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Interview

Wenn der Darmspezialist Roger


Wanner auf eine Party kommt, sagt
er: «Ich bin Füdli-Doktor, und ich
mache es gern»
Roger Wanner macht täglich Kamerafahrten durch den Darm, um
Krebs zu verhindern. Der Gastroenterologe weiss, warum Leute
Darmspiegelungen lieben, was der Zwang zu gesundem Essen
anrichtet und wie man richtig auf dem WC sitzt.

Birgit Schmid
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06.10.2023, 05.30 Uhr 8 min

Karin Hofer NZZ


«Der Darm ist ein Wunderwerk»: Roger Wanner, Spezialist für /

Magen-Darm-Beschwerden, in seiner Praxis in Zürich und mit


Endoskop in der Hand.

Herr Wanner, als Bundesrat Alain Berset seinen Rücktritt bekanntgab,


haben Sie ihn auf Linkedin aufgefordert, eine Darmspiegelung zu
machen. Warum?

Alain Berset ist in einem Alter, in dem die Vorsorgeuntersuchung


wichtig wird. Zudem ist er Gesundheitsminister. Mit dem Screening
beugt man Darmkrebs vor. Es ist eine der erfolgreichsten
Präventionsmassnahmen. Auch wenn man topfit ist: Mit fünfzig
drängt sich das auf. Zudem hat Berset bald genügend Zeit.
Sie beschäftigen sich beruflich mit etwas, das viele unappetitlich
finden: dem Darm, der Verdauung, unseren Ausscheidungen.

Das Gegenteil ist der Fall. Meine Arbeit ist höchst ästhetisch und
sauber. Selten kommt es vor, dass es stinkt. Unser Verdauungstrakt
ist ein Wunderwerk.

Wie oft haben Sie dieses Wunderwerk heute schon begutachtet?

Ich führe manchmal bis zu zwanzig Darmspiegelungen durch, dazu


Magenspiegelungen, Ultraschalluntersuchungen vom Bauch oder
die Behandlung von Hämorrhoiden. Der Verdauungstrakt beginnt
beim Mund und endet beim Gesäss.

Was ist das Ziel der Darmkrebsvorsorge?

Es geht darum, Polypen zu finden und zu entfernen. Polypen sind


gutartig. Sie sind aber die Vorstufe von Darmkrebs. An Darmkrebs
erkranken in der Schweiz rund 6 Prozent der Bevölkerung.

Beschreiben Sie doch einmal, wie Sie bei einer Darmspiegelung


vorgehen.

Ich führe das Endoskop ein, ein langes, dünnes Gerät. Am Ende ist
eine Kamera, die mir direkt Bilder vom Darm zeigt. In der Hand
halte ich eine Art Joystick, mit dem ich das Endoskop sicher durch
den Dickdarm führen kann. Sobald ich einen Polypen finde,
entferne ich ihn mit einer Schlinge oder einer feinen Zange. Polypen
sind oft nur ein paar Millimeter gross, es braucht eine ruhige Hand.
Die Arbeit bringt also meistens ein Erfolgserlebnis. Diese Fahrten
durch den Darm sind etwas Schönes.

Sie haben mir vorhin Videos davon gezeigt. In einem Darm bewegte
sich ein Wurm, ein weisses, zappelndes Ding. Ekelt Sie Ihre Arbeit nie?

Nein. Auch solche Parasiten können den Darm bewohnen. Es ist das
normale Leben.

Wie viel sehen Sie vom Patienten während der Untersuchung?

Er liegt auf der Seite mit dem Rücken zu mir. Ich sehe nur seinen
Hintern.

Ist das nicht erniedrigend?

Wieso? Der Po ist einzigartig. Manche Menschen haben eine


komplizierte Beziehung zu ihm, andere zelebrieren ihr Hinterteil
wie Kim Kardashian.

Es fällt auf, dass Leute inzwischen freimütig von ihrer


Darmspiegelung erzählen. Sie schwärmen geradezu davon. Wissen
Sie, warum?

Wegen des Propofol, des Schlafmittels?

Genau.

Propofol wirkt phantastisch. Es ist, als würde das Bewusstsein


ausgeknipst und wieder angeknipst. Es wird intravenös verabreicht,
wirkt schnell und ist gut kontrollierbar. Wie oft höre ich, nachdem
jemand aufgewacht ist: Haben Sie überhaupt schon mit Ihrer Arbeit
begonnen? Früher verabreichte man den Patienten ein Schlafmittel,
bei dem sie danach noch eine halbe Stunde beduselt waren.
Kann man süchtig nach Darmspiegelungen werden?

Nein. Propofol macht nicht süchtig, es beschert einem aber ein sehr
angenehmes Erleben. Man fühlt sich erholt nach dem Aufwachen.

Im Jargon heisst Propofol auch Michael-Jackson-Milch, da Jackson die


milchig-weisse Emulsion «milk» nannte. Er liess sich nächtlich
Propofol spritzen und starb an einer Überdosis.

