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Gerald Poscheschnik (Hg.)
Suchtfaktor Serie

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Gerald Poscheschnik (Hg.)

Suchtfaktor Serie
Psychoanalytisch-kulturwissenschaftliche
Perspektiven auf Game of Thrones,
Babylon Berlin und Co.

Mit Beiträgen von Pia Andreatta, Gianluca Crepaldi,


Lutz Ellrich, Susanne Hörz-Sagstetter, Nina Kemereit,
Olaf Knellessen, Hermann Mitterhofer, Barbara Neudecker,
Gerald Poscheschnik, Thomas Pröll, Thomas Reichsöllner,
Rainer Spieler, Lars Steffes, Timo Storck, Otto Teischel,
Catharina Thüner, Lisa Wolfson und Achim Würker

Psychosozial-Verlag

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Originalausgabe
© 2020 Psychosozial-Verlag, Gießen
E-Mail: info@psychosozial-verlag.de
www.psychosozial-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlagabbildung: © Nicolas Maderna/shutterstock
Umschlaggestaltung und Innenlayout nach Entwürfen von Hanspeter Ludwig, Wetzlar
ISBN 978-3-8379-3026-9 (Print)
ISBN 978-3-8379-7748-6 (E-Book-PDF)

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Inhalt

Vorwort 9
Fernsehserien als Gegenstand der Wissenschaften
Gerald Poscheschnik

Psychoanalyse und Fernsehen 13


Überlegungen zur Bedeutung und Funktion
von Fernsehserien aus psychoanalytischer Sicht
Gerald Poscheschnik

Teil I
Sex, Murder and Crime
Über Krimis und Thriller

I.1. Babylon Berlin 29


Zwischen historischer Kriegsneurose
und Narration des Traumas
Hermann Mitterhofer & Pia Andreatta

I.2. True Detective 47


Das Licht kommt mit der Zeit, oder:
Die unbewusste Angst vor der ewigen Wiederkehr
Thomas Pröll

I.3. Sherlock 63
Sucht und Suche
Lutz Ellrich & Lisa Wolfson

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Inhalt

Teil II
Lach mal wieder!
Über Comedy, Sitcom und Satire

II.1. The Office 85


Psychoanalytische Interpretationen
zum Verhältnis von Subjekt und Arbeit
Gianluca Crepaldi

II.2. Die Simpsons 103


Fantasie und Traum in einer TV-Serie
Rainer Spieler

II.3. Ally McBeal 117


Searching My Soul
Otto Teischel

II.4. King of Queens 135


Was fasziniert an einem dicklichen Paketdienstfahrer?
Einige Überlegungen zur latenten Wirkungsdynamik
Achim Würker

II.5. Gilmore Girls 151


Der warme Schein der Hysterie
Barbara Neudecker

Teil III
Tragik, Krieg und Katastrophen
Über Drama und Tragödie

III.1. The Deuce 173


Subjekte, Objekte und Quasi-Subjekte
Timo Storck

III.2. Fauda 191


Die Serie als Familie – die Familie als Serie
Olaf Knellessen

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Inhalt

III.3. Chernobyl 205


Naive Idiots Are Not a Threat – Von der Macht des Wissens
Catharina Thüner & Susanne Hörz-Sagstetter

III.4. Breaking Bad 221


Plan zur Sterblichkeit
Thomas Reichsöllner

Teil IV
Übersinnlich und übernatürlich
Über Mystery, Fantasy und Horror

IV.1. Game of Thrones 237


Die Fernsehserie als Spiegel gesellschaftlicher Fantasien
Gerald Poscheschnik

IV.2. Akte X 253


Leben mit der Illusion
Lars Steffes

IV.3. Stranger Things 267


Pubertierende Jugendliche?
Psychoanalytische Betrachtungen
Nina Kemereit

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Vorwort
Fernsehserien als Gegenstand der Wissenschaften

Gerald Poscheschnik

Bis heute hält sich hartnäckig das Vorurteil, Film und Fernsehen wären
lediglich seichte und oberflächliche Unterhaltung, die zwangsläufig zur
Verblödung ihres Publikums führen müssten. Eine der bekanntesten Ver-
sionen dieser Kritik stammt von Horkheimer und Adorno (2019). In ihrer
einflussreichen Hypothese von der sogenannten Kulturindustrie behaupten
sie, dass filmische Produkte ihre Zuschauer zu bloßen Konsumenten degra-
dieren und qua Manipulation zur intellektuellen Verarmung führen.
Seit geraumer Zeit allerdings wächst das Interesse verschiedener Wis-
senschaften und Forschungszweige an der Populärkultur. Die Cultural
Studies beispielsweise betonen das Element der Subversion in der Populär-
kultur und unterstreichen die aktive Rolle des Zuschauers bei der Kon-
struktion von Bedeutung (Winter, 2010). Pilipets und Winter (2016)
weisen dementsprechend darauf hin, dass Fernsehserien die Zuschauer
nicht nur für die kurze Dauer der jeweiligen Folge unterhalten, sondern
sie auch im Alltag begleiten, wo sie zum Thema soziokulturellen Aus-
tauschs werden. Die zeitgenössische Erziehungs- und Bildungswissenschaft
liest populäre Medienprodukte als kulturelle Phänomene, in denen Fragen
von Politik und Gesellschaft behandelt werden (Giroux, 2001, 2002;
Koller, 2011). Fernsehserien bergen also ein Potenzial zur psychosozialen
Transformation in sich, indem sie uns erziehen und bilden. Die Psycho-
analyse schließlich fokussiert nicht nur die ohnehin offensichtlichen In-
halte, sondern deckt vor allem unbewusst-latente Bedeutungsebenen der
Handlung auf (Bainbridge et al., 2014; Storck & Taubner, 2017). Zudem
kann sie zum Verständnis des mentalen Rezeptionsprozesses beitragen
sowie psychodynamische und psychosoziale Funktionen des Film- und
Fernschauens analysieren.
Der vorliegende Sammelband beinhaltet Beiträge, in denen berühmte
und beliebte Fernsehserien unterschiedlicher Genres von einst und heute

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Gerald Poscheschnik

psychoanalytischen, kultur- und bildungswissenschaftlichen Interpreta-


tionen unterzogen werden. Alle Beiträge bemühen sich, zuvorderst den
Inhalt der Serie so zu referieren, dass er auch für Leser nachvollziehbar
wird, die die Serie selbst nicht gesehen haben. Es gilt also erhöhter Spoiler-
Alert! Die Analysen versuchen sich dann an einer Dechiffrierung des la-
tent-unbewussten Gehalts, des Subtexts der Serienhandlung. Zudem wird
die individuelle und kollektive Rezeption der Serie durch ihr Publikum be-
handelt. Von nachrangiger Bedeutung war für dieses Buchprojekt hinge-
gen der Produktionskontext, also die Frage, inwiefern die Serie Ausdruck
unbewusster Konflikte und biographischer Besonderheiten ihrer Schöp-
fer ist. Zu den analysierten Serien gehören Babylon Berlin, True Detective,
Fauda, Sherlock, The Office, The Simpsons, Ally McBeal, King of Queens,
The Deuce, Breaking Bad, Chernobyl, Gilmore Girls, Game of Thrones,
Akte X und Stranger Things. Damit ist ein breites Spektrum an Genres von
Comedy über Thriller und Drama bis hin zu Mystery und Fantasy abge-
deckt.
Meine Special Thanks gebühren: Pia Andreatta, Anton Andreitz, Irina
Andreitz, Gianluca Crepaldi, Lutz Ellrich, Christian Flierl, Susanne Hörz-
Sagstetter, Nina Kemereit, Olaf Knellessen, Hermann Mitterhofer, Barbara
Neudecker, Luis Poscheschnik, Thomas Pröll, Thomas Reichsöllner, Rainer
Spieler, Lars Steffes, Timo Storck, Otto Teischel, Catharina Thüner, Daniel
Tschofen, Familie Wintschnig, Hans-Jürgen Wirth, Lisa Wolfson und
Achim Würker.

Bibliographie

Bainbridge, C., Ward, I. & Yates, C. (Hrsg.). (2014). Television and Psychoanalysis. Psy-
cho-Cultural Perspectives. London: Karnac.
Giroux, H. A. (2002). Breaking Into the Movies. Film and the Culture of Politics. Oxford:
Blackwell.
Horkheimer, M. & Adorno, T. W. (2019). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Frag-
mente. Frankfurt/Main: Fischer.
Pilipets, E. & Winter, R. (2016). Editorial: Neue Fernsehserien und ihr Potenzial für eine
kritische Medienpädagogik. MedienPädagogik, 26, 1–7. https://www.medienpaed.
com/article/view/409/507 (17.02.2020).
Storck, T. & Taubner, S. (Hrsg.). (2017). Von Game of Thrones bis The Walking Dead. Inter-
pretation von Kultur in Serie. Berlin: Springer.
Winter, R. (2010). Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästheti-
scher Prozess. Köln: Halem.

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Vorwort

Biografische Notiz
Gerald Poscheschnik, Mag. Dr., Psychologe, Klinischer Psychologe und Gesundheitspsy-
chologe. Nach langjähriger Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität
Innsbruck seit Oktober 2019 Professor für Theorien, Konzepte und Methoden der Sozialen
Arbeit an der FH Kärnten. Forschungs- und Interessensschwerpunkte sind Theorie und
Praxis (psycho-)sozialer Hilfsangebote, Methodologie und qualitative Sozialforschung,
Entwicklungswissenschaft, Psychoanalyse und Kulturwissenschaft.
g.poscheschnik@fh-kaernten.at

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Psychoanalyse und Fernsehen
Überlegungen zur Bedeutung und Funktion
von Fernsehserien aus psychoanalytischer Sicht

Gerald Poscheschnik

1. Wechselseitige Beobachtungen –
Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Film

Historisch betrachtet ist das Verhältnis von Psychoanalyse und dem


Medium Film eines, das von wechselseitigem Interesse geprägt war und
ist. So hat sich zum Beispiel der österreichische Regisseur Georg Wilhelm
Pabst bei der Produktion von Geheimnisse einer Seele im Jahre 1926 unter
anderem vom Psychoanalytiker Karl Abraham beraten lassen. Sowohl Axel
Corti (1976) als auch John Huston (1962) haben sich an Verfilmungen
der Biografie des jungen Freud versucht. David Cronenberg hat 2011 mit
Eine dunkle Begierde den Konflikt zwischen Sigmund Freud und C. G. Jung
rund um die Affäre des letzteren mit Sabina Spielrein auf Zelluloid ge-
bannt. Zudem werden in Filmen immer wieder psychoanalytische Thera-
pien dargestellt, meist allerdings eher humoristisch in Komödien, wie zum
Beispiel in What’s New Pussycat? oder Verrückt nach Mary. Im Zusam-
menhang mit der allmählichen Reduktion der Stigmatisierung psychisch
Kranker hat auch die teils etwas realistischere Darstellung von Psychothe-
rapie in Film und Fernsehen zugenommen (siehe z. B. Hooton, 2018). Zu
den bekanntesten Beispielen gehören die Serien Sopranos, Homecoming
und selbstverständlich In Treatment, die den fiktiven Psychotherapeuten
Dr. Paul Weston im Gespräch mit unterschiedlichen Patienten zeigt.
Aber nicht nur der Film beobachtet die Psychoanalyse, die Psycho-
analyse beobachtet auch den Film. Psychoanalytiker haben ebenfalls
schon recht früh begonnen, sich mit filmisch erzählten Geschichten zu
beschäftigen (siehe z. B. Rank, 1993 [1925]). Seitdem ist die Anzahl der
psychoanalytischen Filminterpretationen regelrecht explodiert. Lediglich
exemplarisch erwähnt seien psychoanalytisch orientierte Editionen zu
Filmen über psychische Störungen (Doering & Möller, 2008), Liebespaare

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(Hirsch, 2008), Sexualität und Begehren (Laszig & Gramatikov, 2017), vir-
tuelle Wesen und Welten (Laszig, 2013), das Fremde (Piegler, 2012) und
Traumata (Wollnik & Ziob, 2010). Es gibt aber auch psychoanalytische
Betrachtungen von Schauspiel-Ikonen wie zum Beispiel Marilyn Monroe
( Jacke, 2005), Filmhelden wie James Bond ( Jacke, 2015) oder Regie-
legenden, etwa Alfred Hitchcock (Schneider & Bär, 2018). Mittlerweile
steht man also beinahe schon einer Flut von Artikeln, Monografien und
Anthologien gegenüber, die sich mit den unterschiedlichsten Facetten von
Filmen aus psychoanalytischer Sichtweise auseinandersetzen1.

