Sie sind auf Seite 1von 186

Carsten Carlberg

Ferdinand Molnár

Epigenetik
des Menschen
Epigenetik des Menschen
Carsten Carlberg · Ferdinand Molnár

Epigenetik des Menschen


Carsten Carlberg   Ferdinand Molnár  
Institute of Animal Reproduction and Department of Biology
Food Science, Polish Academy of Sciences Nazarbayev University
Olsztyn, Poland Nur-Sultan, Kazakhstan

Institute of Biomedicine, University of


Eastern Finland
Kuopio, Finland

ISBN 978-3-031-33288-3 ISBN 978-3-031-33289-0 (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;


detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

© Springer Nature Switzerland AG 2023

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht
ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und
die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in
diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung
zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die
Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten.
Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in
diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch
die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des
Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen
und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral.

Planung/Lektorat: Ken Kissinger


Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Nature Switzerland AG und
ist ein Teil von Springer Nature.
Die Anschrift der Gesellschaft ist: Gewerbestrasse 11, 6330 Cham, Switzerland
Vorwort

Der Begriff „Epigenetik“ beschreibt die Verpackung und Zugänglichkeit unseres


Genoms, das wir in jeder der Billionen Zellen tragen, die unseren Körper formen.
Die Vorsilbe „epi“ bedeutet „auf“, „über“ oder „jenseits“ und weist darauf hin,
dass epigenetische Prozesse im Gegensatz zur Genetik keinen Einfluss auf die
DNA-Sequenz unseres Genoms haben. Das heißt, dass es eine Informations-
ebene gibt, die über der Ebene liegt, die von unserer DNA codiert wird.
Unser Genom hat in der Summe aller 23 verschiedenen Chromosomen eine
Länge von etwa 1 m. Um es in einem Zellkern mit einem Durchmesser von
weniger als 10 µm unterzubringen, muss die genomische DNA um Komplexe
von Histonproteinen gewickelt werden. Dieser Protein-DNA-Komplex wird als
Chromatin bezeichnet und ist die physikalische Erscheinungsform der Epi-
genetik.
Die Differenzierung embryonaler Stammzellen (ES-Zellen) in spezialisierte
Zelltypen erfolgt während der Embryogenese, d. h. in den ersten Lebenswochen
eines Fötus. Auch in Erwachsenen gibt es Stammzellen, z. B. im Knochenmark,
in der Haut und im Darm, die sich in spezialisierte Zellen differenzieren, um den
kontinuierlichen Verlust von Zellen des Immunsystems oder der äußeren und
inneren Oberfläche unseres Körpers zu kompensieren. Der zugrunde liegende
Mechanismus all dieser Differenzierungsprozesse ist eine epigenetische
Programmierung des Chromatins, d. h. eine Veränderung der sogenannten epi-
genetischen Landschaft, der entsprechenden Zellen.
Die wichtigste Funktion des Chromatins besteht darin, etwa 90 % unseres
Genoms zell- und gewebespezifisch unzugänglich für Transkriptionsfaktoren
und Polymerasen zu halten. Mit anderen Worten, Chromatin fungiert als Tor-
wächter für unerwünschte Genaktivierung. Auf diese Weise verwendet jedes
der 400 verschiedenen Gewebe und Zelltypen, aus denen unseren Körper auf-
gebaut ist, eine andere Teilmenge der 20.000 proteincodierenden Gene unseres
Genoms. Jeder von uns hat nur ein Genom, aber mindestens 400 verschiedene
Epigenome. Epigenetik verhindert, dass sich z. B. eine Nierenzelle über Nacht
in ein Neuron verwandelt oder umgekehrt. Auf diese Weise verschafft Epigenetik
terminal differenzierten Zellen eine dauerhafte Erinnerung an ihre Identität.

V
VI Vorwort

Neben ihrer statischen Funktion hat Epigenetik auch einen dynamischen


Aspekt, bei dem die Aktivierung intrazellulärer Signalübertragungswege über
extrazelluläre Signale wie Peptidhormone, Cytokine oder Wachstumsfaktoren, zur
Aktivierung von Transkriptionsfaktoren und chromatinmodifizierenden Enzymen
führt. Unsere Ernährung ist das dominanteste externe Signal, dem wir täglich
ausgesetzt sind. Viele Nahrungsbestandteile wie beispielsweise ungesättigte Fett-
säuren aktivieren direkt Transkriptionsfaktoren oder verursachen Veränderungen
in den Spiegeln von Metaboliten, welche die Aktivität von chromatinmodi-
fizierenden Enzymen beeinflussen. Die Aktionen dieser Kernproteine verursachen
lokale epigenetische Veränderungen, die die Transkription spezifischer Zielgene
der verschiedenen Signale ermöglichen und modulieren. Die meisten dieser Ver-
änderungen sind vorübergehend, einige können jedoch dauerhafte Spuren im
Epigenom hinterlassen. Auf diese Weise kann sich unser Epigenom Umwelt-
ereignisse merken, etwa was und wie viel wir gegessen haben, ob wir Kontakt
mit Mikroben hatten oder wir auf die eine oder andere Weise gestresst waren.
Epigenetik liefert eine molekulare Erklärung, wie unser Genom mit unserem
Lebensstil und Signalen unserer Umgebung in allen Phasen unseres Lebens ver-
bunden ist. Die dynamische Komponente der Epigenetik impliziert, dass einige
epigenetische Programmierungsereignisse reversibel sind. Wenn beispielsweise
ein ungesunder Lebensstil, gepaart mit übermäßiger Ernährung und körperlicher
Inaktivität, über viele Jahre eine epigenetische Programmierung von Stoffwechsel-
organen verursacht hat, die zu einer Insulinresistenz führt, kann dieser Prozess
durch signifikante Änderungen des Lebensstils umgekehrt werden. Diese epi-
genetische Umprogrammierung kann erhebliche Folgen für unsere Gesundheit
haben, d. h., solange keine irreversiblen Gewebeschäden eingetreten sind,
haben wir es möglicherweise selbst in der Hand, einen Krankheitszustand
rückgängig zu machen. Nicht nur unser Gedächtnis, etwa die Erinnerung an
unsere Kindheit, ist ein Lernprozess, der auf der epigenetischen Programmierung
von Neuronen basiert, sondern jede Zelle unseres Körpers hat ein epigenetisches
Gedächtnis, das die Störungen aufzeichnet, denen die sie ausgesetzt war.
Die meisten nichtübertragbaren Krankheiten haben eine genetische, vererbte
Komponente sowie eine epigenetische Komponente, die auf unserer Lebens-
weise und Umwelteinflüssen basiert. Viele Volkskrankheiten wie Typ-2-Diabetes
(T2D) lassen sich nur zu etwa 20 % durch eine genetische Veranlagung erklären.
Wir können die Gene, mit denen wir geboren werden, nicht ändern, aber wir
können uns um die restlichen 80 % kümmern, die hauptsächlich auf unserem
Epigenom basieren. Das bedeutet, dass eine genetische Veranlagung für eine
Erkrankung durch einen angemessenen, gesunden Lebensstil ausgeglichen werden
kann, der das Epigenom der betroffenen Gewebe moduliert. Das gibt uns eine
hohe Eigenverantwortung, gesund zu bleiben. Ein detailliertes Verständnis von
Epigenetik liefert eine molekulare Erklärung für diese Lebensphilosophie.
Diese ersten Beispiele zeigen, dass Epigenetik vielfältige Aspekte von Gesund-
heit und Krankheit beeinflusst. Ich werde die zentrale Bedeutung der Epigenetik
während der Embryogenese und Zelldifferenzierung sowie im Alterungsprozess
und dem Risiko für die Entstehung von Krebs beschreiben. Darüber hinaus wird
Vorwort VII

die Rolle des Epigenoms als molekularer Speicher zellulärer Ereignisse nicht
nur im Gehirn, sondern auch in Stoffwechselorganen und im Immunsystem dis-
kutiert. In diesem Zusammenhang werden epigenetische Auswirkungen auf
neurodegenerative Erkrankungen und Autismus, Stoffwechselerkrankungen wie
T2D und ein gestörtes Immunsystem, z. B. bei Autoimmunerkrankungen, erläutert.
Inhaltlich knüpft das Buch an eine Reihe von Vorlesungen in an – „Molekulare
Medizin und Genetik“, „Molekulare Immunologie“, „Krebsbiologie“ und
„Nutrigenomik“ –, die von mir in unterschiedlicher Form seit 20 Jahren an der
Universität von Ostfinnland in Kuopio gehalten werden. Dort benutze ich die
englischsprachige Originalversion dieses Buchs – „Human Epigenetics: How
Science Works“ –, das ich nun in meine Muttersprache übersetzt habe, um auch
Studenten an deutschsprachigen Universitäten einen leichten Einstieg in die Epi-
genetik zu ermöglichen. Darüber hinaus hoffe ich, dass auch Ärzte und Forscher
in den Lebenswissenschaften Interesse an dem Thema haben werden.
Die ersten fünf Kapitel dieses Buchs erläutern die molekularen Grundlagen der
Epigenetik, während die folgenden sieben Kapitel Beispiele für die Auswirkungen
der Epigenetik auf unsere Gesundheit und Erkrankungen liefern. Ein Glossar im
Anhang erläutert die wichtigsten Fachbegriffe. Die Abbildungen wurden in ihrem
Original von meinem Coautor Prof. Ferdinand Molnár (Astana, Kasachstan)
erstellt und von Dr. Eunike Velleuer (Düsseldorf, Deutschland) farblich und
stilistisch überarbeitet.
Ich hoffe, dass die Leser dieses recht visuelle Buch genießen und sich genauso
für die Epigenetik begeistern lassen wie der Autor.

Olsztyn und Kuopio Carsten Carlberg


März 2023
Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1.1 Was ist Epigenetik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1.2 Die epigenetische Landschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.3 Einfluss der Epigenetik auf Gesundheit und Krankheit. . . . . . . . 11
Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
2 Chromatin und Genexpression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
2.1 Nukleosomen: zentrale Einheiten des Chromatins . . . . . . . . . . . 15
2.2 Chromatinorganisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.3 Epigenetik und Genexpression. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.4 Chromatinarchitektur: Epigenetik in 3D. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
2.5 Epigenetische Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
3 DNA-Methylierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
3.1 Cytosine und ihre Methylierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
3.2 Das DNA-Methylom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
3.3 Genetische Prägung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
3.4 DNA-Methylierung und Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
4 Histonmodifikationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
4.1 Histone und ihre Modifikationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
4.2 Epigenetische Merkmale der Transkriptionsregulation. . . . . . . . 48
4.3 Genomweite Interpretation des Histoncodes. . . . . . . . . . . . . . . . 50
Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
5 Chromatinmodifizierende Proteine und RNAs . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
5.1 Chromatinmodifikatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
5.2 Genregulation über Chromatinmodifikatoren . . . . . . . . . . . . . . . 60

IX
X Inhaltsverzeichnis

5.3 Chromatinremodellierer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
5.4 Lange ncRNAs als Chromatinorganisatoren. . . . . . . . . . . . . . . . 66
Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
6 Embryogenese und Zelldifferenzierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
6.1 Epigenetische Veränderungen während der Embryogenese . . . . 71
6.2 Stammzellen und zelluläre Pluripotenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
6.3 Epigenetische Dynamik während der Differenzierung. . . . . . . . 78
6.4 Entwicklung und Krankheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
7 Bevölkerungsepigenetik und Altern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
7.1 Transgenerationale epigenetische Vererbung. . . . . . . . . . . . . . . . 85
7.2 Populationsepigenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
7.3 Epigenetik des Alterns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
7.4 Epigenetik der circadianen Uhr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
8 Epigenetik von Krebs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
8.1 Epimutationen bei Krebs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
8.2 Epigenomweite Störungen als Kennzeichen von Krebs . . . . . . . 104
8.3 Epigenetische Umprogrammierung bei Krebs. . . . . . . . . . . . . . . 106
8.4 Epigenetische Mechanismen von Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
8.5 Epigenetische Krebstherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
9 Neuroepigenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
9.1 Die Rolle der Epigenetik bei der neuronalen Entwicklung. . . . . 115
9.2 Epigenetische Grundlagen des Gedächtnisses. . . . . . . . . . . . . . . 119
9.3 MECP2 und das Rett-Syndrom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
9.4 Epigenetik neurodegenerativer Erkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . 122
Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
10 Ernährungsepigenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
10.1 Epigenetische Mechanismen der Nutrigenomik . . . . . . . . . . . . . 127
10.2 Energiestoffwechsel und Epigenetik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
10.3 Epigenetik intergenerationaler Stoffwechselerkrankungen. . . . . 135
Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
11 Epigenetik der Immunfunktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
11.1 Epigenetik der Hämatopoese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
11.2 Die Rolle der Epigenetik bei Immunantworten. . . . . . . . . . . . . . 143
11.3 Epigenetische Grundlagen des immunologischen
Gedächtnisses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Inhaltsverzeichnis XI

12 Epigenom-Umwelt-Interaktionen und Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . 153


12.1 Umwelt versus Genetik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
12.2 Epigenomweite Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
12.3 Epigenetische Therapie von Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Weiterführende Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

Glossar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Abkürzungsverzeichnis

3C Chromosomenkonformationserfassung
3D dreidimensional
5caC 5‑Carboxylcytosin
5fC 5‑Formylcytosin
5hmC 5-Hydroxymethylcytosin
5mC 5-Methylcytosin
5mU 5-Hydroxyuracil
ADP Adenosindiphosphat
AMPK Adenosinmonophosphat-(AMP-)aktivierte Proteinkinase
ARNTL  aryl hydrocarbon receptor nuclear translocator-like, auch BMAL1
genannt
ASH1L ASH1-ähnliche Histonlysinmethyltransferase
ASIP Agouti-Signalprotein
ATAC-seq Assay für transposasezugängliches Chromatin mithilfe von
Sequenzierung
ATP Adenosintriphosphat
BDNF vom Gehirn stammender, neurotropher Faktor
BMI1 BMI1-Protoonkogen, Polycomb-Ringfinger
bp Basenpaar
BPTF Bromodomänen-PHD-Finger-Transkriptionsfaktor
BRD bromodomäneenthaltend
CAGE cap analysis of gene expression
cAMP zyklisches Adenosinmonophosphat
CBFB core-binding factor subunit β
CBX Chromobox
CDKN cyclinabhängiger Kinaseinhibitor
CEBP CCAAT-bindendes Protein
CHD1 Chromodomänen-Helikase-DNA-Bindungsprotein 1
ChIP Chromatinimmunpräzipitation
CIMP CpG-Insel-Methylator-Phänotyp
CLOCK clock circadian regulator

XIII
XIV Abkürzungsverzeichnis

CLP gemeinsame lymphoide Vorläuferzellen


CMP gemeinsame myeloische Vorläuferzellen
CNV Kopienzahlvariante
CREBBP CREB-Bindungsprotein, auch KAT3A genannt
CRY1 Cryptochrom circadiane Uhr 1
CTCF CCCTC-Bindungsfaktor
CTLA4 zytotoxisches T-Lymphozyten-assoziiertes Protein 4
CXCL C-X-C-Motiv-Chemokin
CXCR C-X-C-Motiv-Chemokinrezeptor
CXXC1 CXXC-Fingerprotein 1
DACH1 Transkriptionsfaktor 1 der Dackelfamilie
DAMP schadenassoziiertes molekulares Muster
DNase-seq DNase-I-Überempfindlichkeit, gefolgt von Sequenzierung
DNMT DNA-Methyltransferase
DOHaD Entwicklungsursprünge von Gesundheit und Krankheit
DOT1L DOT1 like histone lysine methyltransferase
EED embryonale Ektodermentwicklung
EHMT2 euchromatic histone lysine methyltransferase 2
EMT epithelial-mesenchymale Transition
ENCODE Enzyklopädie der DNA-Elemente
EP300 E1A-Bindungsprotein p300, auch KAT3B genannt
eRNA Enhancer-RNA
ES-Zellen embryonale Stammzelle
EZH enhancer of zeste homolog
FAD Flavinadenindinukleotid
FAIRE-seq formaldehydgestützte Identifizierung regulatorischer Elemente,
gefolgt von Sequenzierung
FANTOM funktionelle Annotierung des Säugetiergenoms
FMR1 fragile X mental retardation 1
FOX Forkhead-Box
FXN Frataxin
GATA GATA-Bindungsprotein
GMP Granulozyten-Monozyten-Vorläufer
GWAS genomweite Assoziationsstudie
HAT Histonacetyltransferase
HDAC Histondeacetylase
HGPS Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom
Hi-C Hochdurchsatzchromosomenerfassung
HNRNPU heterogenes nucleäres Ribonukleoprotein U
HOTAIR HOX transcript antisense RNA
HP1 Heterochromatinprotein 1, vom CBX5-Gen codiert
HSC hämatopoetische Stammzelle
HTT Huntingtin
IAP intrazisternales A-Partikel
ICR Kontrollregion der genetischen Prägung
Abkürzungsverzeichnis XV

IDH Isocitratdehydrogenase
IGF insulinähnlicher Wachstumsfaktor
IHEC International Human Epigenome Consortium
IL Interleukin
Indel Insertion/Deletion
INFG Interferon γ
INO80 INO80-Komplexuntereinheit
iPOP integrative persönliche Omik-Profil-Erstellung
iPS-Zelle induzierte pluripotente Stammzelle
ISWI imitation switch
kb Kilobasenpaar (1000 bp)
KCNQ1 Kalium-spannungsgesteuerter Kanal, Unterfamilie Q, Mitglied 1
KDM Lysindemethylase
KLF4 krüppelähnlicher Faktor 4
KMT Lysinmethyltransferase
LAD laminassoziierte Domäne
LCK LCK-Protoonkogen, Tyrosinkinase der Src-Familie
LINE langes eingestreutes Element
LOCK große organisierte Chromatin-K9-Modifikation
LSD1 lysinspezifische Demethylase 1, auch KDM1A genannt
LTR long terminal repeat
Mb Megabasenpaar (1.000.000 bp)
MBD Methyl-DNA-Bindungsdomäne
mCH Nicht-CpG-Methylierung
MECP2 Methyl-CpG-bindendes Protein 2
MeDIP-seq methylierte DNA-Immunpräzipitationssequenzierung
MEIS1 Meis-Homöobox 1
MEN1 Menin 1
MEP Megakaryozyten-Erythrozyten-Vorläufer
MHC Haupthistokompatibilitätskomplex
MIC MHC-Klasse-I-Polypeptid-verwandte Sequenz
miRNA microRNA
MLH1 MutL-Homolog 1
MPP multipotente Vorläuferzelle
mQTLs methylation quantitative trait loci
mRNA Messenger-RNA
MS multiple Sklerose
MTHFR Methylentetrahydrofolatreduktase
NAD+ Nicotinamidadenindinukleotid
NAMPT Nicotinamidphosphoribosyltransferase
NANOG Nanog-Homöobox
NCOR nukleärer Rezeptor Corepressor
ncRNA nichtcodierende RNA
NFκB nukleärer Faktor κB
XVI Abkürzungsverzeichnis

NGS next generation sequencing


NK-Zellen natürliche Killerzelle
NSD nuclear receptor binding SET domain protein
OCT4 oktamerbindender Transkriptionsfaktor 4, auch POU5F1 genannt
PAMP pathogenassoziiertes molekulares Muster
PBMC mononukleäre Zelle des peripheren Bluts
PDCD1 programmierter Zelltod 1, auch PD1 genannt
PDGFRA Wachstumsfaktor aus Thrombozytenrezeptor α
PER1 Period circadiane Uhr 1
PGC Urkeimzelle
Pol II RNA-Polymerase II
PPARGC1A Peroxisomenproliferator-aktivierter Rezeptor Gamma, Coaktivator

PRC Polycomb-Repressionskomplex
PU.1 purinreiche Box 1
RB1 RB transkriptioneller Korepressor 1
RCOR REST-Corepressor
REL REL-Protoonkogen, NFκB-Untereinheit
REST RE1-unterdrückender Transkriptionsfaktor, auch NRSF genannt
RNA-seq RNA-Sequenzierung
RUNX1 runt-related transcription factor 1
SAH S-Adenosylhomocystein
SAM S-Adenosyl-L-Methionin
SCN Nukleus suprachiasmaticus
SETD2 SET domain containing 2
SHARP SMRT/HDAC1‑assoziiertes Repressorprotein
SINE kurzes eingestreutes Element
SIRT Sirtuin
SLE systemischer Lupus Erythematodes
SMARC  SWI/SNF-related matrix-associated actin-dependent regulators of
chromatin
SMYD2 SET and MYND domain containing 2
SNV Einzelnukleotidvariante
SOX2 SRY-Box 2
STAT Signalüberträger und Aktivator der Transkription
SUV39H suppressor of variegation 3-9 homolog
SWI/SNF switching/sucrose non-fermenting
T2D Typ-2-Diabetes
TAD topologisch assoziierte Domäne
TCGA Der Krebsgenomatlas
TCR T-Zell-Rezeptor
TDG Thymin-DNA-Glykosylase
TET ten-eleven translocation
TH-Zelle T-Helferzelle
Abkürzungsverzeichnis XVII

TOR Ziel von Rapamycin


TP53 Tumorprotein p53
TRIM tripartite-motif-containing protein
TSS Transkriptionsstartstelle
UHRF1 ubiquitinähnliche pflanzliche Homöodomäne und
Ringfingerdomäne 1
UTR nichttranslatierte Region
WRN Werner-Syndrom RecQ-ähnliche Helikase
Xist X-inaktives spezifisches Transkript
β-OHB D‑β‑Hydroxybutyrat
Einleitung
1

Zusammenfassung

Chromatin ist die physikalische Erscheinungsform der Epigenetik. Dabei


korreliert der Grad der Chromatinverdichtung umgekehrt mit der Expression
von Genen. Das Epigenom reagiert auf intra- und extrazelluläre Signale über
Änderungen in der DNA-Methylierung und in der Histonmodifikation. Dem-
entsprechend visualisiert die epigenetische Landschaft epigenomweite Ver-
änderungen während der zellulären Differenzierung, Tumorentstehung und
bei anderen zellulären Störungen. Daher hat die Funktion und Reaktion
des Epigenoms einen großen Einfluss auf unsere Gesundheit und
Erkrankungen.

Schlüsselwörter
Epigenetik · Chromatin · Euchromatin · Heterochromatin ·
Genom des Menschen · Zentrales Dogma der Molekularbiologie ·
Epigenom · Epigenetische Landschaft · Big-Biology-Projekte

1.1 Was ist Epigenetik?

Die meisten von uns hatten wahrscheinlich den ersten Kontakt zur Epigenetik, als
wir uns durch ein Mikroskop geschaut haben oder in einem Lehrbuch Chromo-
somen gesehen haben. Unsere Zellen haben 22 autosomale Chromosomenpaare
und entweder zwei X-Chromosomen (bei Frauen) oder ein X- und ein Y-Chromo-
som (bei Männern). Chromosomen bestehen aus Chromatin, d. h. einem makro-
molekularen Komplex, der aus genomischer DNA und Kernproteinen geformt
ist. Chromatin verpackt unser Genom, also die 16–85 mm langen DNA-Moleküle
jedes Chromosoms, in Zellkernen, die nur einen Durchmesser von 6–10 µm
haben. Chromosomen sind jedoch nur während einer speziellen Phase des Zell-

© Springer Nature Switzerland AG 2023 1


C. Carlberg und F. Molnár, Epigenetik des Menschen,
https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0_1
2 1 Einleitung

zyklus sichtbar, die als Metaphase der Mitose (Zellteilung) bezeichnet wird
(Abschn. 2.2). Für eine erfolgreiche Mitose ist es wichtig, dass das Genom zu
gleichen Teilen auf beide Tochterzellen aufgeteilt wird. Darum werden die 46
DNA-Moleküle in die dichteste Form von Chromatin verpackt, die als Chromo-
somen bekannt ist. In dieser Phase des Zellzyklus sind alle Gene unseres Genoms
für etwa eine Stunde abgeschaltet, d. h., die Metaphase stellt einen extremen
Fall epigenetischer Regulation unseres Genoms dar.
Mehr als 99 % der etwa 30 Billionen (3 × 1013) Zellen unseres Körpers
sind terminal differenziert, d. h., sie teilen sich nicht mehr und befinden sich
in der Interphase. Die allermeisten Zellen unseres Körpers befinden sich in
der Interphase, in der innerhalb des Zellkerns nur hellere und dunklere Bereiche
zu unterscheiden sind (Abb. 1.1, oben). Die hellere Färbung von Euchromatin
spiegelt die weniger kompakte Chromatinstruktur wider. Im „Perlen-auf-einer-
Schnur“-Modell des Euchromatins (Abb. 1.1, unten rechts) sind regelmäßig
alle 200 bp Nukleosomen angeordnet, zwischen denen 50 bp große Lücken
(Linker) mit zugänglicher genomischer DNA verbleiben. Nukleosomen bestehen
aus 147 bp genomischer DNA, die um einen Komplex aus acht Histonproteinen
(das Histonoktamer) gewickelt ist (Abschn. 2.1). Euchromatin kondensiert nur
während der Mitose und hat eine deutlich höhere Dichte an Genen als Hetero-
chromatin. Gene können nur dann in RNA umgeschrieben, wenn sie sich im
Euchromatin befinden. Während die Euchromatinfaser einen Durchmesser von
11 nm hat, bildet kompakteres Heterochromatin eine 30-nm-Faser (Abb. 1.1, unten
links) oder sogar Strukturen höherer Ordnung mit 100 nm Durchmesser. Zum Ver-
gleich: Der Durchmesser eines Chromosoms beträgt sogar 700 nm.
Gene sind definiert als Segmente eines Chromosoms, d. h. Abschnitte
genomischer DNA, die, wenn sie in RNA transkribiert werden, entweder Proteine
codieren oder als ncRNA (nichtcodierende RNAs) wirken. Die Phänomene der
genetischen Prägung (gene imprinting, Abschn. 3.3) und der X-Chromosom-
Inaktivierung (Abschn. 6.3) waren die ersten Hinweise darauf, dass identisches
genetisches Material (von einzelnen Genen bis hin zu ganzen Chromosomen)
sowohl in einem „An“- als auch in einem „Aus“-Zustand vorliegen kann. Gene
können also entweder aktiv exprimiert werden, d. h., ihre Information wird
in RNA kopiert, oder sie sind inaktiv, d. h., sie werden nicht exprimiert. In
Analogie zum Begriff „Epigenese“ (d. h. der Morphogenese und Entwicklung
eines Organismus) schlug Conrad Waddington 1942 das Wort „Epigenetik“ vor,
um Veränderungen des Phänotyps zu beschreiben, die nicht auf Veränderungen
des Genotyps beruhen. Diese Definition wurde später erweitert auf Epigenetik
ist die Untersuchung von Veränderungen in der Genfunktion, die mitotisch
und/oder meiotisch vererbbar sind und keine Veränderung der DNA-
Sequenz nach sich ziehen. In den folgenden Kapiteln werde ich detaillierter
beschreiben, dass sich Epigenetik auf kovalente Modifikationen der genomischen
DNA (Kap. 3) und der Histonproteine (Kap. 4) bezieht, die keine Veränderung
der Nukleotidsequenz verursachen. Epigenetische Veränderungen erzeugen
also keine Mutationen in der DNA, es gibt aber Epimutationen, die im
Zusammenhang mit Krebs eine Rolle spielen (Abschn. 8.1).
1.1 Was ist Epigenetik? 3

Nukleolus

Zellkern

Nukleosom 50 bp

DNA

Heterochromatin Euchromatin

Abb. 1.1  Euchromatin und Heterochromatin. Gezeigt ist ein elektronenmikroskopisches


Bild eines Zellkerns während der Interphase (oben). Die dunkleren Bereiche, die sich haupt-
sächlich in der Peripherie des Kerns befinden, stellen konstitutives, inaktives Heterochromatin
dar, während die helleren Bereiche in der Mitte aktives Euchromatin sind. Der Nukleolus ist
eine Unterstruktur des Zellkerns, in der Gene für ribosomale RNA transkribiert werden. Eine
schematische Zeichnung (unten) zeigt die dichte Packung der Nukleosomen im Heterochromatin
(links; auch als geschlossenes Chromatin bezeichnet) und die lockere Nukleosomenanordnung
im Euchromatin (rechts; offenes Chromatin)

Epigenetische Modifikationen sind funktionell relevant, wenn sie zu Ver-


änderungen der mRNA-Spiegel führen und die Produktion von Proteinen
initiieren. Solche Genexpressionsmuster können für den Rest des Lebens einer
Zelle bestehen bleiben und sogar mehrere Generationen überdauern (Abschn. 7.1).
Das impliziert, dass durch Epigenetik die Information vererbt werden kann,
welche Gene in welchen Zellen exprimiert werden.
4 1 Einleitung

In diesem Buch definiere ich Epigenetik hauptsächlich über ihre molekulare


Darstellung, d. h. die verschiedenen Stadien der Zugänglichkeit und Funktion
von Chromatin (Abb. 1.2). In der Vergangenheit galt das Verpacken genomischer
DNA zu höherer Dichte, wie das extreme Beispiel eines Metaphasechromosoms,
als die Hauptfunktion von Chromatin. Tatsächlich erfordert die geringe Größe
des Zellkerns eine Verdichtung unseres Genoms (Kasten 1.1) um mehr als das
200.000-Fache. Das wird zum Teil dadurch erreicht, dass genomische DNA um
Histonoktamere gewickelt wird (Abschn. 2.1). Heutzutage ist jedoch klar, dass ein
weiterer wichtiger Aspekt der Epigenetik die Regulierung der Chromatin-
zugänglichkeit ist. Letztere bestimmt, ob Transkriptionsfaktoren und assoziierte
Kernproteine ihre Bindungsstellen innerhalb von Enhancer- und Promotor-
regionen erkennen (Abschn. 2.3). Die Zugänglichkeit von Chromatin wird im
Wesentlichen durch Methylierung genomischer DNA an Cytosinen (Abschn. 3.1)
und posttranslationale Modifikationen von Histonproteinen (Abschn. 4.1)

AKTIVE INAKTIVE
Gene Gene

HATs HDACs KMTs DNMTs

Me3 Me3 Me3

Ac Ac Ac Ac Ac Ac Ac Ac Ac
K9 K K9 K K9 K9 K9 K9 K9 K9 K9 K9 K9 K9
K K

Me Me Me

Me Me Me

Unterdrücker der
Trankription

Unterdrückung

Aktivierung

H3K9-Acetylierung H3K9-Deacetylierung H3K9-Methylierung CpG-Methylierung

Aktivatoren der
Trankription

Abb. 1.2  Aktive und inaktive Chromatinstadien. DNA-Methylierung und Histonmodi-


fikation spielen unterschiedliche Rollen beim Abschalten (Silencing) von Genen. Während
die DNA-Methylierung eine sehr stabile Markierung darstellt (rechts), die selten rückgängig
gemacht wird, führen Histonmodifikationen meist zu einer vorübergehenden und reversiblen
transkriptionellen Aktivierung oder Unterdrückung (links). Im Heterochromatin sind CpG-
Inseln (Abschn. 3.1) methyliert, Nukleosomen (Abschn. 2.1) regelmäßig dicht angeordnet und
Histonproteine an Position H3K9 dreifach methyliert (Abschn. 4.1). K, Lysin; ac, acetyliert; me,
methyliert
1.1 Was ist Epigenetik? 5

reguliert. Darüber hinaus kontrollieren DNA-Schleifen (DNA looping) und andere


3D-Strukturen die Chromatinaktivität innerhalb des Zellkerns (Abschn. 2.4). Dem-
entsprechend spielt die Zugänglichkeit von Chromatin eine wichtige Rolle bei
der Regulierung der Genexpression, d. h., Transkriptionsfaktoren und Histon-
proteine konkurrieren um kritische Regionen in der genomischen DNA.
Während der zellulären Differenzierung wie der Embryogenese
(Abschn. 6.1) gelangen Bereiche genomischer DNA entweder in ein Stadium der
permanenten Ruhe, ins sogenannte konstitutive Heterochromatin, das oft stark
methyliert ist (Abb. 1.2, unten rechts), oder in fakultatives Heterochromatin,
das Gene enthält, die nur vorübergehend abgeschaltet sind und ihr Potenzial
behalten, durch entsprechende Signale aktiviert zu werden (Abb. 1.2, unten Mitte).
Konstitutives Heterochromatin findet sich bevorzugt auf repetitiven Genom-
sequenzen (Kasten 1.1) wie Centromeren und Telomeren, in denen die Gendichte
gering ist. Darüber hinaus finden sich im konstitutiven Heterochromatin die-
jenigen Gene, die in einem bestimmten Zelltyp nicht aktiv sein sollten, z. B.
in adulten Zellen Gene, die embryonale, pluripotente Transkriptionsfaktoren
codieren (Abschn. 6.2). Im Gegensatz dazu kann sich fakultatives Hetero-
chromatin reversibel in Euchromatin umwandeln. Somit stellt fakultatives
Heterochromatin eine dynamische Komponente des Epigenoms dar, da sein
Status von extrazellulären Signalen abhängt. Das inaktive, zweite X-Chromo-
som in weiblichen Zellen ist ein Beispiel für fakultatives Heterochromatin und
kann als Barr-Körper in Interphasekernen beobachtet werden. Das bedeutet, dass
weibliche Zellen die Möglichkeit haben, Gene ihres zweiten X-Chromosoms zu
reaktivieren, falls das entsprechende Gen des ersten X-Chromosoms defekt ist.

Kasten 1.1
Das Genom des Menschen. Die vollständige Sequenz des anatomisch
modernen Menschen (Homo sapiens) und wurde vom Human Genome
Project (www.genome.gov/10001772) entschlüsselt. Diese Referenzsequenz
ist über verschiedene Genombrowser im Internet zugänglich (Kasten 2.2)
und basiert auf sieben jungen, gesunden Spendern. Mit Ausnahme von
Keimzellen, also weiblichen Eizellen und männlichen Spermien, die nur ein
haploides Genom haben, und Erythrozyten, die keinen Zellkern mehr haben,
enthält jede menschliche Zelle ein diploides Genom. Dieses Genom besteht
aus 2 × 3,05 Mrd. Basenpaaren (bp), also 3050 Mb, und ist auf 2 × 22
autosomalen Chromosomen sowie zwei X-Chromosomen (bei Frauen)
oder einem XY-Chromosomensatz (bei Männern) verteilt. Darüber hinaus
enthält jedes Mitochondrium 16,6 kb mitochondriale DNA. Das haploide
Genom enthält etwa 20.000 proteincodierende Gene und sogar etwa die
doppelte Anzahl von ncRNA-Genen. Die proteincodierende Sequenz deckt
weniger als 2 % unseres Genoms ab, d. h., der größte Teil des Genoms ist
nichtcodierend und scheint hauptsächlich eine regulatorische Funktion
zu haben.
6 1 Einleitung

Das 1000 Genomes Project (www.internationalgenome.org) entschlüsselte


die Genomsequenz von insgesamt 2504 Individuen aus 26 Populationen.
Insgesamt beschreibt das Projekt rund 88 Mio. Genomvarianten, von denen
84,7 Mio. Einzelnukleotidvarianten (SNVs), 3,6 Mio. kurze Insertionen/
Deletionen (Indels) und 60.000 Kopienzahlvarianten (CNVs) sind. Im
Durchschnitt enthält ein typisches Genom etwa 150 Varianten, die zu einer
Verkürzung von Proteinen führen, 10.000 veränderte Aminosäuren in
Proteinen und 500.000 Stellen, die die Bindung von Transkriptionsfaktoren
beeinflussen (Abschn. 12.1).
Fast 50 % der Sequenz unseres Genoms wird von repetitiver DNA
gebildet, die in die folgenden Kategorien eingeteilt wird (in der Reihenfolge
ihrer Häufigkeit):
• lange eingestreute Elemente (LINEs, 500–8000 bp) 20,71 %
• kurze eingestreute Elemente (SINEs, 100–300 bp) 12,79 %
• Retrotransposons wie long terminal repeats (LTRs, 200–5000 bp) 8,85 %
• Minisatelliten und Mikrosatelliten (2–100 bp) 4,93 %
• Satelliten (200–2000 bp) 2,54 %
LINEs und SINEs sind identische oder nahezu identische DNA-Sequenzen,
die durch eine große Anzahl von Nukleotiden getrennt sind, d. h., die
Wiederholungen sind über das gesamte Genom verteilt. LTRs sind durch
Sequenzen gekennzeichnet, die an jedem Ende von Retrotransposons
zu finden sind. DNA-Transposons sind autonome DNA-Sequenzen, die
eine Transposase codieren, also ein Enzym, das DNA von einer Position
im Genom zu einer anderen transponiert. Mikrosatelliten sind oft mit
centromeren oder pericentromeren Regionen assoziiert und werden durch
Tandemwiederholungen von 2–10 bp Länge gebildet. Minisatelliten und
große Satelliten sind länger (10–60 bp bzw. bis zu 100 bp).

Während das Genom in jeder Zelle eines Individuums identisch ist und über
das Leben der Person hinweg relativ stabil bleibt, verhält sich ein großer Teil
des Epigenoms sehr dynamisch. Das Epigenom unterscheidet sich von einem
Zelltyp zum anderen und kann auf verschiedene Signalübertragungswege
reagieren. Dementsprechend sind auch das Transkriptom (d. h. die Menge aller
synthetisierten RNAs) und das Proteom (d. h. die Menge aller produzierten
Proteine) einer Zelle dynamisch und zellspezifisch. Beispielsweise führt die
Methylierung eines Histons an dem Ort im Genom, an dem es Teil eines
Nukleosoms ist, zur reversiblen Ausbildung von Heterochromatin, während die
Methylierung von DNA meist zu einer stabilen Langzeitunterdrückung führt
(Abb. 1.2, unten rechts). In Regionen, in denen Histone durch die Wirkung von
HATs (Histonacetyltransferasen) acetyliert werden, bleibt die genomische
DNA nichtmethyliert. Im Gegensatz dazu werden Histone in nichtexprimierten
Regionen durch HDACs (Histondeacetylasen) deacetyliert und durch KMTs
1.1 Was ist Epigenetik? 7

(Lysinmethyltransferase) methyliert. In diesen Regionen wird genomische DNA


von DNMTs (DNA-Methyltransferasen) methyliert. HATs, HDACs, KMTs und
DNMTs sind chromatinmodifizierende Enzyme, die später (Abschn. 3.1 und 5.1)
ausführlicher diskutiert werden.
Chromatin wird in verschiedene epigenetische Stadien unterschieden, da es
sowohl auf der Ebene von Histonmodifikationen als auch der DNA-Methylierung
einen allmählichen Übergang zwischen den beiden extremen Formen,
Euchromatin und Heterochromatin, gibt (Abb. 1.2, unten). Das impliziert auch,
dass es eine enge Zusammenarbeit zwischen beiden Arten von Chromatin-
markierungen gibt. Die Histonmethylierung ist an der Steuerung der DNA-
Methylierung beteiligt, während die DNA-Methylierung als Vorlage für einige
Histonmodifikationen nach der DNA-Replikation dient.
Das zentrale Dogma der Molekularbiologie (Kasten 1.2) zeigt, dass der
erste Schritt der Genexpression die Transkription der genomischen DNA des
sogenannten Genkörpers (gene body) in mRNA ist. Der Genkörper umfasst
die DNA-Sequenz zwischen der Transkriptionsstartstelle (TSS) und der
Transkriptionsterminationsstelle, d. h. zwischen Anfang und Ende eines Gens.
Nach Spleißen und Transport vom Zellkern ins Cytoplasma wird die mRNA in
Protein übersetzt (Abb. 1.3).

Kasten 1.2
Das zentrale Dogma der Molekularbiologie. Das Dogma gibt eine klare
Richtung im Informationsfluss von der DNA über die RNA zum Protein
an (Abb. 1.3). Das impliziert, dass die genomische DNA, bis auf wenige
Ausnahmen wie etwa bei der reversen Transkription des RNA-Genoms
von Retroviren, den Bauplan eines Organismus speichert (in diesem
Buch werden wir sehen, dass darüber hinaus auch das Epigenom einen
großen Beitrag leistet). Dementsprechend werden Gene als Bereiche
der genomischen DNA definiert, die in RNA transkribiert werden
können. In der ursprünglichen Formulierung des Dogmas war mit „RNA“
nur „mRNA“ gemeint, also die RNA-Vorlage, die für die Proteinsynthese
verwendet wird, aber es gilt auch für ncRNAs wie rRNAs, tRNAs und
Mikro-RNAs (miRNA). Dennoch bestimmt die Expression der 20.000
proteincodierenden Gene unseres Genoms, also ihre Transkription
in mRNA und deren anschließende Übersetzung in Protein, welche
Proteine in einer bestimmten Zelle vorkommen.

Proteine sind die „Arbeiter“ innerhalb der Zelle, denn fast alle Funktionen wie
Signalübertragung, Katalyse und Steuerung von Stoffwechselreaktionen, Molekül-
transport und vieles mehr wird von ihnen ausgeführt. Darüber hinaus tragen
Proteine zur Struktur und Stabilität von Zellen und intrazellulären Matrices bei.
Daher bestimmt die Genexpression den Phänotyp, die Funktion und den Ent-
wicklungszustand von Zelltypen und Geweben. Genexpressionsmuster sind
8 1 Einleitung

Zellmembran

Cytoplasma mRNA-Translation (iv) Wachsende


Polypeptidkette
Ribosom
Kappe Poly(A)
mRNA
Kleine
ribosomale
Untereinheit

Kernpore Fertiges Protein


n

mRNA-Transport (iii) Posttranslationale


Proteinmodifikationen/
AUG UAA
[START] [STOPP] Aktivitätskontrolle (v)
mRNA Kappe 1 2 3 4 5 Poly(A)
mRNA Prozessierung (ii)
5’ UTR CDS 3’ UTR
(”Capping”, Spleißen,
AUG UAA
Polyadenylierung) [START] [STOPP]
Prä-mRNA 1 2 3 4 5

Transkription (i) ATG TAA


[START] [STOPP] Poly(A)-Stelle
Genomische DNA 1 2 3 4 5
TSS Zellkernhülle
Zellkern

Abb. 1.3  Informationsfluss von der DNA zur RNA und zum Protein. Die TSS eines Gens
ist das erste Nukleotid, das in mRNA transkribiert wird, d. h., sie definiert den Start eines Gens,
hat aber keine definierte Sequenz. In Analogie dazu ist das Ende eines Gens die Position, an der
sich die RNA-Polymerase II (Pol II) von der DNA-Matrize trennt. Der Genkörper wird voll-
ständig in einzelsträngige Prä-mRNA transkribiert (i), die aus Exons (grüne und braune Zylinder)
und dazwischenliegenden Introns besteht. Die Introns werden durch Spleißen entfernt und
das 5'-Ende des mRNA-Moleküls wird durch eine Nukleotidkappe geschützt (Capping). Das
3'-Ende der RNA wird durch die Zugabe von Hunderten von Adeninen vor dem Verdau durch
Exonukleasen bewahrt (Polyadenylierung, Poly[A]; (ii). Reife mRNA wird dann mithilfe eines
aktiven, ATP-verbrauchenden Prozesses durch Kernporen aus dem Zellkern in das Cytoplasma
exportiert (iii). Kleine ribosomale Untereinheiten scannen das mRNA-Molekül von seinem
5'-Ende her auf das erste verfügbare AUG (das Startcodon), verschmelzen dann mit großen ribo-
somalen Untereinheiten zu Ribosomen. Diese führen die Translation durch, bis sie die Sequenzen
UAA, UAG oder UGA (die Stoppcodons) erreichen (iv). Die mRNA-Sequenzen stromaufwärts
(upstream) des Startcodons und stromabwärts (downstream) des Stoppcodons werden nicht
translatiert und als 5'- und 3'-untranslatierte Regionen (UTRs) bezeichnet. Die resultierenden
Polypeptidketten falten sich zu Proteinen, von denen die meisten weiter posttranslational modi-
fiziert werden, um ihr volles Funktionsprofil zu erreichen (v). Der Einfachheit halber ist in
diesem und in allen folgenden Abbildungen die Kernhülle als einzelne Lipiddoppelschicht und
nicht als doppelte Lipiddoppelschicht dargestellt. A, Adenin; C, Cytosin; G, Guanin; T, Thymin
(kommt nur in DNA vor); U, Uracil (kommt nur in RNA vor)

zellspezifisch, können sich aber auch drastisch ändern, wenn sie intra- und extra-
zellulären Signalen ausgesetzt wurden oder auf pathologische Zustände wie eine
Infektion mit Mikroben oder Krebs reagieren.
1.2 Die epigenetische Landschaft 9

1.2 Die epigenetische Landschaft

Die epigenetische Landschaft ist ein sehr anschauliches Modell zum Verständ-
nis der zugrunde liegenden molekularen Mechanismen der Entscheidungen
über das Schicksal einer Zelle während ihrer Entwicklung (Abb. 1.4). Zelluläre
Differenzierung ist normalerweise ein irreversibler, sich vorwärts bewegender
Prozess, der zu hoch spezialisierten, terminal differenzierten Zelltypen führt.
In dem Modell der epigenetischen Landschaft kann die zelluläre
Differenzierung mit einem System von Tälern in einer Hügellandschaft ver-
glichen werden, in dem eine Zelle (oft dargestellt durch eine Kugel, Abb. 1.5),
beispielsweise eine Stammzelle, auf dem Gipfel beginnt und durch die Schwer-
kraft angetrieben wird, vorhandenen Pfaden zu folgen. Letztere Analogie soll
ausdrücken, dass der Weg der Differenzierung eine klare Richtung hat. Dieser
Vorgang lenkt die Zelle in eines von mehreren möglichen Schicksalen, die als
Täler dargestellt werden (Abb. 1.5, unten). Auf dem Weg bergab müssen an Weg-
gabelungen Entscheidungen über das Zellschicksal getroffen werden. Diese Ent-
scheidungen hängen oft von der Expression bestimmter Transkriptionsfaktoren ab,
die später besprochen werden (Abschn. 11.1). Sobald eine Zelle eine erste Ent-
scheidung getroffen hat, ist sie in den nachfolgenden Entscheidungen durch die
Route, die sie genommen hat, eingeschränkt.
Das Entwicklungspotenzial von Stammzellen auf dem Gipfel des Hügels
korreliert mit einer hohen Entropie (d. h. dem Potenzial, eine Vielzahl von Zell-
stadien anzunehmen), die während der Differenzierung zu wohldefinierten

ES-Zelle

ie
slin
mung Hämatopoetische
b stam Vorläuferzellen
eA
isch
elo
My

Zugängliches
Chromatin

NK-Zelle B-Zelle B-Zelle TH1-Zelle TH2-Zelle


(ruhend) (aktiviert)

Abb. 1.4  Modell der epigenetischen Landschaft. Die zelluläre Differenzierung wird begleitet
von der fortschreitenden Einschränkung der epigenetischen Landschaft, die durch die Verengung
der Talböden angezeigt wird. Hier werden Beispiele für die Differenzierung von lymphoiden
Zellen gezeigt
10 1 Einleitung

Stammzellen

Normale
Entwicklung/
Differenzierung

Neoplasie/Entdifferenzierung

Terminal differenzierte Zellen

Abb. 1.5  Phänotypische Plastizität während zellulärer Umprogrammierung und


Neoplasie. Waddingtons Modell der epigenetischen Landschaft dient zur Veranschaulichung
der phänotypischen Plastizität von Zellen während der normalen Entwicklung (links), der Ent-
stehung von iPS-Zellen, d. h. bei der zellulären Umprogrammierung (Mitte, Abschn. 6.2), sowie
während der Induktion von Neoplasien, d. h. in der Tumorentstehung (rechts, Abschn. 8.1)

Zelltypen abnimmt (Abb. 1.5, links). Werden hingegen embryonale Pluri-


potenztranskriptionsfaktoren (Abschn. 6.2) wie OCT4 (oktamerbindender
Transkriptionsfaktor 4) oder NANOG (Nanog-Homöobox) in terminal
differenzierten Zellen reaktiviert, kann die Entropie wieder ansteigen und die
Zelle kann sich in der Hügellandschaft bergauf bewegen (Abb. 1.5, Mitte).
Das geschieht häufig während der Tumorentstehung, wenn Epimutationen
Transkriptionsfaktoren oder Chromatinmodifikatoren aktivieren
(Abschn. 8.1). Letztere kann die Entscheidung der Zelle über ihre terminale
Differenzierung verändern. Die transformierten Zellen erreichen so einen Zustand
höherer Entropie, in dem sie wieder proliferieren und sich selbst erneuern können,
d. h., sie sind im Vergleich zur Ausgangszelle entdifferenziert (Abb. 1.5, rechts).
Das Modell der epigenetischen Landschaft wird auch verwendet, um die phäno-
typische Plastizität von Zellen während der Entstehung von induzierten pluri-
potenten Stammzellen (iPS-Zellen) zu veranschaulichen (Kasten 1.3). Die
epigenetische Landschaft ist ein attraktives, intuitiv verständliches Modell,
wie die statische Information des Genoms dynamisch in den Phänotyp von
Geweben und Zelltypen übersetzt wird.
1.3 Einfluss der Epigenetik auf Gesundheit und Krankheit 11

Kasten 1.3
Potenz von Zellen. Die Potenz einer Zelle ist ihre Fähigkeit, sich in andere
Zelltypen zu differenzieren. Totipotente Zellen können alle Zelltypen in
einem Körper bilden, einschließlich extraembryonaler Plazentazellen. Nur
innerhalb der ersten sechs bis acht Zellteilungen nach der Befruchtung
sind embryonale Zellen totipotent. Aus pluripotenten Zellen wie ES-
Zellen können alle Zelltypen hervorgehen, die unseren Körper bilden. Multi-
potente Zellen wie adulte Stammzellen können sich zu mehr als einem
Zelltyp entwickeln, sind aber eingeschränkter als pluripotente Zellen. Im
Gegensatz dazu sind terminal differenzierte Zellen, d. h. mehr als 99 %
der Zellen in unserem Körper, unipotent. Durch die Überexpression pluri-
potenter Transkriptionsfaktoren können jedoch unipotente Zellen dazu
gebracht werden, pluripotent zu werden und sich z. B. in iPS-Zellen umzu-
wandeln.

1.3 Einfluss der Epigenetik auf Gesundheit und


Krankheit

Seit etwa 20 Jahren ist es sehr beliebt, einem molekularen Begriff die Nachsilbe
„omik“ hinzuzufügen, um auszudrücken, dass eine Reihe von Molekülen wie
DNA, RNA, Proteine oder Metaboliten auf umfassender und/oder globaler Ebene
untersucht werden. Nach der Veröffentlichung des Genoms des Menschen im
Jahr 2001 (Kasten 1.1) war die Genomik die erste „Omik-Disziplin“, die sich
auf die Untersuchung ganzer Genome konzentrierte, im Gegensatz zur Genetik,
die einzelne Gene untersucht. Die Genomik erwies sich als geeigneter Ansatz
für die Beschreibung und Untersuchung genetischer Varianten wie SNVs,
die zu komplexen Erkrankungen wie Krebs, T2D oder Alzheimer beitragen.
Technologische Fortschritte, insbesondere bei next generation sequencing-
(NGS-)Methoden (Abschn. 2.5), führten zur Entwicklung weiterer „Omik-
Disziplinen“, darunter Epigenomik, Transkriptomik, Proteomik, Metabolomik und
Nutrigenomik (Abschn. 10.1).
Epigenomik ist die globale, umfassende Sicht auf Prozesse, die Gen-
expressionsmuster in einer Zelle unabhängig von der Genomsequenz
modulieren. Diese Muster sind in erster Linie Methylierungszustände von
genomischer DNA (Abschn. 3.1) und kovalente Modifikationen von Histon-
proteinen (Abschn. 4.1), die die Architektur des Zellkerns organisieren, den
Zugang von Transkriptionsfaktoren zur genomischen DNA einschränken oder
erleichtern und eine epigenetische Erinnerung an vergangene genregulatorische
Aktivitäten bewahren. Das Epigenom kann als „zweite Dimension“ des
Genoms betrachtet werden, das zelltypspezifische Genexpressionsmuster
bei normalen Prozessen wie der Embryogenese (Abschn. 6.1) und dem Altern
(Abschn. 7.3) sowie bei Erkrankungen wie Krebs (Kap. 8), Autismus und Neuro-
12 1 Einleitung

degeneration (Kap. 9), T2D (Kap. 10) oder Autoimmunität (Kap. 11) aufrecht-
erhält.
Als Reaktion auf zelluläre Störungen durch Ernährung, Begegnung mit
Mikroben, Zellstress oder andere Umwelteinflüsse verändern sich die Epi-
genome der entsprechenden Zelltypen im Laufe der Zeit stark. Obwohl ver-
schiedene Personen Übereinstimmungen in den allgemeinen Epigenommustern
ihrer Gewebe zeigen, unterscheiden sich Individuen weit mehr auf der Ebene
ihrer Epigenome als auf der Ebene ihrer Genome (Abb. 1.6). Das bedeutet, dass
phänotypische Unterschiede zwischen Individuen (wie auch ihre Veranlagung
für Krankheiten) eher auf ihrem Epigenom als auf ihrem Genom beruhen
(Abschn. 12.1).
Der epigenomweite Zustand eines Gewebes oder Zelltyps hängt von einem
effektiven Zusammenspiel zwischen Umgebung und Chromatin ab. Grund-
sätzlich kann jede Störung der zellulären Homöostase über epigenetische
Veränderungen zu lang anhaltenden Wirkungen des Phänotyps führen, ins-
besondere, wenn es sich bei den gestörten Zellen um sich selbst erneuernde
Stammzellen oder langlebige, terminal differenzierte Zellen wie Neuronen oder
T-Gedächtniszellen handelt. Diese Störungen führen zur Aktivierung von Signal-
übertragungswegen, die oft den Zellkern erreichen. Innerhalb des Zellkerns
kommunizieren aktivierte Transkriptionsfaktoren mit Chromatinmodifikatoren und

Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me

Me Me Me Me Me Me
G Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me
G Me Me Me Me Me
G Me
G
A Me Me Me
A A Me Me Me
A Me Me Me Me

Person 1 T T T T

Gewebe
Gehirn Nebenniere Herz Darm

Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me

Me Me Me Me Me
T Me Me Me Me Me Me Me Me
T Me Me Me Me Me Me
T Me
T
C Me Me Me
C Me
C Me Me Me
C Me Me Me Me Me Me

Person 2 T T T T

Abb. 1.6  Individuen zeigen epigenetische Heterogenität. Gewebe- und zelltypspezifische


DNA-Methylierungen werden durch Cluster von methylierten CG-Dinukleotiden (CpGs,
Abschn. 3.1) angezeigt, die bei denselben Personen von Gewebe zu Gewebe variieren. Gefüllte
Kreise veranschaulichen methylierte CpGs und das Fehlen eines Kreises nichtmethylierte CpGs.
SNVs sind durch veränderte Basen hervorgehoben
1.3 Einfluss der Epigenetik auf Gesundheit und Krankheit 13

Chromatinremodellierern (Kap. 5) und erzeugen auf diese Weise Veränderungen


in epigenetischen Signaturen, darunter Histonmodifikationen, die DNA-
Methylierung und die 3D-Chromatinarchitektur. Einige dieser epigenetischen
Veränderungen sind nur vorübergehend (von Minuten bis Stunden), während
andere viel länger anhalten können (Tage, Monate oder sogar Jahre). Dement-
sprechend dient das Epigenom als Speicher für zelluläre Störungen der Ver-
gangenheit. Jede diploide Zelle enthält etwa 30 Mio. Nukleosomen, von denen
jedes mehr als 130 verschiedene Möglichkeiten posttranslationaler Modifikationen
hat (Abschn. 4.1). Mit diesen etwa 4 Mrd. (130 × 30 Mio.) „Buchstaben“ des
Histoncodes kann eine einzelne Zelle allein durch Histonmodifikationen eine
enorme Datenmenge speichern. Zusätzlich gibt es noch weiteren „Speicher-
platz“ in Form von DNA-Methylierungsmustern.
Das Epigenom ist in der Lage, sich Lebensereignisse in praktisch jedem
Gewebe oder Zelltyp zu merken. So speichern nicht nur Neuronen das Gedächt-
nis eines Individuums (Abschn. 9.2), sondern auch das Immunsystem merkt sich
Begegnungen beispielsweise mit Mikroben (Kap. 11) und Stoffwechselorgane wie
Skelettmuskeln, Fett und Leber erinnern sich an Lebensstilentscheidungen zu
Ernährung und körperlicher Aktivität (Kap. 10). Dagegen kann eine Störung des
epigenetischen Gedächtnisses zur Entstehung von Krebs führen (Kap. 8).
Mit etwa 20 Jahren Verspätung folgten Molekularbiologen dem Beispiel
der Physiker und erkannten, dass einige ihrer Forschungsziele nur durch inter-
nationale Zusammenarbeit von Dutzenden bis Hunderten von Forschungs-
teams und Institutionen in sogenannten Big-Biology-Projekten erreicht werden
können (Abb. 1.7). Das Human Genome Project, das 1990 gestartet und 2001
abgeschlossen wurde (Kasten 1.1), war das erste Beispiel eines Big-Biology-
Projekts und hat die Denkweise in der biowissenschaftlichen Gemeinschaft erheb-
lich verändert. Infolgedessen verlagerten sich immer mehr Einzelgenstudien
auf die Genomskala.
Die ersten Big-Biology-Projekte auf dem Gebiet der Epigenomik und
Transkriptomik waren das ENCODE-Projekt (Enzyklopädie der DNA-Elemente,
www.encodeproject.org) und das FANTOM5-Projekt (funktionelle Annotation
des Säugetiergenoms, http://fantom.gsc.riken.jp). Das ENCODE-Projekt kartierte
genomweit transkribierte Regionen, die Bindung von Transkriptionsfaktoren,
die Chromatinstruktur und Histonmodifikationen. Allerdings konzentrierte sich
das Projekt zunächst auf rund 150 menschliche Zelllinien und nicht auf primäre
Zellen. Das FANTOM5-Projekt verwendete die Methode CAGE (cap ana-
lysis of gene expression), um das 5'-Ende von de novo synthetisierter RNA in
Promotor- und Enhancerregionen in etwa 750 Primärgeweben und 250 Zell-
linien zu kartieren. Das ENCODE-Folgeprojekt Roadmap Epigenomics (www.
roadmapepigenomics.org) lieferte Referenzepigenome von 111 primären
menschlichen Geweben und Zelltypen. Zusammen mit 16 Proben, die bereits
vom ENCODE-Projekt bereitgestellt wurden, wurden 127 Referenzepigenome
öffentlich zugänglich gemacht. IHEC (International Human Epigenome Con-
sortium, http://ihec-epigenomes.org) ist die Dachorganisation, unter der nationale
14 1 Einleitung

1 bp - 10 kb 100-1000 kb 1-100 kb Skala ~150 bp 1 bp

Merkmale Markierungen

ENCODE verwendete hauptsächlich ChIP-seq Roadmap Epigenomics katalogisierte FANTOM5 benutzte die Methode CAGE,
bei etwa 150 menschlichen Zelllinen, um chemische Modifikationen im Genom in um TSS und Enhancer über transkribierte
Transkriptionsfaktorbindungsstellen und 127 primären Geweben und Zelltypen, RNA zu katalogisieren. Daten von 750
Histonmodifikationen zu identifizieren, die um Genexpression zu verstehen. primären Geweben und 250 Zelllinien.
eine Rolle in der genomweiten Genexpression
spielen.

Histonmodifikationen Genotype tissue expression (GTEx)


und Varianten verwendete RNA-seq, um Genexpression
12 Modifikationen in 54 Geweben von 948 gesunden
Chromatin- Chromatin- Personen zu bestimmen.
domänen interaktionen 30 Varianten
(TADs, LADs) (3C, Hi-C) 130 PTM-Stellen
mRNA

NH 2
4

5 3N

TAD Chromatin- DNA-Modifikationen 6 1


2

N O
zugänglichkeit (5mC, 5hmC, 5fC, 5caC) H
(FAIRE-seq, ATAC-seq) Cytosin

BLUEPRINT katalogisierte chemische Modifikationen


genomischer DNA und von assozierten Proteinen.
Mehr als 100 Epigenome wurden von gesunden
Probanden und Leukämiepatienten bestimmt.

Abb. 1.7  Epigenetische Big-Biology-Projekte. Überblick über die Art der Datensätze, die
von verschiedenen Big-Biology-Projekten mit epigenetischem Fokus gesammelt wurden.
Weitere Einzelheiten sind im Text angegeben. PTM, posttranslationale Modifikation. Weitere
Abkürzungen werden in den folgenden Kapiteln erklärt

und internationale Epigenomprojekte gemeinsam koordiniert werden. Dazu gehört


die Einführung und Umsetzung von Qualitätsstandards zur Harmonisierung der
Erhebung, Verwaltung und Analyse epigenomweiter Daten. Basierend auf den
IHEC-Standards muss z. B. jedes Referenzepigenom aus mindestens neun Profilen
und Assays bestehen. Normalerweise bestehen Referenzepigenome sogar aus
20–50 genomweiten Profilen und repräsentieren eine mehrdimensionale Daten-
matrix.

Weiterführende Literatur
Buccitelli, C., and Selbach, M. (2020). mRNAs, proteins and the emerging principles of gene
expression control. Nat Rev Genet 21, 630–644.
Buchwalter, A., Kaneshiro, J.M. and Hetzer, M.W. (2019). Coaching from the sidelines: the
nuclear periphery in genome regulation. Nat Rev Genet 20, 39–50.
Carlberg, C., and Molnár, F. (2018). Human Epigenomics. Springer Textbook ISBN: 978-981-10-
7614-8.
Lappalainen, T., and Greally, J.M. (2017). Associating cellular epigenetic models with human
phenotypes. Nat Rev Genet 18, 441–451.
Michael, A.K., and Thoma, N.H. (2021). Reading the chromatinized genome. Cell 184, 3599–
3611.
Schoenfelder, S. and Fraser, P. (2019). Long-range enhancer-promoter contacts in gene
expression control. Nat Rev Genet 20, 437–455.
Stricker, S.H., Koferle, A., and Beck, S. (2017). From profiles to function in epigenomics. Nat
Rev Genet 18, 51–66.
Chromatin und Genexpression
2

Zusammenfassung

Nukleosomen enthalten Histonproteine, die posttranslational auf mehr als 100


Weisen modifiziert werden können und darüber hinaus viele Varianten auf-
weisen. Die regulatorischen Schichten (d. h. Dimensionen) von Chromatin
reichen von einzelnen Nukleosomen über DNA-Schleifen bis hin zur
großflächigen Faltung ganzer Chromosomen in Territorien innerhalb des Zell-
kerns. Die Zugänglichkeit des Chromatins an Enhancer- und Promotorregionen
bestimmt, ob ein Gen exprimiert wird oder nicht. Darüber hinaus legt die
Chromatinarchitektur fest, welche Enhancer in der Lage sind, die Expression
welcher Gene zu regulieren. Es gibt verschiedene epigenetische Methoden zur
Analyse von DNA-Methylierung, Transkriptionsfaktorbindung und Histon-
modifikationen, Chromatinzugänglichkeit sowie Kernarchitektur. Mit diesen
Ansätzen haben Big-Biology-Projekte bereits eine große Anzahl menschlicher
Epigenome gesammelt, die öffentlich zugänglich sind.

