass struktion der ökonomischen Vorgänge (nach
das komplexe Gefüge der wirtschaftlichen Ab- Knopf 1986, S. 110 f., bzw. Knopf 1985, S. 46):
läufe im Stück vom Zuschauer kaum erkannt
1. Der Fleischmarkt ist übersättigt; eine Er-
und rezipiert werden könnte. B. habe mit Ab-
weiterung ist vorerst nicht möglich (Zoll-
sicht ein chaotisches »Erscheinungsbild der
gesetze); es beginnt eine Absatzkrise, in de-
Marktökonomie« geben wollen, wie dies auch
ren Folge die Aktienkurse der Fleischfabri-
der Wirklichkeit entspreche: »der Gesamt-
ken fallen (Baisse); Mauler bekommt den
gang des Stückes spielt sich als wildes, chaoti-
Tipp, seine Anteile zu 10 Millionen an sei-
sches Geschehen ab, durch das keiner hin-
nen Kompagnon Cridle zu verkaufen.
durchblickt und das sich auch dem Betrachter
2. Cridle und Mauler konkurrieren vorher
erst in nachträglicher Analyse auflöst« (Herr-
Lennox nieder, und zwar mit Niedrigprei-
mann, S. 78). Ebenso wurde eingewandt, dass
sen; damit ist der Markt noch mehr voll
das ökonomische Modell nicht mehr auf die
gepumpt worden; die Absatzkrise verschärft
Situation der 20er- und 30er-Jahre passe und
sich rapide, die Anteilwerte fallen drastisch.
die Empfehlungen der »Freunde« aus New
Mauler fordert nun von Cridle die Einlösung
York eher an Briefe erinnern, die z. B. bei
des Kaufvertrags; aufgrund des rapiden
Schiller an Schwachstellen des Handlungsver-
Wertverlusts der Anteile durch die Baisse
laufs auftauchen, und den Prozess der Mehr-
besitzt Cridle nur noch die geforderten 10
wertbildung eher verdecken als erklären
Millionen. Er ist erledigt.
(Voigts, S. 195 f.), eine Kritik, die Jahre zuvor
3. Mauler erhält Nachricht, dass die Aus-
Adorno schon weit schärfer formuliert hatte
landszölle fallen werden und der Markt sich
(Adorno 1965, S. 118 f.). Dennoch blieb, insge-
erweitern wird. Da die Baisse für Nied-
samt gesehen, das Erkärungsmodell unange-
rigstpreise sorgt, ist jetzt die Gelegenheit
tastet, verhalf es doch dazu, das theoretische
zum Aufkauf. Der »Corner« beginnt: Mauler
Fundament der Theaterkonzeption B.s zu af-
kauft sämtliches Büchsenfleisch auf, auch
firmieren und zur Voraussetzung einer ange-
die Produktion der kommenden zwei Mo-
messenen Interpretation seiner Stücke zu ma-
nate und lässt über einen Strohmann alles
chen. Die Interpretation der Heiligen Johanna
auf dem Markt befindliche Vieh aufkaufen.
von Wilhelm Große fasst diesen Stand noch
4. Mauler kann nunmehr an der Viehbörse
einmal zusammen, während längst auf den
den Fleischpreis hochtreiben, den die Pack-
Theatern und in den Feuilletons die B.-Müdig-
herrn (Büchsenfleischfabrikanten) zahlen
keit um sich zu greifen begann: B.s Absicht sei
müssen, um den Liefervertrag mit Mauler
es gewesen, das von Marx entmystifizierte We-
einzuhalten.
sen des Kapitalismus sinnlich nachvollziehbar
5. Maulers Makler Slift treibt den Preis so
auf die Bühne zu bringen; Johanna mache
hoch, dass die Packherrn ihn nicht zahlen
stellvertretend für das Publikum einen Er-
können und wegen Nichterfüllung der Lie-
kenntnisprozess durch, der sie an die Seite des
ferverpflichtung in Konkurs geraten. Zu-
Proletariats führt; durch Verfremdung und
gleich sind aber auch Maulers Bestände
Montage werde das Publikum genötigt, diesen
praktisch wertlos geworden.
Prozess intellektuell selbst zu vollziehen; die
6. Die New Yorker Briefe erinnern Mauler,
Parodie klassischer Kunstformen hindere
der sich selbst ruiniert wähnt, dass er durch
daran, der Ideologie des bürgerlichen Kunst-
den Konkurs den Zugriff auf die Fleisch-
ideals weiter anheim zu fallen.
fabriken hat. Nun wird der Markt neu ge-
Zuletzt hat es Jan Knopf unternommen,
ordnet (Monopolbildung, Viehvernichtung,
durch eine nochmalige Analyse der amerikani-
Reduzierung der Arbeiter).
schen Quellen B.s das Krisenmodell der Hei-
ligen Johanna zu revidieren und den »Corner« Knopfs Rekonstruktion hat den Vorzug, B.s
als Zentrum der Wirtschaftshandlung heraus- Heiliger Johanna nicht länger eine Veran-
Inhalt, Handlungsstränge, Deutungen 273

schaulichung der Marx‘schen Gesamtanalyse die Fabriken wieder in Gang setzt. Um die
des kapitalistischen Systems – der Warenform Weigerung, die Betriebe wieder aufzumachen,
und des Kapitals, der Selbstreproduktion dreht sich der ganze Disput mit Mauler und
durch Krisen und der ökonomischen Notwen- die Austreibung der Packherrn aus dem Tem-
digkeit der Systemkrise – aufzubürden, son- pel. Für Johanna gibt es keine ökonomischen
dern die stoffliche Faszination aufzuzeigen, Gesetze, sondern nur die Verstocktheit der Ka-
die für B. die Praktiken der Gründerzeit der pitalisten, die oben auf der »Schaukel« (GBA 3,
großen amerikanischen Vermögen behielt. S. 197 f.) sitzen und die Vielen unten ›ver-
Schon als Schüler hatte er die Entthronung schaukeln‹. Umgekehrt vertritt Mauler in der
Schillers durch die Rockefellers und Vander- großen an Johanna gerichteten ›Rede über das
bilts in Knüppelversen notiert (vgl. GBA 26, Geld‹ keine typisch kapitalistische Versöh-
S. 91). Die weitere Amerika-Rezeption zeigte nungsrhetorik, sondern versteigt sich zu einer
ihm die monströsen Abgründe, auf denen die radikalen Sprache: »Denn sonst müßt alles
Neue Welt beruhte. Doch blieb B., auch nach umgestürzt werden von Grund aus / Und ver-
seiner Marx-Lektüre, fasziniert von den ar- ändert der Bauplan von Grund aus nach ganz
chaischen Dimensionen des Dschungel-Kapi- anderer / Unerhörter neuer Einschätzung des
talismus. Deshalb wird man nicht sagen kön- Menschen, die ihr nicht wollt / Noch wir […]«
nen, dass mit dem Aufweis der Praxis des Cor- (S. 184). Auch am Schluss hält Mauler keine
ners und übervorteilender Verträge sich die Sonntagsreden (Wohlstand für alle, Fort-
chaotische Wirtschaftshandlung relativ ein- schritt, Chancengleichheit). Was er als Krisen-
fach auflöse. Befremdlich bleibt allein schon, lösung verkündet, sind die primitiven Sach-
dass nicht Börseninstinkt und Spekulations- zwang-Argumente markt- und betriebswirt-
gier Maulers Handeln bestimmen, sondern schaftlicher Logik, die im Wirtschaftsteil jeder
ominöse Briefe, die sich zudem noch wunder- Zeitung stehen und als Börsenberichte heute
barerweise mit Johannas Auftritten ergänzen, die Spielregeln eines Volkssports abgeben.
und die Übrigen, die Packherrn wie Viehzüch- Wenn es sich also verbietet, die Heilige Jo-
ter, eine geradezu rührende Unkenntnis der hanna als ›politökonomische Klippschule‹ an-
Marktwirtschaft zeigen. zusehen, zeigt sich die Radikalität des Stücks
Eine neue Interpretation der Heiligen Jo- gerade in dem, was zunächst als poetischer
hanna muss an der Entmythologisierung der Zusatz erscheint: Schnee, Blut, Armut, Tier,
Wirtschaftshandlung ansetzen: nämlich da- Schlachthaus, Gewalt. B. demonstriert, dass
rauf beharren, dass mit ihr überhaupt keine es möglich ist, inmitten der Katastrophen, die
Demonstration der analytischen Begriffe des ohnehin täglich eingebläut werden, grundsätz-
Kapital gegeben wird. Keineswegs ist, wie in lich zu sprechen: nämlich poetisch.
Fortschreibung Rülickes bisherige Interpreta-
tionen immer wieder behaupten, Johannas
Wissen-Wollen mit einem Eindringen in die
Marx‘sche Kritik der ›Politischen Ökonomie‹ Rhetorik, Metaphorik, Gewalt
vergleichbar. Johanna lernt bei ihren ›Gängen
in die Tiefe‹ die Realität von Ausbeutung und
Armut kennen, aber nicht im Sinn ökonomi- Der Verfremdungskraft, die der poetischen
scher Kategorien. Wollte man die Reden Jo- Sprache und dramaturgischen Textur in der
hannas und ihre Dialoge mit Mauler als marxi- Heiligen Johanna zukommt, bedarf einer be-
stischen Disput betrachten, so zeigte sich eine sonderen Aufmerksamkeit, gerade weil B.s
überraschende Positionsverteilung. Programmatik des epischen Theaters über
Auf der Ebene ökonomietheoretischer Argu- diese Dinge schweigt. Deren Stichworte hie-
mente hält sich Johanna an die Versöhnungs- ßen: Literarisierung der Bühne, Trennung
Ideologie des Kapitalismus, indem sie vom Ar- ihrer Elemente, Einbeziehung neuer Repro-
beitgeber verlangt, dass er ›Arbeit gibt‹ und duktionsmedien, Episierung des Dramas,
274 Die heilige Johanna der Schlachthöfe

Montageformen statt handlungsimmanenter Gestus eines Chors verleiht und von der
Verknüpfung, demonstrativer Gestus, Unter- sprachlichen Psychologisierung individueller
bindung der Einfühlung. Mit diesen Verände- Charaktere abgeht.
rungen hat theoretisch wie praktisch B. seinen Das Hervortreten des Rhetorischen aus den
Anspruch auf Erfindung eines neuen Theaters Figurenreden wird durch das epischen Prinzip
begründet. Auch die Heilige Johanna weist der Selbstdarstellung der Handelnden vorbe-
derartige Formen auf: Schrifttafeln sind den reitet. Die Exposition des Stücks (Szenen 1
Szenen vorausgestellt, Abbildungen werden und 2) ist so aufgebaut. Mag der Auftritt Mau-
gezeigt, für die geplante Kopenhagener Auf- lers, mit dem das Stück beginnt, noch wie ein
führung hatte B. vorgesehen, Zeitungsausrufer klassischer innerer Monolog erscheinen, so
durch den Zuschauerraum zu schicken, um wird mit dem Auftritt der Arbeiter die epische
den Gang der Geschäfte deutlich zu machen Präsentation unverwechselbar: »Wir sind
(vgl. die entsprechende Liste von Schlagzei- 70 000 Arbeiter in den Lennoxschen Fleisch-
len; GBA 24, S. 106–108). Weiter soll durch fabriken und wir / Können keinen Tag mehr
einen erklärenden Vorspann der Zuschauer di- mit so kleinen Löhnen weiterleben.« (GBA 3,
rigiert werden: das Stück zeige die »heutige S. 130) Ebenso stellen sich in ihrem ersten
Entwicklungsstufe des faustischen Menschen« Auftritt die Schwarzen Strohhüte mit Johanna
und »die Art ihrer literarisch-theatralischen als Wortführerin vor: »In finsterer Zeit blu-
Bewältigung« (GBA 3, S. 128). Als Stück tiger Verwirrung / […] / Wollen wir wieder
»nichtaristotelischer Dramatik« (GBA 24, einführen / Gott« (S. 132 f.). Eine Variante des
S. 103) erfordere die Heilige Johanna »eine epischen Prinzips benutzt der kurze zweite
ganz bestimmte Einstellung ihres Zuschauers« Auftritt Maulers, der nur durch Zeitungsjun-
(der Zuschauer »muß«, er »darf nicht« usw.; gen und zwei Passanten kommentiert wird,
ebd.). während Mauler stumm mit den beiden Leib-
Heute haben die Direktiven des Stücke- wächtern vorbeigeht. Erklärende Funktion
schreibers ihre avantgardistische Funktion haben ebenso die Zwischenüberschriften, die
eingebüßt. Umso mehr tritt die rhetorische den Teilszenen vor- oder nachgestellt sind,
und metaphorische Intensität der Heiligen Jo- wie z. B.: »Von morgens bis abends arbei-
hanna in den Blick. Metaphernkomplexe und teten die Schwarzen Strohhüte auf den
obsessive Motive überwuchern und durchset- Schlachthöfen, aber als es Abend wurde,
zen die Fabel, so dass die Handlung auf einer hatten sie so gut wie nichts erreicht«
zweiten Ebene kondensiert und zugleich von (S. 133).
den Figuren als psychologischem Ort der Rede Damit wird nicht nur das Drama in B.s Sinn
abgelöst wird. So springt beispielsweise der entpsychologisiert und entdramatisiert, son-
Dialog zwischen Mauler und Slift über die dern von hier aus eine zweite chorische Text-
Städte, »die von unten brennen / Und oben ebene über den Handlungen und Dialogen er-
schon gefrieren« (GBA 3, S. 166) aus dem öffnet, am einfachsten dort, wo in Gruppen
Handlungskontext der beiden Figuren heraus gesprochen wird. Wenn am Ende von Szene 2
und ist nur als ›Selbstaussage‹ des Stücks zu die Strohhüte Johanna warnen, so verfallen sie
verstehen. In anderen Fällen kommt es zu ei- bald in Sentenzen, wie sie besonders das Ba-
ner kontrastiven Verdoppelung in der Figuren- rockdrama auszeichnet: »Dem Zank verfällt,
rede, wie z. B. bei der Entlassung Johannas aus wer sich hineinmischt! / Seine Reinheit ver-
der Armee der Strohhüte: Die Warnung vor geht schnell.« (GBA 3, S. 139)
dem Schnee (S. 178 f.) erfolgt in metrisierten B.s Interesse am Hervortreten des Rhetori-
lyrischen Versen, die Snyder sozusagen als schen und sein Interesse am Chorischen im
Sprachrohr benutzen; den Hinauswurf der Jo- Drama verdankt sich ganz wesentlich seiner
hanna vollzieht Snyder in Prosa. Derart tritt Schiller-Rezeption, auch wenn von einer di-
eine autonome poetische Sprache des Stücks rekten Übernahme nicht gesprochen werden
hervor, die den Figuren den kommentierenden kann. Schiller, selbst Erbe barocker Dramen-
Rhetorik, Metaphorik, Gewalt 275

rhetorik, hatte in der Schrift Über den Ge- triert ist. Hatten sich B.s Stückprojekte zu-
brauch des Chors in der Tragödie (1803; als nächst mit verschiedenen Expansionsfeldern
Vorrede zur Braut von Messina) die Einfüh- des USA-Kapitalismus befasst – Öl, Eisenbah-
rung des Chors in die »moderne Tragödie« nen, Weizen, Banken –, so fiel die Entschei-
(Schiller, S. 823) gefordert, damit durch dieses dung auf die Chicagoer Fleischhöfe nicht ohne
»Kunstorgan« (S. 819) Reflexion, Bezeugung Grund. Sie ermöglichte nicht allein – auf refe-
und Betrachtung innerhalb des Dramas er- rentieller Ebene –, die Verknüpfung von Börse,
möglicht und die sinnliche Unmittelbarkeit technischer Rationalisierung und Großfabrik
der theatralischen Affekte gebrochen werde. zu thematisieren, sondern erlaubte zugleich
Entspricht die Distanzierungsfunktion des die Entfaltung eines einzigartigen Metaphern-
Chors gegenüber dem dramatischen Gesche- potenzials. Die »Landschaft« des Stücks ist
hen durchaus der Intention des epischen »Schlachtfeld«, notierte B. am 21. 3. 1942
Theaters, so folgt B. Schillers Konzeption des rückblickend ins Journal (GBA 27, S. 70).
Chors als »einer einzigen idealen Person« Die Metaphorik erscheint pragmatisch mo-
(Schiller, S. 823) nicht. Der Chor und das cho- tiviert, da alle Beteiligten vom Fleischgeschäft
rische Sprechen von Einzelfiguren erzeugen in abhängen und die Schlachthöfe das industri-
der Heiligen Johanna gerade keine einheit- elle Herz Chicagos bilden. Die oberste Ma-
liche Idealität, sondern Vielheit; keine über- xime der Fleischproduktion heißt möglichst
geordnete Instanz wird hervorgerufen, son- schnelle, möglichst billige, möglichst restlose
dern ein anderes, mehrstimmiges Sprechen. Verwertung: »Verwertung des Schweins bis
Was Schiller immerhin als Möglichkeit vorsah aufs Grunzen« (Bahr, S. 156). Ihr Ideal er-
– die Zweiteilung des Chors »im Streit mit sich reichte sie in einer Maschine, mit der das
selbst« (ebd.) – ist hier eher der Sonderfall; Schwein sich selbst schlachtet und verarbeitet
eine solch stichomythischer Wechsel von Rede (vgl. die Hinzufügung in der Malik-Fassung;
und Gegenrede wird angewandt, als es um das GBA 3, S. 458). Zugleich aber bilden die
Bleiben auf den Schlachthöfen geht und zwei Schlachthöfe ein semantisches Feld, das he-
Chöre zwei mögliche Haltungen aussprechen terogene Aspekte metaphorisch verdichtet.
(GBA 3, S. 197). Denn B. geht es nicht um die »Ach, Cridle, ach, unser Geschäft ist blutig«,
Kontrastierung von Chor und Gegenchor, son- sagt Mauler gleich eingangs (GBA 3, S. 129),
dern, wie er an Beispielen aus der Heiligen wo es, wie sich bald herausstellt, um Finanz-
Johanna erläutert, um »die Mannigfaltigkeit« spekulationen geht. »Hier / Stehen eure Och-
in der Verwendung des Chors, die durch unter- sen, ihr Metzger, aufgemacht!« (S. 131), sagen
schiedliche Versformen jeder Handlungs- die Arbeiter, die sich über Hungerlohn und
gruppe ein eigenes soziales »Idiom« gebe (in: Versklavung beklagen. Die Welt, die hier ge-
Hecht, S. 47 f.). Darüber hinaus teilt das cho- zeigt wird, ist nah an Jonathan Swifts Modest
rische und nichtchorische Sprechen auch die Proposal (1729), die Kinder der Armen als
Rede der Einzelfiguren und unterbricht ihre Speise für die Reichen zu verarbeiten, nur dass
dramatische Funktion. Durch das chorische die Menschenfleisch-Verwertung hier noch ein
Sprechen wird die Spielhandlung unterbro- Arbeitsunfall bleibt. »Onkel Blattspeck ist jetzt
chen: die dramatische Zeit wird einer anderen in seine Blechbüchse gekleidet« (S. 148). Ein
Zeit ausgesetzt. Für diese gilt, dass in ihr Mei- Spektrum von Blut, Hautabziehen, Fressen,
nungen und Auslegungen vorgetragen werden, Verrecken färbt den dramatischen Text. Ab-
die zueinander nicht stimmig sind und keine schaum, Schlamm, Dreck, Schmutz – konkrete
Vermittlung von einzelnem Handelnden und Teilbereiche der industriellen Fleischproduk-
der Allgemeinheit des Sittlichen und Richti- tion – bilden Metaphern, in denen die Fab-
gen bewirken. rikanten die Arbeiter beschreiben und die
Auf einer zweiten Textebene ist die Heilige Arbeiter ihr eigenes Elend. Am Ende ist och-
Johanna von einem Metaphernkomplex senhaft in Maulers »arme Brust / […] ein
durchdrungen, der auf die Schlachthöfe zen- Zwiefaches gestoßen / Wie ein Messer bis zum
276 Die heilige Johanna der Schlachthöfe

Heft« (S. 227). Er ahnt das Himmlische und ren Neigung, keine Achtung konzedierte, nur
kennt den Schmerz, dass der Mensch »Mit Verachtung hat: versuchen, so zu leben, daß
dem Fleisch nach unten hängt« (ebd.). Das man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu
metaphorische Feld des Schlachtens infiziert sein.« (Adorno 1966, S. 292)
den gesamten Dramentext, treibt ihn voran Jenseits der dominierenden Metaphorik des
und zersetzt ihn, so dass das Stück gerade in Schlachthauses ›Welt‹ gibt es nicht nur diese
seinem außerordentlichen Kunstaufwand auch winzigen Momente der rettenden Inversion
als eine Parabel auf das Misslingen der Kultur und der kreatürlichen Sehnsucht, sondern
gelesen werden kann. auch eine politisch konnotierte Alternative,
In diesem Sinn hat Adorno in einer zen- die durch die Metaphorik des Netzes um-
tralen Passage der Negativen Dialektik auf die schrieben wird. Dies geschieht auf eine dop-
Heilige Johanna verwiesen. Kultur, heißt es, pelte Weise, indem die Semantik des Verknüp-
»perhorresziert den Gestank, weil sie stinkt; fens und die Semantik des Einfangens einen
weil ihr Palast, wie es an einer großartigen politischen Gegensatz artikuliert und damit
Stelle von B. heißt, gebaut ist aus Hunds- das frühere Bild der »Netzestadt« (Maha-
scheiße. Jahre später als jene Stelle geschrie- gonny; GBA 2, S. 336) revidiert.
ben ward, hat Auschwitz das Mißlingen der Die Stimmen, die Johanna am Ende von
Kultur unwiderleglich bewiesen.« (Adorno Szene 9 heimsuchen, beschreiben in dieser
1966, S. 357). Mit jener Stelle ist Maulers Ab- Metapher ihren »Verrat«, jenseits aller sub-
schiedsrede beim Überschreiten der Armuts- jektiven Momente. »Das Netz, dessen eine
grenze gemeint, dem »das Ding aus Schweiß Masche / Zerrissen ist, nützt nichts mehr /
und Geld« (GB 3, S. 203) nun so vorkommt, als Durch es schwimmen die Fische an diesem
»hätt er benutzt als / Material Hundsscheiße, Punkt / Als ob da kein Netz sei. / Plötzlich sind
so daß der Aufenthalt/ Darin doch schwer wär nutzlos / Alle Maschen« (GBA 3, S. 205; die
und sein Ruhm nur der / Am End, er hätt den Stimmen wiederholen wörtlich die Rede des
größten Gestank der Welt gemacht« (S. 204). Ersten Arbeiterführers; S. 192). Johanna er-
Adorno verweist überdies auf den Topos vom fährt sich als die zerrissene Masche, die ver-
blutigen Adam, den Johanna in ihrer Rede an sagt hat, wie berechtigt ihre Skrupel immer
Mauler verwendet (Adorno 1966, S. 357; vgl. auch sein mochten. Die Metaphorik des Net-
GBA 3, S. 181). zes ist suggestiv, gerade weil sie zwei verschie-
Angesichts einer Kulturgeschichte, welche dene Lesarten impliziert. Zum einen geht es
die Geschichte des Mordens verdrängt, wird um den Brief, den Johanna weitergeben soll
das Tier, mitleidsloses Objekt des Schlach- und der zum geheimen Netz der Vorbereitung
tens, zum Bild der utopischen Sehnsucht, das des Generalstreiks dient. Hier bezeichnet die
den Bannkreis der Naturbeherrschung trans- Metapher die horizontale Ausbreitung unend-
zendiert. Nicht in Maulers hysterischem Ge- lich vieler Knotenpunkte unterhalb der offi-
denken »an jenen Ochsen / Der blond und ziellen Wahrnehmbarkeit, ein subversives Mo-
groß und stumpf zum Himmel blickend / Den dell, das Gilles Deleuze und Felix Guattari als
Streich empfing« (GBA 3, S. 129), spricht sich Widerstandsform des »Rhizoms« beschrieben
dies aus. Denn dieses Mitgefühl ist bloße Pro- haben. Es ist ein Netz, das Solidarität nicht im
jektion: »mir war’s, als gält er mir« (ebd.). wirkungslosen Akt der Hilfe für den ›Näch-
Vielmehr ist es Johannas vergeblicher sten‹, sondern in der Anonymisierung und An-
Wunsch, am Ende mit der Vorstellung des gleichung der Einzelnen zu Massen-Maschen
Menschen als dem Subjekt von Herrschaft zu wirksam macht. Johanna gegenüber wird es
brechen: »Hätte ich doch / Ruhig gelebt wie zum andern als Netz beschrieben, das ›Fische‹
ein Vieh« (S. 221). Dem korrespondiert einfangen soll, damit also an ihre Mission der
Adornos Satz: »Dem Einzelnen indessen bleibt Menschenfischerei erinnert (Matthäus 4,19).
an Moralischem nicht mehr übrig, als wofür Diese Version der Netzmetapher trium-
die Kantische Moraltheorie, welche den Tie- phiert am Ende, wenn die Schwarzen Stroh-
Rhetorik, Metaphorik, Gewalt 277

hüte, von Mauler finanziell neu ausgestattet, Was B. dabei (untergründig) beschäftigt hat,
ihre Fänge ausbreiten. Dazu werden die Türen ist die Gleichheit als Utopie bürgerlicher Ver-
des Heilsarmee-›Tempels‹ (vgl. GBA 3, S. 172) gesellschaftung, die sich als ideologische
»weit geöffnet«, und die Schwarzen Strohhüte Abstraktion herausgestellt (Tauschrationalität
singen, »nach den Türen blickend«: »Spannt der Warenform, Menschenrechtserklärung,
die Netze aus: sie müssen kommen! / Eben Gleichheit vor dem Gesetz, Demokratie) und
grad verlassen sie ihr letztes Haus! / Gott jagt zu ganz neuen Formen von Ungleichheit und
die Kälte auf sie! / Gott jagt den Regen auf sie! Undurchsichtigkeit geführt hat (die Erzeugung
/ Drum sie müssen kommen! Spannt die Netze des Industrieproletariats, die Monströsität der
aus!/ Willkommen! Willkommen! Willkom- Riesenstädte, die Geldkatastrophen). Die
men! / Willkommen unten bei uns!« (S. 216) neuen in ihrem Erscheinungsbild, nicht in ih-
Der Gesang bietet in seinen drei weiteren rer Organisationsstruktur egalitären Massen-
Strophen einen infernalischen Lockruf: bewegungen versprechen eine gemeinschaft-
›Kommt in die Hölle, euch bleibt nichts and- liche Lösbarkeit dieser Krise, und sie richten
res‹. Es ist jene moderne Hölle, die Marx ver- ein ›handgreifliches‹ Feindbild auf: als Garan-
anlasste, im Kapital mehrfach auf Dantes In- tie für die versprochene kommende neue Zeit.
ferno zu verweisen. Die Strohhüte spannen Daraus erklärt sich, jenseits aller explizit poli-
anstelle des ›sozialen Netzes‹ der Gemein- tischen Begründungen, ihre Faszination. In
schaft ein ›ideologisch-religiöse Netz‹ aus, das der Netzmetaphorik artikuliert sich dieser
die Heruntergekommenen und Ausgebeuteten Zwiespalt zwischen egalitärer, herrschaftsne-
still hält. »Seht, das Elend treibt sie auf uns zu gierender Verknüpfung (Assoziation) und des-
wie das Getier! / Sehet, sie müssen herunter! / potischer Zusammenschweißung der Massen
Sehet, sie kommen herunter! / Unten da ist (Führerprinzip).
kein Entrinnen: da stehn wir!« (S. 217) Von hier aus ergibt sich ein weiterer Schritt
Mit der Netzmetaphorik erschwert B. eine zur Deutung der Johanna-Figur. Wesentlich
direkte historisch-soziale Zuordnung der ist, dass sie aus ihrer Bewegung heraustritt
»Schwarzen Strohhüte« zu den politisch-ideo- und sich als einzelne Figur isoliert. Schon im
logischen Bewegungen in der Krise der Wei- Aufsuchen Maulers verstößt sie gegen ihre
marer Republik. Weder geht es ihm um eine Einbindung in die Schwarzen Strohhüte; sie
konkrete dramatische Auseinandersetzung mit missachtet die Warnungen und mit der »Aus-
dem Phänomen Heilsarmee (wie bei Shaws treibung der Händler aus dem Tempel« (vgl.
Major Barbara; 1907), noch um die Entlar- GBA 3, S. 172) vollzieht sie den Bruch. Ihrem
vung einer bestimmten Institution (christliche »dritten Gang in die Tiefe« ist ein Traum (vgl.
Kirche) oder einer politischen Partei. Zahl- S. 185 f.) vorangestellt, in dem sie ihre neue
reiche Interpreten sind dieser Versuchung zur Mission erfährt. Sie träumt von den unzählbar
Aufschlüsselung erlegen (z. B. Rülicke; Mayer; Vielen unten als einem sehr dichten Klumpen
Berger-Prößdorf), die sich vom Stückmodell auf kleinem Feld umringt von riesigen Häu-
der Heiligen Johanna aus geradezu verbietet. sern. Sie sieht, wie das Feld in der Mitte sich
Anders als in den Faschismusparabeln (Rund- nach oben wölbt und der Klumpen am Rand
köpfe, Arturo Ui) hat B. hier keine Rücküber- hängt, ehe ›es zu fließen‹ beginnt. Nun setzt
setzungssignale in den Text eingebaut. Die mit die Vision vom großen Zug der Massen ein.
der Erfindung der Schwarzen Strohhüte vorge- »An eurer Spitze sah ich stumm mich schreiten
nommenen Historisierung und Verfremdung / Mit kriegerischem Schritt, die Stirne blutig /
rücken absichtsvoll die Aufbruchsbewegun- Und […] da gleichzeitig / Von vielen Seiten
gen, die im Jahrzehnt nach dem ersten Welt- viele Züge zogen / Schritt ich in vielfacher
krieg sich auf der Straße formierten, zu einer Gestalt vor vielen Zügen / Jung und alt,
befremdlich einheitlichen Gestalt zusammen schluchzend und fluchend / Außer mir end-
(Uniformierung, Fahnenkult, Marschkolon- lich! Tugend und Schrecken! / Alles verän-
nen, Kollektivgesang). dernd was mein Fuß berührte / Unmäßige Zer-
278 Die heilige Johanna der Schlachthöfe

störung bewirkend« (S. 186). Dieses Bild wird Wort. Als Wort oder Wortverbindung wird Ge-
abgelöst durch das Bild des Zugs im Singular walt in den rhetorischen und metaphorischen
(»er«), der gleichsam wie eine gespenstische Wucherungen der Schlachthof-Semantik
Macht – nirgends treffbar und nirgends wohn- (ebenso wie in der Netzmetaphorik) strikt aus-
haft – »marschiert«. Dem Traum entnimmt Jo- gespart. Es ist davon separiert, gleichsam wie
hanna die Deutung, mit den ausgesperrten Ar- durch Sperrdruck hervorgehoben. Wenn von
beitern von den Schlachthöfen aufzubrechen Gewalt ausdrücklich (und nicht in metapho-
und ins Innere von Chicago zu ziehen: »Zei- rischer Umschreibung) die Rede ist – und das
gend unseres Elends ganzen Umfang auf offe- geschieht mehr als ein dutzend Mal –, dann
nen Plätzen / Alles anrufend, was wie ein geht es um eine Kraft, welche die gesetzte
Mensch aussieht« (ebd.). Ordnung bedroht und aus der Perspektive der
Im Traum der Johanna manifestiert sich die Ordnung unter Kontrolle gebracht werden
Ambivalenz der Figur. Sie erscheint als krie- muss. Dem Begriff der Gewalt eignet, wie Wal-
gerische Führerin und Heroine mit deutlicher ter Benjamins Kritik der Gewalt gezeigt hat,
Konnotation zur bürgerlich-französischen Re- eine eigentümliche Sprengkraft, welche die
volution (»Tugend und Schrecken«) – an dieser Grenzziehung zwischen legitimer und illegi-
Stelle auch in größter Nähe zu Schillers »ro- timer Gewalt unterminiert und damit die ver-
mantischer Tragödie« –, während sie im zwei- deckte Gewalt freilegt, der die bestehende
ten Bild nicht mehr als herausgehobene Figur Ordnung ihr Bestehen verdankt.
dem Zug vorangeht (»mit ihm ich«; GBA 3, Wenn im Stück Gewalt benannt wird, so
S. 186). Zugleich erfüllt der Traum Entgren- handelt es sich aus der Perspektive der Ord-
zungs- und Verschmelzungsfantasien. Auch nung immer um »rohe« Gewalt, um »Gewalttä-
dies geschieht auf zweifache Weise. Zunächst tigkeit«, um »drohende Gewalttaten« von un-
sieht sie sich in »vielfacher Gestalt«, erkennt ten, also um revolutionäre Gewalt, die das
sich wieder in der Vielfalt und Menschenhaf- System bedroht. Ihr steht die bewaffnete
tigkeit aller einzelnen Menschen; sodann ver- Macht der Polizei, die ›legitime Gewalt‹ der
schwindet sie als ein Partikel im anonymen staatlichen Exekutive, gegenüber, die aber
Zug der Massen. Diese Ambivalenzen werden nach Möglichkeit nicht in Erscheinung treten
aufgelöst in der pragmatischen ›Deutung‹, soll, sondern stummes Drohpotenzial bildet.
dass durch eine große Demonstration im Her- Nur zweimal, und hier aus der Perspektive der
zen Chicagos die Sache der Arbeitslosen öf- Arbeiter, wird die militärische Niederschla-
fentlich sichtbar gemacht werden müsse. Et- gung des Streiks als Gewalt bezeichnet (GBA
was später sagt sie zu den Arbeitern: »Ich habe 3, S. 204, S. 219), während Mauler an den De-
das Reden auf öffentlichen Plätzen und in Sä- tektiv (Leibwächter) gewandt das Wort ver-
len, auch großen, gelernt« (S. 191). Dass es meidet: »Verdammt! Geh sofort und ruf die
darauf ankommt, auf den Schlachthöfen zu Polizei an […]. Verlang, daß man den Hetzern
bleiben und »nicht wegzugehen« (S. 197), wird die Köpfe eintrommelt, sprich deutlich mit ih-
sie erst später erfahren. nen.« (S. 194) Nur zum Zeitpunkt seiner vor-
Am Anfang des Traums wird der Massen- übergehenden ›Bekehrung‹ spricht er es aus
Klumpen zum Fließen gebracht »Durch Hinzu- und auch hier nur als persönliche Verfehlung:
tritt eines Wortes, irgendwo gerufen / Gleich- »Ich klag mich an der Ausbeutung / Miß-
gültigen Inhalts« (GBA 3, S. 185 f.). Diese rät- brauchs der Gewalt, Enteignung aller / Im
selhafte Formulierung muss offen bleiben, Namen des Eigentums. Sieben Tage hielt ich /
aber als Wendung »Hinzutritt eines Wortes« ist Diese Stadt Chicago am Hals / Bis sie verreckt
sie geeignet, auf ein Wort aufmerksam zu ma- war.« (S. 208)
chen, dass im Text der Heiligen Johanna tat- Zweimal wird von den Arbeitern jene Ge-
sächlich »hinzutritt«. Es ist das Wort »Gewalt«. walt, die in der Sprache der Bosse und der
Gewalt ist dem Text als Chiffre eingeschrieben Strohhüte ihnen als blinde Zerstörungswut zu-
und bleibt in dieser Chiffriertheit ein fremdes geschrieben wird, für das eigene Handeln in
Rhetorik, Metaphorik, Gewalt 279

Anspruch genommen. Einmal heißt es: »In Die neue Tragödie


dieser Lage müssen wir erkennen, daß nur
mehr die Anwendung von Gewalt uns helfen
kann.« (GBA 3, S. 191) Das andere Mal: »Und In seiner Studie Was ist das epische Theater?
vor allem lernt: / Daß es nur durch Gewalt (1931) rückt Benjamin B.s Figuren in eine dra-
geht und / Wenn ihr es selber macht.« (S. 199) mengeschichtliche Perspektive: die der Suche
Auch wenn hier auf B.s Lenin-Studium und nach dem untragischen Helden. »Seit den
vor allem auf die Marxismus-Seminare von Griechen hat nämlich auf der europäischen
Karl Korsch nicht näher eingegangen werden Bühne die Suche nach dem untragischen Hel-
kann, verdient hervorgehoben zu werden, dass den nie aufgehört. Allen Wiedergeburten der
die revolutionäre Gewalt, die das Stück am Antike zum Trotz haben die großen Drama-
Horizont aufleuchten lässt, der »General- tiker von der authentischen Gestalt der Tragik,
streik« heißt. Dieser Begriff konnte damals der griechischen, den größten Abstand gehal-
nicht unbefangen, nicht ohne Konnotation zu ten.« (Benjamin, S. 12, vgl. S. 24 f.) In der Her-
Georges Sorels Schriften, vor allem zu seinen vorhebung des untragischen Helden als eines
Réflexions sur la violence (1908; dt.: Über die wesentlichen Strukturmerkmals des neuen
Gewalt, 1928), verwendet werden. Sorels epischen Theaters erfährt B.s Rede vom »anti-
Theorie des Generalstreiks hatte ihre – anti- aristotelischen Theater« eine Präzisierung.
leninistische – Pointe gerade darin, dass die- Denn in der Tat musste B.s Kritik der aristote-
ser als radikal andere Gewalt gedacht wird lischen Einfühlung in dessen Hauptgegen-
(Sorel). In der Analyse von Benjamins Kritik stand, der Tragödie, ihren Fluchtpunkt haben:
der Gewalt, die B. kannte, ist Sorels »proleta- eine Auseinandersetzung, die der Theoretiker
rischer Generalstreik« »reines Mittel«, das B. gescheut und im hemdsärmeligen Gestus
keine neue Macht- und Rechtsetzung erstrebt, von sich gewiesen hat. In einem Text von 1932
vielmehr alle gewaltsamen Setzungen ent- heißt es, die alten tragischen Katastrophen
setzt (vgl. Lindner). Der proletarische Gene- seien außer Kurs »in einer Zeit, welche diese
ralstreik hat als seine einzige Aufgabe die Ver- Katastrophen schon auf einen bloßen Mangel
nichtung der Staatsgewalt zum Ziel so dass der Zivilisation zurückführt, den zu beheben
hier ein anarchistisches Signal im Text auf- sie schon höchst praktische Vorschläge ausge-
scheint, der sich auch sonst durch die Strategie arbeitet hat«. (GBA 21, S. 575) »In unserer Zeit
auszeichnet, eine andere als die Parteisprache ist die Bekämpfung des Tragischen wie die der
zu sprechen, ohne als Abweichung von der Religion eine revolutionäre Aufgabe« (S. 574).
Parteilinie haftbar gemacht werden zu kön- Ein späterer Text aus dem Exil betont demon-
nen. strativ die »Gleichgültigkeit gegen das Prob-
Zudem gibt es eine andere, verborgene Ge- lem der Tragik« (GBA 22, S. 400): Tragische
waltlinie, die über die, zunächst sehr befremd- Erschütterung sei kein Ziel des epischen Thea-
liche, Metaphorik des »Schnees« und der ters; sie ist allenfalls nebenher und vorüber-
»Schneefälle« hergestellt wird. Warum es in gehend zugelassen. »Eine Spielweise, die die
der Zuspitzung des Stücks auf Chicago zu gesellschaftliche Grundlage als praktikabel
schneien beginnt, muss zunächst unerfindlich und historisch (vergänglich) darstellt […],
erscheinen. Dunkel bleibt das Entsetzen Jo- muß die tragische Stimmung entscheidend
hannas: »Oh, von welcher Gewalt sind Schnee- stören.« (Ebd.) Das epische Theater könne
stürme!/ Oh, Schwäche des Körpers! Was läs- »nicht eine solche Anordnung und Auswahl
sest du leben, Hunger? / Was überdauert dich, von Vorfällen geben wollen, welche geeignet
Nachtfrost!« (GBA 3, S. 205) B. verschiebt da- sind, ganz bestimmte tragische Schauer zu er-
mit die politische Erörterung der Gewaltprob- zeugen.« (S. 401)
lematik, die in der Maßnahme und in anderen Dennoch ist der Dramatiker B. der Tragödie
Lehrstücken zum Gegenstand (und Vollzug) nie so nahe gekommen wie in der Heiligen
des Spiels gemacht wird, auf das Feld der Tra- Johanna, sowohl im kritischen wie im pro-
gödie.
280 Die heilige Johanna der Schlachthöfe

duktiven Sinn. Es macht in der Tat die Einzig- und ›An-die-Gurgel-Gehen‹ metaphorisch im
artigkeit des Stücks aus, dass B. hier auf das Medium der Finanzgeschäfte vollzieht. Das
Tragische in der eigenen Erfindung und Dra- Haus der Strohhüte, Suppenküche, Gebets-
maturgie der Fabel stößt. Das Stück kann nicht haus und Buchhaltung in einem, nimmt im
bloß als Verspottung der klassischen deut- System des Oben und Unten zunächst eine pe-
schen Tragödie begriffen werden, und, wichti- riphere Position ein, die erst durch das Han-
ger noch, platziert es sich ebenso wenig in deln Johannas wichtig wird. Johanna ist die
jenem geschichtsphilosophischen Diskurs, in einzige Figur, die den theatralen Raum nach
dem Marx die Begriffe des Dramas, der Tra- oben und nach unten durchmisst (die drei
gödie und der Komödie als Metaphern zur Gänge »in die Tiefe« und mehrfaches Aufsu-
Analyse politischer Revolutions- und Repres- chen Maulers). Ihr Sterben rückt das Missi-
sionsprozesse verwandte. Der Versuchung, onshaus, nunmehr zum Palast der Versöhnung
diesen geschichtsphilosophischen Diskurs als herausgeputzt, ins Zentrum.
kunsttheoretischen Horizont auszugeben, in B. hat das Stück in elf Szenen gegliedert, die
den das Problem des Tragischen bei B. hinein- jeweils eine Überschrift tragen und den epi-
zustellen sei, sind die Ausleger verschieden- schen Grundgestus vorwegnehmen. Die Sze-
ster Couleur immer wieder erlegen (Steiner; nen teilen sich in weitere Subszenen, so dass
Mayer; Langford u. a.). Vom Standpunkt der ein rascher, ruckartiger Orts- und Geschehnis-
Heiligen Johanna aus ist die Frage, ob es in der wechsel erfolgt. Diese montagehafte Abfolge
Perspektive des kommunistischen Ziels über- verdeckt auf den ersten Blick die Tendenz zu
haupt noch tragische Konflikte geben könne, dramatischer Geschlossenheit, welche die
völlig irrelevant. Die Abweisung dieser Frage Heilige Johanna durchaus als Fortführung der
steht auch im Gegensatz zur Programmatik, klassischen Fünf-Akt-Struktur ausweist. Als
eine wesentliche Aufgabe des epischen Thea- Akt-Struktur ist hier ein dramatisches Grup-
ters bestehe in der Abschaffung der (idealisti- pierungsprinzip zu verstehen, kein Auffüh-
schen, illusionistischen) Tragödie. Damit rungsprinzip mit ›großem Vorhang‹. In der
kann das Stück als ein Einspruch gegen den Bühnenfassung von 1931 hat B. eine zusätz-
›Zwang zur Vernünftigkeit‹ gelesen werden, liche Einteilung der Szenen in übergreifende
dem sich B. auf dem Exilweg zum Klassiker Akte ausdrücklich vorgenommen; das Schema
unterwarf und der ihn von einer Weiterarbeit lässt sich unverändert auf die Versuche-Fas-
an der Tragödie abhielt. sung übertragen: Akt I = Szenen 1, 2 und 3; Akt
2 = Szenen 4 und 5; Akt III = Szenen 6, 7 und 8;
Akt IV = Szene 9; Akt V = Szenen 10 und 11.
Durch diese Einteilung erweist sich die extrem
Topographie und Aktstruktur lange Szene 9 nunmehr als eigener Akt, wobei
– einzige bedeutsame Veränderung der Ver-
suche-Fassung – die letzte Subszene (»Johanna
Das Stück weist, trotz seines Montage-Charak- fällt um«; GBA 3, S. 219) in Akt V, an den
ters, eine sehr geschlossene Topographie auf. Schluss von Szene 10 gesetzt wird.
Die Schauplätze – die City (Vieh-Börse und Die Aktstruktur macht die Zentrierung des
Kontor), das Gebiet der Schlachthöfe und das Stücks um eine Mittelachse (Szenen 6, 7 und 8
Missionshaus – repräsentieren in dieser ›hori- bzw. Akt III), in der sich der dramatische Hö-
zontalen‹ Aufteilung zugleich eine ›vertikale‹ hepunkt ereignet, deutlich erkennbar. Zu Be-
soziale Aufteilung. Unten herrschen die ginn erscheint Mauler noch als Zaudernder,
›Hölle‹, der ›Schmutz‹, der ›Abschaum‹, der den Slift mit einem »halbrohen Beafsteak«
Maschinen-Moloch der Schlachtung und Ver- (GBA 3, S. 166) wieder in den Fleischhandel
fleischung. Oben herrscht die Geschäftswelt bringen muss; am Ende will er seinen Kon-
der Mächtigen, wo es zwar nicht friedlicher, kurrenten und der ganzen Stadt »Endlich die
aber feiner zugeht und wo sich ›Hautabziehen‹ Haut abziehn« (S. 180). Analog scheint am An-
Topographie und Aktstruktur 281

fang Johannas Ingenium noch wie vorher zu beide unterwegs zu den Schlachthöfen, begeg-
wirken. Sie erkannte sein blutiges Gesicht; sie nen und zusammen als Liebespaar aus den
brachte ihn dazu, den Kaufvertrag über das Zumutungen des Kapitalismus aussteigen, wie
Büchsenfleisch abzuschließen, und sie bewirkt es am Ende von Chaplins Modern Times (1936)
nun den Aufkauf des Viehs. Am Ende vermag geschieht.
sie nur noch Maulers Liebesgefühle zu er- Umso krasser wirkt dann der dröhnende
schüttern. Mauler wird nichts dafür tun, dass Umschlag in Akt V, eigentlich ein Doppel-
die Fabriken aufmachen; er bedrängt sie viel- schlag. Denn mit der Krisenlösung, die in der
mehr, das Elend zu billigen und sich wieder Szene 10 dargestellt ist, hätte das Stück rein
der religiösen Propaganda zu widmen. Sie ver- dramaturgisch ohne Johanna sein Ende finden
lässt ihn und geht zu den Schlachthöfen. können. Sie wird aber in der Szene 11 noch
An dieser Stelle wäre es nahe liegend ge- einmal aufgeführt, dieses Mal mit Johanna.
wesen, das Zusammentreffen zur tragischen
Kollision zuzuspitzen sowie Mauler und Jo-
hanna als unversöhnliche Agonisten in einen
Kampf zu verwickeln. Johanna müsste die Ar- Dispositionen des Tragischen
beiter gegen Mauler aufwiegeln und mit ihnen
sterbend unterliegen. B. hat einen derartigen
Fabelverlauf nirgends erwogen und die denk- Die aus der griechischen Antike tradierte
bare Tendenz zu einer Art Rosa Luxemburg- Kunstform der Tragödie kennt, sehr verein-
Johanna konsequent gemieden. facht gesagt, zwei Ausprägungen, je nachdem,
Tatsächlich suspendiert Akt IV die Zuspit- ob der tragische Konflikt zwischen zwei sitt-
zung zur tragischen Kollision auf eine eigen- lich gleichberechtigten Normen und ihren Re-
artige Weise. Er ist strukturiert durch eine präsentanten entspringt oder ob die Ausweg-
ineinander geschnittene Parallelhandlung – losigkeit über das Handeln einer einzelnen Fi-
Mauler / Abschluss des Corners / Börse und gur verhängt ist. Die Heilige Johanna stellt
Johanna / Streik / Schlachthöfe –, die sich eine Inversion beider Formen dar, indem sie
noch in eine dritte Handlung vergabelt: Mau- zwei Figuren aufeinander treffen lässt, die
lers vorzeitiges Verlassen der Börse, um Jo- nicht in einen antagonistischen Konflikt hin-
hanna auf den Schlachthöfen zu suchen, wobei eingeraten, am Ende aber doch in der Position
er von der Nachricht über seinen Bankrott der untergehenden Heldin und des triumphie-
überrascht wird (Szene 9h). Der Verlauf des renden Siegers aufeinander treffen.
Akts wird skandiert von einer unruhigen Dass es zum Konflikt und zur tragischen
Wechselbewegung der Umkehr und des Weg- Kollision zwischen Johanna und Mauler nicht
gehens, während gleichzeitig der Count-down kommt, beruht auf ihrem spiegelbildlichen
des gecornerten Viehs stattfindet. Johanna ist Verhältnis. Jede Figur verfügt über etwas, das
von Mauler weggegangen zu den Schlachthö- der andern fehlt, so dass eine wechselseitige
fen, sie träumt von ihrer neuen Aufgabe. Sie Faszination entsteht. Diese imaginäre Verken-
geht jedoch wieder weg und befreit sich von nung findet gleich in der ersten Begegnung
ihrem Auftrag. Sie läuft, von Stimmen heimge- statt. Mauler sieht sich als das »blutigste Ge-
sucht, zurück. Mauler wiederum ist bei dem sicht« (GBA 3, S. 144) erkannt und damit als
Versuch, die Schlachthöfe zu betreten, immer künftigen Herrscher prophezeit, und will zu-
wieder umgekehrt; erst als ihn die Nachricht gleich die Anerkennung seiner Skrupel, seines
von seinem Bankrott erreicht, fühlt er sich frei Ekels, seiner Güte erzwingen. Johanna sieht
zu gehen, wohin er will: »Sogar auf die ihr Ingenium – ihr »Wissen-Wollen« – heraus-
Schlachthöfe« (GBA 3, S. 203). Für einen Mo- gefordert und versteigt sich in den Plan, durch
ment scheint das Stück ins Melodram zu kip- Erschütterung Maulers das Elend der Welt zu
pen und die Last seiner Konstruktion abzu- beseitigen. Exponiert wird damit freilich eine
werfen. Mauler und Johanna könnten sich, Asymmetrie, die den Figuren unbewusst
282 Die heilige Johanna der Schlachthöfe

bleibt. Ihre Disposition zum tragischen Kon- griff in Frage stellt. Die Wirksamkeit der Jo-
flikt fügt sich nicht ineinander. hanna-Figur beruht zunächst auf dem Inge-
Dass das Tragische sich nicht agonal aus- nium ihrer Naivität, ihrem »Wissen-Wollen«.
prägt, hat aber noch andere Gründe. B. hat die Damit ist weniger ein intellektuelles Erkennt-
Konzeption des epischen Theaters, keine psy- nisstreben gemeint als eine Unerschrocken-
chologisch zentrierten Charaktere auf die heit. Sie verlässt den abgeschirmten Bereich
Bühne bringen zu wollen, in der Heiligen Jo- der Heilsarmee, um den großen Mauler zu
hanna rigoros verfolgt. Damit scheint sich zu sprechen, und konfrontiert ihn mit dem Elend
erübrigen, nach tragischen Charakteren zu su- als seiner Schuld. Mit B. gesprochen, zwingt
chen. Zugleich hat er darauf bestanden, dass sie Mauler zur Einfühlung, löst eine Erschüt-
das epische Theater neue große »Individuali- terung aus, lässt ihn (vermeintlich) gegen sein
täten (Rollen)« hervorgebracht habe (GBA 29, wirtschaftliches Interesse handeln. Ihr Inge-
S. 387) und damit ihnen, traditionalistisch- nium, das sie aus der Welt egoistischer
aristotelisch gesprochen, eine ›Fallhöhe‹ zu- Zwänge heraustreten lässt und ihr den »Hauch
gestanden, wie sie für die Helden der Tragödie einer anderen Welt« (vgl. GBA 3, S. 140) ver-
verbindlich war. Hier bedeutet es, dass die leiht, beruht auf dem (unwiderlegbaren) Wis-
Figuren auf ihre untragische bzw. tragische sen von der ursprünglichen Güte des Men-
Grenze hin getestet werden. So ergibt sich das schen und vom Guten als einer gewaltlosen
überraschende Ergebnis, dass Mauler alle Ele- (göttlichen) Macht.
mente einer tragischen Figur aufweist, ihr Auf dieser Überzeugung besteht sie, auch als
dennoch nicht entspricht, während Johanna, in Akt III (Szenen 7 und 8) ihr Ingenium seine
eher mit den Zügen einer Märtyrerin ausge- Wirkung verliert. Sie will es nicht ›besser‹
stattet, dem Tragischen sehr nahe kommt. wissen und lässt sich von Mauler nicht die
Maulers Spiel ist vom Machtwillen und zu- Augen öffnen: »Herr Mauler, was Sie da sagen,
gleich vom Ekel bestimmt, nicht weil er mora- verstehe ich nicht, und / Ich will’s auch nicht
lische Skrupel hat, sondern weil er in der Sou- verstehen.« (GBA 3, S. 184) Sie gibt ihre Rolle
veränität des (Fleisch-)Königs, als »Gigant« auf, nicht aber ihre Überzeugung: »Aber ich
(GBA 3, S. 129), einen Spielraum unvorher- will mich setzen zu den Wartenden auf die
sehbarer Entscheidungen um sich aufrichtet. Schlachthöfe / Bis die Fabriken wieder auf
Er will uneingeschränkt herrschen, und das sind, und / Nichts anderes essen als sie essen,
heißt: sein Handeln jederzeit in der Willkür und wenn / Ihnen Schnee gereicht wird, eben
seiner Launen vollziehen können, im Gegen- Schnee« (S. 184 f.).
satz zur übrigen Männergesellschaft der Händ- Dass Johanna diesen Entschluss nicht
ler, deren kleinlich-besorgtes Geschäftsgeba- durchhält, scheint zu banal, um als tragisches
ren er verachtet. Mauler hat keine ›inneren Scheitern aufgefasst werden zu können. Aber
Konflikte‹. Deshalb gibt es keine einsamen Schnee bedeutet im Stück nicht allein Kälte
inneren Monologe – Mauler tritt nie allein und Hunger, sondern umschreibt die »Eigen-
auf –, sondern nur inszenierte Affekte vor an- artigkeit von Geldkatastrophen«, die »so
deren, die er als Vertraute (Slift) oder als Pub- furchtbar ist«, und nicht Verstehen, sondern
likum braucht. Darin entspricht er dem Sou- »Anpassungsfähigkeit« abverlangt (GBA 10,
verän des barocken Trauerspiels, der den kras- S. 279). Indem Johanna ihren Platz verlässt –
sen Wechsel seiner Zustände mit großer Geste und vorher in plötzlicher Aggression einer an-
ausstellt: Größenwahn, Ekel, Wut, Sehnsucht deren Arbeiterin das Tuch wegreißt –, ist sie an
nach Anerkennung, Tierliebe, Philanthropie, die Grenze ihres Gutseins gelangt.
Bußfertigkeit, Todeswunsch, Zynismus. Als tragisch wird die Erfahrung eines unver-
Johanna hingegen, die in der Unschuld des söhnlichen Widerstreits zweier Notwendig-
Mädchens alle Anforderungen des Tragischen keiten oder einer schicksalhaften Verschul-
unterbietet, sieht sich einer Erfahrung des Tra- dung bezeichnet, die durch bewusstes Han-
gischen ausgesetzt, die dessen bisherigen Be- deln nicht aufgelöst werden kann. Genau diese
Dispositionen des Tragischen 283

Erfahrung macht Johanna: aber auf andere hatte schon Benjamin gewusst (vgl. Szondi,
Weise, als es die sublimative Tragödienkon- S. 53–57). Anders gesagt, sie versucht, dem
zeption des deutschen Idealismus (Schiller, gemeinschaftsbildenden archaischen Opfer ei-
Schelling, Hegel) will, der die Gewalt in die nen ideellen moralischen Sinn zu geben. Nun
Subjektivität des Helden hineinverlegt, damit besteht aber der Sinn des Opfers, wie die Un-
zugleich aber als Selbstentzweiung und Selbst- tersuchung Das Heilige und die Gewalt von
vernichtung in die Innerlichkeit des Subjekts René Girard gezeigt hat, darin, die Gewalt
festbannt (vgl. Szondi, S. 16, S. 21). Aus der mimetisch zu substituieren und ihre infizie-
Innerlichkeit des Subjekts wird die Sphäre des rende Kraft (z. B. Blutrache) zu kanalisieren.
Materiellen, Körperlichen, Triebhaften als Das Opfer nimmt die Funktion des Sünden-
kontingent verworfen. bocks (pharmakon) ein, der als ›Ursache‹ der
Aber Bewusstsein und Wille, die das morali- Krise stellvertretend personifiziert werden
sche Handeln bestimmen sollen, sind nicht kann, deshalb im gemeinschaftlichen Ritual
ablösbar vom Leiblichen, das den Wunsch getötet werden muss, ohne dass sich daraus
nach dem Guten allererst ermöglicht, wenn- eine Forderung nach gewaltsamer Rache er-
gleich nicht mit ihm zusammenfällt. Adorno gibt, und der deshalb Verehrung und Heili-
spricht in seiner Kritik des idealistischen Frei- gung erfährt (vgl. Girard). Nichts anderes ge-
heitsbegriffs vom somatischen Impuls als ei- schieht am Ende mit Johanna. Und damit er-
nem »Hinzutretenden« (Adorno 1966, S. 225). klärt sich, warum von ihr als einer »Heiligen«
Wenn ›Gutsein‹ und ›Schlechtsein‹ nicht gesprochen wird.
rein aus praktischer Vernunft bestimmt wer- Was zunächst als bloße Parodie der Säkulari-
den kann, sondern die Sphäre des Körper- sierung des Religiösen bei Schillers Johanna
lichen einschließt, dann macht Johanna im und Goethes Faust erscheint und als Karikatur
Schnee die tragische Erfahrung einer Situa- des Christentums in der Sekte der »Schwarzen
tion, in der ihr Körper sich ihrem Helfen-Wol- Strohhüte«, reicht viel weiter: bis in die Auf-
len widersetzt und von ihr abgespalten er- richtung des Sakralen als Stabilisationsprinzip
scheint: »Ihr habt gut hungern, ihr habt nichts der gesellschaftlichen Ordnung, die bis heute
zu essen / Aber auf mich warten sie mit einer in Anspruch genommen wird. Akt V besteht
Suppe. / Ihr habt gut frieren / Aber ich kann aus einem großen kollektiven Ritual, das öf-
jederzeit / Kommen in den warmen Saal / […] fentlich im Haus der Schwarzen Strohhüte
Ja, fast ein Schauspiel scheint’s mir, also / vollzogen wird. In einer prunkhaften kulti-
Unwürdig, wenn ich hierbliebe« (GBA 3, schen Szene verbindet sich die Inthronisation
S. 198 f.). Dass es sich nicht einfach um eine Maulers als »Fleischkönig« mit der Kanonisie-
ernüchternde Einsicht handelt, zeigen die rung Johannas als Heilige. Alle Protagonisten,
Stimmen, die sie am Ende des Akts von allen die eben noch einander Feind waren, sind an-
Seiten umzingeln: Das Abgespaltene kehrt als wesend und werden zu einer neuen Gemein-
fremde Stimmen zurück und macht sich über schaft verschmolzen, die heil aus der Krise
sie her. entspringt.
Damit das Opfer eine reinigende und frie-
densstiftende Macht auslösen kann, muss es
die Stellvertretungsfunktion des Sündenbocks
Das Heilige und die Gewalt einnehmen. Stellvertretung heißt hier, dass
ihm eine übernatürliche, magische Beziehung
zur Ursache der Krise und der allgemeinen
Akt V führt die Behandlung des Tragischen auf Unordnung zugesprochen werden kann und
ihren Höhepunkt, indem hier die in der Kunst- damit zugleich die Spuren des vorangegan-
form der Tragödie mythenkritisch verdeckte genen Verbrechens ausgelöscht werden. Für
Ursprungsgewalt selbst thematisiert wird. Die Johanna trifft beides zu: Sie ist auf den
tragische Dichtung ruht auf der Opferidee, Schlachthöfen gewesen, hat sich mit der dort
284 Die heilige Johanna der Schlachthöfe

nistenden Gewalt infiziert und repräsentiert Mit dem Schlussakt eröffnet (sich) das Stück
sie im ›bösen‹ Reden. Deshalb muss sie im eine zweite Ebene der Darstellung, in der das
gemeinsamen chorischen Vollzug zum Schwei- dargestellte Geschehen zu Ende kommt –
gen gebracht werden. Und indem sie stellver- Mauler wird Monopolherr und Johanna geht
tretend zum »Opfer« (GBA 3, S. 226) gemacht zugrunde – und es zugleich nachträglich um-
wird – für sie einen Arzt zu rufen, käme einer interpretiert und legitimiert wird – Mauler
Entweihung gleich –, löscht ihre ›Tötung‹ den wird als Fleischkönig inthronisiert und Jo-
Schuldzusammenhang der Gewalt gleichsam hanna als Heilige kanonisiert. Dem Schlussakt
aus. An ihr wird nun als Ritual vollzogen, was liegt ein dramaturgischer Kunstgriff B.s zu-
Mauler in der letzten Begegnung mit Johanna grunde, um das archaische Ritual, das an Jo-
von ihr dunkel erwartete: »Darum müßt ihr hanna vollzogen wird, aufzudecken, aber eben
[…] doch gutheißen die Opfer« (S. 184). in seiner notwendigen Verdeckung aufzude-
Johanna hat in diesem rituellen Vollzug, den cken. Wirksam wird es nur, wenn den Be-
die gerettete Gemeinschaft (»alle«) an ihr vor- teiligten das blutige archaische Muster unbe-
nimmt, keine Chance der Gegenwehr; denn in wusst bleibt. Deshalb wird es zugleich in den
ihm ist die dialogische Beziehung suspendiert. Kostümen der »romantischen Tragödie« Schil-
Vielmehr ist es das Wesen dieses Vollzugs, lers vollzogen. Die Anwesenden verwandeln
dass ihre Reden – sei es Anklage, Verfluchung sich am Ende in Akteure und Zuschauer eines
oder Selbstverwerfung – das Projektions- Stücks, das sie besser kennen müssten, aber
schema des Sündenbocks nur bestätigen. Ihre lieber anders sehen möchten. Sie inszenieren
›skandalösen‹ Worte: »Darum, wer unten sagt, und erzeugen jene Erschütterung durch Ein-
daß es einen Gott gibt / […] / Den soll man mit fühlung in das Schicksal, der B. ›anti-aristote-
dem Kopf auf das Pflaster schlagen / Bis er lisch‹ zutiefst misstraute. Einfühlung erzeugt
verreckt ist« (GBA 3, S. 224), zeigen das. Sie ein ästhetisch beglaubigtes Wissen, ›wie es
sind sowohl Einverständnis mit ihrer Auslö- wirklich gewesen ist‹. Es ist die Gewissheit
schung wie zugleich Inkorporation einer Ge- der Legende, die besagt, wie das Geschehene
walt, die eigentlich die andern zu befürchten nachträglich zu lesen sei. So wird der arme
haben, nun aber nicht mehr fürchten müssen. Körper der Sterbenden vom Chor und den ein-
Mauler hatte davon zu Slift gesprochen: »die / zelnen Sprechenden (Snyder, Mauler) mit der
Werden uns, wo sie uns fassen / Auf die Pfla- Inschrift »Heilige Johanna der Schlachthöfe«
ster schlagen / Wie faulen Fisch« (S. 166). versehen, mit Tüchern drapiert und zum Ge-
Johanna wird wieder in die Uniform der genstand der Erfahrung des Erhabenen ge-
Schwarzen Strohhüte eingekleidet, sie be- macht. Deshalb müssen die Teilnehmer die
kommt ihre Suppe, die man sie ausschütten Gewalt, ihre Gewalttätigkeit, nicht weiter be-
lässt; man lässt sie reden, nur um sie mit Cho- denken, sondern können sie in der Gewalt
rälen zu überdröhnen. Am Ende gibt man ihr einer höheren Macht – der Kunstform – aufge-
die Fahne. Man macht aus ihrem Leichnam ein hoben sehen.
erhabenes Heiligtum. »Alle stehen lange in Mit dem dramaturgischen Kunstgriff des
sprachloser Rührung. Auf einen Wink Snyders Schlussakts gelingt also ein doppeltes: Zum
werden alle Fahnen sanft auf sie niedergelas- einen wird dargestellt, dass die sublime Ver-
sen, bis sie ganz davon bedeckt wird. Die Szene söhnungskraft der klassisch-idealistischen
ist von einem rosigen Schein beleuchtet.« (GBA Tragödie immer noch einem archaischen Ri-
3, S. 226) So vollzieht sich ein Reinigungs- tual untersteht, ein ambivalentes Objekt her-
prozess – »Ach, das Reine / Ohne Fehle / Un- zustellen, das alles Böse auf sich nimmt und
verderbte, Hilfsbereite« (ebd.) –, in dem die mit seiner Vernichtung die heil(ig)e Mitte der
Gemeinschaft von aller bösen Gewalt gereinigt wiederhergestellten Gemeinschaft repräsen-
einer sakralen Macht unterstellt wird und die tiert. Zum andern wird dargestellt – und auch
Gespaltenheit (der Gesellschaft wie der In- deshalb handelt es sich nicht bloß um eine
dividuen) als Normalität verewigt. Kunstparodie –, dass der in Szene 10 vorge-
Das Heilige und die Gewalt 285

führte Zynismus der Krisenlösung ohne sak- Ironisierung der Heiligsprechung kopiert er
rale Sinnstiftung nicht funktioniert. Schon den Schluss der Schiller‘schen Tragödie bis in
dort sagt Mauler, dass es ohne eine »Johanna« die Regieanweisungen und karikiert den
nicht geht (GBA 3, S. 216). Schluss von Goethes Faust II. Nur ist mit die-
Was im Stück gegen die sakrale Instrumen- ser forcierten Verfremdung nichts bewiesen.
talisierung der Johanna gesetzt wird, besteht Bewiesen ist vielmehr: Das Spiel wird mit je-
nun nicht darin, ihr im Schiller‘schen Sinn der neuen Krise sich wiederholen und mit je-
eine reine, unverstellte Stimme zu geben. Jo- der neuen Krisenlösung wieder in Gang ge-
hannas Schlussworte, bleiben böse, unrein, setzt.
orakelhaft. Erst recht ihr letzter Satz: »Es hilft In der Unmöglichkeit, das alte Spiel, als
nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und / Es wäre es das letzte Mal, mit Gewalt zu Ende
helfen nur Menschen, wo Menschen sind« spielen zu können und es ebenso wenig als
(GBA 3, S. 224). Der Satz imitiert die Schlüs- Endspiel vor-spielen zu können, gewahrt sich
sigkeit eines ›Syllogismus‹ und führt zugleich der Wille, den Weltlauf zu unterbrechen. Des-
das logische Schema ins Absurde. halb erschrickt Kunst über ihre Ohnmacht; in
B. hat auch später gern die Unmöglichkeit den Worten der Johanna: »Wieder beginnt das
eines nicht-paradoxen Endes zum Schluss sei- Lärmen der Betriebe, man hört es. / Und ver-
ner Stücke gemacht. Hier freilich ist die Para- säumt ist wieder / Ein Einhalt.« (GBA 3,
doxie besonders vertrackt. Denn beide Fälle – S. 221)
der Fall, dass Gewalt hilft, und der Fall, dass
nur Menschen helfen – schließen sich nicht
aus, sondern konvergieren darin, dass das
Handeln nur vom Menschen kommen kann, Inszenierungen
dessen Kenntlichkeit aber im Gewalt-Fall ge-
rade getilgt ist. Aus dieser Verstrickung in »fin- Die Uraufführung der Heiligen Johanna der
sterer Zeit, blutiger Verwirrung / […] / Ent- Schlachthöfe fand erst fast dreißig Jahre nach
menschter Menschheit« (GBA 3, S. 132 f., ihrer Entstehung (1959) am Hamburger
S. 215) – und so apokalyptisch ist der Zeit- Schauspielhaus statt (Regie: Gründgens, Büh-
raum, den das Stück aufreißt – rettet kein Ein- nenbild: Neher). B.s Interesse, das Stück nach
greifen Gottes. In den bei Bahr abgedruckten seiner Fertigstellung auf die Bühne zu bringen
früheren Entwürfen hatte B. als Mitspieler – es gab Absprachen mit Erwin Piscator, mit
»Gott« vorgesehen, der als »alter Herr« nicht Heinz Hilpert und mit Berthold Viertel –
mehr recht weiß, warum er für seine Schöp- wurde durch die sich verschärfende politische
fung verantwortlich gemacht wird, stattdessen Lage durchkreuzt. Der Versuch von Kurt
heimlich an der Börse zockt und Johanna lästig Hirschfeld, es Anfang 1933 am Hessischen
findet (Bahr, S. 125 f.). Landestheater Darmstadt herauszubringen,
Deshalb kommt es zu keinem anderen als wurde durch eine massive Presse- und Partei-
einem ästhetisch suspendierten Schluss. Da- kampagne gegen B. verhindert. Zustande kam
rüber, dass dieser Schluss sowohl in der lediglich 1932 in der Berliner Funkstunde eine
ökonomischen Krisenlösung wie in der Be- Hörspiel-Teilfassung. Den Briefen lässt sich
endigung der dramatischen ›story‹ eine entnehmen, wie B. im Exil immer wieder Auf-
Scheinlösung bleibt, will B. keinen Zweifel führungsmöglichkeiten suchte (Dänemark,
aufkommen lassen. Das macht auch das Pre- UdSSR, England, USA), letztlich ohne Erfolg.
käre des Schlusses aus. Als Gegentext zur Mit der umjubelten Gründgens-Inszenie-
Kanonisierung der Johanna unterlegt er rung, die zugleich den Streit um den Dichter
»Schreckensnachrichten der Lautsprecher« und Kommunisten B. neu entfachte, wurde die
den Chorälen der Herrschenden, so dass sie Heilige Johanna zu einem vielgespielten Stück
aus ihrer Rolle fallen und sich »wilde Be- auf deutschen und internationalen Bühnen.
schimpfungen« zuschreien (GBA 3, S. 225). Als Dokumente zur verhinderten Uraufführung
286 Die heilige Johanna der Schlachthöfe

vor 1933 sind bei Bahr (S. 211–231) abge- mit Gewalt zu bekämpfen ist, resignierte
druckt. Eine Zusammenstellung von Auffüh- Steckels Johanna in einem aus B.-Zitaten col-
rungsberichten, die den Zeitraum zwischen lagierten Monolog, der in Ratlosigkeit endete:
der Hamburger Uraufführung und der (nicht »Wer keine Hilfe weiß / Der schweige«.
minder legendären) Bochumer Fabrikauf- Im Schauspielhaus Zürich brachte Benno
führung (1979; Regie: Alois Kirchner) finden Besson, der das Stück schon früher mehrfach
sich bei Knopf (1986, S. 217–278). Weitere inszeniert hatte, angesichts der fusionsorien-
Theaterkritiken für den Zeitraum 1959 bis tierten Schweizer Wirtschaft eine scheinbar
1972 sind bei Herrmann (S. 93–120) doku- aktualisierte Johanna auf die Bühne von Ezzio
mentiert. Toffolutti, deren Zentrum vor blutrot verhäng-
Die folgenden Hinweise geben einen Ein- ten Wänden die Gesellschaftspyramide mit
blick in Inszenierungen des letzten Jahr- der Börse bildete. Die Arbeiter als unterste
zehnts. Eine auffällige Tendenz besteht in der soziale Schicht ragten gerade noch mit den
Aufwertung der Beziehung Mauler-Johanna, Köpfen aus dem Boden hervor: wie vergessene
welche die Ökonomiekritik in den Hinter- Lemurengestalten. Besson strich den General-
grund treten lässt und dem faustisch gespalte- streik und Johannas Gänge in die Tiefe. Das
nen Mauler einen mephistophelischen Slift an Ökonomische blieb ein Gedankenmodell: al-
die Seite stellt. Damit wird der Vorspruch der les ist falsch, alles ist unsicher. Die Kostüme
Versuche-Fassung, das Stück solle »die heutige waren grotesk wie im Stummfilm; die Figuren
Entwicklungsstufe des faustischen Menschen erschienen als Kunstcharaktere; am Ende sank
zeigen« (GBA 3, S. 128) eingelöst, allerdings Johanna kraftlos dahin.
nicht in dem dort gemeinten Sinne. Das Stadttheater St. Gallen zeigte die Hei-
Nachdem die Heilige Johanna 1993 und lige Johanna 1997/98 in einer gekürzten, mu-
1994 im Schauspielhaus Bochum unter der Re- sikalisch und rhythmisch zugespitzten Insze-
gie von Frank-Patrick Steckel (Übernahme der nierung von Dagmar Schlingmann. Das Büh-
Inszenierung von Niels-Peter Rudolph) ge- nenbild von Christiane Dressler symbolisierte
zeigt worden war, kehrte es nach Hamburg mit der Stufenbühne die Börse als Spitze der
zurück, wo es im Thalia-Theater von 1994 bis Gesellschaft und dem Abort der Arbeiter ganz
1997 (Regie: Ruth Berghaus) auf dem Spiel- unten. Bei ihm hatte Johanna sterbend das
plan blieb. Die Bühne von Erich Wonder glich letzte Wort, während ihre Apotheose durch
einer Fahrröhre des Elbtunnels, angereichert Mauler und die ›Soldaten Gottes‹ in einem
mit Autowracks, Fleischkonserven und ande- akustischen Tohuwabohu unterging.
rem Wohlstandsmüll. Berghaus machte aus Jo- Am Staatsschauspiel Dresden inszenierte
hanna und den Schwarzen Strohhüten Engels- Klaus-Dieter Kirst 1997–2000 die Heilige Jo-
gestalten und inszenierte das Schauspiel als hanna der Schlachthöfe auf einer von Hennig
Oper und Tanztheater (Musik: Thorsten Ot- Schaller gestalteten, oft in blutrotes Licht ge-
tersberg). Den Schluss bildete eine Art Myste- tauchten Bühne. Am Anfang jeden Bildes er-
rienspektakel, bei dem Johanna ihre Flügel, tönte die Musik von Eckehard Meyer und
die sie beim Verlassen der Strohhüte einbüßte, Singstimmen, die den Fortgang erzählten.
wieder zurückerhielt. An den Städtischen Bühnen Erfurt choreo-
1996 bis 1999 inszenierte Steckel am Burg- grafierte Irina Paul in der Inszenierung von
theater Wien das Stück im eigenen Bühnen- Pierre-Walter Politz (1997/98) einen Automa-
bild, in einer Kleiderwand. Seine stark überar- tentanz, der ebenso zur Verdeutlichung der
beitete Fassung vermied jede kommunisti- seelenlosen Produktionsvorgänge diente, wie
schen Parole. Steckel legte mehr Wert auf die die Filmprojektionen im Bühnenbild von Do-
Beziehung von Johanna und Mauler und we- rothea Mahr.
niger auf die gesellschaftliche und ökonomi- Im Staatstheater Braunschweig inszenierte
sche Kritik. So wurde auch der Schluss ge- Hansjörg Utzerath 1998/99 zur Musik von Pe-
strichen. Statt auszusprechen, dass Gewalt nur ter Vollhardt die Heilige Johanna mit Elemen-
Inszenierungen 287

ten der Revue und des Musicals inklusive Publikum, nicht zuletzt aufgrund der gesang-
Showtreppe und Radioreporter. lichen und schauspielerischen Leistungen der
In Holk Freytags Inszenierung am Theater Protagonisten sowie des überzeugenden Or-
der Landeshauptstadt Magdeburg 1998/99 war chesters, das dem Text nie in die Quere kam,
die Bühne ebenfalls in Oben und Unten ge- auf intensive Resonanz. Mit Fenigsteins Singe-
schieden, doch die Anweisungen von New spiel liegt nach dem Puntila von Paul Dessau
York kamen für Mauler von einem noch weiter (1957) und dem Baal von Friedrich Cerha
oben, direkt aus dem (Bühnen-) Himmel. (1981), neben den Originalopern, eine dritte
Freytag nahm radikale Kürzungen und Um- neue Brecht-Oper vor.
stellungen vor, so dass seine Johanna am Ende
nicht starb und nicht heilig gesprochen wurde.
Der Schluss war ein Rückgriff auf die Szenen, Literatur:
in der Johanna mit den Arbeitern auf dem Adorno, Theodor W.: Engagement. In: Ders.: Noten
Schlachthof wartet und ihnen dabei ihre Sicht zur Literatur III. Frankfurt a. M. 1965, S. 109–135. –
auf das gesellschaftliche System und seine Ders.: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 1966. –
Bahr, Gisela E.: Bertolt Brecht: Die heilige Johanna
Funktionen darlegt.
der Schlachthöfe. Bühnenfassung, Fragmente, Va-
Nicht als Oper, sondern bewusst als Singe- rianten. Frankfurt a. M. 1971. – Benjamin. – Benja-
spiel (so der Untertitel) hat Victor Fenigstein min, Walter: Zur Kritik der Gewalt. In: Ders.: Ge-
(Uraufführung 1986) das Stück vertont. Es ver- sammelte Schriften. Bd. II, 1. Hg. v. Rolf Tiedemann
zichtet auf das große Orchester und setzt statt- und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M.
dessen gezielt wenige Bläser, Violine, Kontra- 1978. S. 179–203. – Berger-Prößdorf, Tamara: Die
Funktion der Heilsarmeegeistlichen in den Dramen
bass, Gitarre, Banjo, Klavier, Akkordeon sowie
Brechts. New York 1993. – Colberg, Klaus: Die vero-
eine große Palette von Schlagwerk ein, so dass perte Agitation. Vertonung von Brechts »Heilige Jo-
die Musik den Text interpretiert und zu neuem hanna« in Augsburg. In: Allgemeine Zeitung
Verständnis verhilft. Er habe, so Fenigstein, (Mainz), 20. 12. 1986. – Deleuze, Gilles/Guattari,
den Text der WA »bis zum letzten Komma ge- Felix: Rhizom. Berlin 1977. – Fischer, Ullrich: Der
treu« (Koch) vertont. Die musikalischen Mittel Fortschritt im Jeanne d’Arc-Drama des 20. Jahr-
hunderts. Frankfurt a. M., Bern 1982. – Girard,
sind breit gestreut und mischen Tonalität und
René: Das Heilige und die Gewalt. Zürich 1987. –
A-Tonalität, konkret: Unterhaltungs- bzw. Große, Wilhelm: Bearbeitungen des Johanna-Stof-
Tanzmusik – z. B. trägt Johanna ihre Anfangs- fes. Dramatische Bearbeitungen insbesondere durch
predigt als flotten A-Dur-Tango vor –, Ele- Brecht. München 1980. – Hecht, Werner: Brecht im
mente des Jazz, der Zwölftonmusik (für den Gespräch. Diskussionen, Dialoge, Interviews.
Part des Mauler) mit Reminiszenzen an die Frankfurt a. M. 1975. – Herrmann, Hans-Peter:
Wirklichkeit und Ideologie. Brechts »Heilige Jo-
Musik Weills, Eislers und Dessaus. Die Verto-
hanna der Schlachthöfe« als Lehrstück bürgerlicher
nung kommt dadurch zu einer sehr genauen Praxis im Klassenkampf. In: Dyck, Joachim [u. a.]:
Differenzierung der Figuren. Der Gattungs- Brechtdiskussion. Kronberg/Taunus 1974, S. 52–
name »Singespiel« sei freilich, so wandte der 120. – Ketelsen, Uwe-K.: Kunst im Klassenkampf:
Musikkritiker Klaus Colberg ein, »bei diesem Die heilige Johanna der Schlachthöfe. In: Hinde-
respektablen Musikdrama eine glatte Tiefsta- rer, S. 106–124. – Knopf, Jan: Bertolt Brecht: Die
heilige Johanna der Schlachthöfe. Frankfurt a. M.
pelei«; es handele sich vielmehr um »ein mu-
1985. – Ders. (Hg.): Brechts ›Heilige Johanna der
sikdramatisches Opus von gediegener Kompo- Schlachthöfe‹. Frankfurt a. M. 1986. – Koch, Ger-
nistenhandschrift und von einer sich zuneh- hard R.: Die Predigt als Tango. Victor Fenigsteins
mend steigernden Suggestivität« (Colberg). »Heilige Johanna der Schlachthöfe« in Augsburg ur-
Die Uraufführung am Stadttheater Augsburg aufgeführt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
(Regie: Wolf Seesemann, Bühnenbild: Rainer 15. 12. 1986. – Langford, Barry Francis: The Confi-
nes of the Subject. Brecht and the Theory of Tragedy.
Sinell, Johanna: Verena Gohl, Mauler: Allan
New York: Columbia University 1995. – Lindner,
Evans, musikalische Leitung: Hans Norbert Burkhardt: Derrida. Benjamin. Holocaust. Zur poli-
Biehlmaier) fand nicht nur eine breite publizi- tischen Problematik der »Kritik der Gewalt«. In:
stische Beachtung, sondern stieß auch beim Zeitschrift für kritische Theorie 3 (1997), H. 5,
288 Die heilige Johanna der Schlachthöfe

S. 65–100. – Ders.: Das Messer und die Schrift: Für verfasst worden sei (vgl. S. 43). Die neuere
eine Revision der ›Lehrstückperiode‹. In: BrechtYb. Forschung setzt die Entstehung erster Ent-
18 (1993), S. 43–57. – Mayer, Hans: Außenseiter.
würfe 1930, die Hauptarbeitsphase 1931 an
Frankfurt a. M. 1975. – Menke, Christoph: Tragödie
im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach He- (vgl. Krabiel, S. 240; Hecht, S. 307).
gel. Frankfurt a. M. 1996. – Parmalee, Patty Lee: Auf der Suche nach Vorbildern für den zu
Brecht’s America. Ohio State University Press 1981. beschreitenden Weg zu großem zeitgenössi-
– Rülicke, Käthe: Zu Brechts »Die heilige Johanna schem Theater – so der von den Herausgebern
der Schlachthöfe«. In: Theater der Zeit (1961), H. 1, gewählte Titel eines 1930 entstandenen Manu-
S. 22–39. – Rülicke-Weiler, Käthe: Die Dramaturgie
skripts (GBA 21, S. 377–381) – erregte das
Brechts. Theater als Mittel der Veränderung. Berlin
1966. – Schiller, Friedrich: Über den Gebrauch des »›asiatische‹ Vorbild« (S. 380) B.s Aufmerk-
Chors in der Tragödie. In: Sämtliche Werke. Hg. v. samkeit. Hauptmann, die bereits Arthur Wa-
Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Bd. 2. Mün- leys englische Übersetzungen japanischer Nô-
chen 1965, S. 815–823. – Schoeps, Karl-Heinz: Ber- Spiele ins Deutsche übertragen hatte, gab mit
tolt Brecht und Bernard Shaw. Bonn 1974. – Schulz, ihrer deutschsprachigen, nach einer französi-
Gudrun: Die Schillerbearbeitungen Bertolt Brechts.
schen Übersetzung angefertigten Fassung ei-
Eine Untersuchung literarhistorischer Bezüge im
Hinblick auf Brechts Traditionsbegriff. Tübingen nes aus dem Chinesischen stammenden Stücks
1972. – Schumacher, Ernst: Die dramatischen Ver- den entscheidenden Anstoß für B.s Beschäfti-
suche Bertolt Brechts 1918–1933. Berlin 1955. – Se- gung mit einem Stoff, aus dem dann Die Aus-
liger, Helfried W.: Das Amerikabild Bertolt Brechts. nahme und die Regel hervorging. Hauptmanns
Bonn 1974. – Steiner, George: The Death of Tragedy. Anteil an diesem Lehrstück ging zweifellos
London 1961. – Szondi, Peter: Versuch über das Tra-
über die Bereitstellung einer zu bearbeitenden
gische. Frankfurt a. M. 1961. – Turk, Horst: Naives
oder sentimentalisches Theater? Das Verhältnis Vorlage hinaus; sie selbst bezeichnete Die Aus-
Brechts zu Schiller. In: Valentin, Jean-Marie (Hg.): nahme und die Regel als eines von jenen Stü-
Bertolt Brecht. Colloque de Paris 1988. Bern [u. a.] cken, bei denen sie »weitgehend am Text be-
1990, S. 181–202. – Voigts, Manfred: Brechts Thea- teiligt war« (vgl. Kebir, S. 237).
terkonzeptionen. Entstehung und Entfaltung bis Bei der vermeintlich »nicht ermittelten fran-
1931. München 1977.
zösischen Vorlage« von Hauptmanns Übertra-
Burkhardt Lindner gung (Hecht, S. 278) unter dem Titel Die zwei
Mantelhälften (Inhalt bei Tatlow, S. 271–273)
handelt es sich um Ho-Han-Chan, ou La tu-
nique confrontée aus dem 1838 in Paris er-
Die Ausnahme und die schienenen Band Théâtre chinois: ou, choix de
pièces de théâtre composées sous les empereurs
Regel mongols von M. [Antoine-Pierre-Louis] Bazin
ainé (S. 271). Zunächst bearbeiteten B., Emil
Burri und Hauptmann – beide werden als Mit-
Die Entstehungsgeschichte des Stücks ist nicht arbeiter genannt (vgl. GBA 3, S. 236) – in der
in allen Einzelheiten geklärt. Der Erstdruck in für B. charakteristischen kollektiven Arbeits-
Heft 9 der Moskauer Zeitschrift Internationale weise (vgl. Steinweg, S. 67) Hauptmanns
Literatur vom September 1937 trägt den pa- Übersetzung unter wechselnden Titeln (vgl.
renthetischen Vermerk »geschrieben 1930«, Hecht, S. 307) wie Wer wen? Die Geschichte
und die Erinnerung von B.s Mitarbeiterin Eli- einer Reise. Das Lenin-Zitat »wer wen?« deu-
sabeth Hauptmann, dass die Arbeit an der tet auf den allen Umformungen der Zwei Man-
Maßnahme sich »vermutlich« mit der an Die telhälften zugrunde liegenden Klassenantago-
Ausnahme und die Regel überschnitten habe nismus hin. In dem aus dem 13. Jh. stammen-
(vgl. Steinweg, S. 66 f.), legt ebenfalls einen den chinesischen Drama dagegen spielt das
zumindest vorläufigen Arbeitsabschluss im Sozialgefälle keine große Rolle, da sowohl der
Jahre 1930 nahe. B. selbst dagegen vermerkte Übeltäter wie die Familie, deren Ruin er ver-
in einer undatierten Notiz, dass das Stück 1931 schuldet hat, aus dem Kaufmannsmilieu stam-
Entstehung 289

men, und der Bösewicht nach zahlreichen nen mit einem Teil von Die Ausnahme und die
Komplikationen und unerhörten Zufällen im Regel verwendete B., als er sich zwischen 1934
Namen »unparteiischer Gerechtigkeit« (GBA und 1936 in verschiedenen Arbeits- und Ex-
3, S. 471) die verdiente Strafe erhält. Dabei perimentierphasen erneut mit dem Stück be-
dienen die Hälften eines vor langen Jahren schäftigte. Vermutlich um den Lehrstückcha-
geteilten Mantels als Erkennungszeichen und rakter hervorzuheben, führte er um 1934 zwei
ermöglichen das glückliche Ende. Chöre ein, welche die produktive Teilnahme
Es waren wohl vor allem zwei Gesichts- zahlreicher Laienspieler und -sänger an den
punkte der Zwei Mantelhälften, die B. zum Aufführungen ermöglichen sollten, strich aber
produktiven Widerspruch reizten, nämlich die Chöre vor der Erstveröffentlichung 1937
zum einen die Prämisse des chinesischen und rückte damit Die Ausnahme und die Regel
Stücks, dass menschliche Eigenschaften wie wieder stärker in die Nähe des epischen Thea-
Undankbarkeit und Bosheit naturgegeben und ters. Weitere Drucke – 1938 in Band 2 der beim
nicht gesellschaftlich bedingt seien; zum an- Malik-Verlag in London erschienenen Gesam-
deren die Annahme, dass in einer soziale Un- melten Werke und 1950 als 24. Versuch in Heft
gerechtigkeit als Norm produzierenden und 10 der Versuche – weisen nur geringe Verände-
akzeptierenden Klassengesellschaft ein Zu- rungen auf, so dass das Stück trotz zahlreicher
stand der Gerechtigkeit hergestellt werden Wandlungen nur in einer Fassung publiziert
könne. Folglich verwandelte B. den verarm- vorliegt.
ten, betrügerischen Kaufmann in einen Kuli, Die Ausnahme und die Regel beginnt mit
der seinen reichen Wohltäter schließlich töten einem von den »Spielern« gesprochenen Pro-
und in zwei Prozessen, vor einem bürgerlichen log, in dem sie die »Geschichte einer Reise«
und einem Sowjetgericht, Rechenschaft able- ankündigen und zugleich dazu auffordern,
gen sollte (vgl. Krabiel, S. 240 f.). »das Verhalten dieser Leute« – eines Ausbeu-
In den weiteren Plänen führte die Umkeh- ters und zweier Ausgebeuteter – genau zu be-
rung dieser Konstellation zu dem Kernmotiv trachten und »befremdend, wenn auch nicht
des Stücks, wie es schließlich ausgearbeitet fremd. / Unerklärlich, wenn auch gewöhnlich«
wurde: Jetzt tötet der Reiche den Kuli, weil er zu finden (GBA 3, S. 237). Dieser Appell an die
dessen nicht zu erwartende Geste der Wohltä- Zuschauer, eine kritische Rezeptionshaltung
tigkeit als – durchaus zu erwartenden – plötzli- einzunehmen, nimmt bereits Züge der später
chen Angriff interpretiert. B. hatte sich damit von B. entwickelten Verfremdungstheorie vor-
weit von der chinesischen Vorlage entfernt und weg, die das Alltägliche und Normale durch
die Handlung in die Gegenwart verlegt; außer Ansiedlung in einem für ein deutsches oder
der »aggressiven Reaktion auf eine wohlge- europäisches Publikum fremden Milieu dem
meinte Handlungsweise« und der »gerichtli- distanzierten, misstrauischen Blick aussetzen
chen Beurteilung des Falles« (Krabiel, S. 242) will. Die Reise findet statt in einer »Zeit blu-
blieben auch die Motive der Reise, der Flussü- tiger Verwirrung / Verordneter Unordnung,
berquerung und der Rechtsprechung erhalten. planmäßiger Willkür / Entmenschter Mensch-
Die Einbeziehung Burris, der im B.-Kreis als heit« (ebd.), eine Formulierung, die B. schon
Mitarbeiter für epische Schaustücke galt, lässt in der Heiligen Johanna der Schlachthöfe ver-
vermuten, dass Die Ausnahme und die Regel wendet hatte (vgl. GBA 3, S. 132 f., S. 215), um
ursprünglich nicht als Lehrstück geplant war den Zustand der kapitalistischen Gesellschaft
(vgl. Krabiel, S. 240). Als solches wurde das zu charakterisieren. In Die Ausnahme und die
Stück jedoch im Sommer 1931 angekündigt. Regel reduzierte B. die höchst komplexen Aus-
Die vorgesehene Veröffentlichung scheiterte, beutungs- und Abhängigkeitsverhältnisse der
da Ende Januar 1933 der Druck des Versuche- Heiligen Johanna auf ein einfaches Schema
Hefts 8 beim Kiepenheuer-Verlag von den Na- und begnügte sich mit einer begrenzten An-
tionalsozialisten gestoppt und der Satz ver- zahl von Figuren, einer überschaubaren Fabel
nichtet wurde. Die (erhaltenen) Korrekturfah- und verlegte den Ort der Handlung aus dem
290 Die Ausnahme und die Regel

Großstadtdschungel Chicagos in eine etwas gangenen Straße« beginnt die eigentliche, die
exotische, primitive Region ohne konkrete »menschenleere Wüste Jahi« (S. 239), ein
geographische Lokalisierung. Urga, der End- Raum, in dem es keine die ausbeuterische
punkt der Reise, ließe sich zwar mit dem heu- Ordnung aufrecht erhaltenden Polizisten mehr
tigen Ulan-Bator in der Mongolei identifizie- gibt (Szene 2). Der Kaufmann fürchtet, dass
ren, aber die Station Han, die Wüste Jahi und sich Führer und Kuli in der Ausnahmesitua-
der Fluss Myr dienen als fiktive Markierungen tion – fehlende institutionelle Absicherung
der Reiseroute. Dem Verzicht auf einen loka- seiner Macht und extreme klimatische Verhält-
lisierbaren Handlungsort entspricht die Ty- nisse, die das Überleben vom Auffinden der
penhaftigkeit der Figuren, die fast durchweg spärlichen Wasserlöcher abhängig machen –
durch ihre Berufe – Kaufmann, Führer, Kuli, gegen ihn verbünden werden. Als seine An-
Polizist, Wirt, Richter –, die zugleich ihre ge- biederungsversuche bei dem Führer, die den
sellschaftliche Position determinieren, ge- Kuli isolieren sollen, scheitern, entlässt er den
kennzeichnet werden; nur der Kaufmann Karl Führer unter einem Vorwand. In einem Ge-
Langmann stellt sich in direkter Wendung an spräch mit dem Führer über den Zweck der
das Publikum mit seinem Namen vor (GBA 3, Reise zitiert der Kuli die Ansicht des Kauf-
S. 237). Die Typenhaftigkeit der Figuren weist manns, dass die Erschließung von Ölquellen
auf die Modellhaftigkeit der Vorgänge und ih- zu »Eisenbahnen« und »Ausbreitung von Wohl-
ren Parabelcharakter hin. stand« führen würde (vgl. S. 240 f.). Freilich
Die dem Prolog folgenden sieben Szenen sieht der Kuli in dieser Entwicklung eine
führen die Reise vor, deren Folgen in der ab- Bedrohung seiner durch eine vorindustrielle
schließenden Gerichtsszene zusammengefasst Entwicklungsphase geprägten ökonomischen
und bewertet werden. Zu Beginn hasten ein Existenz, die ihn nicht befähigt, ein mehr als
Kaufmann, sein wegkundiger Führer und ein rudimentäres Klassenbewusstsein zu entwi-
lastentragender Kuli durch die Wüste, um die ckeln. Folglich steht er dem angekündigten
in Sichtweite folgenden Konkurrenten beim technologischen und ökonomischen Fort-
Erwerb einer Ölkonzession zu schlagen. Es schritt furchtsam gegenüber und begreift
geht um den »Konkurrenzkampf – vorgeführt nicht, dass dieser Fortschritt zugleich Voraus-
als Wettlauf in der Wüste« (Krabiel, S. 244), setzung sozialer Wandlungen ist. B.s Text
denn »Wer zuerst ankommt, macht das Ge- weicht daher dem Zusammenhang von tech-
schäft.« (GBA 3, S. 237) Diese Formulierung nischer und sozialer Entwicklung nicht aus
wandelt der Kaufmann, der in seiner Selbst- (vgl. dagegen Krabiel, S. 245), wenn der Füh-
einführung seine »Schlauheit«, »Energie« und rer dem Kuli erklärt, dass der Kaufmann ledig-
»Unerbittlichkeit« gegen sein Personal hervor- lich das »Schweigegeld« (GBA 3, S. 241) wolle,
hebt (ebd.), am Schluss der Szene ab, indem er das er für die Nichtausbeutung der Ölquellen
singt: »Der schwache Mann bleibt zurück und bekäme, um den Preis durch Reduzierung des
der starke kommt an.« (S. 238) Die sehr freie Angebots hochzutreiben. Vielmehr zeigt der
Verwendung von Versen Rudyard Kiplings baut Text, dass der im eigenen und im Klassen-
auf dem Gegensatz schwach-stark auf, ver- interesse handelnde Kaufmann sowohl die
kehrt aber die Intention Kiplings in ihr Gegen- technische wie die darauf basierende soziale
teil, da des Kaufmanns Stärke nicht auf eige- Enwicklung zu verhindern sucht (Szene 3).
nem Verdienst, sondern auf der Ausbeutung Während der Weiterreise »in einer gefähr-
der Kenntnisse und Arbeitsleistung der von lichen Gegend« (GBA 3, S. 244) ist der ge-
ihm Abhängigen beruht. Seine Position der schundene Kuli – für den Kaufmann unver-
Stärke versucht er dadurch abzusichern, dass ständlich – guter Dinge, weil er, wie er im
er die Aufgabe, den Kuli mit Schlägen anzu- »Urga Song« (Ferran, S. 231) mitteilt, auf Lohn
treiben, dem Führer zuweist – der aber solida- und Erholung hofft und sich auf seine Familie
risiert sich heimlich mit dem Kuli (Szene 1). freut. Das Verhalten des politisch naiven Kulis
Hinter der Station Han am Ende der »vielbe- erhöht das Misstrauen des vom Klasseninter-
Verlauf 291

esse geleiteten Kaufmanns, so dass er sogar den Absichten des von ihm misshandelten Ku-
Vorsichtsmaßnahmen des Kulis wie das Ver- lis geplagt: »Er kann mir doch nicht vorma-
wischen der Fußspuren, die die Aufmerksam- chen, daß er sich das alles gefallen läßt!« (GBA
keit von Räubern erregen könnten, mit Arg- 3, S. 249). Nachdem sie den Weg verloren ha-
wohn beobachtet (Szene 4). Am »reißenden ben (Szene 7a), erkennt der Kaufmann zu spät,
Fluß« Myr (S. 245), der nur unter Lebensge- dass er den Kuli »in dieser Lage« nicht hätte
fahr zu überqueren ist, versucht der Kaufmann schlagen dürfen (S. 251). Als der Kuli – nicht
den Kuli durch den Hinweis darauf, »daß der aus menschlichen Erwägungen, sondern aus
Menschheit ein Dienst erwiesen wird, wenn Furcht vor Bestrafung, wenn man ihn selbst
das Öl aus dem Boden geholt wird« (ebd.), zu lebendig, den Kaufmann aber »halb ver-
der gefährlichen Aufgabe zu motivieren. Als schmachtet« (S. 251) fände – dem Kaufmann
der Kuli zögert, beschuldigt er ihn, aus »nie- eine ihm vom Führer auf der Station Han zuge-
deren, gewinnsüchtigen Erwägungen« (S. 246) steckte Wasserflasche hinhält, meint dieser,
zu handeln – d. h. die Reise zu verlängern, um der Kuli wolle ihn mit einem Stein erschlagen
mehr Lohn einstreichen zu können. Mit sei- und erschießt ihn (Szene 7c). Vor der abschlie-
nem zweiten Song, der trotz der einfachen ßenden Gerichtsszene singen die Spieler das
Sprache seinen Bewusstseinshorizont über- »Lied von den Gerichten« (S. 252), das die zu
steigt, antwortet der Kuli auf die »ideologische erwartende Art der Rechtsprechung kommen-
Verbrämung« (Krabiel, S. 246) materieller In- tiert und in einen über den Einzelfall hinaus-
teressen durch den Kaufmann, indem er auf gehenden Zusammenhang stellt. Vor Gericht
ihre prinzipiell unterschiedliche Stellung ver- verlangt die Witwe des Kulis, den Kaufmann
weist: »Ach! Aus dem gemeinsam besiegten als »Mörder« (S. 253) ihres Mannes zu bestra-
Fluß / Steigen nicht zwei Sieger. / […] / Wir fen, und macht einen Schadenersatzanspruch
erringen den Sieg / Und du besiegst mich.« geltend, den der Richter als Motiv der Klage in
(GBA 3, S. 246 f.) Schließlich zwingt der Kauf- einer von materiellen Interessen beherrschten
mann den Kuli mit dem Revolver, den Fluss zu Gesellschaft ausdrücklich anerkennt – darin
durchschwimmen (Szene 5); dass sich der Kuli dem freilich auf der Seite der Unterdrückten
dabei den Arm bricht, dient gleichsam als Be- und Rechtlosen stehenden Azdak im Kaukasi-
stätigung seiner Einsicht, dass es auch beim schen Kreidekreis nicht unähnlich (vgl. GBA 8,
Kampf mit den Naturgewalten nur einen Sie- S. 178). Der Kaufmann stellt die Tötung des
ger geben kann. In dem auf verschiedenen Kulis als Notwehr dar, bestreitet aber, ihn
Kipling-Gedichten basierenden Song »Der misshandelt zu haben, und kann daher nicht
kranke Mann stirbt und der starke Mann ficht« plausibel machen, warum der Kuli ihn hätte
(S. 248) stellt der Kaufmann das Verhältnis angreifen sollen. Erst eine zynische Erklärung
zwischen Herr und Knecht als Teil der von ihm des Richters veranlasst ihn, die Misshandlung
bejahten, als göttlich legitimierten Ordnung des Kulis einzugestehen, um seine Reaktion zu
dar: »Und der Gott der Dinge, wie sie sind, begründen. Der Führer, der sich der nachfol-
schuf Herr und Knecht! / Und das war gut so.« genden Expedition angeschlossen und bei dem
(ebd.) Auf die von Hegel in der Phänomeno- toten Kuli die ihm ehemals überlassene Fla-
logie des Geistes (1807) erörterte Herr-Knecht- sche, die vermeintliche Mordwaffe, gefunden
Problematik – der Herr ist von der Arbeit des hatte, glaubt mit ihr nun die »Unschuld« (GBA
Knechts abhängig und in seinem Sein bedroht, 3, S. 256) des Kulis beweisen zu können, aber
wenn der Knecht sich nicht mehr unterwirft das Gericht kann nicht akzeptieren, dass der
und seine Arbeit aufkündigt – hat B. sich wie- Kuli aus »Menschlichkeit« oder »Dummheit«
derholt bezogen, etwa in Herr Puntila und sein (S. 257) – beide Begriffe werden in einer die
Knecht Matti. Anders als Matti aber begehrt »Menschlichkeit« gering achtenden Gesell-
der Kuli nicht auf, und trotzdem ist der Kauf- schaft synonym verwendet – dem Kaufmann zu
mann, der sich immer seiner Rolle als Aus- trinken geben wollte. Die vom Richter wieder-
beuter bewusst ist, von Misstrauen gegenüber holt beschworene »Vernunft« (S. 258, S. 259)
292 Die Ausnahme und die Regel

gebietet es Ausbeutern und Ausgebeuteten, der Perspektive naiver Leser oder Zuschauer
sich an die Regeln der Klassengesellschaft zu erscheine die zu vermittelnde »Lehre« (»les-
halten, wie der Kaufmann feststellt. In Anleh- son«) anhand der Verhaltensweisen der drei
nung an das Alte Testament präzisiert der Hauptfiguren und insbesondere des Kulis
Richter den Inhalt der Regel in einem Song: nicht stichhaltig – ein Einwand, der ähnlich
»Die Regel ist: Auge um Auge! / Der Narr schon 1960 formuliert wurde. So heißt es über
wartet auf die Ausnahme.« (S. 258) In einer den Kuli: »Auch der Vertreter der Ausnahme
»gestischen Arie« (Ferran, S. 236) kommen- handelt nämlich im Grunde nach der ›Regel‹:
tiert der Führer »verbittert« (ebd.) die Ausle- er reicht dem Kaufmann seine Wasserflasche
gung der Regel durch den Richter: »In dem ja nicht aus reiner uneigennütziger Freund-
System, das sie gemacht haben / Ist Mensch- lichkeit oder Nächstenliebe, sondern aus Vor-
lichkeit eine Ausnahme. / Wer sich also sicht, Angst und Berechnung« (Lazarowicz,
menschlich erzeigt / Der trägt den Schaden S. 250). Aber der Verlauf der Gerichtsszene
davon.« (GBA 3, S. 258) Freilich irrt der Füh- zeigt, dass der Richter das Verhalten des Kulis
rer, wenn er dem Kuli altruistische Motive – gleichgültig, aus welchen Motiven es erfolgt
unterstellt; die »Ausnahme« in der Handlung – als »Ausnahme« wertet und den Freispruch
des Kulis besteht darin, dass er dem Kaufmann des Kaufmanns damit begründet. Zwar lässt
das Wasser aus Gründen der Selbsterhaltung sich der Führer bei seiner Aussage vor Gericht
anbietet. und seinem Eintreten für den Kuli trotz der
Der Urteilsspruch bestätigt das Vorherr- wahrscheinlichen Konsequenzen (vgl. GBA 3,
schen der Klassenjustiz und das Auseinander- S. 253, S. 258) von genau den menschlichen
klaffen von Rechtsprechung und Gerechtig- Erwägungen leiten, die er fälschlich dem Kuli
keit; von einem unabhängigen, objektiven und zuschreibt. Trotzdem ist nicht einzusehen,
gerechten Gericht kann keine Rede sein. Der dass darin eine Verletzung der nicht von ihm
Richter weist die Klage der Witwe ab und aufgestellten und akzeptierten »Regel« (vgl.
spricht den Kaufmann frei, da er »in berech- Brown, S. 123 f.) liegen soll. Denn der Führer,
tigter Notwehr« gehandelt habe, »gleichgültig, der im Gegensatz zum Kuli wahrscheinlich
ob er bedroht wurde oder nur sich bedroht Mitglied einer »Gewerkschaft« (vgl. GBA 3,
fühlen mußte« (GBA 3, S. 259). Der Epilog S. 254) und daher nicht völlig rechtlos ist, übt
nimmt den Appell des Prologs an die Zu- aufgrund seines entwickelteren politischen
schauer, sich in einer kritischen Haltung zu Bewusstseins Solidarität mit dem Kuli noch
üben, wieder auf; zusätzlich enthält er eine über dessen Tod hinaus – selbst um den Preis,
Aufforderung zum Handeln: »Was die Regel auf die »schwarze Liste« (S. 253) gesetzt zu
ist, das erkennt als Mißbrauch / Und wo ihr werden und keine Arbeit mehr zu bekommen.
den Mißbrauch erkannt habt / Da schafft Ab- Schließlich mache sich auch der Kaufmann
hilfe!« (S. 260) der Verletzung der »Regel« schuldig, da er zwi-
Die Zahl größerer Abhandlungen über Die schen Unbesiegbarkeits- und Verfolgungs-
Ausnahme und die Regel ist beschränkt. Das wahn schwanke, sich daher zu Handlungen
Stück wird im Allgemeinen dem Typ »Lehr- hinreißen lasse, die fast als selbstmörderisch
stück« zugeordnet, wobei es »insofern eine zu bezeichnen seien und jede Chance, das
neue Variante im Lehrstückkomplex« dar- Wettrennen um die Ölkonzession zu gewinnen
stelle, als es »weniger für Laienchöre als für (der Kaufmann ist am Ende ruiniert), zunichte
Laienspieler geeignet« (Krabiel, S. 242) sei. Es machten (vgl. Brown, S. 126). Gegen die Eti-
handele sich »um Kunst für Laien« und »das kettierung des Führers und des Kaufmanns als
Lernen durch Selberspielen [bleibt] Übungs- »Ausnahme«-Figuren spricht, dass die beiden
zweck« (ebd.; vgl. dagegen Steinweg 1995, »Titelbegriffe« der »Klassenkampf-Parabel«
S. 113). Neuerdings werden Zweifel an der Die Ausnahme und die Regel »den Figuren
Gültigkeit der Prämisse von »Ausnahme« und Kuli und Kaufmann zugeordnet« sind: »Letz-
»Regel« angemeldet (vgl. Brown, S. 122). Aus terer folgt der Regel der Klassengesellschaft
Rezeption 293

(›Auge um Auge‹), der Kuli dagegen nicht« Deutschland und Frankreich beteiligt gewe-
(Krabiel, S. 409, Anm. 27). sen war, erarbeiteten 80 Arbeiter des Stahl-
Unter den schwierigen Bedingungen des werks Terni in der Region Umbrien während
Exils fand die Uraufführung nicht in deutscher, eines Weiterbildungsurlaubs, den sie sich
sondern in hebräischer Sprache statt, am 1. 5. durch Gewerkschaftsaktionen erstritten hat-
1938 im Kibbuz Givath Chajim im damaligen ten, in einem Seminar eine Aufführung, die
britischen Mandatsgebiet Palästina (vgl. Wyss, mehrfach gezeigt wurde. Diese Arbeit wurde
S. 182 f.). Die Musik hierzu schrieb der aus 1976 von Besson und Matthias Langhoff in
Bulgarien eingewanderte Nissim Nissimov Berlin mit aus volkseigenen Betrieben »dele-
(vgl. Lucchesi/Shull, S. 506–515). Trotz an- gierten« Arbeitern und Angestellten fortge-
fänglicher Widerstände gegen das Stück eines setzt. Es ging um die Frage, ob »dieses Stück
deutschen Autors hatte die Aufführung großen nach 46 Jahren in einer veränderten Ge-
Erfolg und wurde auch in anderen Orten ge- sellschaftsformation, im Sozialismus, noch
zeigt. Von 1945 bis zum Tod B.s sind elf In- brauchbar ist, ob es hier, in der DDR zu ver-
szenierungen an Berufs- und Laientheatern nünftigen Gedanken führen kann« (Tasche,
nachweisbar (vgl. GBA 3, S. 475 f.), darunter S. 13); das Experiment fand nur geringe Reso-
die eines deutsch-französischen Tournee-En- nanz. Gewissermaßen das westliche Gegen-
sembles in der von B. angeregten Vertonung stück zum Ostberliner Versuch, Situationen
Paul Dessaus, mit dem er seit 1943 häufiger des Lehrstücks durchzuspielen, um Denk- und
zusammenarbeitete. B. selbst trug dazu bei, Verhaltensweisen zu überprüfen, bildete die
dass Die Ausnahme und die Regel zu einem Inszenierung des Wannseeheims für Jugend-
seiner bekanntesten und meistgespielten arbeit e. V. in Westberlin Mitte der 70er-Jahre,
Stücke wurde; wiederholt empfahl er es Schü- in der die Szene in die Zirkusmanege verlegt
lern, Übersetzern und Lehrern, die sich mit wurde und der Kuli als Clown auftrat (vgl.
der Bitte um die Erlaubnis zur Aufführung sei- Binnerts). In ähnliche Richtung tendierte die
ner Stücke an ihn gewandt hatten (vgl. Hecht, von dem chilenischen Regisseur Carlos Me-
S. 844; GBA 30, S. 307, S. 422, S. 447). Nur dina geleitete Aufführung am Berliner Ensem-
wenige Wochen nach B.s Tod erfolgte am 30. 9. ble, die am 10. 2. 1980 Premiere hatte und als
1956 die Düsseldorfer Inszenierung (Regie: sportlicher Wettkampf mit starken theatrali-
Hansjörg Utzerath), die einen »Durchbruch im schen Effekten dargeboten wurde. Auch in den
deutschsprachigen Raum« erbrachte, obwohl 90er-Jahren hat das Stück nicht an Interesse
sie, der Mentalität der Wirtschaftswunder- verloren. Beispielsweise befassten sich 1998
jahre in der Bundesrepublik entsprechend, die Schülerinnen und Schüler des Aldegrever-
im Stück artikulierten »gesellschaftlichen Pro- Gymnasiums in Soest mit Die Ausnahme und
bleme ins Existentielle« umbog (Krabiel, die Regel, weil sie sich »aufgefordert« fühlten,
S. 254). Eine Vielzahl von Aufführungen von »über falsch und richtig, gerecht und unge-
Laienspielgruppen wie von Berufstheatern recht nachzudenken und den trügerisch-ein-
folgte sowohl in beiden Teilen Deutschlands deutigen Zusammenhang von Regel und
wie im Ausland. Ausnahme in Frage zu stellen« (Website des
In Italien fand mit Die Ausnahme und die Gymnasiums).
Regel, nach einer streng durchstilisierten In- Eine relativ hohe Zahl von Inszenierungen
szenierung von Giorgio Strehler, die am 12. 5. lässt sich in Afrika, Asien und Lateinamerika
1962 am Mailänder Piccolo Teatro Premiere feststellen (vgl. die Theatrographie in: Brecht
hatte, 1975 der erste Versuch statt, die von 80, S. 261–285). Obwohl nicht immer der »an-
Reiner Steinweg seit Anfang der 70er-Jahre tiimperialistische Lehrgehalt« (GBA 3, S. 476)
verbreitete B.sche Lehrstücktheorie praktisch für die Wahl des Stücks ausschlaggebend ge-
zu erproben. Unter der Leitung von Benno wesen sein dürfte, griffen progressive Thea-
Besson, der bereits in den 50er-Jahren als terleute und Laien bei ihren Bestrebungen um
Schauspieler an Aufführungen des Stücks in die Herstellung demokratischer Verhältnisse
294 Die Ausnahme und die Regel

auf B. zurück. Ein instruktives Beispiel liefern S. 7–40. – Tatlow, Antony: The Mask of Evil. Brecht’s
die Aufführungen von Die Ausnahme und die Response to the Poetry, Theatre and Thought of
China and Japan. A Comparative and Critical Eva-
Regel, die 1976 in Thailand stattfanden, wo sie
luation. Bern [u. a.] 1977. – Wyss.
– unter Anknüpfung an einheimische Theater-
traditionen – der politischen Bildung und Auf- Siegfried Mews
klärung durch den Versuch der Überwindung
der Distanz zwischen Zuschauern und Laien-
darstellern mittels intensiver Diskussionen
dienten (vgl. Nagavajara). Weniger ausführ-
lich dokumentiert und kommentiert sind In-
Die Mutter
szenierungen in verschiedenen Ländern La-
teinamerikas (vgl. Pianca, S. 363, S. 376) und
in Japan (vgl. Bodden, S. 381); die Erfassung Lernprozess einer Frau
der Aufführungen auf globaler Basis ist lü-
ckenhaft.
In seinem zuerst in den USA veröffentlichten
Roman Mother, der dem gleichnamigen Stück
Literatur: zugrunde liegt, erzählt Maxim Gorki die Ge-
Binnerts, Paul u. a.: Die Ausnahme und die Regel. schichte der russischen Arbeiterfrau Pelageja
Ein Versuch mit dem Lehrstück von Bertolt Brecht. Wlassowa. Sie lebt unter schwierigsten Be-
Berlin 1977. – Bodden, Michael: Brecht in Asia: New dingungen und kann ihrem Mann, einem Al-
Agendas, National Traditions, and Critical Con-
koholiker, den Lebensunterhalt nicht mehr si-
sciousness. In: Mews, Siegfried (Hg.): A Bertolt
Brecht Reference Companion. Westport/Connecti- chern. Nach seinem frühen Tod bemerkt die
cut, London 1997, S. 379–397. – Brecht 80. Brecht in Mutter, dass auch ihr Sohn Pawel diesem Las-
Afrika, Asien und Lateinamerika. Dokumentation. ter verfallen ist. Zu ihrer Überraschung gibt
Berlin 1980. – Brown, Russell E.: Bertolt Brecht’s er plötzlich das Trinken auf, um stattdessen
Die Ausnahme und die Regel. It doesn’t say what it abends in merkwürdigen Büchern und Zeit-
says it says. In: Ders.: Intimacy and Intimidation.
schriften zu studieren. Neue Freunde, von de-
Three Essays on Bertolt Brecht. Stuttgart 1990,
S. 119–134. – Ferran, Peter W.: Music and Gestus in nen sie bislang nicht wusste, kommen zu Be-
The Exception and the Rule. In: BrechtYb. 24 (1999), such. Allmählich begreift die Mutter, dass sie
S. 227–239. – Hecht. – Kebir, Sabine: Ich fragte alle wie ihr Sohn der illegalen Gruppe der
nicht nach meinem Anteil. Elisabeth Hauptmanns Sozialisten angehören. Pelageja Wlassowa
Arbeit mit Bertolt Brecht. Berlin 1997. -Krabiel. – lehnt deren revolutionären Ziele zunächst
Lazarowicz, Klaus: Herstellung einer praktikablen
strikt ab, erkennt dann aber, dass allein durch
Wahrheit. Zu Brechts Die Ausnahme und die Regel.
In: Literaturwissenschaftliches Jb. N. F. 1 (1960), Beten die Lage der Arbeiter nicht zu verbes-
S. 237–258. – Lucchesi/Shull. – Lyon, James K.: sern ist. Schritt für Schritt wächst ihre Bereit-
Bertolt Brecht und Rudyard Kipling. Frankfurt a. M. schaft, den Revolutionären zu helfen. Als ihr
1976. – Nagavajara, Chetana: Brecht’s Reception in Sohn verhaftet wird, übernimmt sie für ihn die
Thailand: the Case of Die Ausnahme und die Regel. Verteilung von Flugblättern. Ebenso springt
In: Monatshefte 75 (1983), S. 46–54. – Pianca, Ma-
sie als Trägerin der roten Fahne ein, als Pawel
rina: Brecht in Latin America: Theater Bearing Wit-
ness. In: Mews, Siegfried (Hg.): A Bertolt Brecht bei einer Maidemonstration erneut festge-
Reference Companion. Westport/Connecticut, Lon- nommen wird. Die Verteidigungsrede ihres
don 1997, S. 356–378. – Steinweg. – Steinweg, Rei- Sohnes im Gerichtssaal beeindruckt sie derart,
ner: Lehrstück und episches Theater. Brechts Theo- dass sie sich entschließt, seine revolutionäre
rie und die theaterpädagogische Praxis. Frankfurt Arbeit weiterzuführen.
a. M. 1995. – Tasche, Elke: Das Seminar Die Aus-
Vorbild für die Romanfigur war eine reale
nahme und die Regel. In: Lucchesi, Joachim/Schnei-
der, Ursula (Hg.): Lehrstück in der Praxis. Zwei Frau namens Anna Kirillowna Salomova, de-
Versuche mit Bertolt Brechts Die Ausnahme und die ren Sohn Peter 1902 in Sormowo bei Nishni
Regel, Die Horatier und die Kuriatier. Berlin 1979, Nowgorod (dem heutigen Gorki) die erste
Lernprozess einer Frau 295

Maidemonstration organisiert hatte. Wegen Schauspieler Theo Lingen an, sondern auch
seiner Sympathie mit der russischen Revolu- schon einige der künftigen Gesänge. Offenbar
tion von 1905 hatte Gorki die Heimat verlassen unter drei Gesichtspunkten erschien ihm Gor-
müssen, weshalb er seinen Roman in den USA kis Roman von Interesse: unter dem Aspekt
und in Italien vollendete und Mother erstmals des Wissens als Machtfaktor, der Zukunfts-
1906/1907 in englischer Sprache in den USA fähigkeit des Kommunismus sowie des reprä-
veröffentlichte. Da das Werk in Russland bis sentativen Charakters der Titelfigur.
1917 verboten blieb, kam die russische Fas- Günther Weisenborn, dessen Bühnenerst-
sung ebenfalls im Ausland, in Berlin, zur Erst- ling U-Boot S4 an der Berliner Volksbühne
veröffentlichung. Vor allem die deutsche So- unter Piscator 1928 uraufgeführt worden war,
zialdemokratie zeigte großes Interesse an dem bearbeitete 1931 den Roman in Gorkis Auftrag
Roman Die Mutter, den sie schon 1907 in ih- zusammen mit dem Hausdramaturgen Gün-
rem Zentralorgan Vorwärts publizierte. Da er ther Stark für die Volksbühne. Noch während
auch in anderen deutschen, französischen und dieser Arbeiten führte er mit B. Gespräche
italienischen Arbeiterzeitungen in hoher Auf- über dessen Theorie des epischen Theaters.
lage erschien, sprach Anatoli Lunatscharski Da Weisenborn erkannte, dass diese »für ganz
von einem »Lehrbuch« für das europäische bestimmte Zwecke kaum zu entbehren ist […],
Proletariat (Schumacher 1977a, S. 381). We- lag der Gedanke nahe, diesen Stoff für das
gen der positiven Darstellung der Hauptfigur epische Theater einzurichten« (Weisenborn
und der Einbettung ihres Schicksals in die zur in: Hecht, S. 178). Als er das Projekt B. und
Oktoberrevolution führenden Ereignisse von Eisler vorschlug, seien diese sofort begeistert
1917 wurde der Roman zum Musterbeispiel gewesen: »Wir beschlossen eine gemeinsame
des sozialistischen Realismus. Wsewolod Pu- Arbeit und legten für jeden von uns die Rechte
dowkin machte ihn zur Grundlage seines für alle Zeiten fest. Und dann begann eine sehr
Stummfilms Mat (1926), der auch bei der genaue und sehr kameradschaftliche Arbeit,
deutschen Erstaufführung im Februar 1927 in an der wir alle drei unsere bisherigen Vorstel-
Berlin viel Lob erntete: »Ein herrlicher Film, lungen von der Theaterpraxis veränderten«
der erste vielleicht, in dem Einzelschicksal (Weisenborn in: Tschörtner, S. 12). Die Ko-
und Massenschicksal kompositorisch bezwun- operation zwischen B. und Eisler begann im
gen sind« (Ihering 1961, S. 528). September 1931, nachdem diese das Drehbuch
für den proletarischen Film Kuhle Wampe ab-
geschlossen hatten. Wegen anderer Verpflich-
tungen schied Stark früh aus dem Team aus.
»Eine sehr kameradschaftliche Eisler aber erschien nun für eine längere Zeit
Arbeit« jeden Vormittag in B.s Wohnung in der Har-
denbergstraße (Eisler/Bunge, S. 105). Der
Komponist beeindruckte seine Partner »wegen
Mit einem Foto aus dem Pudowkin-Film auf seiner weit vorausreichenden Gedanken, we-
dem Umschlag brachte der Berliner Malik- gen seines Mutes, Gedanken rücksichtslos bis
Verlag den Roman als fünften Band der Ge- zum Ende abzuschreiten, wegen seiner Lach-
sammelten Werke Maxim Gorkis bis 1929 in lust und der verblüffenden Neuartigkeit seiner
einer Auflage von 85 000 Exemplaren neu he- Einfälle« (Weisenborn 1964a, S. 392). Formale
raus. Zu den Lesern gehörte auch B., der 1929 Erwägungen wurden, wie Weisenborn für den
nach der Lektüre in sein Notizbuch eintrug: Programmzettel notierte, rasch durch politi-
»1) lob des wissens / 2) unausrottbarkeit des sche verdrängt, wobei man erkannte, dass das
kommunismus / 3) lingen / 4) begrüßung der epische Theater dem Thema des politischen
wlassowa« (BBA 804/35; vgl. Lucchesi/Shull, Verhaltens am besten entspricht. Weitere Teil-
S. 542). Damit deutete er nicht nur die spätere nehmer der Arbeitstreffen waren B.s Mitar-
Dramatisierung und ihre Besetzung durch den beiterin Elisabeth Hauptmann und der Film-
296 Die Mutter

regisseur Slatan Dudow, oft auch Erich Engel verdanken sich wohl auch stilistische Anre-
und Herbert Ihering, seltener Helene Weigel, gungen aus dem japanischen Nô-Spiel (Wek-
Theo Lingen oder Peter Lorre (Weisenborn werth 1973, S. 27; Mittenzwei, S. 366).
1964b, S. 241). »Manchmal stand eine Schul- Wie Gorkis Roman auf eigenen Beobachtun-
tafel im Arbeitsraum, auf der die ersten Verse gen in Russland fußte (vgl. die Zeittafel bei
einer Ballade standen und Kritik oder Mit- Hecht, S. 181 f.), so beeinflusste die aktuelle
arbeit verlangten. Jeder schrieb seinen Vers politische Situation in Deutschland die Dra-
dazu. Brecht liebte eine gemeinschaftliche Ar- matisierung. B. orientierte sich an der eigenen
beitsweise. […] Sein Arbeitszimmer war eine Anschauung, etwa des »Berliner Blutmai« von
Werkstatt, in der Kunden und Gesellen ein 1929, sowie an Berichten von Zeitzeugen.
Werk begutachteten und ständig kontrollier- Wenngleich er in seinem Brief an das Arbeiter-
ten« (ebd.). B. unterstrich den Kollektivcha- theater »Theatre Union« in New York, das
rakter, indem er am Ende des Versuche- Stück »Die Mutter« betreffend die traditionelle
Drucks, abweichend von späteren Druckaus- Haltung des Alleinautors einnahm, nannte er
gaben, nicht zwischen Hauptautor und als Quellen neben dem Roman die »vielen /
Mitarbeitern unterscheidend »Brecht. Eisler. Erzählungen proletarischer Genossen aus ih-
Weisenborn« als gleichberechtigte Partner an- rem / Täglichen Kampf« (GBA 14, S. 290).
führte. Weisenborn zufolge hatte es ausgiebige Dis-
Da wie schon bei Kuhle Wampe die Diskus- kussionen über die Sozialreformer Georgij
sionsergebnisse teilweise in kollektiver Im- Plechanow und Karl Kautsky gegeben. Wohl
provisation diktiert und von Hauptmann in Ty- auch in Anlehnung an Rosa Luxemburgs Buch
poskripte übertragen wurden, ist nur selten Gegen den Reformismus, das sich in einer von
der Anteil der einzelnen Mitarbeiter konkret Clara Zetkin betreuten Ausgabe von 1925 in
nachweisbar. Jedoch berichtet Weisenborn: B.s Bibliothek befindet, verschärfte sich die
»Ich brachte eines Morgens die Szene ›Kupfer- Auseinandersetzung mit der Sozialdemokra-
sammelstelle‹ mit, die von Brecht und Eisler tie. Die kritische Haltung Luxemburgs wurde
zurechtgezupft und gebilligt wurde« (Weisen- dabei zum Vorbild. B. hatte 1919 in Augsburg
born 1964a, S. 393). Einer »Mappe Eisler« im die Trauerfeier der USPD für Luxemburg und
BBA lassen sich neue Textvorschläge des Kom- Liebknecht besucht und um 1926/27 ein Stück
ponisten für das Lob des Lernens entnehmen Die letzten Wochen der Rosa Luxemburg be-
(Dümling 1998, S. 364). Am 18. 9. 1961 wies gonnen. Es ist nicht auszuschließen, dass er
Eisler in einem Brief an Nathan Notowicz da- auch in Die Mutter auf die polnische Jüdin
rauf hin, dass die Figur des Lehrers Nikolai anspielte, zumal er hervorhob: »Die Auffüh-
Wessowtschikow auf seinen Vater zurückging, rung fand am Todestag der großen Revolutio-
von dem er B. erzählt hatte (Eisler 1964, närin Rosa Luxemburg statt.« (GBA 3, S. 262,
S. 280); der Philosoph Rudolf Eisler hatte sich S. 326) Das abschließende Lob der Dialektik
als Neu-Kantianer um eine ›Versöhnung‹ von zitiert fast wörtlich den Ausspruch Lieb-
Materialismus und Idealismus bemüht. Zu den knechts zum Tod der Revolutionäre von 1919:
Beiträgen des Komponisten dürften ebenso die »Die Besiegten von heute werden die Sieger
Chor- und Agitprop-Elemente gehören, die von morgen sein!« Vermutlich noch bei den
schon Kuhle Wampe wesentlich geprägt hatten Vorbereitungen zur Mutter stieß B. durch Mar-
(vgl. Dümling, S. 322); immerhin hatte er in garete Steffin auf Clara Zetkins Erinnerungen
einer der wegen ihrer Wirksamkeit mittler- an Lenin. Er hatte die junge Steffin, die einem
weile verbotenen Agitproptruppen mitgear- proletarischen Sprechchor angehörte, im
beitet. Ein Jahr nach Eisler gab auch Haupt- Herbst 1931 bei Proben für die Rote Revue Wir
mann zu Protokoll, bei Die Mutter, »vor allem sind ja sooo zufrieden … kennen gelernt und
hier die 1. Szene – der 1. Mai – die Bibel- ihr dort einen Solopart übergeben (Hauck,
szene«, habe sie »eine ganze Menge (fast er- S. 16); in seinem Nachlass findet sich das Zet-
kennbar) hineingesteckt« (Kebir, S. 236 f.). Ihr kin-Buch in einer Ausgabe von 1929 und mit
»Eine sehr kameradschaftliche Arbeit« 297

Steffins Namenszug auf dem Titelblatt. Meh- Veränderbarkeit als Prinzip


rere von Zetkin überlieferte Lenin-Zitate zur
Frauenfrage sind darin rot unterstrichen, so
»Überall sollten unsere Genossinnen planmä- Im Unterschied zu der aus acht Szenen be-
ßig mit der Jugend zusammen arbeiten. Das ist stehenden, in einer hektographierten Version
eine Fortsetzung, eine Ausweitung und Erhö- überlieferten Volksbühnenbearbeitung (Stark/
hung der Mütterlichkeit aus dem Individuel- Weisenborn; vgl. Thomas 1973) ging die Neu-
len ins Soziale« (Zetkin, S. 60). Wegen des fassung des B.-Kollektivs weit über den Gorki-
engen inhaltlichen Bezugs und Steffins Mit- Roman hinaus. Sie lehnte sich zwar in den
wirkung bei der Uraufführung (in der Rolle Szenen 1–4 an die frühere Bearbeitung an,
des Dienstmädchens) kann dieses Buch als reduzierte aber das russische Lokalkolorit, um
eine mögliche Quelle für die Gorki-Bearbei- so die Übertragbarkeit der Fabel auf westeu-
tung gelten, zumal die Handlung bis zur Okto- ropäische Verhältnisse zu erleichtern. In den
berrevolution weitergeführt wurde: nachdem Vordergrund rückte dagegen der politische
Pawel auf dem Weg in die Emigration erschos- Lernprozess der Mutter und der übrigen Revo-
sen wurde, setzt seine Mutter im ersten Welt- lutionäre (vgl. Thomas 1973). Dies geschah in
krieg seinen Kampf bis zur Wende von 1917 14 Szenen, die eine zweifache Zeitstruktur, die
fort. Kritik der Vergangenheit und den Ausblick auf
Durch diese Aktualisierung und die scharfe die Zukunft, entfalteten. War Pelagea Wlas-
Kritik am Reformismus war das Stück für die sowa in den Szenen 1–6 noch die Mutter eines
sozialdemokratisch orientierte Volksbühne in- einzigen Sohns, so wird sie in den Szenen 7–14
akzeptabel geworden. Überraschend ermög- zur ›Mutter‹ der vielen Revolutionäre. Dieser
lichte der Produzent Ernst Josef Aufricht eine letzte Aspekt entspricht dem von Ihering am
Aufführung, nachdem es im Dezember 1931 Film hervorgehobenen Zusammenhang von
bei den Proben zur Mahagonny-Oper zu hefti- Einzel- und Massenschicksal sowie B.s gleich-
gen Auseinandersetzungen zwischen B. und zeitigem Übergang vom Einzelhelden im Lind-
Weill gekommen war. »Um Brecht von den berghflug zur Pluralbildung im Flug der Lind-
Proben fernzuhalten, bot ich ihm an, mit sei- berghs. Im ersten Teil erwirbt die Wlassowa
nem Stück ›Die Mutter‹ (nach Gorki) zu be- sich die Begrifflichkeit der politischen Öko-
ginnen« (Aufricht, S. 111). Für die Proben nomie, das theoretische Wissen also, das im
stellte Aufricht den Keller des Theaters am zweiten Teil zur praktischen Anwendung
Kurfürstendamm zur Verfügung, für die Auf- kommt. Organischer Bestandteil der Hand-
führung das von ihm ebenfalls gepachtete lung ist der Chor der Revolutionäre, der die
Komödienhaus am Schiffbauerdamm. Dieses individuelle Geschichte der Pelagea Wlassowa
Ablenkungsmanöver bescherte ihm am 21. 12. kommentiert und in größere Zusammenhänge
eine ungestörte Mahagonny-Premiere: »Ich stellt. »Er richtet sich an die Wlassowa und an
hätte diesen Brecht nicht aufgeführt, aber ein das Publikum« (Rülicke-Weiler, S. 132).
Stück mit soviel Ideologie und mit der Weigel Die vierzehn Szenen der Uraufführungsfas-
in der zentralen Rolle mußte Brecht faszinie- sung wurden für die erste Drucklegung in Heft
ren. Meine Rechnung ging auf. Brecht bevor- 15 der Versuche (Januar 1933 unter dem Titel
zugte den Keller und ließ uns oben bei ›Maha- Die Mutter. Nach Gorki. Schauspiel) um eine
gonny‹ in Ruhe« (ebd.). weitere Szene ergänzt. B. reagierte damit auf
Kritiker, die das Umschwenken des »Revisio-
nisten« Karpow (Szene 3) in den Revolutionär
der Maidemonstration (Szene 5) als unglaub-
würdig empfunden hatten. Die neue Figur des
Smilgin übernahm nun in der Szene 5 den Part
des Karpow. Zusätzlich kam die Szene 10,
die Papiermantelszene (GBA 3, S. 308–310),
298 Die Mutter

hinzu, welche die sozialdemokratische Politik ein wesentlicher Bestandteil des Stücks. Je-
des »kleineren Übels« ironisiert. B. ließ die nie doch ist das originale Notenmanuskript
gespielte Szene in der Malik-Ausgabe von ebenso wenig erhalten wie der bei dieser Gele-
1938 aber wieder aus dem Stück herausneh- genheit gespielte Bühnentext. Aus Kosten-
men und als Muster für mögliche Aktualisie- gründen beschränkte der Komponist die Be-
rungen separat drucken. setzung auf vier Instrumente (Klavier, Trom-
Für diesen zweiten Druck des Stücks wur- pete, Posaune und Schlagwerk). Das früheste
den die Erfahrungen der New Yorker Auffüh- überlieferte Notenkonvolut zu diesem Werk-
rung von 1935 ausgewertet. Nun auch im Hin- komplex, überschrieben mit »Hanns Eisler:
blick auf die Verhältnisse in den USA war die Neun Balladen aus dem Lehrstück ›Die Mut-
Auseinandersetzung mit dem Reformismus in- ter‹ von Bert Brecht«, sieht die gleiche Be-
tensiviert worden, nicht zuletzt durch das neu setzung vor. Ebenfalls konzertanten Zwecken
entstandene Lied vom Flicken und vom Rock diente ein Notenkonvolut mit sieben Balladen
(GBA 3, S. 340 f.), dessen Refrain »Gut, das ist mit Klavierbegleitung. Drei Stücke daraus er-
der Flicken / Aber wo ist / Der ganze Rock?« schienen 1934 unter der Überschrift »Balladen
zurückging auf den Refrain »Gut. Das ist der aus dem Schauspiel [sic] ›Die Mutter‹« in dem
Pfennig. / Aber wo ist die Mark -?« aus Kurt von Brecht und Eisler in Paris gemeinsam
Tucholskys Gedicht Bürgerliche Wohltätigkeit. herausgegebenen Bändchen Lieder Gedichte
Diese Ergänzung dürfte Eisler zu verdanken Chöre. Frühere Pläne einer Veröffentlichung
sein, der das 1929 veröffentlichte Gedicht be- der Noten zusammen mit dem Stück, die am
reits Anfang 1930 für Ernst Busch vertont Widerstand des Kiepenheuer-Verlages ge-
hatte. In der Malik-Ausgabe erhielt das Stück scheitert waren (Dümling, S. 349), wurden da-
wie schon in New York den Titel Die Mutter. mit ansatzweise realisiert. Die drei Stücke Lob
Leben der Revolutionärin Pelagea Wlassowa des Kommunismus, Lob des Lernens und Lob
aus Twersk, wobei statt Weisenborn nunmehr der Dialektik hat der Komponist 1935 in Mos-
Dudow als Mitarbeiter genannt wurde. Auch kau dem freundlich reagierenden Gorki noch
der noch in der Versuche-Fassung abgedruckte vor dessen Tod vorspielen können (Fradkin,
Hinweis auf die Volksbühnen-Dramatisierung S. 135). Auch in New York erklang Eislers Mu-
des Romans entfiel. Weil Weisenborn 1937 von sik sowohl 1935 bei der Theatre Union als auch
New York wieder nach Deutschland zurück- im Juni 1936 bei einer Kantatenaufführung der
gekehrte, wurde er für Antifaschisten zur per- New School for Social Research, nun jeweils
sona non grata (vgl. Tschörtner, S. 13). In der gesetzt für Sologesang, mehrstimmigen Chor
ersten Einzelausgabe der Mutter, die 1946 auf und zwei Klaviere. Auf Anregung Eislers
der Grundlage der Malik-Ausgabe in Basel stellte B. für diese konzertante Aufführung
herauskam, fehlte der Name dieses wichtigen knappe Zwischentexte zusammen (GBA 24,
Mitarbeiters ebenfalls. Da inzwischen aber S. 143–150). Für eine Kantatenaufführung im
seine Widerstandstätigkeit in der Roten Ka- österreichischen Rundfunk arbeitete der Kom-
pelle bekannt geworden war, erschien sein ponist seine Musik 1949 noch einmal wesent-
Name 1957 in der dritten Druckfassung des lich um. Zwei Jahre später erklang bei der
Stücks von 1957 wieder hinter Dudow und Neuinszenierung am Berliner Ensemble eine
Eisler. B. hatte diese Stücke-Edition des Suhr- Synthese aus der Wiener Kantatenfassung und
kamp- und Aufbau-Verlags noch kurz vor sei- der Balladenfassung der Uraufführung, nun
nem Tod vorbereiten können. Aus der Ein- reicher besetzt mit Gesang (Chor), Flöte, Kla-
richtung für die Inszenierung des Berliner En- rinette, Horn, Trompete, Banjo, Kontrabass,
sembles von 1951 übernahm er die stärkere Schlagzeug und Klavier.
Profilierung des Streikgegners Smilgin, der
nun bereits in Szene 3 eingeführt wurde.
Eislers Musik, die bei der Uraufführung laut
Programmzettel neun Nummern umfasste, ist
299

Aspekte der Deutung der Lebenspraxis, aus Handeln und kritischer


Betrachtung des Alltags, erwachse ihr theo-
retisches Wissen. Diese Wechselbeziehung
Ihering, einer der maßgeblichen Förderer B.s von Theorie und Praxis war für Benjamin eine
in Berlin, hatte seine Uraufführungskritik Domäne des epischen Theaters: »Es entspricht
überschrieben mit Gorki, Pudowkin, Brecht. nämlich der Natur des epischen Theaters, daß
»Die Mutter« am Moskauer Künstlertheater – der undialektische Gegensatz zwischen Form
»Die Mutter« am Berliner Komödienhaus und Inhalt des Bewußtseins (der dahin führte,
(Ihering 1980, S. 58), um hinzuweisen auf den daß die dramatische Person sich nur in Re-
konsequenten Weg vom Roman über den Film flexionen auf ihr Handeln beziehen konnte)
zum Drama. Es war der Übergang von der abgelöst wird durch den dialektischen zwi-
Psychologisierung, wie der Kritiker sie in ei- schen Theorie und Praxis (der dahin führt, daß
ner dramatisierten Kurzfassung des Romans das Handeln an seinen Einbruchsstellen den
am Künstlertheater Stanislawskis erlebt hatte, Ausblick auf die Theorie freigibt)« (Benjamin,
über die pathetische Heroisierung des Stumm- S. 41). Die Theorie erschien so als Antwort auf
films zur Sachlichkeit der epischen Bearbei- Schwierigkeiten mit der Wirklichkeit. Obwohl
tung B.s und Weisenborns (die Mitarbeit auch Benjamin die Mitwirkung Eislers über-
Eislers überging er). Der Vergleich der ver- ging, stellte er die Lieder in den Mittelpunkt.
schiedenen Darstellungsformen bewies dem Er verstand sie als Gegenentwürfe zu den noch
Kritiker die Überlegenheit des epischen Thea- dominierenden Niederlagen, da aus dem Ver-
ters. Die Frage nach der relativ geringen Wir- sagen der Praxis die neue Theorie erwachse.
kung der Aufführung im Stanislawski-Theater »Mit den Lehren nun, mit denen die Mutter als
führte ihn auf den »Widerspruch zwischen mit den Erläuterungen ihres eigenen Verhal-
(politischem, zielendem) Inhalt und (seeli- tens die Niederlagen oder die Wartezeiten (für
scher, verhüllender) Darstellungsform« (ebd.). das epische Theater ist da kein Unterschied)
Dieser Widerspruch löste sich für ihn in der ausfüllt, hat es eine besondere Bewandtnis.
epischen Bühnenbearbeitung, die sogar bei so Sie singt sie. Sie singt: Was spricht gegen den
›filmischen‹ Sujets wie Demonstrationen sich Kommunismus; sie singt: Lerne Sechzigjäh-
mit den Höhepunkten des sowjetischen Filmes rige; sie singt: Lob der dritten Sache. Und das
messen könne (S. 59). singt sie als Mutter. Es sind nämlich Wiegen-
Walter Benjamin, der B. im Mai 1929 in lieder. Wiegenlieder des kleinen und schwa-
Berlin kennen gelernt hatte, verfasste unmit- chen, aber unaufhaltsam wachsenden Kommu-
telbar nach der Uraufführung seinen am 5. 2. nismus.« (Ebd.) Dieser Essay machte Wir-
1932 in der Literarischen Welt publizierten kung. Wohl angeregt durch ihn schuf B. seine
Essay Ein Familiendrama auf dem epischen Wiegenlieder für Arbeitermütter (GBA 11,
Theater. Implizit vom Lob des Kommunismus S. 206–209), die Eisler Ende 1932 für Helene
ausgehend, charakterisierte er dieses Gesell- Weigel komponierte. Den Gedanken der er-
schaftsmodell als weder kompliziert noch ra- weiterten Mütterlichkeit nahm B. in seinem
dikal. Anders als Ihering, der die epische Form Brief an das Arbeitertheater »Theatre Union«
in den Vordergrund stellte, konzentrierte Ben- in New York auf, wo es nach der Erwähnung
jamin sich auf inhaltliche Fragen, beispiels- des toten Sohnes heißt: »Immer noch Mutter /
weise die Rolle der Familie in bisherigen und Mehr noch Mutter jetzt, vieler Gefallenen
künftigen Gesellschaftsformen. Die Befreiung Mutter / Kämpfender Mutter, Ungeborener
der als Angehörige des Proletariats wie auch Mutter« (GBA 14, S. 291).
als Frau und Mutter doppelt erniedrigten Pela- Erst nach 1945 wandte sich die B.-Forschung
gea Wlassowa sei besonders dringlich. Schritt diesem Theaterstück zu, bezeichnenderweise
für Schritt gehe diese Frau, die zunächst nur zuerst in einer westdeutschen Dissertation,
ihrem Sohn helfen wollte, den Weg von der die am 17. Juni 1953 in München vollendet
Familienhilfe zur Klassensolidarität. Erst aus und im September des gleichen Jahres von
300 Die Mutter

Ernst Bloch und Hans Mayer in Leipzig ange- mobilisieren wollte, habe er mehr als Gorki
nommen wurde. Ernst Schumacher, ihr Autor, die wirtschaftliche Notlage der Arbeitslosen
bezeichnete Die Mutter darin als ›proletarisch- herausgestellt. Wie die Landagitation sei auch
revolutionäres Lehrstück‹ (Schumacher die Antikriegspropaganda der Szene 8 auf die
1977a, S. 381). Diesen Terminus übernahm er damalige KPD-Politik bezogen (Mittenzwei
freilich nicht von B., sondern aus Urauffüh- 1965, S. 86 f.). Mittenzwei korrigierte Schuma-
rungskritiken sowie aus Lunatscharskis Ein- chers chronologisch falsche Einordnung des
schätzung des Gorki-Romans. Entsprechend Mutter-Stücks vor der Heiligen Johanna, ord-
Schumacher: »Zum ›Lehrbuch‹ kam das nete die Gorki-Bearbeitung aber wie dieser
›Lehrstück‹« (ebd.; zur Definition des Lehr- den Lehrstücken zu. Die diesem Typus eigene
stücks bei B. vgl. aber Die Lehrstücke, BHB 1). antipsychologische Haltung habe zu einer ab-
Dabei wurden ihm neben der Roman-Vorlage strakten Betonung des Gesellschaftlichen ge-
die »Klassiker des Marxismus-Leninismus« führt; die montageartige Form störe den Fluss
zum bindenden Maßstab für die politische und der Fabel und gebe so nur wenigen ›organi-
künstlerische Bewertung. Während Schuma- schen‹ Figuren, der Titelfigur und dem Leh-
cher so die kritische Darstellung des Refor- rer, Raum. Obwohl sich in Die Mutter schon
mismus als Fortschritt gegenüber Gorki lobte, die Themen und Haltungen späterer Stücke
erschienen ihm die Vorbereitung des Bündnis- ankündigten, beispielsweise die Antikriegs-
ses von Arbeitern und Bauern in Szene 8 sowie propaganda von Mutter Courage, werde B.
der Chor Die Partei ist in Gefahr in Szene 12 hier insgesamt durch die ästhetisch und poli-
als historisch ungenau: Weder sei ein solches tisch problematische »Übergangsform« des
Bündnis damals in Sicht noch 1914 die bol- Lehrstücks begrenzt und eingeengt (S. 107).
schewistische Partei wirklich in Gefahr gewe- 21 Jahre später hat Mittenzwei in seiner B.-
sen. Ein orthodoxer Realismus-Begriff, von Biographie diese Einwände gegen das Stück
dem er sich in einem Nachwort zur Neuaus- nicht mehr wiederholt, obwohl er es weiterhin
gabe von 1977 distanzierte, lag auch seinen dem nun weniger pejorativ bewerteten Lehr-
ästhetischen Urteilen zugrunde. Obwohl Schu- stück-Typus zuordnete (Mittenzwei, S. 369).
macher ausführlich aus dem damals noch Zur Neubewertung dieses Typus hatte nicht
schwer zugänglichen B.-Stück zitierte und vor zuletzt Reiner Steinweg beigetragen, der aller-
allem die vollständig wiedergegebenen Lied- dings Die Mutter den Schaustücken zurech-
texte sehr positiv bewertete, äußerte er sich zu nete (Steinweg, S. 43). Zwar hatte Eisler in
den Darstellungsmöglichkeiten des Theaters seinen ersten Notenmanuskripten den Lehr-
prinzipiell skeptisch: »Zur Gestaltung des stück-Begriff verwendet. Wie Steffin in ihrem
wirklichen […] Lebens sind Roman und Film Gedicht Als der Klassiker am Montag, den sie-
ungleich geeigneter als das Drama« (Schuma- benten Oktober 1935, es verließ, weinte Däne-
cher 1977a, S. 396). Auch innerhalb der Gat- mark (Gellert, S. 206), hatte auch B. in einem
tungsgeschichte erschien ihm Die Mutter – Interview (Hecht, S. 102) in Anspielung auf
»als Ganzes ein unorganisches Gebilde« das in New York aufzuführende Stück von ei-
(S. 426) – als formal eher problematisch. Die nem Lehrstück gesprochen. Als verbindlicher
Verbindung von musikalischem Chor und muss wohl seine Anmerkung gelten: »Das
Drama sei ohne Zukunft (S. 429), eher als eine Stück ›Die Mutter‹, im Stil der Lehrstücke
Vorstufe zum sozialistischen Realismus des geschrieben, aber Schauspieler erfordernd, ist
Dramas zu werten. ein Stück antimetaphysischer, materialisti-
Während Schumacher das Drama relativ scher, nichtaristotelischer Dramatik.« (GBA
einseitig an den historischen Ereignissen in 24, S. 150) Wesentliches Unterscheidungs-
Russland gemessen hatte, bezog es Mittenzwei merkmal zu den überwiegend von Laien aufzu-
1973 stärker auf die deutsche Perspektive zur führenden Lehrstücken ist die Mitwirkung
Zeit der Weltwirtschaftskrise. Da B. die Arbei- professioneller Darsteller, was durch die Do-
ter und Arbeiterinnen für die Politik der KPD minanz des Nicht-Musikalischen noch zu er-
Aspekte der Deutung 301

gänzen wäre. Obwohl das Drama gelegentlich nommen. B.s realitätsbezogenes Drama sei so
auch als »teaching play« (Fuegi, S. 51) oder gar ein Musterbeispiel für die Emanzipationsge-
als »Höhepunkt aller Lehrstücke« (Mayer, schichte einer Frau. Einige seiner Kerngedan-
S. 188) figuriert, gilt es heute im Allgemeinen ken, beispielsweise aus dem Lob der Dialek-
als Schauspiel, weshalb es beispielsweise tik, ließen sich auf die feministische Bewe-
Klaus-Dieter Krabiel nicht in sein Lehrstücke- gung übertragen (S. 247).
Buch aufnahm. Es muss andererseits betont
werden, dass das Stück während des Proben-
stadiums wie ein Lehrstück zur Selbstverstän-
digung der Mitwirkenden dienen kann (vgl. Lob des Lernens
Dümling 1998, S. 366). In jedem Fall bein-
haltet das Stück eine kritische Fragehaltung,
die im Widerspruch zu starrem Dogmatismus Ihre Erfahrungen mit dem Lehrstück Die Maß-
steht. In diesem Sinn empfahl B., als 1955 die nahme haben B. und Eisler in Die Mutter ein-
Drucklegung von Schumachers Arbeit bevor- gebracht und weiterentwickelt. Trotz des un-
stand, dem Autor viel sagend: »Einige Wer- bestreitbaren Erfolgs der ersten Zusammen-
tungen könnten Sie noch streichen und dafür arbeit schufen sie einen Gegenentwurf. Nach
einige Fragen offenlassen. Das ist immer der organisierten Arbeiterschaft wurden nun
fruchtbar. Warum alles unter einen Hut brin- unorganisierte Arbeiter und Arbeiterinnen zur
gen und sei es der hübscheste?« (GBA 30, Zielgruppe. Sollten zuvor vor allem die mit-
S. 329) wirkenden Arbeitersänger in den Lernprozess
Mehr als die Lehrstückfrage rückten in jün- einbezogen werden, so wurde jetzt wieder pri-
geren Forschungsbeiträgen die Erzählstruktur mär das Publikum angesprochen. Viel stärker
– so etwa Ritterhoffs Plädoyer für eine neue als in der am Modell des Oratoriums orientier-
Lektüre des Stücks unter Benjaminschen Kate- ten Maßnahme kamen dabei Agitprop-Mo-
gorien – und die Frauendarstellung in den Vor- mente zum Tragen. Nicht mehr ein Extremfall
dergrund. Schon Roland Barthes hatte die von stand zur Debatte, sondern ein allgemein gül-
Benjamin thematisierte Mutterrolle aufgegrif- tiges Beispiel; anders als die problematische
fen und auf den Rollentausch der Frau ver- Hauptfigur der Maßnahme, der junge Ge-
wiesen, die hier nicht mehr die Erzieherin des nosse, war nun die Titelheldin entschieden
Sohnes sei, sondern umgekehrt vom Verhalten positiv dargestellt. Anstelle des politischen
des Jüngeren lernt. Diese Umkehr der Natur Radikalismus wurde die vorbildliche Entwick-
sei ein Zentralthema bei Brecht: Umkehrung lung einer Revolutionärin zum Thema.
und nicht Zerstörung (Barthes, S. 144). Wäh- Wie in der Maßnahme wurde keine dramati-
rend zuvor die Titelfigur, die sich unter großen sche Unmittelbarkeit der Handlung ange-
persönlichen Opfern einer Sache hingibt, in strebt, sondern die Distanz des epischen Be-
feministischer Perspektive als Projektion richts. Das Lehrstück ermöglichte den Rück-
männlicher Fantasie beurteilt (Lennox, S. 89) blick auf Vergangenes durch die Verhandlung
und von anderen Autorinnen nur als ideali- vor dem Parteigericht, wobei die Rezitative
sierter Typ, nicht aber als ›realer Mensch‹ ak- der Bach-Passionen Vorbilder darstellten. Zu
zeptiert wurde (Klein Nussbaum, S. 376; We- diesem Modell kamen bei Die Mutter filmi-
del, S. 160 f.), wurde neuerdings auf Bezüge sche Mittel hinzu, so die Projektion von Zwi-
zur Biographie Clara Zetkins verwiesen (Rit- schentiteln, von B. bereits in der Dreigrosche-
chie, S. 240). Das Bild der Frau, welche die noper verwendet (Gersch, S. 156 f.). In seinen
rote Fahne des getöteten Kameraden über- Anmerkungen von 1933 zum Stück bewertete
nimmt, sei möglicherweise ebenfalls an ihr er sie als organische Teile des Kunstwerks;
orientiert, hatte sie doch bei einer Pariser De- indem sie die totale Einfühlung verhinderten,
monstration zu Ehren der gefallenen Kommu- machten sie die Wirkung mittelbar (GBA 24,
narden an den Kämpfen um die Fahne teilge- S. 116). Es dürfte kein Zufall sein, dass B.
302 Die Mutter

seine Theorie des epischen Theaters nach der er Dramatik und Hektik durch die Ruhe eines
Begegnung mit dem Eisenstein-Film Panzer- Berichts, den, wie in den Gerichtsszenen der
kreuzer Potemkin sowie nach dem persönli- Maßnahme, die Beteiligten selbst geben. Hat-
chen Gespräch mit dem Regisseur im Oktober ten Stark-Weisenborn den Konflikt durch das
1929 auszuarbeiten begann. So kann der Neben- und Gegeneinander von Bürgern, Sol-
Bericht vom 1. Mai in Szene 5 als szenische daten und Arbeitern noch zugespitzt, so kom-
Demonstration einer filmischen Rückblende men in der neuen Version nur die demonstrie-
gelten (Gersch, S. 146, S. 169, S. 349; der un- renden Arbeiter zu Wort. Wenn sie vom Zu-
mittelbare Einfluss Eisensteins wird hier aller- sammenfließen der verschiedenen Züge, von
dings geringer bewertet als bei Rülicke-Wei- den mitgetragenen Transparenten sowie den
ler, S. 114). Für den Schluss der Berliner Auf- gemeinsamen Liedern berichten, ist ihre Hal-
führung von 1932 war eine Filmprojektion mit tung eindeutig. Zusätzlich spielen sie das Ge-
dokumentarischen Aufnahmen der Oktoberre- schehen nach und lassen auch die Mutter zu
volution vorgesehen, was die Zensur verhin- Wort kommen.
derte. Dennoch ist kundigen Betrachtern der Der Entschluss der alten Frau, sich der De-
Zusammenhang zwischen epischem Theater monstration anzuschließen (vgl. GBA 3,
und Film nicht entgangen. S. 281), wird in reflektierter Unmittelbarkeit
In seinem Beitrag Gorki, Pudowkin, Brecht wiederholt. Sogar der erschossene Arbeiter
hat Ihering das Zukunftsweisende des Stücks Smilgin kehrt in dieser Szene wieder und er-
in der Verbindung von Filmischem und Thea- zählt mit eigenen Worten, warum er die rote
tralischem gesehen: »Das scheint mir wirklich Fahne nicht aus den Händen geben wollte.
ein Weg zu sein. Gerade wenn man diesen Damit stehen verschiedene Zeitebenen neben-
Versuch weiterdenkt, kann man zu unwider- einander, verbinden sich Rückblick und Ver-
leglichen Resultaten kommen« (Ihering 1980, gegenwärtigung, Distanz und Unmittelbar-
S. 59 f.). Zu Recht empfand er die Demonstra- keit, ohne dass diese Durchbrechung des rea-
tionsszenen als Glanzstücke sowohl des russi- listischen Prinzips im pejorativen Sinne als
schen Films wie des epischen Theaters. In der ›künstlich‹ erscheint. Das epische Spiel ge-
Darstellung der Mai-Demonstration wird der winnt vielmehr an Perspektivenreichtum.
Unterschied zur Dramatisierung von Stark/ Hellsichtig hatte schon Ihering in dieser
Weisenborn besonders deutlich. Während die Gleichzeitigkeit von Schilderung und Darstel-
Volksbühnen-Bearbeitung die dramatischen lung die größten Zukunftschancen für das epi-
Aktionen dieser Szene, den Aufmarsch der Ar- sche Theater gesehen: »Man hat die epische
beiter, die verständnislosen Reaktionen der Erzählung, hört schon Geschehenes, und die-
Bürger und die tödlichen Schüsse der Solda- ses Vergangene wird gegenwärtig und gegen-
ten, plastisch und lebendig vergegenwärtigte ständlich. Es wirkt also schon als Resultat,
(Stark/Weisenborn, S. 81–86), suchte die epi- nicht mehr als heißer Effekt, sondern auf die
sche Neufassung gerade umgekehrt die berich- kühle Erkenntnis.« (Ihering 1980, S. 60)
tende Distanz. Dabei fühlte sich B. von den in Während der Tod Smilgins nur kurz erwähnt
dieser Szene geschilderten Vorgängen um die wird, heben die Arbeiter ausführlich die Be-
Erschießung mehrerer Arbeiter stark betrof- deutung der roten Fahne als Symbol ihres
fen. Die bei Gorki beschriebene Demonstra- Kampfes hervor. Wenn sie dann diese Erkennt-
tion am 1. Mai 1905 in Twersk verband sich für nis in Versen formulieren und diese gemein-
ihn mit dem bedrückenden Erlebnis des »Ber- sam rezitieren, wird ein Höchstmaß an Sti-
liner Blutmai« am 1. Mai 1929, bei dem bei lisierung erreicht. In wohl keinem anderen
Zusammenstößen mit der Polizei 31 Menschen Teil des Stücks ist B. dem Tonfall der Bach-
getötet worden waren (Mittenzwei, S. 369 f.). schen Passionen so nahe wie hier. Als er Ende
Diese schockierende Erfahrung war ein Aus- 1935 auf Empfehlung Eislers für eine Kanta-
löser zu B.s Parteinahme für den Kommunis- tenaufführung in New York das Stück zu knap-
mus. In der neuen Gorki-Bearbeitung ersetzte pen Zwischentexten kondensierte, erhielten
Lob des Lernens 303

die Demonstrationen vom 1. Mai sowie von sik eingesetzt, um dem Zuschauer die […]
Oktober 1917 den größten Raum (GBA 24, kritisch betrachtende Haltung zu verleihen.«
S. 144–147). Neben der Erkenntnis, dass die (S. 161) B. stellte einen direkten Zusammen-
epische Musterszene des 1. Mai sich für eine hang her zwischen der Haltung der Musik so-
Kantatenfassung besonders gut eigne, stand wie der des Darstellers und Hörers. So hob er
dahinter wohl auch die aktuelle Erfahrung des im Lied Lob des Kommunismus den ›freund-
1. Mai 1935, den B. in Moskau und Eisler in lich beratenden Gestus‹ der Musik hervor.
New York erlebt hatten. Beide Demonstratio- Dies ist ein wesentlicher Unterschied zur mas-
nen regten jeweils ein Gedicht an: der Zug in siven Entschiedenheit der Musik in der Maß-
Moskau das Gedichtfragment Demonstration nahme, die durch die Dominanz des Rhythmus
der Moskauer Arbeiter … (GBA 14, S. 288), disziplinierend wirkt.
der Bericht Eislers die Kantate Erster Mai Eislers neue Vertonungen unterstreichen
(GBA 14, S. 294; vgl. Dümling, S. 405). Die den Text und kommentieren ihn zugleich.
1936 in New York aufgeführte Kantatenfassung Während im Lob des Kommunismus dem
hat Eisler 1949 für ein Konzert in Wien verän- ›freundlich beratenden Gestus‹ der federnd-
dert und erweitert. Die Ergänzungen betrafen synkopische Einsatz der Singstimme ent-
vor allem die Szene 5, die nun durch dazu- spricht und auch ihr Umkreisen des Terzinter-
komponierte Musik ein Melodram wurde. B. valls das Moment der Einfachheit betont (vgl.
überzeugte diese Lösung so sehr, dass er 1951 Dümling, S. 345 f.), besitzt das wiederkeh-
bei seiner Berliner Neuinszenierung Eislers rende Intervall der kleinen Sekunde klagen-
Bericht vom 1. Mai. Gedanken über die rote den Charakter (Knepler 1977, S. 161 f.). Diese
Fahne aus dem Konzertsaal auf die Bühne Mehrdeutigkeit der Eisler-Komposition wurde
übertrug. Anlässlich dieser Aufführung be- als problematisch empfunden (Fowler, S. 13),
merkte er: »Die Sprechweise der Maidemon- entspricht in ihrer Komplexität aber genau der
stration ist notiert durch die Eislersche Mu- Dialektik des ›Einfachen, das schwer zu ma-
sik.« (GBA 24, S. 197) Die Verbindung mit Mu- chen ist‹ (vgl. GBA 3, S. 286). Einwände gegen
sik ließ diese epische Musterszene somit zu einen weiteren Antagonismus, den zwischen
einer der Quellen zurückkehren, die B. zur dem hohen Allgemeinheitsanspruch der poli-
Entwicklung der epischen Spielweise angeregt tischen Idee und der Zartheit des Gesangs, hat
hatte. B. selbst zurückgewiesen: »Wer glaubt, daß
In seinen Anmerkungen zur Oper Aufstieg einer Massenbewegung, die sich der schran-
und Fall der Stadt Mahagonny, die er 1930 kenlosen Gewalt, Unterdrückung und Ausbeu-
erstmals veröffentlichte, hatte B. die Sugges- tung gegenübersieht, ein so strenger und zu-
tion der dramatischen Form dem argumen- gleich so zarter und vernünftiger Gestus, wie
tativen Charakter der epischen Form gegen- ihn diese Musik propagiert, nicht angemessen
übergestellt und dabei auch die eminente sei, der hat eine wichtige Seite dieses Kampfes
Rolle der Musik hervorgehoben; sie sei der nicht begriffen.« (GBA 22, S. 162) Wohl vor
wichtigste Beitrag zum Thema, weil sie den allem dieses Lied meinte Benjamin, als er von
Text auslege, »Stellung nehmend« und »das Wiegenliedern des Kommunismus sprach. Aus
Verhalten gebend« (GBA 24, S. 80). Sie müsse der damaligen Perspektive B.s und Eislers,
gestisch werden, indem sie »dem Schauspieler nicht zuletzt aus dem Blickwinkel Pelagea
ermöglicht, gewisse Grundgesten vorzufüh- Wlassowas aus der Zeit vor 1914, wurde damit
ren« (Über die Verwendung von Musik für ein eine noch junge und schwache Bewegung be-
episches Theater; GBA 22, S. 159). Während sungen, deren terroristische Auswüchse unter
dies Weill in der Mahagonny-Oper nicht Stalin, denen möglicherweise auch Gorki zum
durchgängig gelungen sei, empfand B. Eislers Opfer fiel, zu diesem Zeitpunkt noch nicht in
Beiträge zur Mutter als mustergültig: »Bewuß- Sicht waren.
ter als in irgendeinem anderen Stück des epi- Im Begriff des Wiegenlieds schwingt neben
schen Theaters wurde in der ›Mutter‹ die Mu- der Zartheit des Kindes ebenso die Zärtlich-
304 Die Mutter

keit der Mutter mit. Emotionales ist darin ein- einer besseren Welt vorbereite. Im traditionel-
geschlossen, selbst wenn B. und Eisler auch len Sinn komisch ist die Lehrerszene sowie
bei grundsätzlich affirmativen Gesängen auf das listige Verhalten der Pelagea Wlassowa,
romantisches Pathos und Rauschhaftigkeit das nach Alfred Polgar »bis an die Grenze des
verzichteten. Das Lob der dritten Sache etwa Neckischen« geht (Wyss, S. 143). Für B. war
spricht die Darstellerin der Mutter als Melo- dieses Element sehr wichtig, führt es doch
dram zu einem ruhigen polyphonen Instru- über das »befreiende« Lachen zu einem be-
mentalstück nach Art einer Invention. Auf freienden Denken. Über die Berliner Urauf-
durchaus dialektische Weise verbindet sich führung teilte er der New Yorker Theatre
darin die Klage über die Abreise des Sohnes Union mit: »Viel Lachen / War im Zuschauer-
mit dem positiven Gefühl der inneren Nähe, raum. Die unversiegliche / Gute Laune der
die durch das gemeinsame politische Ziel, listigen Wlassowa, geschöpft aus der Zuver-
eben die »dritte Sache«, zustandekommt. Pri- sicht / Ihrer jungen Klasse, erregte / Glück-
vates und Öffentliches, Psychologisches und liches Lachen auf den Bänken der Arbeiter.«
Politisches, finden so zu einer Einheit. (GBA 14, S. 292) Auch gegenüber der New
Auch im vielgesungenen Lob des Lernens Yorker Zeitung Der Arbeiter hob er diesen
lehnte sich Eisler an die Inventionen Bachs an, Aspekt hervor. Die Mutter sei »in geradezu
waren doch auch diese zu pädagogischen heiterem Tone geschrieben […], fast lustig,
Zwecken entstanden. Seine Komposition ent- denn ›die Lebensgeschichte der Pelagea Wlas-
faltet den Leitgedanken »Lerne das Einfache«, sowa ist die Geschichte eines Sieges‹« (Hecht,
indem ein sehr einfaches Motiv sie wie eine S. 102 f.).
rhythmische Parole durchzieht (vgl. Knepler Das Lernen der Mutter geschieht nicht
1973, S. 34–38). Ein zweites, melodisch weiter durch Eintrichtern eines Dogmas, sondern
ausgreifendes Motiv ist daraus entwickelt. Es durch ein kritisches Befragen der Wirklich-
korrespondiert zu den Worten »Du mußt die keit. Da dies ein sich ständig wandelnder Pro-
Führung übernehmen«, die den Endzweck des zess ist, wurde der ursprüngliche Gesangstitel
Lernens bezeichnen; die dazugehörige Melo- Lob des Wissens bzw. Lob der Wissenschaft
die zitierte der Komponist später im Bericht schon vor der Uraufführung abgeändert in Lob
vom 1. Mai. Dabei besitzt die Musik eine des Lernens. In deutlicher Distanzierung von
Leichtigkeit, in der B. zu Recht einen »natür- passivem Konsum wird das Lernen zur aktiven
lich heiteren Gestus« (GBA 24, S. 162) er- Tätigkeit. »Höre auf niemand, Genosse! / Laß
kannte. Das Lernen wird damit als eine lust- dir nichts einreden« hieß es in einer ersten
volle Tätigkeit vermittelt, nicht anders als die Fassung, die Eisler im Sinne des Aktivismus
künstlerische Produktion im B.-Kollektiv, die umänderte in »Scheue dich nicht zu fragen,
trotz des verbreiteten Missverständnisses von Genosse!/ Laß dir nichts einreden / Sieh sel-
der ›trockenen Didaktik‹ oder Abstraktheit ber nach!« (GBA 3, S. 356; Dümling 1998,
dieses Stücks allen Zeugenberichten zufolge S. 364). Wie schon in den früheren Lehrstü-
mit viel Lachen verbunden war. cken stellt sich das Einverständnis nicht auto-
Während in der Maßnahme das tragische matisch her oder durch autoritären Druck,
Moment dominierte, steht in Die Mutter Ko- sondern durch die ständige Überprüfung des
misches im Vordergrund. Unter Berufung auf als zweifelhaft, gefährlich oder als wahr Gel-
die Definition des Tragischen und des Komi- tenden. Rollenklischees zerbrechen dabei, wie
schen in Northrop Fryes Anatomy of Criticism es vor allem das Verhalten der Mutter zeigt.
(1968) hat Bawey das Stück deshalb als Tra- Und auch die Lehrenden werden, wie B.
gikomödie bezeichnet; erst in der dramati- selbst, immer wieder zu Lernenden.
schen Struktur als Tragikomödie könne es die Als eine wirksame Lern- und Lehrmethode
Sprache des Marxismus artikulieren (Bawey, erweist sich das taktische Einverständnis, das
S. 105). Als »komisch« im Sinne Fryes bewer- Pelagea Wlassowa ihren Gesprächspartnern in
tet er alle Szenen, in denen sich der Aufstieg zu mehreren Szenen vorspielt. So äußert sie in
Lob des Lernens 305

Szene 13 ihre ›vaterländische Kriegsbegeiste- Mark, Arbeitslose die Hälfte) übernommen


rung‹ so demonstrativ, dass die übrigen Anwe- hatte, erschienen zu den insgesamt 35 Auffüh-
senden in der Kupfersammelstelle dadurch ir- rungen viele Arbeiter. Bei ihnen und der Ar-
ritiert und zum Umdenken provoziert werden. beiterpresse (vgl. Hoffmann) stieß die Produk-
Es ist ein ähnlich ›umwerfendes Einverständ- tion meist auf Zustimmung, während die
nis‹ wie das des braven Soldaten Schwejk, des- Mehrheit der bürgerlichen Zeitungen sie als
sen Prinzip, Vorurteile durch ihre lautstarke primitive Partei-Propaganda ablehnte. In sei-
Bestätigung auszuhöhlen und in Frage zu stel- nen Anmerkungen zur »Mutter« hat sich B. mit
len, das Stück durchzieht. diesen Einwänden ausführlich auseinanderge-
Die Handlung des Stücks sollte nicht im setzt.
Sinne einer Heldenverehrung unkritisch auf- Die schon 1932 von der Polizei zunehmend
genommen werden. Zu diesem Zweck schlug behinderten Aufführungen wurden ab 1933 in
B. die Aufstellung kleiner Chöre im Zuschau- Deutschland ganz verboten. Auch in Wien, wo
erraum vor, die den Betrachter »zur Emanzipa- noch 1933 in der Chormontage Das Lied vom
tion gegenüber der dargestellten Welt und Kampf unter Leitung Anton Weberns musika-
auch der Darstellung selber« aufrufen sollten lische Teile des Stücks erklungen waren
(GBA 24, S. 159). Offenbar handelte es sich um (Dümling, S. 363 f.), gab es danach keine Auf-
Sprechchöre, die durch Zitate und Dokumente führungen mehr. Umso größere Hoffnungen
ergänzt werden könnten. Die in den Anmer- richteten sich auf die Produktion des New Yor-
kungen zur »Mutter« abgedruckten Beispiele ker Arbeitertheaters Theatre Union. Vergeb-
sind ausdrücklich als änderbar bezeichnet. Es lich bemühte sich B., die naturalistische Über-
ist nicht überliefert, ob dieser Vorschlag jemals setzung des Dramatikers Paul Peters im Vor-
realisiert worden ist. feld zu korrigieren. Obwohl er zusammen mit
Eisler zu den Proben anreiste, konnten sie sich
gegenüber dem Regisseur Victor Wolfson und
den Darstellern nicht genügend durchsetzen,
Aktualität, Historie und Utopie weshalb beide die Premiere am 19. 11. 1935 als
Desaster empfanden (Eisler/Bunge, S. 100).
Dennoch registrierte die amerikanische Kritik
In den 14 nachweisbaren Inszenierungen zu durchaus die Neuheit der Form und der In-
B.s Lebzeiten wurde das Stück weiterentwi- szenierung: So nannte Brooks Atkinson in der
ckelt und den jeweiligen Bedingungen ange- New York Times die Offenlegung der Bühnen-
passt (vgl. die Aufführungsliste bei Hecht, technik ein logisches und erfrischendes Ex-
S. 186–193). Neben der Berliner Uraufführung periment (Atkinson, S. 95). Auch B. sprach
sind die Inszenierungen in New York (1935) trotz aller Einwände von einer epischen Auf-
und am Berliner Ensemble (1951), an denen B. führung (GBA 24, S. 177).
beteiligt war, besonders hervorzuheben. Modellcharakter besaß dagegen seine Insze-
Bei der Uraufführung durch die Gruppe Jun- nierung am Berliner Ensemble, die fast zwei
ger Schauspieler am 17. 1. 1932 spielte Helene Jahrzehnte nach der Uraufführung am 12. 1.
Weigel die Titelfigur, Ernst Busch ihren Sohn 1951 ihre Premiere erlebte. Angesichts des in
Pawel, Gerhard Bienert den Lehrer und Theo der DDR nicht länger existierenden Privatei-
Lingen den Polizeikommissar. Vier geschlos- gentums an Produktionsmitteln wurde sie be-
sene Aufführungen für Betriebsräte und Frau- wusst historisierend angelegt, am Schluss er-
envertrauensleute waren ihr vorausgegangen, gänzt durch Filmsequenzen von der Oktober-
darunter eine Gedenkveranstaltung für Rosa revolution (Gersch, S. 152). Die optimistische
Luxemburg. B. hatte die Regie Emil Burri Haltung äußerte sich dabei nicht pathetisch,
übertragen, nahm aber an den Proben teil. Da sondern mit Beweglichkeit: »Was dieser Hu-
die oppositionelle Junge Volksbühne den Ver- mor erregen will«, schrieb Paul Rilla, »ist das
trieb der preisgünstigen Karten (1,20 und 1,80 ›glückliche Lachen‹, geschöpft aus der Zuver-
306 Die Mutter

sicht der zum Siege berufenen Klasse« (Wyss, die heftigen Reaktionen auch sonst ›unpoli-
S. 146). Wieder spielte Helene Weigel die Ti- tisch‹ auftretender Rezensenten aus der küh-
telrolle, während B. für Ernst Busch die neue len und ruhigen Argumentationsweise der In-
Rolle des Mechanikers Semjon Lapkin schuf. szenierung her; »anstelle dieser schlichten,
Wie die Inszenierung die 1932 erprobte Spiel- dieser unscheinbaren Pelagea Wlassowa hätte
weise auflockerte (beispielsweise durch Pan- man lieber eine Kämpferin gesehen, die ihrer
tomimen; vgl. Hauptmann) und die zuvor wilden Empörung in Worten Luft macht«
spartanische Ausstattung durch historisches (Adamov in: Hecht, S. 167). Barthes hielt den
Kolorit ergänzte, nahm auch Eisler seiner Mu- Skeptikern entgegen, dass der Marxismus B.s
sik durch eine weichere Instrumentation eini- ebenso legitim sei wie der Katholizismus Clau-
ges von ihrer früheren Schärfe (vgl. Dümling dels. Dies gelte umso mehr, als das Stück unter
1998, S. 371). Dennoch wurde gerade diese Verzicht auf Stereotype ein wirkliches Problem
Inszenierung vom ZK der SED als »formali- darstelle: die Entwicklung des politischen Be-
stisch« verurteilt (Klatt, S. 10 f.), was dazu wusstseins (Barthes, S. 143). Vom Wachsen
führte, dass B.s Stücke, mit Ausnahme der des Bewusstseins und seinem Übergang zu po-
Gewehre der Frau Carrar, von 1952 bis 1956 in litischer Aktion erhalte es seinen ästhetischen
der DDR nur noch am Berliner Ensemble ge- Reichtum, sei doch das Bewusstsein von dop-
spielt werden durften (Gersch, S. 271). pelter Existenzform, zugleich sozial und in-
Diese Modell-Inszenierung, die der junge dividuell motiviert.
Manfred Wekwerth 1953 im Auftrag B.s mit Ein Meilenstein in der Aufführungsge-
großem Publikumserfolg auf die Wiener Scala schichte wurde im Herbst 1970 die Inszenie-
übertragen hatte (Wekwerth 1977; Palm, rung des Teams Wolfgang Schwiedrzik, Frank
S. 108–114; Wyss, S. 149–152), stand in drei Steckel und Peter Stein als vielbeachteter Start
nur leicht veränderten Neueinstudierungen der West-Berliner Schaubühne am Halleschen
(1954, 1957 und 1967) bis zum Tod Helene Ufer. Im Unterschied zur Produktion des Ost-
Weigels 1971 auf dem Spielplan. 1958 wurde Berliner Ensembles blickte sie nicht auf eine
sie in einem Dokumentarfilm der DEFA aufge- abgeschlossene historische Entwicklung zu-
zeichnet. Während B. 1954 wieder Agitprop- rück, sondern überprüfte, so Horst Windel-
Elemente wie Ansprache an das Publikum und both, mit »zwingender Schlichtheit« (Wyss,
Einbeziehung von Kommentaren verstärkt S. 153) die Anwendbarkeit des historischen
hatte, suchte die Aufführung von 1967 eine Zitats für die Gegenwart. »Indem sie prinzi-
Synthese von Historie und Agitation zu errei- pielle Vergleichbarkeit der kapitalistischen
chen (Wekwerth 1973, S. 244; vgl. Seyfarth). Produktionsverhältnisse von Rußland 1905
Mit der Inszenierung von 1957 gastierte das und Westdeutschland 1970 demonstriert, bie-
Ensemble drei Jahre später beim Pariser Thea- tet sie an, über eine vergleichbare Verände-
ter der Nationen. Das in Frankreich bis dahin rung dieser Verhältnisse (die Abschaffung des
vorherrschende Wohlwollen gegenüber B.s Kapitalismus) nachzudenken« (Canaris,
Schaffen schlug in diesen Jahren selbst bei S. 104 f.). Mit Therese Giehse hatte wieder
politischen Sympathisanten in Skepsis um eine ältere Frau der Generation Helene Wei-
(Hüfner, S. 153). Die Aufführung der Mutter gels die Titelrolle übernommen. Ansonsten
spaltete das Publikum, während die Presse dominierte auf der vom Publikum dicht um-
überwiegend negativ berichtete. Auf Wider- ringten Arenabühne eine jüngere Schauspie-
spruch stieß nicht die Inszenierung oder die lergeneration, darunter Edith Clever, Jutta
darstellerische Leistung Helene Weigels, son- Lampe, Bruno Ganz und Otto Sander, die spä-
dern, wie schon 1935 in New York, der offene teren ›Stars‹ der Schaubühne am Lehniner
Marxismus im Stück. Positiver reagierten die Platz. Mit Ausnahme der gestrichenen Szene
Kritiker Arthur Adamov und Roland Barthes, 13 (Vaterländische Kupfersammelstelle) kam
die sich mit der ablehnenden Haltung ihrer das vollständige Stück zur Aufführung, ergänzt
Kollegen auseinandersetzten. Adamov leitete durch vier Lesetexte zum historisch-politi-
Aktualität, Historie und Utopie 307

schen Hintergrund. Henning Rischbieter hob sionen vernachlässigt« (Nössig 1975, S. 19).
neben der Professionalität der Spieler gerade Das Grundprinzip der Abstraktion erstreckte
dies hervor: »Der Text ist nicht durch Eingriffe sich auf die leere Bühne wie auch auf die Dar-
aktualisiert, sondern er wird durch Zusätze stellung, die auf Gesten reduziert wurde.
[…] historisch noch mehr verifiziert« (Risch- »Diese Inszenierung nimmt Brecht beim Wort
bieter 1970, S. 26 f.). Aktuelle Brisanz erhielt als Theoretiker und schädigt ihn im Wort als
die Inszenierung nicht zuletzt durch die von Dichter des epischen Theaters. Das Lehrstück
Peter Fischer einstudierten Gesänge und über Klassenkampf wird zu einer Lektion,
Chöre; so wurde etwa Pawels Lied Im Gefäng- genauer: ›Audiovision‹ nichtaristotelischen
nis zu singen als »ein Kampflied der neuen Theaters. Verhalten darstellend, wird die Auf-
bundesrepublikanischen Linken« aufgefasst führung immer mehr zur Ausstellung von Hal-
(S. 27). Solche Deutungen wurden gestützt tungen. Verfremdung wird so rigoros gehand-
durch die politischen Materialien im Pro- habt, daß das Ergebnis nicht nur entfremdet,
grammheft, die einen Bogen schlugen von Le- sondern auch befremdet.« (Schumacher
nin zu Mao Tse-Tung. Im antikommunisti- 1977b, S. 106) Der Kritiker vermutete hinter
schen Klima der westlichen Stadthälfte war dem rigorosen Formalismus die bewusste De-
dies solche Provokation, dass der Berliner Se- montage Weigels durch Berghaus, wenn er
nat der Bühne zeitweilig die Subventionen fragte: »Ist es ein weiblicher Ödipus-Komplex
sperrte. Erst nach ihrem Schwenk zu einem der Regisseuse gegenüber der ›Mutter‹ und
eher unpolitischen Ästhetizismus sollte sie da- ihrer repräsentativsten Interpretin […]?«
nach für drei Jahrzehnte zu einem der best- (Ebd.) Die Streichung so wichtiger Lieder wie
finanzierten Theater der Stadt aufrücken. Lob der Wlassowas und Lob der dritten Sache
Während die Schaubühnen-Inszenierung in der von Karl Mickel bearbeiteten Stücke-
vor allem Intellektuelle erreichte, gastierte im Fassung konnte auch als Angriff auf B. und
gleichen Jahr das Westfälische Landestheater Eisler verstanden werden. Ganz gegen deren
Castrop-Rauxel an 56 Orten des Ruhrgebiets Intention wurden die verbliebenen Lieder und
erstaunlich erfolgreich vor einem Publikum Chöre einem einzigen Schauspieler (Ekkehard
mit deutlich höherem Arbeiteranteil. Regis- Schall) anvertraut, der sie im dunklen Abend-
seur Hans Dieter Schwarze hatte das Stück in anzug mit Schlips und in der Haltung eines
eine aktuelle Streiksituation verlagert. Mit Oratoriensängers in die Loge tretend sang.
Kürzungen, der Umbenennung des Lob des Mickel ging noch weiter, indem er seine Bear-
Kommunismus in »Lob des Marxismus« und beitung nach Streichung der Szenen 13 und 14
Ursula Herking in der Titelrolle machte er mit einer folgenlosen Antikriegs-Agitation der
Zugeständnisse an sein Publikum, »aber er hat Mutter enden ließ. Was auch als grundsätz-
es auf die gleiche listige Weise getan, die die liche Auseinandersetzung mit der DDR-Reali-
Mutter im Stück mehrfach vorführt; er ist ei- tät intendiert sein mochte, wirkte als »eine arg
nen Schritt zurückgegangen, aber offensicht- verkünstelte und anspielungsreiche Angele-
lich, um zwei vorwärtszukommen« (A. Müller, genheit für Insider« (C. Müller, S. 25).
S. 54). Wie am Berliner Ensemble überging auch
Dagegen zeugte im Oktober 1974 die erste Manfred Karge 1983 in Bochum den Ausblick
Neuinszenierung des Stücks am Berliner En- auf die Oktoberrevolution. Nach Streichung
semble nach dem Tod der Weigel vor allem von der Szenen 11, 13 und 14 endete das Stück mit
Negations-Absichten. Ruth Berghaus kam da- Szene 12. Karge ließ die Mutter im Friedens-
bei zu manieristischen Lösungen. »Es entsteht kampf mit den warnenden Worten fallen: »Be-
so etwas wie eine choreographische Regie, die denkt, wenn ihr versagt!« (Rischbieter 1983,
oft mehr auf das optisch Sinnfällige als auf das S. 38). Im Unterschied zu diesen drei Auffüh-
gedanklich und emotional Zwingende aus ist; rungen verzichtete Wolfgang Heinz, 1948 bis
Naivität, Dialektik der Figuren und Vorgänge 1956 Intendant der Wiener Scala, auf formalis-
sind zugunsten ästhetisch überspitzter Impres- tische Zuspitzungen wie auch auf Aktualisie-
308 Die Mutter

rungen, als er das Stück 1981 für das Fern- Begrenztheit ihrer Mittel verweisend, eine
sehen der DDR inszenierte. Lediglich am Geschichte vor, die sich zwischen 1905 und
Ende verwies ein Film-Abspann auf Auf- 1914 in Rußland zutrug, sie überläßt dem Zu-
standsbewegungen in der Dritten Welt. Wie- schauer durchaus, Ähnlichkeiten und Diffe-
derum historisierend, als »Bericht aus einer renzen zu aktuellen Formen der Manipulation
großen Zeit«, wurde das Stück 1988 in der und Verschleierung wirtschaftlicher ›Stand-
dritten Inszenierung des Berliner Ensembles ortprobleme‹ festzustellen – oder sich einfach
angekündigt. Obwohl die Regie (Wekwerth an der Naivität einer Geschichte zu erfreuen,
und Joachim Tenschert) nun nicht mehr bei die Friedrich Dieckmann ein ›Marienspiel‹
Manierismen Zuflucht suchte, griff auch sie in nennt.« (Ebd.) Obwohl die Momente einer
die Vorlage ein. »Die Neufassung des Texts, Passionsgeschichte unterstrichen wurden,
möglicherweise vorgenommen, um agitatori- fehlte beispielsweise der Szene mit dem Leh-
sche Momente zu ›unterspielen‹, in den Vor- rer nicht der Humor. Wichtiger als die Aktuali-
gängen Schwierigkeiten, Niederlagen, auch sierung wurde der Rückblick auf die weit ent-
Zweifel als historische Erfahrungen der Arbei- fernten Ursprünge einer inzwischen diskredi-
terklasse deutlicher sichtbar werden zu lassen, tierten oder fast schon vergessenen sozialen
ist nicht gelungen. Das Stück und einige Fi- Vision.
guren büßen an Dimension, historischem Ko-
lorit und ästhetischer Unverwechselbarkeit
ein.« (Nössig 1988, S. 15) Literatur:
Nach der Wende von 1989 rückten Erinne-
Atkinson, Brooks: »Mother« Learns and Teaches the
rungen an die Oktoberrevolution noch mehr in
Facts of Life. In: Mews, Siegfried (Hg.): Critical
Distanz. Umso überraschender wirkte die er- Essays on Bertolt Brecht. Boston 1989, S. 94–95.
folgreiche Aufführung des Stücks in Rio de Deutsche Übersetzung in: Wyss, S. 493–494. – Auf-
Janeiro durch das Schauspielerkollektiv Com- richt, Ernst Josef: Erzähle, damit du dein Recht er-
pañia Ensaio Aberto (Regie: Luiz Fernando weist. Aufzeichnungen eines Berliner Theaterdirek-
Lobo) im Frühjahr 1996 sowie 1998 eine Pro- tors. München 1969. – Barthes, Roland: Sur »La
Mère« de Brecht. In: Essais critiques. Paris 1964,
duktion des Berliner theater 89. Noch vor der
S. 143–146. – Bawey, Petermichael von: Dramatic
Wende hatte der Schauspieler des Berliner En- Structure of Revolutionary Language. Tragicomedy
sembles Hans-Joachim Frank, der 1974 in der in Brecht’s »The Mother«. In: Mews, Siegfried
Inszenierung Ruth Berlaus den Pawel gespielt (Hg.): Critical Essays on Bertolt Brecht. Boston
hatte, in einem Jugendklub diese Theater- 1989, S. 96–106. – Benjamin. – Berlau, Ruth: »Die
gruppe gegründet. Nun hielt er das Stück für Mutter« / Berlin 1932 – New York 1935 – Kopen-
hagen 1935 – Leipzig 1950 – Berlin 1951. In: Thea-
geeignet, »in kritischer Aneignung die laut
terarbeit. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles.
Brecht fortgeschrittensten Positionen einer Leipzig 1952, S. 332–341. – Canaris, Volker (Hg.):
neuen Dramaturgie mit einer heutigen histori- Die Mutter. Regiebuch der Schaubühnen-Inszenie-
schen Selbstbefragung zu konfrontieren« (Lin- rung. Frankfurt a. M. 1971. – Cronin, Mary J.: The
zer, S. 57). Während Wekwerth 1988 mehrere Politics of Brecht’s Women Characters. Brown Uni-
Lieder gestrichen hatte, rückte er die in Origi- versity 1974 [Masch.]. – Dümling. – Dümling, Al-
brecht: »Im Stil der Lehrstücke«. Zu Entstehung und
nalbesetzung gespielte Musik Eislers wieder
Edition von Eislers Musik für Brechts Gorki-Bear-
in den Vordergrund. Ihr näherten sich die Dar- beitung »Die Mutter«. In: Dürr, Walter [u. a.](Hg.):
steller, nicht zuletzt Gabriele Heinz als Mutter, Der Text im musikalischen Werk. Editionsprobleme
in einer Haltung »zwischen Abwehr und Zu- aus musikwissenschaftlicher und literaturwissen-
neigung, zunehmend mit Staunen« (S. 58). schaftlicher Sicht. Berlin 1998, S. 361–381. – Eisler,
Der freundliche Ton der Musik führte dabei Hanns: Briefe an Nathan Notowicz. In: Sinn und
Form. Sonderheft Hanns Eisler. Berlin 1964, S. 278–
weniger zu agitatorischer Schärfe als zum Aus-
282. – Eisler/Bunge.- Fenn, Bernard: Characterisa-
blick in utopische Fernen. »Natürlich will die tion of Women in the Plays of Bertolt Brecht. Frank-
Inszenierung den Zuschauer nicht belehren, furt a. M. 1982. – Fowler, Kenneth: Received Truths:
nicht agitieren, sie führt bescheiden, auf die Bertolt Brecht and the Problem of Gestus and Musi-
309

cal Meaning. New York 1991. – Fradkin, Ilja: Bertolt H. 11, S. 26 f. – Ders.: Neues vom alten Brecht? In:
Brecht. Weg und Methode. Frankfurt a. M. 1974. – Theater heute (1983), H. 11. S. 24–39. – Ritchie,
Fuegi, John: The Essential Brecht. Los Angeles Gisela F.: Der Dichter und die Frau. Literarische
1972. – Gellert, Inge (Hg.): Margarete Steffin. Kon- Frauengestalten durch drei Jahrhunderte. Bonn
futse versteht nichts von Frauen. Nachgelassene 1989. – Ritterhoff, Teresa: Ver/Ratlosigkeit: Benja-
Texte. Berlin 1991. – Gersch, Wolfgang: Film bei min, Brecht, and »Die Mutter«. In: BrechtYb. 24
Brecht. Berlin 1975. – Hauck, Stefan (Hg.): Marga- (1999), S. 247–264. – Rülicke-Weiler, Käthe: Die
rete Steffin. Briefe an berühmte Männer. Hamburg Dramaturgie Brechts. Berlin 1966. – Schlaffer, Han-
1999. – Hauptmann, Elisabeth: Die Pantomime in nelore: Dramenform und Klassenstruktur. Stuttgart
der Bibelszene. In: Dies.: Julia ohne Romeo. Berlin 1972. – Seyfarth, Ingrid: »Die Mutter« von Bertolt
1977, S. 178–181. – Hecht, Werner (Hg.): Materia- Brecht. In: Theater der Zeit (1967), H. 12, S. 8–10. –
lien zu Bertolt Brechts »Die Mutter«. Frankfurt a. M. Schumacher, Ernst: Die dramatischen Versuche Ber-
1998. – Hoffmann, Ludwig (Hg.): Theater der Kol- tolt Brechts 1918–1933. Berlin 1955. Reprint mit
lektive. Proletarisch-revolutionäres Berufstheater in einem Nachwort und einem Anhang des Verfassers.
Deutschland 1928–1933. Stücke, Dokumente, Stu- Berlin 1977a. – Ders.: Brecht-Kritiken. Berlin
dien. Bd. 1. Berlin 1980, S. 404–421. – Hüfner, Ag- 1977b. – Stark, Günther/Weisenborn, Günther: Die
nes: Brecht in Frankreich 1930–1963. Verbreitung, Mutter. Nach dem gleichnamigen Roman von Maxim
Aufnahme, Wirkung. Stuttgart 1968. – Ihering, Her- Gorkij. In: Brecht heute (1973), S. 64–105. – Stein-
bert: Die Mutter. In: Ders.: Von Reinhardt bis weg. – Thomas, Emma Lewis: Brecht’s Drama »Die
Brecht. Vier Jahrzehnte Theater und Film. Bd. 2. Mutter«, a case of Double Adaptation. Indiana Uni-
Berlin 1961, S. 526–528. – Ders.: Gorki, Pudowkin, versity 1972 [Masch.]. – Dies.: The Stark-Weisen-
Brecht. In: Ders.: Bert Brecht hat das literarische born Adaptation of Gorky’s Mutter: Its Influence on
Antlitz Deutschlands verändert. Gesammelte Kriti- Brecht’s Version. In: Brecht heute (1973), S. 57–63. –
ken zum Theater Brechts. Hg. v. Klaus Völker. Mün- Tschörtner, Heinz-Dieter: Bertolt Brecht und Gün-
chen 1980, S. 58–60. – Kebir, Sabine: Ich fragte nicht ther Weisenborn. In: Notate 10 (1987), H. 5, S. 12–
nach meinem Anteil. Elisabeth Hauptmanns Ar- 14. – Wedel, Ute: Die Rolle der Frau bei Bertolt
beit mit Bertolt Brecht. Berlin 1997. – Klatt, Gudrun: Brecht. Frankfurt a. M. 1983. – Weisenborn, Gün-
»Mutter«-Diskussionen 1951. In: Notate 4 (1981), ther: Für Hanns Eisler. In: Sinn und Form. Sonder-
H. 3, S. 8–12. – Klein Nussbaum, Laureen: The heft Hanns Eisler 1964. Berlin 1964a, S. 392–393. –
Image of Woman in the Work of Bertolt Brecht. Uni- Ders.: Der gespaltene Horizont. Niederschriften
versity of Washington 1977 [Masch.]. – Knepler, eines Außenseiters. München 1964b – Wekwerth,
Georg: »Was des Eislers ist …« In: Beiträge zur Mu- Manfred: Schriften. Arbeit mit Brecht. Berlin 1973.
sikwissenschaft 15 (1973), S. 29–48. – Ders.: Ge- – Ders.: Aus dem Regiebuch für die Inszenierung an
schichte als Weg zum Musikverständnis. Leipzig der Wiener Scala. In: Hecht 1977, S. 154–163. –
1977. – Krabiel. – Lennox, Sara: Women in Brecht’s Wyss.
Works. In: New German Critique 14 (1978), S. 83–
Albrecht Dümling
96. – Linzer, Martin: Theater zwischen Berliner
City und Brandenburger Provinz. In: Theater der
Zeit (1998), H. 5, S. 57–59. – Lucchesi/Shull. –
Mayer, Hans: Brecht. Frankfurt a. M. 1996. – Mitten-
zwei, Werner: Bertolt Brecht. Von der »Maßnahme«
zu »Leben des Galilei«. Berlin, Weimar 1965. – Mit-
tenzwei, Bd. 1. – Müller, André: Brecht im Koh-
Die Rundköpfe und die
lenpott. »Die Mutter« erstmals in der Bundesrepu- Spitzköpfe
blik. In: Theater der Zeit (1970), H. 1, S. 53 f. –
Müller, Christoph: Die Mühen der Ebenen. Ein Re-
port über die Theatersituation in der Hauptstadt der
DDR. In: Theater der Zeit (1974), H. 12, S. 16–28. – Auf wenige Theaterstücke B.s haben die
Nössig, Manfred: »Die Mutter« von Bertolt Brecht. Wandlungen der aktuellen Politik so stark ein-
In: Theater der Zeit (1975), H. 1, S. 18–20. – Ders.: gewirkt wie auf Die Rundköpfe und die Spitz-
Erneuter Versuch nach 56 Jahren. »Die Mutter« köpfe. Das Stück entstand 1932–1936, als sich
von Bertolt Brecht neuinszeniert am Berliner En- Deutschland in nicht vorhersehbaren Ausma-
semble. In: Theater der Zeit (1988), H. 4, S. 26 f. –
ßen veränderte. Den Ausgangspunkt bildete
Palm, Kurt: Vom Boykott zur Anerkennung. Brecht
und Österreich. Wien 1983. – Rischbieter, Henning: Shakespeares Maß für Maß, das B. im Auftrag
Revolution auf Taubenfüßen. Brecht [sic] »Die Mut- des Theater- und Filmregisseurs Ludwig Ber-
ter« in der Schaubühne. In: Theater heute (1970), ger für die Berliner Volksbühne einrichten
310 Die Rundköpfe und die Spitzköpfe

sollte (1. Fassung). Aber die für Januar 1932 In Shakespeares Stück hat ein Herrscher
vorgesehene Premiere entfiel, da die einge- (Vincentio) die Amtsgeschäfte in seiner Ab-
schobenen Mutter-Proben zu terminlichen wie wesenheit einem Statthalter (Angelo) übertra-
inhaltlichen Problemen geführt hatten. An- gen, der den allgemeinen Sittenverfall be-
ders als die Gorki-Adaption erschien die kämpfen soll. Unterstützt von Staatsrat Escaler
Shakespeare-Bearbeitung ungeeignet, um auf lässt Angelo die Bordelle schließen. Den Ade-
eine revolutionäre Situation zu reagieren. B. ligen Claudio, der seine Braut vor der Hoch-
entschloss sich deshalb, von der Bearbeitung zeit verführte, verurteilt er zum Tode. Als aber
zu einem eigenständigen Stück überzugehen. dessen Schwester Isabella um Gnade bittet,
In Zusammenarbeit mit der Philologin Elisa- macht der Statthalter einen teuflischen Vor-
beth Hauptmann, dem Schriftsteller Emil schlag: ihr Bruder komme frei, wenn Isabella
Hesse-Burri, der jungen Kommunistin Marga- sich ihm, Angelo, hingibt. Als der Herzog da-
rete Steffin und dem Lehrer Hermann Bor- von erfährt, schlägt er Isabella vor, zum Schein
chardt entstand eine 2. Fassung, welche die auf das empörende Angebot einzugehen, an
aktuelle Auseinandersetzung mit Hitler und ihrer Stelle verkleidet aber die frühere Ge-
seiner Rassenideologie einbezog. Noch 1932 liebte des Statthalters zu schicken. Der Herzog
erschien sie im Bühnenmanuskript bei Felix kehrt bald darauf offiziell zurück und klagt den
Bloch Erben (in GBA als Fassung von 1933 Statthalter an, weil er sich den eigenen Ge-
bezeichnet). Die Korrekturfahnen eines ge- setzen entzog. Erst als Angelo Reue zeigt, wird
planten Drucks im Rahmen der Versuche, be- er begnadigt und alle Paare finden zueinan-
titelt Die Spitzköpfe und die Rundköpfe oder der.
Reich und reich gesellt sich gern. Ein Greu- Trotz einiger Änderungen – so wurde Isa-
elmärchen, nahm B. mit, als er am 28. 2. 1933 bella durch eine Hure und nicht durch die
Deutschland verließ. einstige Geliebte des Statthalters vertreten –
Da sich das Kopenhagener Dagmar-Theater hielt sich die Bearbeitung weitgehend an die
für die Uraufführung interessierte, arbeitete Vorlage. Den Ruf nach Gerechtigkeit für alle
B. im März 1934 zusammen mit Steffin und stellte sie aber als illusionär dar. Die 2. Fas-
Hanns Eisler, der die Musik komponierte, das sung wechselte von der Moral zur Politik, in-
Stück noch einmal um. Aufgrund der däni- dem nun der Statthalter den Staat vor drohen-
schen Zensur und einer Intervention der deut- dem Bankrott retten sollte. Unter Verwendung
schen Botschaft kam aber auch diese 3. Fas- der am 21. 10. 1932 im Völkischen Beobachter
sung nicht zur Aufführung. In der Hoffnung abgedruckten Rede Hitlers Antwort an den
auf andere Bühnen und angesichts der gefes- Reichskanzler von Papen wurde Angelo als
tigten Machtposition Hitlers revidierte B. ehrlicher Fanatiker dargestellt, der sich einer-
das Stück erneut. Eine 4. Fassung, in deren seits antikapitalistisch geriert, andererseits
dänische Übersetzung die Zensur erheblich aber eine Salzsteuer zugunsten der Staatskasse
eingegriffen hatte, wurde endlich am 4. 11. einführt. Die Widersprüchlichkeit seines Han-
1936 am Kopenhagener Riddersalen-Theater delns verschleiert er, indem er, gemäß dem
uraufgeführt (in GBA als erste Variante der »divide et impera«-Prinzip, das Volk in zwei
Fassung von 1938; Uraufführungsfassung bei Rassen einteilt: böse, spitzköpfige »Tschichen«
Bahr, S. 7–108). Vor der Drucklegung des und gute, rundköpfige »Tschuchen« (ursprüng-
Stücks 1938 in der Ausgabe der Gesammel- lich eine Anspielung auf die Tschechen; vgl.
ten Werke nahm B. weitere Änderungen vor Gerz, S. 131). Gespalten wird damit auch die
(5. Fassung), die er am 30. 11. 1936 gegenüber »Sichel«-Bewegung, die einen Aufstand der
Otto Bork so begründete: »[…] ich habe das Pächter vorbereitet. Während das Motiv der
Stück eben hier inszeniert und dabei – glaube Salzsteuer nach 1932 entfiel, wurde das Ras-
ich – eine Menge verbessern können, was doch senthema ausgebaut. Trotz der Verlegung der
bei so aktuellen Dingen sehr wichtig ist« (GBA Handlung von Wien bzw. Prag in ein Fantasie-
28, S. 566). Peru dienten die italienischen Verhältnisse als
Fassungen 311

Modell. Angesichts der dortigen Agrarstruk- drohenden Aufstand der Pächter abzuwenden
turen wurde auf Anregung von Hauptmann die sucht. Trotz der Anspielungen auf NS-Verhält-
auf Kleists Novelle Michael Kohlhaas zurück- nisse ist das Stück nicht deren einfache Wie-
gehende Callas-Handlung eingefügt. Der dergabe, als das es häufig verstanden wurde.
Pächter Callas und seine Tochter, die Kellnerin Im Sinne des bewusst Künstlichen und Thea-
und Dirne Judith (1934 wurde sie in Anleh- tralischen wurde es um ein Vorspiel ergänzt, in
nung an die Ragionamenti des Pietro Aretino dem die sieben Hauptakteure, angeführt vom
in Nanna umbenannt), repräsentieren jene Theaterdirektor, auftreten und, noch ohne Ko-
Teile des einfachen Volks, die sich, von den stüm und Masken, auf das Fiktive der Hand-
Parolen des Statthalters verwirrt, den ›Um- lung in dem erfundenen Land Jahoo verwei-
sturz‹ erhoffen. sen: »Und jetzt Kulisse her und Praktikabel /
Wie schon die ursprüngliche Shakespeare- Und frisch die Welt gezeigt in der Parabel! /
Bearbeitung (vgl. Berger) entstanden auch die Wir hoffen, es gelingt uns und Sie sehn /
weiteren Fassungen in kollektiver Arbeit. Als Welch Unterschiede vor den andern gehn.«
»ein Pingpongspiel mit Gedanken« hat Ruth (GBA 4, S. 152) Konsequenter als früher wur-
Berlau die Zusammenarbeit zwischen B. und den Passagen im fünffüßigen Jambus, dem
Eisler charakterisiert (Berlau, S. 258). Sie Blankvers des Shakespeare-Stücks, als »hohe«
fügte hinzu: »Aus einem Satz wuchs eine Melo- Sprache der Prosa der kleinen Leute gegen-
die – aus einer Melodie ein Satz.« (Ebd.) Noch übergestellt. Durchschläge der neuen Stück-
während der dichterischen Arbeit kam es dem- fassung gingen zur Begutachtung auch an Ex-
nach zu melodischen Entwürfen, wie umge- terne. Lobende Worte kamen aus Paris von
kehrt Melodievorlagen Texte anregten. Der Walter Benjamin, aber auch aus den USA: »Das
Komponist dürfte nicht zuletzt an der Einfü- Stueck ist sehr gut geschlossen. […] Dass es
gung der Gesangstexte mitgewirkt haben. Aus sich jetzt um ein Triumvirat handelt Ib.-Es.-
Auflistungen im Nachlass geht hervor, dass da- Za. ist sehr gut und dass Sie die eingreifende
bei verschiedene Aspekte eine Rolle spielten: Wirkung revolutionaerer Songs (Callas oef-
Einerseits sollten alle sozialen Gruppen »ihr« fentliches Absingen eines gefaehrlichen Lie-
Lied erhalten (BBA 432/11), andererseits soll- des [= Was-man-hat-hat-man-Lied]) hinein-
ten die Gesänge sinnvoll über das Stück ver- verflechten und zwar so glaubwuerdig, ist
teilt werden (BBA 432/10). Sie gingen teil- wirklich alles ein grosser Vorteil« (Hauptmann
weise auf Vorlagen zurück, so die Hymne des am 14. 5. 1934 aus St. Louis; zit. nach BBA
erwachenden Jahoo auf den zweiten der Hitler- 480/89).
Choräle und das Lied von der Tünche auf den Die Änderungen der 4. Fassung erklären die
Song von der Tünche aus dem Filmexposé Die Aktionen Iberins, so auch die Niederschlagung
Beule. der »Sichel«-Bewegung, vor allem mit der Vor-
Die 3. Fassung von 1934 mit dem endgülti- bereitung eines neuen Eroberungskriegs. Cal-
gen Titel Die Rundköpfe und die Spitzköpfe las aber entzieht sich dem Militärdienst und
stellte, wie B. am 31. 3. 1934 gegenüber Elias schließt sich der im Untergrund weiterexistie-
Alexander bemerkte, »eine völlige Neufor- renden Widerstandsbewegung an. In der
mung« dar (GBA 28, S. 413). Die bisher 15 Druckfassung für die Gesammelten Werke (5.
Szenen wurden auf elf reduziert. Der Statt- Fassung) hat B. allerdings solche Aktualisie-
halter (jetzt Angelo Iberin) handelt zwar wei- rungen wieder abgebaut und stattdessen den
terhin im Auftrag des Vizekönigs, ist aber auch Parabelcharakter des Stücks unterstrichen.
abhängig von der neu hinzugefügten Hua- Das Parabelhafte hat die Forschung lange
Schlägertruppe. Gemeinsam mit deren Kom- entweder übersehen oder als unzulängliches
mandanten Zazarante (inspiriert durch den Mittel zur Darstellung der historischen Reali-
SA-Führer Röhm) und dem Staatsrat Eskahler tät kritisiert. Wegen der Vereinfachung sei es
(nach Shakespeares Escalus-Figur) bildet er B. nicht gelungen, »ein Abbild der hochent-
ein Triumvirat, das die Staatskrise und den wickelten kapitalistischen Gesellschaft mit all
312 Die Rundköpfe und die Spitzköpfe

ihren Widersprüchen und Verknüpfungen« zu zit. nach Dümling, S. 373). Für einige Tage
geben (Mittenzwei, S. 187). Die Darstellung gingen von dem Aufstand Hoffnungen auf
von Hitlers Rassenpolitik sei durch die Ge- grundlegende Änderungen auch in Deutsch-
schichte grausam widerlegt (vgl. Engberg, land aus. Obwohl die blutige Niederschlagung
S. 135), wenngleich man den »historischen Irr- des Aufruhrs diese Erwartungen enttäuschte,
tum« verstehen könne; auch Deutschnationale hielten B. und seine Mitarbeiter langfristig an
seien ihm zunächst erlegen (Rischbieter, ihnen fest. (Sie lagen auch dem Saarlied zu-
S. 126 f.). Nach Gerhard Scheit verfehlt die grunde sowie dem Band Lieder Gedichte
ökonomistische Sicht die Wirklichkeit, hätten Chöre, der damals illegal nach Deutschland
sich doch die faschistischen Führer »nicht als eingeschleust wurde.) Darauf deutet der große
Marionetten in den Händen des Großkapitals« Stellenwert, den im Stück der Widerstand der
erwiesen (Scheit, S. 221). Pächter erhielt. Ebenso wie der Hurrikan in
Solche Interpretationen als satirisches Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny beein-
Schlüsselstück zur Rassenideologie des Hitler- flusst und steuert die Sichel-Bewegung die
Reiches lehnt Klaus Völker als zu eng ab. Es Handlung von außen; nur durch eingeblendete
handele sich vielmehr um eine parabelhafte Nachrichten kommt ihr Aufstand auf die
Darstellung über den Satz »Reich und reich Bühne, außerdem durch das volksliedartige
gesellt sich gern«, der auf aktuelle Militär- Lied der Sichel, das meistgesungene Lied im
diktaturen übertragbar sei (Völker, S. 250– Stück. Es geht zurück auf das von Eisler einge-
252). Auch Alois Münch bekräftigt den Para- brachte, textlich auf die Bauernkriege zurück-
belcharakter des Werks, der »keine unmittel- greifende Bauernlied aus Julius Bittners Oper
bare Wiedergabe der gesellschaftlichen Wirk- Der Bergsee (1911), das dort mehrfach einge-
lichkeit, sondern eine durchreflektierte setzt wird. Ohne textliche Hinzufügungen, nur
Inszenierung historischer Ereignisse im Rah- durch Umstellungen und Verknappungen so-
men eines idealisierenden Modells« bezwecke wie eine neue Melodie verstärkten B. und Eis-
(Münch, S. 83). Gerade das Reduktionsmodell ler den Appellcharakter dieser Vorlage.
des Parabelstücks ermöglicht nach Raimund Der autonomen Sichel-Bewegung stehen die
Gerz die Präsentation von Grundkonstellatio- Huas gegenüber, die als »Hutabschlägerstaf-
nen. Wegen seiner komplexen Kritik der ideo- feln« die Kopfformen der Staatsbürger zu
logischen Voraussetzungen und Mechanismen überprüfen haben. Anstelle eines eigenen
faschistischer Herrschaft stelle das Rund- Lieds singen sie, dem autoritären Personen-
köpfe-Stück »sowohl von der Problemkonstel- kult im Iberin-Staat entsprechend, die Hymne
lation und -entfaltung als auch von der ästhe- des erwachenden Jahoo (auch Iberin-Choral
tischen Konstruktion her, eines der profunde- genannt). Dem Volkslied kontrastiert so der
sten Werke der antifaschistischen Literatur Choral, der aktivistischen Haltung die anbe-
überhaupt dar« (Gerz, S. 286). tende Verehrung. Dass diese beiden Gesänge,
Die 3. Fassung von 1934 stand unter dem Sichellied und Iberin-Choral, zentrale Bedeu-
Eindruck des österreichischen Arbeiterauf- tung für die Neufassung des Stücks besaßen,
standes gegen das Dollfuß-Regime ab dem geht daraus hervor, dass sie die ersten Lied-
12. 2. 1934. Bei ihrer Abreise aus Paris hatten kompositionen waren, die Eisler nach seiner
Eisler und seine Freundin Louise Jolesch ei- Ankunft im März 1934 vollendete.
nen Generalstreik mit Arbeiterdemonstratio- B. hatte mehrfach sein Desinteresse an der
nen gegen rechtsextreme Gruppierungen er- Rassenfrage hervorgehoben. Dies manife-
lebt. Bei ihrer Ankunft in Dänemark waren sie stiere sich schon darin, wie er in einem Brief
verwundert über die karge Begrüßung. »Vor vom Ende April 1934 gegenüber dem Regis-
dem Radioapparat saßen Brecht, seine Frau, seur Per Knutzon hervorhob, dass es kein
Marie Lazar und Karl Korsch; erregt hörten sie einziges Lied über dieses Thema gebe. Die
den Bericht über den Ausbruch der Februar- Lieder und Gesänge sollten interpretatorische
kämpfe in Österreich« (Louise Eisler-Fischer; Schwerpunkte setzen, aber auch die Wirkung
Mehrdeutigkeiten 313

auf den Zuschauer bestimmen und prägen. Im wusste Doppelungen, welche die Absurdität
selben Brief berief sich B. auf die Musik, als er terminologischer Umfunktionierungen de-
die Distanz zur Zeitgeschichte hervorhob: monstrieren. Zu den Wiederholungen, die das
»Das Stück wird überhaupt, wie ich hoffe, eher Stellvertreter-Motiv der Shakespeare-Vorlage
wie ein indisches Märchen à la ›Vasantasena‹ aufgreifen, gehört die Parallelisierung der
wirken auf der Bühne, mild und ein wenig die Gerichtsszenen, der doppelte Eintritt der
menschliche Einfalt verspottend. Die Musik Pächterstocher Nanna ins Bordell, während
wird da viel ausmachen.« (GBA 28, S. 414) Isabella, die Schwester des spitzköpfigen
Diese lenke die Aufmerksamkeit des Zuschau- Pachtherrn de Guzman, dem Kloster zweimal
ers zudem von der als Absurdität dargestellten entgeht. Wie sich der Vizekönig durch Iberin
und keineswegs allein auf den NS-Staat bezo- vertreten lässt, so Isabella durch Nanna, und
genen Rassenfrage hin zur sozialen Frage: am Ende Guzman durch Callas. Am deutlich-
»Ernst […] wird das Soziale wirken. Aus der sten wird das Wiederholungs-Prinzip bei der
Musik sieht man das am allerbesten.« (Ebd.) Unterweisung Nannas »in den drei Haupttu-
Die soziale Frage ist fast immer verbunden genden: Enthaltsamkeit, Gehorsam und Ar-
mit einer Auseinandersetzung über Sprache mut« ausgerechnet durch Isabella (GBA 4,
und Rhetorik. Eben diese Kombination macht S. 241). Obwohl Nanna die Worte, welche die
das Spezifische des Stücks aus. So führt die reiche Dame ihr vorspricht, wörtlich wieder-
Bordellwirtin Cornamontis mit der Ballade holt, nehmen sie in ihrem Mund einen ganz
vom Knopfwurf den für die NS-Propaganda anderen Sinn an. Meinte Isabella mit der
wesentlichen Schicksalsglauben ebenso ad ab- »Hingabe« an den »Herrn« den Glauben an
surdum wie die Hymne des erwachenden Ja- Gott, so bedeuten diese Worte für eine ein-
hoo die Volksgemeinschafts-Ideologie. Mit fache Kellnerin und Prostituierte wie Nanna
seinem Was-man-hat-hat-man-Lied fordert die Befriedigung eines neuen Freiers. Sind die
Callas die anderen Pächter dazu auf, sich mit klösterlichen Tugendforderungen schon für
Heil-Rufen nicht zufrieden zu geben: »Heil Isabella, die nicht im Ernst in ein Kloster ge-
Iberin! Aber / Nur / Was man hat, hat man!« hen möchte, Heuchelei, so erst recht für
(GBA 4, S. 201) Auch das Lied von der Tünche, Nanna: in ihrem Beruf sind es ›Todsünden‹.
das an die Metapher vom »Anstreicher« Hitler Dass sie Worte Isabellas ganz anders versteht,
anknüpft, warnt davor, Fassaden-Retuschen geht aus ihrem ironischen Vortrag und vor al-
mit einer wirklichen Erneuerung zu verwech- lem aus Eislers Musik hervor: Durch bewusste
seln. Das Stück kritisiert somit die propagan- Stilbrüche, etwa durch den Übergang von der
distische Verwirrung der Begriffe. Ebenso Schlichtheit eines psalmodierenden Rezitativs
sorgfältig wie der Romanist Victor Klemperer, zum frechem Foxtrott, markiert sie das Dop-
der zeitgleich mit den Vorstudien zu seinem peldeutige dieses »Andante religioso« (vgl.
Buch LTI (über die Sprache im ›Dritten Dümling, S. 377). Plastisch macht dieses Bei-
Reich‹) begann, beobachtete B. die Rhetorik spiel die prinzipielle Mehrdeutigkeit der Spra-
der neuen Machthaber. An George Grosz che, deren Sinn an den jeweiligen Sprecher
schrieb er am 2. 9. 1934: »Ich höre jeden ihrer gebunden ist. Entgegen der offiziellen Gegen-
Vorträge im Radio, lese ihre Gesetzentwürfe überstellung »guter« Tschuchen und »schlech-
und sammle ihre Fotografien.« (GBA 28, ter« Tschichen belegt die Konfrontation von
S. 436) Wie 1935 in seinem grundlegenden Es- armer Nanna (Angehörige der privilegierten
say Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Rasse) und reicher Isabella (Angehörige der
Wahrheit untersuchte er auch im Rundköpfe- verfolgten Rasse) den Vorrang der Eigentums-
Stück das Funktionieren von Sprache und Be- verhältnisse.
grifflichkeit. Schon mit seinem Vorspiel sowie mit dem
Die »Wiederherstellung der Wahrheit« Jonathan Swifts Gulliver’s travels (1726) ent-
(GBA 22, S. 89) geschieht im Stück durch das lehnten Ortsnamen Jahoo hatte das Stück auf
Aufzeigen von Widersprüchen und durch be- den Parabelcharakter und somit das Fiktive
314 Die Rundköpfe und die Spitzköpfe

der Handlung verwiesen. Aber eben dieses schlagkräftig. Schon nach 21 Aufführungen
Spiel mit der Wirklichkeit, die Umdeutung der verschwand die Produktion vom Spielplan,
Begriffe unter dem Vorwand von »Volksauf- und die nachfolgende Inszenierung der Sieben
klärung und Propaganda« (so das Ressort des Todsünden wurde am Königlichen Theater so-
Ministers Joseph Goebbels), gehörte damals gar nach zwei Vorstellungen abgesetzt. B. kom-
zur historischen Realität. Das Stück bezieht mentierte dies Ende 1936 gegenüber Korsch
sich damit auf eine Situation, in der die Dis- so: »Ich mußte doch recht froh sein, daß nach
tinktion nach Rassen die nach Klassen nur den ›Rundköpfen‹ meine Aufenthaltserlaubnis
scheinbar verdrängte, in der die Unterschei- erneuert wurde. Es gibt übrigens auch genü-
dung von Schein und Wirklichkeit aber zur gend Freunde, die sagen: ich müßte entweder
Existenzfrage wurde. In der Auseinanderset- einen reaktionären Inhalt oder eine reaktio-
zung mit einer Überrumpelungs-Rhetorik, ei- näre Form wählen, beides zugleich sei zuviel
nem »Wunderwerk der Vernebelungstechnik« des Guten.« (GBA 28, S. 569; laut Nørregaard,
(GBA 22, S. 341), exponiert das Drama ganz S. 411, war B.s Aufenthaltsgenehmigung nie
bewusst die Intertextualität (Hakkarainen, ernsthaft gefährdet)
S. 107–122) sowie die Widersprüchlichkeit Dass nach diesem komplizierten Start wei-
der Figuren und ihrer Handlungen, um so das tere Inszenierungen zunächst ausblieben, er-
Publikum zum Protest herauszufordern. Dies klärt sich nicht zuletzt aus der politischen Ent-
gilt nicht zuletzt für die Gesänge, die bei dem wicklung in Deutschland. Nach einer Teilauf-
hier erstmals systematisch verwendeten Prin- führung im Bert-Brecht-Studio der Deutschen
zip der Verfremdung eine zentrale Rolle spie- Volksbühne Dresden im November 1948, der
len. So vielfältig und differenziert in diesem letzten zu Lebzeiten des Stückschreibers, kam
philosophischen Sinne hat B. Lieder wohl das Stück erst 1960 intern in einer Schule in
kaum wieder verwendet (vgl. Gerz, S. 233). Frankfurt a. M. mit einer dazu komponierten
Den politischen Sinn dieser Methode erklärte Musik wieder auf die Bühne. Die deutsche
er im Januar 1934 gegenüber Korsch so: »Der Erstaufführung, erstmals mit einer orchestra-
Fascismus ist ein tiefer Schluck aus der Pulle, len (Teil-)Aufführung von Eislers Musik, fand
da ist starkes Frieren nötig« (GBA 28, S. 406). auf Anregung Henning Rischbieters am 21. 10.
Die Ergriffenheit, die sich die Machthaber 1962 am Landestheater Hannover statt. Gün-
vom ›Volk‹ erwarteten, sollte durch befreien- ter Fleckenstein wagte die Inszenierung, ob-
des Gelächter verdrängt werden. wohl im Westen die Boykotthaltung, die auch
Trotz Schwierigkeiten bei den Proben und den Komponisten betraf, sich nach dem Mau-
mit der Zensur lobte B. die Kopenhagener Pro- erbau verstärkt hatte. Eigens für diese Auffüh-
duktion als eine seiner besten Aufführungen rung revidierte Eisler seine Partitur, die er am
(GBA 4, S. 479). Sie wurde vom Premierenpub- 1.9. dem Suhrkamp Verlag mit der Bitte über-
likum zustimmend, von der Kritik aber zwie- sandte, an den Proben teilnehmen zu dürfen.
spältig aufgenommen (vgl. Engberg, S. 149– Dazu kam es nicht mehr, da der Komponist am
156; Münch, S. 121–128; Gerz, S. 150 f.; Wyss, 6.9. starb.
S. 170–176). Die nur in einer Fassung für zwei In Absprache zwischen Theater und Verlag
Klaviere gespielte Musik blieb in den meisten wurden der Untertitel Reich und reich gesellt
Rezensionen unerwähnt (Ausnahme bei Eng- sich gern, das Vorspiel sowie mehrere sozial-
berg, S. 152). Obwohl B. in der Urauffüh- kritische Lieder gestrichen. Nicht zuletzt
rungsfassung konkrete Bezüge zum NS-Staat wurde B.s ›falsche‹ Interpretation der Rassen-
weitgehend getilgt hatte, wurde er als »jüdi- theorie korrigiert und im Schlussbild durch
scher Kommunist« angegriffen. Aber auch die- einige szenische Abänderungen »die Handlung
jenigen, welche die Tendenz des Stücks billig- der Realität angeglichen«: »Iberin, der Volks-
ten, monierten seinen »undramatischen« Cha- führer, wird nun nicht nach Erledigung seines
rakter oder hielten, wie der kommunistische Auftrages vom zurückgekehrten Vizekönig bei-
Kritiker Julius Hay, die Parabelform für wenig seite geschoben. Er bleibt vielmehr in seiner
Aufführungen 315

Machtposition und ergreift die Initiative zum hungsgeschichte einbeziehende Sicht: »Unbe-
Eroberungskrieg« (Programmheft Hannover). lastet von Vorbildern und Aufführungstradi-
Die fast dreistündige Aufführung fand bei Pub- tionen entdeckt Lang das Stück als Gegen-
likum und Presse eine gemischte Resonanz. wartsstück, indem er das Brechtsche ›Greu-
Für den Kritiker der Hannoverschen Presse elmärchen‹ konsequent als Parabel behauptet.
hielt sie nicht, was die Lektüre des Stücks So muß er nicht die ›Fehler‹ des Stücks ent-
versprochen hatte (Schlüter, S. 173). Ganz an- schuldigen – die faschistische Wirklichkeit
ders André Müller: »Die Überraschung war: hatte bekanntlich Brechts Entwurf weit über-
Auf der Bühne wirkt das Stück lange nicht so holt –, er konnte es lesen als Warnung vor
verfehlt wie beim Lesen. Es ist reich an Ein- fortwirkender Manipulation der Menschen
fällen, Schönheiten, Komik, Liedern und von durch Demagogie und ›Moral‹, durch Verteu-
großer Bühnenwirksamkeit.« (Müller) Als felung von Minoritäten, seien es Juden oder
problematisch wertete er allerdings den Ver- Schwarze, Türken oder Sachsen, Intellektu-
such des Regisseurs, das Stück dem Verlauf der elle oder Terroristen.« (Linzer, S. 220 f.) Das
deutschen Geschichte anzupassen: »Nichts ge- Bühnenbild, eine Stierkampfarena, verstärkte
gen den Versuch. Aber er ist falsch. Jede di- den metaphorischen Ansatz, den auch Ingrid
rekte Annäherung macht die Unstimmigkeit Seyfarth hervorhob: »Entfremdung im Sprach-
des konkreten Falles deutlicher. Wenn man bei gestus, in Bewegungs- und Bildabläufen – ent-
der Verfremdung B.s bleibt, bei der Parabel im nommen dem Vokabular der Arena, der Ma-
Lande Jahoo, ist der Bezug zur Wirklichkeit nege« (Seyfarth, S. 366). Als »furiose Vision«
stärker.« (Ebd.) Darüber hinaus bemängelte er empfand die Rezensentin das Finale, in dem
an der Aufführung, dass sie nur die Schädel der betrogene Pächter Callas mit Stahlhelm
der Spitzköpfe durch Masken verformte, wäh- und Soldatenmantel in imperiale Macht-
rend die Rundköpfe ›normal‹ blieben. träume flüchtete (S. 368).
Im Rückblick schloss sich Fleckenstein die- Eislers Musik, die 1962 in Hannover und
sen Einwänden an und bezeichnete seine Kor- 1983 in Berlin nur in einer verstümmelten bzw.
rektur von B.s historischem »Irrtum« als einen verzerrten Version gespielt worden war,
Fehler. In einer künftigen Inszenierung würde konnte erst 1998 im Berliner Ensemble anläss-
er das Gleichnis vom Unterschied zwischen lich des 100. Geburtstags des Komponisten
Arm und Reich in den Mittelpunkt setzen. ihre volle Wirkung entfalten. Trotz des Ver-
»Die Behauptung Brechts nämlich: Reich und zichts auf das Vorspiel beharrte auch der Regis-
Reich gesellt sich gern (der Untertitel des Wer- seur Klaus Emmerich auf dem Parabelcharak-
kes) ist ja nicht widerlegt, auch wenn ein Dik- ter, was ihm zusätzliche Aktualisierung ermög-
tator wie Hitler hier und da seine angeblichen lichte: Eine Woche vor den Bundestagswahlen
Drahtzieher vorübergehend oder gar auf Le- erzählte die Aufführung »die Geschichte eines
benszeit in die Tasche steckt.« Vielleicht hätte Regierungswechsels als Volksbetrug« (Heeg
man das Stück dazu als Ganzes aber umar- 1998). Während sie den Pächter Callas als Ty-
beiten müssen (Fleckenstein, S. 40). pus des naiv-gutgläubigen Staatsbürgers hin-
Nach einer Aufführung 1964 in Halle und stellte, ließen die hohlen Rufe des Vizekönigs
der US-amerikanischen Erstaufführung 1973 und seines Stellvertreters nach »geistig-mora-
an der Cornell University in Ithaca/New lischer Erneuerung« Parallelen zu Bundes-
York (Regie und musikalische Leitung: Leo- kanzler Helmut Kohl und seinem Herausforde-
nard Lehrman) kam es 1983 in Berlin zu ei- rer Gerhard Schröder erkennen. Über die Ent-
ner Aufführung, die diese Anregungen auf- stehungszeit hinaus erwies sich damit die zeit-
griff (Brecht-Zentrum). Ungewöhnlicherweise lose Gültigkeit des so spät wieder entdeckten,
durfte sie außerhalb des Berliner Ensembles von B. aber besonders geschätzten Stücks.
am Deutschen Theater stattfinden. Nach Mar-
tin Linzer bot die Regie Alexander Langs eine
souveräne und freie, aber dennoch die Entste-
316 Die Rundköpfe und die Spitzköpfe

Literatur:
Die sieben Todsünden der
Bahr, Gisela: Bertolt Brecht, Die Rundköpfe und die
Spitzköpfe: Bühnenfassung, Einzelszenen, Varian- Kleinbürger
ten. Frankfurt a. M. 1979. – Berger, Ludwig: Die Lust
an der Kooperation. In: Theater heute (1967), H. 8,
S. 27–29. – Berlau, Ruth: Zum 65. Geburtstag von Das Stück nimmt in mancher Hinsicht eine
Hanns Eisler. In: Grabs, Manfred (Hg.): Wer war
Sonderstellung in B.s Werk ein. Es ist dessen
Eisler. Auffassungen aus sechs Jahrzehnten. Berlin
1983, S. 257–260. – Brecht-Zentrum der DDR (Hg.): letzte Kooperation mit Kurt Weill und für
Deutsches Theater Berlin 1983. Bertolt Brecht: Die beide 1933 die erste gemeinsame Arbeit im
Rundköpfe und die Spitzköpfe. Berlin 1985. – Düm- Exil; und es handelt sich um das einzige von B.
ling. – Dümling, Albrecht/Ahrend, Thomas (Hg.): für ein Ballett verfasste Libretto.
Hanns Eisler: Die Rundköpfe und die Spitzköpfe. Am 23. 3. 1933 emigrierte Weill nach Paris,
Hanns Eisler Gesamtausgabe, Wiesbaden (in Vb.) –
wo er sich bereits mit erfolgreichen Auffüh-
Engberg, Harald: Brecht auf Fünen. Exil in Däne-
mark 1933–1939. Wuppertal 1974. – Fleckenstein, rungen des Mahagonny-Songspiels und der
Günter: Zur Aufführung von Brechts Die Rundköpfe Schuloper Der Jasager im Dezember des vor-
und die Spitzköpfe. Der Regisseur berichtet über die angegangenen Jahres einen Namen gemacht
Einrichtung. In: Hannoverscher Theateralmanach hatte (zur Entstehungsgeschichte der Todsün-
auf die Spielzeit 1962/63, S. 40. – Gerz, Raimund: den vgl. Drew; GBA 4, S. 492–495; Hecht,
Bertolt Brecht und der Faschismus in den Parabel-
S. 354–363; Lucchesi/Shull, S. 594–598;
stücken Die Rundköpfe und die Spitzköpfe, Der auf-
haltsame Aufstieg des Arturo Ui und Turandot oder Shull). Innerhalb von zwei Wochen wurde er
der Kongreß der Weißwäscher. Bonn 1983. – Hakka- von dem reichen Engländer Edward James be-
rainen, Marja-Leena: Das Turnier der Texte. Stellen- auftragt, ein ›ballet chanté‹ für die von Boris
wert und Funktion der Intertextualität im Werk Ber- Kochno, Sergej Diaghilevs früherem Sekretär,
tolt Brechts. Frankfurt a. M. 1994. – Heeg, Günther: und dem Choreographen George Balanchine
Die Wendung zur Geschichte. Konstitutionsprob-
gegründeten Balletttruppe Les Ballets 1933 zu
leme antifaschistischer Literatur im Exil. Stuttgart
1977. – Ders.: Zur Lage der Nation. Die Rundköpfe schreiben. Weill selbst schlug als Librettisten
und die Spitzköpfe sind an der Zeit. In: Berliner nicht B., sondern Jean Cocteau vor, und als
Ensemble (Hg.): Material. Die Rundköpfe und Spitz- dieser ablehnte, wandte er sich erst auf Drän-
köpfe. H. 2, Berlin 1998 [nicht paginiert]. – Linzer, gen von James an B. Nach den Briefen an
Martin: Alexander Lang oder: Klassik für heute. In: Margot von Brentano (GBA 28, S. 356 f.) und
Rischbieter, Henning (Hg.): Durch den eisernen Vor-
an Sergej Tretjakow (S. 357) von Ende April
hang. Theater im geteilten Deutschland 1945 bis
1990. Berlin 1999, S. 215–226. – Mittenzwei, Wer- 1933 spricht alles dafür, dass B. des Auftrags
ner: Bertolt Brecht. Von der Maßnahme zu Leben des wegen nach Paris gefahren ist, wo er sich ab
Galilei. Berlin-Weimar 1965. – Müller, André: Über- Mitte April für eine Woche aufhielt (vgl. GBA
produktion im Land Jahoo. In: Deutsche Volks- 4, S. 492). Werner Hecht gibt den Zeitraum
zeitung (Düsseldorf), 16. 11. 1962. – Münch, Alois: 7.–20.4. an (Hecht, S. 354 f.). B. habe in dieser
Bertolt Brechts Faschismustheorie und ihre theatra-
Zeit das erste Typoskript abgeschlossen. Zwi-
lische Konkretisierung in den Rundköpfen und
Spitzköpfen. Frankfurt a. M. 1982. – Nørregaard, schen dem 16.4. und 4.5. verfasste Weill die
Hans Christian: Bertolt Brecht und Dänemark. In: erste »Niederschrift des Klavierauszugs« (s.
Dähnhardt, Willy [u. a.](Hg.): Exil in Dänemark. dessen Widmung an Marie-Laure und Charles
Heide 1993, S. 405–457. – Völker, Klaus: Bertolt de Noailles; Drew, S. 245). Bevor er fünf von
Brecht. Eine Biographie. München 1976. – Scheit, neun Nummern fertig stellte, hatte B. Paris
Gerhard: Am Beispiel von Brecht und Bronnen:
verlassen und reiste erst wieder am 1.6. an,
Krise und Kritik des modernen Dramas. Wien [u. a.]
1988. – Schlüter, Wolfgang: [Rezension]. In: Wyss, eine Woche vor der Premiere am 7.6. (Hecht,
S. 173–175. – Seyfarth, Ingrid: Deutsches Theater: S. 362). Wie weit er an den szenischen Ent-
Die Rundköpfe und die Spitzköpfe. In: Brecht 85. würfen Anteil hatte, ist strittig. David Drew
Zur Ästhetik Brechts. Berlin 1986, S. 366–371. – schreibt sie im Weill-Handbuch ausschließlich
Wyss. Kochno und James zu. Er beruft sich auf einen
Albrecht Dümling in der Kurt Weill Foundation of Music erhalte-
Gespaltene Persönlichkeit 317

nen Entwurf, der aber nicht von Kochno/Ja- Sezuan (1939/40) ausgewiesen sind (GBA 6,
mes stammt, sondern von George Davis, Lotte S. 280 f.), hatte B. dann die gespaltene Persön-
Lenyas späterem Mann. Es handelt sich dabei lichkeit erstmals in eine Doppelrolle geklei-
um eine Abschrift aus dem Pariser Programm- det. Eine Notiz aus dem Nachlass macht deut-
heft (Drew, S. 244). In B.s frühestem Typo- lich, dass er für die Sieben Todsünden eben
skript hingegen belegen handschriftliche Ein- diesen Themenkomplex im Auge hatte, wo es
tragungen Weills eine gemeinsame Konzep- unter dem vierten Punkt der aufgezählten Sün-
tion der Regieanweisungen (BBA 50/01–21). den heißt, »die wahre Liebe (statt die Ware
An den Proben war B. nicht beteiligt, wie eine Liebe)« (GBA 4, S. 494). Die Variante der Anna
Äußerung Lenyas gegenüber Weill zeigt (»Wie I als Künstlerin und Anna II als ihrer Mana-
das allerdings ohne Weigel und Brecht was gerin legt insofern auch eine biographische
werden soll, ist mir allerdings ein Rätsel«; Interpretation nahe, als sie die ökonomische
Symonette/Kowalke, S. 91; vgl. aber Hecht, Zwangslage der exilierten Künstler B. und
S. 362). B. äußerte sich in einer Postkarte vom Weill spiegelt (vgl. z. B. Hollywoodelegien).
10. 6. 1933 dann auch abfällig über die Pre- Das Thema der doppelten Persönlichkeit in
miere: »das Ballett ging ganz hübsch, war al- Verbindung mit den sieben Todsünden zeigt
lerdings nicht so bedeutend« (GBA 28, S. 361), eine auffällige Parallele zu Erwin Piscators
während Weill es für eine seiner »besten Ar- und Lena Goldschmidts Bühnenbearbeitung
beiten« hielt (Symonette/Kowalke, S. 92). In von Theodore Deisers An American Tragedy
seiner amerikanischen Schaffensphase ver- (1927/28), die B. als zeitweiliges Mitglied des
wendete Weill Material daraus (Drew, S. 335, Piscator-Theaters gekannt haben muss (Good-
S. 361) für One Touch of Venus (1943) und Love man, S. 496 f.). Ein unmittelbarer Einfluss auf
Life (1947/48). die Sieben Todsünden konnte aber nicht nach-
Der konzeptionelle Rahmen der Sieben Tod- gewiesen werden. Die nach dem mittelalterli-
sünden war von dem Mäzen James vorgege- chen Moralkodex der sieben Hauptsünden
ben. Seine Frau, die Tänzerin Tilly Losch, Völlerei, Unzucht, Geiz, Zorn, Trägheit des
sollte die Hauptrolle unter gleichzeitiger Teil- Herzens, Neid und Stolz gegliederte Handlung
nahme ihrer Freundin Lotte Lenya überneh- realisiert vielmehr B.s und Weills Auffassung
men (Dümling, S. 366 f.). So kam es zu der vom epischen Theater bzw. der Nummernoper,
ungewöhnlichen Gattung ›ballet chanté‹, eine weshalb als präzisere Gattungsbezeichnung
Form, die Weill bereits 1927 ins Auge gefasst »epische Kurzoper« vorgeschlagen wurde
hatte (Shull, S. 207). Die Verteilung der (Wagner, S. 213). In seinen 1930 erschienenen
Hauptrolle auf zwei Frauen ist in der gespalte- Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der
nen Persönlichkeit der Protagonistin Anna Stadt Mahagonny« forderte B. auch für die
dramaturgisch realisiert: »Wir sind eigentlich Oper eine radikale ›Trennung der Elemente‹
nicht zwei Personen / Sondern nur eine ein- (GBA 24, S. 79). In Abgrenzung zu Richard
zige.« (GBA 4, S. 268) B. konnte hier auf ein in Wagners die einzelnen Künste absorbieren-
seinem Werk weit verbreitetes Motiv zurück- dem Gesamtkunstwerk ist Musik hier nicht
greifen: die Dr. Jekyll- und Mr. Hyde-Perön- handlungstreibendes Element, sondern setzt
lichkeit aus einer »guten« und einer »schlech- da ein, wo »Zustände erreicht sind« (Weill
ten« Komponente, nun konkret auf die kapi- 1990, S. 76). Jede Sünde ist zugleich eine Sta-
talistische Gesellschaftsordnung bezogen als tion auf Annas Tournee durch Amerika, was
Gekaufte und Verkäuferin. Schon in Mann ist mit einem Zeigestock auf einer Tafel vorge-
Mann (1920–25) ist die Formbarkeit des In- führt wird. Im Hintergrund bezeugt ein stän-
dividuums thematisiert. Galy Gay wird unter dig wachsendes Haus den finanziellen Erfolg
dem gesellschaftlichen Druck zu einem »Unge- der Schwestern. Die textlich und musikalisch
heuer« (GBA 24, S. 45). In Fanny Kress voneinander abgesetzten Figuren Anna I, Anna
(1927/28) und Die Ware Liebe (etwa 1930), II und ihre Familie sind auch optisch auf der
welche als Entwürfe zu Der gute Mensch von Bühne getrennt. Steven Paul Scher verwies
318 Die sieben Todsünden der Kleinbürger

hier mit Recht auf die emblematische Struktur zu Beginn des Triumphzugs in der letzten
des Barockdramas (Scher, S. 235–252). Nummer »Neid« wirkt in diesem Zusammen-
Die modellhaft gegliederte Handlung hat hang ausgesprochen zynisch: »Schwester, wir
den Todsünden vor allem von musikwissen- alle sind frei geboren« (S. 277). Das mitge-
schaftlicher Seite den Vorwurf der »Eindimen- dachte Paradoxon »und liegen überall in Ket-
sionalität« eingehandelt (Wagner, S. 217). ten« (Rousseau, S. 5) konfrontiert die Diskus-
Schon Caspar Neher hatte 1933 B.s Libretto sion über eine relative Ethik mit der Frage
unterschätzt, als er die Ausstattung der Urauf- nach dem idealen Staat. Vor dem Hintergrund
führung zunächst mit den Worten verweigerte, Rousseaus wird die Wahl der US-amerikani-
das Libretto sei »literarischer Quatsch« (Sym- schen Südstaaten als Handlungsort plausibel.
onette/Kowalke, S. 90). Demgegenüber er- »Amerika« ist entgegen Helfried W. Seliger al-
weist sich der Text mit seinen zahlreichen les andere als »nur mehr ein blasser stilisti-
intertextuellen Anspielungen als äußerst kom- scher Hintergrund« (Seliger, S. 196). Vielmehr
plex. B. hat dessen Grundaussage einer rela- spiegeln die Südstaaten das Paradoxon der
tiven Ethik als Motto über die Handlung ge- amerikanischen Gesellschaft von Gleichheit
setzt: Individuelle Bedürfnisse kollidieren mit und Sklaverei, denn in der Unabhängigkeits-
der gesellschaftlichen Norm, die B. zugleich erklärung der Vereinigten Staaten (1776) heißt
als scheinheilig und verlogen entlarvt: »Faul- es: »die Menschen sind gleich geboren und
heit im Begehen des Unrechts / Stolz auf das bleiben gleich«, wohingegen in den Südstaa-
Beste des Ichs (Unkäuflichkeit)« usw. (GBA 4, ten erst 1862 der verfassungsrechtliche Zu-
S. 267; vgl. S. 494). Diesen guten Vorsätzen zu stand der Sklaverei aufgehoben wurde.
folgen, gelingt der Künstlerin Anna II jedoch Nach Rousseau wird diese Ungleichheit
nicht. Jedes Mal wird sie von ihrem rationalen durch die Verdrängung der Eigenliebe
Ego Anna I zurechtgewiesen und unterlässt die (»amour de soi«), die er in einem hypotheti-
vermeintliche Sünde. Statt sich auszuruhen, schen Naturzustand (»état de nature«) ansie-
erpresst sie Passanten (»Faulheit«), statt delt, durch die Selbstsucht (»amour propre«)
»Kunst« zu »machen«, prostituiert sie sich provoziert. Parallel zur technischen und wirt-
(»Stolz«) usw. Es wurde in der Forschung über- schaftlichen Entwicklung strebt der Mensch
sehen, dass dieses Schema nicht bis zum nach der Überlegenheit über seinesgleichen.
Schluss durchgehalten ist. Ab der zentralen Das bewirkt den Verlust der natürlichen Frei-
vierten Nummer »Völlerei« dreht sich das Ver- heit und führt zur Versklavung durch seines-
hältnis der Schwestern um. Nun ist es Anna I, gleichen. Dieser Konstruktion begegnet B. mit
die ihre Schwester in ihren schlechten Vor- Kritik, wenn er den Naturzustand »Wo die
sätzen bremsen muss. In »Unzucht« lässt Anna Wasser des Mississippi unter dem Mond flie-
sich von ihrem Liebhaber (Edward) kaufen, ßen« (GBA 4, S. 267) mit dem selbstsüchtigen
bezahlt aber auch selbst einen (Adolf). Ihre Wunsch nach dem »kleinen Haus« konfron-
Habsucht in der gleichnamigen vorletzten tiert. Wie Bernhard de Mandeville in seiner
Nummer ist so groß, dass sie mehrere Liebha- Fable of the Bees (1705) schließt er einen idea-
ber in den finanziellen Ruin treibt, die sich len Naturzustand von vorne herein aus (vgl.
daraufhin umbringen. Anna I mahnt, dies we- die Einleitung v. Euchner in: Mandeville,
nigstens versteckt zu tun, »nackte Habsucht / S. 21 f.). Der Frühaufklärer wurde von Seliger
Gilt nicht als Empfehlung« (S. 276). Wie in wegen dessen sozialökonomischer Analyse des
Mann ist Mann wird die Wandlung eines »gu- christlichen Moralsystems mit den Sieben Tod-
ten« zu einem »schlechten« Menschen unter sünden in Verbindung gebracht (Seliger,
dem Druck der »Verhältnisse« vorgeführt. Ih- S. 192–195). B., in dessen Bibliothek sich eine
ren finanziellen Erfolg (»Anna ist jetzt selber Ausgabe der Fable of the Bees von 1934 be-
ein Star«; S. 272) bezahlt Anna mit ihrer in- findet, kannte ihn über seine Beschäftigung
dividuellen Auslöschung. Das Zitat des An- mit Marx ab Mitte der 20er-Jahre. Analysierte
fangsatzes aus Rousseaus Gesellschaftsvertrag de Mandeville ironisch die positive Funktion
Kleinbürgertum 319

der Sünde für das Florieren der Wirtschaft, gendem Sekundschritt (Weill o. J., S. 5, Takt
deckte B. die Rolle christlicher Ethik in der 1 f.; vgl. Dümling, S. 369) ist nach der baro-
verschärften Form des Kapitalismus, dem vom cken Affektenlehre Topos des Leidens und
Kleinbürgertum stabilisierten Faschismus auf steht für das Missgeschick des »unter die
(GBA 22, S. 78). Der unter die Räder gekom- Räder gekommenen« Mannes (Benjamin,
mene Mann, der Kleinbürger, »beschließt, an- S. 529); der marschartig punktierte Rhythmus
gesichts dieser Lage seinen eisernen, unbe- drückt den »unbezwinglichen Willen« (ebd.)
zwinglichen Willen einzusetzen«, äußert er in aus, den er angesichts dieser Lage einsetzt;
einem Gespräch mit Walter Benjamin (Benja- Terzparallelen unterstreichen seine sentimen-
min, S. 529). Tradition und mithin christliche talen Gebärden, die verwässerte Dur-Moll-
Ethik sind dem kleinen Mann Mittel, um jeden Harmonik drückt seine Unsicherheit aus.
Preis seine Marktanteile zu ergattern. Die so Stilzitate aus Jazz und Tanzmusik kon-
umfunktionierte Tradition und Ethik gehen trastieren mit jenen aus Walzer und Kirchen-
daraus pervertiert und verstümmelt hervor. musik. Indem sich der Kleinbürger diese Tra-
Die Autorität der alttestamentarischen Geset- ditionen für seine eigenen Ziele nutzbar
zestafeln (z. B. 2 Mose 34; 5 Mose 9,7–29) wird macht, entstellt er sie zugleich. Der Walzer zu
nun von der Familie bewusst zur Ausbeutung Beginn von »Stolz« wirkt unsicher, weil er
ihresgleichen missbraucht (»Pfund für Pfund / nicht auf der Eins – dem Walzerrhythmus ad-
Heißt das Gesetz!«; GBA 4, S. 276). Der Rous- äquat – betont ist. Mittelalterliche Wechsel-
seausche Gedanke des »contract social«, den er chörigkeit (»Faulheit«) und den Gestus archai-
zur Lösung der menschlichen Unfreiheit vor- scher Kirchenmusik mit Basshaltetönen
schlägt, dient ebenfalls diesem Zweck (vgl. (»Zorn«) und Quintparallelen nutzt die Fami-
Annas »Kontrakt« in »Völlerei«). Schließlich lie zur Machtgebärde. Der von Weill einge-
wird nicht die Relativität christlicher Ethik fügte, verfremdete Choral der Familie, »Der
gezeigt, sondern ihre Instrumentalisierung Herr erleuchte unsre Kinder« (GBA 4, S. 497),
durch den Kleinbürger. Einerseits kann sich ist eine leitmotivische Propaganda des Wohl-
die Kleinbürgerin Anna die dem reichen Groß- stands. In einer mit ›dolce‹ überschriebenen
bürgertum vorbehaltene Sünde nicht leisten Tenorarie, die mit Gitarrenbegleitung unter-
(»Stolz ist etwas für die reichen Leute!«; legt ist, wird das Haus in Louisiana versüßt
S. 270), andererseits vertuscht sie schlau ihre (»Völlerei«). Eine pathetische Tenorarie hütet
Habsucht. In Anspielung auf das Gleichnis von gewichtig das Gesetz (»Habsucht«). Annas Lie-
den zehn Jungfrauen (Matthäus 25,1–13) tri- besleid thematisiert das Leidens-, Liebes- und
umphiert Anna in der letzten Nummer »Neid« Sehnsuchtsmotiv aus Wagners Oper Tristan
über die vielen Annas, die nicht rechtzeitig und Isolde, mündet dann aber in einen schmal-
Vorsorge für das Öl, das B. zu Geld umdeutet, zigen Song (»Unzucht«).
getroffen haben, welches sie für ihren Eintritt In atemloser Hast eilen die Schwestern von
in den Himmel benötigen. Sie stehen zitternd Station zu Station. Nur in der mittleren Num-
»im Nichts vor geschlossenem Tor!« (S. 277) mer »Völlerei« kommt der Satz zur Ruhe. Dro-
Die Anti-Metaphysik des Schlusses führt das hung (»Wehe, wenn sie ein Gramm zunimmt«;
kleinbürgerliche Zweckdenken zu seinem bit- Weill o. J., S. 45, Takt 35ff.) und zynische Lo-
teren Ende. Statt Erlösung erwartet Anna das ckungen (»Hörnchen, Schnitzel« usw.; S. 47,
kleine Haus in Louisiana. Takt 57ff.) machen die Künstlerin Anna
Obwohl Weill den Zusatz »der Kleinbürger« mürbe. Ab dieser Nummer setzt sich zuneh-
im Titel nicht gebilligt hat (Lucchesi/Shull, mend ihr zweites Ich, die Managerin, durch.
S. 598), ist er musikalisch auf B.s Vorstellun- Ihr »unbezwinglicher Wille« kennzeichnet den
gen eingegangen. Das »Kleinbürgermotiv« be- Triumphmarsch in der letzten Nummer
herrscht zentral Prolog und Epilog und zieht »Neid«. Parallel zu Annas wirtschaftlichem Er-
sich »leitmotivisch« durch das ganze Stück: folg vollzieht sich ihr individuelles Scheitern
Sein großer melodischer Sprung mit nachfol- in einer kontradiktorischen Musiksprache.
320 Die sieben Todsünden der Kleinbürger