2. Produktion, Medium, Rezeption –


Entstehung, Inhalt und Wirkung von Film
und Fernsehen aus psychoanalytischer Perspektive

Zum Erfolg von Filmen oder Fernsehserien tragen sicherlich viele verschie-
dene Aspekte bei: Schauspielerische Leistung, Kulisse, Maske, Kostüme,
Kamera- und Regiearbeit sowie ein spannendes Narrativ voll außerge-
wöhnlicher Ereignisse, die das normale Leben des durchschnittlichen Zu-
schauers transzendieren. Über diese kinematografische Umsetzung hinaus
muss die Produktion aus psychoanalytischer Sicht ihre Zuschauer aber
auch auf einer unbewussten Bedeutungsebene faszinieren, um sie emotio-
nal zu berühren. Sicher gilt vieles, was man über Filme sagen kann, auch für
Fernsehserien. Ein Unterscheidungsmerkmal, das nun spezieller auf Fern-
sehserien zutrifft, ist deren Serialität und Wiederholung. Das heißt, ob-
gleich sich beide desselben Mediums bedienen, ist das Format doch ein an-
deres. Das Serienerlebnis provoziert – sofern man sich als Rezipient darauf
einlässt – eine längere Auseinandersetzung und damit eine engere Bindung
an ein Narrativ. Im Gegensatz zu einem Film, der nur einmal gesehen wird
und etwa zwei Stunden dauert, begleitet eine TV-Serie ihre Zuschauer über
viel längere Zeiträume, oft Monate, vielfach sogar über Jahre hinweg! So
kann die Serie zu einer rituellen Beschäftigung im Alltag des Rezipienten
werden. Dadurch entstehen vielleicht stärkere Bindungen und länger an-

1 Eine faszinierende dialektische Aufhebung der gegenseitigen Beobachtungen stellen


die Filme mit dem Philosophen und Psychoanalytiker Slavoj Zizek dar. In The Pervert’s
Guide to Cinema (2006) und The Pervert’s Guide to Ideology (2012) werden Ausschnitte
bekannter Filme gezeigt und von Zizek psychoanalytisch interpretiert.

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Psychoanalyse und Fernsehen

haltende Identifikationen, die es der Serie erlauben, tiefere Furchen in den


Boden des Psychischen einzuziehen, als das bei passageren Eindrücken
möglich wäre.
Glen Gabbard (2001) hat in seiner Einleitung zu Psychoanalysis and
Film sieben mögliche Zugänge zu den Tiefenschichten des Films beschrie-
ben:
1. Film als Ausdruck der kulturellen Mythologie,
2. Film als Spiegel der Subjektivität des Filmemachers,
3. Film als Darstellung einer Entwicklungsthematik,
4. Film als Traum,
5. Analyse des Zuschauers,
6. Darstellung psychoanalytischer Konzepte im Film,
7. Charakteranalyse im Film.

Medienwissenschaftlich betrachtet werden Film und Fernsehen – wie


andere kulturelle Manifestationsformen auch – heutzutage meist im Zu-
sammenhang Produzent – Medium – Rezipient betrachtet. Die Psycho-
analyse kann grundsätzlich zum Verständnis aller drei Aspekte beitragen.
Erstens kann die Psychoanalyse dazu beitragen, Film und Fernsehen als
Ausdruck der biografisch geprägten Persönlichkeit des Filmemachers zu
lesen. Zweitens ist die Psychoanalyse auch in der Lage, den unbewussten
Gehalt von Kino und TV zu dechiffrieren. Drittens vermag die Psycho-
analyse auch die Rezeption und mentale Verarbeitung von solchen Medien
zu verstehen. Einer gelegentlich befürchteten Interpretationswillkür wird
durch das regelgeleitete methodische Vorgehen der Psychoanalyse – sei es
in Form des Szenischen Verstehens (Lorenzer, 1973), der Tiefenhermeneu-
tik (König, 2000) oder der Psychoanalytischen Textinterpretation (Leit-
häuser & Volmerg, 1979) – Einhalt geboten, da es einen Weg vom Daten-
rohmaterial zum Interpretationsergebnis vorgibt und absichert (siehe auch
Hug & Poscheschnik, 2020).

2.1. Die spinnen, die Künstler –


Der Produzent zwischen Genie und Wahnsinn

Dieser klassische Zugang versucht, sich dem Kunstwerk über seinen Schöp-
fer zu nähern. Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei der Künstler mit
seinen biografischen Besonderheiten und seiner individuellen Psycho-

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Gerald Poscheschnik

dynamik, der das Kunstwerk quasi als Ausdruck seines Unbewussten er-
schafft. Freud (1910b) hat zum Beispiel Verbindungen zwischen Kind-
heitserinnerungen Leonardo da Vincis und seinen Gemälden hergestellt.
Otto Rank (2000 [1932]) hat in seiner kulturpsychologischen Studie
Kunst und Künstler Konnexionen zwischen Neurose und Kunst hergestellt
und die künstlerische Produktion als Ausdruck von Schaffensdrang auch
im Dienste eines Selbstheilungsversuchs gesehen. Timo Storck (2010) hat
in jüngerer Zeit versucht, künstlerische Prozesse unter anderem mithilfe
der psychoanalytischen Konzepte von Sublimierung, Identifizierung und
Projektion als Beziehungskonstellation zwischen Künstler und Kunst zu
deuten, die zu einer Quasi-Subjektivierung des Materials führen. Standen
bei den klassischen Ansätzen meist Maler und Literaten im Mittelpunkt,
hat die moderne Psychoanalyse derartige Überlegungen mittlerweile auch
auf Filmschaffende übertragen (siehe z. B. Jacke, 2009; Storck et al., 2019;
Schneider et al., 2018; Zeul, 2016).

2.2. Ich sehe was, was du nicht siehst –


Das Unbewusste in Film und Fernsehen

Wenn man auf die Parallelen zwischen Film und Traum achtet, wie das
Mechthild Zeul (2007) getan hat, lassen sich Filme als kollektivierte
Träume verstehen. Der latente Inhalt eines solchen Narrativs ist in seinen
manifesten Szenen verborgen und kann durch die psychoanalytische Me-
thodik dekodiert werden. Diese Analyse der Figuren und ihrer Relationen
kann unbewusste Sujets aufdecken, die im bewussten Material enkodiert
sind. Auf diese Weise lassen sich psychodynamische und beziehungsdyna-
mische, aber auch gesellschaftlich und kulturell unbewusste Muster, auf-
spüren. Dazu zählen beispielsweise der Ödipuskonflikt, der sich um das
Generationenverhältnis, die Geschlechterspannung und ihre möglichen
Verarbeitungen dreht (siehe Freud, 1924d), und die Heldenreise (Camp-
bell, 1949), die den Entwicklungs- und Emanzipationsprozess von der
Abhängigkeit zur Autonomie nachzeichnet und schon von Otto Rank
(2000 [1922]) beschrieben wurde. Häufig taucht in Filmen auch das
Muster von Traumatisierung/Retraumatisierung, ängstlicher Vermeidung
und Erlösung auf, womit die Dynamik des Wiederholungszwangs (Freud,
1920g) nachgezeichnet wird. Viele Filmcharaktere scheinen sinnbildlich
für psychoanalytische Konzepte, wie zum Beispiel Ich, Es, Überich, zu

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Psychoanalyse und Fernsehen

stehen oder bis zu einem gewissen Grad auch Psychopathologien zu ver-


körpern. Mithilfe psychoanalytischer Filminterpretationen lassen sich die
bewegten Bilder auch als Aussagen über die latenten Befindlichkeiten von
Kultur und Gesellschaft auslegen (Laszig & Schneider, 2008). Neuerdings
gewinnen auch strukturalistische und poststrukturalistische Ansätze der
französischen Psychoanalyse in der Filmanalyse an Bedeutung. Viel zur
Verbreitung von Lacans Überlegungen in Bezug auf Filme hat Slavoj Zizek
beigetragen (Zizek et al., 2002), mit Büchern wie Was Sie schon immer über
Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten.

2.3. Das Publikum als unbekanntes Wesen –


Zur psychischen Verarbeitung des Gesehenen

Was die Rezeption von Film und Fernsehen anbelangt, so ist festzuhal-
ten, dass es sich in den allermeisten Fällen um Geschichten von Personen
handelt, die nie existiert haben, und Ereignissen, die nie wirklich passiert
sind. Das wissen die Zuschauer auf der einen Seite, auf der anderen Seite
glauben sie aber für den Moment trotzdem an die Echtheit, sonst könnte
keine Liebesgeschichte rühren und keine Horrorgeschichte gruseln. Die
Geschichten sind eine überzeichnete, eine übertriebene Darstellung
der individuellen oder soziokulturellen Verhältnisse, weshalb sie leicht
als Repräsentation der Wirklichkeit erkannt werden können, ohne dass
sie als Darstellung der Wirklichkeit selbst verkannt werden (siehe auch
Fonagy et al., 2004). So können wir in imaginierte Welten eintauchen,
allerdings ohne den Bezug zur externen Realität völlig zu verlieren (Oatley
et al., 2018). Die Rezeption des audiovisuellen Narrativs eröffnet einen
Übergangsraum, eine Zwischenwelt. Es kommt zur phantasmatischen
Konstruktion von virtuellen psychischen Welten, in der die Frage, ob sie
gefunden oder erfunden wurden, belanglos ist (Winnicott, 1999). Über
den Mechanismus der Identifikation werden Inhalte der Geschichten
ins Selbst aufgenommen, über den Mechanismus der Projektion eigene
Anteile im Narrativ verortet (zum wechselseitigen Verhältnis von inter-
nalisierenden und externalisierenden Mechanismen siehe auch Mentzos,
1982). Die Figuren sind so gesehen eine Widerspiegelung unterschied-
licher Persönlichkeitsanteile, aber auch gesellschaftlicher und kultureller
Besonderheiten; somit können sie zum Container für eigene mehr oder
weniger unbewusste Ängste, Hoffnungen, Freuden, Ressentiments und

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Gerald Poscheschnik

so weiter werden. Die gezeigten Handlungen werden zum Vorbild oder


zur Abschreckung und können Selbst und Identität stabilisieren und/oder
auch transformieren. Zu den weiteren psychoanalytischen Konzepten, die
sich auf die Rezeption von Medien anwenden lassen, gehören unter ande-
rem Projektive Identifikation (siehe z. B. Frank & Weiß, 2017), Contai-
ning (Crepaldi, 2018), Mentalisierung (Fonagy et al., 2004), Blick (Zizek,
1993) und Selbstobjekt (Kutter, 1999).

3. Fernsehserien und ihre psychosozialen Funktionen

Menschen erfinden Narrative, weil sie Narrative brauchen – sowohl als In-
dividuen als auch als Gemeinschaften. Solche Narrative, egal ob in Form
von Mythen, Märchen, Romanen, Filmen oder Fernsehserien, werden
nicht um ihrer selbst willen verbreitet, sondern weil sie den Zuhörern und
Zusehern einen Mehrwert bringen, der sich als psychische und psychoso-
ziale Funktionen abbilden lässt. Die einzelnen Funktionen schließen ein-
ander nicht aus, sondern stehen in einem Ergänzungsverhältnis zueinan-
der. Viele psychoanalytische Überlegungen, die ursprünglich in Bezug auf
Mythen, Märchen und Sagen formuliert wurden, lassen sich auch auf Filme
und Fernsehserien übertragen.