Schlüsselwörter
Chromatin · Histonproteine · Nukleosom · Histonvarianten · Posttranslationale
Histonmodifikationen · Chromatinarchitektur · Enhancer · TSS ·
Genexpression · TADs · ChIP-seq · Einzelzellassays · Genombrowser

2.1 Nukleosomen: zentrale Einheiten des Chromatins

Aufgrund ihres Phosphatrückgrats ist genomische DNA negativ geladen (bei


physiologischem pH-Wert). Die elektrostatische Abstoßung zwischen benach-
barten DNA-Bereichen macht es unmöglich, die langen DNA-Moleküle (46–
249 Mb, d. h. 16–85 mm) einzelner Chromosomen in den begrenzten Raum des
Zellkerns zu falten. Die Natur löste dieses Problem, indem sie genomische DNA

© Springer Nature Switzerland AG 2023 15


C. Carlberg und F. Molnár, Epigenetik des Menschen,
https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0_2
16 2 Chromatin und Genexpression

mit Histonproteinen kombinierte, die überproportional große Mengen der positiv


geladenen Aminosäuren Lysin (K) und Arginin (R) enthalten. Darum sind Histone
die wesentlichen Proteinkomponenten des Chromatins.
Chromatin ist die physische Darstellung des Epigenoms. Nukleosomen
sind Untereinheiten des Chromatins. In jeder Zelle unseres Körpers ist unser
diploides Genom von etwa 30 Mio. Nukleosomen bedeckt. Je zwei Kopien
der Histonproteine H2A, H2B, H3 und H4 sowie 147 bp genomische DNA, die
das Histonoktamer fast zweimal umwickelt, bilden ein Nukleosom (Abb. 2.1).
Das Biegen der genomischen DNA wird hauptsächlich durch die Anziehung
zwischen den positiv geladenen Histonenden und dem negativ geladenen DNA-
Rückgrat ermöglicht. Darüber hinaus wird die Biegung in einigen Regionen
im Genom durch die natürliche Krümmung der DNA unterstützt, die durch AA/
TT-Dinukleotide, die sich alle 10 bp wiederholen, und einen hohen CG-Gehalt
erreicht wird. Zusammen mit Histon H1 bildet das Nukleosom das sogenannte
Chromatosom. Jedes Nukleosom ist mit dem folgenden durch Linker-DNA

H1

H4
Molekül 2
H3
Molekül 2 Molekül 1 Molekül 1

H2A

Molekül 1 Molekül 2

H1
Nukleosom

H2B Molekül 2

Chromatosom

Molekül 1

Abb. 2.1  Das Nukleosom. Diese raumfüllende Oberflächendarstellung eines Nukleosoms


enthält jeweils zwei Kopien der vier zentralen Histonproteine H2A (grün), H2B (orange), H3
(rot) und H4 (blau) sowie 147 bp genomische DNA (grau), die 1,8-mal um das Histonoktamer
herumgewickelt sind. Im Komplex mit Histon H1 (braun) wird das Nukleosom als Chromatosom
bezeichnet
2.1 Nukleosomen: zentrale Einheiten des Chromatins 17

einer Länge von 20–80 bp verbunden. Das bildet etwa alle 200 bp eine sich
wiederholende Einheit des Chromatins. Die regelmäßige Positionierung von
Nukleosomen hat den Effekt, dass die Position eines bestimmten Nukleosoms die
Position seiner Nachbarn bestimmt. Durch den Einsatz von ATP, also von Energie,
sind Chromatinremodellierer jedoch in der Lage, die Position und Zusammen-
setzung von Nukleosomen zu verändern (Abschn. 5.3).
Das Phosphatrückgrat einer 200 bp langen, genomischen DNA trägt 400
negative Ladungen, die teilweise durch die etwa 220 positiv geladenen Lysine und
Arginine des Histonoktamers neutralisiert werden. Die Faltung von Chromatin
in höherer Ordnung erfordert jedoch die Neutralisierung der verbleibenden 180
negativen Ladungen durch das positiv geladene Histon H1 und andere positiv
geladene Kernproteine, die mit Chromatin assoziieren.
Nukleosomen sind die sich regelmäßig wiederholenden Einheiten des
Chromatins, unterscheiden sich jedoch von einer Genomregion zur anderen
durch unterschiedliche posttranslationale Modifikationen der Aminosäurereste
ihrer Histone (Kasten 2.1, Abschn. 4.1) und die Einführung von Histonvarianten
(Kasten 4.1). Diese genomweiten, ortsspezifischen Histonmodifikationen sind
reversibel und ein wichtiger Bestandteil des epigenetischen Gedächtnisses.
Das beeinflusst die Bindung von Transkriptionsfaktoren und die Genexpression.
Somit sind Nukleosomen nicht einfach Barrieren, die den Zugang zu genomischer
DNA blockieren, sondern dienen auch als dynamische Plattformen, die viele bio-
logische Prozesse wie Transkription und Replikation verbinden und integrieren.

Kasten 2.1

Nomenklatur der Histonmodifikationen. Histonmodifikationen werden


nach folgender Regel benannt:
• Abkürzung des Histonproteins (z. B. H3)
• die aus einem Buchstaben bestehende Abkürzung der Aminosäure (z. B.
K für Lysin) und die Position der Aminosäure im Protein
• die Art der Modifikation (ac: Acetyl, me: Methyl, P: Phosphat, Ub:
Ubiquitin etc.)
• die Anzahl der Modifikationen (es ist nur bekannt, dass Methylierungen in
mehr als einer Kopie pro Rest auftreten, daher zeigen 1, 2 und 3 eine Ein-
fach-, Zweifach- bzw. Dreifachmethylierung an).
Beispielsweise bezeichnet H3K4me3 die Dreifachmethylierung des vierten
Rests (ein Lysin) vom Aminoterminus des Proteins Histon 3. Diese Art der
Histonmodifikation markiert aktive Promotorregionen.
18 2 Chromatin und Genexpression

2.2 Chromatinorganisation

Chromatin ist in Strukturen niedrigerer Ordnung organisiert. Dazu zählen die


11-nm-Faser von Euchromatin (Abb. 1.1, unten) und Strukturen höherer
Ordnung wie die 30-nm-Faser von Heterochromatin oder die 700-nm-Faser von
Chromosomen. Dementsprechend findet man die dichteste Chromatinpackung
während der Metaphase der Mitose, kurz bevor die Chromosomen auf beide
Tochterzellen verteilt werden (Abschn. 1.1). Diese Phase muss kurz sein, da bei
einer so dichten Chromatinpackung keine Gentranskription möglich ist, d. h.
keine Flexibilität, auf Umweltsignale zu reagieren. Aber auch während der
Interphase sind 90 % der genomischen DNA terminal differenzierter Zellen
für Transkriptionsfaktoren nicht zugänglich. Daher ist Heterochromatin
der Standardzustand von Chromatin und befindet sich bevorzugt in LADs
(laminassoziierte Domänen) nahe der Kernhülle (Abb. 2.2, unten).
Die Struktur und Organisation von Chromatin kann als eine Reihe über-
lagerter epigenetischer Schichten interpretiert werden, die entweder zu offenem
Euchromatin und aktiver Genexpression (Abb. 2.2, rechts) oder zu geschlossenem
Heterochromatin und Genunterdrückung (Abb. 2.2, links) führt:

• Chromatin enthält genomische DNA, die an Cytosinen modifiziert werden


kann, insbesondere an CG-Dinukleotiden (CpGs, Abschn. 3.1). Daher ist
die erste epigenetische Schicht der DNA-Methylierungsstatus, bei dem
Hypermethylierung die Bildung von Heterochromatin stimuliert.
• Die Nukleosomenpackung stellt Ebene 2 dar, wobei dichtere Anordnungen auf
Heterochromatin hindeuten.
• Histonmodifikationen (Abschn. 4.1) an bestimmten Positionen sind Ebene 3
und markieren entweder aktives Chromatin (hauptsächlich acetyliert) oder
inaktives Chromatin (hauptsächlich methyliert).
• Die daraus resultierende Zugänglichkeit der genomischen DNA für die
Bindung von Transkriptionsfaktoren wird als Ebene 4 angesehen.
• Schließlich repräsentieren die Komplexbildung und die relative Position des
Chromatins, wie aktive Transkriptionsfabriken im Zentrum des Kerns und
inaktives Chromatin in LADs, die an das Nukleoskelett an der Kernperipherie
gebunden sind. Es handelt sich um Ebene 5 (Abschn. 2.4).

2.3 Epigenetik und Genexpression

Chromatin fungiert als Filter für den Zugang von DNA-bindenden Proteinen zu
funktionellen Elementen unseres Genoms, z. B. TSS-Regionen (sie werden auch
als Core-Promotoren bezeichnet) und Enhancer. Gene können nur dann in mRNA
transkribiert werden, wenn ihre TSS-Regionen für die basale Transkriptions-
maschinerie (d. h. Pol II und viele assoziierte Proteine) zugänglich sind.
Allerdings ist die mRNA-Synthese selbst bei zugänglichen TSS-Regionen
2.3 Epigenetik und Genexpression 19

Inaktiv Aktiv
Me Me Me Me Me Me Me Me

LEVEL 1
DNA-Methylierung

LEVEL 2
Nukleosomen

H3K9me3 me3 me3 H3K27me3 me3 me3 H3K4me3 me3 H3K36me3

LEVEL 3 Me
Histonmodifikationen Me
Me

und -varianten
Me

me3 me3 me3

TSS
LEVEL 4
Verdichtung von
Pol II
Nukleosomen
TF
me3 me3

TF
Lamina
Pol II
Kernpore TF
Transkriptions-
LEVEL 5 fabrik
Chromatinorganisation
des Zellkerns

Zellkernhülle

Abb. 2.2  Epigenetische Schichten der Chromatinorganisation. Es gibt mindestens fünf ver-


schiedene Ebenen der Chromatinorganisation, die mit inaktiver (links) oder aktiver ( rechts)
Transkription verbunden sind
• Level 1: methylierte versus nichtmethylierte genomische DNA
• Level 2: positionierte Nukleosomen versus nukleosomenfreie Regionen
• Level 3: (exemplarische) Dreifachmethylierung von Histonen an den Positionen H3K9 und
H3K27 gegenüber den Positionen H3K4 und H3K36
• Level 4: dichte Nukleosomenpackung im Heterochromatin gegenüber lockerer Anordnung mit
Transkriptionsfaktoren und Pol-II-Bindung im Euchromatin
• Level 5: Lokalisierung innerhalb von LADs in der Nähe des Zellkernrands versus Trans­
kriptionsfaktoransammlungen, die als Transkriptionsfabriken bezeichnet werden, im Zentrum
des Zellkerns

oft schwach, wenn stimulierende Transkriptionsfaktoren fehlen (Abb. 2.3,


oben). Daher ist die zweite Bedingung für eine effiziente Genexpression, dass
Enhancerregionen in relativer Nähe zu TSS-Regionen nicht im Heterochromatin
begraben sind und von Transkriptionsfaktoren erkannt werden können. Um ein
Gen zu aktivieren und zu transkribieren, muss das Chromatin sowohl an
20 2 Chromatin und Genexpression

TSS
TF
TF TF
Pol II
TF TF
Gen X Enhancer B
Enhancer A

X
Gewebe A Gen
Pol II
CTCF

TF
Cohesin
Enhancer A

Enhancer B

Gewebe B TF
X
Gen Enhancer A
Pol II
CTCF

TF
Cohesin TF
TF

Enhancer B

am N-Terminus H3K27ac H3K4me1


modifizierte
Histonproteine H3K27me3 H3K4me3
Aktivierende TFs Reprimierender TF

Abb. 2.3  Die Funktion von Enhancern. Enhancer sind Abschnitte genomischer DNA, die
Bindungsstellen für einen oder mehrere Transkriptionsfaktoren (TFs) enthalten, die die Aktivi-
tät der basalen Transkriptionsmaschinerie (Pol II und assoziierte Proteine) stimulieren, welche an
die TSS-Region eines Zielgens gebunden ist. Enhancer befinden sich sowohl stromaufwärts als
auch stromabwärts ihrer Zielgene in linearen Abständen von bis zu 1 Mb (oben). Transkriptions-
faktorgebundene, aktive Enhancer werden durch DNA-Schleifen, die durch Komplexe aus
Cohesin, CTCF und anderen Proteinen stabilisiert werden, in die Nähe von TSS-Regionen
gebracht. Aktive TSS-Regionen und Enhancer zeigen eine Depletion von Nukleosomen, während
Nukleosomen, die aktive Enhancer flankieren, spezifische Histonmodifikationen aufweisen, z. B.
H3K27ac und H3K4me1 (Mitte, Gewebe A). Im Gegensatz dazu werden inaktive Enhancer
durch eine Reihe von Mechanismen abgeschaltet, beispielsweise durch die Unterdrückung der
Bindung von Polycomb-Proteinen an H3K27me3-Markierungen oder durch die Bindung unter-
drückender Transkriptionsfaktoren (unten, Gewebe B). Weitere Einzelheiten sind im Text
erläutert
2.4 Chromatinarchitektur: Epigenetik in 3D 21

seiner TSS-Region als auch an der/den Enhancerregion(en), die die Aktivi-


tät des Gens steuern, zugänglich sein. Daher erfordert die Genaktivierung in den
meisten Fällen den Übergang von Heterochromatin zu Euchromatin.
Enhancer sind Regionen im Genom, die Bindungsstellen für sequenzspezifische
Transkriptionsfaktoren enthalten, die wiederum Koaktivatoren und chromatin-
modifizierende Proteine (Abschn. 5.2) zu diesen Orten rekrutieren. Daher
wirken Enhancer über die kooperative Bindung mehrerer Proteine. Da dies oft
in weniger als einer Nukleosomenlänge (200 bp) geschieht, ist für die Funktion
eines Enhancers ein Nukleosomenauswurf meist nicht essenziell (Abschn. 5.3).
Die Aktivität von Enhancern wird durch Histonmarkierungen von zugänglichem
Chromatin, z. B. H3K4me1 und H3K27ac, bestimmt. Wenn Enhancer in der
Nähe (±100 bp) von TSS-Regionen liegen, werden sie oft auch als Promotoren
bezeichnet. Darum gibt es keinen funktionellen Unterschied zwischen
Enhancern und Promotoren außer ihrer Entfernung relativ zur TSS-Region
des Gens, das sie regulieren.
Enhancer, die die Aktivität eines gegebenen Gens regulieren, sollten sich inner-
halb desselben TAD (topologisch assoziierte Domäne) befinden. Da TADs eine
durchschnittliche Größe von 1 Mb haben (Abschn. 2.4), ist dies der maximale
lineare Abstand zwischen einem Enhancer und der/den TSS-Regionen, die
er reguliert (Abb. 2.3, oben). Komplexe der Proteine Cohesin und CCCTC-
Bindungsfaktor (CTCF) stabilisieren diese DNA-Schleifen. Diese 3D-Chromatin-
strukturen bringen Transkriptionsfaktoren, die an Enhancer binden, in die
unmittelbare Nähe von TSS-Regionen. Auf diese Weise können Transkriptions-
faktoren über intermediäre Komplexe wie den Mediator die basale Transkriptions-
maschinerie kontaktieren und aktivieren. Der Schleifenmechanismus impliziert
auch, dass Enhancer ebenso wahrscheinlich stromaufwärts wie strom-
abwärts von TSS-Regionen liegen und eine zelltypspezifische Verwendung
und Auswirkungen auf die Transkription haben können. Beispielsweise wird
Enhancer A in Gewebe A für eine Aktivierung benutzt, während er in Gewebe
B eine Unterdrückung vermittelt (Abb. 2.3, Mitte und unten). Ergebnisse des
ENCODE-Projekts (Abschn. 1.3) zeigten, dass fast alle regulatorischen Proteine
ein Gauß-artiges Verteilungsmuster in Bezug auf TSS-Regionen aufweisen. Das
bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, eine aktive Transkriptionsfaktorbindungs-
stelle zu finden, sowohl stromaufwärts als auch stromabwärts von der TSS-Region
symmetrisch abnimmt. Somit ist die klassische Definition eines Promotors als
eine Sequenz, die sich nur stromaufwärts der TSS-Region befindet, überholt.

2.4 Chromatinarchitektur: Epigenetik in 3D

Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Regionen eines Chromosoms zufällig


über DNA-Schleifenbildung miteinander in Kontakt treten, nimmt mit ihrem
zunehmendem linearen Abstand rapide ab. Wird der Kontakt zwischen den
22 2 Chromatin und Genexpression

beiden Regionen jedoch durch assoziierte Proteine stabilisiert, bilden sich


architektonische und regulatorische Schleifen (Abb. 2.4). Die meisten archi-
tektonischen Schleifen sind identisch mit TADs und werden manchmal auch
als isolierte Nachbarschaften (isolated neighborhoods) bezeichnet, da sie
durch CTCF-CTCF-Homodimere im Komplex mit Cohesin verankert sind und
mindestens ein Gen tragen. Somit sind TADs die Grundeinheiten der chromo-
somalen Organisation und unterteilen unser Genom in mindestens 2000 Domänen,
die koregulierte Gene enthalten. Oft sind TAD-Grenzen identisch mit Isolatoren
(Abschn. 3.3), d. h. mit Abschnitten genomischer DNA, die funktionell unter-
schiedliche Regionen des Genoms voneinander trennen. Dementsprechend können
sich benachbarte TADs signifikant in ihrem Histonmodifikationsmuster unter-
scheiden, z. B. eine TAD, die im Heterochromatin liegt und abgeschaltete Gene
enthält, und eine andere, die sich in Euchromatin befindet und aktive Gene trägt.
TADs organisieren regulatorische Landschaften, d. h., sie definieren die
Regionen im Genom, in denen Enhancer mit TSS-Regionen ihres/ihrer Ziel-
gene(s) interagieren können (Abschn. 2.3). Die lineare Größe von TADs liegt im
Bereich von 100 kb bis 5 Mb (Median: 1 Mb) und enthalten ein bis zehn Gene
(Median: 3). Dementsprechend gibt es in den meisten TADs eine Reihe von
Genen, die durch denselben Satz von Enhancern reguliert werden. Das wird oft für
Gencluster beobachtet. Regulatorische Schleifen werden zwischen Enhancern und

Zellkern
Regulatorische
Schleife

TAD
TAD

Architektonische
Schleife

CTCF CTCF
Isolator/Grenze

TAD TAD TAD TAD TAD TAD TAD

Chromosom 1 Mb

Abb. 2.4  Organisation von Chromosomen in TADs. Unser Genom ist in einige Tausend
TADs unterteilt, die Regionen im Genom definieren, in denen die meisten Gene ihre spezifischen
regulatorischen Elemente wie Promotoren und Enhancer haben. TADs sind architektonische
Chromatinschleifen, die durch Isolatoren bzw. Grenzen, die Komplexe von CTCF und Cohesin
binden, voneinander isoliert sind. Innerhalb von TADs werden regulatorische Chromatinschleifen
zwischen Enhancern und Promotoren ausgebildet
2.4 Chromatinarchitektur: Epigenetik in 3D 23

­ SS-Regionen gebildet, die innerhalb derselben TAD liegen, d. h., sie sind kleiner
T
als TADs (Abb. 2.4). Diese regulatorischer Schleifen beruhen auf der Bindung
von Transkriptionsfaktoren an Enhancer und ihr funktionelles Ergebnis ist
die Stimulierung der Genexpression (Abb. 2.3).
Die innere Oberfläche der Kernhülle ist mit einer Lamina überzogen, die ein
Komplex aus Laminen und einer Reihe weiterer Proteine ist (Abb. 2.5). Lamine
erhalten die Form und die mechanischen Eigenschaften des Zellkerns und dienen
als Befestigungspunkte für LADs (Abschn. 2.2). LAD-Lamin-Wechselwirkungen
bilden ein Nukleoskelett, d. h., sie dienen als strukturelles Rückgrat für die
Organisation von Chromosomen in der Interphase. LADs variieren in ihrer Größe
von 0,1–10 Mb, decken bis zu 40 % unseres Genoms ab und bestehen haupt-
sächlich aus Heterochromatin. Sie haben eine geringe Gendichte, aber insgesamt
enthalten sie immer noch Tausende von Genen, von denen die meisten nicht
exprimiert werden. Dementsprechend ist die Kernperipherie mit Heterochromatin
angereichert, während Euchromatin eher im Zentrum des Zellkerns zu finden ist
(Abb. 1.1). Das deutet darauf hin, dass die Lage eines Gens innerhalb des
Zellkerns ein funktionell wichtiger epigenetischer Parameter ist.
Die Häufung von Heterochromatin an der Kernperipherie wird maßgeblich
durch sogenannte Polycomb-Körper erzeugt. Das sind Komplexe von Mit-
gliedern der Polycomb-Familie, darunter die Komponenten der Polycomb-
Repressionskomplexe (PRC) 1 und 2 (Abschn. 5.4). PRCs bewirken eine
transkriptionelle Unterdrückung, die für die Aufrechterhaltung gewebespezi-
fischer Genexpressionsprogramme essenziell ist, d. h., sie sorgen für das lang-
fristige Abschalten spezifischer Zielgene.
Die Position des Chromatins und damit die Position von Genen im Zell-
kern sind nicht festgelegt. Es gibt dynamische Veränderungen in den Kontakten
zwischen dem Nukleoskelett und der genomischen DNA, die einzelne Gene oder
kleine Gencluster betreffen. Diese Veränderungen sind während der Embryo-
genese am ausgeprägtesten. ES-Zellen haben von allen Zelltypen das am besten
zugängliche Genom, d. h., das Chromatin dieser Zellen ist weitgehend offen.
Während der Differenzierung verändern Zellen die Struktur ihres Chromatins
und es kommt in vielen Regionen des Genoms zu einer größeren Verdichtung
(Abschn. 6.1). Im Gegensatz dazu bereitet die physische Verlagerung eines Gens
von der Peripherie in das Zentrum des Kerns das Gen für die Expression in einem
zukünftigen Entwicklungsstadium vor.
Eine weitere Ebene in der Chromatinarchitektur während der Interphase ist
die Lage ganzer Chromosomen in separaten Chromosomenterritorien, die durch
ein interchromosomales Kompartiment getrennt sind. Chromosomen falten sich
in ihren Territorien so, dass aktive und inaktive TADs in unterschiedlichen Kern-
kompartimenten zu liegen kommen. Aktive Regionen befinden sich bevor-
zugt im Kerninneren, während sich inaktive TADs an der Peripherie des
Zellkerns anreichern. Außerdem befinden sich TADs, die gewebespezifische
Transkriptionsfaktoren binden, in anderen Regionen als diejenigen, die mit unter-
drückenden PRCs interagieren (Abb. 2.5, rechts). Bis zu einem gewissen Grad
vermischen sich Chromosomenterritorien, was interchromosomale Interaktionen
24 2 Chromatin und Genexpression

Aktive regulatorische Schleife


Laminaassoziiertes
Heterochromatin me3
me3
Promotor
Koaktivierung, Pol II
Remodellierung und me3
Me

Mediatorkomplex
Me

me3
me3
me3

Me

me3
Me
Me

Enhancer

3
me
Topologisch
assoziierte
Domäne

CTCF

H3K27me3 PRC2-Komplex

me3 me3 me3 HP1


me3

Zellkern

Polycomb-reprimiertes Chromatin

Abb. 2.5  Chromatinarchitektur. Vermittelt durch Strukturproteine bildet Chromatin im


Kern eine 3D-Architektur (Mitte links). Heterochromatin besteht aus stabil nichtexprimierten,
unzugänglichen Elementen im Genom und befindet sich näher an der Kernlamina (oben links).
Zwei an benachbarten Chromatingrenzen gebundene CTCF-Proteine bilden einen Komplex mit
Cohesin und anderen Mediatorproteinen (Mitte rechts). Auf diese Weise können regulatorische
Regionen im Genom wie Enhancer und Promotoren, die durch eine lineare Distanz in der DNA-
Sequenz getrennt sind, innerhalb von regulatorischen Schleifen in physikalischen Kontakt treten
(oben rechts, siehe auch Abb. 2.3). TADs unterscheiden Regionen mit aktiven Enhancern von
Chromatinabschnitten, die durch PRCs abgeschaltet werden (unten rechts)

erklären kann. Dennoch sind Interaktionen zwischen Positionen auf demselben


Chromosom viel häufiger als Kontakte zwischen verschiedenen Chromosomen.
Da die Volumina der Chromosomenterritorien von der linearen Dichte aktiver
Gene auf dem entsprechenden Chromosom abhängen, nimmt Chromatin mit
höherer Transkriptionsaktivität größere Volumina im Zellkern ein als
inaktives Chromatin (siehe Abb. 1.1).
2.5 Epigenetische Methoden 25

2.5 Epigenetische Methoden

Die schnelle Entwicklung von NGS-Technologien führte zu einer steigenden


Anzahl von Methoden im Bereich der Epigenetik/Epigenomik. Diese
Methoden untersuchen verschiedene Aspekte der Chromatinbiologie wie DNA-
Methylierung, Histonmodifikationszustand und 3D-Chromatinstruktur (Abb. 2.6).
Generell haben NGS-Methoden den Vorteil, dass sie unvoreingenommen und
umfassend Informationen über das gesamte Epigenom liefern. Somit könnten
Schlussfolgerungen, die von einigen isolierten Genomregionen gezogen wurden,
auf andere Teile des Genoms übertragen werden. Die globale epigenom-
weite Profilerstellung ermöglicht die hypothesenfreie Untersuchung neuer
Beobachtungen und Korrelationen. Einzelne Forschergruppen sowie große
Konsortien wie das ENCODE-Projekt und das Roadmap-Epigenomics-Projekt
(Abschn. 1.3) haben bereits Tausende von Epigenomkarten von Hunderten
Gewebe und Zelltypen des Menschen erstellt. Die Integration dieser Daten, z. B.
zur Bindung von Transkriptionsfaktoren und zu charakteristischen Histonmodi-
fikationen, ermöglicht die Vorhersage von Enhancer- und Promotorregionen sowie
die Überwachung ihrer Aktivität und vieler weiterer funktioneller Aspekte des
Epigenoms.
Die wichtigsten epigenetischen Methoden bestimmen DNA-Methylierung,
Transkriptionsfaktorbindung und Histonmodifikation, zugängliches Chromatin
und 3D-Chromatinarchitektur. Die biochemischen Kerne dieser Methoden sind:

• unterschiedliche chemische Suszeptibilität von Nukleotiden, z. B. die Bisulfit-


behandlung von genomischer DNA, um zwischen Cytosin und 5-Methylcytosin
(5mC) zu unterscheiden (Abschn. 3.1)
• Affinität spezifischer Antikörper für chromatinassoziierte Proteine wie
Transkriptionsfaktoren, modifizierte Histone und Chromatinmodifikatoren
• Endonukleaseempfindlichkeit genomischer DNA in offenem Chromatin im Ver-
gleich zu inertem, geschlossenem Chromatin
• physikalische Trennung von proteinassoziierter genomischer DNA
(aus fragmentiertem, geschlossenem Chromatin) in einer organischen Phase
von freier DNA (aus zugänglichem Chromatin) in der wässrigen Phase
• Nähe-(proximity-)ligation von DNA-Fragmenten, die durch DNA-Schleifen in
engen physischen Kontakt gekommen sind.

Chromatinimmunpräzipitation (ChIP) gefolgt von Sequenzierung


(ChIP-seq) kartiert das genomweite Bindungsmuster von chromatin-
assoziierten Proteinen wie Transkriptionsfaktoren und Chromatinmodi-
fikatoren einschließlich posttranslational modifizierter Histone. Kernstück
dieser Methode ist die Immunpräzipitation chemisch quervernetzter Protein-
DNA-Komplexe aus beschalltem Chromatin mit einem Antikörper, der für das
ausgewählte Protein spezifisch ist (Abb. 2.7). DNA-Fragmente innerhalb dieser
Komplexe werden aus dem angereicherten Pool gereinigt und unter Verwendung
26 2 Chromatin und Genexpression

Sequenzierung von Genomen Identifizierung von Varianten Charakterisierung von


verschiedener Primatenspezies zwischen Individuen Unterschieden zwischen Geweben

H. sapien
apien
nss
n
sapiens

Immunogenomik
Epigenomik
z.B., Roadmap Krebsgenomik
Epigenomics z.B., TCGA Project
Project Metagenomik
H.. n
H neanderthalensis

Human Genome Project 1000 Genomes Project

Entschlüsselung zellulärer Mechanismen

Genomstatus
me3

Ac
DNA-Bindung
Ac
DNA-Methylierung

Me
Me

me3
Ac mRNA-Abbau
Histonmodifikation Schleifenbildung
mRNA Genomfaltung
Transkription
ncRNA

RNA-Faltung Genom- RNA-Bindungsproteine


Replikation

RNA-Spleißen
RNA-Lebenszyklus Protein
RNA-Export
Poly(A)

Translation

Abb. 2.6  Die zentrale Rolle von NGS-Methoden. Das Human Genome Project (Kasten 1.1)
hat ein Referenzgenom erstellt. Heutzutage sind auch die Genome aller anderen Primaten-
arten bekannt, einschließlich einiger ausgestorbener Menschenarten (oben links). In großen
Konsortien wie dem 1000 Genomes Project (oben Mitte) wurde die Sequenzierung der
kompletten Genome von mehreren Tausend Individuen durchgeführt. Darüber hinaus werden
die genetischen und epigenetischen Unterschiede zwischen Geweben und Zelltypen desselben
Individuums in Krebsgenom- und Epigenomprojekten wie The Cancer Genome Atlas (TCGA,
Der Krebsgenomatlas; Abschn. 8.1) und dem Roadmap Epigenomics Projekt (oben
rechts) gesammelt. Die Anwendung verschiedener NGS-Methoden, darunter ChIP-seq, RNA-seq
(RNA-Sequenzierung) oder ATAC-seq, ermöglicht die Integration vieler verschiedener Prozesse
innerhalb der Zelle (unten)

von NGS sequenziert. Die dabei entstehenden Sequence-Tags (kurze DNA-


Sequenzen, die die angereicherten DNA-Fragmente darstellen) werden auf das
Referenzgenom ausgerichtet. Ansammlungen von Tags werden Peaks genannt und
zeigen diejenigen Regionen im Genom an, in denen das untersuchte Protein zum
Zeitpunkt der Quervernetzung gebunden war. ChIP-seq von Histonmodifikationen
neigt dazu, breitere Peaks zu erzeugen, d. h. diffusere Anreicherungsregionen,
als Transkriptionsfaktoren, die sequenzspezifisch binden und in schärferen
Peakprofilen resultieren.
Obwohl ChIP-seq eine ausgereifte Methode ist, ist sie durch die Notwendig-
keit großer Mengen an Ausgangsmaterial (1–20 Mio. Zellen), die begrenzte
Auflösung und die Abhängigkeit von der Qualität der verwendeten Antikörper
eingeschränkt. Eine neue Variante von ChIP-seq, ChIPmentation, nutzt für
die Erstellung der Bibliothek angereicherter DNA-Fragmente (library)
das Enzym Tn5-Transposase. Dieser Prozess wird Tagmentierung genannt,
da das Tn5-Enzym die DNA fragmentiert und gleichzeitig kurze Tags in die
2.5 Epigenetische Methoden 27

genomische DNA einfügt. Der Prozess ist auch der Kern der Methode ATAC-
seq (Assay für transposasezugängliches Chromatin mithilfe von Sequenzierung).
Die Sequenzbibliothek wird aus fragmentiertem und immunpräzipitiertem
Chromatin hergestellt, anstelle wie bei ChIP-seq aus gereinigter, d. h. protein-
freier, immunpräzipitierter, genomischer DNA. Dieser Tagmentierungsschritt
reduziert die Anzahl der in den Experimenten benötigten Zellen um den Faktor
10–100. Schließlich ermöglichen Einzelzellansätze (Kasten 2.2) sogar noch aus-
sagekräftigere Analysen von Chromatinzuständen und den damit verbundenen
genregulatorischen Netzwerken.

Kasten 2.2
Einzelzellanalysen. In der Vergangenheit wurden Epigenommethoden mit
größeren Zellzahlen durchgeführt. Da bekannt ist, dass Zellpopulationen
heterogen sind, repräsentieren die jeweiligen Ergebnisse den durchschnitt-
lichen Chromatinzustand für Tausende oder sogar Millionen von Zellen.
Jüngste technologische Fortschritte ermöglichten die Durchführung genom-
weiter Analysen an einzelnen Zellen. Einzelzell-RNA-seq zeigte bei-
spielsweise eine erhebliche Heterogenität von Zelltypen in verschiedenen
Geweben und identifizierte neue Zellpopulationen. Die Einzelzelltechno-
logie wurde auf das Genom und das DNA-Methylom ausgedehnt. Die
Bisulfitsequenzierung einzelner Zellen weist auf erhebliche Unterschiede
in den DNA-Methylierungsmustern bei ansonsten homologen Zellen hin,
die sich in denselben Geweben befinden. Im Weiteren wurde Einzelzell-
ATAC-seq entwickelt, das Einzelzellanalysen der Chromatinzugänglichkeit
ermöglicht. Die Einzelzellepigenomik gibt Einblicke in die kombinatorische
Natur von Chromatin, z. B. welche Kombinationen von epigenetischen
Markierungen und Strukturen möglich sind und welche Mechanismen sie
kontrollieren.

In der Vergangenheit waren die wichtigsten Assays für die genomweite


Kartierung von offenem Chromatin DNase-seq (DNase-I-Überempfindlichkeit,
gefolgt von Sequenzierung) und FAIRE-seq (formaldehydgestützte Identi-
fizierung regulatorischer Elemente gefolgt von Sequenzierung). Der Kern der
DNase-seq-Methode ist ein limitierter Verdau von Chromatin durch die Endo-
nuklease DNase I, die nukleosomendepletierte Fragmente genomischer DNA frei-
setzt. Der FAIRE-seq-Assay macht sich die Tatsache zunutze, dass genomische
DNA in offenen Chromatinregionen besonders empfindlich auf Scherung durch
Beschallung reagiert. Chromatin wird aus mit Formaldehyd vernetzten Zellen
isoliert, beschallt und einer Phenol-Chloroform-Extraktion unterzogen. Protein-
freie genomische DNA kann aus der wässrigen Phase isoliert werden, während
proteingebundene DNA in der organischen Phase verbleibt. Die derzeitig am
häufigsten verwendete Methode zur Kartierung der Chromatinzugänglich-
28 2 Chromatin und Genexpression

Experimenteller Ablauf (Teil 1) Ablauf der in-silico Datenverarbeitung (Teil 2)

Tags einer “Tags” einer


Biologisches Material, z.B. proteinspezifischen Kontrollprobe
Zelllinien oder Gewebe CHIP-Probe

Cross-
Linking

Fragmentierung
von Chromatin
durch
Beschallung

Zusatz von TF-spezifischen


Antikörpern und
Immunpräzipitation

Deutliche
Anreicherung
im Vergleich zur
ChIP ChIP-seq Kontrolle

- Proteolyse - Proteolyse
- Quantitative Real-Time-PCR - Adapterligation, Vorbereitung Beispiel für einen
der Bibliothek, experimentell
Sequenzierung erzeugten Peak
C C TT G T A G T C G A T G T C A T G A
Fluorescenz

10 20

Gen
TF-Bindung +/-100 bp vom Peakgipfel
0 5 10 15 20 25 30 35 40
PCR-Zyklen

Abb. 2.7  ChIP-seq und seine Analyse. Kurze Chromatinfragmente werden aus Zellen her-
gestellt, in denen Kernproteine durch kurzzeitige Formaldehydquervernetzung kovalent an
genomische DNA gebunden sind. Nach der Chromatinfragmentierung werden immobilisierte
Antikörper gegen ein ausgewähltes Protein, beispielsweise einen Transkriptionsfaktor (TF) oder
eine Histonmarkierung, verwendet, um die mit dem jeweiligen Protein assoziierten Chromatin-
fragmente zu präzipitieren (links). Alle DNA-Fragmente werden durch NGS sequenziert, bei-
spielsweise unter Verwendung eines Illumina Genome Analyzers. Typischerweise liefern
Sequenzierungsläufe mehrere 10 Mio. Sequence-Tags (kleine Pfeile), die eindeutig auf dem
Referenzgenom wiedergefunden werden können (rechts). Cluster dieser Tags bilden Peaks, die
Transkriptionsfaktorbindungsstellen darstellen, wenn sie eine signifikant höhere Bindung zeigen
als die Kontrollprobe

keit ist jedoch ATAC-seq, bei der die Tn5-Transposase für die Vorbereitung
der Sequenzbibliothek verwendet wird. Wie bei ChIPmentation reduziert
die Verwendung des Tagmentierungsschritts die Anzahl der pro Experiment
benötigten Zellen erheblich.
Zur Bewertung der 3D-Organisation von Chromatin werden 3C-(chromosomen­
konformationserfassungs-)basierte Methoden verwendet, die Proteinvernetzung
und Näheligation von DNA kombinieren, um lang reichende Wechselwirkungen
innerhalb des Chromatins zu messen. Diese Methoden quantifizieren die Inter-
aktionshäufigkeit zwischen Orten im Genom, die in 3D nahe beieinander liegen,
aber im linearen Genom durch Tausende von Basen voneinander getrennt sein
können. Die Methoden identifizieren regulatorische Schleifen in genomischer
DNA, z. B. zwischen Promotor- und Enhancerregionen. Die genomweite
2.5 Epigenetische Methoden 29

Version von 3C, Hi-C (Hochdurchsatzchromosomenerfassung), verwendet die


Sequenzierung aller ligierten Fragmente anstelle von PCR, die auf bestimmte
Stellen ausgerichtet ist.
Die Erstellung von Epigenomprofilen führt zu Karten von DNA-Methylierung,
Histonmarkierungen, DNA-Zugänglichkeit und DNA-Schleifenbildung, die mit
einem geeigneten Webbrowser wie dem UCSC genome browser (Kasten 2.3)
visualisiert werden können. Obwohl die Visualisierung sehr anschaulich sein und
Hypothesen induzieren kann, sind Epigenomkarten in erster Linie beschreibend,
d. h., sie werden zur Annotierung verwendet. Enhancer, Promotoren und andere
Merkmale im Genom haben charakteristische epigenomweite Signaturen,
z. B. H3K4me1-Markierungen für Enhancer und H3K4me3-Markierungen für
Promotoren (Abschn. 4.2), anhand derer sie identifiziert werden können.

Kasten 2.3
Visualisierung epigenomweiter Daten. Eine typische Art der
Visualisierung epigenomweiter Daten, wie etwa derjenigen aus dem
ENCODE-Projekt, besteht darin, eine ausgewählte Teilmenge davon in
einem Browser, z. B. dem UCSC genome browser (http://genome.ucsc.
edu/ENCODE), anzuzeigen. Datensätze können geprüft werden, ohne sie
herunterzuladen, indem ein dynamischer browser track hub erstellt wird.
Andere Visualisierungswerkzeuge, die das track hub-Format unterstützen,
z. B. Ensembl (www.ensembl.org), können ebenfalls verwendet werden.
Für jede gegebene Position im Genom bietet eine grafische Darstellung
eine intuitiv verständliche Beschreibung von Chromatinmerkmalen wie
Acetylierung und Methylierung von Histonen, die in Kombination mit
experimentell nachgewiesenen Informationen über die Bindung von
Transkriptionsfaktoren aus ChIP-seq-Experimenten ausgelesen werden
kann.

Es gibt eine Vielzahl von Ansätzen, um epigenomweite Daten innerhalb oder


zwischen „Omik-Schichten“ zu integrieren, z. B. Korrelation oder Komapping.
Wenn die zu vergleichenden Datensätze einen gemeinsamen Treiber haben oder
ein Treiber den anderen reguliert, sollten Korrelationen oder Assoziationen
beachtet werden. Das erfordert die Anwendung geeigneter statistischer
Methoden, von denen viele kürzlich für das „Omik-Feld“ entwickelt wurden. In
genregulatorischen Netzwerken werden meist mehr als zwei Datensätze integriert
(was oft als modelliert bezeichnet wird), die oft aus unterschiedlichen „Omik-
Schichten“ stammen.
30 2 Chromatin und Genexpression

Weiterführende Literatur
Andersson, R. and Sandelin, A. (2020). Determinants of enhancer and promoter activities of
regulatory elements. Nat Rev Genet 21, 71–87.
Carlberg, C., and Molnár, F. (2020). Mechanisms of Gene Regulation: How Science Works.
Springer Textbook ISBN: 978-3-030-52321-3.
Gasperini, M., Tome, J.M. and Shendure, J. (2020). Towards a comprehensive catalogue of
validated and target-linked human enhancers. Nat Rev Genet 21, 292–310.
Haniffa, M., Taylor, D., Linnarsson, S., Aronow, B.J., Bader, G.D., Barker, R.A., Camara, P.G.,
Camp, J.G., Chedotal, A., Copp, A., et al. (2021). A roadmap for the Human Developmental
Cell Atlas. Nature 597, 196–205.
Jerkovic, I., and Cavalli, G. (2021). Understanding 3D genome organization by multidisciplinary
methods. Nat Rev Mol Cell Biol 22, 511–528.
Klemm, S.L., Shipony, Z. and Greenleaf, W.J. (2019). Chromatin accessibility and the regulatory
epigenome. Nat Rev Genet 20, 207–220.
Lappalainen, T., Scott, A.J., Brandt, M., and Hall, I.M. (2019). Genomic analysis in the age of
human genome sequencing. Cell 177, 70–84.
Minnoye, L., Marinov, G.K., Krausgruber, T., Pan, L., Marand, A.P., Secchia, S., Greenleaf, W.J.,
Furlong, E.E.M., Zhao, K., Schmitz, R.J., et al. (2021). Chromatin accessibility profiling
methods. Nature Reviews Methods Primers 1.
Moshitch-Moshkovitz, S., Dominissini, D., and Rechavi, G. (2022). The epitranscriptome
toolbox. Cell 185, 764–776.
Zhou, K., Gaullier, G. and Luger, K. (2019). Nukleosome structure and dynamics are coming of
age. Nat Struct Mol Biol 26, 3–13.
DNA-Methylierung
3

Zusammenfassung

Die Methylierung genomischer DNA an Cytosinen ist der am besten verstandene


epigenetische Prozess. In den meisten Fällen führt die DNA-Methylierung
zur Bildung von Heterochromatin und zu einer parallelen Abschaltung
von Genen. Koordinierte DNA-Methylierung und ihre Erkennung durch
methylierungssensitive DNA-bindende Proteine haben einen großen Einfluss auf
unsere Gesundheit, z. B. die genetische Prägung, d. h. die Expression eines Gens
in einer elternspezifischen Weise. Im Gegensatz dazu trägt ein desorganisiertes
DNA-Methylom zu Tumorentstehung und Krebs bei.

Schlüsselwörter
DNA-Methylierung · CpG-Inseln · DNA-Methyltransferase · TET-Proteine ·
5mC-Modifikationen · Abschaltung von Genen · Isolator · CTCF ·
Genetische Prägung · X-Chromosom-Inaktivierung · Xist · Störungen der
genetischen Prägung · Hypermethylierung

3.1 Cytosine und ihre Methylierung

Die Identität jedes der 400 Gewebe und Zelltypen des Menschen basiert auf
ihren jeweiligen einzigartigen Genexpressionsmustern, die wiederum durch
Unterschiede in ihren Epigenomen bestimmt werden. Für die ordnungsgemäße
Funktion unserer Gewebe ist es unerlässlich, dass sich Zellen ihren jeweiligen
epigenetischen Status merken und diesen bei ihrer Teilung an die Tochterzellen
weitergeben. Der Hauptmechanismus für dieses epigenetische Langzeitgedächtnis
ist die Methylierung der genomischen DNA an der fünften Position von Cytosin
(5mC) (Abb. 3.1, unten links).

© Springer Nature Switzerland AG 2023 31


C. Carlberg und F. Molnár, Epigenetik des Menschen,
https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0_3
32 3 DNA-Methylierung

Aktive Oxidation Aktive Oxidation


(TET 1/2/3-Enzyme) (TET 1/2/3-Enzyme)
O
NH2
CXXC1
N KMT2A/2D
5fC KDM2A/B
O N TET1/3
O DNA OH
NH2 NH2

N OH N
5hmC NH2
O N 5caC O N
DNA DNA N
NH2
O N
N DNA

O N
Cytosin
DNA
Passiv oder aktiv Passiv
(TDG) Cytosin

Passiver Verlust
de novo-Methylierung
(DNMT3A/B/L) NH2 MBD1/2/4
CH3 MECP2
N
5mC Aktive Oxidation
O N (TET 1/2/3-Enzyme)
DNA
NH2
CH3
N
5mC
O N

Überprüfung
der Replikation
(DNMT1)

Abb. 3.1  Cytosinmethylierungen. DNMT1 sowie DNMT3A und DNMT3B katalysieren die


Methylierung von Cytosinen an Position 5, d. h., sie wirken als Chromatinmodifikatoren vom
writer-Typ (links). Die Dioxygenaseenzyme TET1, TET2 und TET3 oxidieren 5mC zu 5hmC
und weiter zu 5fC und 5caC, was über die Wirkung der DNA-Glykosylase TDG zum Verlust
der DNA-Methylierung führt, d. h. beide Arten von Enzymen fungieren als eraser (Mitte). Ver-
schiedene Proteingruppen erkennen entweder spezifisch nichtmethylierte Cytosine oder 5mC,
d. h., sie sind reader (rechts). CXXC1, CXXC-Fingerprotein 1

DNA-Methylierung wird oft mit transkriptioneller Abschaltung repetitiver


DNA (Kasten 1.1) und Genen in Verbindung gebracht, die in einem bestimmten
Zelltyp nicht benötigt werden. CG-Dinukleotide (CpGs) sind die einzigen
cytosinenthaltenden Dinukleotide, die sowohl am oberen als auch am unteren
DNA-Strang symmetrisch methyliert werden können. Deshalb kann nur das
Methylierungsmuster von CpGs während der DNA-Replikation bestehen
bleiben und an beide Tochterzellen vererbt werden. Dennoch trägt auch die
Methylierung von CpH-Dinukleotiden (H = A, C oder T) zum epigenetischen
Gedächtnis somatischer Zellen bei, wird aber nicht vererbt (Abschn. 9.2). Nicht-
CpG-Methylierung (mCH) tritt in allen Geweben auf, am häufigsten jedoch in
langlebigen Zelltypen wie Stammzellen und Neuronen. Proteine, die spezifisch
methylierte DNA binden, wie MECP2 (Methyl-CpG-bindendes Protein 2), inter-
agieren nicht nur mit Stellen methylierter CpGs, sondern auch mit methylierten
CpH-Orten.
CpG-Inseln sind definiert als Regionen im Genom mit einer Länge von
mindestens 200 bp, die einen CG-Anteil von mehr als 55 % aufweisen.
3.1 Cytosine und ihre Methylierung 33

a­ Aufgrund dieser Bedingungen gehört nur eine Minderheit (10 %) aller CpGs zu
CpG-Inseln. Unser Genom enthält ungefähr 28.000 CpG-Inseln. Viele unserer
20.000 proteincodierenden Gene haben eine solche Region in der Nähe ihrer
TSS-Region, d. h., sie haben CpG-reiche Promotoren. Tatsächlich werden Gene
in solche mit und ohne CpG-Inseln in der Nähe ihrer Promotoren unterschieden.
Interessanterweise tragen aktiv transkribierte Genkörper sowohl 5mC- als auch
5hmC-Markierungen (5hmC für 5‑Hydroxymethylcytosin), während aktive
Promotoren nichtmethyliert sind (Abschn. 3.2).
DNMTs sind chromatinmodifizierende Enzyme, die in einer einstufigen
Reaktion die Übertragung einer Methylgruppe von SAM (S-Adenosyl-L-
Methionin) auf Cytosine der genomischen DNA katalysieren (Abb. 3.1). Da das
DNA-Methylierungsmuster ein epigenetisches Programm für die globale
Unterdrückung des Genoms und spezifische Einstellungen geprägter
Gene darstellt (Abschn. 3.3), ist es wichtig, das DNA-Methylom während der
Replikation zu erhalten. Das ist die Hauptaufgabe von DNMT1 in Zusammen-
arbeit mit seinem Partner UHRF1 (ubiquitinähnliche pflanzliche Homöodomäne
und Ringfingerdomäne 1), der bevorzugt halbmethylierte CpGs erkennt. Im Gegen-
satz dazu führen in Abwesenheit eines funktionellen DNMT1/UHRF1-Komplexes
aufeinanderfolgende Replikationszyklen zu einem passiven Verlust von 5mC, wie
bei der globalen Löschung von 5mC im mütterlichen Genom während der Prä-
implantationsphase (Abschn. 6.1). Insbesondere während der Entwicklung von
Urkeimzellen (PGCs) wird die genomische DNA weitgehend demethyliert. Das
schafft pluripotente Zustände in frühen Embryonen und löscht die meisten
der elterlichen herkunftsspezifischen Prägungen in den sich entwickelnden
Urkeimzellen. Mit Ausnahme von geprägten Genomregionen (Abschn. 3.3) führen
DNMT3A und DNMT3B während der frühen Embryogenese eine de novo-DNA-
Methylierung durch, d. h., zusammen mit DNMT1 agieren sie als writer der DNA-
Methylierung (Abb. 3.1, links). Interessanterweise blockiert das erste zugelassene
epigenetische Medikament, Decitabin (5-Aza-2′-desoxycytidin), die DNA-
Methylierung durch Inhibition von DNMTs (Abschn. 8.5). Decitabin wird zur
Therapie von Leukämien und anderen Formen von Blutkrebs eingesetzt, bei denen
hämatopoetische Vorläuferzellen nicht ausreifen.
Die aktive Demethylierung genomischer DNA ist ein mehrstufiger Prozess, an
dem die Dioxygenasen TET 1, 2 und 3 (TET für ten-eleven-translocation) beteiligt
sind, welche 5mC in 5hmC umwandeln (Abb. 3.1). 5hmC wird in den meisten
Zelltypen gefunden, macht aber nur 1–5 % des 5mC-Anteils aus. Erwachsene
Neuronen sind jedoch eine Ausnahme, da ihr 5hmC-Level 15–40 % von dem von
5mC beträgt (Abschn. 9.2). In zwei weiteren Oxidationsschritten wandeln TETs
5hmC in 5‑Formylcytosin (5fC) und in 5‑Carboxycytosin (5caC) um. 5fC und
5caC sind deutlich weniger verbreitet als 5hmC (0,06–0,6 % bzw. 0,01 % der
5mC-Raten), d. h., TETs neigen dazu, bevorzugt im 5hmC-Stadium anzuhalten.
Oxidierte Cytosine werden zu 5-Hydroxyuracil (5hU) desaminiert, sodass sie eine
5hU:G-Fehlpaarung erzeugen, die vom Enzym TDG (Thymin-DNA-Glykosylase)
erkannt und entfernt wird (Abb. 3.1, oben). Die Position wird dann durch die Basen-
exzisionsreparatur der DNA, d. h. durch einen regulären DNA-Reparaturprozess,
34 3 DNA-Methylierung

ersetzt und führt zur Demethylierung des entsprechenden Cytosins. Die oxidative
Modifikation von 5mC über den TET/TDG-Weg ermöglicht eine dynamische
Regulation von DNA-Methylierungsmustern. DNA-bindende Proteine, die ent-
weder nichtmethylierte oder methylierte genomische DNA spezifisch erkennen
(Abb. 3.1, rechts), lesen dann die in DNA-Methylierungsmustern gespeicherten
Informationen und übersetzen sie in biologische Aktionen.

3.2 Das DNA-Methylom

Das DNA-Methylom ist eine genomweite Karte von 5mC-Mustern und seinen
oxidierten Modifikationen und ein wesentlicher Bestandteil des Epigenoms. Über
IHEC sind bereits viele Datensätze verschiedener Gewebe und Zelltypen des
Menschen öffentlich zugänglich (Abschn. 1.3). Globale DNA-Methylierungs-
methoden messen die Cytosinmethylierung mit Basenauflösung über das gesamte
menschliche Genom. Dabei handelt es sich entweder um affinitätsbasierte
Methoden wie MeDIP-seq (methylierte DNA-Immunpräzipitationssequenzierung)
oder um basenauflösende Kartierungsmethoden wie die Bisulfitsequenzierung
(Abb. 3.2). Beide Arten von Verfahren identifizieren Regionen im Genom, in
denen Cytosine häufig modifiziert werden. Affinitätsbasierte Assays verwenden
einen Antikörper, der methylierte Fragmente aus beschallter genomischer DNA
anreichert. Wie bei ChIP-seq (Abb. 2.7) hängt die Auflösung dieser Assays stark
von der DNA-Fragmentgröße und der CpG-Dichte ab, d. h., die Assays sind eher
qualitativ als quantitativ. Im Gegensatz dazu bestimmt die Bisulfitsequenzierung
direkt den Methylierungszustand jedes Cytosins des gesamten Genoms.
Bei diesem chemischen Verfahren wandelt die Natriumbisulfitbehandlung
genomischer DNA chemisch nichtmethylierte Cytosine in Uracile um. Durch die
PCR-Amplifikation werden alle nichtmethylierten Cytosine zu Thymidinen, d. h.,
die verbleibenden Cytosine entsprechen 5mC. Die Sequenzierung des gesamten
Genoms liefert dann eine Einzelbasenauflösung des Methylierungsmusters.
Interessanterweise ist die Bisulfitsequenzierung eine der ersten epigenomweiten
Methoden, die erfolgreich auf Einzelzellebene angewendet wird (Kasten 2.3).
Da 5mC und 5hmC, aber nicht 5fC oder 5caC, gegen Bisulfitumwandlung
resistent sind, können sie nicht voneinander unterschieden werden, d. h., eine
Antikörperanreicherung oder fortgeschrittenere chemische Umwandlungs-
methoden müssen angewendet werden. Eine interessante Alternative sind
Long-Read-Sequenzierungsmethoden wie Nanopore Sequencing, die neben
der kompletten Sequenz des Genoms auch 5mC und 5hmC unterscheiden
können.
Der durchschnittliche Prozentsatz an CG-Basenpaaren in unserem
Genom beträgt 42 %. Das heißt, die haploide Genomsequenz besteht aus etwa
700 Mio. Cytosinen. Im Prinzip kann jedes von ihnen methyliert werden, aber
die Methylierung von CpGs ist funktionell am wichtigsten. Unser Genom ent-
hält etwa 28 Mio. CpGs, von denen die meisten (70–80 %) in allen Geweben
und Zelltypen methyliert sind. Die meisten CpGs befinden sich in Regionen
3.2 Das DNA-Methylom 35

Probe
CpG

5mCpG

5hmCpG

Beschallung

DNA-
Fragmentierung
Zugabe von Linkern

O
S
HO O- Na+
Natriumbisulfit-
Anreicherung
behandlung
Antikörper

U C U C U C U

Sequenzierung
und Analyse

Abb. 3.2  Analyse der DNA-Methylierung. Genomweites 5mC und sein oxidiertes Derivat
5hmC werden durch auf Konversion und Anreicherung basierende Methoden mit anschließender
Sequenzierung gemessen. Die Bisulfitumwandlung ermöglicht die Quantifizierung von 5mC,
unterscheidet jedoch nicht zwischen 5mC und 5hmC, während die Antikörperanreicherung eine
qualitative Messung von 5mC und 5hmC ermöglicht. Bisulfitkonvertierte oder -angereicherte
genomische DNA wird gereinigt, eine Sequenzierungsbibliothek (library) erzeugt und dann
sequenziert. Schließlich werden die Sequenzierungsreads mit dem Referenzgenom abgeglichen
36 3 DNA-Methylierung

repetitiver genomischer DNA wie SINEs, LINEs und LTRs (Kasten 1.1). LINEs
und LTRs tragen starke Promotoren, die dauerhaft abgeschaltet werden, indem
sie in konstitutives Heterochromatin überführt werden (Abb. 3.3A). Daher sind
diese Regionen im Allgemeinen hypermethyliert. Das Stummschalten repetitiver
DNA erfolgt hauptsächlich während der frühen Embryogenese (Abschn. 6.1),
wohingegen in adulten Geweben das de novo-Abschalten durch die Proteine
MECP2, MBD1, MBD3 und MBD4 initiiert wird, die alle eine methylbindenden
Domäne (MBD) tragen. Diese Proteine binden symmetrisch an methylierte CpGs,
haben aber keine Sequenzspezifität, d. h., MBD-Proteine sind keine klassischen
Transkriptionsfaktoren, sondern fungieren als reader (Abb. 3.1, rechts) und
Adapter für die Rekrutierung von Chromatinmodifikatoren wie HDACs und
KMTs zur methylierten genomischen DNA.

Nichtmethylierte repetitive DNA

Nichtmethylierte Genkörper

Nichtmethylierte CpG-Insel

Nichtmethylierte Stelle

Abb. 3.3  DNA-Methylierung in verschiedenen Regionen des Genoms. Dargestellt sind


Szenarien der DNA-Methylierung gesunder Zellen (links) bzw. erkrankter Zellen (rechts).
(A) Repetitive Sequenzen innerhalb unseres Genoms sind normalerweise hypermethyliert, um
Translokationen, Genunterbrechungen und allgemeine chromosomale Instabilität durch die
Reaktivierung von Retrotransposons zu verhindern. Dieses Muster ist bei Krankheiten verändert.
(B) Die Methylierung der transkribierten Region eines Gens erleichtert die Transkription durch
Verhinderung von falschen Transkriptionsinitiationen. Der Genkörper neigt dazu, bei Krank-
heiten wie Krebs demethyliert zu werden, sodass die Transkription an mehreren falschen Stellen
initiiert werden kann. (C) CpG-Inseln in der Nähe von TSS-Regionen sind normalerweise nicht-
methyliert. Das ermöglicht die Transkription, während Hypermethylierung eine Inaktivierung der
Transkription verursacht
3.2 Das DNA-Methylom 37

Das DNA-Methylom tritt in zwei Hauptmodi auf, d. h., es ist bimodal. Es


hat einen niedrigen Methylierungsgrad an CpG-reichen Promotoren und
Bindungsstellen für methylierungssensitive Transkriptionsfaktoren wie
CTCF, während die verbleibenden CpGs meist methyliert sind. Methylierte
genomische DNA wird nicht exprimiert (Abb. 1.2), d. h., in den meisten
Fällen gibt es eine umgekehrte Korrelation zwischen der DNA-Methylierung
von Promotoren und von Enhancern und der Expression der Gene, die sie
kontrollieren. An ihren Genkörpern zeigen stark exprimierte Gene jedoch ein
hohes Maß an DNA-Methylierung, d. h., methylierte CpGs stromabwärts von
TSS-Regionen korrelieren positiv mit der Genexpression (Abb. 3.3B). Gene, die
von CpG-reichen Promotoren angetrieben werden, werden durch Methylierung
abgeschaltet (Abb. 3.3C), während Gene ohne CpG-Inseln in der Nähe ihrer TSS-
Regionen durch andere Mechanismen reguliert werden, z. B. durch die Bindung
von Transkriptionsfaktoren an Enhancer (Abschn. 2.3).
Im Allgemeinen spielen DNA-Methylierung und Histonmodifikationen
unterschiedliche Rollen beim Abschalten von Genen. Während die meisten
Regionen im Genom, die eine intensive DNA-Methylierung aufweisen, dadurch
sehr stabile Markierungen für ihre Stummschaltung enthalten, welche selten
rückgängig gemacht werden, führen Histonmodifikationen meist nur zu einer
labilen und reversiblen Transkriptionsunterdrückung (Abschn. 4.2). Beispiels-
weise müssen Gene für pluripotente Transkriptionsfaktoren wie OCT4 (auch
POU5F1 genannt) und NANOG, die während der Embryogenese essenziell sind
(Abschn. 6.2), in späteren Entwicklungsstadien dauerhaft inaktiviert werden, um
eine mögliche Tumorentstehung zu verhindern. Das geschieht durch die H3K9-
Methylierung an nichtmethylierten CpGs auf den TSS-Regionen dieser Gene, die
Bindung von HP1 (Heterochromatinprotein 1, wird vom CBX5-Gen codiert), die
de novo-DNA-Methylierung mittels DNMT3A und DNMT3B und schließlich
die transkriptionelle Abschaltung dieser Region für den Rest des Lebens des
Individuums. Wenn hingegen diese Pluripotenzgene in differenzierten Zellen nur
durch Histonmodifikation abgeschaltet werden, können die Zellen recht einfach in
iPS-Zellen umgewandelt werden.
Der Methylierungsstatus von etwa 20 % aller CpGs in unserem Genom
kann dynamisch verändert werden. Differenzielle DNA-Methylierung wird
durch de novo-Methylierung in Kombination mit aktiver Demethylierung von
CpG-Inseln etabliert. In der Präimplantationsphase der frühen Embryogenese sind
die meisten CpGs nichtmethyliert (Abschn. 6.1). Nach der Implantation
methylieren DNMT3A und DNMT3B de novo diejenigen CpGs, die nicht in
H3K4me3-markierten Nukleosomen verpackt wurden. Im Gegensatz dazu bleiben
H3K4me3-markierte CpGs auf TSS-Regionen von CpG-reichen Promotoren
nichtmethyliert.
Methylierung und Demethylierung von CpGs modulieren die DNA-
Bindungsaffinität von Transkriptionsfaktoren, d. h., die DNA-Methylierung
ist ein Signal, das von spezifischen Proteindomänen unterschiedlich erkannt
wird. Interessanterweise wird ein Drittel aller etwa 1600 Transkriptionsfaktoren,
38 3 DNA-Methylierung

die vom unserem Genom codiert werden, durch die Methylierung ihrer DNA-
Bindungsstellen positiv beeinflusst, die Hälfte von ihnen bindet DNA nicht,
wenn sie nichtmethyliert ist, und nur ein Viertel von ihnen wird durch DNA-
Methylierung negativ beeinflusst. Ein bekanntes Beispiel für letzteres Szenario ist
CTCF im Kontext der genetischen Prägung (Abschn. 3.3).
Zusammengenommen gibt es verschiedene Formen der Genabschaltung,
die von flexiblen Unterdrückungsmechanismen bis hin zu einem hochgradig
stabilen inaktiven Zustand reichen, der durch DNA-Methylierung aufrecht-
erhalten wird.