Der weiche Klang des Orchesters und das Leit- Private Laster, öffentliche Vorteile. Mit einer Ein-
motiv mit dem Topos der Klage verwandeln leitung v. Walter Euchner. Frankfurt a. M. 1980. –
Manning, Susan: »Balanchine’s Two Productions of
»Brechts gesellschaftskritische Schärfe« zum
The Seven Deadly Sins, 1933 and 1958«. In: Dance
»Ton der Trauer« (Dümling, S. 369). »Alles an Chronicle 9 (1986), H. 1, S. 96–118. – Rousseau,
und in mir zuckte nur noch. Ich war ein Nichts- Jean-Jacques: Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze
mehr«, äußerte die Tänzerin Jo Ann Endicott des Staatsrecht. Hg. v. Hans Brockard. Stuttgart
anlässlich der Inszenierung der Sieben Tod- 1988. – Scher, Steven Paul: Brecht’s Die sieben Tod-
sünden von Pina Bausch (Endicott, S. 77). sünden der Kleinbürger: Emblematic Structures as
Epic Spectacle. In: Crosby, Donald H./Schoolfield,
Diese Ausweglosigkeit hatte B. selten schärfer
George F. (Hg.): Studies in the German Drama. Fs.
formuliert. Anders als Anna übt etwa Shen Te Walter Silz. Chapel Hill 1974, S. 235–252. – Seliger,
aus Der gute Mensch von Sezuan ansatzweise Helfried W.: Das Amerikabild Bertolt Brechts. Bonn
Kritik an den »Verhältnissen«: »Etwas muß 1974. – Shull, Ronald K.: The Genesis of Die sieben
falsch sein an eurer Welt. Warum / Ist auf die Todsünden. In: Kowalke, Kim H. (Hg.): A New Or-
Bosheit ein Preis gesetzt und warum erwarten pheus. Essays on Kurt Weill. New Haven, London
1986, S. 203–216. – Symonette, Lys/Kowalke, Kim
den Guten / So harte Strafen?« (GBA 6,
H. (Hg.): Sprich leise, wenn du Liebe sagst. Der
S. 275) Briefwechsel Kurt Weill-Lotte Lenya. Köln 1998. –
Zu Lebzeiten der Autoren wurden Die sie- Wagner, Gottfried: Weill und Brecht. Das musikali-
ben Todsünden nur zweimal aufgeführt (am sche Zeittheater. München 1977. – Weill, Kurt: Mu-
29. 6. 1933 im Savoy Theatre in London und sik und Theater. Gesammelte Schriften. Hg. v. Ste-
am 12. 11. 1936 im Königlichen Theater Ko- phen Hinton und Jürgen Schebera. Berlin 1990. –
Ders.: Die sieben Todsünden. The Seven Deadly
penhagen) und blieben unveröffentlicht (zur
Sins. Ballet Chanté. Text: Bert Brecht. Originalfas-
Wirkung vgl. GBA 4, S. 498–502). Erst postum sung. Englische Übersetzung: W. H. Auden und Che-
gab Lenya die Partitur zunächst privat heraus, ster Kallman. Klavierauszug: Wilhelm Brückner-
und zwar in ihrer eigenen Firma Brookhouse Rüggeberg. Mainz [u. a.] o. J. (Partitur als Leihmate-
Music (Drew, S. 247) und nicht bei Schott & rial bei Schott’s Söhne).
Söhne (GBA 4, S. 497); der Text erschien erst- Barbara Münch-Kienast
mals 1959 (zu den Fassungen vgl. Drew,
S. 245–248; GBA 4, S. 495–498).
Die Neuinszenierung von 1958 im New York
City Center unter Balanchine mit Lenya (Anna
I) und Allegra Kent (Anna II) begründete den
anhaltenden Publikumserfolg der Sieben Tod- Die Horatier und die
sünden (die wichtigsten Inszenierungen ab Kuriatier
1983 sind in der Zeitschrift Kurt Weills News-
letter dokumentiert). Dagegen erschien eine
längere wissenschaftliche Studie erst 1974
(Scher, S. 235), der seitdem keine einschlä- Entstehung / Die Quelle /
gigen Untersuchungen nachgefolgt sind. Erste Entwürfe

Literatur: Walter Benjamin hat in einem Brief an Marga-


Benjamin, Walter: Notizen Svendborg Sommer rete Steffin von Ende Oktober 1935 Die Hora-
1934. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VI. Hg. v. tier und die Kuriatier, das einzige in den Jah-
Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. ren des Exils entstandene Lehrstück, »unter
Frankfurt a. M. 1985, S. 523–532. – Drew. – Düm- allen der Art das vollkommenste« genannt
ling. – Endicott, Josephine Ann: Ich bin eine an-
(Benjamin, S. 693). Dieser Wertschätzung
ständige Frau! Frankfurt a. M. 1999. – Goodman,
Randolph (Hg.): From Script to Stage: Eight Modern steht das geringe Interesse gegenüber, das For-
Plays. San Francisco 1971. – Hecht. – Lucchesi/ schung und Spielpraxis dem Lehrstück bislang
Shull. – Mandeville, Bernard: Die Bienenfabel oder entgegengebracht haben. Der Text gehört zu
Entstehung / Die Quelle / Erste Entwürfe 321

den sprödesten, die B. geschrieben hat. Sein von Beginn an einbezogen) hätten sich »mit
Gegenstand: eine Episode aus der sagenhaften dem Lehrstück sehr beeilt«, es sei »im Rohen
Frühzeit Roms, antiquiert anmutende, hoch- fertig«; jetzt sei es »sehr nötig, daß wir die
stilisierte Kampfhandlungen, aufbereitet un- Sache durchbesprechen« (GBA 28, S. 524).
ter Verwendung einiger Mittel des chinesi- »Die Musikfrage ist diesmal […] nicht ganz
schen Theaters, die B. im Frühjahr 1935 beim einfach […]. Aber überall ist Musik nötig, da
Gastspiel Mei Lan-fangs in Moskau beobach- auch die Bewegung der ›Heere‹ ja genau fi-
ten konnte. Entstehungssituation, Typuskon- xiert werden muß« (ebd.). Eisler winkte ab,
zept und Verwendungszweck waren bei Ar- forderte B. aber auf, ihm den Text zu schicken.
beitsbeginn die von den ersten Lehrstücken Am 8.9. schrieb Steffin nach Prag: »Inzwischen
her vertrauten (vgl. Die Lehrstücke, BHB 1). ist auch das Lehrstück fast fertig geworden
Allerdings wurde das gemeinsam mit Eisler […], mir scheint es fast ein wenig zu kriege-
entwickelte Projekt nicht in der geplanten risch« (S. 770).
Weise realisiert. Wegen des Lehrstücks kam es Am 15.9. berichtete sie Benjamin vom Ab-
zu einer heftigen Auseinandersetzung zwi- schluss des Lehrstücks (Steffin, S. 144). Zu-
schen beiden, die eben begonnene Zusammen- mindest zwei Wochen lang arbeiteten B. und
arbeit wurde abrupt abgebrochen und nie wie- Steffin jedoch noch am Text. Dabei wurden
der aufgenommen. Am 29. 8. 1935, wenige auch Randbemerkungen von Karl Korsch
Tage nach dem Streit, rekapitulierte B. seinen berücksichtigt, einem der ersten Leser des
Standpunkt in einem Brief an Eisler, in dem es Typoskripts. Am 25.9. sandte Steffin in B.s
eingangs heißt: »Die Arbeit an dem Lehrstück Auftrag einen Durchschlag an Benjamin, zu-
wurde auf Deine Initiative hin begonnen, ob- sammen mit den Bemerkungen Über die chine-
wohl ich mitten in der Arbeit an meinem Thea- sische Schauspielkunst. Benjamin schrieb ihr
terstück [Rundköpfe und Spitzköpfe] war, da Ende Oktober: »Es war sehr schön im Lehr-
es sich um einen Auftrag der Roten Armee stück vor Augen zu haben, wie B. die Erfahrun-
handelte und ein beträchtlicher Propaganda- gen mit der chinesischen Bühne seiner eignen
wert herauskommen konnte, wenn man das Sache zunutze macht.« (Benjamin, S. 693) –
Stück in den amerikanischen, englischen, Die zitierten Belege sprechen dafür, dass die
französischen, nordischen linksstehenden Horatier und Kuriatier zwischen Ende August
Schulen zur Aufführung brachte.« (GBA 28, und Anfang Oktober 1935 in einem Arbeits-
S. 518) Eisler war, aus Moskau kommend, etwa gang entstanden sind. B.s Mitteilung aus dem
am 20.8. zu einem Arbeitsurlaub bei B. in Jahre 1955, das Stück sei »1934 geschrieben«
Svendborg eingetroffen. Denkbar ist, dass er (Versuche, H. 14, S. 120), ist offensichtlich ir-
den erwähnten »Auftrag«, über den Näheres rig. – Das Stück erschien Anfang März 1936 in
nicht bekannt ist, mitbrachte. Ein Telegramm der Moskauer Zeitschrift Internationale Lite-
rief ihn jedoch nach Prag. B. verlangte nun die ratur (H. 1, S. 25–43).
Zusage, dass er vor seiner für den 25.9. ge- Die Fabel greift eine von Livius (Ab urbe
buchten Überfahrt nach New York »zu einer condita I,22–26) überlieferte Episode aus der
Schlußredaktion (Prüfung der politischen Li- Geschichte Roms auf. Während der Regie-
nie, der musikalischen Form […])« noch ein- rungszeit des legendären Tullus Hostilius (ca.
mal nach Dänemark kommen werde (S. 519). 670–640 v. Chr.) kam es zur Kriegserklärung
Eisler lehnte ab, es gab einen heftigen Wort- zwischen Rom und Alba Longa; wechselseitige
wechsel, der Komponist verließ im Zorn das Plünderungen waren willkommener Anlass für
Haus und ließ sich bis zur Abreise nach Prag den Entscheidungskampf um die Vorherr-
am 30.8. nicht mehr bei B. blicken. schaft. Da beide Städte von Etruskern hart be-
Während Eislers Aufenthalt in Prag ver- drängt wurden und sich eine Schwächung ih-
suchte B. erneut, ihn zum Einlenken zu be- rer Kampfkraft nicht leisten konnten, kamen
wegen. Anfang September teilte er dem Kom- sie überein, ihren Streit durch Zweikämpfe
ponisten mit, er und Steffin (als Mitarbeiterin auszutragen. Der Kampf der drei römischen
322 Die Horatier und die Kuriatier

Horatier gegen die drei albanischen Kuriatier Kleine Schule der Dialektik:
gestaltete sich zunächst ungünstig für Rom,
zwei der horatischen Brüder wurden erschla-
Textanalyse
gen. Obwohl die drei Kuriatier verwundet wa-
ren, erschien die Situation für den letzten Das Stück ist ähnlich strukturiert wie die
überlebenden Horatier aussichtslos. Zum Chorfassung des Lehrstücks Die Ausnahme
Glück hatte er noch keine Wunde; so war er und die Regel. Zwei Chöre, die beiden ver-
zwar den drei Gegnern nicht gewachsen, je- feindeten Völker repräsentierend, verfolgen
dem einzelnen jedoch überlegen. Deshalb er- das Geschehen, mit Kommentaren, Ratschlä-
griff er die Flucht, in der Erwartung, dass die gen und Appellen eingreifend. Es sind ge-
drei ihn verfolgen und dabei – wegen ihres mischte Chöre, aus denen die Frauenstimmen
unterschiedlichen körperlichen Zustands – ge- sich zeitweise ausgliedern.
trennt würden. Dies geschah denn auch, der Der Aufmarsch. B. hat die Livius-Episode in
Horatier konnte nun die drei Gegner nachein- politisch-didaktischer Absicht neu struktu-
ander überwinden und errang auf diese Weise riert. Aus den beiden Familien der Vorlage
den Sieg über den zahlenmäßig überlegenen werden zwei Völker, aus dem Kampf der Dril-
Feind. lingsbrüder drei Schlachten verschiedener
Es war die kampfentscheidende Taktik des Waffengattungen. Aufgegeben wird die unge-
Horatiers, die B.s Interesse an der Episode fähre Gleichheit der Kampfkraft beider Seiten;
erregte. Dass die Flucht vor dem Feind tak- denn der Krieg ist kein Kampf um die Vorherr-
tisch notwendige Bedingung des Sieges sein schaft, sondern ein Angriffs- und Eroberungs-
kann, musste dem vor dem braunen Terror krieg der Kuriatier gegen die Horatier, der die
Geflohenen Ermutigung und Bestätigung be- Überlegenheit des Angreifers voraussetzt.
deuten. Zudem fand B. in der Livius-Episode Dies erlaubte es auch, die geistige Überlegen-
ein Moment praktizierter Dialektik vor, das im heit der Horatier auf ihre moralische Über-
poetischen und theoretischen Werk der Exil- legenheit als Opfer der Aggression zurückzu-
zeit zunehmend an Bedeutung gewann. führen. Die Motive der Aggression sind öko-
B.s typologische Vorstellungen zielten von nomischer Art: Bei den Kuriatiern tobt seit
Anfang an auf ein ›Lehrstück‹ ab, auf ein in langem »der schlimme / Kampf um den Land-
enger Abstimmung mit dem Komponisten zu besitz und den Besitz der Erzgruben« (GBA 4,
erarbeitendes, für Laiensänger und -spieler S. 281); der Überfall auf das Nachbarvolk soll
geeignetes vokalmusikalisches Werk. Der Ent- den Konkurrenz- und Machtkampf beilegen,
wurf eines Prologs (BBA 305/32), der vom Ge- der Selbstzerfleischung ein Ende setzen. Die
samtchor aller Mitspieler vorgetragen werden den Horatiern als Einheit Entgegentretenden
sollte, fand später keine Verwendung, ebenso sind in Wahrheit erbitterte Konkurrenten. Mit
wenig Entwürfe, die Wechselgesänge zwi- der Herleitung der Aggression aus existieren-
schen den Chören und den Zuschauern vor- den Widersprüchen war ein Kontext geschaf-
sahen (BBA 304/13; vgl. Steinweg, S. 146). In fen, der die Demonstration materialistischer
einer Planskizze erwog B. zunächst drei Mög- Dialektik ermöglichte. Dem Interessenkon-
lichkeiten einer Fabelkonstruktion (vgl. Stein- flikt steht auf horatischer Seite die Interessen-
weg, S. 143 f.). Der Text des Lehrstücks beruht identität gegenüber, der Konkurrenzgesell-
auf einer Kombination aus zwei der dort skiz- schaft die Solidargemeinschaft. Das Gegenein-
zierten Handlungsvarianten (vgl. Krabiel, ander von Aggression und Verteidigung bildet
S. 263). den sozialen Grundgestus des Lehrstücks, der
sich in der gegensätzlichen Erwartungshaltung
beider Seiten artikuliert. Während der Ge-
danke, mit reicher Beute heimzukehren, die
angreifende Partei beherrscht, ist es auf Seiten
der Verteidiger die gemeinsame Sorge um die
Kleine Schule der Dialektik: Textanalyse 323

Sicherung der materiellen Lebensgrundlagen. den Spielvorgang (S. 294 f.) lieferte Lenins
Die Horatier, mit einer erdrückenden Über- Gleichnis vom Besteigen hoher Berge, das die
legenheit des Gegners konfrontiert, sind von Dialektik von Vormarsch und Rückzug entwi-
vornherein darauf verwiesen, die Mängel ihrer ckelt. B. hat es im Buch der Wendungen noch
Ausrüstung durch deren taktisch kluge Ver- einmal wiedergegeben und als Modellfall dia-
wendung zu kompensieren. lektischen Denkens und Verhaltens beschrie-
1. Die Schlacht der Bogenschützen. Ge- ben (Die Mittel wechseln, GBA 18, S. 54 f.). Die
schickt bezieht der horatische Bogenschütze Chancen, die Einsicht in den Zusammenhang
Position: Bei Sonnenaufgang wird er im Berg- von Rückzug und Vormarsch in praktisches
schatten Deckung finden, der Gegner aber Verhalten umzusetzen, sind unter den gege-
geblendet sein. Er kann den Kuriatier zwar benen Umständen begrenzt, ein erneuter Vor-
verwunden; wenn er sich am Ende nicht stoß nur möglich um den Preis eines erhöhten
durchzusetzen vermag, so deshalb, weil er Risikos. Aber sein Ritt auf dem Fluß (GBA 4,
nicht erkennt, dass die Zeit für den Gegner S. 295) zerstört die Sicherheitskalkulation des
arbeitet, dass seine Position sich im Tagesver- Gegners. Zwar kommt er im Gefälle des Flus-
lauf zwangsläufig verschlechtert. Der horati- ses um, aber er kann den Kuriatier schwer
sche Chor fordert ihn deshalb auf, mit allen verwunden. Dieser hat die Opferbereitschaft
Mitteln zu kämpfen, notfalls mit den Fäusten des Horatiers für die Gemeinschaft – Ausdruck
(GBA 4, S. 287). Der Bogenschütze aber ver- seiner moralischen Überlegenheit – nicht be-
hält sich dogmatisch: »Ich bin Bogenschütze dacht.
und nicht Faustkämpfer.« (ebd.) Erst als der 3. Die Schlacht der Schwertkämpfer. Die
Vorteil seiner Position vertan ist, folgt er dem Lage des horatischen Schwertkämpfers, der
früher erteilten Rat. Jetzt entscheidet die sich nun drei Gegnern gegenübersieht, scheint
überlegene Waffe des Kuriatiers, dieser kann aussichtslos. Obwohl der Chor ihn auffordert,
den tödlichen Schuss anbringen. Der Horatier: unter allen Umständen standzuhalten, wendet
»Euren Rat ausführend am Abend, vergaß ich: er sich zur Flucht. Während die Horatier an
/ Er war am Mittag erteilt.« (S. 289) Der Kom- Verrat glauben und die Kuriatier triumphie-
mentar des horatischen Chors (ebd.) ist eine ren, erweist sich die Flucht als taktisches Ma-
Kritik dogmatischen Verhaltens. növer: »Die Verfolgung / Hat die Verfolger ge-
2. Die Schlacht der Lanzenträger. Der hora- trennt. Die Flucht war / Ein Angriff!« (GBA 4,
tische Lanzenträger lernt aus den Fehlern des S. 302) Der horatische Chor: »unser Schwert-
Bogenschützen. Die objektiven Momente be- kämpfer sah / Wie durch Bewegung eine Ein-
herrscht er souverän: Er zieht in »einem heit sich spalten ließ« (S. 303). Der Satz fehlt
schwierigen Marsch über das Gebirge […], an im Versuche-Druck von 1955; angesichts der
eine Stelle, wo die Berge an die Straße her- Existenz einer ›Einheitspartei‹ musste die
antreten.« (GBA 4, S. 291) Eine Steinlawine Formulierung unerwünschte Assoziationen
soll den Gegner unter sich begraben. Sein Un- hervorrufen. Es verdient Beachtung, dass die
ternehmen scheitert an der falschen Einschät- Bedingung der Möglichkeit seines Sieges die
zung seiner selbst, des Subjekts: »nicht zu er- Befehlsverweigerung ist. Der Spielvorgang ist
schöpft zum Tun, aber / Zu erschöpft zum insofern auch ein Beitrag zum Thema ›Ein-
Nichttun« (S. 293), schläft er im entscheiden- verständnis‹, ein Motiv, das als lehrstückspezi-
den Moment ein. Er hat nicht bedacht, dass die fisch gelten kann. Der Einzelne kann das ge-
aufgewendete Mühe ein in sich widersprüch- meinsame Interesse nach Lage der Dinge nur
liches Ergebnis produziert: neben der günsti- wahren, indem er im entscheidenden Moment
gen Position die Unfähigkeit, den Vorteil zu sein Einverständnis verweigert. Das Kollektiv
nutzen. Der Chor belehrt ihn, dass sich der ist nicht unfehlbar; sein Bestand kann davon
Wert einer Leistung nicht am Aufwand, son- abhängen, dass ein Einzelner den Mut zum
dern am erreichten Nutzen für die Gemein- Dissens aufbringt und sich dem Verdacht aus-
schaft bemisst. Die Anregung für den folgen- setzt, das gemeinsame Interesse zu verraten.
324 Die Horatier und die Kuriatier

Im Sieg des Schwertkämpfers sind die Nie- können »auf kleinen Tafeln am nackten Spiel-
derlagen der gefallenen Mitkämpfer als Teil- gerüst bezeichnet werden« (ebd.). Die Posi-
erfolge ›aufgehoben‹, denn sie haben die Vor- tionen der Schritte sollen fixiert werden, so
aussetzungen für die kampfentscheidende dass die Spieler gewissermaßen in Fußstapfen
Taktik geschaffen. Doch menschliches Leid treten. »Das ist nötig, weil die Zeit gemessen
angesichts der Opfer wird in dem Lehrstück werden muß« (ebd.), da mehrere Bewegungs-
nicht rationalistisch wegdisputiert; es bleibt abläufe präzise synchron geführt werden müs-
ein Rest, der im taktisch kalkulierenden Resü- sen. Hier war der Musik eine wichtige Aufgabe
mee der Siegesfeier nicht aufgeht. Er kommt zugedacht; sie hätte das Zeitmaß in idealer
zum Ausdruck in der Klage der Frauen der Weise vorgegeben. Die Aufgabe wird nun an-
Horatier: »Ach, nicht jeder / Der zurückkehrt, ders gelöst werden: »In der ersten Schlacht ist
ist ein Sieger, aber / Keiner hat gesiegt, der der Sonnenträger die Uhr. In der zweiten
nicht zurückkehrt.« (GBA 4, S. 298) Schlacht ist während der ›sieben Lanzenver-
wertungen‹ der Kuriatier die Uhr.« (Ebd.) Der
konsequente Verzicht auf illudierende Effekte
dient der Konzentration auf den demonstrier-
Brechts Anweisung für die Spieler ten Vorgang. Hierzu gehören die Andeutung
eines Schneetreibens durch ein paar Hände
Papierschnitzel (ein Mittel des chinesischen
Obwohl sich das Stück, da unvertont, von ei- Theaters), der Verzicht auf Pfeile in der
nem kleinen Theaterstück allenfalls durch den Schlacht der Bogenschützen, die projizierten
erheblichen Anteil der Chöre am Spielvorgang oder auf Transparente aufgemalten Szenenti-
unterscheidet, hielt B. an der Typusbezeich- tel. Lehrstückspezifisch ist die Sprechweise:
nung ›Lehrstück‹ fest. Ein Lehrstück lautet »Was das Sprechen der Verse betrifft: die
der Untertitel im Erstdruck in der Zeitschrift Stimme setzt mit jeder Verszeile neu ein. Je-
Internationale Literatur. In der Malik-Aus- doch darf das Rezitieren natürlich nicht abge-
gabe (Bd. 2, London 1938) lautet die Genrebe- hackt wirken.« (S. 222) Es existieren sechs
zeichnung dann »Schulstück«. In den Versu- Bühnenskizzen von B.s Hand (vgl. die Abbil-
chen (1955) wurden beide Begriffe kombi- dungen in: Lucchesi/Schneider, S. 159 f.).
niert: »Die Horatier und die Kuriatier ist ein
Lehrstück über Dialektik für Kinder«, gehö-
rend »zum 24. Versuch (Stücke für Schulen)«
(H. 14, S. 120), dem B. auch Die Ausnahme »Eigentlich fehlt ein Schlußkapitel«
und die Regel zuordnete.
Die Anweisung für die Spieler, die dem Erst-
druck beigefügt war (GBA 24, S. 221 f.), emp- Das Lehrstück blieb zunächst völlig unbeach-
fiehlt szenisch-dramaturgische und darstelle- tet, eine Aufführung kam nicht zustande. Im
rische Mittel, die – anknüpfend teilweise an finnischen Exil versuchte B., Simon Parmet,
Gepflogenheit des chinesischen Theaters – ein der damals an einer Musik zur Mutter Courage
äußerstes Maß an Abstraktion und Stilisierung arbeitete, für die Vertonung zu gewinnen. Für
bedeuten. Die Bewegungen der Spieler sollen diesen Fall erwog er eine Ergänzung des Texts:
»langsam sein und aus dem Gefühl […] einer »Eigentlich fehlt ein Schlußkapitel. Die Hora-
gewissen Breite erfolgen« (S. 221). Spielfläche tier siegen militärisch, aber die Kuriatier er-
ist eine auf dem Bühnenboden fixierte, von leben eine Umwälzung und kämpfen mit
Spielern und Zuschauern einsehbare Land- neuen Mitteln, so daß ein echter Friede mög-
schaft, mit Kreide aufgezeichnet oder als knie- lich wird, der beiden Völkern recht ist.« (GBA
hohe Bühnendekoration – »wie auf alten Land- 26, S. 458) B. denkt die Fabelkonstruktion un-
karten« (ebd.) – angelegt. Die Hindernisse in ter dem Eindruck der inzwischen eingetrete-
der Szene Die sieben Lanzenverwertungen nen Entwicklung in Europa zu Ende. Im Januar
»Eigentlich fehlt ein Schlußkapitel« 325

1941 befand sich die Sowjetunion zwar noch »alles ganz groß und chorisch aufgefaßt wer-
nicht unter den von Hitler-Deutschland über- den« (Schwaen in: Lucchesi/Schneider, S. 87).
fallenen Ländern, aber die im Lehrstück anti- Die aus 30 Nummern bestehende Musik
zipierte Konfrontation war in bedrohliche (Schwaen: Die Horatier und die Kuriatier. Ein
Nähe gerückt. Da B. keinen Zweifel hatte, dass Lehrstück von Bertolt Brecht für Chor und
der Aggressor eine vernichtende Niederlage kleines Orchester. Partitur. Leipzig 1958) un-
erleiden werde, wurde nun die Frage dring- terstreicht den gestischen Gehalt des Texts
lich, wie mit einem besiegten Deutschland und arbeitet mit vielfältigen Mitteln den Ge-
verfahren werden sollte. B., der wiederholt gensatz von Aggression und Verteidigung he-
darauf aufmerksam gemacht hatte, dass die raus. Die Vertonung fand B.s Zustimmung,
ersten Opfer Hitlers erhebliche Teile der deut- aber er »wünschte noch mehr Musik […]. Das
schen Bevölkerung selbst waren, glaubte an Stück sollte ganz auf Musik gestellt werden.
die Existenz eines ›anderen Deutschland‹. Eine große Ouvertüre, ein Finale, auch instru-
Pläne wie den von Morgenthau, der die Um- mentale Musik dazwischen.« (Schwaen, S. 88)
wandlung Deutschlands in ein Agrarland vor- Schwaen begann mit der Komposition einer
sah, lehnte er deshalb entschieden ab. Das Ouvertüre, setzte die Arbeit nach B.s Tod je-
erwogene Schlusskapitel für das Lehrstück doch nicht fort. Auch zur geplanten Modellin-
zielte auf die Beseitigung der Ursachen der szenierung kam es nicht mehr.
kuriatischen Aggression. Kein Zweifel, dass Die Uraufführung fand am 26. 4. 1958 im
hierin B.s Hoffnung ihren Niederschlag fand, Theater der Jungen Garde in Halle statt. Die
es werde unter dem Druck der heraufziehen- Ausführenden waren Studenten der Institute
den militärischen Niederlage in Deutschland für Musikwissenschaft und für Sprechkunde
zu einer solchen Umwälzung kommen. der Martin-Luther-Universität Halle; den Or-
An eine Vertonung und Aufführung des chesterpart übernahm das Konservatorium
Lehrstücks in Finnland war bald nicht mehr zu Halle, Bühnenbild und Requisiten wurden
denken; im Mai 1941 musste B. das Land ver- vom Institut für künstlerische Werkgestaltung
lassen. So behielt das Stück die Gestalt, in der Burg Giebichenstein angefertigt. Die Regie
es 1936 veröffentlicht worden war. hatte Kurt Hübenthal, die musikalische Lei-
tung Carlferdinand Zech, die künstlerische
Gesamtleitung Hella Brock. Bühnenbild, sze-
nische Präsentation und Spielweise hielten
Kurt Schwaens Vertonung (1955) / sich weitgehend an B.s Anweisung für die
Aufführungen Spieler. Die Aufführung fand nur wenig Reso-
nanz, von überregionalen Zeitungen der DDR
wurde sie kaum zur Kenntnis genommen. Für
Eine Aufführungschance ergab sich erst Mitte die dialektischen Momente des Lehrstücks
der 50er-Jahre. Obwohl der ursprüngliche Be- fehlte jedes Verständnis; bemerkt wurde nur
zug der Parabel nicht mehr gegeben war, blieb das Thema ›Eroberungs- und Verteidigungs-
das Lehrstück aktuell. Die Kriegsgefahr war krieg‹ – in Gestalt des propagandistischen Kli-
nicht gebannt, der Kalte Krieg konnte jederzeit schees vom Unterschied zwischen gerechten
zum dritten Weltkrieg eskalieren. Relevant und ungerechten Kriegen.
blieb – angesichts vielfacher Anzeichen von Seit den 60er-Jahren gab es einige weitere
Dogmatismus in Theorie und Praxis der DDR Aufführungen. In enger Zusammenarbeit mit
– auch das Thema ›Dialektik‹. – Für die Verto- Schwaen, der eine Ouvertüre für die Auffüh-
nung gewann B. Kurt Schwaen. Ab Mai 1955 rung schrieb, wurden die Horatier an der Rai-
fanden intensive Arbeitsgespräche statt. Ge- ner-Fetscher-Schule in Pirna einstudiert und
plant war eine Modellinszenierung mit Schü- 1962 in Pirna, 1963 in Cottbus aufgeführt. Un-
lern. B. stellte sich eine »sehr große Auffüh- ter Leitung von Ruth Berghaus gab es 1967/68
rung« vor, »wie ein großes Ballett«; es sollte eine Aufführung an der Polytechnischen Ober-
326 Die Horatier und die Kuriatier

schule Wildau bei Berlin. Mit der Musik von


Schwaen wurden die Horatier im Juli 1970 im
Das wirkliche Leben des
Berliner Rundfunk übertragen. (Eine Auf- Jakob Gehherda
nahme des Lehrstücks mit Schwaens Musik
durch Deutschlandradio wurde 1999 durch das
Label kreuzberg records als CD veröffentlicht.
Sie enthält auch ein Gespräch mit dem Kom- Entstehung und Textgeschichte
ponisten.) 1974 bis 1976 liefen an vier Berliner
Schulen des Stadtbezirks Prenzlauer Berg Mo-
dellversuche mit dem Lehrstück (vgl. Luc- Das Gehherda-Fragment ist mit einem voll-
chesi/Schneider, S. 81–121). Im Oktober 1979 ständigen ersten Akt und dem Anfang eines
bot eine Berliner Amateurgruppe eine panto- zweiten Akts eines der umfangreicheren
mimische Adaptation. In der Bundesrepublik Bruchstücke in B.s Nachlass. Gleichwohl fin-
gab es neben zwei Schulaufführungen – den sich keinerlei Selbstzeugnisse oder Hin-
1962/63 in Dingolfing, 1968 am Hans-Thoma- weise Dritter, die konkrete Rückschlüsse auf
Gymnasium in Lörrach – im September 1972 den Entstehungszeitraum und -kontext zulie-
eine am Kasseler Staatstheater von jungen ßen. Stefan Hauck hebt den Anteil Margarete
Schauspielern und Schülern erarbeitete Insze- Steffins am Fragment gegenüber dem B.s stär-
nierung im Rahmen einer Aufführung meh- ker hervor (Hauck, S. 273–275), eine Behaup-
rerer Lehrstücke B.s (Regie: Wolfgang Lich- tung, die angesichts der schmalen Quellenlage
tenstein). allerdings spekulativ bleiben muss. Eine mit
Korsch überschriebene Notiz B.s zum Geh-
herda lässt auf eine Niederschrift des Stücks
Literatur: Mitte der 30er-Jahre schließen, da sich der
Benjamin, Walter: Briefe. Bd. 2. Hg. von Gershom
Philosoph Karl Korsch zwischen Juli 1935 und
Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt a. M. Herbst 1936 in unmittelbarer Nähe B.s in Dä-
1978. – Krabiel. – Lucchesi, Joachim/Schneider, nemark aufhielt und »an den Arbeiten seines
Ursula (Hg.): Lehrstücke in der Praxis. Zwei Ver- langjährigen Bekannten lebhaften Anteil«
suche mit Brechts Die Ausnahme und die Regel, Die nahm (GBA 10, S. 1198).
Horatier und die Kuriatier. Berlin 1979. – Lucchesi/
Das Nachlassmaterial gibt keine Hinweise
Shull. – Schwaen, Kurt: Stufen und Intervalle. Er-
innerungen und Miszellen. Berlin 1978. – Steffin, auf eine eventuell geplante Fortführung. Nur
Margarete: Briefe an berühmte Männer. Walter Ben- eine Schlussszene (»Vor dem Denkmal des
jamin, Bertolt Brecht, Arnold Zweig. Hg. v. Stefan Jakob Gehherda«; GBA 10, S. 750) verweist
Hauck. Hamburg 1999. – Steinweg, Reiner: Brechts darauf, dass »die Welt«, wenn auch erst post
Modell der Lehrstücke. Zeugnisse, Diskussion, Er- mortem, begreift, was sie an Gehherda hatte:
fahrungen. Frankfurt a. M. 1976.
»einen unglaublich starken Verstand, ein für
Klaus-Dieter Krabiel alles Hohe glühendes Herz, kurz, einen Kämp-
fer« (ebd.). Auch lassen die zehn Stückpläne
und Notizen keinen endgültigen Entwurf für
eine Stückfabel erkennen. Eine Skizze mit
dem Titel »Das wahre Leben des Jakob Geh-
herda oder Träume eines Dutzendmen-
schen« charakterisiert Gehherda ansatzweise
in seiner ambivalenten Kleinbürgerrolle: Als
Kellner muss er teilnehmen »an allen schmut-
zigen Usancen der Firma« (S. 720); als Gatte
hat er »kaum Einfluß bei seiner Frau« (ebd.);
als Vater ist er, statt »der Führer, Erzieher,
Beschützer des Jungen« (ebd.) zu sein, nur
Entstehung und Textgeschichte 327

»der Verführer, Quäler, Ausbeuter und die Ver- terem Puntila-Stück, in dem ein unmensch-
achtung des Jungen« (ebd.). Als »politischer licher Gutsbesitzer seine seelische Hygiene
Faktor« ist er im »Verein […] Subjekt, im Le- dadurch herstellt, dass er sich im Suff als Men-
ben Objekt der Politik« (ebd.). Ein anderer schenfreund gebärdet. Eine ähnliche Funktion
Entwurf zeigt Gehherda als strengen Besitzer erfüllen auch die Tagträume des zweiten Kell-
des Lokals, der sich zugleich über die Feigheit ners Gehherda, den schon sein Name als einen
seines Personals erregt. Das beinahe verführte Befehlsempfänger ausweist. Doch sind seine
Mädchen »will sich erkenntlich zeigen, indem Visionen von vornherein als illusionär zu
sie sich von ihm verführen lassen will« (ebd.). durchschauen, da ihm – im Unterschied zu
Eine über die Exposition hinausweisende Puntila – die ökonomische Unabhängigkeit für
Handlung ergibt sich aus all dem nicht, nur ihre Realisierung fehlt. Nur in einem Gedicht
bezüglich Gehherdas Charakter lässt sich eine aus dem Gehherda-Material sind die Auf-
gewisse Kohärenz feststellen, die den Plänen stiegs- und Omnipotenzfantasien mit dem Mo-
zufolge auch in den Liedern zum Ausdruck tiv wirtschaftlicher Macht gekoppelt: Auch
kommen soll: Es geht um die »Philosophie des »Der große Ford war nicht von Anfang an
Kuschens« (S. 724), um jene Menschen, von groß«, aber »Es war der rechte Mann am rech-
denen »eben dreizehn auf ein Dutzend« ten Ort.« (GBA 10, S. 752)
(S. 751) gehen: »Denn wir müssen – leider – Die Massenarbeitslosigkeit in Folge der
leben« (ebd.). Eine frühe Skizze aus der Geh- Wirtschaftskrise hat die soziale Sicherheit der
herda-Mappe verweist auf filmische Vorbilder Angestellten im Gasthof »Zu den 2 Rittern«
(S. 719), aus denen sich Motive im Stück wie- nachhaltig erschüttert – und damit auch ihr
der finden (vgl. Hauck, S. 283). Der erste Akt Moralempfinden. Die Lokalisierung des Res-
des Gehherda, der mit dem zweiten Traum taurants irgendwo an »der Alster, der Themse
endet, wird erstmals in der WA veröffentlicht, oder dem Hudson« (GBA 10, S. 724) deutet auf
der Beginn des unfertigen zweiten Aktes zu- den globalen Charakter der Krise. Vor diesem
erst in der GBA. nur grob umrissenen Hintergrund, der auf die
Verhältnisse im Deutschland der frühen 30er-
Jahre verweist, spielt die Geschichte, die ihre
kritischen und satirischen Akzente nicht allein
Das geträumte Heldenleben und aus der Kontrastierung der Real- und Traum-
der Alptraum der Realität sequenzen bezieht, vielmehr »ist das Wunsch-
bild des Traums bereits in sich selbst komisch«
(Giese, S. 99). Auffällig ist die Disproportio-
B. nimmt im Gehherda das wenig später im nalität der jeweiligen Teile: Die in der realen
Guten Menschen von Sezuan systematischer Zeit spielenden Szenen vor dem zweiten und
entfaltete Motiv des von den ökonomischen dritten Traum Gehherdas fallen gegenüber
Umständen erzwungenen Doppellebens auf: den Traumszenen relativ kurz aus. Das Un-
Die hilfsbereite Shen Te kann nur überleben, fertige, das handlungs- wie psychologisch
weil sie zeitweise in der Rolle des bösen Vet- Bruchstückhafte, das Offenlassen der Frage,
ters Shui Ta die dafür nötigen Subsistenzmittel welche Ebene Jakob Gehherda als das »wirk-
schafft. Auch bei B.s Mitarbeiterin Margarete liche Leben« empfindet – all das macht den
Steffin finden sich dualistisch angelegte Ge- besonderen Reiz des Fragments aus, das sich
schöpfe, etwa in ihrem Schutzengel-Drama mit zugleich durch große Fabulierlust und Spaß
dem allwissenden, aber ohnmächtigen Engel am Experimentellen auszeichnet.
»Georg 15« und dem weichherzigen Philippo Das Fragment beginnt mit Gehherdas lehr-
Marino, der seinen taubstummen Bruder als stückhaft klingendem Eingangsstatement, in
Alter Ego benutzt, um nicht aus Mitleid gegen- dem die wirtschaftliche Lage des Restaurants
über anderen ohne Lohn arbeiten zu müssen. skizziert wird. Demgegenüber stellt die un-
Inhaltliche Parallelen ergeben sich zu B.s spä- flätige Rede des ersten Kellners, der sich –
328 Das wirkliche Leben des Jakob Gehherda

auch dies eine Form des Tagtraums – in klein- Die Ebenen von Bühnenrealität und Tagtraum
bürgerlichen Allmachtsfantasien jener golde- werden mehrfach ineinander verschoben.
nen Zeiten erinnert, als der Gast dem Personal Selbst in seinen Heldenträumen kann Geh-
noch hilflos ausgeliefert war, einen gewissen herda seiner angestammten Rolle als Dutzend-
stilistischen Bruch dar: »Da sprach man von mensch nicht immer entfliehen. So kann er die
Mensch zu Mensch, Pupille in Pupille: fehlt Lanze für das Duell mit Maschner nur durch
Ihnen noch etwas, Sie Dreckhaufen? Darf ich einen Griff in die Ladenkasse erstehen. Ohne
Ihnen noch ein Glas Wasser in die Zähne Widerwort serviert er Maschner einen Korn,
hauen? Womit kann ich Ihnen Sauhund sonst kurz nachdem er ihn zum Duell aufgefordert
noch dienen? […] Oh, Sommer 27, Anbruch hat, und muss auch noch einen Rüffel ein-
einer neuen Zeit, wo bist du hin?« (GBA 10, stecken, weil er ein wenig verschüttet hat. In
S. 726 f.). Doch solche Fantasien, in denen B. Gestalt der zwei Herren, die Jakob wegen des
ohne Sozialromantik die tyrannische Kehr- Ladendiebstahls verhaften wollen, tritt die
seite der vielfach Ausgebeuteten zu Wort kom- Realität ebenso in den Traum wie durch die
men lässt, scheitern schnell an der schlimmen Anwesenheit des Restaurateurs, den Geh-
Realität. Von einer sexuellen Belästigung der herda zusammen mit anderen Gästen zum
Kellnerin Sylvia will keiner etwas wissen. Vor Pferd umfunktioniert hat und der diesen die
so viel Kleinmut strahlt Gehherdas Wahrheits- bevorstehende Entlassung Gehherdas ankün-
liebe umso heller: »Erster Traum des Jakob digt. Am Ende hat sich in einer absurden Wen-
Gehherda: Jakob Gehherda sagt, was ist«, dung Maschner, der Belästiger, gar in Sylvias
verkündet eine Projektion, welche die selbst- Verlobten Joppe verwandelt, womit sich der
lose Ansprache Jakobs vorab als Tagtraum aus- Konflikt schließlich in Wohlgefallen auflöst.
weist (S. 729). Er will »die Wahrheit gesagt Nicht so im richtigen Bühnenleben: Als Joppe
haben« (ebd.) und reiht sich kühn in die Tradi- anruft, um sich nach dem Stand der Dinge zu
tion von »Galiläo Galiläi« (ebd.), den er frei- erkundigen, lässt Gehherda ausrichten: »Es
lich in seiner Halbbildung, die auch durch die sei alles in Ordnung.« (S. 742)
Schreibung angedeutet wird, mit Giordano Im zweiten Akt (Beginn: GBA 10, S. 742)
Bruno verwechselt und auf dem Scheiterhau- haben sich die Verhältnisse geändert. Geh-
fen sterben lässt. Auf das »Wird’s bald!« herda ist Oberkellner, lässt sich als »Herr«
(S. 730) des Besitzers reiht sich Gehherda wi- (ebd.) titulieren und hat dem Personal gegen-
derspruchslos in die Reihe der Feiglinge ein. über despotische Züge angenommen: »solange
Die Belästigungen gehen folglich beim ich hier bin, herrscht hier Ordnung, und wenn
nächsten Besuch der vier jungen Männer vom Köpfe rollen müssen. Ich habe die Verantwor-
Klub weiter. Statt, wie versprochen, Herrn tung.« (S. 744) Vom Personal wird er dennoch
Joppe, Sylvias Verlobten, davon telefonisch zu als »armer Schlucker«, der vor dem Restau-
unterrichten, flüchtet Gehherda in den zwei- rantbesitzer zittert, durchschaut (ebd.). Seines
ten Traum: »Der schwarze Ritter« (GBA 10, Amtes waltend, versagt er Frau Lange, der
S. 733). Wirkte der erste Traum nur durch das Köchin, den Ausgang, als diese ihre Tochter
Pathos der Rede lächerlich, so zieht B. hier alle und deren Mann, die sich gerade auf der
Register des Bühneninstrumentariums, vom Durchreise in der Stadt befinden, treffen will.
Slapstick über Groteske und Persiflage bis hin Gehherdas dritter Traum steht in weniger star-
zum absurden Theater. Nach dem Vorbild des kem Kontrast zu seinem wirklichen Leben,
englischen Volksballadenhelden Robin Hood auch wenn die Projektion anderes verheißt:
und Walter Scotts edlem Ritter Ivanhoe (1819) »Jakob Gehherda versucht das Unmögli-
macht sich Gehherda zum Anwalt der Ernied- che« (ebd.). Der Gönner, als der er sich nun
rigten und Beleidigten: »Unrecht und Miß- präsentiert, ist nur die Kehrseite des Despo-
brauch! Wie lange noch / Gehen die Niederen ten. Die Elemente dieses Traums sind mär-
unter das Joch? / Soll ihnen ewig geschehen chenhaft und »nach amerikanischer Gangster-
Gewalt / Und da ruft keiner ein Halt?« (Ebd.) filmmanier« (Hauck, S. 281) arrangiert. Frau
Das geträumte Heldenleben und der Alptraum der Realität 329

Langes Tochter reist mit ihrem »gräflichen Nicht zufällig vermutet der Reporter hinter
Verlobten« an. Und um der Tochter die Bla- dem Schwarzen Ritter »Adolf Hitler«, und Syl-
mage zu ersparen, dass ihre Mutter nur eine via ergänzt »Oder Hans Albers?« (GBA 10,
Köchin ist, muss schon der große »Jacques- S. 736). Denn, so Klaus Völker, »sowohl der
Gehda« her, der es gewohnt ist, »den Hilflosen eine als auch der andere beherrschte die
zu helfen« (GBA 10, S. 745). Dieser lässt nun Träume nicht nur der Dienstmädchen, fun-
Frau Lange für ihren Auftritt im Hotel Astoria gierte als Vorbild für das zweite, bessere Leben
frisieren und neu einkleiden. Der für sie ge- der kleinen Leute. In beiden wurde die Sehn-
dachte Schmuck erweist sich als Patronengurt, sucht des Dutzendmenschen Gestalt, auch mal
was auf seine zweifelhafte Herkunft schließen ganz groß zu sein« (Völker, S. 173). Hauck, wie
lässt. Bodyguards bevölkern die Szene, teils auch einige Regisseure von Gehherda-Insze-
mit Violinkästen ausgestattet, doch Gehherda nierungen, sehen in den Männern vom Segel-
wünscht Cellos, schließlich ist es ein »großer klub Vertreter des heraufziehenden Faschis-
Ausflug« (S. 747). Gehherda verwirklicht sich mus, denen sich das Personal, als Verkörpe-
den »Traum des ewig Schwächeren, dem nun rung des Mitläufertums, aus Mutlosigkeit
Macht über seinen vorigen Unterdrücker gege- unterwirft (Hauck, S. 278). Seine Willfährig-
ben ist« (Hauck, S. 281), und kauft die Bank- keit ist freilich auch ein Ausdruck der sozialen
schulden des Restaurateurs und damit den Be- Misere.
trieb auf. Indem er Frau Lange und die übrige Jenseits aller zeitgeschichtlichen Anspie-
Entourage ins vornehme Astoria führt, hebt er lungen skizziert das Fragment den Gehherda
in der Imagination den von Joppe beklagten als ein in mehrfacher Hinsicht entfremdetes
Klassengegensatz auf: »Hoch und niedrig sind menschliches Wesen. Im Restaurant befolgt er,
wie Wasser und Feuer. Nach einem unerbittli- der Not gehorchend, die an ihn gerichteten
chen Naturgesetz dürfen sie nicht zusammen- Weisungen mit der Präzision eines Uhrwerks,
kommen.« (GBA 10, S. 745) Schließlich kata- sowohl in der untergeordneten Position wie
pultiert er sich gar in messianische Dimen- auch als Oberkellner. Der Fremdbestimmung
sionen, wenn er das ängstliche Personal mit kann Gehherda jedoch nicht einmal in seinen
den Worten »Ihr Kleingläubigen!« (S. 748) Träumen entfliehen. Selbst diese erweisen
mahnt. sich als vergesellschaftet, von Vorstellungen
Die ›Botschaft‹ des Gehherda erinnert an kolonisiert, die nicht einer autonomen Fanta-
populär gewordene Sentenzen aus B.s Drei- sie entstammen. Sie sind überformt von den
groschenoper, an Peachums »Wir wären gut – Surrogaten der Kolportageliteratur, in denen
anstatt so roh / Doch die Verhältnisse, sie sind Outlaws wie Robin Hood und edle Ritter wie
nicht so« (GBA 2, S. 263), und Macheath’ Ivanhoe der Gerechtigkeit nach eigenen Ge-
schon sprichwörtliche Wendung: »Erst kommt setzen zum Sieg verhelfen, wie von den Pro-
das Fressen, dann kommt die Moral« (S. 284), dukten der aufkommenden Kulturindustrie,
aber auch an Wendungen bei Steffin, etwa in etwa von der Figur des großen Gangsters –
einem Gedicht über Abtreibung vom Novem- auch er ein Godfather jenseits des Rechts –,
ber 1932: »Wer keine Stellung hat, muß sorgen der, umgeben von mondänen Frauen, in nob-
/ Daß er keine Kinder hat« (Gellert, S. 189). len Hotels residiert und, als Beweis der All-
Als Gegenwartsstück ist das Fragment aber macht, seine Gunst verteilt. Freilich zeigen
bereits zum Zeitpunkt seiner Niederschrift re- Gehherdas Träume, die zuweilen wie ein Film-
lativ unzeitgemäß. Die Machtübergabe an die skript anmuten, auch den Spaß des Autors am
Nazis hat das Szenario der Wirtschaftskrise Spiel mit diesen Versatzstücken. Ein ähnlicher
historisch überholt. Reflexe dieser gesell- Umgang mit Kolportagemotiven findet sich
schaftlichen Entwicklung finden sich auch im auch in Steffins Geisteranna. Insgesamt blei-
Gehherda. So verkörpert der Titelheld jenen ben Gehherdas Fantasien, soweit man das bei
autoritären Charakter, der nach unten ebenso einem Fragment überhaupt abschließend be-
bereitwillig tritt, wie er sich nach oben duckt. urteilen kann, rückwärts gewandt, es handelt
330 Das wirkliche Leben des Jakob Gehherda

sich nicht um einen »Tagtraum mit konkreter mit dem Fragment bemerkenswerte Publi-
Utopie«, sondern um »ein Bild der Vergangen- kumserfolge erspielten. Aber auch beim Publi-
heit ohne Zukunftsperspektive« (Giese, S. 99). kum größerer Theater konnte der Gehherda
Die Utopien von Menschen wie Jakob Geh- reüssieren, was er in erster Linie dem Regis-
herda können sich auch im Faschismus ver- seur Piet Drescher und seinem Hauptdarstel-
wirklichen. ler Matthias Günther zu verdanken hat. Das
Team realisierte den Gehherda bislang drei-
mal, 1986 am Zürcher Theater am Neumarkt,
1992 am Wiener Volkstheater und 1997 am
Aufführungsgeschichte Berliner Renaissance-Theater. Auch die Re-
zensenten dieser Aufführungen erfreuten sich
am »Musical mit Witz und Verve« (Geleng),
Auf die – in der deutschen Presse unbeachtet beklagten das Werk ansonsten aber als
gebliebene – Aufführung am Mailänder Teatro »schmalspurig«, es fehle der »tiefere Witz«
del Sole im Jahr 1971 fand die deutschspra- (Göpfert). Einen »intelligenten, zugleich zau-
chige Uraufführung des Gehherda-Fragments berhaft naiven Spaß« genoss Gerhard Ebert
am 7. 10. 1983 im Düsseldorfer Schauspiel und begrüßte die kritische Aufhellung einer
statt, eingerichtet von B.s Schüler Peter Pa- »übrigens noch heute typischen – sozialen
litzsch. Die Inszenierung der von Palitzsch er- Konfliktstruktur« (Ebert).
stellten Bühnenfassung (vgl. Brecht) hob die Doch liegt in der Überschaubarkeit der
Bezüge zum aufkommenden NS-Staat hervor, Handlung und der dramaturgischen Einfach-
indem sie den Segelklub als eine Art SA- heit auch eine Chance des Fragments. Der ge-
Stammtisch vorstellte. Henning Rischbieter ringe personelle und bühnentechnische Auf-
konnte aber nur ein paar politische Tupfer ent- wand, den es erfordert, macht es attraktiv als
decken und sah in der Inszenierung einen »Hy- Stück für Laien- und Jugendtheatergruppen,
per-Realismus« am Werk, wodurch das »Stück- gewissermaßen als spielerische Heranführung
chen« den »Charakter eines ›Kleinen Welt- an soziale Zusammenhänge und Konfliktsitua-
theaters‹, allerdings eines säkularisierten«, tionen – vergleichbar mit B.s Lehrstücken wie
erhalte, »liebevoll gebeugt über Menschen- auch mit Steffins zielgerichtetem Produzieren
schwäche in schlechten Zeiten« (Rischbieter). von Kinderdramen für Aufführungen unter
Immerhin eine »valentineske Ritterszene« den schwierigen Bedingungen des Exils. Das
konzedierte Benjamin Henrichs und hielt das Kinder- und Jugendtheater Esslingen (Würt-
Stück zwar für »rauh, unverputzt, in Maßen tembergische Landesbühne) hat im Jahr 1987
unverschämt«, stimmte aber sonst in den Te- einen solchen, auch überregional beachteten
nor der Kritiker ein: »So weit, so schlicht« Versuch unternommen, der Cornelie Ueding
(Henrichs). Den »Reiz« des Fragments loka- im Gehherda ein »Stück für die Jugend« (Ue-
lisierte Georg Hensel weniger in der »schlich- ding) erkennen ließ. In Verbindung mit dem
ten Lehre« als im »grotesken Weg« zu ihr Goethe-Institut entstand dazu ein Materiali-
(Hensel). Für Ulrich Schreiber war die Gegen- enheft, das mit Schülerblättern zu den ein-
überstellung von Realität und Traum nur mehr zelnen Träumen und Themen auch jüngere
eine »Trivialversion dessen, was Walter Benja- Zuschauer im schulischen Kontext zu einem
min den Choc der Montage genannt hatte« produktiven Umgang mit dem Fragment anzu-
(Schreiber). Der Kritiker sah die Zukunft des regen vermag.
Gehherda »im Staub der Archive« (ebd.), da
sich gerade wegen des Erfolgs der Düsseldor-
fer Uraufführung kaum ein Regisseur mit dem Literatur:
»Mut zur Reprise« (ebd.) denken lasse. Brecht, Bertolt: Das wirkliche Leben des Jakob Ge-
Besagten »Reiz« empfanden in den folgen- herda. Düsseldorfer Fassung von 1983, erstellt von
den Jahren vor allem kleine Bühnen, die sich Peter Palitzsch. In: Theater heute (1983), H. 11,
331

S. 40–45. – Ebert, Gerhard: Maul halten für den Deutschland und durch die Volksfrontregie-
Arbeitsplatz. In: Neues Deutschland (Berlin), 30. 9. rung in Frankreich erheblich verunsichert
1997. – Geleng, Ingvelde: Brechts »Jakob Geherda«
worden waren. Es zeichnete sich eine wach-
ein grotesker Jedermann. In: Welt am Sonntag
(Hamburg), 28. 9. 1997. – Gellert, Inge (Hg.): Mar- sende ideologische Polarisierung zwischen
garete Steffin: »Konfutse versteht nichts von dem kommunistischen Regime Stalins, der
Frauen«. Nachgelassene Texte. Berlin 1991. – Giese, zeitgleich seine Macht durch die Moskauer
Peter Christian: Das »Gesellschaftlich-Komische«. Prozesse zu stärken suchte, und der national-
Zu Komik und Komödie am Beispiel der Stücke und sozialistischen Diktatur Hitlers ab, dessen ›Er-
Bearbeitungen Brechts. Stuttgart 1974. – Göpfert,
folge‹ in der Bevölkerung überwiegend aner-
Peter Hans: Archäologisch gelifteter Brecht. In: Ber-
liner Morgenpost, 28. 9. 1997. – Goethe-Institut kannt wurden, deren Begleiterscheinung in-
(Hg.): Das wirkliche Leben des Jakob Gehherda. des die Unterdrückung oder zwangsweise
Materialheft für Schüler zum Gastspiel der Würt- Exilierung der kritischen Intelligenz war. Der
tembergischen Landesbühne. München 1987. – Goe- Bürgerkrieg in Spanien musste in dieser Situa-
the-Institut (Hg.): Pädagogische Verbindungsarbeit, tion als eine erste blutige Kulmination dieser
Werkheft Theater: Das wirkliche Leben des Jakob
Gegensätze erscheinen und zugleich bewusst
Gehherda. München 1988. – Hauck, Stefan: Die im
Schatten sieht man nicht. Margarete Steffin – Leben machen, dass es hier nicht mehr nur um ideo-
und Werk. Frankfurt a. M. 2001 [Zit. nach Ms.]. – logische Divergenzen ging, sondern um die
Henrichs, Benjamin: Brechts Bart, Horváths Buckel. Frage von militärischer Macht und nacktem
In: Die Zeit, 14.10.83. – Hensel, Georg: Mühsal Überleben. Spanien wurde so für die sich
beim Retten der Unschuld. In: Frankfurter Allge- überwiegend am Sozialismus orientierenden
meine Zeitung, 10.10.83. – Jeske, Wolfgang: Brechts
Intellektuellen zum Fanal, das indirekt jedoch
Stückfragment »Das wirkliche Leben des Jakob Geh-
herda«. In: Spectaculum 41, Frankfurt a. M. 1985, auch eine befreiende Wirkung hatte: Die Mut-
S. 286. – Rischbieter, Henning: Neues vom alten losigkeit der ersten Jahre nach 1933 (auch eine
Brecht? In: Theater heute (1983), H. 11, S. 24–39. – Folge der sozialen Unsicherheit der Exilier-
Schreiber, Ulrich: Ziffels Klage oder Das Bedürfnis ten), die sich nur durch den Hoffnungsschim-
nach Humor. In: Frankfurter Rundschau, 12.10.83. – mer eines schnellen Endes des nazistischen
Silberman, Marc [u. a.](Hg.): Focus: Margarete Stef-
Regimes besänftigen ließ, schlug um in einen
fin. BrechtYb. 19 (1994). – Ueding, Cornelie: Wit-
zige und genaue Sozialstudie. In: Frankfurter Rund- Aktivierungsdrang, der besonders einen Groß-
schau, 12. 10. 1987. – Völker. teil der Literaten erfasste und der ihrer Arbeit
ein neues, konkretes Ziel gab. Der Kampf ge-
Raimund Gerz
gen den sich ausbreitenden Faschismus be-
gann sich zu organisieren.
Für B. kam die Motivation, auf seine Weise
zu diesem Kampf beizutragen, durch den
Die Gewehre der Frau Theaterregisseur Slatan Dudow, der ihn be-
reits zwei Monate nach dem spanischen Putsch
Carrar (am 4. 9. 1936) von Paris aus aufforderte, ein
Spanien-Stück zu schreiben, das er mit seiner
Truppe exilierter deutscher Schauspieler auf-
Die Gewehre der Frau Carrar schrieben sich in führen wollte. Zugleich deutete er B. gegen-
einen auch für B. bislang einmaligen Zeitbe- über an, dass der Fokus eines solchen Stücks
zug ein und führten zu einem im Gesamtwerk auf dem Bedarf der Arbeiter nach Waffen lie-
recht ungewöhnlichen Resultat. Hintergrund gen könnte. B. nahm die Herausforderung an;
des Stücks war der Spanische Bürgerkrieg, der aber erst nach mehr als einem Jahr, am 16. 10.
– ausgelöst durch den Putsch General Francos 1937, konnte Dudow Die Gewehre der Frau
und seiner Anhänger gegen die demokratisch Carrar in der Salle Adyar in Paris uraufführen
gewählte republikanische Regierung im Juli und so die Geschichte eines der größten Thea-
1936 – ein Europa erschütterte, dessen Demo- tererfolge B.s einleiten. Die begeisterte Auf-
kratien durch den Faschismus in Italien und nahme des Stücks – für B. in seiner Exilsitua-
332 Die Gewehre der Frau Carrar

tion ein erheblicher Ansporn – bekräftigte Li- gung Erfolg versprechend, dass sie von der
teraten wie Intellektuelle in ihrer Zielsetzung, nachvollziehbaren Leidensphysiognomie ei-
durch aktuelle Zeit-Stücke in die politischen ner einzelnen, dem Kampf ausgesetzten Per-
Verhältnisse, jedenfalls bewusstseinsverän- son zu entwickeln waren. Gefühlsidentifika-
dernd, eingreifen zu können. Der (hektogra- tion, die Teilnahme sicherte, und kritische
phierte) Erstdruck erschien im Malik-Verlag Einsicht, die zum Engagement verleiten
London Dezember 1937, vorangestellt das Ge- konnte, mussten in einer heiklen Balance ge-
dicht Die Schauspielerin im Exil (Helene Wei- halten werden. Dies allerdings war schließlich
gel gewidmet), im März 1938 (mit der Jahres- das Problem der angemessenen dramatischen
zahl 1937) ein Einzeldruck, und kurz danach Vermittlungsform, d. h. einer überschaubaren
wurde es in den 2. Band der Gesammelten Fabel, die den politisch-aktuellen Bezügen
Werke (Malik-Verlag) aufgenommen (mit An- ebenso genügte wie sie in der konkreten Situa-
merkungen zu »Die Gewehre der Frau Car- tion ›aufrufen‹, emotional appellieren konnte.
rar«). B. wählte dazu (nach anfänglichen Bedenken)
Die Schwierigkeiten eines solchen Stücks den schlichten, auf Szenenwechsel verzichten-
waren nicht unerheblich; sie erklären wohl den, die Einheit der Zeit wahrenden Einakter,
auch die lange Dauer vom ersten Anstoß bis der die Zuschauer ohne Pause in den zwin-
zur Fertigstellung. Einerseits wurde von B. ein genden Ablauf der Ereignisse einbindet.
politisches Zeitstück vor aktuellem Hinter- Zunächst allerdings musste ein Blickwinkel
grund erwartet, das ein hohes Maß an sach- entworfen werden, von dem aus sich eine Fa-
licher Authentizität aufweisen musste, um bel strukturieren ließ. In der Berichterstattung
überzeugen zu können. Die dadurch geforder- seiner Hauptquelle vom Herbst 1936 bis Früh-
ten Detail-Recherchen wurden erschwert glei- jahr 1937, die er mit verstärkter Aufnahmebe-
chermaßen durch seine Situation im däni- reitschft studierte, zog B. ein durch Fotogra-
schen Exil, fern aller direkt verifizierbaren In- fien dokumentiertes ›Bildfeld‹ an, das ihm zu
formationsströme, wie durch die Entwicklung Recht als signifikantes Merkmal des Spani-
des Kriegs selbst, die ihn zwang, in ›Konkur- schen Bürgerkriegs erschien: die Miliz-Solda-
renz‹ zu den historischen Ereignissen zu tin. Deren Bereitschaft, das Gewehr zu schul-
schreiben. B. löste das Problem, indem er sich tern und für die Sache von Republik, Gerech-
nahezu ausschließlich – teilweise wohl ver- tigkeit und Menschlichkeit in den Kampf zu
mittelt durch seine Mitarbeiterin am Stück, ziehen, erschien ihm als ein ›Reizkomplex‹,
Margarete Steffin – auf das Material der links- der in verschärfter Form den Widersinn dieses
liberalen dänischen Tageszeitung Politiken Kriegs ebenso wie die Notwendigkeit für die
stützte, die durch aufwändige Berichterstat- Arbeiter, den kämpfenden Frauen nicht nach-
tung u. a. von Sonderkorrespondenten ein an- zustehen, demonstrieren konnte. Mit der um
schaulich-engagiertes Bild der spanischen Er- den Verlust von Mann und Sohn trauernden
eignisse vermittelte und überdies marxistisch Mutter, deren Figuration er ebenfalls in seiner
inspirierte Analysen lieferte. Andererseits Quelle vorfand, hatte er zugleich einen emo-
musste B. darauf bedacht sein, den politischen tionalen Anknüpfungspunkt, der die Frage
Stoff dem Zweck der Agitation für seine (und aufwarf, was solch eine Frau dazu bringen
Dudows) Sache nutzbar zu machen. Um eine konnte, zum Gewehr zu greifen. Die Psycho-
breitere Appellwirkung, besonders auch für logie dieser Mutter mit der Konstellation des
das zu aktivierende ›Volk‹, zu Gewähr leisten, Kriegs zu verknüpfen, wird zum Spannungs-
konnten seine experimentellen Versuche mit bogen des Stücks.
dem epischen Theater wenig hilfreich sein. Voraussetzung dafür war allerdings, dass
Die angestrebte Emotionalisierung wurde zu dieser Krieg in seiner ganzen Ausweglosigkeit
einer Strukturfrage des Stücks: Modellierung, für die in ihn hineingezwungenen Akteure ge-
Typisierung und damit Generalisierung des zeigt wurde. B. schloss sich hier wiederum
historischen Stoffs waren nur unter der Bedin- seiner Quelle an, die vor allem vier Merkmale
Quellen 333

des Kriegs herausgearbeitet hatte: Einerseits ten eines Chors von Klageweibern, die den
war er – von Anfang an – charakterisiert als unvermeidlichen Tod des Sohnes beklagen. B.
ausgeprägter Bombenkrieg, mit Guernica und gab diesen Motiven indes eine andere – ver-
Bilbao als Symbolen einer bislang unbekann- schärfende – Richtung und deutete die Kon-
ten totalisierten Kriegsführung; daher auch sequenzen des Unglücks in diametral entge-
der ursprüngliche Titel des Stücks: Generäle gengesetzter Weise: Handelte es sich bei
über Bilbao. Andererseits berichteten zahlrei- Synge um eine »Bauernküche mit Netzen, Öl-
che Zeugen vom ausgesprochenen Ausrot- tüchern, Spinnrädern« (in: Bohnen 1982,
tungscharakter des Kriegs, bei dem es darum S. 43) – das Meer ist nicht Grundlage des Le-
ging, den Andersdenkenden zu vernichten. bensunterhalts –, so wird daraus bei B. eine
Beide Aspekte wurden ideologisch ›aufgela- Fischerhütte mit einem Sohn, für den das Fi-
den‹ durch eine systematisch eingesetzte Pro- schen eine Lebensnotwendigkeit ist und der
pagandamaschinerie, mit dem »Radiogeneral« gerade dabei getötet wird. Und wurde bei
(GBA 4, S. 321) de Llano als Zentralfigur, die Synge das Unglück als Schicksalsschlag hinge-
die Gesellschaft bis hinein in die Kirche spal- nommen, mit den abschließenden Worten:
ten sollte; deshalb die Einführung der Padre- »Bartley wird einen schönen Sarg aus weißen
Figur. Und schließlich entlarvte der Krieg – Brettern bekommen und ein tiefes Grab. Was
was für B. besonders wichtig war – die Frag- wollen wir mehr als das? Niemand kann ewig
würdigkeit einer Neutralitätspolitik, wie sie leben, wir müssen uns fügen« (S. 53), so wird
Frankreich und England durch ein Waffenem- gerade diese Haltung zur Folie, in die B. seine
bargo betrieben. Vor dem Hintergrund einer kämpferische Gegenposition einschreiben und
Rede Goebbels, die seine Quelle referierte die Ergebung ins Unvermeidliche als unpoliti-
(Politiken, 13. 2. 1937): »Wer nicht mit uns ist, schen Fatalismus anprangern konnte.
ist gegen uns! – Die alte Kampfparole aus der Ästhetische Vorlage und dramatischer Blick-
Innenpolitik wird nun auf die Außenpolitik punkt beförderten nun (April-Mai 1937) die
übertragen – Neutralität kann nicht anerkannt Ausarbeitung einer Fabel, die in Grundzügen
werden« (Bohnen 1982, S. 181), musste B. sich mit dem endgültigen Resultat identisch war.
in seiner agitatorischen Zielrichtung, dem Die Redigierungsarbeit, die B. zusammen mit
Kampf gegen die Nicheinmischungspolitik der Steffin vornahm, dokumentiert in den Mate-
alten Demokratien und seinem eigenen Bei- rialien des BBA, zog sich allerdings bis in den
trag dazu, bestätigt sehen. August hinein – das mehrfach auf den Typo-
Lieferte ihm seine Quelle ein Anschauungs- skripten vermerkte Datum »24. VIII. 1937«
bild der politischen Ereignisse, so vermittelte deutet wohl einen Abschluss an –, wobei indes
der irische Dramatiker John Millington Synge die endgültige Lösung für den Schluss erst
mit Riders to the Sea (1904) den ästhetischen kurz vor der Uraufführung in Paris gefunden
Rahmen, was B. erst in der Ausgabe von 1952 wurde. Bei einem so aktuellen Stück hatte B.
mit den Worten »unter Benutzung einer Idee im Entstehungsprozess zunächst vor allem mit
von Synge« anerkannte. Von diesem Einakter der wechselvollen Lage der Ereignisse des
aus konnte B. die psychologischen und sozia- Spanischen Bürgerkriegs zu kämpfen: Geplant
len Aspekte der ihm vorschwebenden »Idee« war eine Situierung des Stücks im baskischen
bündeln: das Arme-Leute-Milieu mit einer und kommunistisch regierten Bilbao, das aber
Mutter und Witwe, die ihre Söhne nachein- bei der Fertigstellung des Dramas gefallen
ander durch das Meer verliert, ausstaffiert mit war, so dass die Ereignisse nun – mit mancher-
den Requisiten des elementaren Lebenser- lei historischen Inkonsequenzen – an die an-
halts (Herd und Brotbacken), verwickelt in ei- dalusische Front, die zum Aufführungszeit-
nen verzweifelten Kampf, um den letzten Sohn raum in den Mittelpunkt der Kämpfe gerückt
vor dem Tode zu bewahren, wobei die Mutter war, verlegt werden musste. Entsprechend
vergeblich einen jungen Pfarrer zur Unterstüt- wurde der ursprüngliche Titel Generäle über
zung heranzieht, endend mit dem Hereintre- Bilbao erst spät zu Die Gewehre der Frau Car-
334 Die Gewehre der Frau Carrar

rar geändert, ebenso wie Personen-, Zeit- und geglichen werden [können], wenn man das
Ortsangaben. Stück zusammen mit einem Dokumentenfilm,
Bemerkenswerter als diese kaum die Sub- der die Vorgänge in Spanien zeigt, oder irgend-
stanz des Stücks betreffenden Änderungen wa- einer propagandistischen Veranstaltung auf-
ren indes Eingriffe, die für B.s Intentionen führt.« (GBA 4, S. 306) Zugleich bemängelte er
nicht unerheblich sind. Sie zeigen, dass es ihm im Journal vom 25.2.39, dass sein Stück – wie
keinswegs darauf ankam, allein das indivi- Leben des Galilei – »technisch ein großer
duelle Schicksal einer Person vorzuführen, die Rückschritt«, »allzu opportunistisch« sei (GBA
in das Räderwerk des Kriegs geraten war und 26, S. 330). Und schließlich ließ er sich – ange-
daraus ihre Konseqenzen zog. Das Bezugsnetz, sichts einer schwedischen Aufführung von
in das Frau Carrar, die ursprünglich Frau Pas- 1939, allerdings nur für diese – dazu bereden,
qual hieß, gestellt wird, wird fortschreitend dem Stück durch die Beifügung eines Prologs
entindividualisiert und konturiert sich durch und Epilogs (vgl. GBA 4, S. 335–337) einen
die signifikanten Requisiten des Brotes als Le- Parabel-Charakter zu verleihen. Das Stück
bensgrundlage einerseits und die Gewehre als wurde von B. selbst freilich nie mit Prolog und
Auflehnung andererseits, die ihren Kampf um Epilog veröffentlicht. Solch eine Selbstdes-
den Sohn (Überlebenshoffnung) einrahmen, avouierung hat Spuren in der Forschung hin-
wobei ›ablenkende‹ Signale, wie Einzelheiten terlassen. Wenn die »Technik« des Stücks nicht
der faschistischen Propaganda, eine differen- zur Debatte stehen konnte – denn sie konnte
ziertere Sicht der Regierungspolitik oder gar vor der Entwicklung des epischen Theaters
deren Verbrechen, eliminiert werden. Dane- angeblich nicht bestehen –, dann dessen Ziel
ben trat eine Typisierung des Bürgerkriegs als und Funktion. Überwiegend bestand Einigkeit
eines Kampfes zwischen den Reichen und den darüber: »B. machte sich an die Aufgabe, ein
Armen, sichtbar etwa an der in der Umarbei- Agitationsstück zu schreiben, das zur Solidari-
tung vorgenommenen stärkeren Profilierung tät mit dem spanischen Volk und zum bewaff-
des Hunger-Motivs oder etwa an der Änderung neten Kampf aufforderte« (Völker, S. 256); es
der ersten Fassung von Frau Pasquals Satz: sei »als reines Propagandastück und Solidari-
»Wir sind anständige Leute« zu »Wir sind tätserklärung zu sehen« (Vinçon, S. 138), et-
arme Leute« (GBA 4, S. 309). Diese Klassen- was abgemildert als »Stück für das operative
kampfposition ausweitend, wurde die Neutra- Theater« (Mittenzwei, S. 585) und nahezu ent-
litätspolitik der alten Demokratien als Para- schuldigend: »Das Beispiel des Stücks war
digma eines weltweit geführten Klassenkamp- eine direkte Aufforderung zum Handeln. Von
fes, sichtbar an der offiziellen, inoffiziell aber dieser Absicht ausgehend, hielt B. es für ge-
unterlaufenen Blockadepolitik, erst im Umar- rechtfertigt, zugunsten der agitatorischen
beitungsprozess herausmodelliert. Für ein Wirkung Zugeständnisse hinsichtlich seiner
Verständnis des Stücks ist diese Einlagerung Theatertheorie zu machen.« (Hecht/Bunge/
eines Einzelschicksals in eine Entindividuali- Rülicke-Weiler, S. 118 f.) Von hier aus konnte
sierungs-, Typisierungs- und Modellierungs- allenfalls noch diskutiert werden, ob das Stück
strategie, wie sie im Entstehungsprozess er- stärker gegen die Neutralitätspolitik der bür-
kennbar ist, bedeutsam. Sie kennzeichnet B.s gerlichen Demokratien oder gegen die Nicht-
Verfahrensweise und dramatische Absichten. einmischungs-Mentalität der beobachtenden
Dies ist in der – nicht sehr umfangreichen – oder betroffenen Menschen gerichtet sei.
Forschung zum Stück nur bedingt gesehen In dieser Sicht gewinnt das Stück indes eine
worden. B. selbst hatte seine Rezipienten mit Eindimensionalität, die im Widerspruch steht
Äußerungen zu seinem Werk, die auf dessen zu der Komplexität des Umarbeitungsprozes-
formale Gestalt zielten, auf eine fragwürdige ses. Tatsächlich war B. durch seine Quelle –
Fährte gelockt: »Es ist aristotelische (Einfüh- entgegen Mittenzwei (in: Bohnen 1982,
lungs-)Dramatik«, dessen technische »Nach- S. 157) – auch über die ökonomischen Hinter-
teile […] bis zu einem gewissen Grade aus- gründe des Bürgerkriegs informiert, und den-
Faktizität 335

noch wählte er eine Präsentationsform, die nicht durch Überzeugungsarbeit allein zu er-
diese Zusammenhänge ausklammerte. Gegen- langen, sondern nur – was B. erst bei den
über dem Vorwurf, es seien »die Formen, die Proben zu seinem Stück einsah – schockartig
mich interessieren«, wehrte er sich in einem durch den Zusammenbruch eines scheinbar
Eintrag der Journale vom 3. 8. 1938 vehement: festummauerten Gehäuses verursacht, durch
»Aber ich habe herausgefunden, daß ich das den Einbruch nämlich der widersinnigen Rea-
Formale eher geringschätze.« (GBA 26, S. 315) lität: Die Wirklichkeit selbst erzwingt den
Es kam ihm – vor allem natürlich bei einem Kampf, ins Bild gebracht durch die Requisiten
politischen Zeitstück – darauf an, einen vorge- der Gewehre und des Brots. Von der Faktizität
gebenen ›realen‹ Stoff so zu strukturieren, werden alle Überzeugungen korrigiert und
dass der Gegenstand in seiner punktuellen schlagen in ihr Gegenteil um.
Präsenz anschaulich hervortrat und dennoch Diese punktuelle Präsenz, in der die Fi-
zugleich in seiner typologischen Signifikanz schersfrau zur Entscheidung herausfordert
herausgearbeitet wurde. Auf die Frage: »Wie wird, provoziert allerdings nicht ein Mitleiden
komme ich also dazu, mich mit dem Kampf des mit ihrer Situation im Sinne einer Anerken-
spanischen Volkes gegen seine Generäle zu be- nung ihrer Ausweglosigkeit und einem Sich-
schäftigen?« (GBA 22, S. 356) antwortete er: Abfinden mit ihrer Lage. Tatsächlich wird ihr
»Wie soll Kunst die Menschen bewegen, wenn eigentlicher Gegenspieler das Kriegsgesche-
sie selber nicht von den Schicksalen der Men- hen selbst, das mit dem »Kanonendonner« im
schen bewegt wird? Wenn ich selbst mich ver- Hintergrund (GBA 4, S. 307) das Stück be-
härte gegen die Leiden der Menschen, wie soll gleitet und das durch zahlreiche eingeschal-
ihnen das Herz aufgehen über meinem Schrei- tete Realbezüge die Möglichkeit einer von der
ben? Und wenn ich mich nicht bemühe, einen Wirklichkeit absehenden Selbstbestimmung
Weg für sie zu finden aus ihren Leiden, wie problematisiert. In seinem aktuellen Zeitstück
sollen sie den Weg zu meinem Schreiben fin- arbeitete B. diese dissonante Struktur ent-
den?« (S. 357) Sein Stück, das er so einführt, schieden heraus: Die Entscheidungen des ein-
erscheint ihm wie ein »Brief an die Fischers- zelnen sind nicht unabhängig von dessen ge-
frau« (ebd.) als Versicherung eines anderen, sellschaftlichen Bedingungen, und sie sind es
humanen Deutschland. Solch ein Brief muss umso weniger, als die politischen Kräfte auch
die Sprache des Adressaten verwenden, muss und gerade den treffen, der sich ihnen zu ent-
die Fischersfrau in der Alltäglichkeit ihrer ziehen sucht, nur weil er eine »schäbige
Sorgen um Brot und Lebenserhalt vorführen, Mütze« (S. 333) aufhat und damit Armut sig-
mit all den scheinbaren Argumenten des Com- nalisiert. »Es handelt sich also nicht um reine
mon Sense, mit denen sie ihre Haut zu retten Einfühlungsdramatik, denn trotz der formalen
versucht, mit ihren ›naturgegebenen‹ Ansprü- Geschlossenheit […] ist das Stück zur außer-
chen als Mutter und dem Recht, diese An- ästhetischen Realität (spanischer Bürgerkrieg
sprüche auch mit verzweifelt-lächerlichen und Kampf gegen den Faschismus) hin offen
Winkelzügen, wie ihrem Hinken, durchzuset- und führt in sie zurück« (Joost, S. 272).
zen, schließlich gar, wenn alles nichts hilft, Darüber hinaus suchte B. mit der im Umar-
unter hilfeheischender Anrufung der kirchli- beitungsprozess sichtbar gewordenen Typisie-
chen Autorität in der Gestalt des Padre. Ihre rungs- und Stilisierungsstrategie dem Einzel-
Argumente sind nach ›normalen‹ moralischen schicksal eine repräsentative Bedeutung zu ge-
Maßstäben durchaus plausibel, werden aber – ben. Schon bei der ersten Anweisung in einem
konfrontiert mit der Anormalität des Ausrot- Brief an Dudow Ende Juli 1937 für die Auffüh-
tungskriegs – zunehmend unterhöhlt und, für rung des Stücks wird dies deutlich: »Den Stil
den Zuschauer sichtbar, fragwürdig. Die Frage der Aufführung denke ich mir sehr einfach.
nach der Moral in kriegerischen Zeiten durch- Die Figuren plastisch vor gekalkten Wänden,
zieht das Argumentationsgeflecht der Protago- die einzelnen Gruppierungen sehr sorgfältig
nisten und verlangt nach einer Antwort. Sie ist durchkomponiert wie auf Gemälden. Nichts
336 Die Gewehre der Frau Carrar

Zappliges, alles ruhig, überlegten Realismus. sche Spielweise auch mit sensibleren Mitteln
Die Details mit Humor, das Ganze überhaupt erreicht werden kann, zeigt etwa die erste Mo-
nicht zu drückend. Gute Zäsuren.« (GBA 29, dellmappe Ruth Berlaus über die »Erfahrun-
S. 35 f.) Martin Andersen-Nexø, der Dichter gen der Pariser, Kopenhagener und Greifswal-
des ›kleinen Mannes‹, hatte dies in seiner frü- der Aufführung« mit dem Stück (in: Bohnen
hen Rezension, die im Juni 1938 in Das Wort 1982, S. 113–131). Dass das Stück vielleicht
(Moskau) publiziert wurde, erkannt: Das gerade dadurch überaus populär war (auch
Stück erschien ihm als »der Kampf zwischen und vor allem bei Laienspielgruppen), belegen
den aufbauenden Kräften des Friedens und die unzähligen Aufführungen seit dem ersten
den niederreißenden des Raubkriegs, zwi- Theatererfolg in Paris (vgl. S. 202–235).
schen der Arbeit und ihren blutigen Schmarot-
zern«, zugleich ist es ihm so »einfach und ge-
radezu wie ein Märchen von H. C. Andersen« Literatur:
(in: Bohnen 1982, S. 141 f.). Beide Aspekte, Andersen-Nexø, Martin: Die Gewehre der Frau Car-
die Typologisierung des Kriegs als Klassen- rar. Ein deutscher Emigrantendichter über den spa-
kampf und dessen schematische Modellierung nischen Volkskampf. In: Bohnen 1982, S. 138–143.-
Bohnen, Klaus: Die Gewehre der Frau Carrar. Be-
in geradezu ›märchenhaft‹-einfacher Gestalt, obachtungen zum Stück und zu einer dänischen Auf-
gehören zusammen. Detlev Schöttker hat führung. In: BrechtJb. 1976, S. 131–141. – Ders.
diese Technik in den Zusammenhang mit einer (Hg.): Brechts »Gewehre der Frau Carrar«. Frank-
»Ästhetik des Naiven« gerückt, die B. in seinen furt a. M. 1982. – Engberg, Harald: Brecht på Fyn. 2
späten Jahren (als Ergänzung zum epischen Bde. Odense 1966. – Fenn, Bernard: Characterisa-
und dialektischen Theater) habe entwickeln tion of Women in the Plays of Bertolt Brecht. Frank-
furt a. M., Bern 1982. – Franck, Wolf: Die Gewehre
wollen und deren frühe Spuren auf Die Ge- der Frau Carrar – Brecht-Uraufführung in Paris. In:
wehre der Frau Carrar zurückführen: »Naivität Deutsche Volkszeitung (Paris), 24. 10. 1937. – Hecht,
meint eine Form von Vereinfachung, bei der Werner/Bunge, Hans-Joachim/Rülicke-Weiler, Kä-
die Komplexität der Realität zum Zwecke der the: Bertolt Brecht. Sein Leben und Werk. Berlin
Erkenntnis mit poetischen Mitteln gestaltet 1969. – Joost. – Mittenzwei, Werner: Von der »Maß-
ist« (Schöttker, S. 209). Mit dieser Einfachheit nahme« zu »Leben des Galilei«. Berlin, Weimar
1965. In: Bohnen 1982, S. 144–166. – Mittenzwei,
als Strukturprinzip, diesem »überlegten Rea- Bd. 1. – Schöttker, Detlev: Bertolt Brechts Ästhetik
lismus« (GBA 29, S. 36), der keine »saloppe, des Naiven. Stuttgart 1989. – Seghers, Anna: Helene
naturalistische Sprechweise« verträgt (S. 100), Weigel spielt in Paris. In: Bohnen 1982, S. 135–137.
gelang es B., alle Fäden des historischen Ge- – Synge, John Millington: Reiter ans Meer. Ins Deut-
schehens in einem Brennglas zu sammeln, das sche übertragen v. Werner Wolf. Basel 1935. In:
das allein Wesentliche reflektiert. Ein solch Bohnen 1982, S. 41–53. – Vinçon, Inge: Die Einakter
Bertolt Brechts. Königstein/Ts. 1980. – Völker,
reduktionistisches Modell des Kriegs, das am Klaus: Bertolt Brecht. Eine Biographie. München,
Einzelschicksal die Typologie einer allgemein Wien 1976.
einzufordernden Verhaltensweise vorzeigt, er-
Klaus Bohnen
möglicht gleichermaßen »Einfühlung« wie Di-
stanz voraussetzende Erkenntnis, ohne para-
bolisch-belehrende Fingerzeige oder die Illu-
sion aufbrechende epische Hilfsmittel. Für
sein Thema, den Krieg, und seine Zielsetzung, Goliath
Aufruf zum Kampf, hatte B. erstmals eine
Technik entwickelt, die ihm bei der Urauf-
führung (und später) erheblichen künstleri- B. fasste den Plan zu einer Oper nach dem
schen »Kredit« (Brief an Dudow; S. 86) einge- alttestamentarischen Stoff zusammen mit
brachte und die es nicht verdiente, nur als Hanns Eisler, der sich von Ende Januar bis
Übergangsphänomen zu den ›Meisterwerken‹ September 1937 in Svendborg (Dänemark) bei
der Spätzeit eingestuft zu werden. Dass epi- B. aufhielt. Die Ausarbeitung begann vermut-
Stoff/Inhalt 337

lich im März. Ein erstes Dokument der Zusam- vid und Jonathan, Goliaths Feste und Goliaths
menarbeit trägt das Datum des 8. 3. 1937, das Sturz (GBA 10, S. 753 f.). Eisler bemerkte in
Margarete Steffin auf ein Blatt mit Szenen- einem Gespräch mit Bunge: »Die Handlung
und Handlungsentwürfen notiert hatte (GBA hatten wir ganz genau bestimmt. Im Archiv
10, S. 757–758), wie B. sie auch für andere haben Sie die ganze Handlung« (Eisler/Bunge,
Stücke in der Entwurfsphase anfertigte. Am S. 81); aus dem Material lässt sich folgender
11.3. teilte B. Berhard Reich mit: »schreibe Ablauf grob umreißen.
gerade mit Eisler eine Oper« (GBA 29, S. 20). Am Beginn steht eine Auseinandersetzung
Eislers Kompositionen zur Oper (vier Soli, der Philister, der Ausbeuterklasse, mit den ar-
ein Chor sowie Orchesterbegleitung; genauer men Leuten von Gad, die eine Keule geliefert
in: Lucchesi/Shull, S. 663–665) sind im Eisler- haben und nun ohne Bezahlung heimgeschickt
Handbuch unsicher auf den August/September werden sollen. Tulok, der Aufsässige, und Isai,
1937 datiert (Grabs, S. 366). Die Arbeit wurde Davids Vater, rufen die armen Leute von Gad
mit Eislers Abreise aus Dänemark unterbro- zu einem Aufstand gegen die Philister auf. Zur
chen. Später erwog Eisler An die Hoffnung aus Klärung des Streitfalls schlagen die Philister
dem 1. Hölderlin-Fragment, das auf den 20. 5. eine demokratische Wahl vor, was die armen
1943 datiert ist, »Eventuell als Einlage für ›Go- Leuten von Gad auch begeistert aufnehmen.
liath‹ zu verwenden. (›In der Sängerkriegs- Zum Wahlleiter bestimmen die Philister Go-
szene‹ [= Akt 3]) (Dann für Streicher setzen!)« liath als den stärksten Mann und wählen ihn
(S. 88). Wann Eisler diesen Eintrag vornahm, dann in einer Abstimmung geschlossen; die
ist allerdings unsicher (Lucchesi/Shull, S. 38, armen Leute von Gad werden durch Drohun-
S. 663; Dümling, S. 443). November 1944 kam gen und Manipulation dazu veranlasst, gleich-
es wieder zu Gesprächen mit Eisler, die B. falls Goliath zu wählen, nachdem Goliath den
jedoch »festgefahren« nannte (GBA 27, Gegenkandiaten Isai getötet hat. Goliath er-
S. 209). Eine Weiterarbeit am Text ist nicht hält die Keule, die von den anderen Philistern
bezeugt. bestellt worden war und gibt einen Löffel in
Die stoffliche Grundlage, die B. bereits 1920 Auftrag. Neben David wird hier auch seine
als Stück mit dem Titel David unter einem Schwester Miriam eingeführt, die Goliath in
anderen Schwerpunkt (GBA 10, S. 120–142) Akt 4 zu seiner Braut wählt.
bearbeitet hatte, bildet die Geschichte von Da- Bei der Produktion des riesigen Löffels in
vid und Goliath (1 Samuel 17; weiterhin 1 Akt 2 wird die Feindschaft zwischen Handwer-
Samuel 18,1–4, 20, sowie 1–42 für die Freund- kern und Bauern aufgezeigt; Schimech, der
schaft zwischen Jonathan und David). Für Speichellecker, grenzt David als Isais Sohn bei
seine Aussageabsicht veränderte B. den Stoff der Arbeit aus (GBA 10, S. 779 f.; die Grund-
der Bibel jedoch stark, es blieben nur wenige idee ist in A3, S. 755 f., dokumentiert). Diese
Namen und Motive übrig (Rohse, S. 291–293). Uneinigkeit der Klassen wird später in der
B. hat häufig mit Bibelzitaten und -motiven, Freundschaft von David und Jonathan über-
mit Klang, Ton und Gestus der Sprache Lu- wunden, die erkennen, dass sie beide in der
thers gearbeitet und durch diese dem Publi- gleichen Situation sind. Für diese Freund-
kum halbbewussten Zitate Verfremdungsef- schaft werden sie von den anderen verspottet
fekte geschaffen. Sein Umgang mit Stoffen und (S. 780–782). Nur in Entwürfen gibt es Ansätze
Motiven war stets von einem Dienstbarma- zu einer Liebesgeschichte zwischen Miriam
chen für die eigene Sache geprägt; so etwa und Jonathan, aus der Konflikte zwischen der
wird die Freundschaft zwischen David und Jo- Neigung Miriams und der Brautwahl des Dik-
nathan im Gegensatz zum Bibeltext vor den tators entwickelt hätten werden können.
Kampf mit Goliath gezogen, da sie beispielhaft David erhält von Jonathan ein verbotenes
Einigkeit darstellt. Buch, in dem es um Einigkeit geht; hier gibt es
Es waren vier Akte geplant; diese stehen widersprüchliche Szenenplanungen, diese wie
unter den Überschriften Die Goliathwahl, Da- auch Unterschiede in den Benennungen sind
338 Goliath

auf den Fragmentcharakter des Goliath zu- von Gad anzusetzen (S. 771), nicht nur, weil
rückzuführen (vgl. z. B. GBA 10, S. 757, Isai in dieser Szene noch auftritt (vgl. dagegen
S. 768). Goliath befiehlt, dass sein Löffel ge- den Kommentar S. 1216), sondern auch, da aus
grüßt werden muss (eine Anspielung auf Wil- der Eskalation der Lohnforderungen das Be-
helm Tell), David kann dies aber nicht, da er dürfnis der Philister nach einem starken Mann
das verbotene Buch unter dem Hut hat: So entsteht.
trotzt er Goliath wider Willen und muss ins In der manipulierten Wahl ist der Macht-
Exil gehen. wechsel 1933 in Deutschland zu erkennen
Von den Akten 3 und 4 gibt es nur ein paar (Dümling, S. 442). Der Hunger Goliaths (GBA
Splitter. Zu erschließen ist, dass in Akt 3 Go- 10, S. 758), der als starker Mann eindeutig
liaths Feste am Hof geschildert werden und die Nazi/Hitler-Züge trägt (S. 771 f.), als »Führer
Wissenschaftler »Statistiken über [die] der Führer« bezeichnet wird (S. 776) und ei-
Schwere von Goliaths Faust usw.« (GBA 10, nen Krieg mit den Nachbarstaaten wahr-
S. 753) aufstellen sollten. Der zweite Teil des scheinlich macht, bezieht sich auf die Anne-
Aktes war für Jonathans Besuch bei David im xionen Deutschlands und das Zutreiben auf
Exil vorgesehen, währenddessen sie das ver- einen Krieg, vor dem B. warnen wollte; in
botene Buch lesen. einer ausgearbeiteteren Form findet sich die-
In Akt 4 bereitet Goliath die Hochzeit mit ses Motiv in Dansen und Was kostet das Eisen?
Miriam vor, was die Philister als Bescheiden- (vgl. Rohse, S. 293).
heit Goliaths loben, weil er sich eine Braut aus Gegen das von den Philistern aufrechter-
dem Volk gewählt hat (GBA 10, S. 788). Vorher haltene Postulat der angeblich naturgegebe-
jedoch kommt es zur Schlacht Davids gegen nen Uneinigkeit (»Ihr seid ein verschiedener
Goliath (S. 761 f.). Die armen Leute von Gad Menschenschlag«; GBA 10, S. 789) baut das
geben David für die Nacht vor dem Kampf verbotene Buch, »in dem […] alles über die
Essen und Decken und beweisen so die Stärke E i n i g k e i t« steht (S. 768), eine materialisti-
der Einigkeit (S. 762). sche Gegenposition auf. Die Stoffwahl spricht
Die mögliche Überwindung der Diktatur auch die grundsätzliche Überwindbarkeit des
durch die Stärke der Einigkeit und die Macht- Diktators an; verstärkt wird diese Aussage
losigkeit bei Uneinigkeit waren wohl als die durch die Erwähnung von Goliaths tönerner
Kernaussage des Goliath geplant. Für die fol- Stirn, die in dem verbotenen Buch beschrieben
gende Analyse wird vor allem der Text des ist (S. 753). Wie die Einakter ist das Fragment
ausgearbeiteten (B5, Vorformen B1-B4, B6; auf das Ziel einer antifaschistischen Volksfront
GBA 10, S. 764–777) und überarbeiteten (B11– ausgerichtet (Rohse, S. 293; Lucchesi/Shull,
15; GBA 10, S. 782–787) Aktes 1 herangezo- S. 38).
gen. In der Figur des Speichellecker Schimech
Die Philister als Kapitalisten (Lucchesi/ (vgl. GBA 17, S. 142–145) wie auch in der Idee,
Shull sehen sie als Nazis, S. 38), die sich den den Wissenschaftlern am Hofe Goliaths eine
starken Mann Goliath ins Haus holen, machen huldigende Rolle zuzuweisen (GBA 10,
den äußeren Konflikt mit einem feindlichen S. 753), zeigen sich Parallelen zum Tuiroman
Volksstamm in der biblischen Vorlage zu einem (vgl. GBA 17, S. 46, S. 68 u. a.), an dem B.
Klassenkonflikt, der durch den aufsässigen Tu- gleichzeitig arbeitete.
lok, der erst in der Überarbeitung des Aktes B., der sich in seinen Texten zur Musik und
hinzukommt 1 (B11–15, zugehörig wahr- Oper gegen »kulinarische«, das heißt »illu-
scheinlich auch B16, B19, B20; GBA 10, strierende und expressive« Musik aussprach
S. 782–789), noch verschärft wird. B15 ist hier (GBA 22, S. 158), trat z. B. in seiner Schrift von
als die letzte Fassung zu lesen, bei B13 handelt 1935 Über die Verwendung von Musik für ein
es sich um eine ähnliche frühere Version. Die episches Theater (S. 155–164) für eine »gesell-
wahrscheinliche Platzierung der Szene ist am schaftlich bedeutsame Gestik« ein (S. 158) und
Ende der Lohnforderungen der armen Leute forderte gegen das Gesamtkunstwerk Richard
Form 339

Wagners »die Trennung der Elemente« (S. 156), chen, allerdings in einem völlig anderen Kon-
die eine »Kritik menschlichen Verhaltens vom text. Die Inszenierung erhielt beinahe durch-
gesellschaftlichen Standpunkt aus« ermög- weg vernichtende Kritiken.
lichte (S. 158). Hinweise auf eine Parodie und
mögliche Kritik des Wagnerschen Opernbe-
griffs finden sich in der Szenenüberschrift von Literatur:
Akt 3, Die Meistersinger von Gad (GBA 10, Dümling. – Grabs, Manfred: Hanns Eisler. Kompo-
S. 753), und in der Anmerkung Eislers, dass sitionen, Schriften, Literatur. Ein Handbuch. Leip-
eine Szene zu einem Sängerkrieg geplant war zig 1984. – Grothum, Brigitte: David. Fragment von
(vgl. Lucchesi/Shull, S. 38). B. analysierte die Bertolt Brecht. Bearbeitung für die Bühne. Berlin
1995 [Masch.]. – Eisler/Bunge. – Lerchner, Gott-
Wagnerschen Opern vor dem Hintergrund der
hard: Traditionsbezug zur Lutherbibel im Werk
politischen Inszenierungen des Faschismus Brechts. In: WB, 29 (1983), S. 1947–1961. – Luc-
(zu B.s Wagnerkritik und den Differenzen zwi- chesi/Shull. – Nieder, Christoph: Bertolt Brecht
schen B. und Eisler vgl. Stegman, S. 238–249; und die Oper. Zur Verwandschaft von epischem
Lucchesi/Shull, S. 76 f.; Dümling, S. 525–526, Theater und Musiktheater. In: ZfdPh. 111 (1992),
S. 528–533). S. 262–283. – Rohse, Eberhard: Der frühe Brecht
und die Bibel. Studien zum Augsburger Religions-
Clowneske Slapstick-Einlagen – Goliath,
unterricht und zu den literarischen Versuchen des
dessen Kopf nur zum Essen und Huttragen Gymnasiasten. Göttingen 1983. – Stegman, Vera:
taugt, geht durch die Wand der Wahlkabine, Brecht contra Wagner. The Evolution of the Epic
tötet Isai mit einem Schlag auf die Schulter, Music Theatre. In: Mews, Siegfried (Hg.): A Bertolt
tritt die Leute, setzt sich auf einen umgestülp- Brecht Reference Companion. Westport, London
ten Karren u. a. (GBA 10, S. 772 f.) – nehmen 1997, S. 238–260. – Weisstein, Ulrich: Von reitenden
Boten und singenden Holzfällern. Bertolt Brecht und
Elemente des Films auf und geben der drama-
die Oper. In: Hinderer, S. 266–299. – Ders.: Brecht
tischen Handlung komische Züge. Auch in der und das Musiktheater. Die epische Oper als Aus-
Verwendung solcher avantgardistischer Mittel druck des europäischen Avantgardismus. In: Schöne,
ist der Goliath in die Nähe der Einakter zu Albrecht/Mennemeier, Franz Norbert/Wiedemann,
rücken. Conrad (Hg.): Kontroversen, alte und neue. Deut-
Allerdings zeigt sich an der Wiederauf- sche Literatur und Weltliteratur. Kulturnation statt
politischer Nation?. Akten des VII. internationalen
nahme der Beschäftigung im Jahr 1944, dass B.
Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 9. Tü-
hier über die tagespolitischen Erwägungen bingen 1986, S. 72–85.
von 1937 hinaus wohl eine Faschismusparabel
wie Die Rundköpfe und die Spitzköpfe und den Christine Bühler
Arturo Ui im Sinn hatte. In einfacher Form
und in äußerster Reduktion werden Entste-
hung und Funktionieren eines faschistischen
Systems und Möglichkeiten zum Kampf dage-
gen gezeigt. Der Erkenntnisprozess über die Furcht und Elend des
Wichtigkeit der Einigkeit ist in dem Zwie-
gespräch zwischen David und Jonathan in
III. Reiches
kunstvoller Schlichtheit ins Beispielhafte und
Zeitlose gehoben (vgl. GBA 10, S. 780–782).
Das Goliathfragment wurde nie aufgeführt, Entstehung und Überlieferung
doch im Rahmen der Uraufführung des er-
wähnten David-Fragments von 1920 am 4. 11.
1995 im Berliner Hebbeltheater, einer Collage In einem Brief an Slatan Dudow von Ende Juli
aus dem Fragment, weiteren Texten von B. 1937 erwähnte B. zum ersten Mal die Arbeit
(u. a. aus den Journalen), Bibeltexten, hebräi- am Stück. Er schreibe »eine Reihe kleiner
schen Gesängen u. a., wurde das Zwiegespräch Stücke (zu zehn Minuten)« (GBA 29, S. 36),
David und Jonathan aus dem Goliath gespro- die er dann im April 1938 gegenüber Karl
340 Furcht und Elend des III. Reiches

Korsch »eine Reihe von (Schreckens-) Szenen« auf eine von Max Reinhardt in Aussicht ge-
nannte (S. 92). Die Hauptarbeitszeit lag in der stellte Inszenierung fügte er 1942 eine Rah-
zweiten Hälfte 1937 und im Winter 1938. Im menhandlung hinzu. 1946 schrieb er eine neue
Juli 1938 sandte er seinem Freund Wieland Schluss-Szene für die Schweizer Erstauffüh-
Herzfelde ein fertiges Manuskript mit 27 Sze- rung im Stadttheater Basel 1947, die er als
nen, um sie in dessen Malik-Verlag (Prag) noch »eine mögliche letzte Szene von Furcht +
im selben Jahr unter dem Titel Furcht und Elend für Basel« bezeichnete (Wizisla, S. 3)
Elend des III. Reiches zu veröffentlichen. In- und mit Hamburg 1938 überschrieb (GBA Re-
nerhalb eines Jahres entstand dieser in B.s gisterband, S. 736 f.). In dieser Szene sind Per-
Schaffen einzigartige Zyklus von Einzelsze- sonal und Handlung geändert, jedoch ist das
nen, die im Ganzen dennoch ein vollständiges Thema von Szene 27, Volksbefragung (GBA 4,
Stück ergeben. Obwohl die sich verschlech- S. 441 f.), erhalten; auch wird am Ende der
ternde politische Lage in der Tschechoslowa- Brief eines zum Tode verurteilten Vaters an
kei eine Veröffentlichung verhinderte – der seinen Sohn verlesen.
fertige Drucksatz und die Druckbögen wurden
im Januar 1938 von tschechischen Faschisten
vernichtet – erhielt B. ein Exemplar des Um-
bruchs zur Korrektur, das Textgrundlage für Quellen, Arbeitsmaterialien,
die GBA geworden ist. Zusammenarbeit
Nach verschiedenen Drucken von Szenen-
gruppen auf Französisch in den Zeitschriften
Commune, Europe, Nouvelle Revue Française Laut B.s Aussage beruht Furcht und Elend »auf
(alle 1939) wurden in den folgenden sechs Augenzeugenberichten und Zeitungsnotizen«
Jahren mehrere Einzelszenen oder Sammlun- (GBA 24, S. 227) über das Alltagsleben in
gen von Szenen in der UdSSR und den USA auf Nazi-Deutschland, die er aber nicht näher
Deutsch oder Englisch veröffentlicht. B. traf identifizierte. Es handelt sich um eine umfang-
die Auswahl für zwei dieser Ausgaben. Unter reiche Sammlung von Zeitungsausschnitten,
seiner Aufsicht übertrugen Elisabeth Haupt- die Margarete Steffin unter B.s Anleitung zwi-
mann und Eric Bentley eine Neufassung von 17 schen 1933–37 anlegte (BBA 302, 387, 390,
Szenen ins Englische, die 1944 unter dem von 3901, 470, 474, 560, 1151, 1211, 1387). Darin
B. gewählten Titel The Private Life of the Ma- befinden sich zahlreiche Artikel und Notizen
ster Race erschien. 1945 kam es im von Exi- über den Terror im deutschen Alltagsleben,
lanten gegründeten Aurora Verlag in New York wie z. B. spezifische Auswirkungen der Nürn-
zu einer deutschsprachigen Ausgabe von 24 berger Gesetze, Berichte über KZs, die Verhaf-
Szenen, die den Titel Furcht und Elend des tung von Antifaschisten, subversive Bemer-
Dritten Reiches trug und ebenfalls von B. zu- kungen und Handlungen in der Bevölkerung,
sammengestellt wurde. die in Furcht und Elend dramatische Gestal-
Obwohl 27 Szenen im Juli 1938 in Druck tung gewannen. Die in dieser Sammlung
gingen – eine abgeschlossene Szene mit dem befindlichen Ausschnitte stammten aus deut-
Titel Der Gefühlsersatz (GBA 4, S. 443–452) schen Zeitungen, darunter Der völkische Beob-
hielt B. zurück –, war Furcht und Elend, wie so achter, Der Stürmer, Berliner Zeitung, Ham-
oft bei B., ein noch im Entstehen begriffenes burger Fremdenblatt, Frankfurter Zeitung, aus
Werk. 1942 oder 1943 schrieb er eine weitere österreichischen und schweizerischen Blättern
Szene mit dem Titel Moorsoldaten (S. 453– (z. B. Neue Zürcher Zeitung, Neues Wiener Ta-
455), die auf dem 1933 im Konzentrationslager geblatt) sowie aus amerikanischen, engli-
Börgermoor entstandenen Moorsoldaten-Lied schen, französischen und dänischen Zeitun-
basierte (vgl. Lucchesi/Shull, S. 661 f.) und die gen, die Steffin vermutlich von einem Zei-
er in die englischsprachige Aufführung von tungsausschnittsdienst bezogen hatte.
Juni 1945 in New York aufnahm. In Hinblick Die früheste dieser Zeitungsnotizen, ein Be-
Quellen, Arbeitsmaterialien, Zusammenarbeit 341

richt aus dem Berliner 12 Uhr Blatt vom 7. 2. zwischen einer jüdischen Frau und einem »ari-
1933, bekam B. vermutlich noch vor seiner schen« Ehemann sprachen. Diese unmittelba-
Flucht am 28.2. in die Hand. Darin ist die ren Eindrücke zählten zu den »Augenzeugen-
Meldung über einen Vorfall enthalten, der ihm berichten« von Freunden und Bekannten, die
möglicherweise als Quelle für Szene 1, Volks- B. als eine der Quellen für Furcht und Elend
gemeinschaft, diente. Eine Woche nach der dienten.
Machtübergabe an Hitler, in der Nacht vom Weiterhin lieferte Heinrich Manns Der Haß.
6.2. auf den 7.2., kam es demzufolge zu einem Deutsche Zeitgeschichte (1933) Anregungen,
Zwischenfall auf einer Straße Berlins, wobei wenn nicht gar das Modell für Furcht und
einer von zwei bewaffneten S. A.-Männern, Elend. Als Anhang zu dieser Sammlung von
»an ihren Parteiuniformen erkenntlich«, auf zwölf Anti-Nazi-Essays brachte Mann sechs
zwei vermeintliche Kommunisten schoss und kleine dramatische Darstellungen, die er »Sze-
einen dabei ermordete. nen aus dem Nazileben« nannte. Diese ein-
Als nachweisliche Quelle für die Szene Der aktigen Kurzszenen weisen inhaltliche und
alte Kämpfer benutzte B. einen weiteren Arti- formale Ähnlichkeiten mit Furcht und Elend
kel aus einer nicht identifizierten, deutsch- auf. Auch bei einigen Szenenüberschriften
sprachigen ausländischen Zeitung (vermutlich könnte sich B. an sie gehalten haben: z. B. Die
um 1936 erschienen), die zwei Berichte aus Vermißten und Der Zeuge. Inhaltlich ergeben
dem Prager Gegenangriff wiedergab. Im ers- sich Parallelen zu den Szenen Dienst am Volke,
ten las B. von einem Fleischer in Hamburg- Rechtsfindung, Die Internationale und Zwei
Altona, der sich aus Verzweiflung über die Bäcker. B. lernte Manns Werk schon kurz nach
Fleischnot im Schaufenster mit einem Zettel dessen Erscheinen Ende 1933 kennen, und es
um den Hals erhängt hatte, auf dem zu lesen dürfte ihm noch gegenwärtig gewesen sein, als
war: »Fleisch für Hitler«. Der zweite beschrieb er 1937 mit der Niederschrift von Furcht und
einen Kleinhändler in Barnbeck, der sich Elend begann.
ebenfalls im Schaufenster seines Geschäfts mit Die Rolle Steffins, der einzigen genannten
einer Inschrift an seinem Körper aufgehängt Mitarbeiterin an Furcht und Elend, ist, wie bei
hatte: »Ich habe Hitler gewählt«. B. ver- vielen Werken aus dem Exil, nicht genau zu
schmolz Elemente aus beiden Berichten zu ei- bestimmen. Dass sie Arbeitsmaterial, Infor-
ner Szene und übernahm auch den erschüt- mationen und Ideen für B. sammelte und ihn
ternden Wortlaut des zweiten Berichts in seine darauf aufmerksam machte, erfasst wohl kaum
Szene (GBA 4, S. 426). den vollen Umfang ihrer Arbeit. Neben Hanns
In seinem Buch Ich verreise auf einige Zeit Eisler vermittelte sie ihm unentbehrliche Ein-
(1999) liefert Klaus Völker triftige Gründe da- sichten in das Milieu und das Alltagsleben der
für, dass Sadie Leviton, eine jüdische Frau, die deutschen Arbeiter (sie kam aus einer Berliner
Brechts Augsburger Jugendfreund Otto Mülle- Arbeiterfamilie), die es B. ermöglichten, wirk-
reisert 1932 in Berlin geheiratet hatte, dem lichkeitsnahe Beschreibungen im Stück zu ver-
Stückeschreiber zur Szene Die jüdische Frau mitteln. Alles, was er zu dieser Zeit schrieb,
(GBA 4, S. 385–390) den Stoff lieferte. Leviton sah sie nicht nur durch, sondern sie kommen-
erkannte schon früh in der Hitlerzeit, dass die tierte, korrigierte und schrieb um oder ver-
Ehe ihrem Mann das Ansehen und zuletzt sei- fasste eigenständig Texte, die B. ins Stück auf-
nen Beruf als Arzt kosten würde, worauf sie nahm.
sich im November 1933 von ihm und gegen Im Lauf des Entstehungsjahrs überlegte sich
seinen Willen scheiden ließ. Da sie mit Helene B. mehrere Titel und Untertitel für seine
Weigel gut befreundet war und Müllereisert Sammlung: Die Angst, Seelischer Aufschwung
die Familie B. in Dänemark in den nächsten des deutschen Volkes unter dem Naziregime,
Jahren besuchte, ist anzunehmen, dass B. und Deutschland, ein Greuelmärchen und 99%, ein
Weigel mit ihnen über die Gründe der Ehe- Titel, der allerdings von Slatan Dudow
scheidung und die Schwierigkeit einer Ehe stammte und von B. nur bedingt (für die Pari-
342 Furcht und Elend des III. Reiches

ser Aufführung im Mai 1938) gebilligt wurde. nen der Fall war. Hinzu kam, dass alle 27 Sze-
Nach Günter Hartung entstanden sie während nen kaum an einem Abend aufzuführen sind
der ständigen Erweiterung des Stücks von zu- und die Aufführungsmöglichkeiten im Exil be-
nächst fünf Szenen auf zuletzt 27 (Hartung, schränkt blieben.
S. 77). Intertextuelle Anspielungen gibt es in Unter dem Titel 99% und der Regie von
allen fünf Titeln, einschließlich des endgülti- Dudow kam es am 21./22. 5. 1938 in Paris zu
gen. Die Angst spielt u. a. auf B.s Gedicht von zwei Aufführungen von acht Szenen, die B.
1937 Die Ängste des Regimes an, wo es heißt, ausgesucht hatte. Paul Dessau, der hierzu den
dass in Deutschland in Wahrheit »die Furcht« Prolog und die Mottos zu den Szenen unter
(GBA 12, S. 68) herrsche. Eine bekannte Nazi- dem Pseudonym Peter Sturm vertont hatte,
parole zitierte B. mit dem erwogenen Titel trug sie zu eigener Klavier- und Schlagzeug-
Seelischer Aufschwung des deutschen Volkes. begleitung vor. Die Szenenfolge lautete: Das
Der intertextuelle Bezug auf Heinrich Heines Kreidekreuz, Winterhilfe, Der Spitzel, Die jüdi-
Deutschland. Ein Wintermärchen ist in der pa- sche Frau, Zwei Bäcker, Rechtsfindung, Der
rallelen Formulierung Deutschland. Ein Greu- Bauer füttert die Sau und Arbeitsbeschaffung.
elmärchen leicht erkennbar. Der Titel 99% Da Helene Weigel und Ernst Busch als Berufs-
nimmt das Wahlergebnis der Volksbefragung schauspieler mit Laienschauspielern, Mitglie-
vom 10. 4. 1938 auf, als 99% der deutschen dern des Emigrantenkabaretts »Die Laterne«
Bevölkerung für den ›Anschluss‹ Österreichs sowie vormaligen Mitgliedern der Berliner
an Deutschland votierten. Der endgültige Ti- »Truppe 1931«, in dieser Inszenierung zusam-
tel orientierte sich an Balzacs Roman Splen- menwirkten, ist zu vermuten, dass dieser Um-
deurs et misères des courtisanes (1839–1847; stand B.s Auswahl mitbestimmte. In den näch-
dt.: Glanz und Elend der Kurtisanen). Für die sten Jahren erwiesen sich vier von ihnen, Das
englische Übersetzung von 1944 wählte B. die Kreidekreuz, Der Spitzel, Die jüdische Frau
Überschrift Private Life of the Master Race, und Rechtsfindung, jedoch tatsächlich auch als
der auf die bekannte Komödie von Noël Co- die dramatisch wirkungsvollsten Szenen des
ward Private Lives (1930) und den Film The Stücks, weshalb B. sie zu den Kernszenen aller
Private Life of Henry VIII (1933) mit Charles künftigen Teilaufführungen und -veröffentli-
Laughton in der Hauptrolle anspielte. chungen machte, an denen er mitwirkte.
In New York kam es am 28.5. sowie am 14. 6.
1942 zur Aufführung von einzelnen Szenen. B.
stellte dem Regisseur Berthold Viertel und der
Fassungen und »Tribüne für freie deutsche Literatur und
Gattungsbestimmung Kunst in Amerika« fünf Szenen zur Verfügung.
Wieder hatte B. die vier Kernszenen ausge-
wählt (Die Kiste stand als fünfte Szene auf dem
Im Gegensatz zu anderen dramatischen Wer- Programmzettel, wurde aber nicht gespielt).
ken B.s weist Furcht und Elend keine durch- Dies gilt auch für den Druck von 17 Szenen
gehende Fabel auf. Vielmehr stellt jede der 27 1944 auf Englisch und die New Yorker Auffüh-
Einzelszenen eine in sich geschlossene Hand- rung von 1945, die neun von B. ausgesuchte
lung dar und erscheint dadurch mehr oder Szenen verwendete. Obwohl B. die Studioauf-
minder autonom. Im Messingkauf ist von »27 führung des Berliner Ensembles 1957 nicht
kleinen Stücken« (GBA 22, S. 799) die Rede, mehr erlebte, kamen sie in einer von ihm und
die allerdings durch das gemeinsame Thema Weigel getroffenen Auswahl von zehn Szenen
miteinander verbunden sind. Ihre relative ebenfalls wieder zur Aufführung.
Selbstständigkeit ermöglicht es, sie gesondert Da die anscheinend unverbindliche Szenen-
oder in beliebiger Reihenfolge zu lesen bzw. folge in Furcht und Elend selbst unter B.s Lei-
aufzuführen, wie es auch tatsächlich bei den tung praktiziert wurde, stellt sich die Frage,
verschiedenen Aufführungen und Publikatio- wie dieses unkonventionelle Werk als Stück zu
Fassungen und Gattungsbestimmung 343

kategorisieren ist und ob es überhaupt zum (Vinçon, S. 127). Laut Völker ergibt der Ge-
epischen Theater gehört. Bezeichnend ist die samteindruck des Stücks »die Haltung einer
Stellungnahme von Georg Lukács zur Szene verzweifelt zynischen Komödie« (Völker,
Der Spitzel, die März 1938 in der Moskauer S. 178). Max Frisch, der seine Besprechung
Exil-Zeitschrift Das Wort erschienen war. Ent- der Basler Aufführung 1947 mit der Behaup-
gegen seinem sonstigen kritischen Verhältnis tung beginnt, dass diese Szenenfolge »Facetten
zu B. lobte er den »kleinen Einakter […], in einer Tragödie« (Frisch, S. 327) enthalte, kon-
welchem er [B.] den Kampf gegen die Un- statiert, es gebe »einzelne Szenen, denen man
menschlichkeit des Faschismus bereits in ei- kaum Unrecht tut, wenn man sie als Kabarett
ner bei ihm neuen, vieltönigen und abgestuf- und sogar als schwaches Kabarett bezeichnet«
ten realistischen Weise führt; er gibt dort ein (S. 328).
lebendiges, durch Menschenschicksale vermit- Die Unsicherheit in der Gattungsbestim-
teltes Bild vom Schrecken des faschistischen mung begann schon mit Walter Benjamins
Terrors in Deutschland« (Lukács, S. 6). Mit Aufsatz zur Pariser Uraufführung, der am
der Bezeichnung »realistisch« war klar, dass 30. 6. 1938 in der Neuen Weltbühne erschien
Lukács die Szene nicht für »episch« hielt. und in dem er die Behauptung vertritt: »Furcht
Diese Einschätzung von Lukács hatte noch und Elend des Dritten Reiches ist ein Zyklus,
Jahrzehnte später Einfluss auf die Literatur- der von siebenundzwanzig Einaktern gebildet
wissenschaft. Klaus Völker meint, bei Furcht wird, die nach den Vorschriften der traditio-
und Elend handele es sich »offensichtlich um nellen Dramaturgie gebaut sind« (Benjamin,
eine bewußte Zurücknahme« der epischen S. 46). Doch zeigt sich eine Ambivalenz in sei-
Dramatik (Völker 1966, S. 82). Werner Mitten- ner Charakterisierung, denn er meint weiter,
zwei spricht von B.s »Hinwendung zum sozia- das Stück rücke, wie man vom epischen Thea-
listischen Realismus« (Mittenzwei, S. 208) ter im Allgemeinen sagen kann, »den Bildern
und behauptet: »Brecht knüpfte in der Szenen- des Filmstreifens vergleichbar, in Stößen vor«
folge stärker an die Möglichkeiten der tradi- (S. 45). Eine weitere Ambivalenz liegt in Ben-
tionellen Dramatik an« (S. 209). Klaus Schütz jamins Kritik an einem emigrierten Schau-
und Jochen Vogt nennen das Werk »ein reali- spieler, der zu viel »Einfühlung« in die Rolle
stisches Zeitstück« (Schütz/Vogt, S. 294), und eines S. A.-Mannes hineinbracht habe. Indem
Harald Engberg, der es als eines der »kleinen er behauptet, diese Spielweise sei politisch
›aristotelischen‹ Stücke« B.s einschätzt (Eng- »kein geeignetes Verfahren«, impliziert er,
berg, S. 184), notiert: B. »probt die traditio- dass eine epische Spielweise in dieser Szene
nelle dramatische Technik durch, um festzu- nicht nur inhärent, sondern auch notwendig
stellen, was er davon verwenden kann« sei: »Einem anderen distanzierenden Modus
(S. 183). der Darstellung – eben wohl einem epischen –
Einige Interpreten ordneten Furcht und könnte hier ein neues Recht und vielleicht ein
Elend verschiedenen Misch- oder sog. ›nie- neues Gelingen werden« (S. 47).
deren‹ Gattungen zu, die rein formal weder Anknüpfend an eine Aussage B.s, dass
realistisch noch episch sind. Obwohl Franz Furcht und Elend »eigentlich auch ein Lese-
Norbert Mennemeier meint, B. habe »den illu- stück« sei (GBA 29, S. 79), sah Benjamin ein
sionistischen Einfühlungsrealismus in Gren- weiteres episches Element im Drama: »Der
zen zu halten gesucht«, und obwohl er epische Zyklus übt – und auch hierin weist sich ein
Elemente im Werk sieht, stellt er fest, dass episches Element, verwandelt aus – auf das
eine Szene wie Der Spitzel die Struktur »fast lesende Publikum nicht geringere Anziehung
einer Farce« habe. Weiter findet er, dass aus als auf das schauende« (Benjamin, S. 47).
Rechtsfindung »an den Rand einer burlesken Damit spielte er wohl nicht nur auf die Struk-
Komödie« führe (Mennenmeier, S. 61 f.). Vin- tur des Dramas an, sondern auch auf die Viel-
çon argumentiert, dass das Stück »eine politi- zahl der Szenen, die dem Stück insgesamt eine
sche Revue im Sinne des Agitproptheaters« sei ungewöhnliche Länge verleihen.
344 Furcht und Elend des III. Reiches

Die Ungewissheit beim Kategorisieren von kács, Dudow, einige Akteure in der Urauffüh-
Furcht und Elend findet sich auch bei Berthold rung sowie Interpreten nicht erkannt zu ha-
Viertel, der vom »dialektischen Realismus« ben. Empört reagierte B. August 1938 in sei-
des Stücks spricht (Viertel, S. 10 ). B. selber nem Journal auf das Lob aus Moskau: »Lukács
schien zur Verwirrung beigetragen zu haben hat den ›Spitzel‹ bereits begrüßt, als sei ich ein
mit einer Aussage, die sich auf den ersten Blick in den Schoß der Heilsarmee eingegangener
widerspricht, weil sie den Begriff »Realismus« Sünder. Das ist doch endlich aus dem Leben
zugleich abzulehnen und zu beanspruchen gegriffen! Übersehen ist die Montage von 27
scheint: »Das Stück ist ein Szenenzyklus, der Szenen und daß es eigentlich nur eine Gesten-
das Leben unter der braunen Diktatur behan- tafel ist, eben die […] Gestik unter der Dikta-
delt. Bisher montierte ich 27 Einzelszenen. tur. Das epische Theater kann damit zeigen,
Auf einige von ihnen paßt das ›realistische‹ daß sowohl ›Interieurs‹ als auch beinahe natu-
Schema X entfernt, wenn man ein Auge zu- ralistische Elemente in ihm möglich sind,
drückt. Auf andere nicht, lächerlicherweise nicht den Unterschied ausmachen.« (GBA 26,
schon nicht, weil sie ganz kurz sind. Auf das S. 318 f.)
Ganze paßt es überhaupt nicht. Ich halte es für B. schließt im epischen Theater also keines-
ein realistisches Stück.« (GBA 22, S. 438) Nach wegs »naturalistische Elemente« oder »Inte-
Hartung bestehen die realistischen Elemente rieurs« aus, d. h. Darstellungen psychologi-
in Folgendem: »daß die Handlung an realen scher Prozesse zwischen Figuren, wie sie etwa
Orten und in der Gegenwart spielt, daß inner- in Rechtsfindung, Die jüdische Frau oder Der
halb der Szenen kein Formenwechsel stattfin- Spitzel vorherrschen. Einige Einzelszenen der
det und nur Prosa erscheint (daß also die großen Dramen des Exils weisen dieselben
Wahrscheinlichkeit gewahrt, die Illusion nicht Elemente auf, wenn sie für sich gespielt wer-
durchgebrochen wird; etwa auftauchende Ge- den, etwa die Schluss-Szene von Mutter Cou-
dichte, wie in Nr. 21 ›Das Mahnwort‹ sind na- rage. B. kam es sowohl auf die Spielweise, als
turalistisch motiviert); daß schließlich nur auch auf die Gesamtheit der Montage an und
›natürliche Sprache‹ verwendet ist und sogar darauf, wie die Einzelszenen als Ganzes unter-
Dialektpartien vorkommen. Ferner gehört einander und mit- oder gegeneinander wirk-
hierher die Neigung, psychologische Motivie- ten.
rungen anzudeuten, ›Interieurs‹ zu bauen, wie In der Anmerkung zu Furcht und Elend be-
B. es nannte« (Hartung, S. 74). Daraus schließt tonte er, dass das Stück unbedingt zum epi-
Hartung, dass Furcht und Elend »völlig ausrei- schen Theater gehören würde und bezeichnete
chend mit Absichten des Autors erklärt wer- die geeignete Spielweise mit dem unmissver-
den [kann], die realistisch nach seinem [B.s] ständlichen Untertitel Ein Stück des epischen
Gebrauch des Wortes waren« (ebd.). Aus ver- Theaters. Schauspieler und Spielleiter aller-
gleichender Sicht ist verständlich, warum B. dings könnten versucht sein, »eine Spielweise
drei Jahre später sein Stück Mutter Courage, mit restloser Herbeiführung der Einfühlung
das oft als Höhepunkt der epischen Gestal- für ausreichend zu halten. Die Sprechweise
tungsweise angesehen wird, auch »ein reali- des Alltags, das Interieurdetail, der Fortfall
stisches Werk« nannte (GBA 26, S. 476). Ge- chorischer Elemente und sogleich in die Au-
meint ist das Wort »realistisch« nicht als dra- gen fallender Verfremdungen lassen das Stück
matische Gattungsbezeichnung, sondern, als schwerer als andere als ein Stück des epischen
Bezeichnung für eine »die Realität meisternde Theaters erkennen.« (GBA 24, S. 521)
(die Meisterung der Realität erlaubende) Dar- Hinzu kommt, dass die Vielzahl der Orte
stellung des gesellschaftlichen Zusammenle- und der Querschnitt durch fast alle Bevölke-
bens der Menschen« (GBA 22, S. 274). rungsgruppen – Arbeiter, Bauern, KZ-Häft-
Nach B.s Aussagen zu schließen, hat er linge, S. A.-Männer, Juristen, Ärzte, Haus-
Furcht und Elend von Anfang an als episches frauen, Akademiker, Ladenbesitzer, Schüler
Werk konzipiert. Dieses Konzept schienen Lu- usw. –, dem Werk den Stempel eines Epos im
Fassungen und Gattungsbestimmung 345

herkömmlichen Sinn aufprägen. Von allen nehmen und die Essenz der Szene kurz zu-
Gruppen fehlen nur Vertreter der Politik, der sammenfassen.
Industrie sowie des Großbürgertums. Obwohl Um das Epische hervorzuheben, schrieb B.
die Orte nur selten namentlich genannt sind, 1942/43 zunächst für eine erhoffte Verfilmung
wird deutlich, dass die Ortsangaben, wie ein (GBA 27, S. 102) und dann für eine geplante
Moor (Sz. 11), der Hof eines KZs (Sz. 14), ein Inszenierung eine Rahmenhandlung, die das
Gefängnishof (Sz. 19), ein Bauernhof (Sz. 20), Bild der deutschen Bevölkerung als Hitlerheer
eine Küstenstadt (Sz. 22) ein Panorama aufgriff und erweiterte. Die Bühnendekora-
Deutschlands entwerfen. Dies präzisierte B. in tion der Aufführung sollte zeigen, wie ein
der deutschen Ausgabe (New York 1945), in- »klassischer Blitzkrieglastwagen mit den be-
dem er vor jede Szene ein Datum und einen stahlhelmten Soldaten des Dritten Reiches auf
Ortsnamen, von Breslau über Oranienburg die Bühne« fährt (S. 99) und viermal im Laufe
und Bitterfeld bis nach Augsburg oder Ai- der 17 vorgesehenen Szenen wieder auftaucht,
chach, setzte; die Daten reichen über den Zeit- einmal zu Beginn, zweimal zwischen den Sze-
raum von Januar 1933 bis März 1938. Damit nen und am Schluss. Angelehnt an die Insze-
waren von vornherein die drei Einheiten des nierung von Mann ist Mann von 1931 wollte B.
Aristoteles ausgeschlossen. die zwölf bis 16 Soldaten im Lastwagen mit
Das epische Konzept wird auch durch den kalkweißen Gesichtern auftreten lassen, eine
Prolog Die deutsche Heerschau unterstrichen. Verfremdung, die dem Publikum zeigen sollte,
Er ist ein ironischer Querschnitt durch die dass im Gegensatz zum konventionellen Bild
deutsche Bevölkerung, die Hitler im Begriff des tapferen Kriegers diese Welteroberer
war, für den Krieg zu mobilisieren: »Als wir im Angst haben.
fünften Jahr hörten, jener / Der von sich sagt, Das Auftauchen des Kriegskarrens sollte
Gott habe ihn gesandt / Sei jetzt fertig zu sei- »balladesk behandelt werden, zu einem barba-
nem Krieg […] / […] da beschlossen wir/ Uns rischen Horstwesselmarsch, viehisch und sen-
umzusehen, was für ein Volk […] / Er unter timental zugleich« (GBA 27, S. 99). Die Pan-
seine Fahne rufen wird« (GBA 4, S. 341). Das zerbesatzung sollte als Chor fungieren und die
»Défilée« der sozialen Gruppen, Berufe und Handlung kommentieren (GBA 24, S. 227 f.).
Stände des »III. Reiches« spielt »auf die Nürn- Akustisch blieb der Panzerwagen auch in ein-
berger Parteitage, die monumentalen Selbst- zelnen Szenen präsent, »wenn der Terror ein-
inszenierungen der nationalsozialistischen setzt, der die Menschen auf den Kriegskarren
Macht« an (Busch, S. 16). Oder es ist auch an bringen wird« (S. 227). Schriftbänder über je-
einen von der Horizontferne sich nähernden der Szene sollten Ortsangaben, Stadt und
Zug zu denken, an einen »Heerhaufen« im alt- Adresse, enthalten.
deutschen Sinn (Hartung, S. 105). Für die neue Rahmenhandlung schrieb B.
Schließlich werfen die lyrischen Mottos vor lyrische Zwischensprüche, die vor, in einigen
jeder Szene jeweils den Blick auf eine andere Fällen nach der jeweiligen Szene unsichtbar
Gesellschaftsschicht oder Berufsgruppe. Mit eingesprochen werden sollten. Damit stellte
zwei Ausnahmen (Sz. 9 und Sz. 18) besteht er eine Beziehung her zwischen der Stellung
jeder dieser Vorsprüche aus einem Sechszeiler. und Haltung der Figuren im Vorkriegsdeutsch-
Mit der oft wiederkehrenden Formel »Dort land und ihren späteren Rollen als Soldaten im
[bzw. Es] kommen«, dem Schweifreim Krieg. So spricht die Stimme des Ehemanns in
(aabccb) und dem einfachen, fast volksliedhaf- Die jüdische Frau, der jetzt als Kriegsarzt in
ten Ton erinnern sie an spätmittelalterliche Polen entscheidet, »wer von den Frauen der
Ständesatiren (Hartung, S. 107). Diese Vor- polnischen Bergleute / Ins Bordell nach Kra-
sprüche haben die Funktion von Szenenüber- kau eingeliefert werden soll« (GBA 24, S. 230),
schriften, wie sie für die Mutter Courage und oder sie identifiziert den Vater aus Der Spitzel,
andere Werke des epischen Theaters kenn- der als ehemaliger Lehrer und nun als Haupt-
zeichnend sind, indem sie den Inhalt vorweg- mann, der »seine Lektionen / Den Fischern
346 Furcht und Elend des III. Reiches

Norwegens und den Weinbauern der Champa- beitsbeginn am Stück versuchte, eine »Gesell-
gne« erteilt (S. 231). Aus scheinbar harmlosen schaft für induktives Theater« oder »Theater-
Mitläufern vor dem Krieg werden brutale Mit- wissenschaftliche Gesellschaft« (auch »Dide-
täter im Krieg. rot-Gesellschaft« genannt) zu gründen. Mit ihr
Die Episierung des Stücks galt auch B.s An- wollte er das neue »induktive« Theater und
ordnung in der New Yorker Aufführung von dessen Technik in Parallele zu den Naturwis-
1945, dem schwarzen Erzähler Maurice Ellis senschaften durchsetzen, ein gemeinsames Vo-
das Gesicht weiß schminken zu lassen. Mit kabular und einen gemeinsamen Standard ent-
diesem Verfremdungseffekt nahm er wahr- wickeln sowie eine »richtige Darstellung der
scheinlich Bezug auf die Rassendiskriminie- Welt« durch »objektive, außerindividuelle Kri-
rung in den USA. Obwohl dieses Detail von terien« festlegen und analysieren (GBA 22,
der Kritik mit Ablehnung oder Spott registriert S. 275). Seine Dramatik sollte mit ähnlicher
wurde, ist es doch ein Beispiel für B.s Be- Präzision gestalten wie die Naturwissenschaf-
mühungen, dem Stück eine verfremdende ten. Furcht und Elend bot ihm eine einmalige
Spielweise zu unterlegen. Gelegenheit, mit seiner »Gestentafel« dieses
Ziel zu erreichen. Vom naturwissenschaftli-
chen Standpunkt aus gesehen, könnte also be-
hauptet werden, die Szenenfolge funktionierte
Aufbau und Inhalt auf technische, nicht organische Weise.
Zwischen dem Konzept der Szenenfolge als
einer Montage, die ein Ganzes bildet, und der
B. konzipierte Furcht und Elend von vornhe- Praxis B.s und späterer Regisseure, eine
rein als Zyklus. Szene 1 beginnt in Berlin. scheinbar beliebige Reihenfolge von Szenen zu
Nach einer »Heerschau« über die gesamte Be- inszenieren, scheint ein Widerspruch zu be-
völkerung kehrt das Stück nach 25 an ver- stehen. Und doch ist der Widerspruch nicht
schiedenen Orten Deutschlands spielenden unproduktiv, denn jede Szene gewinnt da-
Szenen wieder zur Hauptstadt zurück, wo es in durch einen Doppelcharakter. Einmal gestaltet
einer proletarischen Wohnung Berlin-Neu- sie eine szenenspezifische Haltung unter der
köllns endet (Sz. 27). In einem Brief an Herz- braunen Diktatur, die nur dort scharfe Kon-
felde vom 7. 6. 1938 betonte B., dass er das turen gewinnt. Insofern kann jede Szene für
Stück als Ganzes betrachtet und nicht als eine sich stehen. Zugleich aber verbinden epische
Reihe beliebig auswechselbarer Szenen: Mittel sowie übergreifende thematische Paral-
»Rauslassen möcht ich nicht gerne eine Szene, lelen alle Szenen zu einem zusammenhängen-
einerseits wegen der Vollständigkeit (auch der den Ganzen.
Kontinuität in der Montage), andererseits weil In einer Journal-Eintragung vom 15. 8. 1938
diese Szenen bei aller Winzigkeit doch be- erwähnt B. als Beispiele der Haltungen unter
stimmte Haltungen schildern, die ich brau- der Diktatur »die Gesten des Verstummens,
che.« (GBA 29, S. 98) Sich-Umblickens, Erschreckens usw.« (GBA
Den Begriff der »Gestentafel« leitete B. of- 26, S. 318). Im Messingkauf ergänzt er weitere
fenbar bewusst von der Tafel des Perioden- Gesten: »Der Blick des Verfolgten […], das
systems der Elemente in der modernen Che- plötzlich Verstummen; die Hand, die sich vor
mie ab. Er verwies zudem darauf, dass ver- den eigenen Mund legt, der beinahe zu viel
gleichbar jener Tafeln, welche die Namen und gesagt hätte, und die Hand, die sich auf die
Eigenschaften einzelner Elemente verzeich- Schulter des Ertappten legt; die erpreßte
nen, sein Stück die verschiedenen elementa- Lüge; die flüsternde Wahrheit; das Mißtrauen
ren »Gesten« der Menschen (hier mit »Haltun- zwischen den Liebenden; und vieles mehr.«
gen« gleichzusetzen) unter der Nazidiktatur (GBA 22, S. 799 f.) Beispiele solcher Gesten,
kenntlich machen und miteinander vorstellen die unter der Nazidiktatur aufkommen, sind
sollte. Es ist kein Zufall, dass B. 1937 bei Ar- etwa die Angst und das Misstrauen des Dienst-
Aufbau und Inhalt 347

mädchens gegenüber ihrem Liebhaber, dem Deutschland errichtet werden könnte (Hays,
SA-Mann in Das Kreidekreuz, oder die Gesten S. 77).
von Entrechtung, Zweifel und Verstummen in Isidor Schneider ging hauptsächlich auf die
Die jüdische Frau. Zusammengenommen bil- bereits erwähnten Kernszenen ein und be-
den die hier dargestellten Gesten ein Gesamt- schrieb wie »enorm« der Gesamteffekt der 17
bild, das mehr enthält als die Summe seiner Szenen sei. Die Zuschauer erlebten, wie ein
Einzelelemente. Volk in seinen wichtigen Zentren verdorben
werde: in der Familie, in den Gerichtshöfen,
in den Fabriken usw. Darin sei der unfassbare
Prozess zu erkennen, mit dem ein fortgeschrit-
tenes Volk in Nazis verwandelt werde. In der
Aspekte der Deutung Rahmenhandlung sieht Schneider eine Ähn-
lichkeit mit dem Chor des griechischen Dra-
mas, weil Lärm und Stimmen vom Panzer-
Die früheste Deutung von Furcht und Elend ist wagen und dessen Besatzung an das antike
Benjamins Aufsatz von 1938. Auf Grund seiner Schicksals-Theater erinnere. In den Kernsze-
Lektüre von B.s Manuskript behauptete Benja- nen sowie in der bitteren Ironie der Szenen
min, die entscheidende These aller Szenen sei Der alte Kämpfer und Zwei Bäcker sei es B.
»die Lüge« und, dass jede Szene zeige, wie hier gelungen, eine Sozialanalyse zu liefern,
unabwendbar »die Schreckensherrschaft […] die alles überträfe, was man in der zeitge-
alle Verhältnisse zwischen Menschen unter die nössischen Dramatik finden kann.
Botmäßigkeit der Lüge zwingt« (Benjamin, In einer Besprechung der Saturday Review
S. 518). Am Schluss vergleicht er dieses Werk of Literature hob Franz Carl Weiskopf B.s
mit den Letzten Tagen der Menschheit von Karl Sprache, seinen Ruf als Erneuerer des Thea-
Kraus und hofft, dass es wegen seiner »Aktua- ters und seine Bühnentheorien hervor, wobei
lität […] als ehernes Zeugnis auf die Nachwelt er die Szenen Der Spitzel und Die jüdische
gelangt« (ebd.). Frau besonders lobte. Auch meinte er, dass das
Obwohl Deutungen zu einigen ausgewähl- Stück »old popular traditions« und »folk poem
ten Szenen in den nächsten Jahren veröffent- qualities« aufweise, die es in die Nachfolge
licht wurden, lösten erst Besprechungen der einer Tradition von Plautus bis Hans Sachs
1944 erfolgten amerikanischen Veröffentli- stelle.
chung von 17 Szenen eine neue Stufe der kriti- In einem Verriss des Werks verwies Dachine
schen Auseinandersetzung aus. Hoffman Rey- Rainer auf vermeintliche Schwächen des
nolds Hays behauptete, der Kern des Werks sei Stücks. B. habe keine Ahnung von der Vitalität
dokumentarisch, indem es zeige, was mit der der Symbolik. Seine Szenen sowie seine Ge-
Justiz, der Wissenschaft, der Kirche, Eltern, stalten seien nicht symbolisch, denn sie stell-
Kindern und Paaren in Hitler-Deutschland ge- ten nur Stereotype dar. Nur in Rechtsfindung
schieht. Sein Ergebnis fasste er im Satz zu- fand sie einen ›Menschen‹ in einer glaubwür-
sammen: »Altogether it is a vision of hell«. digen Situation gestaltet. Zusammenfassend
Auch sah er eine ›meisterhafte Satire‹ in der behauptet sie, B. habe hiermit ein Sittlich-
Szene Rechtsfindung realisiert, eine Beobach- keitsdrama geschaffen in einem Zeitalter, in
tung, die sich wie ein roter Faden durch spä- dem es keine philosophische Basis mehr für
tere Deutungen ziehen sollte. Als Essenz des derartige Werke gäbe (Rainer, S. 117).
Werks bezeichnete er das Thema »of secret, In einer Besprechung der Basler Inszenie-
stubborn resistance«. Obwohl Furcht und rung vom 6. 1. 1947 bezeichnete Frisch die
Elend nicht zu B.s größten Werken gezählt »Geburt der Lüge« als den Schlüsselbegriff in
werden könne, sei es trotzdem sehr wichtig, Die jüdische Frau: »Das Ungeheuerliche, zu-
denn es zeige wesentliche Elemente der Wi- gleich das Wertvolle, liegt meines Erachtens
derstandsbewegung, mit denen ein neues darin, daß Brecht zeigt, wo der Verrat beginnt
348 Furcht und Elend des III. Reiches

und wie: immer ganz unscheinbar, fast unfaß- der Komplexität des Zyklus. Doch herrscht
bar […]. Es ist ein Stäubchen von Lüge, von zum großen Teil Übereinstimmung, dass es
Verrat, von Furcht, nur ein Stäubchen«. Als Gemeinsamkeiten gibt, welche die Einzelsze-
Replik auf den Einwand, dass B. hier gegen- nen zusammenhalten. Da ist zunächst der hu-
über den späteren Ereignissen verharmlose, moristische Grundgestus, der freilich unter-
antwortete er: »Darin liegt vielleicht der schiedlich beurteilt wird: Frisch spricht von
größte Vorzug; die Ergebnisse kennen wir, wir einer »Revue« (Frisch, S. 328), Völker nennt
suchen die Anfänge« (Frisch, S. 327). die Szenenfolge eine »verzweifelt zynische Ko-
In der wissenschaftlichen Diskussion zu mödie« (Völker, S. 178), Busch schreibt: »ein-
Furcht und Elend, die erst in den 60er-Jahren zelne Szenen könnte man als Kabarett bezeich-
einsetzte, herrscht keine einheitliche Auffas- nen« (Busch, S. 54), oder Mittenzwei beurteilt
sung über das thematische Zentrum des sie als eine aggressive Satire auf die deutsche
Stücks. Dieser Zustand ist durch die verschie- Intelligenz, »scharf und ätzend« (Mittenzwei,
denen ideologischen Standpunkte der jewei- S. 194), die »politische Wirkung« habe
ligen Interpreten zu erklären. Es kommen (S. 197).
marxistische, antifaschistische, soziologische, Mit einem Bericht im Messingkauf über die
sozialpsychologische oder rein textimmanente Reaktion des Publikums zur Uraufführung
Auslegungen einzeln oder in Kombinationen machte B. selbst auf den Humor aufmerksam:
vor. Aber trotz unterschiedlicher Perspektiven »so kam es, daß im Zuschauerraum immerfort
kreisen alle um wenige thematische Schwer- gelacht wurde, ohne daß dadurch der tiefe
punkte. Mehrere Interpreten schließen sich Ernst der Veranstaltung litt. Denn das Lachen
Benjamins Behauptung an: »Lüge als Mittel schien die Dummheit zu betreffen, die sich
und als Folge des Terrors, das ist das Grund- hier zur Gewalt gezwungen sah, und die Hilf-
thema« (Mennemeier, S. 64). Die Vereinzelung losigkeit zu meinen, die da als Rohheit auftrat.
des Individuums im Nazistaat wird daneben Prügelnde wurden betrachtet wie Stolpernde,
als Zentralaussage postuliert, wobei dann »ein Verbrecher wie solche, die Irrtümer begingen
Zusammenfinden im Grunde nur mehr als oder sich eben täuschen ließen.« (GBA 22,
Massensyndrom im kollektiven Rausch statt- S. 800) Wenn die Verfolgten ihre Verfolger
finden kann« (Völker, S. 175). Andere fassen überlisteten, soll glückliches Lachen zu hören
das Stück als »Ausstellung einer Sozialpsycho- gewesen sein; wenn ein wahres Wort im Netz
logie des Faschismus« auf und behaupten, die der Lüge gesprochen wurde, gab es befrei-
»Vergiftung und Deformierung des Alltagsle- endes Lachen. Dieser Humor basierte auf ge-
bens im Herrschaftsbereich der Nazis ist […] nauer Darstellungsweise.
die Quintessenz dieser Szenen« (Schütz/Vogt, An verschiedenen Beispielen belegt Hartung
S. 294). In Anlehnung an Benjamin formuliert seine These, dass der Stoff den »Einsatz unver-
Hartung die ihm wichtigsten Elemente: »Die mischt pathetischer Satire« fordert und das
Entlarvung der militaristischen Pseudoge- Stück aus Einzelsatiren besteht: »Szene 3 ›Das
meinschaft als einer Frucht von Lüge und Ge- Kreidekreuz‹ etwa enthält eine große Confé-
walt ist das Hauptmotiv des Brechtschen Zy- rence aus Flüsterwitzen; Szene 19 ›Zwei Bäk-
klus« (Hartung, S. 99). Viele sehen auch die ker‹ ist lediglich ein gespielter Witz, ein
Thematik des Widerstands – ob angedeutet ›Black out‹ in der Terminologie des Kabaretts«
oder offen dargestellt – als die Hauptaussage (Hartung, S. 84 f.). Er stellt B. in die Tradition
des Stücks. Walter Busch zufolge bildet die von Swift, Voltaire und Juvenal, die Spott und
zentrale Thematik »die Deformation der Men- Anklage zu vereinigen wussten, die von »pa-
schen unter der Einwirkung des Terrors und thetisch engagierter Indignation« gekenn-
die Möglichkeit von Widerstand« (Busch, zeichnet seien (S. 93). Auch konstatiert er eine
S. 15). Nähe des ersten Entwurfs von Furcht und
Die Schwierigkeit, das Wesentliche auf ei- Elend zum Tui-Konzept, da Ärzte, Richter,
nen gemeinsamen Nenner zu bringen, liegt in Lehrer und dummpfiffige SA-Leute seine
Aspekte der Deutung 349

Hauptgestalten sind (S. 94). Mit den Versen in mas Murners Schelmenzunft) entnommen,
volksliedhafter Prägung vor jeder Szene räumt aber auch einen indirekten Einfluss der
knüpfe B. an die spätmittelalterliche Tradition barocken Emblematik ein (S. 108).
der Ständesatire an (S. 107). Im Grunde sei Wolfgang Vietrich vergleicht B.s Furcht und
das Werk »eine moderne Ständesatire«, in der Elend mit den Fotomontagen von John Heart-
Vertreter verschiedener Klassen sich durch ei- field und sieht darin B.s eigene Qualifizierung
gene Aussagen vor- und zugleich bloßstellen des Stücks als »Montage« bestätigt (vgl. GBA
(S. 109 f.). Angriffsziel seien »Staat und Ge- 26, S. 319). Den Grundgestus von Heartfields
sellschaftsordnung des Dritten Reiches« Deutschland – ein Wintermärchen sieht er in
(S. 96). Darüber hinaus behauptet Hartung, den Intellektuellen-Szenen wiedergegeben,
das Stück sei dem Agitproptheater der Wei- während er die Szene Arbeitsbeschaffung als
marer Republik verpflichtet, dem auf Agitation »Vorgeschichte der Fotomontage ›Deutscher
und Propaganda ausgerichteten Laienspiel- Mütter Los‹« von Heartfield bezeichnet (Viet-
theater der KPD (S. 80–84). Unter den ver- rich, S. 85).
wendeten theatralischen Mitteln, die das Agit- Im Zentrum der inhaltlichen Debatten steht
proptheater zu einer Art Revue machten, das Thema ›Widerstand‹. Entgegen B.s Mei-
waren sein dokumentarischer Charakter, die nung bewerten viele Interpreten die Darstel-
Auflösung der dramatischen, linearen Hand- lung der Intellektuellen, des Richters in
lung zugunsten eines offenen Dramenprin- Rechtsfindung, der Physiker und der jüdi-
zips, Einfügung von Songs, Direktheit der schen Frau in den gleichnamigen Szenen, des
Darbietung, Rahmung durch Prolog und Epi- Lehrers in Der Spitzel, negativ, weil diese sich
log und nicht-psycholgische Motivation der Fi- angeblich so verhalten, dass kein Widerstand
guren (S. 127). Vinçon geht so weit, einige erkennbar wird. Das Gegenteil gelte für die
Szenen als vollwertige »Agitpropstücke« zu be- Arbeiter, die meist positiv dargestellt sind, ob-
zeichnen (S. 130). wohl auch sie, mit einer Ausnahme, keinen
Anknüpfend an Benjamin hält Hartung das aktiven Widerstand leisten. Die Ausnahme
Stück für eine Weiterführung von Kraus’ Ver- bilde, darin ist sich die Forschung einig, die
such in den Letzten Tagen der Menschheit, ein Szene Volksbefragung, die organisierten Wi-
satirisches Gesamtbild der österreichischen derstand unter den Proletariern zeige. Über
Gesellschaft am Abend des ersten Weltkriegs den Mangel an aktivem Widerstand im Stück
zu entwerfen (Hartung, S. 85 f.). Busch be- urteilt Völker: »Die charakterisierten Gesten
hauptet sogar, dass B. von Kraus lernte, die der Parteigänger und Widerstandsleistenden
Aktualität der jeweils letzten Nachrichten über markieren eine Suche, die wohl kaum das
die Entwicklungen im Reich in Szenarien und Deutschlandbild Brechts, dem ein unterstell-
Szenen umzuformen (Busch, S. 14). Direkte tes Widerstandspotential zugrunde lag, retten
oder indirekte Anleihen sind durchaus mög- konnte«. Es fehle an einer Gestalt des
lich, denn aus B.s Journal geht hervor, dass er »schweykschen Widerstandes«, deren schein-
das Stück von Kraus nicht nur kannte, sondern bares Mitläufertum das Gegenteil bewirke
auch die Absicht hatte, Szenen daraus aufzu- (Völker, S. 178). Busch beruft sich auf B.s eige-
führen (GBA 27, S. 114). nen Kommentar zum Thema Widerstand
Überdies stellt Hartung eine Verbindung zu (GBA 29, S. 84) und bemerkt, dass Widerstand
den Fotoepigrammen der Kriegsfibel her, in- häufiger in Form von »Gesten kreatürlicher
dem er die den Einzelszenen vorangestellten Solidarität« als in öffentlichen Manifestatio-
Verse als Motto, die szenische Verwirklichung nen vorkomme: »Es fällt indessen nicht ganz
als illustrierendes ›Bild‹ qualifiziert und ent- leicht, B.s eigener Interpretation des Wider-
sprechend von »szenischen Epigrammen« standscharakters der dargestellten Verhaltens-
(Hartung, S. 90) spricht. B. habe diese Anord- weisen zu folgen, ist doch offensichtlich, wie
nung den großen Moralsatiren des 15. und in manchen Szenen Akte des Widerstandes
16. Jh.s (Sebastian Brants Narrenschiff, Tho- und solche der Anpassung und Unterwerfung
350 Furcht und Elend des III. Reiches

miteinander verschmelzen« (Busch, S. 44). in der fast alle Hauptthemen im Stück in der
Sein Fazit ist: »Was gezeigt werden soll, ist einen oder anderen Form entwickelt werden
nicht die Arbeiterbewegung und ihr Wider- und ineinander übergehen: Vereinzelung
stand, sondern in erster Linie die Art und durch die »Verrenkung aller Beziehungen«,
Weise, wie sich das Hitlersystem durch Terror wie B. es nannte (GBA 29, S. 209), Verwirrun-
nach innen und außen am Leben erhält« gen, die Misstrauen und Unsicherheit stiften,
(S. 37). Verrat, Anpassung und ihre Folgen, die Lüge
als Weltordnung sowie der Widerstand gegen
den Faschismus.
Auch der Szenentitel von Rechtsfindung ist
Beschreibung ironisch zu verstehen, denn dem Amtsrichter
Goll geht es eigentlich nicht darum, Recht im
vorgegebenen Fall zu ›finden‹ und zu ›spre-
Schon der Vorspruch zum Stück, Die deutsche chen‹, sondern von anderen ›herauszufinden‹,
Heerschau, ist aufgrund seiner Feldherrnper- welche Art Rechtsprechung der Staat von ihm
spektive ironisch gemeint. Ein Heer bedeutet verlangt. Dieses Dilemma bringt auch das
eine uniformierte, gehorsam handelnde Men- Motto auf den Punkt: »Dann kommen die Her-
scheneinheit, die einem Herrscher dient und ren Richter / Denen sagte das Gelichter: /
einem General gehorcht. Bei B. dagegen ist es Recht ist, was dem deutschen Volke nützt. / Sie
»Ein bleicher, kunterbunter / Haufe«, der ge- sagten: wie sollen wir das wissen?« (GBA 4,
zwungen wird, mit Hitler in »seinen großen S. 363). Des Richters Unsicherheit leitet sich
Krieg« zu ziehen: »Man hört nicht Stöhnen aus einer Anklage gegen drei SA-Männer her,
noch Klagen / Man hört nicht Murren noch die den jüdischen Inhaber eines Juwelierge-
Fragen / Vor lauter Militärmusik.« (GBA 4, schäfts (Arndt) und einen Arbeitslosen, der für
S. 341) ihn Schnee schaufelt, zusammengeschlagen
Auch der Titel von Szene 1, Volksgemein- und Juwelen von hohem Wert aus dessen La-
schaft, ist ironisch. In der Nacht nach der den entwendet haben. Das Dienstmädchen
Machtübergabe an Hitler beschwören zwei Mari sagt als Zeugin vor dem Richter aus: »Sie
betrunkene SS-Offiziere, die sich in ein angeb- haben’s wegen die Ringe gemacht, der eine,
liches »Marxistennest« (GBA 4, S. 342) ver- der Häberle, hat eine Braut, wo auf den Strich
laufen haben, die nun vermeintlich beste- gegangen ist bis vor einem halben Jahr. Und
hende »Volksgemeinschaft«. Als einer von den Arbeitslosen Wagner, wo den Steckschuß
ihnen, weil er meint, bedroht zu werden, seine im Hals hat, haben sie auch iberfalln beim
Pistole plötzlich abfeuert und einen Unschul- Schneeschaufeln, alle haben’s gesehen.«
digen trifft, wird offensichtlich, dass die (S. 374) Aber im Laufe von verschiedenen Ge-
»Volksgemeinschaft« nur mit Gewalt herbeizu- sprächen mit dem Kriminalinspektor Tollin-
führen ist. Auch die anderen im Stück behan- ger, dem Staatsanwalt Spitz, dem Landge-
delten Themen tragen fast ausschließlich dazu richtsrat Fey und dem Dienstmädchen Mari
bei, die Verlogenheit dieser angeblichen gerät Goll in immer größere Verwirrung, weil
»Volksgemeinschaft« zu zeigen und das Un- sich herausstellt, dass es nicht um die Schuld
wesen des Faschismus an verschiedenen Ein- der Angeklagten geht, die außer Zweifel steht,
zelaspekten zu entlarven. sondern um politische Erwägungen, die gar
Obwohl in keiner Einzelszene eine direkte nicht zur Sprache kommen.
inhaltliche Beziehung zu anderen Szenen exis- Hier wie in vielen Szenen komplizieren ge-
tiert und die verschiedenen Figuren jeweils sellschaftliche Widersprüche den Fall. Stau,
nur in einer Szene auftauchen, sind sie den- der arische Teilhaber Arndts, der bei der SA
noch durch Montage und thematische Ver- war oder noch ist, kann von seinen Kameraden
wandtschaft miteinander verbunden. Rechts- keinen direkten Schadenersatz für den Verlust
findung kann als Beispiel einer Szene gelten, der Juwelen fordern, sondern muss ihn vor
Beschreibung 351

Gericht einklagen. Der Hausbesitzer von Die Entdeckung, dass er ihre Gelder verun-
Miehl, der den jüdischen Arndt angezeigt hat treut hat, verstärkt diesen Verdacht. Die Ur-
und ihn offenbar auf die Straße setzen möchte, sache dieser Entzweiung sieht sie in der Nazi-
braucht dringend dessen Geschäft im Haus, Ideologie: »Er ist so verändert. Den haben sie
denn er hat große Wechselschulden und kann ganz ruiniert.« (GBA 4, S. 360)
auf die Miete nicht verzichten. Der Staatsan- In mehreren Szenen wird die Zerstörung
walt warnt Goll, dass von Miehl sehr gute familiärer Beziehungen thematisiert. Das Ehe-
Beziehungen zu hohen Kreisen in der SS und paar in Die jüdische Frau wird unter dem
zum Justizministerium hat. Goll begreift, dass Zwang der Rassengesetze des neuen Staates
er sich, wie ihm der Landgerichtsrat sagt, ent- entzweit. Hier wie in anderen Szenen ist es der
weder »mit dem Justizkommissar oder mit der Mann, der dem Druck der herrschenden Ideo-
SA anlegen« muss (GBA 4, S. 376). Ein Ausweg logie nicht widerstehen kann und sich infolge-
aus dem Dilemma wäre vielleicht das Zeugnis dessen von seiner Frau entfremden lässt. In
des arbeitslosen Kriegsveteranen, der aber wieder anderen Szenen ist es die Frau, welche
nicht aussagen kann, weil er wegen des Steck- die Verhältnisse durchschaut und versucht, auf
schusses im Hals keinen Ton herausbringen ihre Weise dem Nazi-Terror zu widerstehen. In
kann und als angeblicher Kommunist im KZ einem imaginären Gespräch mit ihrem Mann
sitzt. kommt die jüdische Frau zum gleichen Ent-
Golls Angst nimmt zu, denn er will wissen, schluss wie das Dienstmädchen im Kreide-
welche Entscheidung im höheren Interesse kreuz: »Sage nicht, du bist unverändert, du bist
liegt: »Ich entscheide so und ich entscheide so, es nicht! […] Das steckt ja so an.« (GBA 4,
wie man das verlangt, aber ich muß doch wis- S. 387)
sen, was man verlangt! Wenn man das nicht In Der Spitzel werden die Eltern von ihrem
weiß, gibt es keine Justiz mehr.« (GBA 4, Sohn, der in der Hitlerjugend ist, durch einen
S. 376) Aber das kann ihm keiner genau sagen, Verdacht isoliert, der jede weitere Verständi-
denn alle leben in der gleichen Unwissenheit gung unmöglich macht. Nachdem der Junge
und Angst. Der Landgerichtsrat Fey antwortet von seinem Vater Negatives über die Regie-
ihm warnend: »Ich würde nicht schreien, daß rung hörte und die Wohnung verließ, bekom-
es keine Justiz mehr gibt, Goll.« (Ebd.) Ob- men die Eltern Angst, er könnte sie bei der
wohl Goll abwehrt, er hätte es nicht so ge- Hitler-Jugend denunzieren. Die Atmosphäre
meint, hat er in der Tat unbeabsichtigt die mit einem potenziellen Denunzianten in der
Wahrheit über das Rechtswesen im Nazi-Reich Familie ist von da an permanent vergiftet.
geäußert. Verwirrt und verängstigt geht der Beim Sterben des Fischers in Die Bergpredigt
schweißtriefende Richter am Ende der Szene ist die Familie wegen der Nazi-Ideologie eben-
in den vollbesetzten Gerichtssaal mit seinem falls gespalten, denn der in die SA eingetre-
Adressbuch statt der Aktenmappe unter dem tene Sohn und der Vater sind früher wegen
Arm. Meinungsverschiedenheiten über Hitler und
Die »Verrenkung« der menschlichen Bezie- dem von ihm geplanten Krieg »aneinanderge-
hungen ist Thema mehrerer Szenen. Gemein- raten« (GBA 4, S. 428). Diesen Bruch können
sam dabei ist auch ein Szenenaufbau, der oft sie auch am Sterbebett des Vaters nicht mehr
mit trivialen Vorgängen beginnt und schnell zu überwinden.
komplizierten Verwirrungen führt. Durch ein Der allgegenwärtige Terror verdirbt auch
scheinbar harmloses Gespräch in der Küche das Vertrauensverhältnis unter Arbeitern. In
endet das Verhältnis des Dienstmädchens zu Der Entlassene misstraut ein Freund einem
ihrem SA-Mann im Kreidekreuz, weil ihr lang- gerade aus dem KZ entlassenen Arbeiter, denn
sam klar wird, dass ihm nicht zu trauen ist. So er befürchtet, dass die SS den Inhaftierten
wie er bereit ist, einem unschuldigen Arbeiter vielleicht ›umgeschult‹ haben könnte. Trotz
ein Kreidekreuz auf die Schulter zu drücken, der Beteuerung des Entlassenen: »Du, Willi,
begreift sie, dass er auch sie verraten könnte. ich bin immer noch der alte« (GBA 4, S. 413),
352 Furcht und Elend des III. Reiches

bleibt er nach der Rückkehr zu den früheren krieg gedient, war seit 1929 in der Partei und
Freunden isoliert. hat später seinen Sohn in die SA gepresst.
Eine der wenigen Ausnahmen, die von Soli- Außerdem hat er »immer von der Idee geredet
darität unter den Menschen handelt, bildet die und gegen den Egoismus von den einzelnen«
Szene Volksbefragung. Ein junger Arbeiter, ein (GBA 4, S. 425). Aber am Ende fühlt er sich
älterer Arbeiter und eine proletarische Frau vom Nazi-Regime verraten. Der Schinken und
beraten, wie der Kampf weitergehen soll. Mit das halbe Kalb, alles aus Papiermaschee, die er
dem Verlust eines Genossen scheinen die zum Schein ins Schaufenster aushängen soll,
Chancen des Widerstands gering. Aber das um den Fleischmangel zu verdecken, liefern
Verlesen eines Briefs, den ein zum Tode verur- ihm den letzten Beweis, dass das neue System
teilter Genosse an seinen Sohn geschrieben auf Lüge gebaut ist. In verzweifeltem Protest
hat, und dessen Mahnung, sich zu seiner hängt er sich selbst im Schaufenster auf, als
Klasse zu halten und den Kampf weiterzufüh- ›Bild‹ des vom Vaterland verratenen und ge-
ren, machen ihnen Mut. schlachteten Menschen (S. 426).
Ein weiteres Thema, das viele Szenen ver- Das Thema ›Anpassung‹ und ihre Folgen
bindet und häufiger im Kontext mit Entfrem- steht im Zentrum der Szene Die Berufskrank-
dung steht, ist die von der Schreckensherr- heit. Der Arzt wagt nicht, dem eingelieferten
schaft gestiftete Verwirrung, die Misstrauen KZ Häftling die Frage zu stellen, die er von
und Verrat erzeugt. In Die Berufskrankheit seinen Assistenten vor jeder Behandlung ab-
bricht der Chirurg seinen beruflichen Eid, in- verlangt: »woher kommt der Patient, wo hat er
dem er den Anforderungen des Naziterrors sich seine Krankheit zugezogen und wohin
nachgibt und es unterlässt, nach der Ursache geht er zurück« (GBA 4, S. 379). Anpassung
von Verletzungen des KZ-Häftlings zu fragen. kann zur Vereinzelung und zu gefährlichen
Anders verhält es sich in der Szene Der Verrat, Spannungen führen, wie in Arbeitsbeschaf-
in der ein Kleinbürger seinen Nachbarn an die fung dargestellt ist. Der Arbeiter, der gerade
Machthaber verrät, indem er u. a. angibt, dass eingestellt worden ist, will nicht darüber nach-
der Betreffende, ein Kommunist, Rundfunk- denken, dass in seiner Fabrik Bomber für den
Sendungen aus Russland abhört. Nachdem der Spanischen Bürgerkrieg produziert werden.
Nachbar abgeholt worden ist, gerät der Mann Als die Nachricht eintrifft, dass sein Schwager,
selbst in Verwirrung, denn er sieht zu, wie die ein Flieger, vermutlich im Spanienkrieg abge-
Staatsbeamten ihn bei der Verhaftung miss- schossen wurde, wirft ihm die Nachbarin vor,
handeln. Durch die plötzliche Einsicht in den er hätte mit seiner Arbeit für den Krieg zum
Staatsterror wird er blass und erschrocken und Tod des Schwagers beigetragen. Er rechtfertigt
behauptet, nichts Belastendes über den Nach- sich: »Herrgott, es gibt doch nichts mehr, was
barn gesagt zu haben, eine Behauptung, der nicht für den Krieg ist! Wo soll ich denn Arbeit
seine Frau widerspricht. Hier führt die Verwir- finden, wenn ich mir sage: nicht für den
rung zu Lüge und Verleugnung. Krieg!« (S. 436) Die Aussichtslosigkeit der to-
Eine weitere Variante der miteinander kom- talen Anpassung offenbart sich ihm erst, als er
binierten Themen ›Verrat‹, ›Misstrauen‹, versucht, seiner Frau zu verbieten, in Schwarz
›Verwirrung‹ ist in der Szene Das neue Kleid umherzulaufen und die Regierung als
gestaltet, in der ein Mädchen sich über den »Schwerverbrecher« zu beschimpfen. Er
neuen Kunststoff aufregt, der im Regen zu meint: »Wenn du so redest, da kann uns noch
Lumpen zerfällt. Der Anblick von zwei SA- mehr passieren, als daß wir nur die Stelle
Leuten setzt sie plötzlich in stammelnde Ver- verlieren.« (S. 437)
wirrung, denn sie fürchtet, dass sie sich durch In Die Physiker wird die Anpassung der zwei
die unvorsichtige Äußerung verraten haben Physiker fast zur Farce. Der eine Physiker, dem
könnte. Ein weiteres Beispiel ist der alte der Lapsus unterläuft, über die verbotenen
Kämpfer in der gleichnamigen Szene. Der Lehren des ›Juden‹ Einstein zu sprechen, sitzt
Fleischer hat dem Vaterland im ersten Welt- »starr vor Entsetzen« (GBA 4, S. 383). Der an-
Beschreibung 353

dere »reißt ihm die mitgeschriebenen Notizen dass für den Amtsrichter eigentlich nur die
aus der Hand und steckt alle Papiere zu sich« Anklagebank übrig bleibt. Im übertragenen
(ebd.), worauf der erste zur linken Wand hin- Sinn kommt er tatsächlich auf die Anklage-
über sehr laut spricht: »Ja, eine echt jüdische bank: Das Publikum ist dazu aufgerufen, das
Spitzfindigkeit! Was hat das mit Physik zu versprochene Recht zu sprechen, wozu der
tun«? (S. 384). Die gespielte Erschrockenheit Richter nicht mehr in der Lage ist.
der Physiker und die abrupte Pointe am Sze- Weitere komische Elemente dieser Szene
nenende ähneln einem Sketch im Kabarett, tragen zum Gesamteindruck einer tragikomi-
der mit einem »Black out« endet. Noch hu- schen Farce bei. Die Antworten des ratlosen
morvoller ist der wohl parodistisch gemeinte Inspektors, mit denen die Szene beginnt, be-
Anpassungsversuch des Bauern in Der Bauer stehen zunächst lediglich aus zwei Fragezei-
füttert die Sau. Gegen die Anordnung des chen im Text und aus Gebärden, »nickt«,
Staates füttert er seine Schweine, setzt aber »schüttelt den Kopf«, »zuckt die Achseln« (GBA
gleichzeitig seine Treue zum Staat dadurch 4, S. 363), die sich auf der Bühne nur als ko-
herab, dass er eine Sau mit »Heil Hitler« grüßt misch-pantomimische Einlage umsetzen las-
(S. 422). sen. Auch die mehrfach wiederholte Unter-
In keiner Szene wird die Anpassung deutli- werfungsformel »Jawohl, Herr Amtsrichter«
cher und zugleich auf humorvollere Weise dar- (S. 372), die der Inspektor benutzt, um Ein-
gestellt als in Rechtsfindung. Der Amtsrichter, verständnis vorzutäuschen und zugleich seine
eifrig bestrebt, sich dem Willen seiner Oberen Unsicherheit zu verbergen, wirkt insofern ko-
zu unterwerfen, weiß weder wie, noch wem er misch, als dadurch jedes gesprochene Wort,
›Recht‹ geben soll. Die Lächerlichkeit seiner das der Wahrheitsfindung gelten soll, zur Lüge
Bemühungen wird u. a. darin gezeigt, dass er wird. Karikaturistische Züge erhält der Staats-
sich einen Apfel schält, weil er sein Früh- anwalt, weil er nicht in der Lage ist, sich den
stückspaket vergessen hat. Als der Staatsan- Namen des vermeintlichen Provokateurs zu
walt ihn warnt, keinen Fehler beim Urteil zu merken, und mehrfach fragt: »na, wie heißt er
machen, »hört [er] mit dem Apfelessen auf« doch gleich« (S. 368, vgl. S. 370). Dem Part des
(GBA 4, S. 368), eine Bühnenanweisung, die Dienstmädchens, das vor dem Amtsrichter
seine Verstörtheit gestisch umsetzt, was in den aussagt, ist, um noch ein weiteres Beispiel
folgenden Bühnenanweisungen wie: »fällt aus anzugeben, mit ihrem unentwegten, aus Ba-
den Wolken« (S. 369) oder »gehetzt« (S. 376) nalitäten und Morallehren bestehenden Rede-
gesteigert wird. Verbunden damit ist, dass er fluss eine Sprechweise unterlegt, die schweyk-
sich verspricht, stammelt und sich schließlich schen Charakter hat, verstärkt durch den Dia-
selbst als Angeklagten wähnt. Im Augenblick lekt: »Ihre Gesundheit ist Ihr hechstes Gut,
höchster Verwirrung wird die Spannung durch aber jetzt geh ich, Sie wissen selbst, und ich
einen Telefonanruf von seiner Frau humorvoll seh schon, Sie sind ungeduldig, in die Ver-
unterbrochen. Sie macht ihm die triviale Mit- handlung zu kommen, und ich muß noch zum
teilung, dass Freunde den Kegelabend abge- Kolonialwarenhändler.« (S. 374)
sagt haben. Seine Frage »Woher weiß denn der Die komische Gestaltung dieser Szene, wel-
[die Absage erteilt hat] schon«? (S. 378), zeigt, che die Satire als Anklage gegen die Anpas-
dass sich sofort verhängnisvolle Zusammen- sung einsetzt sowie zuspitzt und die den Sze-
hänge auftun, was wiederum darauf verweist, nen gegenübersteht, die das Mitläufertum
dass in einem solchen Terrorsystem nieman- ernsthaft behandeln, ist ein Beispiel für die
dem mehr zu trauen ist. B. gelingt es damit, Vielfalt der unterschiedlichen Darstellungs-
eine im traditionellen Sinn tragisch zu nen- weisen im Stück. Die Satire in Rechtsfindung
nende Fallhöhe aufzubauen, die zugleich ko- hat durchaus nicht den Effekt, das gewichtige
mische Aspekte hat. Diese werden am Schluss Thema zu trivialisieren und seine Folgen her-
gesteigert: Der Gerichtsdiener hat die Platz- unterzuspielen. Vielmehr soll dem Publikum
verteilung im Gerichtssaal so vorgenommen, demonstriert werden, dass Unterwerfung un-
354 Furcht und Elend des III. Reiches

ter den Terror, der selbst unbestimmt bleibt, ja striert. Sein Tod weist darauf hin, dass auch
durch (scheinbar) redliche Menschen aktiv die (nur scheinbar) kleinen Gemeinheiten töd-
mitgetragen und regelrecht aufgebaut wird, liche Folgen haben können und, wenn die Zu-
auch seine (unfreiwillig) lächerlichen Seiten stände nicht verändert werden, auch haben
hat. werden. Andere Szenen zeigen Figuren, die
Übergreifendes Thema der Szenenfolge über die List verfügen, die Wahrheit auf sub-
sind die titelgebenden ›Furcht‹ und ›Elend‹, tile Weise auszusprechen. In Das Kreidekreuz
durch welche die Lüge zur Weltordnung wird. erreicht es der listige Arbeiter, verschwiegene
Durchgängig hat die Furcht, deren Ursachen Realitäten auszusprechen, wenn er sich mit
für die meisten Figuren im Zyklus nicht greif- dem SA-Mann in ein Spiel einlässt, in dem er
bar wird, eine Schreckensherrschaft aufge- einen Meckerer spielt und so ungestraft sub-
richtet, die ins Elend oder gar in den Tod führt. versive Meinungen vertreten kann. Der SA-
Selbst das »Minimalprogramm« von Mensch- Mann ist zu dumm, um zu bemerken, dass er
lichkeit, von dem Benjamin sprach, die hereingelegt wird. Der Arbeiter, der vom Ra-
»Freundlichkeitsbezeigungen« beim Schritt dioansager in Die Stunde des Arbeiters nach
ins Leben und aus ihm heraus (Benjamin, den Verhältnissen in seinem Betrieb befragt
S. 571), sind nicht einmal mehr im engsten wird, gibt zunächst die vorgeschriebenen Ant-
Kreis der Ehe oder der Familie gewährleistet. worten. Durch die Zweideutigkeit seiner An-
Besonders krass hat dies B. in der Szene Die sichten über die neuen Waschräume jedoch
Kiste gestaltet. Einer Arbeiterfrau mit zwei sowie durch weitere listige Bemerkungen über
Kindern wird von SA-Leuten eine Zinkkiste in die niedrigen Löhne und die hohen Abzüge
die Wohnung gebracht, in der ihr erschlagener kann er die wahren Verhältnisse im Betrieb
Mann liegt, der »doch nur gesagt [hat], daß sie offen legen.
Hungerlöhne zahlen« (GBA 4, S. 408). Aus Widerstand durch Rede und Handeln gilt in
Furcht vor weiterem Elend – »Ich hab noch der Forschung als – gegenüber ›Furcht‹ und
einen Bruder, den sie holen können« (ebd.), ›Elend‹ konträres – zweites Hauptthema des
akzeptiert sie nicht nur den gefälschten Toten- Stücks. Beispiele dafür gibt es in fast allen
schein, der auf Tod durch Lungenentzündung Szenen, und sie finden sich bei Figuren aus
lautet, sondern verzichtet auch auf die Öffnung allen Schichten und äußern sich in verschie-
des Sarges: »Die Kiste kann zubleiben. Wir denen Graden: im listigen Aussprechen der
müssen ihn nicht sehen. Wir werden ihn nicht Wahrheit bis zur brutalen Demonstration der
vergessen.« (S. 409) Damit ist eine der brutal- herrschenden Lüge oder über unauffällige op-
sten Szenen in B.s Werk vorweggenommen: positionelle Handlungsweisen, die als Gesten
die Verleugnung des Sohnes Eilif durch seine des Widerstands in der Szenenfolge dominant
Mutter in Mutter Courage und ihre Kinder. sind. So widersetzt sich in Arbeitsdienst der
Als Gegenpart hat B. Figuren geschaffen, die junge Arbeiter dem geforderten ›Dienst‹, in-
den Mut besitzen, trotz aller Bedrohung die dem er sich nicht durch die Zigaretten des
Wahrheit auszusprechen oder danach zu han- Studenten bestechen lässt und den aufgezwun-
deln. In der Gegenwart von drei Hitlerjungen genen Einsatz bei der Arbeit verweigert: Er
vergleicht der Bruder in Was hilft gegen Gas weiß bereits, was Arbeit ist. In Zwei Bäcker
die Gasmasken mit Maulkörben, nennt sie sitzt ein Bäcker im Gefängnis, weil er sich
nutzlos gegen Gas und wirft sie spöttisch in die geweigert hat, das Brot nach den Anordnun-
Ecke. In Der Bauer füttert die Sau stellt der gen des Staates zu verfälschen. Auffälliger ist
furchtsame Bauer seine Kinder als Wachposten der offene Widerstand zweier KZ-Häftlinge,
auf, um seinen Schweinen trotz des Verbots ihr die in Dienst am Volke als Protest gegen ihre
Fressen zu geben. Am weitesten geht der Flei- SS-Wärter Die Internationale singen. Ein wei-
scher in Der alte Kämpfer, der mit ungeheurem teres Beispiel des aktiven Widerstands
Mut und buchstäblich am eigenen Leib die schließlich ist in Volksbefragung dargestellt,
Brutalität der herrschenden Zustände demon- wo eine kleine Widerstandsgruppe sich ent-
Beschreibung 355

schließt, den Kampf nicht aufzugeben und ein englische Fassung in Berkeley/Kalifornien.
Flugblatt zur Volksbefragung mit dem einzi- Obwohl diese Szenen nur ein relativ kleines
gen, aber viel sagenden Wort »NEIN« (GBA 4, Publikum erreichten, wurde im amerikani-
S. 442) herauszubringen. schen Exil kein anderes Werk B.s so oft ge-
In der »Gestentafel« des Stücks ist der Wi- spielt oder gedruckt wie Furcht und Elend. In
derstand, ob implizit oder explizit, zentral. den USA war B. bekannter als antifaschisti-
Durch die Implikationen dieser Darstellung scher Stückeschreiber denn als Verfasser epi-
sowie anderer Themen und Gesten aus dem scher Dramen.
Alltagsleben im »III. Reich« transzendiert das Trotz vieler Aufführungen in beiden Teilen
Stück den Zeitbezug und wirkt heute noch als Deutschlands nach 1945 hat das Stück nie die
eine überzeugende Schilderung der Haltungen Popularität von B.s ›klassischen‹ Dramen er-
von Menschen, die unter einer Diktatur gelebt reicht. Doch hat die Szenenfolge eine z. T. um-
haben oder noch leben müssen. strittene erzieherische Wirkung gehabt. Eine
Studioinszenierung des Berliner Ensembles
erzielte zwischen 1957 und 1963 insgesamt 156
Aufführungen. Da viele Theaterleute und Kri-
Wirkungsgeschichte tiker aus der Bundesrepublik und dem Aus-
land diese Inszenierung sahen, galt sie jahre-
lang im In- und Ausland als maßgebend. Wei-
Einzelszenen aus Furcht und Elend kamen gel, die Regie führte, spielte nicht nur die Frau
schon während der Entstehung des Stücks zur in Volksbefragung, sondern auch die Titelge-
Veröffentlichung. Im März 1938 erschien die stalt in Die jüdische Frau, womit sie für diese
Szene Der Spitzel auf Deutsch in der Moskauer Szene einen Standard setzte, an dem alle spä-
Zeitschrift Das Wort und wurde im September teren Inszenierungen gemessen wurden. Nach
1941 im Moskauer Komsomol-Theater aufge- 1963 verschwand das Stück von den Bühnen
führt. Weitere Szenen wurden 1938/39 in Das Ost-Berlins und kam in der DDR nur noch in
Wort, Die neue Weltbühne und Maß und Wert Provinzstädten zur Aufführung. Aber auch dort
gedruckt. Französische Übersetzungen einzel- gab es nur wenige Inszenierungen bis zur
ner Szenen erschienen ebenfalls 1939. Im Ok- Wende, unter ihnen acht im Jahr 1985: Das
tober 1944 erfuhr B. von der sowjetischen Stück wurde als antifaschistisches Paradestück
Schauspielerin Elena Kalatowa, dass sie (ver- zum 40. Jahrestag des Endes des zweiten Welt-
mutlich 1942) vor Frontsoldaten in Leningrad kriegs inszeniert.
die Rolle der jüdischen Frau unter ihrem be- In Westdeutschland begann das Stück ab
kannten früheren Namen Elena Wladimi- 1959 Kontroversen auszulösen. Das West-Ber-
rowna gespielt habe (vgl. GBA 27, S. 207). liner Kabarett »Die Stachelschweine« wollte
Obwohl B.s Name erst 1944 durch Eric Ben- unter dem Titel Furcht und Elend des Vierten
tleys Übersetzung einem breiteren amerika- Reiches eine Programmnummer bringen, wel-
nischen Publikum bekannt wurde, erschienen che die Szene Der Spitzel auf die Verhältnisse
englische Übersetzungen einzelner Szenen zu- in der DDR ummünzte. Mit wenigen Textän-
vor in links-liberalen amerikanischen Zeit- derungen sollte aus dem Hitler-Jungen ein
schriften. The Living Age veröffentlichte 1938 FDJler, ein Mitglied der DDR-Jugendorgani-
Der Spitzel. 1939 tauchte diese Szene in der sation »Freie deutsche Jugend«, und aus Nazi-
Sammlung Six Anti-Nazi-One-Act Plays wie- Deutschland die DDR werden. Im »Zentral-
der auf. 1939 erschien Die jüdische Frau in The organ der SED«, Neues Deutschland, nannte
Living Age und 1943 in The Nation. Fünf wei- Willi Köhler das Vorhaben eine Perfidie gegen-
tere Szenen wurden 1944 von Theatre Arts über dem Dichter und einen Versuch, B. zu
gedruckt. Fünf Tage vor der New Yorker Auf- fälschen und die DDR zu verleumden (Köh-
führung am 12. 6. 1945 inszenierte Henry ler). Siegfried Unseld vom Suhrkamp Verlag,
Schnitzler, der Sohn Arthur Schnitzlers, eine der die Rechte B.s vertrat, hielt die veränderte
356 Furcht und Elend des III. Reiches

Szene für eine Verfälschung, da B.s Texte un- geplant, an anderen Schulen wiederholt wer-
antastbar seien. Nur der Autor habe das Recht, den (vgl. Uhrig).
den Wortlaut zu ändern (Unseld). Da er keinen In den Nachkriegsjahren gab es in der kriti-
Vertrag mit den »Stachelschweinen« unter- schen Aufnahme des Stücks in der Bundes-
zeichnet hatte, kam es zu keiner Aufführung. republik zwei Tendenzen. Die eine vertraten
Kritiker im Westen, wie Ronald Rochow und konservative Kreise, die gegen B.s Stücke ins-
Dieter E. Zimmer, sahen darin eine Zensur- gesamt opponierten, weil sie als »marxistisch«
maßnahme, andere, so Hans Sambale, hinge- eingeschätzt wurden. Z. B. deklarierte Hell-
gen tadelten den Versuch, die Szene für den muth Karasek 1961 den Stückeschreiber kur-
Kalten Krieg einzusetzen. Die ostdeutsche zerhand zum Handlanger der roten Diktatur
Presse begrüßte diesen Entscheid gegen den und meinte, dieses Stück könnte genauso gut
Missbrauch von B. zu Zwecken der »Hetzpro- »Furcht und Elend des Ulbricht-Staates« hei-
paganda« (R. Z.). ßen (Busch, S. 57). Hinzu kam, dass B.s Dar-
Zu den Berliner Festwochen im September stellung vom Leben im Nazi-Reich Erinnerun-
1960 inszenierte Frank Lothar sieben Szenen gen wachrief, die bei einem breiteren Publi-
mit mittelmäßigem Erfolg. Der Kritiker W. K. kum auf Abwehr stießen.
des Neuen Deutschland meinte: »Hut ab vor Die andere Tendenz vertraten progressive
der Westberliner Tribüne« und sah die Auffüh- Kreise, die in der Wirklichkeitsnähe des Dar-
rung als Denkschrift an die Bundesrepublik gestellten gerade die Stärke des Stücks sahen.
und deren Bemühungen um eine »totale Mo- Sie schätzten es als eines der wenigen Werke
bilmachung« der Bundeswehr, die in Bonn zur der deutschen Literatur ein, das als realisti-
Diskussion stand (W. K.). Im Westen konsta- sches Zeitstück immer noch haltbar war und es
tierten die meisten Kritiker, wie z. B. Werner ermöglichte, die faschistische Vergangenheit
Fiedler, eher eine lobenswerte, aber schwache in Deutschland aufzuarbeiten. So kam es
Aufführung eines wichtigen Stücks. Andere, zwischen 1961 und 2000 zu etwa 100 Inszenie-
welche die Inszenierung zu einem Politikum rungen an deutschen Theatern und zehn Sen-
machen wollten, meinten jedoch wie Ilse determinen im Fernsehen, meistens in den
Scotti, die Parallelen zur DDR seien nicht dritten Programmen. Etwa 100 weitere Auf-
scharf genug herausgearbeitet worden. führungen an Schul-, Studenten-und Gemein-
Zwei Monate später geriet Furcht und Elend detheatern dienten didaktischen Zwecken, um
in Berlin wieder in die Diskussion, die sich an die Schüler über den Faschismus zu unter-
den Spannungen des Kalten Kriegs und man- richten. Dabei wurde Furcht und Elend in der
gelnder ›Vergangenheitsbewältigung‹ entzün- BRD oft wie ein Lehrstück zum Faschismus
deten. Unter Leitung eines Lehrers und im eingesetzt.
Rahmen der Berliner Festwochen inszenierten Über das Theaterstück Furcht und Hoffnung
Oberschüler der Carl-Friedrich-von-Siemens der BRD (1984) von Franz Xaver Kroetz hat B.s
Schule in Berlin-Spandau zehn Szenen. Ihre Szenenfolge auch in der Literatur nachge-
Absicht war, sich und dem Publikum mehr wirkt. Nicht nur der Titel, sondern auch der
Klarheit über die jüngste Vergangenheit zu Untertitel – Ein Stück in 15 Szenen aus dem
verschaffen. Trotz der Einwände einiger Pä- deutschen Alltag –, der Szenenaufbau sowie
dagogen, die Aufführung eines B.-Stücks wür- Inhalt zeugen von direkter Anlehnung an B.s
de der kommunistischen Ideologie Vorschub Stück. Allerdings ist es dem Werk von Kroetz
leisten, kam es zu einem Achtungserfolg, der bis heute nicht gelungen, die Wirkung zu er-
von Berliner Zeitungen in Ost und West be- reichen, die das anhaltende Interesse an B.s
sprochen wurde (vgl. W. S.). Die unbequeme Furcht und Elend im In- und Ausland doku-
Inszenierung hatte ein politisches Nachspiel mentiert.
im Berliner Senat: Ein Bildungssenator der
CDU erwirkte die Absetzung des Stücks nach
drei Aufführungen; auch durfte es nicht, wie
357

Literatur: Bertolt Brechts Szenenmontage Furcht und Elend


des Dritten Reiches. In: Politische Didaktik (1978),
Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Bd. II,2. S. 76–85. – Vinçon, Inge: Die Einakter Bertolt
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Exildrama und Exiltheater. Bern 1977, S. 67–76. – Dieses Stück, mit dem sich B. über einen lan-
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Dritten Reiches. In: Ders.: Brecht in Amerika. zentrales Werk angesehen werden, das zwei
Frankfurt a. M. 1984, S. 183–196. – Mennemeier, der großen aktuellen Fragen der gesellschaft-
Franz Norbert: Modernes Deutsches Drama. Kri- lichen Gegenwart des 20. (und 21.) Jh.s the-
tiken und Charakteristiken. Bd. 2: 1933 bis zur Ge-
matisiert, nämlich die Auseinandersetzung
genwart. München 1975, S. 60–65. – Mittenzwei,
Werner: Die Szenenfolge Furcht und Elend des Drit- zwischen einer primär sich als wertfrei ver-
ten Reiches. In: Ders.: Bertolt Brecht. Von der Maß- stehenden Wissenschaft und einer auf deren
nahme bis Leben des Galilei. Berlin, Weimar 1973, Instrumentalisierung abzielenden Tagespoli-
S. 193–218. – Rochow, Ronald: Brecht, Suhrkamp tik einerseits und den aufklärerischen Kampf
und die Stachelschweine. In: Die Zeit, 8. 1. 1960. – um die Verbreitung der Wahrheit andererseits,
R. Z.: Eine Stachelschweinerei. In: Neue Zeit (Ber-
und dabei auch für das Gesamtwerk B.s als
lin), 23. 12. 1959. – Sambale, Hans: Aber die Wahr-
heit muß schweigen. In: Sächsische Zeitung (Dres- paradigmatisch gilt. Zugleich zeigt es die Viel-
den), 12. 1. 1960. – Schneider, Isidor: How Nazis schichtigkeit der möglichen Schlussfolgerun-
Were Made. In: New Masses, 20. 2. 1945, S. 25. – gen auf, welche in den verschiedenen Fassun-
Schütz, Erhard/Vogt, Jochen: Gestentafel des faschi- gen des Werks nahe gelegt sind. Es behandelt
stischen Alltags. In: Einführung in die deutsche Lite- mithin Fragen, die noch heute von ungebro-
ratur des 20. Jahrhunderts. Bd. 2. Opladen 1978,
chener Aktualität sind und in keiner Weise als
S. 294–302. – Scotti, Ilse: »Charakter ist eine Frage
der Zeit«. Brechts Furcht und Elend in der Berliner gelöst angesehen werden können.
Tribüne. In: Westfalen-Blatt (Bielefeld), 9. 9. 1960. – Das Schauspiel ist, gemäß der dritten,
Uhrig, Jürgen: Brecht unerwünscht. Keiner will ›deutschen‹ (oder ›Berliner‹) Fassung, in 15
Schultheater mit politischem Zündstoff. In: Bild- Bilder (oder Szenen) eingeteilt, in denen we-
Zeitung, 6.l2.1960. – Unseld, Siegfried: Parodie auf sentliche Stationen aus dem Leben Galileis
Brecht. Eine Antwort an die ZEIT. In: Die Zeit,
zwischen seiner Zeit in Padua (1609) und der
25. 12. 1959. – Viertel, Berthold: Der Dramatiker
Bertolt Brecht. In: Austro-American Tribune (New Fertigstellung der Discorsi (1637/38) im durch
York), 1. 7. 1945. – Vietrich, Wolfgang: Auseinander- die Inquisition verfügten florentinischen
setzung mit faschistischer Wirklichkeit anhand von Hausarrest dargestellt werden. In den ersten
358 Leben des Galilei

drei Bildern wird gezeigt, wie Galilei dem ko- Die drei Fassungen
pernikanischen System folgt, das er dem Sohn
seiner Haushälterin, Andrea Sarti, erläutert,
und das er empirisch bestätigen kann, indem Es gibt drei Fassungen des Schauspiels, die
er vier der Jupiter-Monde durch ein Fernrohr ›dänische‹ von 1938/39, zunächst mit dem Ti-
beobachtet, das er zuvor der Signoria von Ve- tel Die Erde bewegt sich, dann in Leben des
nedig als eigene Erfindung angeboten hat. Um Galilei umbenannt, die ›amerikanische‹ von
sich bessere Arbeitsmöglichkeiten zu verschaf- 1947, begonnen 1944, mit dem Titel Galileo
fen, verlässt Galilei anschließend Padua und und die ›deutsche‹ (oder: ›Berliner‹) von
geht nach Florenz an den Hof des Großherzogs 1955/56 wieder mit dem Titel Leben des Gali-
Cosmo. Dort wird seine Entdeckung aber nur lei. Schon diese Daten bezeichnen den langen
mit großer Ablehnung aufgenommen. Zwar Erarbeitungszeitraum, über den hinweg sich
bestätigt der Astronom Clavius in Rom die B. mit dem Thema befasst hat. Die einzelnen
Authentizität von Galileis Beobachtungen, Fassungen stehen dabei deutlich unter dem
aber das Heilige Offizium verdammt gleich- Eindruck der politischen Aktualität der jewei-
wohl die kopernikanische Lehre und verbietet ligen Entstehungszeit. Es versteht sich von
ihre weitere Verbreitung. Galilei wird ver- selbst, dass B. ›seinen‹ Galilei als Präzedenz-
warnt (Bilder 4–8). Nach langen Jahren des fall und Paradigma behandelt wissen wollte,
Schweigens beginnt Galilei aber erneut mit nicht bloß als narrative Wiedergabe eines hi-
der Arbeit an der Bestätigung des kopernikani- storischen Ereignisses. In der ersten Fassung
schen Systems, nachdem feststeht, dass sein steht der Widerstand Galileis im Vordergrund,
Gönner, der Kardinal Barberini, neuer Papst dessen Darstellung von B. als Aufforderung an
wird. Aber obwohl sein neues Buch, der Dia- jene Intellektuellen verstanden wurde, die
logo (1632), zunächst gedruckt werden darf, sich von Hitler haben vereinnahmen lassen.
stößt er am Hof von Florenz alsbald auf neu- Emil Wohlwills Sichtweise auf einen Galilei,
erliche, strikte Ablehnung, und die Inquisition der für die kopernikanische Lehre kämpft,
zitiert ihn nach Rom. Dort erteilt der Papst fließt hier noch ungemindert ein (vgl. Wohl-
dem Inquisitor die Erlaubnis, Galilei einzu- will). Die Uraufführung der ersten Fassung
schüchtern. Galilei schwört der kopernikani- mit dem Titel Galileo Galilei. Leben des Gali-
schen Lehre ab und ruft damit Entsetzen bei lei fand am 9. 9. 1943 im Schauspielhaus Zü-
seinen Mitarbeitern hervor (Bilder 9–13). In rich unter der Regie von Leonard Steckel statt,
einem Landhaus in der Nähe von Florenz lebt der auch die Hauptrolle spielte.
Jahre später ein gealterter, fast blinder Galilei Während der Arbeit an der zweiten Fassung
als Gefangener der Inquisition, von seiner nahm B. eine Wendung des Themas vor, die
Tochter und einem Mönch überwacht. Andrea wesentlich auf die individuelle Verantwortung
besucht ihn nochmals, bevor er sich nach Hol- des Wissenschaftlers abgestellt ist. Unter dem
land begibt. Galilei steckt ihm eine heimlich unmittelbaren Eindruck der Atombombenab-
angefertigte Abschrift seiner noch unveröf- würfe über Japan 1945 gewann dieses Motiv an
fentlichten Discorsi zu, welche die Grundlage zunehmender Schärfe und mündete schließ-
der modernen Physik beinhalten. Andrea lich in die Selbstanklage Galileis am Ende des
überschreitet die Grenze, die Discorsi offen Stücks. Die Uraufführung der zweiten Fassung
lesend und dadurch der Kontrolle entgehend fand am 30. 7. 1947 im Coronet Theatre in
(Bilder 14 und 15). Beverly Hills, Los Angeles unter der Regie von
Joseph Losey statt sowie in einer von B. und
vom Hauptdarsteller Charles Laughton ge-
meinsam erarbeiteten Inszenierung. Die
zweite amerikanische Uraufführung fand am
7. 12. 1947 in New York statt. Hierbei arbeitete
Losey mit George Tabori zusammen. Hanns
Die drei Fassungen 359

Eisler schrieb nicht nur die Musik für das GALILEI Der Mond kann eine Erde sein mit
Stück, sondern unterbreitete auch eigene Text- Bergen und Tälern und die Erde kann ein
vorschläge. Alle Anregungen aus dieser Zu- Stern sein. Ein gewöhnlicher Himmelskör-
sammenarbeit fanden Eingang in die schließ- per: einer unter Tausenden. […]
liche Textfassung. SAGREDO So wäre kein Unterschied zwi-
In der dritten Fassung, die unter der Mit- schen Himmel und Erde?
arbeit von Elisabeth Hauptmann, Benno Bes- GALILEI Nein.
son und Ruth Berlau ab 1953 in Berlin in eine SAGREDO Vor noch nicht zehn Jahren ist
endgültige Form gebracht werden sollte, ein Mensch in Rom verbrannt worden. Er
wurde die Perspektive der amerikanischen hatte eben das behauptet. […]
Fassung beibehalten. Sie gewann vor allem GALILEI [zur Milchstraße] Das sind die
durch die Ereignisse in den USA, namentlich vielen Welten, die zahllosen andern, die
durch die Affären um die Rosenbergs und um entfernteren Gestirne, von denen der Ver-
Oppenheimer in den Jahren 1953 und 1954 brannte gesprochen hat.(GBA 5, S. 25,
und die Westorientierung in der BRD (NATO- S. 28)
Beitritt und Wiederbewaffnung 1955) an neu-
erlicher Aktualität, so dass nunmehr das Bild In der zweiten Fassung wird Bruno ausdrück-
14 mit der Rede Galileis geradezu als Paral- lich benannt (GBA 5, S. 132). Gleich anschlie-
lele, etwa zum Fall Oppenheimer, verstanden ßend fährt Sagredo im frühen Text fort:
werden konnte. Textausgaben der dritten Fas- SAGREDO Und wo ist also Gott?
sung erschienen zugleich in den Verlagen GALILEI Bin ich Theologe? Ich bin Ma-
Suhrkamp (Frankfurt a. M.) und Aufbau (Ber- thematiker.
lin, Weimar) im Jahr 1955 (Stücke VIII). B. SAGREDO Vor allem bist du ein Mensch.
selbst musste im März 1956 auf Grund seiner Und ich frage dich, wo ist Gott in deinem
Erkrankung die begonnenen Probenarbeiten Weltsystem?
abbrechen. Die Berliner Uraufführung erlebte GALILEI In uns oder nirgends!
B. nicht mehr; er verstarb am 14. 8. 1956. We- SAGREDO schreiend: Wie der Verbrannte
gen der Verzögerung in den Proben fanden gesagt hat?
drei erste Aufführungen dieser Fassung zu- GALILEI Wie der Verbrannte gesagt hat!
nächst in Köln (in den Kammerspielen schon (S. 29 f.)
am 16. 4. 1955), Nürnberg (Mai 1956) und in
Wien (Juni 1956) statt. Am 15. 1. 1957 folgte Die Botschaft ist klar und unterscheidet sich
die eigentliche Uraufführung am Berliner En- nicht von der noch heute gültigen Sichtweise
semble in der Inszenierung von Erich Engel. der Physik: Die Frage nach Gott ist nicht Ge-
genstand der Mathematik. Aber müsste man
allgemein als Mensch seine Schlussfolgerung
aus dem gefundenen Sachverhalt ziehen, wäre
Strukturelemente man bestenfalls Pantheist. Doch diese Einsicht
kann nur auf die Empirie gestützt werden. Da-
gegen argumentieren Galileis Kollegen auf
Von Beginn an arbeitete B. mit Galileischen traditionelle Weise: In Bild 4 legt der Ma-
Charakteristika von wissenschaftstheoreti- thematiker alten Stils dar, dass die Bewegun-
scher Bedeutung, so mit einem expliziten gen von Monden um den Jupiter herum gar
Bezug auf Giordano Bruno, mit der systemati- nicht möglich seien, weil sie durch die Voraus-
schen Abgrenzung von Theologie und Mathe- setzungen des herrschenden Weltbildes ausge-
matik sowie der grundsätzlichen Abstützung schlossen werden, während der Theologe zu-
auf die vorfindliche Empirie. Schon in der ers- nächst danach fragt, warum sie überhaupt nö-
ten Fassung spitzt Sagredo im Gespräch mit tig sein sollten, angesichts desselben, vorgege-
Galilei (Bild 3) den Bruno-Aspekt zu: benen und nicht weiter in Frage gestellten
360 Leben des Galilei

Weltbilds, worauf Galilei erstaunt antwortet: lileis sind seinen Gegnern gleichwohl deut-
»Ich dachte mir, Sie sehen einfach durch das lich. Im Bild 6 ruft ein Mönch entsetzt aus: »Es
Teleskop und überzeugen sich?« Und die Re- gibt nur Sterne! Wir werden den Tag erleben,
gieanweisung fügt an: »Die Herren lachen.« wo sie sagen: es gibt auch nicht Mensch und
(GBA 5, S. 40) Tier, der Mensch selber ist ein Tier, es gibt nur
Fast schon in Kuhnscher Diktion – Thomas Tiere!« (GBA 5, S. 53) Obwohl von B. hier als
Kuhn hat sein berühmtes Buch erst 1962 ver- gezielter Anachronismus eingeführt, deutet
öffentlicht – zeigt B. hier, auf welche Weise die diese Darwinsche Konnotation doch eindeutig
konservative Erwartungshaltung die eigene den konsequenten Denkweg an, den die Wis-
Wahrnehmungs- und Handlungsweise vor- senschaft künftig einschlagen wird. Die eher
prägt, indem sie etwas gar nicht erst zur besonnenen Geister denken aber bereits an
Kenntnis nimmt, weil das durchs Fernrohr den möglichen Kompromiss. Der Kardinal
sichtbar Gemachte nur falsch, also Illusion, Bellarmin entwirft diesen Aspekt im Gespräch
sein kann. Die Herren versäumen auch nicht, von Bild 7 mit dem Kardinal Barberini: »Wir
auf die ursprüngliche Präsentation des Tele- meinen, wenn man sagt, daß unter der Voraus-
skops durch Galilei in Venedig anzuspielen, setzung einer Erdbewegung und eines Still-
einen Betrug, gleich welcher Art, unterstel- stands der Sonne alle Erscheinungen sich bes-
lend. Freilich wird später der berühmte Astro- ser erklären lassen, […] so ist das vortrefflich
nom Clavius in Rom den Blick durch das Fern- gesagt, hat keine Gefahr und genügt für den
rohr nicht scheuen und die Beobachtungen be- Mathematiker. Wenn man aber behaupten
stätigen; er wird sich aber gleichwohl einer wollte, daß die Sonne wirklich im Mittelpunkt
weitergehenden Interpretation enthalten. Die der Welt steht […], so wäre das eine gefähr-
traditionelle Philosophie der Scholastik ver- liche Sache […], denn da reizte man die Philo-
weist eher allein auf die Autorität, die sie sophen und die Theologen […], und was mehr
selbst nicht weiter in Frage stellt, sondern le- wäre, eine solche Behauptung machte die
diglich als Überlieferung annimmt. In Wahr- Schrift falsch.« (S. 58)
heit ist ja darüber hinaus der ›scholastische‹ Mit der von ihm selbst vorgetragenen Unter-
Aristoteles selbst bereits ein im Sinne der scheidung zwischen Theologie und Mathema-
Scholastik modifizierter und nicht der authen- tik steht B.s Galilei dieser Auffassung nicht
tische der griechischen Antike. Galilei dage- allzu fern, zumal er sich später nochmals auf
gen vertritt den Standpunkt: »Die Wahrheit ist jene unterschiedlichen Kompetenzbereiche
das Kind der Zeit, nicht der Autorität.« (GBA berufen wird, wenn auch nur in einer nega-
5, S. 43) Bei B. dringt Galilei zudem auf die tiven Abgrenzung gegen die Theologie. Der
öffentliche Verbreitung der aufgefundenen historische Galilei äußerte sich zum theologi-
Wahrheit, denn er glaubt »an die sanfte Gewalt schen Anspruchsrecht in einem Brief an die
der Vernunft über die Menschen«, wie er sagt Großherzogin Christina: Mit diesem sei es wie
(S. 31). Somit appelliert er auch an die Verant- mit einem Despoten, der, selbst weder Arzt
wortung der Wissenschaftler für die Gesell- noch Baumeister und nur willkürliche Befehle
schaft, der man eine Bestätigung dieser Wahr- zu geben wissend, es übernimmt, Arzneien zu
heit schuldig sei (vgl. S. 43). Stattdessen verordnen und Gebäude aufzuführen, wie es
werde die Wahrheit dem Volke in der Regel ihm gerade in den Sinn kommt, mit der Folge
unter Aspekten des Herrschaftsinteresses vor- der äußersten Gefährdung des Lebens (nach
enthalten, so wie im Fall der in Florenz gras- Blumenberg 1981, S. 495 f.) Es ist jedoch genau
sierenden Pest bis zum letzten Augenblick mit dieser Anspruch, der von der Kirche nicht auf-
deren Bekanntgabe gewartet wird. Dieser gegeben wird. In Bild 11 sagt der Inquisitor:
Aspekt hat auch heute noch seine unverän- »Was käme heraus, wenn diese [Leute] alle,
derte Aktualität, nur dass die Pest durch an- schwach im Fleisch und zu jedem Exzeß ge-
deres (etwa BSE) zu ersetzen ist. neigt, nur noch an die eigene Vernunft glaub-
Die Konsequenzen aus jenen Prämissen Ga- ten, die dieser Wahnsinnige für die einzige
Instanz erklärt!« (GBA 5, S. 86)
Strukturelemente 361

Der Papst scheut gleichwohl eine mögliche S. 180). Das heißt, dem Werden sind von nun
Polarisierung, welche die Vernunft der Kirche an unwandelbare, mathematische Gesetzmä-
entgegensetzt, die Durchschlagskraft der Auf- ßigkeiten unterstellt. Gleichwohl: In der
klärung späterer Zeiten vorherahnend und da- scheinbaren Abkehr von der überlieferten
mit Galileis Sichtweise bestätigend, dass näm- Substanz-Metaphysik in einer Wendung des
lich jene, welche die Wahrheit der Vernunft Naturbegriffs ins Diesseitige hinein, bewirkt
ablehnen, durch diese Ablehnung selbst ge- die mathematische Abstraktion doch auch wie-
richtet werden. Diesen aufklärerischen Aspekt der eine Resubstantialisierung, welche zwi-
greift auch Andrea in Bild 13 auf, wenn er schen der wahrgenommenen »Oberfläche« des
seiner Bestürzung Ausdruck verleiht aus An- Welthaften und der dieser unterliegenden
lass der Abschwörung Galileis: Diesem seien »Wahrheit« differenzieren lässt (S. 181–183),
viele gefolgt, in der Meinung, »Sie ständen auch dies übrigens ein Umstand, der im Streit
nicht nur für eine bestimmte Lehre von der mit der Inquisition einen Weg auf eine Eini-
Bewegung der Gestirne, sondern, und mehr gung hin hätte eröffnen können und der heute
noch, für die Freiheit des Lehrens und für noch in der Kommunikation zwischen Philo-
diese auf allen Gebieten. Nicht also nur für sophie und Wissenschaft auf der einen Seite
irgendwelche Gedanken, sondern für das und der Theologie auf der anderen von einiger
Recht zu denken überhaupt. Welches bestrit- Bedeutung geblieben ist. Galilei also lässt die
ten wird. Als diese Sie nun widerrufen hörten, Sinneswahrnehmung der gedanklichen Refle-
was Sie gesagt hatten, schienen ihnen nicht xion vorausgehen. Auf diese Weise bestimmt
nur bestimmte Gedanken […] in Verruf ge- seine Methode zugleich eine Hierarchie: Nur
bracht, sondern das Denken selber, welches durch die menschliche Wahrnehmung allein
für unheilig angesehen wird, da es mit Grün- können sinnvolle Resultate erzielt und auf ihre
den und Beweisen operiert.« (GBA 5, S. 101) Konsistenz hin überprüft werden. Und diese
Und als er in Bild 14 erfolgreich die Grenze Konsistenz ist nicht notwendigerweise mit
überquert, wendet er sich an einen Jungen christlicher Lehre kompatibel. In der schola-
zurück und sagt als Schlusswort des Stücks: stischen, auf einen modifizierten Aristoteles
»Wir wissen bei weitem nicht genug, Giu- bezogenen Tradition denken Philosophen über
seppe. Wir stehen wirklich erst am Beginn.« die Natur nach und fügen ihre Resultate in ein
(S. 109) System, von dem aus sie versuchen, Phäno-
mene abzuleiten. Moderne Wissenschaftler im
Sinne Galileis beobachten zunächst die Phäno-
mene und fügen sie in ein System, das ihre
Das Argument Galileis Erklärungen vereinigen soll. Die Ersteren ge-
ben qualitative Modelle der Welt und erklären
deren Mängel durch eine Begrenzung der
Alles steht und fällt daher mit der Bewertung menschlichen Wahrnehmung. Die Letzteren
der menschlichen (empirischen) Wahrneh- geben quantitative Modelle der Welt und er-
mung: Wie Panaiotis Kondylis dargelegt hat, klären deren Mängel durch eine Begrenzung
»verwirft [Galilei] die ontologische Unterle- der Genauigkeit durchgeführter Messungen,
genheit der Natur« und verleiht ihr das Merk- also nicht durch eine grundsätzliche Begren-
mal der rationalen Verfasstheit (Kondylis, zung der menschlichen Erkenntnis. Zugleich
S. 177). Damit sichert Galilei ihre grundsätz- erscheint die durch empirische Wahrnehmung
liche Erkennbarkeit und greift auf diese Weise begründete Erkenntnis als prozessualer Be-
auf Spinozas Identitätstheorem voraus (Zim- standteil des zu Erkennenden. Das heißt,
mermann 1999, 2000, 2001). Zugleich lässt die schon hier ist die menschliche Erfassungsart
mathematische Erfassung der Natur die klassi- von Welthaftem, menschliches Erkennen näm-
sche, metaphysische Unterscheidung zwischen lich, als Produkt des unterliegenden Weltpro-
Sein und Werden entfallen (vgl. Kondylis, zesses thematisiert. Im Gespräch mit dem Kar-
362 Leben des Galilei

dinal Barberini antwortet daher Galilei auf die Macht abbildet. Auch in den Kreisen der aka-
Frage, was denn wäre, wenn Gott es sich hätte demischen Wissenschaftler selbst geht es da-
einfallen lassen, die Bahnen der Himmelskör- her um diesen Erhalt von Macht und Einfluss.
per ganz kompliziert zu gestalten: »aus der Wie der historische Galilei an Kepler schreibt:
Rolle fallend: Lieber Mann, hätte Gott die »Was sagst du zu den ersten Philosophen der
Welt so konstruiert, so wäre sie doch auch hiesigen Universität, denen ich tausendmal
gesetzmäßig. Er hätte dann wohl auch unsere aus freien Stücken meine Arbeiten zu zeigen
Gehirne so konstruiert, daß sie eben diese angeboten habe und die mit der Hartnäckig-
Bahnen als die einfachen erkennen würden.« keit der Schlange niemals weder Planeten
(GBA 5, S. 59) noch den Mond, noch das Fernrohr sehen
Schließlich wird der Kleine Mönch Galilei wollten? Diese Art Menschen glaubt, die Phi-
gegenüber das Dekret der Heiligen Kongrega- losophie sei irgendein Buch wie die Aeneis
tion als Mitleid lesen wollen, damit eine Hoff- oder die Odyssee: man müsse die Wahrheit
nung auf jenseitigen Lohn für alle Leiden und nicht im Weltraum suchen, sondern mit ihren
Mühe auf Erden bestehen bleiben kann, denn eigenen Worten in der Vergleichung der
das Weltbild der modernen Wissenschaft lasse Texte.« (Nach: Hemleben, S. 58) Der Einwand
dem Menschen nur noch die banale Vergeb- Arturo d’Elcis, des Kurators der Universität
lichkeit (vgl. GBA 5, S. 64 f.). Galilei verweist Pisa, ist in diesem Zusammenhang ganz be-
ihn dagegen auf die Frage, inwieweit denn zeichnend: »Wer weiß wie viele Jünglinge leb-
jene herrschenden Bedingungen, welche Mit- haften Geistes und vom Verlangen nach vieler-
leid geböten, überhaupt notwendig begründet lei Wissen erfüllt, durch die Neuheit der
seien. An dieser Stelle argumentiert Galilei Lehre angelockt, sich unvorsichtig von der
somit im Blick auf die Klassengesellschaft und ebenen und sicheren Straße der peripatheti-
kontrastiert, wie John J. White hervorgehoben schen Philosophie ablenken lassen zu einer
hat, die postulierte himmlische Harmonie der anderen neuen […]. Allzusehr würden – wenn
Scholastik mit der repressiven Hierarchie auf man hier auf Widerstand verzichtet – an Fre-
Erden (White, S. 56). B. greift im Zusammen- quenz die Universitäten und die öffentlichen
hang mit dieser Kontrastierung auf eine allzu Schulen einbüßen, wenig würden mehr die
deutliche Symbolik zurück, wenn Andrea und großen Lehrer gehört werden, die den Ari-
Cosmo in Bild 4 miteinander raufen und dar- stoteles als Führer und als ersten Meister an-
über das Ptolemäische Holzmodell zu Bruch sehen.« (S. 73) Bis zum heutigen Tag leidet die
geht (vgl. S. 61). Ausschmückungen dieser Philosophie noch immer unter dieser institu-
Art, vor allem auch mit Blick auf den karneva- tionalisierten Grundhaltung: Deshalb war der
lesken Charakter der Rezeption Galileischer soziale Ort der modernen Wissenschaft ur-
Physik durch das Volk, waren von Beginn an sprünglich nicht die Universität, deren Habi-
für das Stück vorgesehen. Schon in der ersten tus Richard van Dülmen als »anti-akademisch«
Fassung gibt es dazu genaue Ausführungen, bezeichnet (Dülmen, S. 303). Vielmehr wur-
etwa in der Regieanweisung zum Lied von der den damals eigene Organisationen geschaffen,
erschröcklichen Lehre in Bild 9, in der es welche diesem Umstand Rechnung zu tragen
heißt: »Nach der ersten Strophe der Moritat imstande waren. Galilei gehörte selbst der er-
kann sich ein Fastnachtszug auf den Platz be- sten von ihnen, der Accademia dei Lincei, die
wegen, in dem eine Bibel schreitet, […] vor der 1603 in Rom begründet worden war, als Mit-
letzten Strophe, können der Mond, die Sonne, glied an.
die Erde und die Planeten auftreten, die das Letztendlich hat also eine konkrete, fach-
alte und neue Bewegungssystem im Tanz, zu liche Konfrontation mit der, im Sinn der Scho-
einer strengen Musik, vorführen.« (BBA lastik modifizierten, Lehre des Aristoteles gar
648/65) Auf dem ›Rücken‹ der Erkenntnis also nicht stattgefunden. Aber die Popularisierung
soll jener Interessenkonflikt ausgetragen wer- der Wissenschaften durch Darlegungen in ita-
den, welcher die konkrete Hierarchie der lienischer, statt in lateinischer Sprache und die
Das Argument Galileis 363

Verbreitung moderner Einsichten bedrohten durch die eher plakative Exposition dieser Fas-
das überkommene Herrschaftsgefüge. Dieses sung deutlich hervorgehoben werden. So ist
›demokratische‹ Element der Wissenschaft schon Bild 2 mit der Kurator-Szene in Padua
wird noch in der Gegenüberstellung von Axio- wesentlich stärker auf die ökonomische Situa-
matik und Dogmatik unterstrichen: die eine tion Galileis zugeschnitten (GBA 5, S. 24, da-
Grundsätze zusammenstellend, die allen be- gegen S. 158 und S. 204). Dazu kommt die
liebigen Menschen selbstevident sind und zur Hereinnahme des Eisengießers Matti in Bild
Verfügung stehen, sofern sie sich nur mit den 10, der Galilei signalisiert, dass er auf seiner
Grundlagen der auf Empirie gestützten Theo- Seite stehe: »the manufacturers are on your
rie beschäftigen, unabhängig von ihrer Vor- side« (S. 165; in der dritten Fassung gleich-
geschichte – ein Interesse, das im Übrigen falls, dort in Bild 11 als Vanni, auf die »ober-
bereits in der griechischen Antike die Ein- italienischen Städte« Bezug nehmend; S. 264).
führung der Mathematik begründet hat (vgl. Das Bild über die Verbreitung der kopernika-
Hannaford) –, dagegen die andere solche nischen Lehre im Volk gibt es dagegen in allen
Grundsätze versammelnd, welche bereits auf drei Fassungen (jeweils Bild 9 bzw. am Ende
vorher akzeptierten Vorannahmen beruhen, von Bild 10). B. betont von Beginn an die
die als Prämisse immer schon unterstellt und Resonanz der Lehre unter dem Volk auf den
keineswegs für alle beliebigen Menschen Straßen. In der zweiten Fassung aber, in Bild
selbstevident sind, sondern nur für solche, die 13, fasst Galilei selbst das Fazit als eigenes
abhängig von ihrer persönlichen Vorge- Versagen eines Wissenschaftlers, welcher dem
schichte jenen Vorannahmen zu folgen bereit Volk verantwortlich ist: »As a scientist I had an
sind und sich in diesem Sinn zu einem Ver- almost unique opportunity. In my day astro-
stehen ›auserwählt‹ empfinden. Galilei ist der nomy emerged into the market-places. At that
festen Überzeugung, dass die Zurückweisung particular time, had one man put up a fight, it
der axiomatischen Wahrheit der Natur auf jene would have had wide repercussions.« (S. 180)
zurückfallen wird, die eine solche Zurückwei- Er bindet sein persönliches Scheitern zudem
sung verlangen. Insofern wird das Ergebnis paradigmatisch an eine düstere Heraufkunft
der Renaissance und auch die Denklinie der eines von vornherein belasteten Zeitalters
Aufklärung vorweggenommen. Es geht vor al- (S. 180 f.). In der dritten Fassung wird dieses
lem um die Abschaffung der Ignoranz. So sieht Motiv unabgeschwächt wieder aufgenommen,
Galilei das Ziel der Wissenschaft nicht darin, wenn Galilei sagt: »Wenn Wissenschaftler,
»der unendlichen Weisheit eine Tür zu öffnen, eingeschüchtert durch selbstsüchtige Macht-
sondern eine Grenze zu setzen dem unendli- haber, sich damit begnügen, Wissen um des
chen Irrtum« (GBA 5, S. 68). Hier liegt also Wissens willen aufzuhäufen, kann die Wissen-
allemal ein Aufklärungsanspruch zu Grunde, schaft zum Krüppel gemacht werden, und eure
den es auf jeden Fall aufrechtzuerhalten gilt. neuen Maschinen mögen nur neue Drangsale
Galilei legt sich ausdrücklich fest: »wer die bedeuten. Ihr mögt mit der Zeit alles entdek-
Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dumm- ken, was es zu entdecken gibt, und euer Fort-
kopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge schritt wird doch nur ein Fortschreiten von der
nennt, der ist ein Verbrecher!« (S. 70) Menschheit weg sein.« (S. 284)
B. hat 1939 in seiner Notiz Darstellung der
Kirche darauf hingewiesen, dass er die Kirche
von Beginn an eher als allgemeine Obrigkeit
Die dramaturgische Wendung begriffen hat, weniger als spezifischen Macht-
apparat eigener, theologischer Ausprägung. Im
Sieg der Kirche sieht er somit einen Sieg der
Die amerikanische Fassung ist von Beginn an »Obrigkeit«, nicht einen der Geistlichkeit
stärker als die erste auf die politisch-ökonomi- (GBA 24, S. 238). Noch im Kontext der ersten
schen Aspekte abgestellt, die auch vor allem Fassung (um 1938) begründet B. seine Wen-
364 Leben des Galilei

dung hinsichtlich des Hauptmotivs der Hand- Umstand, daß der eine Übersetzer kein
lung mit der allgemein herrschenden Erwar- Deutsch und der andere nur wenig Englisch
tung eines Zusammenbruchs der westlichen wußte, erzwang […] von Anfang an ein Thea-
Zivilisation, eines Abschlusses jener die 20er- terspielen als Methode der Übersetzung. Wir
Jahre bestimmenden Epoche des kulturellen waren gezwungen […], Gesten [zu] überset-
Aufschwungs, des Beginns einer barbarischen zen.« (GBA 25, S. 12) Neu aufgefundenes Ma-
und geschichtslosen Epoche (S. 236 f.). Vor terial aus einer frühen Arbeitsphase am Gali-
diesem Hintergrund verändert er seine eigene leo (BBA E 41/3–125, E 42/1–107, E 43/1–127)
Bewertung des Galileischen Scheiterns: Er allerdings zeigt, dass B. mit dieser Selbstaus-
sieht in der allmählichen Verbreitung der sage untertreibt; sein Anteil an der unmittel-
neuen Physik jener Zeit einen Umschwung, baren Formulierung des englischen Textes war
der die Chance einer Revolution leichtfertig »erheblicher […], als seine Selbstbeschrei-
vergibt. Dieser Umschwung würde der Kirche bung des Arbeitsprozesses glauben gemacht
einen geordneten Rückzug sichern und ihre hat«: »Umfangreiche Einfügungen und Bear-
Macht mehr oder weniger behaupten helfen. beitungsspuren von Brechts und Laughtons
Zudem seien die Wissenschaften niemals wie- Hand bezeugen die intensive Kooperation, die,
der dem Volk so nahe gewesen (vgl. S. 240). Im nach dem Urteil Brechts, ›die klassische in der
Scheitern Galileis sieht er mithin ein Verbre- Profession, Stückschreiber und Schauspieler‹
chen, das er als »Erbsünde der modernen Na- gewesen war.« (Wizisla 1994) Zum Teil traf
turwissenschaften« begreift, wobei die Atom- Laughton selbst umfangreiche Arrangements
bombe als »klassisches Endprodukt« (ebd.) für einzelne Bilder, wie etwa exemplarisch am
dieses Versagens zu sehen sei. Die Atombombe Beispiel der »Plagiatszene« gesehen werden
sei insofern »die letzte Frucht der Bewegungs- kann (GBA 25, S. 26 f.). Die Beschränkungen
gesetze des Galilei« (GBA 25, S. 22). In diesem der amerikanischen Fassung hat B. gleichwohl
Sinn wird auch in der dritten Fassung das feinsinnig angedeutet: »Die amerikanische
Werk, das Galilei durch Andrea über die Bühne vermeidet Reden […]. [Diese] bedeu-
Grenze bringen lässt, den Verrat nicht auf- ten ihr einfach einen Stillstand der Handlung«
wiegen können (vgl. GBA 24, S. 248). B. führt (GBA 25, S. 18). Tatsächlich wirkt diese Fas-
weiter aus: »Die Bourgeoisie isoliert im Be- sung in vielen Passagen geraffter und noch
wußtsein des Wissenschaftlers die Wissen- stärker vereinfacht. Dazu tragen auch die ein-
schaft, stellt sie als autarke Insel hin, um sie gefügten Songs bei. Die Folge ist eine we-
praktisch mit ihrer Politik, ihrer Wirtschaft, sentliche, perspektivische Verkürzung, wenn
ihrer Ideologie verflechten zu können. Das es um die Explikation der im Vergleich zur
Ziel des Forschers ist ›reine‹ Forschung, das ersten Fassung ohnehin modifizierten Grund-
Produkt der Forschung ist weniger rein. Die problematik geht.
Formel E = mc 2 ist ewig gedacht, an nichts
gebunden. So können andere die Bindungen
vornehmen: die Stadt Hiroshima ist plötzlich
sehr kurzlebig geworden. Die Wissenschaftler Vieldeutigkeiten und Ambivalenzen
nehmen für sich in Anspruch die Unverant-
wortlichkeit der Maschinen.« (S. 252)
Die gemeinsame Erarbeitung der zweiten Trotz der vielen gelungenen Passagen im
Fassung mit Laughton konfrontierte B. mit Schauspiel, das in seiner dritten Fassung
neuen Problemen, die sich freilich positiv schon längst zur Schullektüre geworden ist,
wenden ließen. Laughton spielte auf den Pro- und des uns heute so sympathischen Engage-
ben das von B. Vorgespielte in einer eigenen ments für gesellschaftsrelevante Probleme der
Variation nach, wie im Modellbuch der In- Zeit, und auch ungeachtet der Tatsache, dass
szenierung Aufbau einer Rolle. Laughtons Ga- die Schlussfolgerungen aus diesem wesentlich
lilei von B. dokumentiert ist: »Der mißliche politischen Engagement zweifellos überwie-
Vieldeutigkeiten und Ambivalenzen 365

gend korrekt sind, kann eine einschränkende S. 91). Wizisla führt weiter aus: »Während
Kritik dieses Werks jedoch nicht unterbleiben. Brecht meinte, den faschistischen ›Fälschun-
Das ist nicht einer Unterschätzung der poeti- gen‹ der Kultur könne man nur mit erprobten,
schen Lizenz geschuldet oder dem heutigen, wissenschaftlichen Mitteln begegnen, sah
historisch bedingten Abstand dem Stück ge- Bloch gerade im Überschreiten herkömmli-
genüber, namentlich nach der Auflösung des cher Methoden neue Möglichkeiten, das Ver-
ehemaligen Ostblocks und insbesondere der gangene vor dem Mißbrauch zu schützen.«
DDR. Man kann es sich aber nicht so einfach (S. 93) Eine Einigung über die Konzeption der
machen, wie Paul Kroker, der allzu großzügig Zeitschrift ist dabei nicht zustande gekommen
über einen kritischen Anspruch hinweggeht, (wie die Zeitschrift selbst auch), aber noch in
wenn er schreibt: »Dabei wollen wir uns nicht seinem Empfehlungsschreiben an die Akade-
aufhalten bei den vielfach monierten Abwei- mie der Künste in Berlin (DDR) von 1955, in
chungen des dramatischen vom historischen dem er Bloch als Ordentliches Mitglied emp-
Galilei, die schließlich sowohl durch die fiehlt, nimmt B. gerade auf das Wissenschafts-
Brechtsche Verfremdungsabsicht als auch ge- konzept Bezug und spricht davon, man müsse
nerell durch die Literarizität des Textes abge- in den Künsten ein neues Verhältnis zu den
deckt sind.« (Kroker, S. 107) Das hieße allzu Wissenschaften eingehen. B. nimmt für sich in
sehr, das Projekt B.s nicht am eigenen An- Anspruch, die Kunst wissenschaftlich betrie-
spruch zu messen. Denn Wissenschaft und ben zu haben. Und er gesteht Bloch zu, seiner-
Wissenschaftlichkeit sind ja nicht von unge- seits die Wissenschaft künstlerisch zu betrei-
fähr das Thema B.s: Gemeint ist hiermit alle- ben (S. 99, S. 103). Ulrich Sautter hat gezeigt,
mal die sozialistische Bedeutung des Worts. dass dieser Wissenschaftsbezug bei B. von ent-
Dieser Umstand wird von Kroker selbst her- scheidender Relevanz ist. Einerseits geht es B.
vorgehoben: »Daß im Galilei die Begriffe der in diesem Zusammenhang (wie übrigens auch
Wahrheit, Vernunft und der Wissenschaft (von Bloch in seinem Buch Die Erbschaft dieser
der Natur) in ihrer marxistisch-leninistischen Zeit, 1935) darum, »die Mängel unserer Spra-
Auslegung als der einzig richtigen Wissen- che im Kampf gegen den Faschismus« aufzu-
schaft von der Gesellschaft bzw. als verinner- decken, wie auch ein fragmentarischer Traktat
lichtes revolutionäres, proletarisches Bewußt- B.s heißt (Sautter, S. 687). Insofern versteht
sein zu verstehen sind, ist eine notwendige sich auch der Galilei als ein »Gegenentwurf zu
Prämisse zu einer kohärenten Analyse des Mo- einer Zeit der Barbarei, der [B.] nicht das
nologs der 14. Szene. […] Demzufolge war semantische Feld überlassen will« (Heeg,
wissenschaftlich nur die eigene Weltanschau- S. 151). Andererseits kann für B. jene »Iso-
ung, folgerichtig wissenschaftlicher Sozialis- morphie der Arbeitsgebiete«, die er explizit
mus genannt, dessen Faszinationskraft für gerade zwischen den Naturwissenschaften und
Intellektuelle gerade in der ihm eigenen son- der Dramaturgie aufzuweisen unternimmt,
derbaren Mischung aus Wissenschaft und noch weitergeführt werden: »Ähnlich wie in
Theologie besteht.« (S. 110) Eben dies ist der der Quantenmechanik die Interaktionsweise
Fall. Jedoch ergibt sich daraus eine ganz an- von Quantenphänomenen nicht mehr durch-
dere Schlussfolgerung: Erdmut Wizisla be- gängig unter Rekurs auf den klassischen Teil-
richtet über eine Sitzung im Berlin von 1930, chenbegriff beschreibbar ist, so ist für B.s Dra-
auf der die Konzeption der bei Rowohlt ge- mentheorie der deterministische Entwurf des
planten Zeitschrift Krise und Kritik bespro- Plots unter Rückgriff auf in ihrer Kausalrele-
chen werden sollte und an der unter anderen vanz streng fixierbare Charaktere obsolet.«
B. und Ernst Bloch teilnahmen. B. schlug das (Sautter, S. 703) Im Einzelnen kann Sautter
Thema »Wie wird denn überhaupt wissen- dafür bei B. eine unmittelbare Aufnahme von
schaftlich gedacht?« vor, Bloch erwiderte da- Gedanken Kurt Lewins ebenso nachweisen
rauf, dass in den verschiedenen Wissenschaf- wie von Gedanken Hans Reichenbachs, der
ten verschieden gedacht werde (Wizisla 1990, übrigens bereits 1941 Kenntnis vom Galilei
hatte (S. 691 f.).
366 Leben des Galilei