3.1. Die eskapistische Funktion – Fernsehserien als Realitätsflucht

Auf einer basalen Ebene erfüllen Fernsehserien für ihre Zuschauer die
simple Funktion der Unterhaltung und Ablenkung. Die Darstellung auf-
regender und außergewöhnlicher Ereignisse dient als Kontrapunkt zur
Fadesse und Tristesse des Alltags ihrer Zuschauer. Robert Pfaller (2012)
hat betont, dass wir zweite Welten kreieren und imaginieren müssen. Das
sind Träume, Illusionen und Wunschwelten, die uns über unser wirkliches
Leben, die erste Welt, mit all seinen Frustrationen und Einschränkungen
hinwegtrösten und so erst die mühsame Realität erträglich und aushaltbar
machen. In diesem Zusammenhang könnten wir von einer eskapistischen
Funktion von Fernsehserien sprechen. Explizit thematisiert wurde dieses
Motiv der Flucht jüngst in Breaking Bad; in dieser Serie baut der Chemie-
lehrer Walter White, der schwer erkrankt ist und sich vom Leben betrogen
fühlt, ein Drogenimperium auf.

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Psychoanalyse und Fernsehen

3.2. Die kathartische Funktion –


Fernsehserien als Wunschmaschine

Des Weiteren stellen Fernsehserien auch eine Möglichkeit zur Abfuhr von
verpönten Triebimpulsen und Affekten dar, indem ihr Narrativ verbotene
Wünsche inszeniert. Fernsehserien erzählen häufig von der Erfüllung heim-
licher und verdrängter Wünsche, die unter dem Druck der Zivilisation ins
Unbewusste verbannt werden mussten. Solche Überlegungen finden sich
schon in Freuds Unbehagen in der Kultur (1930a), wo herausgearbeitet
wird, dass das kulturelle Leben stets einen Triebverzicht einfordert, der
unter anderem durch die Beschäftigung mit Kunst und Kultur gelindert
werden kann. Viele Fernsehserien, die sich dem Krimigenre im weitesten
Sinn des Wortes zuordnen lassen, bestechen durch mehr oder weniger un-
verhohlene Darstellungen von Gewalttaten und Gesetzesbrüchen anderer
Art. Dadurch bieten sie den Zuschauern die Gelegenheit, das als erfüllt zu
sehen, was sie selbst tief in ihrem Unbewussten vergraben mussten. Fern-
sehserien wie zum Beispiel Die Sopranos oder Boardwalk Empire themati-
sieren explizit den Grenzgang zwischen Bürgerlichkeit und Kriminalität.
Aber auch die relativ magenverträglichen Upperclass-Bluttaten, mit denen
jede Folge von Columbo beginnt, erlauben eine zumindest symbolisch-
phantasmatische Befriedigung solcher Triebimpulse.

3.3. Die edukative Funktion – Fernsehserien als Adaptionshilfe

Die Narrative von Fernsehserien erschaffen aber nicht nur eine symboli-
sche Befriedigung verdrängter Wünsche, sondern lehren auch Triebver-
zicht, Sublimierung und Realitätsbezug, unter anderem, indem sie die
tragischen Konsequenzen der Erfüllung verbotener Wünsche vor Augen
führen. Bettelheim (2008) hat für Märchen gezeigt, dass unterschiedliche
Charaktere unterschiedliche Selbstanteile repräsentieren, die auch in Kon-
flikt miteinander geraten können. Dadurch hat man die Möglichkeit, sich
mit leuchtenden Vorbildern zu identifizieren und sich von hinterhältigen
Halunken abzugrenzen. In ichpsychologischer Tradition hat Jacob Arlow
(1961) gezeigt, dass mythologische Erzählungen die Funktion haben,
Spannungen zwischen triebhaften Impulsen und kulturellen Imperativen
zu überbrücken und auf diese Weise die Adaption an die Umwelt zu för-
dern (siehe auch Peterson, 1999). Das gilt auch für Fernsehserien, die so

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gesehen Leitlinien, Orientierungshilfen und Ratgeber bei inneren und


äußeren Konflikten sind; sie erteilen den Zuschauern Auskünfte darüber,
welches Verhalten von ihnen erwartet wird und bei welchem Verhalten sie
sich Glück und Anerkennung erhoffen dürfen. Kurzum, viele Fernsehserien
vermitteln eine Moral von der Geschicht’ und kredenzen ihrem Zuschauer
damit Maximen für züchtiges Benehmen. Die Handlung von Fernsehserien
wie zum Beispiel Bonanza, Die Bill Cosby Show oder Baywatch verspricht
ihren Zusehern, dass sie Glück und Zufriedenheit erlangen können, wenn
sie sich mit allerlei Facetten von Not und Leid auseinandersetzen und diese
durch Mut und Tapferkeit überwinden.

3.4. Die transformative Funktion –


Fernsehserien als Bildungschance

Darüber hinaus passieren aber in guten Geschichten und auch Fernsehse-


rien immer wieder Ereignisse, die den Erwartungshaltungen der Zuschauer
zuwiderlaufen. Dieses Moment des Unvorhersehbaren, das mentale Re-
präsentationen erschüttert, lässt sich weniger leicht als direkte Handlungs-
anweisung interpretieren. Solche Aspekte des Narrativs müssen vielmehr
psychisch verarbeitet werden. Die psychische Konstruktion eines Fanta-
sieraums, eines psychischen Übergangsraums, ermöglicht uns – im Unter-
schied zu realen Erfahrungen – das mentale Spielen mit diesen Narrativen
und Fantasien, ihre psychische Be- und Verarbeitung, also letztlich auch
eine mentale Transformation (siehe auch Crème, 2013; König, 2018). In-
sofern hat der Übergangsraum, der durch das Fernsehen geöffnet wird,
immer auch eine transformative Funktion (Bollas, 1979)2. In Fernsehserien
wie Game of Thrones, Lost oder auch How I Met Your Mother geschehen
überraschende und/oder erschreckende Dinge, die nur schwerlich unter
bestehende Interpretationsschemata subsumiert werden können: Liebge-
wonnene Protagonisten werden plötzlich und brutal aus dem Leben ge-
rissen, das unsympathische Verhalten einer Rolle wird durch Rückblen-
den auf ihre biografische Vergangenheit auf einmal einfühlbar, eine am
Boden der Realität stehende Handlung gerät durch mysteriöse Ereignisse

2 Psychologische Studien haben auch gezeigt, dass die Lektüre fiktionaler Literatur zu ver-
tiefter Empathie und einem besseren Verständnis anderer Personen führt (Oatley et al.,
2018).

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Psychoanalyse und Fernsehen

ins Wanken. Das gilt aber nicht nur für komplexere Fernsehserien. Serien
mögen in vielen Fällen durchaus versuchen, den Zuseher zu beeinflussen
und zu erziehen, was in vielen Aspekten auch gelingen mag. Allerdings ob-
liegt es in letzter Instanz dem Subjekt, dem aktiven Zuschauer (Winter,
2010), sich verführen zu lassen oder auch nicht. Welche Erkenntnisse das
Subjekt aus der Serie zieht, ist nicht restlos kontrollierbar.

3.5. Die identitätsstiftende Funktion –


Fernsehserien als Gemeinschaftsbildung

Darüber hinaus können Fernsehserien auch eine kollektivierende Funktion


erfüllen, indem sie Identität stiften und Gemeinschaften herstellen. Fern-
sehserien stellen Narrative zur Verfügung, die größere Gemeinschaften
und Großgruppen, deren Mitglieder sich nicht mehr persönlich kennen
können, zusammenhalten. Dunbar (2014) hat versucht zu zeigen, dass sich
durch direkte Kommunikation nur Gruppen bilden lassen, die maximal
150 Personen umfassen. Gottschall (2012) hat in The Storytelling Animal
herausgearbeitet, dass der emotionale Kitt, der Großgruppen zusammen-
hält, aus dem Glauben an gemeinsam geteilte Erzählungen besteht (siehe
auch Harari, 2013). Diese Narrative brauchen freilich, um ihre volle Wir-
kung entfalten zu können, eine Verankerung in der externalen Welt. Durch
gemeinsame Symbole, Rituale und Kulte vergewissert man sich dieser
Großgruppenidentität (siehe auch Volkan, 2000). Das gilt nicht nur für
Nationalitäten, Ethnien und Religionsgemeinschaften, sondern auch für
popkulturell vermittelte Fangemeinden, auch Fandom genannt. Star Trek
ist nur eine von vielen Fernsehserien(-familien) mit reichhaltigem Mer-
chandising, das für eine Omnipräsenz der Symbole im öffentlichen Raum
sorgt. Die Fans von Raumschiff Enterprise, auch als Trekkies oder Trekker
bezeichnet, treffen sich maskiert und kostümiert auf sogenannten Conven-
tions, machen eigene Star-Trek-Schiffskreuzfahrten und grüßen sich mit
dem Vulcan salute. Die Serialität stiftet Identität, die in einer unsicher und
beliebig gewordenen Welt psychosoziale Verankerung und Stabilität ge-
währleistet (Berkel, 2019)3. Man denke hier nicht nur an die Möglichkeit

3 David Assmann (2018) hat in einem interessanten Artikel anhand der Fernsehserie Mr. Ro-
bot gezeigt, wie die Grenzen zwischen Fernsehen und externer Realität verwischen und
gezielt verwischt werden. So wird die Handlung jeder Folge im Anschluss in Online-

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Gerald Poscheschnik

der Kommunikation über die Seriennarrative, sondern zum Beispiel auch


an Kappen und T-Shirts, die im Alltag getragen werden. Die solcherart
sichtbar präsentierten Logos und Ikone helfen bei der Erzeugung virtueller
Gefühle der Zugehörigkeit und des Zusammenhalts in Zeiten von Entso-
lidarisierung, Fragmentierung und dem Verlust großer kollektiver Identi-
täten, zum Beispiel nationaler Art.

4. Abschließende Bemerkung –
for television and psychoanalysis

Während sich Filme bald als Kunstform etablieren konnten, galten Fern-
sehserien noch längere Zeit als billiger Trash. Seitdem allerdings eine neue
Generation an Fernsehserien durch hohe Qualität der Produktion und
Komplexität der Narration bestechen, werden diese vielfach von der Kritik
sogar als Quality TV oder Complex TV gefeiert (s. Thompson, 1997; Mit-
tell, 2015). Mit der Renaissance des Fernsehens ging auch eine vermehrte
wissenschaftliche Beschäftigung mit Fernsehserien einher, an der nunmehr
unterschiedlichste Disziplinen beteiligt sind: Cultural Studies und Kultur-
wissenschaft, Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Psychologie, Medien-
und Sozialwissenschaft. Aber auch die Psychoanalyse beginnt, Fernseh-
serien als Gegenstand ihrer Forschung zunehmend Aufmerksamkeit zu
schenken (Bainbridge et al., 2014; Poscheschnik, 2016; Storck & Taubner,
2017). Es bleibt zu hoffen, dass die psychoanalytische Beschäftigung mit
Fernsehserien – egal ob Trash oder Quality – weiter an Fahrt gewinnt, um
nicht nur Fernsehserien, ihre Produktion, ihren Inhalt und ihre Rezeption
auch auf unbewusster Ebene besser zu verstehen, sondern selbige sowohl
als Spiegel individueller Psychodynamiken als auch kulturell gesellschaftli-
cher Besonderheiten tiefgehender analysieren zu können. Der vorliegende
Sammelband versteht sich als kleiner Beitrag zu diesem Projekt. Die ins-

Talkshows diskutiert, parallel lassen sich Kommentare auf Twitter am Smartphone oder
Tablet verfolgen. Auf Internetseiten werden Easter-Eggs mit zusätzlichen Informationen
und Spielen zur Serie versteckt. Aber nicht nur Mr. Robot, auch andere Fernsehserien
werden parallel und im Nachhinein kommentiert, diskutiert, kritisiert usw. »Film und Le-
ben, Fiktion und Alltagserfahrung liegen in der TV-Rezeption eines jüngeren Publikums
nahe beieinander. […] Fernsehen wird so von einem Medium der Vereinzelung zu einem
Medium der Verständigung zurückverwandelt« (Assmann, 2018).