3.3 Genetische Prägung

Isolatoren sind Regionen im Genom, die Gene, welche sich in einer TAD
befinden, von der promiskuitiven Regulation durch Transkriptionsfaktoren
trennen, die an Enhancer einer benachbarten TAD binden. In Abschn. 2.4 wurde
bereits der methylierungssensitive Transkriptionsfaktor CTCF als das wesent-
liche Protein vorgestellt, das an Isolatorregionen bindet. Im Komplex mit anderen
Proteinen wie Cohesin vermittelt CTCF die Ausbildung architektonischer sowie
regulatorischer Schleifen (Abb. 2.3, 2.4 und 2.5). Zusätzlich zur Verhinderung der
grenzüberschreitenden Enhanceraktivität können Isolatoren als Grenzen wirken,
welche die Ausbreitung von Heterochromatin aus abgeschalteten Regionen zu
transkriptionell aktiven Teilen des Genoms verhindern. Das bedeutet, dass diese
Grenzelemente geschlossenes von offenem Chromatin „isolieren“, also inaktive
von aktiven Genen trennen. Somit sind CTCF-gebundene Isolatoren epi-
genetische Strukturen, die sowohl für die spezifische Genregulation als auch
für die Chromatinarchitektur wichtig sind.
CTCF ist sowohl in seiner Proteinstruktur als auch in seinem DNA-Bindungs-
muster evolutionär sehr konserviert. Genomweit gibt es etwa 30.000 CTCF-
Bindungsstellen, von denen 15 % an der Ausbildung von TADs beteiligt sind,
aber nur wenige Hundert Regionen, die mit genetischer Prägung befasst sind. Alle
CTCF-Bindungsstellen sind empfindlich für eine Methylierung, d. h., die CTCF-
Bindung an methylierte DNA ist drastisch reduziert. Interessanterweise hält nur
eine kleine Untergruppe von nichtmethylierten Bindungsstellen CTCF-Proteine
während des gesamten Zellzyklus gebunden, um diese Stellen vor einer de novo-
Methylierung zu schützen. Somit können nur jene Chromatinstrukturen höherer
Ordnung, die durch nichtmethylierte CTCF-Stellen vermittelt werden, durch
Mitose vererbt werden. Das bedeutet, dass CTCF-vermittelte Chromatin-
strukturen eine vererbbare Komponente phänotypspezifischer epigenetischer
Programme darstellen.
Die für eine DNA-Methylierung sensitive Bindung von CTCF an ICRs
(Kontrollregionen der genetischen Prägung) liefert eine mechanistische
Erklärung des epigenetischen Prozesses der genetischen Prägung. ICRs stellen
eine spezielle Untergruppe von Isolatoren dar, welche die monoallelische
3.3 Genetische Prägung 39

Expression unserer mehr als 100 mütterlich und väterlich geprägten Gene
kontrollieren (www.geneimprint.com/site/genes-by-species.Homo+sapiens). Die
meisten geprägten Gene treten in Clustern auf. Ein Paradebeispiel ist die Region
in Chromosom 11p15, welche die proteincodierenden Gene IGF2 (insulinähn-
licher Wachstumsfaktor 2), KCNQ1 (Kalium-spannungsgesteuerter Kanal, Unter-
familie Q, Mitglied 1) und CDKN1C (cyclinabhängiger Kinaseinhibitor 1 C)
sowie die ncRNA-Gene H19 und KCNQ1OT1 enthält (Abb. 3.4, oben). Dieser
geprägte Genort enthält zwei ICRs und wird durch Enhancer stromabwärts
des H19-Gens reguliert. In mütterlich kontrollierten Allelen ist ICR1 nicht-
methyliert und bindet CTCF, während ICR2 methyliert und nicht gebunden ist
(Abb. 3.4, Mitte). Während der Embryonalentwicklung ist die Bindung von
CTCF essenziell, um den hypomethylierten Zustand von ICR1 aufrecht zu halten
und die Bindungsstelle vor einer de novo-Methylierung in Oozyten zu schützen.
CTCF blockiert die Fernkommunikation der Enhancer mit der TSS-Region

KCNQ1
H19 ICR1 IGF2 ICR2 CDKN1
KCNQ1OT1
Enhancer

CTCF
Maternales KCNQ1
H19 ICR1 IGF2 ICR2 CDKN1C
Allel KCNQ1OT1
Enhancer Isolator Me MeMe

DNA-Methylierung

Me Me Me

Paternales KCNQ1
H19 ICR1 IGF2 ICR2 CDKN1C
Allel KCNQ1OT1
Enhancer Isolator
DNA-
Methylierung
Suppressor-RNA

Me Me

Paternal oder maternal exprimiertes Gen Paternale oder maternale Methylierung

Abb. 3.4  Kontrollmechanismen des geprägten Clusters auf Chromosom 11p15. All-


gemeine Struktur des 11p15-Clusters (oben) und von Szenarien mütterlicher (Mitte) und väter-
licher (unten) kontrollierter Allele. Das Silver-Russell-Syndrom und das Beckwith-Wiedemann-
Syndrom sind Störungen der genetischen Prägung an diesen Genort (Abschn. 3.4). IGF2 codiert
einen Wachstumsfaktor, H19 codiert eine lange ncRNA, die das Körpergewicht begrenzt,
KCNQ1 einen Kaliumkanal, KCNQ1OT1 ein Antisense-Transkript von KCNQ1, das mit ver-
schiedenen Chromatinkomponenten interagiert, und CDKN1C codiert einen Zellzyklusinhibitor
40 3 DNA-Methylierung

des IGF2-Gens, e­ rmöglicht aber die Initiierung der Transkription von H19. Das
führt zur Expression von H19, KCNQ1 und CDKN1C sowie zur Unterdrückung
der Transkription von IGF2 und KCNQOT1. Im Gegensatz dazu ist in väter-
lich kontrollierten Allelen ICR1 methyliert und bindet nicht CTCF, während
ICR2 nichtmethyliert ist (Abb. 3.4, unten). Das kehrt das Expressionsmuster um,
sodass IGF2 und KCNQOT1 transkribiert werden, aber nicht H19, KCNQ1 und
CDKN1C. Die physiologische Folge dieser genetischen Prägung ist, dass in
mütterlich kontrollierten Zellen Wachstum und Zellzyklus begrenzt sind,
während väterlich kontrollierte Zellen auf maximales Wachstum vorbereitet
sind.
Ein weiteres gut untersuchtes Beispiel für genetische Prägung ist die
Inaktivierung eines der beiden X-Chromosomen in weiblichen Zellen. Das
inaktive X-Chromosom liegt in weiblichen Interphasezellen als Barr-Körper-
chen vor. Der epigenetische Prozess hinter der X-Chromosom-Inaktivierung
ist die lange ncRNA Xist (X-inaktives spezifisches Transkript) (Abschn. 5.4),
die ausschließlich vom X-Inaktivierungszentrum des inaktiven X-Chromosoms
exprimiert wird. Die Wirkung von Xist stellt eine besondere Form der genetischen
Prägung dar, die ein ganzes Chromosom betrifft.

3.4 DNA-Methylierung und Erkrankungen

Die etwa 100 geprägten Gene des Menschen spielen eine wichtige Rolle
während der Entwicklung, sodass Veränderungen in ihrer Expression und
Funktion zu Störungen der genetischen Prägung führen können. Beispiels-
weise beruhen das Silver-Russell-Syndrom, eine Krankheit, die zu Niederwuchs
und Asymmetrie führt, und das Beckwith-Wiedemann-Syndrom, eine Krank-
heit, die zu Überwuchs führt, auf epigenetischen Fehlern in der Region p15 auf
Chromosom 11 (Abb. 3.4). Kinder mit dem Beckwith-Wiedemann-Syndrom
haben ein 1000-fach erhöhtes Risiko, an Nierentumoren (meistens Wilms-
Tumoren) und anderen embryonalen Tumoren zu erkranken, die aus fötalen
Zellen entstehen und nach der Geburt persistieren. Das bedeutet, das epi-
genetische Veränderungen dem Krebsrisiko vorausgehen und es erhöhen,
anstatt sich nach der Tumorentstehung auszubilden. Die meisten Patienten
mit Beckwith-Wiedemann-Syndrom haben die Methylierung an ICR2 verloren,
was zur Expression von CDKN1C und zum Anhalten des Zellzyklus führt. Andere
Patienten mit diesem Syndrom zeigen eine Überexpression von IGF2, die durch
Deletionen in ICR1 auf dem mütterlichen Allel und eine gestörte CTCF-Bindung
verursacht wird, was zu einer biallelen IGF2-Expression und einem Verlust der
H19-Expression führt. Viele Personen mit Silver-Russell-Syndrom haben einen
entgegengesetzten epigenetischen Phänotyp, bei dem ICR1 nichtmethyliert ist,
was zu einer biallelen H19-Expression und einem Verlust der IGF2-Expression
führt.
3.4 DNA-Methylierung und Erkrankungen 41

Während Störungen der genetischen Prägung sehr selten sind, werden in


den meisten Fällen von Krebs Veränderungen im DNA-Methylom beobachtet
(Abschn. 8.1). Beispielsweise sind die CpG-reichen Promotoren von Tumorsup-
pressorgenen wie TP53 (Tumorprotein p53) häufig hypermethyliert, d. h., die
DNA-Methylierung führt zur Abschaltung von Genen, die normalerweise die
Tumorentstehung verhindern. Darüber hinaus ist in etwa 25 % der Fälle von akuter
myeloischer Leukämie bei Erwachsenen das DNMT3A-Gen mutiert. Das verändert
das Methylom und macht die regulatorische Landschaft präleukämischer Blut-
stammzellen anfälliger für zusätzliche Mutationen. In ähnlicher Weise können
Mutationen in Genen anderer Chromatinmodifikatoren den Phänotyp
krebsbedingter Mutationen in Genen für Transkriptionsfaktoren oder ihren
genomweiten Bindungsstellen verstärken.
Basierend auf Waddingtons Modell einer epigenetischen Landschaft
(Abschn. 1.2) lässt sich der epigenetische Status einer Zelle, etwa ihr
Methylierungsgrad, durch eine in einem Tal gefangene Kugel darstellen. Bei
normal differenzierten Zellen sind die Hänge des Tals hoch und genregulatorische
Netzwerke halten die Zellen in stabiler epigenetischer Homöostase (Abb. 3.5,
oben links). Dadurch wird verhindert, dass sich der epigenetische Zustand zu
weit von seinem Gleichgewichtspunkt im normalen Gewebe entfernt. Im Gegen-
satz dazu flacht eine Dysregulation des Epigenoms während der Tumorent-
stehung, wie etwa durch die Überexpression eines epigenetischen Modulators
oder eine Entzündung (Abschn. 11.2), die Hänge des Tals ab (Abb. 3.5 unten
links). Unter diesen Bedingungen reduzierter Regulation ist der epigenetische
Status entspannter und von stochastischen Variationen beeinflusst. Während der
Tumorentstehung entfernen sich daher die DNA-Methylierungsgrade in normalen
Zellen von ihrem Ausgangszustand (Abb. 3.5, rechts). Eine grafische Darstellung
der CpG-Methylierungsgrade während der Transformation normaler Zellen in
Adenom- und Karzinomzellen zeigt eine enge Verteilung in normalem Gewebe,
aber eine breite Verteilung durch Progression vom Adenom zum Karzinom.
Das erklärt die beträchtliche epigenetische Variation zwischen Krebszellen ver-
schiedener Individuen oder zwischen metastatischen Zellen, die aus demselben
Primärtumor stammen. Dementsprechend gibt es keine definierte epigenetische
Signatur für Krebs.
Veränderte DNA-Methylierung ist nicht nur ein gut etablierter Marker für
Krebs und gestörte genetische Prägung, sondern kann auch zu allgemeinen
Instabilitäten des Genoms durch reduzierte Ausbildung an Heterochromatin in
repetitiven Sequenzen führen (Abb. 3.3A, rechts). Eine der häufigsten Mutationen,
die beim Menschen gefunden wird, ist eine C-T-Transition an methylierten CpG-
Inseln, d. h. der epigenetische Marker Cytosinmethylierung induziert indirekt eine
genetische Punktmutation, indem er die Effizienz der DNA-Reparatur an diesen
Stellen verringert. Ein Beispiel können DNA-Methylierungsprofile von Immun-
zellen, die sich mit minimaler Invasion von Testpersonen gewinnen lassen, als
Biomarker zur Bewertung des individuellen Risikos für Krebs (Abschn. 8.2)
und eine Reihe anderer Krankheiten wie T2D dienen (Abschn. 10.3). Darüber
42 3 DNA-Methylierung

A C
Regulatorisches Potenzial

Karzinom

Adenom

Zeit
B Normales Gewebe
Regulatorisches Potenzial

0 20 40 60 80 100
Methylierungsgrad (%)

Abb. 3.5  Exemplarisches Modell epigenetischer Dysregulation. Eine epigenetische Dys-


regulation wird hier am Beispiel der DNA-Methylierung demonstriert. Der Methylierungsgrad
einer normalen Zelle wird als Kugel am Boden eines Tals (A) dargestellt, in dem regulatorische
Kräfte, wie genregulatorische Netzwerke, nur geringfügige Änderungen des epigenetischen
Status zulassen. Im Gegensatz dazu flacht das Tal während der Tumorentstehung (B) ab, und die
Methylierungsgrade können viel variabler sein. Wenn der Methylierungsgrad für zehn Beispiele
(C) über die Zeit modelliert wird, werden die Variationen im Übergang von normalem Gewebe
zu Adenom und Karzinom als breitere DNA-Methylierungsbereiche sichtbar

hinaus zeigt das DNA-Methylom den Alterungsprozess mit signifikanten, inter-


individuellen Unterschieden an (Abschn. 7.3). Obwohl Biomarker oft nicht die
Kausalität einer Krankheit erklären, können sie den Krankheitszustand über-
wachen und eine geeignete Therapie vorschlagen. Daher können epigenomweite
Profile wie DNA-Methylierungsmuster in Kombination mit genetischer Prä-
disposition und Umweltbelastung prognostisch für das persönliche Risiko des
Ausbruchs einer Krankheit sein.

Weiterführende Literatur
Lappalainen, T. and Greally, J.M. (2017). Associating cellular epigenetic models with human
phenotypes. Nat Rev Genet 18, 441–451.
Luo, C., Hajkova, P. and Ecker, J.R. (2018). Dynamic DNA methylation: in the right place at the
right time. Science 361, 1336–1340.
Weiterführende Literatur 43

Monk, D., Mackay, D.J.G., Eggermann, T., Maher, E.R., and Riccio, A. (2019). Genomic
imprinting disorders: lessons on how genome, epigenome and environment interact. Nat Rev
Genet 20, 235–248.
Stricker, S.H., Koferle, A. and Beck, S. (2017). From profiles to function in epigenomics. Nat
Rev Genet 18, 51–66.
Wang, Y., Zhao, Y., Bollas, A., Wang, Y., and Au, K.F. (2021). Nanopore sequencing technology,
bioinformatics and applications. Nat Biotechnol 39, 1348–1365.
Wu, X., and Zhang, Y. (2017). TET-mediated active DNA demethylation: mechanism, function
and beyond. Nat Rev Genet 18, 517–534.
Histonmodifikationen
4

Zusammenfassung

Posttranslationale Modifikationen sind ein allgemeiner Mechanismus,


um Proteine in ihrer Funktion zu steuern. Darüber hinaus ermöglichen
sie es Proteinen, sich Prozesse zu „merken“, wie Kontakte mit anderen
Proteinen. Histonproteine sind die wichtigsten Beispiele für dieses Protein-
kommunikationssystem. Insbesondere Acetylierungen und Methylierungen
von Lysinen an Histonenden haben einen großen Einfluss auf die Funktion
von Chromatin. Die genomweite Profilerstellung der großen Anzahl
posttranskriptioneller Histonmodifikationen bildet die Grundlage des
Histoncodes. Dieser Code führt zum Verständnis, wie das Epigenom die
Transkriptionsregulation steuert und Informationen speichert.

Schlüsselwörter
Posttranslationale Histonmodifikation · Histonmethylierung ·
Histonacetylierung · Genomweite Profilerstellung · Histoncode ·
Epigenetisches Gedächtnis

4.1 Histone und ihre Modifikationen

Reversible posttranslationale Modifikationen wie Phosphorylierung, Acetylierung


und Methylierung von Aminosäuren in Proteinen sind wichtige Mechanismen der
Kommunikation und Informationsspeicherung bei der Steuerung von Signalnetz-
werken in Zellen. Das bedeutet, dass sich viele Proteine über ihr spezifisches
Muster posttranslationaler Modifikationen an ihre funktionellen Aufgaben
„erinnern“ können.
Paradebeispiele für solche informationsverarbeitenden Schaltkreise über
posttranslationale Modifikationen sind die Histonproteine H2A, H2B, H3 und

© Springer Nature Switzerland AG 2023 45


C. Carlberg und F. Molnár, Epigenetik des Menschen,
https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0_4
46 4 Histonmodifikationen

Me Me
Ac Me Ac Me Me
Me Pr Ac Pr Ac Ac
Me Ac Bu Bu Cr Bu Bu
Me Ac Bu Cr Cr Hib Cr Cr
Me Ac Bu Cr Hib Hib Me Su Me Hib Hib
Ac Bu Ac Hib Hib Su Su Ac Me Ma Ac Su Su
Me Cr Me Cr Ph Su Me Fo Fo Me Ubq Ac Hib Ac Fo Hib Fo Ac Ac Fo
Cit Ph Hib Ph Cit Hib GlcPh Ubq Cit Ubq Ac Ubq Cit Ar Ph Glc Ubq Ar Me Ph Me Ph Ubq Ph Me Fo Ubq Ph Me Ph Ph Bu Ubq Me

H3 +
H3N- MARTKQTARKSTGGKAPRKQLATKAARKSAPATGGVKKPHRYRPGTV…QKST…IRKL…FKTDLRFQSS…DTN…AKR…PKD…ARRIRGERA
10 20 30 40 46 55 58 62 65 78 87 106 108 114 116 121 123 127 135
-COO –

Me
Me Me Ac Ac
Ac Me Ac Pr Me Pr
Me Pr Ac Pr Bu Ac Bu
Ac Ac Bu Pr Bu Me Cr Pr Cr
Pr Pr Cr Bu Hib Cr Hib Bu Hib
Bu Bu Hib Cr Su Pr Hib Su Hib Su
Me Cr Cr Su Hib Me Me Me Fo Bu Ph Ph Fo Fo Su Ph Fo
Ph Cit Hib Hib Fo Ar Cit Ph Cit Ac Me Ubq Me Hib Glc OH Me Ubq Me Ph Ph Ubq Me Fo OH Ubq Me

+
H3N- MSGRGKGGKGLGKGGAKRHRKVLRDNIQGITKPAIRR…VKRISGLIYEETRGVLKV…VIRDAVTYTEHAKRK…VVYALKRQGRTLYGFGG
10 20 30 36 43 50 60 65 70 79 84 90 99
-COO –
H4
Me
Ac
Pr
Ac Bu Me
Cr Cr Ac
Me Hib Hib Cr Me
Ac Ac Ac Su Me Su Hib Pr
Me Bu Hib Ubq Ac Fo Ac Fo Ph Fo Cr Cr
Ph Cit Hib Su Me Ar Ubq Me Ubq OH Me Ph Ph Me Hib Hib Me Ubq Me Glc Ubq Ubq Ph Ph Ubq Ac Ac

H2A +
H3N- MSGRGKQGGKARAKAKTRSSRAGLQFPVGRVHRLLRKGNYAERV…PVYL…LTA…ARDNKKT…IRNDE…KLLGKVTI…PKKTESHHKAKGK
10 20 30 40 43 48 51 58 60 70 76 87 91 95 100 102 117 129
-COO –

Me
Me Me Me Ac
Ac Me Me Ac Ac Cr
Bu Me Ac Me Cr Me Bu Cr Hib Ac
Cr Ac Me Bu Ac Hib Ac Hib Me Me Hib Ma Hib
Hib Ac Bu Ac Ac Cr Bu Su Hib Su Ac Ac Su Su Su
Su Bu Cr Bu Bu Hib Cr Ac Fo Ph Su Fo Hib Hib Fo Fo Fo
Ar Fo Ph Cr Hib Ph Cr Cr Ac Ubq Hib Hib Ar Ph Ubq Glc OH Fo Ubq Ph Ph Ubq Ph Ph Me OH Su Me Ph Ph Ph Me Me Ubq Ph Ubq Ph Ubq Ac

+
H3N- MPEPAKSA…PKKGSKKAVTKAQKKD…RKRSRKESYS…YKVLK…TGISSK…S…SEASRLAHYNKRSTITSRE…VRL…AKH…GTKAVTKY…K
7 10 20 25 29 38 42 46 52 57 64 75 80 90 93 98 100 107 109 114 120 125
-COO – H2B
Me Me Me Me
Ac Ac Ac Ac
Cr Ac Me Cr Ac Cr Cr
Hib Hib Me Ac Hib Ac Cr Hib Hib Me
Me Me Su Su Ac Hib Su Hib Hib Su Su Ac Me
Ac Me Ac Me Fo Ac Fo Hib Su Fo Ph Fo Hib Su Fo Fo Su Hib Hib Hib
Ph Ar Ph Fo Ac Hib Hib Hib Ubq Ph Ph Ubq Ac Ubq Cit Ph Fo Ubq OH Ubq Fo Fo Ubq Ubq Ph Ubq Ubq Ac Ubq Me Su

H1 +
H3N- MSETA…EKA…KKKAAKKA…RKASG…VSE…TKA…ASKERSG…LKKA…GYDVEKN…IKLGLKS…SKG…TKG…GSFKLNKKAASGEAKPKVKK…
4 15 17 20 27 32 36 39 41 44 46 49 55 61 64 69 75 79 85 88 90 95 97 102 110 120
Me
Ac
Cr
Me Fo Me Cr Fo Hib Me
Ubq Hib Hib Ubq Ph Hib Hib Ubq Ph Ubq Ac Ph Me Ac Hib

…TKPKK…AKKPKKA…ATPKK…AKKP…ATVTKKVAKSP…AKSAAK…K -COO –
125 129 134 140 144 148 157 160 163 170 173 185 190 212

Abb. 4.1  Posttranslationale Modifikationen von Histonproteinen. Alle derzeit bekannten


posttranslationalen Modifikationen der nukleosombildenden Histone H2A, H2B, H3 und H4
sowie H1 sind angegeben. Aminosäuren, die modifiziert werden können (K, Lysin; R, Arginin;
S, Serin; T, Threonin; Y, Tyrosin; H, Histidin; E, Glutamat) sind hervorgehoben. Die meisten von
ihnen können verschiedene Modifikationen tragen, aber nicht parallel. Me, Methylierung (K, R);
Ac, Acetylierung (K, S, T); Pr, Propionylierung (K); Bu, Butyrylierung (K); Cr, Crotonylierung
(K); Hib, 2-Hydroxyisobutyrylierung (K); Ma, Malonylierung (K); Su, Succinylierung (K); Fo,
Formylierung (K); Ub, Ubiquitinierung (K); Cit, Citrullinierung (R); Ph, Phosphorylierung (S, T,
Y, H); OH, Hydroxylierung (Y); Glc, Glykierung (S, T); Ar, ADP-Ribosylierung (K, E)

H4 sowie H1 (Abb. 4.1). Die Enden und globulären Domänen dieser Histon-
proteine stellen über 130 Positionen für posttranslationale Modifikationen bereit,
deren Informationsgehalt als Histoncode zusammengefasst wird. Das allgemeine
Merkmal der Histonproteine ist ihre geringe Größe von etwa 11–15 kD und ihr
überproportional hoher Gehalt an den positiv geladenen Aminosäuren Lysin und
Arginin, insbesondere an ihren Aminotermini. Die Histone H2A, H2B und H3
existieren in mehreren Varianten (Kasten 4.1). Insgesamt werden Histonproteine
von mehr als 100 Genen codiert. Damit ist die Histongenfamilie eine der größten
innerhalb unseres Genoms. Jedoch ist die DNA-Bindung von Histonen, im
Gegensatz der von Transkriptionsfaktoren, nicht sequenzspezifisch.

Kasten 4.1
Histonvarianten. Die kanonischen Histone H2A, H2B, H3 und H4
repräsentieren die Mehrheit der Histonproteine. Darüber hinaus gibt es acht
4.1 Histone und ihre Modifikationen 47

Varianten von H2A (H2A.X, H2A.Z.1, H2A.Z.2.1, H2A.Z.2.2, H2A.B,


MakroH2A1.1, MakroH2A1.2 und MakroH2A2), zwei Varianten von
H2B (H2BFWT und TSH2B) und sechs Varianten von H3 (H3.3, Histon-
H3-ähnliches, centromerisches Protein A (CENP-A), H3.1 T, H3.5, H3.X
und H3.Y), aber Menschen haben keine Varianten von H4. Während
der Replikation werden kanonische Histone hinter der Replikations-
gabel zu Nukleosomen zusammengesetzt, um die neu synthetisierte,
genomische DNA zu verpacken. Im Gegensatz dazu ist der Einbau von
Histonvarianten in Chromatin unabhängig von der DNA-Synthese und
findet während des gesamten Zellzyklus statt. Interessanterweise haben
die Gene für kanonische Histone keine Introns, d. h., sie haben keine
Spleißvarianten, während die meisten Gene für die Histonvarianten Introns
und damit alternative Spleißvarianten haben. Histonvarianten werden oft
denselben Modifikationen wie kanonische Histone unterzogen, aber es
gibt auch variantenspezifische Modifikationen an Aminosäuren, die sich
von ihren kanonischen Gegenstücken unterscheiden. Dementsprechend
beeinflussen Histonvarianten auch direkt die Struktur von Nukleosomen.
Beispielsweise fehlen H2A.Bbd saure Aminosäuren an seinem Carboxyl-
ende, wodurch nur 118–130 bp (statt 147 bp) genomischer DNA um das
jeweilige Histonoktamer gewickelt sind. Das führt zur Bildung von weniger
kompaktem und besser zugänglichem Chromatin, was die Genexpression
erleichtert. Dasselbe Nukleosom kann mehrere Histonvarianten enthalten.
Es gibt homotypische Nukleosomen, die zwei Kopien desselben Histons
tragen, und heterotypische Nukleosomen, die ein kanonisches Histon und
eine Histonvariante oder zwei verschiedene Histonvarianten enthalten.
Das ermöglicht eine größere Variabilität in der Ausbildung, Stabilität und
Struktur von Nukleosomen. Zum Beispiel sind Nukleosomen, die H2A.Z
und H3.3 enthalten, weniger stabil als kanonische Nukleosomen und werden
oft in nukleosomendepletierten Regionen aktiver Promotoren, Enhancern
und Isolatoren gefunden. Diese labilen H2A.Z/H3.3-haltigen Nukleosomen
dienen als Platzhalter und verhindern die Bildung stabiler Nukleosomen
um regulatorische Genomregionen herum. Sie können leicht durch
Transkriptionsfaktoren und andere Kernproteine verdrängt werden, die nicht
in der Lage sind, genomische DNA in Gegenwart eines aus kanonischen
Histonen bestehenden Nukleosoms zu binden. Somit kann eine variable
Zusammensetzung von Nukleosomen die Genexpression direkt beeinflussen.

Posttranslationale Modifikationen von Histonen sind häufige und wichtige


epigenetische Signale, die viele biologische Prozesse steuern, wie die zelluläre
Differenzierung im Rahmen der Embryogenese (Abschn. 6.1). Acetylierungen
und Methylierungen von Lysinen in Histonenden sind am besten verstanden
und die wichtigsten epigenetischen Mechanismen, welche die Aktivität von
Histonen beeinflussen. Es gibt jedoch auch eine Reihe anderer Acylierungen, wie
48 4 Histonmodifikationen

Formylierung, Propionylierung, Malonylierung, Crotonylierung, Butyrylierung,


Succinylierung, Glutarylierung und Myristoylierung, deren funktionelle
Auswirkungen weit weniger verstanden sind (Abb. 4.1). Hinzu kommen
Phosphorylierungen an Tyrosinen, Serinen, Histidinen und Threoninen, ADP-
Ribosylierungen an Lysinen und Glutamaten, Citrullinierungen von Argininen,
Hydroxylierungen von Tyrosinen, Glykierung von Serinen und Threoninen sowie
Sumoylierungen und Ubiquitinierungen von Lysinen.
Die für Histonmodifikationen verantwortlichen Enzyme (writer) sind oft sehr
spezifisch für eine bestimmte Aminosäureposition (Abschn. 5.1). Kovalente
Modifikationen von Histonproteinen verändern die physikochemischen
Eigenschaften des Nukleosoms und werden von spezifischen Proteinen
(reader) erkannt. Ebenso sind grundsätzlich alle kovalenten Histonmodi-
fikationen durch die Wirkung spezifischer Enzyme (eraser) reversibel. Im All-
gemeinen ist die Chromatinacetylierung mit einer Transkriptionsaktivierung
verbunden und wird durch zwei Klassen antagonisierender Chromatinmodi-
fikatoren, HATs und HDACs, kontrolliert. Wenn eine HAT an die Amino-
gruppe in der Seitenkette eines Lysins eine Acetylgruppe anfügt, wird die
positive Ladung dieser Aminosäure neutralisiert (Abb. 4.2). Umgekehrt kann
eine HDAC die Acetylgruppe entfernen und die positive Ladung des Lysins
wiederherstellen. Somit bestimmen Chromatinmodifikatoren durch Hinzu-
fügen oder Entfernen einer ziemlich kleinen Acetylgruppe die Ladung des
Nukleosomenkerns, was einen großen Einfluss auf die Anziehung zwischen
Nukleosomen und die Dichte der Chromatinpackung hat.
Analog gibt es für die Histonmethylierung zwei Klassen von Enzymen
mit gegensätzlichen Funktionen, KMTs und KDMs (Lysindemethylasen)
(Abschn. 5.1). Da die Histonmethylierung sowohl eine unterdrückende als auch
eine aktive Markierung sein kann, ist die genaue Position am Histonende und
dessen Methylierungsgrad (Einfach-, Zweifach- und Dreifachmethylierung) ent-
scheidend.

4.2 Epigenetische Merkmale der


Transkriptionsregulation

Lysin ist die am häufigsten modifizierte Aminosäure in Proteinen, da sie


eine Reihe verschiedener Modifikationen aufnehmen kann, z. B. ver-
schiedene Arten von Acylierungen und Methylierungen, sowie mit Ubiquitin
und ubiquitinähnlichen Modifikatoren reagieren kann. Diese Modifikationen
schließen sich gegenseitig aus, d. h., sie können nicht gleichzeitig an derselben
Position passieren. Das gibt bestimmten Lysinen wie H3K27 eine heraus-
ragende Rolle für die Integration verschiedener Signalübertragungswege
(Abb. 4.3). Methylierung ist eine spezielle Art der posttranslationalen Modi-
fikation. Da die Methylgruppe klein ist, trägt sie nur in geringem Maße zu den
sterischen Eigenschaften der Aminosäuren bei. Die Methylierung von Lysinen
und Argininen beeinflusst die Ladung dieser Aminosäuren nicht, d. h., sie sind
4.2 Epigenetische Merkmale der Transkriptionsregulation 49

A Histonfaltungsdomäne Aminoterminales Ende

C Acetyl- B
HAT gruppe
NH2
+ 9 14
A A R
K P 18
R
Acetyl-CoA K S
T K A
T L T
Q
HDAC K R
G G
K
23 A A
Q T A
4
R

Lysin Acetat Acetyllysin

Abb. 4.2  Histonacetylierung. Als Beispiel für eine posttranslationale Modifikation von


Histonproteinen wird die Acetylierung gezeigt. Ein Kalottenmodell mit Sekundärstrukturen
von Histon H3 (A) wird in Kombination mit dem vergrößerten Ausschnitt seines amino-
terminalen Endes gezeigt (B). Die positiv geladenen Aminosäuren Lysin (K) und Arginin (R)
sind blau markiert. Die Aktivität von HATs entfernt die positive Ladung, während HDACs diesen
Prozess umkehren können (C)

auch in ihrer methylierten Form positiv geladen. Lysine können bis zu dreifach
und Arginine bis zu zweifach methyliert werden. Histonmethylierungen sind
stabilere Modifikationen als Phosphorylierungen oder Acetylierungen, d. h.,
ihre Fluktuationen sind geringer und sie markieren stabilere epigenetische
Zustände.
Posttranslationale Modifikationen von Histonen wirken sich entweder
direkt auf die Chromatindichte und Chromatinzugänglichkeit aus oder
dienen als Bindungsstellen für Effektorproteine, wie chromatinmodifizierende
Enzyme (Abschn. 5.1) oder Chromatinremodellierungskomplexe (Abschn. 5.3).
Das beeinflusst letztendlich die Initiierung und Verlängerung der Transkription,
d. h., Histonmodifikationen wirken sich auf das Transkriptom aus (Abb. 4.4).
Darüber hinaus können Histonmarker Informationen speichern (Abschn. 4.3).
Eine Reihe von Histonmodifikationen kann in Kombination wirken, um spezi-
fische Chromatinstrukturen zu erzeugen, die differenziert das Expressionsniveau
für jede Klasse von Genen bestimmen (Abschn. 5.2). Eine einzelne Histon-
modifikation wird als „Buchstabe“ des Histoncodes betrachtet, während
mehrere Modifikationen zu „Wörtern“ mit unterschiedlichen spezifischen
Bedeutungen kombiniert werden.
50 4 Histonmodifikationen

4.3 Genomweite Interpretation des Histoncodes

Karten genomweiter Histonmodifikationen mit Mustern der Chromatinzugänglich-


keit, Transkriptionsfaktorbindung sowie RNA-Expression aus mehreren Geweben
werden vom ENCODE-Projekt und dem Roadmap-Epigenomics-Projekt bereit-
gestellt und vom IHEC koordiniert (Abschn. 1.3). Die integrierten Daten identi-
fizierten neue Beziehungen zwischen Histonmodifikationen und verwandten
Chromatinstrukturen. Diese Daten sind die genomweite Grundlage des Histon-
codes und seiner Auswirkungen. Mit 15 verschiedenen Arten von chemischen
Modifikationen, die an mehr als 130 Stellen auf den fünf kanonischen Histonen
(Abb. 4.1) und etwa 30 Histonvarianten (Kasten 4.1) auftreten können, ist die
theoretische Zahl möglicher Kombinationen von Signalen, die den Histon-
code bilden, sehr groß. Analog zu den Alphabeten menschlicher Sprachen ist
der Histoncode sehr reich an „Buchstaben“, die zu einer Vielzahl von „Wörtern“
mit unterschiedlichen Bedeutungen kombiniert werden können (Tab. 4.1). Somit

A Trimethyllysin Lysin Acetyllysin


OOCC OOC
C C
OOC
Ladung NH2
N NH2
N NH2
N
beibehalten
KMT HAT
H3C N CCH3 H3N N H
CH3 O
Ladung
DNA
D NA verloren

B R42
T118
Histon 3

K56

K122
K64

K79
K91
Histon 4

Abb. 4.3  Nukleosomenstabilität durch Histonmodifikationen. Nichtmodifizierte Lysine


sind positiv geladen und können mit negativ geladener, genomischer DNA eine Salzbrücke
bilden (beides bei physiologischem pH-Wert). Die Acetylierung von Lysinen durch HATs
macht die Seitenkette voluminöser und entfernt gleichzeitig die positive Ladung (A). Das ver-
ringert die Affinität zwischen DNA und dem Nukleosom und kann letzteres destabilisieren. Die
Methylierung von Lysinen durch KMTs ändert die Ladung nicht, führt jedoch, abhängig von der
Anzahl der hinzugefügten Methylgruppen, zu unterschiedlicher Sperrigkeit. Kristallstrukturen
des Nukleosoms sind mit hervorgehobenen Aminosäuren (B) gezeigt
4.3 Genomweite Interpretation des Histoncodes 51

stellen Histonmodifikationen einen „Text“ dar, der reich an Informationen


über den lokalen Chromatinstatus ist. Das deutet darauf hin, dass das Epi-
genom weitaus mehr unterschiedliche Funktionen hat als „An“ und „Aus“.
Für einige Histonmarkierungen gibt es eine gute Korrelation zwischen ihrem
Auftreten und der Aktivität verschiedener Elemente im Genom, z. B. H3K9me3
und H3K27me3 bei inaktiven oder aktivierten Promotoren (Abb. 4.4D), H3K27ac
und H3K4me3 bei aktiven Enhancern und Promotoren sowie H3K36me3
in transkribierten Genkörpern (Tab. 4.1). Im fakultativen Heterochromatin
(Abschn. 1.1) finden sich bereite Gene, Promotoren und Enhancer, d. h., die
jeweiligen Regionen befinden sich in einer Warteposition für aktivierende Signale.
Chromatinzustände, die durch Histonmodifikationen gekennzeichnet sind,
charakterisieren Sequenzabschnitte im Genom, z. B. Enhancer, Promotoren, Iso-
latoren und Genkörper (Abb. 4.5). Somit ist Chromatin ein zelltypspezifischer
Filter für DNA-Sequenzen, der anhand des Histoncodes bestimmt, welche
Gene in RNA umgeschrieben werden. Die folgenden Bedeutungen des Histon-
codes sind bereits gut verstanden:

• Euchromatin ist durch allgemeine Acetylierung von Lysinen an den Enden der
Histone H3 und H4 sowie H3K27ac- und H3K4me3-Markierungen gekenn-
zeichnet.
• In Heterochromatin sind H3K9, H3K27 und H4K20 entweder ein-, zwei- oder
dreifach methyliert.
• Acetylierung und Deacetylierung von Histonenden sind wichtige Regulations-
mechanismen während der Genaktivierung und -unterdrückung.
• Aktiv transkribierte Regionen des Genoms sind tendenziell hyperacetyliert,
während inaktive Regionen hypoacetyliert sind.
• Der Gesamtgrad der Acetylierung und nicht irgendeine spezifische Amino-
säureposition ist kritisch.
• Im Gegensatz zur Acetylierung von Histonen gibt es bei ihrer Methylierung
eine klare funktionelle Unterscheidung, sowohl hinsichtlich der genauen
Aminosäuren in den Histonenden als auch ihres Modifikationsgrads, z. B. Ein-
fach-, Zweifach- oder Dreifachmethylierung.
• H3K9me3 und H4K20me3 sind in der Nähe von Grenzen großer Hetero-
chromatindomänen angereichert, während H3K9me1 und H4K20me1 haupt-
sächlich in aktiven Genen gefunden werden.
• H3K4me3 wird spezifisch an aktiven Promotoren nachgewiesen, während
H3K27me3 mit Genunterdrückung in größeren Regionen des Genoms
korreliert. Beide Modifikationen befinden sich normalerweise in verschiedenen
Chromatindomänen, aber wenn sie auf Enhancern und/oder Promotoren
koexistieren, werden die jeweiligen Regionen als bivalent bezeichnet.
• Latente Enhancer werden zunächst nicht durch H3K4me3 oder H3K27ac
markiert, erwerben aber diese aktiven Markierungen und Transkriptionsfaktor-
bindungen bei Stimulation zellulärer Signalübertragungswege (Abb. 4.4F).
52 4 Histonmodifikationen

A TF
Chromatin als Zugänglichkeitsbarriere

TF TF Offen oder
zugänglich

TF
TF TF
Geschlossen

B Aktiver Enhancer
C Core-Promotor

Ac
me
3
Ac
TSS me
3
Ac Ac

TFTF Pol II
TF TF

Enhancer Kern-Promotor

D Geschlossener oder ausbalancierter Enhancer


E Vormarkierter Enhancer
me3 me3 me3 me3 me3

TF

Enhancer

F Latenter Enhancer

Ac Ac
Stimulus

TF

Enhancer

DNA-Bindungsproteine: me3 me3


Ac H3K27ac
TFs, CTCF, Repressoren TFs H3K27me3 H3K4me3
und Polymerasen H3K4me1

Abb. 4.4  Zugänglichkeit von Chromatin und Histonmarkierungen. Chromatin beschränkt


den Zugang von Transkriptionsfaktoren, der Pol II und anderen Kernproteinen zum Genom
(A). Enhancer sind oft durch H3K27ac- und H3K4me1-Modifikationen (B) markiert, während
H3K27ac und H3K4me3 aktive Promotoren markieren (C). Geschlossene Enhancer werden als
ausbalanciert (balanced) bezeichnet, wenn sie sowohl aktivierende Histonmarkierungen (z. B.
H3K4me1) als auch unterdrückende Markierungen (z. B. H3K27me3) tragen (D). Enhancer
gelten als vormarkiert (primed), wenn sie H3K4me1-Marker tragen (E), während sie als latent
bezeichnet werden, wenn sie keine spezifische Histonmarkierung aufweisen, aber durch einen
Stimulus (meistens eine extrazelluläre Signalaktivierung) zugänglich werden können, sodass
flankierende Nukleosomen H3K4me1- und H3K27ac-Markierungen erhalten (F)
4.3 Genomweite Interpretation des Histoncodes 53

Tab. 4.1  Hochkonservierte Histonmarker. Eine nichtexklusive Liste der Beziehung


posttranslationaler Histonmarkierungen und ihrer funktionellen Auswirkungen, die durch genom-
weite Analysen bestätigt wurden
Meist-
Epi- konservierte Genomische Biologische
Histon markierung Komarkierung Status Region Bedeutung
H3 K4me1 K27me3, Bereit Enhancer
K4me2
K4me2 K4me3 Aktiv Regulatorische
Regionen
K4me3 K4me2 Aktiv oder Promotor Bereite Enhancer
bereit regulieren Gene
vergleichbar
mit bivalenten
Promotoren
K9me1 Aktiv Genkörper und
Enhancer
K9me3 Unterdrückend Hetero- Wiederholte
chromatin auf Sequenzen
Promotoren (SINEs, LINEs,
und Enhancern LTRs)
K27ac K4me1/2/3 Aktiv Enhancer H3K27ac
(K4me1/me2) markiert
oder Promotor Enhancer und
(K4me2/me3) Promotoren
K27me1 Aktiv Enhancer
K27me3 K4me1/2/3 Unterdrückend Polycomb- X-Chromosom-
reprimierte Inaktivierungs-
Regionen, zentrum
Promotoren
K36me1 Aktiv Enhancer
K36me3 K27ac, K4me1 Aktiv Genkörper Korreliert nicht
mit H3K27me3,
kann ein ver-
nachlässigtes
Merkmal aktiver
Enhancer sein
H4 K20me1 Aktiv Genkörper
K20me3 Aktiv oder Regulatorische
bereit Regionen
54 4 Histonmodifikationen

Aktive Inaktive
Gene Gene

P l II
Pol
Pol II
TF TF TF TF

Heterochromatin
Genkörper

Genkörper
Genom

Promotor

Promotor
Enhancer

Enhancer
DNA

Isolator
Chromatin- CTCF
zustand Topologisch assoziierte
Domänen (TADs) Cohesin
RNA
R ATAC-seq
Gen- EP300
expression TF TF
H3K27ac
H3K4me1
Protein
P n Nukleosomenposition und
H3K4me2
Chromatinzugänglichkeit
me3 H3K4me3
me3 me3

ac H3K9ac
me3

Pol II
H3K36me3
Histonmodifikationen H3K27me3
H2AK119ubq
Zellidentät,
Me Me Me Me Me Me Me
H3K9me3
Entwicklung H4K20me3
CpG-DNA-Methylierung DNAme

Abb. 4.5  Einfluss des Epigenoms auf die Genexpression. Chromatin fungiert als Filter für
das Genom bezüglich der Genexpression und bestimmt so die Zellidentität (unten links). Die
epigenomweite Regulation erfolgt auf verschiedenen Skalen von Chromatinzuständen (Mitte),
wie topologische Organisation, Chromatinzugänglichkeit, Histonmodifikationen und DNA-
Methylierung. Wichtige Histonmodifikationen und assoziierte Proteine, die für diese Chromatin-
zustände charakteristisch sind, erlauben die Unterscheidung zwischen aktiven und nicht-
exprimierten Genen (rechts). CTCF und Cohesin sind an der Chromatinorganisation beteiligt,
die HAT EP300 (E1A-Bindungsprotein p300, auch KAT3B genannt) markiert Enhancer, und
sowohl Pol II als auch H3K36me3 weisen auf aktiv transkribierte Gene hin. Bei Proteinbindung
oder Histonmodifikation markieren hellere Schattierungen einen geringeren oder variablen
Grad an Modifikationen, während sie bei DNA-Methylierung anzeigen, dass die Region durch
Methylierung reguliert werden kann

• H3K36me3-Spiegel korrelieren mit dem Grad der Gentranskription, da KMTs


diese Markierung hinterlegen, wenn sie mit transkriptionsaktiver Pol II inter-
agieren, d. h., exprimierte Exons weisen eine starke Anreicherung für diesen
Histonmarker auf.

Histonmodifikationsprofile ermöglichen die Identifizierung distaler


Enhancerregionen, da sie eine relative H3K4me1-Anreicherung und gleichzeitig
eine H3K4me3-Verarmung zeigen. Interessanterweise scheinen Chromatinmuster
in Enhancerregionen viel variabler zu sein, da sie eine Anreicherung nicht nur für
H3K27ac, sondern auch für H2BK5me1, H3K4me2, H3K9me1, H3K27me1 und
H3K36me1 zeigen, was auf die Redundanz dieser Histonmarkierungen hindeutet.

Weiterführende Literatur
Atlasi, Y. and Stunnenberg, H.G. (2017). The interplay of epigenetic marks during stem cell
differentiation and development. Nat Rev Genet 18, 643–658.
Blackledge, N.P., and Klose, R.J. (2021). The molecular principles of gene regulation by
Polycomb repressive complexes. Nat Rev Mol Cell Biol 22, 815–833.
Weiterführende Literatur 55

Janssen, S.M., and Lorincz, M.C. (2022). Interplay between chromatin marks in development
and disease. Nat Rev Genet 23, 137–153.
Li, X., Egervari, G., Wang, Y., Berger, S.L. and Lu, Z. (2018). Regulation of chromatin and gene
expression by metabolic enzymes and metabolites. Nat Rev Mol Cell Biol 19, 563–578.
Martire, S., and Banaszynski, L.A. (2020). The roles of histone variants in fine-tuning chromatin
organization and function. Nat Rev Mol Cell Biol 21, 522–541.
Sabari, B.R., Zhang, D., Allis, C.D., and Zhao, Y. (2017). Metabolic regulation of gene
expression through histone acylations. Nat Rev Mol Cell Biol 18, 90–101.
Chromatinmodifizierende Proteine
und RNAs 5

Zusammenfassung

Chromatinmodifizierende Enzyme fügen Methyl-, Acetyl- und andere Gruppen


an Histonproteine wie auch Methylgruppen an genomische DNA an oder ent-
fernen diese wieder. Auf diese Weise verändern sie das funktionelle Profil des
Epigenoms. Antagonisierende Enzyme wie HATs und HDACs werden häufig
in denselben Chromatinregionen gefunden und regulieren dynamisch die Gen-
expression. Komplexe von Chromatinremodellierern verändern die Chromatin-
struktur, indem sie Nukleosomen verschieben, entfernen oder ersetzen.
Zusätzlich können auch lange ncRNAs wie Xist die Struktur und Funktion von
Chromatin beeinflussen.

Schlüsselwörter
Chromatinmodifikatoren · Bromodomäne · Chromodomäne · PHD-
Finger · HATs · HDACs · KMTs · HDMs · writer · eraser · reader · ATP-
abhängige Chromatinremodellierer · Nukleosomendynamik · Lange
ncRNAs · Xist

5.1 Chromatinmodifikatoren

Eine durchschnittliche menschliche Zelle hat nur etwa 100.000 offene Stellen
in ihrem Chromatin, d. h., mehr als 90 % des Genoms sind in Heterochromatin
vergraben und für Transkriptionsfaktoren und die Pol II nicht zugänglich. Viele
dieser zugänglichen Chromatinregionen sind jedoch nicht statisch, sondern
werden dynamisch durch chromatinmodifizierende und -remodellierende
Proteine kontrolliert (Abb. 5.1). Diese Enzyme katalysieren die Methylierung
genomischer DNA (Abschn. 3.1), die posttranslationale Modifikation von Histon-
proteinen (Abschn. 4.1) oder die Positionierung von Nukleosomen (Abschn. 5.3).

© Springer Nature Switzerland AG 2023 57


C. Carlberg und F. Molnár, Epigenetik des Menschen,
https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0_5
58 5 Chromatin-modifizierende Proteine und RNAs

Me
Me

Offenes Chromatin

e
M
Chromosom

Me
me3

Genomische
me3 Me
Histon DNA
Me
me3
Me Ac 5-Methylcytosin

me3
Me

me3

me
3
Histonmodifikationen
Geschlossenes Chromatin
Nukleosom
KMTs KDMs
Me Me me3

me3 Me
Me

Ac Bromo-, Chromo-,
Tudor-, PWWP-
Me Me und PHD-Finger-
Me Domänenproteine
Me

DNMTs TET-Enzyme
Ac “writer”
MBD-Proteine
Ac “reader”

“eraser”
HDACs HATs

Abb. 5.1  Zentrale Rolle des Chromatins. Kovalente Modifikationen von Histonen und
genomischer DNA wie Methylierungen kontrollieren die Zugänglichkeit von Chromatin
für Transkriptionsfaktoren und andere regulatorische Proteine (oben). Diese Chromatin-
markierungen werden von writer-Enzymen eingeführt, von reader-Proteinen interpretiert und
können durch eraser-Enzyme entfernt werden (unten). Das Zusammenspiel dieser Kernproteine
ist für die Kontrolle der Genexpression essenziell

Unser Genom exprimiert auf zellspezifische Weise Hunderte dieser Chromatin-


modifikatoren und Chromatinmodellierer, die Chromatinmarkierungen erkennen
(read), hinzufügen (write) und entfernen (erase). Enzyme des writer-Typs wie
HATs und KMTs fügen Acetyl- oder Methylgruppen an Histonproteine an,
während DNMTs Cytosine genomischer DNA methylieren. Im Gegensatz dazu
kehren Enzyme vom eraser-Typ wie HDACs, KDMs und TETs diese Reaktionen
um und beseitigen die entsprechenden Markierungen. Für die DNA-Methylierung
spezifische reader-Proteine wie MBD-Proteine und CTCF wurden bereits in
Abschn. 3.2 diskutiert. Diese Proteine binden DNA in Abhängigkeit von deren
Methylierungsstatus. Darüber hinaus sind auch Komponenten der Remodellierer-
komplexe in der Lage, Chromatinmarkierungen zu lesen (Abschn. 5.3).
Unser Genom codiert 22 Mitglieder der HAT-Familie und 18 Mitglieder
der HDAC-Familie, die sich alle um den Acetylierungsstatus von Chromatin
kümmern. Die Zn2+-abhängigen HDACs 1–11 sind im Zellkern und Cytoplasma
zu finden, während NAD+-(Nicotinamidadenindinukleotid-)abhängige Sirtuine
(SIRTs) 1–7 zusätzlich auch in Mitochondrien vorkommen (Abschn. 10.2).
Darüber hinaus gibt es 66 KMTs und 20 KDMs, die sowohl Histonproteine
als auch Nicht-Histonproteine als Substrate verwenden, d. h., diese Enzyme
5.1 Chromatinmodifikatoren 59

kontrollieren den Methylierungsstatus von Chromatinproteinen und Nicht-


Chromatinproteinen. KDMs sind entweder FAD-(Flavinadenindinukleotid-)
abhängige Monoaminooxidasen oder Fe(II)- und α-Ketoglutarat-abhängige
Dioxygenasen. Zusammen mit NAD+-abhängigen SIRTs erfassen KDMs den
Energiestatus der Zellen (Abschn. 10.2).
Chromatinacetylierung ist im Allgemeinen mit transkriptioneller Aktivierung
verbunden, wobei die genaue Aminosäureposition an den Histonenden nicht sehr
kritisch ist (Abschn. 4.3). Im Gegensatz dazu resultiert die durch KMTs ver-
mittelte Histonmethylierung in erster Linie in Chromatinunterdrückung, aber
an bestimmten Positionen, z. B. H3K4, führt sie zu einer Aktivierung. Daher
sind für die Histonmethylierung im Gegensatz zur Acetylierung die genaue
Position des Rests innerhalb des Histonendes sowie dessen Methylierungs-
grad (Einfach-, Zweifach- und Dreifachmethylierung) von entscheidender
Bedeutung.
Die Wirkungen von Chromatinmodifikatoren wie HATs und HDACs sind
hauptsächlich lokal und können nur wenige Nukleosomen stromaufwärts und
stromabwärts vom Ausgangspunkt ihrer Wirkung abdecken. Gleiches gilt für
KMTs und Remodelliererkomplexe wie SWI/SNF (switching/sucrose non-
fermenting) (Abschn. 5.3). Bei erhöhter HAT-Aktivität wird Chromatin lokal
acetyliert, die Anziehungskraft zwischen Nukleosomen und genomischer DNA
nimmt ab und Letztere wird für die Aktivierung von Transkriptionsfaktoren,
basalen Transkriptionsfaktoren und die Pol II zugänglich. In diesem Zustand
von Euchromatin führen Chromatinremodellierer wie SWI/SNF eine Feinab-
stimmung der Positionen der Nukleosomen durch, um die Zugänglichkeit von
Transkriptionsfaktorbindungsstellen zu optimieren. Im umgekehrten Fall, wenn
HDACs aktiver sind, werden Acetylgruppen entfernt und die Chromatinver-
packung nimmt lokal zu. KMTs methylieren dann dieselben oder benachbarte
Aminosäuren in den Histonenden, die dann Heterochromatinproteine wie HP1
anziehen und den lokalen Heterochromatinzustand weiter stabilisieren (Abb. 1.2).
Spezifische Histonmarkierungen werden über eine kleine Gruppe gemeinsamer
Erkennungsdomänen spezifisch erkannt (Abb. 5.2). Unterdrückende Proteine der
Polycomb-Familie verwenden Chromodomänen, um mit methyliertem Chromatin
zu interagieren. Etwa zehn verschiedene HATs haben einen sogenannten
PHD-Finger, der spezifisch H3K4me2- und H3K4me3-Markierungen erkennt.
Insgesamt 46 Proteine (HATs, HAT-assoziierte Proteine, KMTs, Helikasen, ATP-
abhängige Chromatinremodellierer, Koaktivatoren und Kerngerüstproteine) tragen
eine Bromodomäne, um acetylierte Lysine zu erkennen. Chromodomänen sind
weitaus spezifischer für eine bestimmte Chromatinmodifikation als Proteine mit
Bromodomänen, d. h., Kernproteine mit Chromodomänen erkennen ihre Ziele im
Genom mit weitaus höherer Genauigkeit. Darüber hinaus verwendet eine kleinere
Gruppe von Proteinen eine YEATS-Domäne zum Erfassen von acetylierten und
crotonylierten Lysinen. Schließlich erkennen Proteine mit einer Tudor-Domäne
methylierte Lysine und Arginine.
60 5 Chromatin-modifizierende Proteine und RNAs

Ac Me3
Chromodomäne
(Polycomb)
Me3
K12
K27
PDBID: 2DVQ
H3K27me3 PDBID: 1PDQ
H3
K9
Bromodomäne (BRD2)
H4 Chromodomäne (CBX5) PDBID: 1KNE

H3

Ac
H3/4Kac
H3K9me3

H3
H3 H3K4me3 H3K4me3

Me3 Me3

PHD-Finger (BPTF) Chromodomäne (CHD1)


K4
K4

PDBID: 2F6J PDBID: 2B2W

Abb. 5.2  Histonlesende Proteine. Es gibt drei Haupttypen von Domänen (Chromo-


domänen, PHD-Finger und Bromodomänen), durch die Histonmodifikationen erkannt werden.
Während Chromodomänen und PHD-Finger an spezifische Histonmethylierungen binden, sind
Bromodomänen eher unspezifisch und erkennen alle Formen von acetylierten Histonen. BPTF,
Bromodomänen-PHD-Finger-Transkriptionsfaktor; BRD2, Bromodomäneenthaltend 2; CHD1,
Chromodomänen-Helikase-DNA-Bindungsprotein 1

5.2 Genregulation über Chromatinmodifikatoren

Zellen sind ständig einer Vielzahl von Signalen ausgesetzt, z. B. der extra-
zellulären Matrix, Cytokinen, Peptidhormonen und anderen Molekülen, von
denen die meisten von Membranrezeptoren erkannt und weitergeleitet werden.
Diese extrazellulären Signale induzieren intrazelluläre Signalübertragungs-
wege, die oft an Kernproteinen wie Transkriptionsfaktoren, Chromatinmodi-
fikatoren und Chromatinremodellierern enden, d. h., sie modulieren das
Epigenom und das Transkriptom. Die meisten Signale variieren im Laufe der
Zeit und haben normalerweise einen „An“- oder „Aus“-Charakter, wohingegen
die resultierenden Transkriptionsänderungen eher eine Wellenform haben
(Abb. 5.3, links). Beispielsweise kann ein Signal entweder direkt Chromatinmodi-
fikatoren aktivieren, die dann Histonmarkierungen einfügen oder löschen, oder
indirekt über die Aktivierung von Chromatinremodellierern wirken, welche die
Nukleosomenzusammensetzung verändern (Abschn. 5.3). Auf diese Weise wirken
chromatinassoziierte Proteine als Signalwandler und Signalintegratoren.
5.2 Genregulation über Chromatinmodifikatoren 61

Im Allgemeinen hat die Methylierung von Histonen eine längere Halbwertszeit


als ihre Acetylierung bzw. Phosphorylierung. Somit können Signale innerhalb der
epigenetischen Landschaft für kürzere und längere Zeiträume gespeichert werden.
Insbesondere das Histonmethylom eignet sich für ein epigenetisches Langzeit-
gedächtnis. Histonmodifikationen wirken in Kombination mit DNA-Methylierung
und Transkriptionsfaktoraktivität (Abb. 5.3, rechts), was die Diversität erhöht. Die
im Histonmodifikationsmuster gespeicherten Informationen kann zum Teil sogar
während der DNA-Replikation beibehalten werden, d. h., ein Teil der Histon-
marker kann vererbt werden (Abschn. 7.1).
Genomweite Karten von Histonmodifikationen erlauben die Identifizierung
und Bestätigung von Promotoren, Enhancern und Genkörpern oder Aktivierungs-
zuständen wie aktiv transkribiert, balanciert oder abgeschaltet. Drei Hauptmodi für
die Aktivität von Genen werden unterschieden:

• Aktive Gene sind exprimierte Gene, die mit Histonacetylierung, H3K4me1-,


H3K4me2- und H3K4me3-Markierungen und Vorkommen der Histonvariante
H2A.Z in ihren TSS-Regionen sowie einer Reihe verschiedener Markierungen
(H2BK5me1, H3K9me1, H3K27me1, H3K36me3, H3K79me1, 2 und 3)
assoziiert sind und H4K20me1 in ihren Genkörpern tragen (Abb. 5.4, oben).
Die höchsten Konzentrationen sowohl von HATs als auch von HDACs werden
in Regionen dieser Gene gefunden, sie sind eindeutig im Euchromatin. Ihre
Anwesenheit korreliert positiv mit der mRNA-Expression und den Pol-II-
Spiegeln. Die antagonisierende Aktivität der Chromatinmodifikatoren ist die
Grundlage für eine präzise Feinabstimmung der Genexpression und gilt sowohl
für TSS- als auch für Enhancerregionen (Abb. 4.4).
• Bereite Gene werden nicht exprimiert und sind nicht mit einer signi-
fikanten Histonacetylierung assoziiert, aber sie zeigen H3K4-Methylierungs-
markierungen und das Vorkommen von H2A.Z (Abb. 5.4, Mitte). Solange diese
Gene auf ihre Aktivierung warten, sind nur geringe Mengen an HATs oder
HDACs mit ihnen assoziiert, d. h., sie befinden sich im fakultativen Hetero-
chromatin. Ein Zyklus aus vorübergehender Acetylierung und Deacetylierung
hält diese Gene bereit, aber inaktiv, d. h., die TSS-Regionen sind in einem
Bereitschaftszustand, in dem sie auf eine zukünftige Aktivierung durch externe
Signale warten.
• Abgeschaltete Gene tragen entweder H3K27me3-Markierungen zusammen
mit Polycomb-Proteinen oder haben überhaupt keine bekannten Chromatin-
markierungen (Abb. 5.4, unten). An diesen Genen werden weder HATs noch
HDACs gefunden, sie befinden sich im Heterochromatin.