In seinen »Kommentaren zu Leben des Gali- ständig korrekt ein, zum anderen hatte er
lei« weist zudem Rudi Thiessen noch auf einen selbst Schwierigkeiten damit, sich von schola-
interessanten Umstand hin: »In der Ge- stischen Denkvorgaben abzulösen. Die Mathe-
schichte der Wissenschaft jedenfalls geht die matik erscheint hier als eine neue Sprache, in
Idee des naturwissenschaftlichen und techni- der das ›Buch der Natur‹ geschrieben ist und
schen Fortschritts ein stabiles Bündnis mit mit deren Hilfe es entziffert werden kann. So-
dem gesunden Menschenverstand ein, wäh- gar das Heilige Officium hätte die, wie Blu-
rend B. einiges der philosophischen Tradition menberg sagt, »Kopernikanismen« Galileis
zu verdanken hat, die im Namen der Wesens- hingenommen, hätte dieser akzeptiert, dass
logik und der Dialektik entschieden gegen die die mathematischen Modelle der Astronomie
Borniertheiten des gesunden Menschenver- von lediglich hypothetischem Charakter sind
standes kämpfte.« (Thiessen, Nr. 5) Es ist ge- (Blumenberg 1986, S. 71). In diesem Zusam-
rade der Galilei aller drei Fassungen, dem man menhang aber irrt sich Galilei: Es reicht ge-
diese Tradition durchaus anmerkt. Damit aber rade nicht aus, zunächst die Zeichen zu lernen
wird er als Figur (zumindest mit der ersten und die Sprache zu verstehen: »Der faktische
Fassung konform) doch wieder erheblich ge- Verlauf ist, daß der Leser nicht bei seiner ur-
stärkt und die ihm ohnehin entgegengebrachte sprünglichen Interpretation der Sprache blei-
Sympathie wird auf diese Weise theoretisch ben kann, wenn er im Verständnis […] vor-
fundiert. Wenn aber somit die Wissenschaft- anschreitet, sondern ständig Rückschlüsse auf
lichkeit in diesem Sinn zur Berufungsinstanz Teile der Grammatik ziehen muß, die er bis
wird, kann die poetische Lizenz nicht über dahin auf sich beruhen ließ.« (S. 75) Insofern
Gebühr in Anspruch genommen werden. Mit- begibt sich Galilei der Gelegenheit zu einer
hin stellt sich die Problematik Galileis eher vollständigen Neufassung des wissenschaftli-
dar, wie sie in der ersten Fassung des Schau- chen Weltbilds. Somit ist seine im Stück her-
spiels auch primär angedacht worden war: Es vorgehobene Euphorie sicherlich in mehrfa-
geht vor allem um den aufklärerischen Impe- cher Hinsicht übereilt (White, S. 54 f.; vgl.
tus der neuzeitlichen Wissenschaft, der ihr Knopf 1978). Andererseits sieht er sich gar
Verbot durch die Inquisition überhaupt erst nicht im Widerspruch zum herrschenden theo-
provoziert. White hat diese Sichtweise für die logischen oder gar politischen System. Denn
erste Fassung klar hervorgehoben, wenn er auf bei Galilei findet sich keine Spur für eine sym-
die von B. selbst erwähnte Erwartungshaltung bolische Intention mit ausgreifendem Prinzi-
eines scheinbar unaufhaltsamen Vormarsches piencharakter, wie Blumenberg schlüssig ge-
des Faschismus im Jahre 1938 verweist und die zeigt hat. Dieser äußert sich zum Widerruf
ursprüngliche Motivation für eine Beschäfti- Galileis mit dem bedeutenden Satz: »Denn für
gung mit dem Galilei-Stoff an das ›Jubiläum‹ die Wahrheit zu sterben, dürfte auch die er-
von 1933 knüpft. In diesem Zusammenhang füllteste Evidenz eines naturwissenschaftli-
zitiert er auch Christian Møller, jenen däni- chen Satzes nicht ernstlich rechtfertigen kön-
schen Physiker, den B. bei der Erarbeitung der nen.« (Blumenberg 1981, S. 453) Und er führt
ersten Fassung konsultierte: »Brecht sah eine weiter aus: »Es sei denn, es würde dies im-
Analogie zwischen Inquisition und National- plicite für einen ganz anderen Satz, wie im
sozialismus« (White, S. 11 f.). Eben das aber Falle Brunos, ertragen oder substitutionell für
bezeichnet das Grundproblem auch des histo- das Prinzip, überhaupt Sätze solcher wie an-
rischen Galilei. Es geht um das konkrete derer Art offen und ungestraft vertreten zu
Denkverbot, wenn auch in nuancierter Gestalt. können. Von diesem Bewußtsein, das eine der
Zudem stand das Grundproblem Galileis im- Intention nach für ein anderes zu tun, findet
mer schon unter zwei eigenen Irrtümern, ei- sich bei Galilei keine Spur.« (Ebd.)
nem technischen und einem inhaltlichen: Zum Im Grunde hat Galilei der Wahrheit ihre
einen schätzte Galilei die Rolle der Mathema- Schwäche nicht verziehen. Schon im Dialogo
tik in der modernen Wissenschaft nicht voll- sagt Simplicio nicht ohne Zynismus, es müsse
Vieldeutigkeiten und Ambivalenzen 367

doch seltsam mit der Wahrheit beschaffen Weltsysteme, sondern darum, »in der kosmo-
sein, wenn sie nicht so viel Licht ausstrahlte, logischen Korrektur einen bis dahin unerhör-
dass sie aus der Dunkelheit der sie umgeben- ten Anspruch auf Wahrheit, auf eine der gött-
den Irrtümer klar hervorträte (Blumenberg lichen äquivalenten Welterkenntnis zum Aus-
1981, S. 454 f.). Galilei verzeiht der Wahrheit druck zu bringen« (S. 489). Alle anderen
nicht ihre Schwäche, und er verzeiht nicht Dinge, blankes Unverständnis Barberinis wie
Kepler, dass dieser ihm die Macht der Wahr- dessen persönliche Kränkung durch einen for-
heit vorhält. Hierin liegt jedoch zugleich Gali- malen Bezug zum Simplicio des Dialogo,
leis zweiter Irrtum begründet, denn seine am- scheiden als Begründung des Lehr- und For-
bivalente Haltung Kepler gegenüber leitet sich schungsverbots für Galilei aus. Die Strategie
aus einem eigenen Missverständnis ab, das des Officiums ist letztlich die folgende: Die
selbst auf einer signifikanten Differenz in der Auflage, von der kopernikanischen Theorie als
physikalischen Herangehensweise beruht: Ga- einer Hypothese zu sprechen, bedeutet, »daß
lilei lehnt den Kepler‘schen Gedanken einer auch die vermeintlich besten Beweise für sie
Fernwirkung zugunsten einer wesentlich me- nur von hypothetischer Vorbehaltlichkeit sein
chanischen Grundvorstellung ab und begibt können, weil alles Wissen von der Natur mit
sich dadurch der tieferen Einsicht in die Kraft den Eigenwegen der Gottheit rechnen muß«
des neuen Weltsystems. Er vertraut allzu sehr (S. 492). Hierin liegt also im Kern die Unver-
der momentanen Evidenz, übersieht aber die einbarkeit zwischen dem scholastischen Den-
Möglichkeit, aus seinen Beobachtungen der ken des Mittelalters und dem neuen Anspruch
Jupiter-Monde die Kepler‘schen Gesetze der wissenschaftlichen Naturerklärung be-
selbst ableiten zu können, um dann die Mond- gründet: Es ist die »Allmachtsklausel«, wie sie
Konfigurationen für beliebige Zeitpunkte vor- Blumenberg nennt (S. 493): »Für den Theo-
herzusagen. Erst dann nämlich wäre der von logen Barberini ist Gott ein Faktor der Un-
ihm geforderte Blick durch das Fernrohr wirk- sicherheit, die sich nur deshalb oder gerade
lich evident gewesen (vgl. S. 455, S. 458). An- deshalb ertragen läßt, weil er dem Menschen
ders gesagt: Galilei ist immer noch dem klassi- eine einzige, aber heilsbringende Sicherheit in
schen, scholastischen Denken verhaftet, mehr Gestalt seiner Offenbarung angeboten hat und
als er selbst anzuerkennen bereit ist. Galilei ihm die Unausweichlichkeit dieses Angebots
macht eine Astronomie, welche auf einer Erd- in dem theologischen Vorbehalt der Boden-
physik beruht, nicht, wie Kepler, eine Physik losigkeit jedes selbstmächtigen theoretischen
der astronomischen Dynamik, welche die Erd- Sicherungswillens bewußt werden läßt.«
physik als Spezialfall mit umgreift. Dadurch (S. 495).
entgeht Galilei der Umstand, dass der mensch- Eben diese Problematik unterscheidet das
liche Erfahrungsbereich immer nur sehr klein Erkenntnisinteresse und auch das Verfahren
ist, so dass eine »terrestrische Standardisie- Galileis von jenem Brunos. Denn bei dem
rung unser Erfahrung« ein Hindernis auf dem Letzteren geht es um etwas ganz anderes:
Weg zur Erfassung einer Physik des Univer- Zwar stützt auch Bruno seine Einsichten auf
sums darstellen muss (S. 499). Nicht ohne Iro- kopernikanische Überlegungen, aber bei ihm
nie kann hierbei bemerkt werden, dass es ge- münden sie in das Modell eines unendlichen
rade eine solche Einsicht gewesen wäre, wel- Universums, das viele erdähnliche Welten um-
che Galilei vor seinem Grundproblem hätte fasst, durch dessen Schöpfung Gott sich immer
bewahren können, denn die Inquisition wäre schon vollständig erschöpft hat, eine Qualität,
mit einer systematischen Selbstbeschränkung welche die scholastische Orthodoxie nur Chri-
der wissenschaftlichen Methode, basierend stus zugestand. Insofern war das Grundpro-
auf der begrenzten Wahrnehmungskapazität blem Brunos letztlich ein »binnentheologi-
des Menschen, vermutlich zufrieden gewesen. sches« und berührte nicht die Konfrontation
Tatsächlich geht es doch im Konflikt mit der mit einer aufstrebenden, neuzeitlichen Wis-
Inquisition gar nicht um die Ablösung der senschaft, der Bruno selbst im Übrigen kri-
368 Leben des Galilei

tisch gegenüberstand. Streng genommen, seits (vgl. König) mit einem anderen Aspekt
kann man den späteren Ansatz der Philosophie vermischt, wie er von Max Horkheimer und
Spinozas als einen Versuch interpretieren, Theodor W. Adorno als Dialektik der Aufklä-
beide Positionen zu einem stringenten System rung umfassend diskutiert worden ist. Dieser
zusammenzuführen (Zimmermann 1999, letztere aber (vgl. dagegen Kroker, S. 109)
2000, 2001). Und in diesem Unterschied der kann nicht einer sein, der Galilei umtreibt.
Grundprobleme liegt auch der Umstand be- Wie auch White ausführt (White, S. 30), be-
gründet, dass Galileis Leben im Gegensatz zu rührt die in der zweiten und dritten Fassung
jenem Brunos vermutlich niemals ernsthaft erweiterte Selbstanklage Galileis nicht wirk-
bedroht war. Natürlich kommt auch die Tat- lich den Kern des tatsächlichen Galileischen
sache hinzu, dass Galilei über eine eigene Problems. B. lässt seinen Galilei im Monolog
›Fraktion‹ im Vatikan verfügte und zudem in- sagen: »ich überlieferte mein Wissen den
ternational bekannt und geschätzt war, was Machthabern, es zu gebrauchen, es nicht zu
beides auf Bruno nicht zutraf. Insofern wäre gebrauchen, es zu mißbrauchen, ganz wie es
der Erstere in Padua, das heißt, in der Repu- ihren Zwecken diente« (GBA 5, S. 284; »I sur-
blik Venedig, wohl tatsächlich unangetastet rendered my knowledge to the powers that be,
geblieben, während der Letztere auch von Ve- to use it, abuse it, just as it suits their ends«;
nedig aus der Inquisition ausgeliefert wurde. S. 180).
In der ersten Fassung noch stützt Galilei
dagegen die Selbstanklage allein darauf, nicht
zureichend für die Vernunft eingetreten zu
Engagement und Verrat sein (GBA 5, S. 102). Und das ist nichts weiter
als korrekt, denn schließlich muss Galilei kei-
neswegs befürchten, dass seine Kenntnisse
Zum einen scheint somit die Problemstellung missbraucht würden. Sie werden stattdessen
des Schauspiels in der zweiten und dritten ignoriert und verschwiegen. Wie es White
Fassung am tatsächlichen Thema Galileis auch vorschlägt, kann Galilei allenfalls vorge-
deutlich vorbeizugehen. Die Stoßrichtung des worfen werden, seine Sache nicht mit dem
gewählten Paradigmas erscheint mithin gebotenen Engagement verteidigt zu haben.
gleichfalls, offenbar den aktuellen Eindrücken Der zugleich nahe liegende, darüber hinaus-
historischer Umstände geschuldet, welchen B. gehende Vorwurf, unerwünschte Kenntnisse
selbst unterlag, wesentlich verfehlt. Denn an- unterdrückt zu haben, bis hin zum Bestreiten
scheinend gibt es einen Konsens in der B.- beweisbarer Wahrheiten, trifft schon nicht
Interpretation (vgl. GBA 5, S. 342), welcher mehr Galilei, sondern doch eher die Inquisi-
darauf deutet, dass es B.s explizite Absicht tion als herrschenden Apparat (White, S. 30).
war, den Galilei der zweiten und dritten Fas- Was freilich das verbleibende Engagement an-
sung nicht durch die Möglichkeit, den Wider- geht, muss die Argumentation dann wieder auf
ruf als einen taktischen aufzufassen, zu ent- das zurückgehen, was bereits durch Blumen-
lasten. Es gibt hierzu zahlreiche Verweise, die berg schlüssig dargelegt worden ist.
bis hin zu einer expliziten Parallelisierung des Im Übrigen erscheint die allgemeine Pro-
Monologs in Bild 14 mit der Konfession Nico- blematik des ›aufrechten Ganges‹, der nicht
lai Iwanowitsch Bucharins reichen (vgl. Kro- nur für Wissenschaftler gültig ist (White,
ker, S. 105). Verschiedentlich wird auch der S. 17), keineswegs vollständig abgearbeitet.
»Klassenverrat« Galileis als B.s eigener aufge- Jan Robert Bloch hat dazu ausgeführt: »Wie
fasst (S. 108). Dabei erscheinen aber die bei- aber, wenn befohlen wird: ›Angeklagter, erhe-
den hauptsächlichen Problemkreise, nämlich ben Sie sich!‹? […] nach den Hochverratspro-
das Engagement für die Aufklärung einerseits zessen in Moskau oder Prag vermag ich nicht,
und die Rolle der etablierten Wissenschaftler den aufrechten Gang als ethische Grundbe-
als Mitglieder der »Mittelklassen« anderer- stimmung widerspruchslos anzuerkennen und
Engagement und Verrat 369

der ungebrochenen Einfachheit des morali- mehr als eine rezeptive Gemeinsamkeit zwi-
schen Postulats zu folgen. Der aufrechte Gang schen B. und Bloch (vgl. Vidal 1999; Knopf
bleibt die revolutionäre Würde und Haltung 1997). Später, im Prinzip Hoffnung, heißt es
der Unterdrückten; seiner kann indessen nicht freilich anders, und die Blochschen Darlegun-
mehr im reinen Horizont einer unbefleckten gen am Beispiel Campanellas kommen der oft-
sozialistischen Moral gedacht werden: zu sei- mals bemühten Parallele von Bucharin-Galilei
ner Geschichte gehört die Erniedrigung und schon sehr nahe: »Der schuldig Befundene
Beleidigung, die Demütigung und Unterwer- muß sich […] mit dem Kläger und dem Zeugen
fung Aufrechter, gehört die Vernichtung der versöhnen, indem er ihnen, gleichsam als den
Menschenwürde« (J. R. Bloch, S. 75). In die- Ärzten seiner Krankheit, den Kuß und die Um-
sem Sinn konkurriert die in sozialistischer armung gibt. Überdies wird das Todesurteil
Wissenschaftlichkeit immer schon unterstellte […] an keinem Verurteilten vollzogen, als bis
Sozialutopie mit dem praktisch umsetzbaren dieser selbst durch überlegene Gründe zur
Naturrecht, wie es einst Ernst Bloch diskutiert Überzeugung gelangt ist, es sei nötig, daß er
hat: »Die Sozialutopie ging auf menschliches sterbe« (E. Bloch 1959, S. 612). Das entspricht
Glück, das Naturrecht auf menschliche dem, was Galilei in allen drei Fassungen sagt:
Würde. Die Sozialutopie malte Verhältnisse »Unglücklich das Land, das [solche] Helden
voraus, in denen die Mühseligen und Bela- nötig hat.« (GBA 5, S. 93, vgl. S. 173, S. 274)
denen aufhören, das Naturrecht konstruierte
Verhältnisse, in denen die Erniedrigten und
Beleidigten aufhören.« (E. Bloch 1961, S. 13)
In dem Auseinanderklaffen beider kann nicht Historisierung im epischen Theater
ausgeschlossen werden, dass jene Metamor-
phose der Ohnmächtigen, der sie unterlagen,
nachdem sie mächtig geworden waren, zusam- Vor dem Hintergrund des hier Ausgeführten
menfällt mit der Verwandlung des aufrechten gibt es eine eigentümliche, durchaus gegen-
Gangs von einer solidarischen Haltung von un- läufige Verschränkung der Argumentations-
ten zu einem gesetzlosen Imperativ von oben gänge: Auf der einen Seite scheint die These
(vgl. J. R. Bloch, S. 77). Auch Jan Robert Bloch B.s unhaltbar, dass mangelndes Engagement
bezieht den B.schen Galilei mit in die Diskus- eines Renaissance-Wissenschaftlers gegen
sion ein: Er sieht gerade auch dort, ganz be- anti-aufklärerische Unterdrückung unmittel-
zeichnend freilich in der ersten Fassung allein, bar auf eine künftige Entwicklung zur herr-
eine Haltung B.s, die, im Sinn Maos gespro- schaftsbestimmten Instrumentalisierung der
chen, eher auf »Bambus« zielt, weniger auf Wissenschaft hin verweist, wie sie im Einsatz
»Eiche« (S. 78 f.), und kommt zu dem Schluss: atomarer Superwaffen ihren vorläufigen Hö-
»Derart nahe liegen Aufrechtgehen und Beu- hepunkt erreicht hatte. Diese These, die im
gen und Verbeugen […], derart rasch neigen Kern die zweite und dritte Fassung bestimmt,
sich die unbeugsamen Aufrechten vor den scheitert bereits an dem folgenden Umstand:
rechtbeugenden Berijas, daß Recht und Un- dass nämlich die Wissenschaftler der frühen
recht, Opfer und Täter, Unterdrückte und Un- Neuzeit sich in mehrfacher Hinsicht erheblich
terdrücker die moralischen Orte wechseln.« von heutigen Wissenschaftlern unterschieden,
(S. 79) Oder wie es in den Spuren heißt: »Im vor allem, was ihren polyhistorischen Genera-
citoyen steckte der bourgeois: gnade uns Gott, lismus angeht, ihr Bemühen um einen philo-
was im Genossen steckt.« (E. Bloch 1969, sophisch fundierten Argumentationshorizont,
S. 30) Aber die Pointe ist hier, dass auch Ernst einen ethischen Anspruch mit inbegriffen, und
Bloch diesen Satz nur zitiert, um ihn abweisen die Abwesenheit einer genauen Differenzie-
zu können, denn die Spuren sind noch vom rung von rationalen und hermetischen Theo-
Erwachen in stalinistischer und späterer Pra- rieelementen (Dülmen, S. 302). Sie scheitert
xis unbelastet. Es scheint, als gäbe es hier aber auch an einem anderen Umstand, der am
370 Leben des Galilei

Abweis einer Voraussetzung Edmund Husserls Deutscher; Weber; Schumacher; W. Zimmer-


durch Blumenberg erläutert werden kann: So mann). Insofern wäre die erste Fassung unter
hatte Husserl Galilei vorgeworfen, er habe die dem Aspekt sozialistischer Wissenschaftlich-
Erkenntnis von Wissenschaft zu bloßer Tech- keit durchaus konsistent strukturiert, weniger
nik entarten lassen und dabei die Anschauung aber würde dies für die beiden folgenden Fas-
der Natur durch deren Beherrschung, das sungen gelten. Anders gesagt: Die erste Fas-
heißt die theoretische Grundhaltung der Natur sung trägt vollständig ihrer eigenen Motiva-
gegenüber durch ihre funktionale Dienstbar- tion Rechnung und kann in der Tat auf eine
machung ersetzt. Auf diese Weise vergesse die institutionelle Parallelisierung von Nazi-Re-
neuzeitliche Naturwissenschaft das Sinnfun- gime und Stalinismus, ausgedrückt durch die
dament theoretisch begründeter Prozessuali- Inquisition – immerhin insofern weit mehr als
tät in der Anschaulichkeit der Lebenswelt eine bloße Metapher –, bezogen werden. Die
(Blumenberg 1981, S. 470). Ausgehend von beiden folgenden Fassungen verlassen diese
der Prämisse, dass Ethik ist, zu wissen, was Konzeption. Ihre Neuwendung jedoch wäre ei-
man tut, führe mithin der Mangel an Grund- nem Oppenheimer-Stück eher angemessen ge-
lagenwissen zu einem Mangel an Verantwor- wesen, das Heiner Kipphardt 1964 schließlich
tung (S. 472). Blumenberg weist diesen Vor- auch herausgebracht hat und das auf andere
wurf zurück und legt dar, dass es vielmehr Personen bezogen kürzlich von Michael Frayn,
gerade die Bindung an die Anschaulichkeit ist, nämlich in dem Stück Kopenhagen (1999),
welche die Erkenntnis Galileis in Frage stellt gleichsam paraphrasiert worden ist.
und problematisch werden lässt. Hieraus folgt Diese Diskrepanz zwischen der ersten Fas-
auch sein bereits erwähntes physikalisches sung und den beiden übrigen Fassungen hat
Missverständnis, das ihn hinter die Einsichten erhebliche Konsequenzen für die Ausgestal-
Keplers zurückfallen lässt. Dadurch aber ge- tung des Schauspiels, gemessen an den Vor-
rade steht Galilei letztlich der Naturauffassung gaben von B.s eigener Theorie des epischen
Goethes näher als jener Newtons (S. 473 f.). Theaters: Es versteht sich von selbst, dass die
Auf der anderen Seite jedoch kann gerade marxistische Perspektive der Politik vom Werk
die in B.s Galilei konstatierte stalinistische nicht getrennt werden kann (vgl. White,
Konnotation (Kroker, S. 105; White, S. 23 f.) S. 10). Aber die Technik der Historisierung
dazu genutzt werden, auf jene Verknüpfung verlangt eher nach Strenge und eröffnet we-
von ›linker Erkenntnistheorie‹ und ›rechter niger einen weiten Spielraum der situativen
Ethik‹ aufmerksam zu werden, die Jan Robert Manipulation. Eben diese hat B. aber für die
Bloch in seinem Aufsatz am Beispiel von Georg zweite und dritte Fassung vornehmen, im Ver-
Lukács und Ernst Bloch diskutiert hat: Es gleich zur ersten Fassung zumindest verstärkt
handle sich hierbei um eine »Besetzung des einsetzen müssen. Das zeigt sich vor allem in
linken Feldes mit den verschütteten Erbbil- der sicherlich unzutreffenden Stützung des
dern einer kommunistischen Zukunft zu La- Wechsels von Galilei nach Florenz auf öko-
sten des analytischen Bezirks der Linken« nomische Gründe. Tatsächlich hat er in Flo-
(J. R. Bloch, S. 89). Das heißt, die hieraus ab- renz durchaus weniger verdient (vgl. White,
lesbare und auf einen kritischen Umschlag der S. 33; Hemleben, S. 52). Das zeigt sich gleich-
Aufklärung in Mythos – wie in der Dialektik falls in den Bemühungen, Galilei als Genuss-
der Ersteren durch Horkheimer und Adorno mensch aufzubauen (White, S. 45), als fahr-
thematisiert – zielende Rationalitätskritik lässigen Vater, dessen Tochter schließlich für
wäre mit jener, schon von Hannah Arendt, die Inquisition Spitzeldienste leistet (White,
Isaac Deutscher, Betty Nance Weber sowie in S. 38; vgl. GBA 5, S. 94) – ungeachtet der Tat-
der DDR von Ernst Schumacher und in der sache, dass das Verhältnis Galileis zu seinen
BRD von Werner Zimmermann diskutierten insgesamt drei Kindern wesentlich differen-
Parallele von Naziregime und stalinistischer zierter zu sehen ist – und ihn dazu noch hoch-
Herrschaft durchaus kompatibel (Arendt; mütig (oder kurzsichtig) über das Solidaritäts-
Historisierung im epischen Theater 371

angebot der oberitalienischen Städte hinweg- Modells«, welche die Bühne zu einem Ent-
gehen zu lassen (vgl. White, S. 35). Man kann scheidungslabor macht (Gellert/Koch, S. 156),
hieran deutlich erkennen, dass es sich bei die- mit den Mitteln der explizierten Parabel und
sen strukturellen Residuen des Stücks nicht des Paradigmas (White, S. 17 f.). Ernst Bloch
um Produkte der poetischen Lizenz handeln hatte bereits diese Aspekte hervorgehoben und
kann oder der Verfremdungstechnik, wie oft- die B.schen Werkgebilde mit Experimenten
mals behauptet wird. Vielmehr sind sie ein verglichen: B. erstrebe einen »Leninismus an
unmittelbarer Ausdruck eines mit der Grund- Situationen […] in dem Sinne, daß […] Thea-
konzeption nicht kompatiblen Wandels der ter ein Studio wird für jeweilige ›Theorie‹ an
Problemstellung. Allenfalls die sichtliche jeweiliger ›Praxis‹« (E. Bloch 1962, S. 247;
Übertreibung der öffentlichen Resonanz auf vgl. E. Bloch 1959, S. 482 f.; vgl. Vidal 1994,
die Lehre Galileis, welche, historisch gese- S. 132). Es gab gleichwohl immer auch war-
hen, tatsächlich weder darauf ausging, revolu- nende Stimmen. Abgesehen von Arnold Hau-
tionäre Handlungsprogramme bereitzustellen, ser in neuerer Zeit, welcher – freilich aus der
noch unter dem »Volk« so weit wie möglich Sicht der ästhetischen Theorie von Lukács (zur
verbreitet zu werden, kann der poetischen Li- Abgrenzung B.s und Blochs gegen Lukács in
zenz zugerechnet werden, um das Moment des Hinsicht auf diesen Aspekt vgl. Zeilinger,
gesellschaftlichen Engagements hervorzuhe- S. 26–37) – der Bühne B.s und Piscators nicht
ben (vgl. Dülmen, S. 306). mehr »Politizität« zubilligt, als sie die griechi-
Es kann freilich nicht bestritten werden, schen Dramatiker immer schon proponiert
dass die B.sche Aneignung von Geschichte hatten (Hauser, S. 237), erkannte bereits Jean
Elemente miteinander vereinigt, welche vor Paul Sartre etwa den Kern der epischen Kon-
allem auf die poetische Konzeption des epi- zeption durchaus an: »Die Katharsis hat heute
schen Theaters zurückgeführt werden können. einen anderen Namen: es [sic] ist das Bewußt-
Denn es geht nicht darum, Geschichte zu re- werden« (Sartre 1957, S. 53; vgl. Vidal 1994,
produzieren, sondern ›zu durchleuchten‹ (»to S. 141). Mit Blick auf den Galilei hebt er die
X-ray it«; White, S. 64 f.) Das ›Skelett‹ (»the Feindseligkeit hervor, der die Forschungen des
bone structure«) des historischen Prozesses Protagonisten ausgesetzt waren und ergänzt:
soll freigelegt werden: »thus the shape of the »So besteht Galileis Widerspruch darin, daß er
future to emerge from what appears to be a zugleich der Mensch ist, der die Wissenschaft
play about no more than a relatively contained vorantreibt, und auf Grund dieser Situation
period« (S. 65). Hierdurch wird verdeutlicht, auch der Mensch […], der sie verrät, […] der
dass zur Technik des epischen Theaters die sie verleugnet.« Sartre lokalisiert bei B. die
Glättung (»streamlining«), die ideologisch Intention, nicht auf die Schuld Galileis zu ver-
motivierte Auswahl (»selection«), die Polari- weisen, sondern vielmehr auf die Wider-
sierung (»polarization«) und die Erfindung sprüchlichkeit des Handelns. Es werde ge-
(»invention«) gehören (S. 66). Fraglich bleibt zeigt, »wie schließlich die Wissenschaft vom
allerdings, ob dieses Vorgehen imstande ist, Menschen verraten wird, weil der Mensch das
wesentliche, über bloße kontextuelle ›Begra- ist, was die Wissenschaft aus ihm macht; wenn
digungen‹ hinausgehende, Veränderungen der die Wissenschaft nicht auf dieser Stufe ge-
Struktur zu legitimieren, wie sie im Wechsel wesen wäre, […] wenn sie nicht unter dem
von der ersten Fassung des Galilei zu den bei- praktischen Einfluß von gewissen Leuten ge-
den übrigen, also primär zur amerikanischen standen hätte und wenn sie folglich eine abge-
Fassung, ersichtlich werden. Die Charakteri- trennte Disziplin gewesen wäre, hätte Galilei
stika des epischen Theaters sind oftmals be- nie an Verrat gedacht« (Sartre 1960, S. 100).
sprochen worden. Vor allem wird dabei zu- Somit sieht Sartre in B.s Stück die Möglich-
meist der experimentelle Aspekt betont: die keit, innere Widersprüche von Personen in-
epische Form als einer »durchgespielten Aus- mitten anderer Personen zu studieren. Er nutzt
probierung eines Handlungs-Lösungs-Praxis- diese Sicht aber dazu, ein dramatisches, ob-
372 Leben des Galilei

gleich nicht-bürgerliches, Theater dem epi- reiche Interpreten des Galilei deshalb entwe-
schen Theater B.s entgegenzusetzen – oder es der auf die erste Fassung allein rekurrieren
ihm zumindest als gleichberechtigte, gleich- oder die (zumeist) dritte Fassung ihrer thema-
falls gesellschaftskritische, Variante an die tischen Wendung entkleiden: Ganz selbstre-
Seite zu stellen. Es ist in diesem Zusammen- dend diskutiert White daher zu Beginn seiner
hang sehr interessant zu sehen, auf welche Schrift die Subversion Galileis, welche in der
Weise Sartre selbst der Berücksichtigung hi- Abfassung der Discorsi zum Ausdruck kommt.
storischer Realität in seinen eigenen Stücken Er nennt Galilei einen ›Widerstandskämpfer‹
Rechnung trägt. (»resistance-fighter«; S. 14) und erläutert die
Erhellend ist auch die Warnung Peter exemplarische Episode des Keunos (GBA 5,
Brooks, der die Intention B.s durchaus nicht S. 72 f.) aus dem Stück (White, S. 13 f.). Sartre
verkennt: »Brecht glaubte, wenn er die Zu- diskutiert im Kern die erste Fassung, obwohl
schauer dazu brächte, die einzelnen Züge ei- er die Aufführung des Berliner Ensembles am
ner Situation genau zu überdenken, diente das 4. 4. 1957 im Pariser Théatre des Nations ge-
Theater dem Zweck, die Zuschauer zu einem sehen hat. Auch Ernst Bloch rekurriert auf den
gerechteren Verständnis der Gesellschaft zu »taktischen« Aspekt des Abschwörens mit
bringen, in der sie leben, und ihnen auf diese Blick auf das noch ausstehende Werk der Dis-
Weise zu erklären, inwieweit diese Gesell- corsi (E. Bloch 1959, S. 482). Ein ›zweiter Sün-
schaft geändert werden könnte.« (Brook 1983, denfall der Physiker‹, auf einer Linie, die un-
S. 105) Zur Verfremdung erklärt er, diese mittelbar von Galilei zur Atombombe führt,
könne als Antithese funktionieren: »Parodie, wird eher selten festgestellt (White, S. 26).
Imitation, Kritik, die gesamte Skala der Rheto- Selbst Karl H. Ruppel sieht eher DDR-Kon-
rik steht ihr offen.« (Ebd.) Alle diese Mittel notationen im Stück, steht also in der Nähe zur
bedienen sich des konkreten, historischen Stalinismus-Auslegung (Ruppel, S. 821).
Ausgangspunkts, den sie doch auch in der Es gibt aber noch eine dritte Variante des
Technik der Historisierung als jenes Rohmate- Themas, auf die Wizisla hingewiesen hat:
rial respektieren, von dem als Vorfindlichem Ernst Bloch kündigte in einem Brief an B. vom
immer schon auszugehen ist (vgl. White, 10. 11. 1953, also etwa zu der Zeit, als B. im
S. 52). Somit ist das epische Theater in dem Gespräch mit Berlau, Hauptmann und Besson
Sinn publikumsorientiert, als es eine lineare seine Absicht erörterte, eine dritte Fassung des
Identifikation mit dem Protagonisten und ein Galilei zu entwickeln (White, S. 26), den Text
»kulinarisches Geschmacksurteil« (E. Bloch eines Theaterstücks an, das einer seiner Stu-
1959, S. 480) verhindert. Bloße Einfühlung denten, Hans Pfeiffer, verfasst hatte. B. sagte
wird abgewiesen, und selbst der Schauspieler in seiner Antwort vom 17. 1. 1954 eine Kon-
– im Gegensatz zur klassischen Definition taktaufnahme mit Pfeiffer zu (GBA Register-
Sartres, der den Schauspieler vom Komödian- band, S. 751), die aber dann unterblieben ist
ten absetzt (Sartre 1972, S. 137) – verschmilzt (Wizisla 1990, S. 95–105). Bei diesem Stück
nie ganz mit der Figur, welche er darstellt. mit dem Titel Nachtlogis handelt es sich um
Aber der historische Grund bleibt unveräußer- die Geschichte eines englischen Anatoms des
bar. Das epische Theater ist gerade deshalb vor 19. Jh.s, der verbrecherische Methoden an-
allem kritische Form; es ist als solche kein wendet, um das herrschende Sezierverbot zu
affirmatives Theater. Der Zuschauer soll sich umgehen. Pfeiffer sieht den Konflikt darin,
nicht in die Handlung hineinversetzen, son- »daß ein Wissenschaftler […], der […] dem
dern sich ihr gegenüber- und entgegenstellen Fortschritt der medizinischen Wissenschaft,
(White, S. 73). Allerdings ist der hier im Vor- damit also der Förderung der Humanität
liegenden thematisierte ›Problembruch‹ in diente, dieses Ziel nur durch die Schuld seiner
der Nachfolge der ersten Fassung von dieser Gesellschaft, nur durch inhumane Mittel er-
Konzeption nicht mit umgriffen. Es ist in die- reichen konnte« (S. 96). Er legt somit dar, auf
sem Zusammenhang verständlich, dass zahl- welche Weise eine Gesellschaft, die selbst auf
Historisierung im epischen Theater 373

dem Verbrechen aufgebaut ist, nämlich auf die Auswirkung alle Menschen.« (Dürrenmatt,
dem Raub der Arbeitskraft, notwendig Verbre- S. 92) Im letzten Fall schließlich geht es um
chen erzeugen muss. In seiner Antwort an das Erreichen der Wahrheit selbst, mit inhu-
Bloch weist B. darauf hin, dass er hierin eher manen Mitteln. In allen drei Fällen steht im-
einen »neuen Ödipus« erkennen würde als mer die Freiheit der Forschung im Mittel-
eine Kritik am Kapitalismus. Er wendet sich punkt, die stets nichts als ein Produkt gesell-
gegen die Übertragung der Tragik individuel- schaftlicher Randbedingungen ist und gegen
ler Schuld auf die Gesetze der Klassengesell- die Verantwortung des Forschers abgewogen
schaft (GBA Registerband, S. 751). Pfeiffer werden muss. Eine parsifalhafte Figur ist jener
selbst sieht in seinem Stück B.sche Konnota- Forscher, der von allen drei Möglichkeiten un-
tionen, indem sein Protagonist einem moder- berührt weiterforscht. Auf den ersten ›takti-
nen Parsifal gleicht, der ›von nichts weiß und schen‹ Galilei trifft dies nicht zu, denn der
Höheres anstrebt‹ (vgl. ebd.). Diese Haltung wäre einer, der dem ersten Fall entgegenge-
sei, wie er ausführt, Ursache zur Verübung und setzt die Wahrheit gerade dadurch verbreitet,
Duldung scheußlicher Verbrechen (ebd.). Die dass er dem Verbot scheinbar nachgibt. Auch
Argumentation B.s bleibt hier einigermaßen wenn die taktische Vorannahme auf den hi-
unklar: Denn ein Bezug zur Problematik des storischen Galilei nicht zutreffen sollte, so
Ödipus erscheint nicht unmittelbar einsichtig. wäre dieser doch erschöpfend durch den er-
Andererseits überträgt er selbst zwar nicht die sten Fall beschrieben und könnte in dieser
individuelle Tragik Galileis auf gesellschaft- Sicht als Paradigma des der Wahrheit entge-
liche Zusammenhänge, stellt sie aber als Para- genstrebenden Forschers betrachtet werden,
digma heraus und verknüpft sie auf diese der allen widrigen Umständen zum Trotz
Weise explizit mit der sozialen Phänomeno- seiner Wissenschaft einen entscheidenden
logie (durchaus in allen drei Fassungen). Es ist Dienst leistet, und sei es im äußersten Fall
nicht auszuschließen, dass B. die Arbeit an der auch nur, weil er den Ereignissen der Tages-
dritten Fassung auch im Blick darauf begann, politik wie ein Parsifal, also eher ›abwesend‹,
es ›besser‹ machen zu können als Pfeiffer. gegenübersteht. Eine solche Figur ist der Nazi-
Schließlich kann aber das, was Pfeiffer als diktatur ebenso wie der Stalindiktatur gegen-
›Brechtisch‹ in seinem Stück ausmacht, sehr übergestellt, als der Verlierer, der letztlich ge-
wohl auf die Problematik Galileis bezogen winnt, denn nur die Schriften überdauern, wie
werden. Recht eigentlich kann gerade das Par- Sartre in seiner Flaubert-Biographie mehrfach
sifalhafte in der Existenz Galileis als dessen bemerkt. Die mit den beiden anderen Fällen
wahre ›Schuld‹ und noch als allgemeinstes konform handelnden und sich unterordnen-
Charakteristikum so manchen modernen For- den Wissenschaftler gehören eher zu den Ge-
schers bis zum heutigen Tage begriffen wer- winnern, die letztlich verlieren. Das hat im
den. Die wechselseitige Verflechtung der drei Übrigen die Geschichte der letzten Jahrzehnte
verschiedenen Problemstellungen wird somit wiederholt gezeigt. Aber sie haben dann nichts
deutlich erkennbar: Im Falle des B.schen Gali- mit Galilei zu tun. Und auch die wissenschaft-
lei geht es um die Verbreitung der erkannten liche Grundhaltung muss sich zunächst einmal
Wahrheit, die unterdrückt wird, weil die gewandelt haben, vor allem muss von jenem
Wahrheit nicht erwünscht ist. Im Fall des mo- philosophischen und explizit ethischen Bezug
difizierten B.schen Galilei der zweiten und Abstand genommen worden sein, der die Wis-
dritten Fassung (= ›Oppenheimer‹) geht es um senschaftler der frühen Neuzeit noch entschei-
die Verweigerung der erkannten Wahrheit, da- dend geprägt hatte.
mit sie nicht zu inhumanen Zwecken instru- Brook hat kritisch abwägend, aber zu Recht,
mentalisiert werden kann. Über diesen Fall hat darauf verwiesen, dass alle diese Theaterele-
auch Dürrenmatt ausführlich gehandelt. Wie mente, auch durch Techniken aufbereitet, wel-
er im 16. Punkt zu den Physikern (1962) sagt: che der Historisierung ebenso nahe stehen wie
»Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, der Verfremdung, schon bei Shakespeare in
374 Leben des Galilei

Erscheinung getreten sind, der in diesem Sinn leicht ist diese Einsicht darüber hinaus im-
das Modell eines Theaters vorgestellt hat, »das stande dazu beizutragen, ein neues Verständ-
Brecht und Beckett einschließt, aber über nis für die strukturellen Diskontinuitäten im
beide hinausgeht« (Brook 1983, S. 124). Die Werk zu gewinnen (White, S. 76 f.; Dieck-
Stärke der B.schen Stücke liegt zweifellos in mann). Auf diese Weise wäre das dramatische
ihrer populären Zuspitzung und Verdichtung Modell einer Weltinterpretation, als welches
der Thematik, aber in eben dieser »Vereinfa- sich ein Theaterstück von Anfang an als eine
chung« als stärkstem Mittel der Darstellung Praxis, die selber Praxis abbildet, darbietet,
bei B. sieht Brook auch die Gefahr eines Miss- neuerlich einer theoretischen Grundlegung
verstehens: »die Gefahr, Brecht falsch zu ver- zugeführt, die aus systematischen Erwägungen
stehen, zeigt sich in einer vollkommen analyti- heraus auf eine unterliegende, insofern recht
schen, unspontanen, handlungsfeindlichen eigentlich konstitutive Dialektik verweist.
Annäherung an das Werk bei der Probe und in
der Annahme, man könne sich in aller Ge-
mütsruhe hinsetzen und die Ziele einer Szene
vom Verstand her definieren. Das Ziel einer Rezeption der Aufführungen
Szene, das Wesen einer Szene, muß über die
Probe gefunden werden. Zu dieser Suche ge-
hört immer ein ganzes Bündel von Mitteln Was die Aufnahme der verschiedenen Auffüh-
[…], dabei durchläuft man unvermeidlich ein rungen des Galilei seit den Uraufführungen
Stadium, in dem man keine Einfachheit, son- angeht, so ist vielleicht ihr interessantester
dern eine übergroße Materialfülle hat, die Aspekt der Umstand, dass ganz augenfällig ist,
dann allmählich abgebaut werden muß. An in welchem großen Ausmaß die diskussionsbe-
dem Punkt kommt Brechts Beharren auf kla- wegte Zeit der 60er-Jahre des 20. Jh.s mit je-
rem Denken ins Spiel.« (Brook 1989, S. 65 f.) ner aktuellen unserer Tage kontrastiert. Noch
Das heißt auch, dass es gerade jenes ›klare 1961 verhält sich die Kritik eher bedeckt: Der
Denken‹ ist, das der Gefahr der konzeptuellen Inszenierung unter der Regie von Friedrich
Verfehlung ausgesetzt ist, einfach, weil auf Siems in Essen wird bescheinigt, sie gebe die
ihm ›beharrt‹ wird, was selbst wieder eine B.sche Intention, das »ungeschminkte Bild
Figur der Geschlossenheit ist inmitten aller einer neuen Zeit zu geben« adäquat wieder,
systematischen Offenheit. Wenn B. sich selbst ohne allzu viel Brecht-Dogmatik sei die Aktua-
als einen Theaterdichter ansieht, der die Wis- lität »andringend spürbar« (Anonym 1961a,
senschaftlichkeit auf künstlerische Weise ein- S. 26). Mit ähnlich freundlicher Grundhaltung
holt, wie Ernst Bloch seinerseits das Künst- wird die Frankfurter Inszenierung von Harry
lerische auf wissenschaftliche Weise einzuho- Buckwitz vermerkt (Anonym 1961b, S. 32).
len unternahm, dann kann ein Bruch wie der Wesentlich mehr Bewegung lösen dagegen die
hier diskutierte nicht schweigend übergangen Thesen von Kurt Lothar Tank aus, welche er
werden. Gleichwohl kann ihn B. mit Blick auf bei einem Referat vor dem Elften Deutschen
sein Gesamtwerk, das schwerlich zu schmä- Evangelischen Kirchentag in Dortmund äu-
lern ist, allemal verkraften. Zugleich kann ßerte und die im September 1963 in Theater
auch daraus eine Lehre gezogen werden, die heute abgedruckt wurden. Sie zielen auf einen
vermutlich selbst bereits wieder eine dem epi- B. ab, der als »verhinderter Christ« (Tank)
schen Theater immanente ist: Auch die model- angesehen werden kann. Im nächsten Heft
lierende Abbildung der historischen Verfasst- antwortet Ludwig Marcuse auf Tank und dis-
heit nämlich, im permanenten Vollzug des ge- kutiert die christliche Moral unter der Kon-
sellschaftlichen Prozesses, ist selbst immer notation des »schlechten Gewissens«, eine
schon Bestandteil desselben Prozesses. Ist also Sichtweise, die Marcuse B. (gegen die Sicht-
der Prozess etwaigen Brüchen ausgesetzt, weise Tanks) unterstellt (Marcuse 1963, S. 1).
dann muss es auch die Abbildung sein. Viel- Mit Blick auf den Galilei hebt sich diese Dis-
Rezeption der Aufführungen 375

kussion eher überraschend gegen den politi- bei die Orientierung der Diskussion an der
schen Diskussionshintergrund aktueller Be- B.schen Intention der zweiten Fassung des Ga-
züge ab, ist aber wohl wesentlich den dama- lilei. So heißt es unter anderem: »In den Hör-
ligen Bemühungen evangelischer »Theorie« sälen [von Moskau bis New York], erbaut auf
geschuldet, einen Anschluss an die Gesell- der Asche von Hiroshima, kennt man den
schaftskritik herzustellen. In der Chronik und Schreckensruf Galileis über die tödlichen Fol-
Bilanz des Bühnenjahres heißt es in einem gen menschlicher Erfindung.« (Anonym 1965,
Kommentar Fritz Kortners in diesem Sinne S. 50) Auf die Problematik dieser Sichtweise
aktualitätsbezogener und polarisierender (und ist bereits ausführlich eingegangen worden.
bereits Teile der Diskussion der späteren 60er- Wichtig ist hierbei aber Folgendes: Durch
Jahre vorwegnehmend): »Wenn man die Kon- diese Ausrichtung der (scheinbar auf den Ost-
turen der Gestalt [des Galilei] scharf zieht West-Konflikt abzielenden) Kontroverse wer-
[…], dann erscheint [dieser] im Westen als den zwei Arten der Entgegnung vorgezeichnet,
kritisch gegenüber dem Westen. Sie im Osten die in eine (bis dahin) völlig neue Diskussion
zu spielen, bedeutete aber etwas anderes: Ver- einmünden, welche die späteren 60er-Jahre
rat am Westen. Ich bin ein Linker, gewiß, aber bestimmen wird. Zum einen nämlich veröf-
ein bürgerlicher, ein liberaler.« (Kortner, fentlicht Hans Mayer einen Bericht über Gras-
S. 48) Davon abgesehen, führt auch Siegfried sens Die Plebejer proben den Aufstand – offen-
Melchinger mit Blick auf die Mailänder In- sichtlich, wenn auch so manche poetische Li-
szenierung des Galilei nicht wesentlich über zenz in Anspruch nehmend, B.s Verhalten im
den üblichen Diskussionsrahmen hinaus. Zusammenhang mit den Vorgängen des 17.
Giorgio Strehlers Regie löst bei ihm Begeiste- Juni 1953 thematisierend (vgl. Kahl 1966a) –
rung aus: Ȇber [dessen] Arbeit mit den Dar- zu dem Gerhard Zwerenz unter dem Titel
stellern des ›Galilei‹ müßte ein Lehrbuch der Brecht, Grass und der 17. Juni elf Anmer-
Regie geschrieben werden.« Ansonsten be- kungen beifügt (Zwerenz, S. 23–26). Zum an-
merkt auch er den angezielten Übergang von deren wird eine Linie der ausgelösten Debatte
alter zu neuer Zeit und sieht in der Freiheit der in jene Stellungnahme Melchingers einmün-
Wissenschaft nur dann ein Problem, wenn den, welche er anlässlich der Ulmer Inszenie-
man B.s Gleichsetzung von wissenschaftli- rung des Galilei von Kurt Hübner im Novem-
chem und sozialem Fortschritt akzeptiert ber 1969 abgibt: »Wer will, angesichts von
(Melchinger 1963, S. 62). Erst Manfred Wek- Mondfahrt und Raumstation, behaupten, daß
werth wird hierbei einen Schritt weiter gehen sich [des Autors] Thema abgenützt hat? […]
und erinnert an einen Schiller-Bezug Marxens, Eher mag heute die Frage zu stellen sein, ob
der in der Deutschen Ideologie angedeutet die Bezichtigung der Wissenschaft […] in die-
wird und ästhetische Naivität an soziale Praxis ser Schärfe noch einleuchtet, seitdem sich
bindet: »Die Rettung kam von einer Seite, die auch die Politik jener Länder, in denen (angeb-
Schiller für den Schwund der Naivität verant- lich) das von Galilei (angeblich) verratene
wortlich macht: die Wissenschaft. Wollte die ›Volk‹ regiert, der Drohung mit der Bombe
Kunst wieder naiv werden, mußte sie nicht bedient.« (Melchinger 1969, S. 20) In beiden
›zur Idee aufsteigen‹, sondern den Weg vom Fällen manifestiert sich eine »Gegenkritik« ge-
Himmel zurück auf die Erde antreten.« (Wek- gen die von B. propagierte kritische Theorie
werth, S. 65) des Theaters. Und Galilei wird zunehmend
Aber Sympathie und bedeckte Zurückhal- interpretativ entlastet. Anders gesagt: Das
tung finden bereits ihr Ende: Zunächst beginnt Hauptmotiv der ersten Fassung bleibt erhal-
die Kontroverse mit dem Berliner Ensemble, ten, die Wissenschaftsanklage der zweiten und
ausgelöst durch einen Aufsatz von Klaus Völ- dritten Fassungen wird eher zur Gewohn-
ker in der November-Ausgabe 1964 von Thea- heitsübung, dabei aber nunmehr allen glei-
ter heute, der Anlass zu wechselseitigen Ant- chermaßen angelastet. Und die sympathische
worten gibt (Völker 1964). Bedeutsam ist da- Erscheinung Galileis in allen drei Fassungen
376 Leben des Galilei

leistet dieser Tendenz einen nahe liegenden sei und sich Mitgefühl einstelle. Der Rezen-
Vorschub. Das wird zum Teil auch durch die sent vermerkt selbst trocken: »man soll [aber]
Wahl der Schauspieler unterstrichen. So be- nicht mitfühlend« sein (Schwab-Felisch,
richtet Kurt Kahl im Dezember 1966 aus Wien S. 25). Interessant ist aber auch der Bericht
von der Inszenierung Kurt Meisels (mit Curd über die chinesische Aufführung in Peking un-
Jürgens als Galilei) auf folgende Weise: »Exi- ter der Regie von Huang Zuoling. Wolfram
stenzfragen unserer gegenwärtigen Welt, die Schlenker sieht in dieser Inszenierung eher
B. in Galileis Biographie aufspürt, [werden] eine Abrechnung mit der Viererbande und den
wohlverpackt in gefällige Gesten […]. Das Di- Wissenschaftler als Bühnenhelden, wodurch
lemma des Wissenschaftlers, der sich von den das Zitat »Traurig das Land …« in einer spezi-
Mächtigen aushalten läßt und ihnen dafür, fisch chinesischen Konnotation auf Vierer-
eigene Verantwortung leugnend, die Frucht bande und Personenkult verweise (Schlenker,
seines Forschens ausliefert, scheint mehr als S. 46–49).
individuelles denn als gesellschaftliches Pro- In den nachfolgenden 80er-Jahren geht die
blem dargestellt [und läßt Engagement ver- Bühnenrezeption (nicht nur des Galilei) deut-
missen].« (Kahl 1966b, S. 42) Marcuse gar, in lich zurück. Neuigkeiten werden kaum ver-
seiner Besprechung des Brecht-Buchs von merkt. So werden anlässlich der Aufführung in
Gerhard Szczesny (Das Leben des Galilei und Oldenburg unter der Regie von Gerhard Jelen
der Fall Bertolt Brecht), schränkt die B.sche (im November 1980) der Missbrauch nuklea-
Argumentation stark ein: »Brechts Stück traf rer Waffen und die Korrumpierbarkeit der
nie die Fragwürdigkeit des Naturforschers im Wissenschaftler als Motivik erwähnt. In der
Zeitalter der Atomspaltung. Weil er nicht sah, Aufführung in Castrop-Rauxel (im selben Mo-
daß diese Problematik uralt ist. Brechts Wort nat unter der Regie von Chris Alexander) wird
von den ›Zwergen, die für alles gemietet wer- der Zerrissenheit Galileis durch eine Aufspal-
den können‹ (übrigens: im Kapitalismus wie tung des Darstellers in mehrere Galileis Rech-
im herrschenden Sozialismus) ist ebenso tref- nung getragen, eine damals allfällige, eher
fend wie oberflächlich.« (Marcuse 1967, S. 2) verspielte, Mode, der sich auch manche
Auf dieser, in gewisser Weise eine Form des Shakespeare-Aufführung zu fügen hatte. Von
ideologischen »Appeasement« fördernder, Li- Fortschrittsskepsis schließlich und einem Ga-
nie bewegen sich auch die Aufführungen der lilei »als vitales, widersprüchliches Urviech«
70er-Jahre, die längst nicht mehr gleicherma- berichtet auch Hendrik Markgraf in seinem
ßen ausführliche Diskussionen auslösen. Peter Artikel über die Aufführung am Theater am
Iden berichtet von der Nürnberger Aufführung Aegi und am Staatstheater in Hannover im
unter der Regie von Harry Buckwitz nur sehr Juni 1983 unter der Regie von Herbert Kreppel
kursorisch ohne besondere Problematisierung (Markgraf, S. 54). Nur in der Aufführung in
im Detail (Iden, S. 10). Völker überschreibt Moers (im November 1987) unter der Regie
seinen Bericht von der Turiner Aufführung un- von Holk Freytag gewinnt Galilei eher dämo-
ter der Regie von Fritz Bennewitz sogar mit nische Züge. Henning Rischbieter spricht in
Fröhliche Wissenschaft und vermerkt einen seinem Beitrag von »B.s Galilei am Ende [als
Anspruch darauf, diese Fröhlichkeit aufrecht- einer] Schreckensfigur wie von Francis Bacon
zuerhalten, welche »für den Menschen nichts [dem Maler]« und zeigt ihn eingeschüchtert,
Schädliches beinhaltet« (Völker 1973, S. 62– von seiner Wissenschaft zum Krüppel ge-
64). Auch der Galilei, mit dem 1976 die Ruhr- macht, zugleich diese zum Krüppel machend
festspiele eröffnet wurden, in der Inszenie- (Rischbieter, S. 52 f.).
rung von Liviu Ciulei, erscheint dem Rezen- Die Rezeption der 90er-Jahre hat sichtlich
senten Hans Schwab-Felisch als »milde, ganz andere Probleme. Der Kontrast zu den
menschlich«. Das Stück habe an Aktualität so- bewegten Diskussionen der 60er-Jahre wie zur
gar hinzugewonnen, indem der eigentliche bedeckten Freundlichkeit und zum aggressi-
Konflikt im Menschlichen aufgehoben worden ven Abrücken von B.scher Thematik gleicher-
Rezeption der Aufführungen 377

maßen kann nicht mehr größer sein. Das Pro- tet, der Zuschauer gelange auch gar nicht mehr
blem des Galilei scheint den Rezensenten »in die Nähe einer Vermutung darüber, worauf
selbst zunehmend unverständlicher zu wer- der Autor eigentlich hinauswill (vom Regis-
den. So berichtet Gerhard Preußer etwa von seur nicht zu reden)« (Hammerstein). Sie kann
einem »Neubeginn« in Dortmund durch Jens in der Aufführung bestenfalls einen »illustrier-
Pesel und nennt diesen »scheinbar restaurativ« ten Schulfunk« erkennen (in diesem Fall sind
(Preußer). Er bemerkt letztlich nur einen Gali- die Schüler offenbar vor Ort geblieben) und
lei »für alle«: »für Deutschlehrer zum Mitmur- endet mit der bemerkenswerten Äußerung:
meln, für Schüler zum Bekichern. Um die »Dass der Mann Recht behalten hat, wussten
ewige Aktualität Galileis braucht niemanden wir so schon, was also soll noch fesseln an
bange zu sein, wenn sogar die katholische Kir- einer Mär aus den Kindertagen des Kopernika-
che inzwischen meint, ihre Fehler von damals nischen Weltbilds?« (Ebd.) Zwar scheint in
noch korrigieren zu müssen.« (Ebd.) In der diesem Zitat die Rechtschreibung reformiert-
Inszenierung sieht Preußer keine erkennbare modern, kaum aber die vermittelte Einsicht,
Intention, weil es heute ohnehin lächerlich denn diese dürfte einen erheblichen Rück-
sei, einen hippokratischen Eid der Forschung schritt hinter alles bisher Erreichte darstellen.
zu fordern, denn niemand könne mehr wissen, Und sollen wir etwa von vorn anfangen?
was ›das Wohl der Menschheit‹ heißen soll, so Eine Aufführung freilich hat weiterführende
dass Ethik heute selbst zum Verkaufsargument Spuren in der Rezeption hinterlassen und gibt
geworden sei (ebd.). Trotz postmoderner Pole- zudem Anlass für eine seriöse Diskussion, die
mik deuten sich hier bereits erstmals eine nicht auf der alten Linie verharrt (und somit
»thematische Langeweile« an und ein expli- einige Hoffnung eröffnet auf neue Einsichten):
zites Unverständnis der B.schen Intention, die Es handelt sich um die Aufführung am Berliner
in den späteren Jahren immer deutlicher her- Ensemble unter der Regie von B. K. Tragelehn,
vortreten. Martin Krumbholz berichtet von der deren Premiere am 12. Dezember 1997 statt-
Inszenierung Peter Eschbergs im November fand. Diese Inszenierung kreist um eine frühe
1997 in diesem Sinne: »ein sympathischer Ga- Fassung der 14. Szene (in der Virginia Galilei
lilei, der anständig wirkt, aber nicht sein soll. Inschriften vorliest, welche sich in der Biblio-
[…] es entscheidet nicht der Mensch, sondern thek Montaignes befanden), ursprünglich
die Überzeugungskraft der Instrumente« 1938 bereits verfasst (vgl. Heeg, S. 127 f.). Vor
(Krumbholz), mit Bezug zu den Betontürmen allem die Inschrift 37 gewinnt hierbei an Be-
der ›phallischen Frankfurter Bankcity‹. Er ver- deutung: »Wie einen Schatten hat Gott den
merkt zudem, dass die anwesende Schulju- Menschen erschaffen. Wer kann ihn richten,
gend in der Pause offen diskutierte, ob man wenn die Sonne untergegangen ist?« (S. 128)
bleiben solle oder nicht (ebd.). Es kann wenig In einem Gespräch mit Tragelehn und Stefan
verwundern, dass diese Schülerhaltung Schnabel bemerkt Klaus Heinrich zu dieser
(durchaus nicht neu) eigens hervorgehoben Stelle: »Wenn Brecht das so ausgesucht hat, ist
wird, wenn es dem Rezensenten ähnlich er- er davon überzeugt, daß Galileische Physik die
gehen mag. Der Galilei kann eben nicht kon- Ethik außer Kraft setzt.« (S. 130) An dieser
sumiert werden, wie eine Theaterstatistik im Stelle hat die Diskussion einzusetzen, ein De-
schnell durchgeblätterten Focus. Diese Hal- siderat für künftige Zeiten: Es erscheint zum
tung findet ihren vorläufigen Höhepunkt in einen kaum möglich, dass Physik die Ethik
dem Beitrag von Dorothee Hammerstein außer Kraft setzen könnte (obwohl sie diese
(„Mysterien, Rhetorik und deutsches Regie- durchaus begründet); zum anderen weist
theater“), in dem sie über eine Pariser In- Heinrich selbst darauf hin, dass das Zitat der
szenierung im Théatre de la Colline durch Jac- Inschrift, das aus dem Prediger Salomo (Kohe-
ques Lassalle (im April 2000) berichtet und in let) stammt – hier in der Übersetzung Martin
der Problematik Galileis nur noch »dekorative Luthers zitiert (Stuttgart 1984) –, bei Montai-
Forscherqual« lokalisiert und zudem behaup- gne (und B.) nicht korrekt wiedergegeben ist.
378 Leben des Galilei

Genau heißt es dort vielmehr: »Denn wer zum aufrechten Gang Verbeugungen gehörten? In:
weiß, was dem Menschen nützlich ist im Le- Bloch-Almanach 9 (1989), S. 73–113. – Blumenberg,
Hans: Die Genesis der kopernikanischen Welt. 2.
ben, in seinen kurzen, eitlen Tagen, die er
Aufl. Frankfurt a. M. 1981. – Ders.: Die Lesbarkeit
verbringt wie einen Schatten? Oder wer will der Welt. Frankfurt a. M. 1986. – Brook, Peter: Der
dem Menschen sagen, was nach ihm kommen leere Raum. Berlin 1983. – Ders.: Wanderjahre. Ber-
wird unter der Sonne?« (Prediger 6,12) Dazu lin 1989. – Deutscher, Isaac: The Prophet Outcast:
korreliert freilich die frühere Stelle am selben Trotsky. Oxford, London 1963. – Dieckmann, Fried-
Ort: »So sah ich denn, daß nichts Besseres ist, rich: ›Galilei‹- Komplikationen. In: WB. 34 (1988),
S. 213–229. – Dülmen, Richard van: Entstehung des
als daß ein Mensch fröhlich sei in seiner Ar-
frühneuzeitlichen Europa. Frankfurt a. M. 1982. –
beit; denn das ist sein Teil. Denn wer will ihn Dürrenmatt, Friedrich: Die Physiker. Zürich 1985. –
dahin bringen, daß er sehe, was nach ihm ge- Gellert, Inge/Koch, Gerd: Brecht & Adorno & Bloch.
schehen wird?« (3,22) Heinrich übernimmt In: Zimmermann, Rainer E./Koch, Gerd (Hg.): U-
die erste Stelle in der Fassung der Zwingli- Topoi: Ästhetik und politische Praxis bei Ernst
Bibel (bei abweichender Verszählung): »Denn Bloch. Mössingen-Talheim 1996, S. 147–157. –
Hammerstein, Dorothee: Mysterien, Rhetorik und
wer sagt dem Menschen, was nach ihm sein
deutsches Regietheater. In: Theater heute (2000), H.
wird unter der Sonne?« Somit ist die Betrof- 4, S. 34 f. – Hannaford, David: Mathematics and De-
fenheit des B.schen Galilei in jener Szene we- mocratic Education. Oxford 2000. – Hauser, Arnold:
nig einsichtig, nach allem, was oben ausge- Soziologie der Kunst. München 1983. – Hecht, Wer-
führt ist. Zumal auch die Metapher vom Schat- ner (Hg.): Materialien zu Brechts »Leben des Gali-
ten ihre Probleme aufweist, wie schon die lei«. Frankfurt a. M. 1963. – Heeg, Günther: Klopf-
zeichen aus dem Mausoleum. Brechtschulung am
schwierige Grammatik der Passage im Predi-
Berliner Ensemble. Berlin 2000. – Hemleben, Jo-
ger zeigt: Wenn die Sonne nämlich unterge- hannes: Galilei. Reinbek bei Hamburg 1969. – Hor-
gangen ist, bewirkt sie wohl keine Schatten kheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der
mehr. Aber was besagt das über die Objekte, Aufklärung. Frankfurt a. M. 1981. – Iden, Peter: Le-
welche den Schatten zuvor geworfen haben? ben des Galilei. In: Theater heute (1971), H. 5, S. 10.
Und gibt es nicht viele unter ihnen, die von – Kahl, Kurt: Nicht Brecht ist der Chef (Graß an der
Wiener Burg). In: Theater heute (1966a), H. 7,
selbst leuchten? Was besagt das dann über die
S. 35–37. – Ders.: Brecht an der Burg. Kurt Meisel
neuen Schatten? Offenbar war es doch gerade inszeniert ›Leben des Galilei‹. In: Theater heute
Galilei, der zum Selber-Leuchten aufgerufen (1966b), H. 12, S. 41–42. – Kipphardt, Heiner: In der
hat. Sache J. Robert Oppenheimer. Frankfurt a. M. 1964.
– Knopf, Jan: Brecht und die Naturwissenschaften.
In: BrechtJb. (1978), S. 13–38. – Ders.: Bin »Ich’s«?
Oder lasse ich es besser bleiben? Ein Versuch über
Literatur:
Brechts Lehrstücke. In: Bloch, Jan Robert (Hg.):
[Anonymus]: Leben des Galilei (Aufführung Essen, »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden
Juli 1961). In: Theater heute (1961a), H. 7, S. 26. – wir erst.« Perspektiven der Philosophie Ernst
[Anonymus]: Leben des Galilei. (Uraufführung Blochs. Frankfurt a. M. 1997. S. 150–164. – König,
Frankfurt a. M., Dezember 1961). In: Theater heute Traugott (Hg.): Sartres Flaubert lesen. Reinbek bei
(1961b), H. 12, S. 32. – [Anonymus]: Brecht und Hamburg 1980. – Kondylis, Panaiotis: Die neuzeit-
Folgen. In: Theater heute (1965), H. 2, S. 50. – liche Metaphysikkritik. Stuttgart 1990. – Kortner,
Arendt, Hannah: Der Dichter Bertolt Brecht. In: Die Fritz: Wir wollten’s wissen (Im Gespräch). In: Chro-
Neue Rundschau 61 (1950), S. 53–67. – Bloch, Ernst: nik und Bilanz des Bühnenjahres, Theater heute
Spuren. Frankfurt a. M. 1969. – Ders.: Romane der (1963), S. 48. – Kroker, Paul: Galileibrecht: Verkom-
Wunderlichkeit und montiertes Theater. In: Ders.: menheit, Verrat, Verbrechen? In: Cisotti, Virginia/
Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M. 1962, S. 240– Kroker, Paul (Hg.): Poesia e Politica. Bertolt Brecht a
250. -Ders.: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M. 100 anni dalla nascita. Melegnano 1999, S. 105–114.
1959. – Ders.: Naturrecht und menschliche Würde. – Krumbholz, Martin: Weiter so, alter Patriarch. In:
Frankfurt a. M. 1961. – Ders.: Um das Recht des Theater heute (1997), H. 11, S. 17–19. – Kuhn, Tho-
aufrechten Ganges (Gespräch mit der Kleinen Zei- mas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.
tung, 1968). In: Gespräche. Hg. v. Rainer Traub und Frankfurt a. M. 1967. – Marcuse, Ludwig: Wie
Harald Wieser. Frankfurt a. M. 1975, S. 121–125. – Brecht nobilitiert wird. In: Theater heute (1963), H.
Bloch, Jan Robert: Wie können wir verstehen, daß 10, S. 1. – Ders.: Über Szczesnys Brecht-Buch. In:
379

Theater heute (1967), H. 2, S. 1–2. – Markgraf, Hen- – Ders.: News from Berlin: In: Communications 23
drik: Sinn und Sinnlichkeit in Szenen. In: Theater (1994), Nr. 2, S. 19. – Wohlwill, Emil: Galilei und
heute (1983), H. 6, S. 54. – Melchinger, Siegfried: sein Kampf für die copernikanische Lehre. 2 Bde.
Über Peter Brooks ›Lear‹ und Strehlers ›Galilei‹. In: Hamburg 1909, Leipzig 1926. – Zeilinger, Doris:
Chronik und Bilanz des Bühnenjahres, Theater Dioskuren eigener Art. Warum es richtig ist, Brecht
heute (1963), S. 54–62. – Ders.: Kein Experiment und Bloch gemeinsam zu nennen. In: VorSchein
mit ›Galilei‹. In: Theater heute (1969), H. 11, S. 20– (1999), S. 9–37. – Zimmermann, Rainer E.: The Kly-
21. – Preußer, Gerhard: Ein Mann für alle Fälle. In: mene Principle. A Unified Approach to Emergent
Theater heute (1992), H. 12, S. 30 f. – Rischbieter, Consciousness. Kasseler Philosophische Schriften,
Henning: Leben des Galilei. In: Theater heute Materialien und Preprints, H. 3. Kassel 1999. –
(1987), H. 11, S. 52 f. – Ruppel, Karl H.: Leben des Ders.: Loops and Knots as Topoi of Substance. Spi-
Galilei (Brecht). In: Nedden, Otto C. A. zur/Ruppel, noza Revisited. In: http://www.arXiv.org (Los Ala-
Karl H.(Hg.): Reclams Schauspielführer. 8. Aufl. mos Archive) gr-qc/0004077 v2. (Gekürzte Fassung:
Stuttgart 1963, S. 820–823. – Sartre, Jean-Paul: Spinoza in Context. A Holistic Approach in Modern
Kean. Frankfurt a. M. [u. a.] 1972. – Ders.: Brecht Terms. In: Martikainen, Eeva (Hg.): Infinity, Causa-
und die Klassiker. In: Ders.: Mythos und Realität des lity, and Determinism. Cosmological Enterprises
Theaters. Reinbek bei Hamburg 1979, S. 51–53. – and their Preconditions. Amsterdam 2001.) – Ders.:
Ders.: Episches Theater und dramatisches Theater Der Vorläufer des Revolutionärs. Materie und Sub-
(Vortrag an der Sorbonne, 29. 3. 1960). In: Ders.: stanz bei Bruno im Vorgriff auf die Philosophie Spi-
Mythos und Realität des Theaters. Reinbek bei Ham- nozas. In: VorSchein (2001). – Zimmermann, Wer-
burg 1979, S. 74–107. – Ders.: Mythos und Realität ner: Bertolt Brecht: Leben des Galilei. Dramatik der
des Theaters (Vortrag in Bonn, 4. 12. 1966). In: Widersprüche. Paderborn 1985. – Zwerenz, Ger-
Ders., Mythos und Realität des Theaters. Reinbek hard: Brecht, Grass und der 17.Juni. Elf Anmer-
bei Hamburg 1979, S. 126–144. – Sautter, Ulrich: kungen. In: Theater heute (1966), H. 3, S. 24.
»Ich selber nehme kaum noch an einer Diskussion
Rainer E. Zimmermann
teil, die ich nicht sogleich in eine Diskussion über
Logik verwandeln möchte.« Der Logische Empirizis-
mus Bertolt Brechts. Deutsche Zeitschrift für Philo-
sophie 43 (1995) S. 687–709. – Schlenker, Wolfram:
Abrechnung mit der Viererbande und Brechts ›Gali-
lei‹ in Peking. In: Theater heute (1979), H. 6, S. 46– Dansen / Was kostet das
49. – Schumacher, Ernst: Drama und Geschichte.
Bertolt Brechts Leben des Galilei und andere Stücke.
Eisen?
Berlin 1965. – Schwab-Felisch, Hans: Eröffnung der
Ruhr-Festspiele. In: Theater heute (1976), H. 8,
S. 25. – Tank, Kurt Lothar: Brecht für veraltete Chri- Die beiden Einakter entstanden 1939, als B.
sten? In: Theater heute (1963), H. 9, S. 1. – Thi- »der Kriegsgefahr wegen« von Dänemark nach
essen, Rudi: Kommentare zu Leben des Galilei. In: Schweden übersiedelte (Journale, 23. 4. 1939;
Programmheft der Inszenierung unter der Regie von
GBA 26, S. 337). Offizieller Grund für den Vi-
B. K. Tragelehn, Berliner Ensemble, 12. 12. 1997. –
Vidal, Francesca: Kunst als Vermittlung von Welter- sumsantrag war die Einladung des schwedi-
fahrung. Zur Rekonstruktion der Ästhetik von Ernst schen Reichsverbands der Amateurtheater zu
Bloch. Würzburg 1994. – Dies.: ›Zerstörte Sprache – einer »Serie von Vorträgen über die Themen
zerstörte Kultur.‹ In: VorSchein (1999), S. 96–111. – Volksbühne, Laientheater und experimentelles
Völker, Klaus: Wohin geht das Berliner Ensemble? Theater«, die B. mit Diskussionen und »prakti-
In: Theater heute (1964), H. 11, S. 34 f. – Ders.:
schen Kursen« verknüpfen wollte, wie er in
Fröhliche Wissenschaft. In: Theater heute (1973),
H. 2, S. 62–64. – Weber, Betty Nance: The Life of einem Brief an Henry Peter Matthis vom 4. 3.
Galilei and the Theory of Revolution in Permanence. 1939 schrieb (GBA 29, S. 133). Tatsächlich
In: Dies./Heinen, Hubert (Hg.): Bertolt Brecht. Po- wurde Was kostet das Eisen? in der Einstudie-
litical Theory and Literary Practice. Manchester rung Ruth Berlaus von einer Amateurgruppe
1980, S. 60–78. – Wekwerth, Manfred: Verfremden im Rahmen eines Seminars für Laienspiellei-
wir die Lehre Brechts! In: Theater heute (1964), H.
ter vom 14. bis 26. 8. 1939 in der Volkshoch-
11, S. 64–66. – White, John J.: Brecht. Leben des
Galilei. London 1996. – Wizisla, Erdmut: Ernst schule Tollare bei Stockholm in schwedischer
Bloch und Bertolt Brecht. Neue Dokumente ihrer Sprache aufgeführt (Olsson 1972, S. 232). B.s
Beziehung. In: Bloch-Almanach 10 (1990), S. 87–105 erste Niederschrift mit dem Titel Kleine Ge-
380 Dansen / Was kostet das Eisen?

schäfte mit Eisen ist von Margarete Steffin eignisse. Den Reigen eröffnet jeweils ein
»Lidingö 2.VI.1939« datiert. Kunde, der mit einem Schreckensbericht auf-
Zur Entstehung von Dansen sind keine Da- wartet: In Szene 1 (1938) ist es Herr Öster-
ten überliefert, sie ist in der Forschung um- reicher, geängstigt von einem Mann, der sich
stritten. Einer Datierung auf Frühjahr 1939, ihm als »Verwandter« präsentiert und ihm ei-
unmittelbar nach Hitlers Einmarsch in Prag nen Besuch und einen Pakt offeriert habe; in
(vgl. GBA 5, S. 430), steht die Auffassung ge- Szene 2 (1939) ist es Frau Tschek, die den
genüber, dass Dansen das spätere Stück und Raubmord an Österreicher meldet und ihrer-
erst in Schweden entstanden sei, von Jan Ols- seits vor einem Mann zittert, der ihr »Schutz«
son begründet mit den überwiegend schwedi- angeboten habe. In Szene 3 treten Herr Britt
schen Namenformen (Svensson statt Svend- und Frau Gall gemeinsam auf und berichten
son; Olsson 1970, S. 29; Olsson 1972, S. 232), von der Ermordung der Frau Tschek, also Hit-
von Inge Vinçon (Vinçon, S. 170, S. 176) und lers ›Zerschlagung der Rest-Tschechei‹ am
Werner Mittenzwei (Mittenzwei, S. 667) mit 15./16. 3. 1939 (das Datum »Februar 1939« in
inhaltlichen Kriterien (der Schluss von Dan- dieser Szene ist eine Unstimmigkeit, für die
sen setze den deutsch-dänischen Nichtan- eine Erklärung fehlt); als Vorgeschichte dieses
griffspakt vom 31. 5. 1939 voraus). Die Indi- Mords geben die Besucher eine Zusammenfas-
zien für die spätere Datierung sind nicht völlig sung des Münchner Abkommens vom Septem-
beweiskräftig, haben aber eine gewisse Plausi- ber 1938 einschließlich ihrer Haltung des
bilität. Jedenfalls scheint die Aussicht, mit ›Appeasements‹.
schwedischen Laienschauspielern zu arbeiten, Svendson nimmt alle Schreckensmeldungen
B.s primärer Schreibanlass gewesen zu sein gefasst auf. Eisen verkauft er nicht nach Sym-
und das einzig Sichere nur der enge entste- pathie und Moral, sondern nur gegen Bargeld.
hungsgeschichtliche Zusammenhang der zwi- Der Aufforderung Frau Tscheks, der »Polizei«
schen März und August 1939 entstandenen beizutreten, welche die »Leute« jetzt bilden
Stücke als solcher. Die deutschen Texte wur- wollen, weicht er aus: »Ich will friedlich mein
den erstmals in Stücke XIII 1966 gedruckt und Eisen verkaufen« (GBA 5, S. 316). Das ist
unter dem Titel Dansen I und II am 14. 10. zweifellos ein Hinweis auf das ›System kollek-
1967 in Köln aufgeführt. tiver Sicherheit‹, das der sowjetische Außen-
minister Litwinow bis Frühjahr 1939 im Zu-
sammengehen mit den Westmächten zu errich-
ten versuchte. Als schließlich nach Hitlers
Was kostet das Eisen? Bruch des Münchner Abkommens England
und Frankreich ihr Appeasement aufgeben
und nun ihrerseits – so Szene 3 – einen »Verein
Ein gereimter Vorspruch deklariert das Stück zur Aufrechterhaltung der Ordnung« gründen
als Parabel, als leicht zu entschlüsselndes wollen, sträubt sich Svendson wiederum; als
Gleichnis, und durchsichtig sind in der Tat »kleiner Eisenladen« könne er sich »nicht in
sowohl die Figuren als auch die Struktur der den Streit der großen Firmen einmischen«
vier Szenen. Schauplatz ist der Eisenladen des (S. 320).
Herrn Svendson, das eisenexportierende Markantester Einschnitt jeder Szene ist der
Schweden also, die politische Situation wird Auftritt des namenlosen Kunden, der bald als
jeweils durch ein großes Kalenderblatt be- Urheber allen Schreckens kenntlich wird. Er
zeichnet. Die vierte Szene mit dem Datum fragt stereotyp »Was kostet das Eisen?« und
»19??« antizipiert das schlimme Ende, die er- braucht stets die doppelte Menge als das letzte
sten drei erzählen die wohl bekannte Ge- Mal. 1938 zahlt er mit blutigem Geld, das er
schichte. Die balladeske Wiederkehr gleicher von seinem verstorbenen Bruder (der Repu-
Bauelemente imitiert dabei die unglaubliche blik) »geerbt« haben will, 1939 mit den Zigar-
Wiederholung unglaublicher historischer Er- ren des Herrn Österreicher, später mit den
Was kostet das Eisen? 381

Schuhen der Frau Tschek, nicht ohne jeweils bezeichnet gleichwohl seinen Verrat. Verraten
seine kitschige Version der Ereignisse zu lie- und verkauft hat er zuletzt sich selbst ebenso
fern. Immer knurrt sein Magen laut, ein Hin- wie seinen Freund Svensson, zu dessen Eisen-
weis auf die von der forcierten Aufrüstung vorräten er den ›Schlüssel‹ besitzt: Für den
stark angespannte deutsche Wirtschaft. Als Eroberer ist Dänemark die Pforte zum schwe-
Koda folgen Svendsons Telefongespräche mit dischen Eisenerz. Der Entwurf eines Rahmen-
Dansen, eine Parodie der skandinavischen Di- gesprächs zwischen Optimist und Pessimist
plomatie. (GBA 5, S. 307 f.), angeregt durch die beliebte
Die als Anhang edierte Szenenvariante gleichnamige Sendereihe im schwedischen
(GBA 5, S. 325–327) ist in Wahrheit eine wei- Rundfunk (vgl. Olsson 1970, S. 30), macht
tere hochironische Antizipation, die sich als auch Dansen zum Argument in einer Diskus-
Schluss für beide Einakter eignen würde. Die sion, und dieses Argument ist im Fazit das-
skandinavische Union, von den nordischen selbe wie im anderen Stück: die Rücksicht aufs
Ländern selber nicht zustandegebracht, ent- Geschäft zahlt sich nicht aus (ebenso wie in
steht schließlich unter dem Diktat des sieg- der kurz darauf entstandenen Mutter Cou-
reichen Faschismus, als Verband von Zulie- rage).
ferern innerhalb von Hitlers ›neuer Ordnung‹
in Europa.
In den Anmerkungen zur Aufführung
schrieb B.: »Das kleine Stück muß im Knock- Gemeinsame Interpretation
aboutstil gespielt werden. Der Eisenhändler
muß eine Perücke mit Haaren haben, die sich
sträuben können; die Schuhe müssen sehr Die fundamentale Aussage beider Stücke, dass
groß sein, auch die Zigarren.« (GBA 24, man im Welt-Bürgerkrieg (vgl. B.s Brief an
S. 257; vgl. auch Bunge, S. 118 f.) Karl Korsch von Februar/März 1939; GBA 29,
S. 131) gegen den Faschismus nicht neutral
bleiben darf, hat B. immer wieder und be-
sonders anlässlich des Spanischen Bürger-
Dansen kriegs vorgetragen (vgl. Die Gewehre der Frau
Carrar; Rede zum II. Internationalen Schrift-
stellerkongreß zur Verteidigung der Kultur;
Das Wort »Knockaboutstil« trifft in noch höhe- GBA 22, S. 325). In den Einaktern ging es nun
rem Grad auf Dansen zu. Dansens Haare sträu- allerdings nicht mehr hauptsächlich um den
ben sich noch öfter angesichts der krass in Krieg der Klassen, sondern um den Krieg der
Bühnenhandlung umgesetzten Überfälle. Die Nationen, und daraus leitete sich der politi-
skandinavische Sorglosigkeit, Selbstzufrie- sche Appell zu einem Verteidigungsbündnis
denheit und Vertragsseligkeit sowie die Spra- der skandinavischen Länder ab. Dasselbe Mo-
che der Neutralitäts-Diplomatie werden schär- tiv ließ B. zur selben Zeit nach dem Engel-
fer persifliert. Die Verkürzungen der Vorgänge brecht-Stoff greifen (GBA 10, S. 1308 f.,
sind kühner, Metaphern wie das Zerreißen Nr. 74), und es inspirierte gleichzeitig die poli-
oder Schultern der Verträge werden visuell tische Analyse in dem Aufsatz Warum droht die
ausbuchstabiert; clowneske Elemente treten Abwanderung kleinbürgerlicher und sogar
stärker hervor, so das Telefonieren aus der proletarischer Schichten zum Faschismus?
Tonne und das Qieken des Schweins als Lust (GBA 22, S. 587 f.). Diese Analyse beweist al-
der Ware, verkauft zu werden. In eigenartiger lerdings, dass der Völkerkrieg vom Klassen-
Umkehrung des biblischen Hahnenschreis kampf nicht zu trennen ist. So parallelisieren
(nach Matthäus 26,34) mahnt das Quieken auch die beiden Einakter das Verhältnis des
Dansen nicht an Treue und Gewissen, sondern kleinen Geschäftsmannes zu den »großen Fir-
an sein Geschäftsinteresse, die Dreimaligkeit men« (GBA 5, S. 320) mit dem der kleinen
382 Dansen / Was kostet das Eisen?

Nationen zu den imperialistischen Großmäch- avantgardistische Form – »Waghalsige Abkür-


ten, die ihre Selbstständigkeit bedrohen. In zungen und Komprimierungen« der Realität
Polemik gegen die Sozialdemokratie, die über- (Volkstümlichkeit und Realismus [1]; GBA 22,
all in Skandinavien die Regierungen stellte, S. 412) –, die B. noch 1938 gegen die sowjeti-
zeigen Aufsatz und Einakter den kleinen Na- sche Literaturpolitik verfocht. Im »Knock-
tionen dieselbe politische Perspektive: Zu- aboutstil« entfalten die Einakter insbesondere
sammenschluss und womöglich Anschluss an das Schmierentheater von Hitlers Nichtan-
die entschiedensten Kämpfer gegen den Fa- griffspakten und Überfällen, das der Ui noch-
schismus – die Kommunisten und die Sowjet- mals erzählen wird. So könnte eine Interpreta-
union. tion der beiden Stücke bei der Gattung an-
Nichts war vergeblicher als dieses Werben setzen, für die Bezeichnungen wie Farce,
für eine bewaffnete skandinavische Union. Posse, Schwank, Clownspiel, Chaplinade, Va-
Nach dem ersten Weltkrieg, den die beiden lentinade in Umlauf sind und die gleichwohl
bedrohlichsten Nachbarn an der Ostsee ver- eine ›planetarisch‹-realistische Abbildung der
loren hatten, rüsteten die Skandinavier ab und Wirklichkeit erlaubt.
setzten auf den Völkerbund, dispensierten sich Es waren gerade die grotesk-burlesken Mo-
aber von vornherein von möglichen Sanktio- mente, welche die Kritik in Hans Gauglers
nen gegen das expansive »Dritte Reich« (vgl. Inszenierung der deutschen Erstaufführung an
Dansens »Nichteinmischspiel«; S. 295). Ein den Kölner Kammerspielen einhellig vermis-
selbstständig geeinter Norden war außerdem ste. Über den Wert des Texts waren die Mei-
weder im deutschen noch im sowjetischen In- nungen geteilt, jedoch überwiegend beein-
teresse, und beide Mächte vereitelten sofort flusst von der Einschätzung Klaus Völkers im
jeden Ansatz dazu. Andererseits war die Nei- Programmheft, dass es sich um »grob skiz-
gung der Skandinavier, sich von der Sowjet- zierte«, zweckgebundene »Agitationsstücke«
union ›schützen‹ zu lassen, gering. Überdies handle, die nicht auf der Höhe von B.s Thea-
begann bereits im März 1939 die vorsichtige tertheorie stünden. Angemessener scheint die
Annäherung der beiden totalitären Mächte, Meinung, die beiden Stücke seien noch inter-
und die Uraufführung von Was kostet das Ei- essant als »Theater über politisches Theater«,
sen? fiel zusammen mit dem »Hitler-Stalin- gleichsam als Modelle dafür, »wie das vor sich
Pakt« (23. 8. 1939). Dem Volksfrontkonzept, geht, die Parabolisierung eines politischen
das B. hier auf die Außenpolitik übertrug, war Tatbestands« (Canaris, S. 48).
damit endgültig der Boden entzogen. Eine bemerkenswerte Inszenierung von Was
Zu würdigen bleibt die Form, die bezeugt, kostet das Eisen? am Piccolo Teatro in Mailand
wie ernst B. die Arbeit mit Amateurgruppen (Regie: Carlo Battistoni) 1995 brachte auch
nahm. Den Mangel an professioneller Routine das Groteske des Stücks voll zur Geltung. Die
und die Unabhängigkeit vom kommerziellen Szene war eine Zirkusarena mit Trapez, auf
Theaterbetrieb sah er sichtlich als Chance für dem der ›Kunde‹ schwingt, das Spiel »einer
ein modernes episches Theater. In einer Dis- wildkomischen und zugleich grauenerregen-
position für die versprochene Serie von Vor- den Clownnummer« trieb immer wieder »an
trägen (Sechs Chroniken über Amateurtheater; den Rand des Absurden«, während die »maß-
GBA 22, S. 594) heißt es, Amateure spielten voll gesetzten parodistischen Elemente« zwar
leichter »stilisiert« als naturalistisch, zeigten die historische Situation andeuteten, die
Begabung für elementar-komisches Theater »durchaus gegenwärtig[e] Wirkung« aber
(Clownszenen), und zur Dramatik für Ama- nicht beeinträchtigten (Wolter, S. 31). – Die
teure notierte B.: »Die Revueform ist fort- Kombination beider Stücke als Dansen I und II
schrittlich.« (Ebd.) Mit Recht hat man geltend scheint sich im Übrigen durchgesetzt zu ha-
gemacht, dass B. mit den beiden Einaktern an ben; das BBA verzeichnet rund 40 Inszenie-
die Agitpropkunst vor 1933 angeknüpft habe rungen seit 1967.
(Vinçon, S. 145 f., S. 173ff. u. ö.), d. h. an deren
Was kostet das Eisen? 383

Literatur: eröffnen, wurde die Figur der stummen Toch-


Bunge. – Canaris, Volker: Politik, theatralisiert. In: ter konzipiert.
Theater heute (1967), H. 12, S. 48. – Mittenzwei, Nach seiner Fertigstellung wurde das Stück
Bd. 1. – Olsson, Jan E.: Bertolt Brechts schwedisches ins Schwedische übersetzt; mit dem Stockhol-
Exil. Licentiatenabhandlung. Teil 3. Lund 1970 mer Teaterförlag Arvid Englind schloss B. im
(Masch.). – Ders.: Kontakte Brechts mit schwedi- Februar 1940 einen Vertrag für Aufführungen
schen Theatergruppen. In: Nerthus 3 (1972), S. 229–
von Leben des Galilei und Mutter Courage ab.
233. – Sauter, Willmar: Brecht i Sverige. Stockholm
1978. – Schmidt, Günter: Bertolt Brechts schwe- Zu Inszenierungen kam es in den skandinavi-
disches Exil. In: Wissenschaftliche Zs. der Fried- schen Ländern dennoch nicht, da der Text von
rich-Schiller-Universität Jena, Gesellschafts- und den Theatern abgelehnt wurde, mehrmals mit
Sprachwissenschaftliche Reihe 30, 1981, S. 55–64. – der Begründung, dass B. »allzusehr in seiner
Vinçon, Inge: Die Einakter Bertolt Brechts. König- Eigenschaft als Kommunist bekannt« sei (Ols-
stein/Ts. 1980. – Wolter, Christine: [Rezension]. In:
son, S. 17). Als Vorabdruck erschien nur die
Neue Züricher Zeitung, 22. 12. 1995, S. 31. – Wyss.
Szene 6 des Stücks in Heft 12 der Internationa-
Hans Peter Neureuter len Literatur, Moskau (Dezember 1940). Der
erste vollständige Druck ist eine englischspra-
chige Übersetzung von Hoffman Reynolds
Hays (Mother Courage, Norfolk 1941). Dessen
Versuch, das Stück am Broadway unterzubrin-
Mutter Courage und ihre gen, scheiterte allerdings.
Bis Ende 1940 ergänzte und veränderte B.
Kinder den Text, entwickelte gemeinsam mit dem
Schauspieler Hermann Greid die Titel für die
einzelnen Szenen, da sich das schwedische
Entstehung Theater in Helsinki an einer Einstudierung
interessiert zeigte. Dieser Text wurde für die
Uraufführung am 19. 4. 1941 in Zürich ver-
Im Gegensatz zu vielen Dramen des Stücke- wendet und erschien im selben Jahr als Büh-
schreibers, die im Laufe der Zeit in Form, nenmanuskript beim Baseler Theaterverlag
Konzeption und Inhalt stark verändert wur- Kurt Reiss. Im Januar 1948 überarbeitete B.
den, kann man bei Mutter Courage und ihre das Stück im Hinblick auf eine geplante In-
Kinder prinzipiell keine Fassungen, sondern szenierung in Berlin. Weitere Veränderungen
nur Bearbeitungsstufen unterscheiden, die erfuhr es im Verlauf der Proben für die Berli-
weitgehend der ersten Niederschrift entspre- ner Aufführung im Januar 1949, bei der Brecht
chen. Diese entstand, wie Margarete Steffin in auch Regie führte. Von der Forschung wird die
einem Notizkalender vermerkte, in der Zeit in der Berliner Inszenierung realisierte Ge-
vom 27.9. bis zum 3. 11. 1939 (GBA 6, S. 377). stalt des Texts als verbindlich angesehen, de-
Nähere Einzelheiten zur Entstehung sind nicht ren endgültige Form erst in der zweiten Auf-
bekannt; von der Mitarbeit Steffins (und Elisa- lage des deutschen Erstdrucks berücksichtigt
beth Hauptmanns bei der Edition des Stücks werden konnten (vgl. GBA 6, S. 387; Näheres
1949) ist aber auszugehen. Aufgrund der kur- zu den Bearbeitungsstufen in GBA 6, S. 381–
zen Arbeitsphase von fünf Wochen und B.s 392).
späteren Angaben, das Stück sei »im dänischen Die erste Bühnenmusik zu Mutter Courage
Exil« (Die Courage lernt nichts; GBA 24, entstand im Herbst 1940 in Finnland, als B.
S. 271) entstanden, geht die Forschung davon eine Zusammenarbeit mit dem Musiker Simon
aus, »daß Vorüberlegungen in die Svendborger Parmet anregte, der schließlich die Vertonung
Zeit zurückreichen« (K.-D. Müller, S. 11). Um der Lieder übernahm. Als Zürich sich für das
Helene Weigel auch ohne schwedische Sprach- Stück zu interessieren begann, sandte B. mit
kenntnisse Spielmöglichkeiten an Theatern zu einem Brief vom 1. 2. 1941 Parmets Klavier-
384 Mutter Courage und ihre Kinder

auszug an Reiss, gestand den Theatern jedoch sche Kolorit, der soziale Hintergrund, die Dar-
zu, »eine andere Musik zu benutzen, die aber stellung des Krieges als Normalität und die
von mir gebilligt werden muß« (GBA 29, daraus resultierende friedensfeindliche Hal-
S. 197), offensichtlich weil er noch auf eine tung um der Geschäfte willen hat B. hier ent-
Vertonung durch Hanns Eisler hoffte. Bei der lehnt. Auch formale Gemeinsamkeiten wie die
Uraufführung in Zürich wurde eine Komposi- vorangestellten Inhaltsangaben und die ver-
tion von Paul Burkhard verwendet. Parmets fremdenden Songs weisen auf den Einfluss
Musik gelangte nie zu einer Aufführung und Grimmelshausens.
wurde vermutlich vom Komponisten selbst Als zweites wichtiges Vorbild gilt Johan
vernichtet (Parmet, S. 468). Die von B. als ver- Ludvig Runebergs Ballade Lotta Svärd, wel-
bindlich erklärte Bühnenmusik komponierte che die schwedische Schauspielerin Naima
Paul Dessau im August 1946 in Santa Monica Wifstrand im September 1939 für B. ins Deut-
in enger Zusammenarbeit mit dem Stücke- sche übertrug. Lotta Svärd ist eine volkstüm-
schreiber. Allerdings wurde bis 1948 Burk- liche Figur, die im finnisch-schwedischen
hards Musik in Europa trotzdem verwendet Krieg 1808/09 als Marketenderin ihr Dasein
(vgl. Lucchesi/Shull, S. 702). fristete. Mehr als das Betätigungsfeld hat Mut-
ter Courage auch mit ihr nicht gemeinsam,
denn Lotta ist gütig, großherzig und vater-
landsliebend (vgl. Runeberg).
Quellen Ferner kann neben den literarischen Vor-
lagen auch der Film als Einfluss auf die neue
Form und Struktur des Stücks konstatiert wer-
Wie Harald Engberg darlegt (Engberg, S. 225– den (Stummfilm, epischer Film). Festzuhalten
228), war Dänemarks Haltung zu den Kriegs- bleibt aber, dass der Einfluss literarischer oder
vorbereitungen der deutschen Faschisten sonstiger Quellen eher als gering bewertet
wahrscheinlich Ausgangspunkt für die Entste- werden muss, diese nicht mehr als Anregun-
hung des Stücks. Die neutralen skandinavi- gen für Teilaspekte darstellen, weshalb die
schen Länder zeigten sich, wie B. zuvor schon Forschung zur Auffassung gelangt ist, dass
in den Einaktern Dansen und Was kostet das »Mutter Courage und ihre Kinder […] durch
Eisen? und später in den Flüchtlingsgesprä- und durch ein Originalwerk Brechts« sei (Hill,
chen kritisierte, nicht abgeneigt, ökonomisch S. 107).
von dem Krieg zu profitieren, den sie politisch
ablehnten. Da der Dreißigjährige Krieg für das
skandinavische Geschichtsbewusstsein den
gleichen Stellenwert hat wie für das deutsche, Beschreibung
wählte B. diesen als Handlungskontext aus.
Schon 1938 hatte B. in Leben des Galilei aktu-
elle Fragen in einem historischen Gewand Mutter Courage und ihre Kinder ist, wie der
diskutiert. Untertitel festhält, eine Chronik, was eher
Als wichtigste literarische Anregung wird eine historiographische als eine poetische Gat-
von der Forschung Grimmelshausen angese- tung ankündigt (Knopf, S. 393), und besteht
hen. Von der Lebensbeschreibung der Ertzbe- aus zwölf Szenen. Im Mittelpunkt der Hand-
trügerin und Landstörtzerin Courasche (1670) lung steht die Marketenderin Anna Fierling,
hat Mutter Courage aber kaum mehr als den Mutter Courage genannt, die im Schatten des
Namen, das Profitstreben und die Billigung Dreißigjährigen Krieges Gewinn zu machen
des Kriegs übernommen. Züge der Courasche versucht, um sich und ihre drei Kinder zu er-
finden sich eher bei der Figur Yvette Pottier. nähren. Den Widerspruch, den die Rollen der
Inhaltlich scheinen auch Bezüge zu Grimmels- Händlerin und der Mutter erzeugen, erkennt
hausens Simplicissimus gegeben: Das histori- sie bis zuletzt nicht und verliert dadurch alle
Beschreibung 385

Kinder im Verlauf des Kriegs. Die Handlung Musik und Songs


umfasst die Zeit vom Frühjahr 1624 bis zum
Januar 1636. In diesen zwölf Jahren zieht die
Courage mit ihrem Planwagen vom mittel- »Bei der Wiedergabe der Courage-Musik soll
schwedischen Dalarna nach Polen, Mähren, man den Eindruck haben, als hörte man altbe-
Bayern, Italien, wieder Bayern, Magdeburg, kannte Weisen in neuer Form« (Dessau,
Ingolstadt, über das Fichtelgebirge bis vor die S. 108), betonte Dessau. Die von ihm 1946
Stadt Halle. komponierte Musik zur Mutter Courage be-
Den ersten elf Szenen ist jeweils eine In- steht aus zehn Liedern, einigen Märschen so-
haltsangabe vorangestellt, die das Geschehen wie einem Vorspiel und einem Finale.
der folgenden Szene zusammenfasst, Hand- Neben den Liedern sind vor allem die Mär-
lungszeit und Handlungsort bekannt gibt, oft sche von Bedeutung, welche die militärische
auch Angaben zur Zeit zwischen der letzten Atmosphäre betonen sowie die Unterschiede
und der aktuellen Szene macht oder allge- zwischen der großen Politik und den Erfahrun-
meine Informationen zum Kriegsverlauf gibt. gen der Machtlosen aufdecken. So wird in
Die Spannung der Rezipienten wird hierdurch Szene 5 ein Siegesmarsch gespielt, während
von der ›Was‹- auf die ›Wie‹-Spannung ver- der Feldprediger und Kattrin verletzte Men-
legt. schen versorgen und Mutter Courage Offi-
Die Sprache des Stücks ist Jaroslav Ha šeks ziershemden als Verbandmaterial hergeben
Abenteuer des braven Soldaten Schwejk wäh- muss. Umgekehrt macht die Courage gerade
rend des Weltkriegs (1921–23), genauer der beiläufig Inventur, als Feldhauptmann Tilly zu
Übersetzung von Grete Reiner (1926/27), ent- Grabe getragen wird, was durch einen Trau-
lehnt. Die Figuren der Courage, insbesondere ermarsch hervorgehoben wird. Die Songs sind
Mutter Courage selbst, sprechen eine dialekt- jeweils eng mit der Handlung verflochten. Sie
gefärbte, volksnahe Sprache. Anstelle des Da- verfremden den dramatischen Vorgang, kom-
tivs wird häufig der Akkusativ verwendet, oft mentieren, spiegeln die Handlung oder wider-
wird ›wo‹ (wie in der süddeutschen und sprechen ihr und verlangen von den Zuschau-
schweizerischen Umgangssprache) als Relativ- ern eine veränderte Rezeptionshaltung.
pronomen benutzt. Auffallend sind auch viele Das Hauptstück ist das Lied der Mutter Cou-
Ausdrücke aus dem süddeutschen oder ande- rage, mit dem die Marketenderin Anna Fier-
ren Dialekten: »Ranken« (GBA 6, S. 9), »Men- ling ihre Waren anbietet. Gleichzeitig charak-
scher« (S. 46), »Krampen« (S. 52). Sie verwei- terisiert es ihre Einstellung zum Krieg; sie will
sen zusammen mit den fremdsprachigen Ein- mitverdienen: »Kanonen auf die leeren Mägen
sprengseln, wie dem polnischen »Bosche / Ihr Hauptleut, das ist nicht gesund. / Doch
moye!« (S. 34), darauf, das Mutter Courage sind sie satt, habt meinen Segen / Und führt
durch den Krieg und ihre Geschäftstüchtigkeit sie in den Höllenschlund.« (GBA 6, S. 10) Da
weit herumkommt. die Courage ständig Geschäfte macht, tauchen
Mutter Courage gilt als eines der epischen die unterschiedlichen Strophen des Lieds häu-
Musterdramen, in dem B. die neuen Darstel- figer im Drama auf: in den Szenen 1 und 8
lungsmittel konsequent eingesetzt hat: die sowie im Finale, wo es besonders verdeutlicht,
vorangestellten Inhaltsangaben (Titularien), dass die Courage trotz ihrer Erfahrungen im-
die kommentierenden Songs, die offene Form mer noch glaubt, vom Krieg profitieren zu kön-
des Stücks ohne fixierten Beginn und Ende, nen: »Jedoch vielleicht geschehn noch Wun-
die Szenen, in denen parallele Handlungen auf der: / Der Feldzug ist noch nicht zu End!«
der Bühne gleichzeitig dargestellt werden (S. 86) Die Melodie des Courage-Liedes
(Szenen 2 und 3). wurde der alten französischen Romanze
L’Étendard de la Pitié entlehnt, die B. unbe-
dingt verwendet wissen wollte (vgl. Dümling,
S. 552; Lucchesi/Shull, S. 704). Um den Zu-
386 Mutter Courage und ihre Kinder

schauern die Identifikation mit der Courage vom Feldprediger gesungen. Es handelt von
auch durch die Musik zu erschweren, durch- der Demütigung und Kreuzigung Christi. Der
brach Dessau die Hörgewohnheiten, indem er konkrete Anlass ist Schweizerkas’ Verhaftung;
von der regulären metrischen Struktur abwich sein Schicksal und Leiden wird zu dem Marty-
(vgl. Thole, S. 246). Im Gegensatz zur franzö- rium Christi in Beziehung gesetzt. Da der
sischen Vorlage wechselt die Taktart im Cou- Feldprediger im Lied das Leiden als göttliche
rage-Lied unregelmäßig zwischen Dreiviertel- Erhöhung darstellt, wendet er die Perspektive
und Zweivierteltakt (Dümling, S. 553). ab von denen, die das Leiden verursachen; er
Die Musik zu den weiteren Texten kompo- mystifiziert Schmerz und Tod (Jendreiek,
nierte Dessau, ausgehend vom Volkslied, das S. 170 f.). Das Lied steht im Kontext der Ver-
er aber »durch rhythmische und harmonische bindung von Religion und Politik. Musikalisch
Mannigfaltigkeit« (Dessau, S. 103) zu erwei- gehört es in die Tradition geistlicher Gesänge
tern suchte. Dessau betonte außerdem, dass er des Mittelalters. Die Melodie enthält einen
»bei der Vertonung der Texte vom Wort aus- versteckten Kanon.
ging, das schon bei Brecht von hoher Musikali- Das Lied von der Großen Kapitulation (GBA
tät ist« (S. 104). 6, S. 49 f.) singt die Courage, um einem jungen
Das Lied vom Weib und dem Soldaten (GBA Soldaten zu demonstrieren, dass seine Wut für
6, S. 24) wird zunächst von Eilif gesungen, einen erfolgreichen Protest nicht ausreicht.
dann von der Courage, woran Eilif erkennt, Inhaltlich schildert es den Wandel von indivi-
dass seine Mutter sich im Nebenraum aufhält. duellem Lebensanspruch in jungen Jahren, in
Somit wird das Lied in einer traditionellen denen man sich für »was ganz Besondres«
Funktion im Drama eingesetzt: als Erken- (S. 49) hält, hin zum Pragmatismus und zur
nungslied (vgl. Thole, S. 151). Inhaltlich han- Anpassung. Hervorhebenswert ist die Umwer-
delt es von einem Soldaten, der nicht auf den tung einer volkstümlichen Sentenz, die B. mit
Rat des ›Weibes‹ hört und deshalb umkommt. nur einem Doppelpunkt erreicht: »Der
Es ist eine Vorausdeutung auf Eilifs Tod, denn Mensch denkt: Gott lenkt« (ebd.). In der alten
dieser erklärt dem Feldhauptmann, seine Mut- Schreibweise mit Komma ist die Sentenz eine
ter habe ihn mit diesem Lied vor dem Sol- Aufzählung; der Doppelpunkt kehrt den alten
datendasein gewarnt. Auch dieses Lied wirkt Sinn um: Der Mensch denkt nur, dass Gott
verfremdend durch den Tonartwechsel von e- seinen Weg bestimme, in Wirklichkeit bleibt
moll nach es-moll beim Einsatz der Courage er aber sich selbst überlassen. Das Lied betont,
(der banale Hintergrund ist der, dass die ei- dass die Planung und Lenkung der Welt nicht
gentliche Tonart des Liedes der Stimmlage einem Gott obliegt, sondern von den Men-
Weigels angepasst werden musste; vgl. Thole, schen selbst zu verantworten ist (vgl. Jen-
S. 247). Die Musik, die Dessau hierzu kompo- dreiek, S. 157). Die Courage zieht daraus aber
nierte, hat den Charakter eines dramatischen den Schluss, es sei besser, die Realitäten anzu-
Tanzes in freier Rondoform (vgl. Dessau, erkennen und sich ihnen zu fügen. Die Dis-
S. 103). sonanzen in der Liedbegleitung deuten musi-
Yvette, die Soldatenhure, singt in der dritten kalisch an, dass die Lehre, welche die Courage
Szene das Lied vom Fraternisieren (GBA 6, vermittelt, falsch ist (vgl. Thole, S. 247 f.).
S. 28 f.). Es erzählt die Geschichte ihrer Liebe Das von der Forschung leichthin als »Trink-
zum Soldatenkoch Pieter, der dem feindlichen lied« (Thole, S. 147) abgetane Reiterlied (GBA
Regiment angehörte und sie zurückließ, als er 6, S. 55), das ein Soldat beiläufig in Szene 6
abkommandiert wurde. Die Musik wurde von zum Besten gibt, ist bei genauer Betrachtung
Dessau für die Berliner Inszenierung überar- mehr als nur ein Stück Unterhaltung. Es the-
beitet. matisiert die Hast und die Eile des Soldaten,
Das Horenlied (GBA 6, S. 40 f.), das auf das der für Schnaps, Frauen, Kartenspielen und
Kirchenlied Christus, der uns selig macht von den Segen des Priesters kaum Zeit hat, denn
Michael Weiße (um 1520) zurückgeht, wird »Er muß fürn Kaiser sterben« (ebd.). Soldat-
Musik und Songs 387

sein wird in diesem Lied entlarvt als »Unter- Besonderen Stellenwert hat das Wiegenlied
wegssein in den Tod« (Jendreiek, S. 203), es (GBA 6, S. 84 f.), das die Courage ihrer toten
kann als weitere Vorausdeutung auf Eilifs Hin- Tochter zusingt und das sich musikalisch an
richtung verstanden werden. ein altes Volkslied anlehnt, das in der Samm-
Um bei einem Pfarrhaus Essen zu erbetteln, lung Des Knaben Wunderhorn überliefert ist
singt der Koch das Lied vom Salomon (GBA 6, (vgl. S. 409). Es macht bildhaft, dass die Cou-
S. 75–77). An vier Beispielen (Salomon, Cäsar, rage die Realitäten ignoriert: »Nachbars Bälg
Sokrates, Heiliger Martin) wird gezeigt, dass greinen / Und meine sind froh.« (S. 84) Dass
Tugenden wie Weisheit, Kühnheit, Redlichkeit sie das Wiegenlied tatsächlich auf sich und
und Selbstlosigkeit sich nicht bezahlt machen. ihre Kinder bezieht, zeigt sich am Ende des
In der darauf folgenden fünften Strophe stellt Lieds, als sie auf ihre Söhne anspielt: »Der
sich der Singende in eine Reihe mit den Ge- eine liegt in Polen / Der andre ist wer-
nannten und gibt als seine Tugend, die ihn in weißwo.« (S. 85)
tiefe Not gebracht habe, die Gottesfurcht an,
obwohl die Zuschauer wissen, dass das keine
Eigenschaft ist, die auf den Koch und seine
Begleiterin zutreffen. Aufschlussreich sind Zeitbezüge
auch die eingeschobenen Interpretationen des
Kochs, der die Deutung des Lieds gleich ›mit-
liefert‹: »Denn die Tugenden zahln sich nicht Obwohl das Stück im Kontext des Dreißigjäh-
aus, nur die Schlechtigkeiten« (S. 76). Wer die rigen Kriegs steht, sind punktuell zeitgenössi-
Entwicklung des Stücks verfolgt, erkennt frei- sche Bezüge offensichtlich. Neben der bereits
lich sehr schnell, dass auch die Schlechtig- ausgeführten Kritik an der Haltung der skandi-
keiten sich nicht auszahlen, zumindest nicht navischen Länder zum sich abzeichnenden
die der kleinen Leute. Das Lied hat aber den Weltkrieg, sind dies vor allem Anspielungen
gewünschten Erfolg, und die Hungrigen kom- auf die Ideologie und die Politik des Faschis-
men zu einer Suppe. mus.
In Szene 10 hören Mutter Courage und Kat- Schon der Beginn von Szene 1 erinnert an
trin aus einem Bauernhaus, an dem sie vorbei- den militaristischen Jargon, wenn der Feld-
ziehen, einen Gesang. Das Lied von der Bleibe webel konstatiert: »Frieden, das ist nur
(GBA 6, S. 78) lobt die Vorzüge eines Gartens Schlamperei, erst der Krieg schafft Ordnung.«
im Frühjahr sowie eines Daches im Winter (GBA 6, S. 9) Durch ihr unkonventionelles Se-
und damit des sesshaften Lebens, das der Cou- xualleben und ihren »unbotmäßigen Geist«
rage und ihrer Tochter nicht beschieden ist. Es (S. 11) steht Mutter Courage zunächst in di-
ist als Rückverweis zu deuten, da in der voran- rektem Gegensatz zur gewünschten Planmä-
gehenden Szene die Courage ihrer Tochter zu- ßigkeit und damit zum Krieg. Der Feldwebel
liebe auf das sesshafte Leben, das sie sich versucht sogleich, Übersichtlichkeit in ihr
kurzzeitig gewünscht hatte und das der Koch chaotisches Dasein zu bringen, indem er alle
ihr ermöglichen kann, verzichtet. Es betont, ihre Angaben sorgfältig notiert (S. 13). Zudem
dass die Courage tatsächlich ein Opfer für ihre macht Mutter Courage gegenüber dem Feld-
Tochter erbringt. Es zeigt außerdem die »Be- webel deutlich, dass ihre Kinder nach den Vä-
grenztheit des Empfindungs- und Denkhori- tern geraten sind, die sie erzogen haben und
zonts auf den Kreis persönlichen Glücks« (Jen- nicht nach ihren ›biologischen Erzeugern‹
dreiek, S. 192), das die Courage in diesem (S. 12), stellt also die Sozialisation über die
Falle als Ausgeschlossene erlebt, statt wie biologische Abstammung. Damit steht sie der
sonst als Teilhabende (während andere ausge- nationalsozialistischen Rassenideologie ent-
schlossen sind). Die Selbstzufriedenheit des gegen.
Lieds wird »angesichts der Courage […] zum Auch der Vorstoß der Schweden in Polen
Zeichen schuldhafter Asozialität« (S. 206). wird von der Courage thematisiert, wobei sich
388 Mutter Courage und ihre Kinder

Parallelen zum deutschen Überfall im Septem- Der rote Faden: der Krieg
ber 1939 ergeben. Mutter Courage argumen-
tiert hier analog zur Argumentationsweise der
Nationalsozialisten, die den Einfall in Danzig Zentrales Thema des Stücks ist der Krieg, je-
als ›Befreiung‹ hinstellten und in ihm eine der Krieg, nicht nur der Dreißigjährige, denn
›deutsche‹ Angelegenheit sahen, die Polen die Aspekte, die systematisch beleuchtet wer-
nichts angehe. Die Courage spitzt diese Argu- den, sind auch für die Kriege unserer Gegen-
mentation ironisch zu, wodurch diese lächer- wart von erschreckender Aktualität: die Kopp-
lich wirkt: »Die Polen hier in Polen hätten sich lung von Machtanspruch an den vermeintlich
nicht einmischen sollen. […] anstatt daß die ›richtigen‹ religiösen Glauben, das rücksichts-
Polen den Frieden aufrechterhalten haben, ha- lose Verhalten und die Dekadenz der hohen
ben sie sich eingemischt in ihre eigenen An- Militärs, die Auswirkungen der Entscheidun-
gelegenheiten und den König angegriffen, wie gen der ›Großen‹ auf die ›Kleinen‹, die Macht-
er gerad in aller Ruh dahergezogen ist.« (GBA losigkeit Letzterer, aber auch ihr Mitläufer-
6, S. 30 f.) tum.
Die Wirkungsmöglichkeit der nationalso- Wie wenig der Krieg tatsächlich ein Glau-
zialistischen Propaganda kommt in der Aus- benskrieg ist, verrät der Werber von Courages
sage des Feldpredigers zum Ausdruck, er Sohn Eilif, den er für den Kriegsdienst ge-
könne »ein Regiment nur mit einer Ansprach winnen will: »Es ist gegen uns gesagt worden,
so in Stimmung versetzen, daß es den Feind daß es fromm zugeht im schwedischen Lager,
wie eine Hammelherd ansieht. Ihr Leben ist aber das ist üble Nachred, damit man uns scha-
ihnen wie ein alter verstunkener Fußlappen, det.« (GBA 6, S. 15 f.) Dagegen steht die Be-
den sie wegwerfen in Gedanken an den End- hauptung des Feldpredigers, dieser Krieg sei
sieg.« (GBA 6, S. 58) Der Begriff »Endsieg« ist kein »gewöhnlicher«, sondern ein »besonde-
ein ideologisch aufgeladener Terminus der rer«, der »für den Glauben geführt wird, und
NS-Propaganda. Bezeichnend ist auch, dass also Gott wohlgefällig« (S. 30) sei. Bezeich-
der Feldprediger sein Talent »die Gabe der nenderweise erläutert der Feldprediger etwas
Sprachgewalt« (ebd.) nennt, d. h. dass Propa- später, dass er sein Talent zum Aufbau von
ganda gleichgesetzt wird mit ›Gewalt durch Feindbildern einsetzt und dazu, junge Solda-
Sprache‹. Dies wird verdeutlicht durch das ten zum Töten zu motivieren. Gegenüber dem
Beispiel, das der Feldprediger für seine Gabe Koch behauptet der Feldprediger dann in
nennt: »Ich predig, daß Ihnen Hören und Se- Szene 8, sich geändert zu haben und »ein bes-
hen vergeht.« (Ebd.) Mutter Courage setzt ihm serer Mensch« geworden zu sein. Um das zu
aber entkräftigend entgegen: »Ich möcht gar belegen, erklärt er: »Ich könnt ihnen nicht
nicht, daß mir Hören und Sehen vergeht« mehr predigen.« (S. 67)
(ebd.), und postuliert damit die unmanipu- Ferner wird die Religion auch entlarvt als
lierte Entscheidungsfreiheit des einzelnen. Vorwand, sich der eigenen Verantwortung zu
Durch die Gegebenheit, dass ausgerechnet der entziehen. Nachdem der Bauer in Szene 11
Feldprediger das Talent besitzt, die Soldaten entdeckt, dass ein ganzes Regiment im Gehölz
für den Krieg zu motivieren, ist ferner die darauf wartet, die Stadt Halle in der Nacht zu
Verbindung von Religion und Politik als wei- überfallen, kommt er gemeinsam mit seiner
terer Kritikpunkt angedeutet. Frau zum Schluss, dass sie nichts (ungefähr-
det) unternehmen können, um die schlafen-
den Städter zu warnen. Die Reaktion der Bäue-
rin ist ein Gebet, in dem sowohl Hilflosigkeit
als auch Feigheit zum Ausdruck kommen: »Va-
ter unser, hör uns, denn nur du kannst helfen«
(GBA 6, S. 81). Dies erweist sich als falsch,
denn es stellt sich heraus, dass ein hilfloses,
Der rote Faden: der Krieg 389

ängstliches, stummes Geschöpf wie Kattrin (ebd.) handelt. In dieser Situation fordert der
ausreicht, um das zu vollbringen, wozu die Feldhauptmann wie selbstverständlich:
Bäuerin nur Gott in der Lage sah. Freilich ist »Koch, Fleisch!« (S. 20) und »bringt […] sich
Kattrin bereit, dafür zu sterben. Dass der noch Gäst mit, wo nix da is« (ebd.), wie Lamb
Bauer zumindest einen Teil seiner Schuld be- feststellen muss. Der Koch, der versucht, den
greift, zeigt sich an der Gebetsstelle »Und ver- Preis für den Kapaun herunterzuhandeln, was
gib uns unsre Schuld, wie auch wir vergeben im Sinne des Feldhauptmannes ist, wird von
unsern Schuldigern« (ebd.), der einzige Pas- diesem noch weiter gedemütigt, weil er nicht
sus, abgesehen von der Anrede, der tatsächlich schnell genug auftischt: »Zu essen, Lamb, du
aus dem Vaterunser übernommen wird. Kochbestie, sonst erschlag ich dich.« (S. 21)
Gezeigt wird im Stück, dass Religion von Die anderen Beispiele sind im Text eher bei-
den Mächtigen missbraucht wird, um Kriege läufig gestaltet. In Szene 3 handelt Mutter
zu legitimieren, die aus materiellen Gründen Courage mit einem Zeugmeister, der die
geführt und von den Machtlosen als ›Schick- Mannschaftsmunition verkauft, damit er dem
sal‹ hingenommen werden: Um ihre Verant- Obristen Likör kaufen kann. In Szene 4 er-
wortung zu delegieren, vertrauen sie sich der wähnt Mutter Courage, dass die Menschen
Obhut eines ›höheren Wesens‹ an, eines Got- hungern, weil die Truppen vom Feldhaupt-
tes oder eines Herrschers ›von Gottes Gna- mann im Vorjahr über die Felder geschickt
den‹, statt selbst zu handeln. wurden, um das Korn des ›Feindes‹ nieder-
Einen zweiten wichtigen Bereich bildet die zutrampeln, nicht ahnend, dass seine Leute
Charakterisierung der Befehlshaber, die für länger bleiben würden und nun auch hungern
das Leben der ihnen untergebenen Soldaten müssen. In derselben Szene berichtet der wü-
verantwortlich sind. Obwohl diese Problema- tende Soldat, dass der Rittmeister ihm Trink-
tik selten und nur am Rande thematisiert geld unterschlagen habe und kommentiert
scheint, erweist sich bei näherer Betrachtung, dies mit: »Der verhurt mein Trinkgeld, und ich
dass diese Figurengruppe sehr konsequent als hab Hunger.« (GBA 6, S. 47)
feige, undankbar, rücksichtslos und ver- Über die unterschiedlichen Zielvorstellun-
schwenderisch dargestellt wird. gen der hohen Kriegsherren und des ›Fuß-
Am ausführlichsten gezeigt wird dies am volks‹ resümiert die Courage: »zum Beispiel er
Feldwebel in Szene 1, der es mit der Angst zu erobert die Welt, das is ein großes Ziel für
tun bekommt, als die Courage ihm den Tod einen Feldhauptmann […], und dann schei-
weissagt (GBA 6, S. 15). Während der Werber terts am gemeinen Volk, was vielleicht ein
weiterhin versucht, Eilif für den Kriegsdienst Krug Bier will und ein bissel Gesellschaft, nix
zu gewinnen, reflektiert der Feldwebel über Höheres« (GBA 6, S. 54). Auch Siege und Nie-
die Unmöglichkeit des prophezeiten Todes, derlagen würden von den unterschiedlichen
denn: »Immer halt ich mich dahint. Einen si- gesellschaftlichen Positionen aus verschieden
chereren Platz, als wenn du Feldwebel bist, bewertet werden: »Die Sieg und Niederlagen
gibts nicht. Da kannst du die andern vorschi- der Großkopfigen oben und der von unten fal-
cken, daß sie sich Ruhm erwerben.« (S. 17). len nämlich nicht immer zusammen, durchaus
Bei dem Gedanken daran, im Krieg getötet zu nicht. Es gibt sogar Fälle, wo die Niederlag für
werden, wird ihm sogar übel (ebd.). die Untern eigentlich ein Gewinn ist für sie.
Auch der Feldhauptmann in Szene 2 wirkt Die Ehr ist verloren, aber nix sonst.« (S. 35)
durch sein Verhalten dem Koch gegenüber ge- Dass die ›große Geschichte‹ aus der Per-
dankenlos und abstoßend. Während die Zi- spektive der kleinen Leute gezeigt wird, ist
vilbevölkerung aufgrund der Belagerung »die von der Forschung häufig als Besonderheit des
Wurzeln […] vor Hunger« (GBA 6, S. 19) aus- Stücks hervorgehoben worden. Ein wichtiger
gräbt, feilscht der Koch Lamb mit der Courage Aspekt hierbei ist die Einsicht, dass die ›Klei-
immerhin um einen Kapaun, wenn es sich da- nen‹ als Gewinner oder Verlierer ohnehin
bei auch um einen »jämmerlichen Vogel« gleich schlecht dran sind im Krieg, denn »zu
390 Mutter Courage und ihre Kinder

fressen« haben die jeweiligen Belagerer »auch nen ausgetauscht, je nachdem welche gerade
nix« (GBA 6, S. 19). Selbst die Geschäfte ver- opportun erscheint (vgl. Sz. 3).
laufen nicht übereinstimmend mit den Kriegs- Die Entwicklung der Figuren zeigt aber, dass
geschehnissen: »Ich hab nur Verluste von eure die Kleinen es eben nicht schaffen, Profit aus
Sieg.« (S. 52) Ohnehin setzt Mutter Courage dem Krieg zu schlagen; das bleibt allein den
den Diebstahl von Getränken durch einen Sol- Großen vorbehalten. Symbol hierfür ist der
daten gleich mit »weitersiegen« (ebd.), was Planwagen der Courage, der zu Beginn mit
den Krieg in eine kriminelle Sphäre rückt. Waren vollbeladen ist und vor den die Kinder
Bezeichnend ist auch, dass die kleinen gespannt sind, der am Ende aber leer und zer-
Leute über wichtige Entscheidungen nicht schlissen nur von Mutter Courage selbst ge-
oder erst zu spät in Kenntnis gesetzt werden. zogen wird (vgl. Jendreiek, S. 158; Knopf,
So erfährt Mutter Courage 1632 erst drei Wo- S. 394). Einzige Ausnahme ist scheinbar
chen später, dass Frieden »ausgebrochen« Yvette, die es »im Krieg zu was gebracht hat«
(GBA 6, S. 62) war, und zwar zu einem Zeit- (GBA 6, S. 68), allerdings nur, indem sie nach
punkt, als bereits wieder Krieg herrscht. jahrelanger Prostitution mit den Großen ge-
Bemerkenswert ist vor allem, in welchem meinsame Sache macht; am Ende gehört auch
Licht die Ereignisse der großen Geschichte sie zu den Verlierern und gibt sich selbst auf.
erscheinen. So wird Tillys Tod beiläufig wäh-
rend der Inventur des Wagens kommentiert
und damit ins Lächerliche gezogen: »Schad
um den Feldhauptmann – zweiundzwanzig Mutter Courage – und ihre Kinder
Paar von die Socken –, daß er gefalln ist« (GBA
6, S. 53). Auch als anlässlich von Tillys Beerdi-
gung Kanonenschüsse zu hören sind und der Im Mittelpunkt des Dramas wie auch der For-
Feldprediger festhält, es handle sich um einen schungsliteratur steht die Figur der Mutter
›historischen Augenblick‹, entgegnet Mutter Courage selbst, vornehmlich die Unvereinbar-
Courage: »Mir ist ein historischer Augenblick, keit ihrer Mutterrolle mit ihrem Dasein als
daß sie meiner Tochter übers Aug geschlagen Marketenderin. Letzteres leitet die Courage
haben.« (S. 61) aus der Notwendigkeit ab, sich und ihre Kin-
Erkennbar wird auch, dass die Großen ohne der zu ernähren. Ihr erklärtes Ziel ist, »mich
die Kleinen nichts ausrichten können: »Die und meine Kinder durch[zu]bringen mit mei-
schönsten Plän sind schon zuschanden gewor- nem Wagen« (GBA 6, S. 59), d. h. ihre Mutter-
den durch die Kleinlichkeit von denen, wo sie rolle zu erfüllen, mit dem Ergebnis, dass sie
ausführen sollten, denn die Kaiser selber kön- alle ihre Kinder verliert.
nen ja nix machen, sie sind angewiesen auf die Der älteste Sohn Eilif Nojocki ist das Kind
Unterstützung von ihre Soldaten und dem eines Finnen, wurde aber von einem Franzo-
Volk« (GBA 6, S. 54). Dies deutet sich auch in sen sozialisiert. Als seine Begabung gibt Mut-
der selbstbewussten Aussage des Kochs an, ter Courage seine Intelligenz an (GBA 6,
dass er nicht das Brot des Königs esse, sondern S. 12), als schlechte Eigenschaft bewertet sie
es ihm backe (S. 31). Und obwohl die Kleinen seine Kühnheit (S. 16). Als der Werber in
um diese Macht wissen und erkennen, dass Szene 1 versucht, Eilif als Soldaten zu gewin-
Kriege nicht für höhere Ziele, sondern aus nen, erkennt Mutter Courage die Gefahr so-
materiellen Gründen geführt werden, entzie- fort: »Ihr wollt ihn mir zur Schlachtbank füh-
hen sie sich ihm nicht, sehen im »Gewinn« ren« (S. 14). Sie lügt, um den Sohn für den
(ebd.) sogar das legitime Ziel des Kriegs: »an- Soldatenberuf ungeeignet erscheinen zu las-
ders würden die kleinen Leut wie ich auch sen, zieht schließlich sogar ein Messer, um den
nicht mitmachen« (S. 32), gibt die Courage un- Werber zu vertreiben. Schon zur Abfahrt be-
umwunden zu. Höhere Ziele erscheinen ne- reit, lässt sie sich aber durch die Aussicht auf
bensächlich, so werden zum Beispiel die Fah- einen Handel wieder von ihrem Wagen her-
Mutter Courage – und ihre Kinder 391

unterlocken. Während sie dem Feldwebel eine ihren Wagen an Yvette, rechnet aber insgeheim
Gürtelschnalle verkauft, lässt sich Eilif als Sol- mit den Einnahmen aus der Regimentskasse.
dat anwerben. Sie feilscht um die Bestechungssumme, als sie
Erst zwei Jahre später sieht sie ihren Sohn erfährt, dass die Kasse verloren ist. Letzten
wieder. In der Festung Wallhof hört sie mit an, Endes ist sie doch bereit, den gesamten Betrag
wie der Feldhauptmann ihren Eilif »meinen zu zahlen; durch die Verzögerung jedoch ist
Sohn« (GBA 6, S. 20) nennt, Zeichen dafür, die Exekution nicht mehr aufzuhalten, und
dass er jetzt ein Kind des Kriegs ist. Eilif wird Schweizerkas wird hingerichtet. Höhepunkt
gelobt, er habe eine »Heldentat« vollbracht als der Szene ist die Verleugnung des toten Sohns
»frommer Reiter […] für Gott« (ebd.); es stellt durch die Mutter, welche schon die zweite Ver-
sich jedoch heraus, dass es sich dabei um leugnung darstellt und notwendig ist, um den
»Bauernschinden« (ebd.) handelt. Für die Er- Rest der Familie zu schützen. Schweizerkas’
mordung der Bauern wird Eilif von der Mutter Leiche wird auf den Schindanger geworfen.
mit einer Ohrfeige gezüchtigt, nicht aber, weil Die einzige Tochter der Courage, Kattrin
sie seine Tat moralisch verurteilt, sondern Haupt, ist eine halbe Deutsche. Ihr wird als
weil sie ihm beigebracht hatte, sich in gefähr- einzigem Kind von der Mutter keine Begabung
lichen Situationen zu ergeben (S. 25; vgl. Jen- zugesprochen, nur ihre Sprachbehinderung,
dreiek, S. 187). eine Folge des Kriegs, wird ihr als Tugend
Als Eilif dieselbe ›Heldentat‹ Jahre später ausgelegt: »Die Tochter ist nix. Wenigstens red
nochmal vollbringt, als gerade kurzzeitig Frie- sie nicht« (GBA 6, S. 21). Ihr »gutes Herz«
den ist, wird er verhaftet und hingerichtet. (S. 17) nennt die Courage als ihre schlechte
Beim letzten Besuch, den er seiner Mutter ab- Eigenschaft.
statten will, sieht er sie nicht, da sie gerade Die Besonderheit dieser Figur liegt in ihrer
geschäftlich unterwegs ist. Er weist den Feld- Stummheit, weshalb sie nur durch ihr Han-
prediger und den Koch an, der Mutter »gar deln, also durch die Regieanweisungen, sowie
nix« (S. 70) von der Exekution mitzuteilen. Bis durch Kommentare anderer Figuren charak-
zuletzt erfährt die Courage nicht, dass Eilif, terisiert wird. Besonders auffallend ist, dass
der ihr »der liebste von allen« (S. 72) war, die Courage ihrer Tochter keine eigene Entfal-
nicht mehr am Leben ist. tung zubilligt, jede noch so kleine Entschei-
Das zweite Kind der Courage ist der Sohn dung für sie (oft zu ihrem angeblichen Schutz)
eines Schweizers, hat aber als Vater einen Un- trifft. Schon als es um die Weissagung anhand
garn in Erinnerung. An ihm lobt Mutter Cou- der Pergamentzettel in Szene 1 geht, heißt es
rage seine Redlichkeit (GBA 6, S. 12), sie hält in der Regieanweisung über die Courage: »Sie
ihn aber auch für einfältig (S. 16). Ganz kann hält ihr den Helm zum Wagen hoch, nimmt
Mutter Courage auch diesen Sohn nicht aus aber selber den Zettel heraus.« (GBA 6, S. 17)
dem Krieg heraushalten. Schweizerkas wird Für Kattrin ist ihre Behinderung von gro-
Zahlmeister, als der er, wie die Mutter betont, ßem Nachteil, denn in wichtigen Situationen
»wenigstens nicht ins Gefecht« (S. 25) kommt. gelingt es ihr nicht, Aufmerksamkeit auf sich
Als bei einem Angriff des Gegners die Flucht und die Dinge, auf die sie verweisen will, zu
ergriffen wird, versteckt Schweizerkas die Re- ziehen, so z. B. als ihr Bruder für den Krieg
gimentskasse im Marketenderwagen. Bei dem angeworben wird, während ihre Mutter Han-
Versuch des gewissenhaften Schweizerkas, die del treibt. Die Courage beachtet ihre Tochter
Kasse dem Feldwebel zu bringen, wird er von nicht, sieht dafür aber ihre Schuldlosigkeit
den Gegnern gefasst und soll hingerichtet wer- ein: »du kannst nicht reden, du bist unschul-
den, wenn er nicht verrät, wo er das Geld dig« (GBA 6, S. 18), was freilich nicht ohne
gelassen hat. Mutter Courage gelingt es, mit zynischen Unterton bleibt.
dem Feldwebel der Gegenseite die Freilassung Vor den Männern, besonders vor Soldaten,
ihres Sohns gegen die Auszahlung eines Beste- wird Kattrin von der Courage eindringlich ge-
chungsgeldes auszuhandeln. Sie verpfändet warnt (GBA 6, S. 29). Obwohl diese ihre Toch-
392 Mutter Courage und ihre Kinder

ter immer negativ darstellt, wird deutlich, sie erst im Frieden heiraten darf, reagiert sie
dass Kattrin auf Männer anziehend wirkt, so mit Wut und Enttäuschung. Das Verhalten ih-
wenn der Feldprediger fragt: »Im Gehen sich rer Mutter, die dazu lacht, zeigt, wie wenig
nach Kattrin umwendend. Und wer ist diese Einfühlungsvermögen die Courage besitzt,
einnehmende Person?« (S. 30) Die Courage und dass Kattrin als Mensch von ihrer Außen-
blockt den Annäherungsversuch sofort ab. Da welt nicht ernst genommen wird. Auch schickt
Kattrin stumm ist, kann sie ihre eigene Mei- die Courage ihre Tochter unbesorgt in die
nung nicht selbst äußern oder sich gegen die Stadt, denn »Sie is nicht so hübsch, daß sie
›Schutzmaßnahmen‹ ihrer Mutter zur Wehr einer ruinieren möcht.« (GBA 6, S. 57) Tat-
setzen. sächlich wird Kattrin aber verwundet und
Deutlich wird, dass Kattrin die Annähe- kehrt mit einer Verunstaltung im Gesicht zu-
rungsversuche versteht, über ihre Wirkung auf rück. Die Courage versucht unbeholfen, ihre
Männer nachdenkt und mit ihrer Weiblichkeit Tochter damit zu trösten, dass die Wunde »gar
experimentiert: Sie probiert Yvettes Hut und nicht tief« (S. 60) sei, ferner schenkt sie ihr die
ihre Schuhe an; als sie sich nicht beobachtet roten Schuhe. Da Kattrin die Schuhe aber ste-
fühlt, versucht sie sogar, ihren Gang nachzu- hen lässt, wird deutlich, dass ihre Mutter sie
ahmen (vgl. GBA 6, S. 30, S. 32). Die Courage nicht wirklich trösten kann und dass Kattrin
überrascht sie dabei und hält ihr ›Schamlosig- ihre gesunkenen Heiratschancen begreift. Die
keit‹ vor: »Die [Yvette] richt sich zugrund fürs Courage ist sich bewusst, dass sie Kattrin nicht
Geld, das versteh ich. Aber du möchtst es um- versteht: »Wenn ich wüßt, wie es in ihrem
sonst, zum Vergnügen.« (S. 36) Sie erklärt Kat- Kopf ausschaut!« (Ebd.) Des Weiteren erwähnt
trin, dass sie mit dem Heiraten warten muss, sie, dass Kattrin »nur einmal in all die Jahr«
»bis Frieden ist« (ebd.). (ebd.) nicht nach Hause gekommen sei, wohl
Auch der Bruder Schweizerkas gibt vor, Kat- ein Versuch, Eigenständigkeit zu entwickeln
trin aufgrund ihrer Sprachbehinderung nicht oder Sexualität zu erfahren. Wegen der Narbe
verstehen zu können: »Ich möcht wissen, was in ihrem Gesicht verkriecht Kattrin sich mehr
du meinst. Du meinsts sicher gut, armes Tier, als zuvor, ihre Mutter zeigt sich auch in dieser
kannst dich nicht ausdrücken.« (GBA 6, S. 37) Situation unsensibel: »Gib ein Büschel Haar
Tatsächlich kommuniziert er kurz davor mit drüber, und fertig!« (S. 64)
ihr sogar über den Herbst, d. h. er kann sie Was ihre Zukunft angeht, hat Kattrin kein
durchaus verstehen, wenn er sich Mühe gibt. Mitspracherecht; ihr wird lediglich gesagt,
Kattrin begreift schließlich auch als Erste, dass was auf sie zukommt: »ich muß dir was mit-
Schweizerkas durch das Feilschen der Mutter teilen« (GBA 6, S. 73). Das Mitgefühl, das Kat-
verloren ist: »Kattrin läuft plötzlich schluch- trin für andere Menschen und Lebewesen auf-
zend hinter den Wagen.« (S. 45) Immerhin bringt, wird von ihrer Mutter wie eine Krank-
kennt die Courage das Begriffsvermögen ihrer heit benannt: »Die leidet am Mitleid« (S. 74).
Tochter; während Yvette daran zweifelt, dass Immerhin lässt die Courage sie nicht im Stich,
Kattrin die Zusammenhänge um die Verleug- als der Koch Kattrin nicht mitnehmen will,
nung des Bruders versteht, erklärt die Mutter: weist diesen zudem zurecht, als er sich ab-
»Sie weiß.« (S. 45) wertend und verletzend über sie äußert: »Halts
Da der Feldprediger die Courage um Leinen Maul« (ebd.).
bittet, um Verwundete damit zu versorgen, Um die Stadt Halle vor einem Angriff zu
versucht Kattrin, sie dazu zu bewegen. warnen, schlägt Kattrin eine Trommel. Aus-
Schließlich bedroht sie ihre Mutter mit einer schlaggebend für ihr Verhalten ist, dass »Kin-
Holzplanke. Zudem rettet sie unter Einsatz des der« (GBA 6, S. 81), also wiederum Hilflose,
eigenen Lebens einen Säugling. als potenzielle Opfer erwähnt werden. Durch
Bei einem Gespräch des Feldpredigers und keine Drohung der Soldaten lässt sie sich vom
der Courage hört sie, wie diese die Ansicht Trommeln abhalten, trommelnd wird sie auch
vertreten, dass der Krieg nie enden werde. Da erschossen. Letztendlich beginnt also »der
Mutter Courage – und ihre Kinder 393

Stein […] zu reden« (S. 79), wie die Inhalts- lich ist die Möglichkeit denkbar, das Brot zwar
angabe Kattrins Handeln, das für sie die ein- verschimmeln zu lassen, unter Umständen
zige Möglichkeit ›zu reden‹ ist, formuliert. auch nichts zu essen zu haben, dafür aber die
Die Sprachmetapher betont zudem den ent- Kinder am Leben und in Sicherheit zu wissen.
scheidenden Unterschied zwischen Kattrin In fast jeder Szene wird die Courage in einer
und ihrer Mutter: Während die Courage den typischen Geschäftssituation (Handel, Ankauf,
Krieg mit sprachlicher Spitzfindigkeit durch- Verkauf, Inventur) gezeigt. Wenn der Profit
schaut und kritisiert, aus dem Gesagten aber stimmt, werden Anschauungen oder Wertmaß-
keine Schlussfolgerungen für ihr Handeln stäbe nebensächlich: »wenn er zahlt, ist er kein
zieht, entdeckt die Tochter angesichts der ge- Heid« (GBA 6, S. 38). Ihren Geschäftssinn gibt
sellschaftlichen Realität »als Alternative nur sie auch als Grund an, warum sie gegen Obrig-
die ›Sprache‹ der widerständigen Tat. Vor ihr keiten nicht tätig wird, wenn sie sich unge-
wird alles andere, sei es auch noch so gut recht behandelt fühlt: »Uns haben sie allen
gemeintes Reden zum Geschwätz.« (Knopf, unsre Schneid abgekauft. Warum, wenn ich
S. 398) aufmuck, möchts das Geschäft schädigen.«
Obwohl die Figur der Kattrin nicht ein ein- (S. 48)
ziges Wort spricht, ist sie als sensibles, intel- Ihre Ausgaben wie »Abgaben, Zöll, Zins und
ligentes Wesen gestaltet, das aufgrund seiner Bestechungsgelder« (GBA 6, S. 51) machen es
Behinderung von den anderen Figuren nicht ihr schwer, Mitleid zu zeigen und z. B. Offi-
als Mensch wahrgenommen wird, nicht ein- ziershemden als Verbandmaterial für Verletzte
mal von der eigenen Mutter. herauszugeben. Kattrin zwingt sie hierzu.
Auffallend ist, dass Mutter Courage jedes Auch Menschen werden von der Courage nach
Mal, wenn eines ihrer Kinder zu Tode kommt Gebrauchswert bestimmt und bei Bedarf aus-
oder Entscheidungen trifft, die zum Tod füh- getauscht: Weil der Feldprediger nicht da ist,
ren werden, in Geschäfte verwickelt ist: Sie als sie weiterziehen will – er begleitet ihren
verkauft die Gürtelschnalle, als Eilif angewor- Sohn zur Exekution –, nimmt sie den Koch an
ben wird; sie handelt gerade dann, als er sich seiner Stelle mit.
vor seiner Hinrichtung noch von ihr verab- Besonders problematisch erscheint, dass die
schieden will; sie verschuldet dank ihres Ge- Courage den Krieg als ihren »Brotgeber« (GBA
schäftssinns zu einem erheblichen Teil 6, S. 14) erkennt, aber dennoch ernsthaft der
Schweizerkas’ Tod; sie kauft Waren ein, als Ansicht ist, sich (und ihre Familie) als »fried-
Kattrin sich in den Tod trommelt. Obwohl sie liche Leut« (ebd.) charakterisieren zu können.
ihr Dasein motiviert sieht durch ihre Funktion Denn Voraussetzung für ihre Geschäfte ist der
als Versorgerin der Familie, ist sie oft Händ- Krieg. Folglich befürchtet sie, »daß der Krieg«
lerin in Augenblicken, in denen sie Mutter wie eine knappe Ware »ausgehn könnt« (S. 54).
sein sollte. Das Geschäftliche hat einen eige- Wenn der Krieg sie oder ihre Kinder schädigt,
nen, sehr hohen Stellenwert für sie. So stellt lässt sie sich zwar zu Wutäußerungen über ihn
sie sich und ihre Kinder dem Feldwebel in der hinreißen – »Der Krieg soll verflucht sein«
ersten Szene nicht etwa als ›Familie‹ vor, son- (S. 61) –, dies sind aber nur kurzzeitige Phäno-
dern als »Geschäftsleut« (GBA 6, S. 10). Die mene; schon wenig später hält sie fest, dass sie
Prioritäten, die sie setzt, werden auch deut- sich den Krieg »nicht madig machen« (ebd.)
lich, als sie erklärt, wie sie zu ihrem Beinamen lässt. Analog dazu freut sich die Courage zu-
›Courage‹ gekommen ist: Sie habe »den Ruin nächst über den Frieden, der in ihrer Wort-
gefürchtet« (offenbar mehr als den Tod) und wahl »ausgebrochen« (S. 62) ist, wie es üb-
sei »durch das Geschützfeuer von Riga gefahrn licherweise nur Kriege tun: »Ich bin froh übern
mit fünfzig Brotlaib im Wagen. Sie waren Frieden, wenn ich auch ruiniert bin.« (S. 63)
schon angeschimmelt, es war höchste Zeit, ich Wenig später gibt sie dann aber zu: »Der
hab keine Wahl gehabt.« (S. 11) Die letzte Be- Friede bricht mirn Hals.« (S. 64) Der Feld-
hauptung ist natürlich nicht richtig, schließ- prediger bezeichnet sie daraufhin als »Hyäne
394 Mutter Courage und ihre Kinder

des Schlachtfelds« (S. 65) und gibt ihr zu ver- schung wird als ›Höhepunkt ihrer Mütterlich-
stehen, dass er sie durchschaut hat: »wenn ich keit‹ oft die Szene 9 herausgestellt, in der sich
Sie den Frieden entgegennehmen seh wie ein die Courage gegen den Koch und für die Toch-
altes verrotztes Sacktuch, mit Daumen und ter entscheidet (Joost, S. 282; Mayer, S. 376).
Zeigefinger, dann empör ich mich menschlich; Zwar kann man diese Entscheidung der Cou-
denn dann seh ich, Sie wollen keinen Frieden, rage zugute halten, sie entschuldigt aber nicht
sondern Krieg, weil sie Gewinne machen« das herzlose Verhalten, das sie sonst, abge-
(S. 66). Besonders abstoßend wirkt die Cou- sehen davon, Kattrin gegenüber an den Tag
rage am Ende des Stücks, als ihre Sorge, nach- legt.
dem sie sich von ihrer toten Tochter verab- Von der Forschung wurde bislang nicht ei-
schiedet hat, erneut dem Geschäft gilt: »Hof- gens thematisiert, dass die Courage neben ih-
fentlich zieh ich den Wagen allein.« (S. 85) Das ren Rollen als Mutter und Geschäftsfrau auch
Geschäft hat für die Courage eine eigene Be- als Mensch und Frau charakterisiert wird. Ne-
deutung, denn der Verlust von Kattrin entzieht ben ihrem unkonventionellen Lebensstil, der
ihr endgültig die Legitimation für den Handel: sich vor allem an den verschiedenen Nach-
Jetzt muss sie mit dem Wagen keine Kinder namen ihrer Kinder äußert, fällt zudem ihre
mehr ›durchbringen‹. Trotzdem biedert sie Nicht-Religiösität auf: Das Messbuch benutzt
sich wieder dem Krieg an: »Holla, nehmts sie »zum Einschlagen von Gurken« (GBA 6,
mich mit!« (Ebd.) Das Ende des Stücks zeigt, S. 11). Wiederholt betont sie ihre Gebunden-
dass Mutter Courage nichts dazugelernt hat, heit an das Materielle, was jede Form von
noch immer durchschaut sie den Zusammen- religiösem Glauben luxuriös anmuten lässt:
hang zwischen dem Krieg, ihren Geschäften »Ich hab aber keine Seel. Dagegen brauch ich
und dem Tod ihrer Kinder nicht. Und obwohl Brennholz.« (S. 57) Deshalb fällt es ihr auch
sie die Natur des Krieges und die Gefahren, nicht schwer, sich den Realitäten anzupassen
die von ihm ausgehen, erkannt hat, handelt sie und jeweils die Religion als ihre auszugeben,
nicht entsprechend. So erfüllt sich die Pro- die gerade an der Tagesordnung (S. 35). Au-
phezeiung, die sie beim Zerreißen des Perga- ßerdem hält Mutter Courage nicht viel von
mentsbogens in der ersten Szene äußert: »so Bürokratie – »Meine Lizenz beim Zweiten Re-
möchten wir alle zerrissen werden, wenn wir giment ist mein anständiges Gesicht« (S. 11) –,
uns in’n Krieg zu tief einlassen täten« (S. 15). und sie vertritt offen andere Wertmaßstäbe als
Im Gegensatz dazu gibt es selten Momente, allgemein üblich: So macht es ihr nichts aus,
in denen die Courage sich tatsächlich als ›Mut- ihren Sohn als »Hühnchen« (S. 13) darzustel-
tertier‹ verhält. Die Vehemenz, mit der sie len, wenn er dafür dem Kriegsdienst entgeht,
Eilifs Eintritt in die Armee verhindern will, und ohrfeigt ihn später für eine gefährliche
wirkt sehr beschützend, freilich nur bis zu dem Handlung. Ihre realitätsbezogene Haltung
Punkt, an dem sie in einen Handel wittert. Wie kommt auch in der Szene zum Ausdruck, in der
ein fürsorgliches Familienoberhaupt verhält sie den wütenden Soldaten davon abhält, sich
sie sich auch, als Eilif seinen Bruder, den Zahl- für einen Missstand beim Rittmeister zu be-
meister, um Geld bitten will. Obwohl die Cou- schweren: »Wie lang vertragen Sie keine Un-
rage nach außen keine Skrupel zeigt, wenn es gerechtigkeit? Eine Stund oder zwei? […] Ihre
ums Geld geht, achtet sie darauf, dass sich die Wut […] ist nur eine kurze gewesen« (S. 48).
Mitglieder ihrer Familie untereinander inte- In diesem Bereich sind auch die Beziehun-
ger verhalten: »Der ist nicht seinem Bruder gen der Courage zum Koch und zum Feld-
sein Zahlmeister. Er soll ihn nicht in Versu- prediger von Bedeutung. Den Koch, der nach
chung führen und gegen ihn klug sein.« (GBA dem ersten Zusammentreffen mit ihr, bei dem
6, S. 29) Geistesgegenwärtig reagiert sie auch sie ihm einen Kapaun zu überhöhtem Preis
bei dem Angriff des Gegners in Szene 3, in der verkauft, sehr von ihr angetan ist (GBA 6,
sie Kattrin mit Asche beschmiert, um sie vor S. 29 f.), sieht sie nach einem Überfall jahre-
einer Vergewaltigung zu schützen. Von der For- lang nicht, denkt aber offensichtlich an ihn, da
Mutter Courage – und ihre Kinder 395

sie seine Pfeife raucht und dabei über ihn sagt, Norbert Mennemeier. Er sieht die Courage in
er sei ein »netter Mensch« (S. 58) gewesen. In einer Welt situiert, in der es »für den einzelnen
der Zwischenzeit wird sie vom Feldprediger keine Auflehnung gibt« (Mennemeier, S. 392).
begleitet, dem sie bei dem Überfall gegen ihr Das Mitläufertum sei »die eigentliche ›Cou-
»besseres Gewissen« (S. 32) einen Mantel rage‹ der Courage« (S. 369). Das Ende des
überlässt, um seine evangelische Robe vorm Stücks hat folglich in seiner Beurteilung »den
Feind verstecken zu können, ihn danach mit Hauch der wahren Tragödie« (S. 397).
sich nimmt und ihn offensichtlich durchfüttert Claude Hill dagegen verwehrt sich einer
(vgl. S. 43). Sie sträubt sich aber auch nicht, Deutung, die davon ausgeht, dass die Courage
den Seelsorger zu körperlicher Arbeit anzu- »von unabänderlichen Schicksalskräften zer-
halten (wie z. B. zum Holzhacken, S. 57). Den malmt wird« (Hill, S. 108 f.). Er bewertet sie
Wunsch des Feldpredigers, die Beziehung »en- als eine denkwürdige Figur, »deren Einzigar-
ger« zu gestalten (S. 59), lehnt die Courage tigkeit sich aus der Fülle ihrer Widersprüche
allerdings ab, weil sie sich »Privatgeschichten« und Zwiespältigkeiten ableitet« (S. 111).
(ebd.) im Hinblick auf die Kinder nicht er- Ähnlich urteilt auch Klaus-Detlef Müller:
lauben will. Auf das spätere Angebot des »Mutter und Courage sind unvereinbare, letzt-
Kochs dagegen, in Utrecht ein Wirtshaus zu lich vernichtende Gegensätze« (Joost, S. 282).
führen, will sie gerne eingehen. Sie äußert Der Konflikt zwischen den Rollen und den
davor eindeutig den Wunsch, sesshaft zu wer- damit verbundenen Interessen sei unlösbar.
den: »Wenn ich mit meine Kinder, wo mir Bestimmend sei, dass die Courage unfähig ist,
verblieben sind, eine Stell fänd, wo nicht her- das zu erkennen.
umgeschossen würd, möcht ich noch ein paar Andere Deutungen entschuldigen die Cou-
ruhige Jahre haben.« (S. 73) rage entweder naturalistisch-modern (und
fernab des historischen Kontexts im Drama)
mit der Überforderung der Frau durch die
Doppelbelastung als Mutter und Ernährerin
Wissenschaftliche Rezeption (Fenn, S. 165), heben aus dem gleichen Grund
die Emanzipiertheit der Figur hervor (Komar,
S. 119) oder interpretieren diese (gegen den
Im Mittelpunkt der Forschungsliteratur stand Text) als Kriegsgegnerin (Ritchie, S. 266) und
vornehmlich Mutter Courage selbst. Zentrale entheben sie jeder Verantwortung, indem der
Frage war hierbei zumeist, inwiefern sich eine Verlust der Kinder durch das »Dilemma des
›Schuld‹ der Protagonistin konstatieren lasse. Krieges« erklärt wird (S. 276).
So kommt Helmut Jendreiek zu dem Schluss, Beachtenswert ist, dass die einzelnen Inter-
dass das Ende der Courage »sich nicht mit pretationen oftmals versuchen, die Figur ein-
tragischer Verblendung und schicksalhafter deutig festzulegen. Verurteilung oder Apologie
Unausweichlichkeit erklären [läßt], sondern scheinen die Pole zu sein, zwischen denen sich
[…] der Courage als ›Schlechtigkeit‹ und ›Ver- die Bewertung der Courage entscheidet. Diese
brechen‹ schuldhaft zugerechnet werden« Vorstellung verkennt die Komplexität der Fi-
muss (Jendreiek, S. 153). Er wertet ihr Ver- gur: Mutter Courage ist als Mutter, Geschäfts-
halten, mit dem Krieg einverstanden zu sein, frau und Frau aktiv, ihre verschiedenen Rollen
solange andere die Lasten tragen, ihn aber decken unterschiedliche Interessen ab, verlan-
abzuwehren, wenn sie selbst etwas beitragen gen verschiedenartige Verhaltensweisen. Anna
soll, als »kriminelle Inkonsequenz« (S. 174). Fierling hat deshalb sehr unterschiedliche Fa-
Die Umdeutung des Stücks in eine Tragödie cetten: Sie ist sympathisch, weise, gerissen,
missbrauche es »als Legitimation für ein Welt- menschlich einerseits, und sie ist gierig, ab-
bild, das es gerade widerlegen und zerstören stoßend, verbohrt und uneinsichtig anderer-
soll« (S. 154). seits. Ihre Ambivalenzen wahrzunehmen, die
Völlig entgegengesetzt argumentiert Franz Widersprüche auszuhalten und die Konse-
396 Mutter Courage und ihre Kinder

quenzen zu begreifen, die Mutter Courage deutsam, wirkt sie konstituierend für deren
selbst nicht begreift, ist die Herausforderung, Wahrnehmung als Gegenfigur zur Courage.
welche die Figur an die Rezipienten stellt. Denn Kattrin verhält sich, obwohl biologisch
Ein zweiter wichtiger Aspekt der wissen- gesehen keine Mutter, in vielen Situationen
schaftlichen Rezeption ist die Deutung der mütterlicher als die Courage selbst: Sie rettet
Kattrin-Figur, die eng an die Auslegung der einem Säugling das Leben sowie die Kinder
Courage gekoppelt ist. So sieht Jendreiek, der der Stadt Halle. Die Gegensätzlichkeit von
die Courage als schuldig bewertet, in der Toch- Mutter Courage und ihrer Tochter Kattrin wird
ter »eine Anti-Courage, Gericht über ihre Mut- von der Forschung mehrfach hervorgehoben,
ter und die Widerlegung der Courage-Ideo- wobei Pia Kleber hierin mehr als nur eine
logie der Großen Kapitulation« (Jendreiek, Demontage des traditionellen Mutterklischees
S. 192). sieht, vielmehr gelinge es B. »schon jetzt in
Im Gegensatz dazu sieht Mennemeier Kat- den 40er Jahren in seiner ästhetischen Pro-
trin von einem »tierhaften Drang zu Liebe und duktion etwas von dem vorwegzunehmen, was
Mutterschaft beherrscht« (Mennemeier, von feministischer Seite erst in den 70er Jah-
S. 399). Ihre Rettung der Stadt Halle entwertet ren gefordert wurde: die Entbiologisierung
er, da er sie deutet als »spontane, unreflek- der Mutterschaft« (Kleber, S. 137).
tierte, sozusagen biologische Menschlichkeit«
(ebd.). Damit beurteilt er Kattrin ähnlich wie
die Figuren des Stücks: als »armes Tier« (GBA
6, S. 37, S. 81), das sich nicht auszudrücken Rezeption auf deutschsprachigen
weiß und dem dadurch Vernunft und eigene Bühnen
Lebensgestaltung abgesprochen werden.
Mehr noch: Mennemeier vertritt sogar die An-
sicht, Kattrin schulde ihrer unsensiblen Mut- Die Uraufführung in Zürich am 19. 4. 1941
ter Dank, denn: »Allein der abgebrühten Le- (Regie: Leopold Lindtberg, Musik: Paul Burk-
benskunst der Mutter verdankt sie es, daß sie hard, Bühnenbild: Teo Otto) wurde sowohl
inmitten des Kriegs und der Geschäfte exi- von den Kritikern als auch vom Publikum posi-
stiert« (Mennemeier, S. 399). Großzügig über- tiv aufgenommen, nicht zuletzt wegen der be-
sieht er dabei, dass Kattrin von der Mutter trächtlichen darstellerischen Leistung von
ständig bevormundet wird, dass sie nicht hei- Therese Giehse, welche die Mutter Courage
raten darf und so nie zur ersehnten Familie spielte. Ein Großteil der Kritik sah in der Figur
gelangt, dass sie der Mutter die Narbe ver- der Marketenderin Fierling aber den »Proto-
dankt, vielleicht sogar ihre Stummheit selbst, typ der Ur-Mutter« (Thommen), deren Kinder
denn die aufmerksamen Rezipienten ahnen, »der Krieg verschlingt«, wie Bernhard Kissel
wo sich die Courage aufzuhalten pflegt, wenn vermerkte (Wyss, S. 206). Sogar Kritiker, die
ihren Kindern Schlimmes zustößt. wie Bernhard Diebold erkannten, dass »Mut-
Walter Hinck widerspricht einer Deutung ter Courage selber […] keineswegs nur in Ver-
der Figur im Sinn Mennemeiers; vielmehr sei klärung beleuchtet« wird (Wyss, S. 207) und
Kattrin »sich über den hohen Einsatz im kla- der Krieg, wie Hans Ott herausstellte, »seine
ren, ihr Handeln vollzieht sich in vollem Be- eigenen Kinder [frißt], selbst die, die vom
wußtsein seiner Folgen für sie selbst« (Hinck, Krieg leben und von ihm eigentlich Nutzen
S. 171). Man verkürze die Figur »in fataler ziehen« (Wyss, S. 212), relativierten ihre Deu-
Weise, wenn man […] ihre Handlungen nur tungen dadurch, dass sie den Krieg als Schick-
als Kompensation für den mütterlichen In- salsmacht begriffen und die Figuren des
stinkt begreift« (ebd.). Stücks, besonders Mutter Courage, als »immer
Obwohl Hincks Deutung zweifellos zuzu- getrieben […] unfrei […] ohne Wahl« (Die-
stimmen ist, erscheint die ›Mütterlichkeit‹ bold) verstanden. Trotz dieser Missverständ-
Kattrins in einem anderen Zusammenhang be- nisse honorierte B. die Leistung in Zürich,
Rezeption auf deutschsprachigen Bühnen 397

indem er am 22. 4. 1941 im Journal festhielt: nierung am Deutschen Theater zeichnete sich
»Es ist mutig von diesem hauptsächlich von schon bei der Voraufführung in einer geschlos-
Emigranten gemachten Theater, jetzt etwas senen Vorstellung für die Gewerkschaften am
von mir aufzuführen. Keine skandinavische 9. 1. 1949 ab, die B. als die »eigentliche Pre-
Bühne war mutig genug dazu.« (GBA 26, miere« (GBA 27, S. 298) ansah. Für diese In-
S. 476) szenierung führte B. gemeinsam mit Erich En-
Die Rezeption des Stücks als »Loblied auf gel Regie (Premiere: 11. 1. 1949). Das Züricher
die unerschöpfliche Vitalität des Muttertiers«, Bühnenbild Teo Ottos wurde übernommen
wie B. am 7. 1. 1948 im Journal vermerkte (die Ausstattung besorgte Heinrich Kilger).
(GBA 27, S. 263), wirkte entscheidend auf die Die Musik Dessaus, die dieser im Hinblick auf
Textgeschichte zurück. B. änderte den Text, die Inszenierung 1948 überarbeitet hatte,
um die negativen Charakterzüge der Courage wurde uraufgeführt. Helene Weigel spielte die
sowie den selbstverschuldeten Verlust der Kin- Titelrolle so eindrucksvoll und unverwechsel-
der zu verdeutlichen. bar, dass »Leute […] auf der Straße auf die
Von diesen Änderungen unbeeinflusst, fand Weigel [zeigten] und sagten: Die Courage!«
die deutsche Erstaufführung von Mutter Cou- (Die Courage lernt nichts; GBA 24, S. 273),
rage und ihre Kinder am 2. 6. 1946 im Rahmen und sie außerdem im August des Jahres den
der Kunst- und Kulturwochen am Stadttheater Nationalpreis II. Klasse erhielt. Die starke Re-
Konstanz statt (Regie: Wolfgang Engels, Mu- sonanz der Inszenierung legte den Grundstein
sik: Paul Burkhard und andere, Bühnenbild: für B.s Stellung in der internationalen Thea-
Ulrich Damrau, Mutter Courage: Lina Car- terwelt – ein Gastspiel dieser Inszenierung
stens). Es gibt keine Hinweise, dass B. von Juni/Juli 1954 in Paris führte zur »révolution
dieser Inszenierung wusste; er selbst ging da- brechtienne« (vgl. Hüfner, S. 50), die B.s Welt-
von aus, dass die Berliner Inszenierung von erfolg einleitete -und ermöglichte, das Vor-
1949 die deutsche Erstaufführung war. Vermut- haben für ein eigenes Schauspielhaus weiter-
lich wurde in Konstanz der Text der Züricher hin zu verfolgen (zur Geschichte der Inszenie-
Uraufführung gespielt (so ist, wie im Pro- rung vgl. Rischbieter 1983).
grammheft festgehalten wurde, statt dem Na- Die Kritik war in der Beurteilung des Stücks
men ›Schweizerkas‹ für Courages zweiten dennoch gespalten. In der sowjetischen Besat-
Sohn wie in Zürich ›Schweizerköbi‹ verwen- zungszone begann eine Grundsatzdiskussion
det worden). Die Rezensionen heben hervor, um das epische Theater B.s, welches von Fritz
dass für eine kleine Bühne wie die in Konstanz Erpenbeck, einem einflussreichen Vertreter ei-
die Inszenierung »ein Wagnis« (Brasch) und nes doktrinären sozialistischen Realismus in
eine »große Tat des kleinen Theaters« (Käst- den ersten Nachkriegsjahren, vehement abge-
ner) darstellte. Der Kritiker Ernst Brasch er- lehnt, von anderen Kritikern, besonders Wolf-
kannte in der Chronik aus dem Dreißigjähri- gang Harich, befürwortet wurde (Näheres in
gen Krieg einen »Spiegel der Gegenwart […], GBA 6, S. 395–397; Ludwig, S. 46 f.; Mitten-
in den allerdings nicht jeder gern hinein- zwei, S. 26–34). In Westdeutschland galt der
sieht«. Dennoch schließt auch er sich den Zü- zurückgekehrte Stückeschreiber als der »be-
richer Fehldeutungen an, wenn er vom deutendste Dramatiker unserer Sprache nach
»schweren Mutterschicksal« der Courage 15 Jahren unwirtlicher Emigration« (Luft),
spricht (ebd.). Erich Kästner urteilte dahin- wenngleich auch hier der Aufführungsstil An-
gehend genauer, wenn er konstatiert, dass die lass zu Kritik bot (vgl. GBA 6, S. 398 f.).
Courage »nicht böse ist, noch gut, sondern ein Nach dem Erfolg in Berlin waren zahlreiche
Mensch« (Kästner). Er betonte, dass das deutsche Theater an einer Inszenierung von
»Stück […] im historischen Gewand bereits Mutter Courage interessiert. B. weigerte sich
den kommenden totalen Krieg, seine ›Moral‹ aber, eine allgemeine Aufführungserlaubnis zu
und seine Schrecken« antizipiert habe (ebd.). erteilen, einerseits aufgrund der Fehldeutun-
Der sensationelle Erfolg der Berliner Insze- gen nach der Züricher Aufführung, anderer-
398 Mutter Courage und ihre Kinder

seits wegen des »Verfalls der Kunstmittel unter ring, der mit B.s Werk in besonderer Weise
dem Naziregime« (GBA 25, S. 73), der sich in verbunden war, mit Anerkennung honoriert
der Spielweise der deutschen Schauspieler wurde; er bezeichnete die Inszenierung als
und Schauspielerinnen spiegelte. Stattdessen »eine der stärksten Aufführungen, die ich aus-
veranlasste er Ruth Berlau und Hainer Hill, serhalb Berlins jemals gesehen habe« (Ihering,
die Berliner Aufführung in mehreren hundert S. 164 f.). Dennoch sei sie keine bloße Nach-
Fotos zu dokumentieren. Der Regieassistent ahmung des Modells gewesen, sondern »eine
Heinz Kuckhahn stellte Regie-Notate zusam- selbständige, eine schöpferische Weiterent-
men. Das so entstandene Modellbuch war bis wicklung« (ebd.).
1954 für jede weitere Inszenierung verbind- André Müller, der die Düsseldorfer Insze-
lich. Es bildete die Basis für das 1958 postum nierung 1958 (Regie: Hans Schalla, Bühnen-
erschienene Couragemodell 1949 (vgl. Coura- bild: Max Fritzsche, Mutter Courage: Elisa-
gemodell 1949; BHB 4). beth Flickenschildt) rezensierte, hob die
Noch vor der Premiere (1. 10. 1949) wurde Bedeutung des Couragemodells hervor: »Das
in Wuppertal (Regie: Willi Rohde, Bühnen- Modell setzt Maßstäbe, die man nicht einfach
bild: Hanna Jordan, Mutter Courage: Elisa mißachten kann.« (A. Müller) Die Inszenie-
Tuerschmann), wo der Intendant Erich Alex- rung ließ das Modell unberücksichtigt, »mehr
ander Winds nicht nur der Benutzung des Mo- noch, man spielte bewußt im direkten Gegen-
dellbuchs zugestimmt, sondern auch zugelas- satz zu allen Regeln, die Brecht für die Auffüh-
sen hatte, dass Berlau die Grundarrangements rung seiner Stücke gefordert hat« (ebd.). Statt-
vornahm, die Einflussnahme des Stücke- dessen versuchte Regisseur Schalla, ungegen-
schreibers eindringlich diskutiert, zumal er im ständliche Bilder wirken zu lassen, die das
Mai 1949 nach der Generalprobe die Auffüh- Stück aber aus dem geschichtlichen Kontext
rung in Dortmund, wo das Berliner Modell rissen. Müller kritisierte vehement die »blut-
nicht benutzt worden war, nicht gestattet leere Abstraktion«, die sich in Details äußerte
hatte. wie dem Bild eines Baumes, an dessen Ästen
Das Couragemodell bewährte sich jedoch so- lose Buchstaben ohne jede Bedeutung hingen.
wohl in der Wuppertaler Inszenierung als auch Wiederum am Modell orientiert und von
ein Jahr später in München (Premiere: 8. 10. ihm ausgehend inszenierte Erwin Piscator die
1950), bei der B. wieder Regie führte und die Courage 1960 in Kassel (Bühnenbild: Ekke-
trotz der Polemik im Vorfeld ein außerordent- hard Grübler, Mutter Courage: Rita Mosch).
licher Erfolg wurde. Nach der Rotterdamer Auch diese Inszenierung erntete Lob von Ihe-
Premiere im Dezember 1950 (Regie: Ruth Ber- ring, »weil sie zeigt, wie produktiv das Werk
lau, Bühnenbild: Teo Otto, Mutter Courage: Brechts auf den ganzen Umkreis des deutschen
Aaf Bouber) wurden einige Änderungen der Theaters wirkt« (Ihering, S. 233).
Inszenierung ins Couragemodell 1949 aufge- Das Modell war für die Neustrelitzer In-
nommen. 1951 wurde die Berliner Inszenie- szenierung 1968 ebenfalls Ausgangspunkt (Re-
rung ins Berliner Ensemble übernommen. Die gie: Erhard Kunkel, Bühnenbild: Frank Bo-
Neuinszenierung hatte am 11. 9. 1951 Pre- risch, Mutter Courage: Regine Reginek). Be-
miere und blieb noch nach dem Tode B.s auf merkenswert an dieser Aufführung war ein
dem Spielplan des Berliner Ensembles. Detail, das den Chronik-Charakter besonders
Die Inszenierungen nach B.s Tod wurden hervorhob: beim Öffnen des Vorhangs verharr-
von den Kritikern zum Couragemodell in Be- ten die Figuren zunächst einige Sekunden un-
ziehung gesetzt, d. h. oftmals danach bewertet, beweglich, ebenso wurden die Szenen abge-
ob sie dem Modell folgten oder nicht und ob schlossen (vgl. Seyfarth, S. 19). So wurde
die jeweilige Lösung gelungen erschien. Nah »gleichsam Seite für Seite« (ebd.) der Chronik
am Modell inszenierte Eberhard Müller-El- aufgeschlagen.
mau die Courage 1956 in Göttingen (Mutter Peter Palitzsch, der Mutter Courage bereits
Courage: Grete Wurm), was vom Kritiker Ihe- 1964 in Köln inszeniert hatte und dort u. a.
Rezeption auf deutschsprachigen Bühnen 399

aufgrund seiner Anhänglichkeit gegenüber Im Berliner Ensemble wurde die Courage


dem Modell kritisiert worden war (vgl. Kai- 1978 neu inszeniert (Regie: Peter Kupke, Aus-
ser), setzte sich in seiner Stuttgarter Inszenie- stattung: Manfred Grund und Christine
rung 1970 schon durch das Bühnenbild von Stromberg, Mutter Courage: Gisela May). Die
Wilfried Minks bewusst davon ab: Die Bühne Kritik lobte die »produktive Traditionsauf-
bot mit Soldatenfiguren aus weißlichem Papp- nahme« (Nössig 1978) des Couragemodells,
maschee, einer von Puppen figurierten Hin- sowie die überlegten Veränderungen und den
richtungsszene, einem gekreuzigten Christus Verzicht auf »mancherlei ausgetüftelte ›Mo-
mit Gasmaske (nach Dix) und einem Auto- dernität‹« (ebd.).
wrack viel »Assoziationsgerümpel« (Rischbieter Die 1981er Inszenierung in Karl-Marx-Stadt
1971, S. 33). Werbeplakate auf dem Courage- (Regie: Siegfried Höchst, Ausstattung: Volker
Wagen und dem Zwischenvorhang dienten Walther, Mutter Courage: Anny Stöger) ver-
ebenso zur Verknüpfung mit der Gegenwart zichtete keineswegs auf moderne Elemente.
wie auch die Kostüme, die »aus den Zeug- Im Hintergrund der Bühne hing eine große
häusern vieler Kriege zusammengeliehen« wa- Weltkarte, die mit Planquadraten eines über-
ren (ebd.). Von Kritikern hervorgehoben dimensionalen Radarspiegels überzogen war.
wurde die besondere Deutung der Kattrin: In der Mitte befand sich der Michelangelo-
Diese wirkte selbstständiger und eigensinni- Entwurf des Renaissancemenschen. Vor Hand-
ger als in B.s Textvorlage. So legte sie nicht, lungsbeginn trug ein Mensch der Gegenwart
wie bei B., die Hose des Kochs und den Rock einen Falken und eine Taube (als Symbole für
der Mutter, die von Ingeborg Engelmann ge- Krieg und Frieden) durch den Zuschauerraum
spielt wurde, nebeneinander, um der Courage und über die Bühne. Zwei Gestalten in Gas-
zu demonstrieren, dass sie bei den Plänen des masken und Gummischutzanzügen deckten
Kochs nicht im Weg sein will, sie änderte statt- dann den mit durchsichtiger Folie abgedeck-
dessen auf dem Firmenschild der Mutter den ten Courage-Wagen auf, »die Beziehung des
Namen Fierling in Fickling und wollte dann, Modells aus der Vorzeit zur Gegenwart mit der
einer Idee des Kochs folgend, den Wagen mit- Atomkriegsgefahr wird auf originäre Weise
samt den Waren mitnehmen. hergestellt« (Kröplin, S. 30). Dieser Eindruck
In der Weimarer Courage-Inszenierung von wurde gesteigert durch Einblendungen von
1977 (Regie: Heinz-Uwe Haus) dominierten dokumentarischen Filmbildern wie der Klage
ebenfalls aktuelle Akzente die Bühnendekora- einer vietnamesischen Mutter vor der Leiche
tion von Franz Havemann und Hernando ihres Kindes. Die Kritik lobte, dass die In-
Leon: Im oberen Bühnenraum waren stili- szenierung »nicht in Ehrfurcht vor der Klassi-
sierte Körper und einzelne Körperteile ange- zität des meisterlichen Inszenierungsmodells«
bracht, für die Vorbühne war ein Panorama von erstarb (ebd.).
Skulpturen geschaffen worden, welche die Ar- Mit dem Versuch der Modernisierung vehe-
beit, den Schmerz und den Kampf der Unter- ment in die Kritik geriet die Bochumer In-
drückten versinnbildlichten (vgl. Bersier, szenierung von 1981 (Regie: Alfred Kirchner,
S. 117). Neu und von B. nicht vorgesehen wa- Bühnenbild: Mariette Eggmann, Mutter Cou-
ren pantomimische Zwischenspiele zwischen rage: Kirsten Dene). Stein des Anstoßes war
den Szenen, die von der Kritik eher mit Ver- vor allem die Szene 11, in der Kattrin in Bo-
wirrung zur Kenntnis genommen wurden (vgl. chum nicht auf einer Trommel, sondern auf ein
Bersier S. 117 f.; Nössig 1977, S. 10). Bemer- Schlagzeug hämmerte, schließlich auf den an
kenswert erscheint allerdings ein Detail, das Seilen vom Bühnenhimmel herabgelassenen,
die Geschäftstüchtigkeit der Anna Fierling, echten Jagdbomber kletterte und auch diesen
die von Christa Lehmann dargestellt wurde, mit einem Holzhammer attackierte. Zwei Sol-
unterstreicht: Von Kattrin Abschied nehmend, daten in historischen Kostümen schossen sie
zog die Weimarer Courage die tote Tochter dann von den Tragflächen des Kampfflugzeugs
aus, um auch noch ihre Sachen abzusetzen. herunter (vgl. Carp, S. 30; Schmidt). Hinck
400 Mutter Courage und ihre Kinder

kritisierte, dass die Inszenierung »offensicht- den meistgespielten Stücken aus B.s drama-
lich gar nicht (mehr) mit dem mündigen Zu- tischem Werk.
schauer, den Brecht vorausgesetzt hat«, rech-
nete und sich in »platte Direktheit« flüchtete
(Hinck, S. 162). Weiter führt er aus: »Und wo
das Parabelhafte des Stücks aufgebrochen und Bearbeitungen und sonstige
zerstört wird, geht im Spektakelhaften vorder- Rezeptionsformen
gründiger Aktualisierungen auch vieles vom
Ernst und von der Tiefendimension der
gleichnishaften Chronik verloren.« (Ebd.) Robert Potter schrieb 1979 im Auftrag des
Hinzugefügt wurde außerdem eine zusätzliche Stadttheaters Richmond (Virginia, USA) eine
Figur: der Tod, der als eine Art Conférencier Bearbeitung der Mutter Courage. Die Hand-
die Szenen einleitete. Auch in dieser Inszenie- lung wurde in den amerikanischen Bürger-
rung entkleidete die Courage die tote Tochter; krieg 1861–1865 verlegt, Mutter Courage
mit einem von Kattrins Ohrringen wurden die wurde als eine Farbige konzipiert, die ihre
Bauersleute für die Beerdigung entlohnt. Der Waren an Sklavenhalter und Yankees verkauft.
Kritiker Jochen Schmidt sah in dem »Riß zwi- Auch sie verliert ihre drei Kinder an den Krieg.
schen Theatralik und Engagement, zwischen Die Bearbeitung wurde mit einigem Erfolg in
Trivialität und Kunst« durchaus eine Qualität Richmond inszeniert, erreichte aber 1981 in
der Aufführung (Schmidt). einer Inszenierung in San Diego ihre größte
Die Tendenz, B.s Stück aus dem Dreißigjäh- Popularität. Mother Courage wurde von der
rigen Krieg in die Gegenwart oder potenzielle damals noch unbekannten Whoopi Goldberg
Zukunft zu transponieren, verstärkte sich zu- gespielt (vgl. Potter).
nehmend. Dies gilt auch für Inszenierungen Mehrere von B. forcierte Anläufe von 1949
der 90er-Jahre. Von der Kritik wurden diese bis 1955, den Courage-Stoff zu verfilmen,
Versuche recht unterschiedlich bewertet. Die scheiterten. Peter Palitzsch und Manfred Wek-
Aufführung im Rahmen der Wiener Festpiel- werth drehten 1960 einen Theaterfilm nach
wochen 1995 (Regie: Jérôme Savary, Bühnen- der Modell-Aufführung des Berliner Ensemb-
bild: Ezio Toffolutti, Mutter Courage: Katha- les (vgl. Mutter Courage; BHB 3). Außerdem
rina Thalbach), in der ein Flugzeugwrack auf wurde eine Kölner Inszenierung 1988 aufge-
der Bühne lag, Mutter Courage im Mini Coo- zeichnet und erstmals zum 90. Geburtstag des
per statt im Planwagen vorfuhr und die Solda- Stückeschreibers ausgestrahlt.
ten Kokain konsumierten, wurde von Kritiker
Wolfgang Kralicek sehr negativ bewertet (vgl.
Kralicek). Literatur:
Dagegen lobte Jörg Mihan die »mutige Ver- Bersier, Gabrielle: Zur Aufführung. In: BrechtJb.
fremdung eine Klassikers« (Mihan, S. 60) bei (1978), S. 116–119. – Brasch, Ernst: Bert Brechts mo-
der Inszenierung in Magdeburg von 1995 (Re- ralische Anstalt. »Mutter Courage und ihre Kinder«.
gie und Ausstattung: Klaus Noack, Mutter Deutsche Erstaufführung im Stadttheater Konstanz.
In: Südkurier (Konstanz), 4. 6. 1946. – Carp, Stefa-
Courage: Franziska Ritter), bei der die Kinder
nie: Zwei Frauen in Männerkriegen. In: Theater
der Courage von Laiendarstellern, von Schü- heute (1981), H. 5, S. 28–31. – Dessau, Paul: Zur
lern, gespielt wurden. Außerdem überraschte, Courage-Musik. In: Müller, S. 102–108. – Dümling.
dass der Planwagen der Courage durch eine - Engberg, Harald: Brecht auf Fünen. Exil in Däne-
Couch ersetzt wurde. mark 1933–1939. Wuppertal 1974. – Fenn, Bernard:
Die vielfältigen Inszenierungsansätze bele- Characterisation of Women in the Plays of Bertolt
Brecht. Frankfurt a. M. 1982. – Hill, Claude: Bertolt
gen, unabhängig davon, wie man die moder-
Brecht. München 1978. – Hinck, Walter: »Mutter
nen Elemente bewertet, den kreativen Um- Courage und ihre Kinder«: Ein kritisches Volksstück.
gang mit dem Text. Mutter Courage und ihre In: Hinderer, S. 162–177. – Ihering, Herbert: Bert
Kinder gehört neben der Dreigroschenoper zu Brecht hat das dichterische Antlitz Deutschlands
401

verändert. Gesammelte Kritiken zum Theater bert: Writing Mother Courage. In: BrechtYb. 24
Brechts. München 1980. – Hüfner, Agnes: Brecht in (1999), S. 14–23. – Rischbieter, Henning: Brecht und
Frankreich 1930–1945. Verarbeitung, Aufnahme, kaum neue Anfänge. In: Theater heute (1971), H. 2,
Wirkung. Stuttgart 1968. – Jendreiek, Helmut: Ber- S. 33–36. – Ders.: Brechts Wiederkehr. Der Stücke-
tolt Brecht. Drama der Veränderung. Düsseldorf schreiber inszeniert »Mutter Courage« mit der Wei-
1969. – Joost. – Kästner, Erich: Grenzpfähle und gel. In: Theater heute (1983), H. 10, S. 12–20. –
Grenzfälle. Eine Reise nach Konstanz. In: Die Neue Ritchie, Gisela F.: Der Dichter und die Frau. Lite-
Zeitung (Frankfurt), 10. 6. 1946. – Kaiser, Joachim: rarische Frauengestalten durch drei Jahrhunderte.
Wie spielen wir nun Brecht? In: Theater heute Bonn 1989. – Runeberg, Johan Ludvig: Lotta Svärd.
(1965), H. 1, S. 57–59. – Kleber, Pia: Die Courage In: Müller, S. 15–20. – Schmidt, Jochen: Mutter
der Mütter. Am Beispiel Bertolt Brecht. In: Möhr- Courage im Dritten Weltkrieg. In: Frankfurter All-
mann, Renate (Hg.): Verklärt, verkitscht, vergessen. gemeine Zeitung, 7. 4. 1981. – Seyfarth, Ingrid: En-
Die Mutter als ästhetische Figur. Stuttgart 1996, semble-Erzieher Brecht. In: Theater der Zeit (1968),
S. 130–144. – Knopf, Jan: »Der Friede – das Loch, H. 10, S. 17–19. – Thole, Bernward: Die »Gesänge«
wenn der Käs gefressen ist«. Der Dreißigjährige in den Stücken Bertolt Brechts. Zur Geschichte und
Krieg im Werk Bertolt Brechts. In: Bußmann, Klaus/ Ästhetik des Liedes im Drama, Göppingen 1973. –
Schilling, Heinz (Hg.): 1648. Krieg und Frieden in Thommen, Elisabeth: Eine Uraufführung von Ber-
Europa. Münster, Osnabrück 1998, S. 393–398. – Ko- told [sic] Brecht. In: Müller, S. 58 f. – Wyss.
mar, Kathleen L.: Paradigm Change: The Female
Ana Kugli
Paradigm in Brecht’s Mutter Courage und ihre Kin-
der and Christa Wolf’s Kassandra. In: Euphorion 82
(1988), S. 116–126. – Kralicek, Wolfgang: Es geht
ums Ganze – und manchmal um alles. In: Theater
heute (1995), H. 8, S. 11–19. – Kröplin, Wolfgang:
Modell aus der Vorzeit in die Gegenwart geholt. In:
Theater der Zeit (1981), H. 8, S. 30–32. – Lucchesi/
Das Verhör des Lukullus /
Shull. - Ludwig, Karl-Heinz: Bertolt Brecht: Tätig- Die Verurteilung des
keit und Rezeption von der Rückkehr aus dem Exil
bis zur Gründung der DDR. Kronberg/Taunus 1976. Lukullus
– Luft, Friedrich: Bertolt Brechts glückliche Wieder-
kehr. »Mutter Courage« im Deutschen Theater. In:
Die Neue Zeitung (Frankfurt), 15. 1. 1949. – Mayer,
B.s Lukullus handelt auf exemplarische Weise
Hans: Anmerkung zu einer Szene aus »Mutter Cou-
rage«. In: Ders.: Brecht. Frankfurt a. M. 1996, von Macht und Ohnmacht der Herrschenden.
S. 370–377. – Mennemeier, Franz Norbert: Brecht. Zugleich war das Stück in seiner Rezeption
Mutter Courage und ihre Kinder. In: Wiese, Benno ungleich anderen Werken B.s der Sogwirkung
von (Hg.): Das deutsche Drama. Vom Barock bis zur von Zeitgeschichte unterworfen. Seine Ent-
Gegenwart. Interpretationen. Bd. II. Düsseldorf stehung fiel mit dem Beginn des zweiten
1975, S. 386–404. – Mihan, Jörg: Tragigroteske der
Weltkriegs zusammen; die Uraufführung ein
Ignoranz. In: Theater der Zeit (1996), H. 1, S. 59 f. –
Mittenzwei, Werner: Die Kritikerschlacht um die knappes Vierteljahrhundert später war von
»Mutter Courage«. In: Ders. (Hg.): Wer war Brecht. kulturpolitischen Restriktionen im Zeichen
Wandlung und Entwicklung der Ansichten über des Kalten Kriegs begleitet. B. wollte anfangs
Brecht. Berlin 1977, S. 26–34. – Müller, André: [Re- mit dem ›Radiostück‹ den Kampf über den
zension]. In: Theater der Zeit (1958), H. 4, S. 57–59. Äther gegen Hitlerdeutschland führen, dann
– Müller, Klaus-Detlef (Hg.): Brechts »Mutter Cou-
geriet es jedoch zehn Jahre später in den
rage und ihre Kinder«. Frankfurt a. M. 1982. – Nös-
sig, Manfred: Courage für heute? In: Theater der Brennpunkt der Formalismus-Realismus-Kon-
Zeit (1977), H.7, S. 9–11. – Ders.: Courage 78. In: troversen der jungen DDR und löste den er-
Theater der Zeit (1978), H. 12, S. 56. – Olsson, Jan sten großen Konflikt zwischen B., Paul Dessau
Esper: Entstehungschronik. In: Brecht, Bertolt: und staatlichen Behörden aus, der sich schnell
Mutter Courage und ihre Kinder. Historisch-kriti- zu einem politischen Eklat international aus-
sche Ausgabe. Hg. v. Jan Esper Olsson. Frankfurt
weitete. Dabei kam der Musik eine zentrale
a. M. 1981, S. 4–25. – Parmet, Simon: Die ursprüng-
liche Musik zu »Mutter Courage«. Meine Zusam- Rolle zu: Sie war im schwedischen Exil als
menarbeit mit Brecht. In: Schweizerische Musik- tragendes Element des Radiostücks geplant,
zeitung 97 (1957), H. 12, S. 465–468. – Potter, Ro- jedoch nicht verwirklicht worden. In der DDR
402 Das Verhör des Lukullus / Die Verurteilung des Lukullus

schließlich war es vor allem die Musik der kele hat jedoch überzeugend dargestellt, dass
Oper, die zum Anlass der Auseinandersetzun- weitere Quellen, u. a. die Totengespräche des
gen über B.s Stück genommen wurde. Lukian, der altägyptische Totenkult, Motive
des Alten und Neuen Testaments sowie aktu-
elle Formen des faschistischen Führerkults
dem Autor zu einem frei genutzten, scheinbar
Entstehung ›ahistorischen‹ Gebrauch dienten, mit dem
Ziel, Geschichte in ihrem Funktionieren
durchschaubar zu machen (Finkele, S. 131–
Die als Mitarbeiterin am »Radiostück« (GBA 6, 138; zum altägyptischen Totenkult vgl.
S. 87) genannte Margarete Steffin begrenzte Dahlke, S. 69). So ist B.s Lukullus-Figur zwar
die Entstehungszeit vom 5.11. bis 11. 11. 1939 historisch entlehnt, aber gleichzeitig zu mo-
(BBA 2112/199–227; vgl. Hauck, S. 301). B. dellhafter Abstraktion gebracht, um dem Hö-
schrieb demnach den Text »sehr schnell« rer und Zuschauer ein analytisches Instrumen-
(Journal, 7. 11. 1939; GBA 26, S. 347), unmit- tarium für seinen Umgang mit Geschichte zu
telbar nach Beendigung von Mutter Courage vermitteln. Denn B.s verfremdender Rekurs
und ihre Kinder sowie kurz nach Kriegsbeginn auf römische Geschichte bedeutet in allen
im schwedischen Exil innerhalb von sieben drei, die Zeitenwechsel begleitenden Lukul-
Tagen. Diese ›Schnelligkeit‹ des Schreibens lus-Fassungen auch: Faschismus, Hitler, zwei-
mochte der deutschen Blitzkriegstaktik beim ter Weltkrieg, Kalter Krieg, deutsche Wieder-
Überfall auf Polen geschuldet sein. B. hatte bewaffnung und Pazifismus-Diskurs im Zei-
verschiedentlich über den Widerspruch nach- chen atomarer Bedrohung. Zugleich wird mit
gedacht, wie er den Hochgeschwindigkeits- dem Lukullus ein theatralischer Gegenent-
waffen und dem Faktor Zeit auf europäischen wurf zur ›vorherrschenden‹ Helden-Historio-
Schlachtfeldern in seinem Anschreiben gegen graphie demonstriert, als einem notwendig
den Krieg mittels veralteter, durch das Exil geschichtlichen Korrektiv ›von unten‹: »Im-
zusätzlich begrenzter Produktion und Distri- mer doch / Schrieb der Sieger die Geschichte
bution begegnen könnte (vgl. Lucchesi 1997). des Besiegten. / […] Aus der Welt / Geht der
Denn Lukullus, in der Kriegsmetapher des Schwächere, und zurückbleibt / Die Lüge.«
›zerstörenden Blitzes‹ (vgl. GBA 6, S. 102), (GBA 6, S. 158)
kann als Hinweis auf moderne Kriegsführung Es ist – im Gegensatz zum GBA-Kommentar
gelesen werden. Andererseits war diese kurze – nicht eindeutig, dass B. ein »Hörspiel« (GBA
Zeitspanne nur deshalb möglich, weil B. seit 6, S. 411) mit musikalischen Einlagen plante.
längerem mit dem antiken Stoff vertraut war, Er hatte häufiger den traditionellen Gattungs-
hatte er ihn doch in Vorarbeiten ab 1937 zu begriff unterlaufen oder ihm opponiert (so in
seinem satirischen Romanfragment Die Ge- der Dreigroschenoper und der Oper Aufstieg
schäfte des Herrn Julius Caesar sowie für die und Fall der Stadt Mahagonny). Im Lukullus
wenige Monate vor dem Lukullus fertig ge- vermied er zunächst bewusst die Bezeichnung
stellte Novelle Die Trophäen des Lukullus in- ›Hörspiel‹ und nannte das Werk im Titel des
tensiv studiert. Zu diesem Themenbereich aus Erstdrucks von 1940 ein »Radiostück« bzw. im
der Endzeit der Römischen Republik gehört Journal vom 7. 11. 1939 einen »Radiotext«:
ebenso die 1942 entstandene und sechs Jahre »Ich habe für einen hiesigen Musiker (Rosen-
später in den Kalendergeschichten veröffent- berg) einen Radiotext fertig gestellt, ›Das Ver-
lichte Erzählung Cäsar und sein Legionär. In hör des Lukullus‹, sehr schnell. So ziemlich
Bezug auf den Lukullus werden als B.s ge- die Grenze dessen erreichend, was noch ge-
schichtliche Quellen »insbesondere Plutarchs sagt werden darf.« (GBA 26, S. 347) In der
Vergleichende Lebensbeschreibungen und Gu- Forschungsliteratur ist diese Werkbezeich-
glielmo Ferreros Größe und Niedergang nung in ihrer Konsequenz kaum beachtet wor-
Roms« genannt (GBA 6, S. 411). Simone Fin- den: B. betont, dass sein Text dezidiert ›für‹
Entstehung 403

den Komponisten, Operndirigenten und funk, war die ›Radio-Brücke‹ doch für ihn wie
Scherchen-Schüler, Hilding Rosenberg, ent- für zahlreiche andere Emigranten die (fast)
standen sei. Der zweite Hinweis sind B.s Noti- einzige Möglichkeit im Exil, ›Kunst für die
zen, die dem Radiotext 23 Musiknummern zu- Schublade‹ öffentlich werden zu lassen: zum
ordnen (BBA 21/30; die Liste der Musikab- einen gegenüber der immer noch erhofften
folge ist veröffentlicht bei Hennenberg 1963, Hörerschaft in Deutschland, zum anderen als
S. 493 f.), und damit den geplanten intensiven mediale Möglichkeit ›schneller‹ Kommentie-
Einsatz von Musik belegen. Dies lässt darauf rung tagespolitischer Ereignisse in Kriegszei-
schließen, dass der Lukullus schon in der Ent- ten. Wie B. zugleich auch auf das Propagan-
stehungsphase – und im Gegensatz zur ver- dainstrument des faschistischen Rundfunks
breiteten ›Hörspiel‹-Klassifizierung in der mit seinen Kult-, Feier- und Weihespielen rea-
Forschungsliteratur – bereits als ›Funkoper‹ gierte, zeigt Finkele z. B. am Verhalten der Sol-
konzipiert wurde. daten in Szene 5 (GBA 6, S. 94), die sich einer
Das Werk mit dem Titel Das Verhör des Lu- ganz anderen, subversiv-respektlosen ›Spra-
kullus / Ein Radiostück, eine Auftragsarbeit che‹ gegenüber ihrem Feldherrn bedienen, als
für den Schwedischen Rundfunk Stockholm, in den offiziellen Wehrmachtsberichten (Fin-
wurde jedoch nicht zur Ursendung gebracht, kele, S. 145). Im selben Jahr erschien der Erst-
da der Schriftsteller Hjalmar Gullberg, verant- druck in der Zeitschrift Internationale Lite-
wortlich für das Theaterressort des Senders, ratur (Moskau) unter dem Titel: Das Verhör
B.s Text ablehnte (Lucchesi/Shull, S. 719). des Lukullus. Ein Radiostück von Bertolt
Vermutlich waren politische Rücksichtnahmen Brecht. Dieser Druck ist die Textgrundlage für
des ›neutralen‹ Schweden gegenüber Deutsch- GBA 6, S. 87–113.
land die Ursache hierfür. Eine Komposition 1939 sandte B. den Radiotext an den sich in
Rosenbergs ist nicht entstanden, denn er hatte Mexico City aufhaltenden Hanns Eisler, der
nach eigener Auskunft mit B. nur über Ge- ihn zur Übertragung ins Amerikanische an den
plantes diskutiert (Hennenberg 1963, S. 492); Schriftsteller Hoffman Reynolds Hays weiter-
erst 1953 wurde das ›Hörspiel‹ mit einer Mu- leitete. Die Übersetzung erschien 1943 in New
sik von Torbjörn Lundquist vom Schwedischen York. B., der inzwischen in die USA emigriert
Rundfunk ausgestrahlt. Wenig bekannt ist war, begegnete im selben Jahr Paul Dessau in
auch über die Aufführung des Stücks als Schat- New York wieder, zu dem erste (flüchtige)
tenspiel durch eine unter der Leitung von Her- Kontakte aus der Zeit des Baden-Badener Mu-
mann Greid stehenden deutschen Arbeiter- sikfestes 1927 herrührten. Vermittelt wurde
spieltruppe, die in den Räumlichkeiten der dieser vom Komponisten lang erwünschte
Jüdischen Gemeinde Stockholms und unter Kontakt durch den Kunsthistoriker Friedrich
der Schirmherrschaft der schwedischen Emi- Alexan, der als Sekretär der Tribune for Free
grantenselbsthilfe im Dezember 1939 statt- German Literature and Art in America einen
fand. Autorenabend unter Anwesenheit B.s an der
B. bot daraufhin seinen Text über den Ver- New Yorker New School for Social Research
leger Kurt Reiss dem Schweizer Rundfunk an, für den 6. 3. 1943 vorbereitete (vgl. Hecht,
der ihn fünf Monate nach seiner Entstehung, S. 702). Dieses Zusammentreffen, welches zur
am 12. 5. 1940 (zwei Tage nach dem deutschen Übersiedlung Dessaus nach Hollywood und zu
Einfall in Holland und Belgien) über den Lan- ihrer lebenslangen freundschaftlichen Ar-
dessender Beromünster (Studio Radio Bern) beitsverbindung führte, bot Gelegenheit, den
als Hörspiel ursenden ließ. Das Hörspiel mit Lukullus-Stoff auf seine von B. erhoffte musi-
dem Untertitel Ein Radiostück in 2 V 7 Szenen kalische Entwicklungsfähigkeit hin zu über-
(Regie: Ernst Bringolf) wurde allerdings ohne prüfen. Dazu las er dem Komponisten vor, wie
Musik produziert. B. setzte – wie seine Feinde sich Dessau erinnert: »Ich habe noch deutlich
– auf die politischen, grenzüberschreitenden im Ohr, mit welch großem Vergnügen er die
Wirkungsmöglichkeiten des Mediums Rund- Verse aus dem ›Abschied der Lebenden‹ vor-
404 Das Verhör des Lukullus / Die Verurteilung des Lukullus

las, aus dem später in meiner Oper ein Quin- Die Funkoper des
tett wurde. Es ist ein Gedicht, in dem sich die
Reime sozusagen zwischen die Beine laufen
Nordwestdeutschen Rundfunks
[…]. Worauf Brecht hinauswollte, war mir
bald klar: Er wollte den ›Lukullus‹ gern ›vero- Am 18. 3. 1949 – B. war inzwischen aus dem
pert‹ haben […], aber daß wir daraus eine amerikanischen Exil zurückgekehrt und be-
Oper machen sollten, das wollte mir lange fand sich in Zürich –, wurde der Lukullus in
nicht einleuchten. Das Thema verschwand einer Hörspielproduktion des Bayerischen
dann wieder lange aus unseren Gesprächen.« Rundfunks (München) mit einer Musik von
(Dessau, S. 42 f.) Bemerkenswert ist B.s alter- Bernhard Eichhorn gesendet. Der Sender
nativer Vorschlag, den ebenfalls in Hollywood hatte zwar, wie Jacob Geis am 30.6. an Ruth
lebenden Igor Strawinsky für dieses Projekt zu Berlau berichtete, Interesse an einer Über-
gewinnen (S. 43), denn offenbar fand B. den nahme dieser Produktion durch den NWDR,
Komponisten der L’histoire du soldat (1918) den SWF und Radio Frankfurt signalisiert
für seinen Lukullus-Stoff geeignet. Dessau (vgl. Hecht, S. 879), doch kam keine Sendung
vermittelte nach eigener Aussage die Anfrage zustande. Dessau, der, aus den USA kommend,
(ebd.). Doch Strawinsky lehnte aus Zeitman- Mitte Dezember 1948 in Berlin eintraf, ar-
gel ab. Auch mit Gottfried von Einem disku- beitete Anfang 1949 mit B. an einem neuen
tierte B. 1949 in Zürich das Lukullus-Projekt, Lukullus-Projekt: vom NWDR Hamburg
welches der Komponist in einer Mischung mit wurde eine Funkoper in Auftrag gegeben, für
Franz Kafkas Der Prozeß als Oper vertonen die Robert Adolf Stemmle als Regisseur vorge-
wollte (Lucchesi/Shull, S. 58). Doch auch die- sehen war. Relativ schnell, innerhalb nur we-
ses Vorhaben kam nicht zustande. niger Wochen, schrieb Dessau die Musik zu
Die zweite B.-Oper (nach Mahagonny) ent- zwölf von insgesamt 14 Szenen, die für einen
stand 1947 in Kalifornien. Der amerikanische intensiveren musikalischen Einsatz von B. zu-
Komponist Roger Sessions, der bereits einige vor nochmals überarbeitet wurden. Der Titel
Werke B.s im Original gelesen hatte, entwi- lautete nun: Das Verhör des Lukullus. / Oper in
ckelte mit Henry W. Schnitzler, dem Sohn Ar- 2 V 7 Szenen / von / Bertolt Brecht / Musik von
thur Schnitzlers und Regisseur von Furcht und Paul Dessau. B.s Überlegung, die Titelrolle
Elend des III. Reiches an der University of mit einem »Tenorbuffo, an Julius Lieban erin-
California (Berkeley), im Juni 1945 die Idee zu nernd« (BBA 622/2) zu besetzen, einem um die
einer Schuloper im Stil des Jasagers. Sessions Jh.wende international bekannten Wagner-
bat B. am 15. 9. 1946 brieflich um ein Libretto Sänger, ist aufschlussreich. Denn B. führte,
(BBA 1762/22–23), woraufhin B. ihm die ame- von pubertärer Schwärmerei abgesehen, zeit-
rikanische Druckfassung des Lukullus über- lebens eine intensive Polemik gegen Richard
sandte. So komponierte Sessions, der »ganz Wagner (vgl. Lucchesi/Shull, S. 76 f.); zum ei-
begeistert von den Möglichkeiten in musikali- nen gegen dessen Kunstauffassung und Ge-
scher Hinsicht« war, wie Schnitzler elf Tage schichtsverständnis, zum anderen wegen der
später an B. berichtete (BBA 1762/25), nach kulthaft-faschistoiden Rezeption seiner Opern
der Druckvorlage die Oper The Trial of Lu- im deutschen Musik- und Kulturleben, spe-
cullus, die am 18. 4. 1947 durch das Studenten- ziell auch durch Hitler. B.s Hinweis auf Lieban
theater der University of California (Berkeley) ist der kaum versteckte Fingerzeig auf Verbin-
uraufgeführt wurde. Allerdings nahm B. we- dungsstränge zwischen dem römischen Feld-
der Einfluss auf die Musik, noch auf die In- herrn, Wagner und Hitler, angedeutet durch
szenierung und war auch zu den wenigen Auf- eine scheinbar ›wertfreie‹ Stimmencharakte-
führungen nicht anwesend. Die als Partitur ristik.
gedruckte Oper erhielt positive Kritiken, ins- Dessau hatte jedoch Bedenken, B.s offenen
besondere die Musik (Lyon, S. 228), wurde Schluss zu akzeptieren, der die Urteilsfindung
aber bald vom Spielplan abgesetzt und ist zum ›Fall Lukullus‹ den Zuschauern überließ
heute unbekannt.
Die Funkoper des Nordwestdeutschen Rundfunks 405

(vgl. Dessau, S. 65). Ihm war die auf der (S. 35). Daraufhin begannen die Vorbereitun-
Bühne ›ausgesprochene‹ Verdammung des gen zur Aufführung der Oper. In dieser Phase
Feldherrn eine den politischen Zeitverhältnis- trug sich B. vermutlich mit der Absicht, die
sen angemessenere Lösung. B. reagierte so- Opernregie zu übernehmen, wie aus einem am
fort. Er übermittelte Dessau die neue Schluss- 21.4. mit Legal geführten Interview des Nacht-
Szene Das Urteil (GBA 6, S. 141–143), die dem Express hervorgeht (S. 36). Mitte des Jahres
Komponisten »Gelegenheit gab, den ›großen 1950 wurde die Dirigentenfrage akut. Neher
Eroberer‹ mit meiner Musik zu verdammen, hatte, wie aus einem undatierten Brief B.s von
zu vernichten« (Dessau, S. 65). B. verwarf da- Mitte/Ende Juli ersichtlich ist, den Göttinger
mit eine wirkungsvolle theatrale Möglichkeit, Dirigenten Karl Egon Glückselig für die Urauf-
die Entscheidung dem Publikum zu überant- führung vorgeschlagen (GBA 30, S. 29 f.).
worten und ihm Gelegenheit zu geben, sich Nachdem zwischen Legal, Dessau und zwei
intensiv und kontrovers mit Urteilsvarianten weiteren in Betracht kommenden Dirigenten
auseinander zu setzen. Die Rundfunkproduk- offenbar keine Einigung über die Leitung der
tion kam aus nicht geklärten Gründen wie- Uraufführung erzielt werden konnte – Glück-
derum nicht zustande. Dessau teilte den wei- selig wurde lediglich für die Folgeaufführun-
teren Verlauf der Arbeit mit: »Brecht schickte gen gewonnen –, fragte Legal am 2.10. bei dem
mich – als sich das Funkoperprojekt zerschlug in Zürich lebenden Hermann Scherchen an
– zu seinem altbewährten Freund Caspar Ne- (Lucchesi 1993, S. 41), der schon 1929 die Ur-
her und sagte: ›Wenn der Caspar meint, es aufführung des Lindberghflugs dirigiert hatte.
geht für die Bühne, dann machen wir es.‹ Ich In seiner Anfrage teilte Legal weiterhin den
ging zu Neher nach Zehlendorf und spielte Probenbeginn für Ende Januar, die Urauffüh-
ihm vor, was ich schon versucht hatte. Er sagte: rung für Ende Februar 1951 mit und nannte
›Das geht durchaus für die Bühne […], ma- auch Wolf Völker, von 1938 bis 1951 Ober-
chen Sie daraus ein Bühnenstück.‹« (Nach: spielleiter an der Berliner Staatsoper, als Re-
Lucchesi 1993, S. 37) gisseur. Scherchen sagte zu, bat aber wegen
anderer Verpflichtungen um eine Terminverle-
gung der Premiere in den März (S. 46).

Die Oper Das Verhör des Lukullus


Die Formierung der Angriffe
Dessau und B. begannen 1949, das Funkopern-
projekt in eine Oper umzuwandeln, die auf
Vermittlung Nehers an der Berliner Staatsoper Am 19. 11. 1950 erschien in der von der So-
(im Admiralspalast) uraufgeführt werden wjetischen Militäradministration (SMAD)
sollte. Den wesentlichen Unterschied zwi- herausgegebenen Täglichen Rundschau der
schen der Rundfunk- und der Opernfassung Artikel Das Reich der Schatten auf der Bühne
ergab die Einfügung theatralischer Elemente (Lucchesi 1993, S. 47–50). Der mit dem Pseu-
anstelle erzählender und beschreibender Hör- donym »N. Orlow« gezeichnete Text hatte, wie
textpassagen. Am 13. 2. 1950 legte der Staats- auch andere unter diesem Namen verfasste
opern-Intendant Ernst Legal den Text dem Mi- Beiträge russischer und deutscher Autoren,
nisterium für Volksbildung zur Begutachtung eine offiziöse, an sowjetischer Außenpolitik
vor (vgl. Lucchesi 1993, S. 27). Dessau, der orientierte Position und wurde im Auftrag der
seine Komposition noch nicht abgeschlossen SMAD geschrieben. Dieser Artikel rezensierte
hatte, übermittelte die Partitur einen Monat Theaterinszenierungen aus jüngster Zeit, ins-
später (S. 30). Es dauerte noch bis zum 18.4., besondere die zwei Tage zuvor an der Berliner
bis sich die staatlichen Instanzen für eine offi- Staatsoper erstaufgeführte Oper Ruslan und
zielle Genehmigung entschließen konnten Ludmilla von Michail Glinka. In ungewöhn-
406 Das Verhör des Lukullus / Die Verurteilung des Lukullus

lich scharfer Form kritisierte der Beitrag die Prägung fest. Dieser Formalismus bedeute laut
Aufführung, welche »den Stempel der Deka- Shdanow »unter dem Banner eines angebli-
denz und Zersetzung« trage (S. 47). Der hohe chen Neuerertums die Abkehr vom klassischen
technische Standard des Gesangsensembles Erbe, die Abkehr von der Volkstümlichkeit der
und Orchesters sei entwertet durch den »my- Musik und vom Dienst am Volk zugunsten des
stischen Symbolismus der Regie« sowie die Dienstes an den rein individualistischen Emp-
»seltsamen formalistischen Dekorationen« findungen einer kleinen Gruppe auserwählter
(ebd.). Der Verfasser kam dann zu der Schluss- Ästheten« (Lucchesi 1993, S. 16). Shdanows
folgerung: »Die Berliner Staatsoper aber, die richtungsweisende Rede, die literaturtheoreti-
um viele Jahre hinter dem Leben zurückge- sche Debatten der 30er- und 40er-Jahre auf-
blieben ist, […] greift zugleich begierig alles griff, an denen sich auch B., Eisler, Ernst Bloch
Ungenießbare auf, was es in der verfallenden sowie die in der späteren DDR führenden Kul-
und degenerierenden Kultur des Westens turpolitiker Fritz Erpenbeck und Alfred Ku-
gibt.« (Ebd.) Dieser Artikel war der Beginn rella beteiligten (vgl. Eisler, S. 406–414; GBA
von Angriffen auf die Staatsoper, auf deren 22, S. 402 f., S. 1026–1028), war eine Abrech-
Intendanten sowie auf andere künstlerische nung mit Dmitri Schostakowitsch, Aram Chat-
Bereiche in der DDR, die dem Verdacht forma- schaturjan und Wano Muradeli, die eines
listischer Prägung anheim fielen. Zugleich lie- nachgeahmten westlichen ›Modernismus‹ ver-
ferte er wesentliche Voraussetzungen zu der im dächtigt wurden. Stattdessen propagierten die
März 1951 mit der Uraufführung der Lukullus- staatlichen Stellen einen (ebenfalls nachge-
Oper ausgelösten Kampagne gegen das Werk. ahmten) Klassizismus mit affirmativem Reprä-
Er war als eine sowjetische Aufforderung an sentationscharakter als Modell für die zeit-
die Kulturverantwortlichen der DDR gedacht, genössische Kunstproduktion. Doch wurden
mit der Kampagne gegen den Formalismus in diese kulturpolitischen Vorgaben in der sow-
der Kunst auch hier zu beginnen. In einer Ka- jetischen Besatzungszone nicht sofort um-
lendernotiz vom 21.3. gab der Akademie-Prä- gesetzt. Vielmehr waren die ersten Nach-
sident Arnold Zweig den Hinweis, dass die kriegsjahre durch eine liberalere Praxis des
Absetzung der Lukullus-Oper vom Spielplan Kunst- und Musiklebens geprägt. Diese Phase
auf Drängen der »russischen Freunde« erfolgte relativer Offenheit gegenüber internationalen
(S. 305). Während in der Forschungsliteratur Kunsttendenzen musste angesichts der immer
(einschließlich des GBA-Kommentars) die stärker werdenden Anzeichen des Kalten
staatlichen Restriktionen gegen den Lukullus Kriegs zwischen den Siegermächten nach eini-
bisher als Angelegenheit der DDR dargestellt gen Jahren abgebrochen werden. Auch im Be-
wurden, ist mit Zweigs Vermerk die Spur zu reich des Musiktheaters war diese Tendenz
sowjetischen Kulturverantwortlichen als den deutlich spürbar. Als die Oper Antigonae des
eigentlichen Entscheidungsträgern gelegt. Münchner Komponisten Carl Orff, einer der
ersten Nationalpreisträger der DDR, im Ja-
nuar 1950 ihre deutsche Erstaufführung in
Dresden hatte, wurde sie sofort des Formali-
smus bezichtigt. Dessau, der eine Gastspiel-
Exkurs: Formalismus aufführung der Antigonae Mitte März in Ber-
lin als »Durchbruch für ein neues fruchtbares
Musiktheater« wertete (Lucchesi 1993, S. 30),
Im Januar 1948 legte Andrej Shdanow, Kultur- konnte nicht ahnen, dass damit der ein Jahr
politiker und hochrangiger Offizier des zwei- später einsetzende Eklat gegen die Lukullus-
ten Weltkriegs, in einer Moskauer Sitzung des Oper vorbereitet wurde.
Zentralkomitees die Strategie des Kampfes ge-
gen einen in der sowjetischen Gegenwarts-
musik konstatierten Formalismus westlicher
407

Arbeit an der Oper szenierung vorzunehmen. Dies führte, wie


Dessau zwei Tage später der Kulturabteilung
des ZK mitteilte, zu einem Eklat, da sich der
Aus der Korrespondenz zwischen Dessau, Le- probende Scherchen in seiner Arbeit massiv
gal und Scherchen geht hervor, dass sich die gestört fühlte (vgl. Lucchesi 1993, S. 75 f.). Kä-
Fertigstellung der Partitur verzögerte. Am the Rülicke, Assistentin B.s bei den Opernpro-
28. 11. 1950 mahnte der Dirigent die ihm noch ben, berichtete in ihren tagebuchartigen Auf-
nicht vorliegende Partitur an (Lucchesi 1993, zeichnungen am 3.3., dass die bisherigen Pro-
S. 53). Aber erst am 15. 1. 1951 teilte Dessau ben »schrecklich« waren, da ein »pathetischer
dem Intendanten Legal mit: »Bitte machen Sie Opernstil« vorherrsche. Völker sei »verzwei-
doch dem Ministerium klar, daß ohne die felt« über B.s Änderungsvorschläge (S. 72;
neuen Szenen ein gar zu unvollständiges Bild eine Probennotiz B.s für Scherchen ist ebd.
entstünde! Erst am Montag, dem 22.I., kann veröffentlicht). Der Komponist Ernst Her-
der erste endgültig fertige Klavierauszug zur mann Meyer, der bei den Proben als Gutachter
Verfügung stehen« (S. 59). B. notierte am 15.1. anwesend war, lehnte am 12.3. in einer inter-
in sein Journal, dass Dessau die Aufführung nen Stellungnahme Dessaus Musik ab: »Sie
lieber auf den Herbst verschieben würde (vgl. enthält alle Elemente des Formalismus, zeich-
GBA 27, S. 317). Dessau hatte vor allem zwei net sich aus durch ein Vorherrschen destrukti-
Gründe, den Uraufführungstermin zu verle- ver, ätzender Dissonanzen und mechanischer
gen: Zum einen wollte er als ein ›work in Schlagzeuggeräusche; das Mittel des Drei-
progress‹-Komponist Zeit für weitere Arbeiten klangs und der Tonalität wird, wenn über-
an der Partitur gewinnen. Zum anderen hoffte haupt, meistens zum Zwecke der Parodie oder
er, durch Terminverschiebung einer akut dro- der archaisierenden Mystik verwandt.« Des-
henden Formalismus-Kritik zu entgehen. B. sau bleibe stehen »beim Epigonentum eines
sah dies jedoch nicht ein: »Und warum sollten überlebten bürgerlichen Avantgardismus, wie
wir annehmen, daß die Situation im Herbst er vor 25 Jahren üblich war« (S. 80). Am selben
günstiger sein würde, wenn wir nicht im Früh- Tag richtete B. ein Schreiben an den General-
jahr uns darum bemüht haben?« (S. 317 f.) Zu- sekretär der SED Walter Ulbricht (GBA 30,
gleich argumentierte er, dass »die Form der S. 57 f.), in dem er sich für die Oper, insbe-
Oper die Form ihres Inhalts ist« (S. 317), man sondere aber für Dessaus Musik, einsetzte. Er
möge Kritik nie fürchten, sich aber ihr stellen verwies auf den Inhalt (die Verurteilung der
und sie verwerten. Außerdem betonte B., dass Raubkriege), den Zeitbezug (das Erstarken des
der Premierentermin im Hinblick auf die Aus- westdeutschen Militarismus und drohende
weitung des Korea-Kriegs durch amerikani- Kriegsgefahr) sowie auf die Entstehungszeit
sches Eingreifen richtig sei, wenn der Kunst des Operntexts (1937) und der Musik (1944).
die Aufgabe zukomme, Stellung zu beziehen. B. datierte das Werk aus taktischen Gründen
Zugleich sprach er die Schwierigkeiten mit zurück, in der Hoffnung, dass es als Exilwerk
zeitgenössischer Musik an: Ihr Kontakt mit ›milder‹ beurteilt würde als ein aktuelles.
neuen Publikumsschichten, also Arbeitern, Schließlich räumte B. ein, dass die Musik
Bauern, Schülern usw. führe oft zu Unver- eventuell nicht leicht verständlich sei, doch
ständnis und Ablehnung, was wiederum für die Oper in ihrer kompletten Werkform und
die Musiker frustrierend sei. Doch, so meinte ihr Inhalt seien es ohne weiteres. B. schlug vor,
er lapidar: »Man muß sich engagieren, und sich zunächst am Inhalt zu orientieren, »bis die
man wird sehen.« (S. 318) schwierigen Formfragen gelöst sind«. Denn:
Zur ersten Durchlaufprobe der Oper am 8. 3. »Schließlich können ja die Künstler die Frage
1951 erschienen Mitarbeiter der Kulturabtei- der Form auch nur vom Inhalt her lösen.«
lung des Zentralkomitees (ZK) der SED und (GBA 30, S. 58) In B.s Briefen an das Mitglied
einige Vertreter des Musiklebens, um eine des Zentralsekretariats der SED Anton Acker-
Prüfung des Texts, der Musik sowie der In- mann, den Staatspräsidenten Wilhelm Pieck,
408 Das Verhör des Lukullus / Die Verurteilung des Lukullus

den Ministerpräsidenten Otto Grotewohl und letzten Sitzungstag der 5. Tagung des ZK, über
an Ulbricht zeigt sich seine Fähigkeit, mit ver- jene Oper verhandelt wurde, die am selben
balen Mehrdeutigkeiten, gezielten Fehlinfor- Abend zur Uraufführung gelangte. Das Haupt-
mationen und taktisch-devoten (Schein-) Zu- referat mit dem Titel Der Kampf gegen den
geständnissen im Interesse seines Werks zu Formalismus in der Kunst hielt der Sekretär
operieren (vgl. Finkele, S. 160 f.). für Kulturfragen, Hans Lauter. In seiner, als
Deutlich wird aus den vorliegenden Regie- Stenogramm-Protokoll vorliegenden Rede
rungsdokumenten (die 1989, bei der Edition (Lucchesi 1993, S. 127–167), polemisierte er
von GBA 6, nicht zugänglich waren), dass fünf gegen die Lukullus-Oper, dabei Eindrücke von
Tage vor der Premiere, am 12.3. im ZK be- seinem Probenbesuch am 13.3. schildernd:
schlossen wurde, die Oper »nicht öffentlich »Ich muß schon sagen, und ich spreche es ganz
uraufzuführen und vom Spielplan abzusetzen« offen aus, daß diese Musik […] einem direkt
(Lucchesi 1993, S. 82). Die für den folgenden Ohrenschmerzen bereitet: viel Schlagzeuge,
Tag anberaumte Probendiskussion (Leitung: disharmonische Töne, man weiß nicht, wo
Erpenbeck) mit etwa 100 geladenen Personen man eine Melodie suchen soll.« (S. 157) Aber
hatte nur scheindemokratischen Charakter, nicht nur Dessau wurde kritisiert, sondern
denn hier sollte das Publikum über etwas be- auch B.s Arbeiten, wie sich an der nachfolgen-
finden, was bereits tags zuvor der Abqualifizie- den Diskussion zeigte. So bezeichnete das
rung anheim gefallen war. Auffällig an den ZK-Mitglied Fred Oelßner die Mutter-Insze-
zwei von Nina Freund und Rülicke angefertig- nierung des Berliner Ensembles als eine »Syn-
ten, und Einblick in die vorherrschenden Ar- these von Meyerhold und Proletkult«, als »ein-
gumentationsstrategien gebenden Gesprächs- fach historisch falsch und politisch schädlich«
protokolle (S. 83–122) ist, dass die Befürwor- (S. 173). Dagegen verwies Arnold Zweig, ein
ter B.s, wie Helene Weigel, Ernst Busch, engagierter Verteidiger der Oper und passio-
Herbert Ihering, Legal und Scherchen in der nierter Musikliebhaber, auf die Tradition re-
Defensive waren, und die Diskussion von den- zeptiven Unverständnisses in der deutschen
jenigen bestimmt wurde, die ihre Zweifel oder Musikgeschichte, auf Mozart, Beethoven,
gar ihre deutliche Ablehnung artikulierten. Brahms, und suchte damit klug zu überzeugen,
Dennoch trug B. am Schluss der Debatte sei- dass die Vorbilder einer sozialistisch-realisti-
nen Standpunkt entschieden vor: »Ausge- schen Leitidee ebenso jenen Problemen ausge-
macht war, daß wir die Musik bis zu einem setzt waren, wie Dessau mit seiner Oper. Dann
solchen Punkt entwickeln und aufbauen las- kam er zu der Schlussfolgerung: »Wenn Sie
sen, daß sie von Experten angehört werden also ein Werk von Bert Brecht mit der unerbitt-
kann, worauf im ganz engen Kreis diskutiert lichen Dichtergröße, mit dem Gericht über
werden sollte; nicht, daß eine große Diskus- den Feldherrn Lukullus, der symbolischen
sion aufgrund einer halbfertigen Aufführung Darstellung der Hinrichtung der Kriegstrei-
veranstaltet werden sollte.« (S. 121) Diese Po- ber, wenn Sie ein solches Werk heute auf der
sition vertrat auch Scherchen, der heftig gegen Bühne dargeboten bekommen, so haben Sie
die Meinung polemisierte, dass Kunstwerke meiner Meinung nach nicht das Recht, das
»so gegessen werden können wie Suppe« Publikum dieser Stadt Berlin davon abzusper-
(S. 119), und sich gegen Reduktionen des ren.« (S. 168 f.; vgl. Lucchesi 1996)
Kunstanspruchs zugunsten breiter Allgemein-
verständlichkeit wehrte. Auch Dessau wies
1957 anlässlich der Lukullus-Inszenierung in
Leipzig darauf hin, dass sich die Opernform B.s Bewertung des Formalismus
»von der des Schnaderhüpferls« unterscheide
(Dessau, S. 67).
Es ist eine Ironie der Geschichte, dass am Rülicke hatte in privaten Notizen festgehalten,
Vormittag des 17. 3. 1951, also am dritten und welche Positionen B. in den noch verbleiben-
B.s Bewertung des Formalismus 409

den zwei Wochen bis zur Uraufführung zum Die Uraufführung und die Folgen
drohenden Verbot der Oper und der Formali-
smus-Kampagne einnahm. So beschrieb sie am
12. 3. 1951 B.s Sorge über die sich täglich ver- Am 17. 3. 1951 fand an der Berliner Staatsoper
stärkenden Angriffe auf angeblich formalisti- die Uraufführung der Oper Das Verhör des Lu-
sche Kunstwerke: »Formalis.-Diskussion helfe kullus statt. Auf die Bezeichnung ›Urauffüh-
nicht nur nichts, sondern grober politischer rung‹ zu verweisen, ist notwendig, und zwar
Fehler, da sie die Spaltung vertiefe. / Brechts als Entgegensetzung zu einem scheinbar un-
einzige Sorge: Was kann man retten. Formalis- verfänglichen, doch kulturpolitisch kalkulier-
musdebatten Zeichen für Tiefstand der Kunst. ten Begriff, der bis in die jüngste Forschungsli-
Über die Form diskutierte noch keine gesunde teratur unreflektiert verwendet wird: den der
Epoche, es sei wichtiger, über den Inhalt zu »Probeaufführung« (vgl. GBA 6, S. 415,
sprechen. […] Unserer Zeit fehle bis jetzt S. 416). Dem Wechsel der Bezeichnungen la-
›große Kunst‹ – außer Brecht, der aber ›Bür- gen 1951 nicht etwa inszenierungspraktische
ger‹ sei, ›in Opposition‹«. (Lucchesi 1993, Gründe vor (z. B. als Hinweis auf nicht fertig
S. 78) Und am 17.3. hielt sie fest, dass B. »seit Geprobtes), sondern die Kennzeichnung einer
Tagen« um den Lukullus kämpfe (S. 126), und als kulturpolitisch ›fragwürdig‹ bewerteten
sich zu Scherchen äußerte: »Irgendeine Form und ›auf die Probe zu stellenden‹ Inszenie-
übernimmt jeder. Im heute diskutierten Sinne rung, die in einer singulären Aufführung vor
(dessen Richtigkeit zu beweisen ist) war selbst geladenem und zu Missfallenskundgebungen
Marx Formalist – er opfert der glänzenden angehaltenem Publikum die öffentliche Legi-
Form oft die Verständlichkeit, z. B. im ›Kapi- timation ihrer sofortigen Absetzung erhalten
tal‹. Lenin schreibt eilig, hat keine Zeit zur sollte. Das Neue Deutschland annoncierte am
Gestaltung, erzielt aber nicht zuletzt deshalb 17.3. den Theaterspielplan mit einer Wort-
Verständlichkeit. / Diktatur des Proletariats ist wahl, deren irritierende Formulierungsunsi-
deshalb keine günstige Periode für Kunst. Im cherheit deutlich wird: »17.3., 20.00 Urauf-
Vordergrund steht die Politik, die gesellschaft- führung: ›Das Verhör des Lukullus‹ / Pre-
lichen Tendenzen sind oft sogar kunstfeind- miere. Geschlossene Vorstellung« (Lucchesi
lich, beschneiden (wegen Diktaturnotwen- 1993, S. 126). Allerdings trägt der Programm-
digkeit) freie Entfaltung, auch der Kunst.« zettel des 17.3. noch die unveränderte Be-
(S. 178) Noch entschiedener wurde B. in einer zeichnung: »Uraufführung / Das Verhör des
undatierten Gesprächsnotiz, vermutlich ent- Lukullus / Oper in 12 Szenen von Paul Dessau
standen nach der Probendiskussion am 13.3.: / Text von Bertolt Brecht« (S. 318). Anzuneh-
»Brecht will nicht bei Ulbricht lernen, […], men ist, dass Legal, der zu den engagierten
sondern die Politiker sollen von den Dichtern, Verteidigern der Oper gehörte (vgl. S. 210),
die die ganze Gesellschaft vertreten, lernen eine Korrektur bewusst nicht mehr vorgenom-
(Beispiel: Lenin-Gorki). / […] Eine souveräne men hat. Zur Uraufführung wurde das vom
Haltung in der Kunst – ohne die es keine Kunst Berliner Aufbau-Verlag gedruckte Libretto an
gibt – ist nicht möglich, wenn man immer nach die Besucher (aber nicht an den Buchhandel)
den neuesten Richtlinien des Zentralkomitees verteilt.
schielt, immer ›paßt‹«. (S. 197) B.s lang be- Wie die Auswahl des Publikums für den
kannte und veröffentlichte Äußerungen in sei- Abend des 17.3. zustande kam, zeigt eine wei-
nen Briefen, im Journal und den Schriften zur tere Tagebuchnotiz Rülickes: »Die Karten wa-
Oper (vgl. GBA 24, S. 275–282) erhalten im ren geschlossen an das Volksbildungsministe-
Kontext der erst vor wenigen Jahren veröffent- rium gegangen, das von sich aus die gesamte
lichten Rülicke-Aufzeichnungen eine weitere Verteilung an versch. Organisationen, FDJ,
Dimension, die B.s Formalismus-Bewertun- Volkspolizei, Ministerien etc. vornahm. Das
gen zu einer größeren Komplexität, Wider- Berliner Ensemble verfügte über 12 Karten.«
sprüchlichkeit und Dichte hin ausweiten. (Lucchesi 1993, S. 200) Dass die Uraufführung
410 Das Verhör des Lukullus / Die Verurteilung des Lukullus

dennoch zu einem beeindruckenden Erfolg Arientexte »positiven Inhalts« (GBA 30, S. 64)
wurde, hing damit zusammen, dass eine Reihe die Aussage dahingehend verstärkt habe, dass,
von beorderten Besuchern offenbar kein Inter- wie er an Ackermann am 25.3. schrieb, »selbst
esse an der zeitgenössischen Oper hatte. So ein Irrtum darüber, das Werk könnte pazifisti-
gaben sie ihre Freikarten an die vor dem Thea- sche Tendenzen haben, verhindert wird. Für
ter wartenden Vertreter der westlichen Me- die Forderung, es müsse die Aktivität gegen
dien sowie an Opernliebhaber weiter, die, laut Raubkriege mobilisiert werden, bin ich Euch
Presseaussagen, nach der Aufführung einen tatsächlich Dank schuldig.« (S. 60) Deutlich
halbstündigen Beifall spendeten und in den wird als Hintergrund, dass B. und Dessau
(westlichen) Medien von dem missglückten (Letzterer verlor einen Teil seiner Familie im
Skandal berichteten. Ein Tonbandmitschnitt KZ) gegenüber der faschistischen Vergangen-
der Uraufführung verschwand (trotz sofortiger heit Ost- und Westdeutschlands misstrauisch
staatlicher Recherchen) in den Archiven des waren, trotz unterschiedlicher Gesellschafts-
DDR-Rundfunks, wurde erst 1991 wieder ent- systeme. Sichtbar wurde dies an B.s Haltung
deckt und am 30.3. vom Deutschlandsender zum 17. Juni 1953, über den er kurz danach
Kultur urgesendet (vgl. S. 172). Bis zur zwei- schrieb: »Es ist ein Hauptfehler der SED […]
ten Uraufführung am 12. 10. 1951 wurde das und der Regierung, dass sie diese Naziele-
Werk nicht mehr gespielt. mente in den Menschen und den Gehirnen
B. schrieb unmittelbar nach der Urauffüh- nicht wirklich beseitigt hat. […] Es wurden
rung Briefe an den Minister für Volksbildung Bücher am Herauskommen gehindert, wenn
Paul Wandel und an Ulbricht (vgl. GBA 30, darin davon gesprochen wurde« (BBA
S. 59 f.), Dessau an Ulbricht, Lauter und Wan- 1447/07; nach: Müller-Waldeck, S. 69). So
del (vgl. Lucchesi 1993, S. 182–184), in denen kann die Lukullus-Oper (obzwar weit vor die-
sie sich für die Möglichkeit der Opernauffüh- sem Datum entstanden) aus der prägenden Fa-
rung bedankten. Zugleich wies B. darauf hin, schismus- und Exilerfahrung B.s und Dessaus
dass der Publikumsbeifall ganz offensichtlich heraus nicht nur als eine warnende Antwort
der Friedenstendenz des Werks gedient habe auf die Ende 1949 durch Konrad Adenauer
und Dessau die gegen ihn erhobenen Vorwürfe verkündete westdeutsche Wiederbewaffnung
zur Musik sehr ernst nehme. Dessau formu- und den eskalierenden Korea-Krieg gelesen
lierte in seinem Brief an Lauter (S. 182 f.) er- werden, sondern auch als bilaterale Absage an
gänzend den Vorschlag, die Musik überarbei- (deutsche) Militärtradition, also auch an den
ten zu wollen. Noch am selben Tag antwortete ab 1947 erfolgten Aufbau der Kasernierten
Pieck beiden mit einer persönlichen Einla- Volkspolizei und späteren Nationalen Volks-
dung für den 24. 3. 1951 in seine Privatwoh- armee der DDR. Dass diese ›pazifistischen‹
nung (S. 184 f.). Rülicke fasste in einer Notiz Tendenzen der Oper nicht in den aktuell-poli-
vom 27.3. das Gespräch mit Pieck »in Anwe- tischen Kontext der DDR passten und deshalb
senheit von Grotewohl, Wandel, Lauter, Ak- staatliche Stellen auf Anwendung der Stalin-
kermann« (S. 200) zusammen: Diskutiert schen Definition von Angriffs- und Verteidi-
wurde, »daß Dessau die Oper einer Umarbei- gungskriegen im Lukullus drängten, waren
tung unterziehen würde, wobei Brecht sich be- der Hintergrund der Auseinandersetzung mit
reit erklärte, einige Textänderungen vorzu- B.s Text (vgl. Finkele, S. 6, S. 151–158). B.
nehmen. Man kam überein, um die durch sandte seine Textänderungen (vgl. GBA 24,
diese Diskussion entstandenen Parteien inner- S. 277–282) mit einem Anschreiben am 18. 4.
halb der Kulturschaffenden zu einigen, durch 1951 an Grotewohl (Lucchesi 1993, S. 211; in
die Bekanntgabe, daß die umgearbeitete Fas- der GBA nicht enthalten) und bat um seine
sung von ›Lukullus‹ für die nächste Spielzeit Meinung. Am 5.5., nach einer neuerlichen Be-
zur Aufführung vorbereitet würde.« (Ebd.) B. sprechung B.s und Dessaus mit Pieck (vgl.
teilte in einem weiteren Brief vom 6.4. an Piecks und Rülickes Aufzeichnungen, S. 221–
Pieck mit, dass er durch die Einfügung dreier 225, 226 f.; vgl. Dessau, S. 68 f.), schlug Pieck
Die Uraufführung und die Folgen 411

dem Politbüro vor, die Oper aufgrund der Text- seiner Verherrlichungsfunktion erkennt, die
änderungen sowie der von Dessau angekün- dort Abgebildeten in den Zeugenstand. Von
digten Überarbeitung zur öffentlichen Auffüh- den aus der marmornen Hülle heraustreten-
rung freizugeben (Lucchesi 1993, S. 221). den Friesgestalten sagen ein König, eine Köni-
Nachdem das Politbüro drei Tage zuvor be- gin sowie zwei Kinder gegen ihn aus: Lukullus
schlossen hatte, dass der stellvertretende habe Tod, Zerstörung, Vergewaltigung und
Chefredakteur des Neuen Deutschland Wil- Raub in ihre Länder gebracht. Die frühere
helm Girnus mit B. »eine ständige politische Kurtisane zeigt menschliches Verständnis mit
Arbeit durchzuführen und ihm Hilfe zu lei- der vergewaltigten Königin, das Gericht öffnet
sten« habe (S. 221), stimmte es am 15.5 der sich den Aussagen des Königs. Lukullus ver-
Freigabe der Oper zu (S. 227 f.). weist darauf, dass sie Kriegsfeinde seien und
er im Auftrag Roms gehandelt habe. Dies wirft
im Gericht die nicht beantwortbare Frage auf,
ob der römische Staat oder der Feldherr für
diese Taten haftbar zu machen sei. Der Toten-
Inhalt der Oper richter fordert eine Beratungspause. In dieser
lauscht Lukullus dem Gespräch zweier Neu-
ankömmlinge und erfährt ihm unbekannte
Der als Privatmann verstorbene Feldherr und Dinge aus dem Arbeitsalltag römischer Hand-
Gourmet Lukullus wird durch Rom zu Grabe werker und Sklaven. Lukullus lehnt das nun
getragen. Hinter seinem Sarg schleppen Skla- wieder zusammengekommene Gericht mit der
ven einen marmornen Fries durch die das Ge- Begründung ab, es verstehe nichts von der
schehen unterschiedlich kommentierende Kriegskunst. Nur ein mit Militärexperten be-
Menge, auf dem seine zu rühmenden Taten setztes Gericht könne über ihn urteilen. Die
dargestellt sind. An der Appischen Straße ver- Schöffin, einst Fischweib, entgegnet, dass sie
schließt man sein Grab mit der Friesplatte, den Krieg verstehe, denn sie habe durch ihn
danach verabreden sich die ihren Feldherrn den Sohn verloren. Das Gericht ist von dieser
geleitenden Offiziere zu Vergnügungen. Wie Aussage beeindruckt, kann sie jedoch nicht
in einer filmischen Einblendung zeigt sich nun gegen Lukullus als direkten Schuldbeweis an-
am Beispiel einer Schulstunde die Vorbildwir- führen. Die zwei letzten verbleibenden Fries-
kung des Lukullus für römische Kinder. Lu- gestalten (der Koch des Lukullus sowie der
kullus, im Schattenreich von zwei Frauen Kirschbaumträger) bezeugen dagegen die
empfangen, wird in der Gleichheit der An- Menschlichkeit des Feldherrn, denn er habe
kömmlinge unterwiesen, das heißt, er muss asiatische Gewürze sowie den Kirschbaum
sich in die Reihe der Wartenden einfügen, die nach Europa gebracht und damit die Esskultur
das Gericht des Schattenreichs aufruft, um bereichert. Das Fischweib reagiert heftig:
über ihre weltlichen Taten zu befinden. Ge- »Fandet ihr also / Doch noch einen Pfennig in
wohnt an autoritäres Auftreten, kann sich Lu- den / Blutigen Händen?« (GBA 6, S. 171), und
kullus damit nicht abfinden und legt Be- die Kurtisane fordert als Erste den Urteils-
schwerde ein. Das Gericht, bestehend aus fünf spruch: »Ins Nichts mit ihm!« (Ebd.) Dem
Schöffen (in ihrem früheren Leben Fischweib, schließen sich das Gericht, die gefallenen Le-
Kurtisane, Lehrer, Bäcker, Bauer) sowie aus gionäre der asiatischen Kriege und die Sklaven
dem Totenrichter und seinem Sprecher, for- an.
dert Lukullus zur Wahl eines Fürsprechers auf.
Der von ihm aufgerufene Alexander von Make-
donien antwortet nicht und ist hier unbekannt.
Statt seiner soll nun der Ruhmesfries für den
Feldherrn zeugen. Nach seiner Herbeischaf-
fung fordert der Totenrichter, der den Fries in
412 Das Verhör des Lukullus / Die Verurteilung des Lukullus

Die Fassungen GBA tabellarisch dargestellt und ihre Ände-


rungen diskutiert (GBA 6, S. 417). Die Opern-
fassung Die Verurteilung des Lukullus wurde
In der GBA werden drei Fassungen (das Radio- noch 1951 vom Aufbau-Verlag Berlin publiziert
stück Das Verhör des Lukullus von 1940, die (der schon die vorangegangene Fassung vom
Oper Das Verhör des Lukullus von 1951 sowie März 1951 gedruckt hatte) und diente in der
Die Verurteilung des Lukullus von 1951) wie- GBA als Textgrundlage (S. 145–173). Bei der
dergegeben und die Änderungen diskutiert. B. Aufnahme des Lukullus in das am 1. 7. 1951
begründete die Einfügung drei neuer Arien in ausgelieferte Heft 11 der Versuche (vgl. Hecht,
die letzte Fassung (Aufruf zur Verteidigung, S. 970) entschied sich B. allerdings für die
Wer ist Rom, Gesang der gefallenen Legionäre) 1949 entstandene Funkoper Das Verhör des
nach den Lukullus-Kontroversen mit der Kor- Lukullus. Oper in 2 V 7 Szenen, bezeichnete sie
rektur von Disproportionen, »die darin be- aber im Vorspruch (mit falschen Informatio-
stand, daß das Gericht musikalisch nicht so zu nen) als Hörspiel und fügte dem Text als An-
Worte kam wie der Angeklagte« (GBA 24, merkungen (und in weiterer Verwirrung der
S. 282). Eisler hatte B. in anderem Zusammen- Fassungen) die nach der Opern-Kontroverse
hang darauf hingewiesen, dass das lange Zei- im März/April 1951 entstandenen Änderun-
gen einer negativ besetzten Rolle auf der gen hinzu und argumentierte zugleich falsch,
Bühne (wie bei der Courage-Figur) den Zu- dass dieser Text »die Grundlage der Oper ›Die
schauer ungewollt positiv beeinflusse (Eisler/ Verurteilung des Lukullus‹« sei (Heft 11,
Bunge, S. 25 f.). Außerdem, so führte B. aus, S. 130). Diese Versuche-Fassung bildet die
»überwogen musikalisch die Teile, in denen dritte Textgrundlage (GBA 6, S. 115–143). Es
die Beschreibung des Aggressors eine düstere bleibt jedoch offen, warum sich die Heraus-
und heftige Musik ergab« (GBA 24, S. 277). geber der GBA nicht für die im März 1951 vom
Als Dessau 1949 die Zusammenarbeit mit B. Aufbau-Verlag Berlin edierte Opernfassung
an der Funkoper aufnahm, bedeutete dies entschieden haben, um die Differenzen zwi-
keine Wiederverwendung des Radiostücks. schen den Fassungen klarer herauszustellen.
Zum einen veränderten der zeitgeschichtliche B. und Dessau verwandten in den Fassungen
Wandel seit 1939 und individuelle Lebenser- wechselnde Gattungsbezeichnungen, entwe-
fahrungen beider Autoren die Lesart des der als ›Oper‹, ›Hörspiel‹ oder ›musikalisches
Stoffs. Zum anderen griff auch Dessau in den Schauspiel‹; später benutzte Dessau konse-
Text ein und bewegte B. zu Änderungen und quent den Terminus ›Oper‹ (S. 416).
Ergänzungen, denn: »Wir erkannten während Neben den in GBA 6 diskutierten drei Text-
der Arbeit, daß die Hörspielfassung in vieler- fassungen existieren fünf Fassungen der
lei Hinsicht geändert werden mußte. […] Aber Opernpartitur und des davon beeinflussten
bei Brecht bedeuteten Eingreifen und Ände- Textes (vgl. die Synopse der Fassungen bei
rungen immer Bereicherungen. […] Das Neue Reinhold, S. 199–208), da sich Dessau – auch
und Einmalige an dieser Zusammenarbeit war, unabhängig von den Kontroversen – zu wei-
daß durch die bedeutenden Umänderungen, teren Änderungen entschloss, so für die Leip-
die das Hörspiel erst zu einem Opernbuch ent- ziger Inszenierung 1957. Dazu schrieb er für
wickeln ließen, stets neue Qualitäten gewon- das Programmheft: »Die Fassung, die hier ge-
nen wurden.« (Dessau, S. 44) geben wird, ist eigentlich die fünfte. Zuerst am
Die Oper liegt in einer Hörspielfassung von 12. Dezember 1949 fertig gestellt, kann man in
1940 sowie zwei (textlich und musikalisch un- der Partitur die Data 27. Juni 1950, 14. Januar
terschiedlichen) Opernfassungen von 1951 1951 und 22. Juli 1951 lesen.« (Dessau, S. 67)
vor, nämlich die der ersten Uraufführung vom 1960 komponierte er für die Neuinszenierung
17.3. (Oper in 2 V 7 Szenen) sowie der zweiten der Berliner Staatsoper eine alternative Fas-
vom 12.10. (Oper in 12 Bildern). Alle Szenen- sung des Chors der gefallenen Legionäre in
einteilungen der drei Fassungen werden in der der Szene 12 (vgl. GBA 6, S. 172 f.). Im selben
Die Fassungen 413

Jahr fertigte Dessau zusammen mit Elisabeth tivischen Deklamation. Während hier indi-
Hauptmann eine Textrevision des Lukullus an, viduelle Sprach- und Verhaltensmuster
die 1961 im Leipziger Reclam Verlag erschien vorgeführt werden, fehlen sie in der Figur des
und nachfolgenden Veröffentlichungen als Lukullus völlig, sein Erscheinungsbild ist defi-
Grundlage diente, so den 1976 edierten Li- niert durch ein staatlich vermitteltes und sank-
bretti zu Dessaus Opern (vgl. Hennenberg tioniertes Hierarchiebewusstsein. Es ist das
1976, S. 5–31). Jener dort publizierte Lukul- römisch-imperiale Weltreich, das sich in dem
lus-Text weicht nicht nur von GBA 6, sondern Feldherrn, einer ›Person der Geschichte‹ un-
auch von dem 1961 in der Peters Edition Leip- belehrbar spiegelt und das, wie die Geschichte
zig erschienenen Klavierauszug ab. Während lehrt, eine bis heute reichende Kontinuität
in der 1961 revidierten Textfassung des Re- besitzt. Für das von Dessau eingesetzte kom-
clam Verlags die anonyme Stimme mit der Par- positorische Material bedeutet dies: endlos re-
tie des Totenrichters verbunden ist, sind im petierende melodische Floskeln, quäkende
Klavierauszug jene Stellen der kommentieren- Bläsereinwürfe, Trompete und Pauke als (kari-
den Frauenstimme sowie dem Sprecher des kierende) instrumentale Insignien der Macht,
Totengerichts übertragen. Auch der Chor der ein über den Lukullus-Text hinwegspülender
Szene 7 »O seht doch, so bauen sie selbst sich Musikschwall, der im musikalischen wie ver-
ein Denkmal« (GBA 6, S. 158) ist im Klavier- balen Insistieren auf den Machtanspruch ins
auszug, nicht jedoch in der revidierten Text- Lächerliche abkippt. Sich wiederholende
fassung vorhanden (Neef, S. 70). Sinnvoll ist, Floskeln deuten den Leerlauf der Tiraden an,
den alle Musiknummern mit ihren Varianten das Forte seiner Tenorstimme ist Ausdruck sei-
enthaltenden Klavierauszug als Dessaus au- ner militärischen Macht, deren Verlust er in
thentische Fassung letzter Hand zu qualifizie- der Unterwelt nicht anerkennen oder mit ner-
ren, während die vor allem durch Hauptmann vös-auftrumpfender Rhetorik überspielen
vorgenommene Textrevision »den Operntext will. Wenn sich Lukullus in Szene 6, Der Emp-
wieder stärker an den Hörspieltext annähert« fang, schreiend beschwert »Was, bei Jupiter /
(S. 71). Soll das bedeuten?« (S. 123), lässt B. viermal
mit »Stille.« antworten (S. 124). Diese Stille
wird von Dessau (auch eingedenk der Hör-
spielmusik-Praxis) auskomponiert, und zwar
Die Musik als Kommentar und mittels vierfach geteilter Celli und Kontra-
Interpretation des Textes bässe, einen akkordischen Flageolett-Klang
erzeugend. »Mit ihr nimmt Dessau Bezug auf
das antike Bild einer ›Harmonie der Sphären‹
Als Unterscheidung zu B.s Radiostück führte […], die durch Lukullus’ Lärmen übertönt
Dessau in die Oper eine qualitativ neue Ebene wird und sich nur in der Stille offenbaren
ein: die im Orchester befindliche ›kommentie- kann.« (Neef, S. 73) Dennoch ist die Oper
rende Frauenstimme‹ in Szene 2, Das Begräb- keine Schwarz-Weiß-Zeichnung von Ange-
nis (GBA 6, S. 150). Damit ersetzte der Kom- klagtem einerseits sowie Zeugen und Schöffen
ponist die Rolle des Ausrufers bei B. (S. 121) andererseits, vielmehr gibt sie eine indivi-
durch eine Frauenstimme, die den offiziellen duelle Gruppierung um das zerstörerische
(Männer-) Ton der Staatsbegräbnisse indivi- oder bewahrende Prinzip wieder. Wie tragisch
dualisiert und die später Lukullus im Toten- die Friedfertigen in die Konflikte der Zeit ge-
reich begrüßen wird. Dessau behandelte diese raten können, zeigt sich an Szene 10, Das Ver-
Frauenstimme als sinnbildhaften Gegensatz hör wird fortgesetzt (GBA 6, S. 165–168): Das
zum Feldherrn: Sie ist die weibliche Gegen- Fischweib begreift ihre Mitverantwortung am
welt zur militärischen Sphäre, voller musikali- Tod des Sohns, den sie, die Beschützende, in
scher und sprachlicher Abstufungen, mensch- den Krieg ließ und ihn nun vergeblich in der
lich warm und unreglementiert in ihrer rezita- Unterwelt bei seinem Namen ›Faber‹ ruft. Der
414 Das Verhör des Lukullus / Die Verurteilung des Lukullus