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Psychoanalyse und Fernsehen

gesamt 15 Artikel lassen sich cum grano salis – Doppelzuordnungen sind


keine Seltenheit – vier großen Genres zuordnen, die sich jeweils durch ge-
meinsame Meta-Narrative und bestimmte beim Publikum induzierte Stim-
mungen und Affekte auszeichnen. Mehr dazu in den Einleitungen zu den
vier Abschnitten.

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Biografische Notiz
Gerald Poscheschnik, Mag. Dr., Psychologe, Klinischer Psychologe und Gesundheitspsy-
chologe. Nach langjähriger Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität
Innsbruck seit Oktober 2019 Professor für Theorien, Konzepte und Methoden der Sozialen
Arbeit an der FH Kärnten. Forschungs- und Interessensschwerpunkte sind Theorie und
Praxis (psycho-)sozialer Hilfsangebote, Methodologie und qualitative Sozialforschung,
Entwicklungswissenschaft, Psychoanalyse und Kulturwissenschaft.
g.poscheschnik@fh-kaernten.at

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Teil I
Sex, Murder and Crime
Über Krimis und Thriller

Kriminalgeschichten und Thriller befassen sich mit dem, was unsere Kultur
und Gesellschaft als verboten charakterisiert und von jedem, der nicht mit
völliger Exklusion bestraft werden will, befolgt zu werden hat. Meistens
stellt das Meta-Narrativ nicht nur das Verbrechen als begangen dar und
erlaubt somit eine unbewusste Wunscherfüllung, sondern führt auch vor,
was an Strafe zu befürchten ist, wenn das Verbrechen begangen worden ist.
Damit wird – um in der Logik des Instanzenmodells (Freud, 1923b) zu
sprechen – nicht nur der verpönte und kulturfeindliche Wunsch aus dem
Es befriedigt, sondern auch das Strafbedürfnis des Überichs erfüllt (siehe
auch Reik, 1925). Rund um das Rätsel, wer der Täter ist, wird eine Span-
nung und Ungewissheit aufgebaut, die sich häufig falscher Fährten bedient,
um den Verdacht auf eine Person zu lenken, die sich dann doch als unschul-
dig erweist. Dadurch wird unter anderem ein kathartisches Durcharbeiten
ödipaler Fantasien des Patrizids oder Matrizids wie auch deren Untergangs
gestattet. Dass die Grenzen zwischen dem tatsächlichen Verbrecher und
demjenigen, der seine düsteren Seiten nur in der Fantasie auslebt, fließend
sind, zeigt sich auch an der jeweiligen Personifizierung des Überichs, meist
ein Kommissar oder Detektiv, der selbst ein Grenzgänger ist, der im Verlauf
der Handlung mehr als einmal die Frage aufwirft, ob er auf der Seite von
Recht und Ordnung oder Unrecht und Chaos steht.

Hermann Mitterhofer und Pia Andreatta beschäftigen sich in ihrem Bei-


trag mit Babylon Berlin und arbeiten heraus, wie der Kommissar auf der

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

Suche nach dem Mörder mit seinen eigenen Traumata konfrontiert wird.
Besonders spannend sind die historischen Bezüge, die der Autor und die
Autorin zum Diskurs rund um die Kriegsneurosen in der Zwischenkriegs-
zeit herstellen, jener Epoche, in der sich auch die Serienhandlung ereignet.

Thomas Pröll geht auf die düstere Detektivserie True Detective ein, in der
zwei Ermittler eine brutale Mordserie im Umfeld einer verschworenen Sek-
tengemeinschaft aufzuklären versuchen. Auch hier werfen die seelischen
Abgründe der Ermittler oft die Frage auf, ob die Grenze zu den Verbre-
chern, die sie verfolgen, immer gewahrt bleibt. Zugleich erlaubt die Serie
aber genau deshalb dem Zuschauer eine Reflexion eigener unbewusster
und ungeliebter Selbstanteile.

Lutz Ellrich und Lisa Wolfson widmen ihren Beitrag einer Analyse von
Sherlock, einer modernisierten Version der Geschichten rund um den welt-
berühmten Meisterdetektiv aus den Romanen von Arthur Conan Doyle.
Sherlock Holmes ist ein detektivisches Genie, das gemeinsam mit seinem
Partner Dr. Watson gegen kongeniale Verbrecher ermittelt und wohl auch
ermitteln muss, um sich selbst psychisch zu stabilisieren und nicht völlig
seiner Drogensucht zu verfallen.

Gerald Poscheschnik

Bibliographie

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I.1. Babylon Berlin
Zwischen historischer Kriegsneurose
und Narration des Traumas

Hermann Mitterhofer & Pia Andreatta

Die ersten zweieinhalb Minuten der Serie erzählen das Ende der Ge-
schichte, die letzten Minuten ihren Anfang; die Handlung aber spielt
außerhalb der erzählten Zeit, vor ihr. Am Beginn ist der Schirm noch für
wenige Augenblicke schwarz, ein Ton, ähnlich einem Herzschlag, ist zu
hören, dann die Stimme eines Mannes; der Schirm ist immer noch schwarz,
»Atmen Sie ganz ruhig«, Pause, »ein«, Pause, »und auch wieder aus«,
Pause. Auf dem Schirm erscheint ein Schriftzug: »Berlin 1929«. Erst
beim nächsten Satz, »Versuchen Sie nicht, Ihre Gedanken zu ordnen«,
ist zunächst verschwommen eine Hand, dann der Teil eines Gesichts, ein
Mann mit Narben und runder Brille, in Großaufnahme zu sehen. Schnitt,
Gegenschuss, da ist ein zweiter Mann, Nahaufnahme; die rechte Hand
des Mannes, der spricht, verdeckt Stirn und Augen des anderen Mannes,
vielleicht ist er Mitte 30. Offensichtlich wohnen wir einer Behandlung
unter hypnotischer Trance bei. Wenige Augenblicke später sehen wir Bil-
derfolgen, die, so wird uns als Zuschauer*innen suggeriert, den Mann in
hypnotischer Trance aus seiner Vergangenheit heimsuchen. Die Stimme
des Hypnotiseurs ist zu hören, er spricht davon, dass er den Mann an »die
Quelle seiner Angst« führen werde. Nach kurzen Sequenzen sehen wir für
Momente Kriegsszenen: Stahlhelme, Explosionen und ein Pferd, das eine
völlig bizarr anmutende Maske trägt, es ist eine Gasmaske. Die Bilderfol-
gen sind äußerst schnell montiert. Die Schnitte sind hart und führen uns
abrupt in die Gegenwart der erzählten Zeit. Der Vorspann setzt ein und
die Geschichte beginnt.
Die Handlung der Serie ist in Berlin im Frühjahr des Jahres 1929 an-
gesiedelt, in einer Stadt, die von wachsender Arbeitslosigkeit und Armut
einerseits und Luxus und Ausschweifung andererseits gekennzeichnet ist.
Der Mai 1929, auch »Blutmai« genannt, ist von Unruhen und Straßen-
kämpfen geprägt. Den Hintergrund der Unruhen bildete zum einen die sich

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

verschärfende politische Situation – die Maikundgebung der KPD war ver-


boten worden, hingegen hatte wenige Monate zuvor Adolf Hitler seine erste
öffentliche Rede im Sport-Palast gehalten –, zum anderen verstärken sich
verfassungsfeindliche Aktivitäten der Schwarzen Reichswehr, einer illegalen,
paramilitärischen Gruppe, bestehend aus Offizieren und hochrangigen Per-
sönlichkeiten. Obwohl es in der Serie nie explizit thematisiert wird, ist die
Stimmung von einem nahen Untergang der Weimarer Republik durch den
Nationalsozialismus geprägt. Dieses »Endzeitliche« ist der atmosphärische
Horizont, der die Serie durchzieht. Nicht zuletzt deshalb entsprechen zahl-
reiche Ereignisse der Serie den historischen Tatsachen; die Handlung im en-
geren Sinne und einige Nebenstränge sind jedoch das Ergebnis der Arbeit
der Drehbuchautoren, die sich für diese Serie von der Krimi-Romanvorlage
Der nasse Fisch von Volker Kutscher inspirieren ließen.
Im Folgenden werden wir die Darstellung der Auswirkungen der Trau-
matisierung des Protagonisten aufgrund seiner Erlebnisse im Ersten Welt-
krieg herausgreifen: Wie werden diese Traumafolgen inszeniert und welche
Bedeutung wird ihnen für den Handlungsverlauf zugeschrieben? Zunächst
nehmen wir den Stand des Diskurses zu Trauma in der damals zeitgenössi-
schen Literatur in den Blick. Diese historische Rekonstruktion des Diskur-
ses bildet die Hintergrundfolie für den anschließenden erzähltheoretischen
Abschnitt: In Anlehnung an die strukturale Erzähltheorie nehmen wir als
Perspektive unserer Analyse das grundlegende Begriffspaar histoire (»Was
wird erzählt?«) und discourse (»Wie wird es erzählt?«) und die zeitliche
Struktur der Filmerzählung auf. In der Diskussion des inhaltlichen Verlaufs
der Filmerzählung wird versucht, den historischen Stand der Diskussion zu
Trauma an die Serie rückzubinden; wir verbleiben damit interpretativ im
historischen Kontext.

Zur Handlung

Die Protagonisten der Serie sind Kommissar Gereon Rath, der auf Be-
treiben seines Vaters von Köln nach Berlin kommt, um im Rahmen eines
Erpressungsfalls zu ermitteln, in den der damalige Oberbürgermeister von
Köln, Konrad Adenauer, verstrickt sein soll, und Charlotte Ritter, eine
junge Stenotypistin, die versucht, ihre kleinere Schwester und die schwer
kranke Mutter zu versorgen. Aus diesem Grund arbeitet sie gelegentlich als
Prostituierte in einem der zentralen Schauplätze der Serie, dem – damals

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I.1. Hermann Mitterhofer & Pia Andreatta: Babylon Berlin

real existierenden – Vergnügungspalast Moka Efti, geführt vom »Arme-


nier«. Rath wiederum leidet, wie viele Veteranen des Ersten Weltkriegs,
unter den Folgen seiner traumatischen Erfahrungen: Er ist ein »Flatter-
mann«, ein Kriegszitterer mit schweren Anfällen, die ihn zur Einnahme
von Morphium zwingen.
Im Berliner Polizeipräsidium, der »Roten Burg am Alex«, lernt Rath
Charlotte Ritter kennen. Gemeinsam mit Raths Berliner Kollegen Bruno
Wolter und dem Polizeiassistenten Stephan Jänicke beginnen sie die Er-
mittlungen im Milieu der Nachtklubs, Bordelle und illegalen Drehorte
pornographischer Filme. Der Fall weitet sich stetig aus, längst geht es nicht
mehr nur um sittenpolizeiliche Ermittlungen. Vielmehr wird deutlich, wie
sehr die gewalttätigen und verschwörerischen Vorgänge mit dem ursprüng-
lichen Erpressungsfall rund um Fotografien sadomasochistischer Praktiken
verknüpft sind. Insbesondere ein Zug, der aus der Sowjetunion kommend
am Berliner Anhalterbahnhof festsitzt und dessen brisante Ladung, Gold
und Gas, von verschiedenen Gruppen erwartet wird – von russischen
Trotzkisten ebenso wie von den Verschwörern der Schwarzen Reichs-
wehr –, wird immer wieder zum Schauplatz der Handlung.
In der zweiten Staffel nimmt der republikstreue Leiter der Preußischen
Geheimpolizei August Benda eine zentrale Rolle ein. Er ermittelt gegen
die verschwörerische Schwarze Reichswehr, deren Ziel letztlich die Macht-
übernahme im Staat ist. Rath ist in der Zwischenzeit zur Kriminalpolizei
gewechselt und arbeitet im Team von Benda. Seine Schwägerin aus Köln,
die Witwe seines seit dem Ersten Weltkrieg als vermisst geltenden Bruders,
Helga Rath, mit der Rath eine Liebesbeziehung hat, zieht mit ihrem Sohn
zu ihm nach Berlin. Im Zuge der Spurensuche nach den Verschwörern wird
deutlich, dass Kollege Wolter in die Machenschaften der Putschisten ver-
strickt ist. Dieser nötigt Charlotte Ritter zu sexuellen Gefälligkeiten, da er
von ihrer Tätigkeit als Prostituierte erfahren hat, und verlangt zugleich von
ihr die Bespitzelung Raths. Wolter erkennt jedoch, dass Jänicke ihn bald
aufdecken wird, woraufhin er ihn erschießt. Benda gelingt es zwar, die Ver-
schwörer, die insgeheim in der Sowjetunion ein massives Aufrüstungspro-
gramm betreiben, zu enttarnen, sie werden jedoch vom Reichspräsidenten
Paul von Hindenburg »begnadigt«, womit Bendas Ermittlungen gänzlich
durchkreuzt sind. Doch für Benda selbst enden die polizeilichen Untersu-
chungen wesentlich schlimmer; er wird Opfer eines Anschlags und stirbt.
Rath gibt die Ermittlungen nicht auf, stellt Wolter, es kommt auf dem be-
sagten fahrenden Zug zum Zweikampf, Wolter kommt durch die Explo-

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

sion des Gaswagons ums Leben. Am Ende der zweiten Staffel wird Rath
befördert und bleibt in Berlin, während Charlotte Ritter die von ihr er-
sehnte Stelle einer hauptamtlichen Kriminalassistentin der Mordkommis-
sion erhält. In den Schlussminuten erfährt der Beginn der Geschichte, die
ersten Minuten mit der Wiederaufnahme der hypnotischen Trance, seine
Auflösung – und wir die »Quelle« von Raths Angst.