Zusammengenommen erhalten Chromatinmodifikatoren das Epigenom und


kontrollieren auf diese Weise die Genexpression. Somit haben diese Enzyme
eine zentrale Bedeutung während der Embryogenese sowie bei Entscheidungen
über das Zellschicksal bei Gesundheit und Krankheit.
62 5 Chromatin-modifizierende Proteine und RNAs

Signal 3
reader-Bindung an modifizierte Stellen

Signal 2

Signal 1
writer
Remodelierer
oder eraser
reader-Bindung an angrenzenden Stellen

me3

Ac P

Enzym

Signalintegration
und -interpretation

Multivalente
Protein- oder Komplexerkennung

Enzyme

Transkriptionsstärke von
variierender Amplitude

Abb. 5.3  Signalspeicherung und -interpretation durch writer, eraser und reader des
Chromatins. Signale, die aus verschiedenen, meist membranbasierten Signalübertragungs-
wegen stammen, werden im Chromatin durch Modifikationen von Histonenden integriert.
Mehrere im Laufe der Zeit auftretende Signale können auf diese Weise gespeichert werden.
Diese Signale können das Chromatin direkt beeinflussen oder über Chromatinmodifikatoren wie
die writer HATs und KMTs sowie die eraser HDACs und KDMs und Chromatinremodellierer
(links) übertragen werden. Es gibt eine Reihe von Mechanismen, wie diese dynamische epi-
genetische Landschaft ständig von reader-Proteinen interpretiert wird: i) die Änderung der
Fähigkeit eines reader-Proteins, eine benachbarte Markierung zu erkennen, ii) die Rekrutierung
von Enzymen, die zusätzliche Stellen modifizieren, und iii) die multivalente Erkennung ver-
schiedener Bindungsereignisse (rechts). Das Endergebnis der Signalintegration ist die
Modulierung des Transkriptoms (unten links)

5.3 Chromatinremodellierer

Der Phänotyp einer Zelle hängt von ihrem Genexpressionsmuster ab,


das im Wesentlichen dadurch beeinflusst wird, wie die genomische DNA
in Chromatin verpackt wird. Nukleosomen blockieren oft den Zugang von
Transkriptionsfaktoren zu ihren genomweiten Bindungsstellen, da die Ver-
packung von genomischer DNA um Histonoktamere eine Seite der DNA ver-
deckt. Innerhalb eines Abschnitts von 200 bp genomischer DNA kontaktieren
147 bp ein Histonoktamer. Bindungsstellen, die sich nahe dem Zentrum dieser
147 bp befinden, sind im Allgemeinen für Transkriptionsfaktoren u­ nzugänglich.
5.3 Chromatinremodellierer 63

A K4
me3 me3

me3
K4
me3 me3 me3

me3 me3
K4 Ac
me3
K4 Ac me3
K4 Ac
Ac Ac
K27 K27 K27 K K27 K K27 K
K K

Aktivierung
Aktiv
K K K K27 K
K27 K27 K27
Ac Ac Ac Ac
me3
K4 me3
K4
me3
K4 me3
K4
me3
me3 me3 me3

HATs

B me3

me3
me3
me3

me3
me3 me3
K4
me3
K4 me3
Ac Ac Ac
K27 K4 K27
K27 K27 K27 K K4 K K

HATs HDACs
HDACs
Bereit Ac
K K4
Ac Ac

Ac
me3
me3

me3 me3 me3


me3
K4
me3
K4
K27 K27 K4 K27
K27 K27 K K4 K K

Ac

HDACs K K4
me3

C me3 me3 me3


me3 me3 me3 me3 me3 me3 me3 me3 me3 me3

Abgeschaltet K27 K4 K27 K27 K27 K4 K27 K27 K27 K27 K4 K27

Unterdrückung

Abb. 5.4  Das Epigenom von aktiven (A), bereiten (B) und abgeschalteten (C) Genen.
Sowohl HATs als auch HDACs werden bei aktiven und bereiten Genen gefunden. HDACs ent-
fernen Acetylgruppen, die von HATs hinzugefügt wurden, nachdem sie durch Verlängerung von
Pol II rekrutiert worden waren. Niedrigere HATs- und HDACs-Spiegel werden bei vorbereiteten
Genen gefunden, die durch H3K4-Methylierung vorbereitet werden. HDACs verhindern die
Bindung der Pol II und unterdrücken die Transkription durch die Entfernung von Acetylgruppen,
die durch vorübergehend bindende HATs hinzugefügt wurden. An abgeschalteten Genen ohne
H3K4-Methylierung ist keine HAT- oder HDAC-Bindung nachweisbar

Bindungsstellen näher am Rand der nukleosomenbedeckten Sequenz sind etwas


besser erreichbar, aber nur innerhalb der Region von etwa 50 bp zwischen zwei
benachbarten Nukleosomen ist die genomische DNA vollständig erreichbar.
So sind in einigen Fällen nur geringfügige Verschiebungen in der Position der
Nukleosomen erforderlich, um Transkriptionsfaktorbindungsstellen zugänglich zu
machen, während in anderen Fällen ein ganzes Nukleosom entfernt werden muss..
Da Nukleosomen eine ziemlich starke elektrostatische Anziehungskraft auf
genomische DNA ausüben, muss die Katalyse des Gleitens, Entfernens oder
Austauschens einzelner Untereinheiten oder sogar das Herauslösen ganzer
Nukleosomen alle Histon-DNA-Kontakte auflösen. Das erfordert die Investition
von Energie in Form von ATP. Die verschiedenen Multiproteinkomplexe der
Chromatinremodellierer enthalten zumindest eine ATPase, welche die Energie
der ATP-Hydrolyse nutzt, um Nukleosomen zu beeinflussen. Das geschieht auf
mindestens vier Weisen (Abb. 5.5), wie:
64 5 Chromatin-modifizierende Proteine und RNAs

• Bewegung des Histonoktamers zu einer neuen Position innerhalb derselben


Chromatinregion
• vollständige Verdrängung des Histonoktamers beispielsweise aus TSS-
Regionen stark exprimierter Gene
• Entfernung von H2A-H2B-Dimeren aus dem Histonoktamer
• Austausch regulärer Histone durch ihre Varianten, z. B. H2A durch H2A.Z
(Kasten 4.1)

Chromatinremodellierer machen TSS- und Enhancerregionen für den


Transkriptionsapparat mehr oder weniger zugänglich. Auf diese Weise
aktivieren Transkriptionsfaktoren die Transkription ihrer Zielgene oder sie unter-
drücken sie. Somit wird die Position und Zusammensetzung von Nukleosomen
genomweit angepasst.
Unser Genom codiert vier Familien von Chromatinremodellierern, die durch
ihrer katalytischen ATPasen und assoziierten Untereinheiten unterschieden
werden. Die Existenz verschiedener Komplexe impliziert, dass die jeweiligen

Gleiten Auswurf
Ausgeworfenes
Oktamer

H2A.Z

Ausgetauschtes H2A-H2B-
H2A-Dimer Dimerentfernung
Selektiver Dimer- Selektive Dimer-
austausch entfernung

Abb. 5.5  Mobilität und Stabilität von Nukleosomen. Chromatinremodellierer ermög-


lichen den Zugang zu genomischer DNA durch Gleiten, Auswerfen, Entfernen von H2A-H2B-
Dimeren oder selektiven Austausch von Histondimeren aus Nukleosomen. ATP-abhängige
Remodellierungskomplexe sowie thermische Bewegung beeinflussen die Mobilität von
Nukleosomen. Die Stabilität von Nukleosomen wird durch die detaillierte Zusammensetzung der
Histonoktamere und das Muster der Histonmodifikationen beeinflusst. Beispielsweise verändert
der Einbau von Histonvarianten in Nukleosomen die Wechselwirkungen mit Histonproteinen und
Nicht-Histonproteinen
5.3 Chromatinremodellierer 65

Chromatinremodellierer unterschiedliche Wirkungsmechanismen haben. Jedoch


enthalten sie alle eine ATPase-DNA-Translokase, d. h. ein ATP-verbrauchendes
Enzym, das DNA-Protein-Kontakte auflöst und die Bewegung des Nukleosoms
ermöglicht. Jede Remodelliererfamilie hat mehrere Subtypen, die zelltyp- oder
entwicklungsspezifische Funktionen bereitstellen:

• Der ISWI- (imitation switch-) Komplex setzt Nukleosomen zusammen und


ordnet sie an, um die Zugänglichkeit von Chromatin und die Genexpression
einzuschränken (Abb. 5.6, links).
• CHD-Remodellierer kontrollieren den Abstand der Nukleosomen, den Zugang
zu genomischer DNA, z. B. die Freilegung von Promotoren, und den Einbau
von Histonvarianten wie Histon H3.3 (Abb. 5.6, links).
• Der SWI/SNF-Komplex stößt Nukleosomen aus, d. h., er moduliert den
Zugang zu genomischer DNA, um die Genexpression zu aktivieren oder zu
unterdrücken (Abb. 5.6, Mitte).
• INO80-Remodellierer (INO für inositol requiring) haben in erster Linie Nukle
osomeneditierungsfunktionen (Abb. 5.6, rechts).

Remodelliererkomplexe enthalten Proteine mit Bromodomänen, Chromodomänen


und PHD-Domänen, die Histonmarkierungen lesen können (Abschn. 5.1).
Zum Beispiel verwenden ISWI-Remodellierer eine PHD-Domäne, um spezi-
fisch H3K4me3-markierte Histone zu finden, bei CHD-Remodellierer binden
Chromodomänen an methylierte Histone, bei SWI/SNF-Remodellierern wird eine
Bromodomäne zur Erkennung von acetyliertem Histon H3 verwendet, während
INO80-Remodellierer eine Bromodomäne zur Bindung an acetyliertes H4
benutzen (Abb. 5.2).
In Homöostase sorgen Chromatinremodellierer in den allermeisten
Chromatinregionen für eine dichte Nukleosomenpackung auf dem Genom,
während sie an bestimmten Orten den schnellen Zugang von Transkriptions-
faktoren und anderen Kernproteinen ermöglichen. Zum Beispiel haben
konstitutiv aktive Gene typischerweise eine nukleosomendepletierte Region
stromaufwärts ihrer TSS-Region, in der sich entscheidende Transkriptions-
faktorbindungsstellen befinden. Genomweite Studien zeigten, dass diese
nukleosomendepletierte Region auf beiden Seiten oft von gut positionierten
Nukleosomen flankiert wird.
Die Mitglieder der SWI/SNF-Familie wirken hauptsächlich auf die Aktivierung
der Transkription. Interessanterweise wird die Aktivität vieler Chromatinre-
modellierer durch das Vorhandensein von Histonvarianten beeinflusst, die sie
selbst in das Chromatin einführen, d. h., sie kontrollieren sich gegenseitig durch
den Austausch von Histonen. Zum Beispiel reduzieren die Histonvarianten
MakroH2A und H2A.Bbd die Effizienz des SWI/SNF-Komplexes, während
H2A.Z den Umbau durch ISWI-Komplexe stimuliert. Der INO80-Komplex ent-
fernt H2A.Z von ungeeigneten Stellen. Im Allgemeinen befindet sich H2A.Z in
66 5 Chromatin-modifizierende Proteine und RNAs

Nukleosomenpositionierung Chromatinzugänglichkeit Nukleosomeneditierung

DNA
DN

Positionierung von Chromatin- INO80


SWI/SNF Histonaustausch
H3-H4-Tetrameren oder veränderung
H2A-H2B-Dimeren
ATP ADP Neupositio- ATP ADP
nierung

ODER

Zufällige Positionierung Unregelmäßige Nukleosomen- Installation oder Entfernung


Abstände auswurf von Histonvarianten

Reifung, Zusammensetzung ODER


und Abstand der
ISWI Nukleosomen
CHD Histondimer-
ATP ADP
auswurf

Regulärer Abstand

Abb. 5.6  Funktion von Chromatinremodellierern beim Menschen. ISWI- und CHD-


Remodellierer sind an der Komplexbildung von Histonen, der Reifung von Nukleosomen und
ihrem Abstand beteiligt (links). SWI/SNF-Remodellierer verändern Chromatin, indem sie
Nukleosomen neu positionieren oder Histonoktamere oder Histondimere auswerfen (Mitte).
INO80-Remodellierer verändern die Zusammensetzung von Nukleosomen, indem sie kanonische
und abweichende Histone austauschen, z. B. durch die Installation von H2A.Z-Varianten (rechts)

offenen TSS-Regionen und reguliert die Gentranskription positiv. Der Amino-


terminus dieser Histonvariante wird acetyliert, wenn ein Gen aktiv ist.

5.4 Lange ncRNAs als Chromatinorganisatoren

In den letzten 20 Jahren wurden Zehntausende von RNA-Transkripten in mensch-


lichen Geweben und Zelltypen entdeckt, die mRNAs ähneln, aber nicht in Proteine
übersetzt werden, und als ncRNAs bezeichnet werden. Sind diese länger als
200 Nukleotide, werden sie lange ncRNA genannt. Lange ncRNAs sind in ihrer
Biogenese, Häufigkeit und Stabilität heterogen und unterscheiden sich in ihrem
Wirkmechanismus. Einige lange ncRNAs haben eine eindeutige Funktion, z. B.
in der Regulation der Genexpression, während andere, z. B. Enhancer-RNAs
(eRNAs), hauptsächlich Nebenprodukte der Pol-II-Transkription zu sein scheinen
und möglicherweise funktionell nicht relevant sind.
Trotz ihrer relativ späten Entdeckung sind ncRNAs wahrscheinlich evolutionär
älter als Proteine, d. h., in den ersten Zellen vermittelten sie wahrscheinlich die
meisten regulatorischen Aktionen, von denen viele später von Proteinen über-
5.4 Lange ncRNAs als Chromatinorganisatoren 67

nommen wurden. Lange ncRNAs erfüllen ihre zellulären Funktionen, indem


sie mit Proteinen wechselwirken, um makromolekulare Komplexe zu bilden
(Abb. 5.7). Die Komplexbildung wird über Elemente innerhalb von ncRNAs
ermöglicht, z. B. kurze Sequenzmotive oder größere Sekundär- oder Tertiär-
strukturen, die spezifisch mit einem großen Satz molekularer Strukturen in
Proteinen, RNA und DNA interagieren. Das ermöglicht eine Vielzahl von
Funktionen wie

• die Bildung eines Gerüsts für größere Proteinkomplexe,


• die Rekrutierung regulatorischer Proteine,
• die spezifische Interaktion DNA-bindender Proteine mit genomischer DNA
oder
• die Ausbildung der 3D-Struktur des Zellkerns.

Ein klassisches Beispiel für ein RNA-Gerüst ist die RNA TERC, die den
Telomerasekomplex zusammensetzt. Eine Reihe von chromatinmodifizierenden
und -remodellierenden Proteinen wie die Komponenten der PRC-Komplexe,
KMT1C, KDM1A, DNMT1 und der SWI/SNF-Komplex, interagieren mit langen
ncRNAs im Zellkern. Diese RNA-Protein-Wechselwirkungen sind wichtig, um

• Chromatinregulationskomplexe an spezifische Stellen im Genom zu rekrutieren


und somit die Genexpression zu regulieren,
• die Funktion von Kernproteinen kompetitiv oder allosterisch zu modulieren und
• die Funktionen unabhängiger Proteinkomplexe zu kombinieren und zu
koordinieren (Abb. 5.7).

Die bereits diskutierte lange ncRNA Xist (Abschn. 3.3) ist der Schlüsselinitiator
der X-Chromosom-Inaktivierung in weiblichen Zellen und dient als Musterbei-
spiel dafür, wie ncRNAs zur Chromatinorganisation beitragen (Abschn. 6.3).
Vor der Expression von Xist sind beide X-Chromosomen transkriptionell aktiv,
nicht stark mit der Kernlamina assoziiert und strukturell ähnlich wie autosomale
Chromosomen organisiert, d. h., sie sind in Hunderte von TADs unterteilt. In der
frühen Embryonalentwicklung wird Xist von einem Allel exprimiert, breitet sich
über das X-Chromosom aus und interagiert mit dem Lamin-B-Rezeptor, der das
Chromosom zur Kernlamina verlagert. In diesem Zusammenhang werden aktive
Gene in das Xist-Kompartiment sequestriert und abgeschaltet. Andere lange
ncRNAs wie HOTAIR (HOX transcript antisense RNA) dirigieren einige KDMs,
z. B. KDM1A innerhalb des RCOR-(REST-Corepressor-)Komplexes, zu ihren
Zielen im Chromatin. RCOR ist ein großer Proteinkomplex, der auch HDACs ent-
hält und zur Transkriptionsunterdrückung beiträgt.
68 5 Chromatin-modifizierende Proteine und RNAs

Polymerisationsavidität

Kombination von RNA-Valenz


Funktionen Köder
mehrerer Proteine

Modul 1 RNA- Protein-


Domänen komponenten

1. Sequenzmotiv Chromatin-
-AUGGC- regulation
Flexible
“Linker” DNA- oder chromatinbindende
lange Proteine
ncRNA Transkriptions-
2. Sekundär- maschinerie
struktur
Spleißfaktoren
Modul 2

oder

Lokalisierung auf DNA Allosterische Modulation


(von RNA oder Protein)

Abb. 5.7  Wirkprinzipien langer ncRNA. Lange ncRNA-Moleküle haben verschiedene


Abschnitte für die molekulare Interaktion mit DNA, Proteinen und Proteinkomplexen. Diese
Wechselwirkungen haben verschiedene Funktionen, z. B. die Kombination der Funktionen
mehrerer Proteine, die Lokalisation langer ncRNAs auf genomischer DNA, das Modifizieren
der Struktur langer ncRNAs oder Proteine, das Hemmen der Proteinfunktion als Köder und das
Bereitstellen einer multifunktionalen Plattform, um die Avidität von Proteinwechselwirkungen zu
erhöhen oder die Polymerisation des RNA-Protein-Komplexes (RNA-Valenz) zu fördern

Weiterführende Literatur
Blackledge, N.P., and Klose, R.J. (2021). The molecular principles of gene regulation by
Polycomb repressive complexes. Nat Rev Mol Cell Biol 22, 815–833.
Clapier, C.R., Iwasa, J., Cairns, B.R. and Peterson, C.L. (2017). Mechanisms of action and
regulation of ATP-dependent chromatin-remodeling complexes. Nat Rev Mol Cell Biol 18,
407–422.
Li, X., Egervari, G., Wang, Y., Berger, S.L. and Lu, Z. (2018). Regulation of chromatin and gene
expression by metabolic enzymes and metabolites. Nat Rev Mol Cell Biol 19, 563–578.
Morgan, M.A.J., and Shilatifard, A. (2020). Reevaluating the roles of histone-modifying enzymes
and their associated chromatin modifications in transcriptional regulation. Nat Genet 52,
1271–1281.
Weiterführende Literatur 69

Sabari, B.R., Zhang, D., Allis, C.D. and Zhao, Y. (2017). Metabolic regulation of gene expression
through histone acylations. Nat Rev Mol Cell Biol 18, 90–101.
Sheikh, B.N. and Akhtar, A. (2019). The many lives of KATs – detectors, integrators and
modulators of the cellular environment. Nat Rev Genet 20, 7–23.
Embryogenese und
Zelldifferenzierung 6

Zusammenfassung

Die frühe Embryonalentwicklung ist sehr anfällig für Umwelteinflüsse. Daher


ist die Embryogenese von allen Phasen unseres Lebens der Zeitraum, in dem
Epigenetik den größten Einfluss hat. Epigenetik steuert die Programmierung
von Urkeimzellen, induzierte Pluripotenz sowie die Funktion adulter Stamm-
zellen in der Gewebehomöostase. Diese Beispiele demonstrieren den Ein-
fluss der Epigenetik auf die Organisation unseres Körpers bei Gesundheit und
Krankheit.

Schlüsselwörter
Embryogenese · ES-Zellen · Urkeimzellen · Zelluläre Neuprogrammierung ·
Induzierte Pluripotenz · Master-Transkriptionsfaktoren · Genregulatorische
Netzwerke · Adulte Stammzellen · Tumorentstehung

6.1 Epigenetische Veränderungen während der


Embryogenese

Unser Körper besteht aus etwa 30 Billionen Zellen, die mehr als 400 ver-
schiedene Gewebe und Zelltypen bilden. Die Embryonalentwicklung ist ein streng
regulierter Prozess, der diese große Vielfalt an Zelltypen aus einem identischen
Genom hervorbringt. In jeder Zelle dient Chromatin als spezifischer Filter für
die Informationen im Genom. Es bestimmt, welche Gene exprimiert werden und
welche nicht, d. h., zelluläre Diversität basiert eher auf Epigenomik als auf
Genomik. Das Differenzierungsprogramm der Embryogenese ist ein perfektes
System, um die Koordination der Abstammungslinien und der Spezifizierung
der Zellidentität zu beobachten. Die Embryogenese erfordert eine Koordination
zwischen der Zunahme der Zellmasse und der phänotypischen Diversifizierung

© Springer Nature Switzerland AG 2023 71


C. Carlberg und F. Molnár, Epigenetik des Menschen,
https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0_6
72 6 Embryogenese und Zelldifferenzierung

der expandierenden Zellpopulationen. Dieser Prozess ist unter der Kontrolle


genregulatorischer Netzwerke und impliziert signifikante Veränderungen in der
epigenetischen Landschaft (Abschn. 1.2).
Bei der Befruchtung verschmelzen haploide Gameten, Eizelle und Spermium,
und bilden die diploide Zygote (Abb. 6.1). Eine Reihe von Teilungen der Zygote
erzeugt das totipotente 16-Zell-Morula-Stadium (Kasten 1.3). Einige Tage nach
der Befruchtung verbinden sich die Zellen am äußeren Teil der Morula fest mit-
einander und bilden im Inneren einen Hohlraum. Im Blastozystenstadium (50–150
Zellen) findet eine erste Differenzierung statt. Die äußeren Zellen (Trophoblasten)
sind die Vorläufer der extraembryonalen Zytotrophoblasten, die Chorionzotten
und Synzytiotrophoblasten bilden, welche in die Gebärmutter eindringen, d. h.,
diese Zellen bilden die Plazenta und andere extraembryonale Gewebe. Noch bevor
sich die Blastozyste in die Gebärmutterwand einnistet, beginnen sich ihre inneren
Zellen, die sogenannte innere Zellmasse, in zwei Schichten, den Epiblasten und
den Hypoblasten, zu differenzieren. Aus dem Epiblasten entstehen einige extra-
embryonale Gewebe sowie alle Zellen des späteren Embryos und Fötus. Im
Gegensatz dazu ist der Hypoblast der Vorläufer von extraembryonalem Gewebe,
einschließlich der Plazenta und des Dottersacks.
Einige der embryonalen Epiblastenzellen bilden die Urkeimzellen. Diese
Zellen sind die Begründer der Keimbahn und stellen eine Verbindung zwischen
verschiedenen Generationen der Familie eines Individuums her (Abschn. 7.1).
Während der Gastrulationsphase teilen sich die anderen Zellen des embryonalen
Epiblasten auf die drei Keimblätter Ektoderm, Mesoderm und Endoderm auf,
welche die Vorläufer aller somatischen Gewebe sind. Die Zellen dieser Keim-
blätter sind nur multipotent, d. h., sie können sich nicht in jedes andere Gewebe
umwandeln (Kasten 1.3). Beispielsweise können Ektodermzellen in einer Reihe

Embryonale Gewebe
Ursprüngliche
Keimzellen

Embryonaler Embryonales
Epiblast Ektoderm
(primitives Ektoderm)

Zygote Epiblast
Primitivstreifen Embryonales
Endoderm
Morula Innere Zellmasse Fruchtwasser-
ektoderm Embryonales
Mesoderm

Blastozyste
e Hypoblast Extraembryonales Dotter- Extraembryonales
(viszerales Endoderm) Endoderm beutel Mesoderm

Äußere Zellen Trophoblast Zytotrophoblast Synzytiotrophoblast


Extraembryonale Gewebe

Abb. 6.1  Fahrplan der frühen Entwicklung beim Menschen. Einzelheiten sind im Text
angegeben. Die gestrichelte Linie zeigt einen möglichen doppelten Ursprung des extra-
embryonalen Mesoderms an
6.1 Epigenetische Veränderungen während der Embryogenese 73

aufeinanderfolgender Differenzierungsschritte Epidermis, Neuralgewebe und


Neuralleiste bilden, aber keine Nieren- (vom Mesoderm abgeleitet) oder Leber-
zellen (vom Endoderm abgeleitet).
Vor der Befruchtung beträgt die CpG-Methylierungsrate der haploiden Genome
von Spermien und Eizelle 90 bzw. 40 % (Abb. 6.2, links). Das Chromatin von
Spermien ist zehnmal stärker verdichtet als das von somatischen Zellen und die
meisten Histone werden durch Protamine ersetzt. Protamine sind argininreiche
Kernproteine, die eine dichtere Verpackung der DNA ermöglichen als Histone.
Folglich ist das Genom der Spermien transkriptionell abgeschaltet, während in

PGCs PGC-
Spezifizierung Soma
100 Spermien Spermien

80 Woche 2
CpG-Methylierung (%)

60 Zygote
PGCs
Oozyten
Wandernde PGCs
40 Oozyten Gonadale PGCs

20
Blastozyste Woche 5
(innere Zellmasse)
0 Woche 7 Woche 9
Chromatinreorganisation X-Reaktivierung
Demethylierung von Imprints und PGC-Genpromotoren
Präimplantation Postimplantation Erwachsener

Abb. 6.2   Epigenetische Umprogrammierung während der Embryogenese. DNA-


Methylierung ist die stabilste epigenetische Modifikation und vermittelt häufig eine permanente
Genabschaltung, sowohl während der Embryogenese als auch im Erwachsenenalter. Dem-
entsprechend gibt es eine Hierarchie von Ereignissen, bei denen die DNA-Methylierungs-
marker typischerweise nach Änderungen in Histonmodifikationen hinzugefügt oder ent-
fernt werden, d. h., sie treten meist am Ende des Differenzierungsprozesses auf. Daher ist in
dieser Grafik der Prozentsatz der CpG-Methylierung als repräsentative Markierung für Ver-
änderungen des Epigenoms angegeben. Während der Embryogenese treten zwei Wellen globaler
Demethylierung auf: die erste in der Präimplantationsphase (Woche 1), welche alle Zellen des
Embryos betrifft, und die zweite, welche nur die Urkeimzellen (PGCs) während der Phase
ihrer Spezifikation betrifft, wobei ein Minimum von etwa 5 % CpG-Methylierung in Woche
7–9 erreicht wird. Einige Regionen des Genoms, Bereiche einzelner Gene und in repetitiver
DNA, bleiben methyliert und sind Kandidaten für die transgenerationale epigenetische Vererbung
(Abschn. 7.1). Gepunktete Linien zeigen die Dynamik der Methylierung. Nach der Implantation
findet eine genomweite de novo-DNA-Methylierung statt. In Urkeimzellen tritt eine zweite
Welle der de novo-DNA-Methylierung auf: bei Männern bereits nach der neunten Woche, bei
Frauen jedoch erst nach der Geburt. Wichtig ist, dass die meisten CpG-reichen Promotoren in
allen Stadien der Embryogenese nichtmethyliert bleiben, d. h., sie sind von diesen Wellen der
Methylierung und Demethylierung nicht betroffen
74 6 Embryogenese und Zelldifferenzierung

der Eizelle viele Gene aktiv sind. Nach der Befruchtung, im Stadium der Zygote,
bleiben die beiden haploiden elterlichen Genome zunächst getrennt in ihren
unterschiedlichen Zuständen der Chromatinorganisation. Dann werden beide
Genome weitgehend demethyliert, aber das väterliche Genom viel schneller als
das mütterliche (Abb. 6.2, links). Parallel dazu werden die Protamine im väter-
lichen Chromatin wieder durch kanonische Histone ersetzt. In den folgenden
Zellteilungen, die dem Blastozystenstadium vorangehen, erfolgt in beiden Eltern-
genomen eine passive Demethylierung, bis die abstammungsspezifischen
DNA-Methylierungsmuster wieder hergestellt sind. Darüber hinaus gibt es im
väterlichen Epigenom einen schnellen Anstieg von 5hmC und 5fC/5caC, was ein
Zeichen für eine TET-vermittelte 5mC-Oxidation ist (Abschn. 3.1). Dieser Prozess
beschleunigt die Demethylierung des väterlichen Epigenoms. Es wird jedoch
keine vollständige Demethylierung des Epigenoms durchgeführt und etwa 5 %
der 5mC-Markierungen bleiben aktiv, möglicherweise durch Schutz durch methyl-
bindende Proteine wie MBD-Proteine (Abb. 6.2, rechts). Dieser Prozess dient als
Grundlage für die transgenerationale epigenetische Vererbung (Abschn. 7.1).
Die genomweite epigenetische Neuprogrammierung vor der Implantation
stellt das Epigenom von Zygoten auf naive Pluripotenz zurück. Dieser Prozess
ist in Urkeimzellen weitaus ausgeprägter als in anderen Zellen des Embryos, um
genetische Prägungen und die meisten anderen epigenetischen Erinnerungen
zu löschen (Abb. 6.2). Da DNA-Methylierung ein wichtiger epigenetischer
Schalter für das Abschalten von Genen ist, der die Genexpression moduliert und
die Genomstabilität aufrechterhält (Abschn. 3.1), birgt der vorübergehende Ver-
lust der DNA-Methylierung in Urkeimzellen das Risiko, die Aktivierung von
Retrotransposons, Proliferationsdefekte und sogar den Zelltod zu verursachen.
Daher sichert in dieser Phase der Embryogenese die genomweite Reorganisation
unterdrückender Histonmodifikationen über die Wirkung von pluripotenten
Transkriptionsfaktoren die Integrität des Genoms.
In der frühen Embryogenese unterscheiden sich die mütterlichen und
väterlichen Epigenome auch signifikant hinsichtlich ihrer Histonmodi-
fikationsmuster. Das globale Muster von Histonmarkierungen innerhalb des
mütterlichen Epigenoms ähnelt dem somatischer Zellen, während das väterliche
Epigenom aufgrund des Protamin-Histon-Austauschprozesses hyperacetyliert
ist, oft die Histonvariante H3.3 enthält und frei von H3K9me3- und H3K27me3-
Markierungen ist, welche Marker für konstitutives Heterochromatin darstellen.
Auf dem väterlichen Epigenom tritt die erste Einfachmethylierung bei H3K4,
H3K9, H3K27 und H4K20 auf. An diesen Positionen führen verschiedene
KMTs eine Zweifach- und Dreifachmethylierung durch. Dieser Prozess findet
auch auf dem mütterlichen Epigenom direkt nach der Befruchtung statt, wobei
Heterochromatinmarkierungen wie H4K20me3 und H3K64me3 aktiv entfernt
werden, während H3K9me3 passiv verloren geht. Diese anfängliche Asym-
metrie in der Methylierung von väterlichem und mütterlichem Epigenom gleicht
sich im Laufe der weiteren Entwicklung weitgehend aus. Bestimmte Regionen
im Genom, z. B. ICRs, bleiben jedoch zwischen beiden Allelen asymmetrisch,
nicht nur auf der Ebene der DNA-Methylierung, sondern auch in Bezug auf
6.2 Stammzellen und zelluläre Pluripotenz 75

­ istonmodifikationen, z. B. H3K27me3. Das ist die Grundlage für die


ihre H
genetische Prägung, also für die Vater- und Mutter-spezifische Genexpression
(Abschn. 3.3).
Während der Präimplantation tritt das Fehlen von typischem Hetero-
chromatin gleichzeitig mit allgemein offenerem Chromatin auf. Das hält das
Chromatin weithin zugänglich und ist für die epigenetische Neuprogrammierung
notwendig, wenn gametenspezifische Modifikationen entfernt und neue
Markierungen wiederhergestellt werden. Im Laufe der weiteren Entwicklung,
wie auf der Ebene der Blastozysten, weisen Zellen der inneren Zellmasse (die
den Embryo bilden) ein höheres Maß an DNA- und H3K27-Methylierung sowie
ein niedrigere Maß an Histon H2A- und/oder H4-Phosphorylierung auf, als Zellen
des Trophektoderms (welche die Plazenta bilden). Diese Asymmetrie des Epi-
genoms ist ein Zeichen der Differenzierung der jeweiligen Zelltypen und regelt
die Zuordnung in verschiedene Abstammungslinien des frühen Embryos. Dem-
entsprechend ist die präzise und robuste Genregulation durch die Kontrolle der
Zugänglichkeit und Aktivität von Promoter- und Enhancerregionen von wesent-
licher Bedeutung (Abschn. 6.2).

6.2 Stammzellen und zelluläre Pluripotenz

Stammzellen besitzen sowohl die Fähigkeit zur Selbsterneuerung, d. h. zahlreiche


Zellzyklen undifferenziert durchlaufen zu können, als auch die Eigenschaft, sich
in spezialisierte Zelltypen zu differenzieren. Daher müssen Stammzellen ent-
weder totipotent oder pluripotent sein (Kasten 1.3). ES-Zellen kommen nur
in der inneren Zellmasse von Blastozysten vor (Abb. 6.2), während viele adulte
Gewebe multipotente Stammzellen enthalten, die sich selbst erneuern und in ver-
schiedene gewebespezifische Zelltypen differenzieren können. Daher sind adulte
Stammzellen entscheidend für die Homöostase und Regeneration von Geweben.
Beispielsweise differenzieren sich hämatopoetische Stammzellen (HSCs)
(Abschn. 11.1) in myeloide und lymphoide Vorläuferzellen, die alle Zelltypen des
Bluts hervorbringen und für die ständige Erneuerung des Bluts und Immunsystems
verantwortlich sind. Der Zeitpunkt der Expression von Master-Transkriptions-
faktoren spielt bei diesen Differenzierungsprozessen eine Schlüsselrolle. Darüber
hinaus werden die meisten Gene, die für die Entwicklung wichtig sind, durch
mehrere Enhancer reguliert, die sowohl überlappende als auch unterschied-
liche räumlich-zeitliche Aktivitäten haben. Abstammungsspezifische Schlüssel-
gene sind mit (einem) dichten Cluster(n) von hoch aktiven Enhancern assoziiert.
Diese sogenannten Super-Enhancer zeigen eine schrittweise Bindung von
Abstammungs-bestimmenden Master-Transkriptionsfaktoren. Somit ändert sich
im Verlauf der Entwicklung vom frühen Embryo zu terminal differenzierten
Zellen das Epigenom in Promotor- und Enhancerregionen.
Genomweite Analysen bestätigen, dass Histonmarkierungen ES-Zellen von
terminal differenzierten Zellen unterscheiden und Pluripotenzgene von abstammungs-
spezifischen Genen. In ES-Zellen (Abb. 6.3, oben) sind Enhancerregionen beider
76 6 Embryogenese und Zelldifferenzierung

ES-
Zelle
Histon 3-
K27ac/K4me1 K4me3 K36me3 K9me2/me3 Modifikation
K4me1
Ac Ac
Aktive Transkription Enhancer Promotor Pol II Pluripotenzgene Heterochromatin K4me3
Me Me Me Me
K9me2
K27me3
K4me3 K27me3 K9me3

Pol-II-Pausierung Enhancer Promotor Neuronale Gene Intergenregion K27me3


Pol II
K4me1 K36me3
K27me3
K27me3 K4me3 K27me3 Ac K27ac

Pol-II-Pausierung Enhancer Promotor Pol II Andere Gene Intergenregion


Cytosin-
methylierung
Nichtmethyliert
Neuronale Differenzierung Me 5-Methyl

Neuron Chromatin-
K9me2/me3 assozierte Proteine
K9me2
EP300 HP1
Dauerhafte Abschaltung Enhancer Promotor Pluripotenzgene Heterochromatin
Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me

K27ac/K4me1
K4me3 K36me3 K27me3

Ac Ac
Transkription Enhancer Promotor Pol II Neuronale Gene Intergenregion

K27me3 K27me3

Unterdrückung Enhancer Promotor Andere Gene Intergenregion


Me

Abb. 6.3   Chromatinzustände von ES-Zellen im Vergleich zu abstammungsspezifischen


Zellen. Die Chromatinstadien an Enhancern, Promotoren, Genkörpern und Heterochromatin in
Intergenregionen pluripotenter Gene, neuronaler Gene und Gene anderer Abstammungslinien
werden zwischen ES-Zellen (oben) und neuralen Zellen (unten) verglichen. Näheres findet sich
im Text

Pluripotenzgene mit H3K4me1- und H3K27ac-Markierungen angereichert. Diese


Gene werden aktiv transkribiert, da auch ihre TSS-Regionen mit H3K4me3 markiert
sind und ihre Genkörper H3K36me3-Modifikationen aufweisen. Im Gegensatz dazu
tragen Enhancer von Genen, welche die Differenzierung zu spezifischen Zelltypen
bestimmen, H3K4me1-Markierungen und unterdrückende H3K27me3-Markierungen
anstelle von H3K27ac-Markierungen. Dadurch bleiben die Gene in einem aus-
geglichenen Zustand, selbst wenn ihre TSS-Regionen H3K4me3-Markierungen
tragen. Somit haben Enhancer und Promotoren von bereiten Genen (Abschn. 4.3
und 5.3) sowohl aktivierende als auch inaktivierende Histonmarkierungen, d. h., sie
sind Beispiele für bivalente Chromatinzustände, aus denen sie entweder vollständig
aktiviert oder unterdrückt werden.
Nach der Differenzierung zu einer bestimmten Abstammungslinie, z. B.
zu Neuronen (Abb. 6.3, unten), werden nur abstammungsspezifische Gene
durch H3K27ac an den Enhancer- und in den Promotorregionen markiert sowie
zusätzlich durch H3K4me1 an ihren Enhancern. Dann wird die Pausierung
der Pol II aufgehoben und die mRNA-Transkription fortgesetzt. Gene anderer
Abstammungslinien verlieren die Markierungen an ihren Enhancern und
erhalten unterdrückende H3K27me3-Markierungen an ihren TSS-Regionen.
6.2 Stammzellen und zelluläre Pluripotenz 77

Darüber hinaus erhalten Pluripotenzgene H3K9me3-Markierungen und DNA-


Methylierungen an ihren Promotorregionen, um diese für den Rest des Lebens
des Individuums stabil zu unterdrücken. Während des Differenzierungs-
prozesses werden Heterochromatinregionen durch H3K9me2- und H3K9me3-
Modifikationen markiert. Außerdem werden die HP1-Bindung und
die DNA-Methylierung erweitert, sodass das Chromatin stärker verdichtet wird.
In nichtexprimierten Genen sowie in Intergenregionen nehmen H3K27me3-
Markierungen ebenfalls zu. Im Gegensatz dazu entfernen KDMs während der
Festlegung der Abstammungslinie H3K27me3-Markierungen von spezifischen
promotorassoziierten CpGs, um die jeweiligen Gene transkriptionsdurchlässig zu
machen. Dazu gehört auch die Depletion von Nukleosomen aus TSS-Regionen
durch Chromatinremodellierer (Abschn. 5.3).
Vor etwa 20 Jahren wurde die Technik der zellulären Umprogrammierung
von terminal differenzierten Zellen in induzierte Pluripotenz, d. h. die Erzeugung
sogenannter iPS-Zellen, erfunden. Das Verfahren nutzt die ektopische (d. h. über-
durchschnittlich hohe) Expression der pluripotenten Transkriptionsfaktoren
OCT4, SOX2 (SRY-Box 2), KLF4 (krüppelähnlicher Faktor 4) und MYC, um
das somatische Epigenom umzuprogrammieren und einen stabilen pluripotenten
Zustand zu induzieren, der dem einer ES-Zelle ähnelt. OCT4, SOX2 und KLF4
unterdrücken kooperativ abstammungsspezifische Gene und aktivieren Pluri-
potenzgene (Abb. 6.3), während die MYC-Überexpression die Zellproliferation
stimuliert, einen metabolischen Wechsel von einem oxidativen zu einem glyko-
lytischen Zustand induziert und eine Freisetzung und Promotorneubeladung durch
die Pol II vermittelt. Dennoch ist die Induktion der Pluripotenz sehr ineffizient
und nur 0,1–3 % einer Zellpopulation werden vollständig neu programmiert.
Es gibt also eine Reihe epigenetischer Barrieren, die die Identität somatischer
Zellen stabilisieren und ihre abweichende Transdifferenzierung verhindern. Die
zelluläre Umprogrammierung hat jedoch das Potenzial, erkrankte Organe
zu regenerieren und liefert auch weitere Einblicke in die Prinzipien der epi-
genetischen Kontrolle der Zelldifferenzierung.
Während der normalen Entwicklung von Stammzellen über Vorläuferzellen
zu terminal differenzierten Zellen kommt es zu einer allmählichen Platzierung
unterdrückender epigenetischer Markierungen wie DNA-Methylierung und
Histonmethylierung, kombiniert mit einer eingeschränkteren Zugänglich-
keit von genomischer DNA. Daher führt die Überexpression von pluripotenten
Transkriptionsfaktoren zu markanten Veränderungen des epigenetischen Stadiums
somatischer Zellen, wodurch das Stadium pluripotenter Zellen etabliert wird.
Nach Waddingtons Modell einer epigenetischen Landschaft (Abschn. 1.2),
in der eine bergab rollende Kugel die Entwicklung von einer Stamm-
zelle zu einer enddifferenzierten Zelle darstellt (Abb. 1.4), bedeutet zelluläre
Umprogrammierung, über Veränderungen des Epigenoms die Kugel/Zelle
wieder auf den Gipfel des Hügels zu rollen. Darüber hinaus können sich Kugeln/
Zellen nur einen Teil des Wegs den Hügel hinauf bewegen und wieder hinunter
rollen, indem sie ein anderes „Tal“, eine diskrete Anzahl von Mulden, passieren
78 6 Embryogenese und Zelldifferenzierung

oder sogar von einem Tal zum anderen wandern, ohne wieder bergauf zu gehen.
Letzterer Prozess wird als Transdifferenzierung bezeichnet und endet in einer
anderen Art von terminal differenzierter Zelle.
Während der Umprogrammierung von somatischen Zellen sind die primären
Ziele der pluripotenten Transkriptionsfaktoren zugängliche Regionen im Genom
mit H3K4me2- und H3K4me3-Markierungen. Die darauffolgenden Ziele
sind Regionen mit H3K4me1-Markierungen in einem vorbereiteten Zustand
(Abschn. 5.2). Umprogrammierende Transkriptionsfaktoren wirken als Pionier-
faktoren, d. h. als Transkriptionsfaktoren, die genomische DNA auch in Gegen-
wart von Nukleosomen binden können. Im Gegensatz dazu sind reguläre
Transkriptionsfaktoren nicht in der Lage, an nukleosomenbedeckte genomische
DNA zu binden. Pionierfaktoren rekrutieren dann andere Transkriptions-
faktoren und Chromatinmodifikatoren. Ziele dieser Proteine sind bivalente
Gene mit aktiven H3K4me3-Markierungen und unterdrückender H3K27me3-
Markierungen. Sie müssen von einem aktiven Zustand in somatischen Zellen in
einen für pluripotente Zellen typischen Bereitschaftszustand überführt werden.
Die schwierigsten Ziele für pluripotente Transkriptionsfaktoren sind Hetero-
chromatinregionen mit unterdrückenden H3K9me3-Markierungen. Diese
Regionen benötigen einen umfangreichen, mehrstufigen Chromatinumbau,
um transkriptionell aktiviert zu werden. Interessanterweise spielt die DNA-
Methylierung keine wesentliche Rolle bei der zellulären Umprogrammierung.
Im Gegensatz dazu ist die DNA-Demethylierung von Pluripotenzgenen, ent-
weder durch aktive oder passive Mechanismen, entscheidend für eine effektive
Umprogrammierung.

6.3 Epigenetische Dynamik während der Differenzierung

Die lange ncRNA Xist wurde bereits in Abschn. 3.3 und 5.4 für ihre zentrale
Rolle bei der X-Chromosom-Inaktivierung in weiblichen Zellen besprochen.
Xist rekrutiert eine Reihe regulatorischer Komplexe in verschiedenen Stadien
des Prozesses der transkriptionellen Abschaltung von Genen auf dem gesamten
zweiten X-Chromosom (Abb. 6.4). In weiblichen ES-Zellen werden beide
X-Chromosomen aktiv transkribiert und tragen Markierungen für aktives
Chromatin wie H3K4me1, H3ac und H4ac. In der frühen embryonalen Ent-
wicklung, während des Blastulastadiums von ungefähr 100 Zellen, wird die
X-Chromosom-Inaktivierung in einem der beiden X-Chromosomen initiiert,
indem die Expression von Xist induziert wird, die sich allmählich über das
gesamte Chromosom ausbreitet. Durch die Interaktion mit HNRNPU (hetero-
genes nukleäres Ribonukleoprotein U) rekrutiert Xist das RNA-bindende Protein
SHARP (SMRT/HDAC1‑assoziiertes Repressorprotein). Der Korepressorprotein
NCOR (nukleärer Rezeptor Corepressor) 2 rekrutiert dann HDAC3, was zur
Demethylierung von H3K4 und zur Ablösung der Pol II von ihrer DNA-Matrize
führt. Darüber hinaus rekrutiert Xist die Komplexe PRC1 und PRC2, die die
6.3 Epigenetische Dynamik während der Differenzierung 79

Xa Xi
Xist

Einleitung von XCI Beibehaltung von XCI

Xa Xa

SHARP NCOR2 SHARP NCOR2


A HDAC3 HDAC3
HNRNPU ? DNMT
Ac Acetylierung Xist Ac PRC2 ? me3
B ? H3K27me3
me3

hnRNPK
me3
me3
me3
me3
me3
Ac me3
Me
Me

Ac Ac Me
Me
Ac
Me
Pol II n Ge
Gen Pol II Ge Ge n
n

– H4ac und H3K9ac (HDACs) + H2AK119ub1 (PRC1) + DNA-Methylierung (DNMT)


– H3K4me1/2/3 + H3K27me3 (PRC2) + MakroH2A
– Pol II + H3K9me2/3

Abb. 6.4  Mechanismen der Xist-induzierten Genabschaltung. In ES-Zellen werden beide


X-Chromosomen aktiv transkribiert (Xa) und dann mit H3K4me1, H3ac und H4ac markiert.
Die X-Chromosom-Inaktivierung beginnt früh in der Embryonalentwicklung, wenn die Xist-
Expression zufällig auf einem der beiden X-Chromosomen initiiert wird, und breitet sich all-
mählich über das gesamte inaktive X-Chromosom (Xi) aus. Weitere Einzelheiten sind im Text
angegeben

Markierungen H2AK119ub bzw. H3K27me3 setzen. Darüber hinaus fügen KMTs


unterdrückende H3K9me2- und H3K9me3-Markierungen hinzu. In differenzierten
Zellen wird die X-Chromosom-Inaktivierung durch DNA-Methylierung über
DNMTs und den Einbau der Histonvariante MakroH2A aufrechterhalten.
Differenzierte Zellen teilen zugängliche Chromatinregionen mit der ES-Zelle,
von der sie abstammen, aber die Ähnlichkeit in der epigenetischen Landschaft
(Abschn. 1.2) nimmt ab, wenn die Zellen reifen. Nach der Festlegung auf eine
bestimmte Abstammungslinie erweitert sich das Repertoire der Zelle für zugäng-
liche Bindungsstellen von Transkriptionsfaktoren, die für diese Abstammungs-
linie spezifisch sind, während es für Transkriptionsfaktorbindungsstellen anderer
Abstammungslinien deutlich abnimmt. Somit wird die epigenetische Land-
schaft von terminal differenzierten Zellen durch die „Talhänge“ eingeschränkt,
deren Höhe durch genregulatorische Netzwerke bestimmt wird. Diese Netz-
werke werden durch spezifische DNA-Methylierung und Histonmodifikationen
sowie durch eine geeignete 3D-Architektur gebildet. Auf diese Weise wird ver-
hindert, dass Zellen ihren Zustand wechseln (Abb. 6.5, links). Als Reaktion auf
relevante intra- und extrazelluläre Signale ermöglicht das Epigenom jedoch
auch Zellzustandsübergänge. Wenn die Homöostase des Chromatins z. B. durch
Epimutationen (Abschn. 8.1) gestört wird, reagieren Zellen nicht angemessen
auf diese Signale. Zu restriktive Chromatinnetzwerke schaffen epigenetische
Barrieren, die alle Arten von Zellzustandsübergängen verhindern (Abb. 6.5,
Mitte). Im Gegensatz dazu haben übermäßig durchlässige Chromatinnetzwerke
80 6 Embryogenese und Zelldifferenzierung

Normal Restriktiv Durchlässig

Energiezustands-
diagramm

Aus
An
Aus

K27 K4 K27 K4
K27 K4
Locusspezifische me me
me
me me
me me me
me me
me

Mechanismen
me
KMT2A EZH2
EZH2 KMT2A KMT2A
EZH2 KDM6A

Bivalente, bereite Promotoren, EZH2-Funktionsgewinn- KDM-Hochregulation,


die auf Signale reagieren mutation, stabile Unterdrückung falsche Aktivierung

Zellzustandsänderung, begleitet von Zelle kann nicht Epigenetische Plastizität ermög-


epigenetischen Zustandsänderungen den proliferativen Veränderung licht bidirektional Epigenetische
Epizustand erhöht Übergang Läsionen senken
Zellzustands- verlassen Chromatin- Chromatin-
barriere barrieren
übergänge

Abb. 6.5  Chromatinstruktur, Zellidentität und Zellzustandsübergänge. In normalen Zellen


(links) stabilisieren Netzwerke von Chromatinproteinen den Zellzustand, vermitteln aber auch
die Reaktion auf intra- und extrazelluläre Reize und ermöglichen gelegentlich Zellzustandsüber-
gänge. Zellen, in denen das Chromatinnetzwerk gestört ist, reagieren jedoch nicht angemessen.
Bei restriktivem Chromatin (Mitte) verhindern epigenetische Barrieren Zellzustandsübergänge,
während diese Barrieren bei übermäßig durchlässigem Chromatin (rechts) gesenkt werden und
einen einfachen Übergang zu anderen Zellzuständen ermöglichen. Die Szenarien werden anhand
eines Beispiels der zugrunde liegenden, molekularen Mechanismen (oben) oder als Zellzustands-
übergänge (unten) veranschaulicht. Blaue Zellkerne stellen normale Zellen dar, während rote
Zellkerne auf Krebszellen hinweisen

sehr niedrige Barrieren und ermöglichen mehrere Arten von Zellzustandsüber-


gängen (Abb. 6.5, rechts). Beispielsweise tragen Abweichungen von der Norm zur
Tumorentstehung bei (Abschn. 6.4 und 8.4).
Änderungen in der Zellidentität spiegeln sich durch eine geänderte Verwendung
der Enhancer- und Promotorregionen wider. Viele der regulatorischen Regionen,
die in der frühen Embryogenese aktiv sind, verlieren ihre Aktivität während der
fortschreitenden Differenzierung. Das wird durch die Aktivität von TSS-Regionen
und bereiten Enhancern kompensiert, von denen einige zu Super-Enhancern
werden. Änderungen bei der Verwendung von Enhancern erfordern eine
Chromatintopologie, die es einem neuen Satz von Enhancern ermöglicht, mit ihren
Zielpromotoren zu interagieren. Parallel dazu werden Heterochromatinherde in
6.4 Entwicklung und Krankheit 81

differenzierten Zellen stärker und sind häufiger verdichtet als in undifferenzierten


Zellen. Während H3K27me3-Markierungen in ES-Zellen nur fokale Verteilungen
von Heterochromatin zeigen, dehnen sie sich in differenzierten Zellen weitgehend
über abgeschaltete Gene und Intergenregionen aus. Das führt zum Abschalten von
Pluripotenzgenen, der Aktivierung von abstammungsspezifischen Genen und der
Unterdrückung von Genen, die nicht für die Abstammungslinie benötigt werden.
Auf der mechanistischen Ebene (Abb. 6.5, oben) lassen sich die Szenarien von
normalem, restriktivem und durchlässigem Chromatin am Beispiel der Wirkungen
einer KMT wie EZH2 (enhancer of zeste homolog 2, auch KMT6A genannt) auf
unterdrückende H3K27me3-Markierungen und einer KMT wie KMT2A zum
Aktivieren von H3K4me3-Markierungen beschreiben. EZH2 ist der katalytische
Kern des unterdrückenden PRC2-Komplexes und KMT2A gehört zur Familie
der Trithorax-Gruppe. Beide Komplexe sind Antagonisten bei der Hämatopoese
(Abschn. 11.1). In normalen Zellen sind sowohl KMTs als auch ihre Histon-
markierungen im Gleichgewicht, was zu balanciertem, fakultativem Hetero-
chromatin in TSS-Regionen führt (Abschn. 5.2). Das bedeutet, dass die jeweiligen
Zielgene nur als Antwort auf entsprechende Stimuli transkribiert werden. In
reprimierten Zellen kann EZH2 eine Funktionsgewinn-(gain of function-)epi-
mutation aufweisen, wie sie häufig bei mehreren Formen von Lymphomen
beobachtet wird. Das führt zu weitaus höheren Spiegeln an unterdrückenden
H3K27me3-Markierungen, stabilem Heterochromatin und Inhibition der
Gentranskription. In diesem Zustand werden Zellen in ihrer Differenzierung
blockiert und mit hoher Proliferationsrate weiter wachsen. Im Gegensatz dazu
hemmt in durchlässigen Zellen die Demethylase KDM6A die Wirkung von
EZH2 und entfernt H3K27me3-Markierungen. Unter Stressbedingungen werden
KDMs oft hochreguliert. Das führt im Endeffekt zur Dominanz von H3K4me3-
Markierungen und zur Aktivierung der Genexpression, z. B. von Onkogenen,
auch ohne spezifische Stimuli. Im Zellübergangsdiagramm (Abb. 6.5, unten)
ist die Barriere zwischen den Zellzuständen bei normalen Zellen mittelhoch, bei
reprimierten Zellen sehr hoch oder bei durchlässigen Zellen niedrig.

6.4 Entwicklung und Krankheit

In der Gewebehomöostase erwachsener Menschen ersetzen residente Stamm-


zellen bei Bedarf beschädigte oder sterbende Zellen. Beispielsweise ist die Epi-
dermis sowohl in Homöostase als auch nach Verletzungen stark von der Funktion
von Stammzellen abhängig. In der Epidermis befinden sich Stammzellen
ausschließlich in der Basalschicht und die Zellen proliferieren nur dort. Die Basal-
schicht füllt das gesamte Gewebe kontinuierlich mit frischen Zellen auf, die durch
die verschiedenen Schichten der Epidermis wandern und sich dabei differenzieren.
Während des Prozesses der epidermalen Differenzierung ändert sich der
Zustand des Chromatins dynamisch. Genomweite Spiegel von H3K27me3-
Markierungen nehmen während der Differenzierung ab, insbesondere in TSS-
82 6 Embryogenese und Zelldifferenzierung

Regionen epidermaler Differenzierungsgene. Das geht mit einer verringerten


Bindung von PRC2 und einer erhöhten Bindung der H3K27me3-Demethylase
KDM6B einher. Darüber hinaus ist bei der epidermalen Differenzierung der
Histonacetylierungsgrad genomweit verringert und terminal differenzierte Haut-
zellen zeigen eine höhere Expression von HDAC1 und HDAC2. Schließlich
nehmen auch die genomweiten DNA-Methylierungsgrade während der epi-
dermalen Differenzierung ab.
Veränderungen in der Selbsterneuerung adulter Stammzellen können ent-
weder zu vorzeitiger Alterung führen (Abschn. 7.3), wenn sie beeinträchtigt ist,
oder zu einer Prädisposition für maligne Transformation, wenn sie verstärkt ist
(Abschn. 8.2). Während der epigenetischen und zellulären Umprogrammierung
wie auch im Prozess der Tumorentstehung treten ähnliche genomweite Ver-
änderungen in der Chromatinstruktur und DNA-Methylierung auf. Im
Vergleich zu terminal differenzierten Zellen weisen sowohl iPS- als auch Krebs-
zellen eine reduzierte H3K9-Methylierung sowie eine abweichende Hyper-
oder Hypomethylierung ihrer DNA auf. Beispielsweise können verringerte
Methylierungsgrade, etwa als Ergebnis einer niedrigen DNMT1-Expression,
T-Zell-Lymphome verursachen, aber auch die Bildung von iPS-Zellen fördern. In
ähnlicher Weise werden DNMT3A-Mutationen bei Leukämie gefunden und die
Herunterregulierung des DNMT3A-Gens erleichtert die Bildung von iPS-Zellen.
Die Interpretation zellulärer Umprogrammierung und Transformation als
biochemische Reaktionen verdeutlicht, dass beide Prozesse eine vergleich-
bare epigenetische Barriere überwinden müssen, welche die Ausgangszellen
stabilisiert (Abb. 6.5, unten). Beide „Reaktionen“ beruhen auf mehrstufigen
Prozessen, die von der Proliferation über die Veränderung der Zellidenti-
tät bis hin zur Bildung unsterblicher Zellen mit tumorigenem Potenzial führen.
Darüber hinaus bilden adulte Stammzellen oder Vorläuferzellen im Vergleich zu
terminal differenzierten Zellen viel wahrscheinlicher entweder iPS-Zellen oder
Tumorzellen. Das bedeutet, dass das Epigenom von Stamm- und Vorläufer-
zellen empfindlicher auf zelluläre Umprogrammierung und Tumorent-
stehung reagiert. Darüber hinaus induzieren pluripotente Transkriptionsfaktoren
einen metabolischen Schalter, um ATP eher durch Glykolyse als durch
oxidative Phosphorylierung zu erzeugen. Für Krebszellen ist das als Warburg-
Effekt bekannt. iPS-Zellen behalten jedoch das normale, intakte, diploide Genom
der Ausgangszellen bei, während Krebszellen Mutationen anhäufen und häufig
Aneuploidie bekommen, d. h., sie haben eine abnormale Anzahl von Chromo-
somen.
Es wurde festgestellt, dass alle vier kanonischen Pluripotenztranskriptions-
faktoren (OCT4, SOX2, KLF4 und MYC) bei Krebs amplifiziert oder mutiert
sind. Ihre Gene gehören also zu den rund 500 Krebsgenen (Abschn. 8.2). In
ähnlicher Weise werden Chromatinmodifikatoren wie KDM2B, welche die
zelluläre Umprogrammierung unterstützen, mit der Tumorentstehung, z. B. bei
Leukämie und Bauchspeicheldrüsenkrebs, in Verbindung gebracht. Im Gegensatz
dazu erzeugt die Expression von Histonvarianten wie MakroH2A eine Barriere
Weiterführende Literatur 83

sowohl für die Bildung von iPS-Zellen als auch für die maligne Progression von
Melanomzellen.
Zusammengenommen sind die molekularen Merkmale der Epigenetik wie
Histonmodifikationen und DNA-Methylierung wichtig für die Identität normaler,
ausdifferenzierter Zellen. Die meisten dieser epigenetischen Merkmale sind jedoch
reversibel, z. B. durch die Anwendung von Inhibitoren chromatinmodifizierender
Enzyme (Abschn. 12.3). Somit dient dieser epigenetische Prozess als Grund-
lage für die Therapie von Krebs wie auch von neurologischen, metabolischen
und immunologischen Erkrankungen.

Weiterführende Literatur
Hekselman, I., and Yeger-Lotem, E. (2020). Mechanisms of tissue and cell-type specificity in
heritable traits and diseases. Nat Rev Genet 21, 137–150.
Li, M. and Belmonte, J.C. (2017). Ground rules of the pluripotency gene regulatory network. Nat
Rev Genet 18, 180–191.
Yadav, T., Quivy, J.P., and Almouzni, G. (2018). Chromatin plasticity: a versatile landscape that
underlies cell fate and identity. Science 361, 1332–1336.
Bevölkerungsepigenetik und
Altern 7

Zusammenfassung

Das Epigenom hat sowohl in somatischen Zellen als auch in Keimzellen eine
Gedächtnisfunktion. Letzteres ist die Grundlage für die transgenerationale epi-
genetische Vererbung. Verschiedene Typen von Kohorten ermöglichen es, die
Auswirkungen von Epigenetik auf Bevölkerungsebene zu untersuchen. Die
fortschreitende Abnahme der Funktion von Zellen, Geweben und Organen im
Zusammenhang mit dem Altern wird sowohl von genetischen als auch von
epigenetischen Faktoren beeinflusst. Das bedeutet, dass es charakteristische
epigenomweite Veränderungen während des Alterns gibt, die über Jahre und
Jahrzehnte hinweg als epigenetische Uhren wirken. Im Gegensatz dazu
koordinieren epigenetische circadiane Uhren im Gehirn sowie in peripheren
Geweben jeden Tag eine Vielzahl physiologischer Funktionen.