Sohn erwidert ihr Rufen nicht. Sie erkennt an Allerdings bezog er ungewöhnliche Instru-
dessen Verweigerung ihre eigene Mitschuld mente mit ein, so das Akkordeon, welches
und bricht zusammen. Dessau hebt zum einen nicht nur in der DDR zu einem Volksinstru-
ihre Worte »Mein Sohn / Ist im Kriege ge- ment avancierte, sondern bereits in den 20er-
fallen« (S. 167) musikalisch als gedanklichen Jahren in der Schulmusik Verwendung fand.
Titel der Szene hervor, während die Mutter Dass es dem Fischweib zugeordnet ist, deutet
mit der sog. ›Rufterz‹ (also der kleinen fallen- zum einen auf den plebejischen Charakter der
den Terz) ihren Sohn sucht und dann, ihre Figur und verfremdet (oder bricht) ihn zu-
Position erkennend, verstummt. Den Zusam- gleich im Kontext anderer Instrumente.
menbruch lässt Dessau durch eine General- Ebenso benutzte Dessau das sog. Gitarrenkla-
pause anzeigen sowie durch einen neuntakti- vier, ein mit Reißnägeln gespicktes und einen
gen instrumentalen Anschluss, in dem sich der scheppernden, blechernen Klang erzeugendes
Zusammenbruch auflöst und das Fischweib Instrument. Hinzu kamen diverse, von zehn
wieder zu sich kommt. Aber auch andere Fi- Musikern bediente Perkussionsinstrumente,
guren der Oper sind mit einer individuellen wie Gongs, verschiedene Stahlplatten, ein mit-
musikalischen Kennung versehen, so der Leh- telgroßer Amboss, Eisenketten und ein grö-
rer in Szene 4, In den Lesebüchern (S. 151 f.), ßerer, auf einer Stahlplatte liegender Stein,
wo er den Schülern durch Repetition die ›Ge- der mit einem Eisenhammer geschlagen wird.
schichte der Sieger‹ einprägen will. So mischte Dessau Konventionelles mit Un-
Im Gegensatz zur Wagnerschen Leitmotiv- konventionellem, ließ ungewöhnliche Ge-
Technik benutzte Dessau verschiedene instru- räuscherzeuger, wiewohl traditionell auskom-
mentale Charakteristika, um Handlungsvor- ponierte und das Geschehen mehrdimensional
gänge oder Personen musikdramatisch zu ausdeutende Instrumentengruppen kammer-
kennzeichnen. Während Lukullus mit ›Pauken musikalisch arbeiten, jederzeit auf Durchhör-
und Trompeten‹ ausgestattet ist, den archety- barkeit bedacht. Der Komponist erwähnte
pischen musikalischen Insignien von Feldher- hierzu, dass die gewählte kleine Orchesterbe-
renmacht, erhalten Tertullia und das Fisch- setzung der vorangegangenen Funkopernar-
weib die Altflöte und das Akkordeon. Karg, beit mit ihren radiophonen Bedingungen ge-
sachlich-nüchtern werden die Schöffen und schuldet sei (Dessau, S. 44). Dessau arbeitete
ihre Fragen vom Orchester begleitet, die Mu- auch die musikalische Charakterisierung von
sik verzichtet auf Affekte. Den Totenrichtern Handlungsorten ein: »Während Brecht in sei-
sind Posaune und Pauke zugeordnet, damit nem Libretto nur zwei Orte, Ober- und Unter-
gattungs- und motivgeschichtlich auf das Re- welt, vorsah, ermöglicht Dessau mit sei-
quiem und das biblische Jüngste Gericht ver- nen Instrumentierungsgruppierungen weitaus
weisend. Mit ganz anderen musikalischen mehr Assoziations- bzw. Handlungsräume, so
Mitteln ist die Rolle der Königin ausgestattet: den öffentlichen Ort, Plätze, Straßen, Ge-
ihre Arie Als ich einst in Taurion ging (GBA 6, richtssaal, aber auch den intimen Rahmen, das
S. 160 f.) wird durch Harfe, Marimbaphone, Zimmer, die Küche, die Bank zum Warten.«
Gitarrenklavier und Xylophon zu einer deli- (Neef, S. 74) Doch griff er auch auf verpflich-
kat-raffinierten Begleitung verwoben, um da- tende musikalische Tradition zurück. Wäh-
mit einen sozialen Gestus des ›künstlichen‹ rend Lukullus den Ruhmesfries als positives
Höhergestellt-Seins gegenüber dem plebeji- Indiz für sich sprechen lassen will, fordert das
schen Schöffengericht zu betonen. Dessau Gericht, die dort abgebildeten Personen als
wies seiner Musik eine Differenzierungsebene Zeugen herbeizuholen. Dessau komponierte
zu, die der Figurenzeichnung B.s weitere Di- dazu einen Chor sowie einen Instrumentalteil
mensionen eröffnete, und vereinte dabei Dis- in Form eines Trauermarschs, der Material aus
parates. Zunächst ist der Verzicht auf die kon- Bachs Kantate Nr. 85, Ich bin ein guter Hirt,
ventionelle Besetzung des Orchesters augen- benutzt. Weniger aus christlicher Motivik ist
fällig, Violinen und Bratschen fehlen gänzlich. dieses Zitat zu deuten, sondern als eine ›hör-
Die Musik als Kommentar und Interpretation des Textes 415

bare‹, menschliche Geste gegenüber den Op- anstelle des traditionell zuständigen Toten-
fern des Lukullus, jenen, die nun ›ihre‹ ge- richters die Kurtisane, die doppelt entrechtete
schichtliche Wahrheit gegenüber dem Sieger Frau (vgl. Neef, S. 75).
kundtun können.
Auffällig in der Oper sind auch Bezüge auf
die Zahl 3, mit der Dessau »dem dualistischen
Konstruktionsschema des Textes widersteht« Zur Forschung
(Neef, S. 74). Hierbei kommt der Szene 6,
Wahl des Fürsprechers (GBA 6, S. 155–157),
also dem Zentrum der 12, und der durch drei Die Literaturwissenschaft hat sich verhältnis-
teilbaren Szenen eine besondere Bedeutung mäßig wenig zu B.s Lukullus geäußert. Dies
zu: Die drei Ausruferinnen (zugleich auf die hängt damit zusammen, dass der Text schon
drei Damen in Mozarts Zauberflöte anspie- 1951, als Opernlibretto qualifiziert, aus der
lend) rufen dreistimmig und dreimalig den als Schwerpunktsetzung des Fachgebiets heraus-
Zeugen benannten Alexander auf, der jedoch fiel und vor allem von denjenigen analysiert
nicht antwortet. Somit hat Dessau den struk- wurde, die sich unter musikdramatischen
turellen Mittelpunkt der Oper durch Zahlen- Aspekten mit Dessaus Oper befassten. Die Pa-
verhältnisse in seiner Bedeutung zusätzlich rallele lässt sich in der Aufführungspraxis
hervorgehoben. Es ist denkbar, dass er, obwohl nachvollziehen, denn B.s Text wurde fast aus-
nicht religiös gebunden, auf die jüdische Zah- schließlich auf Opernbühnen aufgeführt. »So
lenmystik anspielen wollte. Überhaupt hat das kam es«, bemerkte Hans Mayer 1967, »daß
Rufen, die Namensnennung bei B. einen zen- Brechts Originaltext langsam hinter dem
tralen Platz im Stück: Das Fischweib ruft ihren Opernlibretto zurücktrat und beinahe verges-
Sohn Faber, wie Lukullus – in Hervorhebung sen wurde.« (Mayer, S. 218) Fritz Hennenberg
seiner sozialen Position – den Alexander aus- hat 1963 in einer ersten, grundlegenden Pu-
rufen lässt. Rufterz und dreifache Anrufung blikation über die musikalische Zusammen-
weisen in der Oper auf den wesentlichen arbeit Dessaus mit B. wesentliche Hinweise
Punkt der Benennung und Nicht-Benennung zur Entstehungsgeschichte und musikalischen
von Personen hin: Lukullus, dessen ›Name‹ Form des Werks gegeben (Hennenberg 1963,
aus dem kollektiven Gedächtnis der Mensch- S. 21–33, S. 43 f., S. 46–54). Im Kontext um-
heit gestrichen wird, wie der Urteilsspruch der fangreicher Studien über die Komponisten B.s
Kurtisane in Szene 12 beschließt, beinhaltet behandelten verschiedene Autoren in den
das Postulat einer ›anderen‹ Historiographie, 80er- und 90er-Jahren das Werk (Dümling;
in der nicht mehr die namentliche Aufreihung Lucchesi/Shull; Neef; Reinhold), in denen sie
der siegenden Einzelpersonen, sondern eine neben B.s eigenen Texten auch Dessaus in-
›namenlose‹ Geschichte ›von unten‹ prakti- zwischen erschienene Selbstzeugnisse aus-
ziert wird, die der geschichtlichen Verlierer, werteten.
also der »Maurer«, »Bäcker«, »Fischer«, »Och- Die oft zitierten Äußerungen B.s zur Opern-
sentreiber«, »Säulenschleifer« (S. 163). Dieser kontroverse 1951 erhielten nach Öffnung der
Ansatz des Hoffens im Sinn von Ernst Bloch, DDR-Staatsarchive eine neue Qualität und
dass nämlich sich das Unterste zuoberst keh- Kontextualität. Mit den dort vorgefundenen
ren möge, ein urchristlicher wiewohl sozia- Materialien (vgl. Lucchesi 1993) wurde das
listischer Denkansatz, war B. und Dessau nicht bisherige, meist monolithische Bild einer Aus-
fremd. Das Jüngste Gericht, ins Weltliche der einandersetzung zwischen Kunst und Staat
einfachen Leute gewandelt, wird als Motiv durch Personen differenziert: z. B. dahinge-
ebenso aufgegriffen, wie die Frage nach ge- hend, dass die heftigsten Ablehnungen der
lebtem Leben in seiner Summe. Dessau Oper nicht etwa von kunstfeindlichen Funk-
konnte entscheiden, wer als Erster der Schöf- tionären, sondern von Fachkollegen Dessaus
fen das Urteil über Lukullus spricht. Er wählte vorgetragen wurden. Gerhard Müller vertrat
416 Das Verhör des Lukullus / Die Verurteilung des Lukullus

dabei die Hypothese, dass die Kontroverse mit dien nach der ersten Uraufführung im März
Dessaus Musik nur eine scheinbare war, um 1951. Stand das Aufführungsverbot der Oper
bei einem geplanten, aber letztlich nicht sowie das beredte Schweigen der ostdeutschen
durchgeführten ›Slánsky-Prozess‹ in der DDR Medien im Zentrum der westlichen Bericht-
von einer drohenden Anklage B.s abzulenken erstattung, so wandelte sich das Bild nach An-
(vgl. Müller, S. 148). Aus beiden Bereichen, kündigung der Änderungen B.s und Dessaus.
dem musikdramatischen und dem kulturpoli- Die Vermutung einer spektakulären Übersied-
tischen, zog Finkele die Konsequenz einer lung B.s in den Westen wich dem Urteil, B.
Wiedereinsetzung von B.s Text und eröffnete habe eine »parteiamtlich erbetene Korrektur
1999 mit ihrer weitgefächerten Analyse der am ›Lukullus‹ vorgenommen« und sei damit
Lukullus-Figur zahlreiche intertextuelle Be- zum »Fall« geworden, wie Sabina Lietzmann in
zugsebenen und daraus resultierende Lesar- der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wertete
ten. (Lietzmann, S. 356). Dass B.s tatsächliche Än-
derungen gering, die Dessaus weitaus erhebli-
cher waren, wurde kaum registriert.
Unterschiedlich dagegen diskutierte man in
Wirkung beiden deutschen Staaten die Zeitbezogenheit
der Oper. Während sie in der DDR-Presse mit
dem Korea-Krieg, den Nürnberger Prozessen
Die Rezeption der Lukullus-Oper erfolgte und westdeutscher Remilitarisierung in Ver-
zunächst in den west- und ostdeutschen Print- bindung gebracht wurde, enthielt sich die
medien (vgl. Dümling 1980), erhielt aber im Westpresse vielfach einer Wertung. So betonte
Verlauf ihres kulturpolitischen Eklats interna- Kurt Westphal: »Wir verzichten in unserem
tionale Beachtung. Je nach Herkunft der Bericht auf jegliche politische Betrachtung
Rezensenten wurde sie als ein missglückter und würdigen das Werk nur von der künst-
»Befohlener Durchfall« (DA, S. 322) im West- lerischen Seite her.« (Westphal) In dieser dua-
berliner Der Abend gewertet oder als Musik, len Konstellation der ideologischen Wertung
die »dünn und bruchstückhaft« sei, wie Heinz einerseits und der entideologisierten Verein-
Lüdecke im Neuen Deutschland schrieb und nahmung andererseits blieb die Oper noch
zum Libretto meinte, dass das Schattengericht viele Jahre nach der Uraufführung und trotz
aus B.s historisch überholter Exilperiode ihres zunehmenden Bühnenerfolgs ein fremd-
stamme (Lüdecke, S. 330). Werner Oehlmanns artiges Skandalon in beiden deutschen Staa-
Kritik im Westberliner Tagesspiegel, dass Des- ten. B.s Lukullus-Text hat 1951/52 zu minde-
sau »mit den Fragmenten der abendländischen stens zwei Parodien Anlass gegeben. Die eine
Musik, die Strawinsky noch übrig gelassen stammte vom damaligen Sekretär des Schrift-
hat«, musiziere (Oehlmann, S. 326), wurde im stellerverbandes der DDR, Walter Victor (Luc-
Neuen Deutschland zitiert und als Bestätigung chesi 1993, S. 269–273), die andere erschien
der eigenen Position gewertet (Lüdecke, im Aktion-Verlag Frankfurt a. M. von einem
S. 330). Den Rezensionen der Uraufführungen anonymen Verfasser mit dem Titel Die Verur-
1951 in der DDR sowie am 30. 1. 1952 in teilung der Roten Armee nach Bertolt Brecht
Frankfurt a. M. ist zu entnehmen, dass sich in (vgl. Schumacher).
beiden deutschen Staaten der Umgang mit der 1957 gelang der internationale Durchbruch
zeitgenössischen Moderne problematisch ge- des Werks. Das Städtische Theater Leipzig in-
staltete. Doch nicht musik- und literaturäs- szenierte die Oper, die dann ein Jahr später in
thetische, inszenierungspraktische oder inter- Paris zum Festival Théâtre des Nations gezeigt
pretatorische Aspekte standen im Vorder- wurde. 1960 kam an der Berliner Staatsoper
grund, sondern die kulturpolitische Wertung. eine zweite Inszenierung heraus, der sich dann
Deutlich wurde dies an der einsetzenden Ar- 1965 eine dritte anschloss. Nach der westdeut-
gumentationsstrategie in den westlichen Me- schen Erstaufführung am 30. 1. 1952 in Frank-
Wirkung 417

furt a. M. (Regie: Werner Jacob, Dirigent: Her- Inszenierung hervor: »ein nacktes Holzgerüst,
mann Scherchen) wurde das Werk als Mit- sichtbare Scheinwerfer und keinerlei ›Stim-
schnitt von verschiedenen internationalen Ra- mung‹ durch Lichtzauber im Totenreich (Bri-
diostationen gesendet, so von Radio Italiana, gitte Friesz – es lebe die etatbedingt sparsame
Radio-Diffusion Française und der BBC (zu Ausstattung!), und an der Regie Siegfried
weiteren Aufführungsdaten vgl. Neef, S. 77 f.). Schoenbohms ist zu rühmen, daß er von vier-
Ernst Krause berichtet, dass der Lukullus an zig solistischen Rollen fast ein Dutzend zu
der Berliner Staatsoper (Premiere: 1. 9. 1968, Menschenbildern profilierte.« (Ebd.) Von der
Regie: Dietrich Bülter-Marell) im »wesentli- erneuten Inszenierung an der Berliner Staats-
chen dem Modell der Berghaus-Inszenierung« oper (Premiere: 11. 9. 1983, Regie: Ruth Berg-
folgte und sich »weitgehend mit Brecht-Des- haus) berichtet Ernst Krause: Die Regisseurin
saus ästhetischen Forderungen« deckte (Krau- »rückt weit weniger auf historische Distanz
se 1969, S. 30). Zur Inszenierung in Oldenburg und Verfremdung, wie es ursprünglich von den
(12. 9. 1970; Regie: Harry Niemann) bemerkt Autoren vorgegeben ist. Indem sie die Vor-
Simon Neubauer, dass die Oper den »Krieg gänge bewußt brennend naherückt, entfernt
und seine Folgen für den einfachen Menschen« sie sich deutlich von dem ›Lukullus‹-Modell
erörtere. »Solches Mitdenken fiel um so leich- der fünfziger, sechziger Jahre. […] Zum
ter, weil in Oldenburg nicht überhitzt, sondern Schlüssel der neuen Berghaus-Interpretation
rationell argumentiert wurde. […] Keine Illu- wird der Übergang von der Schlußszene zur
sion also, sondern emotionsloses Lehrspiel Gerichtsszene: Kinder werden zu den Erobe-
und als solches immer erkennbar in den anti- rern von morgen gedrillt, und verbrannte Kin-
kisierenden Aufbauten ebenso wie in den ein- der werden später zu den Sprechern des Toten-
zelnen Aktionen. Trotzdem blieben die Spröde gerichts. […] Die Berghaus schafft neue Be-
und die Trockenheit der Hörspieldramaturgie züge, vertieft die Sicht.« (Krause 1983, S. 37)
[…] von der Bühne verbannt.« (Neubauer Bernd Feuchtner betitelt seine Besprechung
1970, S. 39) Derselbe Rezensent berichtet über zur Mainzer Inszenierung (Premiere: 2. 5.
die Bremer Inszenierung (Premiere: 7. 3. 1998, Regie: Sebastian Baumgarten) mit »Die
1974, Regie: Peter Brenner), dass der Regis- RAF stellt klar«. Zur Regiearbeit Baumgartens
seur das Werk über den Urteilsspruch hinaus führt er aus: »Wahrscheinlich machte er ge-
führte: »Aus dem Berg der auf ihn hinunterge- rade sein Konzept, als Mogadischu wieder
worfenen Kleiderfetzen wühlt sich Lukullus über alle Bildschirme flimmerte: In Mainz fin-
empor und reckt erneut siegbereit das det das Verhör des Lukullus als eine Wieder-
Schwert, während die Ansagerin an das Publi- holung des Verhörs des Martin Schleyer statt.
kum die Frage richtet: ›Wie lange noch?‹ […] Man hat den mächtigen Mann gekidnappt und
Chormassen trugen Kostüme quer durch die konfrontiert ihn mit den Folgen seiner Taten.
Zeiten, von der Antike bis zur Gegenwart. So- So anachronistisch die schlichte Moral 1951
fern wurde klar, daß hier nicht nur Lukullus war, so anachronistisch war die Tötung
gemeint war, sondern alle Kriegsverbrecher – Schleyers, und deshalb funktioniert die Aktua-
ein großartiger, beklemmender Einfall, der lisierung nicht. Auch bleiben die Personen zu
sich dann allerdings wieder auf die Parallelität konkret menschlich, um eine Atmosphäre der
von Hitler-Reich und Rom-Imperium redu- Bedrohlichkeit herzustellen – dieses Verhör ist
zierte« (Neubauer 1974, S. 42). Kurt Honolka läppisch. Daß der Koch des Lukullus während
registriert zur Heidelberger Inszenierung seiner Verteidigungsrede diesem eine Knarre
(Premiere: 12. 11. 1975, Regie: Siegfried zusteckt, damit er sich erschießen kann, statt
Schoenbohm), dass der Lukullus »nun schon sich ins Nichts schicken zu lassen, macht die
fast zu den jungen Evergreens, zu den ganz Sache auch nicht spannender. […] Zuerst hat
wenigen, die das Musiktheater nach dem zwei- Ruth Berghaus diese Oper ihres Gatten in
ten Weltkrieg hervorgebracht hat«, zähle (Ho- Mainz inszeniert. Mit dieser wenig inspirier-
nolka, S. 43). Er hebt als »stilgerecht« für diese ten Arbeit ihres Schülers wären wohl weder
418 Das Verhör des Lukullus / Die Verurteilung des Lukullus

sie noch Dessau recht glücklich gewesen.« S. 218–227. – Müller, Gerhard: Zeitgeschichtliche
(Feuchtner, S. 49, 50) Aspekte der »Lukullus-Debatte«. In: Angermann,
Klaus (Hg.): Paul Dessau: Von Geschichte gezeich-
net. Hofheim 1994, S. 144–151. – Neef, Sigrid und
Hermann: Deutsche Oper im 20. Jahrhundert. DDR
Literatur: 1949–1989. Berlin [u. a.] 1992. – Neubauer, Simon:
DA: Befohlener Durchfall fiel aus. Versuchte Stö- Oldenburg: Lehrspiel. In: Opernwelt (1970), H. 11,
rungen bei der Brecht-Premiere und ihre Hinter- S. 38 f. – Ders.: Kriegsverbrecher und Liebeshung-
gründe. In: Lucchesi 1993, S. 322 f. – Dahlke, Hans: rige. In: Opernwelt (1974), H. 5, S. 41 f. – Oehlmann,
Cäsar bei Brecht. Berlin, Weimar 1968. – Dessau, Werner: Hinter verschlossenen Türen. Brecht-Des-
Paul: Notizen zu Noten. Leipzig 1974. – Dümling, saus »Verhör des Lukullus« in der Staatsoper. In:
Albrecht: Zwischen Engagement und Formalismus. Lucchesi 1993, S. 325 f. – Reinhold, Daniela: Paul
Zur west-östlichen Rezeption von Brecht-Dessaus Dessau 1894–1979. Dokumente zu Leben und Werk.
zwei Lukullus-Fassungen. In: Heister, Hanns-Wer- Berlin 1995. – Schumacher, Ernst: Die Verurteilung
ner/Stern, Dietrich (Hg.): Musik 50er Jahre. Berlin der Roten Armee nach Bertolt Brecht. Eine Retrou-
1980, S. 172–189. – Dümling. – Eisler, Hanns: vaille. In: Cisotti, Virginia/Kroker, Paul (Hg.): Poe-
Schriften 1924–1948. Leipzig 1985. – Eisler/ sia e politica. Bertolt Brecht a 100 anni dalla nascita.
Bunge. – Feuchtner, Bernd: Die RAF stellt klar. In: Melegnano 1999, S. 123–141. – Westphal, Kurt: [Re-
Opernwelt (1998), H. 7, S. 49 f. – Finkele, Simone: zension]. In: Melos. Zeitschrift für neue Musik
Die Figur des Lukullus im Werk Bertolt Brechts. (1951), H. 4, S. 114.
Herkunft, Verwertung, Funktion. Karlsruhe 1999 Joachim Lucchesi
[Masch.]. – Hauck, Stefan: Die im Schatten sieht
man nicht. Margarete Steffin – Leben und Werk.
Frankfurt a. M. 2001 [zit. nach Ms.]. – Hecht. –
Hennenberg, Fritz: Dessau-Brecht. Musikalische
Arbeiten. Berlin 1963. – Hennenberg, Fritz (Hg.):
Paul Dessau. Opern. Berlin 1976. – Honolka, Kurt:
Lapidare Eindringlichkeit. In: Opernwelt (1976), H. Der gute Mensch von
2, S. 43. – Krause, Ernst: Noch muß man impro-
visieren. In: Opernwelt (1969), H. 4, S. 30 f. – Sezuan
Krause, Ernst: Fest im Griff. In: Opernwelt (1983),
H. 11, S. 37. – Lietzmann, Sabina: »Lukullus« immer
noch verurteilt. In: Lucchesi 1993, S. 356–358. –
Lucchesi/Shull. – Lucchesi, Joachim (Hg.): Das Entstehung
Verhör in der Oper. Die Debatte um die Aufführung
»Das Verhör des Lukullus« von Bertolt Brecht und
Paul Dessau. Berlin 1993. – Ders.: Versuche zur Be- Am 15. 3. 1939, noch im dänischen Exil, no-
wahrung der ›deutschen Senkrechten‹. Arnold tierte B. in sein Journal, er habe vor »ein paar
Zweig im Streit um die ›Lukullus‹-Oper. In: Berg-
Tagen […] den alten Entwurf von ›Der gute
hahn, Klaus L. [u. a.] (Hg.): Responsibility and Com-
mitment. Ethische Postulate der Kulturvermittlung. Mensch von Sezuan‹ wieder hervorgezogen«
Fs. für Jost Hermand. Frankfurt a. M. 1996, S. 185– (GBA 26, S. 332). Dabei handelte es sich um
191. – Ders.: Leben in der Inzwischenzeit. Brechts zwei kleine Textbruchstücke, die um 1930 ent-
Ansätze für eine Kunst im Krieg. In: Silberman, standen und mit Die Ware Liebe überschrieben
Marc (Hg.): Drive b: brecht 100. Berlin 1998, sind (GBA 6, S. 280 f.). Die beiden Entwürfe
S. 161 f. – Lüdecke, Heinz: »Das Verhör des Lukul-
enthalten bereits den Grundriss der Fabel. Die
lus«. / Ein mißlungenes Experiment in der Deut-
schen Staatsoper. In: Lucchesi 1993, S. 329–331. – Prostituierte, als der »Prototyp der kapitalisti-
Lyon, James K.: Bertolt Brecht in Amerika. Frank- schen Entfremdung« (Joost, S. 286), »sieht,
furt a. M. 1984. – Müller-Waldeck, Gunnar: ›Frie- daß sie nicht zugleich Ware und Verkäufer sein
densläuten‹ und ›Kriegs-Erklärung‹ – Die Friedens- kann« (GBA 6, S. 280). Nachdem sie ein klei-
thematik bei Becher und Brecht um 1950. In: Krieg nes Geldgeschenk erhalten hat, eröffnet sie
und Literatur. Internationale Beiträge zur Erfor-
einen Zigarrenladen und lebt mit einem Ge-
schung der Kriegs- und Antikriegsliteratur 4 (1992),
Nr. 7, S. 69–79. – Mayer, Hans: Brechts Hörspiel hilfen zusammen. Als sie ein Kind von ihm
»Das Verhör des Lukullus«. In: Ders.: Vereinzelt erwartet, verkleidet sie sich als Mann und
Niederschläge. Kritik-Polemik. Pfullingen 1973, schlägt sich auf die Seite der Ausbeuter: Nur
Entstehung 419

der entgeht der Ausbeutung, »der selbst aus- gen erschien. Auch war die Frage noch offen,
beutet«; die »Flucht aus der Prostitution« führt ob »Brot und Milch oder Reis und Tee« (Jour-
jedoch »auf einer anderen Ebene wieder in die nal, 2. 7. 1940; S. 397) für das Stück geeigneter
Prostitution« zurück (Joost, S. 286). seien. Vor allem bedauerte es B., wie er am
Zum Zeitpunkt der Niederschrift des Notats 30.6. notierte, dass »The proof of the pudding«
lagen fünf Szenen vor, die ab Anfang Februar in (S. 395) nicht möglich sei: »Nur die Bühne
Zusammenarbeit mit Margarete Steffin ent- entscheidet über die möglichen Varianten.«
standen waren (vgl. Hauck/Hassing, S. 50) (Ebd.) Kleinere Korrekturen, die aufgrund von
und von denen B. vier als brauchbar ansah. Mit z. T. massiven Einwänden von Steffin nötig wa-
Unterbrechungen, u. a. durch die weitere ren (vgl. Hauck, S. 407–410) und die ihn
Flucht nach Schweden, arbeitete er an dem »ebensoviel Wochen, wie die Niederschrift der
Stück kontinuierlich weiter. Im Mai des Jahres Szenen Tage« (Journal, 9. 8. 1940; GBA 26,
überlegte er, wie »die Parabel Luxus bekom- S. 410) kosteten, nahm er Juli/August des Jah-
men« (GBA 26, S. 338) könnte: Es sei alles »zu res vor, jedoch gingen die Arbeiten noch bis in
sehr rationalisiert« und »die Gefahr der Chi- den November weiter. Mit der Niederschrift
noiserie« müsse bekämpft werden (ebd.). Am und Einfügung der lyrischen Passagen Das
15.7. notierte er, dass die Hauptsache für ihn Lied vom Rauch (Ende Szene 1), das Lied vom
sei, »in den bösen Lao Go [später: Shui Ta] achten Elefanten (Ende Szene 8) und Das Ter-
Entwicklung hineinzubringen« (S. 339), und zett der entschwindenden Götter auf der Wolke
das Stück nicht zu lang werden zu lassen: (Ende Szene 10), die das Journal vom 26. 1.
»Fünfstundenstücke« seien erst dann zu recht- 1941 (vgl. GBA 26, S. 460) dokumentiert, war,
fertigen, wenn es den Dreistundentag gäbe nachdem B. bei der Endredaktion die Namen
(ebd.). Anfang September kam die Arbeit ins der Figuren in die endgültigen geändert hatte
Stocken: »Vieles ist zu spitzfindig« (Journal, (vgl. GBA 6, S. 437), das Stück abgeschlossen.
11. 9. 1939; S. 347). Durch einen Brief von B. ließ eine Abschrift herstellen, die als Matri-
Steffin an Knut Rasmussen von Ende März zendruck, Helene Weigel gewidmet, an Freude
1940 ist bezeugt, dass sie und B. im März 1940 in der Schweiz, den USA und Schweden ver-
wieder am Stück gearbeitet hatten: »eigentlich sandt wurde (BBA 160/1–122). Der Erstdruck
fehlt nur noch die schlussszene – und die um- erfolgte 1953 in den Versuchen (Heft 12), der
arbeitung der übrigen!« (BBA E 9/58; Hauck, Textgrundlage in der GBA wurde.
S. 331). Dagegen schrieb B. Ende Mai 1940 ins Der Vorspruch in den Versuchen nennt, ab-
Journal, er habe erst im Mai 1940, nun bereits weichend von den nachweisbaren Fakten, als
in Finnland, die Arbeit »ernstlich« (Journal, Entstehungszeit des Stücks 1938–1940: »1938
6. 5. 1940; GBA 26, S. 372) wieder aufgenom- in Dänemark begonnen, 1940 in Schweden ab-
men, und meldete am 20.6. »im großen und geschlossen« (GBA 6, S. 176). Die erste Jah-
ganzen« (S. 392) mit dem Guten Menschen fer- resangabe dürfte ein Erinnerungsfehler sein,
tig zu sein: »Der Stoff bot große Schwierig- die zweite sich darauf beziehen, dass B. im
keiten, und mehrere Versuche, ihn zu mei- September mit dem Puntila begonnen hatte
stern, seit ich ihn vor etwa zehn Jahren angriff, und die Arbeiten am Sezuan-Stück unterbrach
schlugen fehl. Vor allem musste dem Schema- (vgl. Journal, 14. 9. 1940; GBA 26, S. 423), und
tischen ausgewichen werden. Li Gung [= Shen darauf, dass B. im Matrizendruck von 1941 auf
Te] musste ein Mensch sein, damit sie ein der Rückseite des Personenverzeichnisses als
guter Menschen sein konnte. Sie ist also nicht Abschlussdatum »Herbst 1940« notiert hatte
stereotyp gut, ganz gut, in jedem Augenblick (BBA 160/4). Jedoch ist von B. selbst über-
gut, auch als Li Gung nicht. Und Lao Go liefert, dass er noch im Januar 1941 auf die
[= Shui Ta] ist nicht stereotyp böse usw.« Gesundung Steffins wartete, um das Stück
(Ebd.) Im Juni begann B. eine weitere Über- endlich abschließen zu können, es dann aber
arbeitung, da ihm der Rollenwechsel sowie allein beendete (Journal, 25. 1. 1941; GBA 26,
das Experiment der Götter noch nicht gelun- S. 460).
420 Der gute Mensch von Sezuan

Als Mitarbeiterinnen verzeichnet der Vor- Welt kann bleiben, wie sie ist, wenn genügend
spruch Ruth Berlau und Steffin. Berlaus An- gute Menschen gefunden werden, die ein
teile sind im Nachlass zum Stück nur für die menschenwürdiges Dasein leben können«
Fassung von 1943, von B. Version 1943 ge- (S. 179). Denn: »Seit zweitausend Jahren geht
nannt, bezeugt (BBA 176/1–68), vermutlich dieses Geschrei, es gehe nicht weiter mit der
die Fassung, die B. in den USA für eine Auffüh- Welt, so wie sie ist. Niemand auf ihr könne gut
rung am Broadway vorgesehen hatte. Sie bleiben.« (S. 180) Schon zu Beginn erweist es
wurde zunächst mit Kurt Weill, der für die sich als äußerst schwierig für die Götter, denen
Vertonung vorgesehen war, im Mai des Jahres verbal alle übliche ›Verehrung‹ zukommt, auch
begonnen und von B. im Herbst für das ame- nur ein Quartier zu erhalten. Die Hure Shen Te
rikanische Publikum überarbeitet. Die »halbe jedoch ist bereit, die Götter in ihr kleines Zim-
Oper«, die B. mit Weill vereinbart hatte (Jour- mer aufzunehmen. Ein guter Mensch scheint
nale, Mitte November bis Mitte März [1944]; damit schon gefunden zu sein. Jedoch zeigt
GBA 27, S. 183), kam jedoch nicht zustande sich, dass auch Shen Te nicht in der Lage ist,
(vgl. Lucchesi/Shull, S. 744). Diese Fassung die Gebote des Himmels einzuhalten, weil sie
weist eine veränderte Fabelführung durch den sonst verhungern müsste: »Selbst wenn ich
Einbau der sog. Opiumhandlung auf (zu den einige Gebote nicht halte, kann ich kaum
Einzelheiten vgl. GBA 6, S. 438–440 sowie die durchkommen.« (S. 184). Um ihr Unterneh-
Fabel-Erzählung in: GBA 24, S. 287–292). men nicht von vornherein scheitern zu lassen,
Nach den Erinnerungen Berlaus war sie jedoch machen die Götter Shen Te ein Geldgeschenk
auch an der ›Überarbeitung‹ des Stücks in und unterlaufen damit bereits – durch ihren
Finnland beteiligt. B. habe die ganzen Vor- göttlichen Eingriff – ihre selbstgesetzten Vor-
mittage daran gearbeitet und am Nachmittag aussetzungen, sich nämlich nicht in »das Wirt-
ihr die neu geschriebenen Texte vorgelesen schaftliche« (ebd.) einmischen zu können und,
und mit ihr diskutiert (Bunge, S. 128). Steffins wie es später heißt, »nur Betrachtende«
Mitarbeit ist dagegen im Nachlass-Material (S. 242) zu sein.
mehrfach und von Beginn an dokumentiert; so Szene 1: Shen Te kauft sich vom Geldge-
stammt z. B. ein Entwurf einer ersten Szene schenk einen kleinen Tabakladen und steigt
von ihr, dessen Inhalt, allerdings hier kürzer damit sozial zur Kleinbürgerin auf. Ehe sich
und straffer geführt, weitgehend ins spätere aber Käufer einfinden, überfüllt sich der La-
Vorspiel einging (BBA 237/56 f.). Neben den den immer mehr mit Bittstellern, u. a. der
üblichen Abschreibarbeiten war sie vor allem achtköpfigen Familie (GBA 6, S. 176). Shen Te
als kritische Leserin, die auch konkrete Text- ist zunächst durchaus bereit, allen zu helfen.
vorschläge machte, an der Entstehung des Gu- Sie muss aber erfahren, dass sie mit weiterer
ten Menschen maßgeblich beteiligt (vgl. Freigiebigkeit ihren Laden schon am ersten
Hauck, S. 337, S. 314 f., S. 407–410). Das Lied Tag ruinieren würde. Einer der Bittsteller re-
vom Rauch ist, wie B. am 26. 1. 1940 ins Jour- det ihr ein, einen »Vetter« (S. 188, S. 190) zu
nal notiert hatte (»das erste vom Rauch mit erfinden, dem der Laden eigentlich gehöre
Grete«; GBA 26, S. 460), eine Gemeinschafts- und der ein harter Geschäftsmann sei. Nur
produktion. sehr zögerlich rettet sich Shen Te in diesen
Ausweg.
Szene 2: Am nächsten Morgen ist der Vetter
Shui Ta, gespielt von Shen Te, zur Überra-
Inhalt schung aller tatsächlich da. Die Geschäfte be-
ginnen damit, dass Shui Ta erst einmal den
Schreiner, der die Stellagen für den Laden
Vorspiel: Drei Götter haben auf »Beschluß« gebaut hat, um seinen Lohn betrügt und ihn
des ›Himmels‹ (GBA 6, S. 179) die Welt auf damit ruiniert. Da die im Laden einquartierte
folgende Legitimation hin zu überprüfen: »die achtköpfige Familie die Stätte nicht freiwillig
Inhalt 421

räumt, holt Shui Ta die Polizei, die einen Sohn dabei gewesen. Zurückverwandelt in Shen Te
der Familie beim Diebstahl ertappt und da- überlässt sie sich, als Sun zurückkehrt, um
raufhin allesamt auf die Wache abgeführt. Da seine Geldgeschäfte weiter zu betreiben, ihren
die Besitzerin des Ladens die gesamte Miete Gefühlen und geht, Shu Fu stehen lassend, mit
aufgrund von Shen Tes Herkunft im Voraus ihm weg, um ihn zu heiraten.
verlangt, beschließt Shui Ta, Shen Te an einen Szene 6: Als die Hochzeitsgesellschaft zu-
reichen Mann zu verheiraten. Eine Annonce sammengekommen ist, besteht Sun darauf,
wird formuliert und aufgegeben. dass Shui Ta erscheint und ihm die Restsumme
Szene 3: Aber es kommt zunächst anders. für die Fliegerstelle in Peking überreicht, die
Auf dem Weg ins Teehaus, wo sie mit dem durch den Verkauf des Ladens an die Haus-
reichen Barbier Shu Fu, der sich auf die An- besitzerin Mi Tzü aufgebracht werden soll. Da
nonce gemeldet hat, verabredet ist, trifft Shen Shui Ta nicht kommen kann, platzt die Hoch-
Te im Stadtpark den Flieger Sun, der Selbst- zeit, und Shen Te scheint endgültig ruiniert zu
mord begehen will, weil er kein Geld für eine sein, weil sie die 200 Silberdollar nicht zu-
Anstellung als Postflieger aufbringen kann. rückerhält.
Shen Te kann Sun von seinem Vorhaben ab- Szene 7: Ein Ausweg bietet sich allein durch
halten und verliebt sich spontan in ihn. Sie den unsympathischen Barbier Shu Fu. Er über-
bleiben die Nacht über im Stadtpark. reicht, um nochmals seine ›Selbstlosigkeit‹ zu
Szene 4: Während Shen Te am nächsten beweisen, Shen Te einen Blankoscheck, den
Morgen vergnügt und lustig vom Stadtpark zu sie, sich endgültig in Shui Ta verwandelnd,
ihrem Laden zurückkommt, zerschlägt Shu Fu einzulösen gewillt ist: Sie ist schwanger von
Wangs Hand, weil er in dessen Laden hausiert Sun und beschließt, angesichts der Schlechtig-
hat. Shen Te bemerkt aufgrund ihrer guten keit der Welt nun rücksichtslos, wie ein »Ti-
Laune und der Tatsache, dass das alte Ehepaar, ger« (GBA 6, S. 249) für die Zukunft ihres
der Teppichhändler und seine Frau, ihr die Kindes zu kämpfen. Sie zeichnet den Scheck
dringend benötigten 200 Silberdollar für die mit 10 000 Silberdollar, eignet sich den ge-
Miete leihen, Wangs Verletzung zunächst stohlenen Tabak der achtköpfigen Familie an,
nicht. Über ihre Achtlosigkeit entsetzt, will den diese aus Angst vor der Polizei bei ihr
sie, weil die eigentlichen Zeugen sich wei- abgestellt haben, und eröffnet »in der Nähe
gern, durch einen Meineid Wang helfen. Wäh- des Viehhofs eine kleine, aber schnell auf-
rend Wang zum Richter läuft, meldet sich Frau blühende Tabakfabrik« (S. 254). Die Armen,
Yang, die Mutter Suns. Ihr Sohn habe, wenn er die ehemaligen Bittsteller des Ladens, da-
500 Silberdollar beibringe, Aussicht auf eine runter auch der ruinierte Schreiner, werden in
Stelle als Flieger in Peking. Da Shen Te meint, die Baracken des Shu Fu, »Rattenlöcher mit
dass ein Flieger fliegen müsse, übergibt sie verfaulten Böden« (S. 249), verfrachtet und er-
Frau Yang die gerade geborgten Dollar der halten als ›Hilfeleistung‹ nun das Angebot
Alten. Um den Rest zu besorgen, muss der Shui Tas, sich als Arbeiter seiner Fabrik, in den
Vetter wieder bemüht werden. »schmutzigen Schwitzbuden« (S. 273), rück-
Szene 5: Als Shen Te als Shui Ta erfährt, dass sichtslos ausbeuten zu lassen. Wangs Hand,
auf Sun kein Verlass ist und er nur Geld aus ihr die steif wird, sowie die 200 Silberdollar der
herausschlagen will, beschließt sie, vernünftig Alten sind vergessen.
zu sein und doch den reichen Barbier Shu Fu, Szene 8: In kurzer Zeit steigt Shen Te als
der sich anbiedernd und (scheinbar) selbstlos Shui Ta zum »Tabakkönig« (GBA 6, S. 266) auf,
um ›das keuscheste Mädchen der Stadt‹ (vgl. wird also zum Bourgeois. Auch Sun erhält
GBA 6, S. 230) bemüht, zu heiraten, um so seine Chance. Shui Ta lässt ihm die Wahl zwi-
ihren Laden zu retten. Als Wang mit einem schen »Kittchen oder Fabrik« (S. 254) wegen
Polizisten auftritt, der Shen Tes Zeugnis über- Bruch des Heiratsversprechens und Hinterzie-
prüfen möchte, verleugnet sie sich in der Rolle hung von 200 Silberdollarn. In der Fabrik – das
Shui Tas selbst: seine Kusine sei gar nicht Geld wird Sun vom Lohn abgezogen – erweist
422 Der gute Mensch von Sezuan

sich der Flieger als ›Überflieger‹, indem er Struktur


sich rücksichtslos nach vorn drängt und auf
diese Weise zum Antreiber avanciert, der die
Arbeiter mit brutalsten Methoden schindet. Das Stück ist gegliedert in zehn Szenen, ein
Szene 9: Shui Ta arbeitet an seinem Aufstieg Vorspiel, einen Epilog und sieben Zwischen-
weiter. Da die Polizei »allerhöchstens doppelt spiele, die zwischen die Szenen 1 und 2, 3 und
so viele Menschen pro Raum zulassen [kann], 4, 4 und 5, 5 und 6 (in diesen beiden Fällen als
als gesetzlich erlaubt ist« (GBA 6, S. 260), Zwischenspiele vor dem Vorhang), 6 und 7, 7
müssen für die Fabrikation neue Räume ge- und 8 sowie 9 und 10 eingeschoben sind. In
funden werden. Shu Fu mit der Aussicht, Shen den Text eingestreut sind darüber hinaus im-
Te doch noch zu bekommen, soll zahlen, die mer wieder lyrische Passagen, vorwiegend bei
Hausbesitzerin Mi Tzü »die Etablierung von Publikumswendungen oder für Shen Tes große
zwölf schönen Läden« (S. 266) aus ihrem Be- Schlussrede vor dem Gericht (vgl. GBA 6,
sitz fördern unter der Bedingung, dass ihr Sun S. 275 f.), sowie sieben Lieder, neben den ge-
›abgetreten‹ (ebd.) wird. Als der Handel per- nannten aus der letzten Arbeitsphase, Das
fekt scheint, taucht die Polizei im neuen Kon- Lied des Wasserverkäufers im Regen (Ende
tor Shui Tas auf. Sun hat Shui Ta alias Shen Te Szene 3; erste Strophe wiederholt in Szene 9),
im Gelass des Kontors schluchzen gehört und Das Lied von der Wehrlosigkeit der Götter und
fordert Aufklärung. Das Gelass ist zwar leer, Guten (Zwischenspiel zwischen Szene 4 und
aber Shen Tes Sachen werden gefunden. Shui 5), Das Lied vom Sankt Nimmerleinstag (Ende
Ta wird wegen Mordverdachts an seiner Ku- Szene 6) sowie das Terzett der entschwinden-
sine festgenommen. den Götter auf der Wolke (Ende Szene 10).
Szene 10: Es kommt zur Gerichtsverhand- Das Vorspiel entwickelt die Voraussetzungen
lung, bei der die drei Götter sich den Vorsitz für das Experiment »Welt« (GBA 6, S. 180) –
durch Bestechung erschleichen. In der Ver- exemplarisch dargestellt an der fiktiven und
handlung gibt sich Shen Te zu erkennen, aber nicht mit der Provinz Szetschuan im südlichen
Hilfe wird ihr von den Göttern nicht zuteil. Sie Zentralchina zu verwechselnden Stadt Sezuan
bestehen vielmehr darauf, in Shen Te ihren – und der Möglichkeit der Güte in ihr – exem-
guten Menschen gefunden zu haben und ent- plarisch dargestellt an der Prostituierten Shen
scheiden, indem sie vorsätzlich ihren »Be- Te, des »guten Menschen«. Mit dem Auftritt
schluß« verleugnen, nach dem »genügend gute der ›dreiuneinigen‹ Gottheit (vgl. Karnick,
Menschen« (GBA 6, S. 179) zu finden gewesen S. 222) in Gestalt drei menschgewordener
wären, dass alles »in Ordnung« sei (S. 276) Herren, die »kein Zeichen irgendeiner Be-
und Shen Te sich ab und zu des Vetters be- schäftigung« (GBA 6, S. 177) aufweisen, gibt
dienen darf. Darauf verschwinden sie auf einer sich das Geschehen von vornherein als anti-
Wolke. naturalistisch, irreal, wie auch die folgende
Epilog: Der sich unmittelbar anschließende Handlung formal als »Parabel« (S. 176) be-
Epilog, von einem der Spieler gesprochen, stimmt wird. Die in der Szenenfolge abge-
konstatiert »Wir stehen selbst enttäuscht und handelte Geschichte vom Aufstieg der sozial
sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fra- deklassierten Shen Te zum brutalen Ausbeuter
gen offen« (GBA 6, S. 278), und fordert das par exellence ist folglich inszeniertes Spiel
Publikum auf, sich selbst »den Schluß« zu su- und deshalb nicht mit Wirklichkeitsabbildung
chen: »Es muß ein guter da sein, muß, muß, zu verwechseln, und zwar ein Spiel, das die
muß!« (S. 279). Götter als Zuschauer beobachten und begut-
achten. B. zitiert den Topos des Welttheaters,
des teatrum mundi, wonach das Leben der
Menschen als ein Schauspiel vor Gott abläuft,
der an dessen Ende Gericht über die Darsteller
hält.
Struktur 423

Fünf der sieben Zwischenspiele vermitteln ein blaues Auge; vgl. S. 242), wird zunehmend
zwischen der eigentlichen Handlung um Shen zur Enttäuschung, die freilich nicht dazu führt,
Te und der Götter-Handlung, denn die Götter wie Wang es von ihnen erbittet, helfend einzu-
haben Sezuan verlassen und wandern weiter, greifen: »Wir glauben fest, daß unser guter
um »noch andere Menschen« zu suchen und zu Mensch sich zurechtfinden wird auf der dunk-
finden, »die unserm guten Menschen von Se- len Erde.« (Ebd.)
zuan gleichen« (GBA 6, S. 195). Vermittler ist Im vorletzten Zwischenspiel (GBA 6,
der Wasserverkäufer Wang, dem die Götter im S. 252 f.) berichtet Wang den Göttern von ei-
Traum erscheinen und der ihnen kontinuier- nem Traum, in dem er Shen Te unter der Last
lich Bericht gibt über das, was mit dem »guten der (unsichtbaren) Vorschriften, den »sittli-
Menschen« zwischenzeitlich geschehen ist. chen« Geboten (vgl. S. 269), beim Durchque-
Wang, der in einem Kanalrohr schläft und be- ren eines Flusses, um die Schriftzeichen tro-
reits im Vorspiel als Vermittler, dort in Sachen cken an andere Ufer zu bringen, fast zusam-
Wohnungssuche, tätig war, erhält im ersten menbrechen sah. Er bittet die Götter um eine
Zwischenspiel (S. 194 f.) neben seinem Auf- Erleichterung der Bedingungen »in Anbetracht
trag, die Götter über Shen Te zu unterrichten, der schlechten Zeiten« (S. 253), was diese je-
zugleich die Aufgabe, ihre Güte stets neu he- doch ablehnen.
rauszufordern, »denn keiner kann lang gut Das letzte Zwischenspiel der Wang-Götter-
sein, wenn nicht Güte verlangt wird« (S. 195), Handlung (GBA 6, S. 268 f.) zeigt, dass die
eine Aufgabe freilich, der sich Wang zuneh- Götter, die aufgrund »mannigfaltiger böser Er-
mend überfordert zeigt. lebnisse« (S. 268) völlig ramponiert auftreten,
Im zweiten Zwischenspiel (GBA 6, S. 211– am Ende sind und ihre Suche gescheitert ist.
213) erzählt Wang wahrheitsgemäß von Shen Das Fazit zieht der dritte Gott: »Die Welt ist
Tes Freundlichkeiten, muss aber zugleich auch unbewohnbar, ihr müßt es einsehen!« (S. 269)
vom Vetter berichten, der ihre Geschäfte be- In nochmaliger Abwandlung der Spielregeln
treibt. Die Götter, die bekennen, nichts von des Experiments begnügen sie sich jedoch da-
Geschäften zu verstehen, beklagen daraufhin mit, dass »Einer genügt« (ebd.), eben Shen Te,
das Geschäftemachen, das den göttlichen Ge- die nur noch gefunden werden muss.
boten widerspreche, als überflüssig und un- Die beiden weiteren Zwischenspiele vor
würdig: »Was haben Geschäfte mit einem dem Vorhang (GBA 6, S. 220 f., S. 232) gelten
rechtschaffenen und würdigen Leben zu tun?« der Hauptfigur und sind nicht in die Handlung
(S. 212). Sie verbieten weitere Auftritte des integriert. Das erste Zwischenspiel zeigt, wie
Vetters. Zugleich zeigen sie erste Ermüdungs- sich Shen Te in Shui Ta dadurch verwandelt,
erscheinungen, da ihre Suche nach weiteren dass sie dessen Kleider anlegt, seine Gangart
guten Menschen offenbar erfolglos ist: die probt und seine Stimme annimmt. Sie singt
Reichen verweisen sie an die Armen, »aber die dabei Das Lied von der Wehrlosigkeit der Göt-
Armen haben nicht Zimmer genug« (S. 213). ter und Guten, das martialisch für die Guten
Das dritte Zwischenspiel der Wang-Götter- »die gute Welt« (S. 221) einfordert. Im zweiten
Handlung (GBA 6, S. 241 f.) thematisiert am Zwischenspiel ist Shen Te auf dem Weg zur
Gleichnis vom »Leiden der Brauchbarkeit« Hochzeit. Indem sie sich an das Publikum
(S. 241), dass alles, was gut und nützlich ist, wendet, reflektiert sie mit großer Selbstdis-
schnell seiner Verwendung, das heißt Vernich- tanz ihre Situation: Die beiden Alten, die Shen
tung, zugeführt wird, während, der Unnützes- Te im »Aufruhr der Gefühle« (S. 232) verges-
te der Glücklichste ist. Die Anwendung des sen hat, benötigen dringend ihre 200 Sil-
Gleichnisses auf Shen Te hat zur Konsequenz, berdollar; sie hofft, dass Sun ein Einsehen hat
dass ihre Güte scheitern muss. Auch die Suche und lieber »in die Zementfabrik gehen, als
der Götter, die noch nicht einmal mehr Unter- sein Fliegen einer Untat verdanken« (ebd.)
künfte finden, im Freien schlafen müssen und will.
immer heruntergekommener aussehen (z. B. Die Szenenanordnung ist so getroffen, dass
424 Der gute Mensch von Sezuan

das zweite Zwischenspiel der Shen Te als »epi- können. Am Ende scheint sie um den Preis
sche Gelenkstelle« (Koller, S. 221) genau in sozial aufgestiegen, wieder und mit neuer
der Mitte des Dramas steht. Die Szenen selbst ›Qualität‹ Prostitution betreiben zu müssen, in
mit den weiteren Zwischenspielen sind sym- der Gerichtsverhandlung jedoch wird ihr Dop-
metrisch geordnet: nach Szene 1 und vor pelspiel aufgedeckt, was die Unmöglichkeit
Szene 10 sind das erste sowie das letzte Zwi- einschließt, es fortzuführen, und zwar im Wi-
schenspiel gesetzt; die Szenen 2 und 3 und derspruch zur ›Erlaubnis‹ der Götter, den Vet-
entsprechend 8 und 9 bleiben ohne Zwischen- ter gelegentlich bemühen zu dürfen.
spiele; die übrigen vier Szenen mit Zwischen-
spielen gruppieren sich um die Mitte des zwei-
ten Zwischenspiels der Shen Te, das nach die-
ser Strukturierung den Umschlag anzeigt: Die Intertextualität
Liebesgeschichte mit Sun ist mit Szene 5 trotz
aller Hoffnung Shen Tes am Ende, die Szene 6
schafft die Voraussetzungen für den Aufstieg Der Fabel des Guten Menschen basiert auf zwei
des Shui Ta und entsprechend für Shen Tes literarischen Grundmustern. Das erste Muster
Verschwinden. Die Szenen 4 und 7 spiegeln bildet die alttestamentarische Erzählung von
sich ebenfalls im Kontrast. In Szene 4 setzt Sodom (1 Mose 18–19). In der Gestalt von drei
Shen Te alle Hoffnung auf ihre Liebe zu Sun, in Männern, die das Verderben über Sodom und
Szene 7 beschließt sie, für ihr Kind zur ›Bestie‹ Gomorra bringen sollen, erscheint Gott vor
zu werden. Die Szene 8 zeigt als Rückblende Abraham und verkündet ihm, dass seine Frau
die Etablierung des Shui Ta als Ausbeuter, in trotz ihres hohen Alters in einem Jahr einen
Spiegelung die Szene 3, wie Shen Te (erst- Sohn haben werde, aus dem »ein großes und
mals) zu sich selbst als Liebende findet: dort mächtiges Volk« (18,19) werden soll, ein Ge-
die Brutalität des Fabrikbesitzers, hier die schlecht, das »des Herrn Wege halten und tun,
Freundlichkeit der Liebenden, die Wang trotz was recht und gut ist« (19,19). Abrahams Ver-
Regens sein Wasser abkauft. In Szene 9 ist such, das Unheil von Sodom und Gomorra ab-
Shen Te endgültig in der Rolle des Shui Ta zuwenden, scheitert, nachdem er die Zahl der
gefangen und verschachert ihren Geliebten an Gerechten von 50 auf zehn heruntergehandelt
die Hausbesitzerin sowie sich an den Barbier. hat, weil nicht einmal diese zehn gefunden
Im Gegensatz dazu wähnt sich Shen Te in der werden; einzig sein Neffe Lot entgeht dem
Spiegelszene 2 frei, über die Rolle des Shui Ta Untergang.
zu verfügen und sie nur dazu zu gebrauchen, B. übernimmt der biblischen Geschichte die
um weiterhin gütig sein zu können. In Szene 1 Dreizahl der Götter und spielt zweimal direkt
erfindet die ›Gute‹ den ›Bösen‹, in Szene 10 auf ihren Text an: mit dem »Geschrei, es gehe
wird im ›Bösen‹ die dringende benötigte nicht weiter mit der Welt« (GBA 6, S. 180),
›Gute‹ gefunden; war die Szene 1 noch von der zitiert B. das »Geschrei zu Sodom und Go-
gütigen Freundlichkeit der Shen Te be- morra« (1 Mose 18,20), das über deren Sünden
herrscht, so steht am Ende das Gesetz der zu Gott gedrungen ist; in Szene 4 fordert Shen
Raubgesellschaft nackt da und wird durch die Te, weil es in Sezuan keinen »Aufruhr« ange-
Götter als allein gültig legitimiert. sichts der herrschenden Gewalt und des Un-
Mit dieser symmetrischen Anordnung ist rechts gibt, »daß die Stadt untergeht / Durch
dem Stück neben der entschiedenen Kon- ein Feuer, bevor es Nacht wird« (GBA 6,
trastierung überdies eine Zirkelstruktur, die S. 217), in direktem Bezug darauf, dass Gott
eines circulus vitiosus, unterlegt. Das Götter- »Schwefel und Feuer« auf Sodom und Gomorra
geschenk scheint Shen Te aus der sozialen De- regnen lässt und damit die Städte auslöscht (1
klassierung der Prostituierten zu befreien und Mose 19,24). Eine weitere, indirekte Anspie-
ihr die Möglichkeit zu geben, sowohl ihre lung besteht in der Auserwähltheit der Nach-
Liebe leben als auch ihre Güte realisieren zu kommenschaft Abrahams, wenn Shen Te ihren
Intertextualität 425

ungeborenen Sohn, den die »Welt erwartet Probe zu stellen und am Ende Gericht über sie
[…] im geheimen« (GBA 6, S. 244), als einen zu halten.
begrüßt, »mit dem man rechnen muß« Parallelen ergeben sich zu B.s Vorspiel inso-
(S. 245), zugleich ein Bezug, auf Christus, den fern, als auch hier die Götter das Spiel eröff-
Messias, der nach christlicher Typologie in der nen und Shen Te durch ihr Geschenk, eine
alttestamentarischen Geschichte präfiguriert neue, freilich sozial definierte, Rolle erhält.
ist. Im Gegensatz zu Calderón jedoch holt B. Gott
B. kehrt das biblische Muster um. Die Göt- auf die Erde herab und setzt ihn in der Gestalt
ter reduzieren die vom ›Himmel‹ geforderte der uneinigen Dreiheit selbst der Brutalität
Anzahl von »genügend« guten Menschen (GBA ›seiner‹ Welt aus: die Götter sind am Ende
6, S. 179) auf ›einen‹, genauer auf einen ›hal- erheblich ›beschädigt‹. Die Oberbühne, die
ben‹, dessen Güte freilich nach dem Fortgang sich bei Calderón nach dem Vorspiel öffnet
der Handlung prinzipiell in Frage steht. Das (Calderón, S. 22) und die Gott als unanfecht-
Geschrei, das im Stück zum Himmel dringt, barem Beobachter des Menschenspiels, das
gilt nicht, wie in der Bibel, der Klage über die auf der Unterbühne stattfindet, dient, wird
Sünden der Menschen, sondern einer schlech- von B. geschleift; es gibt nur mehr den einen
teingerichteten Welt, die Güte nicht zulässt. Schauplatz »Welt«. Damit ist auch die trans-
Der Wunsch Shen Tes, dass Sezuan untergehen zendente Dimension des Vorbilds beseitigt
soll, ist sozialkritisch begründet und wird den und eine ›himmlische‹ Lösung des Spiels aus-
Figuren zugesprochen, die sich opportuni- geschlossen. Dramaturgisch hat das Vorspiel
stisch, anpasserisch und feige – in Anspielung wie das Muster Calderóns die Funktion, die
auf das Verhalten der Deutschen im Nazi- folgende Handlung als Spiel im Spiel auszu-
Reich (vgl. An die Gleichgeschalteten in den weisen.
Svendborger Gedichten) – angesichts inhuma- Dass Sezuan, auch trotz der Tatsache, dass
ner Zustände verhalten und diese damit aktiv die Götter ›ihre‹ Erde durchwandern (vgl.
mittragen. Und auch der neue Messias wird GBA 6, S. 195), für die »Welt« steht, beweist
bei B. nicht kommen; ihm steht das Schicksal nicht nur das Zitat des Topos durch die Götter,
des jungen Feng bevor, des Sohns des ruinier- sondern auch die Tatsache, dass die Figuren
ten Schreiners, der im Kehrichteimer nach Es- »den vorgeführten Weltausschnitt, die Haupt-
sen sucht (vgl. S. 248). stadt von Sezuan in einer bestimmten Zeit und
Das zweite Grundmuster bildet der Welt- Gesellschaftsverfassung, mit der Verfassung
theater-Topos, auf den der Text zweimal direkt der Welt überhaupt« (Karnick, S. 220) identifi-
anspielt: Die Götter nennen das, was sie be- zieren, so wenn Shen Te als Shui Ta schreit, als
gutachtet und für gut befunden haben: »Diese sie den Laden verloren glaubt: »Was ist das für
kleine Welt« (GBA 6, S. 276) und sehen sich eine Welt?« (GBA 6, S. 226), oder die Schwä-
selbst als »Betrachtende« (S. 242). Manfred gerin der achtköpfigen Familie konstatiert:
Karnick hat nachgewiesen, dass sich B. nicht »Wir können die Welt nicht ändern.« (S. 218)
nur allgemein auf den Topos bezieht, sondern Der Gewinn dieser Identifikation bei B. ist
direkt auf Calderón de la Barcas El gran teatro der, dass dadurch den Beteiligten die sozialen
del mundo (um 1635; dt.: Das große Weltthea- »Auswirkungen ökonomischer Verhältnisse
ter), in dem der Topos seine klassische theatra- […] als ›Natur‹« (Karnick, S. 220) erscheinen,
lische Gestaltung gefunden hat. In einem län- was sich sprachlich vor allem in den lyrisch-
geren Vorspiel ruft bei Calderón »Der Meister« verallgemeinernden Passagen des Stücks und
(= Gott) »Die Welt« auf, zu erscheinen, um den in den Liedern niederschlägt, z. B. als Shen Te
zukünftigen Schauplatz des von ihm inszenier- am Schluss von Szene 1 die Belagerung ihres
ten Spiels zu bilden, und er verteilt die Rollen Ladens kommentiert mit: »Der Rettung klei-
an die Schauspieler vom König bis zum Bettler, ner Nachen / Wird sofort in die Tiefe gezogen:
um diese nach dem Leitspruch »›Tue recht – / Zu viele Versinkende / Greifen gierig nach
Gott über euch.‹« (Calderón, S. 17) auf die ihm.« (GBA 6, S. 193)
426 Der gute Mensch von Sezuan

Leit-Gebot Calderóns, das »Das Gesetz der der deutschen Übersetzung Richard Wilhelms
Gnade« zusätzlich mit »Sollst, wie dich, den und auf diverse Passagen des Me-ti (auch: Mo
Nächsten lieben« (Calderón, S. 23; nach 3 Di, Mo Ti, Mo Tse; vgl. GBA 6, S. 232, S. 241,
Mose 19,18) erläutert, setzt, soll es erfüllt wer- S. 258) in der deutschen Übersetzung Alfred
den, die Willensfreiheit des Menschen im Forkes (Texte in: Knopf, S. 115–119). Mit den
christlichen Sinn voraus, nämlich frei zwi- chinesischen Quellen brachte B. einerseits so-
schen Gut und Böse wählen zu können, was im zialkritische Aspekte in seinen Text ein, so mit
Fall der Wahl des Bösen auf die Hartherzigkeit den Versen Die Decke, die zynisch-doppeldeu-
des Menschen zurückzuführen, entsprechend tig empfehlen, die Frierenden der Vorstädte
von ihm zu verantworten ist und durch das (und damit ihr Elend) einfach großflächig zu-
göttliche Gericht mit dem Fegefeuer oder der zudecken, andererseits vermochte B. mit ih-
Hölle geahndet wird. B. zitiert Calderóns Ge- nen einen grundlegenden Widerspruch zum
bot indirekt im Vorspiel, wenn der erste Gott christlichen Muster des Stücks historisch zu
Shen Te auffordert: »Vor allem sei gut« (GBA 6, beglaubigen. Wie Antony Tatlow schon 1971
S. 184), und am Schluss, wenn derselbe Gott, gezeigt hat – er beruft sich zusätzlich auf Men-
ehe sich die Götter davonmachen, sagt: »Sei cius (Tatlow, S. 45 f.), dessen Kenntnis in B.s
nur gut und alles wird gut werden!« (S. 277) Werk freilich nicht nachgewiesen ist –, gehen
Als »Gegen-Stück« (Karnick, S. 218) zum Welt- die klassischen chinesischen Ethiker davon
theaterspiel Calderóns aber demonstriert B.s aus, »daß der Mensch von Natur aus gut sei,
Stück, dass der Wille zum Guten angesichts […] daß die gesellschaftlichen Zustände es
der gesellschaftlichen Verhältnisse nur in den nicht ermöglichen, gut zu bleiben« (S. 46). Auf
Ruin führt, dass die Menschen damit eben diese ›Natur‹ beruft sich auch B.s Text, wenn
nicht über einen freien Willen verfügen, viel- Shen Te, zum Publikum gewendet, sagt: »Den
mehr unter Zwängen stehen, die ihnen un- Mitmenschen zu treten / Ist es nicht anstren-
menschliches Verhalten aufnötigen und die ge- gend? Die Stirnader / Schwillt Ihnen an, vor
forderte oder auch gewollte Nächstenliebe un- Mühe, gierig zu sein. / Natürlich ausgestreckt
realisierbar werden lassen: Güte ruiniert. / Gibt eine Hand und empfängt mit gleicher
Auch bei der Erfindung des Vetters zitiert B. Leichtigkeit.« (GBA 6, S. 247) Was die Gebote
indirekt Calderón. Bei diesem spielt »Das Ge- der Götter von den Menschen verlangen und
setz der Gnade« die Rolle des Souffleurs (vgl. zynisch mit der zutiefst christlichen Formel:
Calderon, S. 25), der sich während des Welt- »Leid läutert!« sowie dem Kommentar: »Je
spiels immer wieder einmischt, um die Men- schlimmer seine Lage ist, als desto besser
schen, wenn sie im Begriff sind, sich für das zeigt sich der gute Mensch« (S. 242) erklären,
Böse zu entscheiden, zu warnen und an das sind »nichts als die spontanen Bedürfnisse der
Gebot zu erinnern, was freilich durchweg auf menschlichen Natur, die von der Gesellschaft
taube Ohren stößt. In Umkehrung benutzt B. pervertiert werden« und so »humane Selbst-
das Soufflieren ausgerechnet dazu, die Figur verwirklichung« verhindern (Joost, S. 287).
des ›bösen‹ Shui Ta einzuführen, die das Gute »In China«, so Tatlow, »läutert das Leid nicht,
vernichtet; hier wird die Einflüsterung erhört es deformiert nur.« (Tatlow, S. 45)
und aktiv umgesetzt.
Neben weiteren biblischen Bezügen (nach-
gewiesen im Zeilenkommentar GBA 6) und
europäischen Quellen (vgl. Knopf, S. 120– Der ›offene‹ Schluss
123), griff B. für die chinesische Einkleidung
auf diverse klassische Texte des alten China
zurück: auf Po-Chü-yis Gedicht Die Decke Mit der Feststellung »Den Vorhang zu und alle
(GBA 6, S. 196) nach der englischen Überset- Fragen offen« (GBA 6, S. 278) konstatiert der
zung Arthur Waleys, auf Das Leiden der Epilog im ›geflügelten Wort‹ den offenen
Brauchbarkeit (S. 241) nach Dschuang Dsi in Schluss des Stücks, der in der Forschung bis-
Der ›offene‹ Schluss 427

her ausschließlich im Zusammenhang mit der Tragödie typisch, »bitteres Ende« (ebd.). Die
Aufforderung an die Zuschauer, sich selbst Gesellschaft wird die Tatsache, dass sie regel-
»den Schluß« (S. 279) zu suchen, diskutiert recht vorgeführt worden ist, mit aller Pein für
worden ist. Zunächst aber ist die ›eigentliche‹ den Bösewicht sanktionieren und wie ein Tier
Handlung danach zu befragen, ob sie tatsäch- (»gehetzt«; vgl. die Tiermetaphern S. 225,
lich »alle Fragen« offen lässt. An ihrem Ende S. 231) zur Strecke bringen. Shen Te steht am
steht zwar der wieder gefundene »gute Ende vor dem Nichts; der Kreis hat sich fürch-
Mensch«, aber der Schein trügt: »Lang besehn, terlich geschlossen. Die Shen Te-Handlung
ihn zu beschreiben / Schwände hin der schöne bleibt folglich durchaus nicht offen.
Fund« (S. 278). Da die Götter auf ihrer rosa Dieser zu Ende gedachte Schluss hat Folgen
Wolke entfliehen, bleibt die Welt nach dem für die Götter-Handlung. Sie, die aufgebro-
»Beschluß« (S. 178), der den Ausgangspunkt chen sind, gute Menschen zu finden, haben
der göttlichen Untersuchung bildete, »wie sie mit ihrem »Göttergeschenk«, eben weil sie als
ist« (S. 179). Als Shui Ta hat Shen Te zwar alles Götter von den irdischen Geschäften nichts
für die Konsolidierung ihrer Geschäfte getan, verstehen (vgl. GBA 6, S. 212), in diese einge-
die notwendig geworden sind, weil die Fabrik griffen und damit die Voraussetzungen dafür
»in Schwierigkeiten« (S. 265) ist (ihre Schlie- geschaffen, dass der einzige gute Mensch am
ßung droht), indem sie sich mit den beiden Ende vernichtet ist. Das Geschenk, das Shen
anderen Bourgeois von Sezuan, mit Mi Tzü Te den Aufstieg versprach und Grundlage sein
und Shu Fu, über die Erweiterung ihres Unter- sollte, Gutes zu tun, hat sie nicht nur in die
nehmens geeinigt hat, jedoch steht der ›Be- Selbstentfremdung des Shui Ta getrieben und
schluß‹ (S. 266) auf tönernen Füßen. Shu Fu dadurch ihre Güte sowie ihre Liebe vernichtet,
hat seine Unterschrift daran gebunden, dass er vielmehr ist sie am Schluss darüber hinaus in
sie Shen Te leistet (S. 267), Mi Tzü wird ihn eine weit schlimmere Situation zurückgesto-
nur einlösen, wenn Shui Ta ihr Sun abtritt. Mit ßen worden, als es ihre Ausgangsposition war:
Mi Tzü überwirft sich Shen Te, da noch als für eine ledige und schwangere Frau, die von
Shui Ta, in der Gerichtsverhandlung, welche der Gesellschaft geächtet ist, wird nicht ein-
die Hausbesitzerin »beleidigt« verlässt: »Ich mal mehr die Prostitution eine Einnahme-
habe mit Ihnen nichts zu schaffen« (S. 273). quelle sein. Dennoch ist ihr (nur angedeu-
Shu Fu wird mit den anderen Bewohnern von tetes) Ende durchaus nicht ›tragisch‹ im klas-
Sezuan Zeuge, dass Shen Te Shui Ta und sischen Sinn, sondern eher unglücklich, wenn
schwanger ist (S. 277); seine Stilisierung Shen nicht gar lächerlich. Es beruht auf einem ›Ver-
Tes zum »keuschesten Mädchen dieser Stadt« sehen‹ der Götter, das schon bei der Übergabe
(S. 230) bricht damit zusammen: ihr Doppel- des Geldes mit Doppelsinn ausgestattet wird,
spiel ist aufgedeckt, sie kann es also, trotz wenn der erste Gott Shen Te rät, mit niemand
ihrer Illusionen (vgl. S. 277), gar nicht weiter- darüber zu reden, weil es »mißdeutet« (S. 184)
spielen. werden könnte (Hurengeld), und es beruht auf
Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, einer zufälligen Entdeckung: Shen Te hat ein-
führt der Text nicht mehr aus; er deutet sie fach nur Pech gehabt, obwohl sie doch alles so
jedoch in den Regiebemerkungen unmissver- schön geplant hatte: »In unserem Lande /
ständlich an: Bevor die vorher ausgeschlos- Braucht der Nützliche Glück« (S. 220), und
senen Zeugen wieder in den Gerichtssaal ein- dies hatte Shen Te nicht.
gelassen werden, heißt es: »Sie [Shen Te] Der ›offene‹ Schluss des Epilogs betrifft
blickt gehetzt nach der Tür, durch die ihre Pei- nicht die Handlung, sondern deren Konse-
niger eintreten werden« (GBA 6, S. 277), und quenz. Gezeigt wird an den Geschäften des
als die Götter entschwinden, breitet sie »ver- Herrn Shui Ta, dass die ›Liebe‹, die Shen Te
zweifelt« (S. 278) die Arme nach ihnen aus. Die mit ihrer Güte verkörpern und leben wollte,
Intrige, zu der die Hosenrolle der Shen Te »als der höchste göttliche Wert [vgl. 1 Korin-
gehört, nimmt folglich für sie ein, wie in der ther 13,13], noch vor Glaube und Hoffnung
428 Der gute Mensch von Sezuan

[…], unter dem Druck ökonomischer Notwen- habe den »Ballen der Vorschriften« trocken ans
digkeiten zum Verkaufsgegenstand und zum andere Ufer zu bringen, »da sonst die Schrift-
Ausdruck totaler Selbstentfremdung« (Kar- zeichen verwischten« (ebd.). Die herrschende
nick, S. 226) geworden ist. Die Ursache dafür tödliche Ideologie ist unsichtbar, hat aber reale
sind die Gebote der Götter, die Liebe und Güte Folgen für die Menschen, die von ihr betroffen
fordern, und die ihnen widersprechenden sind; dennoch muss sie um jeden Preis und mit
ökonomischen Verhältnisse, die Rücksichtslo- jedem Opfer gerettet werden. Das Stück bringt
sigkeit und Brutalität fordern und jeden aus- diese unsichtbare Last in anschauliche Bilder
tilgen, der sich nicht daran hält. Die göttlichen und zeigt ihre Folgen.
Gebote formulieren eine Ideologie, mit der Mit dem ›offenen‹ Schluss, indem er eine
sich die Raubgesellschaft den Deckmantel ei- Theorie-Praxis-Vermittlung formuliert, bean-
ner humanen Gesellschaft zulegt; die ökono- sprucht der Text über das ästhetische Spiel
mischen Verhältnisse basieren auf Gesetzen, hinaus als Meta-Text gelesen bzw. als Meta-
die nur funktionieren, wenn sie mit aller (ver- Spiel gesehen zu werden. Behauptet wird, am
deckten und offenen) Inhumanität betrieben Modell des vorgeführten Welt-Ausschnitts die
werden, und zwar auch und gerade dann, »Welt« als ganze und ihre inhumane ›Wirk-
wenn sie als geltendes ›Recht‹ anerkannt sind. lichkeit‹ offen gelegt und erkennbar gemacht
Da das Stück dies an einer Figur, die ihren zu haben. Unter diesem Aspekt versteht sich
Widerspruch lediglich als Rolle annimmt bzw. das Stück auch als Theorie einer (möglichen)
ihren ›Gegensatz‹ nur als Rolle spielt, offen revolutionären Praxis, die diese Wirklichkeit
legt, kann die Konsequenz nur lauten, dass so verändert, dass humanes Zusammenleben
diese »Welt«, die das Stück vorgeführt hat, möglich wird. Diese Veränderung aber hätten,
»unbewohnbar« (GBA 6, S. 269) ist. Daraus indem sich das Stück der je gegenwärtigen
folgt die weitere Konsequenz: sie muss verän- Realität seiner Zuschauer ausliefert, die Zu-
dert werden. Die mögliche Veränderung aber schauer, und zwar als fortlaufenden offenen
findet nicht mehr – das wäre bloßes Wunsch- Prozess der Humanisierung, selbst zu leisten.
denken und seinerseits Ideologie – auf der Diese allein verbürgen gesellschaftliche Pra-
Bühne statt, sie kann nur den Zuschauern, xis, nicht die Kunst. Deshalb muss »ein guter
welche die Konsequenz erkannt haben, über- [Schluß] da sein, muß, muß, muß!« (GBA 6,
eignet werden, wie es der Epilog auch tut. Der S. 279) Wie er konkret aussieht, kann nur die
›offene‹ Schluss verweist demnach darauf, jeweilige Praxis entscheiden.
dass die Kunst ihre Grenze an den real herr-
schenden Verhältnissen, die für die Zuschauer
gelten, findet und sie sich weder mit Wirklich-
keit noch gar mit gesellschaftlicher Praxis ver- Das Rollenspiel
wechselt. Was sie lediglich kann, ist, in einem
Modell bzw. hier im Experiment, das der Of-
fenlegung der Funktionsgesetze der Gesell- Die Forschung hat die Doppelrolle der Shen Te
schaft dient, die real gegebenen Widersprüche fast ausschließlich unter dem Begriff »Person-
ästhetisch zur Anschauung zu bringen und da- spaltung« (Joost, S. 287) diskutiert, was der
mit zu helfen, sie für die Zuschauer erkennbar älteren Forschung zum Stück, auf die hier nur
werden zu lassen. verwiesen sei, u. a. dazu geführt hat, darüber
Der Traum Wangs von Shen Tes Last, unter zu räsonieren, ob »die Schizophrenie die tragi-
der sie fast zusammenbricht, liefert dafür die sche Lage des Menschen enthüllt« (Sokel,
stückimmanente Poetik (GBA 6, S. 253). Für S. 393; vgl. Grimm). Es ist zwar üblich, bei
Wang ist die Last unsichtbar; er erkennt sie Dramenfiguren von Personen zu sprechen, zu-
lediglich an der merkwürdigen Haltung Shen mal der Begriff im Lateinischen (›persona‹)
Tes: sie wankt und hält den Nacken gebeugt. die Bedeutung ›Maske‹ hatte, im heutigen
Auf seinen Anruf hin, ruft sie Wang zu, sie Sprachgebrauch wird er jedoch fast aus-
Das Rollenspiel 429

schließlich auf historische Personen angewen- tätsebene‹ des Stücks, die schon irreal und
det; die Forschung neigt dazu, über diesen fiktiv genug ist, Shui Ta hingegen ist ihr gegen-
Begriff ›Menschen (als ob)‹ zu assoziieren über eine Erfindung, eine Fiktion, die nur so
(vgl. Ueding, S. 189) und dadurch zu falschen lange zur ›Realitätsebene‹ zu gehören scheint,
Schlüssen gerade bei diesem Stück zu kommen solange die mitspielenden Figuren sie als
(vgl. Pietzcker, S. 241). Dass es sich um eine ›real‹ akzeptieren; ›real‹ ist sie selbst jedoch
»Spaltung« handelt, wird mit der Selbstaus- nie. Diese Art sozialen Rollenspiels hatte B.
sage Shen Tes begründet, der einstige Befehl schon um 1933 in seiner Erzählung Der Ar-
der Götter »Gut zu sein und doch zu leben / beitsplatz oder Im Schweiße deines Angesichts
Zerriß mich wie ein Blitz in zwei Hälften. Ich / sollst du kein Brot essen, einen realen Fall
Weiß nicht, wie es kam: gut sein zu andern / aufgreifend, gestaltet. Dort übernimmt eine
Und zu mir konnte ich nicht zugleich« (GBA 6, Frau die Rolle ihres verstorbenen Mannes, er-
S. 275). Carl Pietzcker schließt daraus, dass wirbt sich damit einen Arbeitsplatz und erfüllt
diese Spaltung »im Subjekt« (S. 232) es zu- ihren Job als Wachtmann zur Zufriedenheit
lasse, »Inneres außen darstellbar und distan- aller, bis sich nach einem Unfall ihre ge-
zierbar« (S. 234), folglich in der Figur des Shui schlechtliche Identität herausstellt. Auf deren
Ta sichtbar zu machen. Der Text der Stelle Entdeckung folgt die gesellschaftliche Äch-
bezieht sich jedoch nicht auf die Doppelrolle, tung der Frau als »Monstrum« (GBA 19,
die Shen Te als Shui Ta spielt, sondern auf S. 349), zu den Menschen gehörend, »die ver-
einen weiteren Widerspruch der Figur, dass loren sind, und zwar, wenn man der herr-
sie nämlich die geforderte Nächstenliebe nicht schenden Meinung glauben will, endgültig«
zugleich auch als Selbstliebe realisieren kann, (ebd.).
ein Widerspruch, der sich in der Figur des B. griff, um die Erfindung des Shui Ta büh-
Shui Ta gerade nicht niederschlägt, weil dieser nenwirksam umzusetzen, zu einem traditio-
zunächst ja nur die Voraussetzungen für die nellen theatralischen Mittel, zum Soufflieren.
Nächstenliebe schaffen soll, um dann das ge- Als Shen Te gleich nach der Eröffnung ihres
naue Gegenteil zu bewirken. Ladens in Zahlungsschwierigkeiten ist, rät ihr
Darüber hinaus suggeriert der Begriff »Spal- der Mann der achtköpfigen Familie: »Sag
tung«, dass sie eine ›ganze Person‹ halbiere doch, er [der Laden] gehört dir nicht. Sag, er
und damit zwei, sich zwar widerstreitende, gehört einem Verwandten, der von dir genaue
aber auf gleicher Ebene angesiedelte ›Hälften‹ Abrechnung verlangt. Kannst du das nicht?«
entstünden. Eine solche Auffassung geht je- (GBA 6, S. 187) Als der Schreiner auf der Be-
doch an der ästhetischen Organisation des zahlung seiner Stellagen besteht, »souffliert«
Stücks völlig vorbei. Diese Fehldeutung kann der Mann Shen Te: »Vetter!« (S. 188) Zwar
nur dadurch entstehen, dass die Figurenna- zögert Shen Te weiterhin, auf das Soufflieren
men als Text, also nur durch Lesen, wahr- einzugehen, als jedoch auch noch die Haus-
genommen werden, jedoch nicht daran ge- besitzerin die Miete im Voraus verlangt und
dacht wird, dass es sich um ein Theaterspiel der Mann erneut »Vetter! Vetter!« »souffliert«,
handelt, das, auf der Bühne realisiert, keine sagt Shen Te »langsam, mit niedergeschlage-
Spaltung, sondern ein Rollenspiel zeigt, was nen Augen«: »Ich habe einen Vetter.« (S. 190)
etwas ganz anderes ist. Shen Te steht nicht mit Mit diesem Satz ist die neue Bühnenfigur ge-
Shui Ta auf der gleichen Ebene, Letzterer ist funden, die in der folgenden Szene dann auch
vielmehr eine Fiktion zweiter Ordnung, deren ›tatsächlich‹ auftritt.
Konstrukt sich sofort auflöst, wenn das Dop- Das Soufflieren gehört zum Alltag des Thea-
pelspiel durchschaut ist, wobei angemerkt sei, ters, wenn ein Darsteller seinen Text nicht
dass der Autor durchaus inkonsequent und ir- weiß; gutes Soufflieren soll vom Publikum
reführend Shui Ta ins Verzeichnis der »Perso- möglichst nicht gehört werden, und das heißt
nen« (GBA 6, S. 176) aufgenommen hat. Shen für das Spiel auf der Bühne, es soll möglichst
Te gehört als ›Person‹ zur gespielten ›Reali- so weitergehen, als habe der Darsteller keinen
430 Der gute Mensch von Sezuan

›Hänger‹ gehabt. Aus der Theaterpraxis ist be- wieder zu Wort kommen, und als sie gespro-
kannt, dass es bei solchen Gelegenheiten zu chen hat, sagt der erste Gott »mit allen Zeichen
improvisierten Einlagen kommen kann, ohne des Entsetzens: Sprich nicht weiter, Unglück-
dass die Zuschauer bemerkten, dass diese liche!« (GBA 6, S. 276) Was Shen Te als Shen
nicht zum Stück bzw. zur Inszenierung gehö- Te sagt, hat auf dieser Bühne nichts (mehr)
ren. verloren; die Souffleure des Stücks haben sich
In B.s Text ist gegen die alte Theaterregel durchgesetzt, bis die Konstruktion zusammen-
das Soufflieren Bestandteil des Spiels selbst; bricht und die ›reale‹ Person erledigt ist: die
es wird regelrecht vorgeführt. Es muss von den materielle Gewalt der Ideologie, die in der
Zuschauern (und auch Lesern) bemerkt und Fiktion des Shui Ta ›verkörpert‹ war, wird auf
als künstliches Mittel des Theaters erkannt der ›Realitätsebene‹ sichtbar.
werden: Was sonst unter oder neben der Entscheidend ist, dass Shen Te den Shui Ta
Bühne stattfindet, ist auf die Bühne, in ihre spielt, dass folglich, wenn er auf der Bühne ist,
Handlung, verlegt. Mit dem Soufflieren wird immer zugleich auch sie da ist. Sie verfügt über
der Darstellerin der Shen Te ein Text nach- alles, was Shui Ta ausmacht. Damit die Zu-
gereicht, den sie offenbar vergessen hat, setzt schauer dies nie vergessen, dafür steht u. a. das
man die ›Normalität‹ des Theaterspiels und Zwischenspiel vor dem Vorhang, zwischen
seines Ablaufs voraus. Aus dem Text der Shen Szene 4 und 5, wenn sich Shen Te sich auf
Te aber geht andererseits hervor, dass sie sich offener Bühne in Shui Ta umkleidet. In Korre-
zunächst sträubt, diesen Vetter als Figur des spondenz zum Soufflieren wird mit dieser
Stücks zu akzeptieren. Sie meint, ihren Part Szene eine weitere, sonst verborgene theatra-
auch ohne ihn schaffen zu können, bis sie lische Einrichtung auf die offene Bühne ver-
merkt, der Text des Stücks und sein Kontext legt: die Garderobe. Im Normalbetrieb dient
stärker sind als ihr Figurentext. Es findet in sie dazu, die Schauspieler als bereits in die
nuce eine offene Auseinandersetzung, wie auf Figur verwandelte Darsteller für ihren Auftritt
einer Probe, zwischen dem Regisseur, den der (mit letzten Proben der Haltung und Stimme)
Souffleur vertritt, indem er den (seinen) Text auszustatten und damit (womöglich) Realis-
bei den Darstellern durchzusetzen hat, und mus zu illusionieren. Das Zwischenspiel B.s
der Darstellerin, die auf ihrem Rollenver- dagegen zeigt das Funktionieren der Verwand-
ständnis besteht, statt. Durch das Soufflieren lung vor den Zuschauern. Dadurch werden
jedoch setzt sich der Text des Stücks gegen den nicht nur wiederum theatralische Mittel de-
Text der Figur durch; diese unterliegt erstmals monstrativ und selbstreferentiell als solche ge-
und wird gezwungen, sich in den ›übergeord- zeigt, vielmehr wird zugleich die Identität bei-
neten‹ Kontext des Stücks zu fügen und ihren der Figuren im Spiel nochmals ausgestellt.
Part danach auszurichten. Anders gesagt: B.s Mit der Hosenrolle besteht überdies ein
Stück demonstriert bei der Erfindung der dann weiterer intertextueller Bezug zu B.s Stück.
ja ›eigentlichen‹ Hauptfigur das Kabinettstück Sie geht auf die italienische Commedia dell’
eines Streits zwischen zwei Diskursen, in dem arte zurück, wie auch ein Teil des Figurenarse-
der eine Diskurs (der des Stücks) den anderen nals ihr entstammen könnte, die achtköpfige
(den der Figur) regelrecht niederkanzelt und Familie, die sich, über die ganze Szene 1 ver-
letzteren zwingt, die Sprache des ersten zu teilt, erst allmählich zusammenfindet, oder
sprechen. die intrigante Shin, die Ähnlichkeit mit der
Spielerischer und fiktiver lässt sich die Ein- Columbine aufweist, oder Shu Fu, der ver-
führung einer Hauptfigur eines Stücks kaum liebte Alte, der vom Pantalone angeregt sein
denken. Der Text des gesamten Stücks funk- könnte (vgl. Hermes, S. 156); die Hosenrolle
tioniert so: Shen Te und ihr Rollenverständnis findet sich aber auch bei Shakespeare z. B. in
werden vom dominanten Shui Ta so weit ver- Die beiden Veroneser (1593) oder bei Tirso de
drängt, bis Shen Te ganz zum Schweigen ge- Molina in Don Gil von den grünen Hosen
bracht ist. Erst in der Schluss-Szene darf sie (1617). Sie war ein vorwiegend komödianti-
Das Rollenspiel 431

sches Mittel, um die Zuschauer im Gegensatz matismus« (S. 185) zum Ausdruck, in dem das
zu den mitspielenden Figuren, die sie ernst Böse »keine andere Funktion [hat], als das
nehmen, das heißt ihnen wie ›realen‹ Mit- Gute zu widerlegen« (ebd.): »Der realistische,
spielern begegnen, in die Täuschung auf der skrupellose, seine Empfindungen beherr-
Bühne einzuweihen und damit das Versteck- schende Geschäftsmann Shui Ta bleibt die ab-
spiel der Frau gegenüber dem (geliebten, aber strakte Antithese zur gutmütigen, idealisti-
nur so zu domestizierenden) Mann komödian- schen, weichen Shen Te« (ebd.), eine Statik,
tisch genießen zu lassen. Von vornherein war die sich durch alle Szenen hindurchziehe. Die-
die Hosenrolle ein theatralisches Mittel, das ses Fazit ist konsequent und gegen den B.schen
es ermöglichte, das Spielgeschehen für die Zu- Text der These geschuldet, der Gute Mensch
schauer zu verdoppeln und zugleich ihre Auf- sei als »Widerlegung« von Goethes Faust an-
merksamkeit nicht nur auf den Ausgang der gelegt, was Ueding freilich nur behauptet,
Handlung zu spannen, sondern auch auf das nicht aber nachweist; B. habe dafür »einen
Verhalten der ›unwissenden‹ Figuren zu len- hohen Preis« (S. 181) gezahlt, »weil ihm [B.]
ken. Die Hosenrolle setzt verschiedene Be- die ironische Perspektive versperrt war, die
wusstseinsgrade voraus und funktioniert da- Goethes Prolog im Himmel bestimmt, nämlich
durch, dass die Zuschauer in ein ›Geheimnis‹ die ironische Aufhebung des Antagonismus
eingeweiht sind, das am Ende gelüftet und für von Gut und Böse« (ebd.).
alle Beteiligten, je nach dem sie sich verhalten Pietzcker kommt 1988 in seiner psychoana-
haben, Folgen haben wird. Kein Zuschauer lytischen Untersuchung zu B. zur gleichen
Shakespeares hat im Dienstmann des Proteus These mit anderer Begründung. Er sieht in der
nicht zugleich die verkleidete Julia gesehen, Figurenkonstellation, der Handlung und in
keine Darstellerin der Julia die Möglichkeit den Konflikten des Stücks, für B. unbewusst,
nicht genutzt, zu zeigen, dass sie als Frau den »ein nahezu vaterloses Spektrum von Mutter-
Mann spielt und damit über Fähigkeiten ver- Sohn-Interaktionen« (Pietzcker, S. 218) ausge-
fügt, die sie auf vordergründig realistischer prägt. Aufgrund dieser mangelnden ›Triangu-
Ebene nicht hätte. lierung‹ (Fehlen der Vaterbindung) wird dem
Autor unterstellt, dass er nur zu vordergrün-
digen Dualismen fähig sei, und dies heißt an-
gewendet auf das Stück: Wenn B. »Shen Te,
Hinweise zur neueren Forschung der Frau den nährenden, leidenden und lie-
benden Part zuteilt, Shui Ta, dem Mann aber
den kalten, rationalen und kämpferischen, so
Die neuere Forschung hat die Umwandlung verharrt er ganz im bürgerlichen Geschlechts-
und damit die Entwicklung der einen Figur rollenschema, das sogar in der bürgerlichen
(Shui Ta) aus der anderen (Shen Te) weitge- Gesellschaft seiner Zeit schon umstritten war«
hend nicht akzeptiert. Gerd Ueding z. B. meint (S. 243), und entsprechend sei er als »Mutter-
in seiner 1984 im Untertitel des Buchs aus- sohn […] blind für patriarchalische Momente
drücklich als ›neue Interpretation‹ ausgewie- bürgerlicher Herrschaft« (ebd.).
senen Darstellung, dass B.s Stück im Unter Berufung auf Jacques-Marie Émile
»Zustand« verharre, »vielmehr: der Zustand Lacan zieht sich die These wie ein roter Faden
selber ist dieses Stück« (Ueding, S. 185), und durch die neuere B.-Forschung, so wenn Eliza-
begründet dies damit, dass weder »Shen Te beth Wright 1994 zum Schluss kommt, B. habe
noch Shui Ta, beide einmal als selbständige im Stück die Klassengesellschaft zwar als his-
Personen genommen […], da die Figur des torisches Produkt, die Trennung der Ge-
Vetters geboren und akzeptiert wurde, noch schlechter jedoch als ›natürliche‹ Tatsache
irgendeine Entwicklung« durchmachten dargestellt. Die Mutterschaft der Frau, Shen
(ebd.) Im »Bilde vom gespaltenen, zerrissenen Tes, sei als ›natürlich‹ vorausgesetzt, und ent-
Menschen« (S. 189) komme ein starrer »Sche- sprechend werde die Güte als typische weib-
432 Der gute Mensch von Sezuan

liche Eigenschaft gewertet, wohingegen der Kapitalistisch-ausbeuterische


Mann rational, durchsetzungsfähig und böse
sein müsse, eine Einschätzung, die B.s ›Sexis-
›Sozialisation‹
mus‹ unter Beweis stelle. Der marxistische
Meisterdenker habe von je her die Welt ledig- Nach den modellhaften Voraussetzungen des
lich binär bzw. antagonistisch gesehen, in der Stücks möchte Shen Te gern »gut« sein (GBA 6,
die Frau nur eine sekundäre Rolle spiele. Die S. 184), was durchaus nicht heißt, dass sie gut
›Konstitution‹ des Subjekts habe bei B. bloß ist, zumal sie um die Schwierigkeiten weiß,
gesellschaftliche Ursachen und sei nicht, wie Gutes zu tun, »wo alles so teuer ist« (ebd.).
bei Lacan, durch einen prinzipiellen Seins- Was sie sich am sehnlichsten wünscht, ist
mangel, Trennung des Subjekts in ›moi‹ und Liebe: »Ich will mit dem gehen, den ich liebe.
›je‹, definiert, der die Suche nach einer nie / Ich will nicht ausrechnen, was es kostet.«
erreichbaren Einheit produziert (Wright, (S. 231) Trotz aller Widrigkeiten meint sie,
S. 118). mit Sun doch noch ihre (vorbehaltlose)
Ein ganzes Buch mit über 500 Seiten hat D. Liebe leben zu können. Da der Mann diese
Stephan Bock dem Stück 1998 gewidmet, vom Liebe verrät und sie schwanger ist, bleibt ihr
Suhrkamp Verlag als »kleine Sensation« ange- keine andere Wahl, als nun ihrerseits die Ge-
priesen: »ein Klassiker Bertolt Brechts liest setze aktiv und zunehmend brutaler anzuwen-
sich auf neue Weise« (Schutzumschlag, Rück- den.
seite). Entgegen der Reduktion des Stücks auf Der Preis, den die Frau zu zahlen hat, ist
einen starren Antagonismus breitet Bock eine groß. Sie muss nicht nur ihre ›gute Natur‹,
fast schon unübersehbare Fülle von Deutun- ihre Hilfsbereitschaft, verleugnen, sie muss
gen aufgrund eines polyglotten Sprachver- zugleich auch ihre geschlechtliche Identität
ständnisses aus, das er dadurch abzusichern ablegen. Insofern zeigt das Stück exemplarisch
meint, dass die ›chinesische Verkleidung‹ kapitalistische ›Sozialisation‹; denn so, wie
beim Wort genommen und somit in ungeahnte Shen Te als Shui Ta handelt, entspricht es den
Zusammenhänge gestellt werden dürfte. Die gesellschaftlichen Bedingungen, und ihr Han-
Methode ist, durch Anagrammatik, Onomato- deln ist damit auch ›moralisch-ethisch‹ sank-
poesie, kabbalistische Sprachmagie sowie tioniert, die Götter bestätigen ausdrücklich
durch beliebige Assoziationen den Text B.s mit die herrschende »Ordnung« (GBA 6, S. 276).
allen möglichen Bezügen zu vernetzen und sie Gezeigt wird also eine sich mit Widersprü-
als ›Bedeutung‹ des Textes zu lesen, so dass chen entfaltende Geschichte, die zu Entfrem-
ein »Diskurs totaler Synonymie« (Eco, S. 108) dung und Selbstentfremdung in radikalster
entsteht, der entweder alles oder nichts sagt. Form führt: dafür steht Shui Ta, den Shen Te,
Bocks These ist, B. habe mit dem Stück »im nachdem sie sich auf die Rolle eingelassen hat,
tiefsten Exil eine neue Schöpfungsmythe« spielen muss. Wie verheerend diese den bru-
(Bock, S. 419) setzen wollen, die »kosmische talen gesellschaftlichen Verhältnisse angepas-
wie überzeitliche Tragweite« (S. 430) ge- ste Rolle für die anderen ist, wird deutlich an
winne. Einer »›historisch-gesellschaftlichen den Folgen für die Betroffenen. Die ehema-
Formation‹« habe B. »ein historisch ortbares ligen Bittsteller werden zu ausgebeuteten
poetisches ›Produkt‹ [entgegengesetzt] (das Lohnsklaven, denen als ›Leben‹ gerade mal
sich mit ›Ur- und Grundbuch‹ oder ›Schöp- gestattet wird, ihre Arbeitskraft zu reproduzie-
fungsMythe‹ nur annähernd umreißen läßt)« ren. Giorgio Strehler hat in seiner berühmten
(ebd.). So wird dieser ›Klassiker‹ B.s zu der Inszenierung von 1981 die Szene 8, welche die
»dramatischen Dichtung eines neuen Jahrhun- Vorgänge in der Fabrik thematisiert, ausdrück-
derts« (Untertitel). lich als eine Art KZ gebaut, überleuchtet von
moderner Leuchtreklame à la Coca Cola, hier
mit der Inschrift: »Shui-Ta Tobacco«. In der
Frau triumphiert so das patriarchalische Prin-
Kapitalistisch-ausbeuterische ›Sozialisation‹ 433

zip der Gesellschaft, das sie leidvoll erlernt hat ende noch längere Zeit, aufgrund des Männer-
und dem sie gleichwohl unterworfen ist. mangels gebraucht wurden. Brechts Guter
Das bedeutet: Die Frau lernt im Lauf der Mensch von Sezuan ist, wenn man so will, ein
Handlung, und zwar immer perfekter, die dezidiert ›feministisches‹ Stück, das die alten
Rolle des Mannes zu spielen und über alle Geschlechterrollen bis zu jenem, im Grunde
deren Möglichkeiten zu verfügen. Am Ende absurden Punkt vorantreibt, an dem der red-
der Geschäftshandlung erweist sich Shen Te liche Schluss nur lauten kann, diese abzuschaf-
als raffinierter und hinterhältiger als alle fen und mit ihnen die patriarchalisch-kapi-
männlichen Figuren des Stücks. Bis zu ihrer talistischen Verhältnisse, aus denen sie stam-
Entdeckung vor Gericht ist sie die eigentliche men.
Siegerin; aber sie ist dies in radikaler Wider-
sprüchlichkeit immer noch eindeutig gegen ih-
ren eigenen Willen, was immer wieder da-
durch betont wird, dass sie bei Entscheidun- Komödie
gen zögert und sogar noch, als ihr der Coup
gelungen scheint, Shu Fu und Mi Tzü auf die
Rettung ihres Unternehmens eingeschworen Trotz seiner Zirkelstruktur und trotz seines
zu haben, Hemmungen hat, Sun an die Haus- unglücklichen Ausgangs ist der Gute Mensch
besitzerin auszuliefern. Als Shen Te weiß sie eine Komödie, die, wenn das Stück entspre-
durchaus, dass sie Menschenhandel betreibt, chend inszeniert wird, das Publikum auch
und hat deshalb Skrupel. wahrnimmt. Gerold Koller hat dies, indem er
Radikaler kann die ›Entwicklung‹ einer seine Interpretation unter Berücksichtigung
Handlung kaum sein, wenn in der Geschäfts- der Publikumsreaktionen in einer Aufführung
handlung die völlige Umkehrung des Aus- der Inszenierung von Manfred Wekwerth am
gangsverhältnisses sowie die Auslöschung ei- Schauspielhaus Zürich (Premiere: 16. 3. 1976)
nes Menschen vorgeführt wird, wenn Shen Te entwickelt, im Einzelnen nachgewiesen (Kol-
sich in der Figur des Shui Ta selbst opfert und ler, S. 58–328). Komödie ist das Stück zunächst
zugleich das Opfer der anderen fordert, um am im Marx‘schen Sinn, als es mit seiner Ausweg-
Ende dann ›tatsächlich‹ Opfer der Gesell- losigkeit und der Abdankung der Götter eine
schaft zu werden, die sie eine Zeit lang aktiv »alte Gestalt [der Geschichte] zu Grabe trägt«:
mitgetragen hat: Anpassung an solche Verhält- »Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen
nisse führt allemal in den Untergang. Gestalt ist ihre Komödie. Die Götter Griechen-
Von hier aus gesehen, weist das Stück eine lands, die schon einmal tragisch zu Tode ver-
kritische Tendenz auf, die gerade das ad ab- wundet waren im gefesselten Prometheus des
surdem führt, was die neueren Deutungen in Äschylus, mußten noch einmal komisch ster-
ihm eingelöst sehen. Indem es zeigt, dass die ben in den Gesprächen Lucians. Warum dieser
Frau nur in der Rolle des Mannes geschäftlich Gang der Geschichte? Damit die Menschheit
überleben kann, zielt das Stück auf die Kritik heiter von ihrer Vergangenheit scheide.«
überlebter patriarchalischer Herrschaftsfor- (Marx, S. 382) Alles, was das Stück zeigt, wird
men hin, die tatsächlich im Faschismus ge- in seiner Abgelebtheit, Überholtheit und da-
landet sind und potenziell, werden sie nicht mit als ›falsches Leben‹ durchschaubar ge-
abgeschafft, immer wieder in seiner Erneue- macht, wie auch (fast) alle Figuren grundsätz-
rung zu landen drohen. Hingewiesen sei auch lich verlogen sind und vorsätzlich falsch spie-
die Erfahrung des ersten Weltkriegs, als die len. Sun ist nur auf das Geld der Shen Te aus
Frauen aufgrund der ›Notwendigkeit‹, die und avanciert im Verlauf der Handlung zum
Kriegsindustrie auf dem Laufenden zu halten »Damenkiller« (GBA 6, S. 264), obwohl er ver-
und die Männer für den Krieg selbst benötigt bal immer wieder seine Liebe zu Shen Te be-
wurden, massenweise ›Männerberufe‹ über- schwört. Der Polizist schwadroniert zunächst
nehmen mussten und auch nach dem Kriegs- über die ›wahre Liebe‹, um gleich anschlie-
434 Der gute Mensch von Sezuan

ßend Shui Ta die ›Ware Liebe‹, nämlich eine nämlich des Deus ex Machina (Gott aus der
Geldheirat Shen Tes, vorzuschlagen (S. 202). Maschine). Euripides führte ihn ein, um Ver-
Wang ist ein Betrüger; sein Wasserbecher hat wicklungen und Konflikte, die den (mensch-
einen doppelten Boden. Die Shin erpresst lichen) Figuren nicht mehr möglich sind,
Shen Te, als sie ihre Schwangerschaft bemerkt durch göttliches Eingreifen zu lösen; so be-
hat. Der Mann der achtköpfigen Familie gibt endet in Andromache (412 v. Chr.) Thetis das
seinem Neffen offen den Auftrag, das Früh- tragische Geschehen, indem sie ihrem (ehe-
stück zu stehlen, verleugnet ihn dann aber, als maligen) Mann erscheint und zum Gott er-
er entdeckt wird. Dass Shu Fu kein »Ehren- hebt, damit sein Geschlecht nicht ausstirbt.
mann« (S. 226) ist, wie er von sich behauptet, Wie üblich wendet B. das alte theatralische
beweist er mit jedem Auftritt. Und auch die Mittel und lässt seine Götter in die Maschine
Götter sind verlogen, verstoßen gegen ihre ei- und mit ihr entfliehen, während die Figuren
genen Beschlüsse und entschwinden zynisch ohne Lösung auf der Bühne zurückbleiben.
lächelnd und winkend in ihr »Nichts« (S. 278). Hinzu kommen die vielen zusätzlichen
Die Ausnahme scheint einzig das alte Paar, Spiele im Spiel, die den Ernst der Handlung
nach dem Muster des Ovidschen Paars Phile- unterlaufen. So als Shui Ta den Schreiner, der
mon und Baucis aus den Metamorphosen (8. verzweifelt ist, in einem kleinen sprachlichen
Buch, V. 631–715; Ovid, S. 433–439), zu sein, Kabinettstück ruiniert; er dreht ihm dessen
das mit seiner finanziellen Leihgabe selbstlos »verschnitten«, im Sinn von nach Maß gefer-
hilft. Im Kontext jedoch der allgemeinen Ver- tigt, buchstäblich im Mund um und gibt dem
logenheit wirken sie nur naiv und ihr, hier als Wort den Sinn von Abfällen, Resten gibt. Die
gesellschaftlich bestimmter, Untergang im Ge- Frau der achtköpfigen Familie betätigt sich
gensatz zum Muster durchaus nicht tragisch. nicht nur als amüsierte Beobachterin der
In der prinzipiellen Überständigkeit des Ge- Szene, sondern spielt sie gleich auch noch
zeigten manifestiert sich das ›gesellschaftlich nach (GBA 6, S. 197 f.). Die Komik des Ge-
Komische‹ (vgl. GBA 24, S. 312), das den An- sprächs »Unter uns Männern« (S. 222) resul-
spruch hat, nicht nur die Hohlheit der Ver- tiert aus der Hosenrolle, wie auch die gesamte
hältnisse und ihrer Träger, der Figuren, offen Szene 6, die »Hochzeit ohne Trauung« (Koller,
zu legen, sondern auch als nicht mehr lebbar S. 224) auf ihr basiert; dadurch, dass die Hoch-
zu verabschieden, wie es der ›offene‹ Schluss zeitsgesellschaft auf jemand wartet, der nicht
auch fordert, wenn der ›eigentliche‹ Schluss kommen kann, und Shen Te (zunächst) nicht
den Zuschauern überantwortet wird. »Erstreb- erfährt, auf wen sie warten, wird die Komik
tes Resultat [des Spiels] ist eine ›Heiterkeit‹ doppelbödig und erhält einen absurden Ein-
des Betrachters, deren Voraussetzung mehr als schlag (vgl. Koller, S. 225). Mit diesen und
distanzierte soziale Erkenntnis denn als La- weiteren Spielen (Shu Fus Selbstvorstellung
chen meßbar ist« (Giese, S. 112). mit Kommentierung seines ›selbstlosen‹ Ver-
Komödie ist das Stück weiterhin aufgrund haltens, das pantomimische Mutter-Kind-
seiner Spielanlage, nach der die gesamte Spiel u. a.) sowie mit den (oft lyrischen) Pu-
Handlung als Spiel im Spiel – als »Parabel« blikumsansprachen, die einen anderen Ton ins
(GBA 6, S. 176) – abläuft und von irrealen Spiel bringen, betont B.s Text nochmals die
Traumszenen unterbrochen wird, in denen die Künstlichkeit aller eingesetzten theatralischen
Götter auch insofern als komische Figuren er- Mittel, gemäß seiner Maxime, dass gezeigt
scheinen, als ihr Selbstverständnis (und werden soll, was zu zeigen ist, dass also so-
scheinbare Macht) immer mehr mit Realitäten wohl die Darsteller als auch die Zuschauer
kollidiert, die sie nicht wahrhaben wollen. angehalten sind, diesen doppelten »Gestus«
Ihre zunehmende Verlumpung und Ramponie- (GBA 22, S. 646), der beim Zeigen das Zeigen
rung macht sie zu Witzfiguren ihres hohen als solches thematisiert, zu erkennen.
Anspruchs. Auch die Art und Weise, wie sie Dazu gehört auch die ›Technifizierung‹
abdanken, verweist auf die Komödie, das Zitat (GBA 21, S. 464) der ästhetischen Mittel, wie
Komödie 435

sie in Szene 8 mit ihrem ›filmischen‹ Aufbau er die Güte durchweg eudämonistisch defi-
realisiert ist. Sie funktioniert als ›filmischer‹ niert: Shen Te will ihre Güte dadurch unter
Zeitraffer, als sie drei Monate Zeit zu über- Beweis stellen, dass sie gut zu andern und gut
brücken hat. Ausgangspunkt sind die vollen- zu sich selbst ist (vgl. GBA 6, S. 275). Dass die
deten Tatsachen: die Etablierung der brutalen Shin sie gleich in der Szene 1 als »Wohltäterin«
Ausbeutung in Shui Tas Tabakfabrik. Frau (S. 187) beschimpft, die sich nur aufspielen
Yang erzählt vom Aufstieg ihres Sohns Sun, wolle, und dass ihr Ehrenname »Engel der
der seinen Wunsch, Flieger zu werden, end- Vorstädte« (S. 212), definiert als »Engel sein
gültig verabschiedet hat, um zum ›Überflieger‹ den Vorstädten« (S. 276), lautet, belegt dies
in der Fabrik zu werden, und ›bebildert‹ ihren eindeutig. Auch mit diesem Verständnis von
Bericht dadurch, dass mehrfach Einzelheiten Güte steht das Stück im Gegensatz zum christ-
des vergangenen Geschehens nachgespielt, so lichen Muster Calderóns, der immer wieder
dass die Szene sich räumlich, zeitlich und figu- die Wahl zwischen Gut und Böse thematisiert
ral verdoppelt. Es entsteht Simultaneität von und in der Figur des ›Gesetzes der Gnade‹
Gegenwart und Vergangenheit, der Ort ist in auch szenisch hervorhebt. Die Zweckgebun-
seiner Entwicklung und in seinem schließli- denheit der Güte im Guten Menschen ist folg-
chen Resultat zugleich vorgestellt, und auch lich durchaus unchristlich, was freilich weder
die Figur der Frau Yang ist verdoppelt: sie ist die Götter noch die Figuren des Stücks (außer
als (gegenwärtige) epische Berichterstatterin der Shin, die daraus Kapital schlägt) bemer-
und als Mitspielerin der (vergangenen) Hand- ken. Insofern können Shen Tes Unternehmun-
lung zugleich auf der Bühne. Im Film wird gen auch als »Verkörperungen jenes bürger-
diese Technik als ›Überblendung‹ bezeichnet; lichen Dranges, der sich in Wohltätigkeitsba-
B.s Text realisiert sie mit den Mitteln des saren […] äußert«, verstanden werden, als
Theaters. »die propagandistische Kehrseite kapitalisti-
scher Wirtschaft« (Ueding, S. 182).
Ist schon das herausragende Attribut der
Hauptfigur zweifelhaft, so sorgt der gesamte
Der Begriff des ›Guten‹ Text dafür, den Begriff auszuhöhlen und zu
entwerten. Shu Fu behauptet z. B.: »der Zauber
Fräulein Shen Tes besteht kaum in der Güte
Der Begriff der ›Guten‹ wird im Stück zu- ihres Ladens, sondern in der Güte ihres Her-
nächst im ethischen Sinn eingeführt, insofern zens« (GBA 6, S. 227) und setzt damit sprach-
die eindeutig christlichen Gebote – Shen Te lich ein Parallele zwischen Geschäft und Gut-
zählt im Vorspiel fünf aus dem Dekalog (2 sein, was zu einer Relativierung des Letzteren
Mose 20) ausdrücklich auf (GBA 6, S. 184) – führt, zumal sowieso alles mehr oder minder
den Maßstab setzen: ihre Einhaltung und Er- verlogen ist, was er sagt. Weiterhin benutzt der
füllung definiert, was ›gut‹ ist. Das ›Gute‹ Text das Wort als sprachliche Floskel, so wenn
stellt somit im christlichen Verständnis einen Shui Ta, als er die Schwägerin bittet, ihr die
sittlichen Wert dar, der absolut, als reiner Posi- Baracken des Shu Fu zu zeigen, ihre Bitte ein-
tiv, zu denken ist und nicht utilitaristisch (›gut leitet mit »Haben Sie die Güte« (S. 252), oder
zu etwas‹) oder eudämonistisch, das heißt Shen Te die Einlagerung des gestohlenen Ta-
menschliche Glückseligkeit bewirkend (›gut baks kommentiert mit »Gut, ich will die Säcke
für jemand‹), relativiert werden darf. Das für euch aufheben« (S. 248), und dabei dem
ethische Wesen Mensch ist danach von Natur Wort den Sinn gibt, sich widerstrebend auf
aus weder gut noch böse, es besteht vielmehr etwas einzulassen, oder die Götter die
darin, zum Guten und wie zum Bösen in glei- schlechten Zustände u. a. mit der Redensart
cher Weise fähig zu sein. Auf dieser ethischen begründen »O Schwäche, die an nichts ein gu-
Ebene unterläuft B.s Text von vornherein den tes Haar läßt« (S. 194) und mit ihr das Wort
christlichen Maßstab der freien Wahl, insofern gerade pejorativ im Sinn von ›alles herunter-
436 Der gute Mensch von Sezuan

machen‹ konnotieren. Und bereits in der ers- Tonangabe wurde diese Art des Musizierens
ten Szene wird die übliche Begrüßungsformal für die Bühne eine Vorstudie zur ›Kreide-
der Shin »Guten Tag« von Shen Te demon- kreis‹-Musik. Die Songs machen den Schau-
strativ wiederholt und deren Frage, wie ihr das spielern weit weniger Mühe als die Musik des
neue Heim gefalle, mit »Gut« beantwortet, Musikern.« (Dessau, S. 60) Dessaus Vertonung
worauf die Shin feststellt, dass es Shen Te im besteht neben den sieben Liedern aus einer
Gegensatz zu ihr (im ökonomischen Sinn) Ouvertüre, einer Auftrittsmusik für die Götter
»gut« gehe (S. 185). (Vorspiel), Einleitungsmusiken zu den Zwi-
Weitergehend ist die inhaltliche Entwertung schenspielen der Wang-Götter-Handlung so-
des Begriffs. So bedankt sich Frau Yang bei wie mehrere lyrischen Passagen der Shen Te,
Shui Ta für die Einstellung ihres Sohns mit der die weitgehend von der Darstellerin gespro-
Bemerkung »Sie sind unendlich gütig« (GBA 6, chen und von der Musik lediglich begleitet
S. 254), und wenig später behauptet sie, Shui werden, sowie lyrischer Passagen der Zwi-
Ta habe aus Sun »alles Gute« (S. 258) heraus- schenspiele (Götter, Wang). Darüber hinaus
geholt, während die Zuschauer seine Rück- hat Dessau die Melodie des Lieds vom Wasser-
sichtslosigkeit und Menschenschinderei prä- verkäufer im Regen der Pantomime der Shen
sentiert bekommen. So begründet Shu Fu die Te mit ihrem imaginären Kind als »Einlage«
Überreichung seines Schecks, der das Ausbeu- (vgl. Hennenberg, S. 118) unterlegt. Für Shen
tungsgeschäft Shui Tas möglich macht, mit: Te dient sie als »Erkennungszeichen« (ebd.)
»Soll jetzt das Gute untergehen? Ach, wenn Sie des erst später auftretenden Wasserverkäufers.
mir gestatten, Ihnen bei Ihrem guten Werk Da das Lied, das ebenfalls auf Calderóns Welt-
behilflich zu sein!« (S. 243) Und am Ende der theaterspiel zurückgeht (Calderón, S. 26 f.;
Geschäftshandlung, als die drei Bourgeois ih- vgl. Karnik, S. 218) in der Szene 3 und seine
ren Handel machen, verbindet sich das At- erste Strophe nochmals in Szene 9 gesungen
tribut des »guten Menschen« mit der Ware: in wird, erhält die Melodie eine Art »leitmotivi-
den neuen Läden soll der »gute Tabak der sche Funktion« (Hennenberg, S. 118). Dieses
Shen Te« (S. 266) verkauft werden. Wie die Lied ist fester mit der Handlungsebene ver-
›wahre Liebe‹ zur ›Ware Liebe‹ geworden ist, bunden als die übrigen Lieder, da sich die
ist das ›Gute‹ am Ende zum Warenzeichen des Figur des Wang mit ihm selbst mitteilt, indem
Tabaks verkommen. er von seinen wirtschaftlichen Schwierigkei-
ten singt. Der Regen bedeutet für ihn wirt-
schaftlichen Ruin, dem er, im Gegensatz zu
den Kapitalisten, die Überproduktionen durch
Die Musik Vernichtung der Ware steuern, ohnmächtig
ausgeliefert ist. Da die Zuschauer den Inhalt
des Lieds bereits kennen, kommentiert seine
Für die Uraufführung des Guten Menschen am Melodie die Pantomime Shen Tes als nur
Schauspiel Zürich (Premiere: 4. 2. 1943) hatte schöne Illusion: der angekündigte neue Er-
Huldreich Georg Früh eine Bühnenmusik ge- oberer wird nicht kommen.
schrieben, die, wie indirekt aus einer Kritik Das Lied vom Rauch (GBA 6, S. 192), an-
von Jakob Welti (Wyss, S. 224, S. 225) hervor- geblich zur Unterhaltung Shen Tes gesungen,
geht, offenbar nur der Vertonung der Lieder verallgemeinert für die Zuschauer die völlige
gegolten hat. Frühs Kompositionen sind nicht Aussichtslosigkeit der Figuren im, von Nietz-
überliefert. sche übernommenen (vgl. Knopf, S. 122), Bild
Paul Dessaus Musik entstand nach eigenen vom vergehenden Rauch. Die Musik arbeitet
Aussagen 1947/48 in Kalifornien: »Zum ersten die resignative Haltung der Figuren so heraus,
Male komponierte ich hier lyrische Passagen, dass die Zuschauer zum Protest gegen die sie
die man sonst allgemein spricht. Durch die verursachenden sozialen Missstände aufgeru-
musikalische Festlegung und die zeitweilige fen werden. Diesem Lied korrespondiert Das
Die Musik 437

Lied vom Sankt Nimmerleinstag (GBA 6, Ganzen gilt: »Die Musik interpretiert den text-
S. 240) am Ende der Hochzeitsszene. Es steht lichen Gehalt. So unterschiedlich dieser ist, so
insofern im Handlungszusammenhang, als es unterschiedlich sind ihre Ausdruckscharak-
die Situation Suns, der vergeblich auf den Vet- tere.« (Hennenberg, S. 118)
ter wartet, parabolisch verallgemeinert, indem Die Uraufführung des Guten Menschen mit
es die Hoffnungen auf eine bessere Welt rück- der Musik Dessaus fand am 16. 11. 1952 unter
sichtslos desillusioniert: »Der billige Trost der Regie von Harry Buckwitz an den Städti-
bürgerlicher Illusionen wird verspottet. Der schen Bühnen Frankfurt a. M. statt. Bei seiner
Text spielt auf den religiösen ›Überbau‹ an, englischen Uraufführung am 16. 3. 1948 unter
Musik und Interpretation [durch den Darstel- der Regie von James R. Carlson am Hamline
ler des Sun] auf den künstlerischen.« (Hen- University Theatre St. Paul/Minnesota war be-
nenberg, S. 116) reits eine Musik von John G. Flittie verwendet
Das Lied vom achten Elefanten, nach Mo- worden. Als der Übersetzer Eric Bentley im
tiven von Rudyard Kipling (vgl. Knopf, S. 120), Sommer 1948 von Dessaus Vertonung hörte,
singen die Arbeiter während ihrer Arbeit. Pa- passten er und Dessau dessen Musik an die
rabolisch wird an den sieben Elefanten, die englische Übersetzung an. Auch weitere ame-
schuften müssen, und dem achten, der sie an- rikanische Aufführungen verwendeten dann
treibt, die herrschende Ausbeutung illustriert. diese Musik.
B. hat die Funktion des Lieds in einem Brief an
Horst Gnekow vom Nordmark-Theater
Schleswig vom 18. 4. 1955 so beschrieben:
»Man muß da auf eine billige revolutionäre Wirkung
Wirkung unbedingt verzichten gegenüber der
etwas bitteren Wahrheit. Das Lied wird von
den Tabakarbeitern zwar als Spottlied auf den Der gute Mensch gehört zu den meistgespiel-
Aufseher gesungen, der Sinn der Szene aber ten Stücken B. s. Bis 1981 sind weltweit über
besteht darin, dass der Aufseher schlauer- 250 Inszenierungen nachgewiesen (Hecht,
weise die Tabakarbeiter zur schnelleren Arbeit S. 163–172; Knopf, S. 283–292). Um die Urauf-
anpeitscht, indem er den Rhythmus des Ge- führung machte sich noch während des zwei-
sangs beschleunigt: Die Singenden müssen ten Weltkriegs das Züricher Schauspielhaus
also sozusagen geradezu ins Japsen kommen, verdient (Premiere: 4. 2. 1943, Regie: Leonard
während der Aufseher, bequem sitzend, lacht. Steckel, Bühnenbild: Teo Otto). Die Auffüh-
Die Szene zeigt eher die Schwäche des Wider- rung mit Maria Becker in der Rolle Shen Tes
standes als seine Stärke und sollte dadurch betonte den poetischen Reichtum des Stücks
tragisch wirken.« (GBA 30, S. 331) und drängte seine politischen Aspekte zurück.
Die poetischen Passagen mit Musik sind Elisabeth Brock-Sulzer sah in der Inszenie-
weitestgehend Publikumsansprachen, welche rung angesichts der schwierigen Zeiten »ein
die Handlung abrupt unterbrechen, und musi- neu gegründetes Recht auf die ewigen Werte«
kalisch als kleine Melodramen realisiert. Die (Wyss, S. 221) realisiert und bescheinigte dem
Musik ist so eingesetzt, dass sie den fast aus- Stück »die Poesie unserer Tage, die wir ver-
schließlich gesprochenen Text nicht untermalt nehmen, karg, nüchtern, scheu im Glück, un-
oder begleitet; lediglich der Beginn und das sentimental, und bei der deshalb das Gefühl
Ende der jeweiligen Verse erhalten kurze mu- oft die Wirklichkeit eines Stück Brots an-
sikalische Einsprengsel. Der Text, der ohnehin nimmt« (S. 222). Weitere Inszenierungen zu
in einer gegenüber dem Spiel anderen Haltung B.s Lebzeiten (insgesamt etwa 20) erfolgten
der Darstellerin gesprochen wird, erhält da- neben Frankfurt (1952) u. a. in Wuppertal
durch eine reflektorische Ebene, welche die (31. 3. 1955), zu der B. Dramaturgische Be-
Zuschauer auffordert, ihrerseits über das Ge- merkungen für das Programmheft schrieb
sehene zu reflektieren und zu urteilen. Im (Knopf, S. 154 f.; nicht in der GBA), an den
438 Der gute Mensch von Sezuan

Kammerspielen München (30. 6. 1955) unter den Regierenden Bürgermeister von Berlin,
der Regie von Hans Schweikart und dem Büh- Ernst Reuter (SPD), der über seine Frau dem
nenbild von Caspar Neher, sowie in Rostock Oberbürgermeister von Frankfurt, Walter Kolb
(1. 2. 1956) mit Käthe Reichel als Shen Te (vgl. (SPD), mitteilen ließ, dass einige Stücke B.s
GBA 6, S. 444–447). »glänzend geeignet [sind] zur Zersetzung der
In einem für B. ungünstigen politischen westlichen freiheitlichen Welt« (Wurm,
Klima in der Bundesrepublik Deutschland war S. 32).
vor allem Harry Buckwitz so von dessen Be- Zwei legendär gewordene Inszenierungen
deutung überzeugt, dass er jährlich ein Stück des Guten Menschen stammten von Giorgio
von ihm an seinem Haus, den Städtischen Büh- Strehler, dem Leiter des Piccolo Teatro in Mai-
nen Frankfurt, inszenieren wollte. So erhielt land. Die erste hatte am 21. 2. 1958 im eigenen
er 1952 für die Durchsetzung seiner »Sonder- Haus Premiere (Bühnenbild: Luciano Da-
position« (Wurst, S. 22; BBA 836/73 f.) von B. miani, Shen Te: Valentina Furtunato), die
die Erlaubnis, die westdeutsche Erstauffüh- zweite am 14. 4. 1981 am Teatro Emilia Ro-
rung des Guten Menschen auf die Bühne zu mana in Modena (Bühnenbild: Paolo Bregni,
bringen. Trotz »kritischstem Publikum«, wie Shen Te: Andrea Jonasson). In der frühen In-
Buckwitz B. in einem Telegramm mitteilte szenierung hatte Damiani aus leicht angeseng-
(von diesem am 17.11. ins Journal geklebt; ten Brettern und ausgebleichten Stämmen so-
GBA 27, S. 338), wurde die Aufführung (Büh- wie mit imitierten Zementplatten und grauem
nenbild: Teo Otto, Shen Te: Solveig Thomas) Rupfen eine Kümmerlichkeit und Armut an-
ein voller Erfolg; es gab 32 Vorhänge und beim zeigende Bühnenwelt gebaut, in der das indu-
Lied vom achten Elefanten spontanen Szenen- strielle Zeitalter noch nicht angekommen war
applaus (»SIND ALLE UEBERGLUECK- und die eine (künstliche) »Legendenwelt«
LICH«; ebd.). Buckwitz inszenierte das Stück (Melchinger) anzeigte. Das Spiel der Darstel-
als »Parabel von der Menschengüte« (Wurst, ler war so angelegt, dass sie erst über die ›Ein-
S. 26), stellte seine ethischen Fragen in den fühlung‹ in die Figur Distanz gewannen, was
Vordergrund und vermied jegliche Politisie- Siegfried Melchinger, der Strehlers Regiear-
rung. Entsprechend fielen die Kritiken weitge- beit mit »die Freiheit eines Genies« (Melchin-
hend deskriptiv aus, der Kritiker Karl Korn ger, S. 182) qualifizierte, als »Wahrheit und
meinte gar, in B. einen ›christlichen Autor‹ Form zugleich« (ebd.) beschrieb. Die zweite
entdeckt zu haben, oder Alfred Happ schrieb Inszenierung stellte die benötigten Requisi-
vom »erleuchteten Dichter Bert Brecht« ten, z. B. den Laden Shen Tes als windschiefe,
(Happ, S. 146). Herausgekommen sei ein »ech- durchsichtige Hütte vor freiem Rundhorizont,
ter Brecht, der heute weder recht in den Osten, auf die Drehbühne, »deren Verlangsamung
noch in den Westen passen will« (Jacobi). oder Beschleunigung dem Schauspieler deut-
Dennoch kam es zu einem politischen Nach- liche Anstrengung in den gegen die Drehrich-
spiel. Die CDU-Fraktion reagierte auf ein (un- tung geführten Gängen« (Kruntorad, S. 215)
gezeichnetes) Pamphlet von Friedrich Luft, in abverlangte. Die Ärmlichkeit der Verhältnisse
dem dieser das Stück als »kommunistisches – Strehler dachte an die kotigen und unge-
Machwerk« und seinen Autor als »Gesin- pflasterten Straßen der Hüttensiedlungen an
nungsakrobaten« denunzierte, der mit seinen den ausgefransten Rändern der italienischen
Werken die westliche Freiheit unterlaufen Großstädte – wurde jetzt mit Schlamm und
wolle und deshalb nicht mit Steuergeldern un- spritzendem Wasser ins Bild gebracht, die
terstützt werden dürfe (Luft). Der Sprecher über die ganze Bühne gegossen waren und nur
der Fraktion, Hans Wilhelmi, nahm Lufts Ur- wenige gangbare Pfade offen ließen: »Wasser
teil auf und forderte Ende November eine Ab- als Lebensquell und Wasser im Übergang zu
setzung der Inszenierung, was freilich von der Schlamm, als Symbol der geschändeten Rein-
Stadtverordnetenversammlung abgelehnt heit« (ebd.). Die Fabrik-Szene (Szene 8) wurde
wurde. Unterstützung erhielt die CDU durch hinter Stacheldraht-Verhauen agiert mit drei
Wirkung 439

riesigen Schildern, welche die Aufschrift tru- bendig und als würden ihre Figuren aufer-
gen »SHUI-TA / TOBACCO« (Abbildung in: stehen« (Linder). Die ebenfalls neu geschrie-
Knopf, S. 217). Die zur Strafaktion verkom- bene Musik wurde mit Blas- und Zupfinstru-
mene Arbeit der Lohnsklaven war dadurch menten realisiert.
deutlich mit der KZ-Lagerhaltung von Men- Es konnte nicht ausbleiben, dass Marcel
schen konnotiert. Den Modell-Charakter des Reich-Ranickis die ZDF-Sendung Das literari-
Stücks realisierte Strehler in erster Linie über sche Quartett regelmäßig abschließende Zitat
das Zusammenspiel der Darsteller und nicht aus dem Guten Menschen, »Wir stehen selbst
über das Bühnenbild. So entstand z. B. Enge, enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorgang
etwa im Laden der Shen Te, nicht durch die zu und alle Fragen offen« (GBA 6, S. 278),
aufgebaute Hütte, sondern durch das Zusam- Bühnenkarriere machen würde. Möglich
mendrängen der Leiber. Strehlers Regie zielte wurde dies durch die erste B.-Inszenierung am
durchaus, was aber die Demonstration des Berliner Maxim-Gorki Theater (Regie: Uwe
Spielcharakters nicht unterlief, auf starke Eric Laufenberg) im November 1998, in der
Emotionen, am deutlichsten im verzweifelten Katharina Thalbach als Shen Te Reich-Ranicki
»Aiuto!« (›Hilfe!‹) der Shen Te, als sie sich die mit ›knarzender Stimme‹ (vgl. Grack) par-
Kleider des Shui Ta vom Leibe reißt, oder in odierte. Die Aufführung verlegte Sezuan nach
der Verkörperung des Shui Ta, bei der Jonas- Berlin (Texas) und klebte Shui Tas ›Tobacco‹
son auf »verzweifelte Entschlossenheit« setzte, die Marke ›Malboro‹ auf. Die drei Götter ver-
»weil jedem die Zeichen von Härte und Ge- wandelten sich am Ende in Sheriffs, »die vor
fühllosigkeit geläufiger sind als die der Nach- einem kalifornischen Wüsten-Prospekt für die
giebigkeit« (Kruntorad, S. 216). Die Kritik be- Zigarettenindustrie Reklame reiten« (Grack).
scheinigte der Inszenierung einen »hohen äs- Trotz der Anerkennung, die Thalbachs Spiel
thetischen Eigenwert« (ebd.). durchweg in den Kritiken fand, schätzte die
Eine Operntruppe aus Chengdu, der Haupt- Tagespresse die Inszenierung als misslungen
stadt der chinesischen Provinz Szetschuan, ad- und bemüht aktualisiert ein: »Nichts gegen
aptierte B.s Stück als »Sichuan-Oper« Modernisierung des Inzwischen-Klassikers
(Schmidt) und kam im Herbst 1994 zur einer Brecht! Aber Lautsprecheransagen zum Elend
Tournee nach Nordrhein-Westfalen (Auffüh- in der Dritten Welt wirken hier noch agitato-
rungen u. a. in Köln, Minden, Marl). Die Ad- rischer als Klassenkämpferisches bei Meister
aption (Spieldauer: 11⁄2 Stunden) mit einem neu Brecht. Also hat Laufenberg ihn nicht verstan-
geschriebenen, aber an B.s Handlung orien- den.« (Kroekel)
tierten Text (ohne Epilog) erfolgte aufgrund
der (fiktiven) Ortswahl von B.s Text sowie in
Anknüpfung an die den Chinesen vertrauten Literatur:
Verfremdungstechniken. In allen Städten, in Bock, D. Stephan: Coining Poetry. Brechts »Guter
denen die Oper gezeigt wurde, stieß sie auf Mensch von Sezuan«. Zur dramatischen Dichtung
Jubel beim Publikum und in der Presse. Wie in eines neuen Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1998. –
der chinesischen Oper üblich, dominierten Bunge. – Calderón de la Barca: Das große Welt-
theater. In der Nachdichtung von Joseph von Eichen-
Tanz, Bewegung und eindringliche Gestik in
dorff. Stuttgart 1981. – Dessau, Paul: Notizen zu
einem farbenprächtigem Bühnenbild, alles Noten. Leipzig 1974. – Eco, Umberto: Die Grenzen
von »bannkräftiger Künstlichkeit« (Hart- der Interpretation. München, Wien 1992. – Giese,
mann). Die Umwandlung der Shen Te in Shui Peter Christian: Das »Gesellschaftlich-Komische«.
Ta wurde durch ein riesiges, in die Höhe Zu Komik und Komödie am Beispiel der Stücke und
schwebendes schwarzes Tuch (»wie eine Bearbeitungen Brechts. Stuttgart 1974. – Grack,
Günther: Blauer Dunst unter grauem Himmel. »Der
schwarze Wolke«; ebd.) symbolisiert, das sich
gute Mensch von Sezuan« ist im Maxim-Gorki-Thea-
Shen Te in schwindelnder Höhe umlegte. »Es ter eine Berlinerin. In: Der Tagesspiegel (Berlin),
ist, als würden alle Erzählungen, die man vom 24. 11. 1998. – Grimm, Reinhold: Zwischen Tragik
alten und neuen China je gehört hat, hier le- und Ideologie. In: Ders.: Strukturen. Essays zur
440 Der gute Mensch von Sezuan

deutschen Literatur. Göttingen 1963, S. 248–271. – Person of Szechwan: discourse of a masquerade. In:
Happ, Alfred: Vom Wunder der Güte, die sich weh- Thomson, Peter/Sacks, Glendyr: The Cambridge
ren muß. In: Knopf, S. 146–148. – Hartmann, Rai- Companion to Brecht. Cambridge 1994, S. 117–127.
ner: Unter schwarzer Wolke wird das Mädchen zum – Wurst, Nicola: Schweyk im Kalten Krieg. Harry
Dämon. Operntruppe aus China mit Brechts Stück Buckwitz und seine Brecht-Inszenierungen in der
»Der gute Mensch von Sezuan« unterwegs – Komö- Adenauer-Ära. Berlin 1998 [Masch.]. – Wyss.
die, Melodram, Artistik, Romantik mischen sich. In:
Jan Knopf
Kölner Stadtanzeiger, 30. 9. 1994. – Hauck, Stefan:
Die im Schatten sieht man nicht. Margarete Steffin –
Leben und Werk. Frankfurt a. M. 2001 [zit. nach
Ms.]. – Hecht, Werner (Hg.): Materialien zu Brechts
›Der gute Mensch von Sezuan‹. Frankfurt a. M. 1968.
– Hennenberg, Fritz: Dessau•Brecht. Musikalische
Arbeiten. Berlin 1962. – Hermes, Eberhard: Inter- Herr Puntila und sein
pretationshilfen Ideal und Wirklichkeit. Lessing
›Nathan der Weise‹, Goethe ›Iphigenie auf Tauris‹, Knecht Matti
Brecht ›Der gute Mensch von Sezuan‹. Stuttgart
[u. a.] 1999. – Jacobi, Johannes: Brechts guter
Mensch. In: Die Zeit, 20. 11. 1952. – Karnick, Man-
fred: Rollenspiel und Welttheater. Untersuchungen Entstehung / Fassungen
an Dramen Calderóns, Schillers, Strindbergs, Beck-
etts und Brechts. München 1980. – Knopf, Jan (Hg.):
Brechts »Guter Mensch von Sezuan«. Frankfurt a. M. B.s Komödie entstand im Sommer 1940 auf
1982. – Koller, Gerold: Der mitspielende Zuschauer. Gut Marlebäck im südlichen Finnland. Das
Theorie und Praxis im Schaffen Brechts. Zürich,
Gut gehörte der 1886 in Estland geborenen
München 1979. – Korn, Karl: ›Alle Fragen offen.‹
Bertolt Brechts ›Der kluge [sic] Mensch von Se- finnischen Schriftstellerin Hella Wuolijoki;
zuan‹. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 11. sie hatte es während einer bemerkenswerten
1952. – Kroekel, Harry: Schade – auch die Thalbach Karriere als Geschäftsfrau hauptsächlich mit
rettet diesen Brecht nicht. In: Berliner Kurier, 24. 11. Geld aus Kriegsgewinnen 1920 gekauft und
1998. – Kruntorad, Paul: Der gute alte Mensch in seither auf fast 150 Hektar mit 80 Kühen ver-
Mailand (1981). In: Knopf, S. 214–217. – Linder,
größert. Auf ihre großzügige Einladung hin
Renate: Fremdartig – aber faszinierend. Jubel be-
gleitet das Gastspiel der Chengdu Municipal Opera verbrachten B. und seine Familie, Margarete
aus China. In: Neue Westfälische Zeitung (Minden), Steffin sowie Ruth Berlau hier die Zeit zwi-
29. 9. 1994. – Lucchesi/Shull. – [Luft, Friedrich:] schen dem 5.7. und dem 7.10., die Familie B.
Hilfestellung eines Gesinnungsakrobaten. In: Die in einer eigenen kleinen »Villa zwischen schö-
Neue Zeitung (Frankfurt), 18. 11. 1952. – Marx, nen Birken« (Journal, 5. 7. 1940; GBA 26,
Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie.
S. 398).
In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. Bd. 1. Ber-
lin 1970, S. 378–391. – Melchinger, Siegfried: Die Die gesamte Entstehungsgeschichte des
Stadt Sezuan 1958. In: Knopf, S. 177–183. – Ovidius Puntila ist mit dem Gut Marlebäck auf mehr-
Naso: Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Über- fache Weise verbunden. Hier trug sich im Juli
setzt und hg. v. Michael von Albrecht. Stuttgart 1994. 1926 die wahre Geschichte des Großbauern
– Pietzcker, Carl: »Ich kommandiere mein Herz«. Roope Juntula zu, die den ersten Keim des
Brechts Herzneurose – ein Schlüssel zu seinem Le-
Puntila-Stoffs lieferte. Er wird als echt tavast-
ben und Schreiben. Würzburg 1988. – Schmidt, Jo-
chen: In der Fremde daheim. Brechts »Guter ländischer Bauer geschildert, als ein unge-
Mensch von Sezuan« als Sichuan-Oper auf Deutsch- zähmter Kraftmensch, der einerseits als Ar-
landtournee. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, beitgeber gefürchtet war, weil er seinen
7. 11. 1994. – Sokel, Walter H.: Brechts gespaltene Knechten die gleichen Kraftleistungen bei der
Charaktere und ihr Verhältnis zur Tragik. In: Sander, Arbeit abverlangte, die er ihnen selbst vorgab;
Volkmar (Hg.): Tragik und Tragödie. Darmstadt
andererseits aber war er trinkfreudig und im
1962, S. 381–396. – Tatlow, Antony: China oder
Chima? In: Brecht heute 1 (1971), S. 27–47. – Ue- Rausch ausgelassen, fröhlich, witzig, großzü-
ding, Gert: »Der gute Mensch von Sezuan«. In: Hin- gig und abenteuerlustig. Als Vetter wurde er
derer, S. 178–193. – Wright, Elizabeth: The Good zur Feier von Wuolijokis Geburtstag eingela-
Entstehung / Fassungen 441

den. Als am Vorabend der in Finnland damals chen, energisch und tüchtig, hat im Sägewerk
prohibitionierte Alkohol für seinen Bedarf zu das Kommando, besonders wenn der Vater auf
früh abgeräumt und weggeschlossen wurde, Sauftouren ist, und sie ist streng mit ihrem
fuhr er mitten in der Nacht ins 17 Kilometer Vater. Im Parkhotel von Tavasthus zeigt Puntila
entfernte Kausala, forderte vom Tierarzt ein ihr Foto seufzend einem jungen Mann, den er
Rezept für seine an Scharlach erkrankten Kühe für einen Chauffeur hält und als solchen enga-
und bekam dafür in der Apotheke ›legalen‹ gieren will. In Wirklichkeit ist er Akademiker
Schnaps. Als er zurückkehrte, begann in der aus bester Familie, reich, Doktor der Rechte
Gutsküche bereits der Arbeitstag, und Roope und Richter. Auf das Foto hin lässt er sich aber
erzählte hier einer wachsenden Zuhörerschar engagieren, nimmt den Namen seines Privat-
triumphierend seine Abenteuer, schenkte den chauffeurs Kalle Aaltonen an und fährt Puntila
Chauffeuren Hundertmarkscheine und schä- nach Hause. Er beginnt sofort die Balz mit Eva,
kerte mit den Mägden. Seine beiden Töchter die aber erst zum Erfolg und zur Verlobung
schämten sich seiner, aber die Hausherrin prä- führt, nachdem er sich zu seiner wahren Iden-
sentierte ihn ihren vornehmen Gästen souve- tität bekannt hat. Auch die Puntila-Handlung
rän als ›finnischen Bacchus‹. ist erweitert um die Verlobung mit fünf Bräu-
Der finnische Bacchus ist auch Titel einer ten während der Schnapsfahrt. Ihrem verein-
Erzählung, die Wuolijoki bald darauf schrieb ten Ansturm ist Puntila nicht gewachsen, Kalle
(1926), aber nicht veröffentlichte. Der Bacchus muss ihn retten und fördert dabei seine eige-
heißt hier »Punttila«, und seine Geschichte ist nen Absichten auf Eva. Zum Happy End gehört
eingebettet in einen Gesprächsrahmen, in dem zuletzt noch, dass auch Puntila sich mit seiner
die verständnisvolle Hausherrin Maria den be- strengen Haushälterin verlobt und dem Alko-
trunkenen Ausreißer gegenüber einer ›stren- hol abschwört – und darauf trinkt. Seine Alko-
gen‹ Frauenfigur verteidigt: Im Rausch werde holexzesse werden jedoch wiederholt damit
er doch einmal wahrhaft er selbst, befreit von entschuldigt, dass er ja sonst sehr tüchtig sei
allen Zwängen. Punttilas große Rede in der und mit harter Arbeit seinen Hof wieder hoch-
Küche erhält einen Gestus der Weltverbrüde- gebracht habe.
rung: alle Menschen seien im Grunde gut und Bei den allabendlichen ›Symposien‹ 1940
nett, auch die Kommunisten, wenn sie nur auf Marlebäck, zu denen sich die Flüchtlinge
ordentlich arbeiteten. Der finnische Bürger- und ihre Gastgeberin nach der Sauna trafen,
krieg, in dem Punttilas Vorbild Roope Juntula erzählte Wuolijoki ihren Gästen auch die Jun-
gegen die Roten gekämpft hatte, lag noch tula-Puntila-Geschichte. B. rühmte ihr Erzähl-
keine 10 Jahre zurück (Deschner, S. 96–106; talent: »Was für eine hinreißende Epikerin ist
vgl. Neureuter 1987a, S. 21 f.). sie, auf ihrem Holzstuhl sitzend und Kaffee
Als Dramatikerin verdankte Wuolijoki ihren kochend! Alles kommt biblisch einfach und
Durchbruchserfolg 1936 einem Stück um ei- biblisch komplex.« (Journal, 2. 9. 1940; GBA
nen Bauernhof im Tavastland (Die Frauen von 26, S. 422) Zu ihrem Erzählen gehörte aber
Niskavuori), es lag nahe, dass sie auch den auch das Referieren ihrer stets sehr lebens-
Puntila-Stoff auf die Bühne bringen wollte. nahen literarischen Arbeiten, und strecken-
Zwei dramatische Bearbeitungen hatte sie vor weise muss sie sogar übersetzend daraus vor-
1940 bereits fertig gestellt, ein Lustspiel für gelesen haben. So erhielt B., der keinen finni-
die Bühne und ein Filmtreatment, beide mit schen Text lesen konnte, eine gewisse Kennt-
dem Titel Sahapuruprinsessa (dt.: Die Säge- nis ihres literarischen Werks. Er hat diese
mehlprinzessin; vgl. Neureuter 1987a, S. 22– Kenntnis eingesetzt in jenem wochenlangen
30). Dieser Titel bezieht sich auf die zweite Streitgespräch der beiden Stückeschreiber
Hauptfigur, Puntilas Tochter Eva, die bei der über grundsätzliche Fragen der Dramaturgie,
Ausweitung von Puntilas kleinem Abenteuer das neben der Stoffvermittlung die weitere
zu einem abendfüllenden Stück immer wichti- Voraussetzung für die Entstehung des Puntila
ger geworden war. Sie ist ein modernes Mäd- war. Wuolijoki berichtete 1946 darüber: »Er
442 Herr Puntila und sein Knecht Matti

erklärte mir die Form seines eigenen epischen ternem Zustand, das Hin und Her der Ver-
Dramas, indem er alle meine Werke wegen lobungen Evas mit dem Attaché und dem
ihres steifen klassischen Baus kritisierte« ›Menschen‹ Kalle, die imaginäre Besteigung
(Neureuter 1987a, S. 104). B. präzisierte seine des Hatelmabergs sowie ein erster Ansatz zum
Kritik im Journal vom 2. 9. 1940: »mit all ihrer Ehe-Examen bei Kalles Weigerung, Eva zu hei-
Gescheitheit, Lebenserfahrung, Vitalität und raten: »Kann sie kochen? Kann sie Wäsche
dichterischen Begabung [wird sie] durch die waschen? Hat sie was gelesen außer Romane?«
konventionelle dramatische Technik gehin- (S. 39) Auf der anderen Seite hatte Wuolijoki
dert« (GBA 26, S. 422). Als produktive Fort- weder den Charakter der Konversationskomö-
setzung dieser Kritik machte B. das Angebot, die mit der Tendenz zum Happy End, noch die
den Stoff nochmals gemeinsam zu bearbeiten, »naturalistische Schablone« und die »Fami-
für sich selbst zum Vergnügen, für Hella Wuo- lienblattpsychologie« aufgegeben (GBA 26,
lijoki als eine Art Praktikum in antiaristote- S. 428). Dennoch bildeten die 152 Seiten des
lischer Dramaturgie. Das gemeinsame Werk Steffinischen Diktats die schriftliche Haupt-
sollte bis Ende Oktober für einen Dramenwett- quelle für B.s Arbeit, und es ist vermutlich
bewerb fertig gestellt werden, den der finni- diese Fassung von Wuolijokis Stück, die er in
sche Dramatikerverband ausgeschrieben und der Mitarbeiternotiz von 1950 endlich als
die Regierung großzügig dotiert hatte. Den »Stückentwurf« erwähnte, nachdem zuerst nur
Beginn der Zusammenarbeit notierte B. am von »Erzählungen der Hella Wuolijoki« die
27. 8. 1940 ins Journal (S. 419). Rede gewesen war (Neureuter 1987a, S. 18 f.,
B. sah seine Aufgabe vor allem darin, »den S. 108–111).
zugrundeliegenden Schwank herauszuarbei- In der zögernden und widerwilligen Nen-
ten, die psychologisierenden Gespräche nie- nung der schriftlichen Quelle spiegelt sich B.s
derzureißen und Platz für Erzählungen aus fortdauernde Distanz zu den Texten einer
dem finnischen Volksleben oder für Meinun- Schriftstellerin, deren fulminantes mündli-
gen zu gewinnen, den Gegensatz ›Herr‹ und ches Erzählen für ihn der dominante Eindruck
›Knecht‹ szenisch zu gestalten und dem blieb. Sie erzählte die »Geschichten […] vom
Thema seine Poesie und Komik zurückzuge- Volk auf dem Gut, in den Wäldern, wo sie
ben« (Journal, 2. 9. 1940; GBA 26, S. 421 f.). einmal große Sägewerke besaß, aus der heroi-
Die erste Voraussetzung dafür war die Ver- schen Zeit«, das heißt aus dem finnischen Bür-
wandlung des falschen Chauffeurs in einen gerkrieg 1918 (Journal, 30. 7. 1940; GBA 26,
echten und dadurch eine Änderung aller Ver- S. 402 f.), und »aus dem finnischen Volksle-
hältnisse. Angelegt war somit auch der später ben«, für die er Platz schaffen wollte (Journal,
verwirklichte Verzicht auf das Happy End einer 2. 9. 1940; S. 421): so die Erzählungen von den
Verlobung von Herrentochter und Knecht, der Gespenstern des Bürgerkriegs (Neureuter
zunächst auch bei B. den Namen Kalle A[a]lto- 1987a, S. 67) und vor allem die Finnischen
nen behielt. B. gab für die Neubearbeitung die Erzählungen der Frauen von Kurgela (S. 74–
Akteinteilung Wuolijokis auf und entwarf eine 86). Aus Wuolijokis Repertoire stammten aber
lockere Szenenfolge, die er mit Nummern und auch die Anekdoten aus dem Leben der feinen
Titeln versah. Für diese Neuerungen konnte Gesellschaft, wie sie der Attaché von sich gibt.
Wuolijoki gewonnen werden. Sie diktierte, Für die Lebensbeschreibungen der Frauen von
vermutlich unter Verwendung von B.s ersten Kurgela in Szene 3 lieferte Wuolijoki schrift-
Stückplänen, Steffin eine deutsche Neufas- liche Entwürfe, und Kalles (Mattis) Rede auf
sung ihrer Sägemehlprinzessin in acht Szenen, den Hering in der Verlobungsszene (Szene 9)
wobei sie die erste Szene, die B. sich offenbar ist wörtlich aus ihrem Einakter Vagabunden-
selbst vorbehalten hatte, ausließ (Neureuter walzer übersetzt (Valle, S. 27).
1987a, S. 30–41). Zu den Fortschritten des Während B. am neuen Stück schrieb, gingen
Konzepts von B. gehörte der häufigere Wech- diese Zulieferungen als fortlaufende Bereiche-
sel Puntilas zwischen betrunkenem und nüch- rung in seinen Text ein – allerdings in B.s
Entstehung / Fassungen 443

eigener strengen Formung und Sprache. Der Die dritte Fassung entstand für B.s erste
Schreck, den Wuolijoki äußerte, als sie am Inszenierung des Stücks am Berliner Ensem-
24. 9. 1940 den Text las, beweist, dass sie an ble, das sich mit der Puntila-Premiere am
seiner Abfassung nicht verantwortlich betei- 12. 11. 1949 erstmals der Öffentlichkeit prä-
ligt war. Bei aller Kollektivität seiner Arbeits- sentierte. Diese vom zweiten Druck bei Desch
weise behielt B. auch hier die Federführung. 1949 vertretene Textfassung macht die Zusam-
Das Typoskript seiner eigenen »ersten Nieder- menlegung der Szenen 8 und 9 rückgängig,
schrift« ist handschriftlich mit »27.8.–19. 9. behält aber sonst die meisten der Zürcher Kür-
1940« datiert (BBA 178/25) und stellt zu- zungen bei; die Aufführungsdauer ohne Pause
sammen mit Steffins Reinschrift (BBA betrug immer noch 145 Minuten. Hinzuge-
177/02–110; wohl noch Ende September 1940) kommen ist aber der Auftritt des roten Surk-
die erste Fassung des Stücks dar. Sie hat zehn kala mit seinen Kindern und seine neuerliche
Szenen, die Finnischen Erzählungen sind noch Entlassung in der Bergbesteigungs-Szene. Neu
als Szene 7a, das Nocturno als Szene 8a ge- ist auch das zwischen den Szenen zu singende
zählt. Die markanteste Eigenheit dieser Fas- Puntilalied (GBA 6, S. 371–373), während der
sung ist die Stellung der Gesindemarkt-Szene Abschied Mattis von Eva in den Proben zwar
als Szene 5 nach der Skandal-Szene in der noch berücksichtigt ist, dann aber endgültig
Sauna. Die übrigen Varianten (Prolog, Figur wegfällt. Der aktuellen Funktion dieser Auf-
der Haushälterin Hanna in Szene 9, das Lied führung als »Beitrag zur Aufteilung des Groß-
vom Wolf und vom Huhn, der Abschied Kalles grundbesitzes in der Deutschen Demokrati-
von Eva in Szene 10) sind im Materialien-Band schen Republik« (Neureuter 1987a, S. 157)
gedruckt (Neureuter 1987a, S. 55–66) und in trägt nicht zuletzt eine wichtige Änderung des
einer Synopsis dargestellt (S. 14–17; vgl. GBA Prologs Rechnung, nämlich die neu eingefüg-
6, S. 460–463). ten Zeilen über den » E s t a t i u m p o s s e s -
Die zweite Fassung entstand für die Urauf- s o r« als »vorzeitliches Tier« (GBA 6, S. 285;
führung in Zürich am 5. 6. 1948, bei der B. vgl. die alte Version S. 460). Die ersten beiden
zusammen mit Kurt Hirschfeld Regie führte. Zeilen des Prologs änderte B. erst für die Neu-
Sie wird repräsentiert von einem korrigierten einstudierung mit Curt Bois als Puntila (Pre-
Durchschlag der Reinschrift Steffins (BBA miere: 5. 1. 1952). Statt »Geehrtes Publikum,
563/02–109), von den Rollenbüchern des die Zeit ist trist./ Klug, wer besorgt, und
Schauspielhauses Zürich (Typoskripte) und dumm, wer sorglos ist!« (S. 285) heißt es jetzt
vom ersten Druck des Bühnenverlags Kurt im Hinblick auf den ›sozialistischen Staat‹
Desch in München (o. J.; vermutlich: 1948). DDR: »Geehrtes Publikum, die Zeit ist hart /
Die markantesten Änderungen sind drastische Doch lichtet sich bereits die Gegenwart«
Kürzungen an zwei Stellen: die Streichung der (S. 374).
Gesindemarkt-Szene, von der nur Reste in die Es ist bezeichnend für die relative Selbst-
Szene, Skandal auf Puntila, eingearbeitet ständigkeit der Buchausgaben von B.s Dra-
wurden, sowie von B. so nicht wiederholte, men, dass er sich für die erste öffentliche
einschneidende Kürzungen in den Szenen 8 Druckfassung in Heft 10 der Versuche (1950),
(Verlobung) und 9 (Bergbesteigung), die zu die vierte und letzte Fassung des Stücks, von
einer einzigen Szene zusammengezogen wur- den Bühnenzwängen frei machte und Teile der
den. Hinzugefügt ist das ›philosophische‹ Ge- ersten Fassung wiederherstellte, so die kom-
spräch über das Sich-Selbst-Verkaufen oder plette Gesindemarkt-Szene, nun aber vor dem
Den-Wald-Verkaufen in Szene 1, das Pflau- Skandal auf Puntila platziert; die endgültige
menlied der Branntweinemma, extra für The- Fassung weist somit zwölf Szenen auf. Für den
rese Giehse geschrieben, in Szene 3 sowie die Gebrauch der Bühne sind die Notizen über die
ironische Reimform im Abschied Mattis von Züricher Erstaufführung (1948) hinzugefügt,
Eva am Schluss (vgl. Neureuter 1987a, die auch die notwendigen Operationen beim
S. 140 f.; vgl. GBA 6, S. 464 f.). Weglassen der Szene 4 (Gesindemarkt) vor-
führen (GBA 24, S. 302–306).
444 Herr Puntila und sein Knecht Matti

Hella Wuolijoki reichte 1940 ihre finnische Hedda (d. i. die Ahti-Geschichte aus den Fin-
Bearbeitung der ersten Fassung bei der Jury nischen Erzählungen), ein Typoskript von 15
ein, erhielt aber keinen Preis. Nach dem zwei- Seiten, das mit handschriftlichen Korrekturen
ten Weltkrieg bearbeitete sie den Text noch- B.s versehen ist (vgl. Neureuter 1987a, S. 78–
mals, indem sie sich enger an B.s Vorlage hielt, 87).
und veröffentlichte das Stück unter dem Titel Weitere Quellen sind nur unter Vorbehalt zu
Iso-Heikkilän isäntä ja hänen renkinsä Kalle nennen. Unzweifelhaft ist ein ironisch-pole-
(1946; dt.: Der Bauer Iso-Heikkilä und sein mischer Bezug des Puntila auf August Strind-
Knecht Kalle; vgl. die deutsche Übersetzung bergs Fräulein Julie zu erkennen, so in Mattis
von Richard Semrau, BBA 1693 und 1694). Als Worten über die dummen Gespräche der Her-
Mitverfasser stand B.s Name auf dem Titel- ren, die er als Chauffeur mitanhören muss
blatt, und im Vorwort schilderte Hella Wuoli- (GBA 6, S. 321 f.), in der Küchenszene (Ein
joki die Zusammenarbeit aus ihrer Sicht (Neu- Gespräch über Krebse), im Tanz des Gesindes
reuter 1987a, S. 103–105). Dass die Anteile auf der Tenne (S. 357) und wohl auch in der
beider Autoren zuletzt irgendwie »zusammen- Ballade vom Förster und der Gräfin (ebd.; vgl.
geschlagen« wurden (S. 104), gilt freilich al- Neureuter 1982, S. 14). Die Lektüre zweier
lenfalls für Wuolijokis finnischen, nicht aber Werke, die mit dem Puntila in Beziehung ge-
für B.s deutschen Text. B. hat ihn auch nie zu setzt werden können, verzeichnet das Journal
den Bearbeitungen gezählt, sondern zu den allerdings erst knapp nach Abschluss der er-
eigenen Stücken und Wuolijokis Namen erst sten Fassung am 1. 10. 1940: Diderots Roman
spät und erst auf äußeren Anstoß hin genannt. Jacques le Fatalist et son Maître (1796), der bei
Die Form der kleinen Notiz, »nach den Erzäh- der Ausgestaltung des Herr-Knecht-Verhält-
lungen und einem Stückentwurf von Hella nisses hilfreich gewesen sein mag, und Aleksis
Wuolijoki geschrieben« (GBA 6, S. 284), hat Kivis Roman Seitsemän veljestä (1870; dt.: Die
sie tief verletzt. Die schriftliche »Abmachung« sieben Brüder), dessen bäuerliche Kraftnatu-
vom 15. 5. 1941: »Die beiden Verfasser teilen ren im Tavastland leben, das seither zu einer
alle Einnahmen zu gleichen Teilen« (Neureu- mythischen Landschaft der finnischen Litera-
ter 1987a, S. 108) hat B. erst in einem Nachtrag tur geworden war, was noch in Wuolijokis
vom 10. 6. 1949 zu seinem Verlagsvertrag mit Stücken zum Ausdruck kommt. Beide Dialo-
Desch verankert (vgl. Neureuter 1987b, gromane werden im Kommentar der GBA zwar
S. 202–206). Diese Regelung gilt gerechter- nur als Formvorbild für die Flüchtlingsgesprä-
weise bis heute, denn ohne Hella Wuolijoki ist che (vgl. GBA 18, S. 579) erwähnt, aber der
das Stück nicht denkbar, und ohne Brecht gäbe Satz: »Dazu habe ich vom ›Puntila‹ noch den
es vermutlich nicht viel zu teilen. Ton im Ohr« (Journal, 1. 10. 1940; GBA 26,
S. 430), verknüpft beide Arbeiten nicht von
ungefähr. Weil B. den Namen ›Kalle‹ für die
Arbeiterfigur der Flüchtlingsgespräche frei ha-
Quellen / Mitarbeiterinnen ben wollte, benannte er Puntilas Knecht in
›Matti‹ um. Der »Ton« aber, der beide ver-
bindet, ist, wie das Journal vom 19. 9. 1940
Auf mündliche Weise vermittelte Wuolijoki B. vermerkt, »nicht original, es ist Ha šˇ eks Ton im
ihre folgenden Arbeiten: 1. Die Gespenster von Schwejk, den ich schon in der ›Courage‹ be-
Kolkkala, ein Einakter von 1935 (vgl. Am- nutzte« (S. 424). Zu den Quellen im weitesten
mondt, S. 213–217; Neureuter 1987a, S. 67 f.), Sinn wäre damit auch dieser von B. immer
2. Der Meineid, eine Erzählung von 1913 wieder benutzte Roman, Jaroslav Ha šˇ eks Die
(S. 77 f.), 3. Der Vagabundenwalzer, ein Ein- Abenteuer des braven Soldaten Schwejk wäh-
akter von 1935 (Valle, S. 27). Darüber hinaus rend des Weltkrieges (1920–23), zu zählen.
lagen B. die Texte auch in schriftlicher Form Schon anlässlich der Zürcher Uraufführung
vor: das Steffinische Diktat und Die Mutter hatte die Kritik den Vergleich zwischen Pun-
Quellen / Mitarbeiterinnen 445

tila und Charles Chaplins Film City Lights der sich »unter dem Einfluß von Branntwein in
(1931) gezogen, »wo ein Millionär die gleiche einen wunderbar guten Menschen verwan-
nüchtern-besoffene Doppelseele besitzt«, wie delte« (Neureuter 1987a, S. 103). Ein früher
z. B. François Bondy feststellte (Bondy, Entwurf B.s zu einer Inhaltangabe scheint da-
S. 149). B. kannte den Film (vgl. GBA 21, mit noch im Einklang zu stehen, wenn er von
S. 477), eine konkrete Verwendung ist indes- den »zwei Seelen des Herrn von Puntila«
sen nicht nachzuweisen. Dasselbe gilt für Carl spricht: »wenn er besoffen ist, ist er ein
Zuckmayers Lustspiel Der Fröhliche Weinberg mensch, aber wenn er wieder nüchtern ist, ist
(1925), den Jost Hermand 1971 als Quelle ins er ein gutsbesitzer. Wenn er nüchtern ist, prü-
Gespräch gebracht hat (Hermand, S. 124 f.). gelt er seinen schofför, aber besoffen engagiert
Für einen genetischen Zusammenhang der er einen schofför« (S. 51). Dementsprechend
beiden Texte gibt es in den Zeugnissen jedoch zeigen bereits die Stückpläne B.s ein zentrales
keinerlei Anhaltspunkte. Strukturmoment des Stücks, indem sie Punti-
Zu den Mitarbeiterinnen am Puntila muss las jeweiligen Zustand sorgsam mit »b« bzw.
Steffin gezählt werden, welche die Texte bei- »B« für ›betrunken‹ und »n« bzw. »N« für
der Autoren mitdenkend und mitformulierend ›nüchtern‹ kennzeichnen und ihn zuletzt
in schriftliche Form brachte. Nicht nur B., son- sechsmal wechseln lassen (vgl. S. 44–50). Es
dern auch Wuolijoki haben den Wert ihrer ist klar, dass dieser Zustandswechsel syste-
Hilfe hoch eingeschätzt: »Margarete Steffin matisch genutzt werden soll, um Puntila – wie
war nicht nur eine Sekretärin, die die deutsche den ›guten Menschen von Sezuan‹ – im Selbst-
Sprache wie ein Dichter beherrschte, sie war widerspruch zu zeigen. Für den ersten Durch-
auch ein wirklicher Mitarbeiter, mit dem man gang durch B.s Stück (nach der in der GBA 6
sich über seine Arbeiten unterhalten und be- gedruckten letzten Fassung) sei zunächst ange-
raten konnte« (Neureuter 1987a, S. 104). Be- nommen, dass es sich dabei wirklich um einen
raten hat sich B. auch mit Ruth Berlau, wenn er Gegensatz von gut und böse handelt.
sie in ihrem Zelt im nahen Birkenwäldchen Szene 1 ist eine »B«-Szene. Puntila hat zwei
besuchte. Den Einfall, Evas Ehe-Examen mit Tage und eine Nacht im Parkhotel von Tavast-
dem spontanen und unbedachten Schlag auf hus durchgezecht und dabei alle Honoratio-
den Hintern zu beenden, reklamierte sie völlig ren der Gegend unter den Tisch getrunken,
plausibel für sich (Bunge, S. 130). Von B.s Be- was für den Letzten, den Richter, wörtlich zu-
such auf dem Gesindemarkt ist nur der Fakt trifft. In seiner Einsamkeit kommt Puntila der
bekannt (Journal, 19. 9. 1940; GBA 26, Chauffeur Matti gerade recht, obwohl dieser,
S. 425). Die Bedeutung des Bildmaterials, das nach zweitägigem Warten im Auto, empört
B. zusätzlich für das Stück sammelte, ist kündigen will. Puntila entdeckt gerade des-
schwer, aber sicherlich nicht gering einzu- halb seinen Chauffeur als »Menschen« (GBA 6,
schätzen (Neureuter 1987a, S. 88–97). S. 287), gibt ihm zu essen und zu trinken und
verbrüdert sich mit ihm. Matti lenkt zwar ein,
bleibt aber seinerseits beim »Sie«, so dass die
soziale »Kluft« in der Sprache bestehen bleibt.
Inhalt Ihre Negation ist hochkomisch, wenn Puntila
befiehlt: »Sag, daß keine Kluft ist!« und Matti
antwortet: »Ich nehm’s als einen Befehl, Herr
Das Stichwort, auf das hin Wuolijoki die Pun- Puntila, daß keine Kluft ist!« (S. 291) Immer-
tila-Geschichte erzählte, lieferte B. mit einem hin scheint der betrunkene Puntila die beiden
Bericht über den noch unfertigen Guten Men- Seiten der Kluft doch wenigstens wahrzuneh-
schen von Sezuan und das Problem des Guts- men. Er reagiert verständnisvoll auf Mattis Er-
eins in einer von Ausbeutung beherrschten zählung, wie er einen Gutsbesitzer provoziert
Welt. Wuolijoki erkannte darin dieselbe Idee, hat, ihn zu entlassen, und er ergeht sich in
nach der sie ihre Puntila-Figur gestaltet hatte, einer Fantasie des sozialen Ausgleichs, über
446 Herr Puntila und sein Knecht Matti

die Matti herzhaft lachen muss. In nüchternem nicht mehr, er möchte ein menschliches Ver-
Zustand jedoch – indem er eine Gabel hoch- hältnis zu seinen Arbeitern, ihnen ein »Heim
hält und nur eine sieht – sähe er »nur die auf Puntila« (S. 310) geben, was diese gar nicht
Hälfte von der ganzen Welt« (S. 289), wie er wollen, und vor allem mit seinem »Freund«
Matti anvertraut. »Anfälle von totaler, sinnlo- Matti wieder ins Reine kommen (S. 307). Frei-
ser Nüchternheit« machten ihn dann »direkt lich macht er, wenn das Leben so schön ist,
zurechnungsfähig«, zu einem Menschen, »dem keine Geschäfte (vgl. S. 310) und gibt den Ar-
man alles zutrauen kann« (ebd.). beitern statt eines förmlichen Kontrakts nur
Szene 2 rückt Puntilas Tochter Eva in den das Ehrenwort eines tavastländischen Bauern.
Mittelpunkt. Sie hat auf Gut Kurgela drei Tage Die meisten Arbeiter steigen dennoch in sein
lang auf ihren Vater gewartet; denn eigentlich Auto, auch der rote Surkkala, dessen Entlas-
sollte er hier mit dem Attaché über ihre Mitgift sung er dem Probst eigentlich versprochen
verhandeln. Als er spät in der Nacht mit Matti hatte.
und dem Richter ankommt, sind schon alle zu Puntilas Zustandswechsel auf dem Gesinde-
Bett. Eva, die nur dem nüchternen Puntila un- markt ist der erste, der sich innerhalb einer
terlegen ist, gewinnt die Oberhand über den Szene vollzieht, allerdings noch hinter der
betrunkenen Vater, hindert ihn daran, sich Bühne. In Szene 5 verwandelt sich Puntila auf
Leute zur Gesellschaft zu wecken und nimmt offener Bühne vor den Augen der Zuschauer.
ihm seinen Schnapskoffer weg. In biblischem Am Anfang kommt er fröhlich nach Hause mit
Zorn bricht er daraufhin zu seiner Schnaps- den Waldarbeitern, geht in die Sauna und lässt
fahrt auf. Eva gibt dem ironischen Matti eine Matti vom Streit mit dem dicken ›Kapitalisten‹
gezierte Darstellung ihres Verhältnisses zum auf dem Gesindemarkt erzählen (vgl. GBA 6,
Attaché, der nach Puntilas Meinung »kein S. 313). Kaffee, Wassergüsse und Mattis hin-
Mann« (GBA 6, S. 297) ist, wobei Matti die terhältige Erzählweise bewirken, dass Puntilas
Augen zufallen. Laune umkippt. Ihm dämmert, dass er sich
Puntilas Betrunkenheit hält auch in Szene 3 selbst den größten Schaden zugefügt hat: »fin-
noch an; sie macht ihn fähig, die Poesie des ster« (S. 316) schickt er die auf sein Ehrenwort
frühen Morgens im Dorf, vor allem die un- verpflichteten Arbeiter weg, weil er sie nicht
widerstehliche Frische der »Frühaufsteherin- brauchen kann, und beschimpft Matti. Inzwi-
nen«, zu erkennen (GBA 6, S. 304). Er be- schen ist Eva bereit, Mattis Hilfe anzunehmen,
kommt sein Rezept und in der Apotheke den um der Heirat mit dem langweiligen Attaché
›legalen‹ Schnaps, »verlobt« sich, indem er all zu entgehen; dieser müsste aber von sich aus
seinen Charme und Witz aufbietet, mit vier zurücktreten. Matti geht vor dessen (und Pun-
Frauen und lädt sie nach Puntila zur Verlobung tilas) Augen gemeinsam mit Eva in die Sauna
ein. Wie das Pflaumenlied der Schmuggler- und simuliert dort ein Liebesspiel, um Eva zu
emma symbolisch andeutet, fühlt er sich als ›kompromittieren‹ (vgl. S. 322). Der Plan
»schöner junger Mann« (S. 300) aus der misslingt jedoch, weil der Attaché, entschlos-
Fremde, der die armen Mädchen wie ein Mär- sen, durch eine Heirat mit Eva seine Schulden
chenprinz von ihrem kümmerlichen Leben er- zu tilgen, über alles großzügig hinweg sieht.
löst. Ihre episch breit ausgemalten Lebens- Matti kommentiert: »Seine Schulden sind
beschreibungen hört er mit Geduld an. noch größer als wir geglaubt haben.« (S. 324)
Zu Beginn von Szene 4, auf dem Gesinde- In der Mitte des Stücks intensiviert sich das
markt von Lammi, erscheint der Gutsbesitzer Verhältnis zwischen Eva und Matti; Puntila
zum ersten Mal nüchtern. Er schnauzt seinen tritt in Szene 6 gar nicht auf. Am Vorabend
Chauffeur an und mustert mit kaltem Blick die ihrer Verlobung mit dem Attaché äußert Eva
Arbeiter auf ihre Tauglichkeit hin. Dann aber planlose Unruhe. Sie versucht Matti zu ver-
geht er ins Café zum ›Telefonieren‹ (vgl. GBA führen, indem sie einerseits die Herrin her-
6, S. 306) und kommt verwandelt zurück. auskehrt, nach ihm klingelt und Anordnungen
Plötzlich gefällt ihm der ganze Gesindemarkt trifft, andererseits, indem sie die Waffen einer
Inhalt 447

Frau einsetzt, einen Moment lang sogar mit Ende des Vertrauens aus der ›heroischen Zeit‹
Erfolg (GBA 6, S. 326). Es ist eine Konstella- des Bürgerkriegs von 1918 (GBA 6, S. 340–
tion von pikanter Erotik, wie sie auch von 342).
Strindberg hätte sein können. Als der nächt- Die große Verlobungsfeier mit riesigem Büf-
liche Krebsfang fürs Verlobungsessen an der fet und Tanzmusik, zu der sich vornehme Gäs-
Kollision ihrer Fräulein-Allüren mit Mattis te versammeln, beginnt in Szene 9. Puntila,
Eindeutigkeit scheitert, will sie fliehen. Es ist der zunächst in der Ecke sitzt und »schweig-
der dritte Teil eines ergebnislosen Gesprächs; sam« trinkt (GBA 6, S. 342), kommt durch den
Matti entzieht sich mit schwejkscher Bered- Punsch allmählich wieder in den gewohnten
samkeit der Aufforderung, Eva das Geld für Schwung des Rauschs. Die Dummheit des At-
die Fahrt nach Brüssel zu leihen. Erst jetzt tachés provoziert ihn dermaßen, dass er ihn
wird Eva direkt und will Matti heiraten. Wie- samt seinem Minister aus dem Haus jagt, um
der wird die soziale Kluft durch den sprach- dann, den »Mißgriff« (S. 347) korrigierend,
lichen Gestus deutlich: Als Eva sagt: »Ich Evas Verlobung mit »einem Menschen«
nehm den Attaché nicht. Ich glaub, ich nehm (S. 342), mit Matti, zu inszenieren. In die
Sie«, fragt Matti zurück, wie sie das denn große Tafelszene wird auch das Gesinde in-
meine, worauf sie antwortet: »Mein Vater tegriert, ganz so, wie es Matti dem Bund der
könnt uns ein Sägwerk geben«; Matti kom- Bräute vorfantasiert hatte (S. 335–337). Eva
mentiert: »Sie meinen: Ihnen« (S. 330). Matti spielt animiert mit und lässt sich auch auf das
demonstriert ihr das Illusorische ihres Einfalls Ehe-Examen ein, das halb im Spiel und halb
und wendet sich demonstrativ seiner Zei- im Ernst prüfen soll, ob sie zur Chauffeursfrau
tungslektüre zu. taugt. Des Urteils über ihre Leistung werden
Die Szene 7 zeigt Puntila in böser Höchst- aber Matti und die Gesellschaft enthoben,
form. Er ist noch nüchtern von der Sauna und denn ein spontaner, aufmunternder Schlag
liefert Eva ein Nachbeben zum »Skandal« Mattis auf Evas Hintern lässt die Kluft wieder
(GBA 6, S. 331) der Szene 5. Von seinem er- objektiv hervortreten (vgl. S. 355). Eva bricht
höhten Herrenstandpunkt aus wird ihm der das Examen ab, Puntila verstößt sie und verär-
Eros zur universellen Anarchie (vgl. ebd.). gert auch noch den Rest der verbliebenen Ho-
Hochgradig verfremdend ist, dass seine Straf- noratioren. Surkkalas Ballade vom Förster und
predigt mit Parolen wie: »Zehn Schritt Ab- der Gräfin liefert am Schluss das Bild für das
stand [zum Gesinde] und keine Vertraulich- ungleiche Paar: »Es war eine Lieb zwischen
keiten, sonst herrscht das Chaos« (S. 332), von Füchsin und Hahn / ›Oh, Goldener, liebst du
Matti unten auf dem Hof mitgehört wird und mich auch?‹ / Und fein war der Abend, doch
dass die vier ›Bräute‹ von Kurgela gerade in dann kam die Früh / Kam die Früh, kam die
dem Moment auftreten, in dem ihnen Puntila Früh: / All seine Federn, sie hängen im
mit dem Satz »Liebe […], das ist nur ein and- Strauch.« (S. 358)
rer Ausdruck für Schweinerei« (ebd.) das Nach einem kurzen Intermezzo, »Nocturno«
Stichwort gibt: Unvermutet wird er mit seiner (Szene 10; GBA 6, S. 358), wird in Szene 11 das
eigenen erotischen Vergangenheit konfron- ungleiche Verhältnis zwischen Puntila und
tiert. Fast bleibt ihm nun gar nichts anderes Matti auf seinen Höhepunkt und zur endgülti-
mehr übrig, als die Frauen brutal und humor- gen Krise geführt. Es ist zugleich der virtuo-
los vom Hof zu weisen. seste Zustandswechsel Puntilas auf offener
Die Frauen, die der Freundlichkeit der Ein- Bühne. Am Morgen nach der Verlobung ist er
ladung vertraut haben, versuchen auf dem lan- noch verkatert, entsprechend nüchtern-böse
gen Rückweg in Szene 8 die Situation erzäh- und leidet zudem unter den Folgen einer
lend zu bewältigen. Ihre bitteren Geschichten »Nacht der Mißverständnisse« (S. 359). Er ist
vom Lug und Trug der Reichen zeigen die zu weit gegangen und beugt sich der gesell-
lange Alltagsgeschichte der Klassengesell- schaftlichen Konvention, auch im Fall des ro-
schaft und schließen mit einem Beispiel vom ten Surkkala, dessen Entlassung er nun end-
448 Herr Puntila und sein Knecht Matti

gültig beschließt. Puntila schwört dem Alko- deuten. Der schärfere, der zweite Blick er-
hol ab und beschließt, seinen ganzen Vorrat zu kennt denn auch im ›guten Menschen‹ Puntila
vernichten, und zwar in Gegenwart seines ›bö- den sozialen Schädling. Er beutet die Men-
sen Geistes‹ Matti (vgl. S. 361) und im Zuge schen für sein Vergnügen aus, so den Kellner
einer großen Abrechnung. Aber während er im Parkhotel und den wartenden Chauffeur, so
den Alkohol vor der ›Vernichtung‹ noch ›prüft‹ die Arbeiter auf dem Gesindemarkt, denen er
(vgl. S. 363), wandelt sich der Ton seiner Straf- keine Kontrakte gibt, und es ist schließlich der
rede mitten im Satz: »was war das für ein betrunkene Puntila, der den roten Surkkala
Leben ohne Sinn und Verstand, wenn ich an entlässt (vgl. S. 365). Letzteres nennt Matti
das Kuhmädchen denk in der Morgenfrüh auch als den entscheidenden Grund, warum er
[…], ich glaub, sie heißt Lisu« (S. 364). Ein Puntila den Rücken kehrt. Aus der Perspektive
neuer Rausch beginnt, und Puntila will mit derjenigen, die ihm untergeben sind, bilden
Matti den Hatelmaberg besteigen, um die die Handlungen sowohl des nüchternen als
schönste Aussicht der Welt zu genießen, und auch des betrunkenen Herren eine böse Ein-
sei es nur »im Geist« (S. 366). Für diese imagi- heit. Sein Doppelwesen zeugt von einer Rebel-
näre Bergbesteigung demoliert der beflissene lion seiner Natur gegen seine soziale Rolle.
Knecht das Mobiliar der Bibliothek und ist so Solange er aber von den Verhältnissen, unter
Puntila ein letztes Mal auf destruktive Weise denen er leidet, materiell profitiert, wird sich
zu Diensten. Denn am nächsten Morgen ver- an seinem Doppelwesen nichts ändern. Es ist
lässt er das Gut für immer (Szene 12): »Nach die materialistische Deutung von Puntilas
der Sache mit dem Surkkala halt ich seine Zwei-Seelen-Krankheit, die das Stück den Zu-
Vertraulichkeiten nicht mehr aus.« (S. 370) In schauern nahe legt. Dass der Knecht endet,
einem Epilog zieht er das Fazit ihrer Bezie- wie er begann, nämlich mit einer Kündigung,
hung: »’s wird Zeit, daß deine Knechte dir den gibt dem Stück eine formale Rundung, die von
Rücken kehren. / Den guten Herrn, den finden Prolog und Epilog unterstrichen wird. Puntilas
sie geschwind / Wenn sie erst ihre eignen Her- Problem bleibt dabei offen, und dieser Offen-
ren sind.« (Ebd.) heit entspricht auch die relativ lockere Fügung
der Szenen, für welche B. auf das Vorbild der
›literarischen Revue‹ zurückgriff, die er in den
Anmerkungen zum Volksstück ausdrücklich als
Analyse Vorläufer und Anreger seines modernen Volks-
stücks hinstellte (Neureuter 1987a, S. 121).
Dass darüber hinaus »der Gang und Habitus
Das Stück zeigt durch systematische Kon- der Szenen bei mir Gang und Habitus des Pun-
trastierung von »B«- und »N«-Szenen Puntilas tila in Ziellosigkeit, Lockerheit, in seinen Um-
Selbstwiderspruch. Ein Gutteil der Komik fußt wegen und Verspätungen, Wiederholungen
darauf, dass Puntila den Selbstwiderspruch und Unpäßlichkeiten nachmacht«, führt B. ge-
nicht bemerkt, während er in ihm befangen ist. gen Wuolijokis erste Kritik an (Journal, 24. 9.
Nur einmal thematisiert er ihn grundsätzlich 1940; GBA 26, S. 429). Instruktiv ist dafür be-
in dem hintergründigen Dialog mit Matti in sonders die Verschiebung der Bräute-Szene,
Szene 1 als persönliche ›Krankheit‹, die Mit- die bei B. zunächst (wie bei Wuolijoki) als
leid verdiene (vgl. GBA 6, S. 289). Mit dieser Szene 4 unmittelbar auf die ›Verlobung‹ im
›Zwei-Seelen-Theorie‹ ist jedoch eine Ebene Dorf folgte, und dann als Szene 7 weit davon
der Abstraktion etabliert, auf der Puntilas Pro- getrennt wurde. Darin liege eben die Schön-
blem zum Erkenntnisproblem werden kann. heit, argumentierte B., dass die Bräute »eben
Die Zuschauer werden in die Lage versetzt, schon beinahe vergessen sind, vom Publikum
Puntilas Selbstdeutung und die Absolutheit wie von Puntila selber, und dann auftauchen,
seiner Personspaltung anzuzweifeln, wie die so lang nach dem Morgen, an dem sie einge-
ironischen Kommentare Mattis es schon an- laden wurden. […] da ja die Einladung alles ist
Analyse 449

und das Kommen nur den Mißbrauch dar- treibung seiner Unterwerfung. Seine Festig-
stellt.« (Ebd.) In diese rhythmisch-gestische keit liegt in seiner Intelligenz, mit der er die
Szenenreihe ist die Eva-Matti-Handlung ein- Verhältnisse und die Ideologien und Illusionen
komponiert, der Puntila-Matti-Handlung der herrschenden Klasse durchschaut. Er wird
mehr untergeordnet als nebengeordnet, und zum Kommentator oder »Replikanten« (Sem-
als weitere Spielart des Herr-Knecht-Verhält- rau, S. 15) ihrer Worte und Taten, nicht zuletzt
nisses ausgewiesen. durch die vielen Parallelgeschichten und Ver-
Den Gegensatz ›Herr‹ und ›Knecht‹ hat B. gleiche, welche die Begriffe und Vorfälle ko-
aber nicht nur szenisch gestaltet, er durch- misch verfremden.
dringt auch die Sprache aller Figuren. Für kein Aufmerksamkeit verdient nicht zuletzt die
anderes Stück scheint B. so systematische Vor- Behandlung der Natur im Puntila. Es sei
studien zur sozialen Gestik, zur Sprache der »Mehr Landschaft drin als in irgendeinem
Figuren gemacht zu haben. »Das Ganze beruht meiner Stücke, ausgenommen vielleicht
auf einem Tonfall«, notierte er am 19. 9. 1940 ›Baal‹«, schrieb B. ins Journal vom 19. 9. 1940
ins Journal, und die »Arbeit ging sehr glatt, als (GBA 26, S. 424). Das trifft in der Tat nicht
ich einmal ein paar Sprechmodelle hatte« bloß auf die Außenszenen zu (sieben von zwölf
(GBA 26, S. 424). Diese Sprechmodelle hat B. spielen im Freien), sondern fast mehr noch auf
sorgsam aufbewahrt (vgl. Neureuter 1987a, die Interieurs. Auf Schritt und Tritt ist da
S. 52–55). Sie fixieren als »Puntila-Ton« den Landschaft zu ›erfühlen‹, wie der Prolog sagt
bösen Anschnauzgestus des Arbeitgebers und (GBA 6, S. 285). Es ist da fast alles präsent,
einen »Ton der Herren« beim Herabblicken auf was B. an eigener sinnlicher Erfahrung im
das Volk, einen deutlich parasitären Gestus. Journal festhielt, von den Wundern der finni-
Auch ohne Modelle zeigt die Sprache des ar- schen Sommernacht bis zum Wasserlassen im
beitenden Volks Klassenbewusstsein, so auf Freien (vgl. Journal, 6. 7. 1940; GBA 26,
dem Gesindemarkt, in den Finnischen Erzäh- S. 399; vgl. GBA 6, S. 358 f.). Zugleich ist der
lungen der Frauen von Kurgela und schließlich Blick auf die Natur überall perspektiviert, ge-
beim roten Surkkala. Mattis Schwejk-Ton pro- bunden an den Gestus der Herrenrede, bis
voziert an der Stelle, wo eines der Sprech- Landschaftslob und Vaterlandsliebe in Punti-
modelle in den Text einmontiert ist, nämlich las bravouröser Rede vom imaginären Hatel-
Evas Vergleich seiner Person mit einer Wind- maberg herab ihren gemeinsamen Nenner
fahne: »Sie haben Ihre Ansicht gewechselt und preisgeben. Nicht ihm selber, wohl aber den
sind eine Windfahne« (GBA 6, S. 329). Matti Zuschauern unterscheidbar, mischt sich in
greift die Redensart auf und macht sie zur Puntilas Naturgenuss das genießerische Ge-
zentralen Metapher seines Selbstverständnis- fühl seines Besitzes. Sogar seine Empfänglich-
ses und zugleich seiner Funktion im Stück: keit für »die Gerüche, die wir haben in Tavast-
»Das ist richtig. Aber es ist nicht gerecht, wie land, das ist ein eigenes Kapitel« (GBA 6,
man von Windfahnen redet, sondern gedan- S. 368), ist immer zugleich diejenige einer
kenlos. Sie sind aus Eisen, und was Festeres Geldnase. Das wird folgendermaßen zum
gibt’s nicht, nur fehlt ihnen die feste Grundlag Sprachgestus: »Siehst du den kleinen, den
[…]. Er reibt Daumen und Zeigefinger.« (Ebd.) Schlepper mit der Brust wie ein Bulldog und
So weit auch Mattis Sprache bisweilen ins Pro- die Stämm im Morgenlicht? Wie sie im lauen
letarische reicht, an dieser Überlebensphilo- Wasser hinschwimmen, schöngebündelt und
sophie wird deutlich, dass der eigentliche Ur- geschält, ein kleines Vermögen. Ich riech fri-
sprung seines Tons beim kleinen Mann zwi- sches Holz über zehn Kilometer, du auch?«
schen den Klassen liegt, beim Kleinbürger (Ebd.)
Schwejk. Indem er gezwungen ist, sich anzu- Es gehört jedoch zum Neuen in B.s Behand-
passen, »überhaupt keine Ansichten hat«, lung der Landschaft während der politischen
wenn er mit der ›Herrschaft‹ redet (S. 297), Askese der Exilzeit, dass solche Anmutungen
rächt er sich durch die scheinheilige Über- Puntilas für den ›Menschen‹ Matti nicht a
450 Herr Puntila und sein Knecht Matti

priori unannehmbar sind. Zwar ist die Frage werde aber »von der poetischen Kraft des
hier komisch, denn der Holzgeruch bedeutet Menschengestalters Brecht überwunden«
für Matti und seinesgleichen etwas anderes als (Vielhaber). Das Gemeinsame dieser Stim-
für den Waldbesitzer Puntila; und die Komik men, die sich vermehren ließen, ist die domi-
nicht nur dieser Szene beruht darauf, dass die nante Wahrnehmung der Puntila-Figur, das äs-
Ästhetik von Herr und Knecht unversöhnt thetische Vergnügen an ihrem anarchischen
bleibt. Der im Prolog formulierte Gegensatz Gebaren und (scheinbar) autochthonen We-
zwischen schöner Gegend und unwürdiger Ge- sen. Das eigene Gefallen an der Figur wird
sellschaft impliziert auch, dass nur die Herren dabei einer Intention des Autors – oder wenig-
die Natur rühmen, während das Volk inmitten stens seines besseren, dichterischen Ichs –
der Schönheit des Landes nur vom Bösen in gutgeschrieben.
den menschlichen Verhältnissen spricht. Doch Das Problem der Puntila-Deutung, das da-
es gibt kleine Ausnahmen. Matti erinnert sich mit angerissen ist, hat tiefe Wurzeln in der
an die Höhlen und an die runden glatten Entstehungsgeschichte. Im Konversationsrah-
Steine seines Heimatdorfs (GBA 6, S. 368), die men ihrer Sägemehlprinzessin hatte bereits
Köchin Laina, obwohl todmüde, ist nicht un- Hella Wuolijoki mit eindeutigen Anspielungen
empfindlich gegen die finnische Sommernacht einen halb spöttischen Bezug zur Schollen-
(S. 327 f.), und auch mit den Frauen von Kur- Mystik der zeitgenössischen Literaturkritik
gela wäre eine Verständigung über die Schön- der 30er-Jahre gesucht und hergestellt. Das
heit des Tavastlands nicht schwer (vgl. S. 338). Ideal dieser antizivilisatorischen Kunst- und
Anders als im Baal scheint die Natur von ih- Kulturkritik, die sich vor allem an dem finni-
rem ›Verwerter‹ Puntila trennbar, sein Besitz- schen Nobelpreisträger Frans Eemil Sillanpää
gestus von ihr ablösbar, so dass sie sogar in orientierte, war der ›perusihminen‹, der un-
seinen Worten noch ihre eigene schöne Gegen- entfremdete Mensch der Scholle. Das finni-
ständlichkeit behält. sche Wort dafür (wörtlich: ›Grundmensch‹)
hatte das Steffinische Diktat teils mit »Ur-
mensch«, teils mit »Übermensch« (Neureuter
1987b, S. 166) verdeutscht. In dieser Form ist
Aspekte der Deutung / Forschung es B. spätestens begegnet und musste ihn, be-
sonders durch die Nietzsche-Reminiszenz
»Übermensch«, an den anarchisch-vitalisti-
In einer kritischen Revue früher Puntila-Deu- schen Grundtyp des eigenen Frühwerks erin-
tungen hat Hermand auf einen Grundtenor nern, namentlich an die Baal-Figur.
vornehmlich westlicher Interpreten der 50er- Dass sich B. 1940 von der Vitalität einer
und 60er-Jahre hingewiesen (vgl. Hermand, Baal- oder Puntila-Figur nicht mehr so einfach
S. 118–121). Er besteht darin, den mit Begei- mitreißen ließ, dürfte heute niemand mehr
sterung aufgenommenen »vollsaftigen« Titel- bestreiten. Er stellte den Typus vielmehr aus,
helden des Dichters B. gegen den Theoretiker indem er ihn ins Übergroße steigerte. Auf die
und den Marxisten B. auszuspielen. Mit Pun- theatralischen Mittel, einen »Puntila von fast
tila, schreibt Volker Klotz, sei »dem marxisti- mythologischer Größe« (Theaterarbeit, S. 18)
schen Autor eine Figur davongelaufen, die er aufzustellen, auf die »genießerische Ausbil-
ideologisch nicht mehr einholen konnte« dung« seiner Gestik durch den Darsteller Ste-
(Klotz, S. 51 f.); mit dem »schwankartigen ckel, wies B. im Band Theaterarbeit hin: »Pun-
Volksstück« und dem »genialischen Dionysi- tila entsagte seinen Besitztümern wie der Bud-
ker« (Holthusen, S. 105 f.) Puntila habe sich B. dha, verstieß seine Tochter in biblischer
aus der »Zwangsanstalt des ›epischen Thea- Weise, lud die Frauen von Kurgela zu Gaste
ters‹ zu befreien« versucht (Lüthy, S. 178). Die wie ein homerischer König« (S. 19) und jagte
Didaktik wirke aufgesetzt, die klassenkämp- sie wieder fort »wie ein Nero« (GBA 6, S. 348).
ferische Tendenz »künstlich hineingeflickt«, Doch schon im Text selber trägt Puntila die
Aspekte der Deutung / Forschung 451

Ideologie seiner Größe als ›falsches Bewusst- schen Brennglas überhaupt komisch ist: »So
sein‹ in sich: Er fühlt sich selbst über den wird Matti zu Puntilas Gegenspieler, und man
Aquavitsee wandeln wie der Messias (S. 287), darf wohl sagen, daß Puntila erst durch Matti
er bezieht mit grotesker Selbstverständlichkeit sein Profil gewinnt, und daß der Herr ohne
die Außenwelt auf seine Person, so dass er den Knecht nichts wäre als ›sinn- und gren-
etwa auf dem Gesindemarkt außerstande ist, zenlose Vitalität‹« (ebd.).
mit den Arbeitern sachlich zu verhandeln (»Ich Eine echte »Balance« zwischen Puntila und
muß ihnen zuerst sagen, was ich für einer bin, Matti hatte B. bereits in den Notizen über die
damit sie wissen, ob sie mit mir auskommen. Züricher Erstaufführung (1948) verlangt, und
Das ist die Frage, was bin ich für einer?«; zwar derart, »daß die geistige Überlegenheit
S. 309), und während er im Begriff ist, Surk- bei ihm [Matti] liegt« (GBA 24, S. 301 f.). In
kala zu entlassen, verkündet er dessen Kin- einem weit ausgreifenden großen Essay hat
dern: »Stehlts, raubts, werdets rot, aber wer- Hans Mayer 1971 diese postulierte Überlegen-
dets keine Zwerggestalten« (S. 364). heit des Knechts in geschichtsphilosophische
Auf dieser Ebene eines vom Autor zum Spott Perspektive gestellt. Erstaunliche Parallelen
ausgestellten Überbautheorems ›Große Per- eröffnet zunächst die Lektüre von Diderots
sönlichkeit‹ spielt sich auch Puntilas Leiden Roman Jacques le fataliste et son Maître. Der
an seiner Selbstentfremdung ab, der roman- Herr von Jacques zeigt schon dadurch, dass er
tisch-tragische Seelenzwiespalt. Es liegt in der namenlos bleibt, dass er nur in dieser Eigen-
Logik einer Interpretation, die sich vom schaft von Interesse ist. Wie er in der Lebens-
Charme des betrunkenen, kernigen Kraftmen- praxis von seinem Diener abhängig bleibt und
schen verführen lässt, dass sie Puntila auch in ohne ihn im Wortsinn hilflos wird, so auch als
dieser Selbstdeutung ernst nimmt und seinen Zuhörer seiner Lebensgeschichte, über die
Zwiespalt als »tragisch« gelten lässt (Sokel). nur Jacques souverän verfügt. Paradoxerweise
Diese extreme Konsequenz empathischer Pun- vertritt jeder der beiden Gesprächspartner
tila-Interpretation ist allerdings auch in der eine philosophische These, die eher zur Praxis
westlichen B.-Forschung überwiegend auf Ab- des anderen passt: Jacques ist Fatalist, der an
lehnung gestoßen (vgl. Giese, S. 244). In den die Vorherbestimmtheit alles Geschehens
70er-Jahren erschien dann eine Reihe von Ar- glaubt, sein Herr Voluntarist, der an die Wil-
beiten, die B.s materialistische, marxistische lensfreiheit glaubt. Ihre Gespräche haben eine
Auffassung von Puntilas Personspaltung klar- unverkennbare Parallele in dem ›philosophi-
stellten (Speidel; Hermand; Giese; Martini), schen‹ Dialog zwischen Puntila und Matti in
das heißt die klassenmäßige Determiniertheit Szene 1, als Puntila fragt: »Sind wir nicht freie
seines Handelns: Auch betrunken tausche Menschen?«, und auf Mattis »Nein« antwortet:
Puntila »nur eine Art der Ausbeutung gegen »Na, siehst du. Und als freie Menschen können
die andere aus« (Speidel, S. 262). Dasselbe wir tun, was wir wollen, und jetzt wollen wir
sagte im Grunde schon der Entwurf einer In- niedrig sein.« (GBA 6, S. 292) Der Knecht
haltsangabe B.s zur Vorbereitung der ersten Matti weiß es besser, weil er die Realität kennt
Niederschrift von 1940: »Die zwei Seelen des und weiß, was ›sich verkaufen‹ wirklich heißt
Herrn von Puntila oder Der Regen fällt immer (ebd.). Das Illusionäre an Puntilas Freiheit
nach unten« (BBA 178/16; vgl. Neureuter wird schon darin sichtbar, dass er Mattis Nega-
1987a, S. 51). Das heißt: Was immer da oben tion gar nicht hört. Mayer sieht in Diderots
sich abspielt, es ist relativ, und auszubaden Roman die aufklärerische Vorwegnahme der
haben es immer die Unteren. berühmten Dialektik von Herr und Knecht bei
Im Zuge solcher Erkenntnisse wird auch die Hegel: »Kaum ein anderer Text aus der Ge-
Matti-Figur neu gewichtet. »Er ist nicht der schichte der Philosophie ist so leidenschaft-
dürre, selbstgefällige Doktrinär« (Speidel, lich, vielfältig und divergierend interpretiert
S. 263), sondern es ist klar, dass Puntila ja nur worden wie jene paar Seiten über Herrschaft
aus Mattis Perspektive und im ideologiekriti- und Knechtschaft im Abschnitt Selbstbewußt-
452 Herr Puntila und sein Knecht Matti

sein, IV, A der Phänomenologie des Geistes von gibt eine liebenswerte Ungeduld, die auf dem
1807« (Mayer, S. 265). Entscheidend ist zu- Theater jeweils nur den letzten Stand der
nächst, dass das Begreifen des Gegensatzes, Dinge in der Wirklichkeit gestaltet haben will«
der bei Diderot noch wesentlich statisch war, (Theaterarbeit, S. 46), und erwiderte auf diese
als Dialektik »prozeßhaft entwickelt« wird Forderung, dass man auch aus der Geschichte
(S. 268). In der dialektischen Bewegung könne der Kämpfe lernen könnte. Mit dem bekann-
aber »auch wohl Knechtschaft zum Gegenteile ten Marx-Zitat aus der Kritik der Hegelschen
dessen werden, was sie unmittelbar ist […] Rechtsphilosophie, dass »die Menschheit hei-
und zur wahren Selbständigkeit sich umkeh- ter von ihrer Vergangenheit scheide« (S. 16),
ren« (Hegel, S. 152). Die entscheidende Verän- machte B. es der Komödie geradezu zur we-
derung im knechtischen Bewusstsein werde sentlichen Aufgabe, Vergangenes zu Grabe zu
aber allein durch Arbeit erwirkt: »In dieser tragen. Mayer unterstellte nun zwar, dass B.
Beziehung zur eigenen Arbeit wird sich der im Puntila »die finnische, unreife Umwelt mit
Knecht sowohl seiner Unfreiheit wie der Tat- hohem Bedacht gewählt« habe: »Durch den
sache bewußt, daß er allein produktiv sei: aber Rückgriff auf die veraltete Antithese vom
nur in Diensten des unproduktiven, nicht ar- Herrn und seinem Knecht soll die Notwendig-
beitenden Herrn« (Mayer, S. 269). keit einer gesellschaftlichen Veränderung de-
Mayers Essay hat die Forschung nachhaltig monstriert werden.« (Mayer, S. 272) Aber der
angeregt, ist aber in seiner Tragweite für die Gedanke erscheint nicht logisch und die an-
Puntila-Deutung noch kaum ganz ausge- schließende Interpretation alles andere als
schöpft. Auf den historischen Prozess und die zwingend: Matti beginne nur seinen Lauf in
Stellung der Komödie in ihm hat B. mehrfach der feudalen Umwelt, am Schluss aber »kün-
angespielt: im Prolog, in einer Neufassung des digt er die unreifen Verhältnisse auf […].
Epilogs (vgl. Neureuter 1987a, S. 186 f.) und in Matti wird das Gut verlassen und städtischer
den Begleittexten in Theaterarbeit. Dazu fin- Proletarier werden« (S. 273). Es ist sehr zwei-
det auf der symbolischen Ebene des Puntila felhaft, ob B. das so verstanden wissen wollte.
eine vielfältige Abdankung der Herrenklasse Indem er Wuolijokis selbst arbeitenden Groß-
statt. Nicht nur bei der Bergbesteigung, son- bauern in den Typus eines ostelbischen Guts-
dern überall muss Matti Puntila »stützen«, da- besitzers überführte, der nicht mehr selber
mit dieser sich nicht das Genick bricht (GBA 6, arbeitet, sondern nur noch die Produktions-
S. 367). Mit dem Satz »Du hast sehn müssen, mittel besitzt, war ebenso gut auf ein kapitalis-
daß die Befehle ohne Sinn und Vernunft wa- tisches Arbeitverhältnis gedeutet (Valle; Völ-
ren« (S. 362) übergibt Puntila seinem Knecht ker, S. 309–312). Wenn der ›Estatium posses-
unbemerkt die Schlüsselgewalt, zu entschei- sor‹ 1949 ein »vorzeitliches Tier« (GBA 6,
den, welche seiner Befehle zu befolgen sind S. 285) war, so muss deswegen das Verhältnis
und welche nicht. Da das Befehlen aber seine von Herr und Knecht noch keine »veraltete
einzige Legitimation und seine einzige Funk- Antithese« sein. Im Gegenteil, dass das kalte
tion ist, erklärt er sich damit selber für über- und unpersönliche Verhältnis verbrämt wird
flüssig. Das Bourgeoisie hat ihren Führungs- mit feudaler Gestik, das gibt nicht nur der
anspruch verwirkt. Ideologiekritik eine fast zeitlose Aufgabe; es
Im Hinblick auf den historischen Prozess hat war auch 1940, auf dem Höhepunkt faschi-
die linke Kritik gern die Aktualität des feuda- stischer Theatralik, von unbestreitbarer Ak-
len Milieus in Frage gestellt. So warf etwa tualität.
Theodor W. Adorno in seinem Aufsatz Engage-
ment B. vor, hier allerdings im Kontext des
Kaukasischen Kreidekreises, ein »Echo archai-
scher gesellschaftlicher Verhältnisse« zu geben
(Adorno, S. 422). B. hat diese Art Kritik bereits
in Theaterarbeit abzuwehren versucht: »Es
453

Zur Gattungsfrage Moderne (wie den deutschen Expressionis-


mus) den Anschluss an den sowjetischen Kurs
des Sozialistischen Realismus gesucht, sie
B. hat Herr Puntila und sein Knecht Matti hatte vielmehr auch nach sowjetischem Mus-
wiederholt als Komödie diskutiert und dabei ter danach getrachtet, die Debatte über die
auch die grundlegende Unterscheidung ge- dekadente Moderne in eine über Volkstüm-
macht zwischen dem »›Ewig Komischen‹« und lichkeit und Einfachheit zu verwandeln (vgl.
dem ›gesellschaftlich Komischen‹ (GBA 24, Neureuter 1987a, S. 317 f.). Mit seiner Ableh-
S. 312). Das ›gesellschaftlich Komische‹ aber nung der bloßen Folklore, seinem Hinweis auf
lässt sich, wie Peter Christian Giese ausführt, die längst verpönte Agitpropkunst der sowjeti-
nicht ein für allemal abstrakt und formal akku- schen Frühzeit und mit seiner Definition des
rat definieren (vgl. Semrau), sondern verlangt ›Volks‹ als revolutionäres, kämpfendes Pro-
eine jeweils konkrete Interpretation aus dem letariat lag B. absolut quer. Mit Arbeiten wie
historischen Kontext (Giese, S. 81–85). So Puntila (man kann auch Mutter Courage und
wandeln sich mit den »beseitigbaren gesell- den Kaukasischen Kreidekreis dazu rechnen)
schaftlichen Unvollkommenheiten« (Neureu- wollte er ganz offensichtlich demonstrieren,
ter 1987a, S. 128) nicht allein die Stoffe der wie eine moderne volkstümliche Kunst aus-
Komödie, sondern auch ihre Form. Edward M. sehen könnte (vgl. Rischbieter, S. 44; Her-
Berckman hat gezeigt, wie systematisch B.s mand, S. 121 f.).
Puntila alle Erwartungen an die konventio-
nelle Komödie enttäuscht und geradezu zur
»Komödienparodie« wird (Berckman, S. 284).
Puntila ist indessen Komödie und Volks- Rezeption
stück zugleich. Auch diese offizielle Gattungs-
bezeichnung, für die B. sich entschied,
verlangt eine historische Auslegung. Offen- Puntila war das erste Stück, das B. nach seiner
sichtlich führt es ins Leere, das Stück mit der Rückkehr aus dem Exil in Deutschland auf die
Volksstücktradition seit Raimund und Nestroy Bühne brachte. Mit der Puntila-Premiere am
zu vergleichen und einzelne Elemente heraus- 12. 11. 1949 im Haus des Deutschen Theaters
zugreifen (Poser; Crockett). B.s als Nachwort in Berlin wurde das neue Berliner Ensemble
zum Puntila geschriebenen Anmerkungen zum feierlich eröffnet. Auch der Band Theaterar-
Volksstück verraten eine befremdliche Un- beit von 1952 präsentierte Puntila in einer der
kenntnis dieser Tradition gleich in ihrem er- sechs Modellinszenierungen des Ensembles.
sten Satz: »Das Volksstück ist für gewöhnlich Noch im Jahr 1949 sind für Ost- und West-
krudes und anspruchsloses Theater, und die deutschland 21 Inszenierungen verzeichnet.
gelehrte Ästhetik schweigt es tot oder behan- Ganz überwiegend löste das Stück Begeiste-
delt es herablassend.« (GBA 24, S. 293) Es ging rung aus. »Wir haben gestern der Geburt der
B. offensichtlich weder hier noch im Stück neuen deutschen Komödie beigewohnt«,
selbst um die Fortführung irgendeiner Tradi- schrieb der Kritiker Horst Lommer und stellte
tion, sondern um die Neubegründung einer B.s Puntila Lessings Minna und Kleists Zer-
Gattung unter Verwendung der Revueform und brochenem Krug an die Seite (Lommer,
einer neuen gestischen Sprache, adressiert an S. 182 f.). Fritz Erpenbeck, der einstige Redak-
ein Großstadtpublikum. Unverkennbar wirkte teur des Exilzeitschrift Das Wort, konnte sich
hier noch die Frontstellung nach, die B. 1938 plötzlich mit dem befehdeten epischen Thea-
in der Expressionismusdebatte vor allem in ter aussöhnen: »Nun gut, wenn das ›episches‹
seinem Aufsatz Volkstümlichkeit und Realis- Theater ist, dieser vollsaftige Humor […] –,
mus bezogen hatte. Die Moskauer Zeitschrift bitte, dann mögen wir uns gelegentlich einmal
Das Wort hatte nicht nur mit einer Polemik über die Terminologie weiterstreiten. Nicht
gegen die dekadent-formalistische Kunst der jedoch über den Inhalt und künstlerischen
454 Herr Puntila und sein Knecht Matti

Wert dieser echt volkstümlichen dramatischen Théâtre National Populaire durch George Wil-
Unterhaltung.« (Erpenbeck, S. 179) son, der auch den Puntila spielte. Es war der
Inzwischen ist das Volksstück in mehr als 30 größte Erfolg des B.-Theaters seit dem legen-
Sprachen übersetzt und in die entferntesten dären Courage-Gastspiel von 1954. Auch die
Gegenden der Welt gedrungen. 1955 wurde es bürgerliche Kritik vermittelte den Eindruck,
von Alberto Cavalcanti mit Hanns Eislers Mu- dass Komik und Sozialkritik in ihrem Zusam-
sik verfilmt, halb Salonkomödie, halb Bauern- menhang vollkommen begriffen wurden. Ver-
theater mit »pappener Pseudoromantik« gleiche griffen überzeugend zurück auf die
(Gersch, S. 296; das Drehbuch liegt im Nach- klassische Komödie der französischen Aufklä-
lass B.s; BBA 992 und 993). B. war mit dem rung, auf die Hochzeit des Figaro von Beau-
Film so unzufrieden, dass er als Drehbuch- marchais, aber auch auf Molière (vgl. Neu-
autor nicht mitgenannt werden wollte. Eine reuter 1987a, S. 222–229). Ein zweiter Glücks-
neue Verfilmung in schwedischer Sprache fall muss die Kölner Inszenierung von 1966
durch den finnischen Brecht-Regisseur Ralf durch Palitzsch und Wilfried Minks gewesen
Långbacka (1979) wurde außerhalb Skandina- sein, deren künstlerischer Rang und sensibler
viens nicht gezeigt. Noch kurz vor seinem Tod Umgang mit B.s Modell aus Ernst Wendts Be-
projektierte B., das Stück mit Paul Dessau in schreibung hervorgeht (Wendt, S. 232–235).
eine Oper umzuwandeln. 1957 realisierte Des- Eine Krise des B.-Theaters war in der jün-
sau das Projekt und schrieb seine Puntila- geren Kritik schon lange vor 1989 spürbar.
Oper nach einem Libretto der B.-Schüler Peter Nach 1989 stellte sie sich in neuer Form. »Die
Palitzsch und Manfred Wekwerth (vgl. Luc- Geschichte«, schrieb Ernst Schumacher, »ge-
chesi/Shull, S. 764). bar ein Kunstparadox: Mit der Rückverwand-
Seine eigenen drei Inszenierungen von Zü- lung des Kommunismus in ein Gespenst in
rich (1948) und Berlin (1949 und 1952) wertete Europa [Anspielung auf den ersten Satz des
B. anhand von Kritiken und Publikumsreak- Kommunistischen Manifests, 1848] ist Brecht
tionen dahingehend aus, dass er bereits in sei- als politischer Prophet des Sozialismus wider-
ner zweiten Inszenierung die Sympathie für legt« (Schumacher). Das Interesse an seinen
das vital-charmante Urviech Puntila zu dämp- Stücken sei aber dennoch nicht erloschen.
fen versuchte. Mit hässlichen Masken näherte Schumacher musterte ein Spektrum von drei
er den Puntila und die weiteren Honoratioren sehr verschiedenen Puntila-Inszenierungen in
des Stücks der Groteske an, als ob sie wirklich der Spielzeit 1995/96, das repräsentativ er-
»ausschauten wie Bären und Kreuzottern« schien, und zwar unter der Frage, wie das
(GBA 6, S. 340). Auch die Besetzung der Pun- Stück heute zu spielen sei: »Den einfachsten
tila-Rolle durch den schmächtigen Curt Bois in Weg ging der frühere BE-Intendant Manfred
der zweiten Berliner Inszenierung sollte ver- Wekwerth, als er am ›neuen theater halle‹ das
fremdend wirken und der Figur ihre ›natür- Stück herausbrachte« (ebd.) und einfach auf
liche‹ Vitalität nehmen. Im Band Theaterar- B.s Modell von 1952 zurückgriff. Die Kopie sei
beit stellte B. zudem einen Aufführungsstil vor, in allen Gesten authentisch, darum aber auch
der das Publikum nicht mitreißen, wohl aber bloß nostalgisch und weder politisch noch äs-
zur Parteilichkeit anhalten sollte. Das Gelin- thetisch mit der Gegenwart verbunden. Wenn
gen von Puntila-Inszenierungen außerhalb das Urteil stimmt, dann hätte die äußerste B.-
des Berliner Ensembles hing weitgehend da- Treue einen Effekt erzielt, der B.s ursprüng-
von ab, ob Regie und Publikum bereit waren, licher Wirkungsabsicht direkt zuwiderläuft:
sich wirklich auf die plebejische Perspektive »Das Publikum amüsiert sich wie im Komö-
von unten einzulassen, oder ob B.s Modell nur dienstadel« (ebd.). Die Inszenierung von
nach seinen äußeren Merkmalen kopiert Frank Castorf am Deutschen Schauspielhaus
wurde. Hamburg, die einen zweiten Weg ging, habe
Ein besonderer Glücksfall war offensicht- dagegen von vornherein B.s Modell zerstört
lich die Inszenierung von 1964 im Pariser und auch den Klassenantagonismus zwischen
Rezeption 455

Puntila und Matti unscharf gelassen. Dafür B.-Jahr 1998 den Puntila in den Münchner
knüpfte diese Inszenierung »ganz bewußt an Kammerspielen inszenierte. Wenn die um So-
Brechts Ableitung des modernen Volksstücks lidität bemühte Regie B.s Komödie nur sacht
aus der literarisch-musikalischen Revue der in die Harmlosigkeit des Bauerntheaters steu-
Zwischenkriegszeit an. Durch Verbindung von erte, so mag das fast wie ein Lob klingen.
Rock- und Popmusik mit Anklängen politi-
scher Kampfmusik verwandelt er das Volks-
stück in ein halbes Musical.« (Ebd.) Im Rah- Literatur:
men dieser künstlerischen Idee sei Platz für
Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur (= Ge-
andere Gegenwartsthemen wie den Ge-
sammelte Werke. Bd. 2). Frankfurt a. M. 1974. –
schlechterkampf. Die extremste Inszenierung Ammondt, Jukka: Brecht und die Marlebäcker Ge-
gegen Text und Modell sei diejenige von Einar schichten. Hella Wuolijokis zentrales Erzählmaterial
Schleef am Berliner Ensemble gewesen. Ihre im Hinblick auf die Zusammenarbeit von Brecht und
zu radikale Verfremdung ließ noch stärker als Hella Wuolijoki am »Puntila«. In: WB. 31 (1985), H.
die beiden anderen Inszenierungen »die ge- 2, S. 202–221. – Berckman, Edward M.: Komödie
und Komödienparodie in Brechts Puntila. In: Neu-
sellschaftskritischen Potenzen verrauschen«
reuter 1987a, S. 284–288. – Theaterarbeit. 6 Auffüh-
(ebd.). rungen des Berliner Ensembles. Hg. v. Berliner En-
Es sind jedoch andere Kritiken heranziehen, semble. Dresden 1952. – Bohnen, Klaus: Naivität bei
um auch die Provokationspotenzen dieser Brecht? Aus Anlaß der Kopenhagener Erstauffüh-
»Bühnenchaosshow« (Friedrich) in den Blick rung von »Herr Puntila und sein Knecht Matti«. In:
zu bekommen: Eine fünfstündige Choreogra- BrechtJb. (1980), S. 189–200. – Bondy, François:
[Rezension]. In: Neureuter 1987a, S. 149–151. –
phie, die »Brechts Stück bis zur Unkenntlich-
Crockett, Roger A.: Nestroy and Brecht. Aspects of
keit zerfledderte, dekonstruierte« (Sucher), Modern German Folk Comedy. Urbana/Illinois 1979
»in einer Art chorischer Sprechoper montiert«, [Masch.]. – Dermutz, Klaus: Paramilitärische
»ein absonderliches Weihespiel, in dem die Grundausbildung. In: Frankfurter Rundschau, 20. 2.
Grenze zwischen Genie und Wahnsinn nicht 1996. – Deschner, Margarete N.: Hella Wuolijokis
existiert« (Dermutz). Die Matti-Rolle war kol- Punttila-Geschichte. Ein vorbrechtsches Dokument.
In: BrechtJb. (1978), S. 87–95. – Erpenbeck, Fritz:
lektiviert, wurde von einem knappen Dutzend
[Rezension]. In: Neureuter 1987a, S. 179 f. – Fried-
Männer gespielt, die sich nackt auf Eva stürzen rich, Detlef: Die Bühnenchaosshow der nackten Lei-
und sie vergewaltigen. In Militärmänteln ber. In: Berliner Zeitung, 19. 2. 1996. – Giese, Peter
rannten sie minutenlang im Laufschritt, die Christian: Das »Gesellschaftlich-Komische«. Zu Ko-
»Frauen schlagen in roten Taft-Kleidern Räder mik und Komödie am Beispiel der Stücke und Bear-
und stürmen zwischendurch in geschlossener beitungen Brechts. Stuttgart 1974. – Hegel, Georg
Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (=
Formation an die Rampe«, und die Sauna-
Werke. Bd. 3). Frankfurt a. M. 1986. – Hein, Manfred
Szene wurde zu einer »Massen-Orgie« im Stil Peter: Leben und Werk der Hella Wuolijoki. In: Tra-
eines »Softporno-Films« (ebd.). Keiner der jekt 3 (1983), S. 162–186. – Hermand, Jost: Herr
Kritiker war imstande, eine Intentionalität der Puntila und sein Knecht Matti. In: Brecht heute 1
Veranstaltung zu vermitteln, es sei denn die (1971), S. 117–136. – Holthusen, Hans Egon: Kri-
einer egomanen Selbstinszenierung des tisches Verstehen. Neue Aufsätze zur Literatur. Mün-
chen 1967. – Klotz, Volker: Bertolt Brecht. Versuch
Regisseurs, der zugleich die Puntila-Rolle
über das Werk. Darmstadt 1957. – Lommer, Horst:
agierte. [Rezension]. In: Neureuter 1987a, S. 182 f. – Lüthy,
Es scheint, als sei hiermit eine Entwicklung Herbert: Nach dem Untergang des Abendlandes. 2.
an einem End- und Wendepunkt angelangt, wo Aufl. Köln 1965. – Lucchesi/Shull. – Martini,
nicht allein das B.-Theater zur Disposition Fritz: Herr Puntila und sein Knecht Matti. Das Volks-
steht, sondern das Bühnenspiel an sich in an- stück als komisches Spiel. In: Ders.: Lustspiele –
und das Lustspiel. Stuttgart 1974, S. 236–256. –
dere Formen spektakulärer Schaustellung
Mayer, Hans: Herrschaft und Knechtschaft. Hegels
übergeht. Nur am Rand sei noch erwähnt, dass Deutung, ihre literarischen Ursprünge und Folgen.
einer der Schöpfer des ›kritischen Volks- In: Neureuter 1987a, S. 265–278. – Mews, Siegfried:
stücks‹ der 70er-Jahre, Franz Xaver Kroetz, im Bertolt Brecht: Herr Puntila und sein Knecht Matti.
456 Herr Puntila und sein Knecht Matti

Frankfurt a. M. [u. a.] 1975. – Ders.: Biblical Themes Übersetzung« (Journale, 25. 9. 1940; GBA 26,
and Motifs in Brecht’s Herr Puntila und sein Knecht S. 429). Dieses einzige Zeugnis zur Entste-
Matti. In: The University of Dayton Review 13
hungsgeschichte bezeichnet das Nahziel: das
(1979), H. 3, S. 53–63. – Neureuter, Hans Peter: Vom
Konversationsstück zum Volksstück. Aus der Entste- Stück für die finnische Bühne zu bearbeiten.
hungsgeschichte des ›Puntila‹. In: Trajekt 2 (1982), Die fast hundert Seiten Text in B.s Nachlass
S. 9. – Ders. (Hg.): Brechts »Herr Puntila und sein deuten indessen erstens auf die starke Beteili-
Knecht Matti«. Frankfurt a. M. 1987a. – Ders.: gung Margarete Steffins und Wuolijokis, zwei-
Brecht in Finnland. Studien zu Leben und Werk tens darauf, dass B. sich tiefer in die Arbeit
1940–1941. Regensburg 1987b [Masch.]. – Poser,
hineinziehen ließ, als es die Formulierungen
Hans: Brechts ›Herr Puntila und sein Knecht Matti‹.
Dialektik zwischen Volksstück und Lehrstück. In: des Journals suggerieren. Aber anders als
Hein, Jürgen (Hg.): Theater und Gesellschaft. Das beim Puntila, Musterfall einer Enteignung,
Volksstück im 19. und 20. Jahrhundert. Düsseldorf blieb es hier bei der Absicht einer Bearbeitung,
1973, S. 187–200. – Rischbieter, Henning: Bertolt die als vorläufig beendet gelten durfte, sobald
Brecht. Bd. 2. 2. Aufl. 1968. – Schumacher, Ernst: Wuolijoki eine Grundlage für ihre Version
Wer kennt den wahren Puntila? In: Berliner Zeitung,
hatte. In der Tat existiert in ihrem Nachlass ein
28. 2. 1996. – Semrau, Richard: Die Komik des Pun-
tila. Berlin 1981. – Sokel, Walter H.: Brecht’s Split vollständiger finnischer Text, dessen Titel in
Characters and his Sense of the Tragic. In: Demetz, deutscher Übersetzung lautet: »Okichi. Die ja-
Peter (Hg.): Brecht. A Collection of Essays. Eng- panische Judith. Ein Schauspiel von Yama-
lewood Cliffs 1962, S. 127–137. – Speidel, Erich: moto Yuzo. Westliche Bearbeitung mit Vor-
Brechts Puntila: eine marxistische Komödie. In: spielen von Hella Wuolijoki und Bertolt
Neureuter 1987a, S. 258–264. – Sucher, C. Bernd:
Brecht. Die Bearbeitung wurde gleichzeitig in
Einar gegen Matti-Horden. In: Süddeutsche Zeitung
(München), 19. 2. 1996. – Valle, Outi: Das Herr- finnischer und deutscher Sprache ausgeführt.«
Knecht-Verhältnis in Brechts »Herr Puntila und sein B.s Arbeit dürfte zur Hauptsache in die Woche
Knecht Matti« als theatrales und soziales Problem. zwischen dem Abschluss des Puntila und dem
Unter besonderer Berücksichtigung der Stückvor- Beginn der Arbeit an den Flüchtlingsgesprä-
lage von Hella Wuolijoki. Berlin 1977 [Masch.]. – chen am 1. 10. 1940 fallen.
Vielhaber, Gerd: Wer-wen? In: Frankfurter Allge-
Der japanische Ausgangstext Nyonin Aishi,
meine Zeitung, 16. 5. 1966. – Völker, Klaus: Herr
Puntila und sein Knecht Matti. In: Ders.: Bertolt Tôjin Okichi Monogatari wurde von Yama-
Brecht. Eine Biographie. München 1976, S. 303–312. moto Yûzô 1929 geschrieben und 1930 erst-
– Wendt, Ernst: Brechts Puntila in Köln: In: Neu- mals in der Zeitschrift Fujokai publiziert. Die
reuter 1987a, S. 232–238. – Wuolijoki, Hella: Und von B. benutzte, um Wörtlichkeit bemühte
ich war nicht Gefangene. Memoiren und Skizzen. Übersetzung The Sad Tale of a Woman, the
Hg. v. Richard Semrau. Aus dem Finnischen über-
Story of Chink Okichi erschien 1935 in dem
tragen v. Regine Pirschel. Rostock 1987.
Band Three Plays.
Hans Peter Neureuter Yamamotos Stück greift einen historischen
Fall aus der Zeit der beginnenden Öffnung
Japans auf. Als erster amerikanischer Konsul
kam 1856 Townsend Harris nach Shimoda. Die
strengen Gesetze der über 200-jährigen Isola-
Die Judith von Shimoda tionsperiode, die den Umgang mit Ausländern
verboten, machten sein Leben schwierig; be-
sonders litt er darunter, dass er keine ein-
Unmittelbar nach Fertigstellung des Puntila heimische Dienerschaft bekommen konnte.
erhielt B. von seiner Gastgeberin, der finni- Als auch die Verhandlungen über den ge-
schen Schriftstellerin Hella Wuolijoki »›Chink wünschten Handelsvertrag stagnierten, drohte
Okichi‹ von Yamamoto Yuzo, ein gutes Stück, Harris mit der Beschießung der Stadt.
für das sie die Rechte hat. Ich entwerfe schnell Hier setzt die Handlung des Stücks ein. Die
eine Rahmenhandlung und gewisse Markie- Geisha Okichi erklärt sich nach langem Sträu-
rungen anhand der englischen (schlechten) ben bereit, den Konsul zu besänftigen und in
Quelle 457

seinem Haus zu dienen, um die Vaterstadt zu Akimura lädt zwei westliche Intellektuelle und
retten, aber sie weiß, dass die Gesellschaft, die einen kritischen einheimischen Schriftsteller
dieses Opfer braucht, noch nicht bereit ist, es in sein Palais ein, um mit Hilfe einer privaten
zu verzeihen. Die gesellschaftliche Ächtung Theateraufführung ihr Vorurteil zu widerle-
und der Verlust ihrer Selbstachtung vergiften gen, dass »der Patriotismus in meinem Lande
ihr weiteres Leben. Nach einigen scheinbar nur eine Angelegenheit der oberen Schichten
glücklichen Jahren der Normalität in der Ehe ist« (GBA 10, S. 859). Er präsentiert den Oki-
mit Tsurumatsu wird Okichi wieder Geisha, chi-Mythos als Beweis für die Vitalität und
verfällt mehr und mehr dem Alkohol und lebt Volkstümlichkeit des japanischen Nationalis-
zuletzt nur noch, um ihre Zerstörung bewusst mus und missbraucht dafür Yamamotos Stück:
auszustellen als Exempel dafür, wie man im denn mit dem 5. Bild, der Entlassung Okichis
Lande die Frauen behandle (Yamamoto, aus dem »Kriegsdienst« (S. 833, S. 861) beim
S. 232). Konsul und dessen Reise zum Shogun, erklärt
Beide Bearbeiter zeigten ein lebhaftes, aber er die Demonstration für beendet (S. 871).
fast gegenläufiges Interesse an dem Stück. Erst auf Drängen der Zuschauer lässt er wider-
Wuolijoki reizte offensichtlich die Exposition strebend Szene für Szene bis zum Ende spie-
der weiblichen Psyche mit ihren melodramati- len. Die ironischen Kommentare der Zu-
schen Effekten und vor allem der feministi- schauer begleiten die Vorführung und über-
sche Grundzug, den ihr finnischer Text durch- holen dabei Akimuras Patriotismus-These
weg verstärkt. Dafür meinte sie, wie B. am durch eine ganz neue Fragestellung. Die Rein-
25. 9. 1940 im Journal notierte, dass das Stück heit des Tatmotivs wird gar nicht bezweifelt –
»zu episch ist und die zweite Hälfte daher ab- es ist, wie bei der stummen Kattrin aus der
fällt« (GBA 26, S. 430). Genau hier aber setzte Mutter Courage, das selbstlose Mitleid mit der
B.s Interesse an. Alle seine Kommentare he- bedrohten Stadt. Zur Frage stehen vielmehr
ben eben dieses Epische staunend, rühmend die Folgen der Heldentat. Zwar wird die Hel-
und rechtfertigend hervor: Dass die Handlung din nach ihrer Tat entlohnt, aber der dauernde
»einen Zeitraum von 20 Jahren« (GBA 10, Gewinn sammelt sich bei ihren »Zutreibern«
S. 834) umfasst und dabei das »Hauptaugen- (S. 875): »Der Patriotismus ist kein Geschäft –
merk dem Leben seiner Heldin nach der Hel- für die Patrioten. Er ist ein Geschäft für andere
dentat« gilt (S. 835), das sei, »als ob ich selber Leute.« (S. 870) Ähnlich verhält es sich mit
einen ›Wilhelm Tell‹ schriebe und den Tell dem ideellen Gewinn. Dass Okichis Ruhm
noch 20 Jahre nach dem Geßlermord weiter- »von Jahr zu Jahr« steigt, dass sie zur »legen-
leben ließe« (GBA 26, S. 430). dären Person« wird (S. 876), gilt nur für das
Dass Yamamoto sich mit der biographischen mythische Phantom. Die konkrete Person ver-
Struktur seines Stücks bewusst gegen einen kommt im Elend und »ist einfach eine Säuferin
Strom nationaler Heldenverehrung stemmte, in diesen letzten Stadien, nicht mehr« (ebd.).
konnte B. dem Vorwort des Übersetzers Glenn Diesen Kontrast zwischen Balladengestalt und
W. Shaw entnehmen: die Heldentat der Okichi lebender Okichi hat B. in der von ihm hinzuge-
sei der vielleicht populärste historische Stoff dichteten Szene 10 pointiert.
des heutigen Japan, eine nationale Legende, Für den »kleinen Helden« (GBA 10, S. 873),
die eine Fülle literarischer Gestaltungen ge- eine bei B. keineswegs neue Gestalt – erinnert
zeitigt und der Stadt Shimoda zahlreiche Tou- sei etwa an den Soldaten Fewkoombey im
ristenattraktionen beschert habe (Yamamoto, Dreigroschenroman oder die beiden Söhne der
S. VIf.). Mutter Courage –, ist es schlimm, seine Hel-
Diese ›nationale Legende‹, die zum Ver- dentat zu überleben. Als leibhafter Gegenbe-
ständnis der Antilegende Yamamotos nötig ist, weis gegen seinen Mythos wird er lästig, und
vermittelt B. seinem Publikum durch Rahmen- die Gesellschaft ›verbrennt‹ ihn.
gespräche, die 80 Jahre später im Japan der Auf die schon bei Yamamoto vorgebildete
Gegenwart stattfinden. Der Zeitungskönig Verbrennungssymbolik gehen die Figuren von
458 Die Judith von Shimoda

B.s Rahmenspiel mit der Jeanne-d’Arc-Asso- 876) gedruckte Fassung ist die zweifelsfrei
ziation ein; man könne Okichi »als eine Art letzte, gültige und einzig vollständige, und
Heiliger Johanna auffassen, da sie gewisser- diese Zwischenspiele sind tatsächlich zwi-
maßen verbrannt wird. Und zwar von ihren schen den einzelnen Szenen von B1 und B 2
eigenen Mitbürgern.« (GBA 10, S. 860) Eine (S. 836–859) zu lesen. In B.s Nachlass fand
solche Verbrennung, verbunden mit dem ek- sich mit dem Text zu den Szenen 1–4 und 10
latanten Missbrauch des Johanna-Mythos, nur knapp die Hälfte des geplanten Stücks. Die
hatte B. im Schlussbild der Heiligen Johanna Umfangsberechnung auf dem Szenenplan A 2
der Schlachthöfe vorgeführt. In den Gesichten (in: GBA 10, S. 1232 nur erwähnt) lässt jedoch
der Simone Machard erscheint die Johanna- darauf schließen, dass für die Szenen 6–9 und
Gestalt nochmals als Symbol für einen Patrio- 11 – also jene ›epischen‹ Partien, die B. am
tismus, der ausschließlich Sache der Niederen meisten bewunderte – eine konservierende
ist – ganz wie in den Tagen der Kommune. Übersetzung der englischen Vorlage vorgese-
Von den Parallelgestalten, die B. mit der hen war. So verfuhr auch Wuolijoki in ihrem
japanischen Okichi assoziiert, Wilhelm Tell, finnischen Text. Die Übersetzung ins Deutsche
Jeanne d’Arc und jene Judith, die das Volk war aber nicht B.s Sache, sondern zweifellos
Israel vor dem Holofernes rettete, hat die auf Margarete Steffin zugedacht. Für das Fehlen
den ersten Blick am wenigsten passende der der wichtigen Szene 5 liefern diese Annahmen
Bearbeitung den Titel gegeben. Verständlich indes keine Erklärung. B. rechnete sie zu den
wird der Vergleich erst, wenn man ihm nicht Bearbeitungspassagen und wollte besonders
das Buch Judith der biblischen Apokryphen den »Staatsakt« (S. 833) – die Reise des Kon-
zugrundelegt, sondern dessen Umformung in suls zum Shogun, die der englische Übersetzer
B.s erstem Stück Die Bibel (GBA 1, S. 9-15), im Vorwort erwähnt – einkomponieren, um
das den alttestamentarischen »Aktionismus« diesen Erfolg von Okichis Mission mit ihrer
der Judith in eine säkulare »Passionsge- »Schande« zu kontrastieren. Einen Text zu die-
schichte« umdeutet (Rohse, S. 316 u. ö.). Hier sem Konzept gibt es nur in Wuolijokis finni-
geht es nur noch um das nackte Überleben und scher Version, vermutlich nach einer verloren
seinen Preis, das Opfer der Jungfräulichkeit. gegangenen Vorlage B. s.
Die Judith wie auch die Johanna-Gestalt Diese Thesen geben Anlass zu einer Diffe-
sind um 1940 Résistance-Motive, mit denen B. renzierung des Fragmentbegriffs. B. hat offen-
auf die deutsche Eroberung Europas reagiert. bar seinen Teil der gemeinsamen Arbeit gelie-
Das bestätigen außer der Simone Machard der fert. Nicht Bruchstücke hinterließ er, sondern
Filmplan von 1937 zu einer Judith von Saint Bauteile, die sich unschwer zu einem lücken-
Denis im ersten Weltkrieg, deren Tragik sich los erzählenden, lesbaren und spielbaren Text
wie im japanischen Stück beim »Wiederanbre- zusammensetzen ließen. Die zerstückte Edi-
chen des Alltags« einstellt (GBA 19, S. 396), tion in der GBA macht allerdings die Bearbei-
sowie die Notiz zur Geschichte eines norwegi- tung endgültig zum ›Fragment‹. Als solches ist
schen Mädchens, »das (für das Freie Norge) sie sichtlich auch am 10. 12. 1997 vom Berliner
mit deutschen Offizieren geht« (BBA 235/55). Ensemble (in Koproduktion mit anderen
Hinter dem amerikanischen Imperialismus Theatern) uraufgeführt worden (Regie: Jörg
von 1856 in der Judith von Shimoda steht also Aufenanger und Judith Kuckart). Durch pro-
der aktuelle deutsche als der eigentlich ge- vokant-anachronistische Zusätze und viel
meinte. Choreographie und Tanz nach der Musik von
B. hat Yamamotos vier Akte aufgelöst in eine Hans Werner Henze und Maurizio Rizzuto
Folge von erst neun und zuletzt elf Bildern. wurde das schmale Textfundament der GBA
Diese Zahl ergibt sich sowohl aus dem Szenen- zum abendfüllenden Event gedehnt. Die Kritik
plan A 2 (GBA 10, S. 833 f.) als auch aus den überbot sich in Sarkasmus, am einlässlichsten
zehn Zwischenspielen. Deren mit Vor- und im Tagesspiegel: »expressionistische Huren-
Nachspiel unter B 3 (S. 859 f.) und B 6 (S. 868– oper«, »Sammelsurium aus verbrauchten Po-
Fragmentbegriff 459

sen, ornamentaler Gestik und matten Witzen«


(Anonymus).
Der Aufstieg des Arturo Ui
Da der Text vor der Erstveröffentlichung in
der GBA 1997 kaum bekannt war, gibt es noch
keine Diskussion über das Stück. Sofern es Entstehung und Textgeschichte
überhaupt die Aufmerksamkeit der Wissen-
schaft fand, ist die Abwertung das Typische
(vgl. Tatlow, S. 476). B.s Hochschätzung von Das Stück, das zunächst den Titel Der auf-
Yamamotos Schauspiel und die Intelligenz sei- haltsame Aufstieg des Arturo Ui hatte, ent-
ner Eingriffe ist erst noch nachvollziehbar zu stand zu einem Zeitpunkt, als die Ausdehnung
machen. des Nazireichs unaufhaltsam erschien und den
Exilanten B. unmittelbar bedrohte. Im April
1940 fielen Hitlers Truppen in Dänemark und
Literatur:
Norwegen ein. B. verließ seinen schwedischen
[Anonymus]: [Rezension]. In: Tagesspiegel (Berlin), Zufluchtsort und begab sich auf die letzte Sta-
22. 12. 1997. – Brecht, Bertolt: Die Judith von Shi- tion seines europäischen Exils, nach Finnland.
moda. In: Neureuter, S. 39–115. – Lee, Sang-Kyon:
Wenige Wochen später, am 10. 5. 1940, startete
Auswirkungen des japanischen Nô auf das Lehrthea-
ter Bertolt Brechts. In: Archiv für das Studium der Hitler seinen Westfeldzug, der mit der Be-
neueren Sprachen und Literaturen 131 (1979), setzung Frankreichs, Belgiens, Hollands und
S. 246–279. – Marumoto, Takashi: Von der Tragödie Luxemburgs endete. Wie eine Reihe von Ein-
einer Frau. Die Geschichte der Ausländerin Okichi zu tragungen im Journal zeigt, war das Tempo
Die Judith von Shimoda. In: Forschungsbericht der des deutschen Vormarschs für B. ein Faszino-
Universität Ibaraki 1982, S. 21–49 (in japanischer
sum: »Das Tempo wird zu einer neuen Qualität
Sprache). – Neureuter, Hans Peter: Brecht in Finn-
land. Studien zu Leben und Werk 1940–1941. der Kriegshandlungen. Der deutsche Blitz-
Masch. Habilschrift Regensburg 1987 (Edition im krieg wirft alle Berechnungen über den Hau-
Anhang, S. 39–115). – Rohse, Eberhard: Der frühe fen […]«, heißt es unter dem Datum des 8. 6.
Brecht und die Bibel. Studien zum Augsburger Reli- 1940 (GBA 26, S. 377). Zwischen Fotos, die
gionsunterricht und zu den literarischen Versuchen deutsche Truppen in Paris und einen ausge-
des Gymnasiasten. Göttingen 1983. – Seliger, Hel-
lassenen Hitler im Kreis seiner Generäle zei-
fried W.: Das Amerikabild Bertolt Brechts. Bonn
1974. – Tatlow, Antony: The Mask of Evil. Brecht’s gen, findet sich am 14. 6. 1940 die resignierte
Response to the Poetry, Theatre and Thought of Eintragung des Emigranten: »Es wird viel-
China and Japan. A Comparative and Critical Eva- leicht in späteren Zeiten schwierig sein, die
luation. Bern, Frankfurt a. M., Las Vegas 1977. – Ohnmacht der Völker in diesen unseren Krie-
Yamamoto Yuzo: Three Plays. Translated from the gen zu begreifen.« (S. 378) In dieser Situation
Japanese by Glenn W. Shaw. Tokyo 1935.
konnte auch Finnland dem Emigranten keinen
Hans Peter Neureuter sicheren Schutz mehr bieten. Die Rasanz die-
ser Entwicklung schlägt sich nicht nur im In-
halt des Ui nieder, sie beeinflusste auch das
Tempo, mit dem B. sein Stück niederschrieb.
Wenn auch nicht in der bei B. üblichen Form
von Notizen, Entwürfen und Stückplänen fi-
xiert, sind Überlegungen zu einer satirischen
Behandlung des Hitler-Stoffs schon in den
dreißiger Jahren nachweisbar. Ein bei Walter
Benjamin in seinen Svendborger Notizen über
Gespräche mit Brecht erwähnter Ui-Plan –
»eine Satire auf Hitler im Stile der Historio-
graphen der Renaissance« (Benjamin, S. 125)
– findet seinen Niederschlag in der Erzählung
460 Der Aufstieg des Arturo Ui