Michael Jackson hatte wahrscheinlich ein Schlafproblem. Ob


Propofol zu seinem Tod geführt hat, ist nicht klar. Angeblich hat er
das Mittel unkontrolliert von seinem Arzt erhalten. In zu hoher
Dosis kann es die Atemmuskulatur lähmen, und man erstickt.

Teilen Sie dem Patienten das Resultat der Untersuchung persönlich


mit?

Ja.Sobald er aufgewacht ist und angezogen ist, setze ich mich zu


ihm ins Wartezimmer und offeriere ihm einen Kaffee und ein
Praliné. Damit gewinnt man immer.

Das dürfte nicht schwierig sein: Dank dem Propofol begegnen Ihnen
die Patienten wohl tiefenentspannt.

Den meisten Leuten kann ich gute Nachrichten überbringen. Ich


sage: Alles ist gutgegangen, ich habe nichts Böses gefunden. Allein
das ist ein Grund für gute Laune. Die Anspannung, die jeder im
Vorfeld einer solchen Untersuchung kennt, weicht.

Stimmt es, dass Propofol erotische Träume auslöst?

Es heisst oft, die Leute würden im Schlaf schwatzen unter der


Wirkung von Propofol. Das erlebe ich selten. Oder es ist ein
unverständliches Gebrabbel. Man muss also keine Angst haben, dass
ich ungewollt in intime Geheimnisse eingeweiht werde.

Kam das noch nie vor?

Was mir vor Jahren passiert ist: Ich behandelte ein Paar und machte
zuerst bei der Frau eine Darmspiegelung. Als ich startete und das
Endoskop einführte, war sie offenbar noch nicht ganz sediert und
sagte: «Nein, Hans, du weisst, dort habe ich es nicht gern!» Gewisse
Sachen will ich gar nicht wissen.

Wie oft entdecken Sie einen Tumor?

Höchstens einmal im Monat. Diese Woche diagnostizierte ich bei


einer 44-jährigen Frau einen Darmkrebs. Das ist zu jung. Sie hatte
null Risikofaktoren, sie hat niemanden in der Familie mit
Darmkrebs, raucht und trinkt nicht übermässig, ist
normalgewichtig. Es ist einfach nur Pech. Schicksal.

Vor einer Darmspiegelung müssen die Leute ein starkes Abführmittel


einnehmen, so dass der Darm bei der Untersuchung ganz entleert ist.
Sehen Sie manchmal trotzdem, was ein Patient am Tag vorher zu
Abend gegessen hat?

Der Patient sollte am Vorabend nichts mehr essen. Sonst erschwert


das meine Arbeit. Manchmal erkenne ich aber bestimmte Speisen,
die jemand ein paar Tage vorher gegessen und noch nicht verdaut
hat. Als schwer verdaulich gelten Pilze. Da jetzt die Pilzsaison
beginnt, finden wir bestimmt wieder einen kleinen Champignon.

Auf was für Speisen sollte man vor einer Darmspiegelung verzichten?
Auch von grünem Salat lassen sich nach drei Tagen noch kleine
Stücke auffinden. Tomatenhäute, Maiskörner. Mühsam sind die
kleinen Kerne in Sesambrötchen oder Birchermüesli. Sie verstopfen
das Endoskop.

Wie erklären Sie jemandem an einem Essen oder einer Party, was Sie
arbeiten?

Am Festival da Jazz in St. Moritz wurde ich einmal an ein Essen mit
Christian Jott Jenni, dem Gemeindepräsidenten und Künstler, und
dem Millionär Rolf Sachs eingeladen. Zwanzig Leute sassen an
einem grossen Tisch. Jeder sollte sagen, wer er ist und was er liebt.
Die anwesenden Künstler wussten sich gut zu verkaufen. Als die
Reihe an mir war, sagte ich: Ich bin Füdli-Doktor, und ich mache es
gern.

Warum sagten Sie nicht Gastroenterologe, worunter zwar nicht jeder


sofort etwas verstehen kann, was aber professionell klingt?

Das Wort kann niemand aussprechen, ohne sich zu verhaspeln. Der


Füdli-Doktor macht gute Stimmung und baut Hemmungen ab.

Wie viel hat das Buch «Darm mit Charme» von Julia Enders zur
Enttabuisierung beigetragen?

Viel.Die Autorin, die heute als Gastroenterologin praktiziert, hat auf


einfache Art den Darm erklärt. Meine Patienten sprechen mich
noch immer auf dieses Buch an.

Mit der richtigen Ernährung spielt auch die Darmgesundheit eine


immer wichtigere Rolle. Merken Sie das?

Gutes, richtiges Essen ist zu einer Religion geworden. Ich höre oft
von Patientinnen: Ich ernähre mich doch gesund – warum leide ich
so an Blähungen?

Ihre Antwort?

Vielleicht müssen Sie sich nicht gesund, sondern normal ernähren.


Der Zwang, gesund zu essen, kann in eine Orthorexie führen, bei der
jemand nur Obst und rohes Gemüse isst. Junge intelligente Frauen
lesen in Frauenmagazinen oder Lifestyle-Blogs über irgendwelche
Diäten und befolgen fragwürdige Ernährungstipps.