Schlüsselwörter
Epigenetisches Gedächtnis · Epigenetische Drift · Transgenerationale
epigenetische Vererbung · Alterung · Epigenetische Uhr · Circadiane Uhr

7.1 Transgenerationale epigenetische Vererbung

Das Epigenom ist in der Lage, die Ergebnisse zellulärer Störungen durch
Umweltfaktoren in Form von Änderungen in den DNA-Methylierungen,
den Histonmodifikationen und der 3D-Organisation des Chromatins zu
bewahren. Das Epigenom hat also Gedächtnisfunktionen. Veränderungen
in epigenomweiten Mustern, z. B. DNA-Methylierungskarten, werden als epi-
genetische Drifts bezeichnet. Sie beschreiben in erster Linie die lebenslange
Informationsaufnahme („Erfahrung“) von somatischen Zelltypen und Geweben,
können aber auch an Tochterzellen vererbt werden, wenn sich die Zellen

© Springer Nature Switzerland AG 2023 85


C. Carlberg und F. Molnár, Epigenetik des Menschen,
https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0_7
86 7 Bevölkerungsepigenetik und Altern

v­ermehren. Bei Keimzellen können epigenetische Drifts zumindest teilweise


sogar auf die nächste Generation übertragen werden. Das führt zu dem Konzept
der transgenerationalen epigenetischen Vererbung, das darauf hindeutet, dass der
Lebensstil der Eltern- und Großelterngeneration, wie etwa die täglichen Gewohn-
heiten in der Ernährung oder körperlichen Aktivität, ihre Nachkommen beein-
flussen kann (Abschn. 12.1).
Das Paradebeispiel für das Konzept der transgenerationalen epigenetischen Ver-
erbung ist das Agouti-Maus-Modell. Diese transgene Maus trägt das Retrotrans-
poson IAP (intrazisternales A-Partikel) innerhalb der regulatorischen Region des
Asip-(Agouti-Signalprotein-)Gens (Abb. 7.1). Dadurch entsteht ein dominantes
Allel des Asip-Gens (genannt Avy), dessen Expression vom Methylierungsgrad
von IAP abhängt, d. h. von seinem epigenetischen Status. Da die Methylierung
des IAP-Retrotransposons stochastisch erfolgt, verhält sich Avy wie ein meta-
stabiles Epiallel, d. h. eine Region im Genom, die aufgrund einer Variation in der
epigenetischen Regulation in verschiedenen Individuen unterschiedlich exprimiert
wird. Das Asip-Gen codiert ein parakrines Signalmolekül, das Haarfollikelmelano-
zyten dazu anregt, gelbe Phäomelaninpigmente anstelle von schwarzen oder
braunen Eumelaninpigmenten zu synthetisieren. Darüber hinaus ist das ASIP-
Protein an der neuronalen Koordination des Appetits beteiligt, was dazu führt, dass
Avy-Mäuse mit gelbem Fell fettleibig und hyperinsulinämisch werden. Hetero-
zygote Avy/a-Mäuse variieren in ihrer Fellfarbe von gelb über gesprenkelt bis hin
zu dunkler Wildtypfellfarbe. Wenn das IAP-Retrotransposon methyliert ist, wird
die Synthese des gelben Pigments herunterreguliert und es erscheint eine dunkle
Fellfarbe. Im Gegensatz dazu ermöglicht nichtmethyliertes IAP die allgegen-
wärtige Expression des Asip-Gens, was sowohl zu gelber Fellfarbe als auch zu
Fettleibigkeit führt. Wenn Avy/a-Mäuse das Avy-Allel mütterlich erben, korrelieren
Asip-Gen-Expression und Fellfarbe mit dem mütterlichen Phänotyp. Interessanter-
weise weist der gesprenkelte Phänotyp darauf hin, dass die IAP-Methylierung
mosaikartig ist, d. h., das Asip-Gen wird nicht in allen Zellen exprimiert. Das
Methylierungsmuster des IAP-Retrotransposons scheint früh in der Entwicklung
etabliert zu werden und die Fellfarbe erlaubt ein einfaches phänotypisches Ablesen
des epigenetischen Status von IAP während des gesamten Lebens der Maus.
Das macht die Avy-Asip-Maus zu einem idealen in vivo-Modell für die Unter-
suchung eines mechanistischen Zusammenhangs zwischen Umwelteinflüssen wie
die Ernährung und epigenetischen Zuständen des Genoms.
Das Agouti-Maus-Modell wurde für das folgende Experiment verwendet:
Zwei Wochen vor der Paarung mit männlichen Avy/a-Mäusen wurden weib-
liche Wildtyp-a/a-Mäuse entweder mit oder ohne Methylgruppendonoren wie
Folat, Vitamin B12 und Betain supplementiert (Abb. 7.1, Kasten 10.1). Die
Supplementierung wurde während der Schwangerschaft und Stillzeit fort-
gesetzt. Während die F1-Generation nichtsupplementierter Mütter die erwartete
Anzahl gelber Farbphänotypen aufwies, veränderten sich die Nachkommen von
ergänzten Müttern in Richtung eines braunen Fellfarbenphänotyps. Das deutet
darauf hin, dass die mütterliche Methyldonorsupplementierung zu einer erhöhten
Avy-Methylierung bei den Nachkommen führt. Darüber hinaus bedeutet es, dass
7.1 Transgenerationale epigenetische Vererbung 87

A Nicht während
Schwangerschaft supplementiert Während Schwangerschaft supplementiert

Eltern

a/a Avy/a a/a Avy/a

Nachkommen

C
me me me me

Asip Asip
IAP IAP

Abb. 7.1  Mütterliche Nahrungsergänzung beeinflusst den Phänotyp und das Epigenom von Avy/
a-Nachkommen. Die Nahrung weiblicher Wildtyp-a/a-Mäuse wird entweder nicht supplementiert
(links) oder es werden für zwei Wochen vor der Paarung mit männlichen Avy/a-Mäusen, wie auch
während der Trächtigkeit und der Stillzeit Methyldonoren wie Folsäure, Cholin, Vitamin B12 und
Betain verabreicht (rechts) (A). Die Fellfarbe von Nachkommen, die von nichtsupplementierten
Müttern geboren werden, ist überwiegend gelb, während sie bei Nachkommen von Müttern,
die mit Methyldonoren supplementiert wurden, hauptsächlich braun ist (B) . Etwa die Hälfte
der Nachkommen enthält kein Avy-Allel und ist daher schwarz (a/a, hier nicht gezeigt).
Molekulare Erklärung der DNA-Methylierung und der Expression des Asip-Gens: Die mütter-
liche Hypermethylierung nach Nahrungsergänzung verschiebt die durchschnittliche Fellfarben-
verteilung der Nachkommen zu braun, indem das IAP-Retrotransposon stromaufwärts des Asip-
Gens im Durchschnitt stärker methyliert ist als bei den Nachkommen von Müttern, die eine nicht
ergänzte Diät erhalten haben (C). Weiße Kreise zeigen nichtmethylierte CpGs und gelbe Kreise
sind methylierte CpGs

eine umweltbedingte epigenetische Drift der Mütter an ihre Kinder ver-


erbt wurde. Die Vererbung einer epigenetischen Programmierung an die nächste
Generation weist darauf hin, dass zumindest metastabile Epiallele wie IAP in der
Lage sind, der globalen Demethylierung des Genoms vor der Präimplantation zu
widerstehen (Abschn. 6.1).
Interessanterweise sind ihre Nachkommen über mehrere Generationen
hinweg vor Fettleibigkeit und Diabetes geschützt, wenn Avy-Mäuse mit einer
88 7 Bevölkerungsepigenetik und Altern

Soja-Polyphenol-Diät gefüttert werden, die Veränderungen in ihren DNA-


Methylierungsmustern verursacht. In einem anderen Mausmodell führt mütter-
liche Unterernährung bei männlichen und weiblichen F1-Nachkommen zu
niedrigem Geburtsgewicht und Glucoseintoleranz. Die Exposition gegenüber
suboptimaler Ernährung während der fötalen Entwicklung in utero führt zu Ver-
änderungen im DNA-Methylom von Keimzellen männlicher Nachkommen, selbst
wenn diese Männchen nach dem Absetzen normal ernährt wurden. Diese phäno-
typischen Unterschiede werden über die väterliche Linie an die F2-Nachkommen
weitergegeben. Es wurde festgestellt, dass mehr als 100 Regionen im Genom von
F1-Spermien mütterlich unterernährter männlicher Nachkommen im Vergleich
zu Kontrollen hypomethyliert waren. Das weist darauf hin, dass die genomische
DNA in Urkeimzellen von Föten mit eingeschränkter Ernährung nicht voll-
ständig methyliert ist. Zusammengenommen weisen die verschiedenen Nage-
tiermodelle darauf hin, dass das epigenetische Gedächtnis von einer Generation
zur nächsten weitergegeben werden kann, indem die gleiche Indexierung von
Chromatinmarkierungen vererbt wird. Von den verschiedenen Arten von
Chromatinmarkierungen scheint die DNA-Methylierung insbesondere auf
ein langfristiges epigenetisches Gedächtnis ausgelegt zu sein, während kurz-
fristige, „alltägliche“ Reaktionen des Epigenoms hauptsächlich durch nicht-
vererbte Veränderungen des Acetylierungsgrads von Histonen vermittelt
werden. Histonmethylierungsgrade liegen zwischen beiden Extremen.
Die Mausmodelle werfen die Frage auf, ob das Konzept eines epigenetischen
Gedächtnisses und der Vererbung auch für den Menschen gültig ist. Es gibt keine
vergleichbaren, natürlichen Mutanten beim Menschen und aus ethischen Gründen
sind embryonale Versuche nicht denkbar. Es gibt jedoch natürliche „Experimente“,
wie den Hungerwinter in den Niederlanden, bei dem Föten in utero einer extremen
Unterernährung ihrer Mütter ausgesetzt waren, die im Winter 1944/45 auftrat. Die
fötale Mangelernährung führte zu einer Beeinträchtigung des fötalen Wachstums.
Ein niedriges Geburtsgewicht begünstigt den sparsamen Phänotyp, der epi-
genetisch darauf programmiert ist, Nahrungsenergie effizient zu nutzen, d. h. im
Erwachsenenalter auf eine ressourcenarme Zukunft vorbereitet zu sein. Selbst
viele Jahrzehnte nach der Geburt zeigten die in utero unterernährten Individuen
subtile (<10 %) Veränderungen in der DNA-Methylierung an mehreren Genorten,
z. B. an der regulatorischen Region des geprägten Gens IGF2 (Abschn. 3.3).
Dieses epigenetische Muster ist mit einem erhöhten Risiko für Fettleibigkeit,
Dyslipidämie und Insulinresistenz verbunden, wenn die entsprechenden Personen
einer adipogenen Umgebung ausgesetzt sind. Dementsprechend scheint es beim
Menschen denselben Zusammenhang zwischen pränataler Ernährung und
epigenetischen Veränderungen zu geben, wie er für Nagetiere beschrieben
wurde. In ähnlicher Weise trug die Hungersnot von 1959–61 in China maßgeblich
zur überproportionalen Zunahme von T2D im Land bei. Diese Beispiele führten
zum „Konzept der Entwicklungsursprünge von Gesundheit und Krankheit“
(DOHaD), das darauf hinweist, dass frühe Entwicklungsereignisse wie beispiels-
weise Störungen des Ernährungszustands in der Gebärmutter signifikante Aus-
wirkungen auf das Erkrankungsrisiko im Erwachsenenalter haben. So können
7.2 Populationsepigenetik 89

Umweltbelastungen des Menschen, insbesondere im frühen Lebensalter, als


epigenetisches Gedächtnis gespeichert werden.
Interessanterweise korreliert die Menge an braunem Fettgewebe, die wir in
unserem Körper tragen und für die Thermogenese verwenden, mit dem Monat,
in dem wir gezeugt wurden. Menschen, die in kalten Monaten gezeugt wurden,
weisen signifikante Unterschiede in der Menge an braunem Fett auf im Vergleich
zu diejenigen, die in warmen Monaten oder in einer warmen Umgebung gezeugt
wurden. Ein analoges Mausexperiment bestätigte die Beobachtung bei Nagetieren
und zeigte, dass nur die Kälteexposition der Väter vor der Empfängnis die Menge
an braunem Fettgewebe bei den Nachkommen beeinflusst.

7.2 Populationsepigenetik

Das Feld der epigenetischen Epidemiologie, also der Erforschung der Epi-
genetik in Populationen, kombiniert epigenomweite Methoden (Abschn. 2.5) mit
populationsbasierten epidemiologischen Ansätzen. Epigenetische Veränderungen
können zu jedem Zeitpunkt des Lebens auftreten, obwohl eine erhöhte Empfind-
lichkeit während der frühen Embryogenese besteht (Abschn. 6.1, Abb. 7.2). Unser
Epigenom verändert sich hauptsächlich aufgrund von Umwelteinflüssen, aber auch
aufgrund stochastischer epigenetischer Drifts, die mit dem Altern einhergehen
(Abschn. 7.3). Die epigenetische Epidemiologie untersucht verschiedene Typen
von Kohorten mit dem Ziel, sowohl die Ursachen als auch die phänotypischen

Pränatal Postnatal Kumulative


Veränderung
der Umgebung
Epigenomweite Variationen

Kumulative
stochastische
Veränderungen

Zeitliche Abfolge epigenetischer Veränderungen

Abb. 7.2  Epigenetische Variation in Populationen. Epigenetische Veränderungen können zu


jedem Zeitpunkt des Lebens auftreten, jedoch besteht eine deutlich erhöhte Sensitivität während
der frühen vorgeburtlichen Entwicklung
90 7 Bevölkerungsepigenetik und Altern

Folgen epigenomweiter Variationen zu identifizieren. Das sind Kohorten natür-


licher Experimente, z. B. dem Hungerwinter in den Niederlanden, Längsschnitt-
geburtskohorten, Längsschnittstudien an eineiigen Zwillingskohorten, pränatale
Kohorten und in vitro-Fertilisierungskohorten.
Familienstudien sind gut geeignet, um bei den Nachkommen epigenetische
Veränderungen zu untersuchen, die möglicherweise auf Umweltbelastungen
der Eltern während der Gametogenese beruhen. Geburtskohorten und in vitro-
Fertilisationskohorten verfolgen das Leben bereits ab der Empfängnis und
ermöglichen die Untersuchung epigenetischer Veränderungen auf der Grund-
lage der pränatalen Umgebung und ihrer Assoziation mit Erkrankungsphäno-
typen im frühen Leben. Kohorten, die auf natürlichen Experimenten basieren,
d. h., die Exposition gegenüber drastischen Umweltbedingungen stand nicht unter
experimenteller Kontrolle, ermöglichen die Untersuchung des Zusammenhangs
einer Umweltexpositionen im frühen Leben mit dem Auftreten von Erkrankungs-
phänotypen Jahrzehnte später. Prospektive Kohorten, insbesondere solche mit ein-
eiigen Zwillingen mit identischem Genom, Eltern, Geburtsdatum und Geschlecht,
untersuchen im Längsschnitt den Beitrag altersbedingter epigenetischer Ver-
änderungen bei häufigen Krankheiten wie T2D, Autoimmunerkrankungen,
Krebs, Alzheimer und Autismus-Spektrum-Störungen. Interessanterweise zeigten
Zwillingsstudien, dass epigenetische Variationen über die Lebensspanne signi-
fikant zunehmen. Kurzfristige Interventionen wie Ernährungsstudien können
spezifische Umweltbelastungen identifizieren, die zu gewebespezifischen epi-
genetischen Veränderungen führen. Schließlich hilft die Nachsorge von Familien
mit langlebigen Mitgliedern, den Einfluss der Epigenetik auf gesundes Altern zu
identifizieren (Abschn. 7.3).
Epigenetische Drifts wie die Hypermethylierung von CpG-Inseln in der Nähe
der regulatorischen Regionen von Tumorsuppressorgenen tragen zum Risiko
für Krebs (Abschn. 8.1) und andere Erkrankungen bei (Abb. 7.3). Insbesondere
das Risiko für Krankheiten, die mit der Exposition gegenüber Umweltfaktoren
zusammenhängen, wie Mikroben, die Entzündungen verursachen (Abschn. 11.2),
oder übermäßiges Essen, das zu Fettleibigkeit und T2D führt (Abschn. 10.4), hat
einen großen epigenetischen Beitrag. Von besonderem Interesse sind Krankheiten,
die ihren Beginn lange vor der Entstehung des Phänotyps haben, d. h. bei denen
Häufungen von epigenetischen Veränderungen die Krankheitsanfälligkeit schritt-
weise erhöhen.
Epigenetische Informationen können auch über die Keimbahn an die nächste
Generation weitergegeben werden. Obwohl etwa 95 % der DNA-Methylierungs-
marker während der beiden Demethylierungswellen bei der Entwicklung von
Urkeimzellen (Abschn. 6.1) gelöscht werden, entkommen einige Regionen des
Genoms beiden Wellen und bleiben in den Gameten methyliert. Falls das DNA-
Methylierungsmuster in diesen Regionen anfällig für Umwelteinflüsse wie
Nahrungsmoleküle ist, können die Lebensstilentscheidungen eines Individuums
auf nachfolgende Generationen übertragen werden und zu phänotypischen
Konsequenzen führen.
7.3 Epigenetik des Alterns 91

Keimzelle
Umprogrammiertes
Epigenom Altern
Epigenetische Drift,
verändertes Transkriptom
Erkrankung

Intrauterines Wachstum Umprogrammiertes


Erschaffung einer
Erwachsenenleben
Ernährung Epigenetische Drift, Epigenom
epigenetischen Landschaft,
Stoffwechsel erworbene epi- Vererbte epigenetische
Kontrolle von Entwicklung
Umwelt genetische Läsionen Läsionen
und Differenzierung
Krankheit

Wachstumsphase
Epigenetische Drift,
Vererbung von
homöostatische
Erkrankungsrisiko
Transkriptionskontrolle

Abb. 7.3  Epigenetische Drifts und transgenerationale Vererbung. Während der Embryogenese


werden epigenetische Markierungen wie DNA-Methylierung und Histonmodifikationen etabliert,
um die Bindung an die Abstammungslinie aufrechtzuerhalten (Abschn. 6.1). Nach der Geburt
bleibt diese epigenetische Landschaft während der gesamten Lebensspanne dynamisch und
reagiert auf Ernährungs-, Stoffwechsel-, Umwelt- und schädliche Signale. Epigenetische Drifts
sind Teil homöostatischer Anpassungen und sollten das Individuum bei guter Gesundheit halten.
Wenn jedoch eine ungünstige epigenetische Drift die Fähigkeit von Stoffwechselorganen beein-
trächtigt, angemessen auf Herausforderungen durch Ernährung und chronische Entzündungen zu
reagieren, steigt die Anfälligkeit für Erkrankungen wie T2D oder Krebs (Abschn. 12.1). Einige
dieser erworbenen epigenetischen Markierungen können an nachfolgende Generationen vererbt
werden, wenn sie der epigenetischen Neuprogrammierung während der Gametogenese entgehen

7.3 Epigenetik des Alterns

Die Lebensspanne des Menschen setzt sich aus einer Phase des Wachstums und
der Differenzierung, die in die Geschlechtsreife, d. h. in eine Phase maximaler
Fitness und Fruchtbarkeit, mündet, und einer Phase des Alterns, die mit einem
Funktionsverlust (loss of function) auf der Ebene von Zellen, Geweben und des
Organismus als Ganzes einhergeht. Aufgrund der relativ langen Zeit bis zur
Geschlechtsreife (12–15 Jahre) und etwa 15–20 Jahren, die für Kinderbetreuung
notwendig sind, haben wir uns evolutionär so entwickelt, dass wir für etwa
45 Jahre im Wesentlichen frei von nichtübertragbaren Krankheiten wie Krebs
sind. Somit haben wir eine Art Garantie der Natur, mindestens etwa 45 Jahre alt
zu werden, um das Überleben unserer Nachkommen zu gewährleisten. Die ver-
bleibenden 75 Jahre bis zu unserer maximalen Lebensspanne von 120 Jahren
sind eine Art Sicherheitsmarge. Diese letzte Phase des Lebens steht jedoch nicht
unter evolutionärer Kontrolle und ist daher mit einer Vielzahl von Krankheiten wie
92 7 Bevölkerungsepigenetik und Altern

Stoffwechselstörungen, kardiovaskulären und neurodegenerativen Erkrankungen


und Krebs verbunden.
Die Gesundheitsspanne ist die Dauer der krankheitsfreien physiologischen
Gesundheit innerhalb der Lebensspanne eines Individuums. Das ist die Zeit
hoher kognitiver Fähigkeiten, Immunkompetenz und körperlicher Höchstform.
Damit jeder von uns eine möglichst lange Gesundheitsspanne erleben kann, ist es
wichtig, die Veränderungen zu verstehen, die während des Alterns auftreten, d. h.,
die Kennzeichen (hallmarks) des Alterns und die Regulatoren der Lebens-
und Gesundheitsspanne zu identifizieren.
Die persönliche Alterungsrate eines jeden Einzelnen von uns hängt vom
Geschlecht (Frauen leben tendenziell länger als Männer), von Lebensstilent-
scheidungen wie Rauchen oder körperliche Inaktivität und von vielen Umwelt-
faktoren ab. Langlebigkeit hat eine genetische Grundlage, aber der nichtgenetische
Beitrag zum Altern wird auf mehr als 70 % geschätzt (Abschn. 12.1). Beispiels-
weise reagieren einige molekulare Biomarker des Alterns wie die Telomerlänge oder
die Expression von Genen in Stoffwechsel- und DNA-Reparaturwegen empfind-
lich auf Umweltstress. Darüber hinaus deuten verschiedene Tiermodelle des Alterns
darauf hin, dass eine verringerte Nahrungsaufnahme, ein niedriger Grundumsatz,
erhöhte Stressreaktion und eine reduzierte Fruchtbarkeit eine wichtige Rolle bei
der Bestimmung der individuellen Lebenserwartung spielen (Abschn. 10.2). Die
molekulare Grundlage aller nichtgenetischen Faktoren des Alterns sind zelluläre
Störungen, die Signalübertragungswege modulieren und so das Epigenom beein-
flussen. Das bedeutet, dass epigenetische Veränderungen wesentlich zum
Alterungsprozess beitragen. So führen nicht nur Erkrankungen, sondern auch
das Altern zu epigenetischen Drifts. Veränderungen im Epigenom können auch
spontan (d. h. stochastisch) ohne eine zelluläre Störung auftreten. Dennoch wird
die Wahrscheinlichkeit für stochastische Veränderungen des Epigenoms durch
Chemikalien erhöht, welche die DNA-Methylierung beeinflussen oder Fehler beim
Kopieren des Methylierungsstatus während der DNA-Replikation erzeugen. Bei-
spiele solcher Chemikalien sind Metalle wie Cadmium, Arsen und Quecksilber,
Peroxisomproliferatoren, Luftschadstoffe wie Ruß und Benzol sowie endokrine
Disruptoren wie Diethylstilbestrol, Bisphenol A und Dioxin.
Veränderungen des Epigenoms, insbesondere des DNA-Methyloms, stehen
im Zusammenhang mit dem chronologischen Alter eines Individuums, aber auch
mit altersbedingten Erkrankungen. Der DNA-Methylierungsstatus an einigen
Hundert wichtigen CpG-Inseln dient als Biomarker des Alterns und kann in leicht
zugänglichen Geweben und Zelltypen wie Haut oder PBMCs (mononukleäre
Zelle des peripheren Bluts) bestimmt werden. Der so ermittelte Epigenomzustand
wird dann mit dem biologischen Alter korreliert, d. h. mit dem Alter, in dem der
Bevölkerungsdurchschnitt dem Individuum am ähnlichsten ist. Die Erstellung
des DNA-Methylomprofils einer großen Kohorte von Personen, die einen breiten
Altersbereich repräsentieren, liefert eine gute Korrelation zwischen dem chrono-
logischen und dem biologischen Alter. In einem gegebenen chronologischen Alter,
z. B. 70 Jahre, hat das untersuchte Gewebe einiger Individuen ein weit „jüngeres“
7.3 Epigenetik des Alterns 93

Epigenom, während das anderer Personen bereits deutlich „älter“ ist als das des
Durchschnitts (Abb. 7.4). Dementsprechend kann erwartet werden, dass in letzt-
genannten Individuen altersbedingte Erkrankungen früher einsetzen und die
Personen früher sterben als die erstgenannten Individuen. Das wurde z. B. bei
Personen beobachtet, die an Syndromen vorzeitigen Alterns leiden. Im Gegensatz
dazu haben PBMCs der Nachkommen Superhundertjähriger, also Individuen, die
ein Alter von mindestens 105 Jahren erreicht haben, ein niedrigeres epigenetisches
Alter als das von gleichaltrigen Kontrollen. Somit dienen epigenomweite

“Älteres”
Epigenom Al om
m en
r
Biologisches Alter (Jahre)

te
he ig
isc Ep
og es
ol ich
on ttl
hr ni
i c sch
be rch
Du

“Jüngeres”
Epigenom

10 20
2 0 30 40 50 60 70 80 90 100
Chronologisches Alter (Jahre)

Abb. 7.4  Epigenetische Biomarker des Alters. Epigenomweite Muster überwachen nicht nur
zelluläre Identitäten, sondern auch Gesundheit und den Prozess des Alterns. Beispielsweise
dienen Änderungen im DNA-Methylierungsstatus von CpG-Inseln, wie sie in PBMCs von
Personen unterschiedlichen Alters gemessen werden, als Biomarker für das chronologische Alter.
Es gibt signifikante Abweichungen von der postulierten linearen Anpassung (diagonale Linie),
d. h., das Methylierungsmuster kann das biologische Alter darstellen
94 7 Bevölkerungsepigenetik und Altern

Signaturen als Biomarker des Alterns, anhand derer Moleküle und Therapien
untersucht werden können, die altersbedingte Krankheiten verzögern oder rück-
gängig machen.
Das biologische Alter eines bestimmten Gewebes, z. B. das der Leber einer
fettleibigen Person, kann signifikant höher sein als das anderer Gewebe, z. B.
von PBMCs oder die Muskeln derselben Person. Das auf DNA-Methylierung
basierende Alter eines Referenzgewebes wie PBMCs kann als epigenetische Uhr
betrachtet werden. Diese epigenetische Uhr erlaubt eine bessere Vorhersage für
Sterblichkeit als andere Biomarker des Alterns, z. B. die Telomerlänge. Epi-
genetische Uhren von Mäusen (durchschnittliche Lebensdauer etwa zwei Jahre)
ticken schneller als die des Menschen (durchschnittliche Lebenserwartung etwa
80 Jahre). Darüber hinaus ist ein quantitatives Modell des alternden Methyloms in
der Lage, relevante Faktoren des Alterns zu unterscheiden, z. B. das Geschlecht
und genetische Varianten.
Genomweite DNA-Instabilität ist ein Kennzeichen des Alterns, aber auch
der Tumorentstehung (Abschn. 8.1). Die Häufung von DNA-Mutationen oder
Aneuploidieen, wie sie während des Alterns auftreten, wirkt sich sowohl auf das
Transkriptom als auch auf das Epigenom aus. Während Zellen junger Individuen
ein robustes Transkriptom und normale Chromatinzustände aufweisen, wird das
Transkriptom mit zunehmendem Alter instabil und es häufen sich gleichzeitig
abnormale Chromatinzustände. Zum Beispiel stimuliert eine DNA-Schädigung
die Rekrutierung von Chromatinmodifikatoren, die abnorme Chromatinzustände
induzieren. Epigenomweite Veränderungen während des Alterns können wiederum
die Anfälligkeit des Genoms für Mutationen erhöhen und parallel dazu die
Genauigkeit der Transkription verringern. Darüber hinaus erhöhen Fehler bei der
DNA-Reparatur und das Versagen bei der korrekten Replikation des Genoms und
des Epigenoms nicht nur die Anzahl der DNA-Mutationen, sondern auch der Epi-
mutationen. Da sich die Überwachung des Genoms durch DNA-Reparatur und die
Remodellierung des Epigenoms gegenseitig beeinflussen, ist die umweltbedingte
Instabilität des Epigenoms ein wichtiger Treiber des Alterungsprozesses.
Neben Veränderungen in der DNA-Methylierung sind andere wichtige epi-
genetische Kennzeichen des Alterns:

• ein allgemeiner Verlust von Histonen aufgrund von lokaler und globaler
Chromatinremodellierung
• ein Ungleichgewicht von aktivierenden und unterdrückenden Histonmodi-
fikationen
• ortsspezifische Ab- oder Zunahme von Heterochromatin
• umfassende nukleäre Reorganisation
• globale Veränderungen im Transkriptom

Der allgemeine Verlust von Histonen in alternden Zellen ist eng mit der Zell-
teilung verbunden. Beispielsweise enthalten Kernbläschen von seneszenten
menschlichen Zellen eine große Anzahl von Histonen. Bei Seneszenz wird der
Zellzyklus angehalten, d. h., die Zellen können sich nicht mehr teilen. Seneszenz
7.4 Epigenetik der zirkadianen Uhr 95

entsteht als Reaktion auf Stress und ist mit altersbedingtem Gewebeabbau ver-
bunden. Die Zellen entwickeln dann seneszenzassoziierte Ansammlungen an
Heterochromatin. Das sind Regionen mit hoch kondensiertem Chromatin, die
entsprechende Histonmodifikationen, Heterochromatinproteine und die Histon-
variante MakroH2A aufweisen (Kasten 4.1). Das Epigenom seneszenter Zellen
zeigt eine Zunahme von H3K4me3- und H3K27me3-Markierungen innerhalb von
LADs und einen Verlust von H3K27me3-Markierungen außerhalb von LADs. Der
Verlust unterdrückender Histonmarkierungen und der Zugewinn aktivierender
Markierungen während des Alterns führt zu einer Veränderung der Genexpression,
bei der z. B. die DNA-Reparatur und die DNA-Replikation herunterreguliert
werden.
Konstitutives Heterochromatin an Telomeren, Centromeren und Pericentromeren
wird während der Embryogenese ausgebildet (Abschn. 6.1) und bleibt während der
gesamten Lebensspanne erhalten. Seneszente Zellen verlieren jedoch einige dieser
Regionen mit konstitutivem Heterochromatin, was zur Zunahme an Euchromatin
führt. Darüber hinaus führt ein Verlust der Kernlamina zum Zusammenbruch
der Organisation des Heterochromatins. Laminopathien wie die Expression
von Progerin, einem verkürzten, dominant-negativen Lamin-A-Protein, beim
Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom (HGPS) sind durch Veränderungen der
Organisation des Zellkerns gekennzeichnet. Zellen von HGPS-Patienten zeigen
Anomalien in der Kernmorphologie und in der DNA-Reparatur, eine veränderte
Chromosomenorganisation, erhöhte zelluläre Seneszenz und viele Veränderungen
in Heterochromatinproteinen, z. B. niedrige Spiegel von HP1, H3K9me3 und
H3K27me3 und erhöhte Spiegel von H4K20me3. Darüber hinaus verursacht der
Mangel im WRN-Gen (WRN für Werner-Syndrom RecQ-ähnliche Helikase) das
progeroide Werner-Syndrom und führt zu einem globalen Verlust der Chromatin-
verdichtung, verringerten H3K9me3- und H3K27me3-Spiegeln und einer erhöhten
Phosphorylierung der Histonvariante H2A.X an Centromeren.

7.4 Epigenetik der circadianen Uhr

Lichtempfindliche Spezies wie wir Menschen synchronisieren ihre täglichen Ver-


haltens- und physiologischen Rhythmen mit der Rotation der Erde um ihre eigene
Achse, d. h., sie zeigen circadiane Aktivitätszyklen (circadian bedeutet „ungefähr
einen Tag“) . Diese Rhythmen werden von der SCN-(Nukleus-suprachiasmaticus-)
Region des Hypothalamus erzeugt (Abb. 7.5A). Kernstück dieser molekularen
24-Stunden-Uhr sind Transkriptions-Translations-Rückkopplungsschleifen der
Transkriptionsfaktoren ARNTL (aryl hydrocarbon receptor nuclear translocator-
like, auch BMAL1 genannt) und CLOCK (clock circadian regulator) und deren
Korepressoren. Interessanterweise hat CLOCK auch HAT-Aktivität mit Spezi-
fität für H3K9 und H3K14, d. h., dieser zentrale circadiane Regulator ist ein
Chromatinmodifikator und stellt eine direkte Verbindung zwischen der
molekularen Uhr und der Epigenetik dar. Der ARNTL-CLOCK-Komplex
aktiviert auf circadiane Weise die Expression von Hunderten von Genen sowohl
96 7 Bevölkerungsepigenetik und Altern

A B
SCN

CL L
K
NT
OC
AR
E-Box PER1 PER1
CRY1

CL L
K
NT
OC
AR
12 E-Box CRY1

K
L
Tag/Nacht 9 3

OC
NT

CL L
K
AR

NT
CL

OC
6

AR
Zentrale Uhr
Hormone
E-Box RORA RORα
Metaboliten

CL L
K
NT
OC
AR
E-Box NR1D1 REV-ERBα

12

ARNTL
12 12 12 12 12

Periphere Uhren 9 3 9 3 9 3 9 3 9 3 9 3
RORE
6 6 6 6 6 6

Zyklische Genexpression Zielgen Zielgen Zielgen Zielgen Zielgen Zielgen

CLOCK
Zielgen
Zielgen

Periphere Organe

Abb. 7.5  Die circadiane Uhr des Menschen. Elektrische und humorale Signale vom SCN
im Gehirn synchronisieren circadiane Uhren in peripheren Organen, die dann zeitabhängige
Rhythmen in Genexpression, Stoffwechsel und anderen physiologischen Aktivitäten erzeugen
(A). In der Rückkopplungsschleife des molekularen circadianen Oszillators werden positive
Elemente wie die Transkriptionsfaktoren ARNTL, CLOCK und RORα grün und negative
Elemente wie PER1, CRY1 und REV-ERBα rot dargestellt (B). Die kombinierten Wirkungen
von Hunderten von ARNTL-CLOCK-Zielgenen erzeugen dann circadiane physiologische
Effekte

im Gehirn als auch in peripheren Geweben, darunter auch die Gene PER1 (Periode
circadiane Uhr 1) und CRY1 (Cryptochrom circadiane Uhr 1). Die Proteine PER1
und CRY bilden einen heterodimeren, komplexen Korepressorkomplex, der
ARNTL-CLOCK inaktiviert und eine negative Rückkopplungsschleife erzeugt
(Abb. 7.5B). Die Gene NR1D1 und RORA, welche die Kernrezeptoren REV-
ERBα und RORα codieren, sind weitere Ziele von ARNTL-CLOCK. REV-ERBα
reguliert die Expression des ARNTL-Gens negativ und RORα positiv, d. h.,
beide Transkriptionsfaktoren bilden zusätzliche Rückkopplungsschleifen in der
Steuerung der molekularen Uhr.
Die molekulare Uhr ist eine sich selbst erhaltende Aktivität auf der Basis
von circadianer Gentranskription. Sie kann jedoch durch Metaboliten moduliert
werden, insbesondere durch solche, die mit dem Energiefluss verbunden sind.
Beispielsweise verknüpft die Kinase AMPK (AMP-aktivierte Proteinkinase,
Abschn. 10.3) die Funktion der inneren Uhr mit dem Level an Nährstoffen.
AMPK phosphoryliert CRY1 und induziert damit den proteasomalen Abbau
des Proteins, wodurch ARNTL-CLOCK reaktiviert wird. Darüber hinaus wird
die zyklische Aktivität von ARNTL-CLOCK durch die Demethylase KDM5A
moduliert, die wiederum über ihre Kofaktoren Fe(II) und α‑Ketoglutarat mit
zellulären Redoxvorgängen verbunden ist. Eine bidirektionale Interaktion
7.4 Epigenetik der zirkadianen Uhr 97

zwischen circadianer und metabolischer Signalgebung ist die Inhibition von


ARNTL-CLOCK durch die NAD+-abhängige Deacetylase SIRT1. NAD+ fungiert
als Elektronentransporter in Oxidoreduktasereaktionen und wirkt auch als
Kofaktor bei Modifikationen der ADP-Ribosylierung (Abschn. 10.2). Das stellt
eine weitere Rückkopplungskontrolle der molekularen Uhr dar, da das kritische
Enzym der NAD+-Synthese vom NAMPT-Gen (NAMPT für Nicotinamidphosph
oribosyltransferase) codiert wird, welches direkt von ARNTL-CLOCK reguliert
wird. Somit verbindet die Epigenetik der molekularen Uhr die Wahrnehmung
des Energiestatus von Zellen mit circadianen Veränderungen in der Genex-
pression.
Die Epigenetik der circadianen Uhr koordiniert tägliche Verhaltenszyklen von
Schlafen/Wachen und Fasten/Essen mit anabolen und katabolen Prozessen in
der Peripherie. Dabei werden NAD+-Oszillation, Redoxfluss, ATP-Verfügbar-
keit und Mitochondrienfunktion genutzt, um Acetylierungs- und Methylierungs-
reaktionen von Chromatinmodifikatoren zu beeinflussen (Abschn. 10.2). Es
ist bekannt, dass eine verringerte Nahrungsaufnahme (calorie restriction) die
Lebensdauer vieler Modellorganismen wie Hefen, Würmer, Fliegen und sogar
Primaten verlängern kann. Genexpressionsänderungen im Zusammenhang mit
verringerter Nahrungsaufnahme fördern die globale Erhaltung der Genomintegri-
tät und Chromatinstruktur, z. B. die Aufrechterhaltung von Heterochromatin
(Abb. 7.6). Signalübertragungswege wie die von Insulin, dem Aminosäuresensor
TOR (Ziel von Rapamycin) und den durch NAD+-aktivierten SIRTs integrieren
und übersetzen metabolische Signale in Antworten des Chromatins. Auf diese
Weise informieren sie das Epigenom über die Nährstoffverfügbarkeit und haben
eine Schlüsselrolle bei der Bestimmung der Lebensdauer. Da künstliches Licht,
Schichtarbeit, Reisen über viele Zeitzonen und zeitliche Desorganisation die
Abstimmung zwischen dem äußeren Hell-Dunkel-Wechsel und ihrer inneren Uhr
stören, beeinträchtigen sie die Stoffwechselgesundheit. Epidemiologische und
klinische Studien deuteten auf einen Zusammenhang zwischen Schichtarbeit und
Krankheiten wie T2D, Magen-Darm-Erkrankungen und Krebs hin, die durch Ver-
änderungen des circadianen Rhythmus moduliert werden. Darüber hinaus wurde
die Gewohnheit, die Schlafenszeit am Wochenende zu verändern, der sogenannte
soziale Jetlag, mit einem erhöhten Körpergewicht in Verbindung gebracht.
Körperliche Aktivität fördert ein gesundes Altern, da sie kognitivem Ver-
fall vorbeugt und mit einer 30 %igen Verringerung der Gesamtmortalität ver-
bunden ist. Darüber hinaus induziert körperliche Aktivität Veränderungen im
Chromatin der Skelettmuskulatur, z. B. erhöhte H3K36ac-Spiegel und die
zelluläre Lokalisierung von HDAC4 und HDAC5. Somit hat körperliche Aktivi-
tät direkte Auswirkungen auf das Epigenom. Interessanterweise funktioniert
die Signalübertragung von Pheromonen über Chromatinmodifikatoren, d. h.,
Pheromone wirken auf das Epigenom (Abb. 7.6).
Die Serumspiegel von Sexualsteroidhormonen wie Östrogene bei Frauen und
Androgene bei Männern nehmen mit dem Alter ab. Östrogene reduzieren das
Risiko für altersbedingte Krankheiten wie Osteoporose, Sarkopenie (Muskel-
98 7 Bevölkerungsepigenetik und Altern

Überleben
Zeit

Umwelt- Effekte Effekte auf Lebens-


einflüsse auf Chromatin und Gesundheitsspanne
• Modulieren von
Ernährung • Chromatinmodifikatoren
(Ernährungs- • Heterochromatinüberprüfung
einschränkung) • Inhibition von Rekombination
• Nukleosomenpositionierung Zunahme

9
12

3
Circadiane Zyklen • Zirkadianes Epigenom
6

(regulär)
Zunahme

9
12

3
Circadiane Zyklen • Modulieren von
6
(gestört) Chromatinmodifikatoren
Abnahme

• Modulieren von
Bewegung Chromatinmodifikatoren
• Chromatinmodifikationen Zunahme

• Signalübertragung durch
Pheromone
Chromatinmodifikatoren
Zunahme

Steroidhormone • Chromatinstruktur
• Chromatinmodifikationen
Zunahme

Mechanistische Verbindung ?

Abb. 7.6   Auswirkungen von Umwelteinflüssen auf Langlebigkeit und Chromatin. Viele
Umweltsignale, die die Lebensdauer modulieren, wirken sich auch auf das Chromatin aus. Das
sind diätetische Einschränkungen, der circadiane Zyklus, körperliche Aktivität und Sexual-
steroidhormone. Weitere Einzelheiten sind im Text angegeben

schwäche), Herz-Kreislauf-Erkrankungen, verminderte Immunfunktion und


Neurodegeneration, während niedrigere Steroidhormonspiegel die Prävalenz
dieser Krankheiten erhöhen. Östrogene und Androgene wirken über ihre spezi-
fischen Kernrezeptoren – die Transkriptionsfaktoren Östrogenrezeptor α und β
bzw. Androgenrezeptor. Diese Transkriptionsfaktoren interagieren mit Chromatin-
modifikatoren und Chromatinremodellierern. Somit hat ihre Aktivierung wie
auch das Fehlen ihrer Aktivität einen direkten Einfluss auf das Chromatin an
den genomweiten Bindungsstellen dieser steroidabhängigen Transkriptions-
faktoren.
Weiterführende Literatur 99

Weiterführende Literatur
Fitz-James, M.H., and Cavalli, G. (2022). Molecular mechanisms of transgenerational epigenetic
inheritance. Nat Rev Genet 23, 325–341.
Horvath, S. and Raj, K. (2018). DNA methylation-based biomarkers and the epigenetic clock
theory of ageing. Nat Rev Genet 19, 371–384.
Kabacik, S., Lowe, D., Fransen, L., Leonard, M., Ang, S.-L., Whiteman, C., Corsi, S., Cohen, H.,
Felton, S., Bali, R., et al. (2022). The relationship between epigenetic age and the hallmarks
of aging in human cells. Nature Aging 2, 484–493.
McMahon, M., Forester, C., and Buffenstein, R. (2021). Aging through an epitranscriptomic lens.
Nature Aging 1, 335–346.
Radford, E.J. (2018). Exploring the extent and scope of epigenetic inheritance. Nat Rev
Endocrinol 14, 345–355.
Seale, K., Horvath, S., Teschendorff, A., Eynon, N., and Voisin, S. (2022). Making sense of the
ageing methylome. Nat Rev Genet 23, 585–605.
Sun, W., Dong, H., Becker, A.S., Dapito, D.H., Modica, S., Grandl, G., Opitz, L., Efthymiou, V.,
Straub, L.G., Sarker, G., et al. (2018). Cold-induced epigenetic programming of the sperm
enhances brown adipose tissue activity in the offspring. Nat Med 24, 1372–1383.
Zimmet, P., Shi, Z., El-Osta, A., and Ji, L. (2018). Epidemic T2DM, early development and
epigenetics: implications of the Chinese Famine. Nat Rev Endocrinol 14, 738–746.
Epigenetik von Krebs
8

Zusammenfassung

Im Vergleich zu normalen Zellen zeigen Krebszellen epigenetische Drifts.


Dabei handelt es sich um Epimutationen wie genomweite Veränderungen in
der DNA-Methylierung, Histonmodifikationen und der 3D-Chromatinstruktur.
Darüber hinaus reaktivieren viele Tumore Programme der fötalen Entwicklung,
d. h., Tumorentstehung ist mit epigenetischer Umprogrammierung ver-
bunden. Die mechanistischen Grundlagen der Krebsepigenetik sind spezifische
genetische, umweltbedingte und metabolische Stimuli, die das homöostatische
Gleichgewicht des Chromatins stören, sodass es entweder sehr restriktiv oder
durchlässig wird. Darum zielen viele Projekte in der Arzneimittelforschung
auf das Epigenom ab. Inhibitoren von Chromatinmodifikatoren werden
in klinischen Studien getestet und einige wurden bereits für die Therapie
zugelassen.

Schlüsselwörter
Epimutation · Epigenetische Umprogrammierung · Tumorentstehung ·
Merkmale von Krebs · Epigenetische Modifikatoren · Epigenetische
Mediatoren · Epigenetische Modulatoren · Epigenetische Therapie

8.1 Epimutationen bei Krebs

Jeder zweite von uns wird im Laufe seines Lebens mit der Diagnose Krebs
konfrontiert, also mit der Entdeckung eines bösartigen Tumors. Krebs
ist keine einheitliche Krankheit, sondern eine Sammlung von Hunderten ver-
schiedener Arten von Hyperplasien. Darüber hinaus steckt hinter jedem neu
diagnostizierten Tumor eine individuelle Vorgeschichte von etwa 10–20 Jahren
Tumorentstehung. Krebs wird typischerweise als eine Erkrankung des Genoms

© Springer Nature Switzerland AG 2023 101


C. Carlberg und F. Molnár, Epigenetik des Menschen,
https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0_8
102 8 Epigenetik von Krebs

angesehen, die durch die Anhäufung von DNA-Punktmutationen sowie Trans-


lokationen und Amplifikationen größerer Regionen im Genom verursacht wird.
Die Tumorentstehung geht jedoch auch mit Anomalien in der zellulären Identität,
unterschiedlicher Reaktionsfähigkeit auf innere und äußere Reize und großen Ver-
änderungen im Transkriptom einher, die alle auf Veränderungen des Epigenoms
beruhen. Tatsächlich tragen die meisten Krebsarten Mutationen sowohl in ihrem
Genom als auch in ihrem Epigenom. Beispielsweise haben Krebsgenomprojekte
wie TCGA (Abschn. 2.5) gezeigt, dass mehr als 50 % der Krebserkrankungen
Mutationen in wichtigen chromatinassoziierten Proteinen aufweisen. Es ist
wichtig zu erkennen, dass die epigenetische Signatur einer Zelle mehr
Variationen zulässt als ihr primärer genetischer Status. Die Fehlerrate bei der
Vererbung der DNA-Methylierung für ein gegebenes CpG beträgt pro Zellteilung
etwa 4 %, während die Mutationsrate des Genoms während der DNA-Replikation
deutlich geringer ist. Somit kann die epigenetische Variabilität in viel kürzerer
Zeit zu einer phänotypischen Selektion wie einem möglichen Auftreten von Krebs
führen, als Mutationen im Genom.
Die Tumorentstehung ist ein mehrstufiger Prozess, bei dem eine Vielzahl
molekularer Veränderungen zur Entstehung und Progression eines Tumors bei-
tragen. Wie bereits in Abschn. 3.4 und 6.4 kurz angesprochen wurde, können
fehlregulierte epigenetische Prozesse als Treiber für eine frühzeitige Störung der
zellulären Homöostase in präkanzerösen und kanzerösen Zellen fungieren. Eine
wichtige epigenetische Veränderung bei Krebs ist die Deregulierung von CpG-
Methylierungsmustern, d. h. des DNA-Methyloms (Abb. 3.5). Wie beim Altern
(Abschn. 7.3) korreliert die Tumorentstehung mit einer genomweiten DNA-
Hypomethylierung (Abb. 8.1, oben rechts), die über die Reaktivierung von pluri-
potenten Transkriptionsfaktoren (die als Onkogene wirken) und Retrotransposons
innerhalb repetitiver DNA zu Genominstabilität führt. Im Gegensatz dazu werden
CpG-Inseln an Promotorregionen von Tumorsuppressorgenen hypermethyliert
(Abb. 8.1, oben links), was zur Inaktivierung der entsprechenden Gene und ihrer
tumorprotektiven Funktion führt. Das ist ein Beispiel für eine epigenetische Drift
(Abschn. 7.1). Zum Beispiel schädigt das Abschalten des Tumorsuppressorgens
MLH1 (MutL-Homolog 1) durch DNA-Hypermethylierung, d. h. eine Epimutation,
den von MutL-gesteuerten DNA-Reparaturprozess und erhöht so das Risiko einer
Akkumulation von DNA-Mutationen im gesamten Genom. Auf diese Weise kann
eine Epimutation eine Vielzahl genetischer Veränderungen auslösen.
Epigenetische Mutationen in Genen, die Chromatinmodifikatoren codieren,
führen entweder zu Funktionsgewinn oder Funktionsverlust. Eine abnorme
Histonmethylierung kann durch Mutationen in Genen verursacht werden, die
KMTs und KDMs codieren, sodass die genomweite Methylierung von H3K27
und H3K36 reduziert wird (Abb. 8.1, Mitte). Beispiele sind Funktionsgewinn und
Überexpression von EZH2 (einer H3K27-spezifischen KMT) und Funktionsver-
lust der H3K36-spezifischen KMT SETD2 (SET domain containing 2). Darüber
hinaus gibt es Translokationen von KMT2A (H3K4-spezifisch) sowie Trans-
lokationen und Überexpression der H3K36-spezifischen KMT NSD1 (nuclear
receptor binding SET domain protein 1) und der H3K27-spezifischen KMT
NSD2. Im Weiteren wurde die Amplifikation oder Überexpression von Genen,
8.1 Epimutationen bei Krebs 103

DNMTs TET-Enzyme DNMTs

Me Me Me Me Me Me

Promotorspezifische Hypermethylierung Genomweite Hypomethylierung

Nukleosom H2A
H2B
H3 Histon
H4 Ac
Me
D
D-
D-2-H
D-2-Hydroxyglutarat
IDH1* Me
IDH2* Me
Ac
H3.3*
Histonvarianten
KMTs* KDMs* Methylierungs/Acetylierungs-reader HDACs HATs
Abnorme Methylierung reader-Mutationen Reduzierte Acetylierung
α-Ketoglutarat

Abnormale Histonmodifikationen und downstream-Funktionen


SWI/SNF “loss-of-function”-Mutationen

* Mutationen/Dysregulation Abnorme
Chromatin-
struktur

Abb. 8.1  Epimutationen bei Krebs. Es gibt vier Haupttypen von Epimutationen, die Krebs
beeinflussen: DNA-Hypermethylierung an Promotoren (oben links), genomweite DNA-
Hypomethylierung (oben rechts), abnorme Modifikation von Histonen und/oder deren
Erkennung (Mitte) und abnorme Chromatinstrukturen, verursacht durch fehlfunktionierende
Chromatinremodellierer (unten). Weitere Einzelheiten sind im Text angegeben

die H3K4-, H3K9- und H3K36-spezifische KDMs codieren, im Zusammenhang


mit verschiedenen Krebsarten beschrieben. Zusätzlich ist bei Krebs auch die
Histonacetylierung durch den Verlust der HATs EP300 (KAT3B) und CREBBP
(CREB-Bindungsprotein, auch KAT3A genannt) und die Überexpression von
HDACs reduziert. Schließlich kann nicht nur die write- und erase-Funktion
von Chromatinmodifikatoren durch Mutationen beeinträchtigt werden, sondern
auch ihre reader-Funktion. Beispiele sind die Überexpression oder Funktions-
gewinntranslokationen von BRD4, das acetylierte Histone bindet, oder die Über-
expression von TRIM24 (tripartite-motif-containing protein 24), ein Vertreter der
PHD-Familie, der H3K23ac erkennt.
Funktionsverlustmutationen in Genen, die DNA-Demethylasen codieren (TET1,
TET2 und TET3), oder eine erhöhte Expression von Genen, die DNMTs
codieren (DNMT1, DNMT3A und DNMT3B), können bei einigen Krebsarten eine
Promotorhypermethylierung verursachen (Abb. 8.1, oben). Im Gegensatz dazu
beruht die genomweite Hypomethylierung häufig auf Funktionsverlustmutationen
im DNMT3A-Gen. Mutationen in den Genen, die die Stoffwechselenzyme IDH
104 8 Epigenetik von Krebs

(Isocitratdehydrogenase) 1 und 2 codieren, führen dazu, dass das Zwischenprodukt


des Citratzyklus, α-Ketoglutarat, in den Onkometaboliten 2‑Hydroxyglutarat
umgewandelt wird, der TETs und KDMs inhibiert (Abb. 8.1, Mitte links). Das
führt zu einer erhöhten Methylierung sowohl von DNA als auch von Histonen.
Zusammengenommen beeinflussen Epimutationen eine Vielzahl von Ver-
änderungen in der zellulären Homöostase, was zu einer Beschleunigung der
Tumorentwicklung führt.

8.2 Epigenomweite Störungen als Kennzeichen von


Krebs

Das Konzept der Kennzeichen von Krebs impliziert, dass die Prozesse „Auf-
rechterhaltung proliferativer Signalübertragung“, „Vermeidung von Wachstums-
unterdrückern“, „Widerstand gegen Zelltod“, „replikative Unsterblichkeit“,
„Induktion von Angiogenese“ und „Aktivierung von Invasion und Metastasierung“
in der Tumorentstehung von praktisch allen Krebsarten vorkommen (Abb. 8.2).
Später wurde das Konzept auf zehn bis zwölf Kennzeichen erweitert, darunter
„genomweite DNA-Instabilität und Mutation“ und „epigenomweite Störung“.
Dabei fließen die Ergebnisse von Krebsgenomprojekten wie TCGA zu genetischen
und epigenetischen Treibern verschiedener Krebsarten ein. Beispielsweise zeigten
diese Projekte eine hohe Häufigkeit von Mutationen in Genen, die epigenetische
Mediatoren codieren.
Krebsgenom und Epigenom beeinflussen sich gegenseitig auf vielfältige Weise
(Abb. 8.2). Sowohl die Genetik als auch die Epigenetik bieten komplementäre
Mechanismen, um ähnliche Ergebnisse zu erzielen, z. B. die Inaktivierung von
Tumorsuppressorgenen entweder durch Deletion essenzieller Bereiche des
Gens oder epigenetisches Abschalten des Promoters. Darüber hinaus kann eine
Funktionsgewinnaktivierung des für das Erreichen des Kennzeichens „Auf-
rechterhaltung proliferativer Signalübertragung“ wichtigen Onkogens PDGFRA
(Wachstumsfaktor aus Thrombozytenrezeptor α) entweder auf einer genetischen
Mutation innerhalb der codierenden Region des Gens beruhen oder auf einer Epi-
mutation, welche Isolatoren an den Grenzen des TAD, das das Gen trägt, unter-
bricht. Veränderungen in DNA-Methylierungsmustern sind wichtige epigenetische
Fehlregulationen, die während der Tumorentstehung auftreten. Im Vergleich zu
normalen Zellen desselben Individuums zeigt das Epigenom von Tumorzellen
einen massiven Gesamtverlust an DNA-Methylierung (Hypomethylierung),
während für bestimmte Gene auch eine Hypermethylierung an CpGs beobachtet
wird (Abb. 8.3).
Die globale DNA-Hypomethylierung während der Tumorentstehung erzeugt
chromosomale Instabilität, reaktiviert Transposons und verursacht einen Verlust
genetischer Prägung. Die resultierende geringe DNA-Methylierung begünstigt die
mitotische Rekombination, was zu Deletionen führt, und fördert chromosomale
Umlagerungen wie Translokationen. Die Störung der genetischen Prägung wie
8.2 Epigenom-weite Störungen als Kennzeichen von Krebs 105

Mutationen von epi-


genetischen Regulatoren
Genom cis-Sequenz-Effekt auf den Epigenom
epigenetischen Zustand
Chromosomenabnormitäten Weitreichende Hypomethylierung
Kopienzahlveränderungen 5mC-Desaminierung Fokale Hypermethylierung
Insertionen und Deletionen Chromatineffekte auf Muta- Epigenetische Aktivierung
Translokationen tionen und Rekombination Epigenetisches Abschalten
Mutationen Epigenetisches Abschalten CIMP
von DNA-Reparaturgenen

Deregulation zellulärer Energetik Vermeidung von Wachstumsunterdrückern

Widerstand gegen Zelltod Vermeidung von Zerstörung


durch das Immunsystem

Genominstabilität und Mutation Epigenomweite Störungen

Induktion von Angiogenese Replikative Unsterblichkeit

Aktivierung von Invasion und Metastasierung Tumorunterstützende Entzündung


Aufrechterhaltung proliferativer Signalübertragung

Abb. 8.2  Zusammenspiel von Genom und Epigenom bei Krebs. Veränderungen im Genom
können das Epigenom beeinflussen und umgekehrt. Das bildet ein Netzwerk, welches genetisch
oder epigenetisch codierte Variationen im Phänotyp hervorbringt, die der darwinistischen
Selektion für Wachstumsvorteile unterliegen und so schließlich die Kennzeichen von Krebs
hervorbringen

beispielsweise die des IGF2-Gens (Abschn. 3.3) ist ein Risikofaktor für ver-
schiedene Krebsarten, z. B. Dickdarmkrebs oder Wilms-Tumor.
Hypermethylierte Promotorregionen von Tumorsuppressorgenen wie
TP53, RB1 (RB transkriptioneller Korepressor 1) und MGMT (O-6-Methyl-
guanin-DNA-Methyltransferase) können als Biomarker dienen, die ein erheb-
liches diagnostisches Potenzial bieten, insbesondere in der Früherkennung bei
Menschen mit einem hohen familiären Krebsrisiko. Viele CpGs werden bereits
früh in der Tumorentstehung methyliert, insbesondere bei CIMP (CpG-Insel-
Methylator-Phänotyp) von Dickdarmkrebs, Glioblastomen und Neuroblastomen.
Die Promotorhypermethylierung beeinflusst bevorzugt die Expression von
Genen, die am Karzinogenstoffwechsel, an Zell-Zell-Interaktionen und an der
Angiogenese beteiligt sind, und weniger klassische Tumorsuppressorgene, die
den Zellzyklus, die DNA-Reparatur und die Apoptose kontrollieren. Die Profile
der CpG-Hypermethylierung variieren je nach Tumortyp. Jede Krebsart kann
106 8 Epigenetik von Krebs

Tumorentstehung

• Verlust von Prägung und Überwucherung


• Expression eines unangemessenen Zelltyps
• Fragilität des Genoms
Normale Zelle • Aktivierung von Transposons Krebszelle

Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me

E1 E2 E1 E2
Repetitive Sequenzen Repetitive Sequenzen
• Locus mit einer methylierten, • DNA-Hypomethylierung
5'-spezifischen Region, z.B. • Offene oder entspannte Chromatinkonformation
ein keimzellspezifisches Gen

Me Me Me Me Me MeMe
MeMe
Me
Me Me Me
Me
Me
Me Me Me Me Me Me Me
Me Me
Me

E1 E2 E3 E1 E2 E3
• Tumorsuppressorgen mit CpG-Insel im Promotor • Hypermethylierung von CpG-Inseln
• Offene Chromatinkonformation • Geschlossene Chromatinkonformation

• Eintritt in den Zellzyklus


• Vermeidung von Apoptose
• Defekte in der DNA-Reparatur
• Angiogenese
• Verlust von Zelladhäsionen

Me

Nichtmethylierte Stelle Methylierte Stelle

Tumorentstehung

Abb. 8.3  Veränderungen von DNA-Methylierungsmustern während der Tumorentstehung. Im


Vergleich zu normalen Zellen (links) sind Krebszellen genomweit hypomethyliert (oben rechts),
insbesondere an repetitiven Sequenzen wie Transposons. Außerdem werden oft geprägte und
gewebespezifische Gene demethyliert. Hypomethylierung verursacht Veränderungen in der epi-
genetischen Landschaft, wie den Verlust der genetischen Prägung, und erhöht die genomweite
DNA-Instabilität, die Krebszellen charakterisiert. Eine weitere häufige Veränderung in Krebs-
zellen ist die Hypermethylierung von CpGs innerhalb regulatorischer Regionen von Tumor-
suppressorgenen (unten rechts). Diese Gene werden dann transkriptionell abgeschaltet, sodass
Krebszellen einige Funktionen wie die Inhibition des Zellzyklus fehlen

durch ihr spezifisches DNA-Hypermethylom charakterisiert werden, d. h., epi-


genetische Markierungen sind mit traditionellen genetischen und zytogenetischen
Markierungen vergleichbar. Von etwa 200 Genen, die bei verschiedenen Formen
von Brust- und Dickdarmkrebs regelmäßig mutiert sind, tragen durchschnittlich
elf eine Mutation in einem einzigen Tumortyp. Zum Vergleich: 100–400 CpGs in
der Nähe von TSS-Regionen sind in einem gegebenen CIMP, d. h. die Epigenetik
kann zehnmal mehr Informationen liefern als die Genetik.

8.3 Epigenetische Umprogrammierung bei Krebs

Krebsgene werden eingeteilt in dominante Onkogene, die durch Funktionsgewinn-


mutationen, Amplifikationen oder Translokationen aktiviert werden können,
und rezessive Tumorsuppressorgene, deren Expression beispielsweise durch
8.3 Epigenetische Umprogrammierung bei Krebs 107

Funktionsverlustmutationen oder Methylierung in Promoterregionen reduziert


wird. Eine alternative Klassifizierung unterteilt sie in „Treiber“ (d. h. eines von
etwa 500 Krebsgenen), deren Mutation direkt die Tumorentstehung beeinflusst,
und „Passagiere“, die als Nebenprodukt mutiert werden, aber keinen funktionellen
Beitrag zur Onkogenese leisten. Die epigenetische Perspektive fügt eine weitere
Klassifizierung von Krebsgenen hinzu: Codierung von epigenetischen Modi-
fikatoren, Mediatoren oder Modulatoren. Gene für epigenetische Modifikatoren
codieren Proteine, die das Epigenom direkt durch DNA-Methylierung, Histon-
modifikation oder strukturelle Veränderungen des Chromatins modifizieren, d. h.
hauptsächlich Chromatinmodifikatoren und Chromatinremodellierer. Kindliche
Tumoren beruhen oft nur auf wenigen genetischen Mutationen, die aber häufig
in Genen vorkommen, die Chromatinmodifikatoren codieren (Abb. 8.1, Mitte).
Darüber hinaus ist der biallele Verlust des SMARCB1-Gens (SMARCB1 für SWI/
SNF-related matrix-associated actin-dependent regulators of chromatin B1) bei
kindlichen rhabdoiden Tumoren sowie bei Lungenkrebs und Burkitt-Lymphom
ein erster Hinweis darauf, dass die Störung der epigenetischen Kontrolle als
Treiber für Krebs wirken kann (Abb. 8.1, unten).
Epigenetische Mediatoren sind Ziele epigenetischer Modifikation, d. h., sie
sind epigenetischen Modifikatoren nachgeschaltet. Beispielsweise werden durch
die Überaktivität eines epigenetischen Modifikators wie etwa eines Mitglieds
der HAT-Familie Gene aktiviert, die pluripotente Transkriptionsfaktoren wie
NANOG, SOX2 oder OCT4 codieren (Abschn. 6.4, Abb. 8.4). Somit sind diese
Transkriptionsfaktoren epigenetische Mediatoren, die eine terminal differenzierte
Zelle zurück in ein Stadium der Pluripotenz transformieren. Auf diese Weise bildet
sich eine Krebsstammzelle und leitet den Prozess der Tumorentstehung ein. Epi-
genetische Modulatoren sind Genprodukte, die epigenetischen Modifikatoren
und Mediatoren in Signalübertragungswegen vorgeschaltet sind. Epigenetische
Modulatoren beeinflussen die Aktivität oder Lokalisierung epigenetischer
Modifikatoren, um differenzierungsspezifische epigenetische Zustände zu
destabilisieren. Sie stellen eine Brücke zwischen Umwelt und Epigenom dar. Ent-
zündungsreaktionen, die durch den Transkriptionsfaktor NFκB (nukleärer Faktor
κB) vermittelt werden, sind ein Beispiel für einen epigenetischen Modulator. Sie
lösen mit dem Cytokin Interleukin (IL) 6 und dem Transkriptionsfaktor STAT3
(Signalüberträger und Aktivator der Transkription 3) bei der Transformation
von Epithelien des Brustgewebes eine epigenetische Umschaltung auf eine
positive Rückkopplungsschleife aus. Daher sind die Wirkungen epigenetischer
Modulatoren oft die ersten Schritte in der Tumorentstehung, die dann zu ver-
änderten Mustern des Epigenoms führen.
Veränderungen in der DNA-Methylierung während der Tumorentstehung sind
immer mit anderen epigenetischen Dysregulationen kombiniert, z. B. abweichenden
Mustern von Histonmodifikationen und allgemeinen Veränderungen in der Kern-
architektur. Die gesamte epigenetische Landschaft von Krebszellen ist im Ver-
gleich zu somatischen Stammzellen oder differenzierten Zellen signifikant verzerrt
(Abb. 8.4). Die Veränderungen in der 3D-Organisation von Chromatin ver-
anschaulichen epigenomweite Veränderungen während der Tumorentstehung.
108 8 Epigenetik von Krebs

Status einer somatischen


en Stammzelle Status e
einer Krebsstammzelle
tammzelle Differenzierte Zelle
D
Epigenetische Mediatoren Epigenetische Mediatoren
(z.B. OCT4) (z.B. OCT4)

H3K9me2/3 H3K9me2/3 H3K9me2/3


DNA-Methylierung? DNA-Methylierung DNA-Methylierung
Genaktivität Genaktivität Genaktivität

Aktive Chromatindomäne Inaktiver Gencluster LOCKs und LADs

Abb. 8.4  Umprogrammierung der Kernarchitektur in Krebszellen. Epigenetische Mediatoren


wie OCT4 können das Epigenom von somatischen Stammzellen (links) oder differenzierten
Zellen (rechts) zu dem von Krebsstammzellen (Mitte) umprogrammieren. Normale Zellen sind
durch ein hohes Maß an Zweifach- und Dreifachmethylierung von H3K9 sowie durch DNA-
Methylierung in LOCKs (Teilbereiche von LADs) gekennzeichnet. Letztere befinden sich nahe
der Kernmembran und enthalten nur wenige aktive Gene. Im Gegensatz dazu fehlen in Krebs-
stammzellen LOCKs und LADs weitgehend, sodass eine größere Zahl an Genen aktiv ist. Das
führt zu einer phänotypischen Heterogenität

In differenzierten Zellen werden Gene, die in einem bestimmten Zelltyp nicht


benötigt werden, oft innerhalb von LADs gefunden, welches konstitutives Hetero-
chromatin enthalten und nahe an der Kernperipherie lokalisiert sind (Abschn. 2.4).
Ein erheblicher Teil dieser LADs sind LOCKs (große organisierte Chromatin-
K9-Modifikationen), d. h. Regionen im Genom, die mit unterdrückenden H3K9me2-
und H3K9me3-Histonmarkierungen angereichert sind (Abb. 8.4, rechts). Das
wird durch die Rekrutierung von KDMs und HDACs in die Nähe der Kern-
hülle und durch DNA-Hypermethylierung in diesen Regionen weiter gefördert.
Die Verdichtung des Chromatins vermittelt die Genunterdrückung während der
Abstammungsspezifikation und stellt eine Form des epigenetischen Gedächtnisses
dar. Das führt zu einem reduzierten Rauschen (noise) der Transkription und ist eine
Barriere für die Entdifferenzierung. Obwohl adulte Stammzellen in einem weniger
differenzierten Zustand sind als terminal differenzierte Zellen, finden sich auch in
ihnen spezifische LAD/LOCK-Strukturen (Abb. 8.4, links).
Proteine, die die Wechselwirkung von Chromatin mit der Lamina regulieren
und Chromatinmodifikatoren zur Kernperipherie rekrutieren, fungieren als
epigenetische Mediatoren. Beispielsweise kann der reaktivierte pluripotente
Transkriptionsfaktor OCT4 das Epigenom sowohl von differenzierten Zellen als
auch von adulten Stammzellen zu Krebsstammzellen umprogrammieren (Abb. 8.4,
Mitte). Die Aktivierung des epigenetischen Mediators löst die meisten LADs/
LOCK-Strukturen auf, wodurch eine Reihe von Genen reaktiviert wird. Das ver-
leiht Krebszellen eine phänotypische Heterogenität, z. B. eine erhöhte Variabilität
in der Genexpression, und erlaubt ihnen, zwischen verschiedenen Zellzuständen
innerhalb des Tumors umzuschalten. Der Verlust von LOCKs beeinflusst auch
die Kommunikation zwischen Enhancer- und Promotorregionen innerhalb und
8.4 Epigenetische Mechanismen von Krebs 109

zwischen TADs, sodass häufig onkogene Super-Enhancer ausgebildet werden. Ein


ähnlicher Prozess findet während der EMT (epithelial-mesenchymale Transition)
statt, die ein Schlüsselprozess bei der normalen Wundheilung ist, aber auch den
ersten Schritt zur Metastasierung darstellt. Bei der EMT ist die Aktivierung einer
H3K9-KDM wie KDM1A oft das auslösende epigenetische Ereignis. Wenn
Krebszellen das epigenetische Gedächtnis der Zellen, aus denen sie stammen,
destabilisiert haben und EMT-verwandte Chromatinstrukturen bilden, gewinnen
sie phänotypische Plastizität. Somit kann die Veränderung der Chromatin-
architektur zu einer onkogenen Transformation der Zelle führen.
Die Umprogrammierung einer Körperzelle zu einer iPS-Zelle und ihre Trans-
formation zu einer Krebszelle sind verwandte Ereignisse (Abschn. 6.4). In
beiden Fällen muss in einem mehrstufigen Prozess eine epigenetische Barriere
überwunden werden, an der vor allem epigenetische Mediatoren wie die
Transkriptionsfaktoren SOX2, KLF4, NANOG, OCT4 und MYC beteiligt sind.
Interessanterweise werden alle fünf Transkriptionsfaktoren von Onkogenen
codiert. Darüber hinaus haben auch die KMTs SUV39H1 (suppressor of
variegation 3-9 homolog), EHMT2 (euchromatic histone lysine methyl-
transferase 2), SETDB1, KMT2A, KMT2D, KMT2C, DOT1L (DOT1 like
histone lysine methyltransferase), EZH2, die KDMs LSD1 (lysinspezifische
Demethylase 1), KDM2B und KDM6A, die SWI/SNF-Komplexkomponente
ARID1A sowie DNMTA und DNMT3B vergleichbare Rollen sowohl bei der
zellulären Umprogrammierung als auch bei der Tumorentstehung. In beiden Fällen
werden Zellen mit einem unbegrenzten Selbsterneuerungspotenzial erzeugt.