Wenige wissen heute, die fragmentarisch blieb. Vermutlich weil B. den Ui zu seinen Lebzei-
In einem Brief an Hans Tombrock von 1940/41 ten weder zur Aufführung brachte noch eine
tauchen Motive auf, die später im Ui Verwen- für den Druck autorisierte Fassung erarbeitete
dung finden, etwa der Reichstagsbrand (GBA – beides üblicherweise Anlässe für grundle-
29, S. 195 f.). Dieser spielt auch in einer unda- gende Textrevisionen –, halten sich die Ände-
tierten Notiz eine zentrale Rolle: »Das Gang- rungen an der Textgestalt gegenüber der er-
sterstück / der reichstagsbrand. der gangster sten Niederschrift in Grenzen. In diese hatte
organisiert ein verbrechen, um die widerstre- B. Zeitungfotos eingeklebt, die in erster Linie
bende polizei in die hand zu bekommen. er Nazi-Größen, meist Hitler selbst, in für sie
leiht dann seine leute als hilfspolizei. der 30. typischen Posen, den mutmaßlichen Reichs-
juni« (BBA 351/33; in: Gerz 1983a, S. 117). tagsbrandstifter van der Lubbe im Verhör so-
Der Aufstieg des Arturo Ui wurde, in der wie eine repräsentative Gangsterbestattung
Hoffnung auf eine amerikanische Aufführung, zeigen (alle Aufnahmen in: Gerz 1983a, S. 8–
im März 1941 innerhalb von drei Wochen in 110). Die vier weiteren im BBA vorhandenen
einer Fassung niedergeschrieben, die zwar vollständigen Typoskripte weisen Variationen
später noch einige signifikante Änderungen in hinsichtlich der Stellung der Szene 9a auf (Ci-
einigen Details, jedoch keine grundlegende cero. Aus einem zerschossenen Lastkraftwagen
Überarbeitung mehr erfuhr. In einer Journal- klettert eine blutüberströmte Frau und taumelt
Eintragung vom 10. 3. 1941 äußerte sich B. nach vorn; GBA 7, S. 71). Ein neuer Prolog,
über frühere Planungen, »nämlich ein Gang- den B. in einer Fassung Mitte der 50er-Jahre
sterstück zu schreiben, das gewisse Vorgänge, dem Stück voranstellt (S. 9), zielt, wie auch
die wir alle kennen, in die Erinnerung ruft. der Epilog, stärker auf das Publikum der Nach-
(The gangsterplay we know.)« (GBA 26, kriegszeit. Dies gilt auch für Varianten der
S. 468) Der nächste Eintrag im Journal vom Projektionstexte. Der veränderte Titel Der
28. 3. 1941 berichtet von der bevorstehenden Aufstieg des Arturo Ui findet sich erst in den
Fertigstellung des Stücks (S. 469). Am Ende beiden letzten Stückfassungen aus den 50er-
des Ui-Typoskripts notierte B.: »Helsingfors Jahren. Eine Abschrift aus dem Jahr 1941 trägt
29.3.41 Mitarbeiterin: Steffin« (GBA 7, den Titel Arturo Ui (Dramatisches Gedicht)
S. 354). Bis Mitte April beschäftigte sich B. von K. Keuner (zu den Details der Textge-
nach kritischen Anmerkungen von Margarete schichte s. den Kommentar zum Ui in: GBA 7,
Steffin damit, die Jamben »zu glätten«, die er – S. 363–368, sowie Gerz 1983a, S. 261–264).
in Erwartung einer englischen Übersetzung – Erst im September 1948, inzwischen in der
»sehr schlampig« behandelt hatte (GBA 26, Schweiz, dachte B. über eine Publikation des
S. 470). Ui in der Versuche-Reihe nach, die 1949 mit
B. traf am 21. 7. 1941 in den USA ein. Ruth Heft 9 weitergeführt wurde (Brief an Peter
Berlau berichtet in ihren Erinnerungen, dass Suhrkamp, September 1948; GBA 29,
B. hoffte, »mit diesem Stück in Amerika bald S. 470 f.). Eine Publikation im Jahr 1953 wurde
zu Geld zu kommen« (Bunge, S. 131). Zwar aufgrund politischer Bedenken zurückgestellt.
besorgte der amerikanische Schriftsteller Noch 1956 weigerte sich B., »dieses Stück für
Hoffmann Reynolds Hays eine Übersetzung eine Aufführung zur Diskussion zu stellen.
(The Rise of Arturo Ui), Kontakte mit dem Hauptsächlich fürchtete er die mangelnde hi-
emigrierten deutschen Regisseur Erwin Pisca- storische Reife des deutschen Publikums«
tor führten aber ebenso wenig weiter (Brief (Wekwerth, S. 141). Unter dem Titel der er-
vom September 1941; GBA 29, S. 231 f.) wie sten Fassung, Der aufhaltsame Aufstieg des
eine Anfrage bei dem Regisseur Berthold Vier- Arturo Ui, wurde das Stück ein Jahr nach B.s
tel (Brief vom Herbst 1941; GBA 29, S. 219 f.). Tod in der Zeitschrift Sinn und Form (Zweites
Im Herbst 1941 stellte B. weitere Versuche, Sonderheft Bertolt Brecht, Berlin 1957, S. 7–
eine Aufführung zustande zu bringen, endgül- 99) und im Band IX der Stücke publiziert.
tig ein: »niemand in Amerika interessierte sich
für das Stück« (Bunge, S. 131).
461

Historische und literarische durch Louis Adamics Buch Dynamite. The


Story of Class Violence in America (New York
Quellen 1931) kennen gelernt. Das amerikanische Ban-
denwesen hatte sich in den 20er-Jahren, be-
Den dominanten historischen Anspielungs- dingt durch die Prohibition (1919–1933), mit-
rahmen des Ui bildet die deutsche Geschichte, tels illegal erzeugtem und geschmuggeltem
einsetzend mit der Weltwirtschaftskrise Alkohol zu einem lukrativen Geschäftszweig
1929–1932 und endend mit der Besetzung entwickelt. Bandenkriege um ›Marktanteile‹
Österreichs 1938 in der ersten Fassung bzw. forderten hunderte von Opfern. Im Laufe der
dem militärischen Höhepunkt der Nazi-Herr- 30er-Jahre verstärkten sich die Bemühungen
schaft im Jahr 1941 in der vierten Fassung (vgl. des organisierten Verbrechens, die Verwaltung
die Projektionstexte in: Brecht, S. 127 f.; mit und die Politik zu durchdringen und sich durch
denen der Fassung in: GBA 7). Die personellen Korruption und Wahlbeeinflussung den Rük-
Querverbindungen zwischen den Personen der ken für seine Geschäfte frei zu halten. Helfried
»Gangsterhistorie« (GBA 26, S. 469) und ihren W. Seliger hat darauf hingewiesen, dass der
historischen Vorbildern stellte B. in einer No- Aufstieg des Ui bis in Details der Karriere des
tiz ausdrücklich her, in der er Parallelen zwi- Chicagoer Gangsters Al Capone nachgebildet
schen Dogsborough und Hindenburg (etc.) no- ist (Seliger, S. 203–218). In der Tat finden sich
tierte (vgl. GBA 7, S. 360). zwischen den Biografien Hitlers und Capones
Als Quelle für die detaillierte Kenntnis ein- auffällige Parallelen, wie die ungeklärte Her-
zelner Ereignisse dienten vermutlich Exilpu- kunft, das Einüben gesellschaftlich akzeptier-
blikationen. So entstammen die Informatio- ter Verhaltensweisen, das bevorzugte Abstei-
nen über den Osthilfeskandal mutmaßlich gen in Hotels. Vermutlich war B. die Capone-
dem Braunbuch über Reichstagsbrand und Biografie von Fred D. Pasley bekannt. Doch
Hitler-Terror (Basel 1933). An der Vorberei- handelt es sich insgesamt, wie Dieter Thiele
tung zum Braunbuch II. Dimitroff contra Goe- anmerkt, wohl eher um »zufällige« Parallelen,
ring. Enthüllungen über die wahren Brand- »die die Gleichsetzung von Politiker und
stifter (Paris 1934) war B. vorübergehend Gangster in der Ui-Figur erleichtern« (Thiele,
selbst beteiligt. Bleistiftanstreichungen in sei- S. 11).
nem Handexemplar in der Nachlassbibliothek Von seiner ersten USA-Reise (Oktober
weisen darauf hin, dass B. die Hitler-Biogra- 1935-Februar 1936) hatte B. ein Bündel von
phie von Rudolf Olden als Quelle herange- Zeitungen mitgebracht, die sich unter ande-
zogen hat. Anstreichungen von B. finden sich rem mit der Ermordung des New Yorker Gang-
auch in einem Exemplar der Hindenburg-Bio- sters Dutch Schultz beschäftigen, darunter ein
graphie von Emil Ludwig. Im BBA gibt es dar- Artikel von Pasley über Gang Wars in New York
über hinaus eine eigene Mappe zu den Er- aus den New York Daily News. In den USA
eignissen um den 30. 6. 1934, der Liquidie- musste B. erfahren, dass aus den Anführern
rung von Ernst Röhm und der SA-Führung. des organisierten Verbrechens längst charis-
Zugleich konnte B. auf genaue Kenntnisse matische Erscheinungen geworden waren, de-
des amerikanischen Gangsterwesens zurück- ren Faszination durch die technischen Fort-
greifen, auf das urspünglich, wie Notizen be- schritte in der Filmkunst zum Gegenstand kul-
legen, schon im amerikanischen Titel verwie- turindustrieller Verwertung gemacht worden
sen werden sollte: »The Gangsterplay we war. B. ging zusammen mit Hanns Eisler bis zu
know« und »That wellknown racket« (BBA seiner Abreise häufig ins Kino und schaute
363/126 in: Gerz 1983a, S. 114). Die Bildung sich Gangsterfilme an, »um, wie wir uns beide
von »rackets«, d. h. die Praxis, Geschäftsleute lügnerisch versicherten, soziale Studien zu be-
zur Abnahme bestimmter Waren zu zwingen treiben« (Eisler/Bunge, S. 10). Filme wie
und sie zugleich für den ›Schutz‹ vor ›Über- Little Caesar von Mervyn LeRoy (1930) und
fällen‹ bezahlen zu lassen, hatte B. vermutlich Scarface von Howard Hawks (1932), deren
462 Der Aufstieg des Arturo Ui

Kenntnis man bei B. wohl voraussetzen darf, fassung wird der »authentische Heroismus des
begründeten das Genre des Gangsterfilms und Bürgertums in der Epoche des Aufstiegs kon-
festigten zugleich den Mythos seiner Helden. frontiert mit dem falschen Heroismus des Tau-
Ein Motiv dieser Gangsterikonografie, das sendjährigen Reichs, des dunkelsten Nieder-
Massaker am St. Valentins-Tag, bei dem Ca- gangs des Bürgertums« (Lindner 1975, S. 254).
pone am 14. 2. 1929 Mitglieder der konkurrie- B.s literarische Anspielungen sowie die Ver-
renden Moran-Bande niedermetzeln ließ, wendung des Blankverses erscheinen dem-
nimmt B. als Motiv für den Ui später auf. Als nach nicht nur als adäquater Ausdruck der
weitere Quelle erwähnt B. die Kenntnisse sei- faschistischen Inszenierung von Politik in Na-
nes Sohnes Stefan ȟber die Verwebungen der zideutschland. Das verfremdende Zusammen-
Gangsterwelt mit der Verwaltung« (GBA 26, treffen von Gangstermilieu und hohem Stil
S. 469). hebt den Ui, über ein bloß reduziertes Ge-
Daneben bezieht B. in seinen Ui eine Reihe schichtsmodell hinaus, auf eine Ebene, »auf
von literarischen Anleihen ein, vornehmlich der Geschichte und ihre ideologische Verein-
aus Stücken des elisabethanischen Theaters nahmung Gegenstand sind«, indem die einzel-
und der deutschen Klassik, allen voran die nen Elemente des Stücks »in ihrer falschen
nahezu durchgängige Verwendung des fünf- Zugehörigkeit erkennbar« gemacht werden
hebigen Jambus, des so genannten Blankver- (Thiele, S. 30).
ses. Mit ihm vor allem löst er den projektierten
großen Stil ein. Die klassischen Vorlagen tau-
chen vornehmlich als Zitate auf, freilich in
variierter Form. Die Forschung hat als wich-
tigste literarische Quellen Stücke von Shakes- Parabolik: Das Verhältnis von
peare, Goethe und Schiller ausgemacht Gangster- und Nazihandlung
(detaillierter dazu: Thiele, S. 9f.). Von Shakes-
peare übernommen ist auch die im Ui durch-
gängig – bis auf die Schauspielerszene – zu B.s Arturo Ui wird in der Forschung gemein-
beobachtende Praxis, die letzten beiden Verse hin als Parabelstück bezeichnet, oft im Zusam-
einer Szene zu reimen. menhang mit den anderen großen Stücken
Die literarischen Anleihen werden in der zum Faschismus. Im Kontext der Vorbereitung
Forschung unterschiedlich bewertet. Während für eine mögliche Aufführung ist dagegen von
sich B., Paul Kussmaul zufolge, überall dort einer »Jahrmarktshistorie« die Rede (GBA 7,
gegen Shakespeare und dessen Zeitgenossen S. 8). Diese Etikettierung trifft den Charakter
wendet, »wo sie an alten Moralvorstellungen des Stücks insofern besser, als der Ui nicht in
festhalten« (Kussmaul, S. 143), sieht Gudrun erster Linie eine Parabel im Sinn eines Schlüs-
Schulz den kritischen Impuls nicht gegen die selstücks ist, das Zug um Zug auf die Ereig-
Elisabethaner und die deutschen Klassiker ge- nisse in Deutschland zu beziehen wäre. B. hält
richtet, sondern gegen ihre falsche Aktualisie- zwar am Parabelbegriff fest, besteht aber zu-
rung durch die »entarteten Klassikerauffüh- gleich auch auf der Gangsterhistorie und ihrer
rungen der Göringtheater« (Schulz, S. 157 f.). gewissen Selbstständigkeit. Auf das Verhältnis
In diesem Sinn konstatiert auch Klaus Völker, von Nazi- zu Gangsterhandlung als Verhältnis
dass »die für B. überkommene Ästhetik keine einer strukturellen Analogie verweist zwar
Abwehrmechanismen gegen ihren Gebrauch eine Vorbemerkung zur geplanten Versuche-
aufweisen konnte« (Völker, S. 233). Die Ge- Ausgabe (S. 356), doch um der satirischen
staltungsmittel und der »große Stil« stellen Wirkung seines Stücks willen musste B. über
auch für Günter Heeg nicht in erster Linie eine leicht entzifferbare modellhafte Verklei-
Reminiszenzen an die literarische Tradition, nerung historischer Zusammenhänge hinaus-
sondern an die zeitgenössische Realität dar gehen. In einer Journal-Notiz vom 1.4.1941
(Heeg, S. 148). Nach Burkhardt Lindners Auf- spricht B. das ambivalente Verfahren an, »die
Parabolik: Das Verhältnis von Gangster- und Nazihandlung 463

›Verhüllung‹ (die eine Enthüllung ist) mit Ei- der realen Geschichte« (Lindner 1982,
genleben auszustatten« (GBA 26, S. 469). S. 102).
Die den jeweiligen Szenen nachgestellten Ein wichtiger Verfremdungseffekt ist in die-
Projektionstexte können, in Umkehrung des sem Zusammenhang der ursprüngliche, schon
parabolischen Verfahrens, als Hilfe zur Deko- sprichwörtlich gewordene paradoxe Titel des
dierung des fiktionalen Geschehens gelesen Stücks. Dem »schicksalhaft absoluten Adjek-
werden. Tatsächlich lässt sich die Figurenkon- tiv« (Onderdelinden, S. 255) ›unaufhaltsam‹
stellation im Arturo Ui insgesamt keineswegs wird im ursprünglichen Titel die Vorsilbe ge-
umstandslos auf die Konstellation der politi- nommen, was nicht allein zu einer einprägsa-
schen Kräfte in Deutschland übertragen. Die men Alliteration führt, sondern vor allem in
Figuren im Stück haben zum einen ein zu un- einem erhellenden Kontrast zu der Handlung
terschiedliches Gewicht, »um als Repräsentan- des Stücks und der militärischen Lage zum
ten der konkurrierenden historischen Kräfte Zeitpunkt seiner Niederschrift steht. Der Titel
gelten zu können« (Lindner 1982, S. 44); zum gibt die Frage danach, wie dem Terror poli-
anderen sind alle wesentlichen politischen tischer Krimineller Einhalt geboten werden
Entscheidungen nicht nur ausgeblendet bzw. kann, vorab an den Zuschauer weiter und lenkt
hinter die Szene verlegt, sondern »die Logik seine Aufmerksamkeit auf jene politisch-öko-
der Handlung erweist sich als recht oberfläch- nomischen Rahmenbedingungen, die eine sol-
lich […]. Streng stückimmanent genommen, che Form von Herrschaft möglich oder gar not-
ist es absurdes Theater, das als Aufstieg des Ui wendig machen.
inszeniert wird« (S. 101). Lindner sieht hier
eine differenzierte Strategie am Werk. Statt
der modellhaften Reduktion der historischen
Vorgänge habe B. die als »Basisverfremdung« Großer Stil und Terror
gewählte Capone-Story »um satirische und pa-
rabolische Bezüge zur geschichtlichen NS-
Handlung semantisch« verstärkt, die Bezie- Das Stück verbindet zwei wesentliche Aspekte
hung zur historischen Realität sei die einer miteinander: die Klärung der Affinitäten von
»Anspielung« (S. 47). profitorientierter Ökonomie und politisch aus-
B. griff zu einer Reihe von epischen Mitteln, gerichtetem Gangsterwesen sowie die Kritik
die geeignet waren, den Anspielungscharakter an historischer und politischer ›Größe‹: »Die
zu wahren und zugleich den ästhetischen Ab- großen politischen Verbrecher müssen durch-
stand zu halten. Dazu gehört vor allem die aus preisgegeben werden, und vorzüglich der
»Doppelverfremdung«, die Kombination Lächerlichkeit. Denn sie sind vor allem keine
»Gangstermilieu und großer Stil« (Journal, großen politischen Verbrecher, sondern die
3. 4. 1941; GBA 26, S. 469). Der Charakter ei- Verüber großer politischer Verbrechen« (GBA
ner im Stil der Jahrmarktsunterhaltung vorge- 24, S. 316 f.). Die nachstehende Analyse folgt
tragenen historischen Chronik dispensiert von weitgehend dem Werdegang des Ui in fünf
einer allzu strengen Handlungslogik, lässt »so- Etappen (nach Lindner 1982, S. 48 f.).
wohl Zeitraffer als Zeitlupe« zu (Journal, 2. 4.
1941; S. 470) und erlaubt die Verwendung di-
verser Verfremdungsmittel. Das Dramenge-
schehen, das auf einen historischen Bezugs- Prolog und Epilog
rahmen von mindestens zehn Jahren anspielt,
kann so auf einen Zeitraum von etwa einem
Jahr zusammengedrängt werden. »Die Absur- Ton und Tempo gibt der Prolog am deutlich-
ditäten des Stückgeschehens«, so fasst Lind- sten in der ersten Fassung vor. Die außerhalb
ner den Sinn dieses ästhetischen Verfahrens der Handlung verbleibende Figur des Ansa-
zusammen, »verschieben sich zur Absurdität gers hält die Fäden der Handlung in der Hand.
464 Der Aufstieg des Arturo Ui

Zu Marionetten verkleinert, schmilzt der Ha- des neuen Prologs auf und schlägt zugleich
bitus der dargestellten Figuren, die unschwer einen Bogen zum ursprünglichen Titel des
als Karikaturen von NS-Größen und deren Stücks. »Aufhaltsam« war der Aufstieg nur mit
Zeitgenossen zu erkennen sind, zur bloßen den vereinten militärischen Mitteln der »Völ-
Selbstinszenierung zusammen. B. beginnt die ker«, nicht durch die politische Einsicht des
Parade mit dem »guten alten ehrlichen Dogs- deutschen Volks. Eine Diskrepanz zwischen
borough«, der als »verdorbener Greis« sich nur dem sperrigen ursprünglichen Titel und dem
der Korruption schuldig gemacht hat (GBA 7, im getragenen Ton formulierten Epilog, ist
S. 113). Der Nächste auf der Verbrecherskala, hier nicht zu übersehen (vgl. Onderdelinden,
Guiseppe Givola, erinnert nicht nur durch sein S. 261).
kurzes Bein an Goebbels, er verfügt auch über
die gleisnerische Rhetorik des NS-Propagan-
daministers. Emanuele Giri erhält Eigenschaf-
ten, die auf Görings brutale Bonhomie ver- Ui in Wartestellung
weisen. Ui selbst wird darüber hinaus ironisch
als größte »unsrer Sehenswürdigkeiten« histo-
risiert, ironisch als alttestamentarische Strafe Die ersten drei Szenen des Stücks skizzieren
Gottes dämonisiert und in literar-historische die Voraussetzungen der Machtübernahme als
Zusammenhänge gestellt: »Wem fällt da nicht ein Zusammenspiel von ökonomischer Krise
Richard der Dritte ein?« (S. 114) Die an- und Uis politischen Ambitionen: Der Karfiol-
schwellende »Bumsmusik« (S. 113) und das trust kann seinen Blumenkohl bei der mittel-
Knattern des Maschinengewehrs deuten aku- losen Bevölkerung nicht mehr absetzen. Um
stisch auf die weitere Durchführung des Kon- finanzielle Engpässe zu vermeiden, will man
trastprogramms von Gangsterhandlung und mit Hilfe des stadtbekannten Dogsborough
großem Stil hin. Damit findet sich schon im eine Anleihe für den Bau von Kaianlagen von
Prolog die »Makrostruktur des Stücks in ihrer der Stadt erhalten, die dann zur Schulden-
Vielschichtigkeit« (Onderdelinden, S. 260) tilgung verwendet werden soll. Der zunächst
wieder. unwillige Dogsborough wird durch eine
Der neue Prolog aus den 50er-Jahren trägt Schenkung korrumpiert. Als der Gangster Ar-
der Nachkriegssituation, die der erste mit sei- turo Ui vom »DOCKSHILFESKANDAL« (GBA
nem historisierenden Verfahren ebenfalls in 7, S. 9)erfährt, wittert er eine Chance, legal ins
gewisser Weise voraussetzt, in stärkerem Geschäft zu kommen.
Maße Rechnung. Es ist nicht mehr die Rede B. reduziert die komplexe ökonomische
von dem »Gangsterstück, das jeder kennt« Krise auf eine Überproduktionskrise agrari-
(GBA 7, S. 114), sondern ironisch von einer schen Ursprungs: »Dieser Wechsel / Vom
»Geschichte, die man hier kaum kennt / […] / Überfluß zur Armut kommt heut schneller /
Wie es sie dergleichen hier nie gegeben hat« Als mancher zum Erbleichen braucht. […] /
(S. 9). In einer Variante dieses Prologs findet […] und schon ist kein Käufer / Mehr aufzu-
sich eine radikalisierte Formulierung, die auf treiben« (GBA 7, S. 10), klagen die Herren des
die ironische Spitze zugunsten einer aggres- Karfioltrusts. Der Trick, einen misslungenen
siveren Anklage verzichtet, »Lump und Mör- Coup zu einem Naturereignis zu stilisieren,
der, Schwindler und Schuft!« auf die Bühne wirkt durch die Verwendung des Blankverses
zitiert und beim Zuschauer neben dem »Zorn« unmittelbar lächerlich: »’s ist, als ob die Nacht
auch die »Scham« einfordert (S. 365). / Am hellen Mittag ausbräch!« (Ebd.) Im Kon-
Der gleichfalls in der späteren Bearbeitung- trast zu ihren Inhalten demaskieren sich die
sphase hinzugefügte Epilog ist eine Variation Phrasen bürgerlicher Wohlanständigkeit:
des im Jahr 1944 entstandenen letzten Epi- »Moral, wo bist du in der Zeit der Krise?«
gramms (Nr. 69) der Kriegsfibel (GBA 12, (S. 13) Die Ambivalenz von Moral und Ge-
S. 266). B. nimmt hier den didaktischen Faden schäft bestimmt auch das Verhältnis der Trust-
Ui in Wartestellung 465

herren zu Arturo Ui, dessen Leutnant die lele in der Rekrutierung von SA und SS als
Grünzeughändler mit vorgehaltener Waffe zur Hilfspolizei, mit der nach dem Reichstags-
Abnahme des Karfiols zwingen will, »weil die brand am 28. 2. 1933 ein ausgedehnter Terror
Händler / Nach seiner Meinung lieber noch gegen politische Gegner eingeleitet wurde.
Karfiol / Als Särge kaufen« (S. 11). Solange die
Krise noch vordergründig legal, d. h. über eine
veruntreute Stadtanleihe zu lösen ist, ist der
Rückriff auf den starken Mann als Ultima Ratio Ui im Geschäft
noch nicht nötig.
Während der ökonomische Hintergrund nur
in Umrissen skizziert ist, wird die Figur des Ui Mittels Erpressung macht sich Arturo Ui für
in ihren politischen Absichten wie in ihrer die herrschende Schicht unentbehrlich. Dogs-
politischen Funktion präziser auf die Situation borough hat die Anleihe gezeichnet, in deren
der Nazipartei im Jahr 1932 bezogen. Uis zö- Genuss er als Mehrheitsakionär der ihm ge-
gerliches Verhalten reflektiert die Doppelstra- schenkten Reederei ebenfalls gekommen ist,
tegie Hitlers, massenwirksam die ›nationale und ist dafür obendrein mit einem Landhaus
Revolution‹ zu propagieren, zugleich aber le- beschenkt worden. Angesichts einer bevorste-
galistisch die Möglichkeiten der Weimarer henden städtischen Untersuchung setzt er Ui
Demokratie zu nutzen sowie Bündnisse mit als seinen Vertrauensmann ein. Der lässt alle
der alten Rechten einzugehen. Diese strategi- Belastungszeugen ermorden und hat damit
sche Unentschlossenheit lässt auf Seiten der den Trust und Dogsborough in der Hand. Auf
Karfiolherren Bedenken bezüglich Uis Eig- diese Weise zu politischer Reputation gelangt,
nung für die Lösung ihrer Probleme entste- nimmt Ui bei einem Schauspieler Unterricht in
hen, löst aber auch Irritationen an seiner Basis »DEKLAMATION UND EDLEM AUFTRE -
aus. Denn sein Paladin Ernesto Roma, der mit TEN« (GBA 7, S. 55).
seinen Mannen und seinen traditionellen Hatte sich Ui in der vorangegangenen Szene
Gangstermethoden auf die SA, das proletari- von dem Reporter Ted Ragg, einem Vertreter
sche Fußvolk der Nazibewegung, verweist, der öffentlichen Meinung also, durch die Me-
drängt zum Handeln und sieht die Moral sei- tapher eines »schnell sinkenden Sterns von
ner Truppe schwinden. B. thematisiert damit, zweiter Größe« (GBA 7, S. 26) diffamiert ge-
wenn auch in stark vereinfachender Weise, die sehen, so wird die Gier nach bürgerlicher An-
Vieldeutigkeit der NS-Propaganda, in der erkennung jetzt als Hauptmotiv seines Han-
sich, zumindest vorübergehend, die unter- delns herausgestellt. Das Oszillieren zwischen
schiedlichsten sozialen Gruppen ideologisch Selbstmitleid und Brutalität, das auch zum Re-
wieder finden konnten. Anders als in den pertoire Hitlerscher Rhetorik gehörte, ist hier
Rundköpfen belässt er es hier bei Andeutun- als Bild für die Situation Hitlers zum Jahres-
gen; von der »massenwirksamen Kampfideo- ende 1932 zu verstehen. Hitler sieht Hinden-
logie der Nazis ist nur rudimentär etwas zu burg als das entscheidende Hindernis für seine
erkennen« (Lindner 1982, S. 54). Machtübernahme, wie aus einer Rede vom
Uis larmoyante Haltung macht objektiv die September 1932 deutlich wird: »Der Reichs-
Stärke seiner nach allen Seiten offenen politi- präsident ist 85 Jahre alt, und ich bin 43 und
schen Strategie aus. Romas Drängen wird fol- fühle mich kerngesund« (S. 380).
gerichtig von Ui zurückgewiesen: »Nicht jetzt. In der Logik des Stücks wie auch in den
Nein, nicht von unten. ’s ist zu früh. […] / Erst verschiedenen Versionen der Projektionstexte
brauch ich selber Schutz. Vor Polizei / Und wird Hitlers Machtergreifung als Resultat ei-
Richter muß ich erst geschützt sein, eh / Ich ner politischen Erpressung interpretiert: Hin-
andre schützen kann. ’s geht nur von oben.« denburg habe Hitler zum Reichskanzler er-
(GBA 7, S. 23 f.) Die Beförderung der Gangster nannt, um den drohenden Skandal um verun-
zu Ordnungshütern hat eine historische Paral- treute Osthilfegelder niederzuschlagen. Diese
466 Der Aufstieg des Arturo Ui

Subventionen, ursprünglich für verschuldete dem klassischen Beispiel uneigentlicher, dem-


Bauern östlich der Elbe vorgesehen, waren agogischer Rede.
hauptsächlich in den Taschen der ostelbischen
Junker gelandet. Diese hatten dem Präsiden-
ten bereits 1927 das Gut Neudeck geschenkt.
Dass B. den Osthilfeskandal zur Bruchstelle Ui an der Macht
der Weimarer Demokratie stilisiert, mag, wie
Lindner meint, zum einen auf das »verein-
fachte Capone-Modell« zurückgehen, zum an- Bei seiner Ansprache vor den Kleinhändlern
deren ein »bürgerliches Verständnis von der kann Ui seine frisch erworbenen Kenntnisse
Zerstörung der Republik« reproduzieren, erstmals wirksam einsetzen, indem er die
demzufolge sich das Bürgertum nur unfreiwil- Kleinhändler in Anwesenheit Dogsboroughs
lig dem Druck der Nazis ergeben habe (Lind- von der Notwendigkeit ihrer Unterwerfung
ner 1982, S. 57). überzeugt. Deren Einsicht wird dadurch be-
Damit ist Ui in seinem Legalitätsstreben am fördert, dass Uis Leute für jedermann erkenn-
Ziel angelangt. Wenn das Verbrechen salonfä- bar Petroleumkannen durch das Publikum
hig wird, muss auch der Gangsterboss seinen schleppen. Wenig später brennt der Speicher
Habitus bürgerlichen Usancen anpassen. In eines Grünzeughändlers, der sich gegen Ui
der virtuosen Szene 6 greift B. auf die in Ol- ausgesprochen hatte. Der darauf folgende
dens Hitler-Biographie (Olden, S. 88) mitge- Speicherbrandprozess ist ein Beispiel manife-
teilte Behauptung zurück, Hitler habe bei ei- ster Rechtsbeugung: Das Gericht steht auf der
nem »PROVINZSCHAUSPIELER BASIL« Seite Uis, seine Zeugen können dreist auf-
(GBA 7, S. 55) Unterricht genommen. Verbürgt treten, die Zeugen der Verteidigung werden
ist, dass Hitler wegen strapazierter Stimmbän- zusammengeschlagen, der Angeklagte ist von
der den Operntenor Paul Devrient zu Rate zog Medikamenten betäubt.
(vgl. Lindner 1982, S. 57 f.). Möglicherweise Uis ›Machtergreifung‹ und sein Eintritt in
waren B. auch die Aufnahmen des Fotografen das öffentliche Leben markieren eine Wende
Heinrich Hoffmann aus den 20er-Jahren be- im Stück. Stärker als zuvor kann B. nun auf
kannt, die Hitler in gestellten Redeposen zei- historische Ereignisse sowie auf das Material
gen. Im Originaltyposkript von 1941 finden faschistischer Machtinszenierung satirisch zu-
sich allein im Zusammenhang dieser Szene greifen. B. parodiert nahezu beiläufig die mit
sieben Zeitungsfotos, die Hitler in typischen großem Pathos aufgeladene Eröffnung des neu
Haltungen zeigen. Stückimmanent betrachtet, gewählten Reichstags in der Potsdamer Garni-
handelt es sich bei der Schauspielerszene um sonskirche (21. 3. 1933), wo die Versöhnung
die »Schlüsselszene« (Joost, S. 265), sie ist des alten Preußentums mit dem Nationalsozia-
»durch die Begründung des ›großen Stils‹ so lismus, verkörpert durch Hindenburg und
etwas wie das poetologische Programm des Hitler, symbolträchtig demonstriert werden
Stücks« (S. 267). Die Szene, die als einzige sollte. Wie Hindenburg propagandistisch als
bezeichnenderweise in Prosa beginnt, macht Gewährsmann Hitlers eingebunden wird, so
Uis Gestik und Rhetorik als eine eingeübte steht Dogsborough für die Ehrlichkeit Uis ein,
Machtinszenierung durchsichtig, die nicht auf der den Gemüsehändlern soeben noch offen
Inhalte ausgerichtet ist, sondern allein auf gedroht hatte: »GIVOLA halblaut: Erschüt-
Wirkung. Auf Givolas Frage: »Wozu machst du ternder Moment! Vater und Sohn!« (GBA 7,
das?« antwortet Ui: »Selbstredend ist’s für die S. 58) Aus dem historischen Händedruck wird
kleinen Leute« (GBA 7, S. 51). Es komme nur in B.s gestischer Interpretation eine Macht-
darauf an, »wie sich der kleine / Mann halt demonstration: Ui fasst Dogsboroughs »schlaff
seinen Herrn vorstellt. Basta.« (S. 52) Nicht herabhängende Hand« (ebd.). Das alte
zufällig übt Ui das Sprechen anhand der An- Deutschland hat politisch abgedankt. Auch Uis
tonius-Rede aus Shakespeares Julius Caesar, Erschöpfung, die auf Hitlers häufig zur Schau
Ui an der Macht 467

gestellte Entrückung nach großen Reden ver- Entsprechend richten sich die vom preußi-
weist, sowie seine Hinwendung zu dem Kind, schen Innenminister Göring im Prozess mehr-
die an dessen publikumswirksame Kinder- fach brüllend und vom Gericht unbehindert
freundlichkeit erinnert, spielen auf Hitlers gegen Dimitroff vorgetragenen Drohungen
stets öffentlichkeitsorientierten Habitus an. (»Sie sind in meinen Augen ein Gauner, der
In Uis rhetorischer Selbstinszenierung direkt an den Galgen gehört«; Braunbuch II,
nimmt B. eine Fülle von jenem Sprachmaterial S. 253) hier gegen den Verteidiger selbst. Mit
auf, das ihm die faschistische Propaganda ge- der nahezu filmischen Konstruktion dieser
wissermaßen frei Haus lieferte. Dazu gehör- Szene, deren sieben Bilder durch Abblenden
ten, neben den pseudoreligiösen Gründungs- und eine Orgel, die das Trio aus Chopins Trau-
mythen der Bewegung (»Als ich / Vor nunmehr ermarsch »als Tanzmusik« spielt (GBA 7,
vierzehn Jahren als Sohn der Bronx und / Ein- S. 64), regelrecht ›geschnitten‹ sind, demon-
facher Arbeitsloser in dieser Stadt / Meine striert B. die beschleunigte und widerstands-
Laufbahn anfing, […] / […] hatt ich um mich lose Gleichschaltung einer rechtsstaatlichen
nur / Sieben brave Jungens, mittellos, jedoch / Justiz und die Liquidierung der freien Presse.
Entschlossen wie ich […]«; GBA 7, S. 33 f.),
vor allem die Beschwörung von Feindbildern
und der exzessive Gebrauch von Leerformeln
(vgl. S. 56 f.). In seiner Analyse der ›Führer- Ui als Staatsmann
sprache‹ stellt Lindner fest, dass der Arturo Ui
»Merkmale der faschistischen Rhetorik auf der
syntaktischen, lexikalischen und rhetorisch- Während Dogsborough die Mitwisserschaft an
pragmatischen Ebene kopiert« (Lindner 1982, Uis Verbrechen in seinem letzten Willen be-
S. 116). Der »Wechsel von hohem Pathos und kennt, ist Givola bereits dabei, eine gefälsch-
banalstem Jargon«, die »Mischung aus Platt- tes Testament aufzusetzen, worin Dogsbo-
heit, Infamie und Sendungsbewußtsein« rough Ui als seinen politischen Erben einsetzt.
werde am »Blumenkohl-Gangster Ui« vorge- Ernesto Roma wittert ein Komplott des Trusts
führt (S. 118). Großer Stil, verbal wie gestisch, gegen Ui, an dem auch Givola und Giri be-
und Terror werden in Szene 7 direkt paral- teiligt sein sollen. Diese wiederum beklagen,
lelisiert: Während Ui spricht, wird die Brand- dass Roma bei seinen Überfällen auch die
stiftung öffentlich vorbereitet; das Kind, das er Lkws des Trusts nicht ausnimmt. Als Ui schon
tröstet, hat er selbst zur Waise gemacht. halb entschlossen ist, sich auf die Seite Romas
Im Speicherbrandprozess nimmt B. die – zu schlagen, bietet Betty Dullfeet die Ausdeh-
inzwischen widerlegte – These des Braun- nung des Geschäfts in die Vorstadt Cicero an,
buchs auf, dass der Reichstagsbrand von den freilich nur dann, wenn Roma und seinen Leu-
Nazis selbst in Szene gesetzt wurde, um den ten das Handwerk gelegt wird. Ui lässt seinen
Terror von oben zu legalisieren, wie es dann alten Kampfgefährten und dessen Gefolgs-
mit der Notverordnung »Zum Schutz von Volk männer liquidieren.
und Staat« vom 28. 2. 1933, der so genannten In dem personalisierten Modell des Arturo
›Reichstagsbrandverordnung‹, auch geschah. Ui fällt dem korrumpierten Dogsborough eine
Der Zustand des Angeklagten Fish deutet auf maßgebliche Verantwortung an Uis Machter-
das apathische Verhalten des der Brandstif- greifung zu, von der er sich durch sein Ge-
tung beschuldigten Holländers van der Lubbe. ständnis zu befreien sucht. Dass die politisch
Die im Leipziger Prozess mitangeklagten eher unbedeutenden Gerüchte um eine Fäl-
Kommunisten Torgler, Vorsitzender der KPD- schung des Hindenburgschen Testaments, das
Reichstagsfraktion, Dimitroff, später General- zunächst nicht aufgefunden und später nur in
sekretär der Komintern, sowie seine bulgari- Auszügen publiziert wurde, im Stück über-
schen Landsleute Popoff und Taneff werden in haupt aufgenommen werden, erklärt Thiele
der Figur des Verteidigers zusammengezogen. daraus, dass mit der Anspielung auf den Tod
468 Der Aufstieg des Arturo Ui

des Reichspräsidenten eine weitere Station auf Damit ist nicht nur der pseudoreligiöse Stil
dem »Abstieg der demokratischen Kontrolle« von Hitlers Inszenierungen karikiert, sondern
benannt werde sollte (Thiele, S. 41). Eine sol- auch die Inhaltslosigkeit einer Propaganda,
che Kontrolle aber war zu diesem Zeitpunkt die auf nichts als sich selbst verweist. Angerei-
auf demokratischem Weg ohnehin nicht mehr chert mit Floskeln wie »Pflicht […] bis zum
möglich, und ein Garant demokratischer Prin- Äußersten«, »Verdienen / Kommt nach dem
zipien war Hindenburg auch zuvor nicht ge- Dienen«, »Vertraun und noch einmal Vertraun«
wesen. (S. 77) wird der ›Völkische Idealismus‹ als das
Mit der Machtübergabe an Hitler nahmen vorgeführt, was er ist: ein begriffsloser
die Auseinandersetzungen in der NSDAP wie- Glaube, der argumentativ nicht zu begründen
der zu. Die NS-Sturmtruppen, seit 1931 unter ist, oder, wie Ernst Bloch schreibt, ein »Glau-
der Führung von Hitlers Duz-Freund Ernst ben an den Glauben« (Bloch, S. 1362).
Röhm, klagten im Sinn des 25-Punkte-Pro- Die »Garagenszene« rekurriert auf amerika-
gramms von 1920 die ›zweite Revolution‹ ein. nisches Fotomaterial, das u. a. Aufnahmen
Hitlers Pläne von der Konsolidierung des Staa- vom ›Massaker am St. Valentinstag‹ enthält.
tes, wie auch die seiner Hintermänner, waren Als Vorbild könnte auch die entsprechende Se-
mit den Vorstellungen der nationalsozialisti- quenz aus Scarface gedient haben, wenn
schen Linken nicht vereinbar. Zudem sah die Hawks die Gangster effektvoll als Schatten-
Reichswehr in der SA, die sich als Ordnungs- risse an der Wand erscheinen und liquidieren
macht und neues Volksheer begriff, einen Kon- lässt (vgl. Gersch, S. 145 f.). Das Motiv der
kurrenten um den militärischen Führungsan- Gangsterromantik wird wieder aufgenommen.
spruch. Mit der Niederschlagung des so ge- Auch wenn der Text über den verbrecherischen
nannten ›Röhm-Putschs‹, der Ermordung der Charakter dieser Fraktion von Uis Bande kei-
SA-Führung und anderer politischer Gegner nen Zweifel aufkommen lässt, wächst Roma
am 30. 6. 1934 und den darauf folgenden Ta- und seinen Anhängern, wie auch zuvor Dogs-
gen, beugte sich Hitler den Vorstellungen der borough und Teilen des Trusts, eine »morali-
Reichswehr und erwarb damit deren Loyalität. sche Opferqualität« (Lindner 1982, S. 69) zu,
B. führt diese Richtungsentscheidung vor als welche die historischen Konstellationen ver-
Konfrontation von alter Gangsterromantik, zerrt. Der Auftritt von Romas Geist (Szene 14),
verkörpert in Roma und seinen Mannen, und für den sich Parallelen in Shakespeares Ri-
pragmatischer Machtpolitik, repräsentiert von chard III. wie im Julius Caesar finden, scheint
Givola und Giri. Ob Uis Unentschlossenheit diesen Zug zu verstärken, indem er Uis Verrat
zwischen schulterklopfener Männerfreund- die eigene Treue entgegenhält und sich als
schaft und geschäftlichen Expansionsaussich- Opfer auf der richtigen Seite sieht, wenn sich
ten eine historische Entsprechung hat, muss dereinst »alle, die / Du niederschlugst, auf-
offen bleiben. richten, […] / Und gegen Dich antreten, eine
Uis Monolog, mit dem er die rivalisierenden Welt / Blutend, doch haßvoll« (GBA 7,
Gruppen wieder hinter der Fahne scharen will, S. 105 f.). Der Schriftsteller Lothar Kusche
verweist über seine stückimmanente Funktion sah, wie er in einem Gespräch mit B. Ende
hinaus auf die massenwirksamen Hitlerschen 1953 ausführte, in dieser Szene die Gefahr
Beschwörungsrituale und ist eine Persiflage einer »Glorifizierung« Romas: »›So wie der
auf die delirierende faschistische Leerformel- Text jetzt ist, erhält ein fetter, versoffener Nazi
Rhetorik. Zwölfmal allein taucht das Wort Märtyrerzüge.‹« (GBA 24, S. 319, S. 554), eine
»Glauben«, durch Adjektive wie ›fanatisch‹ Einschätzung, der B. zustimmt (S. 318). Wohl
und ›unerschütterlich‹ verstärkt, in diesen aus diesem Grund wurde in der Inszenierung
Zeilen auf, die formal wie ein »umgedrehtes des Stücks am Berliner Ensemble, wie auch in
Gebet« (Thiele, S. 40) erscheinen und deren vielen folgenden Inszenierungen, die Szene 14
politisches Surrogat ein diffuses Versprechen gestrichen. Die Gefahr eines solchen Missver-
ist: »Ihr werdet zufrieden sein.« (GBA 7, S. 78) ständnisses erscheint im Kontext allerdings als
Ui als Staatsmann 469

gering, wenn auch Romas verbrecherische Ge- suchs am 25. 7. 1934 wurde Dollfuß ermordet.
sinnung nicht in dem Maß herausgestellt wird Am 12. 3. 1938 marschierten deutsche Truppen
wie in B.s Ballade vom armen Stabschef aus unter dem Jubel weiter Teile der Bevölkerung
dem Jahr 1934. Mit Blick auf B.s Wirkungsab- in Österreich ein. Eine von der neuen Regie-
sicht kommt dieser Szene mit dem erbärmlich rung Seyß-Inquart am 10. 4. 1938 durchge-
wimmernden Ui durchaus eine Bedeutung zu, führte Volksabstimmung bestätigte den ›An-
denn sie »demontiert die in Anspruch genom- schluss‹ Österreichs.
mene Größe« (Thiele, S. 45). Ist in der Figur der Betty Dullfeet die »Will-
fährigkeit der herrschenden Kreise und des
herrschenden Bewußtseins« in Österreich ver-
dichtet (Lindner 1982, S. 72), so erscheint
Ui als Imperator Dullfeet – im Unterschied zum historischen
Dollfuß – wie eine moralische Größe, der es
ausschließlich um das Wohl seiner Mitmen-
Nach der Liquidierung Romas werden die Ver- schen geht, eine Verzeichnung, wie sie auch an
handlungen um die Übernahme des Grünzeug- der Gestalt Dogsboroughs zu beobachten ist.
handels in der Vorstadt Cicero wieder auf- Nimmt man die Eroberung Ciceros aber meta-
genommen. Zwar stellen die Bedenken des phorisch als Bild für den nationalsozialisti-
Zeitungsverlegers Dullfeet ein gewisses Hin- schen Imperialismus insgesamt, so lassen sich
dernis dar, das aber durch seine Ermordung diese Einwände zumindest relativieren. Dafür
aus dem Weg geräumt wird. Am Sarg Dullfeets spricht, dass die Grünzeughändler von Cicero
nimmt Ui das Werben um die Sympathien von sich, wie auch die übrigen okkupierten euro-
dessen widerstrebender Gattin Betty wieder päischen Länder, nur der nackten Gewalt beu-
auf. Die letzte Szene des Stücks führt den Er- gen, anders als die begeisterten Massen auf
folg von Uis Einschüchterungspolitik vor: Es- dem Wiener Heldenplatz. Die historische Re-
kortiert von Betty Dullfeet und dem Trust- duktion bringt die kritischen Absichten des
herrn Clark präsentiert sich Ui den Grünzeug- Stücks damit verstärkt zur Geltung. In der
händlern von Cicero als neuer Beschützer und Szene 12, im »Blumenladen des Givola« (GBA
kündigt weitere Eroberungen an. 7, S. 90), einer Parodie auf den Reigen der
Der letzte Szenenkomplex des Stücks zeigt Paare Faust/Gretchen und Mephisto/Marthe
Ui auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner in der ›Garten-Szene‹ des Faust, wird der
Macht. B. zieht hier erneut mehrere histori- große Stil als eine nur notdürftig verblümte
sche Vorgänge zu einem Handlungsstrang zu- Sprache des Terrors vorgeführt. Givolas Blu-
sammen. Als Gangstergeschichte nimmt der menladen, aus dem die Kränze für die Beer-
Arturo Ui die Ausdehnung von Al Capones digungen bezogen werden, ist ein »Vorort des
Racket auf Cicero, eine Vorstadt von Chicago, Todes« (Thiele, S. 43). Die aufeinander fol-
zum Vorbild. Bezogen auf die Nazihandlung genden Travestien klassischer Vorbilder – im
spielt die Kontaktaufnahme mit der Ciceroer Blumenladen, in der Beerdigungsszene und in
Verlegersgattin Betty Dullfeet auf die ersten der Gespensterszene – dienen, so lässt sich mit
Versuche der Nazis an, in Österreich politisch Thiele zusammenfassen, in erster Linie als
Fuß zu fassen. Dort hatte der seit 1932 regie- »Folie, auf der sich die stückimmanente Aus-
rende Kanzler Engelbert Dollfuß auf der Basis sage gerade auch in ihrer ästhetischen Bewäl-
von Notverordnungen ein autoritäres Regie- tigung umso deutlicher abhebt« (S. 44). Vor
rungssystem etabliert. Im Jahr 1934 schlugen allem die Gartenszene hat dazu einen unver-
Regierungstruppen und Einheiten der Heim- kennbar humoristischen Aspekt, wenn B. etwa
wehr den sozialdemokratischen Februarauf- beiläufig die sprichwörtliche Hitlersche As-
stand nieder, SPÖ und Gewerkschaften wie kese aufs Korn nimmt: »Ich bin ein Mann, der
auch die Nazipartei wurden verboten. Im Ver- keine Lüste kennt.« (GBA 7, S. 95) Die große
lauf eines nationalsozialistischen Putschver- Abschlussrede Uis greift die rhetorischen und
470 Der Aufstieg des Arturo Ui

gestischen Usancen nationalsozialistischer wanger über die Frage: »Ist Hitler ein Hampel-
Machtdarstellung ein letztes Mal auf, führt sie mann?« (GBA 27, S. 63) Hinter der Meinung,
aber nun als kaum mehr kaschierte Drohungen Hitler sei ein »unbedeutender Mime« (ebd.),
vor. Das Schlusstableau zitiert zwei Zeitungs- steht für B. eine spezifisch bürgerliche Auffas-
fotos von Hitler bei Massenveranstaltungen, sung. Doch nur wenn er auf der Bühne als »ein
die sich am Ende des ersten Ui-Typoskripts schlauer, vitaler, unkonventioneller und origi-
(in: Gerz 1983a, S. 109) sowie in der Kriegs- neller Politiker« dargestellt werde, komme
fibel als Illustration zur Variante des Ui-Epi- »seine äußerste Korruptheit, Unzulänglich-
logs (GBA 12, S. 267) finden. keit, Brutalität usw. […] wirkungsvoll ins
Spiel« (ebd.). Für B. stellt die ›pathologische‹
Seite der Hitler-Figur nur einen Nebenaspekt
dar, der die Sucht nach sozialer Anerkennung
Faschismuskritik erklären hilft; entscheidender ist ihm die poli-
tische Funktion der Figur. Deren Stärke resul-
tiert eben daraus, dass Hitler sich zwischen
Die Parabelstücke Die Rundköpfe und die den Klassen etabliert, d. h. ›objektiv‹ die Inter-
Spitzköpfe, Arturo Ui und Turandot beziehen essen der herrschenden Cliquen bedient, ideo-
sich, bei jeweils unterschiedlicher Akzentset- logisch aber die Kleinbürger und die plebeji-
zung, in ihren Basisverfremdungen auf ein sche Massenbasis bei der Stange hält: »es ist
marxistisches Faschismusbild. In dieser Per- Handlangertum, Faustlangertum, aber die
spektive erscheint der Nationalsozialismus für Faust hat eine gewisse Selbständigkeit; die In-
B. als »konsequenter Spätkapitalismus« (GBA dustrie bekommt ihren Imperialismus, aber
26, S. 329). Er soll zum einen die Kontinuität sie muß ihn nehmen, wie sie ihn bekommt,
bürgerlicher Klassenherrschaft garantieren den Hitlerschen« (ebd.).
und zugleich der Industrie durch Aufrüstung Der zweite wesentliche Aspekt aus dem
und Expansionskriege neue Perspektiven si- Komplex seiner faschismustheoretischen
chern. Überlegungen, den B. in den Vordergrund
Auf dem Hintergrund dieses Modells steht rückt, ist die »Theatralisierung der Politik
im Arturo Ui die Figur des Demagogen selbst durch den Faschismus« (Journal, 6. 12. 1940;
im Mittelpunkt. An ihr wird vor allem das GBA 26, S. 443), ein Begriff, der an Benjamins
Zusammenspiel von Terror und Ideologie the- Formulierung von der Ȁsthetisierung des po-
matisiert. B. gestaltet seine Führerfigur aus- litischen Lebens« erinnert. Der Faschismus
drücklich nicht als eine Marionette des Kapi- sehe sein »Heil« darin, »die Massen zu ihrem
tals. Auch wenn er zeitweise unentschlossen Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kom-
und manipulierbar erscheint, ist Ui eben kein men zu lassen«, dem Recht nämlich auf »Ver-
»armseliges Werkzeug«, nicht nur »Mittels- änderung der Eigentumsverhältnisse« (Benja-
mann«, der den »Sieg der offenen, grausamen min 1977, S. 506). Zielt Benjamins Begriff der
Herrschaft des Monopolkapitals« herbeiführt, »Ästhetisierung« vornehmlich auf die propa-
wie ihn Johannes Goldhahn als Vertreter einer gandistische Verwendung neuer Techniken, so
orthodoxeren Position interpretiert (Gold- hat B. die faschistischen Veranstaltungen vor
hahn, S. 88 f.). Vielmehr lässt sich an verschie- Augen, die die »Einigkeit des Volkes« durch
denen Stellen des Stücks nachweisen, dass B. ein »sehr festliches Programm« herstellen sol-
die Besonderheit des Faschismus gerade in sei- len, wie es schon im Jahr 1933 in den Un-
ner partiellen Eigenständigkeit gegenüber sei- politischen Briefen heißt (GBA 22, S. 12). Die
nen Nutznießern sieht. Uis Terror läuft perma- »tiefe Liebe des Kleinbürgertums zu pyrotech-
nent der moralischen Selbstinszenierung der nischen Veranstaltungen« (GBA 22, S. 50), so
Trustherren zuwider. B. erwähnt etwa ein Jahr B. an anderer Stelle, führe »tief in das Wesen
nach der Niederschrift des Ui, im Journal vom dieser neuen Art von Demokratie […], die
28. 2. 1942, eine Diskussion mit Lion Feucht- man eine Pyrokratie nennen könnte, wenn
Faschismuskritik 471

man an den berühmten Reichstagsbrand sich der Aufklärungsanspruch über die »De-
denkt« (S. 51). Die »kleinen Dramatisierun- montage der Führer« hinaus in die gesell-
gen« (S. 563) haben nicht nur eine formie- schaftlichen und wirtschaftlichen Zusammen-
rende, sondern auch eine legitimatorische hänge verlängert, versagt Adorno zufolge das
Funktion: »Der Reichstagsbrand ist ein klassi- vereinfachende Modell der Parabel. Wenn an
sches Beispiel dafür. Die kommunistische Ge- die Stelle »der Konspiration hochmögender
fahr ist hier dramatisiert, zu einem Effekt her- Verfügender […] eine läppische Gangsterorga-
ausgearbeitet.« (Ebd.) nisation« trete, so werde das »wahre Grauen
Die Modellhaftigkeit seiner Ästhetik hat des Faschismus […] eskamotiert«. Eine solch
dem Stück von unterschiedlichen Seiten Kritik unzulässige Verkleinerung fördere die falsche
eingetragen. In der Tradition des sozialisti- Politik, »so verpufft der Angriff« (S. 417 f.).
schen Realismusbegriffs steht die grundsätz- Für B. hat Kunst nicht nur eine seismogra-
liche Ablehnung des Parabelstücks. Dieses phische, sondern vor allem auch eine aktivie-
könne das »Einmalige und Besondere jeder rende Potenz. Es geht ihm darum, »daß das
historisch gegebenen Situation nicht voll […] gesamte gesellschaftliche Leben vom Theater
erfassen«, weil es nicht von den »Gesetzmäßig- als experimentell aufgefaßt werden sollte«
keiten der Wirklichkeit« her organisiert sei, (GBA 22, S. 558), mit dem Ziel, »die gesell-
sondern von einer politischen »Maxime oder schaftsproduzierende Phantasie des Zuschau-
Sentenz« (Kaufmann, S. 160). Selbst dort, wo ers« (S. 559) anzukurbeln. Folgt man diesen
man das Parabelstück vom Aufstieg des Arturo Prämissen, stellt sich die Frage, wie mit dem
Ui als angemessene Form der Wirklichkeits- Arturo Ui heute, mehr als ein halbes Jh. nach
deutung akzeptiert, wird seine Leistung, in der Niederschlagung des Nationalsozialismus,
ähnlicher Diktion, in der Vermittlung marxi- produktiv umzugehen sei. Als Aufklärungs-
stischer Einsichten in die »historischen Ge- stück über den deutschen Faschismus ist er nur
setzmäßigkeiten« gesehen (K.-D. Müller 1967, dann tauglich, wenn das zum Verständnis nö-
S. 209). Goldhahn, der die Eigenart der Para- tige Wissen mitgeliefert wird. Lindner hält es
belform zutreffend charakterisiert, vermisst daher für »um so dringlicher […], die histori-
das Proletariat als historische Gegenkraft schen wie ästhetisch-intellektuellen Voraus-
(Goldhahn, S. 102 f.). Dies hatte Kusche in sei- setzungen in die Inszenierung des Stücks mit
ner Kritik schon Anfang der 50er-Jahre ange- hineinzunehmen und auszustellen« (Lindner
mahnt (GBA 24, S. 318). Der Kreis, so B. dazu, 1982, S. 123). Auf diese Weise erst ließe sich
sei »absichtlich eng gezogen«, denn »jedes das Stück gegen die Faszination wie gegen die
Mehr in diesem Gefüge wäre ein Zuviel und Banalisierung des Bösen aufbieten, der die Be-
würde ablenken von der diffizilen Problem- schäftigung mit dem Nationalsozialismus –
stellung. (Wie auf das Proletariat näher einge- von Joachim Fests Hitler-Biographie und -Film
hen und nicht auf die Arbeitslosigkeit […]? bis zu fragwürdigen, auf leichte Verdaulichkeit
Eines würde das andere mit sich ziehen, her- zurechtgeschneiderten TV-Beiträgen wie der
aus käme ein gigantisches Werk, das den ge- Holocaust-Serie oder zeitweilig modischen
wollten Zweck nicht erfüllt.)« (Ebd.) Auschwitz-Komödien wie Das Leben ist schön
Von einer nicht minder normativen Position – immer wieder zu erliegen droht.
aus kritisiert Theodor W. Adorno B.s Form des Das Stück bietet eine Reihe von Anhalts-
künstlerischen Engagements. Zunächst teilt er punkten, die es erlauben, es aus seinem NS-
dessen Voraussetzung, »daß die Oberfläche ge- Kontext herauszunehmen und im Hinblick auf
sellschaftlichen Lebens […] das Wesen der aktuelle Themen zu verfremden. So erscheint
Gesellschaft verhüllt« (Adorno 1974, S. 416). zumindest Uis Blumenkohl-Imperialismus in
Und die Leistung des Arturo Ui sieht er, ganz seiner ökonomischen Zielsetzung, nämlich als
im Sinn B.s, darin, »das subjektiv Nichtige und Strategie der Profitmaximierung, dem nicht
Scheinhafte des faschistischen Führers grell fern, was sich heute unter dem euphemisti-
und richtig ins Licht« zu rücken. Doch dort, wo schen Begriff der ›Globalisierung‹ daran
472 Der Aufstieg des Arturo Ui

macht, die Märkte, Arbeitskräfte und Roh- gend Beispiele gibt, an denen sich die Aktuali-
stoffe der Welt zu beherrschen. Auch wäre zu tät des Arturo Ui überprüfen ließe.
fragen, wie weit das Stück als Modell für eine
bürgerliche Gesellschaft trägt, in der Staats-
und Polittheater, Massenmedien und Massen-
konsum den politischen Diskurs ersetzen und Aufführungsgeschichte
die relevanten gesellschaftlichen Entschei-
dungen in den anonymen Zentralen fusionier-
ter Großkonzerne getroffen werden. Anderer- In der Aufführungsgeschichte lassen sich Be-
seits aber könnte gerade eine Betonung der mühungen um eine aktualisierende Sichtweise
NS-Bezüge die Aktualität des Stücks auch ver- des Stücks kaum erkennen. Es wurde nahezu
schärfen und ihrerseits eine eigentümlich ver- durchgehend als ein Schlüsselstück über den
fremdende Wirkung hervorrufen. B. hatte sein deutschen Faschismus interpretiert, dessen in-
Stück zunächst nicht nur als Aufklärungsstück szenatorisches Kernproblem in der angemes-
über den Nationalsozialismus gedacht, son- senen Gewichtung von Gangster- und Nazi-
dern das US-Publikum sollte aus ihm auch et- handlung liegt. An diesem Punkt setzte auch
was über das verbrecherische ›Wesen‹ seiner die Theaterkritik immer wieder an.
eigenen kapitalistischen Verhältnisse erfah- Die Stuttgarter Uraufführung am 10. 11.
ren. In diesem Sinn könnte eine verstärkte 1958 – verantwortet vom B.-Schüler Peter Pa-
theatralische Ausstellung der NS-Verkleidung litzsch – verzichtete auf eine allzu große Nazi-
– in einem bestimmten Kontext – auch bei ähnlichkeit. Die Uraufführung geriet, wie vor-
einem heutigen Publikum Assoziationen im auszusehen, zum Spiegel der besonderen
Hinblick auf den latent oder offen faschistoi- deutsch-deutschen Verhältnisse in den Hoch-
den Charakter eines politischen Systems aus- zeiten des Kalten Krieges und zum »Gradmes-
lösen, Vergleiche provozieren oder die Unzu- ser der jeweiligen Vergangenheitsbewälti-
friedenheit verstärken. So berichtet Walter gung« (Thiele, S. 67). Die Gemeinschaftsin-
Haubrich, der Spanien-Korrespondent der szenierung von Manfred Wekwerth und Peter
Frankfurter Allgemeinen Zeitung, über eine Palitzsch am Berliner Ensemble (Premiere am
Ui-Premiere in Madrid, kurz vor dem Tod des 23. 3. 1959) nahm gegenüber der Stuttgarter
Diktators Franco am 20. 11. 1975: »Furcht und Aufführung gravierende Änderungen vor.
Betroffenheit zeigten sich auf den von starken Hatte diese die Figur des Ui eher wie einen
Lampen von der Bühne her angestrahlten Ge- pathologischen Charakter wirken lassen, so
sichtern des Premierenpublikums bei der Ge- wurden die hochstilisierten Masken nun stär-
richtsszene. Die Reichstagsbrand-Verhand- ker an die Nazivorbilder angelehnt. Außerdem
lung mit gefoltertem Angeklagten, Provoka- war der missverständliche Auftritt von Romas
tionen durch das Publikum, Einschüchterung Geist gestrichen. Der Berliner Arturo Ui, mit
und Bedrohung des Verteidigers – das erin- Ekkehard Schall in der Titelrolle, wurde von
nerte sie möglicherweise an ähnliche, gar der Kritik hochgelobt und kann als die erste
nicht so lange zurückliegende Vorgänge in ih- ›Modell‹-Inszenierung der Nach-B.-Ära des
rem eigenen Land. Daß Ui zunächst und vor Berliner Ensembles betrachtet werden. Mo-
allem Hitler ist, das hat der deutsche Regis- dellcharakter erlangte ebenfalls die von Hans
seur Fitzi […] nicht verheimlichen wollen. Es Dieter Hosalla für die Uraufführung kompo-
wurde aber auch deutlich, daß Arturo Ui heute nierte und von den B.-Erben ›kanonisierte‹
nicht nur Hitler sein muß, was sicher im Sinne Musik, die auch in der Verfilmung des Deut-
Brechts ist.« (Haubrich) Staatlich verordneter schen Fernsehfunks (DDR) von 1974 zu hören
Terrorismus, Rassismus und Korruption zei- ist (Lucchesi/Shull, S. 782–784).
gen, dass es – von Lateinamerika über Asien Mit dem zeitlichen Abstand zum National-
bis zu den Staaten auf dem Territorium der sozialismus bildete sich ein neues Grundmu-
zerfallenen Sowjetunion – gegenwärtig genü- ster der feuilletonistischen Rezeption heraus,
Aufführungsgeschichte 473

zumindest in westlichen Publikationen. Deren bahn zum Upperdog«, ein Psychopath, der
Grundtenor bestand in einer verbreiteten Ge- sich, um Liebe bettelnd, an die Füße des alten
ringschätzung der Inhalte des Stücks bei Dogsborough klammert. Für Franz Wille ist er
gleichzeitiger Wertschätzung seiner Bühnen- ein »Schmierlappen mit dem bedingungslosen
wirksamkeit. Diese hat wohl maßgeblich dazu Selbstbewußtsein eines infantilen Neuroti-
beigetragen, den Arturo Ui zu einem der kers«, der schnell zum Zweibeiner mutiert und
meistgespielten Stücke B.s zu machen. Bei- schließlich durch die Autorität des Schauspiel-
spielhaft dafür ist die vielbeachtete Auffüh- lehrers (Bernhard Minetti) »zu einem stolzen
rung am Hamburger Schauspielhaus (Regie: Schreiter geadelt« (Wille) wird. Gerade diese
Dieter Giesing) im Jahr 1976. Jürgen Schmidt Szene legt, der Kritik zufolge, die Problematik
zufolge ist die Ui-Darstellung durch den der Berliner Inszenierung frei. Hier werde
Schauspieler Herbert Mensching von einer nicht, im Sinne B.s, der Missbrauch von Kunst
derart »präzisen Virtuosität« (Schmidt), dass und Theater vorgeführt: »Hier wird dieser
die historischen Vorgänge, auch wegen des Mißbrauch schamlos schaudernd genossen«,
Verzichts auf die Projektionstexte, in den Hin- konstatiert Stadelmaier, und Wille legt nach:
tergrund treten. Die Inszenierung habe über »Dann endlich ist es vollbracht: Hitler spricht,
weite Strecken den »Appeal« einer »Persona- das Theater tobt, alle sind begeistert. […] Spä-
lity Show« (ebd.). Andere Kritiker wendeten testens jetzt ist Brecht im Berliner Ensemble
dieses Phänomen ins Positive. Der Hamburger kein Aufklärer mehr, sondern ein gefährlicher
Arturo Ui stelle, so Michael Jürgs, weniger die Demagoge, der es genießt, sein Publikum zu
Historie als den Emporkömmling in den Mit- verführen. […] A star is born.« (Wille, S. 12 f.)
telpunkt: Ein »betroffen machender Abend« Während andere Kritiker die »Harmlosigkeit«
(Jürgs) darüber, was passiert, wenn einer mit der Inszenierung beklagen (Der Spiegel,
allen Mitteln nach oben will. 5.6.95), sieht Volker Trauth, wie ȟber die Ge-
Der Versuch, die virtuosen Potenziale der schichte von Hitlers Aufstieg und die sie ver-
Ui-Figur durch herausragende Schauspieler fremdende Gangsterhandlung hinaus etwas
exzessiv ausgestalten zu lassen, wurde zur vor- Drittes« wächst: »die Parabel von einer sich
herrschenden Inszenierungspraxis, und diese selbst auslöschenden Welt, in der das Wachs-
wirkte nicht selten B.s Intentionen entgegen. tum zum Fetisch erklärt wird« (Trauth).
Vor dieser Gefahr war auch die fast schon le- In den USA, für die B. das Stück ursprüng-
gendäre Neuinszenierung am Berliner Ensem- lich gedacht hatte, konnte der Arturo Ui erst
ble aus dem Jahr 1995 nicht frei. »Interessant spät reüssieren. Eine 1963 in New York rea-
ist Brecht«, so dekretierte Regisseur Heiner lisierte Aufführung des Lunt-Fontanne-Thea-
Müller, »nicht als Aufklärer«. Arturo Ui hält er ters musste schon nach sieben Tagen abgesetzt
für »theatralisch […] toll gemacht, aber von werden (vgl. Berg). Eine Inszenierung am
der Substanz her dünn« (H. Müller, S. 18). Er Goodman Theater in Chicago im Jahr 1975
zeigt sich eher fasziniert von dem »bösen Ton«, glättete das Stück »im Sinne des Hollywood-
mit dem B. seinen »Idealfeind« Hitler atta- Professionalismus, wodurch die politische Ab-
ckiert habe (in: Hecht, S. 134). In diesem Sinn sicht bis zur Unkenntlichkeit verkümmert«
führt er Ui, dessen Darsteller Martin Wuttke (Bathrick, S. 161). Im Sommer 1999 führte das
für seine Rolle zum ›Schauspieler des Jahres Berliner Ensemble die Müller-Inszenierung
1995‹ gekürt wurde, als einen Bluthund ein, im Rahmen eines Gastspiels mit großem Er-
der, mit nacktem Oberkörper und hängender folg am Kulturzentrum der Universität von
Zunge, auf allen Vieren auf der Bühne umher- Berkeley auf.
hechelt. Die Dynamik der Inszenierung wurde
durch die neue Musik gesteigert, einer Collage
aus Motiven von Schubert, Liszt, Wagner und Literatur:
anderen. Ui erscheint, so Gerhard Stadel- Adamic, Louis: Dynamite. The Story of Class Vio-
maier, als ein »Underdog« auf seiner »Lauf- lence in America. New York 1931. – Adorno, Theo-
474 Der Aufstieg des Arturo Ui

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Ui. München 1982. – Ludwig, Emil: Hindenburg und
die Sage von der deutschen Republik. Amsterdam
1935. – Müller, Heiner: Heiner Müller im Gespräch
475

zwei Ländern nicht nur die Beherrschten, son-


Die Gesichte der Simone dern auch die herrschenden Schichten der bei-
Machard den Länder gemeinsame Interessen haben.
Der Besitzer und der Räuber stehen Schulter
an Schulter gegen diejenigen, welche das Ei-
gentum nicht anerkennen – die Patrioten.«
Entstehung (GBA 27, S. 37) Trotz dieser klaren Konzeption
bereitete B. die Ausführung der ersten Szene
Schwierigkeiten, wie er am 20. 12. 1941 im
Während seines Aufenthalts in Finnland, »un- Journal notierte: »Das ist zu wenig im Ge-
ter dem unmittelbaren Eindruck der Beset- stischen, überhaupt noch nicht Theater, quali-
zung Frankreichs durch die Nazis« (Schmitt- tätslos, tot, reiner Konflikt ohne Widersprüch-
Sasse, S. 171), kam B. die Idee zu dem Stück. lichkeit.« (Ebd.) Da die Szene »also vorläufig
Der Frankreichfeldzug endete mit dem Waf- unschreibbar« war, wurde die Arbeit zunächst
fenstillstand in Compiègne am 22. 7. 1940; am nicht fortgesetzt.
7. 7. 1940 hatte B. ins Journal notiert: »Eine Der Eintrag ins Journal vom 24. 12. 1942
junge Französin in Orleans, in Abwesenheit (vgl. GBA 27, S. 38) weist darauf hin, dass B.s
ihres Bruders eine Tankstation bedienend, Lektüre des deutschen Manuskripts von Lion
träumt im Wachen und Schlafen, sie sei die Feuchtwangers Unholdes Frankreich (1942),
Jeanne d‘Arc und erlebe ihr Schicksal. Denn das zuerst in englischer Übersetzung unter
die Deutschen rücken auf Orleans vor. Die dem Titel The Devil in France (1941) erschien,
Stimmen, die Jeanne hört, sind Stimmen des etwa gleichzeitig mit der Arbeit am Stück ver-
Volkes, was der Hufschmied sagt und der lief. B. konnte sich über die französichen Ver-
Bauer. Sie gehorcht diesen Stimmen und rettet hältnisse im Jahr 1940 informieren und stieß
Frankreich vor dem äußeren Feind, jedoch auf Formulierungen von Erfahrungen und An-
wird sie besiegt von dem inneren.« (GBA 26, sichten, die er teilte. Er lobte den Erfahrungs-
S. 400) In dieser Notiz war bereits – einmal bericht des aus französischen Internierungsla-
abgesehen von der Lokalisierung – der Kern gern entkommenen Feuchtwanger als »Wahr-
der Fabel des späteren Stücks enthalten. An scheinlich sein schönstes Buch« (S. 38).
den Vorarbeiten war B.s Mitarbeiterin Ruth Die Wiederaufnahme der Arbeit erfolgte in
Berlau beteiligt, die einen Stückplan festhielt. engem Kontakt mit Feuchtwanger. Am 30. 10.
Erst nach seiner Ankunft in Amerika entwarf 1942 besprach B. mit ihm den Stückplan zu Die
B. im Dezember 1941 – wenige Tage nach dem heilige Johanna von Vitry (Die Stimmen): »In
japanischen Angriff auf Pearl Harbor – »für das den Träumen einer verwirrten Person nehmen
Theater eine ›Jeanne d’Arc 1940‹« (GBA 27, die Gestalten der patriotischen Legende die
S. 35), und am 19. 12. 1941 existierten bereits Züge ihrer Obern an, und sie erfährt, wie,
»neun Szenen, davon vier Träume« (S. 37). Die warum und wie lang die Obern ihren Krieg
Notiz Berlaus, die im Mai 1942 nach New York führen.« (Journal, 30. 10. 1942; GBA 27,
übersiedelte, bezieht sich wohl auf diesen Ar- S. 132). Es folgte eine bis etwa Februar 1943
beitsabschnitt im Dezember 1941: »Brecht er- dauernde Phase der regelmäßigen Zusammen-
zählte den Tagesablauf der Simone, und ich arbeit im Hause Feuchtwangers am Sunset
fügte ihre Träume ein. Ich schrieb wie im Fie- Boulevard in Los Angeles. Das Stück hieß jetzt
ber, weil ich etwas abliefern durfte, was Brecht Die Visionen der Simone Machard, und es er-
verwenden konnte.« (Bunge, S. 154) Das Stück gaben sich Meinungsverschiedenheiten über
hieß jetzt Die Stimmen, diese identifizierte B. »Feuchtwangers zähe Verteidigung der natura-
im Journal vom 19. 12. 1941 wiederum als listischen Wahrscheinlichkeit«, seine »veral-
»Stimmen des Volkes«: »Jeanne vertritt, was tete ›biologische‹ Psychologie« und über die
das Volk sagt«, denn die »gesellschaftlichen Anwendbarkeit der »Marxschen Klassen-
Zustände sind so, dass in Kriegen zwischen kampfgesetze« (Journal, 25. 11. 1942; S. 140).
476 Die Gesichte der Simone Machard

Insgesamt aber war die »streitbare Zusammen- B. allein mit der Überarbeitung, zog aber
arbeit« (Eisler/Bunge, S. 107) der beiden von Hanns Eisler heran, der eine »herrliche« Büh-
unterschiedlichen politischen wie ästheti- nenmusik für das Stück zu schreiben begann.
schen Positionen ausgehenden Autoren frucht- Eisler kritisierte an der Hauptfigur, »daß sie zu
bar; am 3. 1. 1943 schrieb B. über Feuchtwan- sehr ›natürliche‹ Patriotin« sei und nicht als
ger: »Er hat Sinn für Konstruktion, versteht »Opfer patriotischer Erziehung« erscheine
sprachliche Feinheiten zu schätzen, hat auch (Eisler/Bunge, S. 51). Eislers Kritik ging in
poetische und dramaturgische Einfälle, weiß das Typoskript ein, das wahrscheinlich im Juni
viel von Literatur, respektiert Argumente und 1943 entstand; sie wurde ebenfalls im letzten
ist menschlich angenehm, ein guter Freund.« Typoskript, der »zweiten Fassung 1946«, die
(GBA 27, S. 147) Schwierigkeiten bereitete B. als Textgrundlage für den Abdruck in der GBA
die Begründung des »Patriotismus der Si- diente, berücksichtigt. Der Erstdruck erfolgte
mone«, daher schlug er vor, »sie zum Kind zu postum in der DDR-Zeitschrift Sinn und Form
machen« (Journal, 25. 11. 1942; S. 142), aber (1956).
»das Kindhafte mit einem V-Effekt [zu] ver-
sehen« (Journal, 2. 12. 1942; ebd.). Im Dezem-
ber 1942 hatte er immer noch keine genaue
»Vorstellung von der Hauptrolle« (S. 144). Zeitgeschichtlicher Hintergrund
Feuchtwanger schrieb rückblickend: »Dem
Brecht wurde Jeanne-Simone während der Ar-
beit immer jünger, mir immer älter« (Feucht- Der Fall Frankreichs, seine Niederlage im Juni
wanger 1957, S. 57). Diese Festellung wider- 1940, war ein Medienspektakel ersten Ranges:
spricht John Fuegis Beurteilung der Simone »Wochenschauberichte, […] Rundfunk und
als »starke weibliche Hauptfigur«, die der Presse informierten die Welt über den Kollaps
›gleichberechtigten‹ Zusammenarbeit mit der Grande Nation« (Betz, S. 94). B.s Eintra-
Berlau zu verdanken sei (Fuegi, S. 598 f.). gungen im Journal (vgl. GBA 26) zeigen, dass
Neben der Hauptfigur bereitete auch der er im finnischen Exil die Vorgänge in Frank-
Schluss Schwierigkeiten; B. dachte über das reich mit großer Aufmerksamkeit verfolgte.
Problem nach, wie die Tatsache, dass die »Pé- Die Niederlage Frankreichs kommentierte er
tains die Niederlage und die fremde Besat- am 28. 6. 1940: »Frankreichs Fall, Sturz eines
zung« dazu benutzen, »ihre sozialen Gegner Weltreichs in drei Wochen!« (GBA 26, S. 393)
niederzuwerfen« in der Schluss-Szene ka- B., für den die »Aktualisierung und Stringenz
schiert werden könne, da sonst das Stück im der politischen Botschaft […] vorrangig«
Amerika der 40er-Jahre »unaufführbar« sei (Betz, S. 94) war, griff auf ein verbreitetes Er-
(Journal, 5. 1. 1943; GBA 27, S. 147). Die klärungsmuster zurück, wenn er in seiner er-
Phase der Zusammenarbeit zwischen B. und sten Notiz über Simone Machard im Journal
Feuchtwanger endete, als B. Anfang Februar am 7. 7. 1940 den »Sieg der fünften Kolonne!«
1943 nach New York reiste. Das Ergebnis der (GBA 26, S. 400) postulierte und damit auf das
gemeinsamen Arbeit war ein Typoskript mit zentrale Element der Kooperation und Kolla-
dem Titel Die Gesichte der Simone Machard. boration der Besitzenden mit den deutschen
Ein Stück in acht Szenen von Bertolt Brecht Eindringlingen hinwies. Nicht der Sieg der
und Lion Feuchtwanger, das Feuchtwanger Hitler-Truppen, sondern das Wirken der
herstellen ließ. Von der gemeinsamen Arbeit »fünften Kolonne«, die einflussreiche Verbin-
ausgehend, schrieb Feuchtwanger 1943 seinen dungen zur Regierung besessen habe, wurde
Roman Simone, der 1944 in englischer Über- z. B. in J’accuse. The Men Who Betrayed
setzung und 1945 in deutscher Sprache er- France (1940), einem vorgeblich von dem fran-
schien, und in dem er seine eigenen Vorstel- zösischen Journalisten André Simone (Otto
lungen des Stoffes realisierte. Nach seiner Katz) verfassten Augenzeugenbericht, für das
Rückkehr aus New York Ende Mai 1943 begann Scheitern Frankreichs verantwortlich ge-
Zeitgeschichtlicher Hintergrund 477

macht. B. hatte Katz Ende der 20er-Jahre in falls den Fall Frankreichs und weist eine Reihe
Berlin als Mitarbeiter des Piscator-Theaters von Parallelen zu Simone Machard auf. Ob-
kennen gelernt und blieb mit ihm noch nach wohl auch Zuckmayer und Kortner die Ur-
der Rückkehr aus dem Exil in brieflicher Ver- sachen der Niederlage Frankreichs auf die
bindung. Es ist daher anzunehmen, dass B. in durch das Profitstreben der Bourgeoisie und
Kalifornien Simones Bestseller gelesen oder ihre Anfälligkeit für faschistische Parolen mo-
zumindest davon gehört hatte (vgl. Schoeps, tivierte Kollaboration zurückführen, unter-
S. 206 f.). Feuchtwanger übernahm in Unhol- scheiden sich Simone Machard und Somew-
des Frankreich die von Katz und »einem Teil here in France ganz wesentlich in ihrer Aus-
der KPF im Untergrund vertretenen Analyse sage. Während Zuckmayer den Grund des
des französischen Desasters« (Betz, S. 95): Blitzkriegs abstrakt-spekulativ in Deutsch-
»Die französischen Faschisten hatten ihr Land lands vermeintlich obsessivem Streben nach
unserm Feind ausgeliefert« (Feuchtwanger der Weltherrschaft sucht – das »andere
1983, S. 158 f.). Diese radikale Einschätzung Deutschland« der Exilanten wird durch die
des Linksliberalen Feuchtwanger, mit der er Nennung Goethes, Heines und Stresemanns
sich im Einklang mit B. befand, ist wohl unter evoziert –, bietet B. eine dezidiert sozialöko-
dem unmittelbaren Eindruck seiner Leiden in nomische Erklärung (vgl. Mews 1997a, S. 67–
den französischen Lagern zustandegekommen 69; ders. 1997b).
(vgl. Betz, S. 95). B.s Versuch, die zeitgenössische Kriegsthe-
Eine weitere zeitgenössische Quelle, die B. matik mit dem historischen Stoff der Jeanne
nachweislich kannte (vgl. GBA 26, S. 474) und d‘Arc zu verbinden, lag insofern nahe, als er
der er viele Informationen über die mangel- schon in Die heilige Johanna der Schlachthöfe
hafte französiche Kriegspolitik entnehmen eine Aktualisierung vorgenommen hatte. Frei-
konnte, war die englische Übersetzung von lich spielte das Stück in Chicago und behan-
André Maurois‘ Tragedy in France (1940). delte die Verschärfung der Klassenkampfsitua-
Maurois‘ Einschätzung jedoch, dass fehlender tion auf dem Hintergrund der Weltwirtschafts-
nationaler Wille und die auf Maßnahmen der krise. B. hatte ausführliche Quellenstudien zur
Kommunisten unter der Volkfrontregierung Die heiligen Johanna getrieben; er brauchte
Léon Blums zurückzuführende soziale Spal- sie daher für Simone Machard nicht eigens zu
tung Frankreichs für das Scheitern Landes ver- wiederholen.
antwortlich zu machen seien, dürfte kaum B.s
Zustimmung gefunden haben. Schon bei
Feuchtwanger konnte B. nachlesen, dass der
Krieg »ein Schwindel« sei, »nur dazu be- Werkbeschreibung
stimmt, einige reiche Herren noch reicher zu
machen« (Feuchtwanger 1983, S. 84). Feucht-
wanger schildert ebenfalls die Leiden der vor Die Handlung des aus vier Real- und vier
den Deutschen fliehenden Zivilbevölkerung Traumszenen bestehenden Stücks findet in der
(S. 145). Die den Nachschub erschwerende letzten Woche des Kriegsgeschehens in Frank-
allgemeine Fluchtwelle ist ein neues Phäno- reich statt; sie beginnt am Abend des Tages der
men des modernen, technisierten Kriegs: der Einnahme von Paris (14. 6. 1940) und endet
Blitzkrieg. mit dem Waffenstillstand von Compiègne
Es ist nicht sicher, ob B. das antifaschisti- (22.6.). Ort der Handlung ist ein überschau-
sche Exildrama Somewhere in France, eine Ge- barer Bereich, der »Hof der Hostellerie ›Du
meinschaftsarbeit von Carl Zuckmayer und Relais‹« in »der kleinen französischen Stadt
Fritz Kortner, kannte. Das Stück wurde im Saint-Martin in Mittelfrankreich an einer
April 1941 in der Bundeshauptstadt Washing- Hauptstraße von Paris nach dem Süden« (GBA
ton aufgeführt, gelangte aber nicht, wie vorge- 7, S. 118). In dem sozialen Mikrokosmus der
sehen, an den Broadway. Es behandelt eben- Hostellerie, einem Gasthaus samt Fuhrunter-
478 Die Gesichte der Simone Machard

nehmen, stehen der Patron Henri Soupeau und Frankreich der Besitzenden inspirieren (vgl.
seine besitzstolze Mutter an der Spitze. Sie S. 123), aber Simone zieht aus ihrer Lektüre
gehören zwar nicht zu den einflussreichen die Schlussfolgerung, dass die Heilige Jo-
»Zweihundert Familien« Frankreichs, von de- hanna, mit der sie sich zunehmend identifi-
nen Feuchtwanger in Simone spricht (Feucht- ziert, »alle Feinde Frankreichs« (S. 122) töten
wanger 1984, S. 346 u. ö.), aber in der Klein- solle.
stadt repräsentieren sie das Kapital. Die Simones äußerst intensive Beschäftigung
Chauffeure und anderen Angestellten der Ho- mit dem »Buch« führt zu ihrem ersten Traum,
stellerie vertreten die Arbeiter; die »Halb- in dem ihr ein Engel erscheint; er trägt die
wüchsige« Simone, »mit zu langer Schürze und Züge ihres an der Front kämpfenden (und
zu großen Schuhen« (GBA 7, S. 119) wird von wahrscheinlich bereits gefallenen) Bruders
den Soupeaus ausgebeutet und steht auf der André und ruft sie in gehobener Sprache (ge-
untersten Stufe der sozialen Pyramide. Ob- reimte Verse) zur Rettung Frankreichs auf. In-
wohl kaum dem Kindesalter entrückt, muss sie dem Simone dieser Aufforderung Folge leistet,
Erwachsenenarbeit leisten; auf tatkräftige Un- gerät sie in einen zunehmenden Konflikt mit
terstützung darf sie nicht hoffen, denn die den Soupeaus, der schließlich zu ihrer Entlas-
männlichen Angestellten der Hostellerie sung führt. Als die Deutschen die Stadt be-
schauen ihr »rauchend« bei ihrer schweren Ar- setzen, zündet sie das vom Patron gehortete
beit zu (ebd.). und der französischen Armee vorenthaltene
Der Personenkreis der Hostellerie wird er- Benzin an, um die Auslieferung des Treibstoffs
gänzt durch den sich von der Front absetzen- an die Deutschen zu verhindern und damit den
den, das defätistische Offizierskorps vertre- Vorstoß der Panzer – Voraussetzung des Blitz-
tenden Obersten und den Großgrundbesitzer kriegs – zu verlangsamen. Für ihre patrioti-
Capitaine Fetain, dessen Namensähnlichkeit sche Tat wird Simone von den kollaborier-
mit dem Marschall Pétain ihn als Faschisten enden Soupeaus in eine Irrenanstalt verbracht,
ausweist – wie »Alle Welt weiß« (GBA 7, jedoch wirkt ihr Widerstandsakt beispielge-
S. 121) –, und schließlich den die Staatsgewalt bend.
verkörpernden Maire, den Bürgermeister. Als Jeder Realszene folgt jeweils eine Traum-
weitere Vertreter des Volks kommen die vor szene (einschließlich eines Wachtraums), wo-
den Deutschen fliehenden Flüchtlinge, die bei in den Traumszenen Elemente der Real-
lieblosen, servilen Eltern Simones und einige szenen enthalten sind, so dass sie zunächst als
Soldaten hinzu, so dass die Hostellerie ge- Wiederholung und Spiegel der Realsszenen,
wissermaßen als »Modell für Frankreich« (Al- freilich ›verfremdet‹ erscheinen. Gleichzeitig
bers, S. 67 f.) dient. kommentieren die Traumszenen das Gesche-
Die Sympathien Simones gehören den Strö- hen der Realszenen, weisen auf ihre Wider-
men von Flüchtlingen, die sich in einer wah- sprüche hin und verdeutlichen sie.
ren »Völkerwandrung« (GBA 7, S. 121) über In den Traumszenen übernehmen Simone
Südfrankreich ergießen und sowohl Trans- und die Figuren der Realszenen die im Perso-
portmittel mit dem dazu notwendigen Treib- nenverzeichnis angegebenen Rollen der
stoff als auch Lebensmittel benötigen. Der Pa- Jeanne d‘Arc-Geschichte (GBA 7, S. 118), so
tron wiederum benutzt seine Lastwagen, um dass alle Schauspieler eine Doppelaufgabe zu
die Weinfässer des Capitaine und seinen eige- erfüllen haben. Innerhalb des Zeitraums von
nen Besitz in Sicherheit zu bringen. Die Inter- einer Woche werden Vorgänge zusammenge-
vention des wohlmeinenden, aber schwachen rafft, welche die über zweijährige Tätigkeit
Maire bleibt erfolglos. Die Notlage der Flücht- der historischen Johanna umfassen, »von ih-
linge benutzt der Patron zum Geschäftema- rem Aufbruch aus Domremy [Dezember 1428]
chen, indem er Proviant zu Wucherpreisen an bis zu ihrer Verbrennung in Rouen [Mai 1431]«
sie verkaufen lässt. Das »Buch«, das er Simone (Fischer, S. 259). Simone orientiert sich dabei
gegeben hat, soll sie zum Patriotismus für das an ihrem Buch. Vor der ersten Traumszene ist
Werkbeschreibung 479

Simone »erst auf Seite 72« angelangt, »wo die tivs hat sich aufgetan, die Dramenfiguren sind
Jungfrau die Engländer geschlagen hat und in aus dem zweigeteilten Schema des Klassen-
Reims den König krönt« (GBA 7, S. 122). Nach kampfes entlassen« (Storz, S. 182). Ähnlich ar-
ihrer Berufung durch den Engel folgt sie dann gumentiert Martin Esslin, der Simone Ma-
der durch das Buch vorgegebenen Handlung. chard für eine von B.s »zartesten und visionär-
Die Krönung steht im ersten Traum Simones sten Schöpfungen« (Esslin, S. 105) und eines
im Mittelpunkt. Die Visionen oder Traumbil- seiner »harmlosesten« Stücke (S. 280) hielt.
der projizieren Simones Bewusstsein auf die Noch James K. Lyon meinte, Simone Machard
Bühne und machen dadurch die Differenz zwi- sei »ein ganz unepisches Stück«, in dem B.
schen Realitäts- und Traumebene für den »Feuchtwangers Ablehnung politischer und
Zuschauer sichtbar. Folglich stellt der ›unnatu- ökonomischer Motivierungen übernommen
ralistische Stil‹ (vgl. GBA 27, S. 37) der und andere, sonst als ›naturalistisch‹ verpönte
Traumszenen, der durch die gelegentliche Ver- Vorschläge akzeptiert« habe (Lyon, S. 147 f.).
wendung einer dem Zuschauer unverständli- Im Allgemeinen hat sich jedoch die Ansicht
chen Traumsprache erhöht wird, »keinen durchgesetzt, dass B. »die Verbindung von
Bruch mit dem epischen Theater« dar, viel- Kampf um nationale Selbständigkeit und so-
mehr sind die Traumszenen »ein Paradebei- zialer Befreiung« herausarbeite und zeige,
spiel für Historisierung und Verfremdung« »daß sich letztlich der Gegensatz der Klassen
(Albers, S. 78). Anders ausgedrückt: In der als stärker erweist als der der Nationen« (Al-
Sichtbarmachung der Differenz zwischen bers, S. 68). Diese Einsicht hatte B. bereits in
Real- und Traumszenen »steckt der zentrale Die Rundköpfe und die Spitzköpfe (vgl. GBA 4)
Verfremdungseffekt« des Stücks (Fischer, in dem als Untertitel verwendeten, verfremde-
S. 253). Durch diesen Prozess wird ebenfalls ten Sprichwort formuliert: »Reich und reich
»das aus den Realszenen übernommene Mate- gesellt sich gern« (GBA 7, S. 157). Sicher ist es
rial aus seiner Kontingenz, seiner Undurch- richtig, dass 1940 statt »sozialistischer Revolu-
schaubarkeit für das Kind« befreit und »prakti- tion oder Volksfront« allerorten die »›natio-
kabel« gemacht, so dass Simone schließlich in nale Revolution‹ auf dem Programm« stand
die Lage versetzt wird, »den verändernden (Betz, S. 96); selbst in der Zeit der Volksfront-
Eingriff« vorzunehmen (Schmitt-Sasse, S. 179). politik mit ihrem Ziel der Herstellung eines
klassenübergreifenden Bündnisses zur Be-
kämpfung des Nationalsozialismus, hatte B.
auf der Vorrangigkeit der Eigentumsfrage be-
Zur Forschungslage harrt, auf die er auf dem I. Internationalen
Schriftstellerkongress zur Verteidigung der
Kultur in Paris (1935) hinwies (vgl. GBA 22,
Obwohl das Stück keineswegs zu den Schwer- S. 146). Die Verbindung des Klassenaspekts
punkten der Brecht-Forschung gehört, hat das des Kriegs mit »der gloriosen Jeanne-d‘Arc-
Erscheinen einer freilich relativ kleinen An- Überlieferung« (Mennemeier, S. 80) stellte B.
zahl von Veröffentlichungen in den 80er- und dadurch her, dass er die Protagonistin zum
90er-Jahren die Diskussion um Simone Ma- Kind machte, die das Opfer der Gegensätze im
chard belebt, so dass man nicht mehr von ei- eigenen Land wird.
nem ›vergessenen Brecht‹ sprechen kann (vgl.
Albers, S. 66). Zumindest die ältere Forschung
schien dem »stillschweigenden Konsens [an-
zuhängen], es handle sich um ein Nebenwerk« Analyse
(Betz, S. 103), eine Annahme, die ebenfalls
mit dem Argument begründet wurde, dass B.
hier ausnahmsweise seine politischen Inten- »Die Gestalt der Simone gehört zu den am
tionen ignoriert habe: »Der Käfig des Kollek- meisten diskutierten Aspekten des Stücks«
480 Die Gesichte der Simone Machard

(Albers, S. 74); dennoch ist »dieses unbedacht wieder in den Patron – nicht während der Ar-
reagierende Kind« keineswegs als »Vorbild« beitszeit. Das Geschäftliche herrscht vor; so
(S. 75) oder unumschränkt positive Heldin zu z. B. unterbricht Soupeau seine Ausführungen
sehen. Zu ihrer (imaginierten) Rolle als zum Mythos Frankreich, um dem Kellner An-
Jeanne d‘Arc gelangt Simone nicht durch eige- weisungen zur Bedienung der Gäste zu geben
nen Entschluss oder durch einen bewussten (vgl. GBA 7, S. 123). Der Widerspruch zwi-
Willensakt. Vielmehr dient das »Buch«, das schen des Patrons »ideologischer Überzeu-
bereits als Titel der ersten Szene auftaucht gung, ein guter Patriot zu sein, und seiner
(GBA 7, S. 119), das Simone ständig bei sich eigennützigen Handlungsweise« (Fischer,
trägt, in dem sie bei jeder sich bietenden Gele- S. 244) ist nicht ohne Komik. Gleichzeitig
genheit liest und das sie am Schluss an die macht der spöttische Kommentar Père Gusta-
Soupeaus zurückgeben muss, als Hauptquelle ves die Diskrepanz zwischen patriotischem
ihres Patriotismus. Dieses Buch wird daher Anspruch und unpatriotischem Verhalten –
lediglich als »die Jungfrau von Orléans« u. a. die Bewirtung des desertierenden Ober-
(S. 121) identifiziert. Jeanne d‘Arc war seit sten zu überhöhten Preisen – ganz deutlich:
dem frühen 19. Jahrhundert – zumindest bei »Jetzt soll noch das Abwaschmädchen zur
der traditionalistischen und klerikalen Rech- Jungfrau von Orléans erzogen werden, natür-
ten (vgl. Betz, S. 97) – als »Tochter Frank- lich nur in ihrer freien Zeit. Die Kinder stop-
reichs« und französische Nationalheilige eta- fen sie uns voll mit Patriotismus. […] sie ver-
bliert. B. hatte weder für die religiöse noch die stecken ihr gehamstertes Benzin in gewissen
monarchistische »Dimension des Stoffes« Ver- Ziegeleien, statt daß sie es der Armee ablie-
wendung; vielmehr betonte er sowohl Simo- fern.« (GBA 7, S. 124)
nes »Herkunft aus dem einfachen Volk« (S. 99) Simone ist anfangs unfähig, die patriotische
wie ihre Kindlichkeit, mit der er das noch zu Rhetorik des Patrons zu durchschauen, ihr ent-
erörternde Problem des Patriotismus in den geht die Ironie, die darin steckt, dass der Pa-
Griff zu bekommen hoffte. tron die Forderung des Maire nach den Last-
Das ihr vom Patron geschenkte Buch – »ein wagen, »Habe Frankreichs«, empört als »Anar-
patriotisches Legendenbüchlein« (Fischer, chie« zurückweist, um im gleichen Atemzug
S. 243) – bringt, wie Père Gustave bemerkt, sein »kostbares Porzellan-Service« als »Frank-
Simone »ganz durcheinander« (GBA 7, S. 123), reichs Habe« (GBA 7, S. 140) zu reklamieren
denn sie nimmt »das altmodische Zeug […] (vgl. Jaretzky, S. 77). Sie glaubt naiv an die
das blutdürstige Zeug« mit dem Gebot des En- Güte und Redlichkeit ihres Arbeitgebers: »Der
gels, die Feinde zu töten, völlig ernst und be- Patron macht nichts Unrechtes.« (GBA 7,
kommt »Alpträume« (S. 122), weil sie über S. 124) Die Abspeisung des Sergeanten, der
»Zuviel Phantasie« (S. 127) verfügt. Der Pa- zur Essensbeschaffung für seine Mannschaft in
tron bestärkt Simone in ihrer Identifikation die Hostellerie kommt, mit einer kärglichen
mit der heroisch-legendären Gestalt der Jung- Portion ist ihr zuwider. Trotzdem erfindet sie
frau von Orléans, wobei freilich sein Patriotis- Ausflüchte, um den Patron zu decken. Erst am
mus mit seinem Eigennutz und seinem Inter- Schluss der ersten Szene bricht der »Konflikt
esse an der Bewahrung seines Eigentums in zwischen ihrer Hilfsbereitschaft und ihrer
Konflikt gerät. Soupeaus Besitz strukturiert Loyalität [zum Patron] offen aus« (Schmitt-
»sein Leben und Denken« und beeinflusst Sasse, S. 178), denn die Frage des Maire nach
»sein Sprechen, Handeln und Lernen ent- dem Versteck des gehamsterten Benzins stürzt
scheidend« (Fischer, S. 242). Dies wird deut- sie in einen »Gewissenskonflikt« (ebd.) und
lich, wenn Soupeau in pathetischer Rede nicht Zwiespalt, den sie (noch nicht) zu lösen ver-
nur die große nationale Geschichte Frank- mag; unter Tränen gehorcht sie dem barschen
reichs beschwört, sondern auch Simone aus- Befehl des Patrons: »Vorwärts, Simone. Allez
drücklich zur Lektüre des Buches auffordert, hopp.« (GBA 7, S. 130)
allerdings – hier verwandelt sich der Patriot Freilich ist Simones Loyalität gegenüber
Analyse 481

dem Patron (vgl. GBA 7, S. 127) entschuldbar, sten Angestellten. Darüber hinaus gibt André
da sie aus altruistischen Motiven erfolgt – als Engel in den Traumszenen Simone »kon-
»[Der Patron] hält mich, damit mein Bruder krete Handlungsanweisungen« (Albers, S. 80),
nicht die Stelle hier verliert« (S. 124) –, wäh- die sie im Rahmen des ihr Möglichen auszu-
rend die Angestellten der Hostellerie aus egoi- führen versucht.
stischen Motiven handeln. Sie durchschauen Nachdem der Engel sie zur Retterin Frank-
den Patron, der sich selbst als Kriegsgewinnler reichs ausgewählt hat, ist Simones erste Auf-
entlarvt: »Ich habe keine Wohlfahrtsanstalt, gabe der Versuch, die Einheit aller Franzosen –
ich bin Restaurateur« (S. 130), und machen »Alt und Jung, Reich und Arm« (GBA 7,
sich keine Illusionen darüber, dass der Krieg S. 131), wie der Engel sagt – herzustellen, da
wegen der Interessen der Besitzenden nur nur die Einheit eine Chance für die erfolg-
halbherzig geführt wird. Aber sie schwanken reiche Abwehr des Feindes bietet. Der Engel
»zwischen Anpassung und Widerstand« (Al- preist Frankreich als »die große Arbeiterin und
bers, S. 71) und beschränken sich im Wesentli- Weintrinkerin« (ebd.), eine volkstümliche
chen auf eine letztlich ineffektive Verbaloppo- Sicht, die Simone von Georges vermittelt wird
sition, die nur bei dem vorübergehenden (S. 122). Es sind daher »die Seineschiffer«, die
Machtverlust des Patrons zur Arbeitsverweige- »Bauern der Gironde«, die »Kesselschmiede
rung führt (vgl. GBA 7, S. 138 f.) und sich ekla- von Saint-Denis« und die »Zimmerleute von
tant vom Verhalten Simones unterscheidet. Lyon« (S. 131), also hauptsächlich Arbeiter ud
Letztlich besteht eine temporäre Interessenge- Bauern, die Simone mit der ihr von »Gott«
meinschaft zwischen dem Patron und seinen (ebd.) geschickten Trommel, dem der Herstel-
Angestellten; trotz des Appells des Maire an lung der nationalen Einheit dienenden Instru-
Maurice und Robert als »ehrliche Burschen« ment, zusammenrufen soll. Das patriotische
(S. 130) leugnen die beiden, dass der Patron Pathos des in gereimten Versen redenden En-
schwarzes Benzin hortet. Schließlich hat der gels steht im Kontrast zu der Schwierigkeit der
Patron sie als für sein »Fuhrgeschäft unab- Simone gestellten Aufgabe: Père Gustave ver-
kömmlich« (S. 138) reklamiert und damit sucht sich vor dem Marsch nach Orléans zu
ihren Einsatz an der Front verhindert. Der drücken, der Patron als Connétable (Oberstall-
Soldat Georges, der seine Armverletzung si- meister am Hof des Königs) fordert von ihr
muliert, legt eine ähnlich unheroische Verhal- Gehorsam, und der Maire, als König Karl der
tensweise an den Tag. Lediglich Simones höchste Repräsentant staatlicher Autorität, be-
17-jähriger Bruder André ist zu Opfern für den kennt gegenüber Simone offen seine Abhän-
nationalen Abwehrkampf bereit: »Er war der gigkeit von den Patronen und Adeligen: »Der
einzige in Saint-Martin, der sich freiwillig Adel ist gegen den König. So steht es ja auch in
meldete.« (S. 125) Der in den Realszenen nicht deinem Buch. Während hinter dir das Volk
auftretende André ist sicher nicht die wichtig- steht, besonders Maurice.« (S. 135) Sein
ste Figur des Stücks (vgl. Schoeps, S. 202, Handlungsspielraum ist wegen dieser an Käuf-
S. 205); seine Charakterisierung als »rot« lichkeit grenzenden Abhängigkeit eng be-
durch den Patron (GBA 7, S. 162) lässt ihn als grenzt, und trotz seines guten Willens und
Parallelfigur zum ebenfalls vom Bühnenge- seiner Sympathie für Simone und die Flücht-
schehen abwesenden Neffen des Schankwirts linge sieht er sich außerstande, »störend« in
Glubb im vierten Akt von Trommeln in der »das Geschäftsleben« des Patrons einzugrei-
Nacht (Fassung von 1953) erscheinen (vgl. fen: »Allerdings muß ich mich in acht nehmen,
GBA 1, S. 556). Wie dieser in den November- sonst streichen sie mir mein königliches Ge-
unruhen von 1918 gefallene Neffe, der von B. halt.« (Ebd.) Daher ist sein im Anschluss an
als »eine Art Gegenpart« (GBA 1, S. 553) zum seine Krönung ausgesprochener und die erste
opportunistischen Kriegsheimkehrer Andreas Traumszene abschließender Dank – »Johanna,
Kragler intendiert war, dient André als posi- du hast Frankreich gerettet« (S. 137) – vorei-
tive Gegenfigur zu den weitgehend angepas- lig, denn die Abwesenheit der »Königsmutter«
482 Die Gesichte der Simone Machard

Isabeau (Madame Soupeau) und des Connéta- deren Gesichter »ungerührt maskenhaft« sind
ble bei der Krönung gefährden »die Einigkeit (S. 176) in der letzten Realszene, in der sich
unter den Franzosen« (S. 136). die Soupeaus und die Capitaine zu Richtern
Trotz ihres Festhaltens an der die Eigen- über Simone aufwerfen. Im kollaborationswil-
tumsfrage ignorierenden Einheit des französi- ligen Frankreich des Marschalls Pétain, wo die
schen Volkes hat Simone aus ihrem Traum ge- Gefahr der von den aufrührerischen Flücht-
lernt; in der zweiten Realszene kündigt sie lingen ausgehenden »Anarchie« (S. 140) ge-
dem Patron den Gehorsam auf und wider- bannt ist und wieder »Zucht und Ordnung«
spricht ihm, indem sie vorschlägt, die Lebens- (S. 155) herrschen, üben sie ihre Macht direkt
mittelvorräte der Hostellerie – die der Patron aus. Der Maire ist völlig zur Randfigur ge-
»nicht vor den Deutschen in Sicherheit brin- worden und kann Simone nicht beschützen;
gen [lassen will], sondern vor den Franzosen« »hilflos« und »gebrochen« (S. 176) stolpert er
(GBA 7, S. 142) – an die Flüchtlinge auszu- davon. Obwohl »jedermann weiß«, dass Si-
teilen. Die drohende Plünderung der Vorräte mone »aus patriotischen Motiven« (ebd.) ge-
der Hostellerie, von deren Hortung die Flücht- handelt hat, beansprucht Madame Soupeau in
linge durch Simone erfahren haben, leistet ih- absolutistischer Manier sowohl das Privileg,
rer Absicht Vorschub. Simones Niederlage be- die wahre Repräsentantin Frankreichs zu sein,
ginnt sich anzubahnen, als sie von Madame als auch auch das Recht, den Begriff ›Patriotis-
Soupeau entlassen und ihr in der zweiten mus‹ zu definieren: »Die kleine Petroleuse als
Traumszene ihr Schwert genommen wird. Den Nationalheilige […]. Simone Machard, die
Aufruf des Engels zum unbedingten Wider- Tochter des Taglöhners. […] Willst d u [Si-
stand setzt sie durch das Anzünden des ge- mone] uns lehren, wie man patriotisch ist? Die
horteten Benzins in die Tat um, eine patrioti- Soupeaus haben diese Hostellerie seit 200 Jah-
sche Tat, welche die Soupeaus nicht als solche ren. […] W i r sind Frankreich, verstanden?«
gelten lassen können. Obwohl ihr Schicksal (Ebd.)
durch das »Buch« eigentlich vorherbestimmt Den Unterschied zwischen dem Pseudopa-
ist, fragt Simone in der letzten Traumszene triotismus der Besitzenden und dem wahren
»verwirrt« (S. 166) nach dem Grund für das Patriotismus, der allein von Simone praktiziert
gegen sie verhängte Todesurteil: »Daß ich zum wird – »Das Kind war hier in der Hostellerie
Tode verurteilt werde, weiß ich aus dem Buch. der einzige Mensch, der seine Pflicht getan
Aber ich möchte gerne wissen, warum. Das hat; außer ihr hat niemand eine Hand gerührt«
habe ich nie ganz verstanden« (ebd.). Auf ih- (GBA 7, S. 171) –, erläutert Maurice: »Man
ren Einwand, dass ihr Prozess ein »Irrtum« sei, war eben dabei, eine schöne Geste zu machen
da es sich um ein französisches Gericht han- und das Benzin an die Deutschen auszuliefern,
dele, antwortet der Maire: »Das weißt du doch das man der eigenen Armee hintangehalten
aus dem Buch. Natürlich wird die Jungfrau von hatte, und da mischt sich der Pöbel ein und ist
französischen Richtern verurteilt, wie es sich patriotisch.« (S. 171 f.) Simone zahlt für ihren
gehört, da sie Französin ist.« (Ebd.) Die »Kö- Patriotismus mit dem Verlust der persönlichen
nigsmutter Isabeau, Parteigängerin des ab- Freiheit. Ihre Opferrolle erscheint durch die
trünnigen Herzogs von Burgund und des Erb- prophetischen Trostworte des Engels, der
feinds« (S. 167) versucht, Simones patrioti- noch einmal in der letzten Realszene er-
sche Taten dadurch zu diskreditieren, dass sie scheint, gerechtfertigt: »Wo sie dich hinschaf-
den Engel, auf den sich Simone beruft, als fen, das gilt gleich / Wo du sein wirst, ist
sozial inferior und damit nicht authentisch Frankreich. / Und nach einer kleinen Zeit /
einstuft: »Ein richtiger Weinschwemmenengel Steht es auf in Herrlichkeit.« (S. 178) Überdies
und Gossengabriel!« (S. 169) deutet der gerötete Himmel über der Hostelle-
Ähnliches widerfährt Simone vor ihrer Aus- rie an, dass Simones Beispiel Schule gemacht
lieferung an die »Schwachsinnigenanstalt« hat. Die Flüchtlinge haben die Turnhalle, in
(GBA 7, S. 175) mit den »brutalen Damen«, der sie untergebracht waren und die jetzt von
Analyse 483

den Deutschen beansprucht wird (vgl. S. 172), das allmähliche Erlöschen des Interesses Hol-
angezündet und folgen damit der vom Engel lywoods an aktuellen politischen Stoffen nach
verkündeten Strategie der ›verbrannten Erde‹: der alliierten Invasion in der Normandie Juni
der »agitatorische Nerv des Dramas« (Menne- 1944 und der Befreiung Frankreichs mögen B.
meier, S. 80). Der Schluss legt das Deutungs- dazu bewogen haben, Aufführungspläne in
muster der klassischen Tragödie nahe: »Im Amerika zurückzustellen. Nach seiner Rück-
Untergang der Heldin siegt das Ideal, für das kehr nach Deutschland standen andere Auf-
sie focht« (Schmitt-Sasse, S. 183). Dennoch gaben im Vordergrund. Die ins Auge gefassten
kann das Stück nicht ohne weiteres als »Aufruf Inszenierungen in Prag, Leningrad, New York
zum patriotischen Widerstand« (ebd.) gelesen und Paris kamen ebenso wenig zustande wie
werden, da Simone »den falschen Patriotismus die vorgesehene Verfilmung des Stücks durch
der Besitzenden« (S. 182) – im Gegensatz zu den brasilianischen Regisseur Alberto Caval-
den Angestellten der Hostellerie – naiv beim canti. Die Veröffentlichung ließ auf sich war-
Wort nimmt, im Wesentlichen von der An- ten. Peter Suhrkamp riet noch 1956 davon ab,
nahme der Interessengleichheit aller Franzo- um die Franzosen nicht mit der Problematik
sen ausgeht und nicht erkennt, wer ihre wah- von Résistance und Kollaboration zu konfron-
ren Feinde sind. Insofern trägt das Stück »auch tieren. Die Uraufführung fand erst nach B.s
den Charakter einer Demonstration, der Vor- Tode am 8. März 1957 an den Städtischen Büh-
führung eines fehlerhaften Widerstands« nen Frankfurt am Main statt (Regie: Harry
(S. 183). Als ein mögliches – freilich unter den Buckwitz, Bühnenbild: Teo Otto, Musik:
Bedingungen des zweiten Weltkriegs nicht zu Hanns Eisler) statt. Bemerkenswert war, dass
realisierendes – Gegenmodell sowohl zum tra- B.s Wunsch nach der Besetzung der Rolle der
ditionellen Patriotismusbegiff Simones wie Simone mit einem Kind, den er im November
auch zu der im Stück evidenten Kooperation 1947 in einem Schreiben an das Nationalthea-
der Besitzenden über Ländergrenzen hinweg ter Prag geäußert hatte (vgl. GBA 29, S. 433 f.;
erscheint das kurze Spiel im Spiel, in dem sich GBA 30, S. 368), stattgegeben wurde. In der
Georges und ein deutscher Soldat mit Gesten Hauptrolle trat die von Berlau in Ostberlin
verständigen und ansatzweise internationale entdeckte elfjährige Dorothea Jecht auf. Die
Klassensolidarität demonstrieren (vgl. GBA 7, Inszenierung wurde im Großen und Ganzen
S. 159 f.). als durchschnittlich eingestuft. Die (positiven)
Reaktionen der Rezensenten waren teilweise
durch ihr Missverstehen des gesellschaftspoli-
tischen Intention B.s, das durch die »rüh-
Wirkung rende« Hauptfigur des kleinen Mädchens in
den Hintergrund geriet, geprägt. Die Rezen-
senten übten Kritik – im Hinblick auf die
Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten hat Kriegführung der Nazis – am Zerstörungsbe-
sich B. nicht sehr darum gekümmert, das Stück fehl des Engels und an der negativen Schilde-
auf der Bühne durchzusetzen. Feuchtwangers rung der Vertreter der Kirche (in den Traum-
Bemühungen um eine Aufführung 1943 schei- szenen) und der Nonnen. Die weitere Rezep-
terten ebenfalls. Eine Verfilmung seines tion ist wenig erforscht; ein auf dem Stück
Romans war geplant, nachdem Metro-Gold- basierender Fernsehfilm der DDR wurde 1967
wyn-Mayer 1944 die Film-, Fernseh- und Ra- gesendet.
diorechte erworben hatte; sie kam aber nicht Aufführungen im Ausland gab es in S ão
zustande. B. musste jedoch auf alle Rechte an Paulo (1962) und besonders im englischspra-
Stück und Roman verzichten und einer drei- chigen Raum: Glasgow (1966/67), Milwaukee
einhalbjährigen Sperrung aller Theaterauffüh- im amerikanischen Bundesstaat Wisconsin
rungen zustimmen, wofür er einen Teil des (1975/76), San Diego/Kalifornien (1983),
Honorars erhielt. Das Aufführungsverbot und New York (1994), Halifax in der kanadischen
484 Die Gesichte der Simone Machard

Provinz Nova Scotia (März 1996) und San Carl-Zuckmayer-Gesellschaft 18 (1997), S. 57–75
Francisco (Januar 2000). Unter diesen Insze- [1997a]. – Ders.: The Fall of France on Stage: Zuck-
mayer‘s Somewhere in France and Brecht‘s The
nierungen ragt die des La Jolla Playhouse in
Visions of Simone Machard. In: Görtschacher, Wolf-
San Diego heraus (Regie: Peter Sellars), in der gang/Klein, Holger (Hg.): Modern War on Stage and
das Tragische auf Kosten des zeitgenössischen Screen / Der moderne Krieg auf der Bühne. Lewis-
Bezugs betont wurde (vgl. Lyon 1983/1984). ton 1997, S. 10–117 [1997b]. – Schmitt-Sasse, Joa-
In der New Yorker Aufführung wurden in den chim: Buch und Bühne. Simone bei Feuchtwanger
Traumszenen Puppen anstelle der Autoritäts- und Brecht. In: Stephan, Alexander (Hg.): Exil. Lite-
ratur und die Künste nach 1933. Bonn 1990, S. 171–
figuren verwendet; eine Rezensentin meinte,
186. – Schoeps, Karl-Heinz J.: The Absent Hero and
das Stück zeige sowohl Simones Tragödie wie the Fall of France: Sources of Bertolt Brecht‘s The
die der Mittelklasse, die ihre humanistischen Visions of Simone Machard. In: Ders./Wickham,
Werte um ihres Besitzes willen verraten habe Christopher J. (Hg.): »Was in den alten Büchern
(vgl. Blustein). steht …«: Neue Interpretationen von der Aufklärung
zur Moderne. Fs. für Reinhold Grimm. Frankfurt
a. M. 1991, S. 202–212. – Simone, André: J‘accuse!
The Men Who Betrayed France. New York 1940. –
Literatur: Storz, Gerhard: Jeanne d‘Arc in der Dichtung. In:
Albers, Jürgen: Die Gesichte der Simone Machard. Ders.: Figuren und Prospekte. Stuttgart 1963,
Eine zarte Träumerei nach Motiven von Marx, Le- S. 170–185.
nin, Schiller. In: BrechtJb. (1978), S. 66–86. – Betz, Siegfried Mews
Albrecht: Politisierung eines Mythos. Jeanne d’Arc
als »Simone« bei Brecht und Feuchtwanger. In: Koch,
Edita/Trapp, Frithjof (Hg.): Realismuskonzeptionen
der Exilliteratur zwischen 1935 und 1940/41. Tagung
der Hamburger Arbeitsstelle für deutsche Exillite-
ratur 1986. Maintal 1987, S. 94–104. – Blustein, Sa- Schweyk
rah: New Brechtian Visions. In: Forward. Ethnic
News Watch, 14. 1. 1994. – Bunge. – Eisler/Bunge.
– Esslin, Martin: Brecht. Das Paradox des politi-
schen Dichters. München 1970. – Feuchtwanger,
Lion: Zur Entstehungsgeschichte des Stückes Si-
Entstehung, Überlieferung,
mone. In: NDL. 5 (1957), H. 6, S. 56–58. – Ders.: Mitarbeiter
Der Teufel in Frankreich. Erlebnisse. München
1983. – Ders.: Simone. In: Ders.: Die Brüder Lau-
tensack. Simone. Zwei Romane. Berlin 1984. – Fi- Wenige andere literarische Werke erfuhren ein
scher, Ulrich: Der Fortschritt im Jeanne-d‘Arc- derart ungeteiltes Lob aus B.s Mund wie
Drama des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1982. –
Jaroslav Ha šeks Fortsetzungsroman Osudy
Fuegi, John: Brecht & Co. Biographie. Autorisierte
erweiterte und berichtigte deutsche Fassung von Se- dobrého vojáka Švejka za sv ětové války
bastian Wohlfeil. Hamburg 1997. – Jaretzky, Rein- (1920–1923; dt.: Die Abenteuer des braven Sol-
hold: »Der Sieg der Fünften Kolonne«. Frankreich- daten Schwejk während des Weltkrieges). Der
Kritik in literarischen Werken von Bertolt Brecht Roman galt B. als eines von drei Jh.-Büchern
und Lion Feuchtwanger. In: Pfanner, Helmut (Hg.): (GBA 23, S. 350), er führte ihn mehrfach in
Der Zweite Weltkrieg und die Exilanten. Eine lite-
seinen unveröffentlichten Beiträgen zur Ex-
rarische Antwort. Bonn 1991, S. 73–83. – Lyon, Ja-
mes K.: Brecht in Amerika. Frankfurt a. M. 1984. – pressionismusdebatte als Musterbeispiel für
Ders.: Simone Machard in La Jolla. In: Communica- einen zeitgemäßen Realismus an (GBA 22,
tions 13 (1983/84), H. 1, S. 51–55. – Maurois, André: S. 420, S. 433, S. 442, S. 483, S. 637) und emp-
Tragedy in France. New York 1940. – Mennemeier, fahl ihn als Pflichtlektüre für die Soldaten der
Franz Norbert: Bertolt Brecht, »Die Gesichte der Nationalen Volksarmee (BBA 2214/39). Er be-
Simone Machard«. In: Modernes deutsches Drama.
nutzte den Tonfall des Buchs in Herr Puntila
Bd. 2: 1933 bis zur Gegenwart. München 1975. –
Mews, Siegfried: »Der Brecht zeugte den Zuck- und sein Knecht Matti, Mutter Courage, den
mayer«. Zum persönlichen und literarischen Ver- Flüchtlingsgesprächen und im Kaukasischen
hältnis Brechts und Zuckmayers. In: Blätter der Kreidekreis; und als ihn der Untersuchungs-
Entstehung, Überlieferung, Mitarbeiter 485

ausschuss für unamerikanische Aktivitäten setzung ins Deutsche lobte er den Schwejk
(HUAC) 1947 zum Verhör lud, bediente er sich überschwänglich und stellte Ha šek auf eine
der Schwejkschen Listigkeit im Umgang mit Ebene mit Rabelais und Cervantes. Er erhoffte
der Obrigkeit. Vor allem aber stufte er den sich von der »Volksperspektive«, dass sie »zum
Stoff von der ersten Lektüre im Jahr 1927 bis wirksamen Korrektiv gegen die überhitzte po-
zu seinem Lebensende immer wieder von litische Leidenschaft jener Staatsmänner«
neuem als besonders aktuell ein: Im Fatzer- würde, die ihr eigenes Interesse mit dem des
Notizbuch taucht bereits 1927 ein Schwejk ganzen Volkes verwechselten (Petr, S. 82).
(GBA 10, S. 387) bzw. ein Schweyk (S. 396) Brod sprach Schwejk die »tiefe Weisheit der
auf. Am Ende desselben Jahres beteiligte sich Volksnatur« zu, hob an ihm die »Höflichkeit«
B. an Erwin Piscators äußerst erfolgreicher hervor, und charakterisierte ihn mit den Wor-
Bühnenfassung des Romans, anschließend ten: »So geht der gute Soldat Schwejk, der sich
plante er mehrfach neue Bearbeitungen, zu- alles, aber auch alles gefallen läßt, Michael
nächst mit Kurt Weill für die Oper (1930–32; Kohlhaasens Antipode, unverletzlich durch
GBA 7, S. 418), später mit Piscator für den die arge Welt, während rechts und links die
Film (1933–37; vgl. Knust 1974, S. 125–146) Vorsichtigen stürzen und die Aufgeregten am
bzw. die Pariser Weltausstellung (1938; GBA 7, ärgsten hinfallen.« (S. 83)
S. 418). 1942 spielte er mit dem Gedanken In Deutschland wurde das Buch in der Über-
eines Projektes, in dem er den Schwejk mit setzung von Grete Reiner bekannt (1926/27).
Szenen aus Die letzten Tage der Menschheit Sie übersetzte Ha šeks Text ins so genannte
von Karl Kraus kontrastieren wollte (ebd.). »Kleinseitner Deutsch«, die Sprache der ärme-
Noch ein Jahr vor seinem Tod drängte er ren Leute in Prag (vgl. Petr, S. 61–80). Diese
Hanns Eisler, möglichst schnell die Musik zum Übersetzung unterschlug den anarchischen, ja
Schweyk zu schreiben (Eisler/Bunge S. 215). rüpelhaften Ton des Originals, fügte anderer-
Ohne Zweifel hatte B. in dem von ihm fast seits jene dialektale Färbung bei, die in
durchgängig mit »y« geschriebenen »Schwejk« Deutschland von nun an in Rezensionen, Es-
ein besonderes Potenzial entdeckt. says, Inszenierungen und Verfilmungen mit
Ha šeks Schwejk, ein Hundehändler, der von der Figur des Schwejk untrennbar verbunden
Amts wegen bescheinigt bekommen hat, dass wurde. Bereits die ersten deutschsprachigen
er schwachsinnig sei, ist in erster Linie Über- Leser betonten an Schwejk jene Züge, die auch
lebenskünstler. Er zeichnet sich dadurch aus, B. interessierten, seine Nähe zu Picaro, Eulen-
dass er in, sei es echter, sei es gespielter, gren- spiegel, Sancho Panza und Kasperle (vgl.
zenloser Naivität die Befehle und Gesetze, de- S. 81–98), seine »Unzerstörbarkeit« und vor al-
nen er unterworfen ist, rückhaltlos bejaht. lem seine bodenlose Weitschweifigkeit. Das
Sein Weg in den Krieg, an die Front und in die Buch erschien zu einer Zeit, als in der Lite-
Gefangenschaft verläuft ohne Richtung und ratur der Weimarer Republik eine öffentliche
Ziel und führt von Missgeschick zu Missge- Auseinandersetzung mit dem Weltkrieg be-
schick. Die alle Erfahrung vernichtende Kata- gann. Arnold Zweigs Der Streit um den Ser-
strophe des ersten Weltkriegs scheint die in geanten Grischa (1927), Erich Maria Re-
den Bildungs- und Entwicklungsromanen des marques Im Westen nichts Neues (1928) oder
19. Jh.s ausgedrückte Hoffnung auf indivi- Ludwig Renns Krieg (1929) versuchten, den
duelle Bildung und Läuterung bzw. kollektive Heldenmythen und Abenteuergeschichten ein
Entwicklung und Erziehung zunichte gemacht anderes Bild entgegenzusetzen. In dieser Si-
zu haben. In der anekdotischen Struktur des tuation erschien den Theaterleuten um Pisca-
Heftchenromans kehrt das Prinzip der Rei- tor eine Bearbeitung des Romans für die
hung von Stationen wieder, das den pikares- Bühne, welche die Inhaber der Rechte, Brod
ken vormodernen Roman kennzeichnet. und Hans Reimann, vorlegten, allzu harmlos:
Für das deutschsprachige Publikum ent- »Was hier vorlag, war nicht Ha šek, sondern
deckte Max Brod das Buch. Noch vor der Über- ein pseudo-komischer Offiziersburschen-
Schwank« (Piscator, S. 188).
486 Schweyk

Um eine tauglichere Version zu bekommen, ten (vgl. Lyon, S. 113; Hecht, S. 703). In New
setzte Piscator sein eigenes Dramaturgen-Kol- York traf B. auch Piscator, der mit Alfred
lektiv auf den Stoff an, darunter B. So entstand Kreymborg eine Broadway-Produktion des
die Grundlage für seine Inszenierung des Ro- Stoffes plante (vgl. GBA 7, S. 419). Ohne des-
mans, die am 23. 1. 1928 im Theater am Nol- sen Wissen vereinbarte B. die Zusammenar-
lendorfplatz zur Uraufführung kam und zu sei- beit mit Weill und schrieb während seines Auf-
nem größten Bühnenerfolg wurde (vgl. Wyss, enthaltes in dessen Haus in New City eine
S. 76). Piscator sah im Schwejk die Figur des- Fabel des Stücks (vgl. GBA 24, S. 325–333).
jenigen, der »alles ernst nimmt, bis es lächer- Auf der Rückfahrt nach Los Angeles las er den
lich wird, der alles befolgt, bis es zur Sabotage Roman Ha šeks erneut und besprach dann den
wird, der alles bejaht, aber in einer Weise, die Plan des Stücks mit seinem Sohn Stefan und
es vernichtet« (Piscator, S. 183). Die Inszenie- dem Schauspieler Peter Lorre, der zeitweilig
rung experimentierte mit zahlreichen Neue- für die Rolle des Schweyk vorgesehen war
rungen der Bühnentechnik, ließ Figuren auf (vgl. S. 420). Am 6.6. begann B. die Nieder-
einem laufenden Band auftreten und stellte schrift des Stücks, zweieinhalb Wochen später,
ihnen Puppen und Marionetten an die Seite. am 24., konstatierte er seine weitgehende Fer-
George Grosz steuerte einen politisch-satiri- tigstellung (vgl. GBA 27, S. 152). Dieser ersten
schen Trickfilm bei; Varieté-Einlagen, Anlei- Version, deren Titel Schweyk lautete, folgten
hen bei Chaplin und beim Slapstick steigerten zwei Varianten, von denen B. eine auf Juli 1943
die Komik der Darstellung (vgl. Knust 1974, datierte (vgl. Knust 1974, S. 167 f.). Ende Juni
S. 21–29). Das größte Problem der Inszenie- 1943 verpflichtete B. mithilfe eines Darlehens
rung stellte die Frage dar, womit das Stück von Lorre als Übersetzer Piscators Koautor
enden sollte: Offen wie der Roman Ha šeks, Kreymborg, der ihm bis September 1943 eine
mit Schwejks Fahrt in einen k. u.k-besetzten Fassung abliefern konnte, an der B. jedoch
Himmel oder, wie Leo Lania vorschlug, ein- nach anfänglicher Zufriedenheit schnell Män-
fach damit, dass Schwejk nach dem Weltkrieg gel entdeckte, die er mit Hilfe seines Sohnes,
wieder verhaftet wird, weil sich eigentlich Hans Viertels, Lorres, Mordecai Goreliks und
nichts geändert habe: »Schwejk bleibt der aso- Ruth Berlaus zu beseitigen versuchte (vgl.
ziale Mensch, das Sprengpulver, der Auflöser S. 154). B. hatte wohl die Schwierigkeiten ei-
jeder Gesellschaftsordnung« (Piscator, S. 187). ner Übersetzung des Dialekts und des spezifi-
Dieser Schluss hätte am ehesten den Plänen schen Humors des Schweyk unterschätzt. Auf
des Dramaturgenkollektivs Piscators entspro- jeden Fall konnte ihn auch die überarbeitete
chen, das glaubte, dass Schwejk »ein zutiefst Fassung nicht befriedigen. Weill hielt das
asoziales Element« sei, »kein Revolutionär, der Stück für zu unamerikanisch. Unstimmigkei-
eine neue Ordnung will, sondern ein Typus ten über die Rollenverteilung zwischen Autor
ohne gesellschaftliche Bindungen, der auch in und Komponist führten zum Bruch. Aufricht
einer kommunistischen Gesellschaft zerset- gab die $85000 zurück, die er von Förderern
zend und auflösend wirken würde« (S. 193). für die Produktion zusammengetragen hatte
Den Ausschlag dafür, dass sich B. im Som- (vgl. Haymann, S. 362) An die Stelle Weills
mer 1943 an die Niederschrift eines Schweyk- trat Eisler, der bereits den Kälbermarsch und
Musicals für den Broadway machte, dürften das Deutsche Miserere vertont hatte. Nachdem
mehrere Ereignisse gegeben haben: Während die Chancen in New York geschwunden waren,
eines Aufenthaltes in New York besuchte B. am versuchte B. noch eine Aufführung in Kalifor-
3. 4. 1943 eine von Ernst Josef Aufricht und nien zustandezubringen, zu der es jedoch trotz
Manfred George organisierte Veranstaltung des Interesses und der Begeisterung Charles
unter dem Titel We fight back, in der u. a. Jan Laughtons für das Stück nicht kam (vgl. GBA
Werich und Jirí Voscovec, zwei emigrierte 27, S. 184; GBA 7, S. 422). Nach Kriegsende
tschechische Schauspieler, einen Sketch mit signalisierten mehrere deutsche Bühnen auf-
dem Titel Schwejk’s Spirit Lives On aufführ- grund der Auszüge, die B. vorab veröffentlicht
Entstehung, Überlieferung, Mitarbeiter 487

hatte, Interesse an einer Uraufführung, beka- Aufbau und Inhalt


men nun jedoch von B. die Mitteilung, das
Stück sei noch nicht fertig (GBA 7, S. 422).
Auch die Uraufführungspläne von B. und Man- Die auffälligste strukturelle Veränderung ge-
fred Wekwerth wurden nicht realisiert. Im genüber dem Roman und der Piscator-Insze-
Rahmen der geplanten Inszenierung des nierung ist ein aus Vorspiel, drei Zwischen-
Stücks durch Wekwerth entstand im März 1955 spielen und Nachspiel bestehender Rahmen,
ein letztes Typoskript, das den Titel trägt, der in den die acht Szenen der Spielhandlung ein-
auch in den folgenden B.-Ausgaben (Stücke, gebettet sind. Seine Anlage zeugt noch von B.s
WA) dem Stück vorangestellt wurde: Schweyk anfänglichem Plan, das Stück in drei Akte ein-
im zweiten Weltkrieg. Daneben liegt eine Bo- zuteilen. Ein erstes und ein zweites Schweyk-
genkorrektur der für den Aufbau-Verlag ge- Finale sowie zwei Zwischenspiele in den hö-
planten Variante des Stücks vor (vgl. Knust heren Regionen nach den Szenen 3 und 7 soll-
1974, S. 168). ten die Pausen zwischen den Akten markieren.
Eisler schrieb seine Musik zum Stück zu- Das zunächst Epilog genannte Nachspiel führt
nächst für die Warschauer Uraufführung am Rahmen- und Binnenhandlung zusammen und
15. 1. 1957 und erweiterte sie dann für die kann insofern zugleich als neunte Spielszene
Frankfurter und Pariser Erstaufführungen um wie auch als abschließende Klammer des Rah-
Orchesterintermezzi und Partien für die höhe- mens begriffen werden.
ren Regionen. Seine Komposition entsprang Der Rahmen in den »höheren Regionen«, in
einerseits dem Bestreben, eine Kunst zu ent- dem Hitler, Göring, und Himmler »überlebens-
wickeln, die dem Ideal der ›Volkstümlichkeit‹ groß«, Göbbels »überlebensklein« (GBA 7,
entsprach, dem sich die Kulturpolitik der jun- S. 183) um einen Globus versammelt sind,
gen DDR verschrieben hatte. Er versuchte des- greift Inszenierungsideen Piscators auf, be-
halb, eingängige Lieder und Tänze zu kompo- stimmte stereotypische Figuren als Puppen
nieren. Zum anderen orientierte er sich am darzustellen und Karikaturen im Stile eines
kulturellen Kontext des Stoffs, parodierte etwa Grosz in die Inszenierung einzubinden (vgl.
in Bei der Kanone dort ein Lied aus dem ersten Piscator, S. 184) Doch das Hollywood von 1943
Weltkrieg (vgl. Dümling, S. 614) und spielte war nicht das Berlin von 1928; für B.s Dar-
häufiger auf tschechische Musik an, so im Mol- stellung der Nazi-Größen gilt, was Hans
daulied auf Smetanas Moldau, an anderer Winge über B.s Hollywooder Elegien be-
Stelle auf böhmische Volkslieder und -tänze merkte: »Sie sind wie vom Mars aus geschrie-
(vgl. Lucchesi/Shull, S. 825–844; Dümling, ben.« (GBA 27, S. 125) Es manifestiert sich in
S. 507–509, S. 608–622). Die Musik des ihnen nolens volens die Entfernung B.s vom
Schweyk verstärkt Elemente von B.s Text: So Schauplatz seines Stücks. Seine Grand
wird das Vorspiel in den höheren Regionen Guignol-Nazis sind Karikaturen zweiter Ord-
durch Pauken, acht Violoncelli und acht Kon- nung. Ihre Gestaltung orientiert sich am Stil
trabässe gewissermaßen in deren tiefere Re- amerikanischer Karikaturen, an Filmen wie
gionen verlegt, der falsche Ton der Reden Chaplins The Great Dictator (1940) oder Ernst
durch die gekünstelten hohen Tonlagen der Lubitschs To Be or Not to Be (1942) und vor
Celli illustriert (vgl. Dümling, S. 620). Die allem an einem von Arthur Szyk gestalteten
Melodie zitiert dabei das Liebes- und Todes- Titelblatt, das am 17. 1. 1942 die Zeitschrift
sehnsuchtsmotiv aus Wagners Tristan und Collier’s schmückte (vgl. Knust 1974, S. 264)
Isolde; sie legt dadurch nahe, dass nur der Darauf stehen die drei Nazi-Größen und der
»Liebestod« in der Beziehung von Hitler und kleine Goebbels hinter einer Weltkugel, die in
kleinem Mann die Erlösung bringen kann. barocker Manier mit Spruchbändern beschrif-
tet ist, auf denen »Nazi Propaganda« und »All
hope abandon ye who enter here« (dt.: Lasst
fahren alle Hoffnung, die ihr hier eintretet) zu
488 Schweyk

lesen steht, das Motto, das in Dantes Gött- indem er auf seinen »Kriegsarbeiterdienst«
licher Komödie am Eingang zur Hölle prangt. verweist, der dafür sorgen wird. (S. 209) Wie-
Um die Kugel läuft als Äquator das Spruch- derum entfalten die Szenen das Gegenteil des
band: »Heute gehört uns Europa, morgen die Gesagten. Schweyk und Baloun werden vom
Welt.« In der Weltkugel, die auf mit Haken- Arbeitsdienst eingefangen und zur Arbeit als
kreuzen geschmückten Füßen ruht, sind die Waggonschieber verpflichtet, wobei Schweyk
eroberten Weltregionen mit kleinen Haken- einen Wachsoldaten so verwirrt, dass dieser
kreuzfähnchen markiert, die Hitler offensicht- die Nummern der Waggons vertauscht, Waffen
lich von einem Tablett genommen hat, das nach Bayern und Erntemaschinen nach Sta-
Goebbels in Händen hält. Vom vorderen Fuß lingrad schickt. Im zweiten »Zwischenspiel
der Kugel schlängelt sich in Richtung Bildrand in den höheren Regionen« (S. 230) wischt
eine mit Hakenkreuzen gemaserte Schlange. Hitler die Zweifel seines Generals von Bock an
Kleine Skelette in SS-Uniformen, Hitlers Pro- der Einnahme von Stalingrad mit dem Hin-
pagandisten und Vollstrecker, versuchen den weis vom Tisch, dass der kleine Mann ihn
Erdball zu umspannen. Auf dessen Rückseite »herausreißen« (ebd.) werde. (S. 230) Damit
drückt sich Hitler mit nach beiden Seiten ge- erweist sich, dass Hitler mit seinen Helfern
spreizten Knien, vorgeschobenem Becken und anders als in den Karikaturen Szyks durch ein
zurückgelegtem Oberkörper gegen die Welt- dialektisches Abhängigkeitsverhältnis verbun-
kugel und etwa sie besetzende Soldaten: der den ist, das, wie das Stück ausführt, eine Um-
Diktator vergeht sich an der Welt und seinen kehrung erlaubt. Das Verhältnis von Groß und
Soldaten. Klein wird im Verlauf des Stücks entsprechend
Wie in der Vorlage Szyks ist auch in B.s der vorletzten Zeile des Moldaulieds auf den
Stück das Verhältnis Hitlers zu seinen kleinen Kopf gestellt: »Das Große bleibt groß nicht
Vollstreckern von Anfang an religiös und ho- und klein nicht das Kleine.« (S. 252) Der
moerotisch überdeterminiert. Hitlers Frage im ›große‹ Hitler erweist sich als Abhängiger sei-
Vorspiel: »Wie, mein lieber Chef der Polizei ner kleinen Helfer. Wie Herbert Knust be-
und SS / Steht eigentlich der kleine Mann zu merkt hat, wird hier das aus Goethes Faust-
mir? / Ich meine nicht nur, der hier / Sondern Prolog und der Tradition der Jedermann-
auch der in Österreich und der Tschechei / Spiele übernommene Motiv der Überprüfung
[…] / Ist er für mich, oder – liebt er mich?« des kleinen Erdenmenschen durch seinen Gott
(GBA 7, S. 183), erfährt aus dem Mund Him- verkehrt, wenn am Ende Schweyk seinen
mlers eine erste Antwort: »Mein Führer, zum »Gott« mit den Worten richtet: »Und ich sags
Teil betet er Sie an / Wie einen Gott und zum dir ganz offen, daß ich nur noch nicht weiß /
Teil / Liebt er Sie wie eine Geliebte, genau wie Ob ich auf dich jetzt schieß oder fort auf dich
in Deutschland!« (S. 184) Auf Himmlers Ent- scheiß.« (S. 251; vgl. Knust 1973)
gegnung folgen die ersten drei Spielszenen in Mit der Verspannung von ›höherer‹ Rah-
der besetzten Tschechei im Jahr 1939 als men- und ›niederer‹ Binnenhandlung griff B.
zweite, der ersten widersprechende Antwort: einen Plan auf, den er seit den 20er-Jahren in
Alle Tschechen, die auftreten, und selbst ein verschiedenen Variationen entwickelt hatte: In
deutscher Unteroffizier erweisen sich in Re- einem hierarchischen Modell sollten, wie B.
den und Handeln mehr oder minder als Geg- etwa im Journal vom 15. 7. 1942 schreibt, oben
ner der Besatzer. Nur die brutalen Unterdrü- »die herrschenden Mächte« (GBA 27, S. 114)
ckungsmethoden der SS und der Gestapo hin- zu sehen sein, die Pläne machen; für diese
dern sie daran, ihre wahre Haltung offen zu Rolle schwebte ihm Ende der 20er-Jahre Erich
zeigen. Im ersten »Zwischenspiel in den hö- Ludendorff vor (GBA 7, S. 417), im Jahr 1942
heren Regionen« (S. 209) lautet die Frage das Personal aus Die letzten Tagen der Mensch-
Hitlers im vierten Kriegsjahr, also 1942, ob der heit von Karl Kraus (GBA 27, S. 114); schließ-
kleine Mann in Europa »für meinen Krieg ar- lich besetzte er sie mit Hitler und seinen engs-
beiten« (ebd.) wird. Göring bejaht die Frage, ten Gefolgsleuten. Unten dagegen wollte B.
Aufbau und Inhalt 489

den fehlbaren, langsamen, passiven Soldaten Krieg. Die Liebes- wie die Rettungsfabel en-
zeigen, der die Pläne der Großen überlebt und den in einer Vision des »nach dem immer
zumindest teilweise durchkreuzt. Diese Rolle gleich weit entfernten Stalingrad« (GBA 7,
besetzte er durchweg mit der Figur des S. 249) marschierenden Schweyk: Baloun leis-
Schweyk, über deren Funktion er Mitte Juni tet seinen Schwur und hat nun Aussichten auf
1937 im Brief an Piscator schreibt: »Er ist das Dienstmädchen Anna, Prohaska hat das
schließlich nichts Geringeres als der Angst- Fleisch beschafft und damit seine Liebe be-
traum der Diktatoren, dieser ›niedrig‹ den- wiesen; ein Komödienschluss mit Doppel-
kende, für Höheres taube, die wundervollen Hochzeit und (Wieder-)Herstellung einer hei-
Pläne durch seine Unzulänglichkeit unterwüh- len Welt erscheint möglich und wird im Lied
lende ›Dutzendmensch‹, das fehlerhafte Op- vom Kelch (S. 246 f.) angedeutet.
fertier.« (GBA 29, S. 33) In die zwei Komödienstränge eingeflochten,
B. veränderte die übernommenen Vorlagen finden sich anekdotische Elemente, die B. aus
nicht nur durch die Verlagerung des alten den Vorlagen übernahm und variierte: Nach-
Stoffs in den zweiten Weltkrieg, sondern auch dem Schweyk von Brettschneider verhaftet
durch die Einfügung einer Liebesgeschichte: worden ist, kommt er auf Veranlassung Bullin-
Der versoffene Feldprediger Katz und der gers wieder frei, will der SS-Mann doch, dass
»Oberlajtnant Lukasch«, die ohnmächtigen er ihm den Spitz des Ministerialrats Wodja
mächtigen Antagonisten von Ha šeks Schwejk, beschafft. Der listige Fang des Hundes endet
verschwinden in der veränderten Fabel ebenso mit dem Fang der Fänger durch den Mann vom
wie der Wirt Palive zugunsten neuer Figuren, Arbeitsdienst. Um Baloun das dringend benö-
die eher aus dem Repertoire der früheren B.- tigte Fleisch zu beschaffen und das gefährliche
Stücke als aus der Welt Ha šeks stammen: Die Corpus Delicti zu beseitigen, schlachtet
Wirtin Anna Kopecka trägt Züge der geschäfts- Schweyk das Tier und will dessen Fleisch ge-
tüchtigen Mutter Courage oder der materialis- rade der Kelch-Wirtin zur Gulasch-Zuberei-
tischen Witwe Begbick und wird von zwei tung übergeben, als eine brutale Razzia Bullin-
Männern umschwärmt, vom jungen Schläch- gers und der SS alle Gäste des Wirtshauses in
terssohn Prohaska und vom Gestapoagenten Gefahr bringt, zumal Baloun noch im Ange-
Brettschneider, der sie protegiert und bestän- sicht der SS der Versuchung nicht widerstehen
dig mit dem brutalen SS-Scharführer Bullin- kann, das Fleischpaket zu öffnen. Indem er
ger im Clinch liegt. erklärt, dass ihm das Fleischpaket zugesteckt
Mit diesem Strang wird ein zweiter Fabel- worden sei, rettet Schweyk Baloun vor der
strang innerhalb der Binnenhandlung ver- Verhaftung, kommt daraufhin erst ins Militär-
knüpft. Der notorische Fresssack Baloun muss gefängnis, wo er auf eine große Zahl angeblich
mit einer Portion Gulasch vor der Versuchung untauglicher tschechischer Gefangener trifft,
gerettet werden, sich um des Essens willen und muss dann an die Front. In einer Serie von
freiwillig zur deutschen Armee zu melden. Das Episoden trifft er dort zunächst zwei deutsche
Fleisch dazu soll der junge Prohaska auftrei- Soldaten, denen er rät, wie sie desertieren
ben, womit er der resoluten Witwe seine Liebe sollen, dann einen bigotten Feldkuraten, der
beweisen könnte. B. griff hier wie in früheren ohne Benzin und Alkohol in der russischen
Stücken das klassische Komödienmotiv des Steppe festsitzt und auf Hitler schimpft, da-
verfressenen Hanswurst auf und aktualisierte nach eine russische Familie und schließlich
es, indem er es mit Zügen einer aus Ha šeks deutsche Soldaten, die das Deutsche Miserere
Roman übernommenen Figur sowie des Bobek singen (GBA 7, S. 247 f.). Stalingrad erreicht
aus Hermann Ungars Romanen, Die Klasse er wundersamer Weise niemals.
(1927) und Bobek heiratet (1930), kombiniert
(vgl. Schöttker, S. 167, S. 328). Um Baloun zu
retten, ersinnt Schweyk listige Ausreden, lässt
sich verhaften und zieht schließlich in den
490 Schweyk

Forschungsdiskussion leiden kann, dann erscheint er als einer jener


korrupten, genusssüchtigen und dadurch ko-
misch wirkenden Soldaten, wie sie etwa in
Der großen Bedeutung, die der Schweyk für B. Mann ist Mann auftreten, nicht aber als jener
hatte, steht die nicht minder große Enttäu- Typus des pflichtbewussten und pedantischen
schung über dieses Stück unter seinen Rezipi- Mörders, für dessen Charakterisierung Han-
enten gegenüber: »Es wird behauptet, daß es nah Arendt in ihrem Bericht vom Eichmann-
sogar den größten Schriftstellern hin und wie- Prozess den Begriff der »Banalität des Bösen«
der passiere, daß sie ein schlechtes Stück prägte. »Die Vernunft«, so Kott, »genügte nicht
schreiben. Brechts Schweyk ist ein solcher einmal zum Schutz des eigenen Leibes. […]
künstlerischer Irrtum dieses Autors.« (Wyss, Die Schweyks haben im Zweiten Weltkrieg im-
S. 336) So kommentierte Jan Kott die postume mer verloren.« Er fügt hinzu: »Ein Hitler, der
Uraufführung des Schweyk. Kotts Urteil trifft Gedichte spricht, und dazu noch schlechte, ist
den Tenor der meisten Freunde, Zeitgenossen weder komisch noch grotesk.« (Wyss, S. 336)
und späteren Kritiker, die sich zum Schweyk Kotts Stellungnahme enthält zwei über den
geäußert haben. Sie waren sich weitgehend Nachweis historischer Ungenauigkeiten hin-
einig, dass dieses Stück schwach sei, missra- ausreichende Fragen, über die nach den ersten
ten, ja peinlich, so etwa Hans Schwab-Felisch Aufführungen der Streit entbrannte: Ließ sich
(Wyss, S. 341 f.), Hellmuth Karasek (Karasek, Schwejk aus dem Österreich des ersten Welt-
S. 40, S. 43), Hans Mayer (Mayer, S. 86), Ja- kriegs in die Zeit des zweiten Weltkriegs ver-
mes K. Lyon (Lyon, S. 108–120) und Joel Le- setzen? Und war es überhaupt statthaft, Natio-
febvre (Lefebre, S. 254). Ein Großteil der Kri- nalsozialismus und zweiten Weltkrieg in einer
tik betraf die historischen Ungenauigkeiten Komödie abzuhandeln? (Mayer, S. 85; Adorno,
des Stücks. So wurde moniert, dass der Hitler- S. 604) Undogmatische kritische Theoretiker
Stalin-Pakt im Schweyk unterschlagen wird: wie Mayer und Adorno verneinten beide Fra-
Die Witwe Kopecka singt das Lied vom Weib gen nachdrücklich. Mit Blick auf eine öffent-
des Nazisoldaten (GBA 7, S. 287), der in Russ- liche Diskussion im Anschluss an die Frank-
land stirbt, am Tag des Attentats auf Hitler in furter Aufführung des Schweyk bezeichnete
München, also am 8. 11. 1939, damit aber zu Adorno »Komödien über den Faschismus« als
einem Zeitpunkt, zu dem Deutschland und die »Komplizen jener törichten Denkgewohnheit,
Sowjetunion, wie Schwab-Felisch schreibt, die ihn vorweg für geschlagen hält, weil die
»im schönsten Einverständnis miteinander stärkeren Bataillone der Weltgeschichte gegen
lebten« (Wyss, S. 341). Ebenso wenig taucht ihn stünden« (Adorno, S. 604).
die Deportation und Vernichtung der Juden Die Versuche, das Stück gegen solche Vor-
auf, und die Rede von einer nicht existieren- haltungen durch die Herausarbeitung ver-
den »Legion« der Tschechei (GBA 7, S. 186) meintlicher Lehren zu retten, waren aufgrund
zeugt von einer Unkenntnis der historischen von deren Banalität wenig überzeugend. So
Tatsachen, die gerade den Opfern des Natio- wirkt es eher komisch, wenn ausgerechnet die
nalsozialismus nicht entgehen konnte. Prager Wirtschaft »Zum Kelch« im Stück der
Schwach am Stück musste auch erscheinen, »zentrale bildhafte Ausdruck« für das »men-
dass B. die SS maßlos verharmlost, wenn er schenwürdige Dasein« sein soll und B. dabei
Schweyk einen SS-Mann mit »Herr SS« unterstellt wird, er wolle die praktischen Tu-
(S. 184) ansprechen, einem anderen »Hoch genden lehren, die »der Mensch besitzen muß,
Benesch« ins Ohr rufen lässt (S. 190) oder SS- um eine bescheidene und doch so fundamental
Leute zeigt, die sich durch den Tanz der Be- menschenwürdige, friedliche Existenz zu er-
sucher des ›Kelchs‹, die an ihrem Tisch stol- ringen und zu erhalten« (Knust 1973, S. 221),
pern, aus dem Lokal treiben lassen. Und wenn wobei dann die erste Tugend ausgerechnet im
ein SS-Mann davon redet, dass er aus Holland »Maßhalten« bestehen soll, als sei nicht diese
sogar die Tante versorgt habe, die er gar nicht vermeintliche Tugend eine der von B. am
Forschungsdiskussion 491

schärfsten kritisierten Ideologeme seiner poli- B. angeblich kritiklos unterworfen hatte. Mül-
tischen Gegner gewesen. Einen für die Deu- lers Fehldeutung erscheint aus heutiger Sicht
tungspraxis der 70er-Jahre symptomatischen exemplarisch für den Versuch, B.s Lebensge-
Rettungsversuch stellt Klaus-Detlef Müllers schichte als Bildungsroman zu schreiben, in
Interpretation dar. B., so schreibt er, sei es in dem auf die unreifen »Versuche« der Frühzeit
seinen Werken der Emigrationszeit darum ge- die »Meisterwerke« der Spätzeit folgen (vgl.
gangen, »in einer vorgegebenen historischen Mittenzwei, S. 88–96). Dieser Versuch musste
Situation den verborgenen Klassenantagonis- von den geschichtlichen Umständen der Pro-
mus als Schlüssel zur Erkenntnis der gesell- duktion B.s ebenso absehen wie von den
schaftlichen Zusammenhänge aufzudecken«, Klagen B.s über den Tribut, den ihn die Partei-
um so »den Kampf gegen den Faschismus […] nahme kostete, den unvermeidlichen Rück-
als Klassenkampf« zu führen (K.-D. Müller schritt der Exilstücke. Um diese Stücke zu ret-
1973, S. 26). Im Spätwerk sieht Müller die Er- ten, wurden Intentionen unterstellt, für die
füllung dessen, was in den Lehrstücken bereits sich beim genaueren Hinsehen kaum Argu-
intendiert, aber noch nicht verwirklicht war. mente finden ließen.
Um diese These zu untermauern, verweist er
auf die Faschismustheorie der Komintern, die
er in B.s Schriften wieder zu finden meint.
Dass sie dort nicht steht, stört ihn nicht, denn: Das Stück eines ›vertriebenen
»der große Zusammenhang ist vorausgesetzt« Steinmetzes‹
(S. 28). Zwar gesteht Müller B. immerhin zu,
dass er »in den Details scharfsichtiger ist als
seine Autoritäten«: »Allerdings ändert das Es scheint an der Zeit, die Schwäche des
nichts an der Tatsache, daß er kein eigenstän- Stücks nicht länger zu beweisen oder zu ver-
diger politischer Denker war. Daher muß der bergen, vielmehr frei nach B. davon auszu-
Literaturwissenschaftler davon ausgehen, daß gehen, dass gerade die Irrtümer wenn nicht
das gehaltliche Substrat der Stücke von den das Bleibende, so doch das Denkwürdige an
Rundköpfen und den Spitzköpfen bis zum Kau- einem Werk sind, und zu fragen, welches Po-
kasischen Kreidekreis – insofern sie sich gegen tenzial B. im Schweyk gesehen hatte, wo es im
den Faschismus richten – in der Faschismus- Stück noch zu finden ist, und was der
theorie der Komintern vorgegeben war.« Schweyk, als Zeugnis eines exemplarischen
(Ebd.) Noch knapp drei Jahrzehnte später hält Scheiterns betrachtet, über B., seine Zeit,
Müller daran fest, dass B. »auf die große Er- seine Leser und jene Aporien verrät, auf die
zählung der Geschichte als einer Art Über- das Stück antworten sollte. Eine solche Frage-
fabel« zurückgreife, »die den dargestellten Be- stellung nimmt das Fehlen einer autorisierten
gebenheiten einen sinnvollen Zusammenhang Fassung und die Auskunft, das Stück sei noch
und eine Verstehbarkeit sichert. Dabei wird nicht fertig, erstmals ernst. Wenn sie bisher so
ein bei aller Widersprüchlichkeit in den ein- nicht gestellt wurde, dann vielleicht deshalb,
zelnen Kontexten zielgerichteter Geschichts- weil die Editionspraxis der großen B.-Ausga-
verlauf angenommen. Das ist die […] in der ben den Eindruck vermittelte, man habe es mit
Tat fragwürdig gewordene Dimension des auf- einem fertigen Stück zu tun. Aus den verschie-
klärerischen Grundgestus der Brechtschen denen Varianten eines unvollendeten Projekts
Dramatik.« (K.-D. Müller 1999, S. 39) Damit konstruierten sie einen abgeschlossenen Text.
kreidet Müller aber B. nun eben jenen Hori- Dabei stellt speziell die GBA einen editori-
zont an, den er selbst ihm früher unterlegt schen Rückschritt gegenüber dem Stand der
hatte, als er das Spezifische von B.s Texten kritischen Ausgabe dar, die Knust 1974 vor-
zugunsten einer angeblich zugrunde liegen- legte. Wo diese Ausgabe die Entscheidungen
den, grobschlächtigen Faschismustheorie der des Herausgebers jederzeit nachvollziehbar
Komintern beiseite geschoben hatte, der sich machte und alle Varianten in einem aufwändi-
492 Schweyk

gen Fußnoten-Apparat verzeichnete, ohne sie schlechtes Repertoire einer völlig besiegten
zu gewichten, da unterschlägt die GBA zu- Klasse.« (Ebd.) B. war nicht bescheiden, er
mindest potenziell signifikante Änderungen wusste um die Qualitäten seiner Texte, doch er
B.s, die dessen Genauigkeit im Umgang mit kannte auch deren Mängel: Geschrieben auf
kleinsten sprachlichen Nuancen belegen Vorrat, nahmen sie den Charakter des Skurri-
könnten. Besonders fragwürdig erscheint da- len, ja Absurden an, trugen das Stigma der
bei die Entscheidung, das für die Bühnenfas- Arbeit eines Vertriebenen, der auf den Tag
sung von 1955 erarbeitete, »deutlich zweck- wartet, an dem er seine Stücke wieder auf
gebundene Typoskript« als Textgrundlage aus- einer Bühne erproben, seine Stoffe wieder für
zuscheiden (vgl. GBA 7, S. 431), schließlich ein Publikum bearbeiten kann. So klagte er
waren bereits die anderen Varianten des Texts 1938 darüber, dass die Nazis ihm Bühne und
an den Zweck gebunden, aufgeführt zu wer- Publikum geraubt hatten und fügte, wie Walter
den, und waren auch wie die spätere daran zu Benjamin berichtet, hinzu: »Von meinem
Lebzeiten B.s gescheitert. Kaum weniger pro- Standort kann ich nicht zugeben, daß Shakes-
blematisch ist die einschneidende Verände- peare grundsätzlich eine größere Begabung
rung des Titels, der in allen früheren Aus- gewesen sei. Aber auf Vorrat hätte er auch
gaben gemäß dem Typoskript von 1955 nicht schreiben können. Er hat übrigens seine
Schweyk im zweiten Weltkrieg lautete (BBA Figuren vor sich gehabt. Die Leute, die er
193/1–93) und nun, entsprechend der zugrun- dargestellt hat, liefen herum.« (Benjamin
degelegten frühen Typoskripte, kurz Schweyk. 1985, S. 539) Die hier anklingende Verzweif-
Wo B. Titel wie Schweyk im Weltkrieg No. 2 lung, die Erkenntnis von untilgbaren Mängeln
(Knust 1974, S. 153), »Der neue Schweyk« der eigenen Produktion, in denen sich deren
(GBA 29, S. 471), »Der brave Soldat Schweyk geschichtlicher Kontext bemerkbar macht,
im zweiten Weltkrieg« (GBA 30, S. 119) oder spricht aus einer Vielzahl der Notizen, die B.
Schweyk in Naziland (Knust 1974, S. 153) er- nach der Flucht aus Deutschland und bis zu
wogen und wieder verworfen hatte, ohne seinem Tod verfasste. Besser als seine Kritiker
schließlich eine definitive Entscheidung zu und Bewunderer kannte B. den Tribut, den er
fällen, da setzt die neue Ausgabe die Politik den politischen Verhältnissen gezollt hatte, die
der alten Ausgaben fort und unterdrückt so kleinen und großen Kompromisse, die sein
bereits im Titel B.s beständige Infragestellung gesamtes Werk von dem Zeitpunkt an kompro-
des einmal Fixierten, die für ihn spezifische mittierten, an dem er die Arbeit an Fatzer und
Wendung gegen das Systematische. Brotladen aufgegeben hatte, den Stücken, de-
Was Adorno, Mayer, Kott und nahezu alle nen er im Journal vom 25. 2. 1939 beschei-
anderen Kritiker B.s neben der fragmentari- nigte, dass sie »der höchste Standard tech-
schen Textgestalt des überlieferten Stücks nisch« gewesen seien (GBA 26, S. 330), um
nicht wahrnahmen, war vor allem, dass der B., nun Stücke wie Leben des Galilei oder Die
der den Schweyk schrieb, vermutlich der Gewehre der Frau Carrar zu schreiben, die
Letzte gewesen wäre, der ihnen widerspro- »technisch ein großer Rückschritt« waren,
chen und seinen ›Rettern‹ zugestimmt hätte. »allzu opportunistisch« und deshalb allenfalls
In sein Journal schrieb er nach dem Abschluss das Ausgangsprodukt für eine neue Arbeit,
der ersten Fassung am 21. 7. 1943: »Der ver- über die er schrieb, dass sie »eine lustige Ar-
triebene Steinmetz hat wieder einmal, seiner beit« sei, die jedoch »nur in einem Praktikum
Gewöhnung folgend wie einem Laster, einen gemacht werden« könnte, »im Kontakt mit ei-
der Felsbrocken in ein Bildnis umgewandelt ner Bühne« (ebd.). In Abwesenheit eines sol-
und sitzt nun daneben, ausruhend, wie er sagt, chen Kontaktes schrieb B. nolens volens
wartend, wie er nicht sagt.« (GBA 27, S. 159) Stücke wie den Schweyk, die zugleich zu we-
Dem despektierlichen Kommentar folgt nach nige wie auch zu viele Adressaten hatten: Zu
einer Aufzählung der zehn Stücke, die er seit wenige, weil B. so isoliert war wie nur irgend-
1933 geschrieben hatte, die Bemerkung: »Kein ein Steinmetz, der in Ermangelung eines Auf-
Das Stück eines ›vertriebenen Steinmetzes‹ 493

trags die Steine seiner Umgebung verschönert, kommt dem destruktiven Ziel bereits sehr
zu viele, weil der Schweyk wenige Jahre nach nahe: »Bei die Deutschen is alles Organisa-
seiner Niederschrift allzu gut in die Land- tion. Die ham jetzt eine Organisation, wie die
schaft des Nachkriegsdeutschlands der späten Welt sie noch nicht gesehn hat. Wenn der Hit-
50er- und frühen 60er-Jahre passen sollte. ler aufn Knopf drickt, is schon sagen wir China
hin. […] Und auch ein Unterer, ein SS-Führer,
du siehst noch, wie er aufn Knopf drickt, und
schon is deine Urne bei deiner Witwe abge-
Das Stück im Kontext der liefert. Mir kennen von Glick sagn, daß wir
Ordnungskritik hier sind und eine stark bewaffnete Wache
habn, wo aufpaßt, daß wir keine Sabotasch
veribn und so erschossen wern.« (S. 217) Ord-
Kennt man B.s frühe Schweyk-Pläne, so lässt nung und Organisation basieren, wie die Rede
sich erahnen, in welcher Absicht er sein Stück davon, dass bei den Deutschen »alles Organi-
geschrieben hat: Es scheint ihm in erster Linie sation« sei, offen legt, auf der Vorstellung ei-
um eine Zertrümmerung der Ordnungsvor- ner »beschränkten Ökonomie« (Bataille, S. 50;
stellungen gegangen zu sein, die aus seiner vgl. Derrida, S. 380-421), in der weder Über-
Sicht im Mittelpunkt der Faschismen seiner fluss, noch Mangel vorkommen, alle Handels-
Zeit standen. Bereits am Mitte Juni 1937 hatte aktivitäten dem ehernen, unumstößlichen Ge-
er an Piscator über die Figur des Schweyk setz der Äquivalenz entsprechend abgewickelt
geschrieben: »Und er muß, in aller Gutmütig- werden, jedes Element in der Kette des Tau-
keit, die Dinge nicht in Ordnung, sondern in sches einen festen Wert hat. Schleichhandel
Unordnung bringen, was manchmal die ei- und Sabotage, die ungesetzliche Auf- und Ent-
gentliche Ordnung ist.« (GBA 29, S. 33) Im wertung des Wertes der gehandelten Waren,
Stück erweist sich die Ordnung als Unord- stellen Gesetzesverstöße dar, die vom ideo-
nung, wenn Schweyk erklärt: »In Österreich logischen Charakter dieser Vorstellung zeu-
hat das Eisenbahnpersonal einmal, wie das gen. Dieser geht ebenso aus dem Verbot beider
Streiken von der Regierung verboten gewesn hervor: Wäre die Ordnung so ideal, wie sie zu
is, den ganzen Verkehr für acht Stunden lahm- sein glaubt, so gäbe es weder den Verstoß ge-
gelegt, indem sie nix anders gemacht ham, als gen sie noch auch die Notwendigkeit, ihn mit
alle Vorschriften beachtet, wo für die Sicher- einem Imperativ zu verbieten. Was die ideale
heit des Verkehrs bestandn ham.« (GBA 7, Ordnung vergessen muss, ist komischer Weise
S. 218) Die Ordnung bestreikt sich gleichsam eben jener Rest, den Schweyk bei der Be-
selbst. Um sich zu erhalten, ist sie angewiesen schreibung der deutschen Organisation in der
auf permanente Ordnungswidrigkeiten, die rhetorischen Form der Aposiopese ausspart:
sie gleichwohl verbieten muss, z. B. als Über- Den Körper, und genauer: am Körper dasje-
oder gar »U n t e r tretung der Vorschriften« nige, was den Lebenden von seiner Leiche
(S. 199) oder auch als jenen »Schleichhandel« trennt und jenes »Unberechenbare« in alle
(S. 228), den Schweyk weise kommentiert, menschlichen Handlungen einführt, dessen
wenn er sagt: »Jawohl, Herr Scharführer, Ord- »Einkalkulierung« B. zufolge die Stärke Ha-
nung muß sein. Der Schleichhandel is ein Übel šeks und seines Schwejk ist: »Wenn der brave
und hört nicht auf, bis nix mehr da is. Dann Soldat Schwejk in Ha šeks klassischer Erzäh-
wird gleich Ordnung sein, hab ich recht?« lung, bevor er irgendwo hingeht, wo die Fabel
(Ebd.) Im »nix«, in der vollständigen Nihilie- ihn haben muß, erst noch ›etwas‹ in der unte-
rung der Regelverstöße wie auch derjenigen, ren Stadt zu besorgen hat, so zeigt Ha šek dem
die gegen die Regeln verstoßen, liegt das Telos Schwejk gegenüber die gleiche realistische
der Ordnung, denn: »Wo viel is, herrscht keine Menschenkenntnis […], die er den Schwejk
Ordnung« (S. 185). Die »Organisation« der selber haben läßt, […], die ständige, wache
Deutschen, wie Schweyk sie beschreibt, Einkalkulierung des Unberechenbaren, Im-
494 Schweyk

ponderablen usw.« (GBA 22, S. 637) Schwejk er zu dem ›Individuum‹: »Ich hab nix bei mir
ist dieser Charakterisierung zufolge ein zum Legitimiern« (GBA 7, S. 215). Durch die
Knecht, der buchstäblich »etwas« mehr als nur Bejahung des Bestehenden, des Handels wie
Knecht ist und der auch in Bezug auf die Fabel der politischen Ordnung, lässt Schweyk des-
seine Rolle spielt, ohne in ihr restlos aufzu- sen innere Widersprüche hervortreten, eine
gehen. Dabei ist der dem Schweyk eigentüm- unvermeidbare Spaltung, deren Emblem das
liche Rest jedoch zugleich Teil wie auch nicht ›y‹ in seinem Namen sein dürfte. Im Unter-
Teil der Ökonomie. Wenn Schweyk davon schied zum ›Individuum‹, das ihn in den »frei-
spricht, er sei »in den Schleichhandel hinein- willigen Arbeitsdienst« zwingen möchte, ist er,
gekommen wie der Pontius ins Credo« (GBA 7, um es mit einem Begriff B.s der 20er-Jahre zu
S. 227), dann bestimmt er damit exakt die ei- sagen, ein »Dividuum« (GBA 21, S. 179). Er
gene Funktion in Bezug auf jene beschränkte hat, wie er sagt, »von der Zwietracht der Gros-
Ökonomie, deren ideologischen Charakter er sen profitiert« (GBA 7, S. 232), und das »y« in
bezeugt: Pontius, der Statthalter des römi- seinem Namen steht dafür, dass er nicht »deut-
schen Kaisers in Judäa, kommt dadurch als scher Abstammung« (ebd.) sei und deshalb
Verantwortlicher der Kreuzigung Christi ins nicht an die Front müsse. Die deutschen Sol-
Credo, dass er das Gesetz vertritt. Indem er daten bezeichnen ihn deshalb überaus treffend
gesetzlich handelt, verstößt er gegen den als »du zweideutiger Verbündeter« (S. 238),
selbst gleichsam außergesetzlichen Rechts- und der SS-Mann Bullinger spricht das Ge-
grund, den der Gläubige im Credo bekräftigt. heimnis der Figur aus, wenn er sagt, dass er
Wie das Recht funktioniert aber auch der Han- »einen solchen Verbrecher noch nicht gese-
del nicht ohne einen Bezug auf eine gleichsam hen« habe (S. 227). Er verweist damit auf den
transzendente Grundlage, die selbst nicht Teil literarischen Topos des ›großen Verbrechers‹,
des Handels sein kann. Diese Grundlage den, der nicht einfach gegen das Gesetz ver-
kommt im einen wie im anderen Fall erst zum stößt, vielmehr gleichsam parodistisch in sei-
Vorschein, wo das Recht selbst den Rechts- nem Verbrechen die Setzung des Gesetzes wie-
grund, der es legitimiert, zerstört oder wo als derholt und dadurch dessen Geltung relati-
einziger Handel der Schleichhandel übrig viert. Er lässt die Möglichkeit aufscheinen,
bleibt. Hier wie da tritt eine jedem, sei es dass nicht der Verbrecher, sondern das Gesetz
juristischen, sei es ökonomischen, Gesetz in- im Unrecht ist, oder auch, dass beide gleicher-
härente Gesetzlosigkeit zutage. Schweyk galt maßen Recht wie Unrecht haben und insofern
B. als Figur, die diese herrschende Gesetz- auf die Abwesenheit oder den Entzug einer
losigkeit ohne jede Verwunderung registriert. quasi-transzendentalen Gerechtigkeit verwei-
Er stellte ihn Kafkas K. gegenüber: »der, wel- sen.
chen alles und der, den nichts wundert. Mit solcher Ordnungskritik steht aber
Schweyk […] hat die Zustände als derart ge- Schweyk in der Reihe der Asozialen, etwa
setzlos kennen gelernt, daß er ihnen längst Baals, Mackie Messers und Fatzers, der Fi-
nirgends mehr mit der Erwartung von Geset- guren, mit denen kein Staat zu machen ist und
zen entgegentritt« (Benjamin 1985, S. 434). die durch ihre pure Existenz ein Ungenügen in
Damit lässt sich nun erklären, was es mit jeder Ordnung des Sozialen bezeugen. Ent-
dem schwejkschen Prinzip der Bejahung auf sprechend ordnete B. die Figur nach der neu-
sich hat: Schweyk benimmt sich, als ob die erlichen Lektüre von Ha šeks Roman im Mai
herrschende Ordnung auf immer so sein und 1943 ein, wenn er den »echt unpositiven
bleiben sollte, wie sie ist, und bringt dadurch Standpunkt des Volkes darin« lobte, »das eben
zum Vorschein, weshalb sie sich ganz zwangs- das einzige Positive selbst ist und daher zu
läufig verändern muss. Als »Opportunist der nichts anderem ›positiv‹ stehen kann« (GBA
winzigen Opportunitäten, die ihm geblieben 27, S. 151). Von den Hooligans unter B.s Figu-
sind« (GBA 27, S. 151), verkörpert er eine Le- renparade unterscheidet sich Schweyk gleich-
galität ohne Legitimation. Paradigmatisch sagt wohl durch seine Freundlichkeit und Passivi-
Das Stück im Kontext der Ordnungskritik 495

tät, die ihn noch präziser als Wiedergeburt des illustriert damit den impliziten unendlichen
Galy Gay erscheinen lässt; nicht zuletzt wurde Vernichtungswillen jeder Ordnung, die sich
die Rolle zunächst für Lorre geschrieben, der nur dadurch erhalten kann, dass sie ihre Grün-
einst in B.s eigener Inszenierung von Mann ist dungsgeste laufend in der Ausgrenzung des
Mann die Rolle des Packers, der zum Söldner intervenierenden Anderen wiederholt, in der
ummontiert wird, mit großem Erfolg gespielt Abgrenzung von einem »Feind«. Einen guten
hatte. Wie Schweyk bejaht auch Galy Gay die Teil seiner Analyse der binären Logik des Poli-
bestehende Ordnung rückhaltlos und löst sie tischen in der Moderne verdankte B. in Stü-
dadurch auf, zeigt in den Augen B.s etwas von cken wie diesem vermutlich der Auseinander-
jener »Weisheit«, die Benjamin dem Galy Gay setzung mit der Theorie des konservativen
insofern zugeschrieben hatte, als dieser »die Staatsrechtler der Weimarer Republik und
Widerspüche des Daseins da« einlasse, »wo sie späteren Kronjuristen der Nationalsozialisten
zuletzt allein zu überwinden sind: im Men- Carl Schmitt. Er greift diese Quelle seines Ver-
schen. Nur der ›Einverstandene‹ hat Chancen, ständnisses totalitärer Politik im Schweyk auf,
die Welt zu ändern.« (Benjamin 1980, S. 526) wenn er Hitler in der »historischen Begeg-
Wo B.s Schweyk im zweiten Weltkrieg Hitler nung« (GBA 7, S. 249) mit Schweyk die para-
und seine kleinen Vollstrecker gegenüberste- digmatischen Worte: »Halt. Freund oder
hen, da trifft er in ihnen Figuren, die nach dem Feind?« (ebd.) in den Mund legt. Im Appell
Vorbild des mörderischen Sergeanten Bloody »Halt« verweist Hitler auf das von Schmitt
Five in Mann ist Mann gestaltet sind, eines theoretisch analysierte theologisch-politische
Ordnungshüters, der sich in der Kriegsord- Konzept des Staates als ›Aufhalter‹ (Katechon)
nung von Kilkoa auf ein »Exerzierreglement« der Katastrophe bzw. der Revolution. Mit der
(GBA 2, S. 108) stützt, das den Status einer Frage »Freund oder Feind« zeigt er seinen Wil-
dogmatischen Letztbegründung hat und jede len zu jener Unterscheidung, die Schmitt zu-
Abweichung mit dem Tod bedroht. Wie Galy folge die Grundlage des modernen »Begriffs
Gay sollte Schweyk vermutlich zunächst etwas des Politischen« bildet: »Die spezifisch politi-
Fundamentales über das Gesetz in der Mo- sche Unterscheidung, auf welche sich die poli-
derne lehren, die Aporien von dessen rein end- tischen Handlungen und Motive zurückführen
licher Begründung: Es muss eben den Set- lassen, ist die Unterscheidung von Freund und
zungsakt, dem es sich verdankt, zugleich ver- Feind.« (Schmitt, S. 26)
bieten. Erst durch dieses Verbot erhält es sich. Welche Bedeutung B. 1943 der Analyse der
Doch zugleich stellt es dieses Verbot rückwir- Ordnung und Organisation der Diktaturen zu-
kend erneut in Frage. Jede demokratische maß, wird aus einer Überlegung deutlich, die
Ordnung nimmt ihren Ausgang von solcher er am 10.8., also während der Arbeit am
Infragestellung und unterliegt deshalb in der Schweyk, in sein Journal eintrug: »Wenn die
einen oder anderen Form einer permanenten Organisationen und Mittel der unterdrückten
Revolutionierung. Dagegen versuchen alle to- Klassen zerstört sind […], dann bleibt dem
talitären Ordnungen des Politischen, dessen Vereinzelten nur übrig, nach Zeichen auszu-
immanenten Widerspruch zu vergessen, was spähen, daß die Organisationen der diktieren-
der Grund dafür ist, dass etwa Arendt die ›Lo- den Klasse zerbrechen. Erst wenn sich die
gik‹ des Nationalsozialismus mit jener ver- neuen Einheiten, in die er gepreßt ist, aufzu-
glich, welche die »Sichtweise von Paranoikern lösen beginnen […], kann er darangehen, ihm
regiert« (Arendt, S. 78). Der ohnmächtige gemäße Einheiten zu schaffen« (GBA 27,
Mächtige Blody Five enthüllt die zerstöreri- S. 165). Dergleichen Zeichen finden sich im
sche Zwangslogik seines willkürlich zum gött- Stück häufiger: Die deutschen Soldaten wer-
lichen Gesetz hypostasierten Reglements in den als kriegsmüde Deserteure vorgeführt
dem Wunsch, »den ganzen Erdball in die Luft (GBA 7, S. 222, S. 238), Bullinger und Brett-
[zu] sprengen«, damit »sie es vielleicht sehen, schneider, der SS-Mann und der Gestapo-
daß man Ernst macht« (GBA 2, S. 108). Er Agent, liegen im Streit und sind gleicherma-
496 Schweyk

ßen korrupt, so dass der wegen »Schleichhan- bei B. in Gestalt einer Komödie, die sich dem
dels« angeklagte Schweyk der Erschießung tragischen Muster der Geschichtsphilosophie
entgeht, weil ihn, wie er sagt, »die Gestapo widersetzt, formal von jener »geschichtslosen
[…] als Zeugen gegen die SS gebraucht« hat Epoche« zeugt, deren »Eintreten« B. einer Äu-
(S. 232). Das Stück kann insofern im Sinne ßerung der 30er-Jahre zufolge, »für wahr-
dieser Äußerung als Ausdruck der Hoffnung scheinlicher als den Sieg über den Faschis-
auf das Zerbrechen und die Auflösung der na- mus« hielt (Benjamin 1985, S. 538). Hier wie
tionalsozialistischen Diktatur gelesen werden, da wird die Irrationalität einer über ihre eige-
als Versuch, sich die Möglichkeit eines vielge- nen Grenzen unaufgeklärten Rationalität der
staltigen, listigen Widerstandes noch im An- Aufklärung kritisiert, werden die Faschismen
gesicht des Schrecklichsten vorzustellen. Dass der Gegenwart nicht als Abkehr von der mo-
dieser Versuch kaum einen Realitätsbezug ha- dernen Rationalität, sondern als deren Resul-
ben konnte, versteht sich von selbst. tat begriffen. Dabei gilt B.s Augenmerk spe-
In der früheren wie der späteren Äußerung ziell jener Reduktion des Menschen auf eine
hebt B. an der Figur des Schweyk hervor, dass kalkulierbare Größe im Rahmen der Gestal-
sie etwas über die gesetzliche Ordnung lehrt. tung eines ›Volkskörpers‹, die für die moderne
Doch der Inhalt der Lehre hat sich gewandelt: »Biopolitik« (Foucault 1983, S. 170, s. auch
Der früheren Äußerung zufolge bringt S. 161–190; ders. 1997, S. 216, s. auch S. 213–
Schweyk eine gleichsam strukturelle, jedem 235) charakteristisch ist. Der Schweyk ist wie
Gesetz innewohnende Gesetzlosigkeit hervor, Mann ist Mann und die Lehrstücke nicht zu-
entsprechend der späteren eine spezifische, letzt ein Stück über die Politik als Fortsetzung
prinzipiell zu beseitigende der Diktaturen. des Kriegs mit anderen Mitteln.
Umso bedeutsamer muss es erscheinen, dass Für diese Rückwendung zur Ordnungskritik
im Stück beide Äußerungen ihren Nieder- der 20er-Jahre lassen sich konkrete histori-
schlag gefunden haben. In Gestalt der NS- sche Gründe benennen: B. begegnete der von
Chargen Brettschneider und Bullinger führt ihm kritisierten Auffassung des Politischen in
B., wie immer verkürzt, die brutale Unter- nächster Nähe in den Militärstrategien des al-
drückungs- und Vernichtungsmaschinerie der liierten Kriegs gegen die Zivilbevölkerung,
Nationalsozialisten vor. In Schweyks Äußerun- denen er im Entwurf einer öffentlichen Erklä-
gen erscheint deren Ordnung als Sonderfall rung am 1. 8. 1943 mit anderen Emigranten
jeder politischen Ordnung, die B. kannte, als entgegenhielt, es sei »notwendig, scharf zu un-
ein Modell jener Politik der Moderne, deren terscheiden zwischen dem Hitlerregime und
theatralische Analyse und Dekonstruktion B. den ihm verbundenen Schichten einerseits
Mitte der 20er-Jahre bis Anfang der 30er-Jahre und dem deutschen Volke andrerseits« (GBA
versucht hatte, um sie später vorübergehend 27, S. 161). Er begegnete ihr in der Haltung
zugunsten einer Kritik bloß der kapitalisti- anderer Emigranten, etwa in derjenigen von
schen Ordnung aufzugeben. Das Stück zeugt Thomas Mann, der, wie B. am 9. 8. 1943 fest-
von einer Desillusionierung, die derjenigen hält, »die Hände im Schoß, zurückgelehnt
gleicht, die sich zur gleichen Zeit in der Dia- sagte: ›Ja, eine halbe Million muß getötet wer-
lektik der Aufklärung niederschlug, dem Jahr- den in Deutschland‹«, was »ganz und gar
hundertbuch, das die von B. als »Tuis« ver- bestialisch« geklungen habe (S. 164). Und
spotteten Adorno und Max Horkheimer in der schließlich dürfte B. neben dem Faschismus
amerikanischen Emigration schrieben. Beide auch den Stalinismus in diesem Sinne begrif-
Texte sind von einem grundsätzlichen Zweifel fen haben. Dies lässt sich aus der vielzitierten
an der Geschichtsphilosophie des 18. und Notiz ableiten, die B. zur Zeit der Nieder-
19. Jh.s geprägt, der sich gleichwohl unter- schrift des Stücks nach der Lektüre von Boris
schiedlich artikuliert: Bei Adorno und Hork- Souvarines Buch Staline, Aperçu historique du
heimer in Gestalt eines essayistischen Philo- bolchévisme (1935) am 19. 7. 1943 in sein Jour-
sophierens, das sich jedem System verweigert, nal schrieb: »Das deutsche Kleinbürgertum
Das Stück im Kontext der Ordnungskritik 497

borgt sich für seinen Versuch, einen Staats- nen zertrümmert: Auf das Pathos kriegerischer
kapitalismus zu schaffen, gewisse Institu- Politik antwortet eine stilisierte Volkssprache
tionen (samt ideologischem Material) vom mit Obszönitäten, Verkürzungen, Verknüpfun-
russischen Proletariat, das versucht, einen gen und grammatischen Fehlern. Der Ernst
Staatssozialismus zu schaffen. Im Faschismus der Autoritäten wird wie in der Tradition der
erblickt der Sozialismus sein verzerrtes Spie- vormodernen Komödien mit dem Heilmittel
gelbild. Mit keiner seiner Tugenden, aber des Verlachens bekämpft.
allen seinen Lastern.« (GBA 27, S. 158) Fa- Über die Intention, im Theater Ideologie zu
schismus, Stalinismus wie auch die alliierte zertrümmern, hinaus geht die Bemerkung
Kriegspolitik stellten sich B. als drei Formen Schweyks, dass Hitler »eine größere Ordnung
eines auf binären Mustern basierenden staats- gebracht« habe, »als man für menschenmög-
politischen Ordnungsdenkens dar, in dem für lich gehalten hat« (GBA 7, S. 185). Der un-
den ›Rest‹ eines singulären Einzelnen kein menschlichen Ordnung Hitlers steht im
Platz mehr war. Schweyk durchweg die Schwäche derer gegen-
über, die sie aufrechterhalten sollen oder ihr
unterworfen sind. Keiner von Hitlers Voll-
streckern steht nur in dessen Dienst. Jeder hat
Ideologiezertrümmerung, seine Schwächen: Der Wachsoldat am Bahnhof
Potenzialität ist vergesslich; ein SS-Mann kann bei seinem
Aberglauben gepackt werden, wenn er sich
von der Kopecka aus der Hand lesen lässt; dem
Diesem Ordnungsdenken setzte der mit dieser Gestapoagenten Brettschneider kommt seine
Analyse in politischer Hinsicht vollkommen Liebe zur Wirtin Kopecka in die Quere; dem
isolierte B. des Jahres 1943 angesichts des SS-Mann Bullinger der Wunsch, den Spitz des
Fehlens von direkten Adressaten oder Verbün- Kollaborateurs Wodja zu bekommen. Mehr-
deten ein Stück für das von ihm einmal projek- fach betont er, dass er sich seine Schwäche
tierte Theater zur »Ideologiezertrümmerung« Schweyk gegenüber nicht erklären kann
entgegen (H. Müller, S. 32). Hitler, seine Um- (S. 224, S. 227, S. 228). Kennzeichen der Nazis
gebung, die SS und die Gestapo werden der im Stück ist, dass sie diese Schwächen ver-
Lächerlichkeit preisgegeben, die Inkohärenz drängen und vergessen wollen.
ihrer Welterklärungen tritt in deren kompri- Doch nicht nur Hitlers Ordnung, auch die
mierter Wiederholung durch den erklärten Ordnungsvorstellungen der Tschechen, die
»Idioten« Schweyk zutage, die Rassenideolo- sich ihm widersetzen, werden durch die
gie wird in Schweyks Vergleich der reinrassi- Schwäche des einzelnen Menschen in Frage
gen mit den nichtreinrassigen Hunden pa- gestellt. Am auffälligsten tritt sie am Fresser
rodiert, die Soldaten werden in ihrer Nieder- Baloun und am jungen Prohaska zutage: Auf
lage gezeigt, das »deutsche Christentum« in Frau Kopeckas Vorhaltung: »Sie sind doch ein
der Gestalt des versoffenen Feldkuraten vorge- erwachsener Mensch« entgegnet Baloun:
führt, die Alliierten als Mitschuldige am Auf- »Aber ein schwacher.« (GBA 7, S. 187) Pro-
stieg Hitlers dargestellt: »Der Hitler is ein haska gesteht »schwach«, dass er das Fleisch
Furz, ich sag dirs, weil du besoffn bist. Am nicht habe beschaffen können (S. 207), und
Hitler sind die schuld, wo ihm in München die wird auf Balouns Beschuldigung, er sei ein
Tschechoslowakei zun Pressent gemacht ham, Verbrecher, von der Kopecka in Schutz genom-
firn ›Friedn auf Lebenszeit‹, wo sich als ein men: »Die Verbrecher sind die Nazis, wo die
Blitzfriedn herausgestellt hat. Der Krieg wie- Leut solang bedrohn und martern, bis sie ihre
derum is ein langer geworn und für nicht we- bessere Natur verleugnen. Schaut durchs Fen-
nige auf Lebenszeit, so täuscht man sich.« ster. Der da kommt jetzt, is ein Verbrecher,
(GBA 7, S. 242) Die herrschende Ideologie nicht der Rucena Prohaska, der schwache
wird in Passagen wie dieser auf mehreren Ebe- Mensch.« (S. 208)
498 Schweyk

Die »bessere Natur« des Menschen, auf wel- gibt sich aus B.s Beobachtung, dass dem
che die Kopecka verweist, dürfte aber erstaun- Schweyk »garnichts unmöglich scheint« (Ben-
licher Weise nichts anderes sein als seine jamin 1985, S. 434): Unzerstörbar ist
Schwäche. Die Schwäche der Nazis und ihrer Schweyks Möglichkeitssinn. Er kann als Figur
Helfer wird zu jener Hoffnung ihrer Gegner, der Potenzialität bezeichnet werden, die auf
die das abschließende Moldaulied in der das niemals restlos erschöpf- oder bemessbare
Schlusszeile »Die Nacht hat zwölf Stunden, Vermögen des Menschen verweist. In Gestalt
dann kommt schon der Tag« (GBA 7, S. 252) des Schweyk bezeichnet B. als das Mensch-
ausdrückt. Vor allem aber macht Schweyks liche des Menschen, dass er ein »viele Mög-
Einsicht in die eigene Begrenzung seine Stärke lichkeiten in sich Bergendes und Verber-
aus. Durchweg zeigt sich Schweyk in erster gendes« ist, woraus seine Veränderbarkeit
Linie als Überlebenskünstler gemäß dem resultiert (Benjamin 1980, S. 531). In dieser
Motto: »Es is schon viel, wenn man überhaupt Veränderbarkeit, so zwiespältig sie auch im
noch da is heutzutag. Da is man leicht so be- Bild der Nacht, auf die der Tag folgen wird,
scheftigt mit Ieberlebn, daß man zu nix an- erscheint, bezeichnet B. die Voraussetzung,
derm kommt.« (S. 208) Dabei ist Schweyk frei- von der jedes gerechte Gesetz und Gemein-
lich weit davon entfernt, seine Überlebens- wesen auszugehen hat und an der es zugleich
kunst selbst zur Ideologie werden zu lassen. seine Grenze findet.
Die erste Lehre, die er dem Köter beibringt, Diesem Ausgangspunkt und dieser Grenze
den er am Ende von Szene 8 in die Kunst des entspricht das Prinzip, das B. in seiner theo-
Überlebens einführt, lautet: »Kriech nicht und retischen Schrift Neue Technik der Schauspiel-
hör auf mit dem Gezitter, ich kanns nicht kunst u. a. mit Blick auf den Schweyk dem
leidn.« (S. 248) Für B. dürfte Schweyks Hal- Schauspieler seines Theaters nahe legt: »er
tung ein Beispiel jenes »Realismus« gewesen spielt so, daß man die Alternative möglichst
sein, den er kurz nach der Fertigstellung, am deutlich sieht, so, daß sein Spiel noch die an-
17. 10. 1943, beschrieb: »Realistische Kunst ist deren Möglichkeiten ahnen läßt, nur eine der
Kunst, welche die Realität gegen die Ideolo- möglichen Varianten darstellt« (GBA 22,
gien führt und realistisches Fühlen, Denken S. 643). Was B. hier fürs Theater entwickelt,
und Handeln ermöglicht.« (GBA 27, S. 180) bestimmt zugleich seine Schreibweise im
Die Wendung des Stücks gegen jede positive Schweyk: Alle Wertungen des Stücks, die nach
Lehre, überhaupt gegen eine Kunst, die vor- seinem Realitätsgehalt fragten, mussten
gibt, die Realität ohne Verzeichnung abzubil- zwangsläufig in die Irre gehen. Der Mangel an
den, ist hier bereits angelegt. Realismus bei der Darstellung der Nazis stellt
So ist auch die Figur des Schweyk keine sich bei näherem Hinsehen ebenso wie die
Figur, die eine von ihr ablösbare Lehre ver- Großzügigkeit in Fragen der historischen Ge-
mittelt, auch nicht die oft zitierte, wonach er nauigkeit als Teil des Versuches dar, bei der
lehre, wie man in Diktaturen Widerstand leis- Auseinandersetzung mit den Nationalsozialis-
tet. Was B. an Schweyk wie zuvor an den von ten nicht selbst in deren Freund/Feind-Logik
ihm erfundenen »Massemenschen« (GBA 28, zu verfallen, vielmehr gegen diese Logik des
S. 303), an »Dividuum« und »Asozialem« inter- Politischen die andere Realität der Kunst zu
essierte, dürfte das sein, was er in einem Notat setzen. Entsprechend der Maxime, dass der
vom 27. 5. 1943 festgehalten hat: »Seine Un- Schauspieler es nicht zur »restlosen Verwand-
zerstörbarkeit macht ihn zum unerschöpfli- lung in die darzustellende Person« (ebd.) kom-
chen Objekt des Mißbrauchs und zugleich zum men lassen solle, treten innerhalb des Stücks
Nährboden der Befreiung.« (GBA 27, S. 151) weder reine Nazis noch reine Widerstands-
Der scheinbare Widerspruch zwischen kämpfer auf, was auch der Grund dafür sein
Schweyks »Schwäche« und seiner »Unzerstör- dürfte, dass B. notierte: »Auf keinen Fall darf
barkeit« löst sich auf, wenn man fragt, was an Schweyk ein listiger hinterfotziger Saboteur
Schweyk unzerstörbar bleibt. Die Antwort er- werden.« (GBA 27, S. 151) Pointiert ausge-
Ideologiezertrümmerung, Potenzialität 499

drückt: B. war nicht an der Darstellung von lären Erfolg: Ein Abend, so Schwab-Felisch,
SS- und Gestapoleuten, Soldaten und Tsche- »wie ihn Frankfurt lange Zeit nicht mehr er-
chen interessiert, sondern in erster Linie an lebt hat: Beifall auf offener Szene, […] viel-
der Schöpfung von Figuren eines epischen stimmige Bravorufe, prasselndes Händerüh-
Theaterstücks, in dem sich der Einzelne im- ren, das einer Ovation gleichkam, und wohl-
mer aus einem Bündel von Gesten und Haltun- gefälliges Trampeln. Das Publikum stand wie
gen zusammensetzt, ja nichts anderes als ein eine Mauer.« (Wyss, S. 340) Die Kritiken ver-
solches ist. Niemals, darin liegt das Politische mitteln den Eindruck, dass das deutsche Nach-
dieser Schreibweise, lässt sich aus einem sol- kriegspublikum sich ohne Zögern mit dem
chen Einzelnen ein totaler Feind oder ein gro- Bild des Volkes identifizierte, das der Exilant
ßer Held zusammensetzen. B. entsprechend seiner Hoffnungen und als
Einspruch gegen die Vereinfachungen der
Kriegsstrategen gemalt hatte. Hier wurde ihm
auf offener Bühne der Persilschein ausgestellt.
Nachspiel: »Das Publikum stand Es konnte sich als Masse von Unschuldigen
wie eine Mauer« wieder finden, die alle entweder offen oder
verdeckt Widerstand geleistet hatten oder
aber lediglich von Hitler und seinen Vollstrek-
Im Theater folgte auf den Misserfolg der War- kern missbraucht und betrogen worden waren.
schauer Uraufführung ein zweiter bei der er- Aus der Distanz betrachtet, bieten zahlreiche
sten Aufführung in deutscher Sprache am 1. 3. Kritiken der frühen Inszenierungen des Stücks
1958 in Erfurt. Nach einer Reihe von zum Teil ein Bild eben jenes Denkens, das B. zu be-
bejubelten Inszenierungen in den 60er-Jahren kämpfen versucht hatte. Klaus D. Winzer z. B.
(vgl. Knust 1974, S. 302–309) – etwa 1961 glaubte »die Misere des deutschen Volkes«
durch Giorgio Strehler in Mailand und durch (Wyss, S. 338), Schwab-Felisch »das Stück des
Roger Planchon in Lyon oder 1962 durch Erich kleinen Mannes und seines Verhaltens in der
Engel am Berliner Ensemble – fanden sich in Diktatur schlechthin« gesehen zu haben
den 70er-Jahren auf den Bühnen kaum noch (Wyss, S. 342), und Dieter Hildebrandt gar
Verteidiger des Stücks. In den Kritiken war »ein Modell […] des kleinen Mannes über-
nun die Rede von einem »im Ganzen wohl haupt« (Wyss, S. 345). Sie unterschlugen da-
unrettbaren« Stück, das als »Widerstands- mit B.s Insistenz auf der unerschließbaren Sin-
stück« zu harmlos, als »Troststück« zu »flusig« gularität Schweyks. Dieser kleine Mann, so
sei (Wiegenstein, S. 53), und dessen theatrali- Schwab-Felisch, »sieht gleich und immer. Nur
sche Mittel »erschreckend höchstens durch kann er nichts tun.« (Wyss, S. 341) Er rühmte
ihre Unangemessenheit« seien (Seidel, S. 59). unscharf und euphemistisch, dass B. »mit we-
Als Zeugnis eines Versuchs, im Kampf gegen nigen Strichen das Zeitalter der Angst und
die Totalitarismen eine Schreibweise der Po- Unsicherheit skizziert« habe, und fuhr ent-
tenzialität zu erfinden, die der Gefahr der To- sprechend fort, wenn er von der »Macht des
talisierung entgeht, gleicht der Schweyk einer Bösen« auf der einen Seite sprach, und auf der
Flaschenpost. Zu B.s Lebzeiten fand sie keine anderen »das leidende, arme, zum Kompro-
Adressaten. Seit den späten 70er-Jahren miß gezwungene Volk« (S. 343) sah. Günther
machte sich im Zuge der allgemeinen B.-Mü- Rühle schrieb später, dass B. »die einleuchten-
digkeit in Theater und Theorie kaum noch den Paradigmen für das Denken des Nach-
jemand an ihre Entzifferung. Kurz nach B.s kriegspublikums« (Rühle, S. 71) in beiden
Tod dagegen landete diese Flaschenpost am deutschen Staaten geliefert habe. Im Fall des
falschen Ort zur falschen Zeit und zeitigte da- Schweyk, so scheint es, hatte er dem west-
bei einen ungeahnten Erfolg. Die bundesdeut- deutschen Publikum der späten 50er-Jahre un-
sche Erstaufführung durch Harry Buckwitz am beabsichtigt anderes geliefert: Das Paradigma
22. 5. 1959 in Frankfurt wurde zum spektaku- für dessen Lebenslüge.
500 Schweyk

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riert worden. Das lag nicht nur daran, dass er
Material. Leipzig 1990. – Müller, Klaus-Detlef: »Das
Große bleibt groß nicht …«. Die Korrektur der poli- fast unbekannt war, es war auch schwierig, den
tischen Theorie durch die literarische Tradition in Text genau als Bearbeitung, Übersetzung oder
Bertolt Brechts »Schweyk im zweiten Weltkrieg«. In: eigenständiges Stück von B. zu kategorisieren.
Fassungen, Veröffentlichung 501

Statt einer gesicherten, maßgeblichen Fassung Bergner bearbeite ich (mit Hoffmann Hays)
des Textes gab es viele Fassungen, ein Zu- Websters ›Duchess of Malfi‹« (GBA 27,
stand, der in den komplizierten und unter- S. 150). Laut Bergner kam der Anstoß zu die-
schiedlichen Textfassungen der Stücke B.s sei- sem Werk von ihr, eine Aussage, die B. im
nesgleichen sucht. Oktober 1946 bestätigte mit dem Satz, dass er
die Arbeit an Malfi »auf Wunsch einer emi-
grierten deutschen Schauspielerin« schrieb
(GBA 24, S. 338).
Entstehung Im BBA liegen sechs vollständige oder fast
vollständige Fassungen und mehrere Teilfas-
sungen dieses Werks vor, die im Laufe der
Schon die Entstehungsgeschichte von Malfi folgenden dreieinhalb Jahre entstanden sind
spiegelt einige der Verwirrungen wider, die und voneinander z. T. stark abweichen. Häu-
das Stück umkreisen. Sie reichen von den Ent- figer arbeitete B. am Stück bei seinen New
stehungsdaten der verschiedenen Fassungen Yorker Aufenthalten, anlässlich seiner Besu-
bis zum Anteil der verschiedenen Mitarbeiter che bei Berlau, an der einen oder anderen
und Mitarbeiterinnen am Werk. Sogar der Ti- Fassung, zunächst mit Hoffmann Reynolds
tel bietet Rätsel. In einer Fassung heißt es Hays allein, dann wieder mit Wystan Hugh
»Malfy«, in einer anderen »Malfi«. Einiges Auden, ab 1945 mit Elisabeth Hauptmann oder
scheint jedoch festzustehen. Laut einer Jour- mit Bergner, deren Rolle an der Entstehung
nal-Eintragung vom 20. 11. 1941 versuchte B. weitgehend unterschätzt worden ist, oder
die emigrierte, schon erfolgreiche Schauspie- gleichzeitig mit zwei oder drei dieser Mitar-
lerin Elisabeth Bergner zu gewinnen, ein an- beiter zusammen. Zu Hause in Santa Monica
deres elisabethanisches Stück (Heywood, A schrieb er dann mehrere Szenen um oder ver-
Woman Killed with Kindness) in einer Bearbei- fasste neue. Fast keines seiner Werke weist so
tung zu spielen, die er erstellen wollte (GBA viele vollständige Fassungen und Teilfassun-
27, S. 25). Überhaupt war es B.s modus ope- gen auf wie die Malfi, die zahlreiche, oft stark
randi in Amerika, namhafte Schauspieler und divergierde Varianten enthalten. In seiner
Schauspielerinnen zu gewinnen, um sich ei- komplexen Entstehungsgeschichte ist viel-
nen Zugang zur amerikanischen Bühne zu ver- leicht nur der Text von Leben des Galilei mit
schaffen. Man denke an Leben des Galilei, das Malfi zu vergleichen, und das mit Vorbehalt.
er für Charles Laughton in Englisch als Galileo Nachdem Hays anscheinend schon 1943 eine
umgeschrieben hat, oder an die Oskar-Preis- vorläufig komplette Fassung mit B. fertig
trägerin Luise Rainer, die ihm einen Vertrag stellte, gewann B., ohne Hays zu informieren,
für eine Broadway-Aufführung vom Kaukasi- den englischen Dichter Auden zu weiterer Be-
schen Kreidekreis vermittelte und für die er die arbeitung des Textes, weil er meinte, der
Rolle der Grusche schrieb. Ähnlich verhielt es Name Audens würde zur erfolgreichen Auf-
sich mit Bergner und Malfi. Das an Gewissheit nahme des Stücks beitragen können. Darauf
grenzende Versprechen, dass Bergner die zog sich Hays zornig zurück. Aus der Mitarbeit
Hauptrolle spielen und ihr Mann eine Auffüh- mit Auden kamen im Laufe der nächsten Jahre
rung finanzieren würde, gab ihm einen starken zwei neue Fassungen zustande. Eine weitere
Antrieb, das Stück zu schreiben. Fassung produzierte B. anscheinend allein,
Im Laufe der folgenden zwei Jahre bespra- oder fast allein, an zwei anderen waren Haupt-
chen B. und Bergner, zusammen mit deren mann und Bergner als Mitarbeiterinnen maß-
Ehemann, dem Produzenten Paul Czinner, ver- geblich beteiligt. Aber auch dieser Überblick
schiedene Film- und Theaterprojekte, von de- ist nicht gesichert, denn die verschiedenen
nen aber nichts verwirklicht wurde. Plötzlich Fassungen entsprechen nicht immer klar auf-
im Frühjahr 1943 trug B. unter dem Datum einander folgenden Arbeitsstufen, da B. oft
»März, April, Mai 43« in sein Journal ein: »Für gleichzeitig allein oder mit verschiedenen
502 The Duchess of Malfi

Mitarbeitern an der einen oder anderen Fas- angewiesen zu sein und selber zum englischen
sung schrieb. Der in der GBA veröffentlichte Text nicht wesentlich beitragen zu können.
Text erwähnt zwei Mitarbeiter: Hays und Au- Das Gegenteil scheint der Fall gewesen zu
den. Um dem gesamten Entstehungsprozess sein. Laut Aussagen der zwei Englisch spre-
gerecht zu werden, müssten auch die Namen chenden Mitarbeiter an Malfi, Hays und Au-
von Hauptmann und Bergner als Mitarbeite- den, sowie aller Freunde und Bekannten be-
rinnen anerkannt und ihre Anteile daran ge- herrschte B. Englisch gut, allerdings mit ei-
nauer untersucht werden. nem ausgeprägt starken Akzent. Die Ansicht,
Fast jede Arbeitsrunde führte zu neuen Än- dass B. im Englischen nie zu Hause war, beruht
derungen, zuweilen im Gesamtkonzept, dann auf der Selbststilisierung, die er u. a. in der
im Aufbau, aber auch in der sprachlichen Ge- Beschreibung seiner Mitarbeit mit Laughton
staltung. Auden z. B. hatte eine ganz andere an Galileo und in seinem geprobten Auftritt
Vorstellung von dem Versuch, Websters locke- vor dem Untersuchungsausschuss für uname-
ren, weitschweifigen Fünfakter für das 20. Jh. rikanische Aktivitäten (HUAC) 1947 kulti-
bühnenfähig zu machen, was nicht nur zu Mei- vierte. In den verschiedenen Textstufen von
nungsverschiedenheiten, sondern auch zu Malfi sowie in den Galileo-Texten, die in Ame-
Textfassungen führte, die konzeptionell, rika entstanden, finden sich viele Zeilen oder
strukturell und sprachlich von der in der GBA Änderungen in englischer Sprache, die von
gedruckten Fassung stark abweichen. Da er seiner Hand stammen. Anscheinend fühlte er
den größten Respekt für Auden als Dichter sich vollkommen sicher, auf Englisch zu
hatte, scheint es, als ob B. sich bemühte, keine schreiben, umzuschreiben oder zu korrigie-
Schwierigkeiten zu machen und Audens eng- ren.
lische Versionen von verschiedenen Szenen Die Textfassungen und Varianten beweisen
oder Akten nicht allzu sehr zu beanstanden auch, dass B., wie in allen kollektiven Werken,
bzw. zu ändern. Aber manches deutet auch dar- auch im Verfassen dieses Dramas die maß-
auf hin, dass er mit Audens Beiträgen unzu- gebende Rolle spielte, war er der Initiator, der
frieden war. Obwohl Audens Name bis zur Pre- Tonangebende, die erste generative Kraft und
miere auf dem Programm beibehalten wurde, die größte dramatische Begabung. Nur in der
ließ B.s weitere Bearbeitung des Textes vieles Zusammenarbeit mit Auden konnte oder
von ihm fallen. Im Grunde war die Zusam- wollte er seine Meinung nicht immer ganz
menarbeit nicht harmonisch, und Auden äu- durchsetzen. Nicht nur einzelne Zeilen oder
ßerte sich später nur negativ über sie. längere Passagen, sondern ganze Szenen
Für die eine oder andere Fassung übernah- schrieb er zuerst auf Deutsch, ehe sie von ihm
men die Bearbeiter z. B. Stoffe und Motive aus und seinen Mitarbeiter dann auf Englisch neu
zwei weiteren Dramen Websters – The White verfasst wurden. Diese Fragmente ergaben
Devil (1612) und The Devil‘s Law-Case (1623) zwar keine vollständige Version, sie bildeten
- und John Fords ‘T is a Pitty she‘s a Whore aber die Grundlage für vieles, was er und seine
(1633), die dann z. T. in Laufe der weiteren Mitarbeiter dann in vollständige englische
Arbeit wieder fallen gelassen wurden; jede Fassungen in umgearbeiteter Form aufnah-
Fassung von Malfi kann deshalb als eine ei- men.
gene abgeschlossene Version eines um das Die langjährige Existenz von Malfi am
gleiche Thema kreisenden Stücks angesehen Rande seines Gesamtwerkes förderte auch die
werden. Ansicht, das Werk sei den anderen Dramen
Es gibt verschiedene Gründe, warum B.s ge- nicht ebenbürtig. Aber die Einsicht in die ver-
naue Rolle an der Entstehung dieses Werkes schiedenen Textfassungen und Varianten so-
bis jetzt nicht genauer einzuschätzen war. Un- wie in B.s Journale und Briefe ergibt ein an-
ter anderem galt allgemein, dass seine be- deres Bild. Daraus ist leicht zu ersehen, dass
schränkten englischen Sprachkenntnisse dazu er das Werk für genau so wichtig hielt wie etwa
führten, auf Englisch sprechende Mitarbeiter den Kreidekreis, den Schweyk oder die Gali-
Entstehung 503

leo-Fassung, Stücke, die alle in Amerika en- gen Songschreibern, einfallsreichen Kostüm-
standen sind. In seinem Journal notierte er am schneidern und wirklich modernen Tanzmei-
24. 6. 1943: Das Geld vom Film Hangmen Also stern, in scharfer Konkurrenz zum eigentli-
Die »hat mir Luft für drei Stücke verschafft. chen Ausdruck des Amerikanischen ausgestal-
(›Die Gesichte der Simone Machard‹, ›Die tet wurde. Die Bühnenmaler und die
Herzogin von Malfi‹, ›Schweyk‹)« (GBA 27, Tanzmeister benutzen weitgehend Verfrem-
S. 152). Danach scheint er seine Umgestaltung dungseffekte […]. In den Tanznummern […]
des Texts von Webster nicht lediglich als Bear- tauchen die gestischen Elemente des epischen
beitung gesehen zu haben, sondern als eigen- Theaters auf.« (GBA 24, S. 340) Die in ame-
ständig adaptiertes Stück, das den gleichen rikanischen TV-Filmen benutzte Praktik, ge-
Rang genoss wie Simone und Schweyk. Berg- gen Schluss Werbespot-Unterbrechungen zu
ner erwähnt auch, dass B. besonders begeistert steigern, erinnern an B.s dramaturgische Ver-
war von der Möglichkeit, die sie und Czinner fahren (freilich mit anderem Ziel). Seine
ihm in Aussicht stellten, bei einer Inszenie- Spielweise den amerikanischen Verhältnissen
rung Regie zu führen. Das Werk war für ihn anzupassen, fiel ihm also offensichtlich nicht
also keine Nebenbeschäftigung. schwer, und als Regisseur hätte er sie wahr-
In kein in Amerika geschriebenes Werk – scheinlich auf der Bühne erfolgreich realisiert.
Galileo bildet die Ausnahme - investierte B. so Aber seinen Text einem amerikanischen Publi-
viel Zeit und Arbeit wie in Duchess of Malfi. kum zurechtzuschneiden, war eine andere Sa-
Laut Berlau und Bergner bedeutete ihm dieses che, die vielleicht dazu beigetragen hatte, dass
Stück alles andere als »Brotarbeit« (Bergner, er das Stück im Laufe der vielen Fassungen
S. 213 f.). Bis zum Ende schrieb er nicht nur radikal veränderte und in mehreren Hinsich-
mit Leidenschaft, sondern auch mit Begeiste- ten weit von seiner Vorlage entfernt hatte.
rung an diesem Stück. Bekanntlich schätzte er
das elisabethanische Theater sehr. Aus Grün-
den, die wohl auf seine Einstellung zu Hitler-
Deutschland zurückzuführen sind, scheint es, Zur Problematik des Textes
als ob ihn im amerikanischen Exil die elisabe-
thanische »revenge tragedy« oder »tragedy of
blood« besonders anzog. In den ersten zwei Jahrzehnten nach B.s Tod
Als weitere Motivation kann sein Wunsch wurde keine der Malfi-Versionen veröffent-
bzw. sein Ehrgeiz angesehen werden, mit die- licht. Erst 1978 kam eine Fassung (BBA 1419)
sem Stück den Broadway als Dramatiker und in der englischsprachigen Ausgabe von B.,
Regisseur erobern zu wollen. Beim Schreiben Collected Plays (Bd. 7), zusammen mit eng-
von Der kaukasische Kreidekreis, für den B. lischen Übersetzungen von Simone Machard,
einen Vertrag zur Aufführung auf dem Broad- Schweyk und Kreidekreis heraus. Dass Malfi
way schon vor der Entstehung unterzeichnete, zuerst in einer Ausgabe von Übersetzungen der
verwies er darauf, Elemente aus der alles do- Werke B.s erschien, ist schon deshalb pro-
minierenden Ästhetik der amerikanischen Un- blematisch, weil die Urfassung bereits auf
terhaltungskunst (Film, Burleske, Musical Englisch war. Auch zeigt diese Publikation die
Shows) mit Absicht übernommen zu haben, Schwierigkeit, den Malfi-Text überhaupt zu
weil er offensichtlich ein amerikanisches Pu- kategorisieren, denn im Grunde ist er weder
blikum ansprechen wollte (GBA 24, S. 341). eine Übersetzung noch eine einfache Neubear-
Mit Malfi verhielt es sich ähnlich. In einer beitung von Webster. Man könnte höchstens
Notiz, die wohl als Unterweisung an die sagen, dass es sich um ein selbstständiges, auf
Schauspieler gedacht war und die er kurz vor Webster basierendes Stück handelt, das B. und
der Urauffühung im Oktober 1946 schrieb, seine Mitarbeiter weitgehend auf Englisch
heißt es: »Man sollte sich zum Vorbild das verfassten.
Broadway Musical nehmen, das von […] witzi- Schon 1978 betonte Arthur R. Braunmuller,
504 The Duchess of Malfi

der Herausgeber der Malfi-Fassung in der eng- Bearbeitungskonzept kommt daher zuweilen
lischen Ausgabe, das Dilemma der Textaus- stärker in den nicht verwerteten Bruchstük-
wahl, das ebenfalls den Herausgebern der ken, Rohfassungen und Szenenvarianten zum
GBA-Fassung bevorstand. Da es keine autori- Ausdruck, die im Nachlass – z. T. in deutscher
sierte Fassung von Malfi gab, war die Frage, Sprache – überliefert sind.« (S. 465, S. 468)
welche von den fünf oder sechs Versionen und Irene Bonnaud bestätigt diese Behauptung mit
den zahlreichen Varianten gelten sollten. dem Hinweis darauf, Akt I, Szene 1 sei eine
Braunmuller richtete sich mit zwei Ausnah- Kompromisslösung, die B. nur widerstrebend
men nach der Fassung BBA 1419. Er begrün- akzeptiert habe. Diese Beobachtung dürfte für
dete seine Wahl damit, dass diese Fassung dem alle Textfassungen gelten, deren Vorläufigkeit
Konzept am nächsten käme, das man von der wohl auf Zugeständnisse – hauptsächlich an
Version des Stücks rekonstruieren könne, über Auden und Bergner – zurückzuführen sind.
die B. den meisten Einfluss ausübte und in die Angesichts einer Textlage, welche die ge-
er selbst die sorgfältigste Arbeit steckte. Im druckte Fassung von Malfi als unvollendet gel-
Grunde folgten die Herausgeber der GBA die- ten lässt, ist Vorsicht geboten, eine einzelne
ser Argumentation mit ihrer Entscheidung, Version des Textes für die wissenschaftliche
1991 ebenfalls die Fassung BBA 1419 zu ver- Analyse zu favorisieren. Jedoch bietet die in
öffentlichen, die Braunmullers Text allerdings der GBA edierte Fassung eine verlässliche
in zwei Hinsichten korrigiert. An einer Stelle Grundlage, um die neuen dramatischen Mög-
in Akt II, Szene 5 (GBA 7, S. 331) in Braunmul- lichkeiten, die B. in der Malfi entfaltet hat, zu
lers Edition lässt B. die Duchess vier Zeilen erkennen.
auf Englisch sprechen. In der GBA-Fassung,
die der Textgrundlage (BBA 1419) konsequent
folgt, erscheinen die gleichen vier Zeilen auf
Deutsch. Und den von Delio gesprochenen Aufführungsgeschichte
Epilog, den Braunmuller als Abschluss des
Stücks bringt, veröffentlicht die GBA als Va-
riante in einem Anhang, weil er in der Text- Die Verwirrung um die Textüberlieferung von
grundlage nicht als Epilog enthalten ist (GBA Malfi spiegelt sich auch z. T. in der Auffüh-
7, S. 350). Sonst sind die Texte in beiden Aus- rungsgeschichte wider. In Amerika war es üb-
gaben identisch. Zur Ergänzung dieser Fas- lich, dass für den Broadway vorgesehene
sung bringt die GBA eine Tabelle, welche die Theateraufführungen erst auf Probetournee
Unterschiede im Szenen- und thematischen gingen, bevor sie in New York zur Premiere
Aufbau der verschiedenen Fassungen veran- kamen. Für Malfi wurden Vorpremieren im
schaulicht (S. 466–467), ohne sie ausführli- September/Oktober 1946 in vier Städten an
cher zu kommentieren. Durch die Veröffentli- der Ostküste vorgesehen. Kurz vor der ersten
chung dieses Textes in der GBA muss dieser Vorpremiere holten Bergner und Czinner,
also auf längere Zeit als die gültige, wenn auch ohne B. zu informieren, den englischen Sha-
nicht exklusiv von B. autorisierte Version gel- kespeare-Gelehrten George Rylands als Regis-
ten, und alle Interpretationen müssen, unter seur nach den USA, weil dieser schon 1945 in
Berücksichtigung der weiteren Fassungen, mit London das Stück von Webster erfolgreich in-
dieser beginnen. szeniert hatte.
Doch ist diese Wahl nicht unproblematisch. Rylands bestand darauf und setzte es auch
Die Herausgeber der GBA warnen geradezu gegen die schwachen Proteste Bergners durch,
vor einer Kanonisierung dieser Fassung, denn die vorgesehene Bearbeitung von Auden und
die »abgeschlossenen Stücktexte [der Malfi] B. abzusetzen und stattdessen weitgehend –
sind Kompromisse, die das geplante Ausmaß nur wenige Passagen der Bearbeitung wurden
der Bearbeitung nur zu einem Teil erkennen übernommen – den Originaltext Websters für
lassen« (GBA 7, S. 465). Weiter heißt es: »Das die Inszenierung zu verwenden. Im Wesentli-
Aufführungsgeschichte 505

chen also spielte man in diesen Vorpremieren Aufführung ist, dass das Stück in der vorlie-
nicht B. sondern Webster. Bei der Premiere in genden gedruckten Fassung spielbar, relevant
New York am 15. 10. 1946, nachdem Rylands und durchaus »brechtisch« ist. Weitere Insze-
schon nach England zurückgekehrt war, wurde nierungen werden dessen Wirksamkeit und
B. von Czinner und Bergner für eine kurze Stellenwert in B.s Gesamtwerk schärfer be-
Regietätigkeit eingesetzt, wobei er geringe leuchten und abgrenzen.
Teile seines Textes wieder eingeführt haben
soll. Aber im Grunde gilt, dass in New York der
Text von Webster, mit kleinen Einsprengseln
von B. und Auden, gespielt wurde (Lyon, Inhalt und Interpretation
S. 197 f.), so dass also B.s Stück in den nächs-
ten Jahrzehnten unaufgeführt und fast unbe-
kannt blieb. Ein kurzer Überblick des Inhalts macht deut-
Zum hundertsten Geburtstag B.s sorgte die lich, dass die Neufassung eine selbstständige
Regisseurin Denise Gillman vom Juli bis Sep- dramatische Leistung B.s ist. Im Prolog be-
tember 1998 an ihrem doppelnamigen Theater kennt Ferdinand seinem Beichtvater die Liebe
in Los Angeles (The Theatre of Note und Pil- zu seiner Zwillingsschwester, der Duchess.
grimage Theatre) für die Weltpremiere von Der entsetzte Beichtvater legt ihm daraufhin
The Duchess of Malfi. Die Aufführung folgte eine Buße auf, die er aber nicht erfüllen kann.
dem Text der Collected Plays. Nach einer Re- Darum zieht er in den Krieg. Sein Bruder, der
zension von Dorothea Kehler zu urteilen, er- Kardinal von Ancona, der nichts von Ferdi-
wies sich das Stück als gut spielbar. An der nands Liebe weiß, verbietet seiner verwitwe-
Inszenierung lobte sie das flotte Tempo und ten Schwester eine neue Ehe. Aber da sie ihren
stellte weiter fest, dass in B.s Version die So- Haushofmeister Antonio liebt, macht sie ihm
zialkritik im Mittelpunkt stehe. Indem B. die einen Heiratsantrag und schließt mit ihm
Dekadenz der herrschenden Klassen so pla- heimlich die Ehe. Ihre Schwangerschaft durch
stisch dargestellt habe, zöge er das Publikum Antonio wird von ihrem heimtückischen Stall-
ganz in die Handlung ein. Als Hauptthemen meister Bosola, der sie im Auftrag der zwei
sah sie nicht nur die inzestuöse Liebe Ferdi- Brüder bespitzelt, durch einen Aprikosentest
nands – der kahl geschorene Kopf des Dar- entdeckt. Ihr wird übel, und sie kommt mit
stellers habe die Figur besonders ominös er- einem Sohn nieder, dessen Existenz Bosola,
scheinen lassen –, sondern auch Habgier und der Ferdinand auf dem Kriegsschauplatz auf-
Machtmissbrauch im Kontext der herrschen- sucht, diesem mitteilt.
den Hierarchien von Staat und Kirche. Die Um Antonio vor dem Verdacht der Vater-
Rolle des Antonio wurde als sympathische und schaft zu schützen, benutzt die Herzogin eine
repräsentative Gestalt für das aufkommende List: Sie will ihn aus dem Palast entfernen.
Bürgertum angelegt. Dem redegewandten Jedoch in einem unbedachten Augenblick ver-
Bosola, weniger als Bösewicht und mehr als rät sie Bosola, dass sie mit Antonio verheiratet
»an amusing smart aleck« (Kehler, S. 45) an- ist. Darüber unterrichtet er sofort den Kardi-
gelegt, gelang dagegen als Witzfigur die nal und Ferdinand. Der Kardinal exkommuni-
»Aprikosenszene« (GBA 24, S. 337) weniger ziert die Duchess, und sie flieht zu Antonio,
überzeugend. Aber da die Regisseurin in B.s von dem sie sich – sie hat inzwischen einen
Text die Figur der Duchess mit verringertem weiteren Sohn und eine Tochter geboren –
Standesbewusstsein ausstattete, wodurch sie aber wieder trennen muss, weil er den Zorn
weniger souverän als bei Webster wirkte, er- Ferdinands und des Kardinals zu fürchten hat.
weckte sie als Opfer einer herrschenden Elite, Darauf wird sie von Ferdinands Soldaten ver-
eines perversen Bruders und eines patriarcha- haftet und in dessen Schloss gebracht.
lischen Systems allgemeines Mitleid bzw. Zorn Da der Kardinal sich weigert, Ferdinands
gegen die Oberen (Kehler, S. 43 f.). Fazit dieser Forderung nachzukommen, die Exkommuni-
506 The Duchess of Malfi

kation der Herzogin aufzuheben und ihre Län- tragen lässt, aus dem die Leichen der beiden
der sowie Güter wiederherzustellen – Ferdi- herausfallen. In einer neu geschriebenen
nand will sie für sich haben –, bringt ihn Ferdi- Szene tötet Ferdinand seinen Bruder, den Kar-
nand um. Auf der Flucht werden Antonio und dinal. Die Nebenhandlung mit Julia, der Mä-
sein Sohn gefangen und hingerichtet. Als die tresse des Kardinals, fällt ganz weg, aber ihre
Duchess im Palast von Ferdinand eine Truhe Todesart bei Webster, das Küssen des vergifte-
öffnet, die Ferdinand für sie hereintragen ten Buchs, überträgt B. auf die Duchess, die
lässt, fallen die Leichen ihres Mannes und bei Webster erwürgt wird. Bei B. ist die Figur
ihres ältesten Sohnes heraus. Ferdinand, der des Bosola als unnachsichtiger Bösewicht ge-
wegen seiner Schwester (liebes)krank gewor- staltet, während er bei Webster den Antonio
den ist, verlangt nun von ihr, dass sie ein Ge- aus Versehen tötet (er meint, dieser sei Ferdi-
betbuch küsst und einen Schwur leistet, nie nand) und am Ende all seine Taten bereut. In
wieder zu heiraten. Um ihre zwei anderen Kin- B.s Version wird er nicht am Ende von Ferdi-
der zu retten, die sie von Antonio bekam, küsst nand getötet, wie Webster es darstellt, son-
sie unwissend das vergiftete Buch. Im Sterben dern erhängt (Einzelheiten bei Lyon, S. 199;
erfährt sie, dass ihr Bruder es doch erwirkte, Kussmaul, S. 79).
die Exkommunikation aufzuheben und ihre Zur Entstehung von Malfi berichtet Bergner,
Güter wiederherzustellen. Ihre Magd Cariola wie sie auf der Hut sein musste, dass B. das
wird ebenso von Ferdinands Schergen umge- ganze Stück nicht als kommunistische Propa-
bracht, worauf Bosola – aus Reue und Empö- ganda umbaute. Sie will ihn mitunter daran
rung – Ferdinand mit einem Schwert um- erinnert haben, dass Websters Stück gegen
bringt. Daraufhin lässt Ferdinands Haupt- »die moralische Verrottung des Papstums und
mann Delio, der Vetter von Antonio, Bosola den Übermut des Reichtums« gerichtet war
erhängen. Die einzige Tochter der Herzogin und keineswegs gegen das »Kapital« oder »die
und Antonios wird ebenfalls hingerichtet, aber herrschende Klasse«. Klassenunterschiede,
die Güter der Herzogin fallen an deren noch betonte sie, gäbe es hier überhaupt nicht
lebenden Sohn, dem die Rechte seiner Mutter (Bergner, S. 221). In der kargen Sekundärlite-
zugesprochen werden. ratur zur Malfi findet man Feststellungen, die
Obwohl die Abweichungen gegenüber Web- Bergners Interventionen als erfolgreich zu be-
sters Text in jeder Bearbeitung verschieden stätigen scheinen, wie z. B., dass B.s Stück
sind, hebt ein kurzer Vergleich zwischen ihm keine sozialkritischen Untertöne enthalte
und dem Text der GBA die Hauptänderungen (Kussmaul, S. 73) oder dass das soziale Thema
hervor. B.s Text reduziert Websters fünf Akte nicht betont werde (Germanou, S. 211). Eine
auf drei, wodurch die Spielzeit und das Tempo nähere Untersuchung des gedruckten Texts
des Stücks beschleunigt werden. B. verstärkt und der verschiedenen Varianten führt jedoch
gegenüber Webster die ökonomische Motivie- zu einem etwas anderen Schluss. Wie alle in
rung der beiden Brüder, mit der sie die Güter Amerika entstandenen Werke ist auch in die-
der Duchess an sich reißen wollen. In einem sem vielschichtigen Drama das sozialkritische
neuerfundenen Prolog führt er das Inzestmotiv Element nicht nur vorhanden, sondern vor-
ein und lässt den von Liebe besessenen Bruder herrschend.
Ferdinand zuerst beichten und dann in einen Ein bestimmendes Thema des Stücks ist die
Beutekrieg ziehen. Bei Webster quält Ferdi- moralische Korrumpierung der säkularen und
nand seine heimlich verheiratete Zwillings- kirchlichen Aristokratie, die sich im feudalen
schwester, indem er ihr acht Wahnsinnige Besitzhunger des Kardinals manifestiert, der
schickt, die vor ihr singen und tanzen. Diese nicht nur gegen seine eigene Klasse, sondern
Szene fällt bei B. weg. Dafür lässt er Ferdinand auch gegen seine eigene Familie gerichtet ist.
nach seiner Rückkehr aus dem Kriege die Du- In seiner Habgier, die Güter seiner Schwester
chess quälen, indem er deren Ehemann und an sich zu reißen, sieht man nicht nur Macht-
Sohn umbringen und einen Schrank vor sie missbrauch – um sie zu enteignen, exkom-
Inhalt und Interpretation 507

muniziert er sie angeblich »for her open le- Antonio Bologna. Antonio als bürgerlichen
chery and sins of the flesh« (GBA 7, S. 308)-, Emporkömmling zu sehen, geht wohl etwas zu
sondern auch die Unterdrückung aller fami- weit, da er selbst anscheinend mit seiner ge-
liären Gefühle. sellschaftlichen Stellung zufrieden war und
Das von B. und dessen Mitarbeitern einge- nur deshalb (und unwillens) emporstieg, weil
führte Motiv von Ferdinands inzestuöser Liebe die Malfi ihn drängte, sie zur Frau zu nehmen.
zu seiner Schwester, das sie aus Fords ‘T is Es ist überhaupt für ihn charakteristisch, dass
Pitty she’s a Whore übernahmen und als Trieb- er ihrem Befehl Folge leistet, und dies nicht
feder für die Handlungen Ferdinands einsetz- nur, indem er zu ihrem Ehegatten wird. Trotz
ten, scheint auf den ersten Blick ein Fremdkör- ihrer nicht zu bestreitenden Liebe zu ihm be-
per im Stück zu sein, und in B.s Gesamtwerk handelt sie ihn nicht als einen standesgemäß
spielt es auch sonst kaum keine Rolle. B. hat es Gleichgestellten. Akt II, Szene 3 beginnt mit
vermutlich als weiteres Zeichen der Verkom- einer scherzhaften Unterhaltung, aus der her-
menheit der Aristokratie eingesetzt. In seiner vorgeht, dass er nur dann mit seiner Frau
Verteidigung dieses Motivs nennt B. es eine schläft, wenn sie es erlaubt. Als er darauf be-
»poetische Idee«: »Die Malfi, für ihre Liebe steht, eine bestimmte Nacht mit ihr zu ver-
mit dem Verlust ihrer Lieben und dann dem bringen (»I must lie here«), antwortet sie:
Tode bestraft, erkennt an und exkulpiert die »Must? You are Lord of Misrule«, worauf er
(blutschänderische, ihr fremde und schreck- seine Machtlosigkeit ihr gegenüber bestätigt:
liche) Liebe des Bruders als Naturrecht.« »Indeed my rule is only in the night.« (GBA 7,
(Journal, 25. 7. 1945; GBA 27, S. 227) Damit S. 293)
weist B. auf eine Verbindung zwischen der Ihr Klassenbewusstsein als Herrin macht
Darstellung der machthungrigen feudalen sich außerdem bemerkbar, als sie ihm zu
Aristokratie und dem Inzest-Motiv hin. Was fliehen befiehlt. Er macht ihr den Gegenvor-
die schockierte Duchess als ›Naturrecht‹ ein- schlag, ihren Bruder Ferdinand mit »the
fordert und entschuldigt, ist nicht die inzes- Gorgon-head of reason« (GBA 7, S. 298) zu
tuöse Liebe ihres Bruders an sich, sondern konfrontieren und ihm »the history of our ho-
das Recht auf Besitz, das ihrem Bruder als norable marriage« zu unterbreiten (S. 299).
Soldaten und Aristokraten zusteht. Da sie Nicht nur diesen, sondern auch den Vorschlag,
selbst als Mitglied dieser herrschenden Klasse ihre Offiziere zusammenzurufen und ihnen ei-
deren Regeln und Praktiken als ›Naturrecht‹ nen neuen Loyalitätseid abzuverlangen, um
anerkennt, sieht sie ein, dass ihr Bruder ein sie mit Gewalt vor der Willkür der Brüder zu
Recht darauf hat, neuen Besitz zu ›erobern‹, schützen, lehnt sie ab. Traurig antwortet er: »I
auch wenn es um sie geht. So souverän sie auch would you had given me leave to defend you /
in ihren Handlungen zu sein scheint, ist die As any fishmonger would strike a blow / To
Malfi letzten Endes keine Rebellin gegen ihre shield his dear ones.« (Ebd.) Da sie es ihm
Gesellschaftsklasse, sondern eng verstrickt aber verbietet, für sie kämpfen, fügt er sich
mit deren Konventionen und Klassenbewusst- ihrem Befehl: »At your request not [to] fight
sein. for you« (S. 300). In einer nicht gedruckten
Dies wird auch an einem weiteren sozial- Variante sagt er ihr: »The lowliest hind may
kritischen Thema des Stücks deutlich, das den wield a club to save / His wife from insult. Yet I
Zusammenstoß zwischen der absteigenden must stand / A steward without arms«, worauf
Macht feudaler Herrschaft und dem Aufstieg sie antwortet : »No speeches. Go. (Exit An-
der neuen bürgerlichen Klasse reflektiert. Es tonio)« (BBA 1175). Sie bleibt die Herrscherin,
ist nicht von ungefähr, dass neben der Malfi er der Beherrschte. Dass Antonio nach B.s
zwei der wichtigsten Charaktere im Stück aus Auffassung an seiner Hilflosigkeit als Untertan
der aufsteigenden Bourgeoisie kommen: der leidet, geht weiter aus der sog. »Echo-Szene«
ehemalige Student und Soldat Bosola sowie (Akt III, Szene 2) hervor, wo er, mit seinem
Malfis Haushofmeister und heimlicher Gatte Sohn auf der Flucht, sich über das Schicksal
508 The Duchess of Malfi

des Mannes »who is forbid to fight« beklagt zug dargestellt. Bei Malfi hielt sich B. an seine
(GBA 7, S. 320). Vorlage und erläuterte seinen Standpunk
In einem Szenenentwurf aus dem Jahre hauptsächlich durch einen erweiterten Dialog.
1943, mit dem B. schon zu Beginn der Bearbei- Zwei Pilger auf dem Weg nach dem Heiligen-
tung des Originals seine beabsichtigten Verän- grab von Loretto unterhalten sich über die Du-
derungen in der Malfi-Fabel fixierte und in chess, die Schutz bei ihrem Bruder, dem Kar-
dem er die Veränderungen gegenüber dem dinal, in Ancona sucht. Der erste Pilger fragt:
Websterschen Text mit dem Wort »Abwei- »Who would have thought / So great a lady
chung« bezeichnete, heißt es: »Die Malfi lehnt would have matched herself / Unto so mean a
das Angebot des Haushofmeisters, für sie zu person«; der zweite antwortet: »Nay, lechery /
kämpfen, als eine Einmengung in ihren Kampf Is a great equalizer. ‘Tis blind to rank« (GBA 7,
mit dem fürstlichem Brüder ab« (GBA 24, S. 307 f.), eine Antwort, die vielleicht B.s
S. 335). In seiner Kritik an der nicht zustan- Standpunkt vertritt, aber im Original fehlt. Bei
degekommenen Malfi-Aufführung in New Webster sowie bei B. überrascht die Exkom-
York Oktober 1946 bezog er das Verbot der munikation die beiden Pilger, die sich dann
Malfi auf den Konflikt mit beiden Brüdern: fragen, mit welchem Recht der Kardinal die
»die Aufführung […] entfernte die Szene, in Besitztümer der Schwester für sich expropri-
der die Malfi ihrem bürgerlichen Mann unter- iert hat. Bei Webster und bei B. gelangen sie zu
sagt, in den Streit zwischen ihr und den fürst- dem Schluss, dass er kein Recht darauf hatte.
lichen Brüdern einzugreifen« (S. 339). Gerade Ähnlich wie in Galileo scheint B. mit diesem
dieses Verbot, das sich darin begründet, dass Kommentar aus dem Munde des kleinen Man-
ein Bürger, und wenn er noch so fähig oder nes die subversive, anti-autoritäre Haltung des
beliebt ist, nicht in einen Streit zwischen Ad- Volkes zeigen zu wollen.
ligen eingreifen darf, unterstreicht den Stan- Auch im Konzept gibt es Ähnlichkeiten zwi-
desdünkel der Malfi, die trotz ihrer Liebe zu schen Malfi und Galileo. Im letzteren werden
Antonio ihrer aristokratischen Herkunft nicht die Standesunterschiede in den Gegenüber-
entrinnen kann. In diesem ungleichen Verhält- stellungen von Ludovico und Galilei oder den
nis erkennt man auch eine thematische Ver- kirchlichen Fürsten und Galilei unterstrichen,
wandtschaft mit der Ballade vom Förster und in Malfi durch ihre Heirat mit einem Bürger-
der Gräfin, die B. 1949 für eine Inszenierung lichen. Aber beide Werke enden mit einer Vor-
von Herr Puntila und sein Knecht Matti schau auf eine neue Zeit, in der die Macht der
schrieb, dessen Grundidee er aber schon in herrschenden Hierarchien gebrochen wird
Malfi ausarbeitete. und eine neue Klasse die Herrschaft über-
Dass die historische Gestalt der Malfi eine nimmt. B., der den Vorteil eines historischen
Landes- und Zeitgenossin des großen Galileo Rückblicks hatte, konnte in Galileo diese neue
Galilei war, entging B., der wenigstens zwei Zeit projizieren: Andrea schmuggelt das Ma-
Jahre lang simultan an den beiden Stücken nuskript der Discorsi aus Italien heraus, und
arbeitete, sicherlich nicht. Es bestehen Ähn- damit beginnt die naturwissenschaftliche Re-
lichkeiten im Konzept und in der dramati- volution der Neuzeit. Als Zeitgenosse Galileis
schen Gestaltung, welche die Frage einer dagegen blieb Webster ein solcher Blick ver-
Wechselwirkung zwischen beiden Werken auf- wehrt. B.s Bearbeitung jedoch lässt den
wirft. Dramatisch funktioniert Akt II, Szene 5 Schluss des Stücks u. a. als eine erweiterte Me-
in Malfi ähnlich wie Szene 10 in Galileo, denn tapher für den Verfall der aristokratischen
in beiden Fällen kommentieren und kritisie- Klasse und den Aufstieg der Bourgeosie lesen.
ren Vertreter des Volkes die Rolle der Herr- Antonio wird zwar ermordet, aber die Aristo-
schenden gegenüber dem Handeln ihrer als kratie bringt sich auch gegenseitig um: Der
Abtrünnige bezeichneten Gegner. In Galileo Kardinal lässt die Duchess hinrichten, und
wird der Kommentar gegen die Herrschaft der Ferdinand tötet den Kardinal. Außerdem wird
Kirche durch Spott und Unfug in einem Volks- der letzte Vertreter der Aristokratie vom Bür-
Inhalt und Interpretation 509

ger Bosola umgebracht. Den bevorstehenden schen Charakter heraus und untersuchte die
Aufstieg der Bourgeoisie erkennt man auch in Verbindung zu anderen in Amerika entstanden
Antonios Vetter, dem Bürger und Soldat Delio, Werken. Sie betont, dass jedes dramatische
der Truppen um sich sammelt, um sie aufzu- Werk sowie große Teile der Lyrik und Prosa
fordern, den Sohn aus Malfis Ehe mit dem aus den Jahren 1941–47 als Apologien des Wi-
Bürger Antonio in sein ›Mutterrecht‹ einzu- derstands gegen ungerechte Machtausübung
setzen. Nur kraft des neuen Bürgertums geht aufzufassen seien, wobei die Malfi nur eins
es weiter. Hier folgt B.s Fassung fast wörtlich von vielen Beispielen ist. Im Falle von Simone
Webster: »Let‘s make noble use / Of this great Machard, Schweyk und den Filmskripten oder
ruin and join all our force / To establish this -exposés zu Hangmen Also Die, Silent Witness
young and hopeful gentleman / In his mother‘s und Fugitive Venus sowie in der in Amerika
right.« (GBA 7, S. 338) Nach diesen Worten entstandenen englischen Bearbeitung von
fügt B. aber einen neuen Dialog, in dem der Furcht und Elend dramatisierte B. den Wider-
Hauptmann Delio nach der anfechtbaren ad- stand des Volkes oder einer Einzelperson aus
ligen Herkunft des Sohnes fragt und Delio ant- dem Volk gegen Hitler und die Nazis. Im Kau-
wortet: »An idle rumor / As ill founded as all kasischen Kreidekreis wird die korrupte Obrig-
which has befallen those / Within these an- keit parabolisch als herrschende Aristokratie
cient and too firmly mortared walls.«(Ebd.) einer früheren Zeit dargestellt, und in der
Nach B.s Auffassung sollen metaphorisch amerikanischen Galileo-Fassung wird die ka-
diese ›alten und allzufest gemörtelten Mau- tholische Kirche des 17. Jh.s als unterdrük-
ern‹ der früheren Zeit gesprengt werden, da- kende Obrigkeit darstellt.
mit eine neue Zeit kommen kann. Direkt oder indirekt ist jede dieser Darstel-
Im Zusammenhang mit dieser Deutung ist lungen eine Art Faschismuskritik, die ver-
auch B.s Besetzung der Rolle des Bosola mit schiedene Antworten auf die Frage gibt: ›Wie
dem Schwarzen Canada Lee zu berücksich- leistet man am besten Widerstand gegen (fa-
tigen. In der New Yorker Aufführung, als B. schistische) Unterdrückung?‹ Mitunter betont
nach Rylands Abreise wieder die Leitung von B. die List als die beste Haltung (Schweyk,
Proben übernahm, spielte Lee die Rolle mit Silent Witness, Fugitive Venus), mitunter emp-
weißgeschminktem Gesicht. Vermutlich hatte fiehlt er direkte Konfrontation (Simone Ma-
B. damit provozieren und auf die Unterdrü- chard, Hangmen Also Die, Kaukasischer Krei-
ckung der Schwarzen in den USA anspielen dekreis), mitunter eine Kombination beider
wollen. Im Rahmen der Handlung könnte auch (Galileo, Malfi). Aber in jedem Werk lautet die
gedeutet werden, dass er damit die Herauf- Devise ›Widerstand um jeden Preis‹.
kunft einer neuen Klasse zeigen wollte und In Malfi gibt B. verschiedene Antworten auf
dass diese aufsteigende Klasse sich verstellen die Frage, wie man Widerstand leisten kann.
muss, um sich durchsetzen zu können. Delios In einer ungedruckten Fassung (BBA 1767)
Antwort auf die Frage nach der Herkunft des versucht Antonio, die Duchess davon zu über-
Sohnes ist ebenfalls eine Art Verstellung, ähn- zeugen, nicht nur der Vernunft zu folgen, son-
lich wie Antonios Doppelspiel als Haushof- dern auch mit Gewalt gegen den Herzog vor-
meister am Tag und Vater/Ehegatte in der zugehen:
Nacht. Es scheint, als ob B. hier wie auch in
Galileo und anderen Werken aus dieser Zeit Antonio: And for this night
versuchte, die List als Waffe im Kampf für eine Call all your officers; declare a state of
neue Zeit zu rechtfertigen. siege;
Da Malfi am Rande des Œuvres existierte, And double the soldiers‘ pay, nay treble it.
erkannte man bislang nicht, wie eng das Stück Duchess: With you
konzeptionell mit anderen Schriften verknüpft Leading the troops against my princely
war, die B. in Amerika verfasste. Als Erste brother.
arbeitete Irene Bonnaud den antifaschisti- Antonio: Surely, I think,
510 The Duchess of Malfi