Zur Geschichte der Kriegsneurose

Die Diskussion über die Traumatisierung von Soldaten durch die Kriegs-
handlungen bekam mit der sogenannten Kriegstagung der Gesellschaft der
deutschen Nervenärzte 1916 in München eine neue Wendung. Auf dieser
Jahresversammlung gewann eine Strömung zur Erklärung von Ursache und
Folgen der Traumatisierung die Oberhand, die für die restliche Dauer des
Kriegs und für die Zeit der Weimarer Republik dominant bleiben sollte:
Die Vorstellung, wonach die Traumatisierung vorwiegend endogene
Ursachen hätte, die in der Persönlichkeit der Betroffenen lägen und mit
bestimmten Absichten verbunden wären (Ulrich, 2014, S. 252f.). Zur Re-
konstruktion des Diskurses:
Der Neurologe Hermann Oppenheim vertrat mit Blick auf die trauma-
tischen Reaktionen, die Menschen nach Eisenbahnunfällen zeigten, 1889
die These, dass es sich bei Symptomen wie Ängstlichkeit, Konzentrations-
und Wahrnehmungsstörungen, Reizbarkeit, Alpträumen, Schwindel sowie
Kopf- und Gliederschmerzen um eine sogenannte »traumatische Neu-
rose« handeln würde. Oppenheim ging von einer medizinisch-naturwis-
senschaftlichen Betrachtungsweise aus und sah die Ursache für die Folgen
des Unfalls in kleinsten, mikroskopisch nicht nachweisbaren Verletzungen
des Nervensystems (railway spine) (Michl & Plamper, 2009, S. 221). Zur
selben Zeit nahm sich auch die zunehmend an Bedeutung gewinnende
Psychiatrie der Eisenbahnunfälle an, allerdings in der Verschränkung mit
einem anderen Diskursstrang, dem der Versicherungsanstalten: Die anstei-
genden finanziellen Entschädigungsansprüche, die Opfer von Unfällen an
die Eisenbahngesellschaften richteten, ließen die Frage lauter werden, ob
es sich um Simulationen handeln könnte. Diese Frage – soll der trauma-
tischen Neurose realer Krankheitswert zuerkannt werden oder handelt es
sich um ein Produkt zweckgerichteter Simulation – dominierte die Dis-
kussion der folgenden Jahrzehnte.

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Parallel dazu verlaufen zwei weitere wissenschaftliche Entwicklungsli-


nien. Zum einen die Arbeiten von Pierre Janet, der im Kontext der Genese
der posttraumatischen Symptomatik die Dissoziation als zentrales Phä-
nomen betrachtete und in den Behandlungsmethoden vorwiegend auf
die hypnotische Trance setzte (Fischer-Homberger, 1999, S. 273). Janets
Arbeiten gerieten allerdings bis in die jüngere Vergangenheit in den Schat-
ten der zweiten Entwicklungslinie, der Psychoanalyse. Es ist hinlänglich
bekannt, dass Freud von der Idee des neurosenverursachenden sexuellen
Traumas und damit von einer exogenen Ätiologie abrückte und stattdessen
die Meinung vertrat, der pathogene, traumatisch wirkende Trieb trete nicht
von außen an die Betroffenen heran, »sondern als ein Triebimpuls von
innen«. Damit gab er, so Fischer-Homburger weiter, die »Trauma-Hypo-
these« zugunsten der »Wunsch-Theorie« der Neurose auf (ebd., S. 278).
Kehren wir zurück in die Zeit des Ersten Weltkriegs und greifen den
Faden bei der Kriegstagung im September 1916 wieder auf: Die Diskurs-
positionen nehmen zum einen die Neurologen rund um Hermann Oppen-
heim und zum anderen die Psychiater ein, allen voran Max Nonne, Karl
Bonhoeffer und Robert Gaupp. Die Trennlinie innerhalb der Debatten ver-
läuft zwischen »organischer, aber unsichtbarer Läsion« oder »Hysterie«,
Letzteres von Beginn an gepaart mit der Thematik der Simulation, der so-
genannten »Begehrensvorstellung« (Horn, 2000, S. 135), möglichst rasch
von der Front abgezogen zu werden, von den Psychiatern auch »Rentenhys-
terie« oder »Rentenneurose« genannt (Michl & Plamper, 2009, S. 224).
Gaben die Neurologen die Hoffnung auf eine letztlich doch noch zu ent-
deckende körperliche Ursache nicht auf, so sah die Psychiatrie die Kriegs-
neurose von vornherein anders: Wenn es um die Frage geht, ob die Soldaten
ihre Symptomatik lediglich simulieren, dann spielt das traumatisierende
Ereignis strenggenommen gar keine Rolle. Wie Eva Horn ausführt, weist
die psychiatrische Orientierung an einer rein endogenen Ätiologie einen an-
deren Weg, den zur unterstellten Arglistigkeit, hysterischen Übertreibung,
Willensschwäche und Zweckneurose. Die Kriegsneurose ist daher nur be-
dingt als individuelle Angelegenheit – wie in der Psychoanalyse – zu be-
trachten; wesentlich bedeutender ist der Platz, den sie in der militärischen
Ordnung einnimmt (Horn, 2000, S. 137): dysfunktionale Verhaltenswei-
sen, Grenzen der Belastbarkeit, soldatische Disziplin. Das eine zu tilgen und
das andere wiederherzustellen, wird zur zentralen Aufgabe der Psychiatrie
in den Lazaretten. So schreibt Robert Gaupp 1915 in der Münchner Medi-
zinischen Wochenschrift: »Wer sich mit der seelischen Eigenart dieser Leute

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

genauer befasst, der findet immer wieder auf dem Grunde ihrer Seele als ur-
sächlichen Faktor die mehr oder weniger bewusste Angst vor der Rückkehr
ins Feld« (S. 362) – eine sehr nachvollziehbare Antwort, wenn wir an die
Todesängste der Soldaten in den Schützengräben und Lazaretten denken.
Die Sichtweise Gaupps schlägt sich in den Behandlungsmethoden der Psy-
chiater nieder, die eher einen Begriff wie »gewaltsame Reparatur« nahe-
legen würde: Der Kriegsneurose wird mit einem »Gegenschlag« (Horn,
2000, S. 137) geantwortet, der dort ansetzt, wo das neurotische Symptom
sich an der »Oberfläche« manifestiert: Dem traumatischen Schock, der
bei Soldaten beispielsweise zum Verlust der Stimme geführt hat, wird mit
der »Erzeugung eines Angstschreis durch Einführung einer Kugel in den
Kehlkopf, die eine akute Stenose hervorrief« (Gaupp, 1922, S. 84), begeg-
net. Doch weit verbreiteter ist die sogenannte »faradische Pinselung«, die
Behandlung mit (Wechsel-)Strom, und dies in bewusst sehr hohen Dosen:
»Möge man es zunächst auch eigentümlich finden, wenn man die Wirkung
einer faradischen Pinselung etwa mit der Wirkung des Trommelfeuers an
der Somme vergleichen will; ich glaube aber doch sagen zu können, dass
die faradische Pinselung eben nur dann heilend wirkt, wenn sie für die Pa-
tienten ein mächtiges neues Erlebnis vorstellt, welches dem Eindruck der
Kriegsereignisse sich einigermaßen an die Seite stellen kann« (Mann, 1916;
siehe auch Horn, 2000, S. 159).
Der Einsatz von Elektroschocks wird insbesondere vom Psychiater
Fritz Kaufmann propagiert, er schlägt ein vierstufiges Verfahren für eine
einzige Sitzung vor: »1. suggestive[…] Vorbereitung. 2. Anwendung kräf-
tiger Wechselströme unter Zuhilfenahme reichlicher Wortsuggestion.
3. strenge[s] Innehalten der militärischen Formen unter Benutzung des ge-
gebenen Subordinationsverhältnisses und Erteilen der Suggestion im Be-
fehlston. 4. unbeirrbar konsequente[…] Erzwingung der Heilung in einer
Sitzung«. Dabei, so Kaufmann, sei zu beachten: »Der Erfolg kann nur er-
reicht werden durch unerbittliche Hartnäckigkeit in der Durchführung der
Behandlung«, und weiter: »Man darf nicht aufhören, dem aphonischen
Patienten immer wieder nach kräftigem Elektrisieren das Anlauten des
›A‹ anzubefehlen, dabei mit energischen Gesten (wie ein Kapellmeister
die Fortissimi herausholt) nachzuhelfen« (Kaufmann, 1916, S. 803). Ziel
all dieser »Behandlungen« war es, den einzelnen Soldaten1 wieder in das

1 Auffällig ist hier eine unterschiedliche Diagnostik hinsichtlich der Klassen: So schreibt
Gaupp in einer Art Resümee der Kriegsneurose 1920, dass Offiziere kaum an einer Kriegs-

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Gesamtgefüge der Kriegsmaschinerie einzugliedern; um »Heilung« ging


es nur in diesem Sinne. Dass diese letztlich scheitern wird, dass die Trau-
matisierten auch weiterhin nicht wieder in den Militärdienst integrierbar
sein werden, dessen war sich Kaufmann durchaus bewusst, wie er am Ende
seines Beitrags wohl konstatiert (ebd., S. 804).2
Sigmund Freud stand Elektro-Behandlungen skeptisch gegenüber – und
damit ein Blick zur Kriegsneurose im Lichte der Psychoanalyse. 1920 ver-
fasste er für die Kommission zur Feststellung von »Pflichtverletzungen
militärischer Organe im Krieg« ein sechsseitiges, handschriftliches Gut-
achten, in dem er sich zu den massiven Vorwürfen gegen die Psychiatrie
im Ersten Weltkrieg, namentlich gegen den damaligen Doyen der öster-
reichischen Psychiatrie und späteren Nobelpreisträger Julius Wagner-Jau-
regg, äußerte. Diese Kommission war auf Druck der Veteranenverbände
1919 gegründet worden, um unter anderem im medizinischen Feld Vor-
würfe unmenschlicher Behandlungen in Lazaretten zu untersuchen.3 Freud
räumt ein, dass die Anwendungen zunächst »mit Erfolg« durchgeführt
wurden, um die »Simulanten« erkennen zu können, jedoch bezweifelte
er den Nutzen der »Starkstrombehandlung«. Diese beabsichtige lediglich
die Wiederherstellung der »Kriegstüchtigkeit«, was im Falle der neuerlich
zu erwartenden Fronterlebnisse zu Rückfällen führen werde. Hingegen sei
die von ihm in Friedenszeiten entwickelte »psychoanalytische Schule der
Psychiatrie« in der Lage, die Neurosen psychotherapeutisch zu behandeln,
da sie auf Störungen des Affektlebens in der Vergangenheit der Patienten
zurückzuführen seien. Insbesondere die Ergebnisse der psychoanalytischen
Arbeiten des Berliner Psychiaters Ernst Simmel und die Ergebnisse des
psychoanalytischen Kongresses 1918 in Budapest – Vertreter der k. u. k.