8.4 Epigenetische Mechanismen von Krebs

Die Idee, dass Krebs grundsätzlich eine epigenetische Krankheit ist, spiegelt
sich auch in der Beziehung zwischen Krebs und der epigenetischen Land-
schaft wider. Da epigenetische Modifikatoren wie Gene, die für Chromatin-
modifikatoren codieren, bei Krebs häufig mutiert sind, beeinflussen diese
Mutationen weitgehend die Stabilität der epigenetischen Landschaft. Das wird
durch durchlässiges Chromatin veranschaulicht, das eine hohe Plastizitätsrate
aufweist (Abschn. 6.3, Abb. 6.5). Durchlässiges Chromatin ermöglicht es Krebs-
zellen, leicht eine Reihe verschiedener Transkriptionszustände zu erlangen,
von denen einige proonkogen sein können. Wenn sich ein solcher adaptiver
Chromatinzustand durch Mitose ausbreitet, entsteht ein neuer Zellklon, der auf-
grund der erhöhten Fitness andere Zellen überwuchern kann. Dieses Plastizi-
tätsmodell ist das epigenetische Gegenstück zum Modell der Genominstabilität,
die durch Exposition mit Karzinogenen oder DNA-Reparaturdefekte induziert
wird. Während durchlässige Chromatinzustände die Aktivierung von Onkogenen
oder nichtphysiologische Zellschicksalsübergänge ermöglichen, verhindern
restriktive Zustände die Induktion von Tumorsuppressoren oder blockieren die
Differenzierung.
110 8 Epigenetik von Krebs

A Glioblastom
(Tumor bei Erwachsenen) B Anaplastisches Astrozytom C Ependymom
(Tumor bei Kindern)

RB1

CDKN2A TP53 CIMP


EZH2
EGFR Hypermethylierung Zellintrinsisch
PTEN
Nische
TERT

EGFR RB1 CDKN2A PTEN TERT TP53 Hypermethylierung CDKN2A DNA Epigenetischer EZH2 Nische
Amplifikation Mutation Deletion Deletion Promotor- Mutation IDH1 R132H-gesteuert Mutation CIMP Hintergrund
mutation Nichtgenetisch Ursprung in Nichtgenetisch Umwelt-
Ursache Stammzelle Ursache einfluss

Onkogen- Genetisch epigenetisch


veränderungen

Abb. 8.5  Genetische und epigenetische Mechanismen, die den Kennzeichen von Krebs
zugrunde liegen. Sowohl genetische (grün) als auch epigenetische (blau) Mechanismen sind
wichtige Faktoren bei der Tumorentstehung, aber ihr relativer Beitrag zu den Kennzeichen
von Krebs hängt von der Art des Krebses ab. Beim Glioblastom (links), einem Hirntumor bei
Erwachsenen, beziehen sich die meisten Kennzeichen auf genetische Treiber, während beim
Ependymom (rechts), einem kindlichen Tumor, hauptsächlich epigenetische Effekte dominieren.
Das anaplastische Astrozytom (Mitte) ist ein Beispiel, bei dem sowohl genetische als auch epi-
genetische Faktoren zu den Kennzeichen beitragen

Beispielsweise kann das Kennzeichen von Krebs „Vermeidung von


Wachstumsunterdrückern“ entweder auf einer Funktionsverlustmutation des
Tumorsuppressorgens CDKN2A oder auf einer Hypermethylierung seines
Promotors beruhen. Der relative Beitrag genetischer und epigenetischer Mechanis-
men zu den Kennzeichen von Krebs unterscheidet sich zwischen den Krebsarten.
Interessanterweise deutet das Beispiel des adulten Hirntumors Glioblastom im
Vergleich zum kindlichen Hirntumor Ependymom darauf hin, dass die langfristige
Tumorentstehung bei Erwachsenen eher auf genetischen Ereignissen beruht,
während die kurzfristige Tumorentstehung bei Kindern hauptsächlich einen epi-
genetischen Ursprung hat (Abb. 8.5).

8.5 Epigenetische Krebstherapie

Das zunehmende Verständnis des Beitrags veränderter epigenetischer Zustände


zum Krebsphänotyp macht epigenetische Krebstherapien sinnvoll. Das
erfordert ein tiefgreifendes Wissen darüber, wie epigenetische Läsionen Krebs-
erkrankungen antreiben, d. h., es besteht ein Bedarf an konzeptionellen und
8.5 Epigenetische Krebstherapie 111

mechanistischen Modellen der Krebsepigenetik im Zusammenhang mit


genetischen Modellen. Darüber hinaus wird die Anwendung neuer Methoden wie
epigenomweite Einzelzellanalysen (Kasten 2.2) von entscheidender Bedeutung
sein. Die Hauptargumente für die epigenetische Krebstherapie sind, dass Gene, die
epigenetische Modifikatoren wie KMTs und KDMs (Abb. 8.6) codieren, häufige
Treiber in einem größeren Spektrum von Krebsarten sind und dass epigenetische
Modifikationen im Gegensatz zu genetischen Mutationen weitgehend reversibel
sind. Alle Moleküle, die bisher für die epigenetische Krebstherapie entwickelt
wurden, sind Inhibitoren von Enzymen, die von Funktionsgewinnmutationen
betroffen sind, während es schwierig bleibt, auch Funktionsverlustmutationen zu
korrigieren. Da Histonmethylierungsmarkierungen eine viel selektivere Funktion
haben als Histonacetylierungsmarkierungen, versprechen KMT- und KDM-
Inhibitoren spezifischer zu sein und können weniger toxisch sein als HDAC- oder
DNMT-Inhibitoren.
Bisher wurden viele KMT-Inhibitoren entwickelt (Abb. 8.6), wobei sich die
der H3K27-KMT EZH2 und der H3K79-spezifischen KMT DOT1L bereits
in klinischen Studien befinden. Da EZH2 der katalytische Kern des PRC2-
Komplexes ist, der auch DNMTs rekrutiert, könnten EZH2-Inhibitoren beide epi-
genetische Unterdrückungsmechanismen verknüpfen. Die Inhibition von EZH2
führt zu reduzierten Spiegeln von H3K27me3-Markierungen, zur Hochregulierung
abgeschalteter Gene und zur Wachstumsinhibition von Krebszellen mit EZH2-
Funktionsgewinnmutationen oder Überexpression. KDMs nutzen FAD,
α-Ketoglutarat oder Fe(II) als Kofaktoren und bieten damit eine Reihe von
Möglichkeiten zu ihrer Inhibition (Abschn. 5.2). Die katalytische Domäne der
meisten KDMs ist jedoch strukturell hoch konserviert, was eine Herausforderung
für das Design spezifischer Inhibitoren darstellt (Abb. 8.6). Daher befinden sich
bisher nur Inhibitoren der FAD-abhängigen, H3K9-spezifischen KDM LSD1 wie
GSK2879552, Tranylcypromin, INCB059872 und ORY-1001 in klinischen
Studien.
HDAC-Inhibitoren reaktivieren die Transkription von Tumorsuppressorgenen
wie CDKN1A, indem sie die Histonacetylierung erhöhen, aber sie vermitteln
auch die Acetylierung von Nicht-Histonproteinen wie p53 und stabilisieren deren
Aktivität. Auf diese Weise haben sie einen weitreichenden Einfluss auf Krebs-
zellen und können Apoptose, das Anhalten des Zellzyklus und viele andere
krebsinhibierende Wirkungen induzieren. Drei HDAC-Inhibitoren – Vorinostat
(SAHA), Belinostat und Romidepsin – sind für die Behandlung verschiedener
Arten von Leukämie zugelassen und viele weitere Moleküle befinden sich in
klinischen Studien für die Anwendung bei Leukämien wie auch soliden Tumoren.
Die Selektivität und der detaillierte Wirkmechanismus von HDAC-Inhibitoren
sind jedoch noch nicht vollständig verstanden. Interessanterweise werden HDAC-
Inhibitoren auch für die Therapie neuronaler Erkrankungen wie Epilepsie in
Betracht gezogen (Abschn. 9.4).
DNMT-Inhibitoren sind entweder Nukleosidanaloga, die nach ihren Ein-
bau in die DNA DNMTs kovalent binden und damit inaktivieren, oder Nicht-
Nukleosidanaloga, die direkt an die katalytische Region von DNMTs binden.
112 8 Epigenetik von Krebs

• GSK126
• Tazemetostat
• A-366 • CPI-1205
• BIX-01294 • GSK343
• UNC0638 • CPI-169
• UNC0642 • EI1 • EPZ-5676
• BAY-598 • MM-401 • UNC0224 • UNC1999 Entwicklungs- • EPZ-4777
• LLY-507 • MIV-6R Chaetocin • E72 • SAH-EZH2 inhibitoren • SGC0946

SMYD2 KMT2 SUV39H1 EHMT2 EZH2 NSD1 DOT1L


SUV39H2 NSD2
me1 me2 me3 me2 me3 me2 me2

p53
(K370) NH2 K4 K9 K27 K36 K76 COOH

me3 me3 m
me3 m
me3
me2
KM
KMT
KDM5A KDM1A KDM6A KDM4A
KDM5B KDM6B KDM4B K
KD
KDM
Mono-, Di- oder
Trimethylierung
• CPI-455 • GSK2879552 GSK-J4 NSC636819
• EPT-103182 • ORY-1001
• Tranylcypromin
• GSK354
• INCB059872

Abb. 8.6  Spezifische Behandlung KMT- und KDM-Mutationen. Inhibitoren von KMTs


(rot) und KDMs (blau) sind angegeben, die die Histon-3-Lysine K4, K9, K27, K36 und K79
(dunkelblau) beeinflussen. KMT-Inhibitoren binden entweder innerhalb der Bindungstaschen
für SAM oder das Substrat oder an allosterischen Stellen des KMT-Proteins. Entsprechende
Inhibitoren von DOT1L und EZH2 befinden sich bereits in klinischen Studien. Chaetocin ist
ein nichtselektiver Inhibitor von KMTs wie SUV39H1 und SUV39H2. KDM1A ist eine FAD-
abhängige KDM, die durch Moleküle inhibiert werden kann, welche die Kofaktorbindungsstelle
blockieren. Die KDM1A-Inhibitoren Tranylcypromin, GSK2879552, INCB059872 und
ORY‑1001 befinden sich in klinischen Studien. Die meisten KDMs tragen eine katalytische
Domäne, die durch eisenchelatbildende Moleküle inhibiert werden kann. SMYD2, SET and
MYND domain containing 2

Diese Moleküle verhindern die DNA-Methylierung, was zu einer reduzierten


Promotorhypermethylierung und erneuten Expression abgeschalteter Tumorsup-
pressorgene führt. Bereits zugelassen sind die beiden Nukleosidanaloga Azacitidin
(5‑Azacytidin) und Decitabin (Abschn. 3.1). Viele andere DNMT-Inhibitoren
befinden sich in der Entwicklung. Nicht-Nukleosidanaloga sind weniger toxisch,
da sie nicht in die DNA eingebaut werden, aber es fehlt ihnen an Potenz und
Spezifität.
Schließlich sind Modulatoren von Chromatinmodifikatoren nicht nur bei
der Therapie verschiedener Krebsarten wirksam, sondern auch bei der Ver-
hinderung der Tumorentstehung. Interessanterweise moduliert eine Reihe natür-
licher, aus Lebensmitteln gewonnener Moleküle wie Epikatechin aus grünem
Tee, Resveratrol aus Trauben oder Curcumin aus Kurkurma die Aktivität von
Weiterführende Literatur 113

Chromatinmodifikatoren (Abschn. 10.1, Abb. 10.3). Somit haben Inhaltsstoffe


einer gesunden Ernährung das Potenzial, Krebs zu verhindern, indem sie die
Aktivität von Chromatinmodifikatoren kontrollieren.

Weiterführende Literatur
Bates, S.E. (2020). Epigenetic therapies for cancer. N Engl J Med 383, 650–663.
Carlberg, C., and Velleuer, E. (2021). Cancer Biology: How Science Works. Springer Textbook
ISBN: 978–3–030–75699–4.
Corces, M.R., Granja, J.M., Shams, S., Louie, B.H., Seoane, J.A., Zhou, W., Silva, T.C.,
Groeneveld, C., Wong, C.K., Cho, S.W., et al. (2018). The chromatin accessibility landscape
of primary human cancers. Science 362, eaav1898.
Filbin, M. and Monje, M. (2019). Developmental origins and emerging therapeutic opportunities
for childhood cancer. Nat Med 25, 367–376.
Flavahan, W.A., Gaskell, E. and Bernstein, B.E. (2017). Epigenetic plasticity and the hallmarks
of cancer. Science 357, eaal2380.
Mohammad, H.P., Barbash, O. and Creasy, C.L. (2019). Targeting epigenetic modifications in
cancer therapy: erasing the roadmap to cancer. Nat Med 25, 403–418.
Zhao, S., Allis, C.D., and Wang, G.G. (2021). The language of chromatin modification in human
cancers. Nature Reviews Cancer 21, 413–430.
Neuroepigenetik
9

Zusammenfassung

Epigenetische Regulation ist entscheidend für die normale Entwicklung


und Funktion unseres Gehirns. Dynamische DNA- und Histonmethylierung
sowie deren Demethylierung an bestimmten Genorten spielen eine grund-
legende Rolle beim Lernen, der Ausbildung des Gedächtnisses und der
Plastizität unseres Verhaltens. Das Epigenom von Neuronen ermöglicht eine
molekulare Erklärung für das Langzeitgedächtnis. MECP2 ist der am besten
charakterisierte methylbindende Transkriptionsfaktor und sowohl an der
Aktivierung wie auch an der Unterdrückung von Genen im zentralen Nerven-
system beteiligt. MECP2 wird im Gehirn stark exprimiert und ist ein wichtiger
Bestandteil des neuronalen Chromatins. Mutationen im MECP2-Gen sind
die Grundlage für das Rett-Syndrom, eine Autismus-Spektrum-Störung.
Darüber hinaus tragen auch Histonacetylierungsgrade in Neuronen zur
ordnungsgemäßen Funktion der Zelle bei. Dementsprechend bieten HDAC-
Inhibitoren eine wirksame Therapie einiger neurodegenerativer Erkrankungen.

Schlüsselwörter
Neuronale Entwicklung · DNA-Methylierung · mCH-Methylierung · MECP2 ·
Rett-Syndrom · Histonacetylierung · HDAC-Inhibitoren · Neurodegenerative
Krankheiten · REST

9.1 Die Rolle der Epigenetik bei der neuronalen


Entwicklung

Der frontale Kortex unseres Gehirns spielt eine Schlüsselrolle für unser Verhalten
und unsere Kognition (die Gesamtheit aller Prozesse, die mit dem Wahrnehmen
und Erkennen zusammenhängen) und erfordert ein koordiniertes Zusammenspiel
von neuronalen und nichtneuronalen Zellen, z. B. unterstützenden ­Gliazellen. Der

© Springer Nature Switzerland AG 2023 115


C. Carlberg und F. Molnár, Epigenetik des Menschen,
https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0_9
116 9 Neuroepigenetik

streng kontrollierte Prozess der neuronalen Entwicklung und Reifung erschafft


die physische Struktur unseres Gehirns. Sie beginnt während der Embryogenese
und dauert bis zum dritten Lebensjahrzehnt an. Parallel dazu kommt es nach der
Geburt zunächst zu einer starken Synaptogenese und während der Adoleszenz dann
zur Rückbildung ungenutzter Synapsen. Das ist die zelluläre Grundlage für
erfahrungsabhängige Plastizität und Lernen bei Kindern und jungen Erwachsenen.
Die Beeinträchtigung dieses Prozesses kann zu Verhaltensänderungen und neuro-
psychiatrischen Störungen führen. Wie andere Entwicklungsprogramme unseres
Körpers (Abschn. 6.4) wird auch die neuronale Entwicklung von präzisen
epigenetischen Mustern wie der DNA-Methylierungen und Histonmodi-
fikationen gesteuert. Die Neuroepigenetik basiert also im Prinzip auf den-
selben Mechanismen wie in allen anderen Geweben und Zelltypen.
Im Allgemeinen konzentrieren sich epigenomweite Studien auf 5mC-
Markierungen bei CpGs (mCG, rot in Abb. 9.1A). Wie ES-Zellen haben Neuronen
jedoch die besondere Eigenschaft, signifikante Mengen an mCH-Markierungen
(H = A, C oder T, Abschn. 3.1) zu tragen, von denen etwa 70 % mCA-Markierungen
sind. Während mCH-Markierungen im fötalen Gehirn kaum nachweisbar sind,
steigen sie während der frühen postnatalen Entwicklung auf maximal 1,5 % aller
CH-Dinukleotide am Ende der Adoleszenz an (blau in Abb. 9.1A). Die mCH-
Spiegel steigen am schnellsten während der primären Phase der Synaptogenese,
d. h. innerhalb der ersten zwei Jahre nach der Geburt, und korrelieren mit der
Zunahme der Synapsendichte (grün in Abb. 9.1A). Die Rekonfiguration des DNA-
Methyloms, z. B. der mCH-Markierungen, tritt in Neuronen, aber nicht in Glia-

A B
1.6 25 Jahre mCG/CG 80
% mCG/CG

16 Jahre 55 Jahre
mCH/CH
64 Jahre
1.2 2 Jahre 12 Jahre 60
5 Jahre
% mCH/CH

Ausmaß

mC
0.8 40
hmC
Kind- Synapsen
Synapsendichte

heit
0.4 35 Tage 20
Heran- Erwachsener
wachsender

0 0
0 Geburt 10,000 20,
20,000 Geburt
urt Erwachsen
Erwachsener
Synaptische Entwicklung
Alter (Tage nach Zeugung)
und Reifung

Abb. 9.1  Veränderungen des neuronalen Methyloms während der Entwicklung und


Reifung des Gehirns. Die Spiegel von mCH (A) und 5hmC (B) reichern sich in Neuronen
des frontalen Kortex nach der Geburt an, was mit der aktiven Entwicklung und Reifung von
Synapsen (angegeben als synaptische Dichte pro 100 mm3) zusammenfällt. Bitte beachten Sie,
dass mCH-Markierungen Gene abschalten, während 5hmC-Markierungen bei aktiven Genen
gefunden werden. Die Daten basieren auf Lister et al. (Science 2013, 341:1237905)
9.1 Die Rolle der Epigenetik bei der neuronalen Entwicklung 117

zellen auf. Während der Entwicklung vom Fötus bis zum jungen Erwachsenen treten
mCH-Markierungen auf und werden zur dominierenden Form der Methylierung im
neuronalen Epigenom. Daher ändert sich das genomweite DNA-Methylierungs-
muster während der Entwicklung und Reifung des Gehirns signifikant. Das ist
die Grundlage für die neuronale Plastizität.
Der frontale Kortex entwickelt sich postnatal als Reaktion auf verschiedene
Signale und Eindrücke aus der Umwelt. Abhängig vom sensorischen Input führt
das zu einer spezifischen neuronalen DNA-Methylierung und verursacht Ver-
änderungen in der Genexpression und der synaptischen Entwicklung. Das
chromatinmodifizierende Enzym DNMT3A setzt diese mCH-Markierungen ins-
besondere bei CA-Dinukleotiden. Obwohl der durchschnittliche Prozentsatz an
Methylierungen bei CH deutlich niedriger ist als bei CG, CpGs aber seltener sind,
sind mCH-Markierungen im erwachsenen Gehirn zahlenmäßig sogar häufiger als
mCG-Markierungen. Daher ist mCA im reifenden Gehirn eine wichtige epi-
genetische Markierung, welche die Genexpression unterdrückt.
Im Allgemeinen dienen mCA-Markierungen als Plattform für das
Andocken methylbindender Proteine, beispielsweise im Bereich des Gens BDNF
(vom Gehirn stammender neurotropher Faktor). Der Methyl-CpG-bindende
Transkriptionsfaktor MECP2 fungiert als reader für DNA-Methylierungsmarker
(Abb. 3.1) und erkennt auch mCA-Markierungen. Daher rekrutieren Gene, die
während der neuronalen Entwicklung mit mCA angereichert werden, MECP2
und werden in ihrer transkriptionellen Initiation und Elongation unterdrückt.
Dieser Regulationsprozess vermittelt unterschiedliche Funktionen im Gehirn von
Erwachsenen im Vergleich zu dem von Neugeborenen. Dementsprechend ist die
Anzahl der mCA-Markierungen an Genkörpern aussagekräftiger für das Ausmaß
der Abschaltung von Genen als die Anzahl der mCG-Markierungen an Promotoren
oder irgendein Maß für die Zugänglichkeit von Chromatin. Darüber hinaus wird
der Einfluss von mCH-Markierungen durch die Beobachtung weiter unterstrichen,
dass mCH-Markierungen zwischen Individuen stärker konserviert sind als
mCG-Markierungen.
Interessanterweise zeigen verschiedene Regionen des Gehirns wie
der frontale Kortex, der Hippocampus und das Kleinhirn einen signifikanten
altersabhängigen Anstieg von 5hmC, den oxidierte Formen von 5mC (Abb. 9.1B).
Dieser Anstieg ist spezifisch für Neuronen, da sie bei Erwachsenen weitaus
höhere 5hmC-Werte aufweisen als jeder andere Zelltyp. TET-Enzyme vermitteln
die 5mC-Oxidation und aktive DNA-Demethylierung in Neuronen. Basierend
auf Knockout-Studien in Mausmodellen ist das TET1-Gen am wichtigsten für
die Neurogenese und die synaptische Plastizität. Somit ist die 5mC-Oxidation
und möglicherweise auch die DNA-Demethylierung zentrale epigenetische
Mechanismen der Entwicklung und Reifung des Gehirns.
Wie mCA-Markierungen rekrutiert auch 5hmC MECP2 und andere methyl-
bindende Proteine, aber in diesem Fall korreliert die Häufigkeit dieser
Transkriptionsfaktoren meist positiv mit der Genexpression. Dazu passt die
Beobachtung, dass die MECP2-Mutation R133C, die bei einigen Formen des Rett-
Syndroms, einer Autismus-Spektrum-Störung, auftritt (Abschn. 9.2), spezifisch
118 9 Neuroepigenetik

die Fähigkeit des Proteins behindert, an 5hmC zu binden. Somit erhöhen sowohl
die Anreicherung von 5hmC als auch die Verarmung von 5mC die Transkriptions-
aktivität und die Zugänglichkeit des Chromatins (Abb. 9.2). Das deutet auch
darauf hin, dass die 5mC-Oxidation der entscheidende epigenetische Mechanis-
mus bei der Kontrolle der Genexpression im Zusammenhang mit der synaptischen
Plastizität sein könnte, die für Lernen und Gedächtnis wichtig ist. Letzteres
betrifft Effekte auf die Langzeitpotenzierung, die Erregbarkeit und die aktivitäts-
abhängige synaptische Skalierung von Neuronen. Durch die Kontrolle der Aktivi-
tät von Genen, die Ionenkanäle, Rezeptoren und Transportmechanismen codieren,
hat das Epigenom die Fähigkeit, sowohl extrazelluläre Signale zu erfassen, die
Neuronen erreichen, als auch ihre Signalausgabe zu kontrollieren.
Zusammengenommen erwerben Neuronen während der Entwicklung des
Gehirns epigenetische Markierungen wie 5mC (bei CG und CH) und 5hmC, die
den neuronalen Phänotyp über unsere Lebensspanne stabilisieren. Obwohl all-
gemein angenommen wird, dass neuronale Entwicklungsstörungen irrever-
sibel sind, suggeriert die plastische Natur des dynamischen Teils des neuralen

mRNA
MECP2 MECP2 MECP2

Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me

Neuronale Gene Enhancer Enhancer Neuronale Gene

DNA-Methylierung

Nicht-CpG
Me 5mCpG
5hmCpG

MECP2

mRNA ?
? MECP2 MECP2

Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me Me

Neuronale Gene Enhancer Enhancer Neuronale Gene

Abb. 9.2  Das neuronale Methylom während der Gehirnentwicklung. Das DNA-Bindungs-


muster von Methyl-DNA-bindenden Proteinen wie MECP2, die eine unterschiedliche Affinität
für 5hmC und 5mC haben, kann sich ändern. Das betrifft auch das neuronale Transkriptom
9.2 Epigenetische Grundlagen des Gedächtnisses 119

Epigenoms, dass 5hmC-Markierungen sowie Demethylierung für eine mög-


liche epigenetische Umprogrammierung im Zusammenhang mit diesen
Erkrankungen genutzt werden können.

9.2 Epigenetische Grundlagen des Gedächtnisses

Der Erwerb neuer Informationen wird als Lernen definiert, während die Fähig-
keit, Informationen für eine spätere Rekonstruktion zu behalten, Gedächt-
nis genannt wird. Erinnerungen bilden die Grundlage unseres Verhaltens, da
sie uns ermöglichen, zuverlässig durch unser Leben zu navigieren und mit
unserem (sozialen) Umfeld zu interagieren. Zur Festigung neuer Informationen
im Gedächtnis werden in unseren Neuronen unterschiedliche Genexpressions-
profile aktiviert, die auf Veränderungen unseres Epigenoms beruhen. Im Gegen-
satz dazu können Beeinträchtigungen des Lernens und des Gedächtnisses
verheerende Folgen für die Fähigkeit eines Individuums haben, unabhängig
in der Gesellschaft zu funktionieren. Darüber hinaus kann das Fortbestehen
von unerwünschten Erinnerungen wie von Traumata (z. B. Kriegsveteranen) oder
an Gewalt (z. B. Kindesmissbrauch) zu psychischen Erkrankungen beitragen, die
zu sozialer Hemmung führen. Die (soziale) Intelligenz basiert also auf unserem
neuronalen Epigenom.
Erinnerungen an unsere Kindheit beginnen ab einem Alter von ungefähr drei
Jahren und halten viele Jahrzehnte. DNA ist das einzige Molekül in unserem
Körper, das eine vergleichbare Halbwertszeit hat, d. h., nur unser Genom kann die
molekulare Grundlage für ein Langzeitgedächtnis sein (zusätzlich gibt es eine
strukturelle Basis des Gedächtnisse über Synapsen, d. h. die Verknüpfung von
Neuronen). Da Erinnerungen die Sequenzen unseres Genoms nicht verändern,
bleibt das neuronales Epigenom das bevorzugte Instrument für die Informations-
speicherung. In den vorangegangenen Kapiteln haben ich mehrfach den Begriff
„epigenetisches Gedächtnis“ verwendet (Abschn. 1.3, 2.1, 3.1, 5.3, 7.1 und 8.3) und
meinte damit die langfristige Stabilität von Zellidentitäten mithilfe von konservierten
Genexpressionszuständen und robusten genregulatorischen Netzwerken. Bei-
spielsweise führen die Wirkungen von Chromatinmodifikatoren und Chromatinre-
modellierern in Polycomb- und Trithorax-Komplexen (Abschn. 6.3) in Hunderten
von Genomregionen zu einer langfristigen, mitotisch vererbbaren Erinnerung an
inaktive und aktive Genexpressionszustände. Schlüsselproteine dieser Komplexe
sind KMTs und KDMs wie EZH2, KMT2A, KDM5C und KDM6B, während HATs
und HDACs fehlen. Das wiederholt das Prinzip, dass kurzfristige „alltägliche“
Reaktionen des Epigenoms hauptsächlich durch nichtvererbte Änderungen des
Niveaus an Histonacetylierung vermittelt werden, während langfristige Ent-
scheidungen, beispielsweise bezüglich der zellulären Differenzierung, in Form
von Histonmethylierungsmarkern gespeichert werden.
DNA-Methylierung inhibiert nicht nur die Genexpression (Abschn. 1.1),
sondern dient darüber hinaus auch als wesentlicher Mediator der Gedächtnis-
bildung und der Informationsspeicherung. Neuronen können sich nicht vermehren
120 9 Neuroepigenetik

und werden so alt wie wir, d. h., ihr Epigenom ist der wahrscheinlichste Ort für
unser Langzeitgedächtnis. Der Knockout der Gene Dnmt1 und/oder Dnmt3a in
Mäusen zeigte einen Verlust der Langzeitpotenzierung und konsekutiv Lern- und
Gedächtnisdefizite. Das weist darauf hin, dass Prozesse der Informations-
speicherung ohne aktive DNA-Methylierung nicht funktionieren können.
Allerdings ist die DNA-Methylierung nicht das primäre Ziel von extrazellulären
Signalen, sondern wirkt als Festiger für den zuvor etablierten Gedächtniserwerb
über Histonacetylierung und Histonmethylierung.
Zusammengenommen hat jedes der etwa 100 Mrd. (1011) Neuronen in unserem
Gehirn eine enorme Datenspeicherkapazität, da jedes Neuron etwa 2800 Mio.
Cytosine enthält, die methyliert werden können, und etwa 30 Mio. Nukleosomen,
die aus 240 Mio. Histonproteinen bestehen, welche auf mehr als 100 individuelle
Arten posttranslational modifiziert werden können.

9.3 MECP2 und das Rett-Syndrom

MECP2 gehört zur Familie der intrinsisch ungeordneten Proteine, die sich
durch eine geringe Sekundärstruktur auszeichnen. Dadurch eignet sich MECP2
gut für die Interaktion mit einer Vielzahl unterschiedlicher Arten von Makro-
molekülen wie anderen Proteinen, DNA und RNA. Zentral für die Primärstruktur
des MECP2-Proteins ist seine DNA-Bindungsdomäne, die eine MBD und mehrere
andere Strukturen enthält. Dementsprechend ist methylierte DNA, insbesondere
CA-Dinukleotide, ein spezifisches Ziel von MECP2. Das Protein interagiert auch
mit einer Vielzahl anderer Proteine wie HP1, dem Korepressor NCOR1 und der
HAT CREBBP.
MECP2 wird schnell ubiquitiniert, was seine Halbwertszeit auf nur 4 h begrenzt.
Das Protein wird in fast allen Geweben und Zelltypen exprimiert, zeigt jedoch
den höchsten Spiegel im Gehirn, insbesondere in Neuronen. Dementsprechend
ist MECP2 im neuronalen Chromatin ein sehr häufig vorkommendes Protein, das
im Schnitt an jedem zweiten Nukleosom zu finden ist (Abb. 9.3). MECP2 und
Histon H1 (Abschn. 2.1) konkurrieren um die Bindung am Nukleosom. Darum
ersetzt MECP2 Histon H1, wenn die MECP2-Spiegel während der neuronalen
Entwicklung ansteigen. Dadurch verringert sich die Wiederholungslänge des
Chromatins, also der Abstand vom Zentrum eines Nukleosoms zum Zentrum seines
Nachbarn, von 200 bp auf 165 bp (Abb. 9.3). Auf diese Weise erhöht MECP2
die Dichte der Chromatinverpackung. In dieser Konfiguration ist MECP2 Teil
eng gefalteter Heterochromatinstrukturen und suggeriert, dass das Protein haupt-
sächlich als Repressor der Transkription fungiert. Dennoch gibt es eine Reihe
von MECP2-Interaktionspartnern, welche die Genexpression stimulieren. Das
weist darauf hin, dass MECP2 eher ein Transkriptionsregulator ist, der abhängig
von seinen Interaktionspartnern an Regionen aktivierter oder inaktiver Gene
bindet. Darüber hinaus hat MECP2 bei der Bindung an Promotorregionen oder
Genkörper entgegengesetzte Funktionen. Die DNA-Methylierung in TSS-Regionen
rekrutiert MECP2 im Komplex mit Korepressorproteinen und HDACs und führt
9.3 MECP2 und das Rett-Syndrom 121

200 bp

Nukleosomenabstand (bp)
MECP2
200
H1 Leber Astrozyten
H1 Me
180
Neuron
MECP2

Neuronen mC
160
0 7 14
Tage
MECP2-MBD Histon-H1-WHD
165 bp

Me Me Me

Astrozyt
165 bp
hm/mCpG [A/T] ≥4 AAATT
Me Me Me

Abb. 9.3  Bindung von MECP2 an Chromatin von Neuronen und Astrozyten. Astrozyten
haben niedrigere MECP2-Spiegel als Neuronen, was zu einer regulären Wiederholungslänge
des Chromatins von 200 bp im Vergleich zu 165 bp für Neuronen führt. In Neuronen ist MECP2
gleichmäßig über das Chromatin verteilt, bindet an Stellen methylierter DNA und ersetzt Histon
H1, wodurch die Wiederholungslänge verringert wird. Die Änderungen der Wiederholungslänge
des Chromatins während der Entwicklung (in Tagen, beobachtet in einem Mausmodell) vor und
nach der Geburt sind für Astrozyten, Neuronen und Lebergewebe (als Referenz) angegeben. Ein
höherer Anteil von MECP2 im Verhältnis zu Histon H1 führt zu einer kürzeren Wiederholungs-
länge (Einsatz oben links)

zur­­Unterdrückung der Transkription. Im Gegensatz dazu wird die DNA des


Genkörpers transkribierter Gene methyliert und rekrutiert MECP2. Das verhindert
die Bindung der unterdrückenden Histonvariante H2A.Z (Kasten 4.1). Daher ist
der genaue Ort der MECP2-Bindung von entscheidender Bedeutung für seine
Funktion.
Chromatinmodifikatoren spielen eine zentrale Rolle bei kognitiven Störungen
(Tab. 9.1). Mutationen des MECP2-Gens führen zu einer besonderen Form von
Autismus, dem sogenannten Rett-Syndrom. Mehr als 95 % aller Fälle des Rett-
Syndroms lassen sich durch Mutationen im MECP2-Gen erklären, d. h., diese
spezielle Form des Autismus ist weitgehend eine monogenetische Krankheit. Das
bedeutet, dass das mechanistische Verständnis des Rett-Syndroms auf dys-
funktionalen MECP2-Proteinen in Neuronen basiert. Darüber hinaus beein-
flussen auch funktionelle Veränderungen von MECP2 in Astrozyten und Mikroglia
den Krankheitsphänotyp, obwohl MECP2 in diesen Zelltypen viel geringer
exprimiert wird.
Personen mit Rett-Syndrom sind heterozygot für eine Mutation im MECP2-
Gen. Da das MECP2-Gen auf dem X-Chromosom liegt, ist die Krankheit für
Männer meist embryonal letal, sodass fast ausschließlich Frauen mit einer
Inzidenz von etwa 1 auf 10.000 Personen betroffen sind. Das Syndrom tritt meist
durch de novo-Mutationen in der väterlichen Keimbahn auf. Betroffene Frauen
haben eine scheinbar normale, frühe postnatale Entwicklung, was darauf zurück-
geführt werden kann, dass die mCH-Spiegel während der Gehirnreifung erst
122 9 Neuroepigenetik

Tab. 9.1   Epigenetische Mechanismen neuropathologischer Erkrankungen. Neuronale


Störungen und Funktionen, die von der Epigenetik betroffen sind, sind aufgelistet, z. B.
Mutationen oder Überexpression von MECP2, abweichende DNA-Methylierung und/oder
Histonmodifikationen
Funktion oder Erkrankung Beteiligte Mechanismen
Rett-Syndrom MECP2-Mutationen
Autismus-Spektrum-Erkrankungen MECP2-Überexpression/erhöhte Spiegel, abnorme
DNA-Methylierung
Alzheimer-Erkrankung MECP2-Abnahme, Histonmodifikationen, abnorme
DNA-Methylierung
Parkinson-Erkrankung Verlust von MECP2
Huntington-Erkrankung MECP2-Dysregulation
Fragile-X-Syndrom Abnorme DNA-Methylierung
Rubinstein-Taybi-Syndrom HAT-Defizienz
Friedreich-Ataxie Reduzierte Histonacetylierung
Angelman-Syndrom Genetische Prägung (DNA-Methylierung)
Sucht- und Belohnungsverhalten MECP2-Zunahme, Histonmodifikationen, anormale
DNA-Methylierung, miRNAs
Posttraumatische Stress-Erkrankung Histonmodifikationen, abnorme DNA-Methylierung
Depression und/oder Selbstmord DNA-Methylierung
Schizophrenie Erhöhte MECP2-Bindung, Histonmodifikationen,
abnorme DNA-Methylierung
Epilepsie MECP2-Hochregulation, Histonmodifikationen,
abnorme DNA-Methylierung

allmählich ansteigen (Abschn. 9.1). Im Alter zwischen 6 und 18 Monaten ent-


wickeln sich jedoch Symptome, wobei die betroffenen Kleinkinder ihre Fähig-
keit zur Kommunikation und Motorik verlieren. Zusätzlich wird das körperliche
Wachstum verzögert und es entsteht eine Mikrozephalie. Damit ist das Rett-
Syndrom die erste neuronale Erkrankung, für die ein signifikanter Einfluss
der Epigenetik nachgewiesen werden konnte. Es dient als Paradebeispiel für
den Einfluss der Neuroepigenetik auf Krankheiten.

9.4 Epigenetik neurodegenerativer Erkrankungen

Dem Beispiel der monogenen neurologischen Entwicklungsstörung, des Rett-


Syndroms, folgend (Abschn. 9.3) stellt sich die Frage, ob die Epigenetik auch bei
komplexen multigenen Erkrankungen des Nervensystems wie neurodegenerativen
Erkrankungen eine Rolle spielt. MECP2 ist an der Kontrolle der Sekretion der
Neurotransmitter GABA, Dopamin und Serotonin aus den jeweiligen Neuronen
beteiligt und beeinflusst die Anzahl der Synapsen glutamatbindender Neuronen.
9.4 Epigenetik neurodegenerativer Erkrankungen 123

Das wird zumindest teilweise durch die Wechselwirkung von MECP2 mit BDNF
vermittelt, das als Modulator auf Glutamat- and GABA-bindende Synapsen
wirkt. Daher ist die streng regulierte Expression von MECP2 entscheidend für
die neuronale Homöostase. Da sowohl zu hohe als auch zu niedrige MECP2-
Proteinspiegel gegensätzliche Effekte bei der synaptischen Übertragung auslösen,
trägt eine Dysregulation der MECP2-Proteinexpression zu vielen neuropatho-
logischen Erkrankungen wie Alzheimer, Huntington, Schizophrenie und Epilepsie
bei (Tab. 9.1). Parallel dazu wurde eine abweichende DNA-Methylierung bei
einigen Autismus-Spektrum-Störungen, der Alzheimer-Krankheit, Epilepsie und
Schizophrenie beobachtet. Im Allgemeinen können epigenetische Mechanis-
men besonders relevant für komplexe Krankheiten mit geringer genetischer
Penetranz sein. Das sind z. B. Drogenabhängigkeit, posttraumatische Belastungs-
störung, Epilepsie und Schizophrenie, die epigenetische Entwicklungsmechanis-
men und erlerntes Verhalten beinträchtigen.
Die Histonacetylierung ist die am besten verstandene epigenetische Modi-
fikation. Mehrere neurodegenerative Erkrankungen beinhalten Störungen im
HAT/HDAC-Gleichgewicht, d. h., Patienten mit diesen Erkrankungen haben
abnorme Spiegel an Histonacetylierungen (Abb. 9.4). Ein Paradebeispiel ist das
Rubinstein-Taybi-Syndrom, das durch Kleinwuchs, geistige Behinderung, mittlere
bis schwere Lernschwierigkeiten, markante Gesichtszüge sowie breite Daumen
und große Zehen gekennzeichnet ist. Das Rubinstein-Taybi-Syndrom ist eine
monogenetische Erkrankung, die auf Mutationen des CREBBP-Gens beruht, das
eine HAT codiert. Die resultierende geringe Histonacetylierung kann durch die
Hemmung von HDACs ausgeglichen werden, d. h., HDAC-Inhibitoren sind eine
Therapieoption für Patienten mit dem Syndrom.
Ein weiteres Beispiel für eine monogenetische neurodegenerative Erkrankung
ist die Friedreich-Ataxie, die aus der Degeneration von Nervengewebe im Rücken-
mark resultiert, insbesondere in sensorischen Neuronen, die für die Steuerung der
Muskelbewegung von Armen und Beinen unerlässlich sind. Bei dieser Erkrankung
führt die Erweiterung einer Region mit Triplettwiederholungen innerhalb eines
Introns des Gens FXN (Frataxin) zum Verlust von H3ac- und H4ac-Markierungen
und zur Zunahme von H3K9me3-Markierungen, zur Ausbildung von Hetero-
chromatin und schließlich zum transkriptionellen Abschalten des Gens (Abb. 9.4).
In einem Mausmodell dieser Krankheit erhöhten HDAC-Inhibitoren die H3- und
H4-Acetylierung und korrigierten den Mangel an FXN-Expression. Das deutet
darauf hin, dass HDAC-Inhibitoren für die Behandlung der Friedreich-Ataxie
geeignet sein könnten.
In ähnlicher Weise wird die mit dem Fragile-X-Syndrom assoziierte mentale
Retardierung durch eine Expansion von CGG-Triplettwiederholungen in der
5'-UTR des Gens FMR1 (fragile X mental retardation 1) verursacht, die zu einer
umfassenden DNA-Methylierung an CpGs in der Nähe der TSS-Region führt
und das Gen abschaltet (Abb. 9.4). Auch in diesem Fall führte eine Behandlung
mit HDAC-Inhibitoren zu einer Reaktivierung der FMR1-Expression. Ins-
besondere SIRT1-Inhibitoren sind in der Lage, die Acetylierung zu erhöhen
und die Methylierung von Histonen am FMR1-Genlocus zu verringern.
124 9 Neuroepigenetik

Fragile-X-Syndrom Rubinstein–Taybi-Syndrom Rett-Syndrom

Ac Ac CREBBP
HDAC
CpG
FMR1
EP300 Ac
HDAC1 MECP2
CREBBP
Huntington-Erkrankung HDAC8
HTT HDAC2
Transkriptionelle
Dysregulation
Friedreich’s Ataxie
Ac
FXN
PPARGC1A
Pol II Apoptotische und Stress-Gene

Polyglutamin- Zellkern
nukleäre Einschlüsse

Cytoplasma Niemann–Pick-
Mitochondrium Typ-C-Erkrankung
Parkinson-
Polyglutamin- Erkrankung MS, Ischämie Abnorme Cholesterin-
aggregate und Schlaganfall speicherung in
Lysosomen
Synuklein-
Neuron Proteasom Lysosom Aggregate

Alzheimer-Erkrankung

-Amyloid

Entzündungs-
aktivierung
Gliazelle Pol II

Abb. 9.4  Rolle der Histonacetylierung bei neurodegenerativen Erkrankungen. Das


Niveau der Histonacetylierung hängt vom Gleichgewicht von HATs und HDACs ab und steht
im Zusammenhang mit mehreren neurodegenerativen Erkrankungen. Beispielsweise ist eine
verringerte Acetylierungsaktivität der HAT CREBBP mit dem Rubinstein-Taybi-Syndrom und
Polyglutaminerkrankungen wie der Huntington-Krankheit verbunden. Die transkriptionelle
Abschaltung des FXN-Gens bei der Friedreich-Ataxie oder des FMR1-Gens beim Fragile-X-
Syndrom kann durch HDAC-Inhibition aufgehoben werden. Weitere Beispiele für neuronale
Erkrankungen sind schematisch dargestellt und deren mögliche Behandlung durch HDAC-
Inhibitoren angezeigt

Die H ­untington-Krankheit beruht auf Polyglutaminwiederholungen in der


5ʹ‑codierenden Region des Gens HTT (Huntingtin), was zu einem fortschreitenden
motorischen und kognitiven Rückgang führt. Die Krankheit beinhaltet Störungen in
vielen Aspekten der neuronalen Homöostase wie abnorme Histonacetylierung und
Chromatinremodellierung sowie abweichende Interaktionen des HTT-Proteins, die
z. B. die Funktion des PPARGC1A-Gens (PPARGC1A für Peroxisomenproliferator-
aktivierter Rezeptor Gamma, Koaktivator 1α) betreffen (Abb. 9.4). In
verschiedenen Tiermodellen der Huntington-Krankheit zeigten HDAC-
Inhibitoren eine neuroprotektive Wirkung.
9.4 Epigenetik neurodegenerativer Erkrankungen 125

Die gezielte Histonacetylierung durch den Einsatz von HDAC-Inhibitoren


wurde bereits im Rahmen der Krebstherapie besprochen (Abschn. 8.5). Diese
Moleküle können jedoch auch bei der Behandlung komplexer neuronaler
Erkrankungen wie der Alzheimer-Krankheit und der Parkinson-Krankheit sowie
bei Depressionen, Schizophrenie, Drogenabhängigkeit und Angststörungen
von Nutzen sein. Beispielsweise zeigte der HDAC-Inhibitor Natriumbutyrat in
Mausmodellen antidepressive Wirkungen. Darüber hinaus zeigen mit HDAC-
Inhibitoren behandelte Tiere ein induziertes Sprießen von Dendriten, eine erhöhte
Anzahl von Synapsen, ein wiederhergestelltes Lernverhalten und Zugang zu ihren
Langzeitgedächtnissen. Das deutet auf eine mögliche breite Anwendung von
HDAC-Inhibitoren in der Therapie kognitiver Störungen hin. Der HDAC-
Inhibitor Valproinsäure ist schon seit längerer Zeit als Stimmungsstabilisator und
Antiepileptikum zugelassen.
HDAC-Inhibitoren haben auch einen breiten Einfluss auf die Genexpression
im Immunsystem (Abschn. 12.3) und erweisen sich bei der Behandlung von
Entzündungen und neuronaler Apoptose als wirksam (Abb. 9.4). Tiermodelle
von ischämieinduzierten Hirninfarkten zeigen, dass HDAC-Inhibitoren
entzündungshemmende und neuroprotektive Wirkungen haben und zur
Behandlung von Schlaganfällen eingesetzt werden können.
Neurodegenerative Erkrankungen haben unterschiedliche Ursachen und
Pathophysiologien, aber sie alle führen zu beeinträchtigter Kognition, dem
Absterben von Neuronen und der Fehlregulation des Transkriptionsfaktors REST
(RE1 unterdrückender Transkriptionsfaktor, auch NRSF genannt). REST hat
Effekte sowohl auf das Niveau der Acetylierung von Histonen als auch auf deren
Methylierung. REST wird während der gesamten Embryogenese stark exprimiert,
aber am Ende der neuronalen Differenzierung herunterreguliert, um den neuro-
nalen Phänotyp zu stärken. Der Transkriptionsfaktor dient als DNA-bindende
Plattform eines großen Proteinkomplexes, der die Korepressoren RCOR1
(Abschn. 5.4), HDAC1 und 2, MECP2, die KMT EHMT2 und die KDM LSD1
(KDM1A) enthält. Darüber hinaus kann der REST-Komplex auch die DNA-
Methylierungsmaschinerie rekrutieren. Der REST-Komplex interagiert mit
Bindungsstellen, die sich in der Nähe von TSS-Regionen von REST-Zielgenen
befinden. Das führt zur Deacetylierung und Methylierung lokaler Nukleosomen
an Position H3K9 und Demethylierung an H3K4me2-Markierungen. Somit
wird das lokale Chromatin in TSS-Regionen von REST-Zielgenen sehr effektiv
abgeschaltet . Insgesamt gibt es in unserem Genom bis zu 2000 primäre REST-
Zielgene. Der Satz aktiver REST-Zielgene ist jedoch zelltyp- und kontextabhängig
und variiert mit dem Entwicklungs- und Krankheitsstadium. Wahrscheinlich
beeinflussen unterschiedliche epigenetische Landschaften in verschiedenen Hirn-
regionen und Krankheitszuständen weitgehend die Auswahl von REST für eine
Untergruppe seiner Zielgene.
Da die meisten Fälle der Alzheimer-Krankheit sporadisch auftreten und sich
im Laufe der Zeit entwickeln, tragen Umweltfaktoren wesentlich zum Aus-
bruch dieser neurodegenerativen Erkrankung bei. Während REST in Neuronen
126 9 Neuroepigenetik

des frontalen Kortex und des Hippocampus des gesunden, alternden Gehirns
Gene abschaltet, die an Apoptose und oxidativem Stress beteiligt sind, geht diese
Funktion bei Patienten mit leichter oder schwerer kognitiver Beeinträchtigung
und Alzheimer-Krankheit verloren. Mit dem Auftreten fehlgefalteter Proteine wie
Aβ und Tau, die charakteristisch für die Entstehung der Alzheimer-Krankheit
sind, steigt die Rate der Autophagie. Unter diesen Bedingungen verschlingen
Autophagosomen nicht nur Aβ- und Tau-Komplexe, sondern auch REST. Der Ver-
lust von REST führt zu einer erhöhten Expression zuvor unterdrückter Gene, die
an oxidativem Stress und neuronalem Tod beteiligt sind. Somit erhöht der REST-
Entzug den Verlust von Neuronen in den entsprechenden Hirnregionen und
fördert das Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit.
Zusammengenommen liefert die Neuroepigenetik alternative und/oder
zusätzliche mechanistische Erklärungen für den Beginn neurodegenerativer
Erkrankungen. Somit hat die Neuroepigenetik das Potenzial, das Design neu-
artiger therapeutischer Strategien zur Verbesserung der schädlichen Folgen
von kognitiven Defiziten und Neurodegeneration zu steuern.

Weiterführende Literatur
Campbell, R.R. and Wood, M.A. (2019). How the epigenome integrates information and
reshapes the synapse. Nat Rev Neurosci 20, 133–147.
Hwang, J.Y., Aromolaran, K.A. and Zukin, R.S. (2017). The emerging field of epigenetics in
neurodegeneration and neuroprotection. Nat Rev Neurosci 18, 347–361.
Ernährungsepigenetik
10

Zusammenfassung

Die Epigenetik der Ernährung ist eine Teildisziplin der Nutrigenomik und
beschreibt, wie Nahrungsbestandteile unser Epigenom beeinflussen. Chroma­
tinmodifikatoren verwenden intermediäre Metaboliten wie Acetyl-CoA,
α-Ketoglutarat, NAD+, FAD, ATP oder SAM als Kosubstrate und/oder
Kofaktoren. Auf diese Weise fungieren Chromatinmodifikatoren als Sensoren
für den Ernährungszustand unserer Gewebe und Zelltypen und hinterlassen
entsprechende Spuren im Epigenom dieser Zellen. Der sparsame Phäno-
typ ist ein Konzept der epigenetischen Programmierung von Stoffwechsel-
geweben während der vorgeburtlichen Entwicklung. Die Prinzipien dieser
Programmierung gelten auch im Erwachsenenalter und können die fehlende
Vererbbarkeit der Anfälligkeit für komplexe Stoffwechselerkrankungen wie
T2D erklären.

Schlüsselwörter
Nutrigenomik · Energiestoffwechsel · Acetyl-CoA · NAD+ · SAM · Folsäure ·
sparsamer Phänotyp · T2D · Personalisierte Ernährung

10.1 Epigenetische Mechanismen der Nutrigenomik

Unsere Ernährung ist eine komplexe Mischung biologisch aktiver Moleküle, die
entweder Mikronährstoffe (Konzentration im Nano- bis Mikromolarbereich) wie
Vitamin D oder Makronährstoffe (Konzentration im Mikro- bis Millimolar-
bereich) wie Fettsäuren und Cholesterin sind. Einige dieser Nahrungsmoleküle

© Springer Nature Switzerland AG 2023 127


C. Carlberg und F. Molnár, Epigenetik des Menschen,
https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0_10
128 10 Ernährungsepigenetik

• haben einen direkten Einfluss auf die Genexpression, z. B. indem sie als Ligand
für einen Kernrezeptor wirken (Abb. 10.1A),
• modulieren nach ihrer Metabolisierung die Aktivität eines Transkriptionsfaktors
(Abb. 10.1B) oder
• stimulieren Signalübertragungswege, die mit der Induktion eines
Transkriptionsfaktors enden (Abb. 10.1C).

Nutrigenomik zielt darauf ab, Wechselwirkungen zwischen Ernährung und Gen-


expression auf genomweiter Ebene zu beschreiben, zu charakterisieren und zu
integrieren. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen führen zu einem verbesserten
Verständnis darüber, wie unsere Ernährung Stoffwechselwege und die homöo-
statische Kontrolle beeinflusst. Nutrigenomik untersucht, wie z. B. die ernährungs-
bedingte Genregulation in der Frühphase einer Erkrankung wie T2D gestört sein
kann. Wenn Individuen nach dem Zusammenspiel von Lebensstil, Stoffwechsel-
wegen und genetischer Variation klassifiziert werden, können die molekularen
Erkenntnisse – basierend auf Nutrigenomikstudien – maßgeschneiderte Diäten,
eine sogenannte personalisierte Ernährung, zur Krankheitsprävention und/oder
frühen therapeutischen Intervention vorschlagen (Abschn. 12.2).
Nutrigenomik und Pharmakogenomik haben einige Ähnlichkeiten in Bezug
auf ihre Konzepte und methodische Ansätze. Grundsätzlich werden in der
Pharmakogenomik jedoch die Wirkungen eines einzelnen, klar definierten
Moleküls (eines Arzneimittels) in einer genauen Konzentration und mit einem
bestimmten Ziel untersucht, während die Nutrigenomik der Komplexität und
Variabilität der Ernährung gegenübersteht. Wenn die personalisierte Ernährung
jedoch für eine spezifische Therapie eingesetzt wird, lösen sich die Unter-
scheidung zwischen Nahrungs- und Arzneimitteln sowie die Definition von
Gesundheit und Krankheit auf.
Die Verfügbarkeit von Nahrungsmetaboliten ist für alle Gewebe und Zelltypen
unseres Körpers essenziell. Dementsprechend führt dieses wichtige Signal unserer
Umwelt zur Aktivierung von Signalübertragungswegen innerhalb von Zellen.
Diese Wege stimulieren Genexpressionsprogramme, welche die Informationen
über unseren Ernährungszustand integrieren, um die zelluläre Homöostase zu
erhalten. Interessanterweise hängt die Aktivität der meisten Chromatinmodi-
fikatoren entscheidend von den intrazellulären Spiegeln essenzieller Metaboliten
ab. Daher gibt es eine Reihe von Mechanismen, wie Metaboliten das Epi-
genom modulieren. Beispielsweise ist α-Ketoglutarat ein essenzielles Kosubstrat
von TET-Enzymen (Abschn. 3.1) und KDMs, welche die Jumonji-Domäne
enthalten (Abschn. 5.1). Metaboliten, die α-Ketoglutarat strukturell ähnlich
sind wie 2-Hydroxyglutarat, Succinat und Fumarat, können die α-Ketoglutarat-
Bindungsstelle blockieren und TET- oder KDM-Enzyme inhibieren. Unter
hypoxischen Bedingungen wird (S)-2‑Hydroxyglutarat durch das Enzym
Lactatdehydrogenase produziert, während das Isomer (R)-2‑Hydroxyglutarat
in Krebszellen entsteht, die mutierte Formen der Enzyme IDH1 und IDH2 auf-
weisen (Abschn. 8.1, Abb. 8.1). Auf diese Weise können ziemlich unterschied-
liche Bedingungen wie Hypoxie und Genmutationen zur Produktion eines
10.1 Epigenetische Mechanismen der Nutrigenomik 129

Ernährung

Nährstoff-
moleküle

Stoffwechsel
Signalübertragung
Insulin

Zellmembran
IR A/B

Cytoplasma PTPN1
SORBS1
CBL IRS1

CDC42 IRS2
RHOQ p85α

A
IRS3
PTEN p110α p55α
IRS4
p110β PI3K p50α
p110γ p85β Knotenpunkt 1
Glukoseaufnahme PRKCI PDPK
p55γ
Knotenpunkt 2
TBC1D4 AKT1
SHC
AKT2
MAPK8
AKT3 Zellwachstum,
Knoten- Differenzierung
punkt 3

GSK3 TOR

Glukosesynthese Proteinsynthese

Glukoneogenese

Genexpression

Normales Zellwachstum

Abb. 10.1  Grundlagen der Nutrigenomik. Nutrigenomik zielt darauf ab, ein molekulares Ver-
ständnis dafür zu liefern, wie Nährstoffe die Gesundheit beeinflussen, indem sie die Expression
eines größeren Satzes von Genen verändern. Es wurde gezeigt, dass Nährstoffmoleküle
die Genexpression auf verschiedene Weise verändern. Sie können als direkte Liganden für
Transkriptionsfaktoren fungieren (A), Transkriptionsfaktormodulatoren nach einer chemischen
Umwandlung in Stoffwechselwegen sein (B) oder als Aktivatoren von Signalübertragungswegen
dienen, die mit der Aktivierung eines Transkriptionsfaktors enden (C). Alle drei Aktivierungs-
wege modulieren physiologische Funktion wie das Zellwachstum
130 10 Ernährungsepigenetik

Metaboliten führen, der eine Hypermethylierung sowohl von Histonproteinen als


auch von genomischer DNA verursacht (was schließlich zu einer Abschaltung
des Gens führt). Ebenso kann die Akkumulation von Succinat oder Fumarat in
Tumoren, denen die Enzyme Succinatdehydrogenase oder Fumarathydratase
fehlen, zur Inhibition α‑Ketoglutarat‑abhängiger Enzyme führen und auch eine
Hypermethylierung verursachen. Somit können Chromatinmodifikatoren
als Sensoren für den Stoffwechselstatus einer Zelle fungieren und die Stoff-
wechselinformationen in dynamische posttranslationale Histonmodifikationen
übersetzen, die wiederum die adaptive Genexpressionen koordinieren (Abb. 10.2).
Ein weiteres Beispiel, wie Variationen im zellulären Stoffwechselzustand
die relativen Konzentrationen von Kofaktoren beeinflussen und die Aktivität
von Chromatinmodifikatoren beeinflussen, ist der Methylgruppendonor SAM
(Abschn. 3.1). Das Molekül verbindet die Prozesse des Intermediärstoffwechsels
und die DNA-Methylierung (Kasten 10.1). Nachdem die Methylgruppe von SAM
auf ein Histon oder auf Cytosin in genomischer DNA übertragen wurde, reagiert
das Produkt SAH (S-Adenosylhomocystein) zu SAM. Interessanterweise ist SAH
ein negativer Feedbackregulator von KMTs, d. h., das SAM/SAH-Verhältnis (auch
als Methylierungsindex bezeichnet) ist entscheidend für die Histon- und DNA-
Methylierung.

Kasten 10.1
Folatstoffwechsel und Methylierung. Tetrahydrofolat, ein Derivat des
B-Vitamins Folat, speist den C1-Zyklus, indem es als Methylgruppendonor
wirkt (Abschn. 7.1). Das zeigt einen direkten Zusammenhang zwischen
Ernährung und Epigenetik. Methylgruppendonoren sind entscheidend
für die epigenetische Programmierung während der Embryogenese. Ein
hoher Homocysteinspiegel ist ein etablierter Biomarker für die Störung des
C1-Zyklus und steht im Zusammenhang mit niedrigen Konzentrationen von
Folat, Vitamin B6 und B12, Cholin und Betain. Das kann zu einem erhöhten
Risiko für Frühgeburten, niedrigem Geburtsgewicht und Neuralrohrdefekten
führen. Darüber hinaus erhöht eine geringe Aufnahme von Folat oder
Methionin über die Nahrung das Risiko von Dickdarmadenomen, während
eine Exposition gegenüber mehr Folat in utero mit einem verringerten
Risiko von akuter lymphatischer Leukämie, Hirntumoren und Neuro-
blastomen im Kindesalter assoziiert ist. Das vom MTHFR-Gen (MTHFR
für Methylentetrahydrofolatreduktase) codierte Enzym katalysiert die
Umwandlung von 5,10-Methylentetrahydrofolat zu 5-Methyltetrahydrofolat.
10–15 % der Europäer tragen auf beiden Allelen die C677T-Variante
(rs1801133), welche die Aktivität des Enzyms um mehr als 50 % reduziert.
Dementsprechend sind Personen mit einem TT-Genotyp stärker von einer
niedrigen Zufuhr an Folat betroffen als Personen mit dem CC- oder CT-
Allel.
10.1 Epigenetische Mechanismen der Nutrigenomik 131

Nährstoffe Stoffwechsel

Signalmetaboliten
SAM, FAD, NAD, Acetyl-CoA, β-OHB, ATP

“writer” “reader” “eraser”


DNMTs, KMTs CREBBP, EP300 TET-Enzyme, KDMs
HATs KAT2B, BRDs HDACs

Ac

Ac Ac Me

Me Me

Anhängen Code erkennen Entfernen

Abb. 10.2  Epigenetik der Ernährung. Veränderungen in der Ernährung oder Schwankungen


im Stoffwechsel beeinflussen das Transkriptom von Stoffwechselgeweben. Eine Reihe inter-
mediärer Metaboliten wirken als Kosubstrate und/oder Kofaktoren von Chromatinmodifikatoren,
d. h., diese Enzyme wirken als Stoffwechselsensoren. writer-Enzyme erzeugen kovalente
Chromatinmarkierungen, reader-Enzyme erkennen diese Markierungen und eraser-Enzyme
entfernen sie (Abschn. 5.1). Das führt zu Veränderungen der lokalen Chromatinstruktur und hat
Konsequenzen für die Aktivität und Regulation der benachbarten Gene

Interessanterweise ist ein breites Spektrum an Sekundärmetaboliten, die wir aus


Früchten, Gemüse, Tees, Gewürzen und traditionellen Heilkräutern aufnehmen,
wie Genistein, Resveratrol, Curcumin und Polyphenole aus grünem Tee, Kaffee
und Kakao, in der Lage, die Aktivität von Chromatinmodifikatoren zu modulieren
(Abb. 10.3).
132 10 Ernährungsepigenetik

Euchromatin Fakultatives Heterochromatin Heterochromatin


KMT me3
HAT me3
CoA Ac
me3 Ac DNMT CoR
me3
me3
me3 Me
e
me3 Me Me
Me
Me
Me Me Me
Ac
Me Me
KDM Me-CpG
Ac
Ac HDAC
OH OH OH
OH OCH3 OCH3
OH O HO
HO O HO O HO OH
OH OH
OH OH
HO O
OH OH OH O O
Epikatechin Genistein Resveratrol Katechin Cucurmin

Grüner Tee Soja Trauben Kakao Curcuma

Abb. 10.3  Naturstoffe regulieren die Aktivität von Chromatinmodifikatoren. Natür-


liche Moleküle pflanzlichen Ursprungs modulieren die Aktivität von Chromatinmodifikatoren
wie HATs und KDMs in offenem Chromatin (links), von KMTs, DNMTs und HDACs in
fakultativem Heterochromatin (Mitte) und von methylierten CpGs in Heterochromatin (rechts).
Auf diese Weise beeinflussen sie den epigenetischen Status der meisten Gewebe und Zelltypen

Zusammengenommen zielen mehrere Ansätze der Nutrigenomik darauf ab,


das Wohlbefinden zu erhalten, die Gesundheit zu fördern und neue therapeutische
Strategien zu eröffnen. Dieses Konzept legt nahe, dass Änderungen des
Lebensstils wie erhöhte körperliche Aktivität und konsekutive Gewichts-
abnahme einen positiven Effekt auf das Epigenom haben und somit das Risiko,
am metabolischen Syndrom zu erkranken, senken können (Abschn. 12.2).