We have let our fears too long oppress our verurteilte. Tatsächlich aber gibt er seine Wi-
reason; derstandshaltung nicht auf. Seinem Sohn, der
Let courage armed with honesty advance in Websters Stück gar nicht vorkommt, erzählt
And scatter their distempered rage. er eine kleine Geschichte aus seiner Kindheit,
die, wie er behauptet, vom Echo ausgespro-
In der (späteren) gedruckten Fassung redu- chen wird: »It seems to tell us, boy, what is the
zierte B. (oder vielleicht auch Auden) diese fate / Of him who is forbid to fight.«(GBA 7,
Aufforderung (Akt II, Szene 3) zu einer Bitte S. 320) Es folgt eine kleine Tierfabel, die nicht
Antonios an die Duchess, die Vernunft als bei Webster steht, und zwar über einen Falken,
Waffe gegen ihren Bruder anwenden zu dürfen der einen Hasen erspäht und auf ihn herab-
(GBA 7, S. 298). Diese Szene gilt überhaupt als stößt. Man hört wie der erschöpfte Hase aus
Wendepunkt im Stück, denn, nachdem die Du- Verzweiflung »Turned upon its back and with
chess ihm in dieser und jeder Hinsicht ver- its stony feet / Hardened by a whole life of
bietet, in den Kampf einzugreifen, trifft sie timid flight / Beat in the falcon‘s breast.«
selbst die Entscheidung, statt Gewalt die List (Ebd.)
als Widerstandstaktik zu verwenden, indem Diese Anekdote des erfolgreichen Wider-
sie Bosola und dem Herzog berichtet, dass stands eines ängstlichen Schwachen gegen ei-
Antonio ihre Gelder veruntreut und sie ihn nen Mächtigen hat B. aus seinen Flüchtlings-
deshalb entlassen habe. Darauf flieht er und gesprächen übernommen. Dort legt sich der
wird praktisch aus der Handlung ausgeschal- Hase auf den Rücken und hat »dem Adler mit
tet. seinen Läufen den Brustkorb eingetrommelt«
In Akt III, Szene 2, als Antonio mit seinem (GBA 18, S. 260). In leicht abgewandelter
Sohn auf der Flucht ist und wiederholt sein Form schmuggelte B. diese Tierfabel in den
Echo hört, bietet ein weiteres Beispiel der zen- Malfi-Text hinein, um damit eine klare morali-
tralen Rolle des Widerstandsthemas. Als B. sche Lehre zu erteilen: Die Schwachen wie
schon 1943 seine beabsichtigten Änderungen Antonio sind kräftiger, als sie denken, und
im Stück skizzierte, verriet er seine Absicht, in sollten dem Instinkt folgen, der sie zum Wi-
dieser Szene zu zeigen, wie Antonio zur reui- derstand aufruft, statt sich von anderen be-
gen Einsicht kommt, dass er gegen die beiden fehlen zu lassen.
Brüder hätte kämpfen müssen, obwohl dieses Oberflächlich betrachtet, sind der Kardinal
Thema nicht bei Webster zu finden ist: »Der und Ferdinand nichts anderes als typische
flüchtende Haushofmeister beklagt seinem machtgierige Aristokraten der italienischen
kleinen Sohn gegenüber das Schicksal derer, Renaissance, ähnlich den Kardinälen in Gali-
die sich überreden lassen, nicht zu kämpfen.« leo. Bei näherer Analyse aber sieht man, dass
(GBA 24, S. 336) Nach Durchsicht der ver- B. im Laufe der Arbeit am Stück eine Verbin-
schiedenen Fassungen und Varianten behaup- dung zur Gegenwart herstellte, die nur dann in
tet Bonnaud, dass B. diese Szene mit verschie- der gedruckten Fassung zu erkennen ist, wenn
denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern man frühere Versionen kennt. Anhand dieser
mindestens zehnmal umgeschrieben habe, ein Versionen argumentiert Bonnaud, dass B. mit
Zeichen von deren Wichtigkeit für ihn. Auden, Absicht versucht habe, Parallelen zwischen
der sich gegen diese Abweichung von Webster Ferdinand und Hitler wachzurufen. Sie be-
auflehnte, schrieb ebenfalls mehrere Versio- ginnt ihre Argumentation mit dem Hinweis auf
nen der Szene, verwässerte aber oder schloss eine Bühnenanweisung zu Ferdinands Auftritt
das Widerstandsthema ganz aus. Nach wei- in Akt I , Szene 1. Hier, meint sie, könnte man
teren Überarbeitungen setzte B. sein Konzept leicht an den Prunk eines spektakulären Öf-
durch, und in der gedruckten Fassung scheint fentlichkeitsauftritts von Hitler denken: »The
es auf den ersten Blick, als ob Antonio – ähn- Duke Ferdinand enters with Castruchio, cour-
lich wie Galilei – sein Verhalten als Kapitula- tiers, men at arms, standard bearers, all the
tion vor der Macht der herrschenden Klasse appurtenances of a princely train. He is in
Inhalt und Interpretation 511

armor.« (GBA 7, S. 264) Als Ferdinand in den kannte, die im Laufe des Kriegs zugenommen
Krieg nach Zypern zieht, heißt es: »Way for the haben.
Duke. Make way for Duke Ferdinand! Way Obwohl The Duchess of Malfi in mancher
for the Duke! The Duke is off to the wars! Hinsicht ein Unikum unter B.s Werken dar-
(crowd noises)« (BBA 146). Bei seiner Rück- stellt, ist es nicht zu den Nebenwerken zu
kehr klingt eine Bühnenanweisung in einer rechnen, die am Rand seines Œuvres angesie-
anderen Fassung wie eine Beschreibung von delt ist. Nicht nur passt das Konzept und die
einem Siegeszug der Nazis: »Glockenläuten. Ausarbeitung ohne Mühe ins Gesamtbild sei-
Von außen Lärm einer Volksmenge, Heilrufe ner Schriften hinein, sondern es behandelt –
und Trommeln. […] Ovationen einer Volks- wie oft übersehen wird – das Zentralthema
menge. Große Beschreibung des triumphalen seiner Werke im amerikanischen Exil, den Wi-
Einzugs des Herzogs, der Malfi gerettet und derstand gegen den Faschismus. Außerdem
Cypern dazu erobert hat – in 4 Jahren Krieg« gehört es zum größeren Themen- und Gedan-
(BBA 144). Diese Bühnenanweisung scheint kenkreis der deutschen Exilliteratur im zwei-
einen direkten Zeitbezug zu haben: Als B. sie ten Weltkrieg, und zwar nicht nur der, die in
1943 schrieb, lief der Hitlerkrieg schon vier Amerika entstanden ist, indem es einen his-
Jahre. torischen Stoff verwendete, um indirekt auf
In der letzterwähnten Fassung kehrt Ferdi- Hitler und Hitlerdeutschland anzuspielen.
nand in Akt II, Szene 2 siegreich aus dem Krieg Mittelbar oder unmittelbar enthält es die glei-
zurück. B.s deutsche Version dieser Stelle zeigt che Faschismuskritik, die für zahlreiche Exil-
Ferdinand nicht nur als Meister der Inszenie- literatur kennzeichnend ist. Malfi ist auch aus
rung eines Volksspektakels, sondern lässt ihn einem anderen Grunde für B.s Schaffen reprä-
auch Vokabeln benutzen, die Bonnaud als di- sentativ. Mit dieser Bearbeitung nimmt er in
rekte Anspielungen auf Hitler deutet: Das vieler Hinsicht eine Arbeitspraxis vorweg, die
»Volk jubelt«, als der Herzog, der als »ein gro- er dann später am Berliner Ensemble bei der
ßer Zirkusmann« bezeichnet wird, Reichtümer Entstehung von Bearbeitungen fremdsprachi-
aus Zypern als Beute heimbringt, »als sollten ger Dramen für Inszenierungen fortsetzte.
die Handschuhmacher und Pastetenbäcker et- Die Tatsache, dass The Duchess of Malfi nur
was bekommen«, und die erbeuteten Fahnen in englischer Sprache vorliegt und bislang we-
verdecken die »ausgemergelten Gesichter un- nig beachtet blieb, bietet der B.-Forschung ei-
serer Veteranen des allzu langen Kriegs« (BBA nen großen Vorteil. Ob es sich um B.s Verhält-
144). Ferdinands spektakuläre Inszenierung nis zum elisabethanischen Theater, zum Anteil
der Szene, in der die Leichen von Mann und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an
Sohn der Duchess aus einem großen Schrank der Entstehung seiner Werke, zur Faschi-
zu ihren Füßen fallen – bei Webster sind es schmuskritik im Allgemeinen oder zur Wider-
Wachsfiguren hinter einer spanischen Wand – standsthematik aus dem amerikanischen Exil
bestätigt weiterhin dessen Begabung für Thea- handelt, all dies sind Themen, die immer noch
tralität, die er mit dem Nazidiktator teilt. nicht erschöpfend untersucht wurden. In die-
In früheren Fassungen von Akt II, Szene 2 sem kaum beachteten, aber wichtigem Stück
findet sich eine weitere mögliche Anspielung ist eine große Fläche Neuland zu entdecken
auf Hitler. Ferdinand empfängt Bosola, der und zu bestellen.
ihm die Nachricht bringt, seine Schwester
habe einen Sohn geboren. Daraufhin ist er
innerlich so beunruhigt, dass er lange zögert, Literatur:
seine Rüstung anzuziehen. Er kommt wegen
Bergner, Elisabeth: Bewundert viel und viel geschol-
dieser Verzögerung zu spät in die Schlacht und
ten … Unordentliche Erinnerungen. München 1978.
gerät deshalb in Gefangenschaft. Es ist mög- – Bonnaud, Irene: Brecht, période americaine. Paris
lich, dass B. als interessierter Beobachter Hit- 2000 [Masch.]. – Germanou, Maro: Brecht and the
lers Berichte über dessen Unschlüssigkeit English Theatre. In: Bertram, Graham/Waine, An-
512 The Duchess of Malfi

tony (Hg.): Brecht in Perspective. London, New York den Notizen die größte Aufmerksamkeit ge-
1982, S. 208–224. – Kehler, Dorothea: The Brecht- widmet wird, verschiedene chinesische Na-
Auden Duchess of Malfi: A World Premiere in Los
men. Neben ihm ist auch die noch namenlose
Angeles. In: Communications 28 (1999), Nr. 1, S. 43–
48. – Kussmaul, Paul: Bertolt Brecht und das eng- Magd zu finden, die das von seiner Mutter
lische Drama der Renaissance. Bern, Frankfurt a. M. verleugnete Kind rettet.
1974. – Lyon, James K.: Brecht in Amerika. Frank- In einer weiteren Bearbeitungsphase wäh-
furt a. M. 1984. rend seines einjährigen Aufenthalts im schwe-
James K. Lyon dischen Lidingö (April 1939 bis April 1940)
stellte B. die Erzählung Der Augsburger Krei-
dekreis fertig. Er verlegte die Handlung in den
Dreißigjährigen Krieg und in seine Vaterstadt
Augsburg. Die Auseinandersetzung zwischen
Katholizismus und Protestantismus hatte er
Der kaukasische Kreidekreis bereits in der im Dezember 1939 abgeschlos-
senen ersten Niederschrift von Mutter Cou-
rage und ihre Kinder als von wirtschaftlichen
Entstehung, Fassungen Interessen motivierten Kampf zwischen Feu-
dalismus und Bürgertum gestaltet. Wie im
Augsburger Kreidekreis werden die »hartnäk-
B. war mit dem Kreidekreis-Stoff spätestens kigen Bemühungen des schwachen Einzelnen,
seit Klabunds (d. i. Alfred Henschke) erfolgrei- den Krieg zu überleben und Wertvolles zu ret-
cher Nachdichtung Der Kreidekreis. Spiel nach ten« (Weber, S. 25), thematisiert.
dem Chinesischen (1925) vertraut; er hatte Während B. mit dem historischen Gesche-
Klabund im März 1920 während seines ersten hen des Dreißigjährigen Krieges in Mutter
Berlin-Aufenthalts kennen gelernt. Aber abge- Courage einen allgemeinen Bezug zum zwei-
sehen von dem parodistischen »Anhang« Das ten Weltkrieg herstellte, wollte er das Stück
Elefantenkalb oder die Beweisbarkeit jeder Be- ebenfalls als »Warnung« an die skandinavi-
hauptung (1927) in der Druckfassung des schen Länder verstanden wissen, sich nicht an
Stücks Mann ist Mann, begann die eigentliche dem »Raubzug« der Nazis zu beteiligen (GBA
Beschäftigung B.s mit dem Stoff erst im däni- 24, S. 272). Trotz des unverkennbar skandina-
schen Exil auf der Insel Fünen, wo er in Skovs- vischen Ursprungs von Mutter Courage, der
bostrand bei Svendborg vom Dezember 1933 sich z. B. darin äußert, dass die Eingangsszene
bis März 1939 lebte. der Soldatenwerbung in Schweden lokalisiert
Frederik Martner, B.s Mitarbeiter in Däne- ist (GBA 6, S. 9–18) und dass Mutter Courage
mark, berichtete, dass B. Ende 1937 parallel zu im Tross des schwedischen Heers durch Polen
seiner Arbeit an einem neuen Stück, »nach zieht (S. 19–25), gibt es im Umfeld des Stücks
einem brauchbaren ereignis für den rahmen bereits Hinweise auf den Augsburger Kreide-
eines fünischen kreidekreises« zu suchen be- kreis. An Mutter Courages Bemerkungen über
gann. Die Handlung sollte »in eine zeit verlegt die positiven Aspekte der Bestechlichkeit –
werden, wo das volk sich gegen die tyrannen »Die Bestechlichkeit ist bei die Menschen das-
aufgelehnt hatte« (Martner, S. 99); die Ermor- selbe wie beim lieben Gott die Barmherzig-
dung des dänischen Königs Knut des Heiligen keit. […] Solangs die gibt, gibts milde Urteils-
1086 in Odense, der größten Stadt Fünens, sprüch, und sogar der Unschuldige kann
schien ein geeigneter Vorwurf zu sein. B.s durchkommen vor Gericht.« (S. 43 f.) – schloss
spärlich erhaltene Notizen und Skizzen zum sich ursprünglich eine später gestrichene
Odenseer Kreidekreis (Abdruck in: Weber, Anekdote über einen Richter in Franken an,
S. 20–24; Hecht 1985a, S. 26–29) lassen aller- der von Armen und Reichen nahm, so dass
dings wenig Rückschlüsse auf die dänische Ge- auch die Armen auf ein gerechtes Urteil hoffen
schichte zu. Vielmehr trägt der Richter, dem in durften. Freilich teilt der Richter Ignaz Dollin-
Entstehung, Fassungen 513

ger in Der Augsburger Kreidekreis mit dem von Berlau, der er nach seiner Rückkehr nach Kali-
Mutter Courage erwähnten Richter allenfalls fornien Szenen zur Beurteilung und zur Kor-
seine Popularität – Dollinger wurde »vom rektur schickte. Berlau hielt die Zusammen-
niedrigen Volk […] in einer langen Moritat arbeit am Kreidekreis für ihre »wichtigste ge-
löblich besungen« (GBA 18, S. 349) –, von sei- meinsame Arbeit« mit B. (Bunge, S. 199),
ner Bestechlichkeit ist keine Rede. Die Fertig- nicht zuletzt deswegen, weil sie von B.
stellung des Augsburger Kreidekreises, aus schwanger war. Im Juni 1944 reiste Berlau
dem B. später im kalifornischen Exil wesent- nach Kalifornien. Am 3. 9. 1944 wurde sie in
liche Elemente der Figurenkonstellation und einem Hospital von Los Angeles an einem
Handlung (in teilweise wörtlichen Formulie- Tumor operiert; die Operation führte zur
rungen) für den Kaukasischen Kreidekreis Frühgeburt eines Sohnes, der wie das Kind im
übernahm, markierte das Ende von B.s Be- Kreidekreis den Namen Michel erhielt. Klaus
mühungen um einen passenden Stoff aus der Völker schließt aus dieser Tatsache, dass die
dänischen Geschichte. »eigentliche Adressatin der Grusche-Figur«
Nach seiner Ankunft an der Westküste der Berlau war: »Das Stück sollte ihr Mut machen
Vereinigten Staaten im Juli 1941 versuchte B. und ihre mütterlichen Gefühle aktivieren.«
ohne großen Erfolg, als Filmautor Fuß zu fas- (Völker 1976, S. 338) Obwohl die »Hauptarbeit
sen. Aus dem Jahr 1942 stammt eine Notiz, die in Amerika […] die Erfindung der Grusche-
lediglich den Titel eines geplanten Films, Der Fabel« war (Bunge, S. 201), ist Völkers Be-
Kreidekreis in den Bürgerkriegen, festhält. Bei hauptung insofern nicht schlüssig, als die Fi-
der Wiederaufnahme des Projekts wurde je- gur der Magd bereits im Odenseer Kreidekreis
doch die Verlegung der Handlung in die Zeit vorgesehen war und nicht erst während der
des amerikanischen Bürgerkriegs (1861–1865) Schwangerschaft Berlaus konzipiert wurde.
nicht weiter verfolgt. Während seines Besuchs Die »Urszenen« (Weber, S. 254) des Stücks
in New York vom November 1943 bis März entstanden im April 1944; im April und Mai
1944, den er bei seiner Mitarbeiterin und Ge- war Der kaukasische Kreidekreis, wie das
liebten Ruth Berlau in der 57. Straße ver- Stück jetzt hieß, die »Hauptarbeit« B.s (GBA
brachte, unterzeichnete B. im Februar 1944 27, S. 184). Die Verlegung der Handlung in
einen Vertrag, der ihn dazu verpflichtete, das den Kaukasus erklärte sich aus B.s Interesse
Stück Der Kaukasische Kreidekreis für die am Verlauf des zweiten Weltkriegs in der Sow-
Broadway-Produzenten Jules Leventhal und jetunion, wo die Schlacht um Stalingrad und
Robert Reud zu schreiben. Der Vertrag war die Kapitulation der 6. Armee am 31. 1. 1943
durch die aus Österreich stammende und in die Wende des Kriegsgeschehens brachten und
den 30er-Jahren nach Hollywood gekommene die Pläne Hitlers zur Eroberung des Kaukasus,
Schauspielerin Luise Rainer, die mit dem Dra- den Zugang zu den Ölquellen am Kaspischen
matiker Clifford Odets verheiratet war und Meer, hinfällig machte. Da die nun zum Rück-
über gute Beziehungen zum Broadway ver- zug gezwungenen deutschen Truppen bis an
fügte, »vermittelt« worden (GBA 27, S. 183). den Kaukasus vorgedrungen waren, konnte
Rainer kannte und schätzte Klabunds Der Krei- dieser als das erste befreite Gebiet der Sowjet-
dekreis; sie ging deshalb auf B.s Vorschlag ein, union gelten. Darauf weist die zweite Fassung
die weibliche Hauptrolle in seinem Kreide- des Vorspiels, das von Anfang an integraler
kreis-Stück zu übernehmen. Die »große Bestandteil der Stückkonzeption war (vgl.
Chance« B.s (Bunge, S. 200), durch das Zu- GBA 24, S. 344), ausdrücklich hin; in der er-
standekommen einer Inszenierung des Kreide- sten Fassung war der 7. 6. 1934 als Zeitpunkt
kreises am Broadway Fuß zu fassen, sollte sich der Handlung angegeben (GBA 8, S. 188).
während seines Aufenthalts in den Vereinigten Probleme bereitete B. die Figur des Richters
Staaten nicht verwirklichen. Azdak, der bereits diesen Namen trug, wäh-
Bereits in New York begann B. mit der Ar- rend die spätere Grusche russisch Katja (mit
beit am Stück. Unterstützt wurde er dabei von dem Nachnamen Grusche) und Simon noch
514 Der kaukasische Kreidekreis

Wolodja hießen (Liste der Namenänderungen (Abdruck in: Weber, S. 123–130) bezog sich
in: GBA 8, S. 460 f.). B.s Unzufriedenheit mit jetzt ausdrücklich auf die unmittelbaren zeit-
Azdak resultierte, wie er am 8. 5. 1944 im genössischen Ereignisse der Niederlage der
Journal festhielt, aus dem fehlenden »sozialen Hitlertruppen und die Probleme des Neuauf-
Grund seines Verhaltens« (GBA 27, S. 184), bis baus angesichts der Kriegszerstörungen, eine
er »diese elementare causa gesellschaftlicher Aufgabe, die durch den Anspruch der zwei
Art« in Azdaks »Enttäuschung darüber [fand], Kolchosen auf das Tal kompliziert wurde. In
daß mit dem Sturz der alten Herrn nicht eine dem kurzen Nachspiel (GBA 8, S. 190 f.) weist
neue Zeit kommt, sondern eine Zeit neuer eine Bäuerin den impliziten Vergleich des Sän-
Herrn.« (S. 186) Am 5. 6. 1944 beendete B. die gers zwischen der Handlungsweise der Gou-
»erste Niederschrift« des Stücks (Typoskript verneursfrau und ihresgleichen und der des
im Nachlass) und schickte sie an Rainer, ob- Kolchos »Rosa Luxemburg« zurück; am Ende
wohl die Schauspielerin, wie er am 7./8.6. an warnt ein »Alter« die neuen Besitzer des Tals
Berlau schrieb, ihm inzwischen »reichlich wi- lächelnd vor den Konsequenzen, wenn sie
derlich« geworden war, und er »nichts dage- nicht einen blühenden Garten schaffen wür-
gen« gehabt hätte, »wenn sie das Stück ab- den.
lehnt« (GBA 29, S. 338). Trotz des Konflikts zwischen »›Auftrag‹ und
Schon wenige Tage nach Fertigstellung der ›Kunst‹« (GBA 27, S. 184), den er beim Schrei-
ersten Fassung äußerte B. Unzufriedenheit mit ben des Kaukasischen Kreidekreises empfand,
der Figur der Grusche: »Sie sollte einfältig und trotz des Zerwürfnisses mit Rainer be-
sein, aussehen wie die Tolle Grete beim Breu- mühte sich B. um eine englische Übersetzung
ghel, ein Tragtier. Sie sollte störrisch sein statt für eine Aufführung am Broadway. Für die
aufsässig, willig statt gut, ausdauernd statt un- »Rohübersetzung« sah er Elinor Rice vor, die
bestechlich usw. usw.« (Journal, 15. 6. 1944; an einer Übersetzung von Die Dreigroschen-
GBA 27, S. 191) und »den Stempel der Zurück- oper gearbeitet hatte. Zusätzlich wollte er den
gebliebenheit ihrer Klasse« tragen, um auf englischen Schriftsteller und Filmautor Chris-
diese Weise »weniger Identifikation« zu er- topher Isherwood für eine Bearbeitung ge-
möglichen (S. 192). Kritik an der Grusche kam winnen, der jedoch aus Zeitmangel ablehnte
ebenfalls von Lion Feuchtwanger, den B. im (GBA 29, S. 338). Als neuen Übersetzer konnte
Journal (31. 7. 1944) als »erfrischend klug« B. den englischen Lyriker Wyston Hugh Auden
und als von »philosophischer Geduld und engagieren, und am 12. 3. 1945 unterschrieben
Freundlichkeit« charaktierisierte (S. 198). B. als Autor, Auden als Bearbeiter der eng-
Feuchtwanger empfand die Grusche als »zu lischsprachigen Version sowie Tania Stern, die
heilig« (ebd.), und am 8. 8. 1944 berichtete B. mit ihrem Mann James an der Übersetzung
vom Abschluss seiner dreiwöchigen Umarbei- beteiligt war, einen Vertrag, der Leventhal und
tung der »Gruschefigur«, welche die »Unzu- Reud das ausschließliche Aufführungsrecht für
länglichkeit« der Katja, die »nettere […] der ein Jahr zusicherte (Vertragstext in: Lyon
ersten Fassung«, die freilich für amerikanische 1994, S. 271 f.). B.s Zusammenarbeit mit Au-
Theaterverhältnisse »viel wirkungsvoller« an- den erwies sich jedoch als nicht fruchtbar, da
gelegt war (ebd.), beseitigte, indem jetzt »ihr Auden, wie B. im April 1945 an Berlau schrieb,
Lernprozeß und ihre Entwicklung von einer nur die Lieder übersetzt hatte und sich wei-
sklavischen Untertanin zu einer selbständigen gerte, die von B. als ungenügend empfundene
Person im Vordergrund« standen (Weber, Prosaübertragung der Sterns zu überarbeiten.
S. 132). Die Geschichte des Azdak blieb bei Hinzu kam, dass der Übertragung die erste
dieser Überarbeitung im Wesentlichen unver- Fassung zugrunde lag, denn B. hatte den Über-
ändert. Dagegen revidierte B. das Vorspiel – er setzern noch kein korrigiertes Exemplar zur
beendete die »Neufassung« am 1. 9. 1944 – und Verfügung gestellt (vgl. GBA 29, S. 351 f.).
schrieb ein Nachspiel mit dem Zusatz »ad libi- B. hatte in Zusammenarbeit mit dem Schau-
tum« (zu spielen nach Belieben). Das Vorspiel spieler Oskar Homolka, der die Rolle des Az-
Entstehung, Fassungen 515

dak spielen sollte, und Hans (John) Viertel, nummerierung) einbezog, so dass Der kauka-
dem Sohn des Regisseurs Berthold Viertel, sische Kreidekreis jetzt als sechsaktiges Stück
eine Übertragung von »Azdaks Selbstbezichti- gelten konnte. Allerdings konnte diese Ände-
gung« (Weber, S. 182) vorgenommen. Diese rung zu Lebzeiten B.s nicht mehr veröffent-
Szene hat Azdaks Einsetzung als Richter durch licht werden; sie erschien erstmals in Band X
die Panzerreiter zum Inhalt (Text der Über- der Stücke (1957) des Suhrkamp Verlags und
setzung in: Weber, S. 184–193; vgl. GBA 8, wurde in die WA von 1967 übernommen. Band
S. 65–70, S. 157–162) und sollte möglicher- 8 der GBA dagegen bringt sowohl die Fassung
weise Auden »als Modell oder Anregung die- von 1949 (Textgrundlage: Druck in Sinn und
nen« (Weber, S. 182). Aber B.s Hoffnungen auf Form) wie die von 1954 (Textgrundlage: Ver-
eine vollständige »Nachdichtung« Audens als suche, Heft 13) mit dem Vorspiel (auf diese
Grundlage für eine Broadwayaufführung (GBA beiden Fassungen wird im Folgenden im We-
29, S. 340) erfüllten sich nicht. Zwar wurde sentlichen Bezug genommen). In beiden Fäl-
der 5. Akt in der Übertragung Audens und der len (wie auch in der WA) wird nur Berlau als
Sterns in der Kenyon Review vom Frühjahr Mitarbeiterin genannt, obwohl im Manuskript
1946 veröffentlicht, aber zur Uraufführung des der zweiten Fassung neben Berlau auch Hanns
Kaukasischen Kreidekreises am Carleton Col- Eisler und der Schriftsteller und Regisseur
lege in Northfield/Minnesota am 4. 5. 1948 in Hans Winge, mit denen B. das Stück diskutiert
einer Übersetzung von Eric Bentley, auf die B. hatte, aufgeführt sind (Weber, S. 181).
keinen Einfluss hatte, kam es erst, nachdem er
die Vereinigten Staaten am 31. 10. 1947 ver-
lassen hatte.
Die überarbeitete zweite Fassung (1944) des Vorlagen, Stoff
Stücks wurde 1949 im ersten B.-Sonderheft
der Zeitschrift Sinn und Form veröffentlicht;
im Zusammenhang mit den Proben für die B. selbst gab einen textinternen Verweis auf
Aufführung am Berliner Ensemble (Premiere: die Quelle des Stücks. Vor Beginn der Auffüh-
7. 10. 1954) begann B. wiederum mit einer rung antwortet der Sänger im Vorspiel in bei-
Bearbeitung. 1954 erschien die neue (dritte) den Fassungen auf die Frage des Delegierten
Fassung von Der kaukasische Kreidekreis in (GBA 8, S. 14) bzw. des Alten (S. 100), ob es
textidentischen Ausgaben in Heft 13 der Ver- sich um »eine der alten Sagen« handele: »Eine
suche des Suhrkamp Verlags und des Aufbau sehr alte. Sie heißt ›Der Kreidekreis‹ und
Verlags. Auf die Einwände Peter Suhrkamps stammt aus dem Chinesischen. Wir tragen sie
gegen das Vorspiel erwiderte B. im Mai 1954: freilich in geänderter Form vor.«(S. 14, S. 100)
»[Das Vorspiel] war das erste, was ich von dem Bereits Klabunds freie Nachdichtung von Li
Stück schrieb, in den Staaten. Die Fragestel- Hsing-taos (Li Xingdao) aus dem 13. Jh. stam-
lung des parabelhaften Stücks muß ja aus Not- mendem Der Kreidekreis wies Änderungen ge-
wendigkeiten der Wirklichkeit hergeleitet genüber dem Original auf, das von Stanislas
werden […]. Ohne das Vorspiel ist weder er- Julien 1832 ins Französische übersetzt und da-
sichtlich, warum das Stück nicht der chinesi- mit erstmals europäischen Lesern zugänglich
sche Kreidekreis geblieben ist […], noch, gemacht worden war. Auf dieser Übersetzung
warum es der kaukasische heißt. […] bei der basierte Wollheim da Fonsecas deutsche Über-
Dramatisierung fehlte mir eben ein histori- tragung unter dem Titel Hoei-lan-ki. Chine-
scher und erklärender Hintergrund.« (GBA 30, sisches Schauspiel in vier Aufzügen und einem
S. 256 f.) Kurz vor seinem Tod nahm B. eine Vorspiel (Leipzig 1876), die Klabund als
weitere, folgenschwere Änderung vor, indem Grundlage seiner dem zeitgenössischen Ge-
er das Vorspiel durch Umbenennung in Der schmack angepassten Bearbeitung diente.
Streit um das Tal stärker in das Stück inte- B. schätzte Klabund; in einem 1935 in der
grierte und in die Aktzählung (bzw. Durch- New York Times veröffentlichten Essay über
516 Der kaukasische Kreidekreis

das vorhitlersche Drama erwähnte er dessen des Muttertums (durch Ausfindung der Müt-
Kreidekreis als ein Beispiel der »Stücke der terlichkeit) wertvoll, selbst wenn das Mutter-
Weltliteratur aller Zeiten«, die auf den Bühnen tum anstatt biologisch nunmehr sozial be-
der Weimarer Republik gespielt wurden (GBA stimmt werden soll.« (GBA 24, S. 341 f.) Neben
22, S. 164). Aber Klabunds »chinesisches Mär- dem Thema der Mütterlichkeit war B. aber
chenspiel« (Klabund, S. 7) forderte den Sino- bereits in seinen frühesten Entwürfen an der
logen Alfred Forke heraus, eine originalge- zur Lösung des Konflikts notwendigen Figur
treue Übersetzung anzufertigen, die 1926 im des Richters interessiert (vgl. Weber, S. 20–
Reclam Verlag erschien, und B. unter Umstän- 23). Im alttestamentarischen Urteil Salomons
den bekannt war. In dem chinesischen Stück ordnet dieser an, dass ein Kind, um das sich
geht es um Hai-tang, die, um ihren liederli- zwei Huren streiten, mit dem Schwert geteilt
chen Bruder und ihre Mutter ernähren zu kön- werde, um beiden gerecht zu werden. Die
nen, zur Kurtisane wird (Klabund machte aus wahre Mutter verzichtet auf ihren Anspruch;
ihr eine Jungfrau). Der reiche Herr Ma nimmt das Kind wird ihr zugesprochen.
sie als offizielle Nebenfrau, aber als sie ihm B. benutzte eine Reihe weiterer Quellen be-
einen Sohn gebiert, erregt sie die Eifersucht sonders für die Lieder. Azdaks Lied vom Chaos
der kinderlosen Hauptfrau, die mit Hilfe ihres (GBA 8, S. 77 f., vgl. S. 170) ist eine Bearbei-
Liebhabers Herrn Ma vergiftet, Hai-tang des tung der Mahnworte eines Propheten aus einer
Mordes anklagt und ihr das Kind streitig altägyptischen Gedichtreihe in der Überset-
macht. Ein unfähiger und korrupter Richter zung von Adolf Ermann, Die Literatur der
erpresst ein falsches Geständnis von Hai-tang Ägypter (1923), die B. bereits 1935 in seinem
und verurteilt sie aufgrund der Aussagen be- Aufsatz Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben
stochener Zeugen zum Tod. Hai-tangs Bruder der Wahrheit in anderer Form als Beispiel der
(bei Klabund ist er zu einem Revolutionär ge- »Schilderung einer »Unordnung« angeführt
worden) steht im Dienst des klugen und ge- hatte, »die den Unterdrückten als ein sehr be-
rechten Richters Pao Tscheng, einer histori- gehrenswerter Zustand erscheinen« musste,
schen Person, der den Fall an sich zieht. In der wenn auch »der Dichter« wegen seiner ver-
Kreidekreisprobe zur Feststellung der wahren meintlichen Verurteilung dieser Zustände
Mutter – Forke wies darauf hin, dass es sich »schwer faßbar« war (GBA 22, S. 85). Grusches
eigentlich um einen mit Kalk gezogenen Tren- Geh du ruhig in die Schlacht, Soldat (GBA 8,
nungsstrich handelt – spricht der Richter Hai- S. 24, vgl. S. 110) beruht auf dem unter den
tang als der wahren Mutter das Kind zu, da sie sowjetischen Truppen im zweiten Weltkrieg
aus Furcht, das Kind zu verletzen, sich gewei- verbreiteten Soldatenlied Konstantin Simo-
gert hat, es zu sich herüberzuziehen. Bei Kla- nows Wart auf mich (1942), das B. in eng-
bund wird die Figur des Richters im Sinn einer lischer Übersetzung kennen lernte (vgl. GBA
sentimentalen Liebesgeschichte stark verän- 27, S. 141) und das er für die Abschiedsszene
dert: Er ist nicht nur der Kaiser, sondern auch im Kaukasischen Kreidekreis umarbeitete,
der wahre Vater des Kindes, das er mit Hai- weil dort »nur die Elemente eines Volksliedes
tang bei einer früheren Begegnung gezeugt möglich waren« (GBA 23, S. 269). Er zog eben-
hatte, während sie schlief (vgl. Berg-Pan, falls die von Belá Bartók gesammelten Slowa-
S. 215–226; Tatlow, S. 291–302). kischen Volkslieder für die von den beiden Pan-
Nach der ersten Niederschrift notierte B. zerreitern gesungenen Lieder Zieh ins Feld ich
seine einschneidende Änderung gegenüber traurig meiner Straßen und Wenn ich auf dem
der chinesischen Vorlage und wies zugleich auf Kirchhof liegen werde (GBA 8, S. 32, vgl.
eine weitere, aber wohl weniger wichtige S. 123) heran. Für Grusches Liebster mein,
Quelle hin: »Die Kreidekreisprobe des alten Liebster mein (S. 44, vgl. S. 135 f.) und des
chinesischen Romans und Stückes sowie ihr Sängers Die Schlacht fing an im Morgen-
biblisches Gegenstück, Salomons Schwert- grauen (S. 57, vgl. S. 149) griff B. auf Hella
probe [1 Könige 3,16–18] bleiben als Proben Wuolijokis Übersetzung ihres Estnischen
Vorlagen, Stoff 517

Kriegslieds (1915) zurück. Einige der zahlreich szenische Wirklichkeit, sie lockern die thea-
verwendeten Sprichwörter entstammen dem tralische Illusion« (Klotz, S. 55).
Werk Arabische Sprüchwörter oder die Sitten In der Aufführungspraxis kümmerte man
und Gebräuche der neueren Aegyptier (1834) sich relativ wenig um B.s Intentionen in Bezug
von Johann Ludwig Burckhardt (vgl. Woods, auf das Vorspiel. Die nicht von B. autorisierte
S. 26–32). Die georgischen Namen entnahm B. englische Übersetzung des Kaukasischen Krei-
wahrscheinlich englischsprachigen Literatur- dekreises durch Bentley in Parables for the
geschichten oder Geschichtslexika (vgl. Rit- Theatre (1948), die der amerikanischen Urauf-
chie, S. 48–52), und der Name Azdak ent- führung (1948) zugrunde lag, ließ das Vorspiel
stammt wohl dem um 980 bis 1010 entstan- wegen der möglicherweise politisch kontro-
denen Epos Das Königsbuch des persischen versen Aufnahme einfach weg. In der Insze-
Dichters Ferdausi (vgl. Brough/Kavanagh, nierung des Berliner Ensembles (1954) wurde
S. 573–580). Schließlich diente ein Ausschnitt das Vorspiel zwar gezeigt, aber von der DDR-
des Gemäldes Dulle Griet (1562) Pieter Breu- Kritik kaum zur Kenntnis genommen; die we-
ghels d. Ä., den B. wahrscheinlich nachträg- nigen Erwähnungen waren meist negativ (vgl.
lich auf das Titelblatt der »ersten Nieder- Bunge 1985b, S. 148). In der westdeutschen
schrift« klebte, als visuelle Anregung für die Presse wurde die Behauptung aufgestellt, dass
Neukonzeption der Gruschefigur (Abbildung B. aus ideologischen Gründen das Vorspiel erst
in: Duchardt, S. 27). 1954 verfasst hätte (vgl. Mews 1992a, S. 86,
S. 98 f.), eine Behauptung, welche die Strei-
chung des Vorspiels in der Inszenierung in
Frankfurt a. M. (1955), die mit Zustimmung
Das Vorspiel B.s erfolgte (vgl. GBA 30, S. 357), als völlig
gerechtfertigt erscheinen ließ. Die Zustim-
mung zur Weglassung des Vorspiels, das »mit
Die formale Funktion des Vorspiels wird aus einem Riesenaufwand an linientreuen Genos-
einer Notiz B.s im Journal vom 3. 7. 1944 deut- sen, kämpferischem Gelächter und vom Glück
lich: »Im ›Kaukasischen Kreidekreis‹ wird die der Planerfüllung überstrahlten Gesichtern«
Fiktion benutzt, daß der Sänger das Ganze daherkomme (Thiem), wurde freilich nicht
zum Vortrag bringt, d. h. er kommt ohne Thea- von denjenigen Rezensenten geteilt, die be-
tertruppe; die Szenen sind nur Verkörperun- mängelten, dass die Zuschauer ohne das
gen der Hauptvorgänge in seiner Erzählung.« »Vorspiel nach Holzhammermanier« B.s unter-
(GBA 27, S. 197) Die im Streit um das Tal schwellige »Propaganda« (Kloos), den doktri-
erfolgreichen Mitglieder des Kolchos Rosa Lu- nären »Pferdefuß« des »sozialkritisch durch-
xemburg treten als Laiendarsteller auf, und setzten Rührstückes« (Hensel) nicht bemerken
die unterlegenen Bauern vom Kolchos Galinsk könnten.
stellen die Zuschauer. Obwohl B. 1944 eben- In der B.-Forschung der westlichen Länder
falls »empfahl, die allgemeine Idee, daß die setzte sich im Zusammenhang mit der Akzep-
Szenen nur die Verkörperung gewisser Stellen tanz B.s als eines ›Dichters‹, dem man seine
in dem Gesang des Sängers sind, […] in der bedauerlichen und verurteilenswerten politi-
Ausführung bewußt aufzugeben« (GBA 24, schen Anschauungen nachsah, die Ansicht je-
S. 344), bezweckte diese Empfehlung keines- ner Kritiker durch, die das Vorspiel für ent-
wegs eine Reduzierung des epischen Charak- behrlich gehalten hatten: »Die gesamte,
ters, da durch die das Vorspiel mit der Gru- höchst primitive sowjetische Propaganda […],
sche- sowie Azdak-Handlung verbindende Fi- ist diesem Schauspiel vorne als Prolog ohne
gur des Sängers die Darbietung als »Spiel im Zusammenhang mit der Hauptaktion ange-
Spiel« erkennbar bleibt: »Binnen- und Rah- klebt« (Haas, S. 86 f.); die »Theseneinkleidung
menhandlung relativieren einander, sie be- [könnte] weggelassen werden […], ohne daß
streiten einander den möglichen Anspruch auf hierdurch das Stück in irgendeiner Weise litte«
518 Der kaukasische Kreidekreis

(Brandt, S. 79). In seiner psychologisierenden dern umgekehrt: das Vorspiel ist eine Histori-
Studie schrieb der besonders in den englisch- sierung (und zugleich Aktualisierung) der Fa-
sprachigen Ländern einflussreiche Kritiker bel: es ist mithin nicht überflüssig, sondern
Martin Esslin, dass im gesamten Werk B.s nur unentbehrlich. Gegenstand des Stückes ist das
das Vorspiel »innerhalb des gelobten Landes« Verhältnis von Utopie und Geschichte.« (Mül-
spiele, und meinte, die positive Schilderung ler, S. 208 f.) Auch Helmut Jendreiek meinte,
der Beilegung des Streites sei »nur ein from- dass der Zuschauer durch das Vorspiel die
mer und rührender Wunschtraum, der von der Möglichkeit erhalte, zu begreifen, »daß die
Wirklichkeit stündlich und täglich Lügen ge- durch Azdak gestiftete Gerechtigkeit nicht ir-
straft« werde (Esslin, S. 358 f.). real-utopische Ausnahme sein muß, sondern
Entgegen seiner späteren Ansicht über die gesellschaftliche Realität werden kann« (Jen-
Parabelhaftigkeit des Stücks (vgl. GBA 30, dreiek, S. 300).
S. 256 f.), merkte B. 1944 an, dass Der kaukasi- Die »realisierte Utopie« (Müller, S. 208) im
sche Kreidekreis »keine Parabel« sei, obwohl Vorspiel schließt ebenfalls eine Neubestim-
das Vorspiel »darüber einen Irrtum erzeugen mung der Funktion der Kunst in einer sozia-
[könnte], da äußerlich tatsächlich die ganze listischen Gesellschaft ein. Trotz der Rationie-
Fabel zur Klärung des Streitfalls wegen des rung aller »Vergnügungen« in der Mangelwirt-
Besitzes des Tals erzählt wird« (GBA 24, schaft der unmittelbaren Nachkriegszeit, zu
S. 342). Walter Hinck ging 1959 von dieser denen neben materiellen Genüssen auch die
Äußerung B.s aus und ergänzte die politisch- Diskussion um das Tal gehört (GBA 8, S. 9,
ideologischen Argumente für die vermeintli- vgl. S. 96), weigert sich der Sänger entschie-
che Entbehrlichkeit des Vorspiels durch eine den, die Darbietung zu kürzen (vgl. S. 14,
strukturelle Analyse, indem er das »Mißver- S. 100). Die Schaffung von Voraussetzungen
hältnis von Vergleichendem [die Grusche- für die Ausübung von Kunst erscheint gleich-
Handlung und der Streit um das Kind] und berechtigt mit der Lösung dringender ökono-
Verglichenem [der Streit um das Tal]« (Hinck, mischer Aufgaben, wie ein Kolchosbauer dem
S. 36) konstatierte. Das »Problem der Produk- auf die »Ökonomie« fixierten Delegierten er-
tionsmittel (im Dienst des Menschen)«, der klärt (S. 13, vgl. S. 99). Die Aufhebung des
Tausch des Tales, werde dem »Problem des Unterschieds zwischen der dem Gemeinnutz
Menschen in seiner sozialen Bestimmung«, dienenden, produktiven Arbeit einerseits und
dem Tausch des Kindes, vorgeordnet, wodurch der Kunstausübung, die nicht mehr als bloße
das Stück »als Gleichnis zu erdrückend« werde Unterhaltung fungiert, andererseits, wird in
und »der im Vorspiel entwickelte Vorgang und der Fassung von 1954 durch die angekündigte
damit das Vorspiel selbst seine eigentliche Mitwirkung der Mitglieder des Kolchos Rosa
Funktion« verliere (ebd.). Andere Interpreten Luxemburg in dem vom Sänger geleiteten
schlossen sich Hinck an, indem sie das postu- »Theaterstück« (S. 99) demonstriert. B.s Hoff-
lierte Missverhältnis zwischen Vorspiel und nungen auf die neue Rolle der Kunst und ihrer
den folgenden Akten als B.s Flucht »in die Ausübung sollten sich freilich in der DDR
verlogene Idylle« deuteten (Zimmermann, nicht erfüllen; die Wende dürfte die Realisie-
S. 102 f.; vgl. Michelsen, S. 192 f.). rung dieser Hoffnungen in weite Ferne gerückt
Schon 1967 hatte Klaus-Detlef Müller das haben.
Verhältnis zwischen Vorspiel und der im ei- Angesichts des Zusammenbruchs der Sow-
gentlichen Stück dargebotenen Fabel neu defi- jetunion und des ›real existierenden Sozia-
niert und dieses Verhältnis als eine wechsel- lismus‹ stellt sich verschärft die Frage nach
seitige Historisierung charakterisiert: Die der Gültigkeit des von B. im Vorspiel vorge-
»Gegenwart erscheint als Schlußpunkt einer stellten Modells. Auf die Inpraktikabilität und
historischen Entwicklung, als Verwirklichung Realitätsferne dieses Modells war schon zu
geschichtlicher Tendenzen […]. Die Fabel ist Zeiten des Kalten Kriegs wiederholt hinge-
also nicht eine Illustration zum Vorspiel, son- wiesen worden (vgl. Jendreiek, S. 302), eben-
Das Vorspiel 519

falls von sowjetischer Seite (vgl. Mews 1992a, Azdak-Handlung wird in einer Art Rückblende
S. 46). Wenn man, wie Theo Buck vorschlug, nachgeholt). Sie werden erst im letzten Akt
in Betracht zieht, dass es für einen »gegen (Der Kreidekreis) zusammengeführt, mit der
Hitlerdeutschland kämpfenden Schriftsteller »Geschichte des Prozesses um das Kind des
im Exil« und Marxisten kaum eine andere Gouverneurs Abaschwili« (S. 79, vgl. S. 172),
Hoffnung als die Sowjetunion gab, und wenn den Azdak entscheiden muss. Beide Geschich-
man ferner »unverkrampft« das Vorspiel »als ten, die sich über einen Zeitraum von ungefähr
ein einfaches, in der humanen Zielsetzung zwei Jahren erstrecken, sind daher ohne die
überzeugendes Gesellschaftsmodell« betrach- im Stück thematisierten politischen Verände-
tet, dann bleibt, von notwendigen Abstrichen, rungen nicht denkbar. Diese Veränderungen
wie etwa dem auf Ausbeutung der Natur be- ermöglichen es beiden Protagonisten, aus der
ruhenden Technikkult abgesehen (vgl. GBA 8, Anonymität ihrer Existenz herauszutreten und
S. 12, vgl. S. 98 f.), dieses Modell weiterhin im Bewusstsein des Volkes fortzuleben. Frei-
anwendbar (Buck, S. 165 f.). Kaum überzeu- lich traf der Versuch Webers, die Darstellung
gend wirkt der freilich nur flüchtig skizzierte politisch turbulenter Zeiten als verschlüsselte
Versuch, im produktiven Zusammenwirken Schilderung der russischen Oktoberrevolu-
von Grusche und Michel sowie in dem von tion, den »Nullpunkt der Geschichte« (Weber,
Obstbauern und Ziegenzüchtern eine Antizi- S. 107), zu deuten, auf heftige Abwehr. Ihre
pation der Kooperation europäischer Länder Aufschlüsselung von historisch relevanten
in der Nachwendezeit zu sehen (vgl. Shevt- Vorgängen, in denen B., etwa durch die Schil-
sova, S. 162 f.). derung der Erfahrungen Grusches und Azdaks,
die Vorgänge vom Heroisch-Monumentalen
der Parteigeschichtsschreibung »auf Alltags-
format schrumpfen« lassen wollte (S. 108),
Zwei Geschichten wurden als »Assoziationsmanie« diskreditiert
(Völker, S. 248).
Die erste Zeile des Sängers, »In alter Zeit, in
Am Ende des Vorspiels bemerkt der Sänger blutiger Zeit« (GBA 8, S. 15, vgl. S. 101) er-
»beiläufig« (GBA 8, S. 14, vgl. S. 100) auf die möglicht keine Datierung, sie stellt aber den
Frage nach der Länge seiner »Darbietung« starken Kontrast zur gegenwärtig-friedlichen
(Fassung von 1949; S. 13) bzw. der des von den Beilegung des Streits um das Tal her. Die Zeile
Kolchos-Laienspielern aufgeführten Stücks bezieht sich zwar auf das Regime des Groß-
(Fassung von 1954; vgl. S. 99): »Es sind eigent- fürsten, aber der vom Sänger beim Tod des
lich zwei Geschichten« (S. 14, vgl. S. 100), die Gouverneurs angekündigte »Wechsel der Zei-
in den folgenden fünf Akten dargeboten wer- ten« erfüllt die »Hoffnung des Volks« (S. 21,
den. Die erste Geschichte handelt von der vgl. S. 107) auf einen grundlegenden Wandel
Magd Grusche und dem Gouverneurskind Mi- nicht. Denn der neue Herrscher, der fette
chel und ist auf die dem Vorspiel folgenden Fürst, der durch das Überlaufen der Panzer-
drei Akte (Das hohe Kind, Die Flucht in die reiter des Gouverneurs an die Macht gekom-
nördlichen Gebirge, In den nördlichen Gebir- men ist, betrachtet die von ihm eingeführte
gen) verteilt; Die Geschichte des Richters um- Pseudodemokratie lediglich als Übergangslö-
fasst nur einen Akt. Beide Geschichten be- sung. Er hofft, dass er sie nach Stabilisierung
ginnen zeitgleich während des Aufstands ge- seiner Herrschaft durch Unterdrückung eines
gen den Großfürsten, der aus seiner Flucht Volksaufstands der Teppichweber nicht mehr
und der Ermordung des Gouverneurs resul- benötigen wird. Die durch die Palastrevolu-
tiert. Grusche rettet das Kind beim Ausbruch tion des fetten Fürsten hervorgerufene »Zeit
der Unruhen unter Lebensgefahr; Azdak wird der Unordnung« (S. 76, vgl. S. 169), die »Zeit
währenddessen zum Richter gemacht. Beide der Verwirrung und Unordnung« (S. 77, vgl.
Geschichten werden nacheinander erzählt (die S. 170), wird von Azdak und seinem Gehilfen
520 Der kaukasische Kreidekreis

Schauwa in Warum bluten unsere Söhne nicht sche Figur«, da sie laut B. die Merkmale der
mehr (S. 63 f., vgl. S. 155 f.) und im Lied vom Unentwickeltheit ihrer sozialen Schicht reprä-
Chaos (S. 77 f., vgl. S. 170) zweimal besungen sentiert (GBA 27, S. 192). Im Gegensatz zur
(vgl. Ley, S. 178–191); die Lieder markieren Herkunft Grusches aus dem Volk vertritt Azdak
ungefähr den Beginn und das Ende der Amts- einen bestimmten Typ des Intellektuellen, der,
zeit Azdaks. Dabei ist der Begriff »Chaos – trotz der 1953 von B. vorgenommenen Ein-
ebenso wie Unordnung und Verwirrung […] – stufung Azdaks als »ein völlig lauterer Mann,
Verfremdung einer an sich positiven Wertung« ein enttäuschter Revolutionär« (GBA 24,
(Müller, S. 207). »Chaos« bedeutet »die revolu- S. 345), wohl eher als ein stark von Eigen-
tionäre Umkehrung der Herrschaftsverhält- interesse motivierter Sympathisant angesehen
nisse«, für welche die Zeit allerdings noch werden kann. Er versucht sich der Revolution
nicht reif ist (ebd.). Der Großfürst stellt nach anzuschließen, als sie schon von den Panzer-
seiner Rückkehr die alte Ordnung, die hier reitern niedergeworfen worden ist, indem er
umgekehrt negativ bewertet wird, wieder her sich »mit großer Geste« selbst bezichtigt, dem
– die Zerstörung der Vorstadt, Sitz der revolu- Großfürsten (unwissentlich) bei der Flucht be-
tionären Teppichweber, ist eines der ersten hilflich gewesen zu sein, und sich dem Urteil
Ziele – und beendet den zweijährigen Bürger- des Volks unterwerfen will, weil man »dem
krieg mit seiner inhärenten Chance auf eine Volk nicht entrinnen« kann (GBA 8, S. 62, vgl.
Besserung der Zustände. S. 154). Als Anhänger der aus Persien stam-
Der Sturz des Gouverneurs zieht auch Gru- menden revolutionären Ideen gerät er in Ge-
sche, die zu seinem Haushalt gehört, in Mit- fahr, von den Panzerreitern, die ihren Spaß mit
leidenschaft: »Wenn das Haus eines Großen ihm treiben, aufgehängt zu werden (in der
zusammenbricht / Werden viele Kleine zer- Wiederholung dieser Szene vor dem Beginn
schlagen.« (GBA 8, S. 21, vgl. S. 107). Wäh- der Kreidekreisprobe wird aus dem Spaß blu-
rend Azdak als Folge der Unruhen nach oben tiger Ernst). In beiden Fällen wird Azdak
gespült wird, über Ordnung und Unordnung durch einen Zufall gerettet. Vor seiner Ein-
reflektiert und durch seine freilich von egoisti- setzung als Richter erkennen die Panzerreiter
schen Motiven nicht freie Rechtsprechung zur Azdaks Beitrag zur Schaffung einer Ausnah-
temporären Durchsetzung sozialer Gerechtig- mesituation an: Solange der Großfürst noch
keit beiträgt, verfügt Grusche aufgrund ihrer auf freiem Fuß ist, ist der fette Fürst darauf
sozialen Stellung über einen wesentlich be- angewiesen, ihnen, »dem Pack […] in den
schränkteren Gesichtskreis und Handlungs- Arsch zu kriechen«, wie der Fürst verächtlich
spielraum. Ihre potenzielle Bedrohung durch bemerkt (S. 66, vgl. S. 158), und ihnen, dem
die neuen Herren wird durch ihre Rettung des »Volk«, die Entscheidung über die Wahl des
Kindes zu einer realen; während ihrer Flucht Richters zu überlassen. So wird Azdak zum
mit dem Kind vor den Panzerreitern wird sie Richter gewählt: »Immer war der Richter ein
zu einer Gejagten. Denn der fette Fürst muss Lump, so soll jetzt ein Lump der Richter sein.«
das Kind, den rechtmäßigen Erben und zu- (S. 69, vgl. S. 162) Nach der Rückkehr des
künftigen Nebenbuhler, in seine Gewalt brin- Großfürsten, der in seinem Retter irrtümlich
gen, um seine Herrschaft zu sichern. Wie für einen Anhänger vermutet, befreit sein reiten-
Azdak endet ihre Geschichte, welche ihre Exi- der Bote (»staubbedeckter Reiter«; S. 82, vgl.
stenz als geduldeter Gast bei ihrem Bruder S. 175), den B. schon in Die Dreigroschenoper
und ihre Zweck-Heirat mit einem ungeliebten verwendet hatte (vgl. GBA 2, S. 307), Azdak
Mann einschließt, mit der Rückkehr des Groß- aus den Händen der Panzerreiter, die jetzt da-
fürsten. Die Wiederherstellung der alten Ord- nach trachten, ihre Loyalität durch brutale
nung schafft dann die Voraussetzung dafür, Verfolgung der Gegner des Großfürsten unter
dass die Witwe des Gouverneurs ihr Kind zu- Beweis zu stellen. Dagegen kann der beim
rückfordern kann. Ausbruch der Unruhen zum Gouverneur ge-
Grusche ist eine »in gewissem Sinne tragi- sandte reitende Bote seiner potenziellen
Zwei Geschichten 521

Funktion als Retter nicht gerecht werden; der sorge an Abhängige ohnehin nicht stark ausge-
mit der »Blindheit der Großen« (GBA 8, S. 20, prägt. Weil es sich um eine ihr übertragene
S. 107), dem Vertrauen auf seine unbegrenzte Funktion handelt, die Extremfälle nicht vor-
Machtfülle, geschlagene Gouverneur lässt ihn sieht, fühlt sich dann auch die Kinderfrau
nicht vor. nicht mehr verantwortlich.
Durch die Intervention des berittenen Boten Ganz anders Grusche. In der szenischen
erhält Azdak seine letzte Chance, unkonven- Umsetzung von B.s neuer Konzeption der Gru-
tionell Recht zu sprechen. Wie Grusche und sche (vgl. GBA 27, S. 191 f.) bezeichnen die
Azdak zu Beginn des ›Chaos‹ aus der Anony- anderen Dienstboten sie als »Einfältige«, nicht
mität heraustreten, so tauchen sie nach Wie- »die Hellste«, »die Dumme, der man alles auf-
derherstellung der alten Ordnung unter. Az- laden kann« (GBA 8, S. 27, vgl. S. 114), weil sie
dak, wohl kein seinen Intellekt vermietender die Gefahren zu ignorieren scheint, die ihre
Tui (zur Definition vgl. Der Tuiroman und Tur- Beschäftigung mit dem Kind mit sich bringt.
andot oder Der Kongreß der Weißwäscher), Sie reagiert »störrisch« (ebd.) und akzeptiert
aber ebenfalls kein heroischer Revolutionär – nur widerstrebend das Angebot, mit anderen
»Ich mach keinem den Helden« (S. 91, vgl. aus dem Haushalt des Gouverneurs, ohne das
S. 184) – weiß, dass seine Zeit in einer expo- Kind, zu fliehen. Als sie vermeint, einen »Hil-
nierten öffentlichen Stellung abgelaufen ist. feschrei« des Kindes zu hören (S. 29, vgl.
Grusche, die Frau aus dem Volke, erkennt, S. 115), handelt sie zunächst »nicht aus Ein-
durch ihre Erfahrungen gewarnt und durch sicht oder bewußter Menschlichkeit« (Spaeth-
den Rat des Azdak bestärkt, dass sie das Happy ling, S. 75), es ist »keine spontane edle Tat«
End (Zusprechung des Kindes, Versöhnung (Hinck, S. 125 f.); vielmehr erliegt sie bei sei-
mit ihrem Verlobten Simon) nicht durch Ver- nem Anblick nach und nach der »Verführung
weilen in der Stadt Nukha gefährden darf. zur Güte« (GBA 8, S. 29, vgl. S. 116). Diese
Verführung ist so »Schrecklich« (ebd.), weil sie
für Grusche nur Nachteile und Gefährdung –
auch angesichts ihrer gerade erst erfolgten
Mütterlichkeit und Hilfsbereitschaft Verlobung mit Simon – bedeuten kann. Daher
trägt sie das Kind »seufzend« fort; der Sänger
kommentiert das Geschehen: »Wie eine Beute
Grusches Geschichte ist eng mit der des Kin- nahm sie es an sich / Wie eine Diebin schlich
des verwoben; diese wird eigentlich erst zu sie sich weg.« (Ebd.)
einer bemerkenswerten Geschichte durch das B. bezeichnete Grusche mit dem amerikani-
Kind. Sie gerät an den von zwei Ärzten und der schen Ausdruck »›sucker‹«, weil »ihr mütter-
Kinderfrau umsorgten Michel eher durch Zu- licher Instinkt« sie »den Verfolgungen und Mü-
fall. Die Ärzte fliehen nach Ausbruch der Un- hen« auslieferte, »die sie beinahe umbringen«
ruhen, und die Kinderfrau zieht sich aus der (GBA 24, S. 342 f.). Dabei ist allerdings der
Affäre, indem sie nach der Flucht der Gouver- Mutterinstinkt an soziales Verhalten gebun-
neursfrau Grusche unter einem Vorwand das den; Grusches anfängliche Hilfeleistung gilt
Kind Michel überantwortet. Letztlich ist das einem hilf- und schutzlosen mitmenschlichen
vernichtende Urteil der Kinderfrau über das Wesen; sie ist sich bewusst, dass sie sich mit
Verhalten der Mutter – »Sie [der Adjutant und dem Kind etwas »aufgeladen« hat (GBA 8,
die Gouverneursfrau] haben es [das Kind] zu- S. 31, vgl. S. 118). Aus diesem Grund ist ihre
rückgelassen, diese Tiere« (GBA 8, S. 26, vgl. Liebe zum Kind, die sich erst allmählich ent-
S. 113) –, gerechtfertigt; die Mutterbindung wickelt, frei von Sentimentalität, und ihren
der Gouverneursfrau, die vor ihrem überstürz- späteren »Anspruch leitet sie ab von ihrer Be-
ten Aufbruch mehrfach nach dem Kind gefragt reitschaft und Fähigkeit zur Produktivität«
hatte, ist jedoch wegen der durch ihre soziale (GBA 24, S. 343). Zunächst aber muss Gru-
Stellung bedingten Überlassung seiner Für- sche, die »Menschliche / Den Bluthunden, den
522 Der kaukasische Kreidekreis

Fallenstellern« (GBA 8, S. 30, vgl. S. 116) ent- Kind vor Gericht verteidigen kann: »Funktion
kommen. Auf der Flucht erbringt sie daher und Wesen Grusches als dramatische Gestalt
nicht nur »ein Kontinuum schwieriger mate- liegen […] nicht in der Vermittlung eines ferti-
rieller Leistungen« (Hinck, S. 127 f.) wie den gen Menschenbildes, sondern in ihrem statu
Milchkauf zu überteuerten Preisen, sie muss agendi, im Prozeß des Handelns« (Spaethling,
selbst zur Gewalt greifen, um das Kind wie- S. 74). Ihre Tatkraft und Entschlossenheit be-
derum vor dem Zugriff der Panzerreiter zu nötigt sie zur Rettung Michels bei der waghal-
retten. Ihr Niederschlagen des Gefreiten mit sigen Überquerung des Abgrunds, durch die
einem Holzscheit bedeutet eine Intensivierung sie den Panzerreitern entgeht. Als die Panzer-
ihrer Beziehung zu dem Kind; jetzt gibt sie reiter das Kind nach Beendigung des Krieges
endgültig den Versuch auf, sich durch seine und der Unruhen schließlich in die Stadt füh-
Unterbringung bei Leuten, wo es gut aufge- ren, meldet Grusche ihren Anspruch an: »es ist
hoben wäre, von ihm zu trennen. meins!« (GBA 8, S. 58, vgl. S. 150)
Grusches Haltung unterscheidet sich we- Die endgültige Neubestimmung der Müt-
sentlich von den sich ebenfalls auf der Flucht terlichkeit erfolgt dann in der das Stück ab-
befindenden beiden vornehmen Damen in der schließenden Gerichtsverhandlung. Nicht das
Karawanserei (Fassung von 1954), die sich als von einem Anwalt der Gouverneursfrau elo-
völlig unsolidarisch erweisen und Grusche mit quent vorgebrachte Argument der »Bande des
dem Kind hinauswerfen lassen, als sie sich Blutes« als dem »stärksten aller Bande« (GBA
durch ihr geschicktes Bettenmachen und ihre 8, S. 83, S. 177) überzeugt Azdak, sondern die
rissigen Hände als Dienstbotin verrät. Gru- Unfähigkeit Grusches, das Kind bei der zwei-
sche bezeichnet die Damen als »Unmen- maligen Kreidekreisprobe zu verletzen. Sie er-
schen«; der Hausknecht zieht die Lehre aus weist sich damit wegen ihrer Güte und Rück-
dem Vorfall und führt das Verhalten der Da- sichtnahme als »die wahre Mutter« (S. 90,
men auf ihren Klassendünkel und ihre Un- S. 184). Die normative Geltung der vom An-
produktivität zurück: »Wenn du bei denen in walt zitierten Volksweisheit »Blut ist dicker als
den Verdacht kommst, daß du dir selber den Wasser« (vgl. S. 83, S. 176) ist durch das Ver-
Arsch wischen kannst oder schon einmal im halten der Gouverneursfrau ohnehin erschüt-
Leben mit deinen Händen gearbeitet hast, ist tert worden (vgl. Fernus, S. 96). Zuerst ließ sie
es aus.« (GBA 8, S. 122) Am Gletscherbach Michel im Palast zurück, jetzt dienen die
akzeptiert Grusche Michel als ihr Kind, indem Blutsbande ihr als Vorwand für ihren Versuch,
sie die symbolischen Handlungen der Taufe die an den männlichen Erben Michel fallenden
und des In-Lumpen-Wickelns vornimmt. Sie Güter wiederzuerlangen. Ihr Muttertum ist
tut das nicht mehr »aus instinktivem Verhal- primär am Besitzanspruch orientiert. Dagegen
ten, sondern in Kenntnis ihrer Lage und mit besteht zwischen Grusches »Interesse und
einem neuen Gefühl sozialer Verantwortung« dem des Kindes kein Unterschied mehr« (GBA
(Spaethling, S. 78 f.): »Da dich keiner nehmen 24, S. 346). Folglich erweist sich das beste-
will / Muß nun ich dich nehmen / Mußt dich, hende Recht als Unrecht, die neue Norm von
da kein andrer war / […] / Halt mit mir be- Azdaks Rechtsspruch basiert auf Produktivität
quemen.« (GBA 8, S. 38, vgl. S. 129) Durch die und Freundlichkeit. Wie Grusche sagt: »Das
Taufe gehört Michel von jetzt an zu den armen Kind hab ich angehalten zur Freundlichkeit
Leuten; er ist Grusches »Sohn« geworden gegen jedermann und von Anfang an zur Ar-
(S. 40, vgl. S. 131). beit, so gut es gekonnt hat, es ist noch klein.«
Grusches Adoption von Michel ist Resultat (GBA 8, S. 84, vgl. S. 176)
eines Bewusstseinsprozesses, in dem sie sich Im Kontext des Stücks billigte B. diese posi-
von einem ›sucker‹, einer einfältigen und tiven Eigenschaften nur den Armen zu. Auf die
dummen Person, welche die Konsequenzen ih- Frage Azdaks, ob sie Michel nicht »reich ha-
res Handelns kaum ermessen kann, zu einer ben« wolle, um dem Kind eine materiell ge-
Frau entwickelt, die ihren Anspruch auf das sicherte Zukunft zu ermöglichen, antwortet
Mütterlichkeit und Hilfsbereitschaft 523

der Sänger, der die Gedanken der zornigen der Autor Grusche viel zu wenig Witz und List
Grusche artikuliert: »Ginge es in goldnen zugestand, gestattete er sie überreichlich dem
Schuhn / Träte es mir auf die Schwachen / Und korrumpierbaren, unheldischen und genuß-
es müßte Böses tun / Und könnte mir lachen.« freudigen Armeleutepriester Azdak, ein her-
(GBA 8, S. 89, vgl. S. 182) Die abschließenden untergekommener Galilei, der den Schweyk-
Worte des Sängers, »[…] daß da gehören soll, Ton beherrscht« (Völker 1976, S. 338). Karasek
was da ist / Denen, die für es gut sind, also / betonte die Verwandtschaft Azdaks mit dem
Die Kinder den Mütterlichen, damit sie ge- anarchischen Baal (Karasek, S. 19 f.), Esslin
deihen« (S. 92, vgl. S. 185), beziehen sich sah in Azdak »ein dichterisch verklärtes und
demnach auf eine Erziehung zu sozialer Ver- ins Überlebensgroße gesteigertes Selbstpor-
antwortung und Solidarität. trät […]: einen überaus komplizierten und
B.s neues Konzept des Muttertums wird zwiespältigen Menschen, zugleich arrogant
durch die Figur Grusches verkörpert; sie be- und unterwürfig, schlau und töricht, demütig
darf aber zu ihrer Durchsetzung und Anerken- und überheblich, ironisch-humorvoll, eigen-
nung der Hilfe Azdaks. Einige Kritiker nah- sinnig-vertraulich und unnahbar – und ein Ge-
men Anstoß sowohl an der Figur Grusches wie nie«, aber letztlich eine Figur, bei der im Wi-
an der Neudefinition des Muttertums. Hell- derstreit von Vernunft und Instinkt immer
muth Karasek bemängelte die fehlende Sinn- Letzterer siege, was Azdak zu einem guten
lichkeit Grusches, die »[…] als personifizierte Menschen mache (Esslin, S. 350 f.). Die posi-
Mütterlichkeit märchenhaft projiziert« sei und tiven Züge Azdaks haben Kritiker veranlasst,
»auf der Bühne schon als Erfindung eine Mut- ihn als eine säkularisierte Christusfigur zu
ter ohne Unterleib« darstelle (Karasek, deuten, die beim Osteraufstand ihre Auferste-
S. 65 f.). Ähnlich meinte ein anderer Kritiker, hung erlebt (vgl. Ditsky, S. 40–48). Andere
dass Grusche B. »viel zu rein, zu gut und zu wiederum betrachten Azdak im Sinne Michail
keusch« geraten sei, sie würde »zu einer be- M. Bachtins als karnevalesken Volkshelden,
wundernswerten Märchengrete, die am Ende der als subversives Element die etablierte Ord-
ihren aufrechten Hans als Lohn bekommt« nung unterminiert (vgl. Hall, S. 138–143;
(Völker 1976, S. 337 f.). Eine positive Bewer- Shevtsova, S. 158 f.).
tung erfuhren Reinheit und Keuschheit Gru- Esslins Reduzierung Azdaks auf ein Selbst-
sches, wenn sie im biblischen Kontext gesehen porträt B.s und seine Betonung von Azdaks
wurden. Danach erscheint die Adoption Mi- Charaktereigenschaften lässt den Kontext, die
chels als unbefleckte Empfängnis (Simon ent- Zeit der Unordnung, in dem Azdak seine zeit-
spricht der Rolle Josephs) mit der anschlie- lich begrenzte Richtertätigkeit ausübt, unbe-
ßenden Flucht von Mutter und Kind sowie ih- rücksichtigt. Bereits bei der unbeabsichtigten
rer Unterbringung im Stall (vgl. Ditsky, S. 42– Rettung des Großfürsten vor seinen Verfolgern
46). gibt sich Azdak als widerspruchsvolle, von
zwiespältigen Impulsen geleitete Figur zu er-
kennen. Einerseits findet Azdak bei seiner
Probe mit dem Vorzeigen der Hand heraus,
Azdaks Rechtsprechung dass es sich bei dem vermeintlichen Bettler in
seiner ärmlichen Hütte nicht um einen »an-
ständigen Menschen« handelt, sondern um ei-
Im Mai 1944 reihte B. den Azdak, nach der nen reichen Großgrundbesitzer (GBA 8, S. 59,
Grusche, in die »Prozession« seiner bis zu die- vgl. S. 151). Andererseits liefert ihn Azdak
sem Zeitpunkt geschaffenen Figuren ein (GBA nicht an den Polizisten Schauwa aus, den er in
27, S. 186). Im Gegensatz zu Grusche aber er- erheblicher Übertreibung als »Menschenfres-
hielt Azdak im Wesentlichen gute Noten von ser« bezeichnet (S. 61, vgl. S. 152). Freilich
den Kritikern; er kann als eine der allgemein mag die vom Großfürsten versprochene Beloh-
anerkannten Figuren B.s gelten: »Während nung Azdaks Entscheidung wesentlich beein-
524 Der kaukasische Kreidekreis

flusst haben. Bei der Handprobe liegt eine richter« ist (Badura, S. 102). Der habgierige
Umkehrung der mit Grusche angestellten Prü- Invalide, der dem Arzt das Geld zum Studium
fung in der Karawanserei vor; B. verwendete geliehen hat und vom Schlag getroffen wird,
dieses Motiv ebenfalls in Trommeln in der als der Arzt versehentlich eine Operation um-
Nacht (Fassung von 1953; vgl. WA 1, S. 103). sonst ausführt, wird zwar zu einer hohen Geld-
Nach Azdaks Selbstbeschuldigung, die Ess- strafe verurteilt. Der Arzt dagegen, der einen
lin (S. 150) als Ausdruck »bester kommuni- Patienten am falschen Bein operiert hat, geht
stischer Selbstkritik« ansieht, und seiner Eig- straffrei aus, und der leidtragende Patient
nungsprüfung für das Richteramt durch die wird mit einem Almosen abgefunden. Ähnlich
Panzerreiter, bei der er die Rolle des Groß- lässt sich das Urteil gegen den Erpresser, der
fürsten spielt, dessen abgehackte, knappe lediglich die Hälfte der erpressten Summe an
Sprache imitiert und die Ursachen der Macht- das Gericht abführen muss, kaum mit der Par-
kämpfe zwischen den Herrschenden offen an- teilichkeit Azdaks für die Armen erklären. Die
spricht, wird er als Richter eingesetzt. Damit Anonymität des Erpressten, eines Grundbesit-
beginnt seine unorthodoxe Rechtsprechung, zers, wird trotz des schwerwiegenden Ver-
die trotz seiner »selbstsüchtigen, amorali- dachts der Vergewaltigung bewahrt. So übt Az-
schen, parasitären Züge« (GBA 27, vgl. S. 186) dak weiterhin »bürgerliches Recht, nur ver-
zu »[…] einer kurzen / Goldenen Zeit beinah lumptes, sabotiertes, dem absoluten Eigennutz
der Gerechtigkeit« führt (GBA 8, S. 91, des Richtenden dienstbar gemachtes« (Jour-
S. 185), wie der Sänger abschließend konsta- nal, 8. 5. 1944; GBA 27, S. 186). Nur allmäh-
tiert. Denn schon bei »nachlässiger, unwissen- lich beginnt Azdak, »das Recht zugunsten der
der, eben schlechter Richterei«, meinte B., Armen« zu brechen, »während er sich in aller
springe etwas für die ansonsten Rechtlosen Öffentlichkeit von den Reichen bestechen
und vom Recht Benachteiligten heraus (GBA läßt« (Müller, S. 208). Das ist etwa bei der
27, S. 184). Obwohl Azdak auf Richterstuhl Verhandlung gegen die angeblich von einem
und Galgen, Manifestationen seiner Macht, Knecht vergewaltigte Wirtstochter Ludowika
über Leben und Tod zu entscheiden, nicht ver- der Fall. Azdak verurteilt die Kläger, weil das
zichtet, deutet die Präsenz eines Panzerreiters an den Besitz geknüpfte Wohlleben der Toch-
an, durch wen seine Rechtsprechung (zeitwei- ter, das in üppigen Formen resultiert und sich
lig) legitimiert wird. Trotzdem geht schon aus in übermäßigem Hüftenwiegen äußert, der ei-
Azdaks Wahl der Tagungsorte des Gerichts, gentliche Grund für die (angebliche?) sexuelle
das nicht mehr an einen geschlossenen Raum Straftat sei (vgl. GBA 8, S. 73, S. 165 f.), eine
gebunden ist, die neue Art der Rechtsprechung Beurteilung des Vorgangs, bei dem für B. die
hervor: das Gericht kommt zu den Leuten, angesprochene Problematik der Geschlechter-
nicht umgekehrt (vgl. Lösel, S. 192). Das Pro- beziehungen ausschließlich vom sozial-ökono-
zesswesen wird transparenter: »Der Justiz tut mischen Status determiniert war.
es gut, es im Freien zu machen. Der Wind bläst Das eindeutigste Beispiel für die Worte des
ihr die Röcke hoch, und man kann sehn, was Sängers über Azdak (Fassung von 1954) – »Und
sie drunter hat.« (GBA 8, S. 72, vgl. S. 164) Das er nahm es von den Reichen / Und er gab es
kodifizierte Recht in Form des Gesetzbuches seinesgleichen« (GBA 8, S. 166) – liefert die
dient lediglich dem bequemeren Sitzen (vgl. Figur des Heiligen Banditus, des Räubers Ira-
S. 83, S. 176). kli (georgische Form von Herakles), eine in
Die Rechtsfälle, die Azdak zunächst ent- vielen Kulturen beheimatete Gestalt, die in
scheidet, dienen als eine Art Einführung in der Art eines Schinderhannes oder Robin
seine Rechtsprechung vor dem Kreidekreis- Hood als Nothelfer der Armen mit ihrer gro-
urteil und weisen auf die Ungewöhnlichkeit ßen Axt gewalttätig für soziale Gerechtigkeit
seiner Entscheidungen hin, die aber nicht in sorgt und das »Wunder« (S. 75, vgl. S. 168)
allen Fällen darauf zurückgeführt werden kön- vollbringt, dass aus den hartherzigen Groß-
nen, dass Azdak der »parteiliche Armeleute- bauern freundliche und hilfsbereite Menschen
Azdaks Rechtsprechung 525

werden. Obwohl Irakli nur eine Nebenfigur tens für alle Kinder (anstatt des in den Bau-
ist, kann er als Gegenfigur zu Azdak gelten, da plänen des Gouverneurs vorgesehenen Gar-
er tatkräftig und zielstrebig die Umverteilung tens für Michel allein) aus dem an die Stadt
materieller Güter vornimmt, während Azdak fallenden Grundbesitz des Gouverneurs. Der
zumeist in die eigene Tasche wirtschaftet und Garten, in den ja auch das Tal verwandelt wer-
seine die Armen begünstigenden Urteile eher den soll (vgl. S. 190 f.), wird zur »poetischen
zufällig zustandekommen. Metapher«, zum »Bild einer freundlicheren,
Das trifft freilich auf das Urteil in der Krei- humaneren Welt« (Buck, S. 160). Azdaks Ver-
dekreisprobe, Höhe- und Schlusspunkt der schwinden wird vom Sänger mit den Worten
Rechtsprechung des Azdak, nur bedingt zu. der letzten Zeile aus Goethes Ballade Der Fi-
Hier nimmt Azdak ziemlich unverhohlen Par- scher – »und ward nicht mehr gesehen« (GBA
tei für Grusche. Zunächst weist er sie zurecht, 8, S. 91, vgl. S. 185) – kommentiert, womit er
als sie ihn wegen seiner Bestechlichkeit zur Azdaks beginnende Entrückung in das Reich
Rechenschaft zieht, indem er die Käuflichkeit des Mythos andeutet. Die abschließenden Zei-
des Rechts in einer von materiellen Werten len des Sängers lenken dann die Aufmerksam-
beherrschten Gesellschaft auf paradoxe Weise keit der Zuschauer auf die alte Weisheit, dass
begründet: »Von euch Hungerleidern krieg ich der Besitzanspruch auf Produktivität beruht,
nichts, da könnt ich verhungern. Ihr wollt eine und leiten zur Gegenwart über, in der, so hoffte
Gerechtigkeit, aber wollt ihr zahlen? Wenn ihr B., der in der Vergangenheit nur als durch eine
zum Fleischer geht, wißt ihr, daß ihr zahlen Ausnahmesituation geförderte und zeitlich be-
müßt, aber zum Richter geht ihr wie zum Be- grenzte Zustand der Gerechtigkeit Dauerzu-
gräbnisessen.« (GBA 8, S. 86, vgl. S. 179) Az- stand werden würde.
dak lässt sich ebenfalls bereitwillig auf das
Sprichwortduell mit Simon ein, das die Sti-
chomythie des klassischen Dramas durch eine
drastische, volkstümliche Variante ersetzt. In Episches Theater
diesem Duell demonstriert Azdak seine
Schlagfertigkeit, seinen Realitätssinn und
seine Beherrschung der dem bürokratischen Der kaukasische Kreidekreis gilt als eines der
Amtsdeutsch entgegengesetzten »derb-komi- poetischsten Stücke B.s, in dem er zugleich
schen Umgangssprache« (Fernus, S. 86). seine Theorie des epischen Theaters in star-
Gleichzeitig dienen Azdak die Sprichwörter, kem Maße umgesetzt hat. Auffällig ist die Ein-
die er von allen Figuren am häufigsten ver- führung eines Sängers (Erzählers), der eine
wendet, als Rechtfertigung seiner Richtertä- Vielzahl von Funktionen übernimmt und »un-
tigkeit, z. B. in »›Besser ein Schatz aus der gewöhnlich viele Ausdrucksmöglichkeiten des
Jauchegrube als ein Stein aus dem Bergquell‹« Romans mit denen des Dramas« vereinigt
(GBA 8, S. 86 f., vgl. S. 180), womit er in die- (Klotz, S. 59). Der Sänger »ist mit Handlung
sem Fall aber nur seine Bestechlichkeit bestä- und Personen vertraut, [er] weiß […] von
tigt (vgl. Fernus, S. 87). vornherein um Fortgang und Ausgang der Er-
Azdaks Mahnung, Grusche solle versuchen, eignisse; er herrscht souverän über Zeit und
ihn durch verführerisches Benehmen »gün- Raum des Stücks« (ebd.). Da es sich bei den
stig« zu stimmen (GBA 8, S. 87, vgl. S. 180), zwei nacheinander erzählten Geschichten zu-
fruchtet nichts; trotzdem beginnt er bei Gru- gleich um eine (teilweise) Umsetzung des Er-
sches fortwährender Beschimpfung zu »strah- zählten (Gesungenen) in eine Aufführung han-
len« und den Takt zu schlagen (S. 88, vgl. delt, übernimmt der Sänger ebenfalls die
S. 181), ein Anzeichen dafür, dass er ihre Argu- Funktion eines (auf der Bühne anwesenden)
mente als richtig anerkennt. Das Urteil, mit Regisseurs oder Spielleiters mit sehr weitrei-
dem er im Andenken des Volks fortleben wird, chenden Befugnissen. So kündigt er den Auf-
beinhaltet ebenfalls die Schaffung eines Gar- tritt der Personen an: »An einem Ostersonn-
526 Der kaukasische Kreidekreis

tagmorgen / Begab sich der Gouverneur mit großer emotionaler Intensität ist. Es kommt
seiner Familie / In die Kirche« (GBA 8, S. 15, aber nicht zu leidenschaftlichen Ausbrüchen;
vgl. S. 101), worauf dann die szenische Um- vielmehr wird der anfängliche Dialog der Lie-
setzung dieser Ankündigung erfolgt. Oder er benden ergänzt durch die Worte des Sängers,
gibt den Personen während des Spiels direkte der eine »poetische Auslegung des Schwei-
Anweisungen: »Sieh dich noch einmal um, gens« (Hurwicz, S. 63) der beiden gibt: »Hört,
Blinder!«, worauf sich der verhaftete Gouver- was er dachte, nicht sagte« (GBA 8, S. 57, vgl.
neur umblickt (S. 21, vgl. S. 107). Der Sänger S. 149), und »Hört, was sie dachte, nicht sagte«
verfügt ebenfalls souverän über Spielzeit und (S. 58., vgl. S. 149). Auf diese Weise wird der
-raum, wenn er etwa den langen Weg, den Zuschauer in den Stand gesetzt, die Gedanken
Grusche bei ihrer Flucht in die nördlichen Ge- der Figuren zu lesen: »Der Zuschauer ent-
birge nehmen muss, kurz andeutet (S. 30, vgl. nimmt den Figuren mehr, als sie in die Hand-
S. 116) oder den Wechsel der Jahreszeiten, der lung hineingeben« (Hinck, S. 59), da ihre
für Grusche das Ende ihres Asyls bei ihrem Handlungen (Holzschnitzen, In-den-Schoß-
Bruder bedeutet, als Übergang zwischen zwei sehen) ihre Gedanken nur unvollkommen re-
Szenen zeitraffend darstellt (vgl. Klotz, S. 59). flektieren. Grusche und Simon bedürfen der
Über diese den Spielablauf und das Verhal- Vermittlung des Sängers, der die Zuschauer
ten der Figuren steuernden Eingriffe hinaus auch auf eine neue Art des Umgangs mit Emo-
kommentiert und antizipiert der Sänger das tionen hinweist.
Geschehen. Neben allgemeinen Schlussfolge- Im Dialog dieser Szene, wie auch schon in
rungen, die er aus einer bestimmten histori- der Verlobungsszene, benutzen Grusche und
schen Situation zieht (vgl. GBA 8, S. 21, vgl. Simon (allerdings nicht völlig konsequent)
S. 107), gibt er in anderen Kommentaren seine nicht das zu erwartende, vertrauliche »du«,
parteiliche Haltung zugunsten der Armen und sondern die Anrede in der dritten Person und
Entrechteten zu erkennen. Die häufige Vor- das unpersönliche »man«. Dieser distanzie-
wegnahme von Ereignissen (z. B. den Tod des renden Anrede entspricht das förmliche Be-
Gouverneurs) lässt keine dramatische Span- nehmen der beiden. So begrüßt Simon die
nung aufkommen, sondern lenkt die Aufmerk- Grusche »förmlich« mit: »Gott zum Gruß und
samkeit der Zuschauer auf die Bedeutung der Gesundheit dem Fräulein« (GBA 8, S. 55, vgl.
Vorgänge selbst. Die ebenfalls auf der Bühne S. 147). Grusche »verbeugt sich tief« und ant-
anwesenden Musiker assistieren dem Sänger, wortet: »Gott zum Gruß dem Herrn Soldaten.
indem sie Teile seiner Funktion ausüben. Sie Und gottlob, daß er gesund zurück ist.« (Ebd.)
singen zusammen mit dem Sänger (vgl. S. 72, Angelika Hurwicz berichtet von den Proben
S. 162), führen Dialoge mit ihm, bei denen sie zum Kaukasischen Kreidekreis am Berliner En-
den Part einer Figur übernehmen (vgl. S. 34, semble, dass das Wort »Verfremdung« nur ein-
S. 125), ergänzen und kommentieren seine mal gefallen sei; trotzdem lässt sich diese
Angaben (vgl. S. 35, S. 126) oder machen Form des Dialogs als eine Variation der »Me-
durch Fragen auf die Situation einzelner Fi- thode des verfremdenden ›da sagte der
guren aufmerksam (vgl. S. 30, S. 116). Mann‹, ›da sagte die Frau‹, das die Schau-
Zu den bemerkenswertesten Funktionen des spieler vor ihren jeweiligen Sätzen zu spre-
Sängers gehören seine Artikulation der Ge- chen hatten« (Hurwicz, S. 62), begreifen.
danken und Gefühle einzelner Figuren; er Während B.s Methode, wie er in Kurze Be-
wird gewissermaßen »zu ihrem Sprachrohr« schreibung einer neuen Technik der Schau-
(Poser, S. 64). Das ist etwa bei der Wieder- spielkunst, die einen Verfremdungseffekt her-
sehensszene zwischen Grusche und Simon der vorbringt ausführte, die Identifikation des
Fall, die wegen Grusches Heirat und dem Vor- Schauspielers verhindern sollte (vgl. GBA 22,
handensein eines von Simon unerwarteten S. 644), ist die Anrede in der dritten Person ein
Kindes – beides, so muss es Simon erscheinen, Anzeichen der Entfremdung aufgrund der
Resultat eines Treuebruchs –, von potenziell zweijährigen Trennung der Liebenden; da-
Episches Theater 527

rüber hinaus dient sie als Schutz gegen die Ar- herbergung des Großfürsten gibt er eine De-
tikulation spontan hervorbrechender Gefühle. monstration des harten Loses der Armen, in-
Zu den Elementen der Episierung im Kau- dem er diesen im ›richtigen‹ Käse-Essen nach
kasischen Kreidekreis gehören ebenfalls die dem Stil der armen Leute unterweist. Diese
zahlreichen Spiele im Spiel der zwei nachein- müssen ihre kärgliche Nahrung vor der Hab-
ander erzählten Geschichten. Grusche spielt, gier anderer schützen und zugleich versuchen,
erfolglos, die reiche Dame in der Karawanse- das Ende des Genusses durch langsames Essen
rei. In der turbulenten Hochzeitsszene von hinauszuzögern (vgl. GBA 8, S. 61, S. 153). In
schwank- und farcenhafter Komik – der sich der Richterprobe ist die Regietätigkeit Azdaks
tot stellende Sohn, seine kupplerische und gei- begrenzt, da er die Rolle des angeklagten
zige Mutter, die nur an Essen und Trinken Großfürsten übernimmt und nur beschränkten
interessierten Gäste, der verkommene Einfluss auf den Ausgang des Spiels nehmen
Mönch –, die aber den gesellschaftlichen Ges- kann. Immerhin kann er unter dem Deckman-
tus klar erkennen lässt (vgl. Giese, S. 79 f.), tel des Rollenspiels unliebsame Wahrheiten
wird Grusche übel mitgespielt. Die »vollendet verkünden, die sowohl den geflohenen Groß-
komische Dialektik […] im vordergründigsten fürsten wie seinen Widersacher, den fetten
Sinne« (S. 80) besteht darin, dass die Heirat Fürsten, betreffen (vgl. S. 67–69, S. 159–161).
zwischen Grusche und dem Bauern Jussup nur Das Resultat der Probe, seine Einsetzung zum
durch den Krieg zustande kommt. Der Bauer Richter, kommt für ihn völlig unerwartet. Da-
simuliert seine Todeskrankheit, um dem gegen inszeniert er die zweimalige Kreide-
Kriegsdienst zu entgehen; die auf die Rück- kreisprobe ganz souverän und erzielt das von
kehr Simons wartende Grusche kann lediglich ihm erwartete Resultat. Freilich zeigen die
einen todkranken Mann akzeptieren, aber beiden Spiele, welche die Panzerreiter mit Az-
»keinen Mann im Bett, sondern einen Mann dak anstellen, dass das Spiel sehr leicht in
auf dem Papier« (GBA 8, S. 46, vgl. S. 137). Ernst umschlagen kann – auch auf dem Rich-
Damit wird der Frieden, der zu einer plötzli- terstuhl ist Azdak dem Galgen nahe –, und wie
chen Gesundung Jussups und seinem Beste- fragil und gefährdet der von ihm herbeige-
hen auf ehelichen Ansprüchen führt, zu einer führte relative Zustand der Gerechtigkeit ist.
Gefahr für Grusche. Sie hat zwar durch ihre Im »Kopf-ab-Spiel« der Kinder (S. 54 f., vgl.
Ehe eine gewisse Sicherheitsgarantie für Mi- S. 146 f.) wird umgekehrt aus blutigem Ernst
chel erworben, dagegen ist das Fortdauern ih- Spiel. Michels Weigerung, die Rolle seines Va-
rer Beziehung zu Simon jetzt stark gefährdet. ters zu übernehmen, lässt erkennen, dass Gru-
Mit ihrer Ehe hat sich die bei ihrer Flucht und sche ihn richtig erzogen hat, und dass er als
Rettung Michels tatkräftig und selbstständig »Kind der Liebe« (S. 91, vgl. S. 184) und Ver-
handelnde Grusche in eine geschlechtsspezi- nunft die Hoffnung auf die Zukunft verkörpert
fisch bedingte Form der Abhängigkeit bege- (vgl. Knust, S. 248 f.).
ben, die der bäuerlich-konservative Jussup so
charakterisiert: »Die Frau jätet das Feld und
macht die Beine auf, so heißt es im Kalender
bei uns.« (S. 54, vgl. S. 146) Daher ist die Wirkung
Hochzeitsszene »insofern Ausstellung einer
historisch überholten Form der Geschlechter-
beziehung, als sie eine gesellschaftlich be- Die Welturaufführung des Kaukasischen Krei-
dingte Unfreiheit der Frau dokumentiert […], dekreises am 4. 5. 1948, die am Carleton Col-
die bereits für die ›junge Traktoristin‹ und die lege in Northfield/Minnesota stattfand (Re-
›Agronomin‹, die im Vorspiel auftreten, Ver- gie: Henry Goodman, Übersetzung: Eric Bent-
gangenheit ist« (Giese, S. 80). ley, Musik: Katherine Griffith), sowie einige
Azdak ist sowohl Inszenator wie potenziel- weitere Aufführungen an amerikanischen Col-
les Opfer verschiedener Spiele. Bei seiner Be- leges, in England, Schweden und Finnland
528 Der kaukasische Kreidekreis

(Liste der Aufführungen in: Hecht 1966, rakterisierung der Angehörigen der Feudalge-
S. 171–179; Liste der Aufführungen und Re- sellschaft. Sie sollten den Anstoß geben zu
zensionen in: Weber, S. 291–309) fanden we- »Einsichten gesellschaftlicher Art über die Fi-
nig Beachtung und wurden von der späteren guren und ihre Verhaltensweisen« (Tenschert,
Premiere im Theater am Schiffbauerdamm, S. 105), sie dienten aber der Kritik als ein An-
dem Haus, das dem Berliner Ensemble seit lass, B. Formalismus vorzuwerfen.
März 1954 zur Verfügung stand (vgl. Hecht, B. hatte von Anfang an eine Vertonung des
S. 1100), überschattet. B. selbst maß der Pu- Stücks gedacht und hatte sich bereits 1944 No-
blikation des im Exil geschriebenen Stücks tizen zu einer »›Kreidekreis‹-Musik« gemacht
große Bedeutung zu; anlässlich des Erschei- (GBA 24, S. 343 f.), in denen er seine Vorstel-
nens des ersten B.-Sonderhefts von Sinn und lungen präzisierte. Dabei forderte B., dass die
Form schrieb er an den Redakteur Peter Hu- Gesänge des Azdak »unbedingt leicht singbar«
chel: »es ist eigentlich die erste Publikation, sein müssten, »denn man muß den Azdak mit
die mich mit den Deutschen zusammenbringt, dem stärksten Schauspieler besetzen, nicht
meine eigenen Bemühungen abgerechnet. – mit dem besten Sänger« (ebd.). Bereits im
Eine Art Aufnahmegesuch in die Literatur« USA-Exil begann Eisler, eine Musik für das
(GBA 29, S. 539). Stück zu schreiben. Er brach die Arbeit aller-
Die Proben am Berliner Ensemble begannen dings nach kurzer Zeit ab. Erhalten sind we-
im November 1953, fast ein Jahr vor der offi- nige Skizzen (Hanns-Eisler-Archiv). Auf einer
ziellen Erstaufführung des Stücks am Grün- von ihr findet sich der Hinweis: »für die
dungstag der DDR am 7. 10. 1954 (öffentliche Opernfassung des ›Kreidekreis‹« (Lucchesi/
Voraufführungen hatten seit dem 15. 6. 1954 Shull, S. 852 f.). In Berlin bemühte sich B.
stattgefunden). Die äußerst lange und sorgfäl- 1952 zunächst um die Mitarbeit Carl Orffs (vgl.
tige Probenarbeit war selbst unter den am Ber- GBA 30, S. 146, S. 149) und fragte danach bei
liner Ensemble herrschenden Bedingungen Boris Blacher (vgl. S. 153) an; in beiden Fällen
ungewöhnlich. B. betrachtete die Inszenie- kam es nicht zu einer Zusammenarbeit. B.
rung gewissermaßen als Krönung seiner Ar- wandte sich dann an Paul Dessau, den er be-
beit, die aber ohne die in sie einfließenden reits aus Kalifornien kannte. Die Arbeit ge-
Lebenserfahrungen der Schauspieler (insbe- staltete sich jedoch wegen des von B. »hier
sondere Ernst Buschs) nicht denkbar gewesen einmalig und selten verzweigten Duktus« sehr
wäre, wie er am 7. 2. 1954 im Journal notierte: schwierig (Dessau, S. 87). B. verwarf die erste
»Rollen wie der Azdak und die Grusche kön- Fassung Dessaus von 1953; die zweite Fassung
nen in unserer Zeit nicht durch Regiearbeit wurde erst Anfang März 1954 fertig. Sie ent-
gestaltet werden. Nicht weniger als fünf Jahre hielt Gesangsrollen für den Sänger (Tenor),
am Berliner Ensemble waren nötig, der außer- zwei Musiker, Grusche, Azdak, zwei Panzer-
ordentlichen Angelika Hurwicz die Vorausset- reiter und einen Bauern. B. begrenzte die An-
zungen zu geben. Und das ganze Leben Buschs zahl der Musikanten auf neun; notfalls konnte
[…] war nötig, diesen Azdak hervorzubrin- die Musik von fünf Spielern ausgeführt wer-
gen.« (GBA 27, S. 349) Der sorgfältigen Arbeit den, weil B. angemahnt hatte, »daß man auch
mit den Schauspielern entsprach die Sorgfalt, an kleinere Unternehmungen wie Schul- resp.
die auf Bühnenausstattung, Requisiten und College-Aufführungen und kleinere Theater
Masken verwendet wurde. Das Bühnenbild denken müsse« (ebd.). Dessau erfand ein kla-
mit chinesischen Motiven entwarf Karl von vierähnliches neues Instrument, das »Gong-
Appen (vgl. Appen, S. 95–100; Abbildungen spiel«, welches das Geschehen musikalisch
S. 96 f.). Die große Zahl von Figuren (etwa verfremdete und die Fremdartigkeit der er-
150) erforderte die Übernahme mehrerer Rol- zählten Vorgänge hervorhob (vgl. zur Musik
len durch einzelne Schauspieler, deren Rollen- Dümling, S. 601–608).
wechsel durch Maskentragen erleichtert B.s Inszenierung am Berliner Ensemble, die
wurde. Die Masken dienten ebenfalls zur Cha- bis zum 22. 12. 1958 insgesamt 125 Aufführun-
Wirkung 529

gen erlebte, fand eine außerordentlich große westlichen Kritikern. In der Zeit hieß es, das
Resonanz in Ost und West. B.s Hoffnungen auf Stück sei »die perfekte Wiedergabe eines per-
eine positive Rezeption in der DDR wurden fekten Stückes marxistischer Klassendrama-
jedoch enttäuscht. Neben Lob gab es Kritik am tik« mit erheblichen Längen (Lietzmann,
Stück, am Aufführungsstil und an B.s Konzept S. 75). Die Süddeutsche Zeitung wertete den
des epischen Theaters. Das Zentralorgan der Kaukasischen Kreidekreis in einem voller irr-
SED, Neues Deutschland, ignorierte die In- tümlicher Behauptungen steckenden Artikel
szenierung völlig. Die Rezensionen anderer als »Proletarisches Lehr- und Rührstück«
Blätter waren zum Teil sehr ausführlich, wenn (Klie, S. 98 f.), und der Westberliner Theater-
auch nicht unbedingt positiv. Jürgen Rühle kritiker Friedrich Luft sah B., den »Zeigefin-
überschrieb seine Besprechung mit »Größe ger-Theatraliker«, politisch und ästhetisch »in
und Grenze des epischen Theaters« und ent- der Sackgasse« (Luft, S. 77).
deckte eine Reihe von »Köstlichkeiten« in der Knapp ein Jahr nach B.s Inszenierung im
glanzvollen Inszenierung, fand jedoch das Theater am Schiffbauerdamm erfolgte die
Stück insgesamt zu »langatmig«. Die soziale Erstaufführung am 28. 4. 1959 in der Bundes-
Bestimmung des Muttertums sei auch in einer republik am Frankfurter Schauspielhaus (Re-
sozialistischen Gesellschaft nicht überzeu- gie: Harry Buckwitz), die, nicht zuletzt wegen
gend, das Vorspiel »an den Haaren herbeige- der Einladung zu den Ruhrfestspielen 1955,
zogen« und der Stoff ausreichend für drei eine außerordentlich breite Resonanz erzielte
Stücke, aber unter B.s Regie »wurde es gar und in annähernd 100 Zeitungen in kurzen
kein Stück«. B. sei ein »Opfer seiner Theorie oder längeren Beiträgen kommentiert wurde.
vom epischen Theater geworden« (Rühle, Im Vordergrund der Diskussion standen politi-
S. 97 f.). Andere Rezensenten äußerten sich sche Aspekte, in der es um die Trennung des
ähnlich: »es gab goldfunkelnde theatralische Dichters vom politischen Ideologen ging, des-
Kostbarkeiten die Menge – aber Theater gab es sen Ideologie sich besonders in dem in Frank-
nicht« (Eylau, S. 70). Der kaukasische Kreide- furt mit B.s Einwilligung gestrichenen Vorspiel
kreis sei »ohne eigentlichen dramaturgischen zeige. Trotz der wiederholten Versuche, B.s
Kern« (Kluft, S. 71). Ein weiterer Kritiker be- Stücke im Zusammenhang mit den Ereignis-
scheinigte dem Werk »Züge echter Volkstüm- sen des Aufstands am 17. Juni 1953, der un-
lichkeit«, der »Ballast […] an Obszönitäten« garischen Erhebung 1956 und des Mauerbaus
freilich beeinträchtige »die erzieherische Wir- am 13. 8. 1961 auf westdeutschen Bühnen zu
kung« (Harnisch, S. 72). boykottieren, setzte sich Der kaukasische Krei-
Das in den Rezensionen artikulierte Unbe- dekreis durch und nahm in den Aufführungs-
hagen an der Theaterkonzeption B.s nahm statistiken der 50er-, 60er- und frühen 70er-
durch die Intervention des Theaterkritikers, Jahre einen der vorderen Plätze unter B.s
Kulturfunktionärs und Chefredakteurs der Stücken ein. Dazu trug zweifellos bei, dass B.
Zeitschrift Theater der Zeit Fritz Erpenbeck dieses Stück neben Die Dreigroschenoper und
die Züge einer ästhetischen und kulturpoliti- dem Fragment Die Reisen des Glücksgotts zu
schen Grundsatzdebatte an. In verschiedenen seinen einzigen Repertoirestücken zählte; es
Heften der von ihm geleiteten Zeitschrift griff seien »Stücke, die nahezu immer gegeben wer-
Erpenbeck das Theater B.s an und stellte kate- den können, weil sie im Thema sehr allgemein
gorisch fest, dass er das epische Theater als sind und den Theatern Gelegenheit für ihre
»gangbaren Weg in die Zukunft« ablehne (Er- allgemeinsten Künste gewähren« (GBA 27,
penbeck, S. 174). Gegen Erpenbeck wandten S. 307).
sich Hurwicz und der Dramaturg Hans Bunge; Mit seinem noch zu Lebzeiten B.s im Juli
B. selbst äußerte sich nicht öffentlich zu der 1955 durchgeführten Pariser Gastspiel legte
Kontroverse. das Berliner Ensemble trotz B.s »Trennung in
Trotz politisch anderer Akzentsetzungen gab Dramatiker, Regisseur und Theoretiker«
es Berührungspunkte zwischen östlichen und durch die Kritik (Hüfner, S. 129) den Grund-
530 Der kaukasische Kreidekreis

stein für die Anerkennung des Kaukasischen (=arm, aber vorwärtsstrebend) und Böse
Kreidekreises über das deutschsprachige Thea- (=reich und mächtig) […] recht lebensklug
ter hinaus. Weitere Gastspiele in London und wirklichkeitsnah« wirke (Becker, S. 17).
(1956) und Moskau (1957) etablierten das Auch in den 90er-Jahren hielt sich das
Stück auf der internationalen Bühnenszene, Stück. Zu einer Londoner Inszenierung am
wenn auch mit gelegentlich paradoxen Resul- National Theatre (1997), die ebenfalls am Ber-
taten. So wurde bei einer Inszenierung in Riga liner Ensemble gastierte, bemerkte ein Rezen-
das Vorspiel als für ein sowjetisches Publikum sent, der besonders am Vorspiel Anstoß nahm,
untauglich fortgelassen (vgl. Glade, S. 171). In dass sich die Hoffnung auf das Verschwinden
den westlichen Ländern einschließlich der B.s von den Bühnen nach dem Fall der Berliner
Bundesrepublik, wo das nur wenige Jahre zu- Mauer zu seinem Bedauern nicht erfüllt habe
vor so anstößige Vorspiel erstmals 1958 in Göt- (Spencer, S. 14). Ein weiterer Rezensent hielt
tingen geboten wurde, setzte sich die Tendenz B.s Konzept der guten Mutter weiterhin für
zur Entpolitisierung durch. Dankbare Parade- provokativ und angemessen (Nightingale).
rollen wie die des Azdak, die von Hanns Ernst Ähnlich hieß es in der Neuen Zürcher Zeitung:
Jäger auf verschiedenen Bühnen mit Verve und Die aus Anlass des 100. Geburtstags von B.
komödiantischem Elan gespielt wurde, ließen erfolgte Einstudierung am Deutschen Theater
B.s ›enttäuschten Revolutionär‹ (vgl. GBA 24, in Berlin (Regie: Wolfgang Langhoff, Musik:
S. 345) in Vergessenheit geraten und sicherten Sebastian Undisz) sei ein Versuch, den Kauka-
den Publikumserfolg. Obwohl ursprünglich sischen Kreidekreis »inhaltlich wie auch thea-
für den Broadway geschrieben, unter teilwei- termethodisch zu aktivieren und seine Lehre
ser Berücksichtigung des amerikanischen Pu- für postsozialistische Verhältnisse zu empfeh-
blikumsgeschmacks (vgl. Lyon 1999, S. 238– len« (Anonymus).
245), gelangte das Stück erst 1966, fast 20
Jahre nach seiner Uraufführung, nach New
York. Das von Bentley aus Furcht vor dem Literatur:
Vorwurf sowjetischer Propaganda lange zu-
[Anonymus]: Das Wagnis Brecht – in Berlin »Kauka-
rückgehaltene Vorspiel erwies sich dabei nicht
sischer Kreidekreis«. von Thomas Langhoff insze-
mehr als problematisch (vgl. Mews 1991, niert. In: Neue Zürcher Zeitung, 1. 4. 1998. – Appen,
S. 361–363; Mews 1992b, S. 243–245), und der Karl von: Über das Bühnenbild. In: Hecht 1966,
Kritiker der New York Times befand, dass es S. 95–100. – Becker, Peter von: Brecht in Asien. Be-
sich um eine große, sentimentale und melo- obachtungen zwischen Kalkutta und Peking. In:
dramatische Show handele, die durch B.s illu- Theater heute (1987), H. 2, S. 15–19. – Berg-Pan,
Renata: Mixing Old and New Wisdom. The »Chinese
sionslose Weltsicht nicht wesentlich beein-
Sources of Brecht’s Kaukasischer Kreidekreis and
trächtigt werde (vgl. Kauffmann, S. 105). Other Works. In: GQu. 48 (1975), S. 204–228. –
Die Neuinszenierung am Berliner Ensemble Brandt, Thomas O.: Die Vieldeutigkeit Bertolt
im Jahr 1976 (Regie: Peter Kupke) hatte mit Brechts. Heidelberg 1968. – Brough, Neil/Kavanagh,
dem übermächtigen Erbe der inzwischen zum R. J.: But Who Is Azdak? The Main Source of
Mythos gewordenen Inszenierung B.s zu Brecht’s Der kaukasische Kreidekreis. In: Neophilo-
logus 75 (1991), S. 573–580. – Buck, Theo: Der kau-
kämpfen. Sie erhielt in Ost und West durch-
kasische Kreidekreis. Der Garten des Azdak: Von der
schnittliche Noten: Sie sei eher »akademische Ästhetik gesellschaftlicher Produktivität. In: Hin-
Fortführung« als »produktive Aufhebung« derer, Walter (Hg.): Brechts Dramen. Neue Inter-
(Schumacher, S. 108) und biete »teures Amü- pretationen. Stuttgart 1995, S. 146–177. – Bunge. –
sement, […] perfekte Unterhaltung« (Wirsing, Bunge, Hans: Der Streit um das Tal. In: Hecht 1985b,
S. 108). Neue Impulse dagegen vermochte Der S. 147–154. – Dessau, Paul: Zur »Kreidekreis«-Mu-
sik. In: Hecht 1966, S. 87–94. – Ditsky, John:
kaukasische Kreidekreis in Ländern der Drit-
Brechts’s Judging Jesus: Christian Analoques in the
ten Welt zu vermitteln, in denen B.s »uns Caucasian Chalk Circle. In: New Laurel Review 7
Westlern heute eher naiv scheinende Eintei- (1977), H. 1, S. 40–48. – Duchardt, Michael (Hg.):
lung der Menschheit in Gut(=arm), in Listig Bertolt Brecht. Der kaukasische Kreidekreis. Stutt-
Wirkung 531

gart 1998. – Dümling. – Erpenbeck, Fritz: Episches Modern Drama 42 (1999), S. 239–246. – Martner,
Theater oder Dramatik? Ein Diskussionsbeitrag an- Fredrik: [Über den Odenseer Kreidekreis]. In: Eng-
läßlich der Aufführung von Bertolt Brechts »Der kau- berg, Harald: Brecht auf Fünen. Wuppertal 1974,
kasische Kreidekreis«. In: Hecht 1985b, S. 172–180. S. 99. – Mews, Siegfried: Brecht in Amerika: zur
– Esslin, Martin: Brecht. Das Paradox des politi- Rezeption des »Kaukasischen Kreidekreises«. In:
schen Dichters. Frankfurt a. M. 1962. – Eylau, Hans Iwasaki, Eijiro (Hg.): Die Fremdheit der Literatur.
Ulrich: Der kaukasische Kreidekreis. In: Duchardt, Rezeption. München 1991, S. 356–363. – Ders.
S. 70 f. – Fernus, Claudia: Blut ist nicht unbedingt (Hg.): Bertolt Brecht. Der kaukasische Kreidekreis.
dicker als Wasser! Sprichwörtlich »Verkehrtes« in 5. Auflage. Frankfurt a. M. 1992a. – Ders.: »Brecht,
Bertolt Brechts Der kaukasische Kreidekreis. In: Pro- Motherhood, and Justice«: The Reception of The
verbium 14 (1997), S. 83–112. – Giese, Peter Chri- Caucasian Chalk Circle in the United States. In:
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tungen Brechts. Stuttgart 1974. – Glade, Henry: Columbia/South Carolina 1992b, S. 231–248. – Mi-
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Luft, Friedrich: Kritischer Erkundungsritt nach Ost
und West. In: Duchardt, S. 76 f. – Lucchesi/Shull. Siegfried Mews
– Lyon, James K. (Hg.): Brecht in den USA. Frank-
furt a. M. 1994. – Ders.: Elements of American Thea-
tre and Film in Brecht’s Caucasian Chalk Circle. In:
532

buch der Aufführung dokumentierte Konzep-


Die Antigone des Sophokles tion einer epischen Spielweise mittels einer
deiktischen Technik: Die Schauspieler ver-
körperten die Rollen nicht, sondern demonst-
Entstehung, Text rierten im Spiel den Spielcharakter der In-
szenierung. Die parallel mit der Bearbeitung
entstandenen sog. Brückenverse der Antigone-
B.s Bearbeitung der Antigone des Sophokles Legende (GBA 25, S. 85–159 als Bildunter-
geht auf eine zufällige Begegnung mit Hans schriften), an deren Entstehung Neher betei-
Curjel in Zürich zurück, wo B. und Helene ligt war, hatten die Funktion, diese, den
Weigel sich 1947 nach der Rückkehr aus dem Schauspielern nicht vertraute Spielweise zu
Exil vergeblich um angemessene Arbeitsmög- erleichtern. Das für die Aufführung in Chur
lichkeiten am Theater bemühten. Curjel, In- verfasste Vorspiel (GBA 8, S. 195–199) stellte
tendant am Stadttheater in Chur, zeigte sich an einen Zusammenhang der Fabel mit den Er-
einer Zusammenarbeit mit B. und Caspar Ne- eignissen der jüngsten deutschen Vergangen-
her interessiert und schlug folgende Dramen heit her. Es spielt im April 1945 in Berlin und
zur Auswahl vor: Sophokles’ Antigone, Ra- thematisiert im Dialog zweier Schwestern, die
cines Phädra, Shakespeares Macbeth sowie aus dem Luftschutzkeller in ihre Wohnung zu-
Mutter Courage und ihre Kinder und Die Hei- rückkehren und sich Gedanken über das
lige Johanna der Schlachthöfe. Die Entschei- Schicksal ihres Bruders machen, Zeitereig-
dung fiel aus ganz unterschiedlichen Gründen nisse wie Desertionen und Hinrichtungen in
zugunsten der Antigone aus: Der Stoff war den letzten Tagen des Kriegs. Mit der ›Schän-
aktuell, der Text reizte durch die Verwendung dung‹ und der ›Bergung‹ des toten Körpers
von Formelementen des epischen Theaters nahm B. das ›Kreon‹- bzw. ›Antigonemotiv‹
(Chöre, Masken, Botenbericht) zur Bearbei- der Antigonefabel auf (vgl. Domdey, S. 141 f.).
tung. Pragmatische Gründe wie die Vorberei- Für die spätere Aufführung in Greiz verfasste
tung auf größere Aufgaben am Theater durch B. auf Wunsch des Ensembles einen vom Dar-
die Erprobung einer weiteren Rolle für Helene steller des Tiresias gesprochenen Prolog,
Weigel »nach fünfzehn Jahren erzwungener Neuer Prolog zur »Antigone« (GBA 8, S. 242),
Berufspause« (Domdey, S. 141) kamen hinzu. mit dem das Publikum aufgefordert wurde, im
Am 16. 12. 1947 notierte B. ins Journal, er alten Text nach aktuellen Bezügen zu suchen.
habe die Bearbeitung »zwischen dem 30.11.
und dem 12.12.« fertig gestellt: »Vermutlich ist
es die Rückkehr in den deutschen Sprachbe-
reich, was mich in das Unternehmen treibt.« Sophokles’ Antigone in Hölderlins
(GBA 27, S. 255) Bereits fünf Wochen später, Übersetzung
am 17. 1. 1948, war Probenbeginn. Neben Wei-
gel als Antigone wurde Hans Gaugler für die
Rolle des Kreon gewonnen. Mit ihm überar- »Hölderlins ›Antigone‹-Sprache […] ist von
beitete B. zunächst den Text und nahm dann erstaunlicher Radikalität« (GBA 27, S. 258),
die Probenarbeit wieder auf, die sich zeitwei- konstatierte B. am 25. 12. 1947 im Journal,
lig schwierig gestaltete. Die Uraufführung nachdem Neher ihm geraten hatte, diese Über-
fand erst nach der Beilegung von Differenzen setzung des antiken Dramas zu verwenden.
mit Curjel und nach der Behebung von tech- Die »schwäbischen Tonfälle und gymnasialen
nischen Schwierigkeiten, die sich aus der von Lateinkonstruktionen« (S. 255), von denen er
Caspar Neher entwickelten Bühnenform er- in fast gleich lautenden Formulierungen auch
gaben, am 15. 2. 1948 statt. seinem Sohn Stefan berichtete (vgl. GBA 29,
Die Aufführung realisierte die in der Anti- S. 440 f.), waren B. aus der Schulzeit geläu-
gone-Legende beschriebene und im Modell- fig. Der vertraute »schwäbische Volksgestus«
Sophokles’ Antigone in Hölderlins Übersetzung 533

(S. 258), den B. mit zahlreichen Beispielen aus historischen Konstellation zum Zeitpunkt der
Hölderlins Text belegte: »Und die Sache sei / Französischen Revolution, als die deutschen
nicht wie für nichts« (Hölderlin, V. 36 f.), Intellektuellen angesichts der jakobinischen
»Denn treulos fängt man mich nicht«(V. 48; Radikalisierung der revolutionären Auseinan-
vgl. Pohl, S. 247), ermöglichte ihm einerseits dersetzungen sich ernüchtert von den Zeit-
nach den Jahren des Exils die Überwindung ereignissen distanzierten. »Er [Lukács} analy-
der Fremdheit und erleichterte so die Rück- siert, wie die deutschen Klassiker die Franzö-
kehr zur deutschen Sprache. Andererseits eig- sische Revolution verarbeiten. / Noch einmal
nete sich Hölderlin in besonderer Weise zur keine eigene habend, werden nun wir die rus-
Überbrückung des Zeitabstands zwischen dem sische zu ›verarbeiten‹ haben« (Journal,
antiken Stoff und dem modernen Publikum. 26. 12. 1947; GBA 27, S. 259). B. erkannte,
Dessen Sprachgestus erschien B. trotz der dass durch das Ausbleiben der Revolution in
Beanspruchung des Autors zu Zwecken der Deutschland eine historische Fehlentwicklung
Propaganda im Faschismus (anders als die eingeleitet worden war, die das Versagen des
Dichtung der Klassiker) als ein ideologisch deutschen Bürgertums bis in die Gegenwart
unverdächtiges Zeugnis aus der Epoche der belegte und seine spätere Degeneration zur
deutschen Klassik (vgl. Frick, S. 501 f.; Barner, Bourgeoisie und deren Abgleiten in die Barba-
S. 206, Anm. 13). Die Hermetik der Überset- rei des Faschismus erklärte. Die Bezüge zwi-
zung durch Hölderlins Wortwahl und seine Be- schen Kapitalismus bzw. Bürgertum und Na-
handlung von Syntax und Metrik kamen Über- tionalsozialismus spiegelten B.s Überzeugung,
legungen B.s Über reimlose Lyrik mit unregel- dass die »Naziform« (ebd.) die gesamte bür-
mäßigen Rhythmen (GBA 22, S. 357–364) und gerliche Kultur erfasst und deren Tugenden
eigenen Versuchen einer freieren Behandlung pervertiert hatte. Diese Reflexionen führten
des Verses im Drama entgegen. »Teile von den im Arbeitsprozess zu einer Veränderung in der
Chören klingen wie Rätsel, die Lösungen ver- Einschätzung der Figur der Antigone. Die Be-
langen.« (GBA 24, S. 351) Hölderlins Über- arbeitung ist daher auch als ein Dokument der
tragung unterstützte dadurch die Absicht des ideologischen Auseinandersetzung B.s mit
Bearbeiters, »den barbarischen Ort des alten dem Nationalsozialismus zu verstehen.
Gedichts« (Journal, 4. 1. 1948; GBA 27, Wird Antigone im Greizer Prolog als eine in
S. 261) anzugeben. B. übernahm die »Struk- ihrer humanitären Haltung kompromisslose
turelemente und Pathosformen« Hölderlins Gestalt, als die »unbeugsam Gerechte / Nicht-
zum Teil wörtlich (Pohl, S. 245), zum Teil imi- achtend des eigenen geknechteten Volkes Op-
tierte und transformierte er dessen Sprach- fer« (GBA 8, S. 242), angesprochen, die sich
gestus in den Chorpassagen nach Maßgabe sei- mit »den Verwirrern« (GBA 15, S. 191) nicht
ner Intention, den Mythos zu entmythologi- ausglich, so erscheint sie später als eine Figur,
sieren und die Sprecher dementsprechend zu die »im Schatten der Zwingburgen« (GBA 24,
charakterisieren. Aber auch die gegenläufige S. 352), also in einer Sphäre machtgeschützter
Tendenz, nämlich »ein eigenwilliges Archai- Innerlichkeit, gelebt und »vom Brot gegessen
sieren« lässt sich an der Bearbeitung beob- [hat], das im Dunkeln gebacken ward« (GBA
achten: »Ohne Vorbild bei Hölderlin ist der 27, S. 264). Insofern repräsentiert ihr Wider-
Lutherton des Brechtschen Eingangsdialogs: stand gegen den Tyrannen nicht den der Wi-
›Antigone: Ob du mir hülfest. Ismene: In wel- derstandskämpfer aus dem Volk, die in der
cher Fährlichkeit‹« (Pohl, S. 250) Illegalität zu Opfern des Faschismus wurden.
B.s Arbeiten am Text und auf den Proben Auch als Verkörperung der Humanität bleibt
wurden permanent von Reflexionen begleitet, Antigone Exponentin der herrschenden
die das Versagen der bürgerlichen Klasse the- Klasse. Ihr unbeugsamer Widerstand gegen
matisierten. B. kannte Georg Lukács’ Analyse die Satzung des Tyrannen resultiert zunächst
des Briefwechsels zwischen Goethe und Schil- aus einem, durch das private, familiäre Inter-
ler. Er bezog sich auf die Interpretation der esse motivierten Impuls, sich menschlich und
534 Die Antigone des Sophokles

solidarisch zu verhalten, der in der Ausein- des Kriegs, wo »›nur ein kleines‹ zum Sieg
andersetzung mit Kreon allerdings mit wach- fehlt« (Journal, 12. 1. 1948; GBA 27, S. 264).
sender Schärfe die partikularen politischen Dieses ›kleine‹, aber ausschlaggebende und
Ziele des Tyrannen aufdeckt und seiner Herr- angesichts der erschöpften Ressourcen nicht
schaft die Legitimation entzieht. Diese Hal- realisierbare Quantum an kämpferischer Ener-
tung führt bis zu der Bereitschaft, mit dem gie kann nur »die verzweifelteste Gewalt«
Feind (Argos) zu paktieren, um die Tyrannei (ebd.) erzwingen. B. bezeichnete dies als »das
Kreons zu beenden. Unmäßige« (ebd.), eine zweckrationale Strate-
gie, deren Härte und Unmenschlichkeit durch
nichts zu legitimieren ist, die er jedoch nicht
aus moralischer Sicht, sondern aus pragma-
Fabelführung und Konflikt tischem Interesse beurteilt wissen möchte:
Gegenstand der Bearbeitung ist daher nicht
Die Ausgangslagen der Handlungen unter- die ›Unmoral‹, deren Scheitern die humani-
scheiden sich bei Sophokles und B. grund- täre Norm affirmieren soll, sondern die
legend. Sophokles gestaltete in der Antigone Dummheit in Verbindung mit Terror, die den
wie in seinem Ödipus-Drama einen Teil der Ausnahmezustand herbeiführt, um den Wider-
Labdakidensage, der er als Stoff den Kampf stand von außen und innen zu brechen. Die
der ›Sieben gegen Theben‹ entnahm. Anti- Bearbeitung, die diese fatale Verbindung sicht-
gone als Mittelpunktsfigur eines Einzeldramas bar macht, ist also auf Politik bezogen, sie
und das Motiv des Bestattungsverbots sind So- demonstriert am Scheitern einer kurzsichtigen
phokles’ Erfindung. Bei der symbolischen Be- Strategie die Beschleunigung des Zusammen-
stattung des Bruders wird Antigone ergriffen bruchs, der aus der »Gesamtkonstellation«
und von Kreon zum Tode verurteilt. Sie er- (ebd.) ohnehin unvermeidlich ist: Theben
hängt sich in der Grabkammer, in der sie auf führt einen Raubkrieg gegen Argos, um dessen
Kreons Anordnung lebendig eingemauert Erzgruben zu gewinnen, verfolgt mithin aus-
wird. Kreons Sohn Haimon, der Verlobte Anti- schließlich materielle Kriegsziele, wohinge-
gones, tötet sich an ihrer Leiche (vgl. Scha- gen Argos seine Freiheit verteidigt. Es bedarf
dewaldt, S. 91–97). Die Handlung des ›Zwei- keines Zwangs, um den Widerstand gegen den
figurendramas‹ »vollzieht sich […] in der Überfall zu motivieren. Der Zusammenbruch
charakteristischen Form des Streits […] um des Aggressors vollzieht und beschleunigt sich
die Bestattung des Polyneikes« (S. 99). B. än- in dem Maß, wie sich die integralen Bestand-
derte in aktualisierender Absicht die Fabel- teile des Systems aus diesem selbst lösen und
führung dahingehend, dass Polyneikes aus deshalb die Geschlossenheit der Staatsspitze
Entsetzen über den Tod seines Bruders Eteok- nicht mehr gegeben ist: Die Mitglieder des
les aus der Schlacht desertiert, bevor diese Herrscherhauses und »der ideologische Hand-
entschieden ist, und von Kreon abgefangen langer« (ebd.) Tiresias fallen von Kreon ab, so
und dann hingerichtet wird. Er »greift das Mo- dass er keine Stützen mehr hat.
ment des Verrats auf – bei Sophokles verrät
Polyneikes seine Heimatstadt –, wertet es aber
auf, indem die Desertion nun zur heroischen
Tat wird, zum ersten Schritt eines Wider- Durchrationalisierung der Fabel –
stands gegen die Gewaltherrschaft des Natio- ›Eliminierung‹ der Moira?
nalsozialismus. Diese Veränderungen […] ge-
hen auf Kosten der Figur des Kreon«; er nimmt
»die Züge einer Hitlerfigur« an (Domdey, Zwei Momente bestimmen maßgeblich B.s In-
S. 341). teresse an der Antigone: die offensichtliche
Die Bearbeitung thematisiert Gewalt, eine Aktualität der Fabel, die zur Wahl des Textes
terroristische Gewalt im prekären Augenblick führte, sowie seine Annahme, der Ursprung
Durchrationalisierung der Fabel – ›Eliminierung‹ der Moira? 535

des Mythos liege in einer realistischen Volks- musste, den Widerstand gegen den Tyrannen
legende, deren Kern durch kritische Bearbei- im Volk fundieren zu können, das weder von
tung des Mythos freigelegt, ›durchrationali- Antigone, noch von dem Chor der Thebani-
siert‹ (Journal, 18. 1. 1948; GBA 27, S. 265; schen Alten repräsentiert wird, musste die
vgl. GBA 25, S. 74) werden und ein demo- Perspektive der Bearbeitung auf das Problem
kratisches Widerstandspotenzial sichtbar ma- der »Dialektik der Gewaltanwendung unter
chen könne. Aufklärung lautet das Programm, genau einsehbaren gesellschaftlichen Voraus-
mit dem B. im Mythos Geschichte ermitteln setzungen« (Mittenzwei, S. 226) konzentriert,
wollte. Im Zuge der Text- und Probenarbeit die »Zurückführung der Grausamkeit auf die
wurde B. das Konzept, das den Zusammen- Dummheit« (GBA 27, S. 267) einsehbar ge-
hang von Mythos und Geschichte zu klären macht werden.
hatte, jedoch zunehmend problematisch. B.s Die marxistisch orientierte Forschung folgte
Meinung, das Stück zeige »die betonte Absage den deutenden Hinweisen B.s und verstand
an die Tyrannis und die Hinwendung zur De- den Bearbeitungsprozess als einen in sich
mokratie« (GBA 24, S. 349), eine Sicht, die bruchlosen Vorgang der »Politisierung des
teilweise durch Hölderlins freie Übersetzung Konflikts« (Riedel, S. 263; vgl. Trilse, S. 241),
des Texts und seine Deutung der »vaterländi- der für die Antike-Rezeption der DDR-Lite-
schen Umkehr« im dritten Teil der Anmer- ratur, etwa Heiner Müllers, »paradigmatisch«
kungen zur Antigonä vermittelt worden war sei (Riedel, S. 266). Mit dieser Auffassung
(vgl. Schmidt, S. 1483–1487), erschien unter lässt sich, wie neuere Forschungsbeiträge zum
dem Aspekt des Widerstands missverständ- Problem der Mythensäkularisierung zeigen,
lich, weil sie zur Fehleinschätzung der Wider- das Problem jedoch nicht erschöpfen. Das von
standshaltung Antigones führen könnte, wie Peter Witzmann auf den Begriff gebrachte Ver-
B. im neuen Vorwort zum Antigonemodell ständnis der Durchrationalisierung als einer
1948 schrieb. Im Zuge der Einarbeitung in die Technik der Substitution – »Durchrationalisie-
hermetische Übertragung Hölderlins und ih- rung heißt materielle, soziale, politische Mo-
rer praktischen Erprobung stellte sich bei B. tive setzen statt der antiken mythologischen
die Erkenntnis ein, dass das Ziel, den Mythos Verhüllung der Motive« (Witzmann, S. 84) –
zu bearbeiten und dem antiken Begriff des findet Zustimmung nicht nur in marxistisch
Verhängnisses, der ›moira‹, einen ›immanen- orientierten Forschungsbeiträgen, erscheint
ten‹ historischen Sinn zu substituieren, zu ei- jedoch einseitig und bedarf daher der Diffe-
ner erheblichen Umarbeitung, dem Schreiben renzierung. Die einerseits von der Mythos-
»ganz neuer Partien« (GBA 29, S. 440), vor Forschung, andererseits von der Rezeptions-
allem in den Chor-Passagen, und zur Verände- Forschung angeregte neuere Forschungslitera-
rung der Fabelführung zwang: »Die ›Antigone‹ tur (Barner; Flashar; Frick) hat B.s Programm
des Sophokles […] stand als bestimmte, ge- der ›Durchrationalisierung‹ mit einem Frage-
schichtliche Form zur Bearbeitung« (Barner, zeichen versehen. Ausgehend von der Beob-
S. 193). Die leitmotivische Thematisierung achtung, dass B.s Bearbeitung mythische Vor-
des Kriegs, der in allen Konfrontationen des stellungen, das heißt schicksalhaft-religiöse
Tyrannen mit seinen Gegenspielern (Anti- Begriffe und Motive bewahrt, stellte sich die
gone, Haimon, Tiresias, die Alten) als ›Kreons Frage nach den Gründen für die sinnliche
Krieg‹ (vgl. GBA 8, S. 212 f., S. 234) bezeichnet Vergegenwärtigung »kultischer Momente«
wird, macht deutlich, dass an die Stelle des (Barner, S. 196). Dabei wurde auch auf Er-
undurchschaubaren Verhängnisses ein kenntnisse der Hölderlin-Forschung Bezug ge-
›Schicksals‹-Verständnis getreten ist, das aus nommen, die an dessen freier Übersetzung der
menschlicher Anmaßung resultiert und als Antigone christliche Motive nachgewiesen
willkürliche Gewalt von Menschen an Men- hat. Kreons Drohung, der Täter werde ›ans
schen vollzogen wird. In dem Maße, wie sich Kreuz gehängt‹ (vgl. GBA 8, S. 207) verweist
B. von der Wunschvorstellung verabschieden auf die ›Schädelstätte‹, diese auf den ›barbari-
536 Die Antigone des Sophokles

schen‹ Schauplatz, auf dem die Deliquentin Der Seher als Politiker /
mit dem aufgeschnallten Totenbrett als Märty-
rerin an die Passion erinnert. Dies führt zu
Vergleichende Szenenanalyse
einer genaueren Interpretation der genuin re-
ligiösen Tat Antigones, ausgehend von der Be- Die Intention B.s, die Fabel des Mythos zu
obachtung, dass B.s Konzeption nicht nur an rationalisieren, lässt sich vor allem dort be-
der sakralen Begründung der Tat explizit fest- legen, wo das Natürliche und das Übernatür-
hält, sondern auch zahlreiche räumliche »Hin- liche unmittelbar aufeinander bezogen wer-
weise auf die Totenwelt« und dingliche »Sym- den, was sich am Bericht des Sehers über die
bole des Totenkults« bewahrt und demonstrie- Zeremonie des Opfers zeigen lässt. Die von
rend vorführt (Barner, S. 195). Ihre gestischen der Forschung am Antigonemodell beobach-
Funktionen werden in den Erläuterungen des tete ›Umakzentuierung‹ der Figur, die »als in-
Antigonemodells minuziös bestimmt. B.s so- tegrale Gestalt des alten Mythos die Moira
wohl dramaturgische als auch ästhetische Er- gewissermaßen als auslegende und verkün-
kenntnis der Notwendigkeit des Totenkults zur dende Institution repräsentiert« (Barner,
Visualisierung des ›Barbarischen‹ hatte die S. 197), sei durch das bei Sophokles gestaltete
Erhaltung und Funktionalisierung dieser reli- Motiv der Bestechlichkeit schon angelegt, der
giösen Momente zur Folge, unbeschadet der Seher dort schon »in seiner Würde nicht unbe-
Absicht des Bearbeiters, »philologische Inter- stritten« (ebd.). Die in den Anmerkungen zur
essen« nicht bedienen zu wollen (GBA 25, Antigone als »guter Beobachter« (GBA 24,
S. 75). »Entideologisierung des alten Mythos S. 351) qualifizierte Figur erweist sich als
in seiner Handlungsstruktur […] und Erhalten ›scharfer Diagnostiker‹ der gespannten Situa-
seiner präsentierbaren sinnlich-physischen tion. Gleichwohl operiere »auch Brechts Tire-
Dimension« (Barner, S. 196) waren schlecht zu sias mit specifica seines Berufs wie etwa Vogel-
vereinbaren. schau« (Barner, S. 198). Ein Textvergleich
Bezüglich der programmatischen »›Elimi- zeigt einen unterschiedlichen Aufbau der
nierung‹ des Schicksals« (Frick, S. 542; vgl. Szene bei B. und Sophokles.
GBA 27, S. 255; GBA 29, S. 440) in der Fabel- Bei Sophokles bezeichnet der Auftritt des
führung, die durch die Thematisierung von blinden Sehers die Peripetie der Handlung.
Krieg und Tyrannis auch bei Sophokles begün- Kreon hat durch das Bestattungsverbot und
stigt wird, lässt sich, speziell an Antigones durch den Starsinn, mit dem er daran festhält,
›Letzter Rede‹, zwar am Erkenntnisprozess die Götter beleidigt und schweres Unheil über
der Figur die ›Erledigung‹ der Schicksalskate- die Stadt heraufbeschworen. Tiresias er-
gorie belegen, dessen Resultat in deiktischer scheint und macht seinen Einfluss auf den
Form vorgetragen wird: »Nicht, ich bitt euch, Herrscher geltend. Er erinnert Kreon daran,
sprecht vom Geschick. / […] / Von dem dass sein Handeln erfolgreich gewesen sei,
sprecht / Der mich hinmacht, schuldlos; dem / solange er den Rat des Sehers befolgt habe. Er
Knüpft ein Geschick!« (GBA 8, S. 227) Ihr mahnt zur Umkehr und berichtet Bestürzendes
Räsonnement weist Antigone als »politische von der Opferzeremonie: Die Götter verwei-
Prophetin« (Jens, S. 113) aus. In ihm sind »die gern die Annahme der Opfergaben, da sich die
sophokleischen Gegensatzpaare Bruder- Tiere durch den Genuss von Menschenblut
Feind, untere-obere Götter, Licht-Tag […] verunreinigt haben. Gebete bleiben wirkungs-
der einen Zentral-Antithese Herrscher-Be- los, weil die Altäre entweiht worden sind. Nur
herrschte gewichen« (ebd.). Doch die ›Umak- durch die sofortige Zurücknahme der unsinni-
zentuierung‹ des Figurenbewusstseins (Bar- gen Anordnung Kreons könne der Frevel be-
ner, S. 197), ist gerade hier nicht restlos er- hoben und weiterer Schaden von der Stadt
folgt, sondern lässt noch Spuren mythischer abgewendet werden. Kreons Antwort offen-
Vorstellungen erkennen, weil sich Antigone, bart seinen Starrsinn. Er bekräftigt sein Verbot
»noch im Dialog mit den Alten, in die Reihe und verbindet seine Weigerung zum Widerruf
der mythischen Opfer« stellt (ebd.).
Der Seher als Politiker / Vergleichende Szenenanalyse 537

mit einer Beleidigung des Sehers, den er der Der Auftritt des Sehers erfolgt bei B. im
Bestechlichkeit bezichtigt. Seine Hybris gip- prekären Zeitpunkt des beginnenden Bacchus-
felt in einer Blasphemie gegenüber den Göt- fests. Seine Rede gilt neben Kreon, mit dem
tern. Dieser Herausforderung begegnet der ihn als ›ideologischem Handlanger‹ eine Kom-
Seher mit der Weissagung, welche die Strafe plizenschaft verbindet, in der keiner dem an-
für Kreons Frevel verkündet, das Entsetzen deren traut, auch dem Kollektiv der Alten,
der Hörer auslöst und sich alsbald vollzieht: welche die wahren Herrscher der Stadt sind.
Kreons Anordnung, Antigone zu befreien, er- Dadurch, dass Tiresias nicht nur den Herr-
folgt zu spät. Antigone hat sich im Grabge- scher, sondern auch den Knaben und die Alten
wölbe erhängt, Haimon tötet sich in Gegen- direkt anspricht und durch Anspielung (»Und
wart seines Vaters, Haimons verzweifelte Mut- es folgt dem Blinden …«; GBA 8, S. 229)
ter Eurydike folgt dem Sohn in den Tod. Kreon Kreon isoliert, ändert sich die Szene grund-
beklagt verzweifelt das Schicksal, das ihn ge- legend: Tiresias ist nicht, wie bei Sophokles,
troffen hat, und der Chor preist abschließend eine übergeordnete Instanz, er gehört zu den
die Einsicht als das höchste Ziel des mensch- Herrschenden, partizipiert an Gewinn und
lichen Lebens. Verlust, ist in den drohenden Zusammenbruch
Tiresias ist bei Sophokles eine integre Figur, involviert. Seine Fragen nach dem Stand der
eine Autorität. Seine Rede ist glaubwürdig und Kriegshandlungen signalisieren, dass er
verfehlt selbst auf Kreon im Zustand der Ver- Kreons ideologischen Nebel und die verfrühte
blendung ihre Wirkung nicht. Zwar wird Tire- Eröffnung des Bacchusfestes als Ablenkungs-
sias durch Kreon verdächtigt, er wahrt jedoch manöver durchschaut, so wie umgekehrt
seine Würde und behauptet seinen Standpunkt Kreon den Bericht über die Opferzeremonie
unbeirrt auch angesichts der offenen Drohung, als Manipulation abtut: »Deine Vögel, Alter /
mit der Kreon auf den wohlmeinenden Rat zur Fliegen dir schön. Ich weiß das. Flogen sie /
Umkehr reagiert. Die Funktion des Sehers be- Doch auch für mich!« (GBA 8, S. 230)
steht vor allem darin, Kreon in seiner Verblen- Die Szene konfrontiert Kreons hybriden
dung auszustellen, die Gefährlichkeit seines Übermut und Tiresias’ Rationalität. Anders als
Starrsinns und die Fallhöhe zu demonstrieren, bei Sophokles herrscht hier von vornherein
die der Tyrann erreicht hat. Dadurch wird der Misstrauen und Dissens: Kreon inszeniert sich
von Hegel angeregten Interpretation des tragi- als Clown. Er verspottet den Blinden durch
schen Konflikts, der in der Konfrontation Pantomime, um seine Autorität bei den Alten
zweier gleich substanzieller Rechte in der zu untergraben. Da Tiresias mit der Anspie-
Konfiguration Kreons und Antigones zu erken- lung auf den Krieg den Spott pariert – »Und es
nen sei, die Grundlage entzogen: »Sophokles folgt / Der Blinde dem Sehenden, aber dem
läßt in Wahrheit keinen Zweifel daran, daß Blinden / Folgt ein Blinderer« (GBA 8,
Kreon ein Frevler ist. Das verkündet nicht nur S. 229) –, erkennt Kreon die Wirkungslosig-
der Seher Tiresias, sondern das zeigt auch der keit seiner Strategie und spricht die Drohung
Ablauf der schrecklichen Ereignisse« (Hübner, aus, die jedoch nicht verfängt. Tiresias hat
S. 208 f.). Kreon in der Hand. Da dieser ihm die Se-
Erscheint der Seher mithin als ›Sprachrohr‹ hergabe bestreitet, die Weissagung als faulen
des Autors, so hat der Status der Figur sich bei Zauber abtut, den Vorwurf der Bestechlichkeit
B. gewandelt. Tiresias hat Kreon ins Amt ge- offen ausspricht und mit der Drohung für Leib
bracht. Der Seher und seine Orakel sind daher und Leben die Konfrontation sucht, wählt Ti-
willkommen, solange sie den Interessen resias die für Kreon gefährliche Rolle des Be-
Kreons dienen. Erst als Tiresias zum Kritiker obachters, der Vergangenheit und Gegenwart
wird, der die Gefahr erkennt und vor dem vergleichend aufeinander bezieht und auf die
heraufziehenden Unheil warnt, wendet sich Zukunft hin projiziert. »Da ich, wie du mir
Kreon gegen ihn und versucht, ihn einzu- sagst, nichts weiß / Muß unsereiner fragen. Da
schüchtern. ich ins Zukünftige / Wie du mir sagst, nicht
538 Die Antigone des Sophokles

schauen kann, muß ich / Ins Jetzige und Ver- ter: ›Doch in dem Grabe berget ihr nicht je-
gangne sehn und bleib / In meiner Kunst so nen, / Nicht, wenn der Donnervogel zuckend
und ein Seher.« (S. 231) Tiresias ist Empiriker: ihn, / Vor Gottes Thron als Speise tragen
er beobachtet Fakten, reflektiert Gerüchte und wollte.‹« (Schadewaldt, S. 104). Kreon ent-
leitet aus deren Analyse die Prognose ab, dass kräftet Tiresias’ Warnung mit dem wirkungs-
der Untergang Thebens besiegelt ist, weil die geschichtlich bedeutsamen Argument, Men-
Ressourcen erschöpft sind, die Führung zer- schen seien gar nicht fähig, die Götter zu
stritten ist, der Feind seine Kräfte gesammelt beflecken, daher habe er keine Scheu vor Be-
hat und der Widerstand im eigenen Volk in- fleckung: »Denn ich weiß es gut; / Die Götter
folge übergroßer Härte die Abwehrkräfte zer- zu beflecken, das vermag kein Mensch« (S. 48;
splittert und geschwächt ist. Da Kreon die Ant- in der Übersetzung Donners: »Die Götter, ja /
wort auf die Fragen schuldig bleibt und aus- Das weiß ich kann doch nimmermehr ein
weicht, formuliert der Seher die vernichtende Mensch entweih’n«; Donner, S. 241). Der Re-
Antwort selbst. Sie lautet: »Mißwirtschaft kurs auf das im Mythos wirksame Prinzip des
schreit nach Großen, findet keine. / Krieg geht Polytheismus, in dem »ein Gott immer nur
aus sich heraus und bricht das Bein. / Raub wiederum durch einen Gott« (Blumenberg,
kommt von Raub und Härte brauchet Härte / S. 597) eingeschränkt werden kann, das stän-
Und mehr braucht mehr und wird am End zu dige »Aufgebot von Gott gegen Gott« (ebd.)
nichts. / Und hab ich so zurückgeschaut und gebraucht ein aufgeklärtes Argument: es
um mich / Schaut ihr voraus und schaudert.« schränkt den Menschen ein, aber es entlastet
(S. 232) ihn zugleich durch »Entängstigung« (ebd.).
Das Fazit leistet die Demonstration der poli- Kreons »Machtwort« (S. 598), das im Rahmen
tische Kausalität im Sinne des von B. exponier- einer traditionellen Auffassung des Mythos
ten Erkenntnisgegenstands der Zurückfüh- zweideutig erscheint – es kann fromme Unter-
rung der Grausamkeit auf die Dummheit. Die werfung oder Emanzipation bedeuten –, ist
Wandlung des Sehers von einem Deutenden in hier in der Verbindung mit der ausgesproche-
einen Fragenden bedeutet Rollentausch. Tire- nen Blasphemie aber eindeutig Ausdruck der
sias’ offensive Fragen in Gegenwart der Alten Hybris.
drängen Kreon in die Defensive, da er die B. hat die Rede Kreons um das blasphemi-
Antworten schuldig bleiben muss. sche Motiv gekürzt und, Hölderlin folgend,
Bei Sophokles wie bei B. macht Kreons den Kontext säkularisiert. Sophokles’ ›beflek-
Starrsinn den tragischen Ausgang irreversibel, ken‹, ›schänden‹ (Marbach), ›entweihen‹
doch im einen Fall ist die starrsinnige Haltung (Donner) übersetzt Hölderlin mit ›anregen‹
Ausdruck der Verblendung (vgl. Schadewaldt, (›anregen‹ heißt in der schwäbischen Mundart
S. 101), im anderen Fall Ausdruck einer fehl- soviel wie ›berühren‹; vgl. Schmidt, S. 1450):
geleiteten, pervertierten Aufklärung, die in »Gott regt kein Mensch an, dieses weiß ich«
der Verbindung von Grausamkeit und Dumm- (Hölderlin, S. 249). Die religiöse Bedeutung
heit zu einer Fehleinschätzung der Lage füh- ist also säkularisiert, die Hierarchie Gott-
ren, so dass Tiresias Kreon vorwerfen kann: Mensch aber betont. B. hat den Wortlaut über-
»Was ist’s, das du gemacht hast, Törichts oder nommen, aber syntaktisch verändert »Kein
Übles / Daß du jetzt Übles machen mußt und Mensch regt Götter an, das weiß ich.« (GBA 8,
Törichts weiter?« (GBA 8, S. 232) S. 230) Zugleich hat er aber hinter Hölderlin
Tiresias’ Bericht, sein Hinweis auf das Sa- zurückgehend das alte polytheistische Argu-
krileg und seine Mahnung, das Verbot aufzu- ment wieder aufgenommen. Durch diese Ver-
heben, stoßen, hier wie dort, auf taube Ohren. änderung wird auch eine Säkularisation des
Bei Sophokles beharrt Kreon auf dem Verbot Konfliktschemas Frevel/Sühne bewirkt: Die
im Kontext einer religiöser Argumentation. Sphären des Göttlichen und des Menschlichen
»Er erhebt sich in letzter eigensinnigster Ver- sind geschiedene Bereiche. In der Bearbeitung
steifung gar bis zur Blasphemie gegen die Göt- spricht ein aufgeklärter Tyrann, dem in einer
Der Seher als Politiker / Vergleichende Szenenanalyse 539

entgöttlichten Welt nicht die himmlischen, B. demonstriert an der zum Zweck der Ab-
sondern nur (noch) die irdischen Mächte ge- lenkung betriebenen zynischen Instrumentali-
fährlich und zum Verhängnis werden können, sierung und Manipulation des Kults um den
weil die von ihm selbst heraufbeschworene ›Freudengott‹ durch Kreon sowohl die
Situation ihm über den Kopf gewachsen ist. Aspekte des ›Barbarischen‹ und des ›Theatra-
Die von Antigone in ihrer letzten Rede an die lischen‹ als auch die Täuschungsanfälligkeit
Bürger der Vaterstadt gerichtete Botschaft des Chors, der sich noch im Augenblick des
bringt diese Erkenntnis auf den Begriff, dass Zusammenbruchs an den Freudengott klam-
›das Schicksal des Menschen der Mensch‹ ist mert. B. lässt die Inszenierung des Bacchus-
(GBA 3, S. 313). Mit dieser Erkenntnis lässt Fests zeitlich parallel zur Vollstreckung des
sich B. durchaus im Sinn der von Max Hork- Urteils an Antigone vollziehen und macht da-
heimer und Theodor W. Adorno entdeckten durch »die wirkende Realität des ›Barbari-
Dialektik der Aufklärung und der von ihrer schen‹ sichtbar«, analog »zur Behandlung des
Kritik des instrumentellen Denkens angereg- Totenkults« (Barner, S. 199) und zur Situie-
ten Arbeit am Mythos (Blumenberg) einer Tra- rung des Spiels zwischen die Skelett-Pfähle.
dition zuordnen, die den Zusammenhang von Gegen dieses Verfahren B.s haben vor allen
Mythos und Geschichte reflektiert und radi- Dingen Vertreter der klassischen Philologie
kale Formen der Entmythisierung als ›Terror‹ kritische Einwände vorgebracht (Rösler; Flas-
begreift. Hier hatten neuere Untersuchungen har).
der Antigone B.s ansetzen können (vgl. Bar- Die theatralische Gegenwärtigkeit des Bar-
ner; Frick). barischen demonstriert B. am Schauplatz, am
Barners Beobachtung, das B.s Konzept bei Totenkult und am Bacchus-Kult. Letzterer ist
der Durchrationalisierung des Mythos einer- für B. aber auch ›Beweis‹ dafür »daß die ›Fa-
seits keine mechanische Beseitigung mythi- bel‹ des klassischen griechischen Stücks […]
scher Zusammenhänge in der Fabelführung im Volk verwurzelt sei« (Barner, S. 201). In
und in der Figurengestaltung realisiert, an- diesem Zusammenhang verweist Barner auf
dererseits aus dramaturgischen und ästheti- die aktuelle Mythos-Diskussion, die den Blick
schen Gründen die sinnliche Qualität von Ele- auch für die ideologiegeschichtliche Tatsache
menten des Mythos ausspielt, stützt sich vor geschärft hat, dass in der Reaktion auf die
allem auf die Wahrnehmung des Bacchus- Usurpation des Mythos während der faschisti-
Kults und seiner Funktion. In der Gestaltung schen Diktatur und seiner Instrumentalisie-
des Themas geht B. über Sophokles’ marginale rung zum Massenbetrug von ganz unterschied-
Erwähnung der lokalen Gottheit und Hölder- lichen Kräften des Widerstandes – Barner
lins Verständnis der Dionysos-Gestalt hinaus. nennt u. a. Ernst Bloch, Ernst Cassirer, Hork-
Hölderlin hat sich in seiner Antigonä-Über- heimer, Adorno – am Mythos als an einem
setzung, abweichend vom Original, auf die Ge- »Humanum« festgehalten werde: »Brechts
stalt des Dionysos / Bacchus bezogen, der ein- Entscheidung für die Bearbeitung des griechi-
gangs des fünften Akts im Chor der Thebani- schen Antigone-Mythos […] partizipiert auch
schen Alten als »Chorführer der Gestirne« und an dieser Tendenz« (ebd.). Das Modell nehme
»geheimer Redenbewahrer« apostrophiert den Mythos »in seiner Wirksamkeit ernst,
wird. Er denkt »an den Dionysos der Eleusini- auch in seiner religiös-kultischen. […]
schen Mysterien, deren Geheimnis zu bewah- Brechts theatralische Antigone-Welt, mit ihrer
ren religiöse Pflicht war« (Schmidt, S. 1458). ›barbarisch-schreckenden Realität, ihrem To-
Das letzte Chorlied besingt den Dionysos, der tenkult, ihrer mächtig wirksamen Bacchus-
in Theben seine Heimat hat, unter Anspielung Verehrung, ist eine […] Welt, deren Gesetzen
auf die Eleusinischen Mysterien. Es wird von die Handelnden strikt unterliegen, auch Anti-
Manfred Frank auf den in der Elegie Brot und gone, die gerade ihrer ›heiligen‹ Pflicht und
Wein thematisierten Kontext der Vorstellungen nicht der ›Satzung‹ des Kreon folgt.«
vom ›kommenden Gott‹ bezogen (Frank, (S. 201 f.)
S. 316).
540 Die Antigone des Sophokles

Gegen die pointierte These Barners, die der troffen und vernichtet« werde, »dessen Gel-
Einseitigkeit in den früheren Darstellungen tung er bestritten hatte« (nämlich durch die
des Verfahrens der Durchrationalisierung wi- Katastrophe der Vernichtung seiner ganzen Fa-
derspricht, hat zuletzt Frick Vorbehalte ange- milie), stelle sich angesichts der Bearbeitung
meldet. Im Schlussabschnitt einer engagierten die Frage, ob die »entsprechenden Zusammen-
und differenzierten Analyse der Antigone-Be- hänge bei Brecht […] überhaupt noch« be-
arbeitung annonciert er unter dem Titel Mar- stünden (ebd.). Die Frage zielt auf den Status
xismus versus Moira: Eliminierung des der Figuren, ihre Stellung als Subjekte in »die-
Schicksals »Schwierigkeiten mit Antigone« ser ›durchrationalisierten‹ Welt objektiver
(Frick, S. 542). Unter Bezugnahme auf Barners Bedingungen« (ebd.). Mit Einschluss des Dik-
Behauptung, Antigones zentrales Handlungs- tators wirkten die Figuren »eher als austausch-
motiv sei »sakral, nicht humanistisch« (Barner, bare Exponenten unpersönlicher Machtkon-
S. 203), B.s »Durchrationalisierung des My- stellationen […] denn als je bestimmte
thos« habe »den Kern der Tat Antigones nicht Individuen« (ebd.), eine Sichtweise, die Wolf-
ummotivieren [können], auch nicht ihr reli- gang Röslers kritischen Einwand, Sophokles’
giös-kultisches Bedingungsfeld« (Barner, »Figuren« seien »nicht Marionetten«, die erst
S. 204; vgl. Frick, S. 546), insistiert Frick auf bei B. zu »selbstverantwortlich handelnden
der Tatsache, dass »aus der säkularisierenden Personen« verwandelt würden (Rösler, S. 56),
Revision der ›Fabel‹ mit der starken Akzentu- radikalisiert. Die Frage, »welche Bedeutung
ierung des neuen politisch-ökonomischen beim Untergang eines diktatorischen Regimes
Rahmengeschehens« (Frick, S. 545) dreierlei hier […] der Einzelfigur der Antigone noch
resultiere: Erstens würden die »wirksamen zukomme« (Frick, S. 547), werde durch B.
Geschichtsfaktoren […] zur Geltung« ge- nicht beantwortet. Die von Frick an allen Bear-
bracht, zweitens werde der Glaube an die beitungen B.s konstatierte Ambivalenz der
Wirksamkeit »numinoser göttlicher Mächte Prätext-Beurteilungen zeige sich an der »Rela-
und Gewalten« als Ideologie entlarvt, dies tivierung […] auch der Antigone-Handlung«
drittens zum Zweck, diesem Glauben ein (S. 550), die »zur Episode unter Episoden her-
»neues, aufgeklärtes Verständnis menschlicher abgestuft« werde (ebd.), so wie auch die ur-
Autonomie« zu substituieren (ebd.). Trotz die- sprünglich als »charismatische Einzelfigur«
ser »Reduktion des Geschichtsmodells auf (ebd.) in Erscheinung tretende Protagonistin
eine plane und ›geheimnislose‹ Funktionslo- relativiert und erst »sehr spät« (S. 551) von
gik« (ebd.), sei es aber »unübersehbar, daß es einer »Überläuferin« (ebd.) buchstäblich zu ei-
innerhalb dieser eindimensionalen ›realisti- ner »Mitläuferin« (ebd.) werde, »zur periphe-
schen‹ Wirklichkeitskonzeption zu Spannun- ren, akzidentiellen Figur in einem Szenarium,
gen und Ambivalenzen« komme (S. 546). das schon deshalb ohne sie auskäme, weil
Diese resultierten aus der »Schwierigkeit […], seine maßgeblichen Träger nicht länger Perso-
den Kernbereich des tradierten Antigone-My- nen, Individuen, Protagonisten sind […], son-
thos, also das Geschehen um den singulären dern Staaten, Klassen, abstrakte Macht- und
Widerstand der Protagonistin und um ihre Wirtschaftsinteressen« (ebd.). Diese »kalku-
kompromißlose Treue […], mit der stark in lierte Anonymisierung der tragenden Konstel-
den Vordergrund gerückten Rahmen- und Er- lationen« verwandle die im Hegel‘schen Sinne
weiterungshandlung um den argivischen Erz- verstandene Tragödie zum »politischen Lehr-
krieg und den Klassenkampf in Theben zu ver- stück über geschichtliche Macht- und Gewalt-
mitteln und beides in einen stringenten Be- verhältnisse« (ebd.), das zwar den Anspruch
gründungszusammenhang bringen« (S. 545 f.). vertrete, die Figuren mittels Destruktion der
Im Vergleich mit Sophokles’ Antigone, in Moira von schicksalhafter Determination zu
deren Dramaturgie nach dem Prinzip der ›iro- befreien und zu selbstverantwortlichen Sub-
nic reversal‹ der Repräsentant des »absoluten jekten zu emanzipieren, aber mit der »Herr-
Staatsprinzips […] genau in dem Punkt ge- schaftslogik gesellschaftlicher Mechanismen
Der Seher als Politiker / Vergleichende Szenenanalyse 541

und ökonomischer Zwänge neue umfassende […] hier nicht bedient werden« sollten (GBA
Determinanten einführt, die den Freiheits- 25, S. 75). Die klassische Philologie (Rösler;
spielraum der Figuren nicht minder drastisch Flashar) verwahrt sich unter dem Beifall lite-
beschränken, ja, ihn einer Art von marxistisch raturwissenschaftlicher Interpreten (Wittkow-
säkularisierter ›Moira‹ unterwerfen« (ebd.). ski; Frick) gegen kulturhistorische ›Fehldeu-
Im Zusammenhang dieser Argumentation tungen‹ und spekuliert über deren Folgen für
ist freilich an Friedrich Dürrenmatts ideolo- die Rezeption (Affekt gegen Bevormundung).
gisch unverdächtige Behauptung zu erinnern, Die Publizistik (Walser) nimmt Anstoß an der
dass die für die Tragödien konstitutiven Mo- ideologiekritischen Beschädigung der Verkör-
mente angesichts des erreichten Weltzustan- perung wahrer Humanität. Die neuere Litera-
des hinfällig, die Tragödienform mithin ob- turwissenschaft zeigt sich befremdet durch B.s
solet geworden sei: »Die Tragödie setzt »paradox anmutende Kontamination von Eso-
Schuld, Maß, Übersicht, Verantwortung vor- terik und Volksgestus« (Frick, S. 512) und
aus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in sucht nach Erklärungen für die Wahl und die
diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es ›virtuose‹ Imitation der »hermetischen
keine Schuldigen und auch keine Verantwortli- Sprachform« Hölderlins (ebd.), die dem Ratio-
chen mehr. Alle können nichts dafür und ha- nalisierungsanspruch der Bearbeitungen wi-
ben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne derspreche. Die Begründung und Auflösung
jeden […]. Schuld gibt es nur noch als persön- dieses Paradoxes in einem »zweifachen ästhe-
liche Leistung, als religiöse Tat. Uns kommt tischen und weltanschaulichen Kalkül« (ebd.)
nur noch die Komödie bei.« (Dürrenmatt, leitet über zur Frage, »ob und mit welchen
S. 62) Die Bedingungen, unter denen die Sub- Mitteln dieser Welt einer zu voller (Selbst-
stanzialität von »Formbegriffen« (ebd.) be- )Transparenz gebrachten materialistischen
hauptet werden kann, weil diese auf Ordnun- Gewalt- und Herrschaftslogik ein Rest von
gen und Systeme verweisen, die autonomes ›tragischer‹ Dignität erhalten werden konnte«
Handeln beglaubigen, sind nicht mehr gege- (S. 513). In diesem Punkt scheiden sich in-
ben. Die Transparenz individuellen Handelns dessen die Geister, wie sich bereits an den
wurde von der Anonymität kollektiver Pro- Rezeptionszeugnissen belegen lässt, welche
zesse verdrängt: »Die echten Repräsentanten die Publikumsreaktionen der Aufführungen in
fehlen, und die tragischen Helden sind ohne Chur und Greiz dokumentieren.
Namen. […] Die Kunst dringt nur noch bis zu Das Presse-Echo auf die Uraufführung in
den Opfern vor, dringt sie überhaupt zum Chur (Premiere: 15. 2. 1948), der noch eine
Menschen, die Mächtigen erreicht sie nicht Gastspiel-Matinee in Zürich folgte (14. 3.
mehr. Kreons Sekretäre erledigen den Fall An- 1948), spiegelt mit einigen Ausnahmen die
tigone.« (S. 60) Ratlosigkeit der Kritik, die aufgrund der zuvor
geleisteten Aufklärungsarbeit (vgl. Helene
Weigel im Gespräch mit Hecht in: Hecht,
S. 182 f.) B.s Bearbeitung und seiner Regie-
Rezeption arbeit aufgeschlossen und erwartungsvoll ent-
gegen sah. Bezüglich der aktualisierenden
Tendenzen akzeptierten die Kritiker im Hori-
Die Bühnenwirksamkeit von B.s Antigone zont anderer Dramatisierungen des Antigone-
scheint vorerst erloschen, zumindest aber un- Stoffs die durch das Vorspiel betonte Parallele
terbrochen zu sein. Neuere Aufführungen sind der Kreon-Figur mit Hitler aus der zeitge-
über die von Hecht bis 1986 verzeichneten schichtlichen Erfahrung, beanstandeten aber
nicht nachgewiesen (Hecht, S. 302–305). B.s die zu weit gehende Veränderung der Fabel-
Antigone-Bearbeitung beschäftigt jedoch nach führung. Insgesamt nahmen die Kritiker kaum
wie vor die Philologen, unbeschadet der Tat- Anstoß an der neuartigen, aber als zu karg
sache, dass deren »philologische Interessen empfundenen Bühneneinrichtung Nehers und
542 Die Antigone des Sophokles

deren experimentellem Anspruch, auch nicht S. 205). Snell vergleicht B.s Bearbeitungen,
an der Besetzung der Titelrolle mit einer ge- wohl in Kenntnis der Theorie des epischen
reiften Darstellerin, deren humanitärer Auf- Theaters, mit anderen Texten moderner Dra-
trag mit ihrem fortgeschrittenen Alter verein- matiker antiker Stoffe (Hauptmann, O’Neill,
bar sei, und ihrem Zusammenspiel mit einem Giraudoux, Anouilh) und betont die Differenz
eher jugendlichen Kreon. Die Zweifel galten von B.s Verfahrensweise, die sich gerade nicht
vielmehr der Bearbeitung selbst. Die Kritiker durch »psychologische Ausdeutung und Diffe-
diskutierten die Legitimation einer als radikal renzierung« der Charaktere auszeichne (ebd.).
empfundenen Klassiker-Bearbeitung, die B. entwickle vielmehr die Handlung »aus einer
Wahl der als ›schwierig‹ bezeichneten Über- Art soziologischem Gesetz« (S. 206), dem von
setzung Hölderlins, die Verständnisprobleme Brecht demonstrierten Mechanismus, in dem
aufwerfe, die als symbolisch bezeichneten »unechte Macht« (ebd.) sich nur durch Grau-
Bühnenvorgänge, die das Publikum überfor- samkeit zu behaupten vermöge. Darin erkennt
derten, und die Textgestalt, »die ein despek- Snell bei aller Verschiedenheit einer dramati-
tierliches, aber geistvolles und bildkräftiges schen Gestaltung des Mythos und der davon
Mischmasch aus Sophokles, Hölderlin und na- abweichenden Fabelführung der Bearbeitung
hezu zwei Dritteln Brecht« sei (C. S., S. 204). ein Gemeinsames des antiken Dichters und
Die lokale Presse blieb hinter derartigen Be- des modernen Bearbeiters, weil sie das Han-
wertungen kaum zurück. Man bemängelte deln nicht aus individuellen Charakteren, son-
hier, dass eine zu erwartende Synthese von dern aus ihnen übergeordneten Gesetzmäßig-
Original und Bearbeitung nicht zustande ge- keiten motivieren. Allerdings wirft auch Snell
kommen sei (Be., S. 198), und betonte in die- die Frage nach der überzeitlichen Gültigkeit
sem Zusammenhang die überzeitliche Gültig- des humanitären Leitbilds auf: »Mag das Gute
keit des antiken Textes, der einer aktualisie- in der Welt sich auch nur in der Form leicht
renden Bearbeitung im Grunde nicht bedürfe, durchschaubarer Ideologien darstellen – ist es
ein Argument, das sich leitmotivisch durch die darum nichts als Ideologie?« (S. 207) Snell be-
zeitgenössische Kritik zog. zeichnet B.s Antigone als ein »moralisches
Diese Einstellung scheint auch 1989 noch Stück« (ebd.) und löst mit dieser Bewertung
nicht überholt, wie der Vergleich kritischer die Befürchtungen ein, die der Stückeschrei-
Äußerungen Martin Walsers gegenüber B.s ber bezüglich der Rezeption seiner Bearbei-
Bearbeitung zeigt: »Wir müssen Sophokles tung nicht zu Unrecht hegte.
nicht mit unseren Motiven impfen, um ihn für Die Aufführung der Antigone am Stadtthea-
uns brauchbar zu machen. Wir müssen auch ter in Greiz (Premiere: 18. 11. 1951) wurde auf
Hölderlin nicht aktuell aufladen, um ihn zum der Grundlage der vom Modellbuch vorgege-
Zeitgenossen zu machen. Das Sophokleische benen Spielweise realisiert. Zuvor hatte be-
Beispiel ist immer noch von erhabener reits Paul Rilla in einem Aufsatz Bühnenstück
Schärfe, und Hölderlins Ton ist sowieso der und Bühnenmodell von 1950 auf die Einzig-
innigschönste, der in der deutschen Sprache artigkeit dieses Konzepts und seine Leistungs-
bisher erreicht wurde. […] Die Aktualisierung fähigkeit hingewiesen und in diesem Zusam-
– 1948 scheint sie offenbar geboten. Bei Brecht menhang auch die Bedeutung der Antigone-
wird Kreon Hitler.« (Walser/Selge, S. 11 f.) Bearbeitung im Rahmen der Theatertheorie
Von der Folie der zeitgenössischen Kritiken B.s und die besondere Form der dialektischen
zur Uraufführung hebt sich die Würdigung des Erkenntnisvermittlung betont: »Indem [das
klassischen Philologen Bruno Snell deutlich Modell] im Bilde zeigt und im Text erklärt, mit
ab. Wie die Mehrzahl der Rezensenten betont welchen Mitteln und Absichten die Auffüh-
auch Snell einleitend, dass durch B.s »Ein- rung eines Dramas zustande kommt, das eine
griff« in den Aufbau der Handlung bei So- gesellschaftliche Fabel erzählt, räumt es die
phokles und in die »Hölderlinsche Diktion« Bühne aus von allen Mystifikationen eines Ku-
eine »neue Antigone entstanden« sei (Snell, lissenzaubers und fegt sie blank für den Ein-
Rezeption 543

blick in ihre rationale gesellschaftliche Be- schwieriges Stück« durchgesetzt habe. Das
stimmung.« (Rilla, S. 232) Rilla bezeichnet Werk erscheine »heute gültiger als jemals«:
durchaus in Übereinstimmung mit den Kriti- »Diesmal höre und sehe ich hinter den Worten
kern der Uraufführung in Chur die Bearbei- und Auftritten Vietnam, Pakistan und Indien.
tung als »Um- und Neudichtung«, welche die Ohne direkten oder ausgesprochenen Bezug,
Absicht verfolge, »aus der mystischen und my- aber aus der hintergründigen, Situationen und
thologischen Lesart die gesellschaftliche Fabel Gefahren aufreißenden Sprache.« (Ihering,
herauszubuchstabieren« (S. 234). S. 278) Die Aufführung des Living Theatre
Die Rezensionen der deutschen Erstauffüh- vom 18. 2. 1967 hat Henning Rischbieter in
rung in Greiz betonten ganz im Sinn der Aus- Theater heute besprochen und dokumentiert.
führungen Rillas den Charakter der Durch- Die von Gerhard F. Hering am 25. 5. 1968 am
rationalisierung und erörterten in diesem Zu- Landestheater Darmstadt realisierte Auffüh-
sammenhang das Resultat einer Arbeit mit rung wurde von Georg Hensel in Theater heute
Modellen, die als außerordentlich positiv be- unter dem Titel Sophokles, Hölderlin oder
wertet wurde. Die tragische Kollision, »die Brecht? besprochen und als unorthodoxe Re-
Sophokles noch als ewige der Menschheit auf- giekonzeption gewürdigt (vgl. Hensel, S. 27).
oktroyierte Schicksalsmächte ansah, [und die]
bei Brecht in gesellschaftliche, historische
Prozesse verwandelt werden« (Rühle, S. 219), Literatur:
versetze das Publikum in die Lage, diese Pro-
zesse kritisch zu beobachten und gemäß der Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik
der Aufklärung (= Theodor W. Adorno: Gesammelte
Intention B.s, die Haltung des Volkes einzu-
Schriften. Bd. 3). Frankfurt a. M. 1969. – Barner,
nehmen, »das dem Zerwürfnis der Herrschen- Wilfried: ›Durchrationalisierung‹ des Mythos? Zu
den zusieht«, wie Rühle B. zitiert (ebd.). Auch Bertolt Brechts ›Antigone-Modell 1948‹. In: Lütze-
J. Weinert betonte in einer ausführlichen Be- ler, Paul Michael (Hg.): Zeitgenossenschaft. Studien
sprechungen diesen wirkungsgeschichtlich zur deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert.
bedeutsamen Aspekt (Weinert, S. 223). In ei- Fs. für Egon Schwarz. Frankfurt a. M. 1987, S. 191–
210. – Be.: Antigone, ein Trauerspiel von Sophokles.
nem Folgebeitrag betonte er die Nützlichkeit
Uraufgeführt zu Athen im Jahre 442 v. Chr. In: Hecht,
des Modells, das die Theaterschaffenden zu S. 195–198. – Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos.
einer produktiven kollektiven Leistung ver- 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1981. – C. S.: Eine »Anti-
anlasse (S. 224). gone« Bert Brechts (Zur Uraufführung am Stadtthea-
Anders als bei der Uraufführung in Chur ter in Chur). In: Hecht, S. 203–205. – Domdey,
wurde bei den Rezensenten der Aufführung in Horst: Brecht, Heiner Müller und Antigone. In:
Delabar, Walter/Döring, Jörg (Hg.): Bertolt Brecht
Greiz Brechts ›Umwandlung‹ des antiken Dra-
(1898–1956). Berlin 1998, S. 341–353. – Donner,
mas nicht in Frage gestellt, sondern ausdrück- J.J.C.: Sophokles. Deutsch, in den Versmaßen der
lich aus dem überzeitlichen, doch zugleich Urschrift. Antigone. 7. Aufl. Leipzig und Heidelberg
höchst aktuellen »Recht auf Menschlichkeit« 1873, S. 193–272. – Dürrenmatt, Friedrich: Theater.
(Rühle, S. 222) gerechtfertigt. Essays, Gedichte und Reden. Zürich 1980. – Flashar,
Hecht verzeichnet von 1948 bis 1986 annä- Hellmut: Inszenierung der Antike. Das griechische
Drama auf der Bühne der Neuzeit 1585–1990. Mün-
hernd 50 Inszenierungen (Hecht, S. 302–305),
chen 1991. – Frank, Manfred: Der kommende Gott.
unter denen der hohe Anteil von Studioauf- Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt
führungen auffällt. Claus Peymann inszenierte a. M. 1982. – Frick, Werner: ›Moira‹ und Marxis-
das Antigonemodell am 9. 7. 1963 an der Stu- mus: Episierung und ›Durchrationalisierung‹ in
diobühne an der Hamburger Universität und Bertolt Brechts »Antigonemodell 1948«. In: Ders.:
am 28. 9. 1965 an der Schaubühne am Halle- ›Die mythische Methode‹. Komparatistische Studien
zur Transformation der griechischen Tragödie im
schen Ufer Berlin. Am 25. 5. 1966 brachte Pey-
Drama der klassischen Moderne. Tübingen 1998,
mann das Antigonemodell im Theater am S. 481–551. – Hecht, Werner (Hg.): Brechts Anti-
Turm (Frankfurt a. M.) erneut zur Aufführung. gone des Sophokles. Frankfurt a. M. 1965. – Hensel,
Ihering lobte die Inszenierung, die »ein Georg: Sophokles, Hölderlin oder Brecht? ›Antigo-
544 Die Antigone des Sophokles

nemodell‹ in Darmstadt. In: Theater heute (1968),


H. 8, S. 26–27. – Hölderlin, Friedrich: Antigonä. In: Die Tage der Kommune
Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 5. Hg. v. Friedrich
Beissner. Stuttgart 1952, S. 203–262. – Ders.: An-
merkungen zur Antigonä. In: Ders: Sämtliche
Werke. Bd. 5. Hg. v. Friedrich Beissner. Stuttgart Entstehung
1952, S. 265–272. – Ders.: Hyperion, Empedokles,
Aufsätze, Übersetzungen (= Sämtliche Werke und
Briefe. Bd. 2.) Hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt a. M. Das Stück wurde während B.s Aufenthalt in
1994. – Hösle, Vittorio: Die Vollendung der Tragödie
Zürich zwischen März und Mai 1949 konzi-
im Spätwerk des Sophokles. Stuttgart 1984. – Hüb-
ner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos. München 1985. piert und niedergeschrieben. Es war Bestand-
– Ihering, Herbert: Bert Brecht hat das dichterische teil einer umfassenden Planung für die Berli-
Antlitz Deutschlands verändert. Gesammelte Kriti- ner Theaterarbeit. Nach dem großen Erfolg
ken zum Theater Brechts. Hg. v. Klaus Völker. Mün- der Inszenierung von Mutter Courage und ihre
chen 1980. – Jens, Walter: Antigones letzte Rede – Kinder im Januar 1949 bemühte sich B. mit
Rückkehr. In: Hinck, Walter (Hg.): Ausgewählte Ge-
Nachdruck um die Gründung eines eigenen
dichte Brechts mit Interpretationen. Frankfurt a. M.
1978, S. 110–116. – Lukács, Georg: Der Briefwechsel Ensembles und um die Zuweisung eines eige-
zwischen Schiller und Goethe. In: Ders.: Deutsche nen Theaters in Berlin, wobei er zunächst da-
Literatur in zwei Jahrhunderten (= Werke. Bd. 7). von ausging, dass das von der Volksbühne un-
Neuwied, Berlin 1964, S. 89–124. – Marbach, Os- ter der Intendanz von Fritz Wiesten bespielte
wald: Sophokles: Antigone. 3. Aufl. Leipzig 1868, Theater am Schiffbauerdamm ab Herbst 1949
S. 145–204. – Mittenzwei, Werner: Brechts Verhält-
ganz oder mindestens teilweise zur Verfügung
nis zur Tradition. Berlin 1973. – Pohl, Rainer: Struk-
turelemente und Pathosformen in der Sprache. In: stünde. B. und Helene Weigel, die die Leitung
Hecht, S. 245–260. – Riedel, Volker: Antigone-Re- des Ensembles übernehmen sollte, fanden
zeption in der DDR. In: Hecht, S. 261–275. – Rilla, zwar die Unterstützung der Politfunktionäre
Paul: Bühnenstück und Bühnenmodell. In: Hecht, im ZK der SED (insbesondere die von Wil-
S. 231–235. – Rischbieter, Henning: Gewalt gegen helm Pieck und Otto Grotewohl), waren je-
Gewalt. Das Living Theatre zeigt die ›Antigone‹ des
doch mit dem Misstrauen und der Ablehnung
Sophokles in der Brechtschen Bearbeitung. In:
Theater heute (1967), H. 4, S. 34–36. – Rösler, Wolf- des überwiegenden Teils der Kulturfunktio-
gang: Zweimal ›Antigone‹: Griechische Tragödie näre konfrontiert. Die Ensemblegründung, die
und Episches Theater. In: Der Deutschunterricht im Februar 1949 vorläufig beschlossen und im
(1979), H. 6, S. 42–58. – Rühle, Jürgen: Bertolt April 1949 mit der Zuweisung eines Etats für
Brechts »Antigone«. Deutsche Erstaufführung der ein »Helene-Weigel-Ensemble« realisiert
Modell-Bearbeitung nach Sophokles und Hölderlin.
wurde, beinhaltete daher die Verpflichtung zu
In: Hecht, S. 218–221. – Schadewaldt, Wolfgang: So-
phokles: Antigone. Frankfurt a. M. 1976. – Snell, einem ›fortschrittlichen‹ Spielplan. Schon bei
Bruno: Die ›Antigone‹-Bearbeitung von Bert Brecht der ersten Planung war für die Eröffnung
(Aufführung in Chur). In: Hecht, S. 205–207. – Nordahl Griegs Kommune-Stück Die Nieder-
Trilse, Jochanaan Christoph: Brechts Verständnis lage vorgesehen, das von seiner Thematik her
der Antike. In: Hecht, S. 236–244. – Walser, Martin/ den kulturpolitischen Zielvorstellungen ent-
Selge, Edgar (Hg.): Sophokles: Antigone. Frankfurt
sprach, galt doch die Pariser Commune nach
a. M. 1989. – Weinert, J.: Brechts Antigone-Modell
1948. Deutsche Erstaufführung am Theater in Greiz. der Deutung von Karl Marx und Friedrich En-
In: Hecht, S. 221–223. – Witzmann, Peter: Antike gels und deren nachhaltiger Bekräftigung
Tradition im Werk Bertolt Brechts. 2. Aufl. Berlin durch Lenin als die erste proletarische Revolu-
1965. tion und als frühestes Beispiel für eine rätede-
Jörg Wilhelm Joost mokratische Gesellschaftsorganisation.
B. reiste im Frühjahr 1949 zusammen mit
Ruth Berlau nach Zürich. Die Reise hatte auch
und vor allem den Zweck, die Ensemblegrün-
dung durch die Verpflichtung von Schauspie-
lern und Theaterleuten, die mit seinen Stü-
Entstehung 545

cken und seiner Spielweise vertraut waren, vo- strand hielt er dem norwegischen Autor vor,
ranzubringen. Auf dem Flug nach Zürich las er, dass er die Lehren, die Marx in seinem Bür-
offenbar zum ersten Mal, Griegs Niederlage gerkrieg in Frankreich aus dem Scheitern der
(Bunge, S. 220) und war entsetzt. An Weigel Kommune gewonnen hatte, nicht verstanden
schrieb er in einem Brief vom 25./26. 2. 1949: habe und kritisierte auch seine dramatische
»Ich las jetzt ›Die Niederlage‹, zeig das nie- Verfahrensweise (Bunge, S. 220). Grieg soll
mandem mehr, es ist erstaunlich schlecht, aber angesichts dieser massiven Kritik, deren Be-
man kann es, glaube ich, ändern, ich mache rechtigung er nicht in Frage stellte, regelrecht
viele Notizen. Ich verstehe jedenfalls jetzt En- die Flucht ergriffen haben (Engberg, S. 185).
gels Horror. Jedoch hat das Stück gute Rollen Martner überlieferte seine Äußerung: »Falls
und kann noch bessere kriegen. Den klein- ich noch eine Stunde länger hier bliebe, werde
bürgerlichen Unsinn werde ich eliminieren ich nie wieder schreiben können!« (Brief an
und auch etwas Schwung hineinbringen, mich Siegert, 20. 8. 1979; Siegert 1983a, S. 155)
nur an den Stoff halten.« (GBA 29, S. 501) B. B. schrieb zur gleichen Zeit sein Spanien-
hatte die Regie dem Mitregisseur der Mutter Stück Die Gewehre der Frau Carrar. In einem
Courage-Inszenierung Erich Engel angeboten, auf Bitten von Curt Trepte für eine schwedi-
der sie jedoch strikt ablehnte. Ebenfalls ohne sche Aufführung hinzugefügten Prolog aus
Kenntnis des Textes hatte er auch Erwin Pisca- dem Mai 1939 stellte er einen Zusammenhang
tor für eine Inszenierung zu gewinnen ver- mit den Lehren des Kommune-Aufstands her:
sucht (Brief an Piscator, 9. 2. 1949; S. 497). »die Mächte der Unterdrückung sind auch eine
Griegs Stück (Nederlaget. Et Shuespill om Internationale« (GBA 4, S. 336). Wenn die Be-
Pariser Kommunen, Oslo 1937) war 1937 nach sitzverhältnisse bedroht sind, verbünden sie
der Niederlage der Linken im Spanischen Bür- sich eher mit dem nationalen Gegner oder
gerkrieg, den der norwegische Autor aus eige- nehmen die militärische Niederlage in Kauf,
ner Anschauung erlebt hatte, entstanden und als dass sie mit der Bewaffnung des Volkes das
hatte in Skandinavien beträchtliches Aufsehen Risiko einer sozialen Umwälzung in Kauf neh-
erregt. B. war von dem Journalisten Frederic men. Die gleiche Konstellation hat B. 1943 in
Martner auf Grieg aufmerksam gemacht wor- dem gemeinsam mit Lion Feuchtwanger ver-
den und hatte ihn als Mitglied der von ihm fassten Stück Die Gesichte der Simone Ma-
geplanten Diderot-Gesellschaft vorgesehen chard dargestellt.
(Brief an Piscator, 16. 3. 1937; GBA 29, S. 22). Mit den Lehren der Kommune hatte B. sich
Martner hatte ein Exemplar der Niederlage für schon 1934 beschäftigt. Er schrieb das Gedicht
B.s Sohn Stefan beschafft. Seine Mitarbeiterin Resolution, das er, ebenso wie das zur gleichen
Margarete Steffin übersetzte das Stück, und B. Zeit entstandene Gedicht Keiner oder alle für
setzte sich bei Fritz Erpenbeck für den Druck die Tage der Kommune übernahm (GBA 8,
der Übersetzung in der Moskauer Exilzeit- S. 269 f.; S. 307 f.). Beide Gedichte wurden von
schrift Das Wort ein, deren Mitherausgeber er Hanns Eisler vertont und erstmals in der von
war (Brief an Steffin, 21. 9. 1937; S. 49). In der Ernst Busch herausgegebenen Sammlung Can-
Inszenierung des Stücks am Kopenhagener ciones de Guerra de las Brigades Internacio-
Königlichen Theater spielte seine Mitarbei- nales 1937 in Madrid veröffentlicht, in verän-
terin Berlau die Rolle der Madame Lasalle, die derter Form dann wieder in den Svendborger
ihre Tochter Pauline in ein Hurenhaus verkauft Gedichten (1939).
(vgl. das Gedicht Selbstgespräch einer Schau- Griegs Niederlage steht also in einem kom-
spielerin beim Schminken). B. kannte das plexen Zusammenhang mit B.s Exilerfahrun-
Stück damals offenbar nur aus den Berichten gen und ihrer politischen Reflexion. 1947
der beiden Frauen und hatte von Anfang an wurde das Stück in der Übersetzung von Stef-
Vorbehalte gegen Griegs Einschätzung des fin im Henschel-Verlag (Berlin) neu veröffent-
Kommune-Aufstands. Bei einem Zusammen- licht. Es lag also für die geplante und fest
treffen in seinem dänischen Haus in Skovbo- vereinbarte Eröffnungsinszenierung des Berli-
546 Die Tage der Kommune

ner Ensembles zu Beginn der Spielzeit wird das Stück unter den »Vorarbeiten für die
1949/50 vor, nur ließ sich B. auf eine Auffüh- Spielzeit 1951/52« genannt.
rung ein, ohne den Text wirklich zu kennen. Die Uraufführung fand am 17. 11. 1956 in
Die Bearbeitung entwickelte sich zu einem Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) unter der Regie
»Gegenentwurf«, zunächst mit dem Arbeits- von Benno Besson und Manfred Wekwerth mit
titel Der Untergang der Kommune. Noch ein- der Musik von Hanns Eisler und einem Büh-
mal bot er Piscator die Regie an, ging aber nenbild nach Entwürfen von Caspar Neher
zunächst davon aus, dass das Stück »vielleicht statt. Bei ihrer Vorbereitung hatte B. noch in
nicht offiziell« als Bearbeitung der Niederlage den letzten Wochen vor seinem Tod von der
deklariert werden solle (Brief an Piscator, 5. 3. Notwendigkeit einer gründlichen Überarbei-
1949; GBA 29, S. 505). Zugleich ließ er Engel tung zur Präzisierung der politischen Dreh-
mitteilen, er »habe ein altes französisches punkte gesprochen (vgl. Wekwerth 1975,
Stück aufgegabelt, das, etwas bearbeitet, die- S. 76–79). Am 7. 10. 1962 folgte dann die Neu-
nen wird können« (Brief an Weigel, Anfang inszenierung einer veränderten Bühnenfas-
März 1949; S. 506), erwog aber zugleich als sung des Berliner Ensembles unter der Regie
Alternative, »falls ›Niederlage‹ schwierig«, von Wekwerth und Tenschert.
Büchners Dantons Tod, ebenfalls in der Regie Auf Veranlassung des Suhrkamp Verlags
von Engel (Brief an Weigel, 6. 3. 1949; S. 506). wurde bei der Erstveröffentlichung in Heft 15
Ende April 1949 war das Manuskript abge- der Versuche (1957) im Titel die Schreibung
schlossen und wurde zur Anfertigung einer »Kommune« in »Commune« verändert.
Reinschrift nach Berlin abgeschickt. B. sprach
in einem Brief an Weigel vom April/Mai 1949
von einer Rohfassung: »Sprachlich muß ich
noch einmal drübergehen und die Szenen 7–11 Anregungen, Mitarbeiter
brauchen noch mehr Schmiß (und Studium der
Akten).« ( S. 518) Caspar Neher, der sich eben-
falls in Zürich aufhielt, hatte bereits Bühnen- Das Stück wurde bei seiner Erstveröffentli-
bildentwürfe entwickelt. Gleichwohl dachte B. chung in den Versuchen, Heft 15, mit dem fol-
daran, die Arbeit des neuen Ensembles mit genden Vorspruch gedruckt: »Das Stück › D i e
dem Puntila zu beginnen, der »viel weniger T a g e d e r C o m m u n e ‹ wurde 1948/49 nach
controversial« sei, denn im Kommune-Stück der Lektüre von Nordahl Griegs ›Niederlage‹
sei er »natürlich streng der Wahrheit gefolgt, geschrieben. Aus der ›Niederlage‹ werden ei-
die manchem, wie bekannt, nicht gefällt« nige Züge und Charaktere verwendet, jedoch
(Brief an Weigel, 21. 4. 1949; S. 514). sind ›Die Tage der Commune‹ im ganzen eine
Das Stück war zunächst für die dritte Auf- Art Gegenentwurf.« (S. 6) Mit diesem Hinweis
führung des Berliner Ensembles vorgesehen war der Sachverhalt genau bezeichnet: Griegs
(nach Puntila und Gorkis Wassa Schelesnowa). Drama ist die initiierende Anregung, die auch
B. stellte es aber zugunsten des Hofmeisters die Grundstruktur vorgibt, aber das Verständ-
zurück, »weil die Volksbühne, […] die Haupt- nis und die Einschätzung des Commune-Auf-
masse unseres Publikums ausmachend, nur standes entwickelte B. aus einer anderen
etwa 0,3% Arbeiter enthält« (Journal vom Sichtweise.
22. 12. 1949; GBA 27, S. 309). Immerhin ge- Griegs vieraktiges Drama thematisiert drei
diehen aber die Vorbereitungen im Frühjahr Phasen des geschichtlichen Ablaufs. – Im 1.
1950 bis zur Bauprobe (Brief an Berlau, Mitte/ Akt wird die Vorgeschichte im März 1871 bis
Ende April 1950; GBA 30, S. 22). Für das Früh- zur Ausrufung der Kommune am 18.3. geschil-
jahr 1951 bot B. Leopold Lindtberg eine ge- dert. Sie steht im Zeichen von Hunger, Ar-
meinsame Regie an (Brief an Lindtberg, 2. 11. beitslosigkeit und Not. Der Verrat der Gene-
1950; S. 42), und auch im Dokumentations- räle, die kapitulierten, obwohl die Bevölke-
band Theaterarbeit (Theaterarbeit, S. 416 f.) rung von Paris zum Widerstand bereit war, das
Anregungen, Mitarbeiter 547

Regiment von Thiers, das die rückständigen beitslosen, Frauen und Kinder, die Liebenden
Mietschulden einfordern, die Nationalgarde zusammen mit den führenden Gestalten der
und die unruhigen Bezirke entwaffnen ließ, Kommune, Delescluze, Varlin und Rigault,
die Verbrüderung der Soldaten mit den Auf- auf, erinnern sich an ihre Vorstellungen von
rührern und die Verhaftung und erwartete Freiheit, Glück und Aufhebung der sozialen
Hinrichtung der Generäle Lecomte und Tho- Ungleichheit und gehen, zuletzt bei den Klän-
mas kennzeichnen die Situation, die Thiers gen von Beethovens Neunter Sinfonie heroisch
zur Flucht nach Versailles veranlasst. Er sieht unter. Die Überlegenheit der Versailler Trup-
sich als Verteidiger der Eigentumsordnung pen beruht auf der besseren Bewaffnung: die
und setzt auf Bismarcks Bereitschaft, kriegsge- Maschinengewehre, für deren Erprobung das
fangene französische Soldaten zur Nieder- französische Kaiserreich den Krieg gegen
schlagung der Aufstandsbewegung zur Verfü- Preußen geführt hat, sind in den sozialen
gung zu stellen. Kämpfen ein probates Vernichtungsinstru-
Der 2. Akt schildert die Zeit der Kommu- ment. Thiers setzt sie zur Bewahrung der Ei-
neherrschaft als ein ambivalentes und wider- gentumsordnung bedingungslos ein. Erst im
sprüchliches Experiment. Auf der einen Seite Untergang gelangt Delescluze zu der Einsicht,
stehen die praktischen Maßnahmen, die auf dass die Güte nur durch Gewalt siegen kann.
ein neues Gesellschaftsverständnis verweisen: In zwei Szenen des 1. und 4. Aktes lässt
Rückgabe der Pfänder, Übergabe der Fabriken Grieg Thiers als Vertreter der Gegenpartei
an die Arbeiter, Bezahlung der Kommunemit- ausführlich zu Wort kommen. Er ist der Anwalt
glieder mit Arbeiterlohn, Abschaffung der des Eigentums und der Macht, dessen Skru-
Nachtarbeit der Bäckergesellen und die Erfah- pellosigkeit als eine Kompensation seiner Im-
rung von gewaltfreier Ordnung. Auf der an- potenz psychologisch erklärt wird. Da er keine
deren Seite stehen Fehler, Versäumnisse und Zukunft hat, bemächtigt er sich der Gegenwart
Missbrauch: der zu den Aufständischen über- mit dem Potenzial einer überlebten Vergan-
gelaufene Oberst Rossel klagt über die Dis- genheit und wird dabei von seiner Frau Elise
ziplinlosigkeit der Kommunarden, wird we- entlarvt, die sich schließlich von dem sterilen
gen angeblichen Hochverrats verhaftet und Greis lossagt.
durch den militärisch völlig unerfahrenen De- Eine wichtige Randfigur ist bei Grieg der
lescluze ersetzt. Der Medizinstudent Rigault eitle und geltungssüchtige Maler Courbet, der
führt als Polizeichef ein Terrorregime nach sein naturalistisches Credo gegen den epigo-
dem Muster Marats ein und begnügt sich nalen Klassizismus Thiers setzt, den Sturz der
durchaus nicht mit dem Arbeiterlohn; sein Vendôme-Säule herbeiführt, vor den Konse-
Freund Segur nutzt als Polizeiagent seine Spit- quenzen des Aufstands aber mit dem Anspruch
zeltätigkeit zu privaten Rachehandlungen, die auf künstlerische Freiheit zurückweicht und
Gefangenen werden misshandelt, der Erzbi- feige die Flucht ergreift.
schof von Paris als Geisel verhaftet. Als Unter- Die schlichte individualpsychologische Be-
händler bei der Bank von Frankreich versagt gründung von Thiers politischem Handeln
Beslay, als ihm der Vizegouverneur der Bank, und ihre Darlegung im Ehestreit, der anarchi-
Marquis de Ploeuc, mit der rhetorischen Über- stische Blutrausch Rigaults, die direkt ausge-
legenheit des Fachmanns und des Aristokraten stellte Selbstgefälligkeit Courbets und das pa-
entgegentritt und die finanziellen Forderun- thetische Sterben der Kommunarden dürften
gen der Kommune an die Bank von Frankreich jene Elemente ›kleinbürgerlichen Unsinns‹
verweigert. bezeichnen, die B.s Widerwillen provozierten.
Der 3. und der 4. Akt zeigen die Barrikaden- Sie ergaben sich aus der im Grunde immer
kämpfe, also den Untergang und die Nieder- noch naturalistischen Darstellungspraxis, mit
lage der Kommune, der Griegs besonderes der Grieg die Kommune auf die Bühne
Interesse galt. Hier treten die Gestalten der brachte.
Pariser Bevölkerung aus dem 1. Akt, die Ar- B. hielt die Grundstruktur der Niederlage
548 Die Tage der Kommune

bei, insbesondere das Nebeneinander von po- Les 31 Séances-Officielles de la Commune.


litischem Handeln sowohl der Kommunarden Paris 1871
als auch am Rande der Versailler Regierung auf Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich.
der einen Seite und der Lebensform und Le- Adresse des Generalrats der internationalen
bensmöglichkeiten der Pariser Bevölkerung Arbeiterassoziation (Marx/Engels, S. 313–
auf der anderen Seite. Er veranschaulichte 365)
aber nicht die historischen Vorgänge in in- Wladimir Iljitsch Lenin: Über die Pariser
dividuellen Handlungen und Verhaltenswei- Kommune. Wien, Berlin 1931
sen und gab sie nachvollziehbar wieder,
sondern machte die Fakten in einer stark do- Nur aus diesen Quellen und aus dem Journal
kumentarischen Weise zur Grundlage der sze- Officiel (Réimpression du Journal officiel de la
nischen Vorgänge. So entstand eine Chronik, Commune, Paris 1871) haben sich bisher di-
die ausdrücklich einen historischen Zeitraum rekt Zitate und Anspielungen nachweisen las-
thematisierte. Wichtig ist aber, dass B. die Le- sen (vgl. den Kommentar in: GBA 8, S. 526–
gitimation zu gegenstandsparalleler Darstel- 555; Müller 1997).
lung aus der Dokumentation, nicht aus einer In der Wahrnehmung und Einschätzung des
illusionistischen Wiederbelebung der Ge- Kommune-Aufstands folgte B. der Deutung
schichte gewann. Daraus ergab sich die von Marx in Der Bürgerkrieg in Frankreich
Arbeitsweise, die Berlau als wichtigste Mitar- und ihrer akzentuierenden Bestätigung durch
beiterin beschrieb. B. war mit dem marxisti- Lenin insbesondere in den einschlägigen Pas-
schen Verständnis und der marxistischen Ein- sagen von dessen Schrift Staat und Revolution
schätzung des Kommune-Aufstandes vertraut (1917). Marx ging davon aus, dass nur durch
und benötigte für deren Verifikation, Veran- eine Bewaffnung des Volkes, insbesondere der
schaulichung und kritische Einschätzung Ma- Pariser Arbeiter, die Niederlage Frankreichs
terialien aus der Literatur, die in Zürich in im deutsch-französischen Krieg zu verhindern
reichem Maße vorhanden war. Berlau berich- gewesen wäre, dass aber die französische
tete, sie habe »Bücher über Bücher« aus der Bourgeoisie nichts so sehr fürchtete wie eine
Bibliothek herbeigeschafft, habe sie durchge- bewaffnete Arbeitermacht und dass sich des-
sehen und eingestrichen und zugleich Vor- halb die Regierung der nationalen Verteidi-
schläge für die jeweils nächsten Szenen ge- gung in eine ›Regierung des nationalen Ver-
macht (Bunge, S. 221). B. habe einzelne ihrer rats‹ verwandelt habe, die folgerichtig die
Sätze verwenden können und die Ballonszene Kapitulation von Paris herbeiführte. Den Be-
(9b) nach ihren Anregungen verfasst. Dass B. ginn des Bürgerkriegs datierte Marx auf den
in der kurzen Arbeitszeit, in der er sich zu- Versuch der Regierung Thiers, sich der Waffen
gleich anderen Aufgaben widmen musste (Vor- der Nationalgarde zu bemächtigen. Die Leis-
arbeiten zum Galileo mit Laughton, Verpflich- tung der Kommune sah er in dem Experiment
tung von Mitarbeitern für das Berliner Ensem- einer Regierung der Arbeiterklasse, deren Maß-
ble usw.) tatsächlich »Bücher über Bücher« nahmen auf ein Ende der Klassenherrschaft
eingesehen habe, ist eher unwahrscheinlich. abzielten. Sie habe sich als eine arbeitende,
B. selbst benannte in einem Brief an den nicht als eine parlamentarische Körperschaft
Historiker Albert H. Schreiner vom Oktober organisiert und habe die Staatsmaschinerie
1949 (GBA 29, S. 559) die folgenden Werke als (Beamtenschaft, Polizei und Armee), die nach
Quellen und Anregungen: anderen Bedürfnissen organisiert war, nicht
übernehmen können. Den entscheidenden
Prosper Lissagaray: Geschichte der Kom- Fehler konstatierte Marx im falschen Großmut
mune von 1871. Braunschweig 1877 der Kommune, welche die Flucht der Regie-
Hermann Duncker (Hg.): Pariser Kommune rung und der Beamtenschaft nach Versailles
1871. Berichte und Dokumente von Zeit- ermöglicht habe, im Verzicht auf den Marsch
genossen. Berlin 1931 nach Versailles und im unterbliebenen Zugriff
Anregungen, Mitarbeiter 549

auf die Mittel der Bank von Frankreich. Trotz plante B. noch eine gründliche Überarbeitung.
seines Scheiterns sei das Paris der Arbeiter Dafür suchte er nach weiteren Materialien,
und seine Kommune der ruhmvolle Vorbote beauftragte seine Mitarbeiterin Elisabeth
einer neuen Gesellschaft geblieben. Hauptmann mit Recherchen (Brief an Haupt-
In diesem Sinne verstand Lenin die Kom- mann, Mitte Mai 1949; S. 539) und bat Dun-
mune als ersten Schritt zur Verwirklichung ei- cker sowie Albert H. Schreiner um Beurteilung
ner Diktatur des Proletariats, dem die Durch- und Rat (Briefe an Duncker und Schreiner,
setzung der Sowjetmacht als zweiter Schritt Oktober 1949; S. 559 f.).
folgen sollte. Sein Interesse galt insbesondere
der Organisation der Staatsmacht nach der
Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmaschi-
nerie. Die Kommune verstand er im Anschluss
an Marx als Versuch, den Staat als Überwin- Forschung
dung des Staates zu organisieren.
Diese Deutungen hatten im marxistischen
Lager kanonische Geltung und wurden auch Der früheste Beitrag zu den Tagen der Kom-
von B. als ›klassisch‹ akzeptiert und für seine mune ist ein Aufsatz von Wekwerth, in dem
Sichtweise, nicht zuletzt auch für die Kritik an nach B.s Tod zusammengestellten Gedächtnis-
Grieg, zugrunde gelegt. Sie sind ebenfalls für band der von Peter Huchel herausgegebenen
die Quellendokumentation von Duncker ver- Zeitschrift Sinn und Form (Wekwerth 1957).
bindlich geworden und wurden dort als Inter- Der Aufsatz berichtet unter dem Titel Auf-
pretationsrahmen ständig zitiert, so dass die finden einer ästhetischen Kategorie von Dis-
äußerst materialreiche Sammlung gewisser- kussionen mit B. im August 1956 über die
maßen die vorausgesetzte Deutung quellen- Vorbereitung zur Uraufführung des Kommune-
mäßig belegt. Dunckers Dokumentation war, Stücks in Karl-Marx-Stadt. Als eine bislang
wie auch die Anstreichungen von B. und Ber- übersehene Grundkategorie seines epischen
lau und deren eingelegten Hinweiszettel in B.s Theaters und als Bedingung für eine angemes-
Exemplar bezeugen, eine der beiden wichtigs- sene Aufführungspraxis habe B. die Kategorie
ten Grundlagen für die Arbeit an dem Stück. des Naiven eingeführt, die schon für ein ange-
Sie enthält auch Auszüge aus der Darstellung messenes Verständnis der Fabel unverzichtbar
des Journalisten Lissagaray, dessen Schilde- sei.
rung der Vorgänge auf unmittelbarem Erlebnis Diese sehr knappe und auslegungsfähige
und eigener Anschauung sowie auf nachträgli- Feststellung hat in der vergleichsweise schma-
chen Recherchen beruhte. B. konnte sie als ein len Forschungsdiskussion über die Tage der
vorstrukturiertes Material für die Wiedergabe Kommune eine wichtige Rolle gespielt, ist aber
der Vorgänge wörtlich zitieren oder sinnge- erst sehr viel später in der Untersuchung von
mäß verwenden. Die Dokumentensammlung Detlev Schöttker über B.s Ästhetik des Naiven
Les 31 Séances-Officielles de la Commune be- systematisch begründet worden. Als eine zen-
schaffte er sich erst nachträglich (Brief an Wei- trale Bestimmung von Naivität verdeutlicht
gel, April/Mai 1949; GBA 29, S. 518). Sie war Schöttker eine Haltung der Unvoreingenom-
auszugsweise und in Übersetzung schon von menheit gegenüber den im Text vorliegenden
Duncker verwendet worden. Das Gleiche gilt Sachverhalten. Sie sollen ohne ein vermeint-
auch für das Journal officiel de la Commune. liches Vorwissen und eine vorgängige Beurtei-
Eine ursprünglich geplante Verwendung von lung zur Kenntnis genommen und zum Gegen-
Gedichten Eugéne Pottiers in Erich Weinerts stand einer Reflexion gemacht werden, d. h.
Übertragung (vgl. Brief an Weinert, Ende Fe- ohne das Einverständnis mit einer schon ak-
bruar/Anfang März 1949; S. 503) wurde nicht zeptierten ideologischen Deutung, aber auch
realisiert. ohne eine distanziert-ideologiekritische Sicht-
Nach der Fertigstellung des Manuskripts weise, die in einem vermeintlich sicheren Vor-
550 Die Tage der Kommune

wissen unfähig sei, die Sachverhalte selbst als Überwindung der komödienhaft orientier-
wahrzunehmen und sich über sie zu wundern. ten satirischen Darstellung des Gesellschaft-
Wie auslegungsfähig die Kategorie des Nai- lichen in B.s bisheriger Dramatik und der von
ven ist, auf die alle Arbeiten zu den Tagen der der Maxime oder Sentenz her bestimmten Pa-
Kommune eingehen, zeigt schon die erste rabelform verstanden und als neue Einführung
große Untersuchung des Stücks von Hans des ›positiven Helden‹ gewürdigt. Das Stück
Kaufmann. Kaufmann versteht seine aus- sei ein bedeutender Vorstoß »zu einem realisti-
drücklich als »essayistisch« (Kaufmann, S. 5) schen geschichtsphilosophischen Drama spe-
ausgewiesene Untersuchung als einen Beitrag zifisch-sozialistischen Gehalts« (S. 184). B.
zur Auflösung des »Rätsels der Brechtschen nähere sich, wie schon ansatzweise in den Ge-
Dramaturgie« (ebd.), indem er das Stück als wehren der Frau Carrar, Leben des Galilei und
einen Neuansatz erklärt, der die Parabelform Die Gesichte der Simone Machard, dem »›klas-
und die zuvor für B. bestimmende Tendenz zur sischen‹ Typus« des (sozialistischen) Dramas
Komödie überwinde und den Weg zu einer und gelange zu einer Aufhebung der Theorie
realistischen Tragödie eröffne. Indem es die der Verfremdung als einer vorübergehenden
Geschichte selbst zur Sprache bringe und nicht Infragestellung der gesamten ästhetischen
wie noch im Galilei im Hinblick auf eine aktu- Tradition und zu einer zeitgemäßen Wieder-
elle Fragestellung arrangiere, entstehe eine herstellung der Tragödienform. Die Argumen-
Form des ›Naiven‹ als »in der dramatischen tation zielt auf eine Integration B.s in die Linie
Handlung aufgehobene, in der erzählten Ge- des sozialistischen Realismus im Sinne von B.s
schichte eingeschmolzene Verfremdung« Widersacher Georg Lukács, obwohl dieser in
(S. 255). Im Unterschied zu Grieg trage näm- der auf den Ungarn-Aufstand folgenden politi-
lich B. »geschichtsphilosophische Verallge- schen Phase nur einmal beiläufig erwähnt
meinerung« nicht von außen rhetorisch in das wird.
Drama herein, sondern lasse »die Geschichte Die These von der aufgehobenen, durch die
selbst urteilen« (S. 45), »die Akten sprechen« historische Entwicklung überflüssig geworde-
(S. 46). Die durchgängige Verwendung des do- nen Verfremdung hat sogleich Widerspruch
kumentarischen Materials, die Kaufmann erst- provoziert. Käthe Rülicke-Weiler besteht dar-
mals festgestellt und nachgewiesen hat (voll- auf, dass Verfremdung ein »Mittel der Dialek-
ständig jetzt in: GBA 8, S. 526–555; vgl. auch: tik« sei, nicht eine vorübergehende Praxis in
Müller 1997) sei aber von einem geschichtli- der Zeit der gesellschaftlichen Unterdrückung
chen Gesamtverständnisses des Aufstandes (Rülicke-Weiler, S. 256), und Wekwerth er-
bestimmt und entsprechend akzentuiert. Da- klärt Kaufmanns These für »groben Unfug«
durch gelinge es, das Volk als Subjekt der Poli- (Wekwerth 1975, S. 182), denn es gehe in dem
tik zu zeigen und die historische Qualität der Stück darum, eine Niederlage mit härtester
Masse zu veranschaulichen. Umgekehrt werde Kritik zu beschreiben und dennoch Optimis-
die kollektive Bewegung individualisiert, al- mus zu wecken, was nicht ohne Verfremdung
lerdings nach Kaufmanns Einschätzung auf möglich sei. Sie beruhe auf Verfahrensweisen
eine etwas fragwürdige Weise, insofern die der Naivität, die missverstanden seien, wenn
Figuren B.s vor lauter Gegenwart und Zu- sie als unmittelbar realistische Momente auf-
kunftserwartung keine Vergangenheit haben gefasst werden. Wekwerth erläutert das an der
und die Nachgeschichte des Aufstands nicht Figurengestaltung: »Die Figuren [vermitteln]
thematisiert wird. Der »geschichtlichen Treue mehr Erkenntnis, als sie selbst besitzen«, da-
im Einzelnen« stehe somit ein »Mangel an His- her müssen sie in der Darstellung auf der
torizität im Ganzen« gegenüber (Kaufmann, Bühne naiver gemacht werden, »naiv im hi-
S. 83). Gleichwohl sei aber der exzessive Ge- storischen Sinn, historisch beschränkt also«
brauch von Dokumenten ein »Symptom der (Wekwerth, S. 189). Von einem anderen Ge-
Entwicklung des Realismus« im Geschichts- sichtspunkt aus kritisiert Klaus Bohnen die Ar-
drama. In dieser Perspektive wird das Stück gumentation Kaufmanns: er bestreitet die un-
Forschung 551

terstellte grundsätzliche Überlegenheit des milie (S. 122). Zwischen Volk und Führung be-
historisch-materialistischen gegenüber einem stehe ein Gegensatz, wobei die Konzentration
anthropologischen Revolutionsverständnis auf die Fehler der Führung das Verständnis von
und beansprucht damit eine Würdigung von Demokratie und Diktatur zeige. Daraus ergä-
Griegs Niederlage, welche die Andersartigkeit ben sich die Verfremdungen, die vornehmlich
von deren Konzeption nicht als ästhetischen in der Schicht des Gehalts erschienen. Auf
Mangel einschätzt (vgl. Friese). diese Weise entstehe ein Geschichtsdrama, »in
In einem zum 100-jährigen Kommune-Jubi- welchem das Ganze und jeder Teil einer wis-
läum geschriebenen Aufsatz nimmt Günter senschaftlichen Nachforschung standhält«
Hartung zu zwei Positionen der bisherigen Re- (S. 136).
zeption in der DDR Stellung: zu Wekwerths Von der westdeutschen Germanistik wurden
Behauptung, das Stück sei als unfertige Roh- die Tage der Kommune weitestgehend igno-
fassung ohne eingreifende Veränderungen riert. Einen wichtigen Hinweis auf die Dar-
nicht aufführbar, wobei diese Veränderungen stellung des Volkes gibt Hannelore Schlaffer in
auf eine Ergänzung durch historische Doku- ihrer Untersuchung zur dramatis persona
mente und marxistische Deutungsgesichts- ›Volk‹ (1972). Die Volksfigur, die »seit Büchner
punkte hinausliefen. Dagegen hält Hartung zur Selbstreflexion gekommen ist«, gewinne
die Druckfassung für die einzig akzeptable jetzt eine »Theorie ihrer Lage« hinzu, die B.s
Textgrundlage. Kritisiert wird sodann aber- Drama vorausliege: »Die dramatischen Vor-
mals die These Kaufmanns, dass das Stück gänge sind der Figur nur Bestätigung ihrer
ohne die Mittel von B.s Dramaturgie aus- bereits reflektierten Existenz« (Schlaffer,
komme, weil das Realistische an der Ge- S. 101). Die Aufklärung vollende sich aber erst
schichte selbst orientiert sei. Hartung macht im Publikum. Dabei werde das Gegenwärtige
deutlich, dass Kaufmann sich am Realismusbe- ins Historische und Zukünftige aufgehoben
griff von Lukács orientiert habe und dass er (S. 102).
dessen Poetik dogmatisch als einzig richtige Die in der Regel ästhetisch begründeten
voraussetze (Hartung, S. 110). Er deutet sei- Vorbehalte gegen das Stück in der Bundes-
nerseits das Stück aus der historischen Situa- republik und die Rückbindung der Überlegun-
tion von 1948/49, indem er B. die Absicht un- gen in der DDR auf eine linientreue Auslegung
terstellt, auf die möglichen Gefährdungen der marxistisch-leninistischen Deutung der
eines proletarischen Staats in einer kapitalisti- Kommune in Verbindung mit der Unterstel-
schen Welt hinzuweisen. Das geschehe jedoch lung einer realistischen Wende in B.s Schaffen
nicht durch Aufhebung eines historischen Vor- erklärt Wolf Siegert mit dem Phänomen einer
gangs zum Gleichnis, sondern durch seine »Furcht vor der Kommune« (Siegert 1983a):
Gestaltung als Totalität, auch um den Preis Gemeint ist die Verdrängung der Notwendig-
der Annäherung an die geschlossene Form keit einer (revolutionären) sozialen Umwäl-
(S. 116). Nur so ließen sich die Fehler und zung auf der einen und das schlechte Gewissen
Versäumnisse der Kommunarden objektivie- einer sich als neue soziale Ordnung verstehen-
ren. Aus diesem Grunde werde ein histori- den Gesellschaft, die nicht aus einer revolutio-
scher Vorgang in der Totalität seiner eigenen nären Bewegung hervorgegangen sei, auf der
Zusammenhänge reproduziert, wobei B. sich anderen Seite. Unter einer solchen bewusst
auf die Ergebnisse der Analysen von Marx, politischen Fragestellung wird der Versuch un-
Engels und Lenin stütze. Die einzelnen Mo- ternommen »nicht den Brecht ganz und gar zu
mente werden als solche ausgestellt, nicht im überblicken […], sondern bei Brecht durchzu-
Sinne von Lukács als Aufhebung des Besonde- blicken – bis auf uns selbst« (S. 39). Dabei wer-
ren im Allgemeinen präsentiert. Es gehe nicht den zunächst die Lesarten Kaufmanns, Wek-
um eine Familiengeschichte (Geschichte der werths und Hartungs bestätigt, zugleich aber
›Familie‹ Cabet) im Bürgerkrieg, sondern um darauf hingewiesen, dass es nicht allein um
die Geschichten des Bürgerkriegs in einer Fa- das Verhältnis von Volk und Kommune, von
552 Die Tage der Kommune

Individuellem und Geschichtlichem auf Seiten […] by portraying the family both as objects
der Kommunarden gehe, sondern dass immer and agents of changing socioeconomic condi-
auch die Gegenseite mit im Spiel sei, so dass tions« (S. 117). Die Schwäche des Stückes liege
sich drei Ebenen ergäben, die in den Straßen- in der extremen Verdichtung, die dazu führe,
bildern, den Stadthausszenen und den Abbil- dass viele Ereignisse unklar blieben und in
dungen der Bourgeoisie Gestalt gewönnen, ihrer schon von Wekwerth konstatierten
wobei der Zusammenhang der Fabel durch ›kryptischen Chiffrierung‹ potenziell missver-
Verbindungspersonen hergestellt werde. Aus standen werden können (S. 123). Mit dem
dieser Konstellation schließt Siegert, dass das Rückgriff auf Marx’ Deutung stelle B. zugleich
Stück entscheidend von B.s Exilperspektive ein Modell für die politische und gesellschaft-
und von den Auseinandersetzungen über die liche Organisation des anderen Deutschland
Volksfrontpolitik in den 30er-Jahren geprägt vor (S. 138), wobei er deutlich mache, dass die
ist, bei der B. eine radikale Haltung gegen die Revolutionierung Sache der Arbeiter selbst
Bündnispolitik eingenommen hatte, die auch sei, nicht einer Partei oder Führung (S. 139 f.);
in der Auseinandersetzung mit Grieg ihren damit hätte sich B. gegen das Modell der russi-
Niederschlag fand. Das Stück sei aus dem Ver- schen Revolution gewendet, das ja von Lenin
such hervorgegangen, über die absehbare Nie- auch ausdrücklich in eine Beziehung zur Kom-
derlage hinauszudenken und Perspektiven zu mune gesetzt worden war. Der Grund für die
entwickeln. Seine Thesen hat Siegert in sei- Reserven gegenüber dem Stück in der DDR sei
nem Materialienband zu den Tagen der Kom- aber nicht in dieser ideologischen Abweichung
mune (Siegert 1983b) noch einmal wiederholt zu sehen, sondern beruhe auf den Vorbehalten
und eindeutiger dargelegt; der Titel des Bei- gegen das epische Theater, wobei Fischer
trags lautet: »›Die Tage der Commune‹ – ein deutlich macht, dass die distanzierenden und
Exildrama« und führt zu dem Ergebnis: B.s verfremdenden Momente formkonstitutiv
»Kommune-Stück gelinge es wie kaum einem sind.
anderen Werk der frühen Nachkriegsliteratur, Eine Zusammenführung der politisch-ideo-
die Niederlage des Exils und die Hoffnungen logischen und der ästhetischen Gesichts-
auf seine Überwindung – bei voller Entfaltung punkte des Stücks liegt mit einem Aufsatz von
der Widersprüchlichkeit zusammenzuführen« Walter Hinderer vor. Er geht davon aus, dass B.
(S. 327). dem ideologisch-politisch vorbelasteten Stoff
In einer Untersuchung von Gerhard Fischer zwar tragische Elemente einschreibe, jedoch,
werden Die Tage der Kommune in den Kontext entgegen Kaufmanns These, keine historische
verschiedener Dramatisierungen des Kom- Tragödie geschrieben habe. Er habe zwei un-
mune-Aufstands bei Vallès, Grieg und Adamov terschiedliche Stilarten mit entsprechenden
gestellt. Er untersucht den viel diskutierten Realitätsperspektiven gewählt (Hinderer,
Zusammenhang von Privatem und Öffentli- S. 224). Für die Bourgeoisie und ihre Führer
chem und versteht das Stück nicht nur als ein gelte eine groteske und satirische Sichtweise,
Familiendrama, sondern als »a play in which die an die Tradition des Revolutionstheaters
the structures of the family and the re-structu- anknüpft, wie Büchner sie für die Protago-
ring of a family relations under, and because nisten und für das Volk gleichermaßen ver-
of, the revolutionary situation become a cen- wendet habe, während B. zeige, dass bei den
tral topic« (Fischer, S. 106). So werde die na- Revolutionären »bestimmte angelernte Be-
turalistische Perspektive durch eine kon- wußtseinsformen […] einen Keil zwischen
sequente Politisierung überwunden (S. 91). idealistische Zielsetzung und politische Prag-
Zentrale Bedeutung komme dabei der von B. matik treiben« (S. 225). Das werde aber nicht
eingeführten Figur Langevin zu. »The peculiar ironisch abgewertet, sondern ernsthaft disku-
newness of Die Tage der Commune lies in its tiert, so dass die Verfahrensweise weniger auf
perspective which interpretes the historical Verfremdung als vielmehr auf Dialektisierung
development from the level of a single family hinauslaufe (ebd.). Das Volk werde damit
Forschung 553

nicht nur zur Hauptperson, sondern zu einer Aus einem Brief von Eric Bentley erfuhr er
Art »höherem Geschichtsschreiber« (S. 229). dann, Kurt Hirschfeld habe das Stück (das
Alles Private erscheine zugleich als Gesell- Bentley für schwach hielt) als eine Anspielung
schaftliches, wobei neben die partikulare Per- B.s auf die sowjetische Blockade von West-
spektive der sozialdifferenziert dargestellten berlin bezeichnet. B. widersprach in einem
›Familie‹ Cabet die Diskussionen im Zentral- Brief vom 12. 11. 1949 an Bentley: »Ich habe
komitee treten (ebd.). Bei aller Sympathie für mich nicht bemüht, Parallelen zwischen Paris
die Kommunarden verfahre B. objektiv, wobei 71 und Berlin 49 besonders herauszuarbeiten,
die Kategorie des Naiven eine zentrale Rolle selbst wo es das Stück sehr vereinfacht hätte.«
spiele: Sie bezeichnet gleichermaßen das Un- (S. 561) Wohl aber sei es notwendig, »marxi-
reife und das Unschuldige der Kommunarden, stische Gesichtspunkte« (ebd.) zu akzeptieren,
indem sie Einblicke in richtiges und falsches wenn man das Stück akzeptieren wolle. Damit
Denken vermittelt, das Widersprüche doku- zeichnete sich von Anfang an ab, dass für die
mentiert und zugleich schon zu einer Fehler- Aufführungen Schwierigkeiten zu erwarten
analyse führt, die vor allem von der zentralen waren: Für den Osten war der Standpunkt po-
Figur Langevin geleistet wird. Durch die litisch nicht eindeutig genug, für den Westen
Verbindung verschiedener Elemente und Stil- war er zu parteilich im marxistischen Sinne.
haltungen werde ein »historischer Wirklich- Die immer wieder verzögerte Entscheidung
keitszusammenhang« dargestellt (S. 238). Die über die Uraufführung ist möglicherweise die
beiden aus einem anderen Zusammenhang Reaktion auf diese kontroverse Situation.
stammenden Lieder Resolution und Keiner In einem für das ZK der SED angefertigten
oder alle hätten dabei eine Art »ideologische vergleichenden Gutachten über Griegs Nieder-
Hilfsfunktion« (S. 239), stünden aber im Wi- lage und B.s Tage der Kommune war dann auch
derspruch zur ästhetischen Verfahrensweise Ilse Galfert vom Bühnenvertrieb des Hen-
des Stücks, indem sie gewissermaßen B.s ei- schel-Verlags zu dem Ergebnis gekommen,
gene objektive und distanzierte Beobachter- dass Griegs Stück »künstlerischer und tiefer
position kritisierten. gestaltet« sei, B. hingegen eine deprimierende
Version einer gescheiterten Bewegung gebe
(in: Hecht, S. 1076).
Die noch von B. initiierte Uraufführung in
Wirkung Karl-Marx-Stadt am 17. 11. 1956 (Bühnenbild
nach den Skizzen von Neher, Musik: Eisler),
bei deren Vorbereitung er noch in den letzten
Die Wirkungsgeschichte der Tage der Kom- Wochen vor seinem Tod die Regisseure Wek-
mune, deren Uraufführung B. nicht erlebte, werth und Besson beraten hatte, wurde im
begann genau genommen schon in der Entste- Programmheft ausdrücklich als eine auf Ak-
hungszeit. Der Dramaturg des Züricher tualisierung zielende Inszenierung ausgewie-
Schauspielhauses Kurt Hirschfeld, der dieses sen: Das Stück enthalte »viele strategisch-tak-
Theater während der Emigrationszeit des tische Hinweise Bertolt Brechts für unsere
Stückeschreibers durch seine Uraufführungen Zeit […]. Den Betrachter […] die richtigen
zur wichtigsten B.-Bühne der Kriegszeit ge- Beziehungen zur Gegenwart finden zu lassen,
macht hatte, war nach B.s Einschätzung vom ist Anliegen des Stücks wie der Inszenierung.«
Manuskript »sehr begeistert«, riet aber dazu, (in: Siegert 1983b, S. 163). Neben Zitaten von
das Stück nicht als Eröffnungspremiere des Marx, Engels und Lenin wurde historisches
Berliner Ensembles zu wählen (Brief an Wei- Bildmaterial mit Fotos von Volkskammersit-
gel, 21. 4. 1949; GBA 29, S. 514). B. zögerte zungen und mit Bilddokumenten der Regie-
gleichfalls, weil das Stück zum Widerspruch rung Adenauer konfrontiert.
herausfordernd (»controversial«) hielt, und Die Aufführung fand ein bemerkenswert
zwar gerade wegen seiner historischen Treue. breites Presse-Echo, da sie als erste B.-Pre-
554 Die Tage der Kommune

miere nach dem Tod des Stückeschreibers und der Menschlichkeit formuliert (Seelmann-Eg-
als erste Uraufführung eines nach der Emigra- gebert 1956b). Die für das Klima des Kalten
tion verfassten Stücks wahrgenommen wurde. Kriegs nicht untypische Argumentation wurde
Arnolt Bronnen sprach von »Brechts Vermächt- zusätzlich literaturkritisch unterfüttert. Da
nis« (Bronnen). Die eigentliche Aktualität wurde zunächst die Frage gestellt, »ob und wie
wurde aber in Ost und West im gerade nieder- weit das Stück von Brecht ist« (Seelmann-Eg-
geschlagenen Ungarn-Aufstand gesehen. Das gebert 1956a). Der Kritiker verwies darauf,
Stück wurde in der DDR als Bestätigung dafür dass der noch ungedruckte Text in einer un-
verstanden, dass es notwendig sei, »einer autorisierten italienischen Übersetzung im
konterrevolutionären Zurücknahme des ge- Verlag La Giraffa in Mailand erschienen war.
schichtlichen Fortschritts« entgegenzutreten Diese Übersetzung beruhte auf einem ersten
(Keisch), auch wenn in richtiger Einschätzung Manuskript mit dem fingierten Titelzusatz
einer möglichen anderen Lesart ausdrücklich »Nach dem Französischen des Ja[c]ques
festgehalten wird, dass der Volksaufstand von Malorne« (vgl. Bunge, S. 222 f.). Seelmann-
1871 und der »Faschistenputsch« von 1956 ei- Eggebert schloss daraus, dass B. eine histori-
gentlich nicht vergleichbar seien (Creutz). Die sche Chronik von Jacques Malorne »benutzt«
unterstellte Richtigkeit des »politischen Ver- und aus ihr die Sitzungsprotokolle der Kom-
mächtnisses des Dichters« (Keisch) und die mune zitiert habe; einige »lebensecht gezeich-
begrenzten künstlerischen Möglichkeiten der nete Figuren« und »einige theatralisch pa-
Provinzbühne erlaubten es, die vorwiegend ckende Volksszenen« habe er hingegen von
negative Einschätzung der ästhetischen Quali- Grieg übernommen, aber insgesamt handle
tät des Stücks nicht allzu deutlich zu akzentu- es sich um »das miserabelste Stück, was Brecht
ieren. Immerhin hatte B.s Weggenosse Her- (in dem man einen Dichter sehen möch-
bert Ihering in einer Rundfunkkritik festge- te), jemals schrieb« (Seelmann-Eggebert
halten, die Tage der Kommune seien »kein 1957).
Stück im Sinne der Meisterwerke von Brecht« Jürgen Rühle verbreitete in zwei Schweizer
(zit. nach Seelmann-Eggebert 1957). Deutli- Zeitungen und in der Westdeutschen Allgemei-
cher wurde Alfred Kurella, der das Stück als nen die Version, das Stück sei 1951 vom ZK der
»eine der schwächsten Arbeiten Brechts« be- SED wegen »Objektivismus« und »Defaitis-
zeichnete: es spreche weder das Herz noch den mus« verboten worden; (Rühle 1956a) offen-
Verstand an. bar sollte ein Zusammenhang mit den Ausein-
Schärfer noch war die Kritik in der west- andersetzungen um das Verhör des Lukullus
deutschen Presse, vorgetragen vor allem von hergestellt und zu einer Praxis »finstersten
Ulrich Seelmann-Eggebert in einem Dutzend Kunstterrors« auch gegen B. weitergedacht
teilweise unterschiedlicher Rezensionen in werden. Dem Stück begegnete der Kritiker mit
verschiedenen Zeitungen und in mehreren Be- Vorbehalt: Trotz einiger eindrucksvoller Sze-
sprechungen von Jürgen Rühle. Auch hier nen und Typen bleibe »die Handlung im Politi-
wurde in entgegengesetzter Blickrichtung der schen gefangen, zerflattert in Episoden, Mi-
Bezug zum Ungarn-Aufstand hergestellt. Seel- lieustudien und politische Exerzitien« (Rühle
mann-Eggeberts Kritik war zunächst politisch 1956b). Nicht ein menschlicher Konflikt, son-
begründet: Er sah in dem Stück eine »eifernde dern ein soziologisches Schema sei darge-
Apotheose bolschewistischer Schreckensherr- stellt, und es zeige »eine psychische Verhär-
schaft«, ein in der deutschsprachigen Literatur tung und Verkrampfung des Dichters« (Rühle
im Hinblick auf eine »Verherrlichung des Ter- 1956a).
rors« einzigartiges Bühnenstück (Seelmann- Ausdrücklich als Gegenentwurf zu B.s Stück
Eggebert 1957). Nirgends sonst werde »so ein- veröffentlichte Arthur Adamov 1960 ein eige-
deutig zum Mord an allen Andersdenkenden nes Kommune-Stück dem Titel Le printemps
aufgehetzt« (ebd.). Damit sei auch eine ra- 71, das einerseits größere historische Exakt-
dikale Absage an Koexistenz und an die Gebote heit anstrebte und andererseits durch ein viel
Wirkung 555

breiteres und stärker differenziertes Perso- wenn B. die geplante Überarbeitung realisiert
nenspektrum die Vorgänge stärker individuali- hätte; der Text selbst zeige ihn erst »auf dem
sierte. Damit verdeutlichte er aber vor allem Wege zur Meisterschaft« (Ihering).
den auf die Fehleranalyse konzentrierten Ab- Die bundesrepublikanische Kritik konsta-
straktionsprozess B. s. tierte die Parallelisierung von Berliner Mauer
Die Inszenierung des Berliner Ensembles und Pariser Barrikade und hielt fest: »Dies ist,
1962 stand ausdrücklich im Zeichen des Berli- nach Thema und Gesinnung, ein kommuni-
ner Mauerbaus am 13. 8. 1961. Wekwerth, der stisches Stück«, dessen Moral in Ost-Berlin
zusammen mit dem Dramaturgen des Berliner willkommen sei: »Es kommt nicht auf die
Ensembles Tenschert für die Regie verantwort- Machtergreifung der Arbeiter an, sondern auf
lich zeichnete, hat darauf hingewiesen, dass die Verteidigung der Macht« (Hildebrandt).
das Ensemble seinen Spielplan geändert und Henning Rischbieter hielt hingegen eine poli-
statt des ursprünglich geplanten Coriolanus tische Aktualisierung für müßig: »Was gehen
Die Tage der Commune auf den Spielplan ge- uns im Westen blutige Klassenkämpfe noch
setzt habe, um »tagespolitisch« zum Mauerbau an?« (Rischbieter 1962). Gleichwohl sei das
Stellung zu nehmen (Wekwerth 1975, S. 179). Stück als eines der Nebenwerke B.s auf-
Anders als bei der Uraufführung wurde das schlussreicher als die gepriesenen Meister-
Stück aber sehr entschieden bearbeitet, weil, werke, nur dürfe man es nicht »als dramati-
wie Tenschert im Programmheft zur Auffüh- sierte Realhistorie« verstehen, »sondern als
rung ausführte, B. die Druckfassung »als Ent- Ballade vom Kampf und Traum der Plebejer«
wurf, als Skizze« über einen der schwierigsten (ebd.). Einhellig war das Lob für die bewun-
Vorgänge der neueren Geschichte verstanden dernswerte Perfektion der Inszenierung und
und deshalb gezögert habe, »diesen Entwurf die Qualität der schauspielerischen Leistung,
einer Fabel in dieser Form auf die Bühne zu welche die herausragende Bedeutung des Ber-
bringen« (Tenschert in: Siegert 1983b, S. 176). liner Ensembles in der Theaterlandschaft
Die von B. ins Auge gefassten Änderungsvor- bestätigten. Marianne Eichholz sah das als am-
schläge, »Fabel, Figuren und Text betreffend«, bivalent an, insofern »die formale Kraft der
seien zur Grundlage der Bearbeitung gemacht Inszenierung […] den Beifall der Ästheten«
worden. Dabei habe man Quellen herange- fand, »die die Aufführung beklatschten und es
zogen, die B. in der Schweiz nicht zugänglich sich längst abgewöhnt hatten, das Stück mit
gewesen seien (S. 178), die aber die Darstel- Staatsbürgerverstand zu wägen«. Auch Dieter
lung um »dialektische Züge« bereicherten Hildebrandt bekannte sich zu gemischten Ge-
(S. 177). Ausdrücklich wurde die Bearbeitung fühlen: »Man ist hingerissen von der Perfek-
als Versuch verstanden, »nach sorgfältiger Er- tion, vom nüchternen Glanz der Aufführung,
forschung der Absichten Brechts […] die Fabel man ist bedrückt von der Fülle der Agitation,
zu stabilisieren« (S. 178), ohne so weit zu ge- der dieser Glanz gilt. Vor allem aber ist man
hen, wie B. das vermutlich getan hätte, wenn bestürzt von der Möglichkeit, daß einer sein
er »eine Umarbeitung größeren Stils« hätte Lebtag an Barrikaden baut und am Ende doch
realisieren können. Die neue Fassung wurde hinter der Mauer steht.«
als Bühnenmanuskript gedruckt (vgl. Brecht). Von da an gehörten die Tage der Kommune
Das Presseecho war quantitativ erheblich zu den sehr selten gespielten Stücken B. s. Die
bescheidener als bei der Uraufführung. Dafür westdeutsche Erstaufführung in Stuttgart un-
fand das Stück in der DDR volle Zustimmung ter der Regie von Hans Hollmann, welche die
als ein Beitrag zur aktuellen politischen Situa- Bearbeitung des Berliner Ensembles einbezog,
tion und, mehr angedeutet als ausformuliert, stand im Zeichen der 68er-Revolte. Jetzt ge-
als Bestätigung für den Bau der Mauer. Der stand auch Rischbieter dem Stück Aktualität
zuvor noch reservierte Ihering räumte nun ein, zu; allerdings sei es Hollmann nicht gelungen,
dass das Stück zu einem Modell für das rea- »die wahrlich aktuelle Debatte über Gewalt,
listische Zeittheater hätte werden können, Gegengewalt und Terror so zu stufen und zu
556 Die Tage der Kommune

spannen, daß sowohl ein dramatischer wie in- Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. 9.
tellektuell anregender Vorgang daraus wurde« 1977 aus, dass B. in seiner Darstellung »bis in
(Rischbieter 1970). Peter Iden sah die Auffüh- die Einzelheiten den Ansichten Lenins« ge-
rung im Zusammenhang »neuerer Versuche folgt sei und mit der Aufforderung zur Gewalt-
des Theaters, Materialien zur Geschichte revo- anwendung, um eine Revolution durchzuset-
lutionärer Bewegungen aufzuarbeiten«, wie zen, die »höchst komplizierten Vorgänge« des
sie auch in Tankred Dorsts Toller und Peter Kommune-Aufstands »versimpelt«, nicht die
Weiss’ Trotzki vorlagen (Iden 1983b, S. 194– historischen Vorgänge zu einer erst nachträg-
198). Das wichtigste Bild der Inszenierung sei lich gewonnenen »marxistischen Legende« ge-
die Debatte über die Verweigerung von Un- staltet habe. Er sei dabei ähnlich verfahren wie
menschlichkeit gegen die Feinde in einem Au- Shakespeare und Schiller in ihren Geschichts-
genblick, als schon die Kanonen Thiers zu hö- dramen (Hensel 1983b, S. 221). Dabei schei-
ren waren (Szene 11b). Alf Brustellin erschien tere die »revolutionäre Legende« an der »Ein-
das Stück unentschieden, »dramaturgisch un- falt ihrer Demonstration«, die »die unfreien
ausgeglichen, ideologisch inkonsequent, aber Verhältnisse in der Sowjetzone und in den so-
sehr menschlich, alles eher sympathisch als zialistischen Ländern« gerechtfertigt habe.
gut«. Klara Menk verstand es hingegen als ei- »Erst auf der Bühne werden Brechts Tage der
nen »mit allen Mitteln des Realismus« gestal- Commune von einem glanzvollen Gerücht zur
teten Mythos, bei dem »Brecht vor keiner sen- glanzlosen Realität: schlimmer als durch eine
timentalen oder melodramatischen Wirkung Aufführung kann man das Stück nicht schä-
zurück[scheute]«. digen« (S. 222).
Bei seiner Frankfurter Inszenierung von Ein relativ freundliches Echo fand die In-
1977 griff der B.-Schüler Peter Palitzsch wie- szenierung von Wolfgang Lichtenstein für die
der auf B.s Fassung zurück und setzte auf den Recklinghausener Ruhrfestspiele 1984. Es war
Parabelcharakter der dramatischen Vorgänge aber verbunden mit einer verschärften Kritik
statt auf den Anschein einer dokumentari- an dem Stück, das von allen Rezensenten als
schen Darstellung der Kommune-Zeit. Die unfertig und halbherzig charakterisiert wurde.
Aufführung war zum Zeitpunkt der terroristi- Die Aufführung präsentierte es als ein Volks-
schen Aktivitäten der RAF (Rote Armee Frak- stück, karikierte die Gestalten der Bourgeoisie
tion) und insbesondere der Schleyer-Entfüh- durch Halbmasken und verwendete neben der
rung und -ermordung politisch äußerst bri- Musik von Eisler auch Kompositionen von
sant. Es gab massive Interventionen, sie vom Hans Werner Henze. Ulrich Schreiber sah in
Spielplan abzusetzen, da B.s Forderung, »Brechts Materialsteinbruch« ein stalinisti-
gesellschaftliche Veränderungen auch mit sches Bekenntnis zur Diktatur des Proletari-
Gewalt durchzusetzen, im Kontext der Ter- ats. Qualitäten der Aufführung, der »Züge von
rorismusdebatte als Provokation verstanden Größe« zugestanden wurden, machten »aus
wurde. Gerade aus der scheinbaren Nähe von Brechts Entwurf ein großes Stück«. Hans
Geschichte im Drama und politischer Aktuali- Schwab-Felisch nahm an, dass B. das Stück gar
tät schloss der Kritiker Iden, der für das Stück nicht habe schreiben wollen, lediglich vom
immer aufgeschlossen gewesen war, auf einen Stoff fasziniert gewesen sei und es bei der
»Verlust an Glaubwürdigkeit bei Brecht«, des- Darstellung versäumt habe, das Kollektive wie
sen »Veränderungsdialektik« zu schematisch das Individuelle schlüssig zur Gestalt zu brin-
sei, um sich unter veränderten Umständen be- gen, wie ihm das etwa in Furcht und Elend des
haupten zu können (Iden 1983b, S. 217). Die III. Reiches gelungen sei. Das »revolutionäre
Aufführung sei deshalb als Kritik an B. zu ver- Pathos« spreche uns nicht mehr an, »die revo-
stehen, das Stück erscheine jetzt mit Recht als lutionäre Romantik von damals erreicht uns
»klein und kleingläubig« (S. 218 f.). Hensel nicht mehr« (Schwab-Felisch).
ging noch einen Schritt weiter: Unter der Wie bei kaum einem anderen Stück B.s ist
Überschrift Heroischer Kitsch führte er in der die Wirkungsgeschichte auf dem Theater von
Wirkung 557

einer Einschätzung der politischen Rahmen- hergestellt werden musste. Griegs Stück war
bedingungen der jeweiligen Aufführung ab- hier nur Anregung, noch nicht eine wirkliche
hängig. Dabei ließ sich die Unterstellung, das Grundlage. Mit dem Rückgriff auf das Mate-
Stück sei unfertig, für die unterschiedlichsten rial der Geschichte selbst, nicht auf dessen
Standpunkte instrumentalisieren. Eine unbe- Mittelbarkeit und Gebrochenheit in einem li-
fangene, in B.s Sinn naive Rezeption steht terarischen und als solchem seinerseits histo-
noch aus. rischen Reflex, entfällt aber der für B.s Drama-
tik weithin bestimmende und strukturbil-
dende Typus der historisierenden Wahrheits-
findung, d. h. der Entschlüsselung des Textes
Analyse durch die Konfrontation mit dem geschichtli-
chen Wissen, was nicht zuletzt zu dem Ein-
druck geführt hat, das Stück käme ohne die
Die Theaterarbeit B.s war nach seiner Rück- Techniken der Verfremdung aus. Tatsächlich
kehr aus dem Exil durch das Prinzip der Bear- ist aber der Text der Geschichte, wo er in
beitung und der Herstellung von Theatermo- vielfach fast dokumentarischer Weise in das
dellen bestimmt. Das gilt auch für die Tage der Stück eingeht, noch nicht das Medium der Er-
Kommune. Als B. mit der Niederschrift be- kenntnis, sondern dessen Gegenstand und An-
gann, lagen schon die erste Fassung von Auf- lass, so dass in einer für B.s Verfahrensweise
bau einer Rolle. Laughtons Galilei, das Anti- ungewöhnlichen Art die Fakten und die Wahr-
gonemodell 1948 und der erste Entwurf eines heit des Geschichtlichen auseinander traten,
Modellbuchs über die Berliner Inszenierung ohne dass deshalb die Faktizität als falscher
von Mutter Courage vor. Damit waren die Prin- Schein aufgehoben werden musste. Wenn sich
zipien der Vorgehensweise entwickelt. Als sonst literarische Fiktion (Fabel) und Ge-
Grundsatz seiner Arbeit hatte er anlässlich des schichte wechselseitig relativieren, geht es in
Antigonemodells festgehalten, die Stückwahl den Tagen der Kommune um das Wechselver-
sei darin begründet, dass der Text »stofflich hältnis von geschichtlichem Handeln und des-
eine gewisse Aktualität erlangen konnte und sen historisch begründeter Einschätzung, kon-
formal interessante Aufgaben stellte« (GBA kret um die Fehler der Kommune und um
25, S. 74), wobei es bei der »Durchrationalisie- deren historisierende Erklärung. Da B. aber
rung« der Fabel darauf ankam, »das Wirklich- die von Marx begründete Deutung des Kom-
keitsbild […] wahrheitsgetreuer und auf- muneaufstands als wirklichkeitsgetreue Ver-
schlußreicher, oder artistisch befriedigender sion akzeptierte, ist das Stück in einer ganz
[…] zu machen« (S. 76). Die Entdeckung ungewöhnlichen Weise in seiner Aussage un-
neuer zeitgemäßer Lesarten sollte, wie es spä- frei und unselbstständig, so dass je nach poli-
ter in der Schrift Studium des ersten Auftritts tischer Frontstellung der Eindruck entstehen
von Shakespeares Coriolan hieß, »den Spaß konnte, es handele sich um reine Propaganda
[…] vermitteln, ein Stück durchleuchteter Ge- oder um den Versuch, die marxistische Deu-
schichte zu behandeln. Und Dialektik zu er- tung der Vorgänge möglichst exakt zu dra-
leben.« (GBA 23, S. 402) Das war, wie die Be- matisieren, so dass eine Bearbeitung im Hin-
arbeitungen zeigen (u. a. Antigone, Der Hof- blick auf ›wissenschaftliche‹ Genauigkeit den
meister, Biberpelz und roter Hahn, Coriolan), ›Wahrheitsgehalt‹ und damit auch die ästhe-
am ehesten möglich, wenn vorgegebene Texte tische Qualität des Stücks nur verbessern
mit einem aktuellen Wissen von geschichtli- könne.
chen Sachverhalten konfrontiert und auf sie Geschichte erscheint in den Tagen der Kom-
hin ausgelegt wurden. Für die Tage der Kom- mune in einer Engführung zugleich als Er-
mune ergab sich aber die Schwierigkeit, dass kenntnismedium und Erkenntnisgegenstand.
ein zur Bearbeitung geeigneter Text nicht vor- Sie wird in einer dreifachen Abstufung ge-
lag, sondern erst aus dem Quellenmaterial staltet: In den Stadthausszenen wird doku-
558 Die Tage der Kommune

mentarisches Material über die Sitzungen der Die Erklärung für diese widersprüchliche
Kommune zu einem historischen Ablauf arran- Konstellation liefert in Szene 2 Thiers im Ge-
giert, in den Szenen um Thiers und seine spräch mit seinem Außenminister Favre, be-
Regierung sowie um Bismarck und die Bour- zeichnenderweise in dem privatesten Kontext
geoisie wird die Politik der Machthaber durch seines Badezimmers und im Zusammenhang
satirische Verfremdung aus marxistischer Per- mit Ausführungen zu seiner Diät. Es geht
spektive kritisch ausgestellt, in den Volks- darum, die Bewaffnung des Volkes in den
szenen wird im Rückgriff vor allem auf Lis- Nationalgarden, die den patriotischen Wider-
sagarays Schilderung der Ereignisse eine stand gegen die preußischen Eroberer mobili-
Vorgangs- und Handlungsebene konstruiert, sieren sollte und das auch erreicht hat, un-
die zugleich widersprüchliche Formen der Be- schädlich zu machen, weil der »Mob« (GBA 8,
wusstseinsbildung und Erkenntnis in ihrer S. 253) die Waffen gegen die Besitzenden rich-
Abhängigkeit von sozialen und mentalen Vo- ten und das »um jeden Preis« (ebd.) zu schüt-
raussetzungen zur Anschauung bringt. Damit zende Eigentum (die »Ordnung«; S. 252) be-
ergibt sich eine Interaktion von drei Personen- drohen könnte. Thiers akzeptiert unter diesen
gruppen: des Zentralkomitees der Kommune, Umständen die Niederlage, auch um den Preis
der Bourgeoisie und der Pariser Bevölkerung, der ruinösen Reparationszahlungen und der
die als eine Art ›Familie‹ um die Näherin Ma- Vernichtung der französischen Industrie. Der
dame Cabet gruppiert ist. Die ›Familie‹ Cabet Widerstand der Pariser Nationalgardisten,
als Trägerin von Handlung und Fabel ist mit der sich noch gegen die Preußen richtet, soll
den anderen beiden Personengruppen durch durch einen hohen Blutzoll in aussichtslosen
fortlaufende Interaktion verbunden. Schlachten, die eigens zur Vernichtung der ei-
Strukturbestimmend ist die Abfolge der be- genen Truppen geführt werden, gebrochen
troffenen Wahrnehmung von Zwängen durch werden. Die dafür nötige Strategie lässt Thiers
die Pariser Bevölkerung, deren politischer sich von Bismarck vorgeben.
Erklärung im Umfeld von Thiers und der Die Unterredung klärt aber nicht nur die
Handlungsweise der Kommune, die auf die widersprüchlichen Erfahrungen der Expositi-
politischen Vorgaben zögernd und aus wider- onsszene, sie reagiert auch auf unterschwel-
sprüchlicher Einschätzung reagiert und zu- lige Tendenzen im belagerten Paris. Die Na-
gleich ihren Handlungsspielraum zu ebenso tionalgardisten, die noch aus patriotischem
weitreichenden wie in der tatsächlichen Kons- Antrieb handeln, als sie vom Militärgouver-
tellation unwirksamen Grundsatzbeschlüssen neur Trochu planvoll verheizt werden, ahnen
nutzt. Dabei werden zugleich die Bedürfnisse auch, dass nicht nur die Preußen sie belagern,
der Bevölkerung in Zusammenhang mit einer sondern vor allem auch die französische Bour-
ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Or- geoisie, die erkannt hat, dass »alle Geschäfte,
ganisation als auch die entgegenstehenden In- die mit diesem Krieg gemacht werden konn-
teressen der trotz der militärischen Niederlage ten, […] gemacht [sind]« (GBA 8, S. 246) und
immer noch herrschenden Schichten im jewei- sich neue Tätigkeitsfelder sucht, zu diesem
ligen politischen Handlungsraum zum Gegen- Zweck aber die Eigentumsordnung wieder
stand der Darstellung. herstellen will, die durch die Kämpfe bedroht
Die Eingangsszene verdeutlicht als Exposi- ist.
tion, dass die militärische Führung anschei- Die Szene 3, wieder eine Straßenszene,
nend an Erfolgen gegen die preußischen Bela- zeigt das Kalkül Thiers, der den Anregungen
gerer gar nicht interessiert ist und eine weitere Bismarcks folgt und die in der Stadt gehorte-
Rekrutierung für die Nationalgarden einstellt. ten Nahrungsmittel freigibt, um gleichzeitig
Zugleich zeigt sich, dass sich die Besitzenden die Nationalgarden zu entwaffnen, indem er
von den bewaffneten Arbeitern, die einem pa- Befehl gibt, die aus den Mitteln der Bevölke-
triotischen Appell gefolgt sind, bedroht füh- rung beschafften Kanonen aus der Stadt zu
len. entfernen. Das scheitert am Widerstand des
Analyse 559