neurose erkrankten, sondern an der – damaligen »Modekrankheit« – Neurasthenie, die


auf besondere Anstrengungen zurückzuführen sei (1922, S. 89).
2 Wie Michl/Plamper (2009, S. 227ff.) anhand von Dokumenten auf der französischen Seite
herausarbeiten, ist die Haltung gegenüber Kriegsneurotikern dort eine gänzlich andere:
Der Krieg fand auf französischem Boden statt und somit war die Zivilbevölkerung und
damit die Gesellschaft insgesamt wesentlich stärker betroffen. Der Krieg als Verursacher
der Leiden wird deutlich stärker berücksichtigt. Zwei Schüler des Neurologen Ernest
Dupré, Albert Devaux und Benjamin Joseph Logre, prägten zahlreiche Begriffe – so be-
zeichneten sie die Betroffenen als Invalides du Courage (»Invaliden der Tapferkeit«) und
versuchten in ihren Erklärungen, die »Hysterie« als Grundlage zunehmend auszuklam-
mern und die emotionale Überwältigung der Soldaten in den Mittelpunkt zu rücken.
3 http://wk1.staatsarchiv.at

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Armee hätten interessiert teilgenommen – hob er hervor. Versprach die


Teilnahme der Militärs beziehungsweise eine Kooperation mit ihnen doch
auf diesem Wege die erhoffte breitere Anerkennung des psychoanalytischen
Ansatzes.
Die Vortragenden dieser Tagung von 1918 waren Sándor Ferenczi, Karl
Abraham, Ernst Simmel und Ernest Jones. Im Vorwort der später publi-
zierten Beiträge setzt sich Freud mit der Frage der exogenen oder endo-
genen Ursachen von Kriegsneurosen auseinander. Er billigt – mit Blick auf
den Beitrag von Jones – zu, dass der Anteil des Konflikts zwischen dem
Ich und dem von »ihm verstoßenen Sexualtrieben« bei der Entstehung
der Kriegsneurosen »bisher nicht erwiesen ist« (Freud, 1919, S. 4), daraus
dürfe aber kein falscher Schluss gezogen werden. Es folgt eine, wir würden
vielleicht sagen, kühne Argumentation: »Wenn die – noch sehr wenig ein-
gehende – Untersuchung der Kriegsneurosen nicht erkennen lässt, dass
die Sexualtheorie der Neurose richtig ist, so ist das ganz etwas anderes, als
wenn sie erkennen ließe, dass diese Theorie nicht richtig ist« (ebd., S. 5).
Während Ferenczis Beitrag eine Art State of the Art der psychiatrischen
Diskussion des Jahres 1918 darstellt – er hebt besonders hervor, wie sehr
sich in der Frage der Ätiologie die Psychiatrie mit ihrer Einsicht in die en-
dogenen Ursachen der Kriegsneurose der Psychoanalyse annähern würde
(Ferenczi, 1919, S. 18) –, so überschneidet sich Abrahams Beitrag auf ganz
andere Weise mit dem psychiatrischen Diskurs: Er verknüpft die negative
Haltung der Psychiatrie gegenüber den Kriegsneurotikern mit psychoana-
lytischen Grundgedanken. So seien die Kriegsneurotiker bereits vor ihrem
Trauma »labile Menschen […], und zwar besonders hinsichtlich ihrer Se-
xualität« (Abraham, 1919, S. 33), denen es an »Bereitschaft zum Töten«
mangle, was mit ihrer »Fixierung der Libido im Entwicklungsstadium des
Narzißmus« zu tun habe; Abraham schreibt weiter: »Die Kenntnis des
Zusammenhangs zwischen Narzißmus und Homosexualität lässt uns dies
erkennen« (ebd., S. 34). Resümierend stellt er fest: »Narzistisch [sic!] ist
auch die Aufdringlichkeit der Symptome (Schüttelzittern, Anfälle usw.)
zu bewerten. Viele der Kranken zeigen sich vollkommen weiblich-passiv
in der Hingabe an ihre Leiden« (ebd., S. 35). Die wenigen Zeilen ver-
mitteln bereits einen Eindruck der Haltung in Fachkreisen gegenüber den
Opfern des Kriegs. Dieser Haltung kann nicht wirklich mit dem Hinweis
begegnet werden, sie wäre der Entstehungszeit geschuldet. Wir erinnern
an die bahnbrechenden Arbeiten des Berliner Psychologen Paul Plaut
(1920) zu den Todesängsten bei Soldaten, der erstmals und noch während

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des Ersten Weltkriegs Forschungen dazu anstellte und der als Pionier der
Resilienzforschung gilt, und an Ernst Simmel, Teilnehmer am Wiener Psy-
choanalytischen Kongress. Simmel – auch er arbeitete vorwiegend mit der
Methode der hypnotischen Suggestion – meint hingegen, der unbewusste
Sinn der kriegsneurotischen Symptome sei »meist nicht sexueller Natur,
sondern in ihnen dokumentieren sich alle jene kriegsgeborenen Affekte des
Schreckens, der Angst, der Wut u.a., verknüpft mit Vorstellungen, die den
aktuellen Erlebnissen des Krieges entsprechen« (Simmel, 1919, S. 43f.).
Kehren wir nun aber zu Babylon Berlin zurück, genauer, zur formalen Er-
zählweise der Serie.

Zur formalen Erzählstruktur


und der Ebene des discours: narrative Ordnungen

Überlegungen, wonach eine strukturelle Verbindung beziehungsweise eine


disziplinäre historische Parallelentwicklung von Filmdramaturgie und
Traumaforschung existiert, gehen auf einen Beitrag von Anna Martinetz
(2012) zurück. Diese Verbindung betrifft nicht nur so offenkundige und
bekannte Beispiele wie die für die frühe Genese der Psycho-Traumafor-
schung so folgenschweren railway accidents, die die Modelle der »trau-
matischen Neurose«, der »Hysterie« oder railway spine nach sich zogen,
sondern auch den »Schock«, den die erste Vorführung eines Films der
Gebrüder Lumière bei den Zuschauer*innen im Pariser Grand Café 1895
auslöste: die Bewegtbilder der Ankunft eines auf das Publikum zufahren-
den Eisenbahnzuges (Martinetz, 2012, S. 56f.). Martinetz rekonstruiert
diese parallele Entwicklung zum einen anhand der Entstehung zentraler
Konzepte der Traumaforschung mit aufeinanderfolgenden Konjunkturen
der kinematografisch erzählten Geschichten – somit erzähltheoretisch die
Ebene der histoire/story betreffend –, zum anderen filmtechnisch (Schnitt
und Montage) sowie narratologisch (Handlung und Zeitordnung) – die
Ebene des discours/plot betreffend.
Filme erzählen nicht nur fiktive Geschichten, die mit den psychoanaly-
tischen wie psychotraumatologischen Modellen im Sinne der inhaltlichen
Deutung der fiktiven Handlungsstränge interpretierbar sind. Vielmehr,
und wesentlich formaler betrachtet, fließen in die narrativen Techniken des
Films psychotraumatologische Grundkonzepte ein.
Dabei geht es uns im Wesentlichen um ein zentrales Ordnungsprinzip

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des Narrativen selbst: um die Zeit – genauer, um zwei mögliche temporale


Beziehungen, die Analepse und die Prolepse. Dazu der Erzähltheoretiker
Gerard Genette: »Mit Prolepse bezeichnen wir jedes narrative Manöver,
das darin besteht, ein späteres Ereignis im Voraus zu erzählen oder zu evo-
zieren, und mit Analepse jede nachträgliche Erwähnung eines Ereignisses,
das innerhalb der Geschichte zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden
hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat« (1998, S. 25).
Die Eingangssequenzen der ersten Folge von Babylon Berlin sind ein-
deutig als Prolepse für die folgende Geschichte zu betrachten. Zugleich
sind Bilder montiert, die auf Ort und Zeit der Traumatisierung der Haupt-
figur hinweisen sollen, die allerdings von der Zeit der Basiserzählung, das
heißt der erzählten Zeit abweichen, dem Mai 1929 in Berlin. Es handelt
sich offensichtlich um Sequenzen aus der Biografie des Protagonisten, die
in kurzen Rückblenden in das Geschehen mittels Schnitttechnik montiert
werden. Nicht nur in der Sprache des Films wird diese Technik als Flash-
back bezeichnet, es ist auch ein Terminus der Psychotraumatologie, in der
für Flashbacks der Begriff Intrusion verwendet wird. Die intrusiven Bilder
der erzählten Zeit, jetzt unter dem Aspekt als narrative Technik betrachtet,
können als Analepse gesehen werden. Damit ergibt sich eine analeptische
Strukturierung der filmischen Erzählung, die über die Flashbacks erfolgt,
denn diese werden über die Serie hinweg wiederholt – sei es in leichten
Varianten oder im sukzessiven Enthüllen des der erzählten Zeit vorgela-
gerten Ereignisses – und damit in die chronologische Erzählweise mittels
Montagetechnik integriert. Damit bekommen sie den Charakter einer re-
petitiven, in unserem Fall externen4 Analepse (Genette, 1998, S. 36). Diese
Sequenzen möchten wir im nächsten Abschnitt unseres Beitrags inhaltlich
rekonstruieren.
Die analeptischen Montagen sind in der Regel äußerst kurz und werden
filmsprachlich als Flash-Montagen, die Technik als Flash-Cutting, bezeich-
net, ihre Bedeutung hingegen ist gewichtig, wenn nicht sogar entscheidend
für das Verständnis der Erzählung. Ihnen kommt eine aufschiebende oder
suspendierende Bedeutung zu, mit anderen Worten, sie gleichen einem
Rätsel. Die sukzessive Enthüllung des Rätsels erfolgt über das Wieder-
aufgreifen der Szenen im Ersten Weltkrieg oder über das wiederkehrende
Motiv der Hauptfigur im Tunnel in einer Strukturform, in der die jeweils

4 »Extern«, da der Punkt, bis zu dem die Analepse zurückreicht, außerhalb des Zeitfeldes
der Basiserzählung liegt (Genette, 1998, S. 41).

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letzte Analepse zugleich Analepse der vorhergehenden wird, in der es zu


einer rückwärtsgewandten Schleifenstruktur kommt, einem zyklischen
oder spiralförmigen Rückwärtserzählen (Kuhn, 2013, S. 205). Die Zeit-
sprünge selbst werden als Ellipsen bezeichnet, die einzelnen Kurzsequen-
zen als Montagesequenzen; sie können räumlich und zeitlich während der
chronologisch erzählten Geschichte nicht eingeordnet werden.
Es ist ein Rätsel, dessen Bedeutung sich erst zukünftig enthüllen wird,
dessen Ursprung in der Vergangenheit liegt und dessen Wirkung die Ge-
genwart – die erzählte Zeit beziehungsweise die Filmzeit – strukturiert.
Diese Erzählweise der aufschiebenden oder suspendierenden Bedeutung
ist nicht nur Modell der dramaturgischen Konstruktion und Inszenierung
eines die Handlung (mit-)bestimmenden Elements, der Flashbacks; es ist
zugleich eine stilistische, formale Technik, um die Geschichte für die Zu-
schauer*innen mittels Montage zu strukturieren: Sie erwarten beim Serien-
schauen eine Lösung des Rätsels innerhalb der erzählten Zeit. Das auf der
Ebene der Geschichte schauspielerisch dargestellte Geschehen (Ebene der
histoire, der Inhalt) dient zugleich als stilistisches Mittel, als externe, repe-
titive Analepse, also als Art und Weise, die Geschichte zu erzählen (Ebene
des discours).