10.2 Energiestoffwechsel und Epigenetik

Der Energiestatus unserer Gewebe und Zelltypen ist die wichtigste Information
für unseren Körper, um Umweltbedingungen zu interpretieren und zu integrieren.
Die Ernährungsepigenetik untersucht, wie Stoffwechselwege mit Chromatin
kommunizieren und Informationen über die Nährstoffverfügbarkeit und den
Energiestatus liefern. Da zentrale Metaboliten wie AMP, NAD+, SAM und Acetyl-
CoA als Kofaktoren und/oder Kosubstrate von Chromatinmodifikatoren fungieren,
werden Genexpressionsprogramme vieler zentraler physiologischer Prozesse, z.
B. Proliferation und Differenzierung, durch den Stoffwechselstatus der Zellen
moduliert. Diese Ereignisse können im Epigenom von Skelettmuskeln und Fett-
gewebe gespeichert werden. Die beiden letztgenannten Stoffwechselorgane machen
mehr als die Hälfte unserer Körpermasse aus. Ihre relative Menge ist jedoch sehr
variabel und hängt von Umweltfaktoren wie körperliche Aktivität und Nahrungs-
aufnahme ab. Das bedeutet, dass unser Lebensstil ein metabolisch-epigenetisches
10.2 Energiestoffwechsel und Epigenetik 133

Gedächtnis schafft. So merkt sich nicht nur die Masse des Fettgewebes, sondern
auch das Epigenom unserer Muskeln und Fettgewebe, wie viel wir gegessen
und uns bewegt haben.
Das Verhältnis der oxidierten (NAD+) und reduzierten (NADH) Form des
Kofaktors NAD spiegelt den zellulären Redoxzustand wider und ist umgekehrt
proportional zum Energiezustand einer Zelle. Während des Fastens, d. h. bei
niedrigen Mengen an Nahrungsmetaboliten, steigt die intrazelluläre Konzentration
von NAD+ an. Das führt zu einer Aktivitätssteigerung von HDACs der SIRT-
Familie (die NAD+ als Kofaktor verwenden) und zur Deacetylierung ihrer
Zielproteine (Abb. 10.4, links). Die Angriffspunkte von SIRTs sind häufig
Histone, aber auch Transkriptionsfaktoren oder deren Kofaktoren wie p53
und PPARGC1A sind in ihrem Acetylierungsstatus betroffen. Eine verringerte
Nahrungsaufnahme ist vorteilhaft für die Stoffwechselgesundheit und kann das
Altern verlangsamen (Abschn. 7.3). Da die NAD+-Konzentrationen circadian
schwanken, ist die SIRT-vermittelte Genregulation mit der epigenetischen Uhr
verknüpft (Abschn. 7.4). Darüber hinaus wirkt der Metabolit D-β-Hydroxybutyrat
(β-OHB) als Inhibitor von HDAC 1–3. Während des Fastens oder der Ernährungs-
einschränkung steigen die β-OHB-Spiegel, was die Histonacetylierung fördert.
Im Gegensatz dazu werden Nährstoffe nach der Nahrungsaufnahme in kata-
bolische Stoffwechselwege eingeschleust, um unter anderem Acetyl-CoA zu

Nährstoffe

O
NH2
O NH2 N
N O O CH3 O O

Acetyllysin
O P O +
N
O O P O P CH2O C CH C NH CH2 CH2 C NH CH2 CH2 SH
N N
O

NAD+
O O CH3 OH

O OH OH

NH2 OH O
CoA
N N O P O

O
O P O N N
O
O

OH OH
Protein

NH2

N SIRT Lysin Acetyltransferase


Nicotinamid NH2

N
N O O CH3 O O O
O
O P O P CH2O C CH C NH CH2 CH2 C NH CH2 CH2 S C CH3
N N
O P O

Acetyl-
OH O
O O O CH3 OH

Protein gruppe
O OH O

O
NH2
CH3 Acetylgruppe OH

O
O

P O
Acetyl-CoA
N N
O

O P O N N
O
O

OH OH
Acetyl-ADP-Ribose

Nährstoffe

Abb. 10.4  Zusammenhang zwischen Proteinacetylierung und Zellstoffwechsel. NAD+


(links) fungiert als Kofaktor für HDACs der SIRT-Familie, die Proteine deacetylieren, welche
von HATs mit Acetyl-CoA (rechts) acetyliert wurden. Somit spiegelt der Acetylierungsstatus
wichtiger regulatorischer Proteine die zelluläre Konzentration von NAD+ und Acetyl-CoA wider,
d. h. einen niedrigen (oben) bzw. hohen (unten) Ernährungsstatus
134 10 Ernährungsepigenetik

produzieren. Erhöhte Acetyl-CoA-Konzentrationen stimulieren die HAT-Aktivi-


tät, sodass deren Zielproteine acetyliert werden (Abb. 10.4, rechts). Wenn die
Zielproteine Histone sind, führt die Acetylierung von Chromatin zu offenem
Chromatin. Dadurch wird die Expression von Genen stimuliert, die an Stoff-
wechselprozessen wie Lipogenese und Adipozytendifferenzierung beteiligt sind.
Darüber hinaus ist ein großer Teil der auf Acetyl-CoA ansprechenden Gene an der
Progression des Zellzyklus beteiligt, d. h., eine Erhöhung der Histonacetylierung
ist häufig mit einer Zellproliferation verbunden. Bei der Induktion zellulärer
Differenzierung, z. B. von ES-Zellen, nimmt der Acetyl-CoA-Spiegel jedoch
signifikant ab. Dementsprechend ist der Verlust der Pluripotenz mit einer ver-
ringerten Glykolyse und niedrigeren Konzentrationen von Acetyl-CoA und
Histondeacetylierung verbunden. Darüber hinaus beeinflusst der Acetyl-CoA-
Spiegel auch das Überleben von Zellen und Entscheidungen über ihren Tod. Bei-
spielsweise induziert ein niedriger Acetyl-CoA-Spiegel den katabolischen Prozess
der Autophagie, der für die Qualitätskontrolle der Organellen und das Überleben
der Zellen bei metabolischem Stress entscheidend ist. Somit ist das Acetyl-CoA/
CoA-Verhältnis ein wichtiger Regulator zellulärer Entscheidungen.
Ein weiteres Beispiel für die Erkennung von Metaboliten ist das Enzym
AMPK, das in seiner Aktivität durch das AMP/ATP-Verhältnis gesteuert wird.
Wenn Zellen mehr ATP verbrauchen als sie produzieren, d. h. bei geringer Nähr-
stoffverfügbarkeit, steigen die AMP-Konzentrationen als Signal für energetischen
Stress. AMP bindet an die γ-Untereinheit des AMPK-Heterotrimers und
aktiviert die Kinase. Da Histone AMPK-Substrate sind, wird über die Histon-
phosphorylierung ein niedriger Energiezustand der Zelle markiert. Somit werden
Beeinträchtigungen des Energiestatus einer Zelle auf der Ebene von Histon-
modifikationen gespeichert und können über adaptive Genregulation in
funktionelle Ergebnisse übersetzt werden. Im Gegensatz dazu führt ein hoher
Nährstoffgehalt zu niedrigen AMP-Spiegeln, keiner AMPK-Aktivität, einem
veränderten Histonphosphorylierungsmuster und der Aktivität eines anderen
Satzes von Genen. So kann der Stoffwechselzustand einer Zelle durch das ATP/
AMP-Verhältnis, das SAM/SAH-Verhältnis, das NADH/NAD+-Verhältnis und
das Acetyl-CoA/CoA-Verhältnis ausgedrückt werden (Abb. 10.5). Unter hohen
Nährstoffkonzentrationen, z. B. einer reichlichen Verfügbarkeit von Methionin
und Glucose, aktiviert SAM KMTs und Acetyl-CoA stimuliert HATs, was zu
Histonmethylierung bzw. Histonacetylierung führt. Im Gegensatz dazu aktiviert
AMP bei niedrigen Nährstoffgehalten, z. B. beim Fasten, AMPK und NAD+ und
stimuliert SIRTs, was zu Histonphosphorylierung und Histondeacetylierung führt.
Darüber hinaus inhibiert SAH parallel DNMTs und CoA blockiert HATs.
10.3 Epigenetik intergenerationaler Stoffwechselerkrankungen 135

Nährstoffe

Ac

Me

DNMT

KMT HAT
ATP SAM NADH Acetyl-CoA

AMPK SIRT CoA-SH


AMP SAH NAD+

P Ac

Nährstoffe

Abb. 10.5  Epigenetische Erfassung des Ernährungszustands. Ein guter Ernährungszustand


einer Zelle (oben) wird durch die Menge der Metaboliten ATP, SAM, NADH und Acetyl-
CoA repräsentiert, während es bei einem niedrigen Nährstoffgehalt (unten) die Metaboliten
AMP, SAH, NAD+ und CoA vorherrschen. Dementsprechend werden bei hohen Nährstoff-
konzentrationen KMTs und HATs stimuliert, während bei niedrigen Konzentrationen AMPK
und HDACs der SIRT-Familie aktiviert und DNMTs und HATs unterdrückt werden. Das führt zu
Histonmethylierung und -acetylierung bzw. Histonphosphorylierung und -deacetylierung

10.3 Epigenetik intergenerationaler


Stoffwechselerkrankungen

Ernährung und körperliche Bewegung spielen eine wichtigere Rolle in der Patho-
genese von Stoffwechselerkrankungen wie T2D als eine genetische Veranlagung
(Abschn. 12.1). Die Auswirkungen unserer Lebensstilentscheidungen in Bezug auf
Essen und Bewegung werden im Epigenom unserer Stoffwechselorgane gespeichert.
Beispielsweise haben epigenomweite Assoziationsstudien und Studien an Zwillings-
kohorten beim Vergleich von T2D-Patienten mit gesunden Personen unterschied-
lich methylierte CpG-Inseln in Stoffwechselorganen nachgewiesen. Wie bei Krebs
(Abschn. 8.2) können diese Regionen als frühe prognostische Biomarker für einen
prädiabetischen Zustand dienen. Änderungen des Lebensstils wie eine angepasste
Ernährung und erhöhte körperliche Aktivität können die epigenomweiten Ver-
änderungen rückgängig machen und die Entwicklung von T2D verhindern.
Beispielsweise zeigte ein sechsmonatiges Programm körperlicher Betätigung epi-
genomweite Veränderungen in Tausenden von Regionen im Genom.
Das Konzept der epigenetischen Programmierung über Nährstoffmoleküle
legt nahe, dass die Entscheidung für eine verringerte Nahrungsaufnahme, eine
136 10 Ernährungsepigenetik

„mediterrane“ oder auch „nordische“ Ernährung unseren Chromatinstatus beein-


flussen und zur Expression von Genen führen können, die für die metabolische
Gesundheit von Vorteil sind. Das impliziert, dass sich epigenetische Zustände,
die ursprünglich während der Embryogenese festgelegt wurden, als Reaktion auf
intrinsische und Umweltfaktoren wie Nährstoffmoleküle verschieben können.
Diese epigenetische Drift metastabiler Epiallele wurde bereits im Zusammenhang
mit dem epigenetischen Gedächtnis und der transgenerationalen Vererbung dis-
kutiert (Abschn. 7.1). Beispielsweise können Änderungen in der Ernährung oder
im Stoffwechsel, die mit Fettleibigkeit einhergehen, eine epigenetische Drift ver-
ursachen, die an die nachfolgenden Generationen vererbt werden kann.
Im Allgemeinen haben die Nachkommen von Müttern, die während der
Embryonalentwicklung einer ungünstigen Umgebung wie Unterernährung oder
Plazentafunktionsstörungen (die zu einer Beeinträchtigung des Blutflusses, des
Nährstofftransports oder Hypoxie führt) ausgesetzt sind, im Erwachsenenalter ein
erhöhtes Risiko, Symptome des metabolischen Syndroms zu entwickeln (Fett-
leibigkeit, Bluthochdruck, gestörte Glucosetoleranz und T2D; Abschn. 12.1).
So können kritische Störungen im Energiestoffwechsel zu stabilen epi-
genetischen Veränderungen führen, die über die Keimbahn aufrechterhalten
werden und die Gesundheit der nächsten Generationen beeinträchtigen.
Diese Beobachtungen bildeten die Grundlage für das „Konzept des sparsamen
Phänotyps“ (oder allgemeiner formuliert als DOHaD, Abschn. 7.1) (Abb. 10.6).

Nährstoffarme
Umgebung (pränatal)

Nährstoffarme
e Entwicklungsbedingte Nährstoffreiche
Umgebung Programmierung Umgebung
des Epigenoms

Überlebensvorteil
rleben
b svor
ben Erhöhte
hte A
Anfälligkeit
nfäl
nfä
fälllli
ll
lligke für
des Nachwuchses Stoffwechselerkrankungen

Abb. 10.6  Konzept des sparsamen Phänotyps (DOHaD-Hypothese). Intrauterine Stressoren,


einschließlich mütterlicher Unterernährung oder Fehlfunktion der Plazenta, können abnorme
Entwicklungsmuster, Histonmodifikationen und DNA-Methylierung auslösen. Zusätzliche post-
natale Umweltfaktoren, einschließlich beschleunigtes postnatales Wachstum, Fettleibigkeit,
Inaktivität und Alterung, tragen möglicherweise über Veränderungen in Histonmodifikationen
und DNA-Methylierungsmustern von Stoffwechselgeweben zum Risiko für T2D bei. Offensicht-
lich haben epigenetische Veränderungen während der Embryogenese einen viel größeren Einfluss
auf den gesamten epigenetischen Status eines Individuums als die von adulten Stammzellen oder
somatischen Zellen, da sie eine höhere Anzahl nachfolgender Zellteilungen betreffen
Weiterführende Literatur 137

Wenn dieses Konzept zutrifft, kann die weltweit wachsende Epidemie der
Fettleibigkeit und der Stoffwechselerkrankungen zu einer signifikant erhöhten
epigenetischen Prädisposition für das metabolische Syndrom in den nach-
folgenden Generationen führen, was zu einem Teufelskreis auswächst
(Abschn. 12.1).

Weiterführende Literatur
Carlberg, C., Ulven, S.M. and Molnár, F. (2020). Nutrigenomics: How Science Works. Springer
Textbook ISBN: 978-3-030-36948-4.
Di Francesco, A., Di Germanio, C., Bernier, M. and de Cabo, R. (2018). A time to fast. Science
362, 770–775.
Sales, V.M., Ferguson-Smith, A.C. and Patti, M.E. (2017). Epigenetic mechanisms of trans-
mission of metabolic disease across generations. Cell Metab 25, 559–571.
Epigenetik der Immunfunktion
11

Zusammenfassung

Hämatopoese ist die lebenslange Regeneration unserer Blutzellen. Der Prozess


produziert weit mehr Zellen als jedes andere Gewebe unseres Körpers.
Durch Wachstumsfaktoren stimulierte Signalübertragungswege regulieren
in Kombination mit Transkriptionsfaktoren und Chromatinmodifikatoren die
Selbsterneuerung und Differenzierung von HSCs. Die meisten der etwa 100
verschiedenen Zelltypen, die durch Hämatopoese erzeugt werden, gehören zum
Immunsystem und unterscheiden sich in ihrer epigenetischen Programmierung,
insbesondere an zellspezifischen Enhancerregionen. Die epigenetische
Regulation ist von grundlegender Bedeutung für die Differenzierung von
Immunzellen sowie für ihre adaptive Reaktion auf verschiedene Umweltheraus-
forderungen wie Infektionen mit Mikroben. Diese epigenetischen Prozesse sind
auch die Grundlage für die trainierte Immunität, die eine Gedächtnisfunktion
des angeborenen Immunsystems darstellt. Im Allgemeinen ist die epigenetische
Profilerstellung von Immunzellen ein wichtiges Werkzeug für eine molekulare
Beschreibung von Gesundheit und so unterschiedlichen Krankheiten wie
allergische Reaktionen und Krebs.

Schlüsselwörter
Hämatopoese · HSCs · Balancierte Enhancer · Trainierte Immunität ·
Entzündung · Autoimmunität · Asthma · Epigenetische Profilerstellung

11.1 Epigenetik der Hämatopoese

Hämatopoese ist der Prozess der lebenslangen Regeneration von Blutzellen.


Jeden Tag entstehen aus HSCs etwa 1011 Zellen, d. h., im Laufe unseres Lebens
produziert das Knochenmark weit mehr Zellen als jedes andere Gewebe

© Springer Nature Switzerland AG 2023 139


C. Carlberg und F. Molnár, Epigenetik des Menschen,
https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0_11
140 11 Epigenetik der Immunfunktion

unseres Körpers. Dieser hoch dynamische Entwicklungsprozess umfasst die


Selbsterneuerung multipotenter HSCs sowie deren Differenzierung in einer
hierarchischen Kaskade. Die Hämatopoese führt zu elf Hauptabstammungslinie
reifer Blutzellen, die in 100 phänotypisch unterschiedliche Zelltypen aufgeteilt
werden (Abb. 11.1A). Die meisten dieser Zelltypen gehören zum Immunsystem
(Abschn. 11.2). HSCs differenzieren sich in unreife Vorläuferzellen wie multi-
potente Vorläuferzellen (MPPs), aus denen dann die Vorläuferzellen der
myeloiden oder lymphoiden Abstammungslinien hervorgehen, die als gemeinsame
myeloische Vorläuferzellen (CMPs) bzw. gemeinsame lymphoide Vorläuferzellen
(CLPs) bezeichnet werden. CMPs differenzieren sich weiter in Megakaryozyten-
Erythrozyten-Vorläufer (MEPs) und Granulozyten-Monozyten-Vorläufer
(GMPs). Die Zellen der myeloischen Abstammungslinie umfassen Erythrozyten,
Blutplättchen und Zellen des angeborenen Immunsystems wie Neutrophile,
Eosinophile und Monozyten (die sich weiter in dendritische Zellen oder Makro-

A PRC2
B
Trithorax-Gruppe
SUZ12 und EED PRC1 Expression von
KMT2A, KMT2E, Ausmaß an DNA-Methylierung
g
EZH1 oder EZH2 BMI1, CBX7 Chromatinmodifikatoren
MEN1 und ASH1L
z.B. LCK in T-Zellen
DNMT1 POU2AF1 in B-Zellen
CXCR2 in Neutrophilen PRC1 PRC2
Selbst-
Proliferation

erneuerung
Linienspezifische Gene
Differenzierungsgene

CDKN2A

CBX7

EZH2
BMI1
EHMT1, EHMT2 Engagement

EED
HSC
TET2-Enzym,
DNMT3A, DNMT3B
Differenzierung

MPP
PP
EZH1, EZH2,
DNMT1,
TET2-Enzym
CLP
BMI1
CMP
Multipotenzgene

MEP GMP T-Zelle


CBX8

B-Zelle

NK-Zelle
Erythrozyt Blut- Makrophage Neutrophiler
plättchen Lymphatische z.B. MEIS1 z.B. DACH1 in CLPs
Myeloische Differenzierung Differenzierung

Abb. 11.1  Epigenetik der Hämatopoese. Wichtige Chromatinmodifikatoren der HSC-


Selbsterneuerung und ihre Differenzierung während der Hämatopoese sind angegeben (A).
Während der Festlegung der hämatopoetischen Abstammungslinien ändern sich die DNA-
Methylierungsgrade dynamisch (B, links). Die Expression wichtiger epigenetischer Regulatoren
verändert sich während der Hämatopoese (B, rechts). Weitere Einzelheiten sind im Text
angegeben
11.1 Epigenetik der Hämatopoese 141

phagen differenzieren können). Auf der anderen Seite produziert die lymphoide
Abstammungslinie die Hauptzellen des adaptiven Immunsystems – B- und
T-Zellen. Erythrozyten werden auch als rote Blutkörperchen bezeichnet, während
myeloide und lymphoide Zellen als Leukozyten (weiße Blutzellen) zusammen-
gefasst werden.
Eine Reihe von extrinsischen und intrinsischen Faktoren wie wachstumsfaktor-
stimulierte Signalübertragungswege, Transkriptionsfaktoren und Chromatin-
modifikatoren regulieren das Gleichgewicht zwischen Selbsterneuerung und
Differenzierung von HSCs. Im Gegensatz dazu kann eine Störung oder Fehl-
regulation dieses Prozesses zu hämatologischen Erkrankungen wie Leukämie,
Lymphom und Myelom führen. Bei diesen Krankheiten erhöht die übermäßige
Produktion von Leukozyten im Knochenmark deren Spiegel im Blutkreislauf
erheblich. Darüber hinaus beeinträchtigt eine Störung in jedem Stadium der
Hämatopoese die Produktion und Funktion von Blutzellen und kann schwer-
wiegende Folgen haben, z. B. die Unfähigkeit, Infektionen zu bekämpfen,
oder das Risiko unkontrollierter Blutungen.
Während der Hämatopoese ändert sich das genomweite DNA-Methylierungs-
muster von sich differenzierenden Blutzellen dynamisch und ist sehr ortsspezi-
fisch, d. h., in einigen Regionen im Genom steigt der DNA-Methylierungsgrad
an, während er in anderen Regionen abnimmt (Abb. 11.1B, links). Letzteres
korreliert mit der Hochregulation zellspezifischer Gene und der von ihnen
codierten Proteine wie der Tyrosinkinase LCK (LCK-Protoonkogen, Tyrosin-
kinase der Src-Familie) in T-Zellen, dem Kofaktor POU2AF1 in B-Zellen und dem
Chemokinrezeptor CXCR2 (C-X-C-Motiv-Chemokinrezeptor 2) in Neutrophilen.
Im Allgemeinen erhöht die Festlegung auf eine bestimmte Abstammungslinie den
Grad der DNA-Methylierung, da in diesen terminal differenzierten Zellen nur
ein reduzierter Satz von Genen benötigt wird. So werden bestimmte Gene spezi-
fisch abgeschaltet, z. B. der Transkriptionsfaktor MEIS1 (Meis-Homöobox 1),
der den undifferenzierten Zustand aufrechterhält, oder der myeloidspezifische
Transkriptionsfaktor DACH1 (Transkriptionsfaktor 1 der Dackelfamilie) in
lymphoiden Zellen. Interessanterweise ist die myeloische Abstammungslinie
das vorprogrammierte Ergebnis der Hämatopoese, da die Differenzierung in
diese Zellen weniger Korrektur durch erhöhte DNA-Methylierung erfordert als
die der lymphoiden Abstammungslinie. Somit können hämatopoetische Zellen
basierend auf ihrem DNA-Methylierungsprofil, d. h. ihrem DNA-Methylom,
leicht unterschieden werden.
Parallel zu Veränderungen im DNA-Methylierungsmuster verändern auch
wichtige Chromatinmodifikatoren ihre Expression während der Hämatopoese.
Beispielsweise ändert sich die Expression der meisten Mitglieder der Polycomb-
Familie während der HSC-Differenzierung (Abb. 11.1B, rechts). Die PRC1-
Komponenten CBX7 und BMI1 (BMI1-Protoonkogen, Polycomb-Ringfinger), die
für die Erkennung und Monoubiquitinierung von H2AK119 v­ erantwortlich sind
142 11 Epigenetik der Immunfunktion

(Abschn. 6.3), werden in HSCs stark exprimiert, aber während der Festlegung der
Abstammungslinie herunterreguliert. Dagegen ist der CBX7-Konkurrent CBX8
hochreguliert. Die PRC2-Komponente EED (embryonale Ektodermentwicklung)
verändert sich während der Hämatopoese nicht, während die H3K27-spezi-
fische KMT EZH2 herunterreguliert wird. In ähnlicher Weise tragen Mitglieder
der Familie der Trithorax-Gruppe wie KMT2A, KMT2E, ASH1L (ASH1-ähn-
liche Histonlysinmethyltransferase) und MEN1 (Menin 1) zur Hämatopoese bei.
Darüber hinaus hinterlegen die KMTs EHMT1 und EHMT2 unterdrückende
H3K9me2-Markierungen im Epigenom von HSCs (Abb. 11.1A). Dement-
sprechend kann eine Fehlregulation der Gene, die diese Chromatinmodi-
fikatoren codieren, zu hämatopoetischem Versagen führen, z. B. einem
Stillstand des Zellzyklus von HSCs, vorzeitiger Differenzierung, Apoptose und
fehlerhafter Selbsterneuerung und schließlich zu hämatologischen Malignomen.
Neben Chromatinmodifikatoren spielen einige Master-Transkriptions-
faktoren wie CEBPα (CCAAT-bindendes Protein α), PU.1 (purinreiche Box 1)
und GATA2 (GATA-Bindungsprotein 2) eine Schlüsselrolle bei der Hämatopoese.
Sie fungieren als Pionierfaktoren, die um Nukleosomen gewickelte genomische
DNA binden können. Diese Transkriptionsfaktoren rekrutieren dann Komplexe
von Chromatinmodifikatoren und Chromatinremodellierern, die wiederum die
Entfernung und posttranslationale Modifikation von Nukleosomen in diesen
Regionen erleichtern. Beispielsweise erzeugt die anhaltende Expression von
CEBPα in myeloiden Vorläufern Makrophagen, während unter anhaltender
Expression von GATA2 Mastzellen erzeugt werden. Wenn jedoch zunächst
CEBPα und danach GATA2 exprimiert wird, werden Eosinophile produziert,
während die umgekehrte Reihenfolge zu Basophilen führt. Darüber hinaus inter-
agiert CEBPα mit dem DNA-demethylierenden Enzym TET2, sodass seine Ziel-
gene während der Hämatopoese demethyliert werden. Die Aktivität von TET2
könnte der Schlüsselmechanismus sein, warum myeloide Zellen näher an HSCs
sind als lymphoide Zellen. Das passt zu der Beobachtung, dass das TET2-Gen
in mehreren myeloischen Malignomen mutiert ist. Darüber hinaus könnte TET2
Umwelteinflüsse wie Nährstoffverfügbarkeit (Abschn. 10.2) mit der myeloiden
Differenzierung in Verbindung bringen, da der Metabolit 2-Hydroxyglutarat die
Aktivität von TET2 inhibiert und zu einer DNA-Hypermethylierung führt.
Zusammengenommen ist die Hämatopoese ein wichtiger Prozess, der ständig
neue Zellen bereitstellt, die für den Sauerstofftransport (Erythrozyten), die Blut-
gerinnung nach Verletzungen (Blutplättchen) und die Immunität (Leukozyten)
benötigt werden. Transkriptionsfaktoren und Chromatinmodifikatoren
arbeiten zusammen, um geeignete epigenetische Profile auf der Ebene der
DNA-Methylierung und Histonmodifikationen zu erstellen, welche die
jeweiligen Funktionen der mehr als 100 verschiedenen Zelltypen des hämato-
poetischen Systems bestimmen.
11.2 Die Rolle der Epigenetik bei Immunantworten 143

11.2 Die Rolle der Epigenetik bei Immunantworten

Unser Immunsystem ist ein System aus biologischen Strukturen wie dem Lymph-
system, Zelltypen wie Leukozyten (zelluläre Immunität) und Proteinen wie
Antikörpern und Komplementproteinen (humorale Immunität), die uns vor
Infektionskrankheiten und Krebs schützen. Die meisten Zellen des Immun-
systems werden alle paar Tage bis Wochen erneuert. Das impliziert auch, dass ihr
­epigenetisches Training durch Begegnungen mit Mikroben und anderen Antigenen
ein fortlaufendes Lernereignis ist, das zu einem transienten epigenetischen
Gedächtnis in kurzlebigen Zellen sowie zu einem persistenten Gedächtnis in
langlebigen B- und T-Gedächtniszellen führt (Abschn. 11.3).
Das Immunsystem erkennt eine Vielzahl von Molekülen, sogenannte Anti-
gene, die potenziell pathogenen Ursprungs sind. Antigene befinden sich z. B.
auf der Oberfläche von Mikroben oder Krebszellen und unterscheiden diese von
unseren eigenen, gesunden Geweben. Die Funktionen des Immunsystems werden
in angeborene und adaptive Immunität unterteilt. Die angeborene Immunität ist
evolutionär älter, basiert auf den Zelltypen Monozyten/Makrophagen, Neutro-
phile und natürliche Killerzellen (NK-Zellen). Diese Form der Immunität nutzt
antimikrobielle Peptide und Proteine des Komplementsystems sowie die Phago-
zytose als destruktive Mechanismen gegen Krankheitserreger. Die adaptive
Immunität wendet ausgeklügeltere Abwehrmechanismen an, bei denen T- und
B-Zellen hoch spezifische Oberflächenrezeptoren gegen Antigene wie T- und
B-Zell-Rezeptoren verwenden. Letztere werden schließlich in sezernierte Anti-
körper umgewandelt. Darüber hinaus schafft das adaptive Immunsystem nach
einer anfänglichen spezifischen Reaktion auf ein Pathogen ein persistentes
Gedächtnis in Form von T- und B-Zell-Gedächtniszellen, das zu einer verstärkten
Reaktion auf nachfolgende Begegnungen mit demselben Antigen führt.
Monozyten werden von GMPs im Knochenmark produziert (Abb. 11.1),
in den Blutstrom freigesetzt und wandern innerhalb von ein bis drei Tagen
durch das Endothel von Blutgefäßen in verschiedene Gewebe. In Geweben
differenzieren sich Monozyten in Makrophagen oder dendritische Zellen. Dieser
Differenzierungsprozess basiert auf Veränderungen des Epigenoms als Reaktion
auf Kontakte mit Antigenen wie pathogenen Mikroben. Diese epigenetischen
Veränderungen schaffen eine Erinnerung an die Begegnung mit Mikroben
(Abschn. 11.3). Als Reaktion auf ihre Aktivierung durch Krankheitserreger
oder Metaboliten sezernieren Makrophagen eine Reihe von Signalproteinen wie
Cytokine, Chemokine und Wachstumsfaktoren, welche die Migration und Aktivi-
tät anderer Immunzellen beeinflussen. Diese Reaktion wird unabhängig davon,
ob sie durch eine Infektion oder Verletzung verursacht wird, als akute Ent-
zündung bezeichnet. Akute Entzündungen gehen mit Rötungen, Wärmebildung,
Schwellungen und Schmerzen einher, klingen aber innerhalb weniger Tage bis
Wochen ab. Entzündungen können auch auf Änderungen in der Konzentration von
144 11 Epigenetik der Immunfunktion

Nährstoffen und Metaboliten herrühren. In diesem Fall kann das Immunsystem


den primären Reiz nicht bewältigen, sodass eine chronische Entzündung entsteht.
Die meisten entzündlichen Läsionen werden anfänglich von Makrophagen
dominiert, die von Monozyten abstammen. Das veränderte Genexpressionsprofil
dieser Makrophagen beruht auf Veränderungen ihres Epigenoms als Reaktion
auf extrazelluläre Signale. Die Stimuli werden in PAMPs (pathogenassoziierte
molekulare Muster) wie Oberflächenproteine pathogener Bakterien und DAMPs
(schadenassoziierte molekulare Muster) wie der Überschuss an gesättigten Fett-
säuren und anderen Moleküle, die metabolischen Stress darstellen, unterschieden.
Die Tatsache, dass DAMPs die gleiche Kaskade von Entzündungsreaktionen
induzieren können wie PAMPs, erklärt, warum eine Vielzahl von Molekülen und
Ereignissen Entzündungen und entsprechende spezifische Veränderungen im
Epigenom von Makrophagen verursachen.
Eine geringgradige chronische Entzündung ist die zentrale Ursache vieler
lebensstilbedingter Erkrankungen wie Fettleibigkeit, Insulinresistenz, T2D
und Atherosklerose (Abb. 11.2). Darüber hinaus sind auch neurodegenerative
Erkrankungen wie Alzheimer, die meisten Krebsarten, Allergien, Autoimmuner-

Krebs
Entzündliche Darmerkrankung

Genetische
Prädis-
position
Entzündung

Neurodegenerative Allergie
Erkrankungen Veränderungen des Autoimmun-
Epigenoms erkrankungen
und Transkriptoms

Epigenomweite
Stoffwechsel Programmierung
der Immun-
systems

Lebensstil-
entscheid-
ungen Fettleibigkeit
Insulinresistenz
T2D
Atherosklerose

Abb. 11.2  Immunvermittelte Pathologien als zentrale Treiberprozesse von Erkrankungen


in verschiedenen Zielorganen. Entzündung und Zellstoffwechsel sind über koordinierte Ver-
änderungen im Epigenom und Transkriptom der Zielgewebe und Zelltypen eng miteinander ver-
bunden. Weitere Einzelheiten sind im Text angegeben
11.2 Die Rolle der Epigenetik bei Immunantworten 145

krankungen und entzündliche Darmerkrankungen, z. B. Morbus Crohn und Colitis


ulcerosa, eng mit Entzündungen verbunden. Immunreaktionen im Allgemeinen
und Entzündungen im Besonderen hängen mit dem Zellstoffwechsel zusammen.
Sowohl die Vermehrung von Immunzellen als auch ihre Aktionen in der Abwehr
von Mikroben und der Reparatur von Geweben erfordern einen hohen Energie-
stoffwechsel (Abschn. 10.2). Stoffwechselstress wiederum, der häufig durch eine
Lipidüberladung im Blut und im Fettgewebe verursacht wird, stimuliert gering-
gradige chronische Entzündungen.
Der direkte oder indirekte Kontakt von Immunzellen mit Mikroben und
anderen Molekülen, die als Antigene wirken können, führt zu Auswirkungen
auf die Genexpression, die oft stärker sind als in jedem anderen Gewebe
oder Zelltyp unseres Körpers. Die starke Reaktion ist notwendig, da sich
Bakterien viel schneller vermehren als menschliche Zellen und eine unmittel-
bare Gefahr für unseren Körper darstellen können. Die meisten Zellen des
angeborenen Immunsystems wie Monozyten, NK-Zellen, Makrophagen oder
dendritische Zellen exprimieren auf ihrer Oberfläche etwa 30 verschiedene
Varianten von Mustererkennungsrezeptoren, die auf das Vorhandensein von
PAMPs reagieren. Die Stärke und Spezifität der Antwort der Immunzellen, z. B.
verschiedene Populationen von Makrophagen, hängt von ihrem epigenom-
weiten Profil ab, bevor sie auf Mikroben treffen (Abschn. 11.3). Daher ist die
richtige epigenomweite Programmierung unserer Immunzellen während
der Hämatopoese und Begegnungen mit Antigenen entscheidend für ein gut
funktionierendes Immunsystem.
Die mehr als 100 Gene der Entzündungskaskade unterscheiden sich in
ihrer Kinetik, d. h., es gibt schnell reagierende, primäre Zielgene, verzögert
reagierende, sekundäre Ziele und spät reagierende, tertiäre Ziele. Das spiegelt
sich in den zugrunde liegenden epigenetischen Veränderungen in Enhancer- und
Promotorregionen der jeweiligen Gene von Makrophagen wider. Die Promotor-
regionen primärer Zielgene tragen typischerweise H3K4me3- und H3K27ac-
Markierungen, die aktives Chromatin repräsentieren (Abb. 11.3, Mitte). Darüber
hinaus tragen diese Promotoren oft nichtmethylierte CpGs. Im Gegensatz dazu
tragen die Promotorregionen sekundärer Zielgene zunächst unterdrückende
H3K27me3-Markierungen. Die Entfernung von H3K27me3-Markierungen und
CpG-Demethylierung aus diesen Promotorregionen nach PAMP-Exposition und
die Einführung von H3K4me3- und H3K27ac-Markierungen brauchen Zeit. Das
erklärt die verzögerte Reaktion bei der Expression der entsprechenden Gene.
Die Stimulation von Makrophagen mit PAMPs verändert auch den Chromatin-
status an Enhancerregionen wie die de novo-Markierungen von H3K4me1 und
H3K27ac (Abb. 11.3, links). Die Aktivierung einiger dieser Enhancer ist nur
vorübergehend, während andere dauerhafter ausgeprägt sind und auf diese Weise
eine Erinnerung an die PAMP-Exposition, d. h. an einen Kontakt mit Mikroben,
bewahren.
Die Antigenbindung an Rezeptoren von T- und B-Zellen, d. h. von Zellen
des adaptiven Immunsystems, aktiviert Signalübertragungswege, die potent die
146 11 Epigenetik der Immunfunktion

Makrophage Naive T-Zelle

Enhancer- Promotor-
region region

H3K27me3
H3K4me3

Ac Ac
IFNG IL4

CpG CpG
TH1-Differenzierung TH2-Differenzierung
Unterdrückter Enhancer Primär reagierendes Gen Sekundär reagierendes Gen
H3K4me3
H3K4me3
H3K4me1
Ac H3K27ac Ac Ac Ac Ac Ac
PAMP PAMP
TF TF TH1-Zelle TH2-Zelle
6 Stunden 1 Stunde Pol II Pol II CpG CpG

de novo-Enhancer: Transkriptionelle Verlängerung Sekundär reagierendes Gen


steuert Genexpression
H3K4me3
H3K4me1 IFNG IFNG
Ac H3K27ac Ac Ac Ac
TF TF
24 Stunden 6 Stunden
Pol II Pol II

Enhancer IL4 IL4


Transkriptionelle Verlängerung
für Genexpression
vorbereitet

Abb. 11.3  Epigenetische Veränderungen in Immunzellen. Enhancer- (links) und Promotor-


regionen (Mitte) von Makrophagen zeigen eine unterschiedliche Reaktion nach der Exposition
mit PAMPs, z. B. Lipopolysaccharid. Es werden primäre Reaktionen (nach 1 h) und sekundäre
Reaktionen (nach 6 h) unterschieden. Selbst nach Entfernung der PAMP-Stimulation können
einige Enhancerregionen ihren Aktivierungsstatus für 24 h oder länger beibehalten. Dieser
Gedächtniseffekt ist Teil einer trainierten Immunität. Die differenzielle epigenetische
Programmierung der regulatorischen Regionen wichtiger Cytokingene wie IFNG und IL4 ist
das Schlüsselereignis bei der Polarisierung von TH-Zell-Subtypen (rechts). In TH1-Zellen trägt
das IFNG-Gen Markierungen von aktivem Chromatin (grün) und das Gen wird nach Antigen-
exposition induziert. Im Gegensatz dazu trägt das IL4-Gen in denselben Zellen unterdrückende
Histonmarkierungen (rot) und bleibt inaktiv. In TH2-Zellen gilt der umgekehrte Prozess, d. h., das
IL4-Gen wird induziert und das IFNG-Gen bleibt inaktiv

Expression von Cytokingenen auslösen. An diesem Antigenerkennungsprozess


sind spezifische epigenetische Veränderungen an Enhancer- und Promotorregionen
beteiligt (Abb. 11.3, rechts). Beispielsweise beinhaltet die Differenzierung
von T-Helferzellen (TH) in TH1- und TH2-Subtypen eine epigenetische
Programmierung, die diese Zellen dazu veranlasst, nach einer Antigenexposition
entweder die Expression der Gene zu erhöhen, welche die Cytokine INFG (Inter-
feron γ) bzw. IL4 codieren. Während die TH1-Antwort zur Eliminierung des
Antigens führt, ist die TH2-Antwort typisch für allergische Reaktionen. Die
unterschiedliche epigenetische Programmierung dieser Zellen verursacht deut-
lich verschiedene physiologische Reaktionen. Die epigenetischen Veränderungen
umfassen Histonmodifikationen, aber auch das Auftreten von 5hmC-Markierungen
an Promotorregionen und Demethylierung durch TET2. Letztere Modifikationen
sind sehr stabil und können 20 und mehr Replikationszyklen von langlebigen
T-Gedächtniszellen überdauern.
11.2 Die Rolle der Epigenetik bei Immunantworten 147

Die Tatsache, dass alternative zellspezifische Enhancer und zellspezifische


Transkriptionsfaktoren ein bestimmtes Gen regulieren können, erklärt die unter-
schiedliche Expression von Genen in Zellen des Immunsystems. Beispiels-
weise identifizierte das FANTOM5-Projekt (Abschn. 1.3) etwa 44.000 Enhancer
aus seiner großen Auswahl primärer menschlicher Gewebe und Zelltypen,
d. h., es gibt etwa zwei Enhancer pro proteincodierendem Gen. Somit kann ein
bestimmtes Gen in B-Zellen durch B-Zell-spezifische Transkriptionsfaktoren und
einen B-Zell-spezifischen Enhancer reguliert werden, während in Makrophagen
makrophagenspezifische Transkriptionsfaktoren dasselbe Gen durch einen makro-
phagenspezifischen Enhancer steuern.
Eine unangemessene Aktivierung des Immunsystems kann zu einer Reihe
von Erkrankungen führen, z. B. den allergischen Reaktionen der Atemwege
bei Asthma oder der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS). Immun-
antworten variieren oft im Gleichgewicht von entzündungsfördernden und ent-
zündungshemmenden Cytokinen, was eine Reihe kollateraler Gewebeschäden
erzeugen kann. Somit sind Genexpressionsmuster und die zugrunde liegende
epigenetische Programmierung von Immunzellen Schlüsselfaktoren bei
immunvermittelten Erkrankungen. Dementsprechend haben Personen mit
Autoimmun- und/oder Entzündungserkrankungen ein deutlich anderes epi-
genetisches Profil als gesunde Kontrollpersonen. Beispielsweise treten
veränderte DNA-Methylierungsmuster von Immunzellen bei mehreren immun-
vermittelten Erkrankungen wie MS, SLE (systemischer Lupus Erythematodes)
oder Morbus Crohn auf. Patienten mit MS weisen im Vergleich zu gesunden
Probanden aufgrund der geringen Expression von TET2 niedrigere Werte von
5hmC-Markierungen in ihren Immunzellen auf. Im Gegensatz dazu haben SLE-
Patienten aufgrund der erhöhten Expression von TET2 und TET3 in TH-Zellen
häufig erhöhte 5hmC-Spiegel. Das geht mit einer niedrigen globalen H3- und
H4-Acetylierung und hohen H3K9-Methylierungsgraden in diesen Zellen einher.
Die epigenomweite Profilerstellung von Untergruppen von Immunzellen kann
dabei helfen, die epigenomweiten Grundlagen allergischer Erkrankungen wie
Asthma zu identifizieren. Beim Vergleich gesunder Kontrollpersonen mit asthma-
tischen Patienten ist z. B. eine Markierung für aktive Enhancer, H3K4me2,
in TH2-Zellen von Patienten signifikant erhöht. Asthma ist ein Paradebei-
spiel für eine Krankheit, bei der die Umweltexposition mit natürlichen und
synthetischen Molekülen dynamische Veränderungen des Epigenoms verursacht.
Im Allgemeinen sind Krankheiten, die mit dem Immunsystem zusammen-
hängen wie Entzündungen und Autoimmunerkrankungen, klinisch hetero-
gen, aber alle entwickeln sich aus dem Zusammenspiel von genetischer
Anfälligkeit und Umwelt- und/oder Lebensstilentscheidungen, d. h. dem
Gleichgewicht zwischen Genetik und Epigenetik (Abschn. 12.1). Daher ist
die epigenetische Profilerstellung von Zelluntergruppen für verschiedene epi-
genetische Markierungen wie zugängliches Chromatin, DNA-Methylierung,
148 11 Epigenetik der Immunfunktion

Histonmodifikationen, Transkriptionsfaktorbindung und die Assoziation von


Chromatinmodifikatoren ein wichtiges Werkzeug für ein molekulares Verständ-
nis von Krankheiten und kann Hinweise für eine mögliche Therapie geben, z. B.
durch niedermolekulare Inhibitoren von Chromatinmodifikatoren (Abschn. 12.3).
Antigene stimulieren die klonale Expansion von naiven zytotoxischen
T-Zellen, d. h. das Wachstum von antigenerkennenden T-Zell-Untergruppen.
Daran schließt sich die zelluläre Differenzierung an, die über die Demethylierung
ihrer Genomregionen ein Netzwerk von Effektorgenen aktiviert, welche z. B.
Cytokine codieren. Die resultierenden Effektor-T-Zellen sind in der Lage, anti-
genpräsentierende Zellen direkt und indirekt zu eliminieren. Anergie ist ein
epigenetisch induzierter, dysfunktionaler Zustand von T-Zellen, der häufig
­
bei längerer Exposition gegenüber einem Antigen auftritt, z. B. bei Krebs und
chronischen Infektionen. Das führt zu einer de novo-DNA-Methylierung von
Effektorgenen und deren Inaktivierung, d. h., erschöpfte T-Zellen zeigen keine
weitere Immunantwort. Die Methylierung der Effektorgene kann durch die
Anwendung eines demethylierenden Medikaments wie Decitabin (Abschn. 3.1)
blockiert und rückgängig gemacht werden.

11.3 Epigenetische Grundlagen des immunologischen


Gedächtnisses

T-Zellen machen bis zu 30 % aller zirkulierenden Leukozyten aus und sind eine
wichtige Komponente des adaptiven Immunsystems. Sie kommen in einer Reihe
von Subtypen vor, z. B. TH-Zellen, zytotoxischen T- und regulatorischen T-Zellen.
Der Einfluss epigenetischer Veränderungen im Rahmen der regulatorischen T-Zell-
Proliferation wird am Beispiel des FOXP3-Gens (Forkhead-Box P3) demonstriert
(Abb. 11.4). In diesem Fall binden die Transkriptionsfaktoren REL (REL Proto-
onkogen, NFκB-Untereinheit), CBFB (core-binding factor subunit β) und RUNX1
(runt-related transcription factor 1) beide Enhancer stromabwärts des FOXP3-
Promotors und stimulieren die Expression des FOXP3-Gens. Die Bindung der
Transkriptionsfaktoren an die Enhancer führt zu deren schneller Demethylierung,
was eine Bindung des FOXP3-Proteins für eine stabile Autoregulation ermöglicht.
Somit erzeugt die transkriptionsfaktorvermittelte, lokale Demethylierung
einer Enhancerregion ein epigenetisches Gedächtnis, das die Progression der
T-Zell-Linie über mehrere Zellteilungen hinweg stabilisiert.
Neuere Studien, insbesondere des BLUEPRINT-Konsortiums (www.blueprint-
epigenome.eu), zeigten, dass Zellen des angeborenen Immunsystems wie Mono-
zyten/Makrophagen und NK-Zellen auch eine Gedächtnisfunktion haben, die
als trainierte Immunität bezeichnet wird (Abb. 11.5). Dieses eher kurzfristige
epigenetische Gedächtnis überwacht die enge Beziehung zwischen Immun-
herausforderungen und Auswirkungen auf das Chromatin. Die trainierte
Immunität basiert auf epigenetischen Veränderungen wie DNA-Methylierung
11.3 Epigenetische Grundlagen des immunologischen Gedächtnisses 149

Promotor Enhancer 1 Enhancer 2

TSS
Niedrig

Heterochromatin

TSS Heterochromatin
me3
me3 Heterochromatin
me3 me3

Ac
Ac
Ac Ac

Genexpressionsstärke
Treg-Zell-Differenzierung

Me Me Me
Me
REL
Me
Me Me
Me
Me Me
Me
Me Me

Me
Me Me

TSS
me3
me3
me3 me3
Heterochromatin
Ac Ac
Ac Ac

Me Me

Me
Me
REL
Me Me
Me

Me

Me

CBFB RUNX1
TSS
me3
me3 me3
me3
Ac
Ac Ac
Ac

Me Me Me
Me
REL
Hoch
Me
Me Me

Me

CBFB
Me

RUNX1

FOXP3

Abb. 11.4  Epigenetisches Gedächtnis der Transkriptionsaktivität. Während der


Differenzierung von regulatorischen T-Zellen muss das FOXP3-Gen eine stabile und starke
Expression zeigen. Ein Homodimer des Transkriptionsfaktors REL bindet an einen nach-
geschalteten Enhancer und stimuliert die FOXP3-mRNA-Expression und Demethylierung der
Promotorregion. Die Expression des FOXP3-Gens wird durch die Bindung der Transkriptions-
faktoren CBFB und RUNX1 an einen Enhancer stabilisiert. Letzteres induziert eine lokale
Demethylierung und ermöglicht die Bindung des Transkriptionsfaktors FOXP3. Somit stellt
FOXP3 auf autoregulatorische Weise die konstitutive Aktivität des Promotors seines eigenen
Gens sicher. Die Demethylierung von Enhancer- und Promotorregionen repräsentiert das epi-
genetische Gedächtnis
150 11 Epigenetik der Immunfunktion

Infektion
Histonmodifikation

Ac
Angepasste
Zustände
Toleranz- Schleimhauttoleranz
Epigenetische
programm Beschränkung von Gewebe-
Reprogrammierung
vo
von Zellen des angeborenen DNA-Methylierung Transkriptionelle und schäden bei Impfungen
Immunsystems Funktionsprogramme Trainierte- Reifung von angepasster
Me Me Me
von trainierter Immunität programm Immunität
Unspezifischer Schutz durch
oder Impfungen
Modulierung von miRNA Nichtangepasste
Makrophage Zustände
Toleranz-
programm Immunlähmung bei Sepsis

Trainierte- Vermehrte Entzündung in


Expression von
langen ncRNAs programm Geweben
Atherosklerose

Impfung

Abb. 11.5  Epigenetik angeborener Immunzellen. Die Aktivierung der angeborenen


Immunzellen wie Monozyten, Makrophagen oder NK-Zellen führt zu deren epigenetischer
Umprogrammierung, der trainierten Immunität. Dieses Gedächtnis angeborener Immun-
zellen führt zu adaptiven Zuständen, die den Wirt während und nach Infektionen schützen. In
bestimmten Situationen kann eine trainierte Immunität jedoch zu Fehlanpassungszuständen
führen, z. B. einer Immunparalyse nach einer Sepsis oder einer überschießenden Entzündung

und Histonmodifikationen sowie auf der Wirkung von miRNAs und langen
ncRNAs. Die recht lange Halbwertszeit der letztgenannten Moleküle macht sie
gut geeignet für eine dauerhafte Programmierung des Epigenoms.
Die trainierte Immunität ermöglicht angeborenen Immunzellen, mit einer
quantitativ anderen Antwort zu reagieren, d. h. mit einer stärkeren Genex-
pression, wenn sie erneut von einem Pathogen herausgefordert werden (Abb. 11.6,
oben links). Diese Antwort kann zum Teil auch qualitativ unterschiedlich
sein, etwa durch die Expression eines alternativen Mustererkennungsrezeptors
(Abb. 11.6, unten links). Ein zentraler Mechanismus der trainierten Immuni-
tät ist die Vorbereitung von Enhancern (Abschn. 4.2), d. h. das Hinzufügen von
­persistierenden Histonmarkierungen wie H3K4me1, die eine starke Reaktion nach
erneuter Stimulation ermöglichen (Abb. 11.6, rechts).
Die meisten Immunzellen sind sehr mobil und erleben viele verschiedene
Mikroumgebungen in unserem Körper. Das führt zu einer Vielzahl unter-
schiedlicher Signale und einer entsprechenden adaptiven epigenetischen
Programmierung des Enhancerrepertoires dieser Zellen. Es besteht ein
Gleichgewicht zwischen der Persistenz eines Epigenoms, das durch frühere
Stimuli programmiert wurde, und der Neuprogrammierung als Reaktion auf eine
sich ändernde Umgebung.
Weiterführende Literatur 151

Naiver Makrophage/NK-Zelle
e Aktivierter Makrophage/NK-Zelle
Stimulation
Geringe Genexpression Aktive Genexpression
me3 H3K4me3 me3 me3 me3

Ac Ac H3K27ac Ac Ac

Epigenetische Signatur: H3K4me3/H3K4ac

Ruhend
Trainierter (stimulierter) Trainierter (ruhender)
Makrophage/NK-Zelle Makrophage/NK-Zelle
Hohe Genexpression Wiederholte
Stimulation Geringe Genexpression
me3 H3K4me3 me3
H3K4me1 Latente Enhancer
me me me me
me H3K4me1 me
Ac Ac H3K27ac Ac Ac

Epigenetische Signatur: H3K4me3/H3K4me1/ Epigenetische Signatur: H3K4me1


H3K4ac, Entfernung von H3K9me3

Abb. 11.6  Trainierte Immunität. Verbesserte entzündliche und antimikrobielle Eigenschaften


angeborener Immunzellen (oben links) sind ein Gedächtnisphänomen, das als trainierte Immuni-
tät bezeichnet wird. Sie basiert auf einer epigenetischen Umprogrammierung von angeborenen
Immunzellen wie Makrophagen und NK-Zellen und führt z. B. zu einer verstärkten und/oder
alternativen Expression von Genen, die Mustererkennungsrezeptoren codieren (unten links).
Die erste Stimulationsrunde der Zellen hinterlässt dauerhafte H3K4me1-Markierungen in
Enhancerregionen. Die Vorbereitung der Enhancer ermöglicht es ihnen, schneller und stärker auf
eine erneute Stimulation zu reagieren (rechts)

Weiterführende Literatur
Carlberg, C., and Velleuer, E. (2022). Molecular Immunology: How Science Works. Springer
Textbook ISBN: 978-3-031-04024-5.
Ellmeier, W. and Seiser, C. (2018). Histone deacetylase function in CD4+ T cells. Nat Rev
Immunol 18, 617–634.
Fitzgerald, K.A. and Kagan, J.C. (2020). Toll-like receptors and the control of immunity. Cell
180, 1044–1066.
Huber-Lang, M., Lambris, J.D. and Ward, P.A. (2018). Innate immune responses to trauma. Nat
Immunol 19, 327–341.
Monticelli, S. and Natoli, G. (2017). Transcriptional determination and functional specificity of
myeloid cells: making sense of diversity. Nat Rev Immunol 17, 595–607.
Epigenom-Umwelt-Interaktionen
und Therapie 12

Zusammenfassung

Trotz der enormen Zahl von mehr als 88 Mio. Variationen unseres Genoms, die
das 1000 Genomes Project aufgedeckt hat, können bei den meisten verbreiteten
multigenen Krankheiten nur etwa 20 % des genetischen Risikos erklärt werden.
Ein Teil dieser fehlenden Erblichkeit könnte durch die zukünftige Identi-
fizierung seltener SNVs behoben werden, aber die Hauptbeiträge zu diesem
Phänomen sind Umweltfaktoren und Lebensstilentscheidungen, die das Epi-
genom modulieren. Aus dem gleichen Grund sind Bevölkerungsgruppen,
die in nur wenigen Generationen den Übergang von Hungern zu Nahrungs-
überschuss vollzogen haben, einem höheren Risiko ausgesetzt, Stoffwechsel-
krankheiten zu entwickeln, als solche, die ihre Ernährungsbedingungen über
viele Generationen hinweg verbessert haben. Das Projekt iPOP (integrative
persönliche Omik-Profilerstellung) stellte bei seiner Veröffentlichung 2012 die
umfassendste Bewertung von Individuen dar und dient weiterhin als Musterbei-
spiel für die Erkennung von Genom-Umwelt-Interaktionen. Die meisten epi-
genetischen Veränderungen sind reversibel, was ein erhebliches therapeutisches
Potenzial für Inhibitoren von Chromatinmodifikatoren impliziert. Diese
Moleküle werden in der Therapie von Immunerkrankungen und insbesondere
in der Immuntherapie von Krebs eingesetzt.

Schlüsselwörter
Genetik · GWAS · Fehlende Erblichkeit · Integrative persönliche
Omik-Profilerstellung · Chromatinmodifikatorinhibitoren · Krebsimmuntherapie

© Springer Nature Switzerland AG 2023 153


C. Carlberg und F. Molnár, Epigenetik des Menschen,
https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0_12
154 12 Epigenom-Umwelt-Interaktionen und Therapie

12.1 Umwelt versus Genetik

Das 1000 Genomes Project hat gezeigt, dass Menschen insgesamt mehr als
88 Mio. Varianten im Genom haben (Kasten 1.1). Jeder von uns unterscheidet sich
jedoch von jedem nichtverwandten Individuum nur durch durchschnittlich etwa
4 Mio. genetische Varianten, die aufgrund einiger Tausend größerer struktureller
Varianten etwa 12 Mb DNA-Sequenz umfassen. Das bedeutet, dass 99,6 % des
Genoms aller Menschen identisch sind, während nur 0,4 % unsere individuellen
Merkmale wie Größe, Augen- und Haarfarbe sowie unsere Veranlagung für
häufige multigenetische Erkrankungen wie T2D, Atherosklerose und Alzheimer
erklären.
Humangenetische Studien legten die Grundlage für das molekulare Verständ-
nis von Erkrankungen, bei denen in den meisten Fällen eine einzige SNV das
Auftreten der Krankheit erklären kann, d. h., sie sind monogen. In den letzten
20 Jahren waren genomweite Assoziationsstudien (GWASs) für die genetische
Analyse komplexer Erkrankungen sehr populär. GWASs verwenden einen
„agnostischen“ Ansatz bei der Suche nach unbekannten Krankheitsvarianten, d. h.,
Hunderttausende von SNVs werden in großen Kohorten von Patienten im Ver-
gleich zu gesunden Kontrollen auf Assoziation mit einer Krankheit getestet. Der-
zeit (März 2023) enthält die Datenbank GWAS Catalogue (www.ebi.ac.uk/gwas)
die Resultate von mehr als 48.000 Studien.
Der Einfluss von SNVs auf die proteincodierende Sequenz unseres Genoms
(weniger als 2 % der gesamten Sequenz) ist gut belegt. Synonyme Mutationen ver-
ändern das codierte Protein nicht, aber nichtsynonyme Mutationen verursachen
eine Veränderung in der Aminosäuresequenz (Missense) oder führen ein vor-
zeitiges Stoppcodon ein (Nonsense). Indels sowie CNVs in Exonsequenzen
können Leserastermutationen erzeugen. Darüber hinaus können Variationen
in Intronsequenzen zu alternativem Spleißen führen. Die überwiegende Mehr-
heit der genetischen Varianten befindet sich jedoch in regulatorischen und
nicht in codierenden Regionen von Genen, d. h., die phänotypischen Folgen
der meisten genetischen Varianten beruhen eher auf epigenetischen oder
genregulatorischen Prozessen als auf einer Veränderung der Proteinfunktion.
Funktionell relevante, epigenomweite Variationen treten an genregulatorischen
Elementen auf, z. B. an CpGs oder Transkriptionsfaktorbindungsstellen in
Promotor- und Enhancerregionen. Beispielsweise erleichtert, verstärkt oder
hemmt ein SNV innerhalb der DNA-Bindungsstelle eines Transkriptionsfaktors
die Bindung des entsprechenden Proteins. Der Transkriptionsfaktor beeinflusst
dann die lokale Chromatinstruktur über die Rekrutierung von chromatinmodi-
fizierenden Enzymen, hinterlässt Markierungen in der lokalen Chromatinregion
und führt schließlich zur Aktivierung der Pol II und der Transkription des ent-
sprechenden Gens. Das kann sich positiv auf das Merkmal auswirken. Wenn der
Transkriptionsfaktor dagegen nicht binden kann, bleibt die Region inaktiv und
das Gen wird nicht transkribiert, was sich negativ auf das untersuchte Merkmal
auswirken kann. Insgesamt werden die DNA-Methylierungsgrade bei Tausenden
12.1 Umwelt versus Genetik 155

von CpGs von genetischen Varianten beeinflusst. Diese Stellen im Genom werden
als mQTLs (methylation quantitative trait loci) bezeichnet. Die überwiegende
Mehrheit der epigenetischen Variationen besitzen eine cis-Aktivität bezüglich
ihrer Auswirkungen auf die Chromatinaktivität und die Genexpression, d. h., sie
treten innerhalb derselben Region auf, z. B. einem TAD. Im Gegensatz dazu sind
trans-wirkende epigenetische Variationen wie Epimutationen in pluripotenten
Transkriptionsfaktoren sehr spärlich, was darauf hindeutet, dass sie höchst schäd-
lich sind. Tatsächlich sind sie Schlüsselmutationen in der Epigenetik von Krebs
(Kap. 8).
GWASs mit 2000–5000 Personen identifizierten zuverlässig häufige Varianten
mit Effektstärken, die als odds ratios (ORs) bezeichnet werden, von 1,5 oder
mehr, d. h. einem um 50 % erhöhten Risiko für die getestete Krankheit. Größere
Stichprobenumfänge wurden erreicht, indem mehrere GWASs in Metaana-
lysen zusammengefasst wurden. Beispielsweise bieten Stichprobengrößen von
mindestens 60.000 Probanden eine ausreichende Aussagekraft, um die Mehrheit
der Varianten mit ORs von 1,1 zu identifizieren, d. h. einem um 10 % erhöhten
Risiko. Trotz einiger bemerkenswerter Erfolge bei der Aufdeckung zahlreicher
neuer SNVs und Orten im Genom, die mit komplexen Phänotypen assoziiert sind,
lassen sich bei den meisten polygenen Merkmalen weniger als 20 % ihrer
Erblichkeit durch die gemeinsamen Varianten erklären.
SNVs einer komplexen multigenen Erkrankung haben meist niedrige ORs
(Abb. 12.1, rechts), während seltene monogenetische Formen einer Erkrankung
hohe ORs aufweisen (Abb. 12.1, links). Es wird erwartet, dass die Sequenzierung
des gesamten Genoms einer großen Anzahl von Individuen in Zukunft viel mehr
niederfrequente SNVs mit intermediären ORs identifizieren wird (Abb. 12.1,
Mitte), um das genetische Krankheitsrisiko einer Person besser erklären zu
können. Allerdings wird das Phänomen der fehlenden Erblichkeit bestehen
bleiben, bei der bis zu 80 % des Risikos für eine bestimmte Krankheit nicht ver-
lässlich abgeschätzt werden kann. Die Bewertung des Krankheitsrisikos auf der
Grundlage der Sequenzierung des gesamten Genoms ist begrenzt, da es die Rolle
der Umwelt, die das Epigenom maßgeblich beeinflusst, nicht erfasst. Die einzigen
bekannten Ausnahmen sind die altersbedingte Makuladegeneration und Typ-1-
Diabetes, für die die Kombinationen von häufigen und seltenen Varianten ein
quantifizierbares Risikoprofil liefern können. Daher kann ein Teil der fehlenden
Erblichkeit durch bisher nicht identifizierte, seltene Varianten mit hohen ORs
erklärt werden, der größte Teil jedoch durch epigenetische Varianten.
Die Zusammensetzung von Nahrungsfetten beeinflusst die DNA-Methylierung
in Adipozyten, was einer von mehreren Hinweisen darauf ist, dass das meta-
bolische Syndrom und verwandte Störungen mit epigenetischen Veränderungen
zusammenhängen. Die Lebensstilentscheidung, eine westliche Ernährung (western
diet) zu bevorzugen, ist die Hauptursache für T2D und mehrere Arten von Krebs.
Parallel dazu verursacht die Exposition mit Nicotin und anderen Toxinen erheb-
liche epigenetische Veränderungen in verschiedenen Organen, was erklärt,
warum Rauchen die Hauptursache für verschiedene Krebsarten ist und auch
zu Atemwegs- und Autoimmunerkrankungen beiträgt. Alle diese umwelt- und
156 12 Epigenom-Umwelt-Interaktionen und Therapie

50,0
Seltene Allele, Wenige Beispiele
Hoch von häufige Varianten
die monogenetische
mit großem Effekt auf
Erkrankungen häufige Erkrankungen
verursachen
Effektgröße (OR)

3,0 Niederfrequente
Mittel

Varianten mit
mittlerem Effekt
Gering Bescheiden

1,5 Seltene Varianten Häufige Varianten in


mit kleinem Effekt, häufigen Erkrankungen
die schwierig auf gene- (per GWAS identifiziert)
tischem Wege zu identi-
1,1 fizieren sind

SSehr
h selten
lt SSelten
lt Wenig Häufig

0,001 0,005 0,05


Allelfrequenz

Abb. 12.1  Identifizierung genetischer Varianten nach Häufigkeit des Risikoallels. Die


Stärke des genetischen Effekts wird durch ORs angegeben. Die größte Betonung und das größte
Interesse liegt auf der Identifizierung von Assoziationen mit Merkmalen, die in dem diagonalen
Kasten dargestellt sind

l­ebensstilbedingten epigenetischen Veränderungen sind mit einer chronischen Ent-


zündung verbunden (Abschn. 11.2), was das Risiko für Autoimmunerkrankungen
und Krebs weiter erhöht. Daher sind die meisten altersbedingten Krankheiten
das Ergebnis einer langfristigen Umweltbelastung mit Nahrungsmittelüber-
lastung und Toxinen, die zu Veränderungen des Epigenoms in vielen Organen
führen.
Im Allgemeinen haben epigenomweite Variationen unterschiedliche Eigen-
schaften, z. B. dass sie

• vererbbar oder nicht vererbbar sind,


• einem SNV zugeordnet sind oder mit keinen SNVs zusammenhängen,
• einen Zusammenhang mit Umweltfaktoren zeigen oder auch nicht,
• in trans oder cis bezüglich der Genregulation wirken oder
• eine Epimutation in Körper- oder Keimzellen haben.