Volkes, insbesondere der Frauen, die hier ein ergibt sich das für den weiteren Verlauf be-
Eigentumsrecht geltend machen, sich im Ver- stimmende Problem von Rechtzeitigkeit und
trauen auf 300 000 Nationalgardisten der Kapi- Zeitverlust: »Gut, wählt. Oder wählt nicht,
tulation widersetzen und die Liniensoldaten auch gut. Aber vernichtet den Feind, solang ihr
zum Fraternisieren veranlassen. Dass die Ret- könnt, jetzt.« (ebd.) Auch »Papa« lenkt aber
tung der Kanonen »Ohne Blutvergießen« (GBA schließlich ein, indem er, ganz in Genevièves
8, S. 262) möglich ist, wird von Langevin aus- Sinne, die Wahl der Kommune begrüßt, weil
drücklich festgehalten. Die Lehrerin Gene- sie den Bürgerkrieg verhindert: »Es wird eine
viève, die zusammen mit Madame Cabet ver- neue Zeit sein und es wird kein Blutbad ge-
hindert hat, dass der Nationalgardist François wesen sein.« (S. 269)
Faure und sein Bruder Philippe als mit dem In den folgenden Stadthausszenen wird die
Raub der Kanonen beauftragter Liniensoldat Kommune als eine arbeitende Körperschaft
aufeinander schießen (S. 261 f.), versteht die gezeigt, die in ihren Beschlüssen und Resolu-
friedliche Einigung als den Beginn eines tionen eine neue Form von Staatlichkeit im
»neuen Zeitalters« (S. 263). Zugleich distan- Interesse der Pariser Bevölkerung organisiert.
ziert sie sich aber von der Hinrichtung der Hier verfährt B. dokumentarisch, indem er
Generäle Lecomte und Thomas, indem sie den Protokollen der Kommune-Sitzungen
»Papas« Beteiligung an dieser Aktion, die folgt.
»Papa« widerwillig eingesteht (S. 265), vor- Entscheidend ist aber, dass diese Beschlüsse
sichtig missbilligt. Damit gewinnt das für das sich unmittelbar auf das Leben der Pariser
Stück insgesamt bestimmende Thema der von Bevölkerung und speziell auf das der ›Familie‹
Anfang an latent vorhandenen Gewaltanwen- Cabet auswirken. Das gilt für den Erlass der
dung Kontur. Mieten, der Madame Cabet aus ihrer Notlage
Die Kommune entsteht in B.s Deutung ge- befreit, für die Rückgabe der Pfänder, die ihr
wissermaßen zwangsläufig aus der ersten Unrecht gegenüber François aufhebt, dessen
spontanen Widerstandshandlung, der Vertei- Lernmittel sie aus Not versetzt hat, das gilt für
digung der Kanonen, und aus der Distanzie- die Abschaffung der Nachtarbeit der Bäckerge-
rung der Administration von dieser Hand- sellen, welche die Ursache für Philippes aus
lungsweise. Dabei erweist sich das Bedürfnis Mangel an Bildung begründetes falsches Be-
nach einer Legalisierung der Aufstandsbewe- wusstsein ist, für den Anspruch auf gerechte
gung durch Wahlen zur Kommune als proble- Entlohnung in den vergesellschafteten Werk-
matisch, insofern damit der Marsch auf Ver- stätten, die Babette einklagen muss, das gilt
sailles unterbleibt, den das Volk, in Gestalt von ebenfalls für die Einführung des Arbeiterlohns
»Papa« und Coco, vom Zentralkomitee der Na- für die Kommunemitglieder, die Geneviève
tionalgarden vergeblich fordert. Im Treppen- die Missachtung des Portiers im Ministerium
aufgang vor dem Sitzungssaal, also in einem des Inneren einträgt usw. Wichtig ist die Ver-
Raum halber Öffentlichkeit zwischen den poli- fahrensweise: Die Volksszenen sind so kon-
tisch Handelnden und der Straße, setzen sich zipiert, dass ein Zusammenhang zwischen den
die beiden Nationalgardisten mit Langevin als Stadthausszenen, also der politischen Hand-
einem Mitglied des Zentralkomitees und mit lungsebene, und den Lebensbedingungen der
Geneviève über die richtige Strategie ausein- Bevölkerung unmittelbar evident wird. Das ist
ander: Für Geneviève und auch für Langevin eine Umkehrung von B.s Praxis in den Bear-
ist die Vermeidung des Bürgerkriegs vordring- beitungen, die den gesellschaftlichen Gehalt
lich, zumal die Flucht der Bourgeoisie und der aus der scheinbar privaten Handlungsebene
Exekutive schon ungehindert eingesetzt hat. herausarbeiten. Hier werden hingegen die Le-
Langevin muss jedoch zugeben, dass »Papa« bensformen aus den politischen Vorgaben ent-
und Coco Recht haben (»ihr seid immer weiter wickelt, ohne darin jedoch aufzugehen.
als wir«; GBA 8, S. 268), aber er akzeptiert Ein bezeichnendes Beispiel ist der perma-
auch den legalistischen Gesichtspunkt. Daraus nente Frontwechsel von Philippe Faure. Er ge-
560 Die Tage der Kommune

hört zu den fraternisierenden Soldaten, die Langevin als ihr Lehrer und Mentor seine Ein-
den Raub der Kanonen durch die Truppen sichten und Sorgen mitteilt. Es sind dies bis in
Thiers nicht ganz freiwillig verhindern, aber die Formulierung hinein die von Marx benann-
er kehrt nach Versailles zurück, weil er mit ten Fehler der Kommune, die allerdings le-
seinem Sold das Mikroskop seines Bruders bensweltlich kontextualisiert werden. Lange-
François auslösen will, das Madame Cabet we- vin ist damit die episierende Instanz im
gen ihrer Mietschulden ins Pfandhaus ge- Drama, die aber zugleich ganz in die Hand-
bracht hat (GBA 8, S. 271). Er will dem Bruder lungsebene integriert ist.
das Studium ermöglichen, das diesen zum Er erkennt schon in der Euphorie in Szene 6,
Priesterzögling gemacht hat, weil er nur unter dass es ein Fehler war, nicht auf Versailles zu
dieser Bedingung Physik studieren konnte. Er marschieren (GBA 8, S. 278), und er wieder-
kehrt zur Kommune zurück, weil Thiers den holt das in der Szene 11a unmittelbar vor der
Sold nicht bezahlt, und er dokumentiert damit Offensive der Truppen Thiers, die den Bürger-
den »Leichtsinn der Kommune«, die ihre Li- krieg eröffnen, vor dem die Kommune zurück-
nien nicht schließt und so dem Gegner den geschreckt war. Er spricht von den »Fehlern«,
Zugang eröffnet (S. 280), und er läuft am Ende die darin begründet sind, dass die Zeit für
wieder weg, weil er als Bäckergeselle »nicht richtiges Handeln fehlte (S. 300). Und er kriti-
denken gelernt hat« (S. 309) und deshalb nicht siert Punkt für Punkt die in Szene 7 in Schrift-
mutig ist, was die Maßnahme der Kommune tafeln proklamierten Grundsätze der Kom-
bestätigt. Auf diese Weise wird alles Private mune (S. 282), weil die ihren Missbrauch nicht
Manifestation von Politischem, ohne dass da- ausschließen: »Wir hätten nur einen einzigen
mit die Eigendynamik des Volkslebens aufge- Punkt statuieren sollen: unser Recht zu le-
hoben würde. ben!« (S. 301) Ein falsch verstandener Begriff
Das wird vor allem in den Szenen 6 und 12 von persönlicher Freiheit, den er schon in
deutlich, welche die bedrohte Utopie eines Szene 6 unter Vorbehalt gestellt hatte (S. 279),
freien Lebens im Zeichen anfänglicher Illu- und die Furcht vor Gewalt, die auch er zuerst
sion und angesichts der tödlichen Gefahr zei- verweigert hatte und vor der vor allem Gene-
gen. Die befreiten Menschen erfahren und viève immer mehr zurückgeschreckt war, ha-
gestalten ihr Leben als Fest. Wenn die Volks- ben der Gegenseite den Handlungsspielraum
szenen der Politik der Kommune einen lebens- gelassen: »in diesem Kampf gibt es nur blut-
weltlichen Gehalt gaben, ohne darin aufzu- befleckte Hände oder abgehauene Hände«
gehen, so sind sie zugleich der Kontext, in dem (S. 301). Es ist ein verspäteter und unzeitiger
die Fehler der Bewegung anschaulich werden. Lernprozess, der an Langevin und Geneviève
Dafür ist die Gestalt des Kommune-Mitglieds vorgeführt wird und der beide zu Kommen-
Pierre Langevin bestimmend, den B. zur tatoren der Vorgänge macht. Die Fehleinschät-
Schlüsselgestalt seiner Dramatisierung ge- zungen werden fortlaufend durch die Hand-
macht hat. Als Schwager der Madame Cabet lung bestätigt, etwa durch die Mentalität des
gehört er zur ›Familie‹ und verbindet so die Bettlers, der die Besitzansprüche seines Guts-
Stadthaus- und die Straßenszenen, indem er herrn auch als dessen Opfer noch bestätigt
zugleich deutlich macht, dass die politische (S. 295), durch die Disziplinlosigkeit der
Führung aus der Bevölkerung direkt hervor- Kommunetruppen (S. 297 f.), durch die Ver-
geht. Zugleich ist er aber als politisch weit- schonung des Spitzels Guy Suitry, des Verlob-
sichtig Denkender derjenige, der die Fehler ten von Geneviève, in der die ›Familie‹ Cabet
der Bewegung, an denen er selbst beteiligt eine kindliche Naivität beweist (S. 313). Dass
war, klar erkennt und die versäumten Hand- Geneviève, die anfangs am konsequentesten
lungsalternativen zur Sprache bringt. Das ge- ›Gewaltlosigkeit‹ gefordert hat, sich am Ende
schieht insbesondere in Gesprächen mit Gene- der Hinrichtung ihres Verlobten nicht wider-
viève, die durch seine Vermittlung Delegierte setzt und zugleich bereit ist, »Papa« auf den
für das Unterrichtswesen geworden ist und der Barrikaden zu verteidigen, obwohl und gerade
Analyse 561

weil er an der Erschießung der Generäle be- falls zu optimistisch, aber die marginalisie-
teiligt gewesen ist (S. 312), ist das Ergebnis rende Einschätzung bewährt sich dann doch.
dieses Lernprozesses, den die Wirklichkeit Nicht von ungefähr führt Bismarck die Pazifi-
erzwingt. zierungsverhandlungen mit Favre in der
Als ein Grundfehler wird der unterbliebene Frankfurter Oper während einer Aufführung
Zugriff auf die Reserven der Bank von Frank- von Bellinis Norma (Szene 10), in der es auch
reich herausgearbeitet. Der Delegierte Beslay um einen Volksaufstand geht; nicht der inter-
weicht in kleinbürgerlichem Respekt vor dem essiert, sondern die »stramme Person« (S. 299)
Mut und der rhetorischen Brillanz des Vize- der Sängerin. Und am Ende genießt die Bour-
gouverneurs de Ploeuc zurück (Szene 8). B. geoisie den Untergang der Kommune als ein
stellt hier einen komplexen Zusammenhang Spektakel, ein »erhabenes Schauspiel«
dar, indem er unterstellt, dass die Bank durch (S. 316), wobei B. eine satirische Äußerung
die Vermittlung des Erzbischofs von Paris von Marx dramatisiert: »Das Paris des Thiers
Thiers die von ihm benötigten Gelder zukom- war nicht das wirkliche Paris der ›schoflen
men lässt; das rechtfertigt nicht nur die von Menge‹, sondern ein Phantasie-Paris […], das
der Kommune verfügte Trennung von Kirche reiche, das kapitalistische, das vergoldete, das
und Staat, sondern auch die Verhaftung des faulenzende Paris, das sich jetzt […] in Ver-
Erzbischofs und seine Hinrichtung. In seiner sailles […] drängte; für das der Bürgerkrieg
Unterredung mit Bismarck (Szene 10) macht nur ein angenehmes Zwischenspiel war; das
Thiers Außenminister Favre ja deutlich, dass den Kampf durchs Fernglas betrachtete, die
die Rettung der Bank, die Versailles 257 Mil- Kanonenschüsse zählte und bei seiner eignen
lionen Franc überwiesen hat, der Regierung Ehre und der seiner Huren schwor, das Schau-
den nötigen Handlungsspielraum eröffnet hat, spiel sei nun endlich besser arrangiert, als es
denn mit diesen Mitteln können die Kriegsge- im Theater der Port Saint-Martin je gewesen.
fangenen freigekauft werden, die den Auf- Die Gefallenen waren wirklich tot, das Ge-
stand niederschlagen. Dabei handelt es sich schrei der Verwundeten war kein bloßer
um »sichere Kader […], Leute mit bäuerli- Schein; und dann, wie welthistorisch war
chem Hintergrund« (S. 299 f.), deren Mentali- nicht die ganze Sache!« (Marx, S. 350)
tät in der Gestalt des Bettlers schon exem- Wenn Thiers in Szene 2 die Frage stellt:
plarisch vorgeführt wurde. Selbst Bismarck ist »was ist das, Paris?« (GBA 8, S. 253) und sie
von dieser Leistung seines Kriegsgegners be- vorläufig beantwortet: »für uns ist Paris kein
eindruckt, und die Kommune muss erfahren, Symbol, sondern ein Besitztum«, so wird ihm
dass es »keinen Konflikt zwischen zwei Bour- am Schluss von der Bourgeoisie bestätigt, dass
geoisien [gibt], der sie hindern könnte, sich er »Paris an seine wahre Herrin zurückgegeben
gegen das Proletariat der einen oder anderen [hat], an Frankreich; was er mit dem Hinweis
sofort zu verbünden« (S. 304). Der Bürger- bestätigt: »Frankreich, das ist – Sie, Mesda-
krieg, vor dem die Kommunarden immer zu- mes et Messieurs.« (S. 317)
rückgeschreckt sind, ist für die Internationale Die Tage der Kommune sind in B.s Sinn »ein
der Besitzenden kein Hindernis. Wenn die Stück durchleuchteter Geschichte« (GBA 23,
›Familie‹ Cabet in Szene 6 Langevins Befürch- S. 402), allerdings ist es nicht das Theater, das
tungen vor Thiers Truppenrekrutierung mit ei- sie für das Bewusstsein der Zuschauer trans-
nem Sketch widerlegen wollte, in dem Bis- parent macht, sondern vorgängig ist die mar-
marck und Thiers als »halbtote Greise« xistische Deutung nicht nur der Geschichte
(S. 279) vorgeführt werden, so zeigt sich auch insgesamt, sondern speziell dieses geschichtli-
hier ein allzu naives Vertrauen auf die Über- chen Vorgangs. Diese Deutung ist in Schlüssel-
legenheit eines befreiten Paris. Umgekehrt sentenzen zitathaft präsent und bezieht sich
sieht die flüchtende Bourgeoisie in dem Auf- gleichermaßen auf die Leistungen und die
stand nur eine »Komödie«, die höchstens acht Fehler der Bewegung. B. benannte als ent-
Tage dauern wird (S. 273). Das ist zwar eben- scheidenden ›marxistischen Gesichtspunkt‹:
562 Die Tage der Kommune

»das Proletariat [kann] die Gewalt seiner Geg- macht die Rezeption voraussetzungsreich und
ner nicht brechen […], wenn es selber nicht schwierig.
bereit ist, Gewalt anzuwenden« (Brief an
Bentley, 12. 11. 1949; GBA 29, S. 561). Was das
Stück zeigt, ist die Dialektik des Geschichts- Literatur:
verlaufs und der Geschichtswahrnehmung. In Bohnen, Klaus: Vom »revolutionären Sinn« im »na-
diesem Sinn erscheinen die Herrschenden als türlichen Gang der Dinge«. Nordahl Griegs ›Nieder-
Karikaturen, ohne dass das ihre Gefährlichkeit lage‹ vor dem Hintergrund von Brechts ›Gegenent-
einschränkt; die Demonstration ihres Über- wurf‹ ›Die Tage der Commune‹. In: Schulte, Klaus/
Wucherpfennig, Wolf (Hg.): Bertolt Brecht. Die Wi-
lebtseins in der Pantomime der Szene 6 (GBA
dersprüche sind die Hoffnungen. München 1988,
8, S. 281) ist zugleich zutreffend und voreilig S. 13–32. – Bunge. – Bronnen, Arnolt: Bert Brechts
(vgl. Müller 2000). Und nicht von ungefähr ist Vermächtnis. Uraufführung des Schauspiels ›Die
der Vizegouverneur von Frankreich, Marquis Tage der Kommune‹ in Karl-Marx-Stadt. In: Berli-
de Ploeuc, eine der imponierendsten Gestal- ner Zeitung, 20. 11. 1956. – Brustellin, Alf: Mensch-
ten, der der redliche Kommunarde Beslay in lich geht die Revolution zugrunde. Die westdeutsche
Erstaufführung von Brechts ›Tage der Commune‹ in
keiner Weise gewachsen ist.
Stuttgart. In: Süddeutsche Zeitung (München),
Der politische Akzent verlagert sich bei die- 24. 3. 1970. – Creutz, Lothar: ›Die Tage der Kom-
ser Grundannahme auf die Stadthausszenen, mune‹ in Karl-Marx-Stadt. In: Die Weltbühne,
die im Rückgriff auf die historischen Materia- 12. 12. 1956, S. 1592–1595. – Eichholz, Marianne:
lien sehr stark dokumentarisch gestaltet sind, Der ummontierte Schwejk. Brechts ›Die Tage der
allerdings in einer spezifischen Akzentuie- Commune‹ und ›Schwejk im Zweiten Weltkrieg‹ in
Ost-Berlin. In: Der Tagesspiegel (Berlin), 3. 2. 1963.
rung. Das widersprüchliche Meinungsspek-
– Fischer, Gerhard: The Paris Commune on the
trum in den Debatten wird zwar angedeutet, Stage: Vallès, Grieg, Brecht, Adamov. Frankfurt a. M.
aber vor allem in der Form völlig anonymer 1981. – Friese, Wilhelm: Nordahl Grieg und Bertolt
»Stimmen« und »Rufe«; ausgewiesene Redean- Brecht. In: Etudes Germaniques 22 (1967), S. 449–
teile haben ihnen gegenüber die gemäßigt pro- 461. – Hartung, Günter: Brechts Stück ›Die Tage der
gressiven oder progressiven Delegierten Be- Commune‹. In: WB. 18 (1972), S. 108–144. –
Hecht. – Hensel, Georg: Heroischer Kitsch. In: Sie-
slay, Delescluze, Varlin, Rigault und Ranvier.
gert 1983b, S. 220–223. – Hildebrandt, Dieter: Ist
Die Straßenszenen machen schließlich deut- die Mauer eine Barrikade? Brechts ›Tage der Com-
lich, auf welche vordergründig durchaus wi- mune‹ am Schiffbauerdamm in Ost-Berlin. In:
dersprüchlichen Interessen und Bedürfnisse Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 11. 1962. – Hin-
die Politik der Kommune reagiert und inwie- derer, Walter: »Das Gehirn der Bevölkerung arbeitet
weit sie vor allem durch den Mangel an Zeit im vollen Lichte«: ›Die Tage der Commune‹. In:
Hinderer, S. 217–243. – Iden, Peter: Schöne Worte
überfordert ist. Die Straßenszenen bilden das
der Agitation, kraftlos. Brechts ›Die Tage der Com-
Zentrum des Stücks und auch die Ebene einer mune‹ als westdeutsche Erstaufführung in Stuttgart.
die Vorgänge übergreifenden Erkenntnis, die In: Siegert 1983b, S. 194–198. – Ders.: Die pessimi-
insbesondere von Langevin formuliert wird: stischen Rebellen. Peter Palitzsch inszeniert Brechts
sie sind aus dem Kontext der dokumentarisch ›Die Tage der Commune‹. In: Siegert 1983b, S. 217–
vermittelten Geschichte entworfen. Weil B. 219. – Ihering, Herbert: Theater in Berlin und Han-
nover. In: Die andere Zeitung (Hamburg), 1. 11.
sich an das historische Material hielt, bleibt
1962. – Ders.: [Rezension]. In: Die andere Zeitung
das Volk hier ein anonymes Kollektiv, wie auch (Hamburg), 1. 11. 1962. – Kaufmann, Hans: Bertolt
die Delegierten der Kommune in den Stadt- Brecht. Geschichtsdrama und Parabelstück. Berlin
hausszenen. Es gibt keine Protagonisten- 1962. – Keisch, Henryk: Die Tage der Kommune /
handlung wie in Trommeln in der Nacht, Die Schauspiel von Bertolt Brecht. Zur Uraufführung in
heilige Johanna der Schlachthöfe oder Die Karl-Marx-Stadt. In: Neues Deutschland (Berlin),
27. 11. 1956. – Kurella, Alfred: Die Tage der Kom-
Mutter, die einen historischen Zugang heraus-
mune. Eine postume Brecht-Premiere. In: Die Deut-
forderte. Die ›Familie‹ Cabet ist vielmehr das sche Woche (München), 5. 12. 1956. – Marx, Karl:
Medium für die Versinnlichung einer vorab Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Gene-
gedeuteten geschichtlichen Erscheinung. Das ralrats der Internationalen Arbeiterassoziation
563

(1871). In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. 268. – Ders.: Schriften. Arbeit mit Brecht. Berlin
Bd. 17. Berlin 1962, S. 313–365. – Menck, Klara: 1975.
Kanone vor der Haustür. Brechts ›Die Tage der Com-
Klaus-Detlef Müller
mune‹ in Stuttgart. In: Frankfurter Allgemeine Zei-
tung, 26. 3. 1970. – Müller, Klaus-Detlef: Bertolt
Brechts ›Die Tage der Kommune‹. Probleme einer
quellenbezogenen Edition. In: editio 11 (1997),
S. 129–151. – Ders.: Überlebensgroß – überlebens-
klein. Zur Darstellung der ›Großen‹ der Geschichte
im Werk Bertolt Brechts. In: Blasberg, Cornelia/
Deiters, Franz-Joseph: Geschichtserfahrung im
Der Hofmeister von Jacob
Spiegel der Literatur. Fs. für Jürgen Schröder. Tü- Michael Reinhold Lenz
bingen 2000, S. 259–269. – Rischbieter, Henning:
Nebenwerke Brechts? ›Die Rundköpfe und die Spitz-
köpfe‹ in Hannover, ›Coriolan‹ in Frankfurt, ›Die
Tage der Commune‹ in Ost-Berlin. In: Theater heute
(1962), H. 12, S. 19. – Ders.: Mit Brecht in Kala-
Entstehung, Text
mitäten. Hans Hollmann inszeniert ›Leben Eduards
des Zweiten von England‹ in München und ›Die
Tage der Commune‹ in Stuttgart. In: Theater heute B.s Interesse an Jakob Michael Reinhold Lenz
(1970), H. 7, S. 18 f. – Rühle, Jürgen: ›Die Tage der lässt sich bis zum Ende der 20er-Jahre zurück-
Kommune‹. Brechts letztes Stück in Ostdeutschland verfolgen (vgl. Kitchig, S. 18). Eine kritische
uraufgeführt. In: Volksstimme (St. Gallen), 12. 12. Beschäftigung B.s mit dem Sturm-und-Drang-
1956a. – Ders.: Gespenstische Parallelen … Chem- Autor setzte aber erst Ende der 30er-Jahre ein,
nitz sah Brechts letztes Stück ›Die Tage der Kom-
als B. im Exil den Sonettzyklus Studien ver-
mune‹. In: Westdeutsche Allgemeine (Essen), 30. 11.
1956b. – Rülicke-Weiler, Käte: Die Dramaturgie fasste (GBA 11, S. 267–273). Das vierte Sonett
Brechts. Theater als Mittel der Veränderung. 2. Aufl. trägt den Titel Über das bürgerliche Trauer-
Berlin 1968. – Schlaffer, Hannelore: Dramenform spiel »Der Hofmeister« von Lenz (S. 270 f.) und
und Klassenstruktur. Eine Analyse der dramatis per- würdigt Lenz als engagierten, für die Inter-
sona ›Volk‹. Stuttgart 1972. – Schöttker, Detlev: essen der bürgerlichen Klasse Partei ergreifen-
Brechts Ästhetik des Naiven. Stuttgart 1989. –
den Autor: Die Gattungszuschreibung »Trau-
Schreiber, Ulrich: Waldsterben und Kommunarden-
beschluß. In: Frankfurter Rundschau, 15. 5. 1984. – erspiel« im Titel und der Schlussvers, »Des
Schwab-Felisch, Hans: ›Die Tage der Commune‹, Dichters Stimme bricht, wenn er’s erzählt«,
ein Lehrstück von gestern. In: Frankfurter Allge- verweisen dabei gleichermaßen auf die gesell-
meine Zeitung, 8. 5. 1984. – Seelmann-Eggebert, Ul- schaftlichen Zustände im Deutschland des
rich: Die blutigen Hände von Bert Brecht. Urauf- 18. Jh.s und auf die Haltung der Betroffenheit,
führung ›Die Tage der Kommune‹ in Chemnitz. In:
die B. dem historischen Autor, und womöglich
Hessische Nachrichten (Kassel), 27. 11. 1956a. Auch
in: Stuttgarter Nachrichten, 24. 11. 1956; Basler Na- sich selber, unterstellt: »Gesellschaftspoliti-
tionalzeitung, 28. 11. 1956. -Ders.: ›Die Tage der sche Entwicklungen und literarische Gattung
Kommune‹ nahmen ein furchtbares Ende. Absage an werden unmittelbar parallel gesehen« (Giese,
die Koexistenz. In: Abendpost (Frankfurt a. M.), S. 163) und im Vergleich der Zustände »hüben«
27. 11. 1956b. – Ders.: Bert Brecht, die Kommune (Deutschland) und »drüben« (Frankreich), die
und Ungarn. Ein Nachwort zur Uraufführung ›Die
sich in Pierre Augustin Caron de Beaumar-
Tage der Kommune‹ in Chemnitz. In: Echo der Zeit
(Recklinghausen), 20. 1. 1957. – Siegert, Wolf: chais Komödie Le mariage de Figaro (1785;
Die Furcht vor der Kommune. Untersuchungen zur dt.: Die Hochzeit des Figaro) und in Lenz’
Entstehung und Bedeutung von Bertolt Brechts ›Die vermeintlichem Trauerspiel spiegeln, kritisch
Tage der Commune‹. Frankfurt a. M., Bern 1983a. – beurteilt. Für B. hat Lenz’ Drama den Rang
Ders. (Hg.): Brechts ›Tage der Commune‹. Frank- eines realistischen Dokuments der »Misere« in
furt a. M. 1983b. – Theaterarbeit. 6 Aufführungen
Deutschland (GBA 8, S. 321). Mit dem Begriff
des Berliner Ensembles. Hg. v. Berliner Ensemble.
Dresden 1952. – Wekwerth, Manfred: Auffinden der »Misere« bezieht sich B. auf einen Brief,
einer ästhetischen Kategorie. In: Sinn und Form. den Friedrich Engels am 14. 7. 1893 an Franz
2. Sonderh. Bertolt Brecht. Berlin 1957, S. 260– Mehring gerichtet hat: »Beim Studium der
564 Der Hofmeister von Jacob Michael Reinhold Lenz

deutschen Geschichte – die ja eine einzige der von der deutschen Literaturgeschichts-
fortlaufende Misère darstellt – habe ich immer schreibung übergangen worden ist, und die
gefunden, daß das Vergleichen der entspre- Thematisierung der Gründe für seine spätere
chendenden französischen Epochen erst den »Unterdrückung« (ebd.), erschienen B. als ge-
rechten Maßstab gibt, weil dort das gerade eignete Maßnahme, um im Verständnis der
Gegenteil von dem geschieht, was bei uns.« deutschen Klassik deren Realismus und die
(Engels, S. 99; vgl. Giese, S. 162–165). B.s ideologische Tradierung klassischer Leitbilder
Einschätzung folgt dieser Sichtweise. Er ver- als integralen Bestandteil der Misere aufzuzei-
steht den Hofmeister auf der Folie des vor- gen. B. hielt die unkritische Klassikervereh-
revolutionären Le mariage de Figaro als lite- rung für ein Problem, weil dadurch die nötige
rarisches Manifest des Epochenübergangs vom Auseinandersetzung mit den Folgen der fa-
Ancien Régime zur Neuzeit. In den Notizen schistischen Diktatur umgangen wurde, wel-
über realistische Schreibweise von 1940 ver- che die Klassiker zu propagandistischen Zwe-
treten Beaumarchais, John Gay und Lenz die cken missbraucht hatte.
»bürgerlich revolutionäre realistische Drama- In diesem Punkt unterschied sich B.s Ein-
tik« (GBA 22, S. 631). Lenz’ 1774 als »Komö- stellung von der Thomas Manns. Dessen offi-
die« veröffentlichtes Drama wird dabei zwar zielles Auftreten bei den Feierlichkeiten des
als »Standardwerk des bürgerlichen Realis- Goethe-Jubiläums in Ost und West sowie sein
mus« (S. 632) gewertet, aber aufgrund des an der Universalität der deutschen Klassik ori-
Handlungsverlaufs gleichwohl als »Tragödie« entiertes Weltbild und Geschichtsverständ-
(ebd.) bezeichnet. nis, das kosmopolitische Pathos, das den
B.s erneute Zuwendung zu Lenz und dessen »deutschen Nationaldichter« (Winter, S. 189)
Hofmeister erfolgte aus theaterpraktischem In- Goethe feierte, befremdeten B., der seine Ir-
teresse im Zusammenhang der Gründung des ritation in der Hofmeister-Bearbeitung thema-
Berliner Ensembles und resultierte aus der tisierte. »Brechts kritische Gestaltung der
Notwendigkeit, über ein »klassisches Reper- ›deutschen Misere‹ kann betrachtet werden
toire« zu verfügen und zugleich den »Weg zum als indirekter Gegenentwurf zu Thomas
Shakespeare zu bahnen, ohne den ein natio- Manns Stilisierung von Goethes Klassizität als
nales Theater kaum zustande kommen kann« Vorbild und Norm« (Winter, S. 190).
(GBA 24, S. 388). Lenz’ Drama geht zu den B.s Skepsis gegenüber der in der DDR herr-
»Anfängen der Klassik« zurück, wo sie »noch schenden ›Erbe‹-Auffassung ist auch durch die
realistisch und zugleich poetisch ist« (ebd.). Er Erfahrungen kultureller Ereignisse im Goe-
repräsentiert mithin eine Alternative zu den the-Jahr bedingt. In der Auseinandersetzung
»großen bürgerlichen Karyatiden« der deut- B.s mit den Schülern des Germanisten Ger-
schen Klassik, Goethe und Schiller, die, ange- hard Scholz, die auf Bitten B.s eine die Hof-
sichts der Ereignisse der Revolution, im »Mo- meister-Aufführung begleitende Ausstellung
ment des Versagens« (GBA 30, S. 20) ihr kul- erarbeiten sollten, kamen die unterschiedli-
turelles Erbe verdächtig machen, wie B. in chen Auffassungen zur Sprache. Gegen die In-
einem Brief vom 25. 3. 1950 an Hans Mayer tention der Studenten, die im Hofmeister »die
ausführt. Dieser Einschätzung entsprechend positiven Seiten der deutschen Vergangenheit«
ergibt sich für die künftige Theaterarbeit die (Wizisla, S. 136) aufzeigen wollten, bezog B.
Forderung des Zurückgehens auf die »bedeu- Stellung mit der scharfen These »Wir bekämp-
tenden realistischen Anfänge […], um einen fen das Bürgertum, das sich im 18. Jahrhun-
realistischen Stil der großen Gegenstände zu dert als zu feige erwiesen hat. Wir bekämpfen
erarbeiten« (ebd.). Hier zeichneten sich be- das Bürgertum am besten, indem wir dem Pro-
reits deutlich B.s Vorbehalte gegenüber einem letarier zeigen, dass er sich auf dieses Bürger-
Traditionsverständnis ab, das sich im Goethe- tum und seine Geschichte nicht verlassen
Jahr 1949 am Vorbild der Weimarer Klassik kann.« (Ebd.) Der Absicht, in der Ausstellung
orientierte. Die Wiederentdeckung von Lenz, auch die Ursachen der Misere historisch ge-
Entstehung, Text 565

treu zu dokumentieren, begegnete B. mit der dem Erstdruck von 1951, dem Regiebuch von
Forderung, »die deutsche Misere unmittelbar 1950, der Fassung vom Dezember 1949, der
zu sehen« (ebd.). »›Ihr als Historiker seid ver- ersten Version von 1949 sowie zu Lenz’ Drama
pflichtet, jede Epoche zu verstehen und zu (GBA 8, S. 569 f.). Die Bearbeitung ist das Er-
deuten, wir Dichter und Künstler aber sind nur gebnis einer kollektiven Leistung, die durch
dem heute verpflichtet. Uns interessiert nicht, praktische Zusammenarbeit von Regie-Team
was die Wissenschaftler herausbekommen, und Ensemble zustande kam. Dem Regie-
hier gelten andere Gesetze.‹« (Ebd.) Die Aus- Team gehörten neben B. auch Ruth Berlau,
einandersetzung spiegelt das grundsätzlich Caspar Neher, Egon Monk und Benno Besson
unterschiedliche Traditionsverständnis, an an. Die frühe Konzeption des Stücks, die sich
dem sich auch B.s kritische Haltung zum offi- einer ersten dramaturgischen Durchsicht des
ziellen ›Erbe‹-Verständnis erkennen lässt. Lenzschen Texts verdankt, aber während der
Den Vorwurf seiner Gegner, B. habe mit der Proben eine grundlegende Bearbeitung erfuhr,
Misere-Thematik ein Zerrbild entworfen und führte zunächst zur Fassung der Uraufführung
die positiven Reform-Ansätze unterschlagen, und dann mit Änderungen zum Text des ersten
die, bedingt durch den Erziehungsoptimismus Drucks in den Versuchen, Heft 11 (1951). Eine
der Aufklärung, auch praktisch eingelöst wor- Dokumentation der Probenarbeit enthält der
den seien, versuchte B. mit dem Argument zu Band Theaterarbeit von 1952 (S. 96–112).
entkräften, dass mit der Thematisierung der
Erziehungsproblematik ein »Beitrag zu der
großen Erziehungsreform« geleistet werde,
»die eben jetzt in der Republik durchgeführt
wird« (GBA 24, S. 392). Aufhebung oder Umfunktionierung
Die Äußerung erfolgte in der Absicht, Ein- des Originals?
wände gegen die Perspektive der Bearbeitung
zurückweisen zu können. Für die Auseinan-
dersetzung mit der offiziellen ›Erbe‹-Auffas- B. bezog mit der Frage Ist der »Hofmeister« ein
sung in der DDR ist die folgende Äußerung »negatives Stück«? (GBA 24, S. 392) zur Kritik
Bernhard Klaus Tragelehns von 1959 repräsen- seiner ersten Rezensenten Stellung und be-
tativ: »Erst heute, ein Jahrzehnt später, be- gründete mit dem Begriff »Satire«, bezogen
schäftigt, den Sozialismus aufzubauen, wird auf die Bearbeitung, den Verzicht auf die Dar-
uns die Einbuße an Realismus […] sichtbar, stellung eines »exemplarischen Typus« (ebd.).
die der Regelfall, die Verallgemeinerung auf B. verweigerte den ›positiven Helden‹, der mit
den deutschen Schulmeister mit sich bringt. satirischer Darstellung nicht kompatibel war:
Der Anspruch unmittelbarer Nützlichkeit an »in den Hohlspiegel, den sie [die Satire] auf-
die Klassik wäre heute sektiererisch. Objektiv stellt, um das zu Bekämpfende übertreibend
liegt in der Bearbeitung des Hofmeisters eine herauszuarbeiten, würden positive Typen
Schwächung der antifeudalen Front vor (vor nicht der Verzerrung entgehen. Im ›Hofmei-
allem, was die Figur des Wenzelaus [sic] ster‹ ist das Positive der bittere Zorn auf einen
angeht, die Lenz widersprüchlicher zeigt). menschenunwürdigen Zustand unberechtigter
Das sollte bei Aufführungen heute vorsichtig Privilegien und schiefer Denkweisen.« (Ebd.)
korrigiert werden.« (Nach: Kreuzer/Schmidt, Mit dieser Argumentation betonte B. den
S. 253 f.) Aspekt der Perspektive und verlegte sie, im
Den Entstehungsprozess der Bearbeitung Gegensatz zu Lenz, auf die Wirkungsebene des
hat Laurence Patrick Anthony Kitching auf der Stücks. Den im Epilog als »Schüler und Lehrer
Grundlage der neueren Erkenntnisse sorgfäl- einer neuen Zeit« (GBA 8, S. 371) Genannten
tig rekonstruiert (Kitching, S. 9–36), und in gab B. mittels Historisierung eine deutliche
der GBA findet sich eine Synopse der Szenen- Differenzierung in den verschiedenen Darstel-
folge zu den vier Fassungen der Bearbeitung, lungs- und Betrachtungsebenen vor und ver-
566 Der Hofmeister von Jacob Michael Reinhold Lenz

weigerte somit die affektive Identifikation mit sein dürfe, sondern in einen »bornierten, ja
den Figuren. militaristischen Nationaldoktrinär« verwan-
Die Vergangenheit war als Misere ererbter delt wird, dessen »Marsch […] erst bei Sta-
Bewusstseinsform noch gegenwärtig, was lingrad zum Stehen gebracht worden sei«, wie
nicht zuletzt die Rezeption der Aufführungen B. dem Schauspieler Friedrich Maurer er-
bestätigte. Der Epilog appelliert jedoch an die klärte (Zimmermann, S. 222; vgl. Kitching,
produktiven gesellschaftlichen Kräfte, die S. 101).
Erblast schiefer Denkweisen, die ihnen gleich-
nishaft an einem geschlossenen Ganzen durch-
leuchteter Vergangenheit vorgeführt wurden,
abzuwerfen und den Standpunkt befreiten Perspektive der Bearbeitung
Denkens zu antizipieren (vgl. Joost, S. 357).
Die distanzierte Haltung, die der Darsteller
des Hofmeisters als Sprecher des Epilogs zu Resultiert die Notwendigkeit der Bearbeitung
sich selber einnimmt – er spricht von sich in aus den pragmatischen Bedürfnissen der
der dritten Person – hebt den Horizont des Theaterarbeit und begründet die Legitimation
Prologs von dem des Epilogs deutlich ab. Die zu weitreichenden Änderungen am Text des
Thematisierung des Zeitenabstandes impli- Originals aus dem Befund der ›deutschen Mi-
ziert die Möglichkeit, das bürgerliche ›Trauer- sere‹, so bezieht sie ihre wirkungsästhetische
spiel‹ des Lenz-Dramas, auf das durch die Rechtfertigung aus der stofflichen Verfassung
satirische Bearbeitung ein klassenmäßig be- des Originals: »Der krude Stoff des Lenzschen
stimmter Standpunkt projiziert wird, zu über- Werks erfordert eine besonders elegante Be-
winden. handlung«, heißt es in einer Notiz über Das
Das Verhältnis von Original und Bearbei- Geschmackliche bei der Aufführung (GBA 24,
tung unterliegt unterschiedlichen Einschät- S. 391), dazu »durfte die Darstellung der deut-
zungen. Diese sind, wie Giese gezeigt hat, schen Misere den Zuschauer nicht deprimie-
maßgeblich von der Beurteilung abhängig, ob ren, sollte sie Impulse für ihre Überwindung
man Lenz’ Drama bereits den Status eines Do- verleihen.« (Ebd.) Aus der positiv bewerteten
kuments der Misere zubilligen kann. »Durch realistischen Unorganisiertheit des Originals
den bearbeiteten Text scheint das Original lassen sich die Strategien der Bearbeitung ab-
durch. Der Text kann weithin […] als Parodie leiten und legitimieren: »Noch hat die Idee
des Originals gelesen werden. Dies gilt vor nicht das Stoffliche vergewaltigt; es entfaltet
allem für die Stellen, wo Lenz ernsthaft wird. sich üppig nach allen Seiten, in natürlicher
[…] Auf weiten Strecken wirkt die Bearbei- Unordnung.« (S. 388) Die Bearbeitung soll
tung freilich als eine Umfunktionierung des diese Unordnung nicht opfern, sondern struk-
Originals aus einer Gegenwartsperspektive, turieren und produktiv nutzen: »der Stück-
die gleichzeitig das ursprüngliche Stück in sei- schreiber [Lenz] gibt und provoziert Ideen,
nem historischen Verhaftetsein gar nicht an- gibt uns nicht das Ganze als Verkörperung von
greifen kann und will. Vieles bei Lenz kommt Ideen. So werden wir gezwungen (oder in-
Brecht nämlich entgegen. So ist auch die Dar- stand gesetzt), die Vorgänge zwischen seinen
stellung der deutschen Misere bei Lenz schon Personen zu spielen« (ebd.).
angelegt, das Stück ist eines ihrer Doku- Diese Äußerungen enthalten in nuce die
mente.« (Winter, S. 202 f.) Diese Einschätzung Elemente der Werkästhetik und der mit ihr
wird von Rolf Christian Zimmermann ent- verbundenen Wirkungsstrategie: Das Primäre
schieden bestritten. B.s »sarkastisch-desillu- ist die Handlung, die Vorgänge zwischen den
sionierende Gegenversion« zur »Lenzschen Figuren, die akzentuiert oder gegenläufig zum
Idealisierung der Durchschnittsverhältnisse« Original gestaltet werden können. Die Cha-
führe beispielsweise dazu, dass »Wenzeslaus raktere sind als Zitate gefasst und als Vehikel
kein altmodisch-gutherziges Original« mehr typischer gesellschaftlicher Vorgänge funktio-
Perspektive der Bearbeitung 567

nalisiert. Sie sind im Sozialen, nicht im Psy- Human-Gebildeten gefühlvoll inszeniert und
chologischen fundiert. Die Figuren interagie- durch Rührung beglaubigt. Dieses für die
ren daher nicht mehr wie in der Charakter- Lenzsche Dramaturgie – »rührende Familien-
komödie als mehr oder weniger komplexe katastrophe mit glücklichem Ausgang« (Zim-
Gestalten, sondern werden Exponenten typi- mermann, S. 217) – konstitutive Kriterium ist
scher sozialer Verhältnisse, die ihnen den in der Bearbeitung satirisch gebrochen. Rüh-
Spielraum vorgeben und definieren. Dies hat rung ist hier die Signatur defizitären und sub-
grundlegende Konsequenzen für die Perspek- alternen Bewusstseins, oder Vehikel strategi-
tive auf die gezeigten Vorgänge. Sie sind in der schen Handelns, und fungiert als Mittel zur
Bearbeitung nicht primär als Folge charakter- Kontrolle der in Unmündigkeit oder Abhän-
licher oder intellektueller Disposition der Fi- gigkeit gehaltenen ›Subjekte‹. Ihr korrespon-
guren aufgefasst, also unter moralischem As- diert die komische Selbstinszenierung der Ge-
pekt als Wohl- oder Fehlverhalten beurteilt wie bildeten in ritualisierten Kunstübungen (z. B.
bei Lenz, sondern demonstrieren klassenspe- der Gesang der Majorin in Szene 11; zur Funk-
zifische, ›typische‹ Interessen unter dem tion der Musik vgl. Dümling, S. 561–563;
Zwang materieller Bedingungen. Wo Lenz sei- Lucchesi/Shull, S. 897–901).
ne Gestalten einem moralischen Selbst- oder
Fremdurteil unterwirft und auf normative
Instanzen mit Vorbild- und Vermittlungscharak-
ter rekurriert – so z. B. den aufgeklärten Räso- Literarische Anspielungen
neur, die über Standesgrenzen hinweg freund-
schaftlich verbundene Solidargemeinschaft
der akademischen Jugend, den zärtlichen Va- Bereits Lenz’ Hofmeister weist zahlreiche lite-
ter, der den Fehltritt der Tochter verzeiht –, rarische Anspielungen auf; zitiert werden u. a.
wird in der Bearbeitung der ideologische Cha- Gellert, Shakespeares Romeo und Julia, Les-
rakter dieser Normen durch den Aufweis ihrer sings Minna von Barnhelm, Terenz, Origenes
Interessengebundenheit aufgedeckt und als und Rousseaus Neue Heloise. Zahlreiche Bi-
Motiv widersprüchlichen Handelns charakte- belzitate, insbesondere Gleichnisse aus dem
risiert. Appelle, Grundsätze und Maßregeln Neuen Testament, sind auch schon bei Lenz
im Namen der Vernunft und der Moral, so z. B. nachweisbar. B. hat die von Lenz verwendeten
beim Abschied der Liebenden (Szene 2), beim Anspielungen und Zitate verändert und das
›Pferdebittgang‹ (Szene 8), anlässlich der Be- Stilmittel häufig umfunktioniert (vgl. GBA 8,
urteilung des parasitären Hofmeisterwesens in S. 560–569).
der Dorfschule (Szene 12), entsprechen in die- Neben den Bibelzitaten hat B. insbesondere
ser Sicht nicht nur nicht der idealen Norm, auf auf Rousseau, Goethe und vor allem Klopstock
die sie sich jeweils berufen, sondern werden Bezug genommen: Im ersten Gespräch zwi-
als Strategien entlarvt, derer sich die Autoritä- schen Fritz und Gustchen (Szene 2) inszenie-
ten zum Zweck der Täuschung, der Erzielung ren beide ihre Liebe nicht mehr in den Rollen
von Vorteilen und zur Aufrechterhaltung ihrer von Romeo und Julia nach Shakespeare wie
Herrschafts-Stellung bedienen. Das hat eine bei Lenz (I,5; I,6), sie lesen sich vielmehr
weitgehende Veränderung der Figurenkonzep- Klopstocks Oden vor und machen ihre Liebes-
tion, der Konfiguration und der Handlungs- geständnisse in den Rollen von Hermann und
führung zur Folge. Bei Lenz werden Reue, Thusnelda (vgl. Besson, S. 69, S. 74 f.). Sie las-
Gewissensbisse und Bußfertigkeit öffentlich be- sen Klopstock an ihrer Stelle sprechen und
kundet. Sie sind Voraussetzungen zur Korrek- delegieren damit ihre eigenen Empfindungen
tur individuellen Fehlverhaltens und werden, an die literarische Vorlage: Bereits in der Art
als Bedingung des glücklichen oder glimpfli- des Zitierens wird die Unmündigkeit der Fi-
chen Endes, durch Wiederaufnahme in die guren deutlich.
patriarchalisch organisierte Gesellschaft der Die intertextuellen Bezüge zu Klopstock
568 Der Hofmeister von Jacob Michael Reinhold Lenz

sind vielschichtig, da B. über Klopstock nicht Sitten (1797) sind anachronistisch gegen Lenz’
nur literarische Tradition verarbeitet, sondern Drama (1774) eingesetzt. Hanns Eisler machte
zugleich historische und aktuelle Anspielun- darauf in einem Streitgespräch mit B. anläss-
gen gestalten kann. Mit der Gestalt Hermanns lich der Aufführung des Hofmeister aufmerk-
(Arminius) werden nationale Größe, altdeut- sam: »Mit Kant konnte er überhaupt nichts
sche Tugend und Patriotismus thematisiert. anfangen […]. Die Definition Kants der Ehe
Mit dem Stoff spielt B. nicht nur auf fragwür- ist bekanntlich: ein Vertrag, geschlossen zum
diges nationales ›Selbstbewusstsein‹ an, son- gegenseitigen Gebrauch der Geschlechtswerk-
dern gestaltet Möglichkeiten aktualisierender zeuge. Also der Brecht fand das ungeheuer
Bezüge zur jüngsten Vergangenheit. Die Zitate lustig und sah auch die ganze Misere des deut-
aus Klopstocks Oden verbinden die drei zen- schen Schulmeisters darin. Ich aber nicht. Ich
tralen Thematiken des Stücks: 1. Die Liebes- sah darin einen enormen Fortschritt, nämlich
thematik und Sexualdiskurs: Gustchens Brief daß aus einem von der Kirche geheiligten Ver-
an Fritz von Berg zitiert »Schön ist, Mutter hältnis ein Rechtsverhältnis wird, das so trok-
Natur, deiner Erfindung Pracht / Auf die Flu- ken und nüchtern beschrieben ist. ›So‹ – sagte
ren verstreut …« (GBA 8, S. 341) und vermit- ich dem Brecht, […] – ›so ist die junge revolu-
telt in Verbindung mit dem Hinweis, sie tionäre Bourgeoisie bei uns leider nur in den
»zeichnet jetzt nach der Natur!« (ebd.), dem Köpfen (während die Bourgeoisie in Frank-
Zuschauer die Erkenntnis, dass Gustchen sich reich die Köpfe der Adligen bekanntlich abge-
dem Hofmeister hingegeben hat und dass die schnitten hat). Bei uns ist’s ja nur als Idee
Stellvertretung durch Hermann und Thus- erhältlich.‹« (Eisler/Bunge, S. 133). Die Ent-
nelda geblieben ist, was sie war, nämlich Lite- sprechung zwischen Läuffer und Pätus liegt
ratur. 2. Die Kriegsthematik: Die Leitmotive darin, dass Pätus, der Kant-Jünger, auf Kants
›Nationalismus‹ und ›Krieg‹ hat B. neu einge- Ewigen Frieden schwört, dadurch aber bei des-
führt und mit Hinweisen auf den Siebenjähri- sen Gegner Wolff (d. i. der aufklärerische Phi-
gen Krieg und seine ökonomischen Auswir- losoph Christian Wolff) wiederholt durchs
kungen, mit Bezug auf Kants Zum Ewigen Examen fällt. Erst als er mit Heraklits Satz
Frieden (1795) und der Anspielung auf den »Der Krieg, der Vater aller Dinge« (GBA 8,
Hermann-Stoff versehen. 3. Die Erziehungs- S. 363) Kant öffentlich abschwört und sich un-
und Bildungsthematik: Die Tragweite des terwirft, besteht Pätus die Prüfung. Die ›Wahr-
Klopstock-Zitats zeigt sich insbesondere im heit‹ der These erweist sich in der Szene 6:
martialischen Erziehungsprogramm des Wen- »Pätus fürchtet seinen Professor nicht, wohl
zeslaus: »Ich bilde Menschen nach meinem aber seine Hauswirtin; Bollwerk zähmt die
Ebenbilde. Teutsche Hermanne! Gesunde Gei- Hauswirtin und rät Unterwerfung unter den
ster in gesundem Körper« (GBA 8, S. 352). Auf Professor.« (GBA 24, S. 361)
Klopstock geht ebenfalls das Eislaufmotiv in
Szene 4 zurück, die keine Entsprechung bei
Lenz hat. Der Eislauf, den Läuffer erst virtuos,
dann kläglich scheiternd vollführt, war im Läuffer-Handlung
18. Jh. Modevergnügen der Bürger; Klopstock
besang die »Flügel am Fuß« in seinem Gedicht
Der Eislauf. B. erzählt die Geschichte vom »armen Teufel«
Im Zentrum des Stücks steht der Vorgang Läuffer, als welcher der Hofmeister im Epilog,
der Kastration (Szene 14), auf den sich auch den Anmerkungen und den Notaten apostro-
die neu eingefügten Kant-Zitate dadurch in- phiert wird (GBA 8, S. 371; GBA 24, S. 357–
direkt beziehen lassen, dass Läuffers und Pä- 371). Anders als bei Lenz dominiert in der
tus’ Verhalten einander entsprechen. Kants Bearbeitung die Läuffer-Handlung, welcher
Schrift Zum ewigen Frieden sowie die geläu- der zweite Handlungsstrang, die Hallenser
fige Definition der Ehe aus Die Metaphysik der Studenten-Szenen und die Schluss-Szenen mit
Läuffer-Handlung 569

Pätus und Fritz, spiegelbildlich zugeordnet (Szene 5), Verführung (Szene 7 und 10), Ver-
sind. Armut und Sexualität sind die Trieb- sklavung (Szene 12), Verletzung (Szene 12),
kräfte Läuffers, Unterdrückung bis zur Unter- Verstümmelung (Szene 14), Verspottung und
werfung und Versklavung die Gegenkräfte. Verachtung (Szene 16). »Knechtseligkeit« und
Der materialistische Antagonismus von Herr- »Gelächtergolgatha« sind kausal, als Ursache
schaft und Knechtschaft, die Kollision mate- und Wirkung auf einander bezogen und provo-
rialistischer Interessen, wird an einer Szenen- zieren die zwiespältige Reaktion des Publi-
folge durchgespielt, die den Prozess der Iso- kums: »Der Hofmeister selbst erntet unser
lierung und Entindividualisierung der Figur Mitgefühl, da er sehr unterdrückt wird, und
exemplarisch vorführt. Der individuell gestal- unsere Verachtung, da er sich so sehr unter-
tete Vorgang hat als Demonstration jedoch drücken läßt.« (GBA 24, S. 388)
überindividuelle, oder, wie B. im Brief an Albrecht Schöne hat für Lenz’ Drama die
Hans Mayer ausführt, »gleichnishafte Bedeu- Wiederholung der exemplarischen Begeben-
tung« (GBA 30, S. 20). Die »Entmannungsfa- heit, d. h. das biblische Gleichnis vom ver-
bel« sei »keine symbolische [Fabel] schlecht- lorenen Sohn als Strukturprinzip der Hofmeis-
hin«, es werde vielmehr »ganz realistisch […] ter-Handlung nachgewiesen (Schöne, S. 92–
die Selbstentmannung der Intellektuellen […] 138). Diese Beobachtung lässt sich für die
an einem Exempel in Fleisch und Blut vorge- Funktion der religiösen Motive, Zitate und
führt, d. h., die körperliche Selbstentmannung Anspielungen in der Bearbeitung verwerten.
bedeutet nicht nur eine geistige Selbstentman- B.s Erziehergestalten (der Geheime Rat von
nung, sondern ist selber als der groteske Berg, Wenzeslaus und Läuffer) sprechen von
Ausweg aus der sozialen Situation Läuffers Amtswegen in Bibelzitaten, bei Lenz ist dafür
dargestellt.« (Ebd.) auch der Pastor Läuffer zuständig. In auffälli-
Lenz’ Darstellung der Kastration als Ver- ger Weise steuern Epilog, Anmerkungen und
zweiflungstat wird bei B. in die Groteske abge- Notate Bibelzitate und Gleichnisreden zur
bogen, der auf drei Schluss-Szenen verteilte Kommentierung der Vorgänge bei. Bereits in
Ausgang der Handlungsstränge als Farce in- Szene 7 wird die »Katechismus-Stunde« zur
szeniert: Die Konfliktlösung mündet in die sexuellen Initiation des Hofmeisters durch
Verbindung mit Lise, welcher der soziale Gustchen umfunktioniert, der Bühnenvorgang
Status des Partners anstelle des in Kants Ehe- durch Gestik verfremdet: Läuffer »macht un-
vertrag befürworteten ›wechselseitigen Ge- ruhig gequälte Schritte hin und her, dreht sich
brauchs der Geschlechtsorgane‹ zur Ehe- wie auf dem Eislaufplatz spindelförmig, bleibt
schließung genügt. Der Epilog kennzeichnet jäh stehen, den Tatzenstock am Rücken zwi-
den Zusammenhang der auf Läuffer bezoge- schen den Ellbögen verkrampft, als fessele er
nen Szenen als Satire des Leidenswegs. sich selbst.« (GBA 24, S. 363). Die Notate zur
»Den deutschen Hofmeister habt ihr gesehn Inszenierung präzisieren diesen Aspekt und
/ Zu seinem Gelächtergolgatha gehn« (GBA 8, geben ihm eine religiöse Verweisungsfunk-
S. 371). In Über das Poetische und das Artisti- tion: »Seine Spindelbewegung […] erinnert an
sche (GBA 24, S. 379–387) zum Hofmeister re- die Eislauffiguren der vierten Szene. Sie ist
kapituliert B. die Stationen dieser grotesk in- eine poetische Erfindung von Rang. So auch
szenierten und dadurch gebrochenen ›Pas- die Verwendung des Schulmeisterlineals,
sion‹ als eine Folge von Niederlagen, an deren wenn er sich daran wie an einem Kreuzbalken
Ende die Zerstörung des Individuums, der fixiert […] und wenn er sich selbst Tatzen gibt,
Verlust von Freiheit und Menschenwürde im sich für die sexuelle Gier bestrafend. In der
Zustand der ›Knechtsseligkeit‹ erreicht wird. vierzehnten Szene wird das Tatzengeben dem
Der Vorgang erinnert an B.s frühe Komödie Zuschauer ankündigen, daß sich sein Ge-
Mann ist Mann (vgl. Kitching, S. 109–110): schlecht wieder gegen ihn erhoben hat!«
Demütigung (Szene 1), Zurechtweisung (S. 383) Das selbstquälerische Bestrafungs-
(Szene 3), Abweisung (Szene 4), Vertröstung ritual (Geißelung) und die Fixierung an den
570 Der Hofmeister von Jacob Michael Reinhold Lenz

Kreuzbalken (Kreuzigung) sind Symbolhand- men der vergesellschafteten Natur als Akt der
lungen, welche die Figur als Schmerzensmann Domestizierung (Strafritual und Existenzsi-
ausstellen. Diese religiös konnotierte Gestik cherung) an sich vollzieht. Läuffer kehrt sein
wird in Szene 14 bei den Vorgängen wieder- revolutionäres Potenzial gegen die eigene
holt, die den Entschluss zur Selbstkastration Identität. Er zerstört mit der Preisgabe seines
auslösen. Der Schauplatz der in drei Teil- legitimen Anspruchs auf »freie Sexualität […]
szenen gegliederten Szene wird von B. kom- einen entscheidenden Teil seiner Menschen-
mentiert: »Man hat auf der ziemlich nackten würde […]. Er arrangiert sich mit der Wirk-
Bretterbühne die Stimmung einer schreckens- lichkeit, indem er mit seiner Selbstent-
haften Station des Kalvarienberges.« Das mannung seinen Widerspruch vernichtet.«
sanfte Hin und Her des verwirrten Kindes, der (Müller, S. 91) In Folge dieser Tat wird die
Kelch, der nicht vorübergehen will.« (GBA 24, Figur auf dem Richtplatz (Kalvarienberg) in
S. 386; nach Matthäus 26,39). Begründet im den Formen der pathetischen und der strafen-
Neuen Testament die Bitte Christi den Zu- den Satire an den Pranger gestellt. Wenzeslaus
stand tiefster Verlassenheit des Menschensoh- ›Seligpreisung‹ der Tat in Szene 14c bedient
nes, den Augenblick äußerster Verzweiflung sich noch religiöser Formeln, während der
vor der Kreuzigung, dem dann die Ergebung in Brief des Hofmeisters mit der verunglückten
den göttlichen Ratschluss folgt, so bezieht sich Homer-Anspielung – »Zwischen Scylla und
das Zitat hier auf das Moment sexueller Versu- Charybdis von Natur und Beruf habe ich mich
chung, dem der Verführte erliegt (Szene 14a). für den Beruf entschieden« (GBA 8, S. 361) –
Läuffers Monolog (Szene 14b) ist »noch äußer- dokumentiert, dass sein Schreiber endgültig
ste Auflehnung« (GBA 24, S. 386), Verfluchung Schiffbruch erlitten hat. Im parasitären Ge-
der Natur und Selbstverfluchung in pathetisch lächter der Peiniger (Szene 16) wird er zur
hochgetriebener Rede, die mit dem Bibelwort Agentur und zum Inbegriff der Misere gebro-
Matthäus 18,9 »Soll ich mir’s ausreißen, das chen und umfunktioniert. Mit dem Bibelzitat
Aug, das mich ärgert?« (GBA 8, S. 360) den »man soll dem Ochsen, der da drischt, nicht
Entschluss zur Tat erwägt. »Hier offenbart das Maul verbinden« (Deuteronomium 25,4;
Läuffer am deutlichsten sein Inneres. Das Pa- 1. Timotheus 5,18) liefern die Herren Berg
thos (›Verfluche eine Natur, die dich nicht zu den anzüglich-sarkastischen Kommentar zum
Stein gemacht hat, vor dem, was sie geschaf- Geschehen. Weit entfernt, sich mit dem Zynis-
fen‹) ist versprachlichter Ausdruck der Trieb- mus der herrschenden Klasse zu identifizie-
natur. In Sturm und Drang-Reminiszenzen ren, der die Misere illustriert, aber selbst Be-
offenbart sich Läuffers Wunsch nach Selbst- standteil der Misere ist, signalisiert der Autor
entfaltung. Mit der Entstellung des eigenen die angemessene Einstellung des Publikums
Antlitzes gibt er seine Identität als Individuum zu den Vorgängen: »Kaum hat die Verfolgung
auf.« (Winter, S. 201) Läuffers Tat bedeutet bei dem armen Hofmeister ihr Ziel erreicht,
Zurücknahme der Rebellion und erfolgt mit als sich auch noch der Stückeschreiber auf ihn
der »Wildheit […], welche die Konterrevolu- stürzt! […] Dem Publikum ist da wenig Zeit
tion immer zeigt« (GBA 24, S. 369). B. hat den gelassen, den Unglücklichen zu bedauern,
Vorgang als Sakrileg an der Triebnatur (natura wenn es schon wieder eingeladen wird, ihn zu
naturans) realistisch gestaltet. Läuffers Beru- verachten.« (GBA 24, S. 369)
fung auf das Matthäus-Zitat ist pure Blasphe- An der Kastrationsszene setzte die Kritik an:
mie, die den Sinn der Gleichnisrede umkehrt: »Die Selbstverstümmelung, als groteskes Sym-
nicht Rettung, sondern Selbstzerstörung und bol verstanden, darf nicht zur Parteinahme
Unterwerfung wird unter Berufung auf die Bi- verführen. Die Tragödie des kleine Mannes
bel begründet. Der ›Sündenfall‹ der realen wird in dem Augenblick, da sie sich vollendet,
körperlichen Selbstverstümmelung verweist zur Satire umfunktioniert. Verachtet wird we-
symbolisch auf den tieferen der individuellen niger ein System, das ihm keinen Ausweg
Selbstvernichtung, den der Sprecher im Na- lässt, als die Art seines Auswegs: das Aufbe-
Läuffer-Handlung 571

gehren, das sich gegen ihn selbst richtet statt sich zwei Komponenten: einmal ihr mangeln-
gegen seine Peiniger. Diese Wendung ist des- der Wirklichkeitssinn, den Bollwerk höhnisch
halb bedenklich, weil B. hier zugleich die konstatiert, zum anderen ihre Feigheit, die in
Lenz’sche Position und mit ihr die ganze Posi- der Blitzer-Szene gezeigt wird (vgl. Besson,
tion des Sturm und Drang ad absurdum führt. S. 79 f.). Die Unzulänglichkeit der idealisti-
Die politische Opposition der frühbürgerli- schen Position ist deren Einseitigkeit. Sie wird
chen Dramatik wird […] preisgegeben, ihr durch Pätus’ Verzicht auf die praktische
wird ein freiwilliges Unterordnen unter die Durchsetzung der an sich fortschrittlichen Po-
deutsche Misere unterstellt.« (Mittenzwei, sition Kants demonstriert. Die Vergeistigung
S. 306) des Revolutionären führt zwangsläufig zu
Heiner Müller hat dagegen an der Hofmeis- Kompromissen und schließlich zum Verrat
ter-Bearbeitung das Interesse B.s am »Motiv (Galilei-Motiv des Pätus). Pätus kann mit sei-
der Selbstkastration der Intellektuellen« her- nen Ideen die Wirklichkeit nicht verändern.
vorgehoben und mit Peter Brooke den Vorgang Dagegen holt ihn die von ihm missachtete Rea-
als Beispiel für ein ›Theater der Grausamkeit‹ lität ein und zwingt ihn gegen Kant, die Not-
bezeichnet. Mit der Unmenschlichkeit der wendigkeit des Kriegs zu beweisen. Die Aus-
Kastration als notwendiger Bedingung, eine blendung der Realität zieht die Rechtfertigung
Stellung zu erlangen, korreliere B. die De- der schlechten Realität zwangsläufig nach
struktion utopischen Bewusstseins: »Und dann sich, die im falschen Idyll der Szene 15 gezeigt
[…] gibt es die große Höhepunkt- und Mittel- wird. Pätus handelt nicht, sondern unterwirft
punktszene, Gewitter, nachts, ein Riesenmo- sich. Damit entspricht er zwar vordergründig
nolog, und der Hofmeister kastriert sich, um seinen Interessen, aber findet sich ab, wie
sich zu einem nützlichen Mitglied der Gesell- Läuffer. Dieser handelt – aber gegen die eige-
schaft zu machen. Interessant war die Schärfe. nen Interessen. Er geht »auf sich selber los«
Peter Brooke wurde einmal in einem Interview (GBA 8, S. 371), wie der Epilog konstatiert.
gefragt, ob er jemals Theater im Sinne von Beide Haltungen sind komplementäre Aspekte
Artaud gesehen hat, also Theater der Grau- des Fehlverhaltens: Sie qualifizieren ihre Trä-
samkeit. Und Peter Brooke sagte, ›ja, einmal, ger als verfügbar. Die Subjekte werden zu Ob-
Hofmeister im Berliner Ensemble, das war jekten der Gesellschaft, sie garantieren die
Theater der Grausamkeit im Sinne von Stabilität der herrschenden Verhältnisse. Dies
Artaud, nämlich grausam durch den Eingriff in zeigen die Schlüsse der Handlungsstränge, die
das Bewußtsein, durch Zerstörung von Illu- einander entsprechen. Die ehelichen Verbin-
sionen, von Ideologie‹« (Kluge/Müller, S. 77). dungen, welche die Figuren eingehen, de-
monstrieren nicht nur Schwundstufen von
Handlungsfähigkeit, sondern die Umkehrung
zu erwartender zielgerichteter Aktion. Pätus
Pätus-Handlung verspießert, Läuffer wird mit Lise abgefun-
den, »weil doch Heiraten besser ist als Brunst
leiden«, wie Wenzeslaus anmerkt (GBA 8,
Auf die Erarbeitung der Figur des Pätus wurde S. 370). In der Bearbeitung wird der Kastrat –
bei der Probenarbeit besondere Sorgfalt ver- trotz seiner Weltläufigkeit – Lises Beute: Er
wendet. Pätus, die ›interessanteste Figur‹ des bekommt die Pfründe, die ein Eheweib er-
Stücks neben Läuffer ist dessen ›Verdoppe- nähren und den status quo garantieren kann:
lung‹. An ihm wird die ›geistige Kastration‹, Das Amt – eine Agentur der Anpassung. B.
der ›Absturz in die Tiefe des Spießertums‹ kommentiert: Auf das »Außergewöhnliche«
demonstriert, folglich eine Fallhöhe vorausge- folgt »das Gewöhnliche […] in seine ›Rechte‹.
setzt, die dadurch erreicht wird, dass die Figur Die Opfer sind gebracht; was übriggeblieben,
auf die Position des kantischen Idealismus kann unter die Haube gebracht werden.« (GBA
rückt. In der Konstruktion der Figur verbinden 24, S. 370) Unter diesem Aspekt verweist auch
572 Der Hofmeister von Jacob Michael Reinhold Lenz

Fritz von Bergs Eheschluss auf die beschädigte deutiger Ausklang? (Giese, S. 187 f.; Komfort-
Idylle. Seine Annahme des fremden Kindes als Hein, S. 195–201)
eigenes aus Einsicht in die normative Kraft des Das von Lenz propagierte Reformkonzept
Faktischen ist das Gegenteil einer autonomen bestimmt maßgeblich das Verhältnis von Ori-
Handlung. ginal und Bearbeitung (vgl. Giese, S. 181–
184). »Kann man wirklich verkennen«, fragt
Zimmermann, »daß der ›arrogante Aristo-
krat‹, als den man den Geheimen Rat oft aus-
gibt, bei Lenz bloß der derbe Deutsche ist, der
Epochenwandel / Misere mit dem Pastor und dessen Sohn nicht anders
als mit seinem eigenen Bruder Fraktur
spricht?« (Zimmermann, S. 214), und er erin-
Die Problematik des Komödienschlusses bei nert daran, dass »selbstverständlich auch Ber-
Lenz wird in der Forschungsliteratur bis heute tolt Brecht seinen Lenz (so) verstanden und
kontrovers diskutiert. Sie ist mit der Frage den Geheimen Rat als positiv-fortschrittliche
nach dem Status und der Funktion der Figur Figur aufgefaßt« habe (ebd.). Zimmermann ar-
des Geheimen Rats von Berg eng verbunden, gumentiert hier durchaus im Einklang mit der
die den »Fluchtpunkt« (Mattenklott, S. 125) marxistischen Forschungsliteratur, die eben
bzw. die »Leerstelle« (Greiner, S. 185; Kom- diese Sichtweise B.s bereits betont hat. Denn,
fort-Hein, S. 196) der Interpretation bezeich- wie die Texteingriffe belegen, ließ sich B. bei
net. Hat Lenz die Figur durch den Wider- der Bearbeitung offensichtlich von der An-
spruch von aufklärender, fortschrittlicher nahme leiten, dass der Geheime Rat für den
Rede und rückschrittlichem Verhalten relati- Autor spreche und eine exemplarische Posi-
viert? Beeinträchtigt die Diskrepanz von Rede tion einnehme: »Die Figur des Geheimen Rats,
und Tat – sofern sie überhaupt gegeben ist – positiv bei Lenz, betrachtet die Bearbeitung
die Glaubwürdigkeit des utopischen Konzepts kritisch.« (Theaterarbeit, S. 87) Konsequent
des Ständeausgleichs, das mittels fortschritt- beseitigt die Bearbeitung daher die Wider-
licher Erziehung, Chancengleichheit und pro- sprüche des Originals und setzt mit der Figur
duktiver Konkurrenz an öffentlichen Schulen des Räsoneurs auch alle anderen Erzieherge-
aus der Kritik des Geheimen Rats an den stag- stalten, allen voran den Dorfschulmeister
nierenden sozialen Verhältnissen in der Stän- Wenzeslaus, der Satire aus.
degesellschaft erwächst? Trifft es also zu, dass In Lenz’ Hofmeister soll die Utopie der Ge-
»die Position der aufgeklärten Kritik […] letzt- lehrtenrepublik gesellschaftliche Veränderung
lich […] nicht zur Änderung der bestehenden bewirken und die Hoffnung auf bessere Zeiten
Machtverhältnisse führt«? (Luserke, S. 43) glaubwürdig begründen: »unsere Kinder sol-
Immerhin handelt die junge Generation nach len und müssen das nicht werden, was wir
den Maximen des Geheimen Rats und löst die waren: die Zeiten ändern sich, Sitten, Um-
Postulate dieses Konzepts im Zeichen exemp- stände, alles« (Lenz, S. 43). B. streicht die lei-
larischer Freundschaft ein. Spricht die Figur denschaftliche und selbstlose Parteinahme des
des Rats für den Autor (Sprachrohrfunktion)? Rats zugunsten der Erziehungsreform, die im
Lenkt sie im Schlusstableau die verworrenen allgemeinen Interesse geboten ist, und sub-
Episoden glaubhaft zum glücklichen Ende aus stituiert der Figur die egoistischen Privatinter-
einer Position intellektueller Überlegenheit essen seiner Klasse. Bei Lenz ist die Politik der
und moralischer Glaubwürdigkeit, die das Figur glaubwürdig (vernünftig) aufgrund ihrer
»patriarchalische Wert- und Herrschaftssys- privaten Integrität, die sich trotz einer Phase
tem« (Sörensen, S. 158) affimiert? Oder ist das der Anfechtung letztlich in der Vaterrolle be-
harmonische Schlussbild ironisch gebrochen, währt. Private und öffentliche Moral kommen
das ›märchenhafte‹ Ende und der »Reigen von in ihrem Verhalten zur Deckung und begrün-
Versöhnungen« (Hinck 1982, S. 150) ein zwei- den die herausgehobene Position und die in-
Epochenwandel / Misere 573

tegrierende Funktion der Figur im Schluss- walt der Beharrung den Zeitenwandel signali-
bild. B. hat die fortschrittliche Haltung der siert und gleichwohl Stagnation in Aussicht
Figur dadurch desavouiert, dass er ihre mora- stellen kann, ist eine Verfremdung. Sie löst
lische Autorität untergräbt. Er zeigt durchgän- sich dialektisch auf: In der Klassengesellschaft
gig, vor allem jedoch in Szene 8 die Charak- wandeln sich zwar die Erscheinungsformen
termaske. der Herrschaft und ihrer Instrumente, nicht
jedoch das repressive Wesen des Herrschafts-
prinzips als solches. Das Leitbild der jungen
Klasse, das autonome, freie und selbstver-
Erziehungsproblematik und antwortliche Individuum verkommt bei der
repressive Sexualmoral Herrschaftsklasse zum Zerrbild des fremdbe-
stimmten Knechts. Der bürgerliche Hofmeis-
ter/Lakai im Dienst des Adels kann sich als
Das von Lenz in Akt II, Szene 1 zwischen dem Zögling der Dorfschule bruchlos in den Er-
Geheimen Rat und dem Pastor durchgespielte zieher an öffentlichen Schulen verwandeln,
Thema des gesellschaftlichen Wandels durch unterm Strich hat die Misere Bestand. Erst die
richtige, nämlich öffentliche und chancenglei- »Schüler und Lehrer einer neuen Zeit« werden
che Erziehung hat B. schon im Prolog zum aus diesem verhängnisvollen Kreislauf (circu-
Dreh- und Angelpunkt der Bearbeitung ge- lus vitiosus) ausbrechen können, wie der Epi-
macht. Den Prolog spricht der Darsteller des log lehrt.
Hofmeisters mit der Künstlichkeit einer Ma- Lenz strebt im Hofmeister die Übereinstim-
rionette als personifizierte Unnatur. Er stellt mung von Rede und Verhalten an und realisiert
sich als Lakai in Adelsdiensten vor, dient sich die ideale Norm zumindest in den exemplari-
aber schon der neuen Herrschaftsklasse, der schen Gestalten der akademischen Jugend,
Bourgeoisie, als Erzieher und Garant des sta- worüber in der Forschung weitgehend Kon-
tus quo an. Das Erscheinungsbild des Spre- sens herrscht. Fritz von Berg, Absolvent der
chers beglaubigt ein Programm: »Freilich, die öffentlichen Schule, wie sein bürgerlicher
Zeiten wandeln sich grad: / Der Bürger wird Freund Pätus, handeln uneigennützig und
jetzt mächtig im Staat / Und ich bedenk schon großmütig. Auch für die Lehrmeister und Vor-
früh und spät / Daß ich in seine Dienste tret. / bilder (Geheimer Rat von Berg, Wenzeslaus)
Er hätte in mir, wie das so heißt / Allezeit gilt diese Verhaltensnorm: Sie ist Ausdruck
einen dienenden Geist: / Der Adel hat mich von ›seelischem Adel‹, Freiheit und Tatbereit-
gut trainiert / Zurechtgestutzt und exerziert / schaft, wohingegen der ›Domestik‹ (vgl. Lenz,
Daß ich nur lehre, was genehm / Da wird sich S. 56) – B. nennt ihn »einen Sklaven im be-
ändern nichts in dem.« (GBA 8, S. 321) treßten Rock« (GBA 8, S. 351) – an einer »Skla-
Während im Erziehungsdiskurs des Origi- venkette« (Lenz, S. 55) seufzt und selbst im
nals Öffentlichkeit als Voraussetzung und Ve- Überfluss schmachten muss. Der Freiheitsdis-
hikel sozialer Mobilität propagiert wird, führt kurs des Geheimen Rats insistiert auf der Ko-
die Bearbeitung dieses Reformkonzept im inzidenz von Ideal und Wirklichkeit, Theorie
Zerrbild der Dressur ad absurdum. Durch Er- und Praxis. B. sprengt diesen Zusammenhang
ziehung zur Knechtseligkeit wird gerade das in der Bearbeitung auf und verankert das So-
Gegenteil von Aufklärung, nämlich Stagna- zialverhalten der Figuren im Eigennutz. Er be-
tion, bewirkt und als erwünschtes Lernziel der tont in seinen Ausführungen zur Stückwahl, es
öffentlichen (= bürgerlichen) Schule propa- komme darauf an, die »Vorgänge zwischen sei-
giert und garantiert. Damit wird die Hoffnung, nen [Lenz’] Personen zu spielen und die Äuße-
die der Geheime Rat bei Lenz in die Öffent- rungen davon abzusetzen – wir brauchen sie
lichkeit des Erziehungswesens setzt, obsolet. nicht zu unseren eigenen zu machen.« (GBA
An die Stelle der Utopie setzt B. die Misere. 24, S. 388) Er betont mit dieser Äußerung den
Das Paradox, dass der Hofmeister als An- Gegensatz von realistischer (d. h. wahrer)
574 Der Hofmeister von Jacob Michael Reinhold Lenz

Wiedergabe der Verhältnisse und ideologisch bereits mit der ersten Replik den Charakter
verzerrter Rede, der zum Gestaltungsprinzip einer Konfrontation. Der Geheime Rat lehnt
der Bearbeitung wurde. die Bitte um Vermittlung ab. Er pariert mit
Die Szene 8 der Bearbeitung, der ›Pferde- dem Hinweis auf die parasitäre Hofmeister-
bittgang‹ spielt im Ziergarten des Geheimen Existenz den Vorwurf der Lohnkürzung und
Rats. Sie ist in den Anmerkungen mit dem initiiert dadurch die Grundsatzdiskussion
Shakespeare-Zitat »Ein Königreich für ein über Erziehung. Öffentliche Erziehung ist der
Pferd!« (GBA 24, S. 363; »a horse! a horse! my privaten Erziehung vorzuziehen: Sie ist bil-
kingdom for a horse!«; Richard III., V,4) über- liger. Die Maximen zur praktischen Lebens-
schrieben und verarbeitet marginal die in Akt führung sind hausgemacht, also umsonst.
II, Szene 1 des Originals entwickelten Argu- Hofmeister sind daher überflüssig. Diese
mente des Erziehungsdiskurses. B. hat den Wendung des Gesprächverlaufs verhindert,
Text des Originals um drei Viertel gekürzt und dass Läuffer seine Interessen aussprechen
die Figurenkonstellation durch die Anwesen- kann: er wird Gegenstand des Diskurses, un-
heit des Hofmeisters auf der Szene grundle- fähig, aus eigener Kraft in ihn einzugreifen.
gend verändert. Durch Läuffers Präsenz wird Der den Gesprächsverlauf der gesamten Szene
neben dem Erziehungsdiskurs indirekt auch begleitende Gestus des Geheimen Rats, die
der Sexualdiskurs geführt, bzw. die Verhin- Beschneidung der Buchsbäume (ursprünglich:
derung und Verdrängung des einen (Sexual- Lorbeerbüsche; vgl. GBA 24, S. 383) verbindet
diskurs) durch den anderen (Erziehungsdis- und verfremdet die Inhalte des Gesprächs und
kurs) gezeigt. Figurenrede und Interaktion repräsentiert als signifikanten Gestus zugleich
werden bei B. einander konfrontiert. Der Bitt- den Habitus der Herrschaftsklasse (vgl.
gang von Vater und Sohn Läuffer hat die Für- S. 363).
sprache des Geheimen Rats bei Läuffers Ar- Der einzige dem ›Lakaien‹ zugestandene
beitgeber zum Ziel. Die, im gemeinsamen Redeanteil – nach drei vergeblichen Anläufen,
Vorstoß verdoppelte Anstrengung lässt Gleich- das Pferd zur Sprache zu bringen – wird durch
heit der materiellen Interessen erwarten (vgl. die väterliche Unterbrechung und die nicht
Kitching, S. 94–95), die indessen nicht be- minder grobe Aufdeckung seiner Notlüge zu
steht. Pastor Läuffer beanstandet am Beginn einer Gebärde der Hilflosigkeit: »Das Pferd.
der Szene den Betrug und beziffert die Lohn- […] Man hat mir ein Pferd versprochen, alle
kürzung; Läuffer erstrebt nur sexuelle Ent- Vierteljahr einmal nach Königsberg zu rei-
lastung: Er braucht das ihm zugesagte Pferd, ten!«, worauf der Geheime Rat nur wegwer-
um die Bordelle aufsuchen zu können. Die fend repliziert: »Ihn sticht wohl der Hafer?«
Anwesenheit seines Vaters hindert ihn jedoch (GBA 8, S. 340) Die Replik des Rats konnotiert
daran, seine Notlage offen auszusprechen. Die »Pferd« und »Lakai«. Das Sprichwort wird zum
vertrackte Ausgangssituation hat B. in den An- Wortspiel. Es pointiert die Situation und setzt
merkungen durch auffällig verschachtelte Syn- den Zuschauer ins Bild über das Dilemma des
tax hervorgehoben: »Gesucht: ein Ausweg. Hofmeisters, Reiter sein zu wollen, aber Lakai
Der gebieterische Finger der Gesellschaft deu- (Pferd) bleiben zu müssen.
tet auf das Bordell. Aber der unglückliche An der Wahl des falschen Augenblicks – Pa-
Brennende kann zu dem einzig erlaubten küh- stor Läuffer hat das Gespräch bereits abge-
lenden Guß nur kommen, wenn der Patron brochen und wendet sich zum Gehen – wird
ihm die Schöpfkelle reicht. Läuffer, verlassen, die Hilflosigkeit des Bittstellers zwischen den
nur mit einem Versprechen bewaffnet, also un- streitenden Autoritäten deutlich: »Wenn Läuf-
bewaffnet, muß einen Fürsprecher wählen, fer ausbricht, fällt ihm sein Vater in die Arme,
seinen Vater, der sich an einen Fürsprecher besorgt um die Würde des Sohnes. Der bringt
wenden muß, den Bruder des Patrons.« (GBA seine Bitte um Vermittlung so ringend mit sei-
24, S. 363) nem Vater vor. […] Der Geheime Rat hat nur
Die Konstellation Adel-Bürgertum gewinnt einen Satz lauter gesagt: ›Ihn sticht wohl der
Erziehungsproblematik und repressive Sexualmoral 575

Hafer‹. Sorglich knipst er hie und da einen när Pätus »mit Pfeife und Pantoffeln« (S. 362)
übermäßigen Sprößling des Buchsbaums mit das Unglück seines Freundes. Spießertum eta-
der großen Schere ab.« (GBA 24, S. 364) bliert sich diesseits und jenseits der Klassen-
schranke.
Am Ende der Hofmeister-Bearbeitung steht
nicht Versöhnung, sondern die Kirchhofsruhe
Verfremdung der Versöhnung des falschen Idylls, das die Widersprüche
nicht aufhebt, sondern verhüllt. B. hat mit der
Metapher des Schneefalls, welche die Ruhe
Die ideologische Tendenz der Lenzschen Dra- nach dem Sturm bezeichnet, die Szenen-
matik ist auf die Versöhnung von Bürgertum schlüsse 14c und 16 aufeinander bezogen: »’s
und Reformadel ausgerichtet. Die fortschritt- ist alles unter Schnee«, stellt Wenzeslaus be-
lichen bürgerlichen Ideen werden von Aristo- ruhigt fest (GBA 8, S. 362), und nach der
kraten vorgetragen, Kritik richtet sich an die glücklichen Vereinigung von Fritz und Gust-
Adresse beider Stände. Die Grafen Wermuth chen singt die Majorin »O stille Winterzeit!«
und Seiffenblase, die Baronin von Berg sind (S. 367). Diese Stille, die B. »eine fast hör-
satirisch gezeichnet, Pastor Läuffer, sein Sohn bare« genannt hat (GBA 24, S. 369), leistet
und der alte Pätus verfallen der Kritik. Am durch auffällige Wiederholung die Verfrem-
›Happy Ending‹ des Hofmeister sind Adel und dung des Idylls zum Bild der Misere. Diese
Bürgertum im Zeichen ständeübergreifender wird durch die Kapitulationen der Bürger-
Mitmenschlichkeit beteiligt, sofern sie die söhne und des Adelssprösslings besiegelt. Der
›Botschaft der Tugend‹ personifizieren. Das Epilog thematisiert diesen Befund als einen
idealistische Schlussbild verdrängt und über- Zustand des Sich-Abfindens, der durch alle
spielt aber nicht das realistische Tableau, das Klassen geht: »Denn ihr saht die Misere im
einerseits die Illusionen und Schwächen des deutschen Land / Und wie sich ein jeder damit
Bürgertums, andererseits den Standesdünkel abfand« (GBA 8, S. 371).
des Adels – sein Beharren auf überholten Sta-
tussymbolen wie die Erziehung durch Hofmei-
ster – scharf und schonungslos zeichnet. Ver-
nunft, Affektkontrolle und Altruismus sind die Wirkung
Tugenden, die von Lenz im Zeichen der Auf-
klärung als allgemeinverbindliche Verhaltens-
normen propagiert werden. Im Gespräch mit Hans Bunge sprach sich Eis-
B. hat hier, wie insbesondere an der verän- ler nachhaltig für die Aufnahme der Antigone-
derten Gestaltung der Schlüsse deutlich wird, und der Hofmeister-Bearbeitung in die Aus-
die Intentionen der Vorlage einschneidend gabe der Stücke B.s aus: »Das sind endgültige,
verändert. Zynismus und Anmaßung, Phra- glänzende Leistungen, geniale Bearbeitungen.
senhaftigkeit und Egoismus sind die Attribute […] ›Der Hofmeister‹ von Lenz ist ohne
der Herrschaftsklasse, und Opportunismus Brecht bereits heute undenkbar.« (Eisler/
(Pätus, Läuffer), Pedanterie sowie Militaris- Bunge, S. 72) Auch Dürrenmatt konstatierte:
mus (Wenzeslaus) die typischen Mentalitäten »Der ›Hofmeister‹ von Brecht ist besser als der
der Bürger. Im Egoismus, der das Glück am von Lenz« (Dürrenmatt, S. 314). Johannes Bo-
warmen Ofen mit dem Genuss der materiellen browskis Gedicht J.R.M. Lenz von 1963 be-
und ideellen Güter erstrebt (Grog und Gesang zeugt gleichfalls die Wirkung der Hofmeister-
im Hause Berg, Kaffee und Kant im Hause Bearbeitung. Es »entstand in Erinnerung an
Pätus), konvergieren die nächstliegenden Le- einen Besuch der Aufführung von B.s Bearbei-
bensinteressen beider Klassen: »Traurig. – tung […] durch das ›Berliner Ensemble‹«
Aber unsere Sorgen sind’s nicht« (GBA 8, (Haufe, S. 194) und bezieht sich auf die Forde-
S. 365), kommentiert der einstige Revolutio- rung nach einem Reitpferd, ein Motiv, das erst
576 Der Hofmeister von Jacob Michael Reinhold Lenz

B. in der Bearbeitung gestaltet hat. Bobrow- tor aber »in seiner reformerischen Enge be-
skis Verse: »[…] ich hör / man hat es / gehört. fangen« bleibe, trete in der Bearbeitung »der
/ Daß die Hauslehrer / ein Pferd brauchen« wirkliche gesellschaftliche Konflikt zutage«
(Bd. 1, S. 190) lassen sich also als Hinweis auf (S. 289). Die »Schärfe des sozialen Wahrneh-
die Tatsache deuten, dass der aus dem Be- mungsvermögens« (ebd.) des Sturm-und-
wusstsein der literarischen Öffentlichkeit ver- Drang-Autors werde durch die Bearbeitung
drängte Dramatiker Lenz durch die Bearbei- geordnet und akzentuiert: »Was ein [Lenz’]
tung wieder entdeckt worden war. realistischer Griff zusammenrückt, rückt die
Die Beziehung der Bearbeitung zur Vorlage, Bearbeitung zurecht: sie führt thematisch
eine Konstante in den Stellungnahmen der durch, was Lenz dem Stoff anheimstellt. […]
Theaterkritik, bestimmt seit den grundlegen- es ist nicht Lenz, sondern Lenz plus Brecht.
den Arbeiten von Hans Mayer und Reinhold Wobei die Summierung eine Potenzierung er-
Grimm auch den wissenschaftlichen Diskurs: gibt« (S. 290).
»Nicht nur wird seit der Hofmeister-Inszenie- Aus allen Theaterkritiken – hüben wie drü-
rung des Berliner Ensembles auch das Original ben – spricht der Eindruck, dass B.s Inszenie-
wieder gespielt, für die Literaturwissenschaft rung nicht nur wegen der Wiederentdeckung
ist Brechts Interpretation eine Herausforde- eines vergessenen Dramatikers als ein Epoche
rung, Lenz von seinen Thesen her neu zu be- machendes Ereignis der Theatergeschichte
greifen.« (Winter, S. 203) Die Rezeptionsge- angesehen wurde, sondern auch aufgrund der
schichte der Bearbeitung verweist als Phäno- Vollkommenheit der Inszenierung, die als En-
men der Intertextualität auch, wie das Beispiel sembleleistung gewürdigt wurde. Wolfgang
Bobrowskis zeigt, auf Aspekte der sog. ›pro- Harich erfasste den Vermittlungscharakter der
duktiven Rezeption‹ (vgl. Hinck 1989, S. 30). epischen Spielweise und den Demonstrations-
Am Vorabend der Uraufführung (14. 4. 1950) Charakter der Darstellung (vgl. Wyss, S. 293).
strahlte der Berliner Rundfunk als publizisti- Auch die westdeutsche Theaterkritik, vertre-
sche Vorbereitung der Theateraufführung eine ten u. a. durch Sabina Lietzmann und Fried-
Hörspiel-Bearbeitung des Hofmeister von Eli- rich Luft, rühmte mit der Bearbeitung auch die
sabeth Hauptmann aus, die erst vor zwei Jah- Inszenierung und verfuhr durchaus nicht im
ren von Christoph Weiß wieder aufgefunden Horizont bürgerlicher Theaterästhetik, son-
worden ist. Die Hörspiel-Szenen waren einge- dern ließ sich auf die Prämissen des epischen
bettet in ein historisches Porträt des »ganz Theaters ein. Überschwänglich urteilte Her-
Großen der Deutschen Literatur« (Weiß, bert Pfeiffer, B. sei in dieser Inszenierung
S. 14), das Lenz von den Klassikern, Goethe, »hinreißend, hinreißender denn je. […] Es
Schiller, Herder und Wieland, distanzierte war […] ein Theaterereignis, eines, das end-
und ihn als realistischen und sozialkritischen lich einmal wieder unumstritten bei der Kritik
Dichter feierte. Ins Zentrum rückte Haupt- aller Richtungen sein dürfte.« (S. 295 f.)
mann, indem sie u. a. Engels Brief an Mehring Der Tenor der Kritik bestätigt die Einschät-
zitieren ließ, das Thema der ›deutschen Mi- zung Heiner Müllers: »Die beste Aufführung
sere‹ sowie den Krieg, indem sie den Sieben- überhaupt war der Hofmeister. Das war es, was
jährigen Krieg und seine Nachwirkungen her- er wirklich wollte. Eine ganz scharfe, elegante,
vorhob: »Europa hallt wider vom Tritt des schöne Aufführung. […] Das Hauptthema war
Kommißstiefels.« (S. 11) Eingefügt hatte sie die deutsche Misere […]. Das war der Höhe-
überdies drei Lieder von Lenz, die in der Sen- punkt von B.s Arbeit am Berliner Ensemble.
dung Ernst Busch sang. Aber es wurde sehr bekämpft und konnte nicht
Wie Paul Rilla anlässlich der Uraufführung lange gespielt werden.« (Kluge/Müller,
(15. 4. 1950) ausführte, wollte Lenz’ Bühnen- S. 76 f.) Müllers Würdigung ist zugleich ein
dichtung »mit ganz bestimmten Reformvor- bemerkenswertes Zeugnis für disparates Pu-
schlägen in die Gesellschaft eingreifen« blikumsverhalten, das sowohl als symptoma-
(Wyss, S. 288). Wo der Sturm-und-Drang-Au- tisches Missverständnis aus ästhetischer Über-
Wirkung 577

forderung durch das ungewohnte epische Hg. v. Eberhard Haufe. Stuttgart 1998. – Hinck, Wal-
Theater als auch als Phänomen politisch-sub- ter: Vom Ausgang der Komödie. Exemplarische
Lustspielschlüsse in der europäischen Literatur. In:
versiver Rezeption ›gegen den Strich‹ inter-
Grimm, Reinhold/Hinck, Walter (Hg.): Zwischen
pretiert werden kann. Unter Bezugnahme auf Satire und Utopie. Zur Komiktheorie und zur Ge-
die Kastrationsszene und den darin themati- schichte der europäischen Komödie. Frankfurt a. M.
sierten Freiheitsdiskurs führt Müller aus: 1982, S. 126–183. – Ders.: Produktive Rezeption
»Das war von Brecht sehr scharf gegen den heute: Am Beispiel der sozialen Dramatik von
bürgerlichen Freiheitsbegriff formuliert. J.M.R. Lenz und H. L. Wagner. In: Ders. (Hg.):
Sturm und Drang. 2. Aufl. Kronberg/Taunus 1989,
Denn gleichzeitig verweigert er dem Hofmei-
S. 257–269. – Joost. – Kitching, Laurence Patrick
ster das Geld für den Ritt ins Bordell. […] Und Anthony: »Der Hofmeister«. A Critical Analysis of
beschneidet dabei seine Hecken und redet Bertolt Brecht’s Adaptation of Lenz’s Drama. Mün-
über die Freiheit des Individuums und das chen 1976. – Kluge, Alexander/Müller, Heiner:
Schreckliche war, in dieser Aufführung, und Geist, Macht, Kastration. In: Dies.: »Ich schulde der
wie ich gehört habe auch in anderen, gab es Welt einen Toten«. Gespräche. Hamburg 1995,
S. 67–81. – Komfort-Hein, Susanne: »Sie sei wer sie
immer Beifall auf diese Rede über die bürger-
sei.« Das bürgerliche Trauerspiel um Individualität.
liche Freiheit. Das war die DDR-Situation, Pfaffenweiler 1995. – Kreuzer, Helmut/Schmidt,
und das Ende war eigentlich die Inszenierung Karl-Wilhelm (Hg.): Dramaturgie in der DDR
vom Kreidekreis.« (Kluge/Müller, S. 77 f.) (1945–1990). Bd. 1 (1945–1969). Heidelberg 1998. –
Die westdeutsche Erstaufführung am Deut- Lenz, Jakob Michael Reinhold: Werke und Briefe in
schen Schauspielhaus in Hamburg (1960) drei Bänden. Bd. 1. Hg. v. Sigrid Damm. München
1987. – Lietzmann, Sabina: [Rezension]. In: Frank-
wurde von Ulrich Erfurth inszeniert, Heinz
furter Allgemeine Zeitung, 24. 4. 1950. – Lucchesi/
Reincke spielte den Hofmeister. Der Rezen- Shull. – Luft, Friedrich: [Rezension]. RIAS (Ber-
sent, Henning Rischbieter, bezog sich auf die lin), 16. 4. 1950. – Luserke, Matthias: Jacob Michael
Modellinszenierung des Berliner Ensembles Reinhold Lenz. Der Hofmeister, Der neue Menoza,
und merkte kritisch an, dass bei Erfurths Neu- Die Soldaten. München 1993. – Mattenklott, Gert:
inszenierung »am Modell vorbei« inszeniert Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang.
2. Aufl. Königstein 1985, S. 122–168. – Mayer, Hans:
worden sei (Rischbieter, S. 2). Er rühmte die
Bertolt Brecht und die Tradition. Pfullingen 1961. –
darstellerische Leistung Reinckes, Joseph Mittenzwei, Werner (Hg.): Theater in der Zeiten-
Offenbachs als Wenzeslaus und Ella Büchis als wende. Zur Geschichte des Dramas und des Schau-
Lise, betonte aber, dass die Inszenierung nicht spieltheaters in der Deutschen Demokratischen Re-
annähernd B.s »Forderung, artistisch und poe- publik 1945–1968. Bd. 1. Berlin 1972. – Müller,
tisch zu spielen« eingelöst habe (ebd.). Klaus-Detlef: Die Funktion der Geschichte im Werk
Bertolt Brechts. Tübingen 1967. – Rilla, Paul: Lenz:
Der Hofmeister. In Ders.: Literatur. Kritik und Pole-
mik. Berlin 1950, S. 72–78. – Rischbieter, Henning:
Literatur:
Am Modell vorbei. In Theater heute (1960), H. 4,
Besson, Benno: Jahre mit Brecht. Hg. v. Christa Neu- S. 2. – Schöne, Albrecht: Säkularisation als sprach-
bert-Herwig. Willisau o. J. – Bobrowski, Johannes: bildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher
Die Gedichte (= Gesammelte Werke. Bd. 1). Hg. v. Pfarrersöhne. Göttingen 1968, S. 92–138. – Sören-
Eberhard Haufe. Stuttgart 1987. – Dümling. – Dür- sen, Bengt Algot: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der
renmatt, Friedrich: Der Klassiker auf der Bühne. Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert.
Gespräche. Bd. 1. 1961–1970. Hg. v. Heinz Ludwig München 1984. – Theaterarbeit. 6 Aufführungen des
Arnold [u. a.]. Zürich 1996. – Eisler/Bunge. – En- Berliner Ensembles. Hg. v. Berliner Ensemble. Dres-
gels, Friedrich: Brief an Franz Mehring. In: Marx, den 1952. – Weiß, Christoph: Elisabeth Hauptmanns
Karl/Engels, Friedrich: Werke. Bd. 39. Berlin 1978, Hörfunksendung über Jakob Michael Reinhold Lenz
S. 99. – Giese, Peter Christian: Das »Gesellschaft- am Vorabend der Premiere von Brechts »Hofmei-
lich-Komische«. Zu Komik und Komödie am Bei- ster«-Bearbeitung. In: Text+Kritik (2000), H. 146:
spiel der Stücke und Bearbeitungen Brechts. Stutt- Jakob Michael Reinhold Lenz, S. 3–15. – Winter,
gart 1974. – Greiner, Bernhard: Die Komödie. Hans-Gerd: »Die Selbstentmannung der Intellektu-
München 1994. – Haufe, Eberhard: Erläuterungen ellen« – Brecht und die zeitgenössische Hofmeister-
der Gedichte und der Gedichte aus dem Nachlaß. In: Rezeption. In: Stephan, Inge/Winter, Hans-Gerd:
Bobrowski, Johannes: Gesammelte Werke. Bd. 5. »Ein vorübergehendes Meteor«? J.M.R. Lenz und
578 Der Hofmeister von Jacob Michael Reinhold Lenz

seine Rezeption in Deutschland. Stuttgart 1984, schließlich seinen Schüler Egon Monk, der im
S. 178–210. – Wizisla, Erdmut (Hg.): » … und mein Januar 1951 mit den Vorbereitungen der In-
Werk ist der Abgesang des Jahrtausends«. 22 Ver-
szenierung begann. Der Text wurde während
suche, eine Arbeit zu beschreiben. Berlin 1998. –
Wyss. – Zimmermann, Rolf Christian: Marginalien der Probenarbeit vielfältigen Überarbeitungen
zur Hofmeister-Thematik und zur ›Teutschen Mi- unterzogen. Die Premiere fand am 24. 3. 1951
sere‹ bei Lenz und Brecht. In: Irmscher, Hans Diet- in den Kammerspielen des Deutschen Thea-
rich/Keller, Werner (Hg.): Drama und Theater im ters Berlin/DDR statt. Ein Exemplar der Büh-
20. Jahrhundert. Fs. für Walter Hinck. Göttingen nenfassung wurde den Hauptmann-Erben im
1983, S. 213–227.
April zugestellt. Mitte April wurde Helene
Jörg Wilhelm Joost Weigel, der Leiterin des Berliner Ensembles,
über Hauptmanns Verlag die Auffassung der
Witwe Margarete Hauptmann mitgeteilt. Da-
nach handelte es sich bei der Bearbeitung um
»sinnentstellende Änderungen«, welche die
Gerhart Hauptmann Biber- ursprünglich erteilte »Genehmigung für eine
dramaturgische Einrichtung […] bei weitem«
pelz und roter Hahn überschreiten (GBA 8, S. 588). Der Auffüh-
rungsvertrag wurde mit sofortiger Wirkung
gekündigt, und nach nur 14 Vorstellungen fiel
Entstehung und Textgeschichte am 22. 4. 1951 der letzte Vorhang. Da auch jede
andere Verwendung der Bearbeitung aus ur-
Die Bearbeitung der beiden Hauptmann-Dra- heberrechtlichen Gründen untersagt wurde,
men ist das »Ergebnis der Spielplan- und En- konnte der vollständige Text erst in Band 8 der
semblepolitik« (GBA 8, S. 586), die B. mit GBA (1992) publiziert werden. Nur die wich-
Blick auf die dem neu gegründeten Berliner tigsten Neudichtungen und Änderungen wur-
Ensemble in Aussicht gestellte Spielstätte im den 1952 in Theaterarbeit veröffentlicht
Theater am Schiffbauerdamm verfolgte. Ab- (Theaterarbeit, S. 171–226).
sicht war, hier auch Stücke neuerer Autoren
zur Aufführung zu bringen. B.s Bemühungen,
namhafte Künstler für das Ensemble zu ge-
winnen, führten zur Verpflichtung von Therese »Von der Gaunerin zur
Giehse als Hauptdarstellerin in Gorkis Wassa Verbrecherin«: Mutter Wolffen
Schelesnowa unter der Regie von Berthold und Frau Fielitz
Viertel. Giehse wünschte, die Rollen der Frau
Wolff im Biberpelz und der Frau Fielitz (ver-
witwete Wolff) im Nachfolgestück Der rote Gerhart Hauptmanns Komödie Der Biberpelz
Hahn an einem oder zwei aufeinander folgen- löste bei der Uraufführung am 21. 9. 1893 am
den Abenden zu spielen. Mit fünf Mitarbeitern Deutschen Theater in Berlin widerstreitende
machte sich B. im Sommer 1950 an die Bear- Reaktionen aus. Während sich das Publikum
beitung. In einem Brief vom 1. 9. 1950 (GBA Aufführungsberichten zufolge am Witz der Ge-
30, S. 33 f.), in dem er schon die Grundzüge schichte erfreute, mahnte die Kritik dramatur-
der Bearbeitung andeutete, versuchte er, Vier- gische und weltanschauliche Defizite an, die
tel auch für diese Regie zu gewinnen. Wegen vornehmlich mit dem offenen Schluss des
anderweitiger Verpflichtungen Viertels kam Stücks zusammenhingen. Im Mittelpunkt von
die Zusammenarbeit nicht zustande, auch Hauptmanns Diebskomödie (»Ort des Gesche-
wenn B. diesen in weiteren Briefen, die auf- hens: irgendwo um Berlin. Zeit: Septennats-
schlussreiche Hinweise auf den Stand und die kampf gegen Ende der achtziger Jahre«;
Tendenz der Arbeit enthalten, zu interessieren Hauptmann 1966, S. 483) steht die Waschfrau
suchte (S. 43–46). Mit der Regie beauftragte B. Wolff, Ehefrau des Schiffszimmermanns Julius
»Von der Gaunerin zur Verbrecherin«: Mutter Wolffen und Frau Fielitz 579

Wolff, die zum Unterhalt ihrer Familie auch Schwiegersohns Schmarowski, ihren Schnitt
vor kleineren Straftaten nicht zurückschreckt. machen. Während sich die Fielitzens in Berlin
Dem wohlhabenden Rentier Krüger, in dessen befinden, brennt ihr Haus ab. Der Verdacht
Diensten ihre Tochter Leontine steht, stibitzt wird auf Gustav, den geistig behinderten Sohn
sie eines Nachts nicht nur einen Stapel trocke- des pensionierten Gendarms Rauchhaupt, ge-
nen Holzes, sondern wenig später auch noch lenkt. Trotz Unruhe in der Dorfbevölkerung
einen teuren Biberpelz. Diesen verkauft sie an und zahlreicher anonymer Hinweise gelingt es
den Spreeschiffer Wulkow und kann mit dem Frau Fielitz, den unverändert gegen vermeint-
Erlös Schulden bezahlen. Der Anzeige des liche politische Gegner eifernden Wehrhahn,
Rentiers Krüger ist in beiden Fällen kein Er- der die Fakten auch nicht wahrhaben will, von
folg beschieden. Denn der Amtsvorsteher ihrer Unschuld zu überzeugen. Als Rauch-
Wehrhahn sieht in der Zeit der Sozialistenge- haupt ihr beim Richtfest des neuen Hauses
setze seine politische Mission eher darin, moralisch zusetzt, spielt Frau Fielitzens Herz
»Dunkle Existenzen, politisch verfemte, nicht mehr mit: Sie stirbt mit einem Stoßgebet
reichs- und königsfeindliche Elemente« ding- auf den Lippen, das zumindest einen Hauch
fest zu machen: »Die Leute sollen zu stöhnen von Einsicht erkennen lässt. Den Erfolg des
bekommen« (S. 508). Für den bornierten Biberpelz konnte Hauptmann mit seinem Ro-
Wehrhahn erscheint am Ende der harmlose ten Hahn, der am 27. 9. 1901 ebenfalls am
Freigeist Dr. Fleischer, Mitbewohner des Ren- Berliner Deutschen Theater uraufgeführt
tiers Krüger, als ein »lebensgefährlicher Kerl«; wurde, nicht wiederholen.
der schlitzohrigen Täterin aber erteilt er einen
lupenreinen Freispruch: »die Wolffen ist eine
ehrliche Haut« (S. 542).
In seiner Kritik der Uraufführung in Die »Der rote Biberhahn«
Neue Zeit vom 25. 9. 1893 mokierte sich der
Politiker und Schriftsteller Franz Mehring
über die Reaktionen der bürgerlichen Rezen- Die Arbeit der Gruppe um B. bestand zunächst
senten, die im Biberpelz allenfalls ein Plagiat in einer tief greifenden Veränderung in der
von Kleists Zerbrochenem Krug sehen wollten. dramaturgischen Konstruktion der beiden
Für ihn war das Stück »eine lachende Geiße- Vierakter, die man auf sechs Akte verkürzte.
lung der verkehrten Welt, in der wir leben und Die zwei Untersuchungen, die Wehrhahn im
weben«, im »winzigen Einzelfalle« sah er »den Biberpelz vornimmt, wurden zu einer zusam-
ganzen komischen Widersinn eines Gemein- mengezogen. Der Diebstahl des Pelzes und
wesens aufquellen, das die Guten schützen seine Übergabe an Wulkow findet nicht, wie
und die Schlechten strafen will, aber thatsäch- bei Hauptmann, außerhalb der Handlung, son-
lich die Guten straft und die Schlechten dern auf der Bühne statt. Der zweite Akt des
schützt« (Mehring, S. 38). Roten Hahn entfällt komplett, die dramatur-
Die Tragikomödie Der rote Hahn schließt gisch funktionslose Figur des Dr. Boxer eben-
inhaltlich an den Biberpelz an. Acht Jahre sind falls (zu den Einzelheiten der Bearbeitung vgl.
vergangen, die verwitwete Wolffen hat den GBA 8, S. 586–596).
Schuster Fielitz geheiratet, und ihr Wohnort Entscheidender als die dramaturgischen
gehört zum Einzugsgebiet um das aufstre- sind die inhaltlichen Veränderungen. B. pole-
bende Berlin. Mit dem allgemeinen Wohlstand misierte schon Ende der 20er-Jahre gegen den
vergrößert sich auch die Dimension des Ver- Naturalismus, der im Namen bereits »seine
brechens: Ähnlich wie andere Bewohner, de- naiven, verbrecherischen Instinkte« (Über die
ren Häuser unter ungeklärten Umständen ab- Verwertung der theatralischen Grundelemente;
brannten und ihren Besitzern beträchtliche GBA 21, S. 232) offenbare. Der Begriff sei »sel-
Versicherungsgelder einbrachten, will Frau ber schon ein Verbrechen«, weil eine »ganz
Fielitz, auch auf Anregung ihres schmierigen bestimmte Schicht« versuche, »unter dem
580 Biberpelz und roter Hahn

Deckmantel des Mitleids« die Verhältnisse beklagt. Die zweite neu eingeführte sozialde-
zwischen den Menschen als natürliche, also mokratische Figur ist der arbeitslose Eisen-
unveränderliche, hinzustellen (ebd.). Obwohl dreher Rauert, der ironischerweise den Gen-
diese Auffassung auch im Messingkauf mehr- darmen Rauchhaupt der Vorlage ersetzt.
fach erneuert wurde, nahm B. in den Notizen Diese wird um einen weiteren kritischen
über realistische Schreibweise Hauptmanns Aspekt angereichert, indem B. auch den Libe-
Weber – als »das erste große Werk, das die ralismus als politische Perspektive in Frage
Emanzipation des Proletariats hervorbringt« stellt. In der Gestalt des Dr. Fleischer hatte
(GBA 22, S. 633) – und den Biberpelz von sei- Hauptmann dem Amtsvorsteher Wehrhahn,
ner Kritik aus. Hier finde die bürgerliche Ord- dem Vertreter der Obrigkeit, eine positive, li-
nung »keine sympathisierende Zeichnung« berale Figur gegenübergestellt. B. will zeigen,
(ebd.). dass das, was in der Vorlage »als absoluter
In seinem Brief an Viertel vom 1. 9. 1950 Fortschritt« erscheint, ein »nur relativer Fort-
begründete B. sein Interesse vor allem mit der schritt« war (GBA 24, S. 393). Er fügt daher in
Entwicklung der Frau Wolff, die einen »Weg die Bearbeitung ein sozialdemokratisches
jenseits der Klassen« gehe, »ins Verbrecheri- Flugblatt (»Keinen Mann und keinen Gro-
sche – was sich nicht bezahlt macht […]« (GBA schen für Bismarck!«; GBA 8, S. 392) gegen die
30, S. 33). Es komme nicht darauf an, die »Große Militärvorlage« (S. 384) des Reichs-
Schwächen der beiden Stücke herauszustellen, kanzlers aus dem Jahr 1874 ein. In dieser hatte
sondern ihnen »historischen Blick […] zur Bismarck eine auf sieben Jahre ausgedehnte
Verfügung zu stellen« (S. 34). In der Tat fügt Erhöhung des Militäretats verlangt (Septen-
die Bearbeitung, bei allen Neuformulierungen natsvorlage). Als Dr. Fleischer der Autorschaft
und gravierenden Änderungen in der großen verdächtigt wird, spricht er sich in liberaler
dramaturgischen Linie wie im inhaltlichen Halbherzigkeit »aufs entschiedenste« für drei
Detail, den Stücken keine absolut neue Ten- Jahre aus (S. 405). Damit werden die politi-
denz hinzu. Vielmehr verleiht sie den dort schen Differenzen zwischen den Vertretern der
angelegten Intentionen eine größere gesell- Obrigkeit und der Liberalen »auf ein Mini-
schaftliche Tiefenschärfe und eine zugespitz- mum reduziert«, und die Hauptmannsche Vor-
tere politische Aussage. Diese ergibt sich in lage wird »unter der weiteren historischen
erster Linie daraus, dass die Bearbeiter die Perspektive der immer stärker werdenden im-
Komödie Biberpelz aus der Perspektive der perialistischen Tendenzen und des wachsen-
Tragödie Der rote Hahn in den Blick nahmen. den Militarismus in Deutschland zu Ende der
Zeigt diese nämlich »das dicke Ende des in- Ära Bismarck interpretiert« (Fischer, S. 227).
dividualistisch geführten Existenzkampfes der Die Überleitung zum Roten Hahn bildet ein
Wolffen« (Brief an Viertel, November 1950; »Zwischenspruch« (GBA 8, S. 412 f.), in dem
S. 44), so wird dieser Form des Besitzindivi- Leontine die privaten (»Papa liecht ja nun un-
dualismus in der Bearbeitung die sozialdemo- tern jrünen Rasen«; S. 412) und geschichtli-
kratische Arbeiterbewegung entgegengesetzt. chen Veränderungen kommentiert: »Schma-
Im ersten Akt geschieht dies kurz in Gestalt rowski sacht (Schmarowski is mein Schwager)
Leontines, die mit dem jungen Henschke be- / Et soll nu ooch an unsern deutschen Wesen /
freundet ist, den Aussagen von Spitzeln zu- Die janze Welt, ob se will oder nicht / Und
folge »Setzer und strammer Sozi« (GBA 8, desto schlimmer für se, wenn se nich will, ja
S. 384). B.s Verfahren der politischen Zuspit- jenesen.« (S. 413) Das Motiv der Militarisie-
zung lässt sich hier im Detail beobachten: rung wird nun – analog zur Heeresvorlage im
Leontines Forderung nach einem 10-Stunden- Biberpelz – am Beispiel der Flottenaufrüstung
Tag, mit der sie den Zorn der Mutter Wolffen weitergeführt. Wehrhahn betritt die Bühne als
erregt, liegt auf einer Linie mit dem Lamento Vorsitzender der Ortsgruppe des Flottenver-
der Leontine bei Hauptmann, als sie sich über eins und begründet auch salopp die Verbin-
die langen Arbeitszeiten bei Rentier Krüger dung zwischen Nationalismus und Imperialis-
»Der rote Biberhahn« 581

mus: »Die Liebe zum Vaterland jründet sich Se jehört haben, Sie sind ‘nen andern Weg
auf die Liebe zum eigenen Heim! […] Wie im jejangen, Ihren eigenen, nich mit Ihrer Klasse!
Kleinen, so auch im Jroßen. Von der Etsch bis Jetzt, wo Se bis zum Halse im Dreck stecken,
an den Belt!« (S. 415) Das Richtfest von Fielit- woll’n Se von uns Mitgefühl. Nee, det is nich.«
zens neuem Mietshaus findet denn auch an (GBA 8, S. 444)
einem feierlich inszenierten Flottentag statt.
Auf diesem Hintergrund führt der Weg der
Wolff/Fielitz »von der Gaunerin zur Verbre-
cherin« (GBA 24, S. 397) über mehrere Sta- Rezeption
tionen: Sind die Brandstiftung und der damit
verbundene Versicherungsbetrug noch als Aus-
bruchsversuch einer sozial Benachteiligten zu Die Aufführung der Hauptmann-Bearbeitung
verstehen, so ist die Strategie, die Zündelei wurde von der Kritik wenig beachtet. Edwin
dem wehrlosen Gustav anzulasten, schon in Montijo polemisierte am 24. 3. 1951 in Der
hohem Maße moralisch verwerflich. Frau Fie- Kurier unter der Überschrift »Der rote Biber-
litz geht jedoch noch einen Schritt weiter hin hahn« gegen das Stück als »Ausgeburt kom-
zu einem sozialen Verbrechen, wenn sie mandierter Poeten und ihrer reglementierten
versucht, Rauert dem Sozialistenfresser Wehr- Poesie« (Montijo, S. 70). Die Bearbeitung sei
hahn ans Messer zu liefern. In einer Andeu- eine »Verengung und Verfälschung«, aus der
tung lässt sie durchblicken, bei der Brand- nun die »kommunistische Fanfare« töne
stiftung könnte es sich um einen Racheakt (ebd.). Ernstzunehmender sind Einwände,
Rauerts an Schuster Fielitz handeln, der früher welche die Legitimität gravierender Eingriffe
als Polizeispitzel tätig war. Damit findet sich in überlieferte Werke selbst in Frage stellen.
auch hier eine analoge Konstruktion zum er- Der Kritiker Heinz Lüdecke nannte die Bear-
sten Teil der Bearbeitung: Wehrhahn erhält beitung am 30. 3. 1951 in Neues Deutschland
erneut die Möglichkeit, ein Verbrechen wider einen Versuch, »dessen kritische Bemühungen
alle nahe liegenden Vermutungen den politi- das Übliche überschreiten« (Lüdecke). Mache
schen Gegnern anzulasten. Aufgrund dieses man daraus ein »Prinzip«, müsste »fast die ge-
Verhaltens hat Frau Fielitz am Ende auch keine samte Weltliteratur umgeschrieben werden«
Chance, von Rauert eine soziale Absolution zu (ebd.). Zwar hält er eine Bearbeitung für pro-
erhalten, obwohl sie Geld bietet, um Gustav in blematisch, welche »die Gedanken großer
einem ordentlichen Heim unterbringen zu las- Dramatiker früherer Epochen weiterdenkt«
sen. Sie appelliert nun ihrerseits an Rauerts und sie ȟber den Grad der Kenntnis und des
politisches Gewissen und fordert Solidarität Bewußtseins hinausführt« (ebd.), den diese
ein: »Sie sind a Roter, nich? Se missen doch a Autoren erreicht hatten, doch liege B.s Neu-
Mitgefiehl haben mit die armen Leute.« (GBA fassung in der Logik des Hauptmannschen An-
8, S. 444) Rauerts Statement stellt die Ziel- satzes, der in der Rolle der Frau Fielitz die
richtung der Bearbeitung in einer Deutlichkeit Figur der Wolffen selbst kritisch weiterent-
heraus, die zumindest den Schluss des Stücks wickelt habe. B. hielt die Einwände Lüdeckes
zum »politischen Lehrstück« (Müller, S. 23) für so bedenkenswert, dass er sie in die Doku-
werden lässt. Rauert wirft Frau Fielitz vor, auf mentation der Bearbeitung im Band Theater-
Kosten ihrer Klasse einen individuellen Weg arbeit aufnahm (S. 196 f.).
aus der Misere gewählt zu haben, einen Weg, Paul Rilla sieht in der Berliner Zeitung
der im Kleinen ebenso zum Scheitern verur- vom 28. 3. 1951 einen »gesellschaftskritischen
teilt sei wie der Weltbrand, den die »Jroßen« Witz« am Werk, der die beiden Stücke »sati-
gerade legten: »Sie werden nur alles zugrunde risch aus sich heraus« treibe (Rilla, S. 71).
richten. Sie sind aus Peterswalde, Sie sind die Hans Joachim Schrimpf dagegen hält die Bear-
Tochter von ‘nem Weber, Frau Fielitz. Et jibt so beitung, vor allem durch die Einführung des
wat wie ‘ne Arbeiterbewejung, davon müssen Sozialdemokraten Rauert, für das »Exempel
582 Biberpelz und roter Hahn

des politisch-agitatorischen Lehrtheaters« Hahn. In: Ders.: Sämtliche Werke (Centenar-Aus-


(Schrimpf, S. 51). Gerade in diesem Punkt gabe). Hg. v. Hans-Egon Hass. Band II: Dramen.
Berlin 1965, S. 9–74. – Jacobs, Jürgen: Hauptmann.
sieht er B. als marxistischen Kritiker in bester
Der Biberpelz und Der rote Hahn. In: Die deutsche
Gesellschaft mit seinen konservativen Antipo- Komödie. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v.
den: »beide fordern die moralische Verurtei- Walter Hinck. Düsseldorf 1977, S. 195–212. – Lü-
lung der Wolffen, wenn auch aus denkbar ent- decke, Heinz: Analyse der Bearbeitung. In: Bell-
gegengesetzten Motiven« (S. 52). Tatsächlich mann, S. 38 f. – Montijo, Edwin: Der rote Biberhahn.
stellt der Schluss der Bearbeitung den ein- In: Bellmann, S. 70 f. – Müller, Klaus-Detlef: Hi-
storisierung und ihre Grenze. Zu Brechts Bearbei-
zigen gravierenden Eingriff in die Struktur der
tung Der Biberpelz und der rote Hahn. In: Der
Vorlage dar. Die Behauptung, dass das Stück Deutschunterricht (1994), H. 6, S. 17–25. – Rilla,
»entgegen der Auffassung des Autors und sei- Paul: Biberpelz und Roter Hahn. Hauptmanns Dop-
ner Gestaltungsabsicht umgebogen« oder so- pelkomödie in der Bearbeitung des Berliner En-
gar »ernstlich entstellt« worden sei (S. 55), sembles. In: Bellmann, S. 71 f. – Scheuer, Helmut:
lässt sich am Text nicht verifizieren. Gerhart Hauptmann. Der Biberpelz. Frankfurt a. M.
1986. – Schrimpf, Hans Joachim: Brecht und der
Gewichtigere Probleme ergeben sich hin-
Naturalismus. Zur Biberpelz-Bearbeitung. In:
sichtlich der Aktualität der Bearbeitung. BrechtJb. (1975), S. 43–62. – Theaterarbeit. 6 Auf-
Konnte B. die Hauptmannsche Vorlage in den führungen des Berliner Ensembles. Hg. v. Berliner
frühen 50er-Jahren noch unter der Perspektive Ensemble. Dresden 1952. Erweiterte Ausgabe. Ber-
eines siegreichen Sozialismus historisieren lin 1961. – Tschörtner, Heinz-Dieter: Bertolt Brecht
und einen Sozialdemokraten als die zukunfts- und Hauptmann. In: WB. 32 (1986), H. 3, S. 386–
403.
weisende Figur in die Bearbeitung einführen,
so sind diese weltanschaulichen Gewissheiten Raimund Gerz
heute verschwunden. Für Klaus-Detlef Müller
ist Biberpelz und roter Hahn heute bereits
selbst ein historisches Stück. B.s Aktualisie-
rungen seien aus heutiger Sicht auf eine »Ak-
tualisierung zweiten Grades« angewiesen
(Müller, S. 25): Und da werde sich wohl zei- Büsching
gen, »daß nicht Rauert, sondern der Baulöwe
und Spekulant Schmarowski die zukunftswei-
sende Figur ist«. Obwohl die Bearbeitung ge- Das Stückfragment ist der einzige Versuch B.s,
genüber der Vorlage eine »eigene ästhetische eine für die Existenz und das Scheitern der
Qualität« behaupten könne, sei sie »nicht mehr DDR zentrale Problematik literarisch zu ge-
zeitgemäß« (S. 24). stalten: die Beziehung zwischen der materiel-
len Produktion und dem Bewusstsein der Pro-
duzierenden. Das Material liefert seines
Literatur: geringen Umfangs wegen nur Anhaltspunkte
darüber, wie B. den Stoff geformt hätte – inte-
Bellmann, Werner (Hg.): Erläuterungen und Doku- ressant ist jedoch der Anspruch der Arbeit: B.s
mente zu: Gerhart Hauptmann. Der Biberpelz. Stutt-
Suche nach einer neuen Form für die Dar-
gart 1978. – Brecht, Bertolt: Biberpelz und roter
Hahn. Bearbeitung zweier Stücke von Gerhart stellung der Veränderungen, die sich ergeben,
Hauptmann. Hg. u. kommentiert v. Klaus-Detlef wenn der produzierende Arbeiter »vom Objekt
Müller. Frankfurt a. M. 1993. – Fischer, Gerhard: der Geschichte zu ihrem Subjekt wird« (GBA
Der Naturalismus auf der Bühne des epischen Thea- 27, S. 324). Im Fall des als ›Held der Arbeit‹
ters: Zu Brechts Bearbeitung von Hauptmanns Der geehrten Ofenbauers Hans Garbe, der gegen
Biberpelz und Der rote Hahn. In: Monatshefte 67
Widerstände Neuerungen durchsetzte und
(1975), H. 3, S. 225–236. – Hauptmann, Gerhart:
Der Biberpelz. In: Ders.: Sämtliche Werke (Cen- durch eine riskante Aktion einen enormen
tenar-Ausgabe). Hg. v. Hans-Egon Hass. Band I: Dra- Produktionsverlust verhinderte, hoffte B., ein
men. Berlin 1966, S. 481–542. – Ders.: Der rote DDR-Thema ohne Rücksichten auf ideologi-
Rezeption 583

sche Vorgaben auf die Bühne bringen zu kön- sching, der allenfalls alternativ gelten kann:
nen. Die Mappe mit den wesentlichen Texten trägt
B.s Auseinandersetzung mit dem Stoff er- die Aufschrift »Garbe« (BBA 200), ein Titel,
streckte sich mit Unterbrechungen auf die Zeit den B. auch in Selbstaussagen verwendete
von 1950 bis 1954, der Plan bestand bis zu (vgl. GBA 10, S. 1279 und GBA 27, S. 349).
seinem Tod fort (vgl. die Entstehungsge- Möglicherweise war das eine Entscheidung
schichte in GBA 10, S. 1278–1285). Wesentlich gegen den Namen Büsching, den B. im Fatzer
für die Arbeit ist B.s Absicht, zur Ergänzung unter Rückgriff auf eine authentische Person
von Presseberichten eigenes Quellenmaterial verwendet hatte: den Landsknecht Hein Bü-
zu erarbeiten. 1951 fanden mehrere Gespräche sching, der wegen seiner Beteiligung an Feme-
mit Garbe und Kollegen Garbes statt, die morden 1927 in öffentlich stark beachteten
Käthe Rülicke bearbeitet und unter dem Titel Prozessen zum Tod verurteilt worden war (vgl.
Hans Garbe erzählt publiziert hat (vgl. Rü- Bock 1987, S. 19–22).
licke). Die Berichte des Ofenbauers sollten Die Forschung hat die politische Funktion
parallel entstandene Darstellungen seiner Ta- des Büsching-/Garbe-Projektes herausgear-
ten widerlegen – etwa Bücher von Eduard beitet – mit teilweise divergierenden Ergeb-
Claudius, die B. für »barbarisch und Kitsch« nissen. Nach Hildegard Brenner interessierte
hielt (GBA 10, S. 1281). Außerdem bot dieses B. an der Person Garbe die »Differenz von
Verfahren die Möglichkeit, die von B. inten- Handeln und Wissen« (Brenner, S. 214) und
dierte Literarisierung des Stoffes zu kontrol- am Stoff »die Frage, auf welche Weise das
lieren, da die Quelle »sichtbar und einwand- Publikum den scheinbaren Widerspruch von
frei« festlag: »Dichterische Freiheiten sind in naiver Motivation (Bewußtseinsebene) und
diesem Falle, da nachprüfbar, unbegrenzt den weitreichenden gesellschaftlichen Folgen
möglich« (ebd.). B.s Interesse an den Gesprä- solcher Taten (Handlungsebene) auflösen,
chen war auffällig, er erkundigte sich nach darin den gesellschaftlichen Kausalnexus frei-
dem Verhalten der Arbeiter und nach ihren legen sollte« (S. 217). Stephan Bock zufolge
Motiven für den Widerstand gegen die neue hielt B. Garbe »für einen zeittypischen fort-
Gesellschaft. B.s Nähe zu Garbe zeigt etwa schrittlichen deutschen Arbeiter, voller (nicht
seine Frage: »Warum hast du denen den Lohn bewußter) Brüche, besessen vom Neuaufbau
versaut?« (BBA 557/69). und der Produktion, aber ungenügend verse-
Es ist nur wenig Text überliefert: Rechnet hen mit politischen und theoretischen Kennt-
man Rülickes Notizen und Gesprächsproto- nissen über die Gesamtzusammenhänge der
kolle, Zeitungsausschnitte und Fotos nicht Gesellschaft« (Bock 1977, S. 86). B., zit. von
mit, liegen lediglich 26 Blatt vor, teilweise ent- Rülicke (1951): »Garbe sei zwar ein ›Held‹,
halten sie nur wenige Zeilen. Ausgeführt wur- aber kein ›shakespearescher Held‹. In diesem
den vier Szenen bzw. Szenenteile (B 1 – B 4), Stück müßten die Gesamtzusammenhänge der
drei davon in freien Versen. Ferner existieren Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Garbe
ein Szenenplan vom November 1954 (A 1), der könne sie nicht ausdrücken, da er sie nicht
die Gliederung am weitesten ausführt, zu- erkennen kann. […] Man müsse mehr über
gleich aber den Abschluss der Arbeit markiert, Garbe wissen, ihn zum Reden bringen, seine
sowie 18 Fabelsegmente bzw. Stichworte zur Vergangenheit (und vergangene Denkweise)
Fabel (A2 – A19). Die Edition in der GBA gibt kennenlernen.« (GBA 10, S. 1279) Heiner
die Notizen nicht in der Reihenfolge der Über- Müller sah in Garbe den Typus des »bewußtlo-
lieferung wieder, sondern ordnet sie nach dem sen Helden« (Müller 1980, S. 18).
Handlungsverlauf, damit – und mit der Nor- B. verstand die sozialistische Gesellschaft
mierung der Entwürfe durch Tilgung der nicht als Fluchtpunkt bisheriger Gesellschafts-
Kleinschreibung – einen späteren Bearbei- formationen, sondern als Experiment mit ei-
tungsstand suggerierend. Problematisch ist genen Widersprüchen, die in Figuren wie
ferner die alleinige Ansetzung des Titels Bü- Garbe zum Tragen kommen. In B.s Fabelseg-
584 Büsching

menten ist Garbe, der die Lebensverhältnisse Neuen ist nicht leicht« (GBA 23, S. 373) formu-
verbessern will, für seine Kollegen ein »Tarif- lierte B. auf dem Kongress der Schriftsteller
drücker« und »Arbeiterverräter« – ein neural- 1956 auch eigene Erfahrungen; ihm war es
gischer Punkt: B. schätzte Solidarität unter Ar- nicht gelungen, den »Helden neuer Art« (ebd.)
beitern hoch; Wolfgang Harich zufolge soll er dramatisch zu erfassen. Es ist dennoch pro-
»an den Methoden der Leistungsstimulation in blematisch, B.s Auseinandersetzung mit dem
der volkseigenen Industrie gerügt [haben], Garbe-Stoff als gescheitert zu betrachten. Ge-
daß sie einen Arbeiter gegen den anderen aus- wiss dementierten die Ereignisse um den 17.
spielten« (Harich, S. 87). Juni die Logik von Geschichte, die auf die
Der Szenenplan vom November 1954 spitzt »Subjektwerdung« des naiven Helden ver-
die Konflikte zu. Im Zentrum sollte Garbes traute (Brenner, S. 218) – zumal die Frage der
Heldentat stehen: der »Kampf um den Ofen« Normen den Aufstand auslöste. Die Antino-
(A 1; GBA 10, S. 971). Dem Arbeiteraufstand mien der Übergangsgesellschaft waren für den
in der DDR vom 17. Juni 1953 wollte B. einen Abbruch der Arbeit mitverantwortlich. Ein
vollen Akt widmen (vgl. GBA 27, S. 349), Verzicht auf den ästhetisch innovativen An-
Garbe stirbt, das Dilemma des Aufbaus offen- spruch ist jedoch nicht auszumachen. Stephan
bart sich in unlösbaren Alternativen: »Kann Bock sieht in dem Szenenplan vom November
die Regierung die neuen Normen beibehalten? 1954 B.s »Modernität und Aktualität in frap-
Nein! Kann sie sie preisgeben? Nein! – Die pierender Weise« aufleuchten (Bock 1987,
Regierung gibt die Normen preis.« (A 1; ebd.) S. 19). Weiter geht Heiner Müllers Stück Der
Das Verhalten von Garbes Schüler, der zu- Lohndrücker, das sich auf die Produktionsvor-
nächst in den Westen geflohen war, gibt Anlass gänge konzentrierte und das Publikum auf-
zu schwacher Hoffnung: »Der Schüler kommt forderte, »den Kampf zwischen Altem und
zurück. Zu spät. Für jetzt, aber nicht für im- Neuem« zu entscheiden (Müller 1974, S. 15).
mer.« (A 1; S. 972) Mit der Figur des ewig
jungen Cidher, die B. Friedrich Rückerts Ge-
dicht Chidher (1829) entnimmt, öffnet sich
Literatur:
eine geschichtsphilosophische Perspektive,
die »den Wechsel der Dinge kennt« (B 2; Bock, Stephan: Chronik zu Brechts Garbe/Büsching-
S. 977): »Wo etwas / War, kann wieder etwas Projekt und Käthe Rülickes Bio-Interview Hans
Garbe erzählt sowie zu anderen Bearbeitungen des
sein.« (B 2; S. 978) Garbe-Stoffes (Eduard Claudius, Karl Grünberg,
Die ästhetische Dimension des Projekts ist Maximilian Scheer) von 1949 bis 1954. In: BrechtJb.
in der Forschung nahezu unberücksichtigt ge- (1977), S. 81–99. – Ders.: Literatur, Gesellschaft,
blieben. B. sah in dem Stoff »eine Anhäufung Nation. Materielle und ideelle Rahmenbedingungen
kleiner Einzelheiten (wie Faust, Wald und der frühen DDR-Literatur (1949–1956). Stuttgart
Feld), überepisch, nirgends dramatisch, die 1980. – Ders.: Die Tage des Büsching. Brechts Garbe
– ein deutsches Lehrstück. In: Profitlich, Ulrich
jeweils nur eine Seite ergeben, nie eine Szene« (Hg.): Dramatik der DDR. Frankfurt a. M. 1987,
(GBA 10, S. 1282). Ihm schwebte zunächst, S. 19–77. – Brenner, Hildegard: Schule des Helden.
wie er am 11. 7. 1951 ins Journal notierte, »ein Anmerkungen zu Brechts Büsching-Entwurf. In: Al-
Fragment in großen, rohen Blöcken« vor (GBA ternative (1973), H. 91, S. 213–221. – Greiner, Bern-
27, S. 324). Der geplante Einsatz von Chören hard: Von der Allegorie zur Idylle: Die Literatur der
Arbeitswelt in der DDR. Heidelberg 1974. – Harich,
und Liedern zur Kommentierung, die Verwen-
Wolfgang: Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit.
dung von Versen zur Verfremdung – B. dachte Zur nationalkommunistischen Opposition 1956 in
an den Fatzer-Vers –, schließlich der Hinweis der DDR. Berlin 1993. – Müller, Heiner: Geschich-
auf den »Stil der ›Maßnahme‹ oder ›Mutter‹« ten aus der Produktion I: Stücke, Prosa, Gedichte,
(Journal, 15.10.–30. 10. 1953; S. 349) lassen Protokolle. Berlin 1974. – Ders.: Keuner Èˇ Fatzer. In:
auf seine Absicht schließen, die Lehrstück- BrechtJb. (1980), S. 14–21. – Rülicke, Käthe: Hans
Garbe erzählt. Berlin 1952.
Ästhetik aufzugreifen.
Mit der Erkenntnis »Die Darstellung des Erdmut Wizisla
585

die Probleme des Textes wieder am Ausgangs-


Coriolanus punkt, bei Shakespeare, angelangt waren.
Die Frage ist, welcher Text den Vorrang ha-
ben soll. Die allein im Theater wirksam ge-
Die Literaturwissenschaft orientiert sich am wordene Fassung von 1964 ist zwar gedruckt,
Text, die Theaterwissenschaft an der Auffüh- nur hat sie B. nicht autorisiert. Die Ausgaben
rung. Im Fall von B.s Coriolanus jedoch gibt es von B.s Werken enthalten unterschiedliche
weder einen vollständigen Text, der vom Autor Versionen des 1951 bis 1953 von B. erstellten,
gutgeheißen wurde, noch eine Inszenierung, aber nie abgeschlossenen und deshalb letztlich
die wirklich B.s Bearbeitung gespielt hat. Die auch nicht autorisierten Textes (zur Entste-
Inszenierung nämlich am Berliner Ensemble, hung vgl. die eingehende Kommentierung in
die das Stück bahnbrechend durchsetzte (Pre- GBA 9, S. 341–350). Die Schlachtszenen des
miere am 25. 9. 1964), war eine Bearbeitung ersten Aktes hatte B. ausgelassen, weil er sie
der B.-Schüler Joachim Tenschert und Man- erst während der Proben (um)gestalten wollte.
fred Wekwerth, die zwar auf B.s Text rekur- In der GBA sind sie deshalb nicht berück-
rierten, ihm jedoch gleichzeitig vorwarfen, die sichtigt (S. 19). In den Stücken (Bd. XI) und
Rolle des Volks idealisiert zu haben – weshalb der ihnen folgenden Werkausgabe (WA 6) steht
sie auf die Tiecksche Übersetzung zurückgrif- dafür der Text der Übersetzung von Dorothea
fen –, und deshalb B.s Bearbeitung nachteilig Tieck. Darüber hinaus gibt es eine kongeniale,
veränderten (Text in: Spectaculum VIII. Sechs B. manchmal sogar übertreffende, englische
moderne Theaterstücke. Frankfurt a. M. 1965, Übertragung der Fassung in den Werken von
S. 7–70). B.s Coriolanus zu analysieren, heißt, Ralph Manheim für die Collected Plays von B.
sich auf ein Kräftefeld von historischen Hal- Manheim gestaltete die Schlachtszenen als
tungen und Vorenthaltungen einzulassen, die brechtgetreue Bearbeitung von Shakespeares
von den legendenhaften Anfängen des repu- Text. Mit ihr liegt die beste Fassung des von
blikanischen Kleinstaates Rom, also von den B. initiierten Vorhabens vor, freilich in engli-
als Quellen dienenden Berichten des Livius scher Sprache. Der Text ist, so gesehen, was
und Plutarch, über 2500 Jahre bis in die Ge- den neueren Text-Theorien entspricht und im
genwart, zu B. und seinen Bearbeitern sowie Sinn B.s gewesen wäre, kein vorgegebenes,
zu Günter Grass, reichen. Entsprechend gab durch einen ursprünglichen Autor verbürgtes,
Grass einer Rede vom 24. 4. 1964 den Titel: sondern ein mehrfach determiniertes Ge-
Vor- und Nachgeschichte der Tragödie des Co- bilde.
riolanus von Livius und Plutarch über Shakes- Griff die Inszenierung von 1964 auf Tieck
peare bis zu Brecht und mir und schrieb 1966 zurück, um B.s (angebliche) Idealisierung des
das Drama Die Plebejer proben den Aufstand. Volkes zu dämpfen, die als Pendant zu Shakes-
Ein deutsches Trauerspiel, das an B. unmittel- peares Idealisierung des Adels verstanden
bar anknüpfte. wurde (Wekwerth, S. 111), beanspruchten Ten-
Grass galt B.s Bearbeitung von Shakes- schert und Wekwerth, der Komplexität und
peares Tragedy of Coriolanus, die er nach dem dem theatralischen Vergnügen des Shakes-
Text der Ausgabe der Stücke XI von 1959 peareschen Textes gerechter als B. zu werden,
kannte, als ideologisch geprägte, politisch un- indem sie ihm unterstellten, seinen eigenen
vertretbare Simplifikation eines klassischen Vorsatz, nämlich »nahe beim Shakespeare« zu
Werkes. Die Größe des überlebensgroßen Hel- bleiben, verletzt zu haben (S. 115). Zugleich
den und das faszinierende Psychodrama seiner waren Tenschert und Wekwerth, ohne sich
Familie habe B. wirkungs- statt werkästheti- dies selbst bewusst zu machen, dem zeitge-
schen, quasi Agitpropzwecken, geopfert (vgl. nössischen Shakespeare-Bild der DDR ver-
Hultberg, S. 103). Andererseits aber war es die pflichtet und versuchten darüber hinaus – frei-
Inszenierung von 1964, die auf das englische lich nicht offen ausgesprochen – Bezüge zu
Shakespearebild stark eingewirkt hatte, womit Problemen der damaligen DDR-Gesellschaft
586 Coriolanus

herzustellen. Es fragt sich aber, ob B. am Ende der Entwicklung seiner Vorstellungen vom
nicht doch das bessere Shakespeare-Verständ- Theater beteiligt.
nis hatte. Da Shakespeares Coriolanus während der
Dass B. ausgerechnet Shakespeares Coriola- Nazi-Zeit als Schultext eingesetzt worden war
nus bearbeite, hat eine lange Vorgeschichte. (Parker, S. 123 f.), haben ihn die Amerikaner
Schon in einem Brief vom 8. 6. 1917 pries er nach dem Krieg in der US-Zone als Glorifizie-
ihn lapidar mit: »Wundervoll!« (GBA 28, rung eines faschistoiden Helden rundweg ver-
S. 27). Erich Engels Inszenierung des Stücks boten. B.s Version dagegen wurde in erster
am Lessing-Theater in Berlin (Premiere: Linie als antifaschistisch eingeschätzt, so etwa
27. 2. 1926) mit Fritz Kortner als Coriolan wenn Friedrich Dieckmann über die Inszenie-
(Bühnenbild: Caspar Neher) kam den radika- rung von 1964 schrieb: »Hitler, das ist Corio-
len Vorstellungen B.s, wie seine nachträgliche lan, welcher nicht im letzten Augenblick vor
Stellungnahme beweist, entgegen. Ob diese der Ungeheuerlichkeit seines Beginnens zu-
Inszenierung tatsächlich »in direkter Zusam- rückschreckt, ist der vollendete Vaterlands-
menarbeit« mit B. zustandekam (Hortmann, mörder […], und das Volk […] hätte das deut-
S. 84), ist bisher nicht eindeutig geklärt wor- sche Volk sein sollen« (Dieckmann, S. 479). In
den. Tatsache aber ist, dass B. mit ihr »einen der DDR konnte wohl nur dieser Bezug zum
›entscheidend‹ wichtigen Versuch der Regie Faschismus hervorgehoben werden. Ein wei-
[realisiert sah], zu einem epischen Theater zu terer Aspekt ist, dass B.s Bearbeitung, die oft
kommen« (Hecht, S. 181), etwa im Spiel Kort- sprachlich vereinfacht, sich auf einem anderen
ners, das zur dargestellten Figur auf Distanz Niveau als das des englischen Originals be-
ging, um jede Heroisierung des Coriolan von wegt. Sein sprachliches Verfahren aber geht
vornherein auszuschließen. Es handelte sich keineswegs an Shakespeares Text vorbei, es
um jene »Distanz«, die Herbert Ihering an- eröffnet vielmehr einen neuen Blick auf ihn.
stelle der erwarteten »Größe« an B.s Figuren Insofern ist der Text der Inszenierung von
hervorgehoben und als grundlegende Ände- 1964, obwohl diese mit dem Rückgriff auf
rung im deutschen Theater eingeschätzt hatte Tiecks Übersetzung das Stück zu restaurieren
(Ihering, S. 23). meinte, nicht näher an Shakespeare. Im Ge-
Engel inszenierte das Stück noch einmal am genteil stellt, wie Jan Kott bemerkte, Shakes-
27. 3. 1937 am Deutschen Theater in Berlin. peares Coriolanus ein moderneres Modell als
Nach seiner Selbsteinschätzung hat er in sei- die Historien für B.s episches Theater dar und
ner Inszenierung die Widersprüche bei Sha- realisiert nicht weniger als dessen »objektive
kespeare in extremster Weise herausgearbeitet Dialektik«. Deswegen müsse das Stück »wie-
(vgl. Engel, S. 96; dagegen Hortmann, S. 149). der gelesen werden, so wie Shakespeare es
Die Hauptfigur sei, wie es nach dem dama- geschrieben hat« (Kott, S. 196). B.s Bearbei-
ligen pathetischen Helden-Ethos nahe gelegen tung hält dazu an, Shakespeare genauer zu
hätte, keineswegs glorifiziert worden, viel- lesen, der die Widersprüche unkommentiert
mehr habe er die ganze Widersprüchlichlich- darstellt und nicht Partei ergreift.
keit der Figur für sich sprechen lassen. Auf Die Beteiligten der Berliner Inszenierung
diese, freilich höchst indirekte und gleichsam von 1964 sahen im Gegensatz dazu Shakes-
verschleierte, Weise könnte man eine einma- peare immer noch als den »Apologet der Co-
lige Präsenz B.s im Theater des Nazi-Deutsch- riolane« (Wekwerth, S. 108). Sie rechtfertigten
land konstatieren. 1951 hat B., als er mit sei- ihre Arbeit beinahe als Gegenentwurf: »Im Co-
ner Bearbeitung begann, das Inspizientenbuch riolan […] ist in der Fassung Brechts die Pro-
Engels konsultiert. Seine Version verstand er duktion wiederum auf Seiten des Volkes. Die
als politisch notwendig gewordene Gewichts- Plebejer verteidigen Rom und befreien sich
verschiebung in Richtung auf ein dialektisches vom Verräter des Vaterlandes« (Rülicke-Wei-
Theater. Infolgedessen war gerade dieses ler, S. 123 f.). Wie aus dem Gespräch B.s und
Stück wie kein anderes von Shakespeare an seiner Mitarbeiter über das Studium des ersten
Gegenwartsbezug 587

Auftritts in Shakespeares »Coriolan« von 1953 kults in der zeitgenössischen DDR. Aus der
hervorgeht (GBA 23, S. 386–402), setzten Tragödie des einzelnen könnte eine Tragödie
diese häufiger eine Auslegung voraus, die B. der Gesellschaft werden, wenn jene Gesell-
differenzierte oder gar ablehnte. Ihm kam das schaft nicht bereit ist, auf angeblich unersetz-
Volk keineswegs einheitlich dargestellt vor: liche Einzelpersonen zu verzichten. Am Ende
weder als unterdrückte Klasse noch als kopf- von B.s Bearbeitung sollte das Volk die politi-
lose Meute. B. merkte an, dass die Basis der sche Macht übernehmen und damit gezeigt
anfänglichen Tatkraft der Plebs dadurch unter- werden, dass die Coriolane überflüssig gewor-
miniert werde, dass das Elend sie sowohl ver- den sind.
eint als auch trennt. Daher sollte, was im Stück Plutarch berichtete, wie Coriolan mit den
später auseinander fällt, nicht von vornherein Volskern Rom überfiel und dabei die Adligen
als ungetrübte revolutionäre Entschlossenheit schonte, während die Gemeinen ausgeplün-
ausgelegt werden. Er lobte die Meisterschaft dert wurden. Das verursachte sofort »noch
Shakespeares, der die Widersprüche zeigt und schlimmere Auseinandersetzungen« zwischen
es dem Zuschauer anheim stellt, wie aus ihnen beiden Parteien (Plutarch, S. 30). Shakespeare
klug zu werden ist. dagegen übernahm die geläufigen, in Thomas
B. jedoch traute dem damaligen, noch unter Norths Randbemerkungen zur Plutarch-Über-
dem Eindruck der Nazi-Barbarei stehenden setzung festgehaltenen Vorstellungen von der
Publikum nicht zu, einen unbearbeiteten Co- unzuverlässigen Plebs, gegen die man sich
riolanus verstehen zu können. Er hielt es nicht wappnen sollte: »See the fickle minds of the
für reif genug, aufgrund eines von ihm für die common people« (S. 15 f.). Wichtiger jedoch
DDR-Bürger so konstatierten unentwickelten ist die im Text Shakespeares objektivierte Dy-
»Selbstbewußtseins der Massen« (GBA 27, namik der Fabel, welche die Widersprüche of-
S. 340). Da die Verhältnisse in West-Deutsch- fen lässt. Denn Shakespeare hatte auch auf
land anders wären, könnte dort Shakespeares Machiavelli zurückgegriffen, der die gesell-
Stück ohne eingreifende Änderungen aufge- schaftlichen Kräfte zur Zeit Coriolans wesent-
führt werden. 1955 widerrief B. seine Mei- lich anders akzentuiert hatte (Machiavelli,
nung in Bezug auf die Eingriffe in Shakes- S. 124 f.).
peares Text: »ich […] frage mich, ob eine Auf- Mit dem legendären Stoff (vgl. Grathoff,
führung ohne Zufügungen (die ich schon vor S. 168) konnten sowohl Shakespeare als auch
zwei Jahren gemacht habe) gemacht wer- B. aktuelle Bezüge auf Distanz halten. Zur Zeit
den könnte, oder mit nur wenigen, nur Shakespeares entstand in England ein Streit
durch glückliche Regie« (Journal, 18. 7. 1955, zwischen König James I. und den Parlamenta-
S. 350). In einem späterem Gespräch unter- riern. Bestand jener auf einer Herrschaft von
strich er seine Ansicht nochmals: »Natürlich Gottes Gnaden, so behaupteten diese, dass die
kann man [Shakespeare] nicht wortwörtlich Stimme des Volkes die Stimme Gottes sei. Da-
spielen. Wir schreiben 1956 […]. Wenn ich ihn raufhin unterstellte der König den »Tribu-
aber heute spielen würde, müßte ich nur nen des Volkes« Unbotmäßigkeit (Zeeveld,
kleine Änderungen in der Inszenierung ma- S. 327). Metaphern aus diesem Diskurs ver-
chen, Änderungen in der Betonung« (Hayman, wendete Shakespeare in säkularisierter Form:
S. 50). »What is the city but the people?« (Akt III,
B. ging es mit seiner Bearbeitung darum, die Sz. 1). Menenius ließ er die aus Plutarch über-
Unersetzlichkeit des Titelhelden bei Shakes- nommene Bauchparabel erzählen, um mit
peare zu unterlaufen. Entgegen der Behaup- ihr (scheinbar) die absolute Herrschaft des
tung: »Dieses Thema [der scheinbaren Uner- Bauches (König) gegenüber den Gliedern
setzlichkeit des Individuums] existiert in jeder (Parlamentarier) zu rechtfertigen. Diese Figur,
uns denkbaren Gesellschaft« (Rülicke-Weiler die als Gewährsmann einer autoritären Hal-
in: GBA 9, S. 346), lenkte B. das Augenmerk tung erscheint, ist bei Shakespeare zugleich
auf den brisanten Tatbestand des Personen- als schwacher Mann, ja als Kindskopf, geschil-
588 Coriolanus

dert (Akt II, Sz. 1). Bei Brecht wird daraus: »Er Journal zu bestätigen scheint: »Übertrage die
hat eine Schwäche für das Volk« (GBA 9, Ermordung des Coriolan. Fühle mich ver-
S. 10). sucht, auch noch eine Übertragung der Szenen
B. setzte die Rettung des Staates anders als anzufertigen, die ich geändert habe.« (GBA 27,
Shakespeare ein. Die Solidarität der Plebejer S. 340) Auch Dieckmann vermutete: »Brecht
ist ausschlaggebend auch für die Intervention hat seine Arbeit hier schwerlich mit der Tieck-
Volumnias. Aber bei Shakespeare kann man schen verglichen« (Dieckmann, S. 484). Ein
durchaus in der Figur des sich unersetzlich Fassungsvergleich jedoch zeigt unmissver-
dünkenden Coriolan eine Anspielung auf den ständlich, dass B. nicht aus der Folioausgabe
unbeugsamen James I. sehen, womit Shakes- übersetzte, sondern Tieck bearbeitete, und
peare den fatalen Streit zwischen den Stuarts zwar nachweislich nach der Ausgabe Leipzig
und den Puritanern vorweggenommen hatte. (Reclam) 1944, die sich im Nachlass befindet
Die neuen Wirtschaftsformen waren unverein- und Striche sowie Anmerkungen B.s aufweist
bar mit den Interdependenzen der Feudalge- (BBA 1346). Shakespeares Text zog er offenbar
sellschaft. Im Absolutismus war der König so zusätzlich hinzu. B. modernisierte mit unter-
unersetzlich, wie der bürgerliche Privatbesitz schiedlichen Ergebnissen: gelegentlich groß-
unantastbar war. Es bestand eine neue, ana- artig, manchmal weniger überzeugend. Ein
loge, radikale Selbstbezogenheit. Im Gegen- Vergleich von Textausschnitten Shakespeares,
satz zu vielen Inszenierungen wird Coriolan in Tiecks und B.s aus der Mordszene (Akt V,
Shakespeares Text bei seinem Tod nicht ver- Sz. 6) kann den Befund belegen. Coriolan
herrlicht. Dass Aufidius ihm am Ende ein eh- bringt den Friedensvertrag aus Rom:
rendes Gedenken verspricht, ist das Minimum
Aufidius: Read it not, noble lords,
an Erfüllung von äußerer Form, und die Folge
But tell the traitor in the highest degree
war keine Machtübernahme durch die Patri-
He hath abused your powers.
zier, geschweige denn eine Rückkehr zur Mon-
Coriolanus: Traitor? How now?
archie, sondern die Verfestigung der römi-
Aufidius: Ay, traitor, Martius.
schen Republik über Jh. e.
Coriolanus: Martius?
Im Text Shakespeares werden die Interessen
Aufidius:
aller Parteien gleichermaßen offen gelegt. Wie
Ay, Martius, Caius Martius. Dost thou think
kommentarlos kommentiert wird, zeigen zwei
I’ll grace thee with that robbery, thy stol’n
Szenen (Akt IV, Sz. 5 und 6), die sich unter den
name
Bediensteten von Aufidius und gleich danach
»Coriolanus,« in Corioles?
in der römischen Bevölkerung abspielen. Hin-
You lords and heads o’ th’ state,
ter der Bühne findet ein Empfang zu Ehren
perfidiously
Coriolans statt. In einer Reihe komisch klin-
He has betrayed your business, and given
gender, an B. gemahnender Paradoxien be-
up,
merken die gehetzten Bediensteten, dass man
For certain drops of salt, your city, Rome –
in Kriegszeiten aufeinander angewiesen ist,
I say your city – to his wife and mother,
während der Friede den Hass unter den Men-
Breaking his oath and resolution like
schen schürt. Ein sofortiger Szenenwechsel
A twist of rotten silk, never admitting
zeigt Rom im tiefsten Frieden. Die Tribunen
Counsel o’ the war. But at his nurse’s tears
unterhalten sich. Die Menschen singen. Sie
He whined and roared away your victory,
sind freundlich zueinander.
That pages blush at him, and men of heart
Die Forschung vertritt die Meinung, B. habe
Looked wond’ ring each at others.
»vermutlich« einen Nachdruck der Folio-Aus-
(Shakespeare 1994, S. 384)
gabe von 1623 für seine Bearbeitung verwen-
det (GBA 9, S. 345) und nach Elisabeth Haupt-
manns Aussage »selbst übersetzt« (vgl. S. 344),
was sich durch B.s Notiz vom 27. 12. 1952 im
Bearbeitungsstufen 589

Daraus wird bei Tieck: Angesichts der Parallelen zwischen Tieck und
B. ist es unvorstellbar, er habe aus dem Origi-
Aufidius: Lest ihn nicht, edle Herrn: nal übersetzt. Aber er muss es konsultiert ha-
Sagt dem Verräter, daß er eure Macht ben, denn anders ist die Übernahme des Verses
Im höchsten Grad mißbraucht hat. »Coriolanus in Corioli? -« nicht zu erklären.
Coriolanus: Was? Verräter? B. raut den Jambentrott Tiecks auf, bremst die
Aufidius: Ja du, Verräter Marcius! rhetorischen Höhenflüge und entfernt Wie-
Coriolanus: Marcius? derholungen. Die Sprache wird gestischer,
Aufidius: den Umständen angemessener. Manchmal ent-
Ja Marcius, Cajus Marcius! Denkst du etwa, steht ein weniger melodischer Sprachduktus,
Ich werde hier mit deinem Raub dich der zwingt, über die Bilder nachzudenken. Bei
schmücken, B. wird optisch gesprochen, dreidimensional
Deinem gestohlnen Namen Coriolan? gedacht. Er geht von visuell fixierbaren Hal-
Ihr Herrn und Häupter dieses Staats, tungen aus. Hier arbeitet eher ein denkendes
meineidig Auge als ein fühlendes Ohr. Das wirkt manch-
Verriet er eure Sach und schenkte weg mal wie ein Filmtext, der die Kamera-Ein-
Für ein’ge salz’ge Tropfen euer Rom, stellung sprachlich vorwegnimmt. Außerdem
Ja, eure Stadt, an seine Frau und Mutter, fällt auf, dass er der Wortwahl Tiecks folgt,
Den heil’gen Eid zerreißend wie den Faden sie aber dem Rhythmus Shakespeares anpasst,
Verfaulter Seide, niemals Kriegsrat wenn es darum geht, sprachliche Glättun-
Berufend. Nein, bei seiner Amme Tränen gen zu vermeiden. Er übernimmt weitgehend
Weint’ er und heulte euren Sieg hinweg, die Übersetzung: »Den heil’gen Eid zerrei-
Daß Pagen sein sich schämten und Soldaten ßend wie den Faden / Verfaulter Seide«, ändert
Sich staunend angesehen. (Shakespeare aber die Wortstellung nach Shakespeare:
1952, S. 780 f.) »Breaking his oath«, setzt also das Partizip Prä-
B. strafft und dramatisiert: sens an den Zeilenanfang und folgt damit der
üblichen englischen Wortfolge, die im Deut-
AUFIDIUS Lest nicht die Beutelisten! schen aber ungewöhnlich wirkt. »Zerreißend
Sagt dem Verräter, daß er eure Vollmacht seinen Eid« ist sowohl semantisch reicher
Gröblich mißbraucht hat und … (hier in der Übernahme von Tiecks Überset-
CORIOLAN Verräter! Was denn? zung) als auch durch die Stellung im Satz
AUFIDIUS Jawohl. Verräter, Marcius. (nach Shakespeare) gestisch stärker. Manch-
CORIOLAN Marcius! mal greifen solche Änderungen in die Sub-
AUFIDIUS Glaubst du stanz des Stücks ein.
Ich beug mich diesem Raub, deinem Weiterhin verschärft B.s Text den Streit mit
gestohlnen Namen der Formulierung: »Glaubst du / Ich beug mich
Coriolanus in Corioli? – diesem Raub«, weil der öffentlich verletzte
Ihr Herrn und Oberhäupter dieses Staats, Stolz persönlicher ausgedrückt wird und die
meineidig Replik direkter wirkt: ein verbaler Schlagab-
Hat er verraten eure Sache und verschenkt tausch ohne die schmückenden, wenn auch
Für ein paar salzige Tropfen euer Rom ironisch gemeinten Höflichkeiten bei Tieck.
(Ich sage, euer Rom) an Weib und Mutter Wenn B. aus den »Pagen« Tiecks »Trommelbu-
Zerreißend seinen Eid wie einen Faden ben« werden lässt, entsteht eine doppelte Ver-
Zerfaulter Seide, niemals einen Kriegsrat schiebung: der Kriegsschauplatz wird einge-
Berufend, nur auf seiner Amme Flennen bracht, und aus sozial gleichrangigen, sich
Hin flennte er und heulte er deswegen schämenden Begleitern des Feld-
Weg euren Sieg, daß seine Trommelbuben herrn sind unpriviligierte, direkter an den
Rot wurden und die Männer stumm sich Kampfhandlungen Beteiligte geworden.
ansahn. (GBA 9, S. 79 f.) B. kürzt oder schreibt um, wo der Text
590 Coriolanus

Shakespeares dunkel ist. So wenn Cominius Truppen des Tschiang Kai-schek von 1936 bis
den Tribunen den Einbruch der alles verwü- 1945 und den Kampf nationaler Befreiung von
stenden Volsker beschreibt: »Your franchises, den Japanern als Haupt- bzw. sekundären Wi-
whereon you stood, confin’d / Into an augur’s derspruch. Die Folgerungen für das Stück
bore« (Akt IV, Sz. 6; S. 313). Nur Spezialis- sind: eine Kriegsandrohung kann bürokra-
ten wissen, dass das unveräußerliche Wahl- tische, sogar bis ins Diktatorische hinein-
recht in Rom so geschmälert wurde, dass es reichende Maßnahmen rechtfertigen, die
quasi verschwunden war, was Shakespeare im ihrerseits höchst reale, sich fortsetzende Spal-
Bild vom Bohrloch erfasst hat. Bei B. steht tungen zwischen den Staatsführern und den
dafür: »Jetzt könnt ihr eure vielgeliebten / Geführten verfestigen und ignorieren. Infol-
Verbrieften Rechte in paar Mauselöcher / Der gedessen kann der Klassenkampf oder allein
Altstadt stopfen« (GBA 9, S. 63), und zwar eine folgerichtige Friedenspolitik das Volk so-
nach Tiecks, von B. konkretisierten Vorgaben: wohl einigen als auch entzweien.
»Und eure Recht’, auf die ihr pocht, gepfercht Die Uraufführung der Bearbeitung fand am
/ Wohl in ein Mauseloch« (Shakespeare 1952, 22. 9. 1962 im Schauspielhaus Frankfurt a. M.
S. 762). B. findet an vielen Stellen oft ver- statt und hatte ein geringes sowie weitgehend
blüffende Lösungen für vorgefundene Unklar- negatives Echo. Die Inszenierung von 1964 in
heiten. Berlin hingegen wurde für die Durchsetzung
Weitere Änderungen liegen im Inhaltlichen. des B.schen Theaters beinahe so wichtig wie
So hat B. das Psychodrama zwischen Mutter die Mutter Courage (1954) oder Der kaukasi-
und Sohn sowie die Selbstdarstellungen der sche Kreidekreis (1955) in Paris. Aus Coriolan
zentralen Figur radikal reduziert. Die Uner- wurde ein Fachmann der Schlacht. Ekkehardt
setzlichkeit Coriolans wird am Ende durch die Schall spielte den Coriolan als Figur, die Lei-
Selbstorganisation des Volkes widerlegt, die denschaft durch Starrheit zeigte, wo »Wildheit
Macht der führenden Familien gebrochen und als Zeremonie, das Chaos als Ordnung, nur
somit die politische Landschaft Roms grund- von Fachleuten des Krieges zu schaffen« war
legend verändert. Obwohl B. Wert darauf (Wekwerth, S. 118). Peter Brook meinte: »in
legte, die Schwächen und die Uneinigkeit des vieler Hinsicht ein Triumph«. Das Verhältnis
Volkes herauszustellen, lässt er es am Ende zwischen Coriolanus und Volumnia war ihm
nicht scheitern. Dabei erhalten die Volkstri- allerdings zu instrumentalisiert (Brook, S. 91–
bunen (die Partei) neue Akzente, indem sie zu 93). Aus nunmehr in ihrer Widersprüchlich-
Sprechern und allmählich zu ›Führern‹ des keit erschließbaren Gründen mag es folgerich-
Volkes werden, worin durchaus eine Idealisie- tig erscheinen, dass Manfred Wekwerth und
rung gesehen werden kann. Als Intriganten bei Joachim Tenschert 1971 eingeladen wurden,
Shakespeare, die von Coriolan offen angefein- Shakespeares Coriolanus im Nationaltheater
det werden, organisieren sie die Umstimmung Englands zu inszenieren. Sie wollten zeigen,
des Volkes nicht als Intrige, sondern als politi- dass »nicht nur große Männer ersetzbar sind,
sche Demonstration des demokratischen sondern auch die Folgerung, daß nämlich ein
Volkswillens. Als solche weisen sie sich – im großer Mann den Glauben an seine Unersetz-
Gegensatz zu Coriolan – ihrerseits als uner- barkeit dazu verwenden kann, die Gesellschaft
setzlich aus. An ihnen wird eine weitere Seite zu erpressen. Das hat Coriolan zerstört und
der Schwäche, die das Volk auszeichnet, deut- gleichzeitig seine Gesellschaft eines wertvol-
lich. len Führers beraubt« (Wekwerth/Tenschert,
Ein aktueller Bezug kommt schließlich in S. 207). Allerdings war zunächst vorgesehen,
B.s Bearbeitung hinzu, auf den er selbst hinge- in London B.s Bearbeitung zu spielen; Weigel
wiesen hat (vgl. GBA 9, S. 349). Mao Tse-tungs jedoch entzog ihnen die Erlaubnis.
Schrift Über den Widerspruch schildert den Kott erschien die Unverträglichkeit zwi-
Klassenkampf zwischen Kommunisten, den schen Individuum und Polis (Staat) als die un-
Kuo-mintang, und den bürgerlichen, weißen vermeidliche und tragische Wahrheit eines je-
Uraufführung 591

den Humanismus (Kott, S. 210). Gehört nicht ner Ensembles 1956–1966. Frankfurt a. M. 1967. –
diese vorausgesetzte Unverträglichkeit jedoch Zeeveld, W. Gordon: Coriolanus and Jacobean Poli-
tics. In: Modern Language Review 57 (1962), S. 321–
zur Entfaltung des gleichermaßen befreienden
334.
wie versklavenden geschichtlichen Prozesses,
die von den B. nicht sonderlich zugetanen Antony Tatlow
Theoretikern einer Dialektik der Aufklärung
als Kehrseite eines allzu naiv vorgestellten
Fortschritts angemahnt wurde? In den Texten
B.s taucht das maßlose Individuum mit einer
solchen Insistenz auf, dass man geneigt ist, Anna Seghers. Der Prozeß
hier eine unveräußerliche Problematik der der Jeanne d’Arc zu Rouen
Moderne zu sehen.
1431
Literatur:
Im September 1952 begann B. gemeinsam mit
Brecht, Bertolt: Collected Plays. Hg. v. Ralph Man-
heim und John Willett. Bd. 9. Vintage, New York Benno Besson das Hörspiel Der Prozeß der
1973. – Brook, Peter: The Empty Space. Harmonds- Jeanne d’Arc zu Rouen 1431 von Anna Seghers
worth 1990. – Dieckmann, Friedrich: Die Tragödie zu bearbeiten. Am 23. 11. 1952 wurde die Bear-
des Coriolan. Shakespeare im Brecht-Theater. In: beitung in der Regie von Besson in den Kam-
Sinn und Form 17 (1965), S. 463–89. – Engel, Erich: merspielen des Deutschen Theaters in Berlin
Schriften über Theater und Film. Berlin 1971. –
zum ersten Mal öffentlich gezeigt.
Grant, Michael: History of Rome. London 1978. –
Grass, Günter: Die Vor- und Nachgeschichte der Tra- Das Hörspiel der Seghers war seit 1950
gödie des Coriolanus von Livius und Plutarch bis zu mehrfach vom Deutschlandsender ausge-
Brecht und mir. In: Ders: Über meinen Lehrer Döb- strahlt worden, zuletzt Ende August 1952. Es
lin und andere Vorträge. Berlin 1968, S. 27–55. – ist anzunehmen, dass B. dadurch zur Bearbei-
Grathoff, Dirk: Dichtung versus Politik: Brechts Co- tung angeregt wurde. Die Ursendung des Hör-
riolan aus Günter Grassens Sicht. In: Brecht heute 1
spiels datiert weit früher, sie war 1937 im bel-
(1971), S. 68–187. – Hayman, Ronald: A Last Inter-
view with Brecht. In: London Magazine 3 (Novem- gischen Rundfunk zu hören. 1937 erschien
ber 1956), Nr. 11, S. 47–52. – Hecht. – Hortmann, auch die Textfassung in der Moskauer Exilzeit-
Wilhelm: Shakespeare on the German Stage. Cam- schrift Internationale Literatur. Seghers hatte
bridge 1998. – Hultberg, Helge: Bert Brecht und die Pariser Prozessakten aus dem 15. Jh. ein-
Shakespeare. In: Orbis Litterarum 15 (1959), S. 89– gesehen (GBA 9, S. 380), Anregungen erhielt
104. – Ihering, Herbert: Reinhardt, Jessner, Piscator
sie außerdem von Carl Theodor Dreyers
oder Klassikertod? Berlin 1929. – Kott, Jan: Shake-
speare our Contemporary. New York 1964. – Ma- Stummfilm La Passion de Jeanne d’Arc
chiavelli, Niccolò: The Discourses. Hg. v. Bernard (1927). Die Bearbeitung des Berliner Ensemb-
Crick, Harmondsworth 1974. – Parker, R. B. (Hg.): les stützte sich auf Seghers Hörspieltext und
Coriolanus. Oxford 1994. – Plutarch: Lives of Corio- auf das Buch von Anatole France Das Leben
lanus, Caesar, Brutus and Antonius. Übers. v. Tho- der Heiligen Johanna. Am 17. 11. 1952 notierte
mas North, hg. v. R. H. Carr. Oxford 1906. – Rülicke-
Brecht: »Aus dem Hörspiel Anna Seghers ›Pro-
Weiler, Käthe: Die Dramaturgie Brechts. Berlin
1968. – Shakespeare, William: Coriolanus. Hg. v. zeß der Jeanne d’Arc‹ machten wir ein Zwei-
R. B. Parker. Oxford 1994. – Ders: Coriolanus. stundenstück, das wir jetzt inszenierten.
Übers. v Dorothea Tieck. In: Shakespeares Werke. Hauptsächlich nach den Originalprotokollen
Bd 2. Salzburg 1952, S. 683–782. – Tatlow, Antony: und den Zitaten in Anatole Frances Buch. In-
Coriolanus: Interpreting the Historical Text. In: teressanter Stücktypus, sehr leichte dünne Bö-
Schein und Widerschein. Festschrift für T. J. Casey.
gen mit zartem Zwischenspiel der Wandlun-
Galway o. J., S. 341–357. – Wekwerth, Manfred/Ten-
schert, Joachim: Coriolanus. In: Introductions to gen des Volks und der Heldin.« (GBA 27,
Shakespeare. London 1977, S. 204–210. – Wek- S. 337) Besson dementierte, dass die Bearbei-
werth, Manfred: Notate. Über die Arbeit des Berli- ter die Originalakten eingesehen hätten, statt-
592 Anna Seghers. Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431

dessen wurde eine deutsche Übertragung aus Historischer Hintergrund


dem Jahre 1943 verwendet (GBA 9, S. 380).
Seghers war ebenfalls in die Bearbeitung des
Berliner Ensembles einbezogen, Besson mus- Überliefert ist, dass Jeanne d’Arc als Bauern-
ste »immer zu Anna Seghers gehen und In- tochter 1412 in Lothringen zur Zeit des Hun-
formationen sammeln« (Besson, S. 143). dertjährigen Krieges geboren wurde. Frank-
Wie stets bei B.s unmittelbaren Arbeiten für reich war damals zum großen Teil von den
das Theater wurde der Text während der Pro- Engländern besetzt, das nicht besetzte Bur-
ben, die Anfang November begannen, immer gund lag mit dem französischen Königshaus in
wieder geändert. Insofern waren nicht nur B., Streit und hatte sich deshalb mit England ver-
Besson und Seghers in die Bearbeitung ein- bündet. Als junges Mädchen hörte Jeanne
bezogen, sondern ebenso Käthe Rülicke, Ruth himmlische Stimmen, die sie zur Befreiung
Berlau sowie die beteiligten Schauspielerin- Frankreichs anhielten. Sie machte sich auf und
nen und Schauspieler. Ein ›Zweistundenstück‹ befreite an der Spitze des französischen Hee-
war nicht zustande gekommen; aus diesem res am 8. 5. 1429 Orleans, weswegen sie auch
Grund und wegen inhaltlicher Affinitäten der als ›Jungfrau von Orleans‹ bezeichnet wird.
beiden Stücke wurde die Aufführung der Bei späteren Kämpfen wurde sie von burgun-
Jeanne d’Arc an Egon Monks Inszenierung von dischen Truppen gefangen genommen und an
B.s Die Gewehre der Frau Carrar gekoppelt. England verkauft. Die Engländer liquidierten
Bis zum Ende der Spielzeit im Frühsommer sie nicht etwa, sondern übergaben sie der
1953 liefen die beiden Inszenierungen jeweils französischen Kirche. Unter Aufsicht der eng-
am gleichen Abend, zuerst Jeanne d’Arc, dann lischen Besatzer führten die französischen Kir-
die Carrar. Nachdem das Berliner Ensemble chenbehörden gegen Jeanne einen Hexen-
1954 in sein Haus am Schiffbauerdamm umge- prozess. Die Stimmen, die Jeanne zum Kampf
zogen war, wurde Jeanne d’Arc wieder in den angespornt hatten, sollten als Teufelswerk ent-
Spielplan aufgenommen, nun aber als eigen- larvt und der Widerstand der Franzosen damit
ständige und abendfüllende Inszenierung. Zu gebrochen werden. Ab Januar 1431 wurde ihr
diesem Zweck wurden Stück und Inszenierung in Rouen der Prozess gemacht, in dem sie
noch einmal überarbeitet. Hatte das Stück lange Zeit standhaft blieb. Erst als man ihr mit
1952 insgesamt 14 Szenen, so wurde es nun um Folter drohte, widerrief sie. Kurz darauf nahm
drei Szenen erweitert, durch die es eine Rah- sie jedoch ihren Widerruf zurück und wurde
menhandlung bekam. Beide Fassungen sind am 30. 5. 1431 als Hexe verbrannt. In den da-
publiziert in GBA 9; ein Vergleich der Fassun- rauf folgenden Jahren wuchs der französische
gen befindet sich ebd., B.s Notate zur Insze- Widerstand gegen die Engländer und Frank-
nierung in GBA 24. Im BBA sind verschiedene reich befreite sich. 1450 wurde der Prozess
Arbeitsexemplare von B., Besson und Berlau wieder aufgenommen und Jeanne 1456 rehabi-
mit Strichfassungen, Textänderungen und Re- litiert. 1909 wurde sie vom Papst selig- und
giebemerkungen, des weiteren Modellbuch, 1920 heilig gesprochen.
Programmheft und Plakat der Inszenierung
von 1952 aufbewahrt; eine szenische Arbeits-
fassung und Notizen von Besson sowie Fotos
von 1954 befinden sich in Jahre mit Bertolt Bearbeitung
Brecht, weitere Notizen, Entwürfe von Sze-
nentiteln und Besetzungsvorschläge in den
Nachlässen von Berlau und Rülicke. Die Bearbeitung des Seghers-Hörspiels war
B.s dritte Auseinandersetzung mit der franzö-
sischen Nationalheldin. Zwischen 1929 und
1932 entstand Die heilige Johanna der
Schlachthöfe und zehn Jahre später in Zusam-
Bearbeitung 593

menarbeit mit Feuchtwanger Die Gesichte der Herkunft der Leute ist, so verschieden sind
Simone Machard. Anders als in diesen frü- auch ihre Interessen und Meinungen. Wäh-
heren Stücken, die auf die Geschichte der rend Seghers das Volk im Wesentlichen nur zu
Jeanne d’Arc nur verweisen, konzentrierte Beginn und am Ende des Hörspiels sprechen
sich der neue Text völlig auf den historischen lässt, haben die Bearbeiter in die Fassung von
Stoff. Darin folgte die Bearbeitung dem Hör- 1952 insgesamt sechs Volkszenen eingebaut;
spiel, das sich streng an die protokollierte alte die drei neuen Szenen von 1954 spielen eben-
Geschichte hielt und sich jede Aktualisierung falls im Volk. Diese Volksszenen halten nun
verbot. Im Unterschied zu Schillers romanti- den Prozessszenen die Waage. Sie spielen an
scher Tragödie Die Jungfrau von Orleans, in Orten wie auf dem Marktplatz, in der Wein-
der Johannas ganzer Lebensweg verfolgt wird, schänke »Zum Fischzug Petri« (GBA 9, S. 107)
erstrecken sich Hörspiel und Bearbeitung nur oder auf dem Friedhof. Hier sprechen die Fi-
auf die Zeit, in der Jeanne d’Arc 1431 in Rouen guren miteinander, bestätigen oder korrigie-
der Prozess gemacht wurde. Die erweiterte ren, was sie über Jeanne d’Arc, die Kirche und
Fassung von 1954 bezieht zusätzlich die Zeit die englischen Besatzer, die sie »Jonny« (S. 86)
der französischen Aufstände gegen die eng- nennen, denken. Anstelle einer abstrakten
lischen Besatzer bis etwa 1436 ein. Volksmeinung entsteht ein lebendiges Mosaik
Was den Prozessverlauf betrifft, lehnt sich von Gegensätzen und Ähnlichkeiten, das Asso-
die Bearbeitung eng an den Hörspieltext der ziationen zur Nachkriegssituation in Deutsch-
Seghers an, darüber hinaus wurden jedoch land weckte, in der die Engländer ›Tommies‹
Veränderungen vorgenommen, die dem Text genannt wurden. Jeanne ist im Vergleich zu
eine deutlich epische Struktur gaben. Seghers den Volksfiguren eher eine Idee als eine Figur.
hatte ihren Text für den Hörfunk zusammen- Sie hat in der Bearbeitung weder Zeit noch
hängend und ohne Szeneneinteilung geschrie- Raum, ihre Widersprüchlichkeit zu entfalten,
ben, was für die Bearbeitung geändert wurde. und selbst ihr Widerruf ist eine einsichtige
Die Szenen wurden durch harte Schnitte und Schwäche. Das Interesse der Bearbeiter rich-
Perspektivwechsel voneinander getrennt. Jede tete sich auf die Leute aus dem Volk und auf
Szene erhielt Zwischentitel und Vorspruch, in die mit den Besatzern kollaborierenden fran-
denen die allgemeinen historischen Daten des zösischen Geistlichen, die ebenfalls eine deut-
Geschehens zusammengefasst und die Hand- liche Differenzierung erfahren. Dieser Befund
lung der Szene vorweggenommen wurden. In wird vom Programmheft 1952 bestätigt, das
die Szenen wurde mehrfach das Lied Der für das Stück drei Konflikte aufzählt: Den-
Bischhof Cauchon von Beauvais der Christine jenigen Jeannes mit den Engländern, denje-
von Pisan eingebaut, das Martin Pohl übersetzt nigen Jeannes mit den französischen Kollabo-
hatte. In der Inszenierung begleitete es ein rateuren und denjenigen der Kollaborateure
Dudelsackspieler auf der Bühne. Seghers be- mit den englischen Herren. Dieser letzte Wi-
schränkte sich rundfunkgemäß auf wenige Fi- derspruch zwischen der französischen Kirche
guren; sie konzentrierte sich auf die Prozess- und den englischen Besatzern taucht bei
führung und die Jeanne-Figur. Die Bearbeiter Seghers nicht auf, er ist erst für die Bearbeiter
erweiterten die Anzahl der Figuren beträcht- wichtig geworden. Um ihn blitzartig zu er-
lich; 22 Figuren, die zum Volk gehören, sind hellen, hat B. eine der wenigen poetischen
voneinander unterschieden; ›das Volk‹ als ein- Erfindungen, die es in diesem ansonsten aske-
heitliche Masse wie bei Seghers gibt es nicht. tischen Stück gibt, an den Anfang der zweiten
Stattdessen spielen u. a. eine Bauernfamilie, Szene gesetzt. Hier treffen der französische
eine Fischfrau, ein lockeres Mädchen, ein Bischof und der englische Beobachter zum ers-
Weinhändler und ein Doktor eine Rolle. Sie ten Mal aufeinander. Zwischen beiden Män-
repräsentieren ein Volk, das nicht eins ist, son- nern entsteht eine kurze und höfliche Kon-
dern aus Individuen der verschiedenen sozia- versation, die bezeichnender Weise auf Eng-
len Gruppen besteht. So unterschiedlich die lisch geführt wird. Der Bischof ist der Sprache
594 Anna Seghers. Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431

der Besatzer jedoch nicht mächtig, er rade- Gleichnis


brecht mühsam ein paar Vokabeln und muss
sich schließlich mit den Händen verständigen.
Vor den neuen Herren wird der einst mächtige Sowohl Seghers als auch den Bearbeitern
Mann im Handumdrehen zu einem devoten diente die alte Geschichte der Jeanne d’Arc als
Diener, der nicht einmal bis fünf zählen kann. Gleichnis für aktuelle Ereignisse. Wie streng
Die Stimmen, die Jeanne die Befreiung jedoch in beiden Texten jede offensichtliche
Frankreichs auferlegten, wurden von den Be- Aktualisierung vermieden wurde, war zum ei-
arbeitern ihrer religiösen Aura entledigt und nen ein Zeichen für die damalige Brisanz, zum
als Stimmen aus dem Volk kenntlich gemacht. anderen für die Gefährlichkeit einer solchen
Diese Gestaltungsidee, ebenso wie die Idee für Darstellungsweise. Das Hörspiel von Seghers
die Darstellung der einheimischen Kollabora- bezog sich 1937 auf den Bürgerkrieg in Spa-
teure hatte B. bereits während der Arbeit an nien und auf den immer stärker werdenden
Simone Machard. Am 7. 7. 1940 notierte er: deutschen Nationalsozialismus. Gleichzeitig
»Die Stimmen, die Jeanne hört, sind Stimmen galt es den seit 1936 gesprochenen Todesur-
des Volkes, was der Hufschmied sagt und der teilen in den Moskauer Schauprozessen. In
Bauer. Sie gehorcht diesen Stimmen und rettet diesem Zusammenhang war die Moskauer Pu-
Frankreich vor dem äußeren Feind, jedoch blikation des Hörspieltextes eine gefährliche
wird sie besiegt von dem inneren. (In dem Gratwanderung, die ohne den lückenlosen
Gericht, das sie verurteilt, sind lauter englisch Schutz der historischen Dokumente unmög-
sympathisierende Geistliche!) Der Sieg der lich gewesen wäre. Für die Bearbeitung des
fünften Kolonne!« (GBA 26, S. 400) Dass die Hörspiels galten andere und doch ähnliche
Stimmen, die Jeanne hört, die Stimmen des Umstände. Einerseits spielte sie auf das Ver-
Volkes sind, wird im bearbeiteten Text nicht halten der Deutschen während des National-
nur behauptet, sondern Wort für Wort gestal- sozialismus an, andererseits bezog sie sich
tet. So meint der Reisende in der ersten Szene: ganz aktuell auf die sozialistischen Länder und
»Die Hauptsache ist, sie muß kühn antwor- die Situation in DDR. Zwischen 1948 und 1952
ten.« (GBA 9, S. 86) In der folgenden Szene waren auf Geheiß Stalins führende Kommu-
antwortet Jeanne, vom Bischof danach gefragt, nisten in Bulgarien und Ungarn in neuerlichen
was ihre Stimmen gesagt hätten: »Sie sagten: Schauprozessen zum Tode verurteilt und hin-
Ich soll Euch Richtern kühn antworten« gerichtet worden, und in der DDR fanden zur
(S. 94). selben Zeit politische und künstlerische ›Säu-
Neben solch grundsätzlichen Änderungen berungen‹ statt, die in der Formalismusde-
fallen in der Bearbeitung auch kleine sprach- batte auch B. erreichten. Wie im Hörspiel gab
liche Veränderungen auf, die aus der unmittel- es auch in der Theater-Bearbeitung dafür
baren Theaterarbeit resultieren. Während keine ausdrücklichen Bezüge; das Programm-
Jeanne bei Seghers mit einem »Zwirnsfäd- heft zur Inszenierung verwies jedoch auf einen
chen« (Seghers, S. 74) verglichen wird, ähnelt analogen Fall in Frankreich, wo der Matrose
sie in der Bearbeitung dagegen einem Ȁpfel- Henri Martin verurteilt worden war, weil er
chen« (GBA 9, S. 87). Käthe Reichel, die gegen den französischen Vietnamkrieg ge-
Darstellerin der Jeanne d’Arc und damals kämpft hatte. Unverkennbar spielte die Bear-
Brechts junge Geliebte, sah in ihrer sanften beitung auch auf die deutsche Teilung sowie
Weiblichkeit einfach keinem Zwirnsfädchen auf die Rolle der Alliierten und der Sowjet-
ähnlich. union nach dem zweiten Weltkrieg an. Einen
Nicht zuletzt haben die Bearbeiter einige indirekten Hinweis darauf enthielt ebenfalls
Textstellen der Vorlage ausgelassen und umge- das Programmheft, in dem das Brecht-Gedicht
stellt, um die Motivation und die Handlungs- Deutschland 1952, das die fremdbestimmte
logik im Zusammenhang mit Jeannes Wider- Zerrissenheit Deutschlands beklagt, zum ers-
ruf und seiner Zurücknahme zu verstärken. ten Mal abgedruckt wurde. B. sympathisierte
Gleichnis 595

in jener Zeit wie viele deutsche Intellektuelle rinnen Reichel und Weigel ausgenommen, wa-
mit einem selbstständigen ›dritten Weg‹ ren viele von ihnen in beiden Inszenierungen
Deutschlands jenseits der von den ehemaligen besetzt.
Besatzungsmächten abhängigen Regierungs- So wie Titel und Text wurde auch die In-
politik in Ost und West. In diesem Zusammen- szenierung nach der Premiere verändert, so
hang hoffte er, wie er in einem Brief an Elisa- dass die Spielfassung zu keiner Zeit mit den in
beth Hauptmann im Juli 1952 schrieb, auf ein der GBA publizierten Druckfassungen iden-
absehbares Ende der deutschen Spaltung tisch war. Während die Inszenierung von 1952
(GBA 30, S. 133). Auch in der Bearbeitung von ohne Pause gespielt wurde, fand in ihrer er-
1954 war das Deutschlandthema von unver- weiterten Form von 1954 eine Pause nach dem
minderter Relevanz; im Schlusssatz heißt es 6. Bild statt. Vor dem geschlossenen Vorhang
über ein Lied: »Das singen sie jetzt in beiden trug ein Sprecher den Zwischentitel jeder
Frankreich, hüben und drüben.« (GBA 9, Szene vor. Bei offenem Vorhang war die Bühne
S. 125) hell ausgeleuchtet; im Bühnenhintergrund
stand ein großer dreiteiliger Paravent, der wie
ein Flügelaltar seine beiden Flügel schräg
nach vorn zur Rampe geöffnet hatte und so die
Inszenierung Spielfläche auf der Bühne noch einmal be-
grenzte. Dieser Paravent hatte doppelte
Mannshöhe, war aus groben Balken gezim-
Die Entscheidung, das Hörspiel der Seghers zu mert und mit einer Goldbrokatimitation be-
bearbeiten, fiel sehr kurzfristig, denn das Ber- spannt. In seinen Mittelteil war eine Tür ein-
liner Ensemble benötigte dringend eine neue gearbeitet, durch die die Kirchenleute und
Inszenierung für den Spielplan 1952/53. Bis Jeanne ihre Auf- und Abgänge hatten, wäh-
Ende Oktober gab es für Jeanne d’Arc weder rend das Volk an den offenen Seiten kam und
einen Premierentermin, noch war entschie- ging. Die insgesamt spartanische Bühnenein-
den, ob sie auf der großen Bühne des Deut- richtung war mit einigen realistischen Requi-
schen Theaters oder in den Kammerspielen siten und Details versehen: in der Wein-
gegeben werden sollte. Am 23. 11. 1952 wurde schänke z. B. befanden sich grobe Stühle und
die Inszenierung zum ersten Mal öffentlich in Holztische, auf denen Trinkbecher standen,
den Kammerspielen gezeigt, und es ist im Un- und am Markttag verkaufte die Fischfrau
terschied zu bisherigen Meinungen (Hecht, Fischattrappen, die für das Publikum gut sicht-
S. 1035) anzunehmen, dass sie von Anfang an bar aufgestellt waren. Die Gruppierungen der
gemeinsam mit der Carrar an einem Abend Leute aus dem Volk ähnelten den Arrange-
lief. Darauf weisen sowohl ein Brief der Seg- ments aus Dreyers Stummfilm, was den Ein-
hers an B. vom 27. 11. 1952 (BBA 728/62) als druck, dass sich die Inszenierung filmischer
auch das für beide Inszenierungen gemein- Mittel bediente, verstärkte. Manche Szenen
same Plakat hin. Auf diesem Plakat ist die erinnerten in ihrer Kürze an Filmsequenzen;
Seghers noch als Autorin der Jeanne d’Arc die harten Wechsel zwischen Verhör- und
angegeben; ihr Name und der Vermerk »in der Volksszenen glichen einer Parallelmontage.
Bearbeitung des Berliner Ensembles« (vgl. Viele Spielabschnitte waren pantomimisch in-
GBA 9, S. 83) wurden erst später in den Titel szeniert; die Haltungen der Leute aus dem
übernommen. Auf dem Plakat waren neben B., Volk warfen wie ein Spiegel zurück, was im
der die »künstlerische Gesamtleitung« inne- Verhör passierte (Rülicke in: GBA 9, S. 377).
hatte, den beiden Regisseuren Besson und Auffällig an der Inszenierung war, dass sie die
Monk und dem Bühnenbildner Hainer Hill, sog. vierte Wand zwischen Bühne und Zu-
der für beide Bühnenbilder verantwortlich schauerraum ausdrücklich betonte. Jeanne
war, auch alle Schauspielerinnen und Schau- stand beim Verhör zumeist mit dem Rücken
spieler angegeben. Die beiden Hauptdarstelle- zum Publikum, nur selten wendete sie sich an
596 Anna Seghers. Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen 1431

die Zuschauer. Auf dem Markt war der Stand »dramatische Entwicklung« erleben und be-
der Bauern vorn am Bühnenrahmen so aufge- kamen stattdessen einen epischen »Bilderbo-
baut, dass sie dem Publikum den Rücken zu- gen« zu sehen (GBA 9, S. 384). Dieser Befund
kehrten und auf die Bühne, die den Marktplatz vergisst jedoch die heikle politische Aktualität
darstellte, schauten. Im Gegensatz zu diesen der Inszenierung und die daraus resultierende
abgeschlossenen Arrangements wurden die Schwierigkeit der Theaterkritiker, sie unver-
Zuschauer am Ende der Inszenierung auf si- fänglich zu rezensieren. Liest man die Rezen-
gnifikante Weise in das Spiel einbezogen. sionen unter diesem Aspekt, dann kann von
Jeanne war zur Verbrennung abgeführt worden einer überwiegenden Ablehnung keine Rede
und von der Bühne verschwunden, da standen sein. Den Bezug zur Spaltung Deutschlands
die Leute aus dem Volk auf der Bühne und stellten mehrere Rezensenten her, am deut-
schauten in den Zuschauerraum, so, als fände lichsten Lothar Kusche und Henryk Keisch.
dort die Verbrennung statt. Auf diese Weise Letzterem galt die Inszenierung als »aufregen-
sahen die Zuschauer im Theater die Zuschauer des Beispiel eines vom Volk getragenen Kamp-
auf der Bühne, welche die Zuschauer im Thea- fes gegen Zerrissenheit und Unterdrückung«,
ter ansahen. Alle waren gemeint, sowohl auf bei dem niemand übersehen könnte, »wie sehr
der Bühne als auch im Zuschauerraum: Vor- auch für uns die Rückeroberung echter natio-
sichtige, Gleichgültige, Kollaborateure, zyni- naler Werte im Kampf um die nationale Unab-
sche Intellektuelle und Mutige. Was hatten sie hängigkeit auf der Tagesordnung steht«
während des Nationalsozialismus getan und (Keisch). Andere Kritiker reflektierten den
später während der Besatzungszeit? Hatten sie Bezug zu aktuellen politischen Schauprozes-
nur zugeschaut? Wie reflektierten sie die neu- sen, erwähnten allerdings nur die »neuen He-
erlichen Schauprozesse und ›Säuberungen‹, xenprozesse« in den USA (Edel) und den Pro-
und wie dachten sie über die Zukunft des ge- zess gegen Ethel und Julius Rosenberg (Neue
spaltenen Deutschlands? Berliner Illustrierte), während die Prozesse in
Ungarn oder Bulgarien keinerlei Erwähnung
fanden. Wer sich auf den Gleichnischarakter
nicht einließ, der zollte, wie Fritz Erpenbeck,
Wirkung zumindest dem »enormen Arbeitsaufwand«
und dem »künstlerischen Einfallsreichtum«
Achtung. Die erweiterte Inszenierung von
Wer in der alten Geschichte die aktuellen 1954 galt offenbar nicht als neu; sie wurde
deutschen Zustände entdeckte, für den besaß nicht rezensiert. Später wurde die Bearbeitung
die Inszenierung der Jeanne d’Arc eine »atem- nur wenige Male, u. a. 1961 in Ulm und 1970 in
beraubende Aktualität«, wie ein mit »D.« Nordhausen, inszeniert.
zeichnender Rezensent im Nachtexpreß
schrieb. Manche Zuschauer, so berichtete es
Seghers in einem Brief an B. vom 27. 11. 1952, Literatur:
seien »ganz niedergeschmettert« gewesen und
[Anonymus]: Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu Rouen.
»heulten«. Da an der Inszenierung noch gear-
In: Neue Berliner Illustrierte, 5. Januarheft 1953. –
beitet wurde, erging die Einladung an die Besson, Benno: Jahre mit Brecht. Hg. v. Christa Neu-
Presse erst Anfang 1953. Alle im BBA gesam- bert-Herwig. Willisau 1990. – D.: Jeanne d’Arc und
melten etwa 50 Rezensionen besprachen beide Frau Carrar. Das Berliner Ensemble mit Anna Se-
Inszenierungen, Jeanne d’Arc und Carrar. Bis- ghers und Bertolt Brecht in den Kammerspielen. In:
her hat die B.-Forschung betont, dass Jeanne Nachtexpreß (Berlin), 17. 1. 1953. – Edel, Peter: Für
die Sache des Volkes. Brechts »Gewehre der Frau
d’Arc von der damaligen Theaterkritik »als
Carrar« und Anna Seghers »Jeanne d’Arc« in den
weitgehend mißlungen« betrachtet wurde. Kammerspielen. In: Berliner Zeitung am Abend,
Viele Kritiker wollten traditionsgemäß ein ge- 10. 2. 1953. – Erpenbeck, Fritz: »Der Prozeß der
schlossenes Drama, »echte Handlung« und Jeanne d’Arc zu Rouen 1431« von Anna Seghers,
597

»Die Gewehre der Frau Carrar« von Bertolt Brecht. nen tartarischen Prinzen Kalaf. Als dieser das
In: Theater der Zeit (1953), H. 3, S. 49–54. – France, Entsetzen der Prinzessin bemerkt, ist er be-
Anatole: Das Leben der Heiligen Johanna. Übers.
reit, auf sein Recht zu verzichten, unter der
und bearbeitet v. Friderike Maria Zweig. Nürnberg
1946. – Hecht. – Keisch, Henryk: Zu zwei Erstauf- Bedingung, dass sie seinen Namen errät. Eine
führungen des Berliner Ensembles. In: Neues Sklavin Turandots, die den Prinzen für sich
Deutschland (Berlin), 19. 3. 1953. – Kusche, Lothar: gewinnen will, kann ihm das Geheimnis ent-
»Schauspiel über eine Patriotin«. In: Die Weltbühne, locken, und da Kalaf sich ihrem Wunsch wi-
18. 2. 1953, H. 4, S. 199–201. – Seghers, Anna: Der dersetzt, mit ihr gemeinsam zu entfliehen, gibt
Prozeß der Jeanne d’Arc, zu Rouen 1431. In: Inter-
sie ihrer Herrin den Namen preis. Turandot
nationale Literatur. Deutsche Blätter 7 (1937), H. 5,
S. 74–90. jedoch zeigt sich von der Liebe und Standhaf-
tigkeit des Prinzen beeindruckt und schenkt
Petra Stuber ihm freiwillig ihr Jawort, woraufhin sich die
enttäuschte Sklavin das Leben nimmt.
Gozzi hat das grausame Märchen zu einer
Tragikomödie verarbeitet (Turandot. Fiaba
chinese teatrale tragicomica, 1762) und eine
Turandot oder Der Kongreß Variante der Commedia dell’arte geschaffen,
der Weißwäscher u. a. durch Einführung der vier venezianischen
Standardfiguren Pantalon, Tartaglia, Brighella
und Truffaldino, die den Hofstaat des Kaisers
von China bilden. Von den zahlreichen Bear-
Literarische Quellen / beitungen seiner Märchenkomödie war vor al-
Zeitgeschichtliche Anregungen 1 lem Schillers Turandot. Prinzessin von China.
Ein tragikomisches Märchen nach Gozzi
(1802) im 19. Jh. von bedeutender Wirkung.
»Den Plan, ein Stück ›Turandot‹ zu schreiben, Schiller übernahm die Fabelstruktur und die
faßte ich schon in den dreißiger Jahren«, no- Gestalten Gozzis, einschließlich der vier vene-
tierte B. im Sommer 1953, als er sein letztes zianischen Komödienfiguren, milderte jedoch
Stück zu Papier brachte (Bemerkungen zu die derb-burlesken Elemente, tilgte alle mär-
»Turandot«; GBA 24, S. 411). Geplant war An- chenhaften Züge, veredelte insbesondere die
fang der 30er-Jahre zunächst eine Bearbeitung Charaktere und versuchte, ihre Handlungs-
von Carlo Gozzis bzw. Schillers Turandot für weisen psychologisch zu motivieren. Turandot
Carola Neher, die die Titelrolle übernehmen prüft die Weisheit der Bewerber. Ihre Män-
sollte (vgl. GBA 9, S. 398). Mit dem Stoff, dem nerfeindlichkeit, bei Gozzi bloße Laune und
orientalischen Märchen von der männerhas- Willkür, wird auf die Absicht zurückgeführt,
senden chinesischen Prinzessin, war B. seit ihr beleidigtes Geschlecht, die vom Mann ver-
längerem vertraut; in einem Notizbuch von sklavte asiatische Frau, zu rächen. Am Ende
1922/23 taucht zumindest die Titelfigur be- jedoch siegt in ihr die Liebe über den Stolz.
reits auf (BBA 1086/70). Die Geschichte des Die Anregung für den Plan einer Bearbei-
Prinzen Kalaf und der Prinzessin Turandot, zu tung gab wahrscheinlich die legendäre, 1922
Beginn des 18. Jh.s über die Sammlung Les erstmals gezeigte Turandot-Inszenierung von
mille et un jours (1710–1712; dt.: Tausendund- Jewgeni B. Wachtangow, die B. im Mai 1932 in
ein Tag) nach Europa gelangt, berichtet von Moskau sah (vgl. GBA 26, S. 297). Wachtan-
der schönen, aber stolzen und gefühlskalten gow, der Gozzis Komödie zugrunde gelegt
Prinzessin, die nur denjenigen Bewerber erhö- hatte, suchte für das Stück eine zeitgemäße
ren will, der drei von ihr gestellte Rätsel lösen Form. Nicht eine Märchenwelt, sondern eine
kann. Wer die Prüfung nicht besteht, wird ent- Theater-Welt sollte präsentiert werden. Die
hauptet. Die Lösung der Rätsel gelingt Darsteller hatten nicht die Figuren der Komö-
schließlich dem aus seiner Heimat vertriebe- die darzustellen, sondern italienische Schau-
598 Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher

spieler, die diese Figuren spielen. Dabei sollte darstelle, »wie die bürgerlichen Ideologen auf
alles wie improvisiert, leicht und elegant wir- ihrem Markt der Ansichten die jeweils von der
ken. Wachtangows Inszenierung bewahrte Bourgeoisie gewünschte Ideologie verkaufen«
Gozzis Ironie und seine ausufernde Satire und (GBA 9, S. 398). Hanns Eisler schreibe die
verstärkte noch die komisch-grotesken Züge, Musik dazu (vgl. Lucchesi/Shull, S. 946 f.).
insbesondere bei der Darstellung des Hof-
staats und der acht Doktoren des Diwans, die
darüber zu befinden haben, ob der Bewerber
die Rätsel der Turandot gelöst hat oder nicht. Frühe Entwürfe /
In B.s Nachlassbibliothek ist Gozzis Komödie Das Tuiroman-Projekt
in der Übertragung Karl Vollmoellers von 1911
erhalten, versehen mit der handschriftlichen
Eintragung »Bert Brecht 1925«; ferner das In den Jahren 1933 bis 1935 entstanden Ent-
Bühnenmanuskript des 1923 unter dem Ein- würfe und erste Dialogbruchstücke, die bereits
druck von Wachtangows Inszenierung entstan- zentrale Elemente der späteren Fabelstruktur
denen Lustspiels nach Gozzi Prinzessin Tu- enthalten und die wesentlichen Differenzen
randot von Waldfried Burggraf (d. i. Friedrich gegenüber den Vorlagen erkennen lassen. Die
Forster), Musik von Georg Pittrich. Der von B. Notlage des Kaisers von China resultiert nicht
als Anregung benutzte Text erschien 1925 un- aus der Männerverachtung seiner Tochter Tu-
ter der Genrebezeichnung »Schaurette« (eine randot und ihrer Weigerung, die Erbfolge
Kontamination von »Schauspiel« und »Ope- durch Heirat zu sichern; sie ist ökonomischer
rette«) im Druck. Natur. Der Kaiser hält das Seidenmonopol
Der Plan einer Turandot-Bearbeitung für (später ersetzt durch das Baumwollmonopol);
Carola Neher scheint einen schriftlichen Nie- aber die Geschäfte gehen schlecht, »es gibt
derschlag nicht gefunden zu haben. Die ersten zuviel seide und sie ist so billig, dass auch die
Pläne und Notierungen, die überliefert sind, ärmsten leute seidene sachen tragen« (BBA
dürften nicht vor 1933, also erst im Exil, ent- 499/16). Die Überproduktionskrise soll über-
standen sein. Bereits in den frühesten Ent- wunden werden durch Erzeugung eines künst-
würfen ist B.s Absicht erkennbar, die Turan- lichen Mangels, der eine allgemeine Teuerung
dot-Fabel mit einer Intellektuellen-Satire zu zur Folge hat, ein von B. mehrfach, u. a. in der
verbinden, welche die Erfahrungen der jüngs- Heiligen Johanna der Schlachthöfe und in den
ten deutschen Geschichte verarbeiten sollte: Schluss-Sequenzen des Films Kuhle Wampe
das Verhalten der Intellektuellen in der Krise verwendetes Motiv. Angelpunkt der Fabel sind
der Weimarer Republik und beim Übergang nicht die Rätsel der Turandot. Angesichts
zur NS-Diktatur. Damit gehört das Projekt zu wachsender Unruhe und grassierender Ge-
den frühesten Versuchen B.s, die unmittelbare rüchte im Volk ist vor der Öffentlichkeit ein
Vergangenheit in dramatischer Form zur Dar- ganz anderes ›Rätsel‹ zu lösen: die Frage, wo
stellung zu bringen. Ansatzpunkte für eine In- die Seide geblieben ist. Ein früher Entwurf
tellektuellensatire lieferte der Turandot-Stoff lautet: »das alte regime, der kaiser und seine
selbst (im Versagen der Bewerber beim Lösen tochter, sind durch misswirtschaft in schwie-
der Rätsel), insbesondere die Bearbeitungen rigkeiten geraten. die ratgeber, kopflanger,
von Gozzi und Wachtangow: in der satirisch weisswäscher und ausredner vermögen die
überzeichneten Präsentation des Hofstaats massnahmen der regierung nicht mehr ein-
und der acht Doktoren des Diwans, die Burg- leuchtend zu formulieren und die überhand-
grafs Lustspiel noch einmal akzentuiert hatte. nehmenden gerüchte nicht mehr zu zer-
Die Tendenz der Satire formulierte B. im Mai streuen. der kaiser verspricht seine tochter
1935, sehr plakativ, in einem Interview mit der dem, der es noch kann.« (BBA 499/18) Drohte
Deutschen Zentral-Zeitung (Moskau): Er ar- in der alten Fabel jedem Bewerber der Tod, der
beite an einer Komödie, heißt es dort, in der er die drei Rätsel der Turandot nicht lösen
Frühe Entwürfe / Das Tuiroman-Projekt 599

konnte, so droht diese Strafe jetzt allen Weiß- in dem am weitesten entwickelten Entwurf der
wäschern, die sich als unfähig erweisen, die 30er-Jahre, und: »die tuis auf der flucht vor der
Wahrheit überzeugend zu verschleiern. Um stadtmauer. die [abgeschlagenen] köpfe reden
diese Aufgabe geht es bei der Konkurrenz der immer noch über lösungen« (BBA 499/23). An
»Tuis« (so lautet B.s ironisch-verächtlich ge- diesen Entwurf knüpfte B. bei der Nieder-
meintes Kürzel für die Intellektuellen); in die- schrift des Stücks im Sommer 1953 unmittel-
ser Gestalt wird die ursprüngliche Freierprobe bar an. Auch die Wäscherinnen als Gegen-
aufgenommen. spielerinnen der Tuis und Gogher Goghs (BBA
Prinzessin Turandot steht nicht mehr im 499/9–10) sowie die Kaisermutter, die immer-
Zentrum der Handlung. Sie hat eine andere fort versucht, ihren Sohn zu vergiften (BBA
dramaturgische Funktion und einen anderen 499/21), sind in den frühen Notizen bereits
Charakter als in den Vorlagen. Vor allem ist sie angelegt.
nicht die idealisierte Heroine Schillers, viel- Um 1935 war das Projekt in einen umfang-
mehr das genaue Gegenteil: »sie ist ein gros- reichen, unter dem Titel Der Tuiroman be-
ses, faules stück, sinnlich und langsam, eine kannten Komplex literarischer Pläne einbezo-
schlampen. ganz indifferent.« (BBA 499/17) gen, der bestimmt war, wie Walter Benjamin
Sie hasst nicht die Männer, sondern ist ausge- am 27. 9. 1934 notierte, »einen enzyklopädi-
sprochen mannstoll. Insbesondere die Intel- schen Überblick über die Torheiten der Tel-
lektuellen haben es ihr angetan. Neben die lektuall-Ins zu geben (der Intellektuellen)«
Figur der Turandot tritt gleichgewichtig die (Benjamin, S. 125). Der Tuiroman (vgl. BHB
Kaste der Tuis. Ihre Aufgabe ist es, den Be- 3), eines der komplexesten und schwierigsten
stand der Ordnung zu gewährleisten, d. h. den Projekte, die B. in Angriff nahm, war zunächst
Kaiser vom Verdacht ökonomischer Manipula- als ironisch-satirische, in einem Fantasie-
tion rein zu waschen. So sind ihre Bemühun- China/Chima angesiedelte Parabel über die
gen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Rolle der Intellektuellen im Kaiserreich und in
In der Existenzkrise des Staates, die eine Legi- der Weimarer Republik, dem »goldenen Zeit-
timationskrise ist, müssen die Tuis zwangs- alter der Tuis« (GBA 17, S. 38), bis zu ihrer
läufig versagen. Vertreibung durch das NS-Regime konzipiert.
An diesem Punkt kommt ein dritter Hand- Ansatzpunkt der Kritik B.s an den emigrierten
lungsstrang – neben der Tuihandlung und der Intellektuellen war die Folgenlosigkeit einer
Turandot-Handlung – ins Spiel: »es entsteht Opposition gegen den Faschismus, welche die
der rumor, der kaiser werde die konsequenz Verteidigung der Kultur auf ihre Fahnen ge-
aus dem scheitern der konferenz ziehen. jeder- schrieben hatte, ohne die ökonomischen Vor-
mann glaubt durch abdiktion. er tut es durch aussetzungen der Kulturbarbarei zu reflektie-
diktatur.« (BBA 499/26) Denn Gogher Gogh ren. »Die Roheit kommt nicht von der Roheit«,
(eine Hitler-Figur), der sich vergeblich um führte B. in seiner Rede auf dem Internationa-
Aufnahme in die Tui-Schule bemühte, bietet len Schriftstellerkongress zur Verteidigung
eine durchgreifende Lösung für das Problem der Kultur im Juni 1935 in Paris aus, »sondern
des Kaisers an: Fragen (nach dem Verbleib der von den Geschäften, die ohne sie nicht mehr
Seide/Baumwolle) sollen nicht beantwortet, gemacht werden können«(GBA 22, S. 144); die
sondern verboten werden, ein Vorschlag, mit »Wurzel aller Übel« seien die »Eigentumsver-
dem er auch die Gunst Turandots gewinnt, die hältnisse« (S. 145; vgl. auch B.s ironische
ihn am Ende heiratet. Mit der diktatorischen Kommentare über den Kongress in Briefen an
Lösung sind die Tuis nicht nur überflüssig ge- George Grosz und Ernst Bloch vom Juli 1935;
worden; durch ihre »ungeschickten Lügen« er- GBA 28, S. 510 f.).
wiesen sie sich als eine Gefahr für den Staat Umfängliche Materialsammlungen entstan-
(BBA 499/22) und werden nun systematisch den, daneben Skizzen, Pläne und ausgeführte
verfolgt. »flucht der tuis. sie bringen die kul- Textteile. Das ehrgeizige Projekt scheiterte
turgüter bei den kleiderlosen unter«, heißt es daran, dass eine durchgehende Fabel nicht ge-
600 Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher

funden wurde. Das Konzept zerfaserte, neben S. 324) Tuis: Das waren jetzt für B. die Weiß-
den Roman traten relativ selbstständige Tui- wäscher, Ausredner und Kopflanger der
Geschichten, -Traktate und -Anekdoten. Zu- Machthabenden in allen ideologischen La-
sätzlich belastet wurde die Arbeit durch Erfah- gern. Das Romanprojekt blieb Fragment. Auch
rungen im kalifornischen Exil. »Dieses Land der Plan einer dramatischen Behandlung
zerschlägt mir meinen ›Tuiroman‹« (GBA 27, wurde zunächst nicht weiter verfolgt. Ein ver-
S. 84), notierte B. am 18. 4. 1942 im Journal. einzelter Entwurf aus dem Jahr 1944 (BBA
»Hier kann man den Verkauf von Meinungen 164/56) blieb ohne Konsequenzen.
nicht enthüllen. Er geht nackt herum. Die
große Komik, daß sie zu führen meinen und
geführt werden, die Donquichotterie des Be-
wußtseins, das vermeint, das gesellschaftliche Zeitgeschichtliche Anregungen 2 /
Sein zu bestimmen – das galt wohl nur für Der 17. Juni 1953
Europa.« (Ebd.) Mit Bezug auf seine Abhän-
gigkeit von der Filmindustrie sprach B. am
27. 7. 1942 von der bedrängten Lage, in der er Die Niederschrift des Stücks erfolgte erst im
sich befinde, »geworfen in das Zentrum des Sommer 1953 in Buckow, wohin sich B. nach
Weltrauschgifthandels unter die Allerletzten den Ereignissen des 17. Juni zurückgezogen
der Tuis dieses Gewerbes« (S. 116; vgl. auch hatte. B. griff dabei auf seine Pläne und Ent-
das Gedicht Hollywood; GBA 12, S. 116, würfe aus den 30er-Jahren zurück und nicht,
122 f.). wie häufig behauptet, auf den Vorschlag Eis-
Was die Konzeption der Tui-Kritik kompli- lers vom Mai 1942, dem Tuiroman die Ge-
zierte und die Konturen des Begriffs unscharf schichte des Frankfurter soziologischen Insti-
werden ließ, war die Erkenntnis, dass es den tuts als Rahmenhandlung zugrunde zu legen
Missbrauch des Intellekts nicht nur unter bür- (GBA 27, S. 94; vgl. dagegen Gerz, S. 188). Die
gerlichen Intellektuellen und in der Waren- frühen Pläne hatten trotz radikal veränderter
gesellschaft gab. Im Tuiroman-Fragment gibt Voraussetzungen ihre Aktualität nicht verlo-
es Tuis nicht nur unter Sozialdemokraten und ren. Der Hitler-Faschismus war zwar besiegt,
Kommunisten der Weimarer Zeit, auch von er konnte aus der historischen Retrospektive
»Revtuis« ist die Rede (GBA 17, S. 34). Im betrachtet werden. Keineswegs erledigt hatten
Buch der Wendungen sah B. die Sowjetunion sich bestimmte Denk- und Verhaltensweisen
seit dem Konflikt zwischen Stalin und Trotzki von Intellektuellen. Auch mit dem Versuch des
und den Moskauer Prozessen fest im Griff der Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft in
Tuis beider Seiten (GBA 18, S. 169). In diesem der DDR war die im Turandot-Entwurf an-
Kontext sind Äußerungen vom Juli 1938 über gelegte Intellektuellen-Kritik nicht obsolet
die Rolle von Georg Lukács, Andor Gábor und geworden. Tuistisches Verhalten, opportunis-
Alfred Kurella in der Expressionismusdebatte tische Geistesarbeiter, den Missbrauch des
der Zeitschrift Das Wort (Moskau) zu sehen. Intellekts gab es auch unter den Bedingungen
Sie seien Feinde der Produktion, meinte B. des totalen Machtanspruchs der SED. Es fand
»Die Produktion ist ihnen nicht geheuer. […] hier seine Fortsetzung, was B. seit Mitte der
Sie wollen den Apparatschik spielen und die 30er-Jahre in der Moskauer Kulturpolitik be-
Kontrolle der andern haben. Jede ihrer Kri- obachtet hatte: Die generelle Unterordnung
tiken enthält eine Drohung.« (Benjamin, von Literatur und Kunst unter die Politik, die
S. 132) Wenig später kommentierte er im Jour- administrative Festlegung verbindlicher Posi-
nal Berichte der Deutschen Zentral-Zeitung tionen über die Köpfe der Betroffenen hinweg,
über den im August 1938 verstorbenen Kon- das geforderte Bekenntnis zur Kunstdoktrin
stantin Stanislawski: »Sein Orden ist ein Sam- des sozialistischen Realismus. Eine Reprise
melbecken für alles Pfäffische in der Theater- der Expressionismusdebatte der 30er-Jahre
kunst. […] Der Tuismus selber.« (GBA 26, stellte die ebenfalls von der Sowjetunion über-
Zeitgeschichtliche Anregungen 2 / Der 17. Juni 1953 601

nommene Kampagne gegen den sog. For- Ein weiterer aktueller Aspekt, der für das
malismus dar, die auf eine Verdammung der Turandot-Projekt Bedeutung erlangte, war der
westeuropäischen Avantgarde hinauslief und Sieg der revolutionären Truppen Mao Tse-
stattdessen die Aneignung des klassischen tungs im Jahr 1948. »Durch alle diese Wochen
›kulturellen Erbes‹ des 18. und 19. Jh.s for- hindurch«, hatte B. am 18. 1. 1949 im Journal
derte. Bekanntlich gerieten auch B. und Eisler notiert, »halte ich im Hinterkopf den Sieg der
damals in die Schusslinie der Kritik der Kul- chinesischen Kommunisten, der das Gesicht
turbürokratie. Hinzu kam die administrativ der Welt vollständig ändert. Dies ist mir stän-
verfügte Neuorientierung der Literatur, wo- dig gegenwärtig und beschäftigt mich alle paar
nach die Auseinandersetzung mit dem Faschis- Stunden.« (GBA 27, S. 298) Mit der siegrei-
mus zurückzudrängen war zugunsten der Pro- chen chinesischen Revolution, Ergebnis einer
paganda für den Aufbau des Sozialismus in der wirklichen Volksbewegung, verband B. die
DDR. Hoffnung, dass sie zu anderen Resultaten füh-
Die Fehlentwicklungen, die B. beobachtete, ren werde als das importierte System der
aber noch für revidierbar hielt, traten in den Funktionärsherrschaft in der DDR. Angesichts
Ereignissen des 17. Juni 1953 offen zutage. der chinesischen Kulisse des Turandot-Stoffs
»Buckow. ›Turandot‹. Daneben die ›Buckower lag die Einbeziehung der aktuellen Entwick-
Elegien‹. Der 17. Juni hat die ganze Existenz lung Chinas ohnehin nahe. Für B. ergab sich
verfremdet« (GBA 27, S. 346), beginnt die daraus ein neues Handlungselement (die revo-
Journal-Eintragung vom 20. 8. 1953. Diese Er- lutionäre Bewegung des Kai Ho als Hinter-
eignisse und das Verhalten zahlreicher Intel- grundgeschehen), auch eine utopische Per-
lektueller in diesen Tagen gaben den unmittel- spektive für die komödiantische Handlung.
baren Anstoß für die Wiederaufnahme des Eine erste Niederschrift der Komödie war
Turandot-Projekts. »Die Weißwäscherei ist in am 12. 9. 1953 abgeschlossen. Sie enthält Be-
vollem Gang«, schrieb B. Ende Juni 1953 an setzungsvorschläge; auch erste Vorstellungen
Käthe Rülicke (GBA 30, S. 180; vgl. S. 550 f.). über die Bühne, die Kostüme und die Spiel-
Die satirische Beleuchtung der Intellektuel- weise – »Es muß schnell gespielt werden« –
lenkaste zielte jetzt nicht zuletzt auf die Weiß- notierte B. (Anmerkungen, GBA 24, S. 410).
wäscher in Kultur und Politik der DDR ab. Proben im Frühjahr 1954 (vgl. GBA 30, S. 289)
Deshalb scheint B. zunächst gezögert zu ha- wurden jedoch bald abgebrochen. Am 8. 1.
ben, die Gogher-Gogh-Handlung einzubezie- 1954 hatte B. Harry Buckwitz (über Peter Suhr-
hen. Einer Mitteilung Hans Mayers zufolge kamp) die Uraufführung angeboten, allerdings
war B. anfangs »noch nicht entschlossen, das erst für Herbst, da er das Stück noch über-
Hitler-Schema des scheinrevolutionären Ver- arbeiten müsse (S. 228). Im Sommer des Jah-
teidigers etablierter Ordnungen, den Fall Gog- res entstand eine zweite, am 10.8. beendete
her Gogh, in die Handlung einzugliedern. Der Fassung. Für 1955 sah B. eine weitere Bearbei-
ursprüngliche Gewinner sollte ein wirklicher tung vor, zu der es nicht mehr kam. Fallen
und authentischer Tui sein« (Mayer, S. 225). gelassen wurde auch der Plan von Anfang
Danach hätte B. erst im Zuge der Arbeit die 1956, das Stück von Benno Besson zunächst in
Motive der Faschismus-Parabel aus den frühen Rostock probeweise aufführen zu lassen (vgl.
Entwürfen wieder aufgegriffen, die inzwi- Besson, S. 193). Turandot wurde zu Lebzeiten
schen in den Rundköpfen und Spitzköpfen und B.s weder aufgeführt noch veröffentlicht. Das
im Arturo Ui thematisiert worden waren. Stück erschien erst 1967 bei Suhrkamp (1968
Diese Entscheidung gab B. die Möglichkeit, im Aufbau-Verlag) zusammen mit einer Aus-
angesichts der von ihm beklagten Tabuisie- wahl aus dem Tuiroman-Fragment in Stücke
rung dieses Themas (vgl. GBA 23, S. 546 f.) ein XIV (hg. von Elisabeth Hauptmann), 1967
Stück weit die Aufarbeitung der NS-Vergan- auch in WA 5. Es existieren drei weitere, in das
genheit zu betreiben und gleichzeitig die Auf- Stück nicht integrierte Szenen (vgl. GBA 9,
merksamkeit auf gewisse Kontinuitäten bis in S. 193–198).
die Gegenwart zu lenken.
602 Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher

Die Intellektuellen-Satire – eine dass die vom Kaiser geforderten Maßnahmen


inzwischen ergriffen worden sind: Die Baum-
burleske Parabel wolle wurde in den kaiserlichen Lagerhäusern
versteckt, ihr Preis ist erheblich gestiegen; die
Der Turandot-Stoff bleibt in B.s Bearbeitung Folge ist eine allgemeine Teuerung und die
ein Märchen. Märchenhaft ist die Struktur der beginnende Verelendung der Bevölkerung.
Gesellschaft, in der das Spiel sich entfaltet: Auch die Masse der kleinen Tuis ist in ihrer
eine Mischung aus Feudalgesellschaft und Mo- Existenz bedroht; sie gehören zu den ersten
nopolkapitalismus, überlagert von der grotesk Opfern der ökonomischen Manipulation. Im
überdimensionierten, hierarchisch geglieder- Teehaus bieten die allerniedrigsten unter ih-
ten Kaste der Tuis. Schauplatz des aus einer nen (GBA 9, S. 133), als Kleinanbieter auf dem
revueartigen Folge von 15 Szenen bestehenden Markt der Meinungen, Formulierungen, Argu-
Stücks ist, trotz zahlreicher geschichtlicher mente und Ausreden für alle Lebenslagen als
Anspielungen, ein Fantasie-China. Da sich die Waren an. In knappen komödiantischen Ex-
Handlung von vornherein als Parabel zu erken- posés werden sie vorgestellt. Während einer
nen gibt, sind zusätzliche Verfremdungen, darauf besteht, keine Meinungen von der
etwa einführende oder unterbrechende Songs, Stange, sondern nur Modellmeinungen zu ver-
von B. zeitweilig erwogen (vgl. GBA 9, S. 406; kaufen (S. 132), hat ein anderer ein Abzah-
GBA 14, S. 379 f.; GBA 15, S. 271–274, S. 473, lungssystem eingeführt. Es sind eben harte
S. 475), nicht erforderlich. Ein straff geführter Zeiten (ebd.), bald würden sich die kleinen
satirisch-grotesker Dialog bringt in Szene 1 Leute überhaupt keine Meinungen mehr lei-
(Im Kaiserlichen Palast) die Exposition. Sie sten können. In das Teehaus der Tuis treten
entspricht der Ausgangssituation in den frü- nacheinander drei zentrale Figuren der Komö-
hen Entwürfen. Der Staat ist durch Misswirt- die ein. Zunächst incognito Turandot, deren
schaft und Korruption zugrunde gerichtet. Der dramaturgisch relevante Eigenschaften hier
Kaiser, eine Karikatur des Reichspräsidenten bereits deutlich werden. Eine sinnliche Natur
Hindenburg, der das Monopol über den Baum- sei sie, die geistigen Vorzügen nicht wider-
wollhandel hält, erfährt von seinen Beratern, stehen könne; gewisse elegante Formulie-
dass die Ursache der Misere eine Überproduk- rungen erregten sie körperlich (S. 133). Ein
tionskrise mit gravierenden Folgewirkungen anderes Verhältnis zum Tuismus hat der Stra-
ist: »Da es von allem zu viel gibt, ist nichts ßenräuber Gogher Gogh, auf den Turandot so-
etwas wert!« (GBA 9, S. 130) Auf seinen Ein- fort aufmerksam wird, eine zwiespältige Figur
wurf, man solle die viele Baumwolle freund- zwischen Lächerlichkeit und Faszination. Sein
lichst wegschaffen, reagiert der Ministerprä- Aufstieg vom Gangsterboss zum Politiker erin-
sident mit dem Hinweis auf die öffentliche nert an den Aufstieg des Arturo Ui. Wie dieser
Meinung. Die Entgegnung des Kaisers: »Sie tra- lebt er seit der Teuerung von der Schutzgeld-
gen einen Tuihut und wollen mir weismachen, erpressung, bezeichnet sich jedoch als Tui,
daß Sie die öffentliche Meinung fürchten?« obwohl er im untersten Examen schon zwei-
(S. 131); denn die Aufgabe der Tuis besteht in mal durchgefallen ist (S. 134). Als Käufer von
deren Manipulation. Die Krisen- und Endzeit- Formulierungen kommt er mit einem besonde-
atmosphäre wird auf komische Weise akzentu- ren Problem: Das Geld für das erste Examen
iert durch wiederholte Rücktrittsdrohungen hat er aus der Kasse seiner »Firma« (ebd.)
des Kaisers – eine Reminiszenz an die letzten entwendet, für das zweite ihre Maschinenpis-
Kanzler der Weimarer Republik – und die Auf- tolen ins Leihhaus gebracht. Nun ist guter Rat
tritte der Kaisermutter hier und in den folgen- nicht nur teuer, sondern nicht zu haben, wie
den Szenen, deren einziges Interesse in dem sich am Ende der Szene zeigt. So wird er be-
Versuch besteht, das Schicksal zu vollziehen, drängt von seinen eigenen Leuten. Eine dritte
das dem kaiserlichen Regime bevorsteht. Figur tritt auf, die fortan das Geschehen beob-
Szene 2 (Das Teehaus der Tuis) setzt voraus, achtend und kommentierend begleitet: der
Die Intellektuellen-Satire – eine burleske Parabel 603

Bauer Sen mit seinem Enkel Eh Feh aus der Mandschukaisers, der ein Bauer war«: »so-
Provinz Sezuan, der sich vom Erlös der Baum- lange er an seinem Stricke hänge, hänge das
wolle, die er mitbrachte, einen lang gehegten Volk am Kaiser« (S. 138). Um zu verhindern,
Traum erfüllen und studieren will. Von den dass sich die Bünde der Kleidermacher (An-
Tuis hat er anfangs eine hohe Meinung: »Denn spielung auf die SPD) und der Kleiderlosen
nach ihren großen Gedanken geht alles vor (der KPD) zusammenschließen und »alles Volk
sich im Staat, sie leiten die Menschheit.« […] sich um den Kai Ho« schart (ebd.), schlägt
(S. 135) Die in den Entwürfen der 30er-Jahre Jau Jel, der intrigante Bruder des Kaisers, die
noch fehlende Gestalt, angeregt durch den al- Einberufung einer Tuikonferenz vor: »Ver-
ten Bauer Strepsiades in Aristophanes’ Komö- sprich ihnen irgendwas, was dich nichts kos-
die Die Wolken (vgl. GBA 17, S. 100), erhielt tet, wenn sie dich weißwaschen. Wozu hast du
erst in der Fassung von 1954 eine wichtige deine 200 000 Weißwäscher?« (S. 139) Für eine
dramaturgische Funktion (vgl. Gerz, S. 200 f.). solche Konferenz scheint es zu spät zu sein, als
Außerhalb des korrupten Systems der Inte- Delegierte beider Bünde gemeinsam erschei-
ressen stehend, wirkt er wie aus einer anderen nen, um Auskunft über die Baumwolle zu ver-
Welt. In seiner Funktion als distanzierter Be- langen. Aber ihre Tuis geraten sofort in einen
obachter des Geschehens, der einen Lernpro- heftigen ideologischen Streit – eine Anspie-
zess durchläuft und am Ende zum Sprachrohr lung auf das Verhältnis der beiden Arbeiter-
des Dichters wird, liegt auch die Problematik parteien in der Spätphase der Weimarer Repu-
der Figur: ihre begrenzte Glaubwürdigkeit. blik –, den der Kaiser mit der Ankündigung
Weder in der anfänglichen Naivität noch in der einer außerordentlichen Tuikonferenz zur Klä-
nach und nach sich zeigenden Schläue kann er rung der Frage nach dem Verbleib der Baum-
ganz überzeugen. Da der Adressat seiner Kom- wolle beendet. In einer kleinen Zwischen-
mentare häufig der Knabe Eh Feh ist, fallen szene (3a: Im alten Mandschutempelchen) gibt
diese vielfach besonders direkt und sententiös er im Angesicht des Mantels des ersten Mand-
aus. schukaisers seinen Entschluss bekannt, »dem-
Seine Verachtung der Tuis offenbart der Kai- jenigen meiner lieben Tuis, der das Vertrauen
ser (Szene 3: Im Kaiserlichen Palast), wenn er des Volkes in die väterliche Fürsorge seines
auf Turandots Mitteilung, sie wolle einen Tui Kaisers zu erhalten weiß, die Hand meiner
heiraten, mit einem brüsken »Du bist ja per- einzigen Tochter zu schenken« (S. 142). Damit
vers« reagiert (GBA 9, S. 137), ein Affront, den sind die expositionellen Voraussetzungen für
Turandot wie ein Kompliment entgegen- die Handlung gegeben.
nimmt. Gleichsam die Verkörperung der De- Die Tui-Elite kann sich nun in der Über-
kadenz des untergehenden Systems und aus zeugung wiegen, im Zentrum der Geschicke
dem Niedergang noch Lustgewinn schöpfend, des Landes zu stehen (Szene 4: Tuischule).
ist sie in der permanenten, tuistische Anstren- Aber ihr Selbstverständnis wird sofort mit
gungen erfordernden Krise ganz in ihrem Ele- dem Elend ihres tatsächlichen Tuns konfron-
ment. Die definitiv formulierte Entgegnung tiert. Denn der Zuschauer erfährt, warum die
des Kaisers – »Ich werde es niemals dulden, »Hauptfragen der Philosophie« noch ungeklärt
daß du dich an einen Tui wegwirfst« (ebd.) – seien (GBA 9, S. 143). In einem Kloster am
gilt nur bis zur nächsten Notlage, die nicht Ufer des Gelben Flusses habe wie seit 200
lange auf sich warten lässt. Denn eine macht- Jahren ein Kongress stattgefunden, der die
volle Demonstration des Bundes der Kleider- Frage klären sollte, ob der Fluss wirklich sei
macher ist im Gange. Ein Flugblatt kursiert, oder nur in den Köpfen existiere, eine Anspie-
auf dem in anzüglicher Weise nach dem Ver- lung auf Kants Erkenntnistheorie. Da der
bleib der Baumwolle gefragt wird. Das dem Fluss über die Ufer trat, das Kloster und die
›Aufwiegler‹ Kai Ho zugeschriebene Blatt Kongressteilnehmer wegschwemmte, habe
spielt an auf die im Volk gehende Sage vom der Beweis, dass die Dinge außer uns exi-
baumwollenen »Soldatenmantel des ersten stierten, nicht erbracht werden können. Unbe-
604 Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher

merkt blieb, dass der Fluss die Frage der Phi- kriminelle – und seiner »Vorbildung« – sie ist
losophen nach der Existenz der Dinge ad ab- denkbar gering – für den Staatsdienst berufen
surdum geführt hatte. Auch diese Szene arbei- fühle (S. 145). Trotz minimaler Anforderung,
tet mit plastischen, bisweilen plakativen massiver Manipulation und Bestechung miss-
Kontrasten. Der Bauer Sen, befragt, warum er lingt die Aufnahmeprüfung erneut. Dieses
studieren wolle, antwortet: »Denken ist ein Scheitern bestimmt fortan sein Verhältnis zu
solches Vergnügen. Und Vergnügungen muß den Tuis.
man ja lernen. Aber vielleicht sollte ich sagen: Während eine kleine Zwischenszene (4a:
es ist so nützlich.« (S. 144) Dieser Einschät- Gasse) heruntergekommene Tuis auf dem
zung folgt unmittelbar die Brotkorb-Szene, in Strich zeigt, ein früh entworfenes (BBA 449/23
der ein Tuischüler das Argumentieren lernt, und 25), auch in den Hollywoodelegien ver-
eine szenische Umsetzung der sprichwörtli- wendetes Motiv (vgl. GBA 12, S. 115), wird im
chen Wendung ›Den Brotkorb höher hängen‹. Haus eines großen Tui (Szene 5) der eitle
Das Thema ist: »Warum hat Kai Ho unrecht?« Munka Du, eine Karikatur Adornos, von einem
(Ebd.) Das Ergebnis ist vorgegeben, es geht Barbier für seinen Auftritt als Konferenzred-
allein um das ›Wie‹ der Argumentation. B., ner vorbereitet. Überzeugt von der histori-
der auch an das Sprichwort »Kunst geht nach schen Mission seines Standes und sich, zum
Brot« erinnerte (BBA 559/68), hatte an dem Zweck bloßer Stimmübung, in leeren Phrasen
sinnbildlichen Vorgang ein besonderes Ver- über die Bedeutung des Geistes und die auf
gnügen (Mayer, S. 225), weil er komplexe seinen Schultern lastende Verantwortung er-
Zusammenhänge auf anschauliche Weise er- gehend, lässt ihn die Tatsache unbeeindruckt,
fahrbar macht (vgl. auch das Sonett Über das dass ihm im Falle des Versagens der Kopf abge-
bürgerliche Trauerspiel »Der Hofmeister« von schlagen wird.
Lenz und den Epilog zur Hofmeister-Bearbei- Die breit angelegte, simultan in mehreren
tung). Der Bauer Sen entnimmt der Rede des Räumlichkeiten des Tui-Palastes und auf ver-
Schülers nur, was diesem als Lapsus angekrei- schiedenen Handlungsebenen spielende, über
det wird: die Mitteilung, »daß der Kai Ho den vier Tage sich erstreckende Szene 5a (Im Pa-
Boden verteilen will« (GBA 9, S. 145). Sein am last des Tuiverbands) bringt mit der großen
sozialen Interesse orientiertes Lernen steht in Tuikonferenz das Kernstück der Komödie. Als
engem Zusammenhang mit dem revolutionä- Erster produziert sich der Rektor der Tui-Uni-
ren Geschehen im Hintergrund. Wo Kai Ho versität in einer weitschweifigen Tirade. Ihr
war und gedacht hat, erklärt er dem Knaben Eh Fazit, es habe eine Missernte gegeben, wird
Feh später, »sind große Felder mit Reis und mit Empörung zurückgewiesen. Der Vorsit-
Baumwolle, und die Leute anscheinend froh. zende des Tui-Verbands argumentiert dage-
Wenn die Leute froh sind, wenn einer gedacht gen, die Baumwolle werde auf dem Transport
hat, Eh Feh, muß er gut gedacht haben, das ist von den Feldern in die großen Städte »von der
das Zeichen.« (S. 188) Angesichts der do- Bevölkerung weggekauft«, was sich aus der
minierenden Kritik an der sophistischen Zunahme der Kultur im Lande erkläre (GBA 9,
Geschwätzigkeit und Käuflichkeit der Tuis S. 156). Seine Rede wird durch Zwischenrufe
vermittelt Sen die positiven Aspekte: die unterbrochen, von der Decke regnet es Flug-
Einsicht, dass es auch nützliches Wissen und blätter, man lässt Kai Ho hochleben. Der Red-
produktive Formen des Denkens gibt. Gogher ner fordert die Todesstrafe für die Störer – sie
Gogh tritt auf, um zum dritten Mal die Aufnah- werden sofort abgeführt –, bevor er bemerkt,
meprüfung zu machen, eine Anspielung auf dass ihm dasselbe Schicksal bevorsteht. Der
die mehrfach gescheiterten Versuche Hitlers, nächste Redner, Munka Du, der »Leiter des
in die Wiener Akademie der Bildenden Künste philosophischen Seminars« (S. 161), war »vor
aufgenommen zu werden. Gefragt, warum er noch nicht 30 Jahren Mitglied der Gesellschaft
Tui werden wolle, antwortet er, dass er sich für gemäßigten Fortschritt im Rahmen der Ge-
aufgrund seiner »Veranlagung« – es ist eine setze« (S. 159); deshalb werden besondere Si-
Die Intellektuellen-Satire – eine burleske Parabel 605

cherheitsvorkehrungen getroffen. In Beglei- des Problems: Die korrupte Herrschaft ist mit
tung Turandots verspätet und »sichtbar über- den Mitteln der Argumentation nicht mehr zu
nächtig« (S. 160) erscheinend, wird er mit der legitimieren. Deshalb ist es dramaturgisch
Mitteilung empfangen, nach den gestrigen zwingend, dass sich in diesem Moment Go-
Vorkommnissen sei beschlossen worden, »alle gher Gogh nähert, bei Turandot Schutz vor
Bewerber auf unchinesische Gedanken hin zu seinen Leibwächtern suchend, indem er ihr
durchforschen« (ebd.), eine Anspielung auf Schutz vor eben diesen anbietet. Sein persön-
die Verhöre vor dem Untersuchungsausschuss liches Problem ist dem des Kaiserhauses nicht
für unamerikanische Aktivitäten, dessen zen- unähnlich: Beide sind mit peinlichen, die
trale Frage lautete: »Sind oder waren Sie Mit- Existenz bedrohenden Fragen konfrontiert.
glied (der kommunistischen Partei)?« (Keil) Deshalb kann er für beide Probleme dieselbe
Parallel formuliert B. im Stück: »Gehörten Sie Lösung anbieten: Wie er grundsätzlich nicht
zu irgendeiner Zeit der Gesellschaft der auf Fragen antworte, habe er auch die Tui-
Freunde des bewaffneten Aufstands an?« (GBA Konferenz zu verhindern gesucht. »Wenn der
9, S. 160) Munka Du führt aus, es gehe nicht Staat jede Frage beantworten will, die ihm
um Baumwolle, vielmehr um »die Freiheit der gestellt wird, geht er zu Grund.« (S. 166) Tu-
Meinung über die Baumwolle« (S. 162); man randot, die die Zweckmäßigkeit des Gedankens
solle »nicht länger von der Baumwolle spre- sofort erkennt, beginnt ihn interessant und
chen, sondern von den Tugenden, die ein Volk intelligent zu finden. Da sie ausschließlich für
haben muß, sie entbehren zu können« (ebd.). den Augenblick existiert, hat für sie sinnliche
Als er im Eifer der Argumentation versehent- Attraktivität, wer für den Moment eine geist-
lich die Wahrheit über den Verbleib der Baum- reiche Problemlösung anzubieten scheint. Ihre
wolle verrät, bedeutet dies das endgültige Mägde, die zu den Volksgestalten gehören, aus
Scheitern der Konferenz. deren Mund der Zuschauer ein Stück Wahrheit
Mit den auf dem Stadttor aufgespießten erfährt, bringen Turandots zwiespältige Hal-
Köpfen beginnt bei Gozzi und Schiller die Sze- tung gegenüber Gogher Gogh in einer späteren
nerie im 1. Akt von Turandot. Wenn in B.s Szene (8a) auf den Punkt: »Sie sagt, sie liebt
Komödie (Szene 6: An der Stadtmauer) der ihn, weil er so klug ist. […] Sie sagt, er ist
Henker, indem er »den abgehauenen Kopf des klug, weil sie auf ihn scharf ist.« (S. 182)
Munka Du neben anderen Köpfen«(GBA 9, Nichts dazugelernt haben inzwischen die Tuis.
S. 164) aufsteckt, über den schrecklichen Ihre abgeschlagenen Köpfe – anders als bei
»Wechsel des menschlichen Glücks« räsoniert Gozzi und Schiller beginnen sie hier plötzlich
(ebd.), so meint er nicht das Schicksal der zu reden – sinnen noch immer nach über die
Geköpften, sondern das Missgeschick eines auf der Konferenz gemachten Fehler, über ihre
Kollegen, dessen Ausstellung aufgesteckter missglückten Formulierungen. Es müsse eine
Köpfe durch widrige Witterungseinflüsse über Antwort geben: »Selbstverständlich gibt es auf
Nacht ruiniert worden sei. So werden Erwar- jede Frage eine Antwort. Man muß nur die
tungen immer wieder auf groteske Weise ent- Zeit haben, sie zu finden. […] Zeit, das haben
täuscht. Der Schreiber der Tuischule erkennt wir. […] Immerhin, wir genießen hier eine Art
den Kopf seines Lehrers, der auf dem Kon- von Freiheit.« (S. 167) Der mehrfach angekün-
gress »dummes Zeug geredet« habe; »aber jetzt digte große Geograph Pauder Mel, von Inter-
gibt es niemand mehr, der die Gedichte des Po preten häufig als ein blindes Motiv der Komö-
Chü-i erklären kann« (ebd.), ein bemerkens- die betrachtet, zieht vorbei. Er habe die größte
werter Satz, weil hier zum ersten Mal von Besorgnis, dass der Kongress schon abge-
unverzichtbarem Fachwissen der Tuis gespro- schlossen sei, wenn er ankomme: »Jeden Au-
chen wird. Mit ihrer Klage, es steckten ȟber- genblick kann einer die Antwort finden. Und
haupt zu viele Köpfe auf der Mauer, da scheint was dann?« (Ebd.) Der Zuschauer weiß, dass
es ja, als sei die Politik gar nicht zu vertei- der Kongress beendet und gescheitert ist, dass
digen« (S. 165), formuliert Turandot den Kern es die geforderte Antwort nicht geben kann. So
606 Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher

stellt sich Pauder Mel dar als der hoffnungslos Selbstverständnis begründet – »Doch wer was
Weltfremde, der selbst angesichts der abge- weiß, der macht auch seinen Schnitt« (GBA 9,
schlagenen Köpfe nicht ahnt, dass er nichts S. 176) – erweist sich unter den veränderten
verpassen konnte als seine Hinrichtung. Voraussetzungen als fataler Irrtum. Denn
In der turbulenten Szene 7 (Im Kaiserlichen Gogh, der nun »die Kleidermacher und Klei-
Palast) eskaliert die Situation, denn Kai Ho derlosen im Bund mit den Tuis«(S. 178) ver-
nähert sich mit seinen aufständischen Truppen dächtigt, die Lagerhäuser des Kaisers in Brand
der Hauptstadt. Jau Jel besteht nun auf der gesetzt zu haben, »als Fanal für den aufstän-
Vernichtung der Baumwollvorräte, woraufhin digen Kai Ho«(ebd.), zeigt sich nun entschlos-
der Kaiser mit Rücktritt droht und abgeht. Jau sen, die »geistigen Brandstifter« (ebd.) aus-
Jel setzt sich sofort an seine Stelle und be- zurotten. Sofort wüten seine Leute auf dem
fiehlt, abgehend, die Verhaftung seines Bru- Tuimarkt, terrorisieren die Tuis und vernich-
ders. Dieser hat sich die Sache überlegt; zu- ten ihre Bücher. Mit vielen Zeitgenossen war
rückkehrend erkennt die Situation und denkt B. davon überzeugt, dass die Nazis selbst den
an Flucht, als Turandot auftritt und ihm Go- Brand im Reichstag gelegt hatten; sie allein
gher Gogh als Retter in der Not präsentiert. konnten einen politischen Nutzen daraus zie-
Der Klage des Kaisers über Jau Jels Verhalten hen. Nach dem Brand setzte in verstärktem
– »Das ist natürlich ungesetzlich. Das Volk Umfang der Terror gegen linke Parteien und
muß sich doch sein Regime wählen können« Intellektuelle ein. Darauf und auf die organi-
(GBA 9, S. 169) –, hält Gogh entgegen: »Was sierten Bücherverbrennungen spielt die Szene
heißt das […]? Kann sich etwa das Regime an. Die kleinen Tuis erkennen zu spät, dass sie
sein Volk wählen? Es kann nicht.« (Ebd.; die von ihrem Wissen den falschen Gebrauch ge-
bereits in den 30er-Jahren formulierte Pointe macht haben, dass ihre Bücher nichts als
[BBA 499/1] verwendete B. im Sommer 1953 Schund enthalten: Es steht darin »nichts […]
erneut in dem Gedicht Die Lösung, Bezug neh- gegen sie, keine wahre Zeile!« (S. 179) Die
mend auf eine Äußerung des Schriftstellers Suche des Bauern Sen nach verwertbarem
Kuba nach den Ereignissen des 17. Juni; vgl. Wissen auf dem Tuimarkt ist gleichwohl er-
GBA 12, S. 310). Gogh ergreift nun die Chan- folgreich: Ein Büchlein von Kai Ho wird ihm
ce, das Problem des Kaisers und sein eigenes zugesteckt, ein Hinweis auf die von B. ge-
im Handstreich zu lösen: indem er sich alle schätzte Aphorismen-Sammlung Mao Tse-
Vollmachten erteilen und seine Leute, die ein- tungs. So hat sich seine Reise in die Hauptstadt
dringen, um ihn wegen der veruntreuten Waf- am Ende doch gelohnt.
fen zu ergreifen, aus Beständen der kaiserli- Nach einer kleinen Zwischenszene (8a: Im
chen Arsenale bewaffnen lässt. So werden aus Hof des Kaiserlichen Palastes), in der Turan-
Straßenräubern Hüter der Ordnung. Nun wird dots Mägde das Verhältnis ihrer Herrin zu
rücksichtslos durchgegriffen, die kritische Si- Gogh kommentieren, folgt eine der Schlüs-
tuation durch Terror unter Kontrolle gebracht. selszenen der Komödie (9: Vor der Wäscherei).
Da man dem Kaiser suggeriert, ihre Dienste Im Haus des Waffenschmieds in der Vorstadt,
seien jetzt nicht mehr erforderlich, beschließt gegenüber Ma Goghs Wäscherei Mandelblüte
Gogher Gogh, »ein weithin sichtbares Exem- gelegen, stellen flüchtende Tuis ›Kulturgüter‹
pel« zu statuieren, aus dem jeder erkennt, »daß unter. Hier treten die Gegenspieler Gogher
ohne zureichenden energischen Schutz kein Goghs auf: Neben den verfolgten Tuis sind es
Eigentum mehr sicher ist« (GBA 9, S. 174). Ein die kleinen Leute im Umkreis des Waffen-
Teil der Lagerhäuser wird zu diesem Zweck in schmieds, die mit Kai Ho sympathisieren, fer-
Brand gesteckt (Szene 7a: Im Hof des Kaiserli- ner die Wäscherinnen, mit ihrem Mutterwitz
chen Palastes). und der geradlinigen Denkungsart als Gegen-
Auf dem Kleinen Tuimarkt (Szene 8) bieten figuren zu den Weißwäschern angelegt, auch
die niedrigsten der Tuis für wenig Geld ihr Ma Gogh, am Ende eine wachsende Zahl von
Wissen feil. Aber die Überzeugung, die ihr Überläufern. Ma Gogh, die stolz war auf ihren
Die Intellektuellen-Satire – eine burleske Parabel 607