Kommen diese jungen Frauen wegen Blähungen zu Ihnen?

Ja.Der Leidensdruck ist vor allem im Sommer gross, wenn man sich
im Bikini zeigt. Da wird der aufgeblähte Bauch zum Problem.

Was raten Sie?

Streichen Sie Äpfel, Rüebli und Hafermilch aus Ihrem Menuplan,


und essen Sie stattdessen eine Woche lang bei McDonald’s. Das
Essen dort ist zwar ungesund, aber das Weissbrot ist schon halb
verdaut, wenn man es nur anschaut. Vollkornbrot macht dem Darm
mehr zu schaffen.

Erhöht rotes Fleisch nicht das Risiko für Darmkrebs?

Ich will damit ja nur zeigen, wie der Glaube unser


Ernährungsverhalten bestimmt. Junk-Food ist böse, Grünzeug ist
gut. Doch so einfach ist es nicht.
Jeder leidet heute an irgendeiner Allergie. Nimmt die Zahl der Leute
mit einer Unverträglichkeit zu?

Zweifelhaft. Vielmehr sprechen all diese Phänomene unser religiöses


Gehirn an. Jede Weltreligion zwingt uns Nahrungsrestriktionen auf.
Juden dürfen nur koscher essen, Muslime kein Schweinefleisch. Es
holt uns tiefreligiös ab, wenn wir auf etwas verzichten müssen. Es
gibt uns das Gefühl, etwas Gutes zu tun.

Auch Gefühle sollen ihre Ursachen im Darm haben. Inwiefern hat


eine depressive Verstimmung mit meiner Verdauung zu tun?

Es gibt eine Wechselwirkung. Man spricht von der sogenannten


Gehirn-Darm-Achse. Wenn es dem Bauch nicht gutgeht, leidet die
Psyche und umgekehrt. Wir kennen das vor Prüfungen. Mir war
jeweils schlecht, ich konnte fast nicht essen, musste dauernd aufs
WC. Etwas schlug mir buchstäblich auf den Magen und machte mir
Bauchweh.

Alle sind gestresst. Leidet der Darm auch unter unserem Gehetztsein?

Als wir in Zürich noch zwei Grossbanken hatten, konnte ich anhand
der Zahl der Patienten von der einen oder anderen Bank sagen, wie
der Geschäftsgang ist und wo der Stressfaktor grösser.

Im Ernst?

Ja.Ich habe ein gutes Bauchgefühl für die Wirtschaftslage


entwickelt.

Nimmt man sich zu wenig Zeit für das stille Örtchen?

Zeit istGeld, deshalb nutzen wir die Zeit auch auf der Toilette, um
im Internet zu surfen oder Mails zu lesen. Dabei ist das WC ein Ort
der Kontemplation, wie Peter Handke in «Versuch über den Stillen
Ort» schrieb. Vielleicht besteht sogar ein Zusammenhang zwischen
Handy-Gebrauch auf dem WC und dem Auftreten von
Hämorrhoiden. Dies müsste noch erforscht werden.

Gibt es eine richtige Sitzstellung auf dem WC?

Eine Theorie besagt, dass die natürliche Position für das grosse
Geschäft kniend ist, da der Winkel des Enddarms zum Beckenboden
günstiger ist. Es gibt deshalb verschiedene Toilettenhocker, bei
denen man die Beine etwas anziehen kann.

Im Film «Das Gespenst der Freiheit» von Luis Buñuel sitzt die feine
bürgerliche Gesellschaft beim Nachtessen auf WC-Schüsseln, Kellner
servieren ihr auf silbrigen Tabletts WC-Papier. Ist der Toilettengang in
gewissen Kreisen noch immer schambehafteter als in anderen?

Alle müssen sich ernähren, und das, was hinten wieder


herauskommt, ist das Produkt davon. Da unterscheiden sich die
Reichen nicht von den Armen. Vor mir als Arzt sind alle gleich. Ich
mache keinen Unterschied zwischen dem ehemaligen Junkie, der
Hepatitis C hat, dem CEO einer internationalen Firma oder der
Spitzensportlerin.

Auf Linkedin haben Sie gegen 17 000 Follower. Sie geben hier nicht
nur Ratschläge an Bundesräte, sondern stellen auch fachliche Fragen
an Berufskollegen und kommentieren die Gesundheitspolitik. Vor
allem bewerben Sie leidenschaftlich Ihren Beruf.

Arzt ist ein Traumberuf entgegen den Klagen, die man ständig hört,
weil vor lauter Administration die eigentliche Arbeit auf der Strecke
bleibe. Für mich ist es ein Privileg, täglich zwanzig Menschen
kennenlernen zu dürfen. Jeder von ihnen ist interessant und hat
etwas zu erzählen.

Sprechen Sie von den vier M, die im Arztberuf wichtig sind?

Genau: Man muss Menschen mögen.

Roger Wanner arbeitet als Gastroenterologe in eigener Praxis in Zürich.

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