Innerhalb von mehr oder weniger einer Generation (33 Jahre) zwischen 1981 und
2014 hat sich die weltweite Prävalenz für Fettleibigkeit verdoppelt. Ganz offen-
sichtlich sind westliche Ernährung in Kombination mit verminderter körperlicher
12.2 Epigenomweite Diagnose 157

Aktivität die wichtigsten umweltbedingten Faktoren, die zu Fettleibigkeit und der


anschließenden Entwicklung des metabolischen Syndroms beitragen. Darüber
hinaus sind Bevölkerungsgruppen, die innerhalb von ein bis zwei Generationen
einen Übergang von einer häufigen Hungersnot zu einem Nahrungsüberschuss
vollzogen haben, einem signifikant höheren Risiko für Fettleibigkeit, T2D
und metabolischem Syndrom ausgesetzt als diejenigen, die ihre Ernährungs-
bedingungen über viele Generationen hinweg verbessert haben. Das bedeutet,
dass Bevölkerungsgruppen, die in Ländern geboren wurden, die einen besonders
raschen Wandel der Urbanisierung und wirtschaftlichen Entwicklung durchlaufen
haben, in den kommenden Jahren ein erhöhtes Risiko haben, am metabolischen
Syndrom zu erkranken. Das deutet darauf hin, dass eher epigenetische
Mechanismen als genetische Variationen des Genoms eine Rolle bei der Epi-
demie der Fettleibigkeit und den damit verbundenen Stoffwechselanomalien
spielen.
Es gibt zunehmend epidemiologische und klinische Hinweise darauf, dass
das Konzept des sparsamen Phänotyps (Abschn. 10.3), also eine pränatale epi-
genetische Programmierung in utero, eine wesentliche Ursache für Stoffwechsel-
erkrankungen sein könnte. Individuen, die ein Epigenom tragen, das während
ihrer anthropologischen Entwicklung durch suboptimale Ernährung in utero
programmiert wurde, vererben trotz normaler postnataler Ernährung trans-
generational eine Prädisposition für Fettleibigkeit (Abb. 12.2). Bisher gibt es
keine umfassende Analyse des Epigenoms von Personen, die am metabolischen
Syndrom leiden. Da epigenetische Modifikationen jedoch dynamisch auf
Umweltbedingungen reagieren, besteht ein Potenzial für therapeutische Ein-
griffe und Reversibilität (Abschn. 12.3).
Ernährungsrichtlinien basieren hauptsächlich auf den Bedürfnissen von
Bevölkerungsgruppen und nicht von Einzelpersonen. Es besteht jedoch eine
enorme Variabilität in den individuellen Reaktionen auf Ernährung und Lebens-
mittelkomponenten, die sich auf die allgemeine Gesundheit auswirken. Sowohl
genetische als auch Umweltfaktoren beeinflussen die Reaktion des Individuums
(Abb. 11.2). Entdeckungen, die diese Variabilität untermauern, werden zu Fort-
schritten in der personalisierten Ernährung sowie zu verbesserten Gesundheits-
und Ernährungsrichtlinien führen, einschließlich diätetischer Referenzmengen für
den Nährstoffbedarf und zukünftige Ernährungsempfehlungen. Eine der obersten
Prioritäten für die zukünftige Ernährungsforschung ist ein besseres Verständnis der
Variabilität der metabolischen Reaktionen auf die Ernährung. Die zelluläre und
molekulare Charakterisierung von Krankheitsphänotypen ist daher entscheidend,
um die Rolle von Lebensmittelkomponenten bei der Krankheitsprävention und
-behandlung zu verstehen. Das ist eines der Schlüsselkonzepte der Nutrigenomik
(Abschn. 10.1).
158 12 Epigenom-Umwelt-Interaktionen und Therapie

Schwangerschaft Neugeborenes Kind Erwachsener

Normal Normal Normal Normal

Erste Generation
Intrauterine Verbessertes Über-
Unterernährung Wachstums- leben und Wachstum
beschränkung Normale/erhöhte Fettleibig
Nahrungs-
Makrosom/ verfügbarkeit
Überernährung
erhöhtes Körperfett Fett- und
kalorienreiche
Ernährung
Normale/erhöhte

Zweite Generation
Nahrungs-

Makrosom/ verfügbarkeit
Fettleibig Fett- und Fettleibig
erhöhtes Körperfett
kalorienreiche
Ernährung

Abb. 12.2  Epigenetische Programmierung und die Verschiebung der Bevölkerung in


Richtung Fettleibigkeit. Nichtfettleibige Mütter bringen in der Regel nichtfettleibige Kinder
zur Welt, die sich zu Erwachsenen mit einem normalen Stoffwechselprofil und einem normalen
Körperfettgehalt entwickeln. Allerdings erhöht Unterernährung in Kombination mit verbesserter
Überlebensrate des Neugeborenen, Säuglingsnahrung und Exposition gegenüber einer west-
lichen postnatalen Ernährung die Inzidenz von Frühgeburten und intrauteriner Wachstums-
beschränkung. Das führt zu einer erhöhten Fettleibigkeit der Nachkommen und einem höheren
Risiko, das metabolische Syndrom zu bekommen, wenn sie pränatal einer westlichen Ernährung
ausgesetzt werden. Einige fettleibige Mütter können als Folge einer fettreichen Ernährung Neu-
geborene mit erhöhtem Körperfett zur Welt bringen. All diese Prozesse tragen zu einer Ver-
schiebung der Bevölkerung hin zu einem fettleibigen Phänotyp bei. Dazu gehört auch, dass
fettleibige Frauen der zweiten Generation ein erhöhtes Risiko haben, Kinder mit erhöhtem
Körperfettanteil zu gebären und Fettleibigkeit und das metabolische Syndrom zu entwickeln

12.2 Epigenomweite Diagnose

Der Bereich der personalisierten Medizin hat sich erheblich weiterentwickelt,


vor allem aufgrund der rasanten Entwicklung von NGS-Technologien. Die
zukünftige personalisierte Gesundheitsversorgung sowie das aufstrebende Gebiet
der personalisierten Ernährung werden von der Kombination persönlicher genom-
weiter Informationen mit der globalen Überwachung des molekularen Profils
profitieren, das physiologische Zustände darstellt. Ein proof of principle-Ansatz
12.2 Epigenomweite Diagnose 159

wird durch eine iPOP-Analyse von etwa 100 Personen veranschaulicht (http://
snyderlab.stanford.edu/iPOP.html), die das Potenzial von NGS-Technologien
demonstriert (Abb. 12.3). Die iPOP-Studie umfasste eine vollständige Genom-
sequenzierung und Probenentnahme von:

• mRNA- und miRNA-Expression in PBMCs


• Proteomprofil in PBMCs und im Serum
• Metabolom und Autoantikörper im Blutplasma

Ergänzt wurden die molekularen Datensätze durch medizinische Labortests für


reguläre Biomarker im Blut. Interessanterweise ermöglichte die häufige Proben-
nahme den Nachweis personalisierter physiologischer Zustandsänderungen,
z. B. bei dem ersten Probanden deutlich erhöhte Glucosewerte nach zwei Virus-
infektionen im Untersuchungszeitraum. Das integrative Profil überwachte sowohl
allmähliche Trendveränderungen als auch Spitzenveränderungen, insbesondere zu
Beginn jeder Anpassung des physiologischen Zustands. Somit ermöglichte die

Umwelt Klinische Daten

Gewebeproben, Füssigkeiten,
Oberflächen und Ausscheidungen Krankheits-
RNA-Editing
des Körpers geschichte
Heteroallele SNVs
Genom
DNA
Methylom Proteinexpression

Mikrobiom Metagenom
Datenintegration

iPOP
RNA-Expression
RNA Transkriptom
T1 iPOP Indels
Verdopplungen
Deletionen

Proteom Chromosomen-
Protein ideogramm
Autoantikörper
Chromosomen-
nummer

Metaboliten Metabolom Da
iPOP ten
int
iPOP eg
iPOP rat
ion
Pharmako- T2 iPOP
genom T3 iPOP
T4
T5 Databank
Prävention Tn
(anonym)
Behandlung

Rückmeldung an
Hausarzt und
genetischen Berater
Ze
it ve
rla
uf

Abb. 12.3  Implementierung von iPOP für die personalisierte Medizin. Gewebeproben


(z. B. PBMCs) eines iPOP-Teilnehmers werden zu den Zeitpunkten T1 bis Tn entnommen,
während Ernährung, Bewegung, Krankengeschichte und aktuelle klinische Daten eben-
falls aufgezeichnet werden (links). Die Ergebnisse der iPOP-Analyse können durch Circos-
Plots (rechts) überwacht werden, in denen DNA- (äußerer Ring), RNA- (mittlerer Ring)
und Proteindaten (innerer Ring) mit der Chromosomenposition übereinstimmen. Die Daten
können an Genetiker und/oder Mitarbeiter der genetischen Beratung zurückgemeldet werden,
um rationale Entscheidungen zur Vorbeugung und/oder Behandlung zu ermöglichen, die mit
pharmakogenetischen Daten abgeglichen werden können
160 12 Epigenom-Umwelt-Interaktionen und Therapie

iPOP-Analyse einen möglichst umfassenden Überblick über die biologischen


Signalübertragungswege, die sich während der Entwicklung von T2D bei
den Studienpersonen veränderten, einschließlich dynamischer Änderungen in
der allelspezifischen Expression und RNA-Editing-Ereignissen. Wichtig ist, dass
die Entwicklung von T2D in einem sehr frühen Stadium erkannt wurde, sodass
die Erkrankung durch eine Ernährungsumstellung und intensivere körperliche
Betätigung wirksam kontrolliert und rückgängig gemacht werden konnte.
Das zentrale Ziel einer Analyse vom iPOP-Typ ist die genaue Einschätzung
des Krankheitsrisikos der untersuchten Personen. Aufgrund der großen Anzahl
genetischer Varianten und der Tatsache, dass die meisten Krankheiten auf
einer Kombination von genetischen und umweltbedingten Faktoren beruhen
(Abschn. 12.1), ist dieses Ziel eine Herausforderung. Die Ergebnisse zur
Genotypisierung fassen das Krankheitsrisiko basierend auf Alter, Geschlecht und
ethnischer Zugehörigkeit sowie mehreren unabhängigen, krankheitsassoziierten
SNVs zusammen, um die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung des Probanden
zu berechnen. Die ursprüngliche iPOP-Studie errechnete für die untersuchte
Person ein zuvor unerwartet erhöhtes Risiko, an T2D zu erkranken, was sich
auch experimentell nach einer Virusinfektion bestätigte. Untersuchungen vom
iPOP-Typ können maßgeschneidert durchgeführt werden, um beliebige Krank-
heiten oder Veränderungen des physiologischen Zustands von Interesse zu über-
wachen. Das integrative Profil ist modular aufgebaut und erlaubt das Hinzufügen
weiterer „Omik-Informationen“, z. B. epigenomweiter Daten und des Mikrobioms
von Haut, Mundrachen, Nasenrachenraum, Magen, Darmschleimhaut oder Urin,
sowie quantifizierbarer Umweltfaktoren. Auf diese Weise könnten iPOP-ähnliche
Analysen auch für die Nutrigenomik zentrale Bedeutung erlangen (Abschn. 10.1).
In wenigen Jahren werden Informationen über vollständige Genomsequenzen
für Millionen von Menschen verfügbar sein. Das wird ein tieferes Verständnis der
Prozesse der Evolution des Menschen und der Ursachen von Mustern genetischer
Variationen für alle Populationen ermöglichen. Die schnelle Entwicklung von
NGS-Technologien in Kombination mit sinkenden Kosten für die Sequenzierung
wird es ermöglichen, große Datensätze im iPOP-Stil für viele Individuen zu
sammeln, deren Integration eine weitere Erforschung der Beziehung zwischen
(epi)genetischen Variationen und komplexen Krankheiten und entsprechenden
Merkmalen ermöglichen wird. Insbesondere die systematische Erforschung der
Epigenomik wird entscheidende Einblicke in die Krankheitsanfälligkeit liefern.
Die Möglichkeit, Personen nach ihrem Genotyp zu unterscheiden, wird klinische
Studien effizienter machen, indem eine geringere Anzahl von Probanden mit
einem erwarteten größeren Effekt bei der Personalisierung der Intervention
aufgenommen wird. Krankheiten wie T2D werden basierend auf dem Geno-
typ und der dynamischen Antwort des Individuums, z. B. als Reaktion auf eine
personalisierte Ernährung, in Unterphänotypen eingeteilt.
Interessanterweise ist jedes Individuum für 50–100 genetische Varianten
heterozygot, die bei homozygoten Nachkommen Erbkrankheiten verursachen
können. Das wird eine große Nachfrage und Herausforderung für die genetische
12.3 Epigenetische Therapie von Krankheiten 161

Beratung auf der Grundlage der Gesamtgenomsequenzierung darstellen. Darüber


hinaus werden (Epi-)Genom-Umwelt-Wechselwirkungen, die auf der Wahl des
Lebensstils basieren, eine zusätzliche Ebene der Komplexität schaffen. In den
nächsten Jahren wird eine Reihe von NGS-Anwendungen in die klinische (epi)
genetische Diagnostik einfließen, wobei noch unklar ist, wie dies finanziert
werden soll. Dennoch werden Weiterentwicklungen des NGS eine treibende
Kraft in der biomedizinischen Grundlagenforschung bleiben.

12.3 Epigenetische Therapie von Krankheiten

Während des Alterns ändert sich die Acetylierung und Methylierung der Histone
vieler Regionen im Genom, weil SIRTs das Abschalten von Genen und damit
Langlebigkeit fördern können (Abschn. 7.3). In ähnlicher Weise wird auch das
Epigenom von Krebszellen während des Transformationsprozesses von normalen
Zellen umprogrammiert. Die Kartierung aktiver und inaktiver Chromatinregionen
in Krebszellen ermöglicht eine genauere Prognose und kann sogar die Therapie
erleichtern. Beispielsweise sind DNMT- und HDAC-Inhibitoren bereits für die
Krebsbehandlung zugelassen (Abschn. 8.5). Darüber hinaus können zahlreiche
psychiatrische Erkrankungen wie Angst und Depression mit HDAC-Inhibitoren
behandelt werden (Abschn. 9.3). Interessanterweise verstärken diese nieder-
molekularen Inhibitoren auch die Wirksamkeit von Immuntherapeutika wie
etwa eine Blockade der Wechselwirkung zwischen dem hemmenden Rezeptor
PDCD1 (programmierter Zelltod 1, auch PD1 genannt) auf zytotoxischen
T-Zellen und CD274 (CD274-Molekül) auf Krebszellen (Abb. 12.4). Gegen-
wärtig ist die Immuntherapie die vielversprechendste Krebstherapie, da sie sich
die allgemeine Immunüberwachungsfunktion zytotoxischer T-Zellen zunutze
macht. In diesen Zellen würden PDCD1-induzierte Signalübertragungswege
ihre Aktivierung inhibieren, was durch Blockierung von PDCD1 verhindert
wird. Diese sogenannte Immuncheckpointblockade kann die Antitumorimmun-
antwort des Wirts verstärken, wenn zytotoxische T-Zellen ihr Wachstum und
ihre Effektorfunktion wieder aufnehmen. Darüber hinaus induzieren die DNMT-
Inhibitoren Azacitidin und Decitabin die Expression von Genen, die MHCs
(Haupthistokompatibilitätskomplexe) oder Tumorantigene codieren. Das erhöht
die Sichtbarkeit der Krebszelle für zytotoxische T-Zellen und deren anschließende
Eliminierung. Darüber hinaus erhöht Decitabin die Empfindlichkeit von Krebs-
zellen gegenüber einer Wachstumshemmung durch Typ-I-Interferone. Das führt
zu einer „viralen Mimikry“, bei der die DNA-Demethylierung die Transkription
endogener retroviraler Elemente in den Krebszellen aktiviert, was zu einer
durch doppelsträngige RNA vermittelten Immunantwort führt. Die Kombination
mit einem epigenetischen Mediator, z. B. Chromatinmodifikatorinhibitoren,
gibt der Immuncheckpointblockade von T-Zellen einen breiteren Ansatz zur
Behandlung von Krebs und chronischen Infektionen. Beispielsweise zeigten
162 12 Epigenom-Umwelt-Interaktionen und Therapie

Typ-I-Interferone

Anti-CTLA4
Blockade von
“Virales Mimikry”
PDCD1-CD274-
Interaktion
Krebszelle BET-
Inhibitoren CTLA4
DNMT-
Inhibitoren Zytotoxische
HDAC- CD274 PDCD1
T-Zelle
Inhibitoren
EZH2- CD40 CD154
Inhibitoren
Aktivierung

Tumor- Tumor-
antigene MHC- TCR infiltration
Antigen- Klasse I
prozessierung

Proliferation

MICA
MICB Chemokine
Interleukine HDAC-
Interferone Inhibitoren

TReg-Zelle

Tumor-
infiltration

Aktivierung

DNMT- HDAC- HDAC-


Inhibitoren Inhibitoren Inhibitoren
NK-Zelle Makrophage

Abb. 12.4  Inhibitoren von Chromatinmodifikatoren in der Immuntherapie. Epigenetische


Inhibitoren können auch in der Immunonkologie eine wichtige Rolle spielen. HDAC-Inhibitoren
modulieren auch die Expression von MHC-Proteinen, kostimulierenden CD40-Molekülen und
Tumorantigenen. Darüber hinaus beeinflussen sie die antigenverarbeitende Maschinerie und ver-
ändern die Chemokinexpression sowohl in Krebs- als auch in Immunzellen. Außerdem unter-
drücken sie TH-Zellen und induzieren die Rezeptorliganden MICA und MICB der NK-Zellen.
Inhibitoren der PRC2-Komponente EZH2 erhöhen die Expression der Chemokine CXCL (C-X-
C-Motiv-Chemokin) 9 und 10, die T-Zellen anziehen und die Auflösung von Tumoren verbessert.
BET, Bromodomäne und extraterminal; CTLA4, zytotoxisches T-Lymphozyten-assoziiertes
Protein 4; MIC, MHC-Klasse-I-Polypeptid-verwandte Sequenz; TCR, T-Zell-Rezeptor

Patienten mit Hodgkin-Lymphom, die vor einer Behandlung mit Immun-Check-


point-Inhibitoren einen DNMT-Inhibitor erhielten, eine höhere Rate an voll-
ständiger Remission ihres Krebses.
Wichtig ist, dass die meisten epigenomweiten Modifikationen reversibel
sind, was ein erhebliches therapeutisches Potenzial impliziert. Daher ist die
Epigenomik eines der innovativsten Forschungsgebiete in der Biomedizin, in
dem die molekularen Kennzeichen der epigenetischen Kontrolle als Angriffs-
punkte für medizinische Interventionen und Behandlungen genutzt werden
12.3 Epigenetische Therapie von Krankheiten 163

können (Abb. 12.5). Beispielsweise haben iPS-Zellen das Potenzial, geschädigtes


Gewebe zu regenerieren. Sie stammen aus differenzierten, adulten Zellen, die
mit pluripotenten Transkriptionsfaktoren überexprimiert wurden, die an Super-
Enhancer binden. Ihr Epigenom unterscheidet sich jedoch von dem der ES-Zellen
(Abschn. 6.3).
Die Versprechungen von epigenetischen Medikamenten erhöhten die Zahl
der Moleküle, die sich in vorklinischen oder klinischen Studien befinden. Neben
writer- und eraser-Enzymen werden nun auch Chromatinmodifikatoren der
reader-Klasse wie Chromatinremodellierer mit Bromodomänen oder methyl-
bindende Proteine adressiert. Die Onkologie ist derzeit der Schwerpunkt der
klinischen Epigenetik, aber die große Zahl klinischer und vorklinischer Studien in
anderen medizinischen Bereichen deutet darauf hin, dass sich die klinische Epi-
genetik in naher Zukunft weit über die Onkologie hinaus ausdehnen wird.

Histon- KMTi
mimetika • Stammzell- HDACi
• Infektion umprogrammierung
• Pathogene • Medikamentenresistente
Krebszellen

α-Keto- Histone Histonmodifikationen


Mobile
glutarat RNAs
• Krebs
• Entzündung • Epigenetische Vererbung

Metaboliten ncRNAs

SAM
Acetyl-CoA Kofaktoren Chromatin-reader iBET
NAD/NADH
• Stoffwechsel • Krebs
• circadiane Rhythmen • Entzündung

HDACi
DNMTi
• Verhalten Me Me Me Me Me Me

• Lernen

HDACi • T-Zell-Aktivierung Histonmodifizierende


H ist Enzyme Varianten von Chromatinremodeliern
KMTi

• Komplexe Erkr
Erkrankungen • Krebs
• Krebs
b • DNA-Reparatur
HDACi
DNMTi Höher geordnete PARPi
SIRTi DNA-Methylierung hromaatinstr
tinstrukture
u tu en
Chromatinstrukturen n
• Krebs
• Immunaktivierung • Chromosomemstabilität
• Tumorsuppression
HDACi
DNMTi KDMi

Abb. 12.5  Prognostisches und therapeutisches Potenzial der Epigenomik. Beispiele


für den Einfluss der Epigenomik auf die normale Entwicklung und auf Krankheiten sind
angegeben. Die Kreise repräsentieren jeweils die wichtigsten epigenomweiten Mechanis-
men und die hauptsächlich damit verbundenen Kernproteine. Dysregulierte Epigenomik
kann durch pharmakologische Eingriffe mit niedermolekularen Inhibitoren wie HDAC-
Inhibitoren (HDACi), DNMT-Inhibitoren (DNMTi), SIRT-Inhibitoren (SIRTi), metabolischen
Kofaktoren wie SAM und α-Ketoglutarat rückgängig gemacht werden. KMTi, KMT-
Inhibitoren; iBET, Bromodomäneninhibitoren und extraterminale Inhibitoren; PARPi,
Poly(ADP-Ribose)-Polymerase-Inhibitoren; KDMi, KDM-Inhibitoren
164 12 Epigenom-Umwelt-Interaktionen und Therapie

Weiterführende Literatur
Berdasco, M., and Esteller, M. (2019). Clinical epigenetics: seizing opportunities for translation.
Nat Rev Genet 20, 109–127.
Feinberg, A.P. (2018). The key role of epigenetics in human disease prevention and mitigation. N
Engl J Med 378, 1323–1334.
Ghoneim, H.E., Fan, Y., Moustaki, A., Abdelsamed, H.A., Dash, P., Dogra, P., Carter, R., Awad,
W., Neale, G., Thomas, P.G., et al. (2017). De novo epigenetic programs inhibit PD-1
blockade-mediated T cell rejuvenation. Cell 170, 142–157.
Green, E.D., Gunter, C., Biesecker, L.G., Di Francesco, V., Easter, C.L., Feingold, E.A., Felsen-
feld, A.L., Kaufman, D.J., Ostrander, E.A., Pavan, W.J., et al. (2020). Strategic vision for
improving human health at The Forefront of Genomics. Nature 586, 683–692.
Karczewski, K.J. and Snyder, M.P. (2018). Integrative omics for health and disease. Nat Rev
Genet 19, 299–310.
Glossar

Akute Entzündung: ist ein kurzzeitiger immunologischer Prozess, der als


Reaktion auf eine Gewebeverletzung oder Infektion mit Mikroben innerhalb
von Minuten oder Stunden auftritt. Diese Reaktion ist gekennzeichnet durch
Schmerzen, Rötungen, Schwellungen und Hitze.
Anergie: ist ein Toleranzmechanismus von T-Zellen, bei dem Zellen nach einer
Begegnung mit einem Antigen durch epigenomweite Umprogrammierung
inaktiviert werden.
Assay für transposasezugängliches Chromatin mithilfe von Sequenzierung
(ATAC-seq): ist eine Methode ähnlich der DNase-I-Hypersensitivität und
FAIRE-seq-Kartierung, die verwendet wird, um aktive regulatorische Stellen
zu identifizieren, die durch eine geringere Nukleosomendichte gekennzeichnet
sind. ATAC-seq verwendet die Tn5-Transposase, die Sequenzierungsadapter-
sequenzen in Regionen einfügt, die frei von Nukleosomen sind.
Autismus-Spektrum-Störung: ist eine Gruppe von neurologischen Ent-
wicklungsstörungen, die durch Defizite in der sozialen und kommunikativen
Interaktion und stereotype Verhaltensweisen gekennzeichnet sind.
Basale Transkriptionsmaschinerie: umfasst eine große Anzahl basaler
Transkriptionsfaktoren (von denen viele als TFIID-Komplex zusammen-
gefasst werden), die sich an der TSS-Region um die Pol II scharen. Über einen
weiteren Multiproteinkomplex von Koaktivatoren (als Mediator-Komplex
bezeichnet) ist die basale Transkriptionsmaschinerie mit der Aktivierung und
Unterdrückung von zell- und ortsspezifischen Transkriptionsfaktoren ver-
bunden, die an Enhancerregionen binden.
Beckwith-Wiedemann-Syndrom: ist eine vorwiegend mütterlich vererbte
Erkrankung mit übermäßigem Wachstum pre- und postnatal und einer Prä-
disposition für embryonale Tumoren. Die genetische Ursache der Erkrankung
sind mehrere geprägte Gene, darunter IGF2, H19 und KCNQ1. Ein Verlust der
Prägung des IGF2-Gens wird in etwa 20 % der Fälle beobachtet.

© Springer Nature Switzerland AG 2023 165


C. Carlberg und F. Molnár, Epigenetik des Menschen,
https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0
166 Glossar

Bisulfitsequenzierung: ist eine Methode zur Untersuchung der 5mC-DNA-


Methylierung. Native DNA wird mit Natriumbisulfit inkubiert, wodurch nicht-
methylierte Cytosine durch Desaminierung in Uracil umgewandelt werden (die
als Thymin gelesen werden), während methylierte Cytosine nicht reagieren.
Aus der modifizierten DNA werden Sequenzierungsbibliotheken (libraries)
generiert, die die Untersuchung der Methylierung mit Einzelbasenauflösung
ermöglichen.
Bivalentes Chromatin: sind Chromatinregionen, die aktive und unterdrückende
Histonmodifikationen beherbergen. Bivalente Chromatindomänen markieren
Gene, die nur in geringem Maße exprimiert werden, aber bereit sind, durch ein
intra- oder extrazelluläres Signal aktiviert zu werden.
Blastozysten: sind Embryonen im Frühstadium, welche die erste Abstammungs-
linienspezifikation durchlaufen haben, die zu zwei primären Zelltypen führt:
Zellen der inneren Zellmasse und Trophoblasten.
Bromodomäne: ist ein Proteinmodul aus etwa 110 Aminosäuren, das die
Interaktion mit acetylierten Lysinen vermittelt und häufig in HATs und ATP-
abhängigen Chromatinremodellierern vorkommt.
Chromatin: ist ein Komplex aus genomischer DNA und Histonproteinen und
somit die molekulare Substanz von Chromosomen.
Chromatinimmunpräzipitation gefolgt von Sequenzierung (ChIP-seq): ist
eine Methode zur genomweiten Kartierung der Verteilung von Histonmodi-
fikationen und chromatinassoziierter Proteine, die auf Immunpräzipitation mit
Antikörpern gegen modifizierte Histone oder andere Chromatinproteine beruht.
Die angereicherte DNA wird sequenziert, um genomweite Profile zu erstellen.
Chromatinkonformationserfassung (3 C): ist eine Methode zur Untersuchung
der chromosomalen 3D-Struktur durch Näheligation. Der Assay beruht auf
der Vernetzung von Chromatin mit einem Fixiermittel (normalerweise Form-
aldehyd), dem Verdau der DNA mit einem Restriktionsenzym und der Ligation
des fixierten Chromatins. In der resultierenden chimären DNA-Matrize werden
Bereiche, die räumlich nahe beieinander lagen, durch Ligation verbunden.
Chromatinmodifizierendes Enzym: ist ein Enzym, das Chromatin (d. h.
posttranslational modifizierte Histone und methylierte genomische DNA)
entweder erkennt (reader), Markierungen hinzufügt (writer) oder sie entfernt
(eraser).
Chromatosom: ist das Ergebnis der Bindung von Histon H1 an ein Nukleosom.
Es enthält 166 bp DNA, von denen 147 bp um den Histonkern des Nukleosoms
gewickelt sind.
Chromodomäne: ist eine modulare Methylbindungsdomäne aus 40–50 Amino-
säuren, die häufig in Chromatinremodellierern vorkommt.
Glossar 167

CpG: ist ein CG-Dinukleotid (das „p“ zeigt das Phosphat an, das die beiden
Nukleoside verbindet). Von 16 möglichen Dinukleotiden sind CpGs die ein-
zigen, die symmetrisch methyliert werden können, d. h. die DNA-Methylierung
kann nur durch CpGs an beide Tochterzellen vererbt werden.
CpG-Insel: ist eine Region von mindestens 200 bp, die einen CG-Prozentsatz von
mehr als 55 % aufweist. Typische CpG-Inseln sind jedoch 300–3000 bp lang.
CTCF: ist ein Transkriptionsfaktor mit einer Elf-Zinkfinger-DNA-Bindungs-
domäne, der an vielen zellulären Prozessen beteiligt ist, z. B. an der
Transkriptionsregulation, an der Isolatoraktivität und der Regulation der
Chromatinarchitektur.
DNA-Methylierung: ist das kovalente Anfügen einer Methylgruppe an die
C5-Position eines Cytosins.
DNA-Methyltransferasen (DNMTs): sind eine Familie von Enzymen,
welche die Übertragung einer Methylgruppe auf Cytosine genomischer DNA
katalysieren.
Effektgröße (odds ratio, OR): ist der mathematische Ausdruck der Beziehung
zwischen dem Vorhandensein oder Fehlen einer DNA-Variante, z. B. eines
SNVs, und dem Vorhandensein oder Fehlen eines Merkmals, z. B. einer Krank-
heit, in einer Population.
Einzelnukleotidvariante (SNV): ist die Substitution eines einzelnen Nukleotids
an einer bestimmten Position im Genom.
Ektoderm: ist die äußerste Schicht der drei embryonalen Keimschichten, aus der
Haut, Haare und Augen und Nervensystem entstehen.
Embryogenese: wird auch Embryonalentwicklung genannt und ist der Prozess,
durch den sich der Embryo formt und entwickelt. Bei Säugetieren wird der
Begriff ausschließlich für die frühen Stadien der pränatalen Entwicklung ver-
wendet, während die Begriffe Fötus und fötale Entwicklung spätere Stadien
beschreiben.
Embryonale Stammzelle (ES-Zelle): ist eine pluripotente Stammzelle, die aus
der inneren Zellmasse des frühen Embryos gewonnen wird. Pluripotente Zellen
sind in der Lage, praktisch alle Zelltypen des Organismus zu erzeugen.
Endoderm: ist die innerste Schicht der drei embryonalen Keimschichten, aus
der die Epithelien des Verdauungs- und Atmungssystems wie Leber, Bauch-
speicheldrüse und Lunge hervorgehen.
Enhancer: ist ein kurzer Abschnitt des Genoms, der (wie ein Promotor) Cluster
von Transkriptionsfaktorbindungsstellen enthält, die ein Gen innerhalb der-
selben TAD regulieren.
Enhancer-RNAs (eRNAs): sind eine Klasse von relativ kurzen ncRNA-
Molekülen (50–2000 Nukleotide), die von Enhancerregionen transkribiert
168 Glossar

werden. Die Expression einer bestimmten eRNA korreliert mit der Aktivität
ihres entsprechenden Enhancers.
Epigenetik: ist die Untersuchung vererbbarer Veränderungen in der Gen-
funktion, die keine Veränderungen in der DNA-Sequenz beinhalten. Zu den
epigenetischen Mechanismen gehören die kovalenten Modifikationen von DNA
und Histonen.
Epigenetische Epidemiologie: ist die Untersuchung der Beziehung zwischen
epigenetischen Varianten und Krankheitsphänotypen in der Bevölkerung.
Epigenetische Landschaft: ist eine Metapher der Zellentwicklung, in der
Täler und Berge veranschaulichen, wie eine pluripotente Zelle in einen wohl-
definierten differenzierten Zustand geführt wird, dargestellt durch einen Ball,
der in ein Tal hinunterrollt.
Epigenetische Mediatoren: sind Gene, deren Produkte die Ziele der epi-
genetischen Modifikatoren sind.
Epigenetische Medikamente: sind niedermolekulare Inhibitoren, die auf
chromatinmodifizierende Enzyme wie DNMTs, HATs, HDACs, KMTs oder
KDMs abzielen.
Epigenetische Programmierung: ist der Prozess, der auf spezifischen kovalenten
Modifikationen von genomischer DNA und Histonen basiert und zu stabilen
und dauerhaften Veränderungen des Epigenoms führt.
Epigenetische Uhr: ist ein Begriff, der verwendet wird, um das Alter auf der
Ebene der DNA-Methylierung zu messen.
Epigenetische Drift: ist eine Divergenz des Epigenoms in Abhängigkeit vom
Alter aufgrund stochastischer Veränderungen der DNA-Methylierung oder
stabiler Histonmodifikationen.
Epigenetischer Modifikator: ist meist identisch mit einem chromatinmodi-
fizierenden Enzym oder den enzymcodierenden Genen.
Epigenetische Modulatoren: sind Gene, die den epigenetischen Modifikatoren
und Mediatoren vorgeschaltet sind. Die Produkte dieser Gene vermitteln Ver-
letzungen, Entzündungen und andere Formen von zellulärem Stress.
Epigenetisches Gedächtnis: ist eine vererbbare Veränderung der Genexpression,
die durch einen früheren Entwicklungs- oder Umweltreiz induziert wird. Es
erfordert chromatinbasierte Veränderungen wie DNA-Methylierung, Histon-
modifikationen oder den Einbau von Histonvarianten.
Epigenom: ist der vollständige Satz epigenetischer Modifikationen im gesamten
Genom eines Individuums.
Epigenomik: umfasst Studien des Epigenoms.
Glossar 169

Epimutationen: sind vererbbare Veränderungen des Chromatinzustands in


einer bestimmten Position oder Region. Im Kontext der Cytosinmethylierung
werden Epimutationen als Änderungen im Methylierungsstatus eines einzelnen
Cytosins oder einer Region oder eines Clusters von Cytosinen definiert. Epi-
mutationen implizieren nicht notwendigerweise Veränderungen in der Genex-
pression.
eraser: sind Enzyme, die Histonmodifikationen aus Chromatin entfernen, wie
HDACs oder KDMs.
Euchromatin: umfasst dekondensierte und transkriptionell zugängliche Regionen
des Genoms.
Fakultatives Heterochromatin: ist eine dynamische Form von Heterochromatin,
die ihre Dichte und Aktivität als Reaktion auf intra- und extrazelluläre Signale
ändern kann.
Fehlende Erblichkeit: ist die Tatsache, dass genetische Variationen nicht die
gesamte Erblichkeit von Krankheiten, Verhaltensweisen und anderen Phäno-
typen erklären können.
Generationsübergreifende epigenetische Vererbung: ist die Übertragung
epigenetischer Informationen, die ohne Veränderung der DNA-Sequenz an
Gameten weitergegeben werden.
Genetische Prägung (gene imprinting): ist ein epigenetisches Phänomen, bei
dem die Expression eines Gens entweder auf dem väterlichen oder mütterlichen
Allel basiert.
Genexpression: ist der Prozess, bei dem Informationen eines Gens zur Synthese
eines funktionellen Genprodukts verwendet werden. Diese Produkte sind oft
Proteine, können aber auch ncRNAs sein.
Genkörper: ist die DNA-Sequenz eines Gens von der TSS bis zum Ende des
mRNA-Transkripts.
Genom: ist die vollständige haploide DNA-Sequenz eines Organismus, die alle
codierenden Gene und weitaus größere nichtcodierende Regionen umfasst. Das
Genom aller 400 Gewebe und Zelltypen eines Individuums ist identisch und
über die Zeit konstant (mit Ausnahme von Krebszellen).
Genomweite Assoziationsstudien (GWASs): sind Studien, die darauf abzielen,
genetische Orte (hauptsächlich SNVs) zu identifizieren, die mit einem
beobachtbaren Merkmal, einer Krankheit oder einem Zustand assoziiert sind.
Genotyp: ist die vollständige, vererbbare genetische Identität einer Person.
Genregulatorische Netzwerke: stellen Einheiten interagierender Proteine dar,
die funktionell durch definierte regulatorische Beziehungen in Zusammenhang
stehen. Diese Interaktionen liefern eine Struktur und bestimmen eine Ausgabe
in Form eines Genexpressionsmusters. Die Netzwerke werden üblicherweise
durch Knoten (Proteine) und Kanten (ihre Wechselwirkungen) visualisiert.
170 Glossar

Gesundheitsspanne: ist die Dauer der krankheitsfreien physiologischen Gesund-


heit innerhalb der Lebensspanne eines Individuums. Beim Menschen entspricht
dies der Zeit hoher kognitiver Fähigkeiten, Immunkompetenz und körperlicher
Höchstform.
Hämatopoetische Stammzellen (HSCs): sind Stammzellen im Knochenmark,
die sich zu allen Arten von Blutzellen entwickeln können.
Heterochromatin: umfasst dunkel gefärbte, kondensierte und genarme Regionen
des Genoms.
Histonacetyltransferasen (HATs): sind Enzyme, die Lysine an Histonproteinen
acetylieren, indem sie eine Acetylgruppe von Acetyl-CoA übertragen, um ε-N-
Acetyllysin zu bilden.
Histoncode: ist ein epigenetischer Code, der auf posttranslationalen Modi-
fikationen von Histonproteinen basiert. Die Histonmodifikationen dienen
der Rekrutierung anderer Proteine durch spezifische Erkennung des modi-
fizierten Histons über spezialisierte Proteindomänen. Der Code umfasst
mehr als 130 posttranslationale Modifikationen, die als „Alphabet“ für die
Anweisungen dienen, wie das Epigenom die Transkriptionsregulation steuert
und Informationen speichert.
Histondeacetylasen (HDACs): sind Enzyme, die Acetylgruppen von ε-N-
Acetyllysin an einem Histon entfernen.
Histonmodifikationen: sind kovalente posttranslationale Modifikationen
von Histonproteinen, die Methylierung, Phosphorylierung, Acetylierung,
Ubiquitinierung und Sumoylierung umfassen. Diese können die Genexpression
beeinflussen, indem sie die Chromatinstruktur verändern oder histonmodi-
fizierende Enzyme rekrutieren.
Histonproteine: Lysin- und argininreiche, positiv geladene Proteine, die
Oktamerkomplexe bilden, um die genomische DNA gewickelt ist. Sie sind die
Schlüsselproteinkomponenten von Chromatin.
Homodimer: ist ein Komplex, der aus zwei identischen Proteinen besteht.
Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom: ist eine äußerst seltene, autosomal
dominante, genetische Störung (1:4 Mio.), bei der sich Symptome, die
Aspekten des Alterns ähneln, in einem sehr frühen Alter manifestieren.
Immuncheckpointblockade: Immuncheckpoints sind Regulatoren
des Immunsystems und entscheidend für die Selbsttoleranz.
Immuncheckpointblockierende Moleküle wie CTLA4 und PDCD1 sind Ziele
für die Krebsimmuntherapie.
Implantation: ist ein frühes Entwicklungsstadium, in dem der Embryo am Endo-
metrium haftet.
Glossar 171

Induzierbare pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen): sind pluripotente


Stammzellen, die direkt aus terminal differenzierten, adulten Zellen generiert
werden können.
Innere Zellmasse: ist eine Gruppe von Zellen in einer Säugetierblastozyste, aus
welcher der Embryo hervorgeht.
Integrative persönliche Omik-Profilerstellung (iPOP): ist eine Analyse-
methode, die genom-, transkriptom-, proteom- und metabolomweite Profile von
Personen in einem Längsschnitt über einen Zeitraum von mehreren Monaten
bis Jahren kombiniert.
Interphase: ist die Ruhephase zwischen aufeinanderfolgenden mitotischen
Teilungen einer Zelle.
Isolator: ist ein Chromatinelement, das als Barriere gegen den Einfluss positiver
Signale von Enhancern oder negativer Signale von Silencern und Hetero-
chromatin wirkt.
Komplexe Erkrankung: ist eine Erkrankung, die im Gegensatz zu einer
monogenen Erkrankung durch Veränderungen mehrerer Gene verursacht
wird. Weitverbreitete Krankheiten wie T2D, Krebs, Atherosklerose und
Alzheimer gehören zu dieser Kategorie.
Konstitutives Heterochromatin: ist ein Subtyp von Heterochromatin, der sich
insbesondere in sich stark wiederholenden DNA-Sequenzen ausbildet, die sich
in den Centromeren und Telomeren von Chromosomen befinden. Das ver-
hindert die Aktivierung transponierbarer Elemente und gewährleistet dadurch
die Stabilität und Integrität des Genoms.
Laminassoziierte Domänen (LADs): bestehen aus Heterochromatin, das mit
Lamina an der Kernmembran interagiert.
Lysinmethyltransferasen (KMTs): sind chromatinmodifizierende Enzyme, die
die Übertragung von einer, zwei oder drei Methylgruppen auf Lysinen von
Histonproteinen katalysieren.
Mesoderm: ist die mittlere Schicht der drei embryonalen Keimblätter, aus der
Muskeln, Knorpel, Knochen, Blut und Bindegewebe entstehen.
Metaphase: ist das zweite Stadium der Mitose zwischen Prophase und Anaphase,
während der die Chromosomen an den Spindelfasern befestigt werden.
Metastabile Epiallele: sind Allele, die in genetisch identischen Individuen auf-
grund epigenetischer Modifikationen, die während der frühen Entwicklung
festgestellt wurden, variabel exprimiert werden und besonders anfällig für
Umwelteinflüsse sind.
Mitose: ist Zellteilung, die zu zwei Tochterzellen führt, die jeweils die gleiche
Anzahl und Art von Chromosomen wie der Elternkern haben.
172 Glossar

Multipotent: ist die Fähigkeit einer Zelle, sich in mehrere, aber eine begrenzte
Anzahl von Zelltypen zu differenzieren. Beispielsweise sind Zellen der
embryonalen Keimblätter und adulte Stammzellen multipotent.
Nichtcodierende RNA (ncRNA): ist ein RNA-Molekül, das nicht in ein Protein
übersetzt wird.
Nukleosom: ist die Grundeinheit der DNA-Verpackung in Eukaryoten und
besteht aus 147 bp genomischer DNA, die um ein Histonoktamer gewickelt ist.
Pathogenassoziierte molekulare Muster (PAMPs): sind kleine molekulare
Strukturen, die von Mikroben stammen, z. B. Lipopolysaccharide. Sie werden
von Toll-like-Rezeptoren und anderen Mustererkennungsrezeptoren auf der
Oberfläche von Zellen des angeborenen Immunsystems erkannt.
Phänotyp: ist die Gesamtzahl beobachtbarer Merkmale eines Individuums, die
sich aus der Wechselwirkung seines Genotyps mit der Umwelt ergeben.
PHD-Finger: ist eine Proteindomäne mit einer Länge von 50–80 Aminosäuren,
die dreifach methylierte Lysine erkennt. Es kommt in mehr als 100 Proteinen
beim Menschen vor, darunter Koaktivatoren, Polycomb-Proteinen, Proteinen
der Trithorax-Gruppe und KDMs.
Pionierfaktoren: sind Transkriptionsfaktoren, die direkt an Heterochromatin
binden können. Sie können positive und negative Auswirkungen auf
die Transkription haben und sind wichtig für die Rekrutierung anderer
Transkriptionsfaktoren und histonmodifizierender Enzyme sowie für die
Kontrolle der DNA-Methylierung.
Plastizität: ist die Reversibilität epigenetischer Markierungen auf DNA und
Proteinen.
Pluripotenz: ist die Fähigkeit einer Zelle, sich in alle drei Keimblätter zu
differenzieren und alle fötalen oder adulten Zelltypen hervorzubringen. Bei-
spielsweise sind Zellen der inneren Zellmasse von Blastozysten pluripotent.
Polycomb-Repressionskomplexe (PRCs): sind große Proteinkomplexe, die den
Zugang von Chromatin zu Transkriptionsfaktoren und damit die Genexpression
einschränken.
Posttranslationale Modifikationen: sind kovalente Modifikationen, durch
welche die meisten Proteine ihr volles Funktionsprofil erreichen. Aufgrund
posttranslationaler Modifikationen ist das Proteom weitaus komplexer als das
Transkriptom und variiert auch stark in Reaktion auf extra- und intrazelluläre
Signale.
Promotoren: sind Abschnitte genomischer DNA, die zur produktiven
Transkriptionsinitiation genutzt werden und mindestens eine TSS-Region
umfassen.
Glossar 173

Proteine der Trithorax-Gruppe: sind große Proteinkomplexe, welche die stabile


und vererbbare Expression bestimmter Gene während der gesamten Ent-
wicklung aufrechterhalten.
Proteom: ist in Analogie zum Transkriptom die Gesamtheit aller exprimierten
Proteine in einem bestimmten Gewebe oder Zelltyp. Das Proteom hängt vom
Transkriptom ab, ist aber nicht dessen 1:1-Übersetzung, d. h., Analysen des
Transkriptoms liefern nur eine sehr grobe Beschreibung des resultierenden
Proteoms.
RNA-Sequenzierung (RNA-seq): ist eine NGS-Methode, die das Vorhandensein
und die Menge von RNA in einer biologischen Probe zu einem bestimmten
Zeitpunkt bestimmt.
reader: sind Kernproteine, die Chromatin über spezielle Domänen erkennen und
binden.
Schadenassoziierte molekulare Muster (DAMPs): sind Moleküle, die häufig
von gestressten Zellen freigesetzt werden, welche eine Nekrose erleiden.
Sie wirken als endogene Gefahrensignale und initiieren und verstärken Ent-
zündungsreaktionen. Beispiele für Nicht-Protein-DAMPs sind Cholesterin-
kristalle und gesättigte Fettsäuren. DAMPs werden mit vielen entzündlichen
Erkrankungen in Verbindung gebracht, darunter Arthritis, Atherosklerose,
Morbus Crohn und Krebs.
Seneszenz: wird auch biologische Alterung genannt und umfasst die allmähliche
Verschlechterung funktioneller Eigenschaften. Der Begriff kann sich entweder
auf zelluläre Seneszenz oder auf die Seneszenz des gesamten Organismus
beziehen.
Signalübertragungswege: sind die Prozesse, bei denen ein chemisches oder
physikalisches Signal als eine Reihe von molekularen Ereignissen durch
eine Zellmembran übertragen wird, wie z. B. die durch Proteinkinasen kata-
lysierte Proteinphosphorylierung. Signalübertragungswege enden meist in der
Aktivierung eines Transkriptionsfaktors oder eines Chromatinmodifikators.
Silencer: ist eine Region im Genom, die eine reduzierte Expression ihrer Ziel-
gene verursacht.
Sirtuine (SIRTs): sind eine Familie von sieben NAD+-abhängigen HDACs, die
sich strukturell und mechanistisch von Zn2+-abhängigen HDACs unterscheiden.
SIRTs beeinflussen ein breites Spektrum zellulärer Prozesse wie Alterung,
Transkription, Apoptose, Entzündung und Stressresistenz.
Stammzellen: können sich in andere Zelltypen differenzieren und sich auch in
Selbsterneuerung teilen, um mehr Stammzellen desselben Typs zu produzieren.
Es gibt ES-Zellen, die aus der inneren Zellmasse von Blastozysten isoliert
werden, und adulte Stammzellen, die in verschiedenen Geweben vorkommen.
174 Glossar

Super-Enhancer: ist eine Region im Genom, die mehrere Enhancer umfasst,


welche gemeinsam von mehreren Transkriptionsfaktoren gebunden werden und
die Transkription von Genen antreiben.
SWI/SNF-Komplex: ist ein Proteinkomplex, der die Energie der ATP-Hydrolyse
nutzt, um Nukleosomen zu mobilisieren und Chromatin umzugestalten.
TET-Enzymfamilie: umfasst α‑Ketoglutarat-abhängige Dioxygenasen, welche
die Oxidation von 5mC zu 5hmC und weiteren Produkten katalysieren. Gene,
die diese Enzyme codieren, sind bei Krebserkrankungen häufig mutiert.
Tn5-Transposase: wird zur Fragmentierung der DNA in Sequenzierungsver-
fahren der nächsten Generation, z. B. ATAC-seq, benutzt.
Topologisch assoziierte Domänen (TADs): sind große Regionen im Genom,
die regulatorische Wechselwirkungen fördern, indem sie Chromatinstrukturen
höherer Ordnung bilden, die durch Grenzregionen getrennt sind.
Totipotenz: ist die Fähigkeit einer Zelle, differenzierte Zellen aller Gewebe,
einschließlich embryonaler und extraembryonaler Gewebe, in einem Organis-
mus hervorzubringen. Zum Beispiel ist eine Zygote totipotent.
Trainierte Immunität: ist ein Gedächtnissystem der angeborenen Immunität, das
auf epigenetischer Programmierung basiert.
Transkriptionsfaktorbindungsstelle: ist eine kurze (4–12 bp umfassende) DNA-
Sequenz, die spezifisch von einem Transkriptionsfaktor gebunden wird.
Transkriptionsfaktoren: sind Proteine, die sequenzspezifisch an genomische
DNA binden. Unser Genom codiert ungefähr 1600 Transkriptionsfaktoren, die
als trans-wirkende Faktoren bezeichnet werden, da sie nicht von denselben
Regionen codiert werden, die sie kontrollieren. Dementsprechend wird der Vor-
gang der Transkriptionsregulation durch Transkriptionsfaktoren oft als Trans-
aktivierung bezeichnet.
Transkriptionsstartstellen (TSSs): sind Nukleotide innerhalb eines Promotors,
die als erste von der Pol II in eine bestimmte RNA transkribiert werden.
Transkriptom: ist der vollständige Satz aller transkribierten RNA-Moleküle
eines Gewebes oder Zelltyps. Das Transkriptom unterscheidet sich erheblich
zwischen Geweben und Zelltypen und hängt von extra- und intrazellulären
Signalen ab.
Transposon: (auch transponierbares Element oder „springende DNA“ genannt)
ist eine DNA-Sequenz, die ihre Position innerhalb eines Genoms verändern
kann. Wenn diese Transposition über ein RNA-Zwischenprodukt vermittelt
wird, wird der Begriff Retrotransposon verwendet.
Trophoblast: ist die äußere Schicht der Säugetierblastozyste, die sich schließlich
zu einem Teil der Plazenta entwickelt.
Glossar 175

Urkeimzellen (PCGs): sind die gemeinsamen Ursprünge von Eizellen und


Spermien, d. h., sie repräsentieren die Vorläuferzellen der Keimbahn. Sie treten
im primären Ektoderm bereits in der zweiten Woche der Embryogenese auf.
Vorbereiteter (poised) Promoter oder Enhancer: ist ein inaktiver Status einer
Region im Genom, die Histonmarkierungen wie H3K4me1 trägt, welche nach
entsprechender Stimulation die schnelle Reaktivierung der Region ermög-
lichen.
Werner-Syndrom: ist eine seltene (1:100.000), autosomal-rezessive Erkrankung,
die durch das Auftreten vorzeitiger Alterung gekennzeichnet ist und durch
Mutationen im WRN-Gen verursacht wird, das eine ATP-abhängige DNA-
Helikase codiert.
writer: sind Enzyme wie DNMTs, HATs und KTMs, die Chromatin kovalente
Modifikationen hinzufügen.
X-Chromosom-Inaktivierung: ist der Prozess, bei dem eines der beiden
X-Chromosomen in weiblichen Säugerzellen früh in der Entwicklung zufällig
inaktiviert wird.
Zelluläre Umprogrammierung: ist die Umwandlung einer differenzierten Zelle
in einen embryonalen Zustand.
Zygote: ist ein befruchtetes Ei vor der Teilung, d. h. ein Embryo im Einzelzell-
stadium.
Stichwortverzeichnis

A
Acetyl-CoA, 134 Chromatinzugänglichkeit, 4
Agouti-Maus-Modell, 86 Chromodomäne, 59
Akute Entzündung, 143 Chromosom, 1
α‑Ketoglutarat, 130 Chromosomenterritorium, 23
Alzheimer-Krankheit, 125 Chronische Entzündung, 144
AMPK, 96 CpG-Insel, 32
Antigen, 145 CTCF (CCCTC-Bindungsfaktor), 21, 38
ATAC-seq, 27
ATPase, 64
Autismus, 121 D
Autoimmunerkrankung, 147 DAMP, 144
Autophagie, 134 Depletion eines Nukleosoms, 77
DNA-Methylierung, 32
DNA-Methylom, 34
B DNA-Methyltransferase (DNMT), 7, 33
Bereites Gen, 61 DNA-Reparatur, 94
Big-Biology-Projekt, 13 DNA-Schleifenbildung, 21
Biomarker, 42 DNase-seq, 27
Biomarker des Alterns, 92 DNMT (DNA-Methyltransferase), 7, 33
Bisulfitsequenzierung, 34 DNMT-Inhibitor, 111
Bivalent, 51 DOHaD, 136
Bromodomäne, 59

E
C Effektor-T-Zelle, 148
CA-Dinukleotid, 120 Einzelzellanalyse, 27
CCCTC-Bindungsfaktor (CTCF), 21 Embryogenese, 71
CEBPα, 142 ENCODE-Projekt, 13
CHD-Remodellierer, 65 Energiestatus, 97
ChIPmentation, 26 Energiestoffwechsel, 136
ChIP-seq, 25 Enhancer, 21
Chromatinarchitektur, 38 Epidermale Differenzierung, 81
Chromatinimmunpräzipitation, 25 Epigenetik, 1
Chromatinmodellierer, 58 Epigenetische Barriere, 109
Chromatinmodifikator, 48 Epigenetische Drift, 86
Chromatinstatus, 51 Epigenetische Epidemiologie, 89
Chromatinstruktur, 2 Epigenetische Krankheit, 109
Chromatinverpackung, 120 Epigenetische Krebstherapie, 110

© Springer Nature Switzerland AG 2023 177


C. Carlberg und F. Molnár, Epigenetik des Menschen,
https://doi.org/10.1007/978-3-031-33289-0
178 Stichwortverzeichnis

Epigenetische Landschaft, 9 HDAC-Familie, 58


Epigenetische Methode, 25 HDAC-Inhibitor, 111
Epigenetische Modifikation, 3 Heterochromatin, 5
Epigenetische Neuprogrammierung, 74 Histonacetyltransferase (HAT), 6
Epigenetische Programmierung, 150 Histoncode, 46
Epigenetischer Mediator, 107 Histondeacetylase (HDAC), 6
Epigenetischer Modifikator, 107 Histon H1, 120
Epigenetischer Modulator, 107 Histonmodifikation, 17, 48
Epigenetisches Langzeitgedächtnis, 61 Histonoktamer, 64
Epigenetisches Training, 143 Histonphosphorylierung, 134
Epigenetische Uhr, 94 Histonprotein, 16
Epigenom, 6 Histonvariante, 46
Epimutation, 102 HSC-Differenzierung, 141
Ernährungsrichtlinie, 157 Hungerwinter, 88
Essenzieller Metabolit, 128 Huntington-Krankheit, 124
ES-Zelle, 23 Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom
Euchromatin, 2 (HGPS), 95
Hypermethylierung, 104
Hypomethylierung, 104
F
FAIRE-seq, 27
Fakultatives Heterochromatin, 61 I
FANTOM5-Projekt, 13 ICR, 38
Fasten, 133 Immuntherapie, 161
Fehlende Erblichkeit, 155 Innere Zellmasse, 75
Fettleibigkeit, 156 INO80-Remodellierer, 65
Folatstoffwechsel, 130 Interphase, 2
Fragile-X-Syndrom, 123 iPOP-Analyse, 159
Friedreich-Ataxie, 123 iPS-Zelle, 82
Frontaler Kortex, 126 ISWI-Remodellierer, 65
Funktionsgewinn, 102
Funktionsverlust, 102
K
KDM (Lysindemethylase), 48
G Kennzeichen des Alterns, 94
Gedächtnis, 119 Kennzeichen von Krebs, 104
Gedächtniszelle, 143 Klinische Epigenetik, 163
Gen, 2 KMT (Lysinmethyltransferase), 6, 59
Genetische Prägung, 40 Kohorte, 90
Genetische Variante, 154 Körperliche Aktivität, 97
Genexpressionsmuster, 31 Krankheitsanfälligkeit, 160
Genkörper, 7 Krebs, 101
Genom des Menschen, 5 Krebsepigenetik, 111
Genomweite Assoziationsstudie, 154 Krebsgen, 82
Genregulatorisches Netzwerk, 29 Krebsgenomprojekt, 102
Gesundheitsspanne, 92 Krebsstammzelle, 108

H L
Hämatopoese, 139 Lange ncRNA, 66
HAT (Histonacetyltransferase), 6 Langzeitgedächtnis, 119
HAT-Familie, 58 Latenter Enhancer, 51
HDAC (Histondeacetylase), 6 Lebensspanne, 91
Stichwortverzeichnis 179

Lebensstilentscheidung, 155 Pluripotenter Transkriptionsfaktor, 37


Lernen, 119 Pluripotente Zelle, 11
Leukozyt, 141 Polycomb-Repressionskomplex (PRC), 23
LOCK, 108 Posttranslationale Modifikation, 45
Lymphoide Abstammungslinie, 140 PRC (Polycomb-Repressionskomplex), 23
Lysindemethylase (KDM), 48 Promotor, 21
Lysinmethyltransferase (KMT), 7 PU.1, 142

M R
Makronährstoff, 127 Regulatorische T-Zelle, 148
Makrophage, 145 Repetitive genomische DNA, 36
Master-Transkriptionsfaktor, 75 REST, 125
MECP2, 117 Rett-Syndrom, 117
MeDIP-seq, 34 Roadmap-Epigenomics-Projekt, 50
Metabolisches Syndrom, 137 Rubinstein-Taybi-Syndrom, 123
Methylgruppendonor, 86
Methylierungssensitiver Transkriptionsfaktor,
37 S
Mikrobe, 145 SAM, 130
Mikronährstoff, 127 Seneszenz, 94
Molekulare Uhr, 96 Sequenzierungsmethode, 34
Morbus Crohn, 147 Sexualsteroidhormon, 97
Multiple Sklerose, 147 Signalintegrator, 60
Multipotente Zelle, 11 Signalübertragungsweg, 48
Myeloische Abstammungslinie, 140 Sirtuin, 58
sparsamen Phänotyp, 88
Stammzelle, 75
N Stoffwechselorgan, 135
NAD+, 132 Störung der genetischen Prägung, 40
Neuroepigenetik, 116 Super-Enhancer, 80
Neuronale Entwicklung, 116 SWI/SNF-Remodellierer, 65
Neuronale Plastizität, 117 Syndrom vorzeitigen Alterns, 93
Next generation sequencing (NGS), 11
NGS (next generation sequencing), 11
Nicht-CpG-Methylierung (mCH), 32 T
NK-Zelle, 148 T2D, 160
Nukleosom, 16 TAD (topologisch assoziierte Domäne), 22
Nutrigenomik, 128 Terminal differenzierte Zelle, 11
Terminale Differenzierung, 10
TET, 33
O T-Helferzelle, 146
Onkogen, 102 Totipotente Zelle, 11
Trainierte Immunität, 148
Transformation, 109
P Transgenerationale epigenetische Vererbung,
PAMP, 144 74
Parkinson-Krankheit, 125 Transkriptionsfaktor, 18
PBMC, 92 Treiber, 107
Personalisierte Ernährung, 160 TSS-Region, 18
Personalisierte Medizin, 158 Tumorentstehung, 41
Pharmakogenomik, 128 Tumorsuppressorgen, 41
Pionierfaktor, 78
180 Stichwortverzeichnis

U Z
Unipotente Zelle, 11 Zellkern, 23
Urkeimzelle, 72 Zelluläre Homöostase, 12
Zelluläre Umprogrammierung, 77
Zellzustandsübergang, 79
V Zentrales Dogma der Molekularbiologie, 7
Verringerte Nahrungsaufnahme, 97 Zygote, 72
Zytotoxische T-Zelle, 161

W
Werner-Syndrom, 95

X
X-Chromosom, 67
X-Chromosom-Inaktivierung, 78
Xist, 67

Das könnte Ihnen auch gefallen