Zur Ebene der histoire: der traumatische Horizont

In einer für die Serie Babylon Berlin wichtigen Szene (S01E07) wird die
Haltung der Gesellschaft Ende der 1920er Jahre gegenüber den Kriegs-
neurotikern aufgegriffen. Die Serienfigur Dr. Schmidt, die ganz zu Beginn
in der hypnotischen Trance zu sehen ist, deren genaue Rolle und deren
genauer Bezug zur Hauptfigur, Gereon Rath, für lange Zeit unklar bleibt,
thematisiert als Psychiater die Frage der Kriegsneurosen in einer Vorle-
sungsszene. Dr. Schmidt doziert im Hörsaal, im Hintergrund wird ein Film
eingeblendet, der einen Betroffen und seine unkontrollierbaren Bewegun-
gen zeigt. Der Körper, so der Psychiater, bestrafe die Seele für die schreck-
lichen Erlebnisse des Kriegs, er revoltiere. Es handle sich keineswegs um
Simulanten; dieser in Fachkreisen geltenden Meinung müsse »entschie-
den entgegengetreten werden«, vielmehr handle es sich um tatsächliche
psychische Störungen. Er erläutert dies dann anhand einer Fallgeschichte
und seiner Behandlungsmethode: In der ersten Stufe wird der Patient mit
einem Barbitursäure-Derivat sediert und durch Suggestion in einen hyp-

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notischen Zustand versetzt. Erstmals kommt Unmut im Auditorium auf.


Dr. Schmidt spricht anschließend von den Bildern im »Unterbewusst-
sein«, vom Schrecken des Kriegs als »Quelle des Traumas«. Nach der
zweiten Stufe, dem Arbeiten mit dem Rorschachtest, erfolgt die eigentliche
Therapie in Form einer Gesprächstherapie. Im Auditorium wird gegen die
Ausführungen Dr. Schmidts protestiert und viele Zuhörer*innen verlassen
den Hörsaal. Doch Dr. Schmidt bleibt standhaft und verweist darauf, dass
diese ehemaligen Soldaten weggesperrt seien, weil sie an die Katastrophe
erinnern würden, dass sie daher in bestimmten Kreisen – er spricht indi-
rekt die Pläne der Wiederaufrüstung an – nicht erwünscht wären. Obwohl
sich diese Kurvariante in der von uns durchgesehen Literatur dieser Zeit
in dieser Zusammenstellung nicht findet, werden doch tatsächlich ange-
wandte Verfahren – vor allem die Hypnose – in die Szene eingebaut.
Rath ist durch seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg traumatisiert, so viel
wissen wir als Zuschauer*innen. Die Serie beginnt – nach den eingangs ge-
schilderten Sequenzen – mit der Großaufnahme einer zitternden Hand,
jener Raths, der sich als der Mann unter Hypnose der Anfangssequenzen
erweist. Er entnimmt seiner Brusttasche eine Art Zigarettenetui, das kleine
braune Ampullen enthält: Er bricht die Spitze ab, schluckt den Inhalt, das
Zittern hört auf. In weiteren Szenen wird Raths Leiden dargestellt und ein
Muster zur Auslösung traumatischer Reaktionen mit entsprechender affek-
tiver Qualität, Trigger genannt, beginnt sich abzuzeichnen.
Ab S01E05 werden die Flashbacks, die vor der erzählten Zeit angesie-
delt sind und uns wie Erinnerungsbruchstücke begegnen, zunehmend er-
klärender für die Ursache von Raths Leiden. Da ist zum einen die kompro-
mittierende Fotografie, auf der offensichtlich sadomasochistische Praktiken
zu sehen sind, jedoch nicht das Gesicht des Mannes, der daran teilnimmt.
Rath erkennt auf dem Foto in Vergrößerung ein kleines, gemaltes Bild an
der Wand, ein Pferd mit Gasmaske, und er flüstert ein Wort, »Yukatan«,
den Namen des Pferdes seines vermissten Bruders. Dieses Pferd mit der
Gasmaske taucht an verschiedenen Stellen und in unterschiedlichen Kon-
texten wieder auf, zunächst einem leeren Signifikanten ähnlich, dessen Ver-
knüpfung mit den Zeit- und Handlungsebenen lange rätselhaft bleibt: in
der hypnotischen Trance zu Beginn, auf der Fotografie, insgesamt als Mise
en abyme.
Zum anderen eine Szene zu Beginn der sechsten Folge: Bei einem
Abendessen erzählt Rath seine Kriegserlebnisse und berichtet, er sei unter
Beschuss zu seinem Bruder gelaufen, der ihn bei seinem Namen rief, um

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ihn zu retten; als er bei seinem Bruder war, seien die französischen Sol-
daten eingetroffen – nun im Gegenangriff –, Rath habe einen Schlag mit
dem Gewehrkolben bekommen und das Bewusstsein verloren, von seinem
Bruder keine Spur.
Erinnerungsszenen in Folge elf sind für das weitere Verständnis von
Raths Anfällen entscheidend – er verabreicht sich inzwischen ein we-
sentlich stärkeres Präparat, ein Barbitursäure-Derivat, um seine Anfälle
bereits vorweg kontrollieren zu können: Rath befindet sich in einer Art
Dämmerzustand, der ihn zurückführt zunächst in seine Kindheit; wieder
ein Flashback in die Zeit vor der erzählten Zeit: Gereon sitzt bei seinem
Vater in einem Frisörladen, der Vater wird rasiert und sagt zu seinem Sohn,
dass die Menschen nicht alle gleich seien, so sei beispielsweise sein Bruder
zum Führen geboren, nicht – so wird suggeriert – er, Gereon, der zugleich
als Erwachsener vor der Tür des Salons steht und die Szene beobachtet.
Schnitt, wir sehen einen Vorhang, die Kamera bewegt sich daran vorbei,
zu sehen ist ein Paar, Gereon und Helga, die sich intensiv küssen. Gereon
fragt Helga, warum sie ihn verlassen habe. Helga zögert, Gereon drängt,
dann gesteht sie ihm ihre Liebe zu seinem Bruder Anno, eine Figur in ei-
niger Entfernung, für uns verschwommen, aber sichtlich in Uniform. Sie
solle sich entscheiden, so Gereon. Das habe sie, und erst jetzt sehen wir
als Zuschauer*innen, dass Helga schwanger ist. Sie geht auf seinen Bruder
zu. In der dritten Sequenz betritt Gereon einen Flur, Helga steht dort und
sieht ihn an. Durch den Türspalt ist sein Vater zu erkennen, er sitzt neben
dem Totenbett seiner Frau, Gereons Mutter. Er spricht leise zur Toten, erst
sei der falsche Sohn heimgekommen und nun ließe sie ihn mit ihm allein.
Gereon nimmt die Kappe vom Kopf und grüßt seinen Vater, der wortlos an
ihm vorbeigeht. Was in diesen drei Szenen deutlich wird, ist die Geschichte
zweier Brüder, von denen der eine der geliebte der Eltern und letztlich auch
der Geliebte der gemeinsam verehrten Frau, Helga, ist, während Gereon
zurückgesetzt und verlassen ist.
Kommen wir zum Finale der Serie Babylon Berlin: Alle bis dahin noch
rätselhaft gebliebenen, blitzartig auftauchenden Bilder, die am Beginn der
Serie zu sehen waren, werden nun in eine Auflösung übersetzt: Zahlrei-
che Handlungsstränge, auch die, die wir in diesem Beitrag nicht verfolgen
können, werden zu Ende erzählt. Wir springen ganz an das Ende der zwei-
ten Staffel, zu jener hypnotischen Trance, die am Beginn der Serie stand,
die Analepse wird endgültig in die chronologische Erzählung integriert.
Wieder die beiden Männer, Rath und der Psychiater Schmidt. Dann die

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

Szene an der Front. Schmidt spricht und Rath erleidet Krämpfe, er kann
seine Gesichtsmuskeln nicht kontrollieren. Wir sehen die Soldaten, das
Pferd mit Gasmaske, den Bruder, der im Schlamm liegt und seinen Namen
ruft. Er müsse die Bilder der Wahrheit schon über die der Lüge legen, er
müsse das Bild der Wahrheit schon erkennen, wenn er zur »Quelle seiner
Angst« zurückkehren möchte, so der Psychiater. Und wir erfahren nun
Gereons wahre Reaktion auf die Rufe: Er rennt weg, er lässt seinen Bruder
zurück, einen Rettungsversuch hat es nie gegeben. Wenn er die Augen nun
öffnen werde, so der Psychiater weiter, wird die Angst Vergangenheit sein:
Gereon erkennt seinen Bruder, Dr. Schmidt ist Anno Rath.

Zur »Quelle seiner Angst«: drei Antworten

Der Schluss scheint auf den ersten Blick die Geschichte(n) nicht ganz auf-
zulösen – was natürlich mit den weiteren Staffeln zu tun haben könnte,
denn auch andere Handlungsstränge bleiben ein wenig offen. Aber wesent-
lich entscheidender: Wie lässt sich die »Quelle der Angst« nun interpre-
tieren, woher kommt sie und warum sollte sie jetzt Vergangenheit sein?
Versuchen wir eine Erklärung aus dem historischen Kontext und aus der
Erzählung selbst heraus.
Die Antwort der Psychiatrie der damaligen Zeit zur Interpretation von
Gereon Raths Flucht von der Front würde auf die Angst, sein Leben zu
verlieren, verweisen. Das Zittern als Ausdruck der Angst wäre weniger eine
Problematik der Simulation, sondern schlichtweg ein Thema mangelnden
Muts, das mit der Persönlichkeit Raths zu tun hätte, vielleicht mit einer
»abnormen Veranlagung« (Gaupp, 1922, S. 72), oder eine biologische Re-
aktion. Jedenfalls wären »viele Kriegsneurotiker«, so Gaupp weiter, »von
Haus aus Psychopathen« (ebd.). Rath nimmt Drogen, um die Sympto-
matik zu beherrschen.
Die psychoanalytische Antwort wäre eine andere. Die psychogene Ätio-
logie der Kriegsneurose bestünde in einer kausalen Verbindung aus dem
verdrängten Erlebten einer individuellen Vergangenheit des Betroffenen
und der Spezifik der gegenwärtigen Symptomatik. Jedenfalls verankert sich
die Angst in der Fantasie und findet ein wenig nachvollziehbares Pendant
in der Gegenwart. Die Angst selbst ließe sich in der psychoanalytischen
Kur deuten: Dort würde man vielleicht auf einen Konflikt mit dem Bruder
stoßen, der ins Unbewusste abgedrängt wurde, auf eine ödipale Konstella-

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I.1. Hermann Mitterhofer & Pia Andreatta: Babylon Berlin

tion. Jedenfalls auf eine Fallgeschichte, die »das Trauma zu einem Teil einer
Geschichte werden« lässt (Horn, 2000, S. 136): »Die Schrecken des Krie-
ges«, so Eva Horn weiter, »gerinnen zur traumatischen Erzählung, zum
individuellen Kriegserlebnis, das der Neurotiker aus den Händen seines
Arztes empfängt« (ebd.).
Gibt es noch eine dritte Antwort auf die Frage? Wir gehen davon aus
und werden ihr auch den Vorzug geben. Es ist eine Antwort, die zum einen
das Drehbuch selbst anbietet und die zum anderen eine dritte Diskursposi-
tion ins Spiel bringt: Paul Plauts Psychographie des Krieges aus dem Jahre
1920.
Unter der Leitung der Psychologen Otto Lipmann und William Stern
führte Plaut eine breite Erhebung unter den an die Front ziehenden Sol-
daten durch. Aufgezeichnet wurden Erlebens-, Verarbeitungs- und Ver-
haltensweisen. Plaut beschrieb den Krieg aus Sicht der Soldaten und
»durchbrach damit jegliche Denkmuster und Kriegspropaganda« (Guski-
Leinwand, 2017, S. 19). Es verwundert daher kaum, dass die Erhebung re-
lativ rasch von Seiten der militärischen Führung eingestellt wurde, denn
Plauts Erkenntnisse demontierten sowohl den Mythos der Kriegseuphorie
zu Beginn des Kriegs wie ein anderes, sogenanntes soldatisches Ideal, das
der »Kameradschaft«, die er massiv in Frage stellte (Ulrich, 2000, S. 72f.).
Für Plaut, so Eva Horn (2000, S. 139), unterliegen die Soldaten unter den
Bedingungen der Materialschlacht einem »Umbau«, einer »psycho-phy-
sischen Verschiebung«: »Menschen, die heute zusammen im Trommel-
feuer gelegen […] haben, werden morgen voneinander getrennt: der eine
fällt, der andere wird verwundet, der dritte scheidet vielleicht durch Krank-
heit aus […]; so entstehen Lücken, die numerisch alsbald wieder aufgefüllt
werden. […] Tod und Verwundung wurden das tägliche Bild […]. So folgte
notwendigerweise daraus, daß das Leben des einzelnen sich zum Eigenle-
ben konzentrierte […] – jeder wurde sich selbst der nächste« (Plaut, 1920,
S. 82; auch Ulrich, 2000, S. 72f.).
Damit werden die Erlebnisse des Kriegs selbst zur »Quelle der Angst«.
Die Figur des Psychiaters Schmidt/Rath nennt exakt dies als Ursache der
Traumatisierung in der Vorlesungsszene. Der Krieg ist ein gesellschaftliches
Verhältnis, seine Auswirkungen tragen Individuen. Das Ausgeliefert-Sein
an dieses extreme Gewaltverhältnis ruft die »Quelle der Angst« hervor: Es
ist das Unermessliche, bestehend aus Lärm, Schlamm, Tod und Verstümme-
lung, herbeigeführt durch Befehl und Zwang einer totalisierenden Kriegs-
maschinerie. Für Plaut hat der Stellungskrieg nichts mit dem »aktiven Mut

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

der Muskeln« zu tun, sondern mit dem »passiven Mut der Nerven« (Plaut,
1920, S. 43; Horn, 2000, S. 139). Die Folgen sind eine massive, individuelle
Schädigung. Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene ist zudem zu betonen,
was die Figur Schmidt/Rath in der Serie bekräftigt: Die Kriegsneurotiker
der späten 1920er Jahre sind die lebende Erinnerung an die Katastrophe des
Ersten Weltkriegs, ihre Traumen werden abgelehnt in Kreisen der Gesell-
schaft, die sich anschicken, den nächsten Krieg vorzubereiten.

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Biografische Notiz
Hermann Mitterhofer, assoz. Prof. Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät
für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck. Er studierte Politikwissenschaft,
Politische Theorie und Erziehungswissenschaft an der Universität Innsbruck, promo-
vierte in Politikwissenschaft und habilitierte in Erziehungswissenschaft. Forschungs-
schwerpunkte: Diskursanalyse, Bildwissenschaften, Gewalt, Kollektives Gedächtnis und
Erinnerungskulturen.
Hermann.Mitterhofer@uibk.ac.at

Pia Andreatta, assoz. Prof. Dr., arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät
für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck sowie Leiterin des Instituts für
Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung. Außerdem ist sie Klinische,
Gesundheits- und Notfallpsychologin. Forschungsschwerpunkte: Trauma- und Konflikt-
forschung.
pia.andreatta@uibk.ac.at

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I.2. True Detective
Das Licht kommt mit der Zeit, oder:
Die unbewusste Angst vor der ewigen Wiederkehr

Thomas Pröll

In der US-amerikanischen TV-Serie True Detective von 2014, in deren


Mittelpunkt zwei Beamte der Staatspolizei von Louisiana stehen, werden
die Zuseher nicht lange auf den Kern der Untersuchungen vorbereitet, son-
dern von Beginn an in die von mythologischer Symbolik gekennzeichnete
Handlung hineingezogen; das geschieht zunächst durch die Zurschaustel-
lung einer Frauenleiche, deren Kopf mit einem Geweih »verziert« und
deren Rücken mit einem spiralförmigen Zeichen bemalt wurde, vornehm-
lich aber durch einen Rückblick in Form eines Polizeiverhörs, das die finale
Auseinandersetzung zwischen Licht beziehungsweise den »Lichtbrin-
gern« in Gestalt der beiden Detectives einerseits und der Dunkelheit in
Gestalt eines Kinder und Frauen schändenden Ritualmörders andererseits
vorbereitet. Darin zeigt sich zugleich eine Dialektik zwischen zyklischer
Zeitform einer ewigen Wiederkehr des Gleichen1 und einem linearen Zeit-
verlauf, bei dem sich Licht ausbreiten und »etwas« ein als Befreiung emp-
fundenes Ende finden darf2, letztlich der mythische Kampf zwischen Gut
und Böse. Die Serie ist mit all ihren Symbolen, Zeichen, Ambivalenzen

1 Friedrich Nietzsche entfaltet diesen Gedanken an mehreren Stellen in seinem Gesamt-


werk, an bekanntester Stelle wohl in seinem Zarathustra, wo er diesen sagen lässt: »In
jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel dort. Die Mitte ist überall.
Krumm ist der Pfad der Ewigkeit« (Nietzsche, 2002, S. 228). In der hier besprochenen
Serie handelt es sich aber anders als bei Nietzsche nicht um einen Versuch der Bejahung
derselben, sondern um eine Auseinandersetzung mit dem »Schrecken« durch den Ge-
danken an die Gefangenschaft im Zyklus der ewigen Wiederkehr.
2 Wolfgang Kaempfer (1994) schildert in seinem Werk Die Zeit des Menschen dessen ra-
senden Versuch, sich aus der permanenten Wiederkehr einer zyklisch geschlossenen
Verkehrszeit hin zu einer irreversiblen Geschichtszeit zu befreien (S. 16), um dann doch
wieder nur in einer Oszillation zu landen, nur diesmal in einer nicht enden wollenden,
sich »heiß laufenden« Verkehrszeit (S. 167).

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

und Stimmungen als zu deutendes Kunstwerk geradezu eine Fundgrube


für die Begegnung mit dem eigenen unbewussten Selbst.3

Zum Plot von True Detective4

»Wir sitzen alle in dem, was ich die Lebensfalle nenne […]
dass man die Erfüllung finden wird […] und abschließen,
nein, nichts ist jemals vorbei.«
Detective Rust Cohle (S01E03)

Zwei State Police Detectives – das Geschehen wird bis einschließlich


Folge sechs im Rückblick in Form getrennter Verhöre der beiden geschil-
dert – werden 1995 mit einem mysteriösen, rituell begangenen Mord
konfrontiert, bei dem alle Beteiligten beteuern, dass sie »so etwas« noch
nie gesehen hätten. Gemeint ist die Inszenierung der Tat, eine in den Zu-
ckerrohrfeldern zwischen den Sümpfen gefesselte nackte Frauenleiche mit
einem Geweih auf dem Kopf und seltsamer Bemalung, die einem Arrange-
ment des Grauens gleicht und direkt in Abgründe destruktiver menschli-
cher Leidenschaften führt. Der Anblick der Leiche macht die anwesenden
Polizisten betroffen. Sie scheinen irritiert und nehmen ein äußerst unan-
genehmes, nicht näher bezeichnetes Gefühl wahr. Einer der beiden Ermit-
telnden aber, Rust Cohle, erahnt bereits, dass sie hier einem, mit C. G. Jung
(1986, S. 40) gesprochen, von Natur aus verborgenen Schatten gegenüber-
stehen, der weit über die äußere Erscheinung hinausreicht. Cohle wird
später selbst ins »Fadenkreuz« der Ermittlungen geraten, da er als ein son-
derbarer und gleichsam hochintelligenter Typus herausragt und dafür die
Aggression und Skepsis der »Normalen« zu erdulden hat (vgl. Sloterdijk,
2015, S. 240).
Die beiden Polizisten sind erst seit Kurzem ein Team und charakter-
lich auffällig unterschiedlich; und jeder der beiden geht auf seine Weise,
letztendlich aber mit hoher Motivation, an die Arbeit. Erstaunlicher-

3 Siehe dazu auch Georges Devereux’ Vorwort in seinem Werk Träume in der griechischen
Tragödie, in dem er ausführt, dass jede Kultur sich selbst und zugleich ein Muster von
Kultur im Allgemeinen repräsentiert (vgl. Devereux, 1985, S. 13).
4 Mein gesamter Text einschließlich aller Referenzen bezieht sich ausschließlich auf die
erste Staffel der Serie.

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I.2. Thomas Pröll: True Detective

weise scheinen sie die Einzigen zu sein, die ein aufrichtiges Interesse an der
Lösung dieses absonderlichen Falles haben, denn alle anderen Beteiligten
und die zum Teil als unfähig dargestellten Polizisten des Reviers tragen zur
Erhellung kaum etwas bei.
Die Fallarbeit erweist sich als höchst komplex und es gelingt den beiden
Detectives nur langsam, den mühsam zusammengetragenen Spuren zu
folgen beziehungsweise diese sinnhaft zu deuten. Sie recherchieren in Ge-
fängnissen, befragen Prostituierte und ermitteln im Drogenmilieu. Alle
Orte, die sie aufsuchen, vermitteln ein Gefühl von Siechtum, Verlorenheit
und Verzweiflung. Es finden sich erste Zeugen für schon länger zurücklie-
gende Geschehnisse bezüglich okkulter Rituale und Missbrauchsfälle, die
alle in einem gewissen Zusammenhang mit einer religiösen Organisation
stehen, welche vom Cousin des Gouverneurs von Louisiana, Reverend
B. L. Tuttle, geleitet wird, der entlang der Sümpfe privat betriebene Schu-
len für Arme errichtet hat. Alle Opfer waren Angehörige des sogenann-
ten »White Trash«, der weißen Unterschicht, für die sich die Gesellschaft
ohnehin nicht sonderlich zu interessieren scheint. Zwar wächst im Laufe
der Untersuchungen der gegenseitige Respekt zwischen Cohle – der gerade
wegen seiner psychischen Probleme ein besonderes Gespür für den Zu-
stand der Gesellschaft zu haben scheint (vgl. Benjamin, 1985) – und Hart,
die Dauer und das langsame Vorankommen missfällt aber ihrem Vorgesetz-
ten; dieser Umstand wird von verborgenen Mächten zum Anlass genom-
men, gegen die Weiterführung der Ermittlungen einzutreten beziehungs-
weise diese in eine völlig falsche Richtung zu lenken. Es beginnt sich ein
»Geflecht« von Behörden, Politik und religiösen Akteuren abzuzeichnen,
die im Hintergrund wirken und ein Interesse daran haben, den Fall zu den
Akten zu legen.
Auf eigene Faust und gegen den ausdrücklichen Befehl des Vorgesetzten
arbeiten die beiden weiter am Fall respektive an, wie sich herausstellt, meh-
reren zusammenhängenden Fällen. Unter großem persönlichem Einsatz
und, was Cohle betrifft auch unter Risiko für Leib und Leben, stellt sich
ein erster, großer Erfolg ein. Auf der Suche nach einem Verdächtigen kann
ein Meth-Drogenlabor in den Sümpfen aufgespürt werden, wo sie auf zwei
schwer misshandelte Minderjährige – ein Mädchen und einen Jungen –
treffen. Der Bursche ist bei ihrem Eintreffen bereits an den Folgen der, an-
gesichts ihrer Widerwärtigkeit nicht näher beschriebenen, Torturen ver-
storben. Auch die beiden Täter kommen dabei ums Leben. Der in diesen
Ermittlungen ausgemachte Verdächtige, Reggie Ledoux, wird von Hart aus

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

dem Affekt heraus erschossen, nachdem dieser die missbrauchten Kinder


entdeckt hatte, nicht ohne zuvor noch von »Carcosa« beziehungsweise
dem Carcosakult sowie von der Zeit als flachem Kreis, als zyklischer Form
zu sprechen. Sein Mittäter und Cousin Dewall Ledoux stirbt beim Flucht