Sohn »in seinem früheren Beruf« (GBA 9, »Mit der ›Botschaft‹ des Werks
S. 183), sich seiner jetzt aber schämt, versteckt
eines der Bilder mit der Bemerkung: »Den
steht es auch nicht einfach«
Bildern geht es schlecht, er ist Maler.« (S. 186)
Er sei auch Baumeister, fügt sie viel sagend Die utopische Perspektive am Schluss der Ko-
hinzu, und »der größte Wissenschaftler« mödie orientiert sich nicht zufällig am chinesi-
(S. 187). Weshalb sie einen Globus in ihre Ob- schen Vorbild. Aus der Tatsache, dass der
hut nimmt: »Daß die Erde rund ist – vielleicht DDR-Staat nicht das Ergebnis einer Volkserhe-
ist es einmal wichtig?« (Ebd.) Angesichts mas- bung war, ergaben sich für B. erhebliche Kon-
siver Manipulation von Tatsachen kann die Be- sequenzen, die auch sein Vorwort zu »Turan-
sinnung auf einfachste Wahrheiten einmal dot« vom Spätsommer 1953 zum Ausdruck
wichtig sein. Während immer mehr Bewohner bringt. Unter den zahlreichen Texten zu Stü-
der Hauptstadt in Richtung Norden aufbre- cken gehört dieses Vorwort zu den merkwür-
chen, zu den Truppen Kai Hos – Kleiderlose, digsten. Denn auf den ersten Blick scheint sein
die aus der Waffenschmiede kommen, führen Thema nicht die Komödie zu sein, die der
Gewehre und Säbel mit sich –, taucht ein Leib- Titel nennt; Gegenstand sind die Ursachen
wächter Goghs auf, um für diesen eine Aus- und Hintergründe der Ereignisse um den 17.
rede zu kaufen: Er wolle heiraten, könne es Juni. Der im Osten Deutschlands eingeführte
aber nicht, eine Anspielung auf Gerüchte um Sozialismus hatte »eine gewaltige Verände-
eine Kriegsverletzung Hitlers im Genitalbe- rung der Lebensweise bewirkt. Eine ebenso
reich. große Veränderung der Denkweise zu bewir-
Die abschließende Szene (10: Im alten ken, war freilich nicht gelungen. Dies hatte
Mandschutempelchen), in der die Trauung von viele Ursachen.« (GBA 24, S. 409) Neben der
Turandot und Gogher Gogh vollzogen werden Notwendigkeit von Reparationsleistungen un-
soll, ist geprägt von allgemeinem Misstrauen, ter den schwierigen wirtschaftlichen Bedin-
vom Zerfall aller durch Terror bislang not- gungen der Nachkriegszeit verweist B. auf die
dürftig aufrechterhaltener Verhältnisse. Der mangelnde Erfahrung der Verantwortlichen –
Kaiser hat Anweisung gegeben, Gogh vor der Ȇberall wurden Fehler gemacht, Menschen
Trauung zu verhaften, Gogh seinerseits die geschädigt oder gekränkt, […] immer wieder
Verhaftung aller nach der Zeremonie befohlen. wurde verordnet anstatt überzeugt« (ebd.) –,
Turandot hat sich inzwischen für einen Offi- auf die Tatsache, dass eine Revolution nicht
zier entschieden, der ihr erklärt habe, wie der stattgefunden hatte, ferner auf die Schwierig-
Palast zu verteidigen sei. »Du mußt das ein- keit, nach dem Krieg einen völlig neuen
sehen, Gogher. Es schmerzt dich einen Augen- Staatsapparat aufzubauen. »Unter neuen Be-
blick, aber das Leben geht weiter, und deine fehlshabern setzte sich also der Naziapparat
Kriegsverletzung ist ja bald ausgeheilt.« wieder in Bewegung. […] Unüberzeugt, aber
(S. 191) Die weit ausholende Rede Goghs über feige, feindlich, aber sich duckend, begannen
seine Verdienste wird von Meldungen unter- verknöcherte Beamte wieder gegen die Bevöl-
brochen, Kai Ho stehe bereits am Tibetani- kerung zu regieren.« (S. 410) Diese von der
schen Tor. Als er sich in der allgemeinen Ver- Propaganda kaschierten Sachverhalte und die
wirrung den Mandschumantel aneignen will, beklagte Tabuisierung des Themas Nazismus
ist dieser verschwunden: Das Band zwischen erklären, warum B. den alten Plan einer Tui-
Volk und Kaiser ist endgültig zerschnitten. Komödie zu diesem Zeitpunkt wieder aufgriff.
Nun folgen wechselseitige Schuldzuweisun- Da das Vorwort unzweideutig Bezüge zwischen
gen, bevor die Aufständischen dem Spuk ein der NS-Zeit und der DDR-Bürokratie her-
Ende bereiten. stellt, liefert es die Begründung dafür, warum
das ehemals als Faschismus-Parabel angelegte
Stück für eine Kritik an der DDR verwendet
werden konnte.
608 Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher

Die Doppeldeutigkeit zahlreicher Spielvor- und Realismus (1) von 1938). Eines der ge-
gänge und Motive, ihre Transparenz für aktu- retteten Bilder zeigt blaue Hügel, wohl eine
elle Erfahrungen, ist nicht zu übersehen: die Anspielung auf Franz Marcs Gemälde Turm
allgemeine Atmosphäre von Repression und der blauen Pferde von 1913 (vgl. GBA 22,
Einschüchterung, von Angst und Heuchelei; S. 350, 1011); es sollte vernichtet werden: »Sie
das Verbieten unbequemer Fragen, nicht ihre sagen, Hügel sehen nicht so aus.« (S. 186)
Beantwortung; die Privilegierung der Intellek- Wenn der Bauer Sen dazu bemerkt, der Sinn
tuellen bei gleichzeitigem Misstrauen ihnen von Bildern sei es, Dinge neu sehen zu lehren,
gegenüber; Opportunismus, Käuflichkeit, so formuliert er B.s Auffassung von der Funk-
Schönfärberei der Geistesarbeiter und Mei- tion ästhetischer Mittel, geäußert nicht zuletzt
nungsmacher; die Verfolgung von Intellektuel- in den Debatten um die Abbildtheorie (vgl.
len, die sich nicht systemkonform verhalten. Zur Expressionismusdebatte und Zur Forma-
Aus den frühen Entwürfen stammt das Mo- lismusdebatte; BHB 4). Bei den im Haus des
tiv der flüchtenden Tuis, welche die Kultur- Waffenschmieds untergestellten Kulturgütern
güter bei den Kleiderlosen unterbringen (BBA handelt es sich nicht um »eine Ansammlung
499/23), das nun in Szene 9 der Komödie brei- nutzloser Gegenstände« (GBA 9, S. 400; vgl.
ten Raum einnimmt. Unter dem Schlagwort dagegen Gerz, S. 192, 203 f.); dass sich aus
›Verteidigung der Kultur‹ hatten sich die Exil- bürgerlicher Kultur geistige Waffen schmie-
autoren 1935 zu ihrem ersten Kongress in Paris den lassen, hat B. in dem um 1938 entstan-
versammelt. Einen Reflex der Kritik B.s an denen Sonett vom Erbe zum Ausdruck gebracht
dem Kongress zeigt die ironische Beleuchtung (GBA 14, S. 424). Es steckt darin die Forde-
der Tuis in dieser Szene, ablesbar an der Phra- rung, mit bürgerlicher Kultur produktiv umzu-
senhaftigkeit ihrer Klagen: »Man hat das Tee- gehen, aktuell wieder angesichts der philiströ-
haus geschlossen. Der Geist ist heimatlos. […] sen Erbe-Auffassung der DDR in den frühen
Wenn China seine Kunstwerke verliert, wird 50er-Jahren. Was B. unter produktiver Aneig-
es völlig verrohen.« (GBA 9, S. 186) Im Haus nung der literarischen Tradition verstand, da-
des Waffenschmieds, in dem die Kulturgüter für liefert die Komödie Turandot, die in einer
nun untergestellt werden, wirken sie zunächst Reihe mit den Klassiker-Inszenierungen und
störend und wie Ballast. Eine überdimensio- -Bearbeitungen der 50er-Jahre steht, selbst ein
nal große Statue der Göttin der Gerechtigkeit Beispiel.
kann nur auf dem Kopf stehend, mit umge- Auf formale und inhaltliche Besonderheiten
stülpter Waage, notdürftig verstaut werden des Stücks hat B. in theoretischen Reflexionen
(S. 182 f.), ein unmittelbar sinnfälliges Bild. aufmerksam gemacht. »Wenn ich mir ›Turan-
Bei den Gegenständen der Kunst – »Meister- dot‹ jetzt ansehe«, so seine Journal-Eintra-
werke« (S. 182), die aus unterschiedlichen gung vom 13. 9. 1953, »sie steht recht außer-
Gründen unerwünscht sind – resultiert aus der halb der deutschen Literatur und wirkt, wie
differenzierenden Ausgestaltung eine Doppel- alleinstehende Personen oft, unsolide. Wäre
sinnigkeit, die im Kontext der 30er-Jahre noch ich im ganzen ein Komödienschreiber, was ich
fehlte. Eindeutig auf die NS-Ideologie spielt beinahe bin, aber eben nur beinahe, dann
das Argument gegen alte Musik an: Sie ist stünde um solch ein Werk wenigstens die Ver-
»gefährdet, weil sie nicht chinesischen Ur- wandtschaft, und der Clan könnte sich be-
sprungs ist« (ebd.). Erwünschte und uner- haupten.« (GBA 27, S. 348) Der an der Com-
wünschte Kunstwerke gab es auch für marxis- media dell’arte orientierten, die Burleske
tische Theoretiker und Kulturbürokraten. streifenden Komödienform, ein in der deut-
Neue Musik wird verfolgt, heißt es, »weil sie schen Literatur selten realisiertes Genre,
nicht volkstümlich ist« (S. 183). Einen reflek- wollte B. auch andere seiner Stücke nicht un-
tierten Umgang mit dem Begriff des Volks- eingeschränkt zurechnen. In den ebenfalls im
tümlichen hatte B. in seiner Kontroverse mit Sommer 1953 verfassten Bemerkungen zu
Lukács gefordert (vgl. u. a. Volkstümlichkeit »Turandot« beschrieb er das Werk als Gegen-
»Mit der ›Botschaft‹ des Werks steht es auch nicht einfach« 609

stück zu Galilei: »als ich das ›Leben des Gali- eine tiefverwurzelte schlechte Eigenschaft!)«
lei‹ geschrieben hatte, in dem ich den herauf- (Ebd.) Vergleichspunkt zwischen beiden Ko-
dämmernden Morgen der Vernunft geschildert mödien ist ein Epochenumbruch bei gleich-
hatte, bekam ich Lust, ihren Abend zu schil- zeitigem Fortwirken eines Anachronismus: im
dern, den Abend eben jener Art von Vernunft, Fall von Turandot die Phase der Gesellschafts-
die gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts veränderung, in der unproduktives, tuistisches
das kapitalistische Zeitalter eröffnet hatte« Denken doch fortexistiert, gewissermaßen als
(GBA 24, S. 411). Sie beruhte auf der empiri- ›eine tiefverwurzelte schlechte Eigenschaft‹.
schen Beschreibung von Natur und Kosmos Dass B. hier auf die DDR abzielte, belegt sein
mittels exakter Beobachtung, Experiment und abschließender Satz: Es werde »eine Zeitlang
mathematischer Berechnung; es war die Ver- noch weitergehen, so lang bis die Intellektuel-
nunft des sich emanzipierenden bürgerlichen len dem Rest der Bevölkerung nicht mehr ge-
Subjekts, das über die Natur zu eigenem Nut- genüberstehen, sondern die ganze Bevölke-
zen zu verfügen begann. Das naturwissen- rung intellektualisiert ist« (ebd.).
schaftliche Denken hatte nicht nur eine explo-
sionsartige Entwicklung der Produktivkräfte
zur Folge, es stellte auch das religiöse Weltbild
und das Machtgefüge der Kirche in Frage. Für Die ersten Aufführungen /
die Gegenwart unterstellte B., dass »die (kapi- Pressekritik / Zur Forschung
talistische) Produktionsweise es den Produk-
tivkräften nicht mehr erlaubt, sich weiter-
zuentwickeln« (GBA 27, S. 348), eine durch Die Uraufführung der Komödie fand am 5. 2.
die Marx-Lektüre vertiefte Überzeugung, die 1969 am Zürcher Schauspielhaus statt. Der in
auf Erfahrungen der Krisenjahre um 1930 be- Berlin/DDR tätige Schweizer Benno Besson
ruhte. Die Vernunft, für die Galilei stand, war führte als Gast Regie (Bühnenbild: Horst Sa-
nicht nur unproduktiv geworden, sie befand gert, Bühnenmusik: Yehoshua Lakner). Da
sich auch nicht mehr im Konflikt mit dem eta- sich das Stück nach Auffassung Bessons nicht
blierten Herrschaftssystem. Das unproduk- in der Illustration von Geschichte erschöpfte,
tive, folgenlose, nur formulierende Denken verzichtete er konsequent auf historisch kon-
wurde zwangsläufig lächerlich und nur noch krete Fixierungen in Kostüm und Maske der
als Komödie darstellbar. Figuren, versuchte vielmehr, die Vorgänge als
Im Journal heißt es am 13. 9. 1953 über Tu- aktuelle zu präsentieren. Die Aufführung war
randot weiter: »Mit der ›Botschaft‹ des Werks insofern als Experiment angelegt (vgl. Bessons
steht es auch nicht einfach. Es ist ein wenig Interviews in: Abendzeitung. 8-Uhr-Blatt
wie mit dem Geizigen Molières in dieser Hin- [Nürnberg], 23. 1. 1969, und Christ und Welt,
sicht. Er verspottet den Geiz zu einer Zeit, wo 31. 1. 1969; ferner Besson, S. 195).
das Bürgertum das Geld produktiv zu benutzen Die Bühne war mit weißer Leinwand ausge-
versteht, neuerdings. Geiz ist ganz unprak- schlagen, die Welt des Kaisers und der Tuis mit
tisch geworden, steht dem Gelderwerb im weißer, glänzender Seide drapiert. Von Zeit zu
Wege, ist also lächerlich« (GBA 27, S. 348). Zeit kam dahinter die düstere Wirklichkeit in
Das Bürgertum hatte Investition und Konsum Form eines schmutzigen, durchlöcherten
als treibende Kräfte der Warenproduktion und Baumwollvorhangs zum Vorschein. Die Spiel-
-zirkulation erkannt; Geiz war anachronis- orte wurden auf Podesten auf die Bühne
tisch, da unproduktiv, insofern lächerlich ge- geschoben, die auf diese Weise leicht verän-
worden. »Und doch bleibt er für lange Zeit da, derlich war und das Theaterhafte der Veran-
im Grunde, als das Raffen, als das Ziel der staltung verdeutlichte. Schauwerte und Thea-
Produktivität, als die schlechte Seite des Kapi- tereffekte spielten eine große Rolle. Über der
talismus durch seine ganze Karriere. (Und ist, Bühne im Hintergrund hing ein Transparent
zum rechten Zeitpunkt ertappt, überhaupt mit dem weißen Matterhorn und der Auf-
610 Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher

schrift »Persil hält ein Land so sauber«. Die habe (Schumacher, S. 92–96). Dass Tuismus
Tuis trugen hohe weiße Hüte, darauf in ausschließlich eine Angelegenheit des Kapita-
schwarzen Lettern Name und Funktion. Über- lismus sei, wurde die DDR-Kritik nicht müde
all im Bühnenbild wurde Schrift verwendet. zu betonen (vgl. neben Schumacher u. a.
Der mit kabarettistischen Mitteln realisierte Kerndl in: Wyss, S. 430–433, Seyfarth und
Kongress fand in einem weißen, steril gehalte- Nössig). In anderen Besprechungen überwog
nen Saal statt, die Tuis hatten weißge- die Kritik, teils am Stück, teils an der Inszenie-
schminkte Gesichter und rote Clownsbäck- rung. Die Frage, warum die Uraufführung so
chen. Hier wie in anderen Szenen, etwa am spät und in Zürich, nicht in Ost-Berlin, statt-
Kaiserhof, war die Nähe zur Burleske unüber- fand, war mehrfach Anlass für Spekulationen.
sehbar. Der Bauer Sen hatte das Aussehen ei- Die pauschale Verurteilung von Intellektuellen
nes Schweizer Älplers. Von der Kritik vielfach erschien in der Zeit der 68er-Bewegung nicht
bemerkt: Er schwang nicht die rote Mao-Bibel, mehr aktuell. Max Frisch notierte, die Parabel
sondern ein grünes Heft (Szenenfotos u. a. in: stimme weder für den westlichen noch für den
Theater heute (1969), H. 3, S. 28–33; Theater östlichen Teil so recht; wie jede Parabel gebe
der Zeit (1969), H. 5, S. 29–31; Besson, S. 198, sie aber vor, »irgendeinen Nagel auf den Kopf
S. 202 f.; zur Probenarbeit vgl. Canaris). zu treffen« (Frisch, S. 214). Seine herbe Kritik
Während das aus B.-Kennern und Theater- – »Kindertheater für Intellektuelle« (S. 215) –
enthusiasten bestehende Publikum der Presse- beruht allerdings zu einem Teil auf dem Miss-
Voraufführung die Inszenierung begeistert verständnis, es werde nach B.s Auffassung »im
feierte, war die Reaktion des Premierenpu- Sozialismus kein Tui-Problem mehr geben«
blikums am folgenden Tag eher zurückhal- (ebd.). Henning Rischbieter schrieb: »Die Fa-
tend. Geteilt war auch das Presseecho. Besson denscheinigkeit, Dünnigkeit, der Collagen-
habe es verstanden, so Hellmuth Karasek, die Charakter des Stückes wird in Szene und Kos-
Volkstümlichkeit der Komödie, die sich durch tüm adäquat ausgedrückt. Das Theater ist bei
szenischen Witz und eine volkstheaterhafte, sich selbst: eine billige Bude, vollgestopft.«
böse Deftigkeit auszeichne, zu entlarvender (Rischbieter 1969, S. 35) Von einer »Aktualität,
Schärfe umzumünzen. In der Inszenierung die zu spät kommt«, sprach Jost Nolte; der
habe »das Märchen eine erstaunliche Verbind- böse Sinn der Komödie sei in der Inszenierung
lichkeit und auch einen politischen Lehrwert« zu kurz gekommen: »Ein Faschingsscherz mit
bekommen, befand Klaus Völker (Völker 1969, dem Entsetzen fand statt.« (Nolte) Besson
S. 26). Von einer großartigen, Artistik und Dia- habe sich aus den Schwierigkeiten des Stücks
lektik verbindenden Vorstellung sprach Wer- »mit einer großen Kasperiade« gezogen,
ner Wollenberg (Wyss, S. 422). »Mit großer meinte Günther Rühle (Wyss, S. 419). Von ei-
geistiger Strenge ist der Parabelcharakter des nem »Kasperlespiel von streckenweise allzu
Stücks durchgehalten«, schrieb Hans Heinz kabarettistischem Zuschnitt« sprach auch der
Holz: eine »Meisterleistung wie diese erlebt Kritiker der Neuen Zürcher Zeitung (I. V.).
das Theater nicht allzu oft« (Holz). Die Verbin- Die DDR-Erstaufführung am 10. 2. 1973 am
dung von Präzision und Logik der Grundkon- Berliner Ensemble (Regie: Peter Kupke und
zeption mit spontaner Spiellaune, so Lorenzo, Wolfgang Pintzka, Bühnenbild: Karl von Ap-
sei der Inszenierung gelungen; »ein Theater- pen) wirkte ästhetisch perfekt, aber akade-
ereignis von außerordentlichem Rang« (Lo- misch (Szenenfotos in: Theater der Zeit
renzo, S. 1235). Dass dem Theater als sinnli- (1973), H. 5, S. 4–6). Es »war das Abbild eines
cher Realität Gerechtigkeit widerfahren sei, Abbildes von einem Abbild« (Schumacher,
meinte auch Ernst Schumacher; die erkenn- S. 96). Die Inszenierung habe die Widersprü-
bare Folgenlosigkeit der Aufführung lastete er che, »die Mischung von Satire, Utopie, Mär-
dem Züricher Publikum an, das die Aktualität chen, Kabarett, Groteske zu einer harmlosen
des Stücks, den Tuismus als typischen Zustand Komödie« geglättet, meinte Rolf Michaelis.
der bürgerlichen Gesellschaft, nicht erkannt Obwohl die Regie auf die Herstellung aktuel-
Die ersten Aufführungen / Pressekritik / Zur Forschung 611

ler Bezüge von vornherein verzichtet, alle un- die des heiteren, auf raschen Publikumskon-
gelegenen Details wegretuschiert und die Pa- sens spekulierenden Lächerlichmachens eines
rabel auf kapitalistische Verhältnisse reduziert selbst schon Lächerlichen« (Mennemeier,
hatte, waren Reaktionen des Publikums an ge- S. 90). Da B. nicht gewagt habe, »das Tui-
wissen Stellen nicht zu überhören. »Offenbar Thema als ein auch in sozialistischer oder
liegt das Stück doch näher an der Wirklichkeit, halbsozialistischer Gesellschaft aktuelles an-
als seine Exegeten meinen«, konstatierte Peter zupacken«, habe er nur eine »komödiantische
Hans Göpfert (Wyss, S. 430). Für ein sensibili- Nachlese seiner älteren Bürgertum- und Fa-
siertes, d. h. ein betroffenes Publikum war der schismus-Kritik bewerkstelligt« (S. 94). Unter
Doppelsinn vieler Motive durchaus erkennbar. Hinweis auf die Tui-Funktion, die auch den
Der Einwand des DDR-Kritikers Günther Intellektuellen in der DDR abverlangt wurde,
Cwojdrak lautete denn auch: Es sei der Fabel sah Ulrich Klingmann dagegen den aktuellen
nicht ablesbar, »daß es nur um das Denken Aspekt gerade darin, dass das Phänomen des
geht, das auf seinen Warenwert reduziert ist« Tuismus in Turandot über ein systemgebunde-
(Cwojdrak, S. 237). B.s Parabelmaterial sei nes Verständnis hinausgehe (Klingmann,
kompliziert und vielfältig, betonte auch Man- S. 152 f.).
fred Nössig; für eine Inszenierung sei es Ilja Fradkin hatte 1974 auf die beginnende
schwer, »das alles (und richtig) assoziierbar zu »Kritik des Personenkults« in den 50er-Jahren
machen« (Nössig, S. 4). als Entstehungszusammenhang der Komödie
Das Stück, das sich bei aller volkstheater- hingewiesen. B., der in diesen Prozess der
haften Simplizität und Plakativität der Spiel- Umwertung aller Werte einbezogen war, habe
vorgänge im Neben- und Ineinander von Fa- noch nicht das Gefühl letzter Klarheit gehabt,
schismusparabel, DDR-Kritik und utopischer weshalb Turandot unvollendet geblieben sei
Perspektive doch als vielschichtig und an- (Fradkin, S. 300). Werner Mittenzwei hätte
spruchsvoll und als Herausforderung für jede eine auf die »Rolle des Intellektuellen im kapi-
szenische Vermittlung erweist, wurde in den talistischen Staat« (S. 545) begrenzte Satire
folgenden Jahren u. a. in Köln (1971), Frank- lieber gesehen. B.s weiterführende Einsichten
furt a. M. (1972), Paris (1973), Tübingen und Differenzierungen, auch die über die Ge-
(1975) und Wien (1977) aufgeführt, 1981 er- stalt des Sen vermittelte positive Sicht der In-
neut am Berliner Ensemble. 1975 stellte Jür- tellektuellen sowie das Kai Ho-Geschehen,
gen Flimm für das ZDF eine Fernseh-Fassung hätten »dem Tui-Komplex kein neues Profil«
her (vgl. Hecht, S. 168–175). gegeben, sondern »nur die Schwierigkeiten
Eine überwiegend kritische Aufnahme fand des Stückes« erhöht (S. 545 f.). So sei »ein dra-
die Komödie zunächst auch in der wissen- matisches Puzzle« entstanden (S. 547); die Fa-
schaftlichen Diskussion. B. habe für seine bel habe »keine deutlichen Konturen« und er-
Intellektuellen-Satire keine rechte Fabel ge- gebe »kein aussagekräftiges Bild« (S. 548).
funden, meinte Rischbieter; die Umfunktio- Gunnar Müller-Waldeck sah die Schwäche der
nierung des Turandot-Märchens trage nicht Turandot in der »Zunahme eindeutiger, plaka-
weit (Rischbieter 1966, S. 65). Da das Vorwort tiver und agitatorischer Züge«, es fehle dem
zu »Turandot« nicht bekannt war, wurde der Stück der »Strahlungsreichtum« früherer Para-
Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 als beln (Müller-Waldeck 1980, S. 426).
Kontext und die von B. betonte Fortexistenz Zu einem kritischen Fazit gelangte auch
des Tuismus in der DDR zunächst vielfach un- Klaus-Detlef Müller, der zu Recht davor
terschätzt. Von einer Posse, die nur die »histo- warnte, B.s Tui-Kritik als Anti-Intellektualis-
risch beglaubigte Nichtigkeit« ihres Gegen- mus misszuverstehen (Müller, S. 391). Er wies
stands verspotte, sprach Gerhart Pickerodt u. a. auf die auffallende Häufung von Selbst-
(Pickerodt, S. 105). Ähnlich hatte Franz Nor- zitaten hin, die »das Stück als Spätwerk kenn-
bert Mennemeier geurteilt: Das Stück übe zeichnen« (S. 390). Sein Einwand: Im mär-
»weniger die Kunst ungemütlicher Satire als chenhaften Schluss werde »der historische
612 Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher

Kontext des ursprünglichen Tui-Stoffes ver- waren Sie Mitglied? Verhörprotokolle über uname-
lassen, an die Stelle der verfremdenden ge- rikanische Aktivitäten 1947–1956. Reinbek bei Ham-
burg 1979. – Klingmann, Ulrich: Die Realität gegen
schichtlichen Analyse tritt die gesellschaft-
die Ideologien führen: Brechts Tui-Kritik heute. In:
liche Programmatik«; damit gewinne der Acta Germanica 12 (1980), S. 143–162. – Lorenzo:
Tui-Stoff eine fragwürdige Dimension: »die »Turandot« von Bert Brecht. In: Schweizer Monats-
implizite Enthistorisierung entschärft ihn hefte 48 (1968/69), S. 1233–1236. – Lucchesi/
zur Unverbindlichkeit eines Wunschbildes« Shull. – Mayer, Hans: Brecht in der Geschichte.
(S. 389; vgl. Völker, S. 293). Zu einer anderen Drei Versuche. Frankfurt a. M. 1971. – Mennemeier,
Franz Norbert: Modernes deutsches Drama. Kriti-
Einschätzung gelangte Raimund Gerz, der die
ken und Charakteristiken. Bd. 2: 1933 bis zur Gegen-
Textgestalt der Komödie und ihre Geschichte wart. München 1975. – Michaelis, Rolf: Kleine Bröt-
anhand des gesamten überlieferten Materials chen zu Brechts Geburt. Zum erstenmal in der DDR:
rekonstruierte und u. a. nachwies, dass zahl- »Turandot« im Berliner Ensemble. In: Frankfurter
reiche Motive in B.s Erfahrungen mit dem Allgemeine Zeitung, 14. 2. 1973. – Mittenzwei, Bd.
neuen deutschen Staat begründet sind (Gerz, 2. – Müller, Klaus-Detlef: Brecht-Kommentar zur
erzählenden Prosa. München 1980. – Müller-Wal-
S. 173 f.). B. ging es nicht nur um die Genese
deck, Gunnar: Denn wer was weiß, der macht auch
des Faschismus und das historische Versagen seinen Schnitt. Zu Brechts »Turandot oder Der Kon-
der Intelligenz, sondern zugleich um den Auf- greß der Weißwäscher«. In: Zs. für Germanistik 1
weis faschistischer und autoritärer Restbe- (1980), H. 4, S. 417–429. – Ders.: Vom Tui-Roman zu
stände in der Herrschaftspraxis der neuen Turandot. Berlin 1981. – Nössig, Manfred: Die Beob-
Machthaber (S. 246). Die Bewegung des Kai achtungen des Bauern Sen. Brechts »Turandot oder
Der Kongreß der Weißwäscher« am Berliner Ensem-
Ho und der Bildungsgang des Sen symbolisier-
ble. In: Theater der Zeit (1973), H. 5, S. 4–6. –
ten Hoffnungen, die B., wenn auch in ver- Nolte, Jost: Faschingsscherz mit dem Entsetzen. Ur-
zerrter Form, im Arbeiteraufstand angelegt aufführung nach fünfzehn Jahren: Brechts »Turan-
sah. Als »Idealtypus einer revolutionären Ent- dot« in der Regie von Benno Besson. In: Die Welt
wicklung« bekomme die Handlung dadurch (Hamburg), 7. 2. 1969. – Pickerodt, Gerhart: Die
»den Charakter eines Gegenentwurfs zur aktu- Lehren der Tuis. In: Haug, S. 90–110. – Rischbieter,
Henning: Bertolt Brecht. Bd. 2. Velber bei Hannover
ellen politischen Situation im Jahr 1953«
1966. – Ders.: Brecht, Besson und die Tuis. Über die
(S. 246). »Turandot«-Uraufführung in Zürich. In: Theater
heute (1969), H. 3, S. 34 f. – Schulz, Gudrun: Die
Schillerbearbeitungen Bertolt Brechts. Tübingen
1972. – Schumacher, Ernst: Brecht-Kritiken. Berlin
Literatur: 1977. – Seyfahrth, Ingrid: Vom Mißbrauch des Intel-
Benjamin. – Besson, Benno: Jahre mit Brecht. Hg. v. lekts. Uraufführung von Brechts »Turandot oder Der
Christa Neubert-Herwig. Willisau 1990. – Canaris, Kongreß der Weißwäscher« am Zürcher Schauspiel-
Volker: Benno Besson probiert »Turandot«. In: Thea- haus. In: Theater der Zeit (1969), H. 5, S. 28–31. –
ter heute (1969), H. 3, S. 26 f. – Cwojdrak, Günther: Thiele, Dieter: Bertolt Brecht. Selbstverständnis,
Turandot und Fragen über Brecht. In: Die Weltbühne Tui-Kritik und politische Ästhetik. Frankfurt a. M.,
N. F. 28 (1973), H. 8, S. 236–239. – Fradkin, Ilja: Bern 1981. – V., I.: »Turandot oder Der Kongreß der
Bertolt Brecht. Weg und Methode. Leipzig 1974. – Weißwäscher«. Uraufführung im Schauspielhaus. In:
Frisch, Max: Tagebuch 1966–1971. Frankfurt a. M. Neue Zürcher Zeitung, Abendausgabe, 6. 2. 1969. –
1972. – Gerz, Raimund: Bertolt Brecht und der Fa- Völker, Klaus: Die Turandot-Story. Warum Brechts
schismus. Bonn 1983. – Haug, Wolfgang Fritz (Hg.): Stück geschrieben wurde. In: Theater heute (1969),
Brechts Tui-Kritik. Aufsätze, Rezensionen, Ge- H. 3, S. 22–26. – Völker. – Wyss.
schichten von Urs Bircher [u. a.]. Karlsruhe 1976. –
Hecht, Werner (Hg.): alles was Brecht ist … Fakten – Klaus-Dieter Krabiel
Kommentare – Meinungen – Bilder. Frankfurt a. M.
1997. – Holz, Hans Heinz: Ein Modellfall des Klas-
senkampfes. Brechts »Turandot« in Zürich uraufge-
führt. In: Frankfurter Rundschau, 7. 2. 1969. – Kara-
sek, Hellmuth: Besson macht’s möglich. In Zürich
wurde ein nachgelassener Brecht uraufgeführt. In:
Die Zeit, 14. 2. 1969. – Keil, Hartmut: Sind oder
613

Juan gilt aber Molières eigene Komödie Le


Don Juan von Molière Tartuffe (1664), in der in zeitkritischer Akzen-
tuierung das Laster der Heuchelei gegeißelt
wird. Auch Dom Juan tritt als Heuchler in
Der Stoff und seine Bearbeitung / Erscheinung. Dieser neue Zug in der Ge-
Von Tirso zu Molière schichte der Gestaltungen des Stoffs ist als ein
satirischer Seitenhieb auf die Molière feind-
Der literarische Stoff um die Gestalt des Aben- lichen Adelscliquen am Hof Ludwigs XIV. zu
teurers, Verführers und Religionsspötters Don werten.
Juan erfuhr seine erste dramatische Gestal- Dom Juan war lange Zeit ein verkanntes
tung in Tirso de Molinas 1616 entstandenem Meisterwerk Molières, das bei der Urauffüh-
und 1623 aufgeführtem Drama El burlador de rung einen Skandal auslöste. Erst im 19. Jh.
Sevilla y convidado de piedra (dt.: Der Ver- erreichte es in Frankreich in der von Thomas
führer von Sevilla und der steinerne Gast). Corneille überarbeiteten und gemilderten Fas-
Tirsos Dramatisierung zielte auf den religiö- sung die Bühne. In Deutschland war es nahezu
sen Beispielcharakter der Fabel, die mit der unbekannt; jedenfalls ist vor Benno Bessons
Höllenfahrt Don Juans veranschaulicht, dass Inszenierung (1952) keine Aufführung nachge-
die hybride Herausforderung Gottes unwei- wiesen. Das vor allem gab den Ausschlag für
gerlich das Strafgericht des Himmels nach sich die Wahl dieser Komödie für eine Molière-
zieht. Bis zu Molières Dom Juan (1665) blieb Inszenierung in Rostock, zu der 1951 B.s Mit-
diese Tendenz den späteren spanischen Bear- arbeiter Besson als Gastregisseur eingeladen
beitungen erhalten, die von Tirso eine Mi- wurde. Der Regisseur, Dramaturg und Schau-
schung ernster und heiterer, ›realer‹ und über- spieler aus der französischen Schweiz war mit
natürlicher Handlungselemente übernahmen der französischen Aufführungstradition Mo-
und in der Darstellung einer individuellen Fi- lières vertraut und konnte die Vorbehalte ein-
gur zugleich allgemein gültige menschliche schätzen, die eine Bearbeitung des Bühnen-
Züge gestalteten. Die italienischen und fran- klassikers in Frankreich illusorisch erscheinen
zösischen Dramatisierungen vor Molière über- ließen. Dies war in Deutschland anders, wo
trieben die auch bei Tirso vorhandenen ko- die Aufführung eines fremdsprachigen Büh-
mischen Elemente. In den gleichnamigen nenwerks bereits den Eingriff des Übersetzers
Komödien der Italiener Giatino Andrea Ci- in die Textgestalt voraussetzte. Besson ent-
cognini und Onovio Giliberti Il convitato di schied sich daher gegen den Vorschlag einer
pietra (1650 bzw. 1652) rückte die Dienerge- Inszenierung des Geizigen, an dem seit Goe-
stalt in den Mittelpunkt, das Strafgericht thes eigenwilliger Auslegung des als »im ho-
wurde als Theatercoup inszeniert. Die eben- hen Sinne tragisch« (Eckermann, S. 137) ver-
falls gleich lautenden Bearbeitungen der Fran- standenen familiären Konflikts eine diesem
zosen Dorimond (d. i. Nicolas Drouin; vgl. Urteil verpflichtete Deutungs- und Inszenie-
Hösle 1987, S. 380) und Villiers (d. i. Claude rungstradition ansetzte. Er schlug stattdessen
Deschamps; vgl. S. 397) Le festin de Pierre ou den Dom Juan vor, weil ihn die Möglichkeit
le fils criminel (1658 und 1659 in Lyon und reizte, das Bühnenwerk Molières nach den Be-
Paris aufgeführt) überzeichneten die Gestalt arbeitungsprinzipien B.s und unter den gege-
Don Juans ins Negative (vgl. Gnüg, S. 72). benen gesellschaftspolitischen Voraussetzun-
Molières Dramatisierung des Don Juan- gen »umzumodeln« (Besson o. J., S. 18, S. 119).
Stoffs setzte die Kenntnis je einer der italieni- Dieser Begriff war Programm. Er vertrat den
schen und spanischen Bearbeitungen voraus. Anspruch B.s und seiner Mitarbeiter, allen
Sie orientierte sich zudem an Pierre Corneilles voran Elisabeth Hauptmanns, einerseits die
Komödie Le menteur (1642). Ob Molière den Tradition aktualisierender Klassiker-Inszenie-
Burlador Tirsos kannte, ist noch immer um- rungen für die deutsche Bühne fortzusetzen,
stritten. Als wichtigste Vorlage für den Dom die im 20. Jh. im Hinblick auf Molière durch
614 Don Juan von Molière

die Bearbeitungen von Der Bürger als Edel- ›Einfälle‹, die für die Bearbeitung nötig wur-
mann durch Hugo von Hofmannsthal und von den, kamen von uns dreien. […] Selbstver-
Der Geizige durch Carl Sternheim u. a. für Max ständlich betrafen die Vorschläge von Besson
Reinhardts Deutsches Theater vorgenommen und mir auch Sprachliches. Und ebenso selbst-
und von der zeitgenössischen Kritik mit dem verständlich wurde alles mit Brecht zusam-
Wortspiel eines »demolierten Molière« (Mu- men, unter seiner Leitung durchgearbeitet«
sil, S. 53) quittiert worden waren. B. war diese (Hauptmann, S. 42; vgl. Kebir, S. 207, S. 236).
Formel offensichtlich bekannt: »Mit dem Mo- Bessons Bearbeitung des Textes sei »zunächst
lière wurde die bürgerliche deutsche Bühne vollkommen ohne Wissen von B. und ohne
fertig, ohne die Texte zu demolieren, sie sein Zutun« (Besson o. J., S. 18) erfolgt. Erst
kriegte ihn unter, indem sie ihn ›tiefer auf- unmittelbar vor der Premiere am 25. 5. 1952
faßte‹, ›vermenschlichte‹, ›dämonisierte‹.« habe B. sich in den Bearbeitungsprozess einge-
(GBA 24, S. 414) Die vermeintlich ›im Geist schaltet und »in Absprache mit Besson« (GBA
Molières‹ verfahrenden Bearbeitungstenden- 9, S. 417) Änderungen vorgenommen. Auch
zen des bürgerlichen Theaters bezweckten bei den letzten Proben im Volkstheater sei B.
eine Restitution der höfisch-barocken Auffüh- vor Ort gewesen. Bessons Bericht aus dem
rungstradition (comédie-ballet). In zeitkriti- Jahr 1952 (Besson o. J., S. 81–86), dessen Ent-
schen Inszenierungen wurde zudem die Satire stehungsdatum möglicherweise nicht gesi-
von den Außenseitern der Gesellschaft auf chert ist, führt aus: »Die Bearbeitung entstand
diese selbst umgebogen. Von der kontrafakti- in Zusammenarbeit mit Brecht und Elisabeth
schen Ausrichtung der Satire auf die gesell- Hauptmann« (S. 84). Im Programmheft von
schaftlichen Nivellierungstendenzen und der 1952 werden Besson und Hauptmann als Über-
damit verbundenen Anerkennung der Ansprü- setzer und Autoren einiger »Umstellungen und
che des Individuums unterschieden sich die sinngemäßen Weiterführungen« genannt
Prinzipien einer marxistischen Bearbeitungs- (S. 82). Für die Übersetzung und Bearbeitung
tendenz diametral. Deren Standpunkt galt wurde ein Exemplar von Eugen Neresheimers
dem ›Helden‹ nur als einer im negativen Sinn Übersetzung Don Juan oder Der steinerne Gast
exemplarischen Figur, insofern er als Expo- (München 1911) aus B.s Besitz verwendet, das
nent seiner Klasse aufgefasst, sein Verhalten zahlreiche Änderungsvorschläge Hauptmanns
als parasitär dargestellt und durchschaut wer- aufweist. Die von Neresheimer vorgenomme-
den kann. nen Übersetzungen dialektaler Passagen der
Figuren aus dem Volk ins Plattdeutsche sind in
der Bearbeitung des Berliner Ensembles teil-
weise erhalten.
Entstehung, Text B.s Anteil an der Rostocker Inszenierung
stammt aus einer späten Phase ihrer Entste-
hung. Er ist aus einem 1952 entstandenen Ty-
Die Entstehungsgeschichte der Bearbeitung poskript ersichtlich, das Korrekturen und Än-
ist, trotz widersprüchlicher Aussagen der an derungsvorschläge von seiner Hand enthält.
ihr Beteiligten, weitgehend geklärt. Sie gilt als Die Szene 7 des zweiten Aktes, der Monolog
eine kollektive Leistung der B.-Mitarbeiter, des Landarztes Marphurius Über die große
vor allem Hauptmanns, die an der Bearbeitung Zeit der Duelle, stammt danach von B.
von Beginn an beteiligt gewesen war: »Brecht, Auf Grund der erfolgreichen Aufführung des
immer für Kollektivarbeit, billigte […] unse- Don Juan in Rostock wurde der Text in noch-
ren Plan, Don Juan für unser Theater zu bear- mals überarbeiteter Form der Inszenierung
beiten und zunächst in Rostock aufzuführen. des Berliner Ensembles zugrundegelegt. Die
Bei dieser Bearbeitung war seine Hilfe ganz Premiere fand am 19. 3. 1954 im neu eröff-
entscheidend […]. Die verschiedenen neuen neten Haus aus Anlass der Übernahme einer
Figuren und neuen Szenen, überhaupt die eigenen Spielstätte für das Ensemble statt. Im
Entstehung, Text 615

Programmheft der Spielzeit 1953/54 sind »Eli- schläge sein. Dass selbst noch zu dem Zeit-
sabeth Hauptmann und das BE« als Urheber punkt der Probenarbeit an der Don Juan-In-
für die Bearbeitung und den Text genannt, szenierung am Berliner Ensemble Missver-
Besson und B. dagegen nicht. Die Rolle des ständnisse oder kontroverse Auffassungen
Don Juan spielte Erwin Geschonneck, die Sga- über die ideologische Progressivität der Figur
narelles, wie in Rostock, Norbert Christian. bestanden, belegen die Ausführungen des Pro-
Regie führte erneut Besson, die Ausstattung tokolls einer Aussprache über den Don Juan
besorgte wieder Hainer Hill (Faksimiles in: vom 23. 9. 1953 (vgl. GBA 9, S. 419).
Besson o. J., S. 110–116). Im Berliner Pro- Die Gründe, weshalb B. sich nach anfäng-
grammheft ist ein mit »B-n« (für: Besson) ge- licher Zurückhaltung zu einem späten Zeit-
kennzeichneter kurzer Beitrag, Notizen zum punkt mit Änderungs- und Ergänzungsvor-
Stück (S. 109), abgedruckt, der in nuce die schlägen in den Bearbeitungsprozess für die
Argumente der auf die Rostocker und Berliner Rostocker Inszenierung einschaltete und kurz
Inszenierungen bezogenen Ausführungen Bes- vor der Premiere mit drei Mitarbeitern, Claus
sons enthält (S. 81–86). In diesem populär ge- Hubalek, Peter Palitzsch und Käthe Rülicke,
haltenen Text wurde gegenüber dem gängigen aus Berlin anreiste, um die Probenarbeiten zu
Missverständnis des Helden als einer tragi- unterstützen, liegen vermutlich darin, dass die
schen Figur plakativ der »komische Don Juan« satirische Zeichnung des parasitären Charak-
herausgestellt unter Hinweis auf die Beset- ters für B.s Geschmack nicht scharf und ein-
zung der Titelrolle mit dem Komiker der Mo- deutig genug erfolgt war. Zwar stand die so-
lière-Truppe La Grange. Zwei zentrale Ge- zialkritische Ausrichtung der Bearbeitung
sichtspunkte der Inszenierung werden kurz nicht in Frage – »Der Fall Don Juan ist ein
abgehandelt: 1. Der ›Sammeltrieb‹ Don Juans sozialer und kein privater, pathologischer
unter dem Aspekt eines »Alexanders der oder […] psychologischer Fall« (Besson o. J.,
Liebe« (S. 115), 2. Don Juans vermeintliche S. 242) –, aber in der Einschätzung der intel-
Progressivität unter der Fragestellung: »Don lektuellen Fähigkeiten, der ideologischen Pro-
Juan – ein Atheist?« (Ebd.) Das Happy Ending gressivität der Figur und dem philosophischen
wird mit der Unfähigkeit der Klasse begrün- Charakter ihres Materialismus, nahm Besson
det, den Abtrünnigen und Störenfried zur Ver- eine positive Bewertung vor, die B. zweifellos
antwortung zu ziehen: »um der Moral Genüge nicht teilte (vgl. S. 241). Bessons Einschätzung
zu tun, macht sich der Komtur auf die Socken« wurde noch anlässlich der Aussprache über die
(ebd.). Mit diesen Hinweisen sind die Pro- Bettlerszene in den späteren Diskussionen mit
bleme angesprochen, die sich im Blick auf die den Mitgliedern des Berliner Ensembles of-
wünschbare Publikumsreaktion im Prozess fensichtlich geteilt. Auf die Frage Bessons »Ist
der Bearbeitung und der Proben herausgestellt Don Juan ein Atheist? Was spricht dafür?« ant-
haben: die Auseinandersetzung mit den in den wortete Geschonneck: »Man könnte sagen die
philosophischen, literarischen und theaterge- Bettler-Szene« (GBA 9, S. 421; vgl. GBA 24,
schichtlichen Traditionen herausgebildeten S. 416). Dieses Missverständnis Don Juans als
Deutungskonstanten des Don Juan als tragi- eines ›fortschrittlichen Typs‹ veranlasste of-
scher Gestalt. Ganz offensichtlich waren die fensichtlich B.s Kommentierung der Bettler-
Auffassungen über Don Juan im Kreis B.s und szene, die Konzeption des ›feigen Don Juan‹
seiner Mitarbeiter zunächst durchaus nicht ho- und die entsprechenden Ausführungen über
mogen, wie sich im Vergleich der Notate zu den Charakter des Don Juan’schen Atheismus,
Don Juan von B. (GBA 24, S. 412–414) und der dem B. den Begriff des Nihilismus substitu-
Ausführungen Bessons zeigt. Dessen ur- ierte: »Der Atheismus des großen Parasiten
sprüngliche Nähe zu Molière, welche die Auf- täuscht viele; sie fallen darauf herein, bewun-
fassung von der Figur in der Rostocker In- dern ihn, rühmen ihn als fortschrittlich. Aber
szenierung leiteten, könnten die Ursache für Molière war weit entfernt davon, seinen Don
B.s späte Änderungs- und Ergänzungsvor- Juan wegen seines Atheismus als einen vorur-
616 Don Juan von Molière

teilsfreien Mann zu empfehlen […]. Don Juan nen des Gegenspiels Hindernisse in den Weg
ist kein Atheist im fortschrittlichen Sinn.« gelegt werden, die seine Absichten durchkreu-
(GBA 24, S. 413) zen: das plötzliche Erscheinen der Gattin, der
Schiffbruch bei der inszenierten Entführung,
die Auseinandersetzungen mit dem Neben-
buhler aus dem Volk und den adeligen Verfol-
Molière / »Der Glanz des Parasiten« gern, der Auftritt des Vaters und des Gläu-
bigers, schließlich die Begegnung mit der
Statue. Die Absichten und Handlungen des
Molières »grand seigneur méchant homme« Verführers brechen sich an ständig neuen
(Molière 1962, S. 717) ist ein Egozentriker, der Widerständen, die seinen Spielraum ein-
die Forderungen weltlicher und religiöser Au- schränken. Aus der Störung des zielgerich-
toritäten missachtet, mit den Normen der teten Handelns erwächst eine Fülle ko-
Standesethik nach eigenem Gutdünken und misch-situativer Effekte, die durch diskursive
nach Lage seiner egoistischen Bedürfnisse Reflexion und komische Sprachspiele gestei-
verfährt und sich legitimen Ansprüchen und gert werden.
Erwartungen (eheliche Treue, Gehorsam, Re- Mit der Thematisierung der Verstellung und
spektierung des Sakraments der Ehe, Aner- Heuchelei, dem »vice à la mode« (Molière
kennung materieller Ansprüche) entzieht. Die 1962, S. 771 f.), erfüllt die Charakterkomödie
Figur ist eine Gestalt des Übergangs, an der auch Kriterien und Funktionen der Satire. Sie
eine Standesethik und ein Standesverhalten geht in der satirischen Wirkungsintention je-
exemplarisch dargestellt werden, die in der doch nicht restlos auf, zumal der spektakuläre
Perspektive des modernen Staatsabsolutismus Schluss, der mit dem Höllensturz Don Juans
bereits anachronistische Züge neben modern dem ›mythischen Erbe‹ aus der literarischen
angepassten Verhaltensweisen zeigen. Der Tradition verpflichtet bleibt, bei Molière als
durch seinen Diener als Bösewicht charakte- Zitat gekennzeichnet ist und dadurch ironi-
risierte Held tritt als widerspruchsvoller Cha- siert wird. Die als gemischter Charakter kon-
rakter in Erscheinung. Er maskiert seine Über- zipierte Figur wahrt die Aura des Helden
zeugungen, bedient sich der Verstellung und durch die Faszinationskraft des Bösewichts.
Heuchelei zu ungetrübtem und ungestörtem Don Juan ist spielbeherrschend und bestimmt
erotischen Genuss und hält sich auf Kosten im Sinne einer klassischen Charakterkomödie
Dritter schadlos. Gleichwohl fasziniert die Fi- maßgeblich die Handlung (vgl. Giese, S. 127).
gur durch die Eleganz ihres Auftretens, ihren Diese Zentrierung des Geschehens auf den Ti-
rhetorischen Höhenflug, durch die Kunst der telhelden ist der Bearbeitung vorgegeben.
Schmeichelei und die witzige Replik. Don Mittels der Perspektivierung der Vorgänge
Juan beeindruckt außerdem durch persönliche lässt sich aber eine Ebene des Sub-Textes rea-
Tapferkeit. Zwar erscheinen die positiven Ei- lisieren, die Abweichungen von der ursprüng-
genschaften durch rhetorische Übertreibung lichen Bewertung des Figurenverhaltens zu-
und theatralische Selbstinszenierung in komi- lässt. Die Ambiguität der Gestaltung Molières
scher Beleuchtung, dennoch imponiert der erschwert eine eindeutige Bewertung seines
Held durch seine Vitalität, die sich in der Fä- Standpunkts. Im Sinne Molières widerspricht
higkeit zu entschlossenem Handeln bewährt. B. daher der mythischen und tragischen Über-
Die Figur ist bei Molière gebrochen. Der höhung der Figur; gegen Molière lässt er an
stolze Freigeist, der religiöse und moralische ihr keinerlei progressive Züge gelten: »Sein
Normen verletzt, wird im Verlauf der Hand- Unglaube ist nicht kämpferisch, indem er
lung nur dadurch und scheinbar ohne zwin- menschliche Aktionen fordert. Er ist einfach
genden Grund zum Heuchler, dass seinem ein Mangel an Glauben. Da ist nicht eine an-
Wunsch nach spontaner Befriedigung seiner dere Überzeugung, sondern keine Überzeu-
Genusssucht durch unerwartete Interventio- gung. […] Wir befinden uns nicht auf der Seite
Molière / »Der Glanz des Parasiten« 617

Molières. Dieser votiert für Don Juan« (GBA Befriedigung seiner Genusssucht schafft. Don
24, S. 413 f.). Juans Begabung, alle außer seinen Diener und
Vertrauten Sganarelle zu täuschen, schlägt
aber als Verblendung auf die Figur zurück und
besiegelt ihren Untergang. Die Hybris, die
Don Juan in Rostock / sich aus den unerschöpflichen vitalen Ener-
»Das ›Donjuaneske‹ an Don Juan gien und deren rhetorischen Sublimationsfor-
ist angenehm« men speist, ist von der Gestalt nicht zu tren-
nen. Angesichts der »sterilen Allmacht des
Schmarotzers« (Besson o. J., S. 231), seiner
Unter dem Begriff des »Donjuanesken« (Bes- durch nichts gehemmten Asozialität stellt sich
son o. J., S. 230) versteht Besson zum Zeit- für Besson mit der Frage nach dem klassen-
punkt der Rostocker Inszenierung das ›Wesen‹ spezifischen Standpunkt zugleich die Frage
der Figur, die stete und gleich bleibende Fä- nach der Möglichkeit, die dargestellten Kon-
higkeit und Bereitschaft, Sexualität auszule- flikte im Spielraum der Komödie aufzulösen,
ben: »Diese schnelle Erektionsfähigkeit ist das heißt eine »interessante und lustige Kritik
gesund, produktiv, erfreulich« (ebd.). In Ver- des parasitären Eroberungsdranges« (S. 84) zu
bindung mit der moralischen Skrupellosigkeit leisten, ohne die Faszinationskraft, die von
und Egozentrik, mit der die Figur als ein Don Juans Vitalität ausgeht, zu schwächen und
»Alexander im Feld der Liebe« Frauen aus al- damit die Figur zu beschädigen.
len Ständen erobert, gibt sich die gesellschaft- Die von B. anerkannte Akzentuierung der
liche Dimension ihres Verhaltens als offene sozialkritischen Aussage des Stücks in Bessons
oder versteckte Aggressivität zu erkennen. Inszenierung bewirkt mit der Wiederherstel-
Molières Don Juan handelt rücksichtslos. Er lung des Komödiencharakters eine konse-
legt vor allem im Spiel mit den weiblichen quente Realisierung der Personalsatire, die bei
Opfern eine Strategie der Verführung an den Molière von den komischen Aspekten des Dra-
Tag, die alle Register rhetorischer Virtuosität mas verdeckt zu sein schien; komische Züge
zieht. Anders als in anderen Charakterkomö- traten nicht ausschließlich an der Figur des
dien Molières ist hier jedoch der Standeskon- Helden in Erscheinung. Zwar leistete die
flikt zwischen ›noblesse‹ und ›bourgeoisie‹ Charakterkomödie Molières der Gesell-
nicht handlungsbestimmend. Don Juans Aso- schaftskomödie des Berliner Ensembles da-
zialität trifft alle. Sie manifestiert sich in den durch Vorschub, dass sie das in sich hetero-
Auseinandersetzungen mit den Repräsentan- gene Standesverhalten der Aristokraten und
ten des eigenen Standes, den Familienange- vor allem den Ehrenkodex der Spanier kritisch
hörigen und den Brüdern seiner verlassenen beleuchtete, aber die Normen der ›honnêteté‹
Frau Elvire, den Untergebenen und den Ange- konstituierten gleichwohl den verbindlichen
hörigen des 3. und 4. Standes. Molières »grand Verhaltenskodex des Stücks. Die Bearbeitung
seigneur méchant homme« (Molière 1962, durchkreuzte dagegen vor allem durch B.s Än-
S. 717), dessen Zügellosigkeit die ins Zeremo- derungsvorschläge die mit dieser Normativität
niell eingebundenen und durch Etikette ange- ursprünglich verbundene Wirkungsabsicht.
passten und entmachteten Standesgenossen Sie funktionierte den Text zu einem Gegenent-
zwar provoziert, aber insgeheim fasziniert wurf um. Dies geschah durch die Veränderung
(vgl. Giese, S. 132, S. 141), die unerfahrenen der Titelfigur. Der negative Held und ge-
Opfer blendet und die durch Schaden klug mischte Charakter in der blendenden und ge-
gewordenen erneut hinters Licht führt, tritt fährlichen Erscheinung eines Libertin, wurde
gegenüber den Frauen aller Stände als Drauf- zu der kläglichen, aber gleichwohl bösartigen
gänger in Erscheinung. Gefährlich wird Don und sozial schädlichen Figur des Anti-Helden
Juan aber erst durch die Fähigkeit zur Heu- gebrochen. Aus dem Atheisten, der weltliche
chelei, mit Hilfe derer er sich Raum für die und kirchliche Autoritäten herausfordert, aber
618 Don Juan von Molière

auch unter Einsatz seines Lebens dem von Das ›gesellschaftlich Komische‹ /
Räubern bedrohten Standesgefährten zu Hilfe
eilt und sich zum Kampf stellt, wurde der Nihi-
Bessons Inszenierung in Berlin
list und Feigling, der überhaupt nicht kämpft.
Die Komik der Unzulänglichkeit traf die Figur »In der Tat ist die Inszenierung des ›Don Juan‹
damit im Inbegriff ihrer Faszinationskraft, durch Benno Besson in zweifacher Hinsicht
nämlich in ihrer Vitalität und Handlungs- von Bedeutung. Er stellte die Komik der Don
mächtigkeit. Der Verführer trat in der Bearbei- Juan-Figur wieder her […], indem er die so-
tung als »sexuelle Großmacht« (GBA 24, zialkritische Aussage des Stückes wiederher-
S. 413) auf, die durch ihren Habitus (Kostüm), stellte.« (GBA 24, S. 415 f.) Bessons Bearbei-
ihren gesellschaftlichen Status (Standesprivi- tung stellte sich für B. und das Berliner
legien, Reichtum, Kredit), durch Fama und Ensemble unter dem doppelten Blickpunkt
nicht durch ihre Aura oder persönliche Initia- einer kritischen Revision der Theatertradition
tive ihre Ziele verwirklicht. (Inszenierungsgeschichte) und der Textbedeu-
Die Zerstörung der vitalen Energien der Fi- tung auf das Original ein und orientierte sich
gur brach das Interesse des Publikums am Hel- dabei an den Vorgaben, die jeder Bearbeitung
den und lenkte es auf die gesellschaftlichen vorausgingen: Rekonstruktion der Epoche und
Ressourcen um, aus denen der parasitäre Ty- ihrer gesellschaftlichen Antagonismen aus den
pus gespeist wurde. Durch ihre Passivität Dokumenten, Stellung des Autors in den Klas-
büßte die Figur die Faszinationskraft ein, die senkämpfen, Erwartungshaltung seiner Zeit-
sie bei Molière auch in ihrer Hybris noch be- genossen. Im Spektrum dieser Faktoren erhob
saß: Aus dem autonomen Helden entstand die die Bearbeitung die Textintention, die ur-
Marionette. Deren Habitus und Gestus sind sprüngliche Rezeption und die spezifischen
austauschbar, wie das von B. hinzugefügte Mo- Bedürfnisse »der Kinder eines wissenschaftli-
tiv der Kleidertauschs belegt, das bei Molière chen Zeitalters« (GBA 23, S. 70) zum Maßstab
nur angedeutet ist. Wenn Don Juan mit Sga- ihrer Vorgehensweise: »Die alten Werke haben
narelle die Rolle tauscht, um sich in Sicherheit ihre eigenen Werte, ihre eigene Differenziert-
zu bringen, so kommen als Substrat ihres Han- heit, ihre eigene Skala von Schönheiten und
delns Feigheit und Parasitentum zum Vor- Wahrheiten. Sie gilt es zu entdecken. […] Mo-
schein. Dahinter treten die Unterschiede des lières ›Don Juan‹ ist für uns in der älteren
Standes zurück. Die Differenz zwischen Herr Auffassung wertvoller als in der neueren
und Knecht ist durch Tarnung aufhebbar. Zwar (ebenfalls alten). Wir haben von der (Molière
befiehlt der Herr und der Knecht gehorcht, näheren) Satire mehr als von der halbtragi-
aber Identität wird durch die parasitäre Hand- schen Charakterstudie. Der Glanz des Parasi-
lungsweise der maskierten Träger und nicht ten interessiert uns weniger als das Parasitäre
durch die Person hergestellt. Anders etwa als seines Glanzes.« (GBA 24, S. 415)
in B.s Heiliger Johanna der Schlachthöfe, wo Bereits anlässlich seiner ersten Inszenie-
der in die Anonymität flüchtende Mauler an rung betonte Besson unter Berufung auf Mo-
seiner blutigen Visage, der Perversion der In- lière den Komödiencharakter des Stücks und
dividualität, kenntlich wird, wurde hier der bezog sich kritisch auf das herrschende Vorver-
Individualität das Kostüm als leere Hülle sub- ständnis Don Juans als einer tragischen Figur:
stituiert. »Don Juan in der Hölle, der Menschenfeind in
der Wüste galten als tragisch. Sollen sie es für
die Erbauer einer sozialistischen Gesellschaft
bleiben?« (Besson o. J., S. 109) Besson verwies
auf die Tradition der im 18. Jh. vorgenom-
menen Umdeutung der ursprünglichen Wir-
kungsabsicht, der Parteinahme für die Indivi-
duen, die sich von der Gesellschaft absondern.
Das ›gesellschaftlich Komische‹ / Bessons Inszenierung in Berlin 619

Er revidierte also das durch Rousseau und duellen Züge entkleidet und zum typischen
Goethe initiierte Fehlverständnis der Komö- Repräsentanten der parasitären Klasse. Das
dienfiguren von Molière, das den Erwartungen pompöse Erscheinungsbild der ›sexuellen
eines bürgerlichen Publikums korrespon- Großmacht‹ verwandelt Don Juan in eine In-
dierte. Gegen die Annahme eines Tragik-Ver- stitution, die ihrerseits repräsentiert werden
ständnisses und die fälschlich unterstellte kann. Er wird zu einer Spielfigur, bei der nur
Fortschrittlichkeit des vermeintlichen Atheis- die Pose zählt.
mus von Don Juan machte er die Sichtweise Bereits die Expositionsszene macht durch
Molières geltend, der vom Vernunftstand- textuelle Änderungen das veränderte Verhält-
punkt der Gesellschaft aus die Asozialität und nis deutlich, in dem der Herr und sein Diener
den Vulgäratheismus des Parasiten zusammen in ›stillschweigendem‹ Einverständnis aufein-
mit dem Aberglauben Sganarelles lächerlich ander bezogen sind: Bei Molière ist Sgana-
machte. B. unterstützte, wie seine Notate zei- relles Lob des Tabaks und seiner kommunika-
gen, diese Sichtweise. tionsstiftenden Eigenschaften auf die soziale
Die Rekonstruktion des Autor-Standpunkts Verbindlichkeit der Weltleute (›gens du
diente der Legitimation der Bearbeitung. Das monde‹) bezogen:
Publikum der DDR, »Erbauer einer sozialisti-
schen Gesellschaft« (Besson o. J., S. 109), Er ist die Passion der feinen Leute, und wer
überwand durch die produktive Aneignung der ohne Tabak lebt, ist nicht wert zu leben.
in der Bearbeitung vermittelten kritischen Nicht nur erfreut und reinigt er das mensch-
Perspektive zugleich die entpolitisierende liche Gehirn, er leitet auch die Seelen zur
Wirkung der bürgerlichen Molière-Rezeption. Tugend, und man lernt durch ihn ein vor-
B. ging in Theorie und Praxis noch einen nehmer Herr zu werden. Haben Sie nicht
Schritt darüber hinaus: in seiner Kommentie- auch schon beobachtet, mit welch liebens-
rung dadurch, dass er die scharfe satirische würdiger Miene man, seit er in Gebrauch
Zeichnung der Titelfigur betonte, und in sei- ist, sich mit aller Welt ihn teilt, mit welcher
nen textuellen Änderungen und Ergänzungen Begeisterung man ihn nach rechts und nach
dadurch, dass er den Spielraum des Helden links anbietet, wo man sich auch befinden
einschränkte und dessen Dominanz satirisch mag? Man wartet nicht erst, bis jemand
untergrub. Dadurch wurde auch in dieser Be- darum bittet, man kommt den Wünschen
arbeitung das Interesse von der Figur auf die der Leute zuvor! Wahrhaftig, der Tabak flößt
gesellschaftlichen Interaktionen gelenkt. allen, die sich seiner bedienen, Gefühle der
Ehre und der Tugend ein. (Molière 1959,
S. 431)

In der Bearbeitung ist bereits die Regiean-


Herr und Knecht / Exemplarische weisung aufschlussreich: Sie stellt den Diener
Szenenanalyse als Spitzbuben aus und betont die moralische
Zweideutigkeit, die der Figur durchgehend
anhaftet: »SGANARELLE fischt aus Don
Besson verlegte Molières Schauplatz von Sizi- Juans Gepäck eine Schnupftabakdose und be-
lien nach Versailles. In dieser exklusiven ba- trachtet sie.« (GBA 9, S. 201) Die entspre-
rocken Szenerie von Schloss und Park mit der chende Passage lautet hier:
verschwenderischen Prachtentfaltung reprä-
sentativer Öffentlichkeit seien die ›spezifi- Nichts geht über den Tabak. Er ist die Lei-
schen Züge‹ des parasitären Bewusstseins zu denschaft der Großen dieser Welt. Ah, sie
suchen, das »die Welt als dekorative Fisch- wählen ihre Leidenschaften mit Bedacht!
gründe der großen Herren« wahrnimmt, wie Wer heutzutage ohne Tabak lebt, lebt über-
B. ergänzte (GBA 24, S. 412). In dieser feu- haupt nicht. Nicht allein, daß er das Gehirn
dalen Umgebung wird die Figur ihrer indivi- reinigt und ergötzt. Er verschafft vor allem
620 Don Juan von Molière

jene himmlische Ruhe, ohne die ein Mann Art einer Registerarie: »Jedoch möchte ich dir
von Welt kein Mann von Welt sein kann. Nur vorsichtshalber mitteilen, daß mein Herr, Don
der Tabak ist es, der die Großen dieser Welt Juan, der größte Schuft ist, den die Erde je
instand setzt, die Leiden zu vergessen, be- getragen hat, ein Rasender, ein Teufel, ein
sonders die der anderen. Ein paar Bauern- Heide, der weder an den Himmel noch an die
höfe gehen einem in die Binsen? Eine Prise Hölle glaubt, der ein Leben führt wie ein wil-
Tabak, und alles sieht nicht halb so schlimm des Tier, wie ein epikureisches Schwein, ein
aus. Ein Bittsteller wird unangenehm, ein Sardanapal!« (S. 202)
Gläubiger zudringlich? Eine Prise Tabak, Die Charakteristik Don Juans im Szenen-
mein Guter, seien Sie Philosoph! (Ebd.) schluss durch den einfältigen, aber auch bau-
ernschlauen Diener ist bei Molière trotz aller
Ein Textvergleich zeigt dreierlei: Der Sprecher Rhetorik eine Verfluchung: »möge der Zorn
orientiert sich am Verhalten des Herrschafts- des Himmels ihn […] treffen« (Molière 1959,
standes, er legitimiert dessen Leidenschaften S. 433). Sie bedient sich starker affektiver Be-
aus einer Haltung ironischer Bewunderung griffe (Teufel, Hass, Abscheu), mit denen der
und moralischer Indifferenz – der Tugend- Sprecher die Zwangslage einer unfreiwilligen
Diskurs des Originals ist gestrichen –, die Knecht- und Augenzeugenschaft umschreibt.
durch das Lob der Ruhe, das dem Text des In der stark gekürzten und textlich veränder-
Originals hinzugefügt worden ist, unterstri- ten Passage der Bearbeitung ist die moralische
chen wird. Die Haltung der Ruhe (das stoische Entrüstung zusammen mit der komischen Ver-
Ideal der a-pathia) erscheint im Zerrbild so- zweiflung, mit welcher der Sprecher bei Mo-
zialer Gleichgültigkeit und egoistischer Teil- lière seinen Tod herbeisehnt, einer Geste ach-
nahmslosigkeit. Die Anspielung auf die Ma- selzuckender Indifferenz gewichen, der Zorn
xime 19 La Rochefoucaulds: »Nous avons tous des Himmels eine bloße Floskel, zumal auch
assez de force pour supporter les maux d’au- noch Entlastungsgründe zugunsten Don Juans
trui« (La Rochefoucauld, S. 409; dt.: wir haben angeführt werden: »er zieht die Weiber an wie
alle Kraft genug, die Leiden auszuhalten, die süßer Essig Fliegen. […] Aber was soll man
anderen widerfahren), die bei dem französi- tun? Nichts kann man tun. Der erzürnte Him-
schen Moralisten allerdings eine scharfe Ver- mel wird ihn eines Tages zerschmettern. […]
urteilung der Haltung stoischer Indifferenz Sganarelle zuckt die Achseln.« (GBA 9, S. 203)
bedeutet, ist hier noch gesteigert: Nicht nur Entsprechend dieser Erwartung wird später
erlaubt der Tabak-Genuss, sich vom Leidens- der Höllensturz Don Juans als komisches Tab-
druck, dem eigenen, besonders aber dem der leau inszeniert.
anderen, nicht affizieren zu lassen, er ist zu- In Verbindung mit der signifikanten Geste
gleich auch strategisch als Mittel der Be- hat Sganarelles Distanzierung von Don Juan
schwichtigung eingesetzt, um sich lästigen und die ausgesprochene Erwartung des Straf-
Verpflichtungen zu entziehen. Sganarelle gerichts den Charakter eines Lippenbekennt-
exemplifiziert seinen Diskurs durch die Geste nisses. Die Umarbeitung des vierten und
des Tabakangebots, die als Ablenkungsmanö- fünften Akts zu einem einzigen Aufzug, die
ver fungiert: »Nimm eine Prise, Freund Guz- Ergänzung des Texts um die drei ersten Szenen
man, bedien dich!« (GBA 9, S. 201) Die Komik mit der neu erfundenen Figur der Angelika,
der Szene beruht darauf, dass die generöse vor allem aber die ebenfalls neue Szene 2 mit
Geste den Spender nichts kostet. Wie die Re- dem Gläubiger Dimanche, den Sganarelle
gieanweisung zeigt, hat Sganarelle seinem nach dem Beispiel Don Juans verspottet, be-
Herrn den Tabak gestohlen. Entsprechend ist legen die Identität des Sozialverhaltens von
der Szenenschluss, in dem Molières Sganar- Herr und Knecht. Sganarelle ist nicht der Ge-
elle die Perfidie des ›grand seigneur méchant genspieler, das moralische Gewissen Don
homme‹ verurteilt, in der Bearbeitung die nur Juans, sondern seine Ergänzung. Dies macht
komische Rezitation eines Lasterkatalogs nach das Motiv des Kleidertauschs plausibel und
Herr und Knecht / Exemplarische Szenenanalyse 621

sinnvoll. Mit der Einführung von Figuren aus Die Bettlerszene (III,2)
dem Volk, vor allem mit der Erfindung der um
den Lohn geprellten Ruderer, die von Don
Juan für den Entführungscoup angeworben Die Widersprüchlichkeit der Einschätzung
und von Sganarelle in den neuen kämpferi- Molières und seiner Haltung zur Figur des
schen Gebrauchsformen des Ruders unterwie- Don Juan spiegelt sich nicht nur im Verhältnis
sen werden, bringt die Bearbeitung das ›plebe- der Stellungnahmen B.s zu denen Bessons und
jische Element‹ zur Geltung. Dadurch, dass anderer Mitarbeiter, sie ist auch in den Äuße-
sowohl die Ruderer als auch die Fischer über rungen B.s selbst belegt, auf die Peter Chris-
ein plebejisches Bewusstsein verfügen und tian Giese am ausführlichsten eingegangen ist.
ihre Interessen kämpferisch vertreten können, In jedem Fall verweist aber diese Unsicherheit
wird die problematische Konzeption eines in der Einschätzung der Stellung des Autors
›feigen‹ Don Juan auf der Handlungsebene zur Figur auf die Schwierigkeit, die insbeson-
motiviert. Die Delegierung des individuellen dere die Bettlerszene den Bearbeitern der Ko-
Handelns an andere Instanzen betont den mödie machte. In einer Kommentierung der
Spielcharakter der Bearbeitung, der durch die prekären, weil unverzichtbaren Szene erläu-
musikalischen Elemente noch unterstrichen terte Besson: »Sie auszulassen ist unmöglich.
wird. Sie ist so berühmt, daß man sich vor ihr nicht
Besson verwendete in Rostock »elf Musik- drücken kann. […] wie aber kann man sie
stücke, zehn Instrumentalsätze und eine Sere- spielen? Es darf folgendes nicht geschehen:
nade […] von Jean-Baptiste Lully« (GBA 9, Materialismus = Sybarismus. Der Wüstling
S. 424), die Hans-Joachim Marx bearbeitete; und Salon-Alexander darf nicht zum sozialen
bei der Inszenierung des Berliner Ensembles Aufklärer gemacht werden.« (Besson o. J.,
griff Besson jedoch wiederum auf Lullys Mu- S. 128)
sik zurück, »die eigens von Paul Dessau bear- Besson verwies in diesem Zusammenhang
beitet wurde« (Lucchesi/Shull, S. 943). Diese auf die Vorgehensweise Molières, der den wi-
musikalischen Elemente waren ursprünglich derspruchsvollen Charakter in antithetischen
Bestandteil der als Ballett-Komödien in der Szenenfolgen seiner charakterlichen Inkonsis-
exklusiven Sphäre des Versailler Hofes insze- tenz überführt. ›Von Molière lernen‹ bedeutet
nierten Dramen Molières, die auf dem bür- im Fall der Bearbeitung: »die Sache auf den
gerlichen Theater wegfielen. Bereits Max Kopf [zu] stellen: dem was für uns eine rich-
Reinhardt erneuerte die Tradition der comé- tige Handlungsweise ist, eine Schweinerei fol-
die-ballet und setzte dabei die Musik in illu- gen zu lassen […], die die vorige aufhebt und
sionsstiftender Funktion ein. In der Bearbei- sogar schädlich macht« (ebd.). Die Reflexion
tung wurde die entgegengesetzte Wirkung ist als Frage formuliert und durch das Konzept
angestrebt. Fritz Hennenberg führt aus, dass des ›feigen‹ Don Juan beantwortet. Don Juans
das »vielstrapazierte musikalische Ausdrucks- ›richtige‹, weil altruistische Handlungsweise
mittel«, das Hörnerhalali, in dem Augenblick zweckfreier Caritas ›aus Liebe zur Mensch-
in karrikierender Absicht ertönt, wenn die Ver- heit‹ wird dadurch entwertet und ihrer Phra-
fechter des point d’honneur auf der Bildfläche senhaftigkeit überführt. In der Folgeszene, in
erscheinen: »Der eitle Ehrenkodex […] soll welcher der Egoist den Diener in seinen Herr-
als albern erscheinen« (Hennenberg, S. 98). schaftskleidern ins Gefecht schickt, verfolgt er
die gewaltsamen Vorgänge aus der Distanz des
Unbeteiligten, kostet sie ästhetisch aus und
stellt seine parasitäre Grundhaltung dadurch
unter Beweis, dass er den Dank kassiert, den
der von den Ruderern überfallene Standes-
genosse seinem vermeintlichen Retter abstat-
tet. Die Folgeszene verfremdet also nachträg-
622 Don Juan von Molière

lich den zuvor gezeigten Vorgang, der damit für die deutsche Bühne« wiederhergestellt zu
als eine Geste der Eitelkeit entwertet wird, die haben, er beanstandete indessen das Figuren-
der Selbststilisierung des Egozentrikers gilt. konzept des Titelhelden: »In der Verkürzung
B., Initiator des Konzepts eines ›feigen‹ Don seiner Rolle gewann die Zeitkritik Molières
Juan, lobte Bessons Regieleistung, die eine […] keine Gestalt.« (Wyss, S. 317) Diesen Ver-
positive Deutung des Auftretens der Figur in lust an kritischem Potenzial lastete der Rezen-
der Bettlerszene verhindert habe, ohne dessen sent neben dem Spiel und der Kostümierung
kontrastive Technik der Szeneverknüpfung zu des Hauptdarstellers der »nicht ganz klaren
erwähnen: »In der berühmten Bettlerszene, Bearbeitung« (ebd.) an, die den Beweis er-
die bisher dazu benutzt wurde, Don Juan als bringe, »das die Wirksamkeit älterer großer
Freigeist und damit fortschrittlichen Typ hin- Kunst aus ihrer Originalgestalt geschöpft wer-
zustellen, zeigte Besson lediglich einen Liber- den« müsse (S. 318). Auch der Rezensent vom
tin, zu arrogant, irgendwelche Verpflichtungen Neuen Deutschland kritisierte, »daß statt eines
anzuerkennen« (GBA 24, S. 416). ›Gegners‹, der sich durch ›Gefährlichkeit‹
und ›Stärke‹ auszeichne, lediglich eine ›komi-
sche Figur‹ auf der Bühen stehe, ›die von
selbst lächerlich‹ sei« (GBA 9, S. 426). Dieses
Wirkung Argument verfestigte sich in der Folgezeit zu
einem Topos der Kritik.
Abweichend von dieser Sicht bewertete Lo-
Die Aufführungen am Volkstheater in Rostock thar Kusche, der Rezensent der Weltbühne,
und am Theater am Schiffbauerdamm gelten »Stück und Aufführung« positiv, weil sie das
als theatergeschichtliche Ereignisse ersten Erfolgsprinzip Don Juans an seiner gesell-
Ranges: Die Uraufführung realisierte, worauf schaftlichen Stellung demonstrierten. Don
die Rezensenten ausdrücklich hinwiesen, ein Juan verführe durch seinen feudalen Status
zukunftweisendes Projekt der Zusammenar- (GBA 9, S. 426). Ausnahmslos positiv bewer-
beit zwischen einem Provinztheater und dem tete die Kritik neben dem Spiel des Sgana-
Berliner Ensemble. Dementsprechend wurde relle-Darstellers Norbert Christian die am
zwei Jahre später mit der Tatsache, dass im Molière-Theater orientierte Bühnenausstat-
Rahmen einer Festaufführung des Don Juan tung durch Hill und die Verwendung von Ori-
die Etablierung des Berliner Ensembles im ei- ginalkompositionen Lullys. »Die französische
genen Hause erfolgte, zugleich dessen Bedeu- Tradition zeigte sich vor allem in dem Be-
tung für die »Wiedererringung der Weltgel- streben, die theatralischen Mittel bewußt als
tung des deutschen Theaters« hervorgehoben solche auszustellen. Hier ging das Verfrem-
(Sander, S. 44). dungsprinzip Bessons einen anderen Weg als
Die Rezensionen der Uraufführung belegen Brechts. Die konsequente Abtrennung der
die Unsicherheit der Kritik bezüglich der Not- ›Theaterwelt‹, die auf ihre Weise jede Illusio-
wendigkeit, einen Klassiker wie Molière über- nierung ausschloß, brachte eine große Einheit-
haupt bearbeiten zu müssen. Der Kritiker lichkeit aller eingesetzten Mittel hervor« (Mit-
Erich Krafft, betonte, die Komödie, deren »Ge- tenzwei, S. 309).
sellschaftskritik […] in einer gefälligen, ko- Publikum und Kritik nahmen auch die In-
mödiantischen Form« präsentiert werde, habe szenierung des Berliner Ensembles wieder
durch Szenenumstellungen und die Verände- beifällig auf: »Dieses Bühnenbild gehört zu
rung des Personals »entschieden an Klarheit den schönsten Schauspieldekorationen, die
und Anschaulichkeit« gewonnen (Wyss, wir in der letzten Zeit gesehen haben« lobte
S. 315). Der Rezensent der Ostberliner Natio- H.-D. Sander in Theater der Zeit (Sander,
nalzeitung, J. Weinert, meinte dagegen, der S. 46). »Auch die von Paul Dessau eingerich-
Aufführung komme zwar das Verdienst zu, tete glasklare Musik von Jean-Baptiste Lully
»das Lebensrecht des ›Don Juan‹ als Komödie hat dazu beigetragen, diese Inszenierung zu
Wirkung 623

einem reizvollen Auftakt des Berliner En- gien«, doch er bleibe »unter der Gefährlichkeit
sembles im eigenen Hause zu machen.« (Ebd.) eines wenn auch parasitäten Don Juan: er
Anders als Jürgen Rühle, der die Frage »War wirkt wie ein fröhlicher Renommist, der die
die Sache den Aufwand wert?« skeptisch be- Frauen zwar abschmecken, nicht unbedingt
antwortete (vgl. GBA 9, S. 427), würdigte San- aber verspeisen möchte – an der feudalen Jagd
der in seiner ausführlichen Besprechung die auf weibliches Niederwild liebt er am meisten
»Konsequenz« des von Besson erarbeiteten Re- das Jägerlatein. So gewinnt Sganarelle das
gie-Konzepts. Don Juans »Illusion von einem Übergewicht.« (Hensel, S. 5f.)
alexandrinischen Reich der Liebe« werde »in Besson selbst hat Molière später – mit einer
einer vom französischen Theater inspirierten Ausnahme (Palermo 1964) – nur noch im Ori-
Eleganz, Leichtigkeit und ironischen Distanz ginal auf die Bühne gebracht. Die von ihm und
entblättert« (Sander, S. 46). Dadurch werde seinen Mitarbeitern entwickelte Sichtweise
die literatur- und theatergeschichtlich be- Molières, speziell das Verhältnis von Herr und
dingte Dämonisierung der Figur, ihre auf Knecht, prägte jedoch auch noch den Erwar-
Erotik reduzierte Herrschaftsattitüde durch tungshorizont, unter dem die Inszenierung des
Komik destruiert und die aggressive Gesell- Molièrschen Originals wahrgenommen
schaftskritik Molières wiederhergestellt: wurde. Die Kritik rechnete erneut mit einer
»Hätte [Molière] Don Juan wirklich dämo- Kontrafaktur und wiederholte in Form von Ge-
nisch gestaltet, so träfe diesen die Strafe als meinplätzen die Vorbehalte, die bereits an den
einen Besessenen und nicht als Adligen.« Dokumenten der Erstrezeption der Bearbei-
(Ebd.) tung zu beobachten sind. Anlässlich der In-
Nach B.s Tod inszenierte Peter Kupke 1965 szenierung des Don Juan in einer gemein-
am Potsdamer Theater Don Juan in der Fas- schaftlich von Heiner Müller und Benno
sung des Berliner Ensembles. Im Urteil der Besson erarbeiterten Übersetzung am Deut-
Kritik lässt die Inszenierung ein verändertes schen Theater in Berlin (1968) stellte sich für
Regiekonzept erkennen: »Die genüßliche Ego- Hellmuth Karasek die Frage, ob Besson, »den
zentrik, die kaltlächelnde, strahlende Selbst- Text wiederum gegen Molière wandte, wie
verständlichkeit des puren Eigennutzes, die Brecht es vorhatte, der der Vorlage ausdrück-
alles nimmt, aber an nichts festhält, läßt fast lich vorwarf, sie zeige die Sympathie des
vergessen, daß hier ein monströses Monument Autors für seinen Helden.« Karasek, der B.s
der adeligen Dekadenz errichtet wird. Mit so »dramatische Entdeckung, daß es für jeden
viel guter Laune und artistischer Delikatesse herrschaftlichen Juchzer auch einen geknech-
werden böse Karrikaturen selten gezeichnet. teten Seufzer geben müßte«, zwar prinzipiell
[…] Das Potsdamer Publikum, dem die Erin- zustimmte, brachte aber gegen die Verände-
nerung an die feudalen Zeiten sicher längst rung der sozialkritischen Aussage Molières bei
entschwunden ist, applaudiert der schön arti- B. ein wirkungsästhetisches und ein ideologie-
stischen, sicher historisierten Darbietung kritisches Argument in die Diskussion. Nach
nachdrücklich.« (Rischbieter, S. 12) B.s Tod habe sich das Theater »derartige Herr-
Der an der artistischen Überspielung der Knecht-Umfunktionierungen an sämtlichen
ideologiekritischen Perspektive erkennbare Schuhsohlen abgelaufen, so daß sie zur wohl-
Horizontwandel lässt sich auch an einer Darm- feilen Bühnenmechanik zu erstarren drohen«
städter Inszenierung von 1969 belegen, die von (Karasek). Andererseits lasse sich »der Mo-
Georg Hensel unter dem Titel Verspielt rezen- lièrsche Frauenheld ebensowenig zum Popanz
siert worden ist. Bis zu der satirischen und erotischen Kleiderständer verflachen, wie
»Schärfe« B.s, der den »größten Wert« darauf man aus seinem Diener einen ungetrübt aus-
lege, »daß sein Don Juan seine soziale Stel- gebeuteten Werktätigen machen« könne
lung« ausbeute, sei der Regisseur Hans (ebd.). Während Besson an Sganarelle die
Schweikart nicht gegangen; sein Don Juan sei »Ambivalenzen« (ebd.) herausgearbeitet habe,
zwar »der Parasit gesellschaftlicher Privile- sei die Figur des Don Juan »streckenweise für
624 Don Juan von Molière

eine lustige, aber leere Kleiderpuppe« verlo- ist im Duktus von Brecht nicht unterzubrin-
ren gegangen (ebd.). Aus dem »schlechten gen, paßt da nicht rein. Die Tendenz bei ihm
Menschen mit den guten Gründen« werde »ein ist doch, das Spiel für einen Zweck mit klas-
blasiertes Nichts, das […] Bauernmädchen als senkämpferischen Parolen einzusetzen. Aber
gezierte Vogelscheuche eroberte« (ebd.). Parolen sind eigentlich nur Karten, die man
Im Rückblick auf diese Inszenierung am zum Spielen benutzt. Das Spielen als Spielen
Deutschen Theater betonte Karl-Heinz Müller, kam bei Brecht verdammt zu kurz. Stattdessen
seit 1963 Dramaturg am Deutschen Theater die ganze Dressur und alle möglichen Erfin-
Berlin und von 1969 bis 1975 unter Besson dungen. Ein Spiel spielen, das paßte dazu
Chefdramaturg an der Ostberliner Volks- nicht, auch ein moralisch-gesellschaftliches
bühne, die an Bessons Inszenierung erkenn- Spiel nicht« (S. 60).
bare Nachwirkung der von B. erlernten Mittel
und Verfahrensweisen (vgl. Besson 1998,
S. 45). »Allerdings war 1968 die Zeit vorbei, in Literatur:
der es gute Gründe gab, sozialkritische Ent-
Besson, Benno: Jahre mit Brecht. Hg. v. Christa Neu-
deckungen in den Vordergrund zu stellen. […]
bert-Herwig. Willisau o. J. – Ders.: Theater spielen
Für unser Verständnis am Ende der Sechziger in acht Ländern. Texte – Dokumente – Gespräche.
Jahre kam die Bearbeitung des Berliner En- Hg. v. Christa Neubert-Herwig. Berlin 1998. – Bih-
sembles nicht in Frage. Weder interessierte ler, Heinrich: Molière. Dom Juan. In: Stackelberg,
die distanzierte sozialkritische Bestimmung Jürgen von (Hg.): Das französische Theater. Vom
Don Juans als ›sexueller Großmacht‹, noch Barock bis zur Gegenwart. Düsseldorf 1968, S. 247–
270. – Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit
Versailles als ständig präsenter Hintergrund
Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Berlin,
fett auf der Bühne. Spiel zwischen Bühnen- Weimar 1982. – Giese, Peter Christian: Das »Gesell-
figuren in einer Kunstwelt wollten wir als schaftlich-Komische«. Zu Komik und Komödie am
Spiel vor, mit und für die Leute aus der realen Beispiel der Stücke und Bearbeitungen Brechts.
Welt um uns entdecken« (S. 45 f.). Stuttgart 1974. – Gnüg, Hiltrud: Don Juans theatrali-
Besson selbst distanzierte sich im Gespräch sche Existenz. Typ und Gattung. München 1974. –
Hauptmann, Elisabeth: An Ulrich K. Goldsmith. In:
mit Karl-Heinz Müller und Wolfgang Heise
Besson 1998, S. 42 f. – Hennenberg, Fritz: Dessau-
von der Bearbeitung: »Die Aufführung, die wir Brecht. Musikalische Arbeiten. Berlin 1963. – Hen-
damals im Berliner Ensemble mit Brecht ge- sel, Georg: Verspielt. Molière/Brecht ›Don Juan‹,
macht hatten, trug Züge von Dämonie, Dämo- Darmstadt. In: Theater heute (1969), H. 8, S. 5f. –
nie wurde ironisiert. Das halte ich für einen Hösle, Johannes: Molières Komödie Dom Juan. Hei-
Nachteil, so wird nichts zerstört.« (Besson delberg 1978.- Ders.: Molière. Sein Leben – Sein
Werk – Seine Zeit. München, Zürich 1987. – Joost,
1998, S. 59) Die Figur des Don Juan wurde von
Jörg Wilhelm: Molière-Rezeption in Deutschland
Besson jetzt durchaus positiv bewertet, wobei 1900–1930: Carl Sternheim, Franz Blei. Hermeneu-
auch die Gesichtspunkte, die anlässlich der tische Rezeptionsfragen zur Wechselbeziehung zwi-
Rostocker Inszenierung von ihm entwickelt schen wissenschaftlicher Interpretation, dramati-
worden waren und die sich von denen B.s un- scher Gestaltung und literarischer Bearbeitung.
terschieden, nun erneut und umfassender zur Frankfurt a. M. 1980. – Joost. – Karasek, Hellmuth:
Benno Besson entdeckt Sganarelle. Molières ›Don
Darstellung kamen. Besson betonte den »thea-
Juan‹ am Ostberliner Deutschen Theater. In: Die
tralischen Spaß«, der aus dem Charme der Zeit, 26. 04. 1968. – Kebir, Sabine: Ich fragte nicht
Figur resultiert, und führte aus, »daß gewisse nach meinem Anteil. Elisabeth Hauptmanns Arbeit
Ansichten über Egoismus, Moralität und Amo- mit Bertolt Brecht. Berlin 1997. – La Rochefoucauld,
ralität ein Gewicht bekommen. […] Das sind François: Réflexions ou Sentences et Maximes Mo-
wirklich ganz große Seiten. Und die hatten wir rales. In: Ders: Oeuvres Complètes. Hg. v. L. Mar-
tin-Chauffier. Paris 1957, S. 389–475. – Lucchesi/
damals im Berliner Ensemble bei Brecht weg-
Shull. – Mittenzwei, Werner (Hg.): Theater in der
gelassen« (S. 59 f.). An der Replik des Ge- Zeitenwende. Zur Geschichte des Dramas und des
sprächspartners Heise war der Perspektiven- Schauspieltheaters in der Deutschen Demokrati-
wechsel auf den Begriff gebracht: »Das Ganze schen Republik 1945–1968. Bd. 1. Berlin 1972. –
625

Molière: Don Juan. Komödie in fünf Aufzügen. GBA 9, S. 433), befindet sich in B.s Bibliothek.
Deutsch v. Arthur Luther. In: Ders.: Werke. Wiesba- Dieses Exemplar weist keine Randnotizen
den 1959, S. 429–487. – Ders.: Oeuvre complètes.
oder andere Eintragungen auf; daher ist anzu-
Hg. v. R. Jouanny. Bd. 2. Paris 1962. – Müller, André
(Hg.): Der Regisseur Benno Besson. Berlin 1967. – nehmen, dass B. an der Übersetzung nicht be-
Musil, Robert: Valutaspekulation oder Von Molière teiligt war (vgl. Fuegi, S. 368 f.). Sein Anteil an
über Sternheim zu Kaiser. In: Ders.: Theater. Kri- dem Projekt – der Beginn seiner Mitarbeit ist
tisches und Theoretisches. Hg. v. Marie Louise Roth. frühestens auf den Juli/August 1954 anzuset-
Reinbek bei Hamburg 1965, S. 53 f. – Oehlmann, zen (vgl. GBA 9, S. 431) –, ist nicht genau fest-
Werner: Don Juan. Mit dem Text der Komödie »Don
zustellen. Der Tantiemenschlüssel – Haupt-
Juan« von Molière in der Übersetzung von Eugen
Neresheimer. Frankfurt a. M., Berlin 1965, S. 47–95. mann und Besson erhielten jeweils 30%, B.
– Rischbieter, Henning: ›Don Juan in Potsdam‹. In: allerdings den größten Anteil mit 40% (vgl.
Theater heute (1966), H. 1, S. 12 f. – Sander, H.-D.: Kebir, S. 207) – weist auf die große Rolle der
›Don Juan‹ von Molière im Berliner Ensemble am beiden Mitarbeiter, die im Folgenden bei der
Schiffbauerdamm. In: Theater der Zeit (1954), H. 5, Erwähnung B.s meist mitzudenken sind, hin.
S. 44–46. – Wittmann, Brigitte (Hg.): Don Juan.
Die Proben, auf denen noch viele Änderun-
Darstellung und Deutung. Darmstadt 1976. – Wyss.
gen vorgenommen wurden, begannen im Fe-
Jörg Wilhelm Joost bruar 1955; die für April/Mai vorgesehene Ur-
aufführung fand aber erst im September statt.
Pauken und Trompeten erschien postum in
Band XII der Stücke, 1959 bei Suhrkamp und
1962 im Aufbau-Verlag; Hauptmann und Bes-
Pauken und Trompeten son werden als Mitarbeiter genannt. Text-
grundlage für die GBA »ist das Typoskript
[vom April 1955 oder später], das die letzte
Entstehung von Brecht autorisierte Bearbeitungsstufe des
Farquhar-Dramas dokumentiert« (GBA 9,
S. 439), aber nicht die Fassung der Urauffüh-
Das Stück ist die letzte abgeschlossene Bear- rung bietet. Die Versionen in den Stücken, auf
beitung des Berliner Ensembles, an der B. be- denen die Werkausgabe beruht (WA, nach der
teiligt war. Die Initiative zur Übersetzung und hier zitiert wird), und GBA sind nicht völlig
Bearbeitung von George Farquhars 1706 urauf- identisch.
geführtem Stück The Recruiting Officer, die
anfangs noch Der Werbeoffizier hieß, ging von
B.s langjähriger Mitarbeiterin Elisabeth
Hauptmann aus, die bereits die Vorlage für die Vorlage und Bearbeitungsphasen
Dreigroschenoper durch ihre Übersetzung von
John Gays Beggar’s Opera (1728) geliefert
hatte (vgl. GBA 2, S. 230; S. 424 f.). Haupt- The Recruiting Officer ist neben The Beaux’
mann war mit der englischen Literatur Stratagem (1707; Des Stutzers Kriegslist) das
vertraut und verfügte über gute englische bekannteste und erfolgreichste Drama des
Sprachkenntnisse; sie machte B. das Stück anglo-irischen Schauspielers, Dramatikers und
»schmackhaft« (Wekwerth, S. 27) und arbei- Offiziers George Farquhar (1677 oder 1678–
tete daran seit Anfang 1954 mit Benno Besson, 1707). Das Drama gehörte während des acht-
dem Regisseur der Uraufführung am Berliner zehnten und neunzehnten Jh.s zum Repertoire
Ensemble. Als Textgrundlage der Übersetzung englischer Bühnen und wurde auch im zwan-
diente die von William Archer herausgege- zigsten Jh. wiederholt aufgeführt (vgl. Shu-
bene Ausgabe der Werke unter dem Titel Ge- grue, S. XX-XXI). Seine literaturgeschichtli-
orge Farquhar (1949); ein Exemplar dieser che Bedeutung beruht auf seiner Zwischen-
Ausgabe, das Hauptmann beschafft hatte (vgl. stellung zwischen der »comedy of manners«
626 Pauken und Trompeten

(Sittenkomödie) mit ihrem Hauptvertreter ter Courage […] kommt ein Sohn abhan-
William Congreve (1670–1729), dessen The den« (GBA 6, S. 9). Wegen der kritischen Dar-
Way of the World (1700; Der Lauf der Welt) als stellung der Verschickung von »siebentausend
unübertroffenes Paradebeispiel der besonders Landskindern nach Amerika«, die zur Nieder-
in der Restaurationszeit unter Charles II. schlagung des amerikanischen Unabhängig-
(1660–1685) blühenden Gattung gilt, und dem keitskriegs dienen sollten, in der 2. Szene des
sentimentalen Drama des achtzehnten Jh. s. In 2. Akts (Lady Milford und der alte Kammer-
Letzterem stellte das Bürgertum seine Tu- diener) in Schillers Kabale und Liebe (1784),
gendideale in den Mittelpunkt und wendete wurde zunächst die Aufnahme dieses Stücks in
sich gegen die alle puritanischen Werte ver- den Spielplan des Berliner Ensembles für
achtende höfisch-aristokratische Gesellschaft, 1954–1955 erwogen (vgl. GBA 23, S. 308); die
deren geistreicher Dialog in der »comedy of Aufführung kam jedoch nicht zustande (vgl.
manners« dominierte. die indirekte Bezugnahme auf Schillers Stück
Farquhar folgte der »comedy of manners« in GBA 9, S. 296). Angesichts der negativen
darin, dass in seinen Stücken das Arrangieren Auffassung von Rekrutenwerbung überrascht
von finanziell lukrativen Heiraten und die da- es nicht, dass Hauptmann die Widmung des
mit verbundenen Intrigen eine außerordent- Stücks, in der sich Farquhar für seine gast-
lich große Rolle spielen; der witzig-brillante freundliche Aufnahme in Shrewsbury bedankt
Dialog der Restorationskomödie macht sich hatte, wie auch Prolog, Epilog, die 3. Szene
dagegen nur in Ansätzen bemerkbar und und Teile der 4. Szene des 5. Akts nicht über-
weicht einem weniger anspruchsvollen Humor setzte.
(vgl. Shrugue, S. XV). Die Verlegung des In der ersten Bearbeitungsphase folgten
Schauplatzes aus den Salons und Boudoirs der Hauptmann und Besson der Vorlage und hiel-
Londoner Gesellschaft – wie in der »comedy of ten am Jahr 1704 als Zeit der Handlung und am
manners« üblich – auf das Land und die im Spanischen Erbfolgekrieg (1710–1714) als Ur-
Allgemeinen positive Schilderung der länd- sache der Rekrutierungskampagne fest. Sie
lichen Gesellschaft stellen den größten Bruch nahmen aber eine Reihe von Änderungen vor,
Farquhars mit den Konventionen der Restau- die sich auf die Struktur, Figurengestaltung
rationskomödie dar (vgl. Shrugue, S. XVII). und -konstellation, sowie die Tendenz des
Farquhars Erfahrungen, die er als Werbeoffi- Stücks bezogen, so dass lediglich etwa 30 Pro-
zier in Shrewsbury an der walisischen Grenze zent von Farquhars The Recruiting Officer er-
in der Grafschaft Shropshire 1705–1706 halten blieben (vgl. die Synopse in: GBA 9,
machte, dienen als biographischer Hinter- S. 445 f.). Die Bearbeitung verstärkte die epi-
grund für The Recruiting Officer. schen Ansätze Farquhars und ersetzte die fünf
Bei Farquhar bildet die Rekrutierungskam- Akte des Originals durch eine lockere Folge
pagne des galanten Captain Plume und seines von zwölf Szenen mit einem Zwischenspiel
mit allen Wassern gewaschenen Sergeanten (WA 6 hat zwei Zwischenspiele), behielt aber
Kite in Shrewsbury lediglich einen, mit den das Grundgerüst der Handlung bei. Der Wer-
beiden Liebesintrigen Silvia-Plume und Me- beoffizier Captain Plume (etwa: Schmuckfe-
linda-Worthy eng verwobenen Handlungs- der, Federbusch; einer der vielen sprechenden
strang; es war aber wohl eher der Aspekt der Namen, die in der Bearbeitung von Farquhar
zweifelhaften Rekrutierungspraktiken, der übernommen wurden) wirbt in Shrewsbury
Hauptmann zur Übersetzung anregte. Als wei- um Rekruten, aber auch um Frauen: eine dop-
terer Grund kam hinzu, dass sich B. am Berli- pelte Handlungsführung, die das Private mit
ner Ensemble in den fünfziger Jahren um die dem Politischen, das Erotisch-Sexuelle mit
Erweiterung des Repertoires an klassischen dem Militärischen verquickt. Sowohl das ein-
Stücken bemühte. Bereits in der 1. Szene von fache Landmädchen Rose wie Viktoria (Farqu-
Mutter Courage und ihre Kinder hatte B. die hars Silvia), die Tochter des Friedensrichters
Anwerbung von Söldnern behandelt: »Mut- Balance (Waage, Gleichgewicht), sind die Ob-
Vorlage und Bearbeitungsphasen 627

jekte seiner Begierde. Balance, der in der Be- Eine entscheidende Änderung wurde in der
arbeitung als Einziger von den ursprünglich zweiten Bearbeitungsphase, die Ende 1954
drei Friedensrichtern übrig blieb, versucht bzw. Anfang 1955 begann, mit der Verlegung
Viktorias Heiratspläne – eine andere Art der der Zeit der Handlung in das Jahr 1776 und die
Verbindung erlauben die moralischen Stan- Zeit des amerikanischen Unabhängigkeits-
dards des Bürgertums nicht – mit dem mittel- kriegs (1775–1783) vorgenommen, wodurch
losen Plume, in den sie sich verliebt hat, zu die latente antimilitaristische Tendenz Farqu-
hintertreiben. Plume, der sowohl den Typ des hars, dem es eher um Unterhaltung als um
»rake« (Verführers) wie den des tapferen, ehr- Reform des Rekrutierungswesens gegangen
lichen Soldaten verkörpert, zieht eine Liebes- war (vgl. Shugrue, S. XIV), verschärft wurde.
affäre der Heirat vor. Um Plume nahe sein und Die Ansiedlung der Handlung im Jahr 1776
seine Verführung anderer Frauen verhindern ermöglichte es zugleich, die alte, korrupte Ge-
zu können, verkleidet Viktoria sich als Mann sellschaftsordnung Englands, in der das Bür-
und lässt sich anwerben. Um die Familienehre gertum im Aufstieg begriffen war, mit einer
zu retten, gibt Balance seinen Widerstand auf, neuen, vermutlich progressiveren in den ame-
und Plume willigt am Schluss ein, Zivilist zu rikanischen Kolonien zu kontrastieren.
werden, eine bürgerliche Ehe zu führen und
Soldaten zu zeugen anstatt anzuwerben.
Ein weiterer Handlungsstrang involviert
Melinda (bei Farquhar eine Kokotte) und ihren Zeitpolitischer Hintergrund
Verehrer, den Schuhfabrikanten Worthy (wür-
dig, ehrbar; bei Farquhar ein bürgerlicher, ver-
mögender Gentleman). Melinda hat eine Erb- Nach Angaben von Besson (vgl. GBA 9, S. 432)
schaft gemacht und wendet sich von Worthy ab spielten ebenfalls politische Motive für die
– obwohl sie drauf und dran gewesen war, Wahl einer Bearbeitung von Farquhars Stück
gegen eine feste Summe seine Mätresse zu eine Rolle. Die Kriege in Korea und Indochina
werden –, und erwägt, den eitlen und ineffek- und besonders die Remilitarisierung der Bun-
tiven Werbeoffizier Brazen (dreist, schamlos), desrepublik seit Anfang der fünfziger Jahre
der Typ des »fop« (Stutzer) und Mitgiftjägers, veranlassten B. zu mehreren Aufrufen, in de-
zu heiraten. Zusätzliche Verwicklungen erge- nen er vor der drohenden Kriegsgefahr
ben sich bei Farquhar durch Lucy, die intri- warnte. In einer Notiz vom Sommer 1953 be-
gante Zofe Melindas. Als Melinda verkleidet schuldigte er die Vereinigten Staaten, »ein
versucht sie, Brazen zu veranlassen, ihr einen westdeutsches Söldnerheer aufzurichten«
Heiratsantrag zu machen. In der Bearbeitung ([Notizen über Amerika]; GBA 23, S. 252), und
ist die Rolle Lucys völlig neu gestaltet, und er protestierte gegen den Abschluss der Pari-
zusammen mit ihrem Verlobten George – eine ser Verträge (23. 10. 1954), die den Beitritt der
neue Figur – vertritt sie emanzipatorische Auf- Bundesrepublik zur NATO vorsahen (vgl. Er-
fassungen. Alle Komplikationen des turbulen- klärung; S. 320).
ten Stücks werden in einem durch die Ko- Laut Käthe Rülicke brachte die Verlegung
mödientradition vorgegebenen »happy end« der Handlungszeit in den amerikanischen
gelöst: nicht nur Plume und Viktoria werden Unabhängigkeitskrieg einen großen ideologi-
ein Paar; es bahnt sich ebenfalls eine Versöh- schen Vorteil: der »Angriff auf Soldatenwer-
nung zwischen Melinda und Worthy an. Dage- bung« (GBA 9, S. 436), der als Opposition ge-
gen bedeutet der Erfolg der Rekrutierungs- gen die Werbung für die nominell freiwilligen
kampagne, in der der trickreiche Sergeant Kite ›nationalen Streitkräfte‹ der DDR und später
(kite: habichtartiger Greifvogel) eine bedeu- für die Nationale Volksarmee der DDR (offi-
tende Rolle spielt, für die davon Betroffenen zielle Gründung: 1. 3. 1956) interpretiert wer-
aus den ärmeren Bevölkerungsschichten je- den konnte, richtete sich nicht mehr gegen
doch den Verlust von Heimat und Familie. Rekrutenwerbung an sich, sondern verurteilte
628 Pauken und Trompeten

die Praktiken bei der Aufstellung eines Söld- Trompeten »keine Bearbeitung gegen den
nerheers (der Engländer), dem als positives Geist des Originals«, sondern »ein dialek-
Beispiel das Freiwilligenheer (der Amerika- tisches Wiederlesen«, das die »antimilita-
ner) gegenübergestellt wurde. Gleichzeitig bot ristische Satire« deutlicher mache und die
die Wahl des amerikanischen Unabhängig- epischen Tendenzen verstärke (Vigliero,
keitskriegs als Zeithintergrund die Chance, S. 198 f.). Margrit Hahnloser-Ingold weist auf
den Vorwurf pazifistischer Tendenzen, der B. die Bedeutung der englischen Theatertradi-
im Zusammenhang mit der in Zusammenar- tion für B. als »Quelle« hin und bemerkt, dass
beit mit Paul Dessau entstandenen Oper Die B. »aus dem anspruchslosen […] Intrigenspiel
Verurteilung des Lukullus 1951 von der Füh- [Farquhars] eine sozial-politisch gefärbte
rung der DDR gemacht worden war, abwehren Anti-Krieg-Komödie« (S. 58) gemacht habe.
zu können (vgl. GBA 6, S. 413 f.). Nicht mehr Auch Klaus Völker legt das Schwergewicht auf
die Verdammung des »beiderseits ungerechten das Komödienhafte: »Brechts Bearbeitung
Kriegs zwischen imperialistischen Mächten« macht sich tradierte Angebote der Bühnen-
im Spanischen Erbfolgekrieg stand im Vorder- komik nutzbar, in der Absicht, das Lachen des
grund; vielmehr gewann der (gerechte) »na- Publikums über […] untergegangene Gesell-
tionale Befreiungs- und Verteidigungs-Krieg« schaftsformen hervorzurufen« (Völker,
der amerikanischen Kolonisten »gegen impe- S. 299). Jan Knopf meint, dass Pauken und
rialistische Fremdherrschaft, Kolonialismus« Trompeten nur »vordergründig […] von der
(Schütz, S. 497 f.) eine positive Qualität im Rekrutierung von Soldaten« handele; eigent-
Vergleich zu der von den Klasseninteressen lich gehe es um »eine drastische Kostüm-Sex-
des englischen Adels und Bürgertums moti- Komödie aus dem alten und doch bürgerlich
vierten Intervention. jungen England« (Knopf, S. 88).
Die englischsprachige B.-Kritik hat Pauken
und Trompeten etwas mehr Aufmerksamkeit
gewidmet. Von den drei Dissertationen John
Zur Forschungslage B. Fuegis, John P. Fludas’ und Peter W. Ferrans
bietet die letztgenannte die bisher umfassend-
ste und eingehendste Analyse des Stücks; die
In der deutschsprachigen Forschung, die im beiden anderen betrachten es im Zusammen-
Allgemeinen nicht auf den Beitrag der Mitar- hang mit den Bearbeitungen des Berliner En-
beiter eingeht, ist Pauken und Trompeten bis- sembles (Fuegi) und im Kontext der »engli-
her wenig beachtet worden. Obwohl Peter schen« Stücke B.s (Fludas). Fuegi hält die
Christian Giese die Bearbeitung zu den Bearbeitung für misslungen, da sie ein »poli-
B.schen »Komödien« zählt, die durch »›Histo- tisches Melodrama« biete (Fuegi, S. 393,
risierung‹ bzw. Perspektive […] etwas ge- S. 404), in dem die leichte Sozialkritik Farqu-
schichtlich Überholtes« mit dem »Anspruch« hars in eine »ideologische Zwangsjacke«
zeigen, den »›Abschied‹« davon »zu erleich- (S. 403) gepresst worden sei. Dagegen betont
tern« (Giese, S. 112), beurteilt er Vorlage wie Fludas den Unterhaltungswert von Pauken
Bearbeitung als »von eher schmalem Gewicht« und Trompeten, der hier stärker ausgeprägt sei
(S. 247). Reinhold Grimm meint, dass das als in den anderen Bearbeitungen (vgl. Fludas,
»witzig-freche, tubulente Stück« wie ein »Ori- S. 138). Ähnlich äußert sich Ferran: trotz der
ginal« wirke, da B. zur Ideologisierung »nur von B. vorgenommenen radikalen Änderungen
die vorhandenen Ansätze [bei Farquhar] auf- sei die angeblich tendenziöse Bearbeitung im
zugreifen und weiterzuführen [brauchte]: Kri- Wesentlichen dem Theaterstil der Restaura-
tik an gesellschaftlichen Mißständen, nämlich tionskomödie verpflichtet (vgl. Ferran, S. 97).
an den Methoden der Soldatenwerbung« In seiner Studie über die Bearbeitungen des
(Grimm, S. 49). Auch die italienische Forsche- Berliner Ensembles bescheinigt Arrigo Sub-
rin Consolina Vigliero sieht in Pauken und iotto Pauken und Trompeten die Nähe zum
Zur Forschungslage 629

Originaltext; in Anlehnung an Grimm (s. o.) raschungsangriff die hessischen Hilfstrupppen


hebt er hervor, dass B. die »embryonische« der Engländer zu besiegen. B.s freier, von der
Kritik Farquhars intensiviert habe (vgl. Su- Notwendigkeit einer plausiblen Handlungs-
biotto, S. 108). Albert Wertheim sieht in der führung diktierter Umgang mit historischen
Bearbeitung ein »fast neues Stück« (Wertheim, Fakten erstreckt sich daher ebenfalls auf geo-
S. 179), in dem der amerikanische Unabhän- graphische Details. Kites Werbespruch, der
gigkeitskrieg einen Markstein im marxisti- die Reise- und Abenteuerlust potenzieller Re-
schen Klassenkampf bilde, da George und Lu- kruten erwecken soll – »Sie kennen den Severn
cy nicht einen Kampf um politische, sondern [der Fluss, an dem Shrewsbury liegt], aber
um soziale Unabhängigkeit führten (S. 187 f.). kennen Sie den Mississippi?« (S. 279, S. 283) –
und die Lokalisierung von Bunker Hill, einer
Anhöhe in Boston, am Hudson (S. 274, S. 287)
sind weitere Beispiele eines großzügigen Hin-
Analyse wegsehens über Geographie und Geschichte.
Schließlich entlarvt Viktoria als Victor Wilful
– der sprechende Name deutet auf »eine […]
Die Wahl des amerikanischen Unabhängig- Persönlichkeit mit sehr ausgeprägtem Willen«
keitskriegs, die freilich nicht ganz konsequent (S. 323) – Kites Werbung als Zweckpropa-
durchgeführt worden ist (vgl. z. B. GBA 9, ganda: »Ich glaube nicht, […] daß die Gegend
S. 275), hat durchaus nicht nur eine »ideo- um Bunker Hill im Augenblick das Passende
logische« (Fuegi, S. 389), sondern auch eine für Touristen ist.« (S. 291)
strukturelle Funktion, da die Neuigkeiten aus Das Gefecht von Bunker Hill ist ein wichti-
den Kolonien den Gang der Handlung wesent- ges Handlungselement: einerseits gibt es we-
lich beeinflussen. Es sind besonders drei his- gen des Pyrrhussiegs der Engländer den un-
torische Ereignisse, die im Text der Bearbei- mittelbaren Anlass zur Intensivierung der
tung wiederholt erwähnt und kommentiert Anwerbung, andererseits wird es wegen der
werden (vgl. Mews, S. 31): die Schlacht von sich allmählich herumsprechenden »Gerüchte
Bunker Hill (17. 6. 1775), die Evakuierung von den Verlusten bei Bunker Hill« (GBA 9,
Bostons durch die Engländer (17. 3. 1776) und S. 296) schwierig, genügend Bewerber anzu-
die Verkündung der amerikanischen Unabhän- locken. Der Appell Kites an den Patriotismus
gigkeitserklärung (4. 7. 1776). Zur besseren der Einwohner von Shrewsbury stößt auf taube
Motivierung der Handlung werden die drei Ohren (vgl. S. 262); der grundsätzliche Inte-
durch einen mehr als einjährigen Zeitraum ressengegensatz zwischen den als Kanonen-
getrennten Geschehnisse komprimiert und als futter verheizten englischen Söldnern und den
in einem unmittelbaren Zusammenhang ste- für ihre eigenen Belange kämpfenden »ame-
hend dargestellt. Bereits im Prolog, der rikanischen Dreckfarmern und Pelzjägern«
Selbsteinführung des Sergeanten Kite (der als (S. 262) wird in der Szene mit dem Breit-
Kommissknopf in der Bearbeitung den Vor- schultrigen (diese Figur wurde für die Bear-
namen Barras erhielt), wird der Grund der beitung neu geschaffen) demonstriert. Dem
Rekrutierungskampagne genannt: »Umwäl- Breitschultrigen, der sein Bein bei Bunker Hill
zung und Ungehorsam« (GBA 9, S. 261) in den verloren hat, gelingt es, den trickreichen Kite
amerikanischen Kolonien. Zu Beginn der 1. selbst auszutricksen, indem er geschickt sein
Szene trifft Captain Plume, der »Held von Holzbein unter dem Tisch verbirgt und da-
Bunker Hill« (S. 266, vgl. S. 274, S. 287) in durch in den Genuss des von Kite spendierten
Shrewsbury ein – freilich seltsamerweise von Freibiers für potenzielle Rekruten kommt. Als
»den Ufern des Delaware« (S. 262), den Ge- Kite seinen Reinfall bemerkt, versucht er ihn
neral George Washington am 25. 12. 1776 mit durch ein scheinbares Lob für den patrioti-
seinen Truppen unter schwierigen Bedingun- schen Opfermut des Breitschultrigen zu ka-
gen überquert hatte, um dann in einem Über- schieren und fügt hinzu, dass auch »so ein
630 Pauken und Trompeten

verdammter Rebell« (S. 279) sein Bein ver- mung zu schützen anstatt in die Schlacht zu
lieren könne. Darauf antwortet der Breit- ziehen.
schultrige schlagfertig: »Aber [er verliert es] Es ist unerheblich, dass der geschilderte
für sich« (ebd.; vgl. Mieder, S. 164–166) und Verlauf des Gefechts bei Bunker Hill durchaus
geht ab. B. betont den Menschenverschleiß, nicht den historischen Tatsachen entspricht;
den die Engländer betreiben, durch die (histo- durch die Gegenüberstellung eines Söldner-
risch inkorrekte) Bemerkung Kites, die nicht heers im Dienste des Kolonialismus und Impe-
für die Öffentlichkeit bestimmt ist, dass Bun- rialismus und eines zur Landesverteidigung
ker Hill »seine 11 000 Mann gekostet« habe angetretenen Freiwilligenheers den historisch
(GBA 9, S. 292) und ebenfalls durch des Letz- progressive Charakter des Letzteren. Ohnehin
teren Ausflüchte gegenüber den beiden verfehlt Simpkins’ Schilderung die von ihm
Frauen, die sich nach dem Schicksal von Sohn intendierte Wirkung, da sein serviler Super-
und Mann, die bei Bunker Hill gefallen sind, patriotismus, den er nochmals am Schluss des
erkundigen wollen (vgl. S. 295). Stücks in einem nicht in die GBA übernomme-
In der zweimaligen Schilderung der militä- nen pathetischen Schluchzen äußert – »Eng-
rischen Auseinandersetzung von Bunker Hill land, England, über alles!« (WA 6, S. 2710) –
werden die gegensätzlichen Perspektiven ak- dem Gelächter des mit dem Ergebnis des ame-
zentuiert. Die erste Schilderung stammt von rikanischen Unabhängigkeitskriegs vertrauten
Simpkins, Balances Butler, der bei Farquhar Zuschauers preisgegeben wird. Es ist daher
lediglich eine Statistenrolle spielt. In der 4. abwegig zu unterstellen, dass Simpkins’ Be-
Szene vertritt der sich in abhängiger Stellung richt ironisch gemeint sei, und dass er insge-
befindliche Simpkins ironischerweise voll und heim Sympathien für die amerikanischen Ko-
ganz den Standpunkt der herrschenden lonisten hege (vgl. Subiotto, S. 130 f.).
Klasse, wenn er aus von seinem Herrn ge- Der zweite Bericht über Bunker Hill durch
duldetem patriotischen Überschwang diesem den Schankburschen Mike (WA 6) oder George
ins Wort fällt. Er würdigt die militärische Leis- (GBA 9) – der trotz seiner antimonarchisti-
tung Plumes, von der nicht absolut sicher ist, schen Haltung den Namen des englischen Kö-
ob er sie tatsächlich vollbracht hat oder ob sich nigs trägt –, ist zwar inhaltlich fast völlig iden-
Plume – seinem Namen entsprechend – mit tisch mit dem von Simpkins, schließt aber mit
fremden Federn schmückt. Ohnehin wirft die einer klaren Stellungnahme zugunsten der
ihm von Simpson, der sich über die »Rebellen« »Rebellen«, die um ihre Existenzgrundlage
als unsoldatische »gemeine Kuhbauern« (GBA kämpfen: »ich halte nicht viel von einem sol-
9, S. 275) mokiert, zugeschriebene Kriegslist chen Sieg« (GBA 9, S. 288).
(die Spekulation auf die Wirkung der Zerstö- Ähnlich kontrastiv wird ein anderes histo-
rung eines Wehrs), ein eigenartiges Licht auf risches Ereignis beurteilt. In der 2. Szene liest
Plumes »Heldentum«. Denn lediglich die Tat- Balance den von Thomas Jefferson verfassten
sache, dass die »Rebellen« aus Besorgnis um »›Entwurf einer Unabhängigkeitserklärung‹«
ihre von Überflutung bedrohten Farmen aus- (GBA 9, S. 270) vor und weist die darin formu-
einander laufen, ermöglicht den Engländern lierten Ideen der Gleichheit und Freiheit em-
den Sieg. B.s Verwendung des Motivs des pört zurück. Der wahre Grund seiner Empö-
brechenden Damms in der 1939 entstandenen rung sind wirtschaftliche Motive, denn die
Erzählung Die Trophäen des Lukullus nimmt »Niedrigste Gewinnsucht!«, die er den »Rebel-
bereits die implizite Verurteilung der von len« unterstellt, ist ihm nicht fremd: »Unter
Machtinteressen diktierten militärischen dem Vorwand, er sei zu teuer, weigert man
Zerstörungstaktik vorweg: der römische Feld- sich, unseren Tee einzuführen. […] Dabei wol-
herr Lukullus träumt, dass seine Legionä- len die in Gleichheit geborenen hinterwäld-
re – sie sind selbst Bauernsöhne – seine lerischen Advokaten und Generäle ihre Baum-
Befehle ignorieren und den Bauern helfen, wolle, die wir hier brauchen, Gott weiß wohin
ihre Felder vor einer drohenden Überschwem- verschieben dürfen, nur weil sie dort mehr
Analyse 631

bezahlt bekommen.« (Ebd.) In der WA (6, die Leute drüben auch Leute [wie wir] sind?«
S. 2630 f.) wird der Widerspruch zwischen den (Ebd.) und, so ließe sich ergänzen, daher kein
vermeintlichen und den wahren Beweggrün- Grund besteht, sie zu bekämpfen.
den Balances durch die patriotisch-patheti- Hatte Balance in der 2. Szene »für England
schen Interjektionen des seinen Herrn und gezittert« (GBA 9, S. 269) und war – irrtümlich
Plume bedienenden Butlers noch klarer ar- – durch die Nachricht von Bunker Hill »be-
tikuliert. Die plebejische Perspektive dagegen ruhigt« (ebd.) worden, so veranlasst ihn die
vertritt in der 8. Szene wiederum George, der, »Hiobsbotschaft« (S. 310), dass Boston »in den
da er nicht lesen kann, eine sehr freie Inter- Händen der Rebellen« (ebd.) ist, in der 9.
pretation der Unabhängigkeitserklärung bietet Szene zur Ergreifung strenger Maßnahmen,
(vgl. GBA 9, S. 306). Die Hoffnungen Georges nämlich der Anwendung der bis dahin von ihm
und seiner Verlobten Lucy (der Zofe Melindas) als überflüssig erachteten »Zwangsrekrutie-
richten sich voller Zuversicht auf die Neue rungsgesetze« (ebd.). In der WA (6, S. 2676)
Welt, die ihnen ein Leben ohne Unterdrük- spricht Balance davon, dass es »Abend über
kung und Ausbeutung verspricht: »Auf nach Englands Imperium« wird; der regressive und
Amerika!« (S. 306). In den Worten der Unab- anachronistische Charakter der Gesetze wird
hängigkeitserklärung, aus der die des Lesens durch die Erwähnung ihrer Verabschiedung im
kundige Lucy zitiert, heißt es: »›Daß alle Men- Jahre 1704 und Worthys Einwand – »Aber jetzt
schen gleich geschaffen sind, und‹ […] ›mit haben wir 1776« (WA 6, S. 2677) – deutlich
gewissen … Rechten ausgestattet sind: Leben, gemacht. Gleichzeitig enthält Worthys Bemer-
Freiheit, und das Streben nach Glück …‹« kung einen impliziten Hinweis auf die Vorlage:
(ebd.). Die potenziell emanzipatorische und In The Recruiting Officer verwendete Farquhar
subversive Wirkung des Lesen- und Schrei- die »Mutiny and Impressment Acts« von 1703,
benkönnens wird auch an anderer Stelle the- 1704 und 1705, die vorsahen, dass Schuldner
matisiert: Plume befiehlt Kite, einen schreib- und Kriminelle aus der Haft befreit werden
kundigen Advokaten zu entlassen, da dieser konnten, wenn sie sich bereit erklärten, in der
Eingaben machen und Beschwerden aufsetzen Armee oder Marine zu dienen (vgl. Shugrue,
könne (S. 262). S. XIV). Plume bemerkt, dass das Zurückgrei-
Obwohl Lucy und George zweifellos über fen auf diese Gesetze anderswo einen »Skan-
positivere menschliche Qualitäten verfügen dal« (GBA 9, S. 310) hervorgerufen habe. Aber
als die Vertreter der Oberschicht, erscheint ihr Balance, der in zunehmendem Maße zu drako-
optimistischer Traum von der Eröffnung eines nischen Maßnahmen Zuflucht nimmt, um den
Hotels in Boston – nicht in dem »Kaff!« New Fortbestand der etablierten Ordnung zu si-
York (GBA 9, S. 301) – naiv, da er einen un- chern, lässt sich nicht beirren: »Sollen in un-
reflektierten Enthusiasmus für privates Unter- serem Gefängnis schlechte Elemente fett wer-
nehmertum beinhaltet (vgl. Ferran, S. 208) den oder das Straßenbild verschandeln? Ins
und B. die »amerikanische Besitzgesellschaft« Feld mit ihnen! Man könnte sogar sagen, es ist
»verfälschend« zu idealisieren scheint (Witt- in einer Weise unmenschlich, diese Leute in
kowski, S. 359). Jedoch – verglichen mit den Gefängnissen oder arbeitslos auf der Straße
Bedingungen der rigiden Klassengesellschaft vegetieren zu lassen, wenn sie in der Neuen
im England des 18. Jh.s – stellen die Möglich- Welt als Helden für Englands Freiheit sterben
keit der ökonomischen Existenzverbesserung können.« (Ebd.) Das Sterben für eine »Frei-
und die Chance zum sozialen Aufstieg in Ame- heit«, die sie nicht genießen, ist ausschließlich
rika für Angehörige der Unterschicht ein er- den Zwangsrekrutierten aus der Unterschicht
strebenswertes Ziel dar. Wie George dem als vorbehalten und enthüllt das ständige Gerede
Pfarrer verkleideten Kite, der paradoxerweise vom Patriotismus als leere Phrase. Hatte schon
dazu aufruft, »die englische Freiheit in Ame- der »in der Gosse geborene« Kite (S. 292) An-
rika zu verteidigen« (GBA 9, S. 307), entge- zeichen von Brutalität gegenüber den von ihm
genhält: »Aber ist es nicht so, Reverend, daß durch Tricks und falsche Versprechungen An-
632 Pauken und Trompeten

geworbenen gezeigt (vgl. S. 280 f.), so trifft in ebd.). Balances kategorische Erklärung, dass
der Schluss-Szene die Anwendung der Rekru- Plume nur als »Werber von Soldaten und nicht
tierungsgesetze die Minderbemittelten und meiner Tochter« (S. 268) in Frage komme und
Rechtlosen mit voller Härte. Neben »Dieben, seine vom Besitzdenken diktierte Begründung
Mördern, Trunkenbolden und Verzweifelten des Kontaktverbots zwischen Viktoria und
aller Art« (S. 322), die für das Establisment die Plume – »Hauptleute haben nichts. Du hast
Kastanien aus dem Feuer holen sollen, werden Wälder« (ebd.) –, steht im ironischen Kontrast
auch völlig Unbescholtene wie der in die Bear- zu seiner Versicherung gegenüber Plume:
beitung neu aufgenommene Arbeitslose Work- »Und vor allem haben Sie die flammendste
less und der Bergmann Miner, »ein sehr or- Unterstützung unserer Weiblichkeit. Captain
dentlicher Mensch« (S. 327), willkürlich Plume, Shrewsbury wird Ihnen geben, was Sie
eingezogen und ohne Rücksicht auf den Raub- nötig haben, alles.« (S. 271)
bau, der damit am produktiven Teil der Der Begriff der »Werbung« beinhaltet also
Bevölkerung getrieben wird, förmlich in die Ar- von vornherein – ähnlich wie bei Farquhar –
mee hineingepaukt. Folglich bleibt die berech- die beiden Aspekte des Militärischen und des
tigte Frage, was Miner denn Boston angehe, Amourösen bzw. Sexuellen, wie in dem kurzen
von Balance unbeantwortet (vgl. S. 328). Dialog zwischen Balance und Plume deutlich
Der nach Bekanntwerden des Falls von Bos- wird, in dem Plume, ganz darauf erpicht, der
ton durch Zwangsmaßnahmen herbeigeführte »reizenden Tochter« von Balance näher zu
Erfolg der Rekrutierungskampagne ist teil- kommen, »Werbung« als Aufforderung miss-
weise auf das Wirken einer bei Farquhar nicht versteht, seine Aufmerksamkeit Viktoria zu
vorkommenden Figur zurückzuführen, der ih- widmen (GBA 9, S. 269).
rem Namen Ehre machenden viktorianisch- Der von Bunker Hill zurückgekehrte Plume
sittenstrengen Lady Prude (die Prüde), die al- widmet sich folglich der Werbung im doppel-
lerdings auch den puritanischen Geist des bür- ten Sinne: der Soldatenrekrutierung und der
gerlichen Dramas zu Beginn des achtzehnten Frauenverführung. Bei einem vorherigen Auf-
Jh.s repräsentiert. Sie, die sich bei Balance enthalt in Shrewsbury hat er ein Kind gezeugt,
über die Ausschweifungen der »Soldateska« für das er Kite die Verantwortung zuschiebt;
beschwert, bringt ihn auf die Idee einer »Säu- der zynische »Grundsatz: dieselbe Anzahl Re-
berung«, einer Sittenrazzia, um das leere Ge- kruten, die wir aus dem Land herausnehmen,
fängnis von Shrewsbury mit Kandidaten für müssen wir zurücklassen!« (GBA 9, S. 265),
den Wehrdienst füllen zu können: »Wir wer- bestimmt sein Handeln. Außer mit Viktoria
den dem Gesindel zeigen, wie man sich pa- versucht er zugleich, mit dem drallen (und
triotisch aufführt. Wir werden der Moral allzu bereiten) Landmädchen Rose anzubän-
freien Lauf lassen und wenn das Gefängnis deln, seine Pläne werden aber durch Viktoria,
[…] platzt!« (GBA 9, S. 315) Balances ambiva- die als Fähnrich Wilful auftritt, durchkreuzt.
lente Formulierung vom freien Lauf der Moral Aufgrund ihrer privilegierten sozialen Stel-
verbirgt seine Absicht, ein zeitweiliges Zweck- lung verfügt Viktoria über einen erheblich grö-
bündnis von Moral und seiner Auffassung von ßeren Handlungsspielraum als ihre Ge-
Patriotismus herzustellen. Vorher hatte er sich schlechtsgenossinnen in abhängiger Stellung;
über die Bemühungen Lady Prudes zum sie kann sich den Luxus exquisiter Emotionen
Schutz der weiblichen Bevölkerung lustig ge- erlauben und gleichzeitig zielstrebig ihre Hei-
macht: »Sie können die Töchter dieses Landes ratspläne verfolgen, die auf eine völlige Do-
nicht hindern, seinen Soldaten den schuldigen mestizierung Plumes hinauslaufen. Viktorias
Respekt zu erweisen« (S. 287). Balances Argu- etwas anachronistischer Name ist insofern ge-
ment setzt die Klassentrennung voraus: als Op- rechtfertigt, als sie als Siegerin aus dem Kampf
fer der sexuellen Ausbeutung durch die Solda- um und gegen Captain Plume hervorgeht. Da-
ten sind die sozial niedrig gestellten Frauen bei gewährt ihr ihre Verkleidung – ihre Hosen-
vorgesehen, nicht aber seine Tochter (vgl. rolle – Schutz vor dem Schürzenjäger Plume,
Analyse 633

der sie erst in der 10. Szene erkennt und seine Plume und Worthy die Terminologie der
Entdeckung mit direkter Wendung an das Pu- »Kriegsführung« (GBA 9, S. 264), als sie des
blikum, das freilich von vornherein in das Letzteren unglücklich verlaufende Affäre mit
Spiel eingeweiht ist, bekannt gibt (vgl. S. 317). Melinda diskutieren; der »Krieg [wird ge-
Der Werber ist somit auch der Umworbene, führt] als allgemeine Sache und als Privat-
der sich erst am Schluss, wo das Thema der sache« (GBA 24, S. 417). Freilich lässt sich
Werbung im doppelten Sinne dominiert, in Plume, der sieggewohnte »Eroberer«, von Vik-
einen konventionellen Werber verwandelt, in- toria »erobern« (ebd.) – ein Aspekt, dem im
dem er das Werben von Soldaten aufgibt. Programm des Berliner Ensembles besondere
Das Lied Melindas am Anfang der 3. Szene, Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die
das Rokoko- und pastorale Motive zitiert, kon- »Kriegswirren im fernen Amerika« wurden
trastiert stark mit der folgenden, bissigen Aus- eher beiläufig erwähnt; es ging hauptsächlich
einandersetzung zwischen Viktoria und ihr, in darum, dass »ein junger Offizier vor ihnen be-
der es um die Vorzüge der von ihnen gewählten wahrt wurde, indem er den Stimmen des Her-
Männer, aber auch um die materielle Basis zens und der Vernunft gehorchte« (Weber).
einer »glücklichen« Ehe geht. Noch stärker Die galante Beteuerung Plumes, »Ihrer Liebe,
wird die Idyllik der Schäfer- und Hirtenpoesie Viktoria, opfere ich meinen Ehrgeiz. […]
in der 8. Szene desavouiert, wo das »Wäld- Ruhmreicher, von Ihren Reizen besiegt zu wer-
chen« (GBA 9, S. 307) nicht als idealisierter den, als ganz Amerika zu unterwerfen« (GBA
›locus amoenus‹ (Lustort), sondern als Stätte 9, S. 335 f.), kann nicht darüber hinwegtäu-
sexueller Vergnügungen dient. Trotz ihrer un- schen, dass seine Entscheidung, den Waffen-
sentimentalen Haltung entscheidet sich Vikto- rock an den Nagel zu hängen, auf handfesten
ria in dem altbekannten Konflikt zwischen materiellen Gründen beruht. Von Balance,
»Leidenschaft« und »Vernunft«, den sie in ei- dem von Viktoria weisgemacht wurde, dass sie
nem Zwischenspiel nach der 6. Szene in einem von Plume schwanger sei, vor die Wahl ge-
Lied vorträgt, ihrer Leidenschaft nachzuge- stellt, seine Tochter zu heiraten und in den
ben: »Es folgt dem Hirsche die Hirschkuh / Genuss eines hinlänglichen Einkommens zu
Und dem Löwen die Löwin ins Feld / Und es gelangen oder wegen seiner vermeintlich be-
folgt dem Geliebten das liebende Weib / Wohl absichtigten Verschleppung Viktorias nach
bis ans Ende der Welt.« (S. 294 f.) Viktorias Amerika zu einer Kerkerstrafe verurteilt zu
Lied ist dem Pollys in Die Dreigroschenoper, in werden (vgl. S. 331), willigt Plume in die Hei-
dem Letztere »ihren Eltern ihre Verheiratung rat ein.
mit dem Räuber Macheath« (GBA 2, S. 255– Plume wird seine Entscheidung, »im Verlauf
257) andeutet, darin vergleichbar, dass hier der Episode ins Zivilleben« überzugehen, da-
das paradoxe Verhalten einer liebenden Frau durch erleichtert, dass ihm der Krieg »miß-
illustriert wird. Der distanzierende Gestus von fällt«, denn er »wirft Soldaten gegen Zivili-
Viktorias Vortrag lässt aber darauf schließen, sten« (GBA 24, S. 417). Plume verspürt
dass die evozierten animalischen Triebe »Unlust, als Soldat für zivile Interessen zu
(Hirsch, Löwe) nicht die gesellschaftliche kämpfen« (ebd.). Schon in der 1. Szene beklagt
Konvention sprengen werden (vgl. Ferran, er sich darüber, dass er zum »Steuereintreiber«
S. 182–184). geworden sei und lernen müsse, mit »Dresch-
B. merkte zu den »Widersprüchen« in Pau- flegeln« fertig zu werden (GBA 9, S. 264);
ken und Trompeten an: »Der Offizier schützt in der 11. Szene antwortet er dem Bankier
das Vaterland, wo immer er kämpft, und lebt mit dem sprechenden Namen Smuggler
von dem Land, in dem er stationiert ist, also (Schmuggler; wahrscheinlich aus Farquhars
eventuell auch vom Vaterland, möglichst gut. The Constant Couple übernommen), der ihm
Er versorgt sich mit den Töchtern des Lands in zu verstehen gibt, dass die »Londoner Ge-
gleicher Weise im eignen wie im fremden schäftswelt« (S. 321) darüber bestimmt, ob
Land.« (GBA 24, S. 417) Daher benutzen und wie der Krieg geführt wird: »Sir, solche
634 Pauken und Trompeten

Äußerungen machen mir meinen Beruf nicht der« (S. 327). Die anachronistische Verwen-
schmackhafter. Einige Offiziere Seiner Maje- dung des Widerstands der amerikanischen
stät vom Colonel abwärts fragen sich ohnehin, Kolonisten gegen den Import des mit einer
ob ihr Beruf an der Seite der Rebellen nicht Einfuhrsteuer belegten Tees, den sie in einer
interessanter und rühmlicher wäre.« (Ebd.) Protestaktion im Bostoner Hafen ins Meer
Der Status Plumes als jemand, der von der schütteten, dient im Gegensatz zu den anderen
Ausbeutung anderer profitiert, wird allerdings im Stück verwendeten Ereignissen aus dem
von solchen Sympathieerklärungen für die amerikanischen Unabhängigkeitskrieg als rein
»Rebellen« nicht berührt; als Zivilist, so B., komödienhaftes Element, das als Vorausset-
wird er »anstatt in Amerika dann in England zung dafür dient, dass Worthy und Melinda
exploitieren« (GBA 24, S. 417). schließlich ein von der Komödientradition ge-
Worthy, der neben Balance und Smuggler fordertes ›glückliches‹ Paar werden.
zum Establishment gehört, hat eine weitaus B.s Bemerkung, »Patriotismus und Egois-
bedeutendere Rolle als der nur am Ende des mus decken sich in der herrschenden Klasse«
Stücks auftretende Smuggler. Obwohl er sich (GBA 24, S. 417), wird besonders deutlich in
der »Kompagnie« Plumes anschließen will der Episode der Schluss-Szene, in der Balance
(GBA 9, S. 311), weil er sich von Melinda abge- Plume nachdrücklich empfiehlt, aus dem Mili-
wiesen glaubt, erinnert ihn Balance an seine tärdienst auszuscheiden und seine Tochter zu
eigentliche Funktion: »Unsinn! Sie sind heiraten. Plume weigert sich anfänglich mit
Schuhfabrikant, nicht Krieger! Ebenso könn- Hinweisen auf seinen »Beruf« und seine
ten Sie verlangen, daß ich die Muskete auf die »Pflicht gegenüber England«, worauf Balance
Schulter nehme.« (S. 314) Die Mitglieder der erwidert: »Und Ihre Pflicht gegenüber meiner
herrschenden Klasse verdienen am Krieg, aber Tochter?« (GBA 9, S. 331). Balance ist durch
sie überlassen das Kämpfen anderen. Letztlich Anwendung der Rekrutierungsgesetze in der
entscheiden Besitz und Geld darüber, wer in Lage, seine und seiner Tochter Reputation zu
den Krieg zieht. bewahren, indem er andere dazu zwingt, dem
Das trifft auch auf Brazen zu, den geschwät- Patriotismus Opfer zu bringen. Kurzerhand
zigen, hemmungslosen Opportunisten und Ri- wischt er den Einwand, dass Brazen, ein ent-
valen Worthys. Er hatte bedenkenlos seinen laufener Kassierer, noch nie eine Kompanie
Dienst quittiert, um die reiche Melinda heira- geführt habe, mit dem seine eigenen Motive
ten zu können; in der Schluss-Szene im Haus kaschierenden Argument beiseite: »[…] hier
des Richters Balance, in der zwei, die private entscheiden einzig und allein die Interessen
Lösung der Konflikte unter Mitgliedern der Englands« (S. 336). Noch einmal wird das pri-
Oberklasse mit dem öffentlichen Missbrauch vate »Glück« der Besitzenden mit dem harten
des Rechts im Dienste der Zwangsrekrutie- Schicksal der von den Zwangsrekrutierungen
rung miteinander verknüpfende, Handlungen Betroffenen konfrontiert: während Plume Vik-
parallel ablaufen, verwandelt sich Brazen je- toria seine Liebe beteuert, verliest Brazen die
doch sehr schnell und augenfällig durch einen »Kriegsartikel«, die bei Verstößen gegen die
Kleidertausch mit Plume auf offener Bühne Armeedisziplin die Todesstrafe durch Erschie-
(vgl. GBA 9, S. 335) wieder in einen Offizier. ßen androhen (vgl. S. 335 f.). Balance bringt
Er übernimmt Plumes Kompanie, als Balance einen Champagnertoast auf »das gute alte Eng-
verbreiten lässt, dass Melinda ihr in Tee in- land!« (S. 337) aus und bricht anschließend zur
vestiertes Vermögen bei der so genannten Bos- Fasanenjagd auf, während die Rekruten sin-
ton Tea Party (16. Dezember 1773) verloren gend abmarschieren. Eine Strophe des von
habe (vgl. S. 324). Balances Spekulation auf Farquhar übernommenen, aber überarbeiteten
die Habgier Brazens geht auf; er kommentiert Liedes Over the hills and far away deutet an,
den Rückzug des Letzteren mit den verball- dass trotz der Bewahrung des status quo im
hornten Worten Meister Antons aus Hebbels Stück die – dem Zuschauer bekannte – ge-
Maria Magdalena: »Ich verstehe die Welt wie- schichtliche Entwicklung anders verlaufen
Analyse 635

wird: »König George, gebeugt und alt / Hat auf Wirkung


der Stirn eine Kummerfalt / Daß ihm sein Hab
in die Binsen geh / Dort über den Hügeln und
über der See.« (S. 338) In der WA (6, S. 2709) Am 19. September 1955 fand die äußerst er-
kommen Mike (in GBA: George) und Lucy als folgreiche Uraufführung am Berliner Ensem-
Repräsentanten einer neuen Ordnung ab- ble unter der Regie von Benno Besson statt; bis
schließend zu Wort: ihr Wunsch nach der Be- zum 10. 7. 1958 wurde das Stück dort 165-mal
freiung der amerikanischen Kolonien von eng- gespielt. Das Bühnenbild von Carl von Appen
lischer Herrschaft antizipiert den Ausgang des (Abbildungen der Handlungsorte auf grau-
amerikanischen Unabhängigkeitskriegs. B.s weißen Leinwänden) war, so Herbert Ihering„
positive Beurteilung des revolutionären Ur- »luftig und zart« (Wyss, S. 327), Rudolf Wag-
sprungs der Vereinigten Staaten und seine Ver- ner-Regeny, der im Oktober den Nationalpreis
urteilung der Politik der USA während des erhielt (vgl. GBA 30, S. 382), zeichnete für die
Kalten Kriegs, »die mehr derjenigen des frü- Musik verantwortlich. In den Hauptrollen
heren Kolonialreiches England« glich (Seliger, spielten Dieter Knaup (Plume) und Regine
S. 240), schließen dabei einander keineswegs Lutz (Viktoria), deren Hosenrolle großen Bei-
aus, sondern lenkten den Blick auf die pro- fall fand (vgl. Hecht, S. 1182). Allerdings
gressiven Traditionen der Supermacht zu einer setzte B. an Knaup aus, dass es ihm nicht ge-
Zeit, als die USA in der DDR-Presse ständig lungen sei, die »schlaksige Beschränktheit
angegriffen wurden. Plumes, seinen naiven Egoismus« (GBA 30,
Gleichzeitig macht der Titel der Bearbei- S. 404) überzeugend darzustellen; die Beset-
tung, Pauken und Trompeten, darauf aufmerk- zung der Rolle des Balance mit dem vorüber-
sam, dass sich hier eine überständige Gesell- gehend erkrankten Georg August Koch beur-
schaft zeigt, deren Hohlheit und bevorste- teilte er als gut (vgl. S. 425). Ernst Schumacher
hender Untergang nicht durch den zur Schau lobte die »Leichtigkeit, die Eleganz, das Spie-
gestellten (militärischen) Prunk und Pomp lerische« (Wyss, S. 327) der Regie Bessons; B.
überdeckt werden können. In einem Gespräch erachtete es für notwendig, Bessons »Talent,
zwischen Plume und Balance gebraucht Letz- Intelligenz und Geschmack« (GBA 23, S. 594)
terer die Redewendung »mit Pauken und gegen Angriffe aus Schauspielerkreisen zu
Trompeten absaufen« (GBA 9, S. 296); aller- verteidigen.
dings bezieht sich die Redewendung nicht auf Eine Tendenz zur eindeutigen Instrumen-
das fruchtlose Unternehmen der Rettung des talisierung des Stücks im Rahmen des Ost-
englischen Kolonialsystems, sondern auf das West-Konflikts lässt sich zunächst nicht erken-
Theater, das sich hier als falsches und über- nen. Einerseits betrachtete das Zentralorgan
holtes erweist. Es stellt insbesondere die sich der SED Neues Deutschland, das sonst B.-In-
in Äußerlichkeiten erschöpfenden Pracht- und szenierungen zu ignorieren oder mit erhebli-
Paraderollen der Offiziere bloß, indem es sie cher Verspätung zur Kenntnis zu nehmen
als Kostümträger entlarvt, die bei hinlängli- pflegte, die Bearbeitung eher als Verharmlo-
chem materiellen Anreiz gern bereit sind, ihr sung des antimilitaristischen Dramas Farqu-
Kostüm zu wechseln und sich im Zivilleben hars (vgl. GBA 9, S. 448), und Fritz Erpenbeck
den konventionellen und restriktiven sexuel- fand die Darstellung des Volks »zu dumm, zu
len Normen des Bürgertums anzupassen (vgl. primitiv-animalisch« (Erpenbeck, S. 52). An-
Knopf, S. 92 f.). dererseits befand der Rezensent des Spiegel,
dass B. seine »politische Lehrdichtung« mit
einer »komischen Herzensintrige« verquickt
habe (Anonymus, S. 52 f.). Angesichts der Tat-
sache, dass im Programmheft »zweierlei Mili-
tär« (S. 52) vorgestellt wurde, ist es zweifel-
haft, dass B. auch die Soldatenwerbung für die
636 Pauken und Trompeten

Kasernierte Volkspolizei kritisieren wollte szenierungen von den der Bearbeitung inhä-
(vgl. Klump, S. 110 f.). renten Möglichkeiten Gebrauch: von der Dar-
Es war wohl der von den Rezensenten kon- bietung »mit einer gewissen Leichtigkeit, mit
statierte ambivalente Charakter des Stücks, Komödienantenhaftem, ja, sogar mit Spaß«
der es zum Export geeignet machte. Im Juni wie in Tokio 1998 (Ayugai, S. 20) bis zur Ver-
1956 fand ein dreitägiges Gastspiel in Mün- mittlung einer starken sozialen Botschaft wie
chen statt, an dem B. wegen seiner Erkran- in Denver (vgl. Victor-Rood, S. 67).
kung nicht teilnehmen konnte (vgl. GBA 30,
S. 462); ein dreiwöchiges Londoner Gastspiel
begann zwei Wochen nach B.s Tod am 27. 8. Literatur:
1956. Hier wiederholten sich die Deutungs- [Anonymus]: Brecht-Premiere. Zweierlei Militär.
muster: ein englischer Kritiker empfand das In: Der Spiegel 9, H. 39 (21. 9. 1955), S. 36–37. –
Stück als Propaganda, aber als heitere und Archer, William: George Farquhar. New York 1949. –
unwiderlegbare Propaganda (vgl. Tynan, Ayugai, Monika: Pauken und Trompeten zum 100. Ge-
S. 453 f.). Ähnlich äußerte sich ein amerika- burtsjahr von Brecht in Tokio. In: Communications
28,H. 1 (1999), S. 20–24. – Clurman, Harold: Bertolt
nischer Rezensent, der Pauken und Trompeten
Brecht. In: Friedman, Morris (Hg.): Essays in the
in Berlin gesehen hatte (vgl. Clurman, S. 159). Modern Drama. Boston 1964, S. 151–159. – Erpenb-
Das Gastspiel des Berliner Ensembles, das den eck, Fritz: Sozialaristokraten von Arno Holz in den
freilich bescheidenen internationalen Erfolg Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin.
von Pauken und Trompeten auch durch Gast- Pauken und Trompeten von George Farquhar [sic] im
spiele in Moskau und Leningrad 1957 begrün- Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm. In: Thea-
ter der Zeit (1955), H. 11, S. 51–55. – Ferran, Peter
den half, hatte Langzeitwirkung: als 1963 das
W.: Brecht and Farquhar: The Critical Art of Drama-
National Theatre The Recruiting Officer unter tic Adaptation. Unveröff. Diss. University of Michi-
der Regie von William Gaskill und mit Sir gan 1972. – Fludas, John P.: Brecht’s Art of Adapta-
Laurence Olivier und Maggie Smith in den tion: The English Plays. Diss. Northwestern Univer-
Hauptrollen aufführte, war der Einfluss der sity 1969 [Masch.]. – Fuegi, John B.: The Artful
Regiekonzeption von Pauken und Trompeten Artificer, Bertolt Brecht: A Study of Six Bearbeitun-
gen. Diss. University of Southern California 1967
unverkennbar (vgl. Nightingale).
[Masch.]. – Giese, Peter Christian: Das »Gesell-
Trotz anfänglicher Akzeptanz in der dama- schaftlich-Komische«. Zu Komik und Komödie am
ligen Bundesrepublik blieb das Stück nicht von Beispiel der Stücke und Bearbeitungen Brechts.
der Ost-West-Kontroverse verschont. Jeden- Stuttgart 1974. – Grimm, Reinhold: Bertolt Brecht
falls versuchten die Lübecker Stadtväter im und die Weltliteratur. Nürnberg 1961. – Hahnloser-
Verlauf des B.-Boykotts im Anschluss an den Ingold, Margrit: Das englische Theater und Bert
Brecht. Bern 1970. – Hecht. – Kebir, Sabine: Ich
Bau der Berliner Mauer am 13. 8. 1961 er-
fragte nicht nach meinem Anteil. Elisabeth Haupt-
gebnislos, eine Aufführung zu verhindern. Ob- manns Arbeit mit Bertolt Brecht. Berlin 1997. –
wohl Ernst Wendt den Mut des Intendanten Klump, Brigitte: Das rote Kloster. Eine deutsche Er-
angesichts der »Einflußnahme politischer Gre- ziehung. Hamburg 1978. – Knopf, Jan: Mit Pauken
mien« anerkannte, bemängelte er den fehlen- und Trompeten absaufen. Zu Brechts Bearbeitung
den »poetischen Reiz« und die ungenügende Pauken und Trompeten (1955). In: Roessler, Peter
(Hg.): Theater und Geschichte (= TheaterZeit-
Artistik der Inszenierung (Wendt, S. 47).
Schrift 33/34, 1993), S. 87–93. – Mews, Siegfried:
Weitere Inszenierungen, die sich nachwei- An Anti-Imperialist’s View of the American Revolu-
sen lassen, fanden hauptsächlich im Ausland tion: Brecht’s Adaptation of Farquhar’s The Recru-
statt: 1969 im Pariser Théâtre de la ville, 1975 ting Officer. In: University of Dayton Review 14
beim kanadischen Stratford Festival, 1984 in (1980), H. 2, S. 29–38. – Mieder, Wolfgang: »Der
Denver im US-Bundesstaat Colorado, 1960 Mensch denkt: Gott lenkt – keine Red davon!«
Sprichwörtliche Verfremdungen im Werk Bertolt
und 1998 in Tokio. Diese etwas dürftige Stati-
Brechts. Bern 1998. – Nightingale, Benedict: Not the
stik erlaubt es kaum, von einer breiten inter- Full King’s Shilling. The Recruiting Officer. In: The
nationalen Resonanz des Stücks zu sprechen; Times (London), 14. 3. 1992. – Reich, Bernhard: Im
immerhin machten die Regisseure dieser In- Wettlauf mit der Zeit. Erinnerungen aus fünf Jahr-
637

zehnten deutscher Theatergeschichte. Berlin 1970. – AION(T) – Annali Sezione Germanica. Studi tedesci
Schütz, Gertrud [u. a.] (Hg.): Kleines Politisches 18 (1975), H. 1, S. 81–97, S. 198–199 [mit dt. Zusam-
Wörterbuch. 3. Aufl. Berlin 1978. – Seliger, Helfried menfassung]. – Völker. – Weber, [Carl] (Hg.): Pro-
W.: Das Amerikabild Bertolt Brechts. Bonn 1974. – gramm Pauken und Trompeten. Berlin [1956]. –
Shugrue, Michael: Introduction. In: Farquhar, Ge- Wekwerth, Manfred: Schriften. Arbeit mit Brecht.
orge: The Recruiting Officer. Lincoln, Nebraska Berlin 1973. – Wendt, Ernst: Lübeck. In: Theater
1965, S. IX-XXI. – Subiotto, Arrigo V.: Bertolt heute (1962), H. 2, S. 47. – Wertheim, Albert: Bertolt
Brecht’s Adaptations for the Berliner Ensemble. Brecht and George Farquhar’s The Recruiting Offi-
London 1975. – Tynan, Kenneth: Trumpets and cer. In: Anselment, Raymond A. (Hg.): Farquhar, The
Drums. In: Ders.: Curtains. Selections from the Recruiting Officer and The Beaux’ Stratagem: A Ca-
Drama Criticism and Related Writings. New York sebook. London 1977, S. 178–190. – Wittkowski,
1961, S. 451–453. – Victor-Rood, Juliette: Trumpets Wolfgang: Aktualität der Historizität. Bevormun-
and Drums Directed by Barbara Damashek. Denver dung des Publikums in Brechts Bearbeitungen. In:
Center Theater, May 1984. In: Communications 14 Hinderer, S. 343–368. – Wyss.
(1985), H. 2, S. 65–67. – Vigliero, Consolina: Un
rifacimento Brechtiano: Pauken und Trompeten. In: Siegfried Mews
639

Aufbau einer Rolle. Laughtons Galilei 45,


Register der erwähnten 364, 557
Werke Brechts Aufruf zur Verteidigung 412
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny 2, 3,
29, 40, 81, 178, 197, 297, 303, 312, 402
Alabama Song 182, 191 Augsburger Kriegsbriefe 67
Alexander und seine Soldaten 54, 56 Aus dem Lesebuch für Städtebewohner 2,
Allgemeine Theorie der Verfremdung 154 125, 181, 235, 239
Als ich einst in Taurion ging 414 Aus dem Theaterleben 107
Als ich mein Brautkleid anzog 198 Aus nichts wird nichts 28, 54, 60, 66
An die Gleichgeschalteten 425 Aus nichts wird nichts und Lehrstücke 28
Ändere die Welt, sie braucht es 256 Aussprache über den »Don Juan« 615
Anleitung zur »Hauspostille« 74
Anmerkung (»Das Badener Lehrstück vom Baal 1, 11, 12, 14, 18, 57, 69, 88, 100–102, 113,
Einverständnis«) 33, 232, 236 117, 118, 125, 132, 188, 189, 287, 450
Anmerkung zu »Furcht und Elend des Dritten Bagaglia 151
Reiches« 344 Balkankrieg 105
Anmerkungen (»Coriolanus«) 25 Ballade vom angenehmen Leben 202, 204,
Anmerkungen (»Turandot«) 601 210
Anmerkungen (»Was kostet das Eisen?«) 381 Ballade vom armen Stabschef 469
Anmerkungen (»Der Hofmeister«) 568, 569, Ballade vom Förster und der Gräfin 444, 447,
574 508
Anmerkungen (»Die Maßnahme«) 35, 262 Ballade von der Traurigkeit der Laster
Anmerkungen zu »Die Gewehre der Frau 198
Carrar« 332 Ballade von der Unzulänglichkeit
Anmerkungen zum »Lindberghflug« 31, 32, menschlichen Strebens 203
223, 225 Ballade von des Cortez Leuten 56
Anmerkungen zum Lustspiel »Mann ist Ballade, in der Macheath jedermann Abbitte
Mann« 153 leistet 204
Anmerkungen zum Volksstück 448, 453 Bargan läßt es sein 56, 117
Anmerkungen zur »Mutter« 301, 305 Bei der Kanone dort 487
Anmerkungen zur »Antigone« 536 Bei Durchsicht meiner ersten Stücke 18, 56,
Anmerkungen zur »Dreigroschenoper« 203 88, 115, 116, 120, 154
Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Bemerkungen zu »Turandot« 597, 608
Stadt Mahagonny« 23, 50, 93, 192, 193, 237, Bericht über das Erreichte 217, 219
303, 317 Bericht über das Unerreichbare 225
Anna Seghers. Der Prozeß der Jeanne d’Arc Bertolt Brechts Hauspostille 74, 133, 178, 181,
zu Rouen 1431 19, 269, 591 259
Anstatt daß (Song) 204 Biberpelz und roter Hahn siehe Gerhart
Antigonemodell 1948 5, 45, 48, 49, 532, 535, Hauptmann. Biberpelz und roter Hahn
536, 543, 557 Blasphemie 181
Anweisung für die Spieler 324, 325 Braunbuch II (Entwurf) 461, 467
Arbeitsbeschaffung (»Furcht und Elend des Brief an das Arbeitertheater »Theatre Union«
III. Reiches«) 342, 349, 352 in New York, das Stück »Die Mutter«
Arbeitsdienst (»Furcht und Elend des III. betreffend 296, 299
Reiches«) 354 Brückenverse (»Antigone«) 49, 532
Arie der Lucy 199, 201 Buch der Wendungen 52, 63, 323, 600
Arturo Ui 460 siehe auch Der Aufstieg des Buckower Elegien 20, 601
Arturo Ui Büsching 54, 58, 64, 168, 582
640 Register der erwähnten Werke Brechts

Caesarroman 62, 151 Demonstration der Moskauer Arbeiter 303


Cäsar und sein Legionär 402 Der achte Elefant 419, 422, 437
Chinesischer Vatermord 54 Der alte Kämpfer (»Furcht und Elend des III.
Choral vom Manne Baal 76, 79 Reiches«) 341, 347, 352, 354
Coriolan 5, 14, 15, 19, 23, 47, 555, 557, 585 Der Arbeitsplatz oder Im Schweiße deines
Couragemodell 1949 45, 398, 557 Angesichts sollst du kein Brot essen 429
Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui 459,
Dan Drew 54, 56, 147, 148 460 siehe auch Der Aufstieg des Arturo Ui
Dansen 64, 338, 379, 384 Der Aufstieg des Arturo Ui 20, 151, 277, 339,
Dansen I und II 380, 382 382, 459, 601
Dante-Revue 54, 63 Der Augsburger Kreidekreis 162, 512, 513
Darstellung der Kirche 363 Der Barbara-Song 198, 202, 633
Das Badener Lehrstück vom Einverständnis 2, Der Bauer füttert die Sau (»Furcht und Elend
29, 31, 33, 44, 55, 58, 169, 172, 173, 182, des III. Reiches«) 342, 353, 354
217, 225, 234, 245, 252, 253 siehe auch Der Bettler oder Der tote Hund 100, 105
Lehrstück Der Bischof Cauchon von Beauvais 593
Das deutsche Drama vor Hitler (The German Der böse Baal der asoziale 28, 54, 58, 72
Drama: pre-Hitler) 516 Der Brotladen 54, 57, 59, 66, 147, 168, 238,
Das Elefantenkalb oder Die Beweisbarkeit 267, 492
jeglicher Behauptung 153, 154, 161, 162, Der Brückenbauer 54, 59
165, 512 Der Choral vom großen Baal 77
Das Geschmackliche bei der Aufführung 566 Der Dreigroschenprozeß 4, 203
Das Kreidekreuz (»Furcht und Elend des III. Der Ehesong 198
Reiches«) 342, 347, 348, 351, 354 Der Entlassene (»Furcht und Elend des III.
Das Lied des Wirtshauses »Zum Kelch« 489 Reiches«) 351
Das Lied vom Rauch 419, 420, 422, 436 Der Fischzug 100, 109
Das Lied vom Sankt Nimmerleinstag 422, Der Flug der Lindberghs. Ein Radiolehrstück
437 für Knaben und Mädchen 30–31, 223, 226,
Das Lied vom Weib des Nazisoldaten 490 297 siehe auch Der Lindberghflug und Der
Das Lied vom Weib und den Soldaten 386 Ozeanflug
Das Lied von der erschröcklichen Lehre 362 Der Gefühlsersatz (»Furcht und Elend des III.
Das Lied von der Tünche 311, 313 Reiches«) 340
Das Lied von der Wehrlosigkeit der Götter Der Geschwisterbaum 80
und Guten 422, 423 Der grüne Garraga 57
Das Lob der dritten Sache 304, 307 Der gute Mensch von Sezuan 4, 8, 11, 12, 41,
Das neue Kleid (»Furcht und Elend des III. 45, 54, 59, 62, 317, 320, 327, 418, 445
Reiches«) 352 Der gute Mensch von Sezuan (Version 1943)
Das Pflaumenlied 443, 446 420
Das Puntilalied 443 Der Hamlet der Weizenbörse 151
Das Saarlied 312 Der Hofmeister von Jacob Michael Reinhold
Das Terzett der entschwindenden Götter auf Lenz 5, 14, 15, 17, 19, 26, 27, 47, 48, 557,
der Wolke 419, 422 563
Das Urbild Baals 71 Der Impotente 54
Das Verhör des Lukullus 8, 401, 554 siehe Der Ingwertopf 63
auch Die Verurteilung des Lukullus Der Jasager (2. Fassung) 249–252, 260
Das war der Bürger Galgei 152 Der Jasager / Der Neinsager 33, 242, 234,
Das wirkliche Leben des Jakob Gehherda 59, 237, 253, 254, 257, 262, 268, 316, 404 siehe
326 auch Der Neinsager
David 54, 55, 66, 117, 337, 339 Der Kälbermarsch 203, 486
Register der erwähnten Werke Brechts 641

Der Kanonen-Song 153, 199, 202 Die Ausnahme und die Regel 35, 36, 262, 288,
Der kaukasische Kreidekreis (Erzählung) 49 322, 324
Der kaukasische Kreidekreis 12, 49, 162, 291, Die Bälge 54, 57
452, 453, 484, 491, 501–503, 509, 512, 577, Die Ballade vom angenehmen Leben der
590 Hitlersatrapen 204
Der kranke Mann stirbt und der starke Mann Die Ballade vom Knopfwurf 313
ficht 291 Die Ballade von der sexuellen Hörigkeit 199,
Der Kreidekreis in den Bürgerkriegen 513 202, 204
Der Lebenslauf des Boxers Samson-Körner 9 Die Bergpredigt (»Furcht und Elend des III.
Der Lindberghflug 2, 29, 30, 216, 219, 227, Reiches«) 351
228, 231, 233, 242, 297, 405 siehe auch Der Die Berufskrankheit (»Furcht und Elend des
Flug der Lindberghs und Der Ozeanflug III. Reiches«) 352
Der Mann-ist-Mann-Song 154, 156 Die Beule. Ein Dreigroschenfilm 203, 214, 311
Der Messingkauf 17, 22, 50, 342, 346, 348, Die Bibel 5, 11, 67, 73, 458
580 Die Courage lernt nichts 383, 397
Der Neinsager 34, 249, 251, 252, 260 siehe Die Decke 426
auch Der Jasager / Der Neinsager Die deutsche Heerschau (»Furcht und Elend
Der neue Kanonen-Song 204 des III. Reiches«) 345, 350
Der Ozeanflug 30, 31, 226 siehe auch Der Die Dialektik auf dem Theater 22, 25
Lindberghflug und Der Flug der Die Dreigroschenoper 2, 3, 8, 10, 12, 14, 18,
Lindberghs 43, 148, 153, 167, 175, 179, 183, 197, 242,
Der Prozeß der Jeanne d’Arc siehe Anna 259, 268, 301, 329, 400, 402, 514, 520, 529,
Seghers. Der Prozeß der Jeanne d’Arc zu 625
Rouen 1431 Die Dreigroschenoper (Film) 203, 214
Der Salzburger Totentanz 64 Die Erde bewegt sich 358
Der Schnapstanz 90 Die Ernte 5, 67, 100, 105
Der Spitzel (»Furcht und Elend des III. Die Feindseligen 114
Reiches«) 342–345, 347, 349, 351, 355 Die Fleischbarke 56
Der Streit um das Tal 515, 517 Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar 54, 61,
Der Tuiroman 60, 62, 338, 599, 600 402
Der Untergang der Kommune 546 Die Geschichte des Giacomo Ui siehe Wenige
Der Verrat (»Furcht und Elend des III. wissen heute
Reiches«) 352 Die Gesichte der Simone Machard 269, 458,
Der Wagen des Ares 54, 63 475, 503, 509, 545, 550, 593, 594
Der Wald 114 Die Gewehre der Frau Carrar 3, 12, 39, 45, 64,
Der Weizen 147, 151 271, 306, 331, 381, 492, 545, 550, 592, 595,
Der Wolf ist zum Huhn gekommen 443 596
Der Zeuge (»Furcht und Elend des III. Die heilige Johanna der Schlachthöfe 8, 20,
Reiches«) 341 56, 59, 60, 115, 127, 147, 151, 238, 239, 255,
Des Bettler’s Oper 198 266, 289, 300, 458, 477, 532, 561, 592, 598,
Deutsches Miserere 486, 489 618
Deutschland 1952 594 Die heilige Johanna von Vitry (Die Stimmen)
Deutschland, ein Greuelmärchen 341, 342 475 siehe auch Die Gesichte der Simone
Dickicht 114 Machard
Die Angst 341, 342 Die Herzogin von Malfi siehe The Duchess of
Die Ängste des Regimes 342 Malfi
Die Antigone des Sophokles 5, 14, 15, 17–19, Die Hochzeit 81, 100, 101, 106, 160
21, 25, 26, 45, 532, 557, 575 Die Horatier und die Kuriatier 8, 35, 36, 262,
Die Augsburger Sonette 28, 72 320
642 Register der erwähnten Werke Brechts

Die Internationale (»Furcht und Elend des III. Die Vermißten (»Furcht und Elend des III.
Reiches«) 341 Reiches«) 341
Die jüdische Frau (»Furcht und Elend des III. Die Verurteilung des Lukullus 412, 628 siehe
Reiches«) 341, 342, 344, 345, 347, 351, auch Das Verhör des Lukullus
355 Die Verurteilung des Prometheus 65
Die Judith von Saint Denis 458 Die Visionen der Simone Machard 475 siehe
Die Judith von Shimoda 54, 63, 66, 456 auch Die Gesichte der Simone Machard
Die Jungfraunballade 198 Die Ware Liebe 317, 418
Die Kiste (»Furcht und Elend des III. Dienst am Volke (»Furcht und Elend des III.
Reiches«) 342, 354 Reiches«) 341, 354
Die Kleinbürgerhochzeit 101 Diese babilonische Verwirrung der Wörter
Die letzten Wochen der Rosa Luxemburg 296 151
Die Liebenden 179 Don Carlos (Besprechung) 268
Die Lösung 606 Don Juan von Molière 5, 14, 15, 17, 19, 24,
Die Luden-Oper 198, 201, 208 25, 27, 46, 49, 613
Die Mädchen von England 145 Dramaturgische Bemerkungen (»Der gute
Die Maßnahme 2, 6, 11, 33, 37, 58, 60, 68, Mensch von Sezuan«) 437
208, 234, 239, 241, 248, 249, 253, 279, 288, Dreigroschenfilm siehe Die Beule. Ein
301, 302, 303, 304, 584 Dreigroschenfilm
Die Mittel wechseln 323 Dreigroschenroman 181, 203, 209, 457
Die Mörder sind unter uns 198
Die Moritat von Mackie Messer 197, 199, 202, Edis Kebsweib 145
203, 204 Eduard II. siehe Leben Eduards des Zweiten
Die Mutter 11, 47, 60, 127, 268, 271, 294, 310, von England
408, 561, 584 Eine Familie aus Savannah. Historie in elf
Die Neandertaler 54 Bildern 149, 150
Die neue Sonne 37 Einführung. »Die Dreigroschenoper« 208, 209
Die Partei ist in Gefahr 300 Einige Bemerkungen über mein Fach 20
Die Physiker (»Furcht und Elend des III. Einleitung zu »Die Stücke« 200
Reiches«) 352 Einschüchterung durch die Klassizität 17
Die Reisen des Glücksgotts 54, 58, 63, 529 Eisbrecher Krassin 54, 59
Die Rundköpfe und die Spitzköpfe 14, 60, Engelbrecht 65, 381
239, 277, 309, 321, 339, 465, 470, 479, 491, Epilog zum »Hofmeister« 568, 569, 604
601 Er treibt einen Teufel aus 100, 106
Die Schauspielerin im Exil (Helene Weigel Erklärung (Pariser Abmachungen) 627
gewidmet) 332 Erläuterungen (»Der Flug der Lindberghs«)
Die Schlacht fing an im Morgengrauen 516 32, 225
Die Seeräuber-Jenny 12, 198, 202, 209 Erste Stücke 71, 72, 88, 146, 154
Die sieben Todsünden der Kleinbürger 314, Es kommt ein Morgenrot 90
316
Die Songs der Dreigroschenoper 204 Fanny Kress 317
Die Spitzköpfe und die Rundköpfe 310 siehe Fatzer 4, 28, 53, 54, 57, 59, 72, 167, 197, 229,
auch Die Rundköpfe und die Spitzköpfe 238, 485, 492, 583, 584
Die Stimmen 475 siehe auch Die Gesichte der Fatzerdokument 58, 168, 171, 172, 174, 176
Simone Machard Fatzerkommentar 168, 171–174, 176
Die Stunde des Arbeiters (»Furcht und Elend Fegefeuer in Ingolstadt (Marieluise Fleißer)
des III. Reiches«) 354 10
Die Tage der Kommune 37, 127, 458, 544 Finnische Erzählungen 443, 449
Die Trophäen des Lukullus 402, 630 Fleischhacker siehe Jae Fleischhacker
Register der erwähnten Werke Brechts 643

Flüchtlingsgespräche 51, 52, 384, 444, 484, 47, 51, 62, 287, 291, 327, 419, 440, 456,
510 484, 508, 546
Fragen eines lesenden Arbeiters 160 Hitler-Choräle (2) 311
Freiheit 114 Hollywood 600
Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Hollywoodelegien 317, 487, 604
Wahrheit 313, 516 Horenlied 386
Funktionswechsel des Theaters 151 Hurrikanstück siehe Eine Familie aus
Für das Programmheft zur Heidelberger Savannah
Aufführung (»Im Dickicht der Städte«) 119 Hymne des erwachenden Jahoo 311–313
Furcht und Elend des III. Reiches 3, 52, 64,
339, 404, 509, 556 Iberin-Choral siehe Hymne des erwachenden
Jahoo
Galgei 54, 55, 57, 117, 147, 152 Im Dickicht 71, 119, 125, 126, 147
Galileo 1, 45, 358, 363, 364, 375, 501–503, Im Dickicht der Städte 2, 56, 72, 88, 111, 112,
508–510, 548 siehe auch Leben des Galilei 113
Galileo Galilei. Leben des Galilei 358 siehe Im Gefängnis zu singen 307
auch Leben des Galilei Ist »Die Heilige Johanna der Schlachthöfe«
Garbe siehe Büsching ein realistisches Werk? 271
Gebet einer Jungfrau 191 Ist der »Hofmeister« ein »negatives Stück«?
Gegen Verführung 180, 181, 195 26, 565
Geh du ruhig in die Schlacht, Soldat 516
Gehherda siehe Das wirkliche Leben des Jae Fleischhacker in Chikago 54, 56, 147, 197,
Jakob Gehherda 267
Generäle über Bilbao 333 Joe Fleischhacker 147
George Garga oder Das Dickicht 114 Journal/Journale 5, 16, 25, 28, 57, 339, 449,
Gerhart Hauptmann. Biberpelz und roter 459, 460, 502
Hahn 14, 26, 27, 48, 557, 578
Gesang der gefallenen Legionäre 412 Kalendergeschichten 402
Gesang der Reiskahnschlepper 255 Kalkutta, 4. Mai (Lion Feuchtwanger) 1
Gesang der Textilarbeiter 255, 261 Kantate Erster Mai 303
Geschichten vom Herrn Keuner 52, 72, 229 Kassandra 65
Gesindel 198, 208 Katzgraben (Erwin Strittmatter) 1
Gespräch über Klassiker 17, 144 Katzgraben-Notate 22, 25
Gewohnheiten, noch immer 20 Keiner oder alle 545, 553
Glosse für die Bühne (»Trommeln in der Keuschheitsballade 102
Nacht«) 87, 88, 94 Kleine Geschäfte mit Eisen 380
Goliath 54, 59, 61, 336 Kleines Organon für das Theater 23, 37
Kriegsfibel 349, 464, 470
Hamburg. 1938 (»Furcht und Elend des III. Kuhle Wampe siehe Weekend – Kuhle Wampe
Reiches«) 340 Kurze Beschreibung einer neuen Technik der
Hangmen Also Die 1, 503, 509 Schauspielkunst, die einen Verfremdungs-
Hannibal 54, 56, 129, 147 effekt hervorbringt 142, 526
Hans im Glück 55, 57
Happy End 43, 51, 59, 267 Leben des Einstein 54, 65
Hauspostille siehe Bertolt Brechts Leben des Galilei 1, 4, 11, 45, 62, 65, 168, 219,
Hauspostille 334, 357, 383, 384, 492, 501, 550, 609
Herr Keuner und die Originalität 9 Leben des Konfutse 54, 63
Herr Makrok 54, 57 Leben des Menschenfreunds Henri Dunant
Herr Puntila und sein Knecht Matti 8, 15, 46, 54
644 Register der erwähnten Werke Brechts

Leben Eduards des Zweiten von England 9, Mackie Messer siehe Die Moritat von Mackie
14, 18, 42, 43, 132, 267 Messer
Lebenslauf des Mannes Baal. Dramatische Mahagonny. Songspiel 108, 113, 148, 180, 181,
Biografie 43, 71, 72 183, 187, 316
Legende vom toten Soldaten 90 Mahagonnygesänge 178, 180
Legende von der Entstehung des Buches Mahagonnysongs 181
Taoteking auf dem Wege des Laotse in die Malfi siehe The Duchess of Malfi
Emigration 120 Mandelay Song 181, 191
Lehrstück 29, 30, 33, 35, 44, 217, 226, 236, Mann aus Manhattan 54, 57
237, 242, 245, 259 siehe auch Das Badener Mann ist Mann 2, 9, 12, 41, 43, 54, 55, 117,
Lehrstück vom Einverständnis 148, 152, 181, 187, 259, 317, 318, 345, 490,
Lehrstück Nr. 2. Ratschläge einer älteren 495, 496, 512, 569
Fohse an eine jüngere 28 Maria, Fürsprecherin der Frauen 198, 199
Lehrstück vom Jasager 34, 242, 243 siehe auch Maß für Maß (Shakespeare-Bearbeitung) 309,
Der Jasager / Der Neinsager 311 siehe auch Die Rundköpfe und die
Lesebuch für Städtebewohner siehe Aus dem Spitzköpfe
Lesebuch für Städtebewohner Melindas Lied 633
Liebeslied (»Dreigroschenoper«) 202 Moldaulied 487, 498
Liebster mein, Liebster mein 516 Moorsoldaten (»Furcht und Elend des III.
Lied an die Kavaliere der Station D 108 Reiches«) 340
Lied der Mutter Courage 385, 386 Morgenchoral des Peachum 198
Lied der Sichel 312 Moritat vom Reichstagsbrand 204
Lied des Kaufmanns 291 Moritat vom toten Soldaten 12, 90
Lied des Wasserverkäufers im Regen 422, Mortimer Fleischhacker 147
436 Mutter Courage und ihre Kinder 3, 4, 5,
Lied einer Familie aus der Savannah 150 45–48, 62, 300, 324, 344, 345, 354, 381,
Lied vom Chaos 516, 520 383, 402, 444, 453, 454, 457, 484, 512, 532,
Lied vom Flicken und vom Rock 298 544, 590, 626
Lied vom Fluß der Dinge 153, 154, 156,
159 Nachspiel zu »Der kaukasische Kreidekreis«
Lied vom Fraternisieren 386 514
Lied von der Bleibe 387 Neu und Alt. Vorrede zu »Dickicht« 119, 120
Lied von der großen Kapitulation 386 Neue Technik der Schauspielkunst 498
Lieder Gedichte Chöre 298, 312 Neuer Prolog zu »Antigone« 532, 533
Lindbergh. Ein Radio-Hörspiel 216–218, 233 99 %. Bilder aus dem Dritten Reich 341, 342
siehe auch Der Lindberghflug, Der Flug der Nocturno (»Herr Puntila«) 443, 447
Lindberghs und Der Ozeanflug Notate zu »Don Juan« 615
Lob der Dialektik 296, 298, 301 Notate zum »Hofmeister« 568, 569
Lob der illegalen Arbeit 255 Notizen über Amerika 627
Lob der Partei 256, 261 Notizen über die Züricher Erstaufführung
Lob der U.S.S.R. 254 (»Herr Puntila«) 443, 451
Lob der Wissenschaft 304 Notizen über realistische Schreibweise 564,
Lob der Wlassowas 307 580
Lob des Kommunismus 298, 299, 303, 307
Lob des Lernens 296, 298, 304 Odenseer Kreidekreis 512, 513 siehe auch Der
Lob des Wissens 304 kaukasische Kreidekreis
Lukullus siehe Das Verhör des Lukullus und Oh! Ihr Zeiten meiner Jugend! 200
Die Verurteilung des Lukullus Oratorium 54, 57
Lux in tenebris 100, 107, 113 Orges Gesang 12
Register der erwähnten Werke Brechts 645

Päpstin Johanna 54, 55 Straße bei der alten Gelbherrpagode 153


Park Gogh 57 Streiklied 261
Pauken und Trompeten 5, 11, 19, 625 Studien 16, 20, 563
Pluto 54, 62, 63 Studium des ersten Auftritts von
Pollys Lied siehe Maria, Fürsprecherin der Shakespeares Coriolan 557, 587
Frauen Svendborger Gedichte 425, 545
Prärie 111 Szenenvariante (»Was kostet das Eisen?«) 381
Programmzettel (»Im Dickicht der Städte«)
118 Tagebuch No. 10 5, 67, 100
Prolog zu »Die Gewehre der Frau Carrar« 545 Tahiti 181
Proserpinas Vermählung 63 Tango-Ballade 202
Psalmen 117 Terzinen über die Liebe 179
The Beggar’s Opera 198
Rechtsfindung (»Furcht und Elend des III. The Duchess of Malfi 500
Reiches«) 341–344, 347, 349, 350, 353 The Fugitive Venus 509
Rede des Stückeschreibers über das Theater The German Drama: pre-Hitler 516
des Bühnenbauers Caspar Neher 50 The King’s Bread 151
Rede im Rundfunk 154, 162 The Private Life of the Master Race (»Furcht
Rede zum II. Internationalen und Elend des III. Reiches«) 340, 342
Schriftsteller-kongreß zur Verteidigung der The Trial of Lucullus 404
Kultur 381 Theaterarbeit 20, 48, 49, 450, 452–454, 546,
Reiterlied 386 578, 581
Resolution 545, 553 Totentanz (Film) 233
Revue 54 Trommeln in der Nacht 1, 2, 10, 12, 70, 72, 81,
Rosa Luxemburg 54, 64, 65 86, 101, 102, 120, 126, 481, 524, 561
Ruhrepos 64, 169 Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher
5, 20, 65, 127, 470, 597
Salomon Song (»Mutter Courage«) 387
Salomo-Song (»Dreigroschenoper«) 199 Über das bürgerliche Trauerspiel »Der
Schlußsong (»Mann ist Mann«) 153 Hofmeister« von Lenz 563, 604
Schweyk 8, 43, 169, 484, 502, 503, 509 Über das Poetische und Artistische 569
Schweyk im zweiten Weltkrieg 487, 492 siehe Über die chinesische Schauspielkunst 321
auch Schweyk Über die Städte 181
Sechs Chroniken über Amateurtheater 382 Über die Verwendung von Musik für ein
Seelischer Aufschwung des deutschen Volkes episches Theater 203, 303, 338
unter dem Naziregime 341, 342 Über die Verwertung der theatralischen
Selbstgespräch einer Schauspielerin beim Grundelemente 579
Schminken 545 Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen
700 Intellektuelle beten einen Öltank 192 Rhythmen 533
Silent Witness 509 Übungsstücke für Schauspieler 20
Sintflut 54, 181 Ui siehe Der Aufstieg des Arturo Ui
Sodom und Gomorrha 57 Unpolitische Briefe 470
Sommersinfonie 57, 93 Untergang des Egoisten Johann Fatzer 58, 66,
Sonett vom Erbe 608 72, 168 siehe auch Fatzer
Song von Angebot und Nachfrage 255
Song von der Tünche 311 Verfremdungseffekte in der chinesischen
Song von Witwe Begbicks Trinksalon 154, 156 Schauspielkunst 4
Spartakus 9, 86 siehe auch Trommeln in der Versuche 32–35, 58, 168, 203, 226, 419, 460
Nacht Viktorias Lied 633
646 Register der erwähnten Werke Brechts

Volksbefragung (»Furcht und Elend des III. Weekend – Kuhle Wampe 1, 101, 295, 296,
Reiches«) 340, 349, 352, 354, 355 598
Volksgemeinschaft (»Furcht und Elend des III. Weg zu großem zeitgenössischem Theater
Reiches«) 341, 350 288
Volkstümlichkeit und Realismus (1) 382, 453, Wenige wissen heute 62, 460
608 Weniger Gips!!! 129
Vom Schwimmen in Seen und Flüssen 80 Wenn ich auf dem Kirchhof liegen werde 516
Vorspiel (»Antigone«) 532 Wenn’s einer Hur gefällt 198
Vorspiel (»Der kaukasische Kreidekreis«) Wer ist Rom 412
513–515, 517, 519, 529, 530 Wer wen? Die Geschichte einer Reise 288
Vorspiel in den höheren Regionen Wie soll man heute Klassiker spielen? 17
(»Schweyk«) 487 Wiegenlied 387
Vorspruch (»Im Dickicht der Städte«) 119, 120 Wiegenlieder 299
Vorwort zu »Trommeln in der Nacht« 90 Winterhilfe (»Furcht und Elend des III.
Vorwort zu »Turandot« 5, 607, 611 Reiches«) 342
Wir sind der Abschaum der Welt 257
Warum bluten unsere Söhne nicht mehr 520
Warum droht die Abwanderung kleinbürger- Zieh ins Feld ich 516
licher und sogar proletarischer Schichten Zu Lehrstück und Pädagogik auf dem Theater
zum Faschismus? 381 33, 35, 262
Was hilft gegen Gas? (»Furcht und Elend des Zuhälterballade 204
III. Reiches«) 354 Zwei Bäcker (Furcht und Elend des III.
Was kostet das Eisen? 338, 379, 384 Reiches) 341, 342, 347, 348, 354
Was-man-hat-hat-man-Lied 311, 313 Zwischenspruch (»Mann ist Mann«) 12
647

Banholzer, Frank Walter Otto 106


Personenregister Banholzer, Paula 86, 87, 106
Barberini, Carlo Maffeo 358, 367
Barner, Wilfried 539, 540
Abraham, Pierre 49 Barth, Michaela 241
Abravanel, Maurice de 180 Barthel, Kurt siehe Kuba
Abusch, Alexander 97 Barthes, Roland 8, 49, 301, 306
Ackermann (Onkel Kurt Weills) 181 Bartók, Belá 516
Ackermann, Anton (d. i. Eugen Hanisch) 407, Battistoni, Carlo 382
410 Baum, Ute 145
Adamic, Louis 461 Baumgarten, Michael 113
Adamov, Arthur 306, 552, 554 Baumgarten, Sebastian 417
Adenauer, Konrad 4, 410, 553 Bausch, Pina 320
Adorno, Theodor W. 185, 186, 191, 203, 206, Bawey, Petermichael von 304
209, 212, 272, 276, 283, 368, 370, 452, 471, Bayerdörfer, Hans-Peter 101
490, 492, 496, 539, 604 Bazinainé, M. (Antoine-Pierre-Louis) 288
Aischylos 177, 433 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de 454,
Albers, Hans 329 563, 564
Alberts, O. A. 180 Becher, Johannes R. 73
Alexan, Friedrich 403 Beck, Kurt 165
Alexander, Chris 376 Becker, Maria 437
Alexander, Elias 311 Beckett, Samuel 90, 374
Ammer, K. L. (d. i. Karl Klammer) 74, 116, Beckley, Richard 145
201, 210 Beethoven, Ludwig van 408, 547
Andersen, Hans Christian 336 Bellini, Vincenzo 561
Andersen-Nexø, Martin 336 Benjamin, Walter 172, 224, 239, 268, 278, 279,
Anouilh, Jean 542 283, 299, 301, 303, 311, 319–321, 330, 343,
Appen, Karl von 241, 528, 610, 635 347–349, 354, 459, 470, 492, 599
Archer, William 625 Bennewitz, Fritz 376
Arendt, Hannah 370, 495 Bentley, Eric 198, 340, 355, 437, 515, 517, 527,
Aretino, Pietro 311 530, 553
Aristophanes 603 Berckmann, Edward M. 453
Aristoteles 22, 345, 360–362 Berg, Barbara 146
Artaud, Antonin 571 Berger, Ludwig 309
Atkinson, Brooks 305 Berghaus, Ruth 127, 252, 286, 307, 325, 417
Auden, Wystan Hugh 501, 502, 504, 505, 510, Bergman, Ingrid 45
514, 515 Bergner, Elisabeth 501–506
Aufenanger, Jörg 458 Berlau, Michel 513
Aufricht, Ernst Josef 43, 193, 197, 297, 486 Berlau, Ruth 5, 45, 50, 308, 311, 336, 359, 372,
Austin, Frederic 207, 208 379, 398, 420, 440, 445, 460, 475, 483, 486,
501, 503, 513–515, 544, 545, 548, 565, 592
Baal, Johann 74 Besson, Benno 46, 47, 49, 286, 293, 359, 372,
Bach, Johann Sebastian 301, 302, 304, 414 546, 565, 591, 592, 595, 601, 609, 610,
Bachtin, Michail M. 96, 523 613–615, 617, 618, 619–624, 625–627, 635
Bacon, Francis 376 Beyer, Hermann 176, 177
Bahn, Roma 199, 201 Bezold, Otto 69
Bahr, Gisela E. 120, 267, 268, 271, 286 Biehlmaier, Hans Norbert 287
Balanchine, George 316, 320 Bienert, Gerhard 305
Balzac, Honoré de 17, 342 Binder, Ernst M. 66
648 Personenregister

Birnbaum, Uta 165 Brock-Sulzer, Elisabeth 126, 437


Bismarck, Otto Fürst von 547, 558, 561, 580 Brod, Max 485
Bittner, Julius 312 Bronnen, Arnolt 9, 10, 42, 180, 190, 554
Blacher, Boris 528 Brook, Peter 372–373, 374, 571, 590
Bliss, Arthur 207 Brosch, Hans 165
Blitzstein, Marc 213 Brown, H. M. 121
Bloch, Ernst 188, 209, 212, 300, 365, 369, Breughel, Pieter d. Ä. 514, 517
370–374, 406, 415, 468, 539, 599 Bruinier, Franz S. 198
Bloch, Jan Robert 368–370 Bruno, Giordano 359, 366–368
Blum, Léon 477 Brustellin, Alf 556
Blumenberg, Hans 366, 367, 370 Buarque de Holanda, Chico 207
Bobrowski, Johannes 575, 576 Büch, Günther 214
Bock, D. Stephan 432, 583, 584 Bucharin, Nicolai Iwanowitsch 368, 369
Bock, Fedor von 488 Büchis, Ella 577
Böhme, Irene 165 Büchner, Georg 55, 77, 78, 82, 546, 551
Bohnen, Klaus 550 Buck, Theo 519
Bohrer, Hans 146 Buckwitz, Harry 213, 214, 374, 376, 437, 483,
Bois, Curt 443, 454 499, 529, 601
Bondy, François 445 Bullock, Christopher 205
Bonnaud, Irene 504, 509–511 Bülter-Marell, Dietrich 417
Bononcini, Giovanni 207 Bunge, Hans 337, 529, 575
Borchardt, Hermann 9, 169, 238, 268, 310 Burckhardt, Johann Ludwig 517
Borisch, Frank 398 Bürger, Gottfried August 90
Bork, Kurt 46 Burggraf, Waldfried 598
Bork, Otto 310 Burian, Emil Franti šek 213
Bosse, Claudia 177 Burkhard, Heinrich 181, 182, 219
Bouber, Aaf 398 Burkhard, Paul 384, 396, 397
Bowie, David 84 Burri, Emil 10, 153, 238, 268, 288, 289, 305,
Boyer, Charles 45 310
Brade, Helmut 195 Busch, Ernst 201, 258, 298, 305, 306, 342, 408,
Brahms, Johannes 408 528, 545, 576
Brand, Max 194 Busch, Walter 348, 349
Brant, Sebastian 349 Büsching, Hein 169, 583
Brasch, Ernst 397 Buschmann, Engelbert Ehrenfried (d. i.
Braunmuller, Arthur R. 503, 504 Caspar Wilhelm von Borck) 205
Brecht, August 103 Bush, Alan 263
Brecht, Berthold Friedrich 74 Büthe, Till 241
Brecht, Sophie Wilhelmine Friederike (geb.
Brezing) 67, 109 Caesar, Gaius Julius 61, 142, 143, 387
Brecht, Stefan Sebastian 462, 486, 532, 545 Calderón de la Barca, Pedro 425, 426, 435, 436
Brecht, Walter 148 Campanella, Tommaso 369
Bregni, Paolo 438 Camus, Albert 241
Brenner, Hildegard 583 Canaris, Volker 138, 142–144
Brenner, Peter 417 Capone, Al (d. i. Alphonse Capone) 461–463,
Brentano, Margot von 316 469
Brezing, Friederike (geb. Gammerdinger) 67 Carlé, Benno 233
Bringolf, Ernst 403 Carlson, James R. 437
Britten, Benjamin 207 Carstens, Lina 397
Brock, Hella 325 Cassirer, Ernst 539
Personenregister 649

Castorf, Frank 146, 454 Detzer, Paul 67, 109


Cavalcanti, Alberto 454, 483 Deutscher, Isaac 370
Cerha, Friedrich 287 Devrient, Paul 466
Cervantes Saaverda, Miguel de 100, 485 Diaghilev, Sergej 316
Certia, Friedrich 82 Diderot, Denis 444, 451, 452
Cézanne, Paul 53 Diebold, Bernhard 164, 396
Chaplin, Charles Spencer (Charlie) 45, 155, Dieckmann, Friedrich 308, 586, 588
182, 241, 281, 445, 486, 487 Dimitroff, Georgi 467
Charles II. (englischer König) 626 Döblin, Alfred 116, 155
Chatschaturjan, Aram 406 Dollfuß, Engelbert 312, 469
Chopin, Frédéric 467 Dorimond (d. i. Nicolas Drouin) 613
Christian, Norbert 615, 622 Dorst, Tankred 556
Christine de Pisan 593 Dort, Bernard 49
Christmann, Adolph 116 Drescher, Piet 330
Cicognini, Giatino Andrea 613 Dressel, Alfons 233
Ciulei, Liviu 376 Dressel, Erwin 145
Clarke, Alan 84 Dressler, Christiane 286
Claudel, Paul 306 Drew, Daniel 148
Claudius, Eduard 583 Drew, David 180, 316
Clavius, Christoph 360 Drews, Wolfgang 127
Clever, Edith 306 Dreyer, Carl Theodor 591
Cloos, Hans Peter 166 Dschuang Dsi 426
Cocteau, Jean 316 Dudow, Slatan 234, 258, 260, 296, 298, 331,
Colberg, Kurt 287 332, 335, 336, 339, 341, 342
Coli, Francois 228 Dülmen, Richard van 362
Congreve, William 626 Duncker, Hermann 548, 549
Coriolanus, Gnaeus Marcius 587, 588 Dürrenmatt, Friedrich 11, 373, 541, 575
Corneille, Pierre 613
Corneille, Thomas 613 Ebert, Gerhard 330
Corti, Axel 165 Eduard II. (englischer König) 136
Courteline, Georges (d. i. Georges Moineaux) Eggmann, Mariette 399
100 Eichholz, Marianne 555
Coward, Noel 342 Eichhorn, Bernhard 404
Curjel, Hans 180, 532 Einem, Gottfried von 404
Cwojdrak, Günther 611 Einstein, Albert 65, 352
Czinner, Paul 501, 503–505 Einstein, Alfred 259
Eisenstein, Sergej Michailowitsch 302
Damiani, Luciano 195, 438 Eisler, Hanns 2, 11, 13, 34, 35, 37, 54, 211,
Damrau, Ulrich 397 212, 248, 253, 254, 257, 259, 260, 263–265,
Dante Alighieri 63, 277, 488 287, 295, 296, 298–308, 310–312, 314, 315,
Davis, George 317 321, 336, 337, 339, 359, 384, 403, 406, 412,
Deiser, Theodore 317 454, 461, 476, 483, 485–487, 515, 528, 545,
Deleuze, Gilles 276 546, 556, 568, 575, 598, 600
Dene, Kirsten 399 Eisler, Rudolf 296
Dent, Edward J. 207 Eisler-Fischer, Louise 312
Denter, John 195 Eisner, Kurt 86
Dessau, Paul 13, 54, 154, 287, 293, 342, Elcis, Arturo d’ 362
384–386, 397, 401, 403–412, 413, 417, 418, Ellis, Maurice 346
436, 437, 454, 528, 621, 622, 628 Emmerich, Klaus 265, 315
650 Personenregister

En no Gyôja 243, 244 Fluda, John P. 628


Ende, B. 468 Ford, Henry 163, 192
Engberg, Harald 343, 384 Ford, John 502, 507
Engel, Erich 43–46, 49, 114, 117, 164, 198, Forke, Alfred 426, 516
200, 201, 214, 296, 359, 397, 499, 545, 546 Fradkin, Ilja 611
Engelmann, Ingeborg 399 France, Anatole 591
Engels, Friedrich 14, 170, 239, 544, 548, 551, Franco y Bahamonde, Francisco 331, 472
553, 563, 576 Frank, Hans-Joachim 308
Engels, Wolfgang 397 Frank, Manfred 539
Erfurth, Ulrich 577 Frank, Rudolf 145
Erhard Ludwig 4 Franz, Erich 47
Ermann, Adolf 516 Fraunhofer, Hedwig 96
Erpenbeck, Fritz 397, 406, 453, 529, 545, 596, Frayn, Michael 370
635 Frenkel, Stefan 202
Eschberg, Peter 377 Frescobaldi, Girolamo 207
Esslin, Martin 120, 479, 518, 523 Freund, Nina 408
Euripides 434 Freytag, Gustav 82, 92, 93
Evans, Allan 287 Freytag, Holk 287, 376
Ewen, Frederic 121 Frick, Walburga 106
Frick, Werner 15, 16, 17, 540
Faber, Erwin 42, 97 Friedrich, Ernst 209
Falckenberg, Otto 87, 97 Friesz, Brigitte 417
Farquhar, George 5, 19, 625, 629–635 Frisch, Max 39, 343, 347, 610
Fassbinder, Rainer Werner 48, 84, 207 Früh, Huldreich Georg 436
Fehling, Jürgen 43, 146 Frühwald, Wolfgang 95
Feilchenfeldt, Konrad 96 Frye, Northrop 304
Feld, Paul 241 Fuegi, John 96, 476, 628
Fenigstein, Victor 287 Furtunato, Valentina 438
Ferdausi 517
Ferran, Peter W. 628 Gábor, Andor 600
Ferrero, Guglielmo 402 Galfert, Ilse 553
Fest, Joachim 471 Galilei, Galileo 357, 358, 360–363, 366–371,
Fetzer siehe Weber, Mathias 373, 377, 508, 571
Feuchtner, Bernd 417 Ganz, Bruno 306
Feuchtwanger, Lion 1, 9, 42, 43, 53, 71, 86, Garbe, Hans 64, 582–584
87, 97, 132–134, 143, 146, 199, 221, 269, Gasberra, Felix 182
470, 475–479, 483, 514, 545, 593 Gaskill, William 636
Feuchtwanger, Marta 10, 86, 133 Gaugin, Paul 116
Fiedler, Werner 356 Gaugler, Hans 382, 532
Finkele, Simone 402, 416 Gay, John 10, 11, 18, 197, 198, 200, 201, 205,
Fischer, Gerhard 552 209, 210, 564, 625
Fischer, Hans 243 Gebhardt, Horst 165
Fitelberg, Jerzy 202, 221 Gehweyer, Fritz 67
Fleckenstein, Günter 314 Geis, Jacob 18, 70, 114, 164, 404
Fleißer, Marieluise 10, 42 Gellert, Christian Fürchtegott 567
Flickenschildt, Elisabeth 398 George, Heinrich 42, 133, 165
Flimm, Jürgen 84, 214, 611 George, Manfred 486
Flittie, John G. 437 Gerber, Michael 146
Florey, Wolfgang 113 Gerhardt, Ulrich 152
Personenregister 651

Gerron, Kurt 201, 203 Grosz, George 43, 209, 313, 486, 487, 599
Gerstner, Günther 166 Große, Wilhelm 272
Gert, Valeska 233 Großmann, Stefan 207
Gerz, Raimund 312, 612 Grotewohl, Otto 408, 410, 544
Geschonneck, Erwin 46, 615 Grothum, Brigitte 66
Giehse, Therese 46, 306, 396, 443, 578 Grüber, Klaus Michael 127
Giese, Peter Christian 15, 16, 23, 95, 100, 101, Grübler, Ekkehard 398
453, 566, 621, 628 Grund, Manfred 399
Giesing, Dieter 473 Gründgens, Gustaf 20, 266, 285
Gilbricht, Walter 182 Guattari, Felix 276
Gilberto Onorio 613 Guilbert, Yvette 203
Gillman, Denise 505 Guillemin, Bernard 40
Gingold, Norbert 202 Gullberg, Hjalmar 403
Ginsberg, Ernst 126 Günther, Matthias 330
Girard, René 283
Giraudoux, Jean 542 Haas, Joseph 181, 182,219
Girnus, Wilhelm 49, 411 Hahnloser-Ingold, Margrit 628
Glaeser, Günter 52, 167 Hajda, Alois 165
Glinka, Michail 405 Halewicz (Regieassistent) 198, 201
Glückselig, Karl Egon 405 Hammerstein, Dorothee 377
Gnekow, Horst 437 Hampe, Michael 165
Godwin, Paul 203 Hamsun, Knut 75, 111–113
Goebbels, Joseph 20, 48, 314, 333, 464, 487, Händel, Georg Friedrich 191, 203, 206, 207
488 Happ, Alfred 438
Goehr, Walter 221 Hardt, Ernst 146, 218, 221
Goethe, Johann Wolfgang von 5, 6, 8, 48, 70, Harich, Wolfgang 397, 576, 584
75, 172, 194, 268, 283, 285, 370, 431, 462, Harris, Townsend 456, 458
477, 488, 525, 533, 564, 567, 576, 613, 619 Harte, Bret 182
Gohl, Verena 287 Hartung, Günther 342, 344, 348, 349, 551
Goldberg, Whoopi 400 Ha šek, Jaroslav 8, 43, 169, 385, 444, 483, 493,
Goldhahn, Johannes 470 494
Goldschmidt, Lena 317 Hasenclever, Walter 70
Goll, Ivan 155 Haubrich, Walter 472
Goodman, Henry 527 Hauck, Stefan 326, 329
Göpfert, Peter Hans 611 Hauff, Andreas 180
Gorelik, Mordecai 486 Hauptmann, Elisabeth 6, 9, 10, 11, 19, 44, 51,
Göring, Hermann 20, 464, 467, 487, 488 148–153, 169, 180, 181, 197, 199–201, 203,
Gorki, Maxim 47, 294–300, 303, 409, 546, 578 221, 234, 238, 242, 243, 245, 267, 268, 288,
Gozzi, Carlo 597, 598, 605 295, 296, 310, 311, 340, 359, 372, 383, 413,
Grabbe, Christian Dietrich 56, 70, 129–132 501, 502, 549, 576, 588, 595, 601, 613–615,
Granach, Alexander 133, 258 625, 626
Grass, Günter 375, 585 Hauptmann, Gerhart 19, 26, 48, 232, 542, 578,
Greenland, Nicholas 96 580
Greid, Hermann 383, 403 Haus, Heinz-Uwe 399
Grieg, Nordahl 544–548, 550–554, 557 Hauser, Arnold 371
Griffith, Katherine 527 Havel, Vaclav 207
Grimm, Reinhold 68, 116, 133, 264, 576, 628 Havemann, Franz 399
Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von Hawks, Howard 461, 468
384 Hay, Julius 314
652 Personenregister

Hays, Hoffman Reynolds 347, 383, 403, 460, Hinderer, Walter 552
501, 502 Hiob, Hanne 196, 270
Heartfield, John 349 Hirschfeld, Kurt 126, 285, 443, 553
Hebbel, Christian Friedrich 67, 73, 74, 95, 634 Hitler, Adolf 60–63, 141, 142, 181, 263, 310,
Hecht, Werner 40, 316, 541, 543 312, 313, 315, 325, 329, 331, 338, 341, 345,
Heeg, Günter 462 350, 351, 358, 380, 382, 402, 404, 459, 461,
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 8, 120, 188, 465–473, 487, 488, 490, 493, 495, 497, 499,
283, 291, 451, 452, 537 509–511, 513, 534, 541, 586, 599, 604, 607
Heidsieck, Arnold 120 Höchst, Siegfried 399
Heine, Heinrich 342, 477 Hoffmann, Heinrich 466
Heinrich, Klaus 377, 378 Hofmannsthal, Hugo von 83, 125, 614
Heinsheimer, Hans W. 194, 197 Högel, Max 74
Heinz, Gabriele 308 Hölderlin, Friedrich 5, 21, 45, 268, 532, 535,
Heinz, Wolfgang 307 538, 541, 542
Heinze, Helmut 163 Holländer, Felix 114
Heise, Thomas 151 Holle, Hugo 221, 233
Heise, Wolfgang 624 Hollmann, Hans 555
Helmke, Erika 203 Holz, Hans Heinz 126, 610
Hennenberg, Fritz 415, 621 Homer 109, 110, 169, 268
Henrichs, Benjamin 175, 330 Homolka, Oskar 43, 145, 514
Hensel, Georg 330, 543, 556, 623 Honolka, Kurt 417
Henze, Hans Werner 458, 556 Horkheimer, Max 368, 370, 496, 539
Heraklit 568 Hosalla, Hans-Dieter 241, 472
Herder, Johann Gottfried von 576 Houseman, John 45
Hering, Gerhard F. 543 Huang Zuoling 376
Herking, Ursula 307 Hubalek, Claus 615
Hermand, Jost 13, 445, 450 Hübenthal, Kurt 325
Herrmann, Hans-Peter 270, 286 Hübner, Kurt 375
Herrmann, Hans Peter von 193 Huchel, Peter 528, 549
Hertzka, Emil 178–180 Hurwicz, Angelika 46, 526, 528, 529
Herz, Joachim 195 Husserl, Edmund 370
Herzfelde, Wieland 340, 346
Hesse-Burri, Emil siehe Burri, Emil Iden, Peter 376, 556
Heym, Georg 73, 75 Ihering, Herbert 10, 44, 97, 125, 126, 133,
Heyme, Hansgünther 214 144, 146, 164, 165, 296, 299, 302, 398, 408,
Heymel, Alfred Walter 145 543, 554, 555, 586, 635
Heywood, Thomas 501 Ionesco, Eugène 100
Hildebrandt, Dieter 499, 555 Isabella (englische Königin) 136
Hill, Claude 395 Isherwood, Christopher 514
Hill, Hainer 398, 595, 615
Hilpert, Heinz 20, 285 Jacob, Werner 417
Himmler, Heinrich 487, 488 Jacobs, Monty 212
Hinck, Walter 23, 396, 399, 518 Jacobsohn, Siegfried 125
Hindemith, Gertrud 227 Jäger, Hanns Ernst 530
Hindemith, Paul 2, 13, 29–31, 33, 44, 181, Jahnn, Hans Henny 42
182, 207, 208, 218–220, 222, 223, 226, 227, James I. (englischer König) 587, 588
232, 233, 236, 257, 259 James, Edward 316, 317
Hindenburg, Paul von Beneckendorff und Jeanne d’Arc 267, 268, 458, 475, 477–480,
461, 465–468 591, 592, 593, 594
Personenregister 653

Jecht, Dorothea 483 Kipling, Rudyard 114, 116, 152, 154, 155, 182,
Jefferson, Thomas 630 199, 200, 210, 290, 291, 437
Jelen, Gerhard 376 Kipphardt, Heiner 370
Jendreiek, Helmut 395, 396, 518 Kirchner, Alfred 399
Jensen, Johannes Vilhelm 115 Kirillow, Peter 294
Jessner, Leopold 43, 117, 129 Kirillowna Salomova, Anna 294
Jesus von Nazareth / Jesus Christus 110, 186, Kirst, Klaus-Dieter 286
191, 210, 257, 386, 494, 570 Kissel, Bernhard 396
Jöde, Fritz 29, 30 Kitching, Laurence Patrick Anthony 565
Johannes von Tepl 182 Kivi, Aleksis (d. i. A. Stenvall) 444
Johst, Hanns 1, 18, 69–71, 75, 105 Klabund (d. i. Alfred Henschke) 199, 512, 513,
Jolesch, Louise siehe Eisler-Fischer, Louise 515, 516
Jonasson, Andrea 438 Klammer, Karl siehe Ammer, K. L.
Joost, Jörg-Wilhelm 185 Kleber, Pia 396
Jordan, Hanna 398 Klein, Otto 72
Judas (Apostel) 141 Kleist, Heinrich von 175, 311, 453, 579
Judith (Altes Testament) 458 Klemperer, Otto 203, 221
Julien, Stanislas 515 Klemperer, Victor 313
Juntula, Roope 440, 441 Klingmann, Ulrich 611
Jürgens, Curd 376 Klopstock, Friedrich Gottlieb 567, 568
Jürgs, Michael 473 Klotz, Volker 121, 450
Juvenal (Decimus Iunius Iuvenalis) 348 Knaup, Dieter 635
Knopf, Jan 272, 286, 628
Kafka, Franz 186, 404, 494 Knust, Herbert 488
Kahl, Kurt 376 Knut IV. (Knud der Heilige) 512
Kahlau, Heinz 207 Knutzon, Per 312
Kaiser, Georg 70, 154 Koch, Carl 202, 233
Kaiser, Joachim 127 Koch, Georg August 635
Kalatowa, Elena siehe Wladimirowna, Elena Kochno, Boris 316
Kálmán, Oskar 221, 233 Kohl, Helmut 315
Kant, Immanuel 109, 276, 568, 569, 571, Köhler, Willi 355
603 Kolb, Walter 438
Karasek, Hellmuth 356, 490, 523, 623 Kolkenbrock-Netz, Jutta 96
Karge, Manfred 66, 174, 238, 239, 241, 307 Koller, Gerold 433
Karnick, Manfred 425 Komparu Zenchiku Ujinobu 243
Karsen, Fritz 249 Kondylis, Panaiotis 361
Kasack, Hermann 133 Koniarsky, Helmut 165
Kästner, Erich 397 Konwitschny, Peter 195
Katz, Otto siehe Simone, André Korn, Karl 438
Kaufmann, Hans 95, 550–552 Körner, Lothar 83
Kautsky, Karl 296 Korsch, Karl 61, 279, 312, 314, 321, 326, 340
Kebir, Sabine 10 Kortner, Fritz 45, 126, 375, 477, 586
Kehler, Dorothes 505 Kott, Jan 490, 492, 586, 590
Keisch, Henryk 214, 596 Krabiel, Klaus-Dieter 301
Kent, Allegra 320 Krabiell, Wolfram 151
Kepler, Johannes 362, 367, 370 Krafft, Erich 622
Kerr, Alfred (d. i. Alfred Kempner) 44, 45, 97, Kralicek, Wolfgang 400
125, 146, 164, 201 Krämer, Günther 215
Kestenberg, Leo 33 Kraus, Karl 9, 347, 485, 488
654 Personenregister

Krause, Ernst 417 Lehmann, Christa 399


Krauss-Elka, Leopold 180 Lehmann, Hans-Thies 177, 264
Kraut, Werner 165 Lehrman, Leonard 315
Kreppel, Herbert 376 Lenin, Wladimir Iljitsch 59, 169, 255, 257,
Kreymborg, Alfred 486 279, 288, 297, 307, 323, 409, 544, 548, 549,
Kroetz, Franz Xaver 356, 455 551–553
Kroker, Paul 365 Lenya, Lotte 194, 198, 201, 203, 213, 317,
Kronacher, Alwin 83 320
Krumbholz, Martin 377 Lenz, Jakob Michael Reinhold 5, 19, 26, 47,
Kuba (d. i. Kurt Barthel) 606 48, 563–569, 572, 573, 575, 576
Kuckart, Judith 458 Leon, Hernando 399
Kuckhahn, Heinz 398 LeRoy, Mervyn 461
Kuckhoff, Adam 165 Lessing, Gotthold Ephraim 22, 67, 105, 453,
Küfner, Rudolf 195, 196 567
Kühl, Kate 199, 201 Lethen, Helmut 264
Kuhn, Thomas 360 Leventhal, Jules 513, 514
Kunkel, Erhard 398 Leviton, Sadie 341
Kupke, Peter 399, 530, 610, 623 Lewin, Kurt 365
Küpper, Hannes 9 Li Xingdao 515
Kurella, Alfred 260, 406, 554, 600 Lichtenstein, Wolfgang 326, 556
Kusche, Lothar 468, 596, 622 Lieban, Julius 404
Kussmaul, Paul 141, 462 Liebknecht, Karl 86, 130, 296
Kutscher, Artur 69, 70, 75 Liepmann, Heinz 133
Lietzmann, Sabina 416, 576
Lacan, Jacques-Marie Émile 431 Lindbergh, Charles 30, 216, 217, 224, 226,
Lacis, Asja 145 228
Lakner, Yehoshua 609 Lindner, Burkhardt 462, 463, 467
Lampe, Jutta 306 Lindtberg, Leopold 396, 546
Landauer, Gustav 71 Lingen, Theo 233, 295, 296, 305
Lang, Alexander 315 Linzer, Martin 315
Lang, Fritz 1 Lissagaray, Prosper 548, 549, 558
Långbacka, Ralf 454 Liszt, Franz 473
Langgässer, Elisabeth 164 Livius, Titus 8, 321, 322, 585
Langhoff, Matthias 66, 174, 238, 239, 241, 293 Ljubimow, Juri 214
Langhoff, Wolfgang 46, 530 Lo Ding 47
Lania, Leo 486 Lobo, Luiz Fernando 308
La Rochefoucauld, François Duc de 620 Lombroso, Cesare 73
Lassalle, Jacques 377 Lommer, Horst 453
Laufenberg, Uwe Eric 439 Lorenzo (Kritiker) 610
Laughton, Charles 1, 45, 342, 358, 364, 486, Lorimer, George Horace 116, 267
501, 502, 548 Lorre, Peter 165, 296, 486, 495
Lauter, Hans 408, 410 Losch, Tilly 317
Lavaudant, Georges 99 Losey, Joseph 45, 358
Laven, Paul 221 Lothar, Frank 356
Lazar, Marie 312 Lubbe, Marinus van der 460
Lee, Canada 509 Lubitsch, Ernst 134, 487
Lefebvre, Joel 490 Lucullus, Lucius Licinius 402, 404, 408
Legal, Ernst 164, 165, 405, 407–409 Lüdecke, Heinz 416, 581
Lehmann, Andreas 231 Ludendorff, Erich 488
Personenregister 655

Ludwig, Emil 461 Mayer, Hans 19, 300, 375, 415, 451, 452, 490,
Luft, Friedrich 46, 438, 529, 576 492, 564, 569, 576, 601
Lukács, Georg 260, 343, 344, 370, 371, 533, Medina, Carlos 293
550, 551, 600 Mehring, Franz 86, 579
Lukian von Samosata 105, 433 Mei Lan-fang 321
Lukrez (Titus Lucretius Carus) 8 Meisel, Edmund 9, 154
Lully, Jean-Baptiste 621, 622 Meisel, Kurt 376
Lunatscharski, Anatoli 295, 300 Melchinger, Siegfried 195, 375, 438
Lundquist, Torbjörn 403 Mencius (d. i. Meng Zi) 426
Luther, Martin 210, 377 Mendelssohn, Moses 22
Lutz, Regine 46, 635 Menk, Klara 556
Luxemburg, Rosa 60, 64, 86, 130, 296, 305 Mennemeier, Franz Norbert 121, 343, 395,
Lyon, James K. 121, 154, 161, 478, 490 396, 611
Mensching, Herbert 473
Machiavelli, Niccolò 587 Mergler, Betty 221
Mackeben, Theo 200 Mertin, Anne 176
Mahr, Dorothea 286 Meyer, Eckehard 286
Malfi [Amalfi], Giovanna von 508 Meyer, Ernst Hermann 407
Malina, Judith 126 Meyer, Richard 226
Malorne, Jacques 554 Meyerhold, Wsewolod Emiljewitsch 408
Mandeville, Bernhard de 318 Meyerink, Hubert von 213
Manheim, Ralph 585 Michaelis, Rolf 127, 174, 610
Mann, Heinrich 341 Mickel, Karl 307
Mann, Thomas 76, 125, 496, 564 Mihan, Jörg 400
Mao Tse-Tung 307, 369, 590, 601, 606 Milhaud, Darius 207
Marc, Franz 608 Minetti, Bernhard 473
Marcuse, Ludwig 374, 376 Minks, Wilfried 399, 454
Markgraf, Hendrik 376 Mittenzwei, Werner 13, 14, 16, 300, 334, 343,
Marlé, Arnold 86 348, 380, 611
Marlowe, Christopher 9, 18, 42, 132–134, Mol, Arie de 241
136, 139, 141, 144–146 Moliére (d. i. Jean-Baptiste Poquelin) 19,
Marston, John 205 21–25, 454, 609, 613, 615–623
Martell, Adolf 181, 191 Møller, Christian 366
Martens, Heinrich 248 Monk, Egon 46–48, 194, 565, 578, 592, 595
Martin von Tours (St. Martin) 387 Montaigne, Michel Eyquem Seigneur de
Martin, Henri 594 377
Martin, Karl Heinz 133, 213, 252 Montijo, Edwin 581
Martinez, Isabel 166 Morgenthau, Henry 325
Martner, Fredrik (d. i. Knud Rasmussen) 512, Morley, Michael 116
545 Mosch, Rita 398
Marx, Hans-Joachim 621 Mozart, Wolfgang Amadeus 100, 212, 408,
Marx, Karl 61, 147, 155, 168, 169, 173, 224, 415
256, 257, 271–273, 277, 279, 280, 318, 375, Mueller-Stahl, Hagen 165
409, 433, 452, 475, 544, 545, 548, 551–553, Mühsam, Erich 71
557, 560, 561, 609 Müller, André 315, 398
Matthis, Henry Peter 379 Müller, Gerda 233
Maurer, Friedrich 566 Müller, Gerhard 415
Maurois, André 477 Müller, Heiner 4, 53, 66, 172–176, 473, 535,
May, Gisela 399 571, 576, 577, 584, 623
656 Personenregister

Müller, Karl-Heinz 624 O’Neill, Eugene Gladstone 542


Müller, Klaus-Detlef 159, 395, 582, 491, 518, Oppenheimer, Jacob Robert 65, 359, 373
611 Orff, Carl 406, 528
Müller-Elmau, Eberhard 398 Origines 567
Müller-Waldeck, Gunnar 611 Orlow, N. 405
Müllereisert, Otto 341 Oswald, Richard 107
Münch, Alois 312 Ott, Hans 396
Münsterer, Hans Otto 69, 70, 72, 74, 81, 86, Ottersberg, Thorsten 286
100, 116 Otto, Teo 46, 165, 396–398, 437, 438, 483
Muradeli, Wano 406 Ovid (Publius Ovidius Naso) 188, 434
Murner, Thomas 349
Mussolini, Benito 61 Palitzsch, Peter 47, 146, 330, 398, 400, 454,
Myers, Gustavus 148, 267 472, 556, 615
Papst, Georg Wilhelm 203
Navratil, Stanislav 165 Parmalee, Patty Lee 151
Neher, Carola 43, 199, 201, 203, 597, 598 Parmet, Simon 324, 383, 384
Neher, Caspar 21, 41, 42, 45–47, 50, 51, 57, Pasley, Fred D. 461
69, 74, 75, 81, 114, 117, 153, 164, 165, 179, Paul, Irina 286
180, 190, 194, 195, 200, 202, 270, 318, 405, Paulsen, Harald 199, 201, 203
438, 532, 541, 546, 565, 586 Paulsen, Karl 233
Neresheimer, Eugen 614 Pepusch, Johann Christopher 198, 206, 207
Nestroy, Johann Nepomuk 74, 453 Persché, Gerhard 215
Neubauer, Simon 417 Pesel, Jens 377
Newton, Isaac 370 Pétain, Henri Philippe 478
Nicolai, Friedrich 22 Peters, Paul 305
Niemann, Harry 417 Petrus (d. i. Simon) 81, 110, 141
Niessen, Carl 51 Peymann, Claus 146, 543
Nietzsche, Friedrich 76, 77, 78, 155, 169, 173, Pfanzelt, Georg 57
175, 186 Pfeiffer, Hans 372, 373
Nissimov, Nissim 293 Pfeiffer, Herbert 576
Noack, Klaus 400 Pickerodt, Gerhart 611
Noailles, Charles de 316 Pieck, Wilhelm 407, 410, 544
Nobile, Umberto 59 Pietzcker, Carl 8, 76, 429, 431
Nolte, Jost 610 Pilatus, Pontius 186, 494
Norris, Frank 148, 149, 267 Pintzka, Wolfgang 610
North, Thomas 587 Piscator, Erwin 43, 88, 171, 182, 285, 295,
Noske, Gustav 89 317, 371, 398, 460, 477, 485–487, 489, 493,
Nössig, Manfred 611 545, 546
Notowicz, Nathan 264, 296 Pisk, Lissi 194
Nungesser, Charles 228 Pittrich, Georg 598
Planchon, Roger 499
Odets, Clifford 513 Platon 169
Oehlmann, Werner 416 Playfair, Nigel 207, 208
Oelßner, Fred 408 Playford, John 207
Oesmann, Astrid 96 Plechanow, Georgij 296
Offenbach, Joseph 577 Plutarch (Mestrius Plutarchus) 8, 142, 402,
Olden, Rudolf 461, 466 585, 587
Olivier, Laurence Sir 636 Po Chü-yi (Bai Juyi) 426
Olsson, Jan 380 Pohl, Martin 593
Personenregister 657

Polgar, Alfred 304 Rimbaud, Arthur 69, 74, 115–117, 121, 123,
Polgar, Hans 194 124
Politz, Pierre-Walter 286 Rischbieter, Henning 195, 214, 307, 314, 330,
Pollock, Della 96 376, 543, 555, 577, 610
Ponto, Erich 201, 203 Ritter, Franziska 400
Pope, Alexander 205 Ritterhoff, Teresa 301
Popoff, Blagoi 467 Rizzuto, Maurizio 458
Porep, Heinz 233 Rochow, Ronald 356
Potter, Robert 400 Rockefeller, John Davison 273
Pottier, Eugéne 549 Roda Roda, Alexander (d. i. Sándor Friedrich
Preußer, Gerhard 377 Rosenfeld) 134
Preußner, Eberhard 222 Roemer, Friedrich 146
Pringsheim, Klaus 259 Rohde, Willi 398
Pudowkin, Wsewolod 295, 299 Röhm, Ernst 311, 461, 468
Purcell, Henry 207 Rohse, Eberhard 67, 68
Roose, Thorkild 266
Quinn, Anthony 45 Rosenbauer, Hansjürgen 121
Quintana, Alejandro 84 Rosenberg, Ethel und Julius 359, 596
Rosenberg, Hilding 402, 403
Rabelais, François 485 Rösler, Wolfgang 540
Racine, Jean Baptiste 532 Roßmann, Andreas 166
Raff, Julius 107, 108 Rousseau, Jean-Jacques 318, 319, 567, 619
Raimund, Ferdinand 453 Rückert, Friedrich 584
Rainer, Dachine 347 Rudolph, Niels-Peter 286
Rainer, Luise 501, 513, 514 Rühle, Günther 134, 499
Ramthun, Herta 52 Rühle, Jürgen 529, 554, 623
Rankl, Karl 258 Rülicke-Weiler, Käthe 64, 271, 273, 407–410,
Ratz, Erwin 260 550, 583, 592, 601, 615, 627
Recht, Oscar Camillus 117 Runeberg, Johan Ludvig 384
Reginek, Regine 398 Ruppel, Karl H. 372
Reich, Bernhard 42, 43, 129, 145, 153, 268, Ruth, Lewis siehe Rüth, Ludwig
337 Rüth, Ludwig 200
Reich-Ranicki, Marcel 439 Rylands, George 504, 505, 509
Reichel, Käthe 438, 594, 595
Reichenbach, Hans 365 Sagert, Horst 609
Reigbert, Otto 97 Salomon (Altes Testament) 387, 516
Reimann, Hans 485 Salomov, Peter 294
Reincke, Heinz 577 Salomova, Kirillowna Anna 294
Reiner, Grete 385, 485 Sambale, Hans 356
Reinhardt, Max 134, 340, 614, 621 Samson-Körner, Paul 9
Reiss, Kurt 383, 403 Sander, H.-D. 622
Remarque, Erich Maria 171, 485 Sander, Otto 306
Renn, Ludwig 485 Sartre, Jean-Paul 371–373
Reud, Robert 513, 514 Sautter, Ulrich 365
Reuter, Ernst 438 Savary, Jérôme 400
Rey, François 175 Scanner, Brigitte 241
Rice, Elinor 514 Schalk, Axel 140, 144
Richard III. (englischer König) 464 Schall, Ekkehard 84, 146, 176, 307, 472, 590
Rilla, Paul 305, 542, 543, 576, 581 Schalla, Hans 398
658 Personenregister

Schaller, Hennig 286 Schwaen, Kurt 325, 326


Scharfenberg, Ute 151 Schwarze, Hans Dieter 307
Schechter, Joel 155 Schweikart, Hans 438, 623
Scheit, Gerhard 312 Schweizer, Ueli 166
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 283 Schwiedrzik, Wolfgang 87, 306
Schellow, Erich 146 Scott, Walter Sir 328
Scher, Steven Paul 317 Seeler, Moritz 71
Scherchen, Hermann 207, 221, 405, 407, 408, Seelmann-Eggebert, Ulrich 554
417 Seesemann, Wolf 287
Schiller, Friedrich 48, 115, 121, 267, 268, Seghers, Anna 19, 269, 591–596
272–275, 278, 283–285, 375, 462, 533, 556, Segmüller, Johannes 103, 104
564, 567, 576, 593, 597, 605, 626 Sehm, Gunter G. 181, 186
Schlaffer, Hannelore 551 Seidel, Gerhard 53, 65
Schleef, Einar 455 Seidler, Gunter 241
Schlenker, Wolfram 376 Seliger, Helfried W. 121, 151, 182, 185, 318,
Schleyer, Hanns Martin 417 461
Schlingmann, Dagmar 286 Sellars, Peter 483
Schlöndorff, Volker 84 Sellner, Gustav Rudolf 146
Schmidt, Dieter 75 Semrau, Richard 444
Schmidt, Jochen 400 Sessions, Roger 404
Schmitt, Carl 495 Seyfarth, Ingrid 315
Schnabel, Stefan 377 Seyß-Inquart, Arthur 469
Schneider, Bernd 241 Shakespeare, William 5, 7–9, 11, 14, 19, 22,
Schneider, Isidor 347 23, 25, 60, 117, 132, 309, 311, 313, 373, 430,
Schnell, Axel 74 431, 462, 466, 468, 492, 532, 556, 567, 574,
Schnell, Ralf 176 585–590
Schnitzler, Henry W. 355, 404 Shaw, George Bernard 268, 277
Schoenbohm, Siegfried 417 Shaw, Glenn W. 457, 458
Scholz, Gerhard 564 Shdanow, Andrej 406
Schonauer, Franz 47 Shepard, Jack 205
Schöne, Albrecht 569 Siegert, Wolf 551, 552
Schopenhauer, Arthur 78 Siems, Friedrich 374
Schostakowitsch, Dmitri 406 Sillanpää, Frans Eemil 450
Schöttker, Detlev 336, 549 Simone, André (d. i. Otto Katz) 476, 477
Schreiber, Ulrich 214, 330 Simonow, Konstantin 516
Schreiner, Albert H. 548, 549 Sinclair, Upton Beall 114, 115, 148, 149, 267,
Schrimpf, Hans Joachim 581 268
Schröder, Ernst 126 Sinell, Rainer 287
Schröder, Gerhard 315 Sinsheimer, Hermann 97
Schroth, Christoph 98 Skasa, Michael 165
Schubert, Franz 473 Smetana, Bed řich 487
Schultz, Dutch (d. i. Arthur Fliegenheimer) Smith, Maggie 636
461 Snell, Bruno 542
Schulz, Gudrun 462 Sokrates 387
Schulze-Rohr, Peter 226 Sophokles 7, 19, 45, 532, 534–538, 540, 542,
Schumacher, Ernst 108, 120, 146, 300, 301, 543
370, 454, 610, 635 Souvarine, Boris 496
Schütz, Klaus 343 Soyinka, Wole 207
Schwab-Felisch, Hans 376, 490, 499, 556 Spahn, Claus 195
Personenregister 659

Sperr, Martin 166 Tabbert-Jones, Gudrun 121, 145


Spinoza, Benedictus de (Baruch) 361, 368 Tabori, George 252, 358
Stachanow, Aleksej Grigorjewitsch 64 Taneff, Wassilij 467
Stadelmaier, Gerhard 473 Tank, Hans Lothar 374
Stalin, Jossif Wissarionowitsch 303, 331, 382, Tatlow, Antony 426
490, 496, 594, 600 Tell, Wilhelm 458
Stanislawski, Konstantin 299, 600 Tenschert, Joachim 47, 175, 308, 546, 555,
Stark, Günther 295, 302 585, 590
Staudte, Wolfgang 198 Terenz (Publius Terentius Afer) 567
Steckel, Frank-Patrick 174, 286, 306 Thalbach, Katharina 166, 400, 439
Steckel, Leonard 46, 358, 437 Thate, Hilmar 165
Steffin, Margarete 154, 263, 296, 297, 300, Thiele, Dieter 461, 467
310, 321, 326–328, 330, 332, 333, 337, 340, Thieme, Karl 172
341, 383, 402, 419, 420, 440, 442, 443, 445, Thiers, Adolphe 547, 548, 558, 561
450, 456, 458, 460, 545 Thiessen, Rudi 366
Stein, Peter 126, 127, 306 Thom, Andreas 75
Steinweg, Reiner 38, 172–174, 231, 263, 264, Thomas, Solveig 438
293, 300 Thomson, James 207
Stemmle, Robert Adolf 404 Tieck, Dorothea 585, 588–590
Stern, Guy 95 Tilly, Johann Tserclaes Graf von 390
Stern, Tania und James 514, 515 Tirso de Molina (d. i. Fray Gabriel Téllez)
Sternberg, Fritz 88 430, 613
Sternheim, Carl 614 Toffolutti, Ezio 286, 400
Sterzenbach, Benno 165 Toller, Ernst 70, 71, 154
Stevenson, Robert Louis 182 Tombrock, Hans 460
Stöger, Anny 399 Topitz, Anton Maria 258
Stolzing, Josef 125 Torgler, Ernst 467
Stramm, August 70 Tragelehn, Bernhard Klaus 377, 565
Straub, Agnes 42 Trauth, Volker 473
Strawinsky, Igor 404, 416 Trenk-Trebitsch, Willy 203
Strehler, Giorgio 195, 213, 264, 293, 375, 432, Trepte, Curt 545
438, 439, 499 Tretjakow, Sergej 64, 316
Streisand, Marianne 50, 51 Trotzki, Lew Dawidowitsch 600
Stresemann, Gustav 477 Tschiang Kai-Schek 590
Strindberg, August 444, 447 Tucholsky, Kurt 298
Strittmatter, Erwin 1, 22, 47 Tuerschmann, Elisa 398
Stromberg, Christine 399 Tullus Hostilius 321
Stuckenschmidt, Hans Heinz 212, 259
Šubik, Christof 76 Ueding, Cornelie 330
Subiotto, Arrigo 628 Ueding, Gert 11, 431
Suhrkamp, Peter 88, 204, 225, 460, 483, 515, Ulbricht, Walter 49, 407–410
601 Undisz, Sebastian 530
Swift, Jonathan 205, 206, 275, 313, 348 Ungar, Hermann 489
Synge, John Millington 333 Unseld, Siegfried 355
Szczesny, Gerhard 376 Urban VIII. (Papst) siehe Barberini, Carlo
Szeiler, Josef 176, 177 Maffeo
Szondi, Peter 246, 249 Urfey, Thomas d’ 207
Szyk, Arthur 487, 488 Utzerath, Hansjörg 286, 293
660 Personenregister

Valentin, Karl 100, 117, 155 Wedekind, Frank 69, 74, 75, 82, 100, 108, 110,
Valetti, Rosa 199, 201 169
Vallentin, Antonina 65 Wege, Carl 54, 154
Vallès, Jules 552 Weigel, Helene 4, 44–48, 165, 168, 181, 199,
Vanderbilt, Cornelius 148, 273 258, 270, 296, 297, 299, 305–307, 312, 317,
Vaßen, Florian 69, 75, 173, 176 341, 342, 355, 383, 397, 408, 419, 532, 541,
Vergil (Publius Vergilius Maro) 268 545, 578, 590, 595
Verlaine, Paul 18, 69, 70, 74, 75 Weill, Emma (geb. Ackermann) 181
Victor, Walter 416 Weill, Kurt 2, 3, 10, 11, 13, 29, 30, 34, 41, 44,
Viertel, Berthold 46, 47, 285, 342, 344, 460, 145, 154, 178, 185, 187, 190–195, 197–204,
578, 580 206–208, 210–213, 216, 218, 220–223, 242,
Viertel, Hans (John) 486, 515 243, 245, 247, 248, 252, 287, 297, 303, 316,
Vietrich, Wolfgang 349 317, 319, 320, 420, 485
Vigliero, Consolina 628 Weinert, Erich 549
Villiers (d. i. Claude Deschamps) 613 Weinert, J. 543, 622
Villon, François 69, 74, 182, 200, 201, 210 Weisenborn, Günther 213, 295, 296, 298, 299,
Vinçon, Inge 101, 105, 343, 349, 380 302
Vischer, Melchior 105 Weiskopf, Franz Carl 347
Vogt, Jochen 343 Weiss, Peter 65, 556
Völker, Klaus 96, 182, 312, 329, 341, 343, 348, Weisstein, Ulrich 133, 185, 186, 210
349, 375, 376, 382, 462, 513, 523, 610, 628 Weiß, Christoph 576
Völker, Wolf 405 Weiße, Michael 386
Vollhardt, Peter 286 Wekwerth, Manfred 47, 175, 306, 308, 375,
Volmoeller, Karl 598 400, 433, 454, 472, 487, 546, 549–552, 555,
Voltaire (d. i. François Marie Arouet) 348 585, 590
Vorsmann, Josef 154 Welti, Jakob 436
Voscovec, Jirí 486 Wendt, Ernst 454, 636
Vychodil, Ladislav 165 Werich, Jan 486
Wernicke, Herbert 215
Wachtangow, Jewgeni B. 597, 598 Wertheim, Albert 629
Wagner, Gottfried 185 Wessel, Horst 345
Wagner, Karl Willy 220 Westermann, Charlotte 116
Wagner, Richard 93, 191, 212, 317, 319, 339, Westphal, Kurt 416
404, 414, 473, 487 White, Bouck 148, 267
Wagner-Regeny, Rudolf 635 White, John J. 362, 366, 368
Walden, Herwarth 116 Whitman, Walt 115
Waley, Arthur 242, 244–246, 288, 426 Wiegenstein, Roland 98
Walpole, Robert 207 Wieland, Christoph Martin 105, 576
Walser, Martin 542 Wiesten, Fritz 544
Walther, Volker 399 Wifstrand, Naima 384
Wandel, Paul 410 Wild, Jonathan 205
Waniek, Herbert 83 Wilhelm II. (deutscher Kaiser) 106
Watson, John Broadus 121 Wilhelm, Richard 426
Weber, Betty Nance 370, 519 Wilhelmi, Hans 438
Weber, Carl Maria von 191 Wille, Franz 473
Weber, Marek 203 Willy, Johannes 221
Weber, Mathias 169 Wilson, George 454
Webern, Anton 305 Windelboth, Horst 306
Webster, John 500–506, 508–511 Winds, Erich Alexander 398
Personenregister 661

Winge, Hans 487, 515 Yamamoto Yuzo 456–459


Winzer, Klaus D. 499
Wirth, Andrzej 176 Zadek, Peter 252
Witt, Josef 221, 233 Zech, Carlferdinand 325
Wittfogel, Karl August 259 Zech, Paul 75
Wittkowski, Wolfgang 18, 120, 145 Zetkin, Clara 296, 297, 301
Witzler, Ralf 155, 159, 162 Zimmer, Dieter E. 356
Witzmann, Peter 535 Zimmermann, Reinhart 195
Wizisla, Erdmut 365, 372 Zimmermann, Rolf Christian 566
Wladimirowna, Elena 355 Zimmermann, Werner 370
Wolff, Christian 568 Zoff, Marianne 114, 117, 181
Wolff, Ernst 233 Zschiedrich, Konrad 166
Wolffhardt, Rainer 105 Zuckmayer, Carl 133, 445, 477
Wolfson, Victor 305 Zweig, Arnold 406, 408, 485
Wollenberg, Werner 610 Zweig, Stefan 116
Wollheim da Fonseca, Anton Edmund 515 Zwerenz, Gerhard 375
Wonder, Erich 286 Zwingli, Ulrich 378
Wright, Elizabeth 431
Wuolijoki, Hella 63, 440–445, 448, 450, 452,
456, 458, 516
Wurm, Grete 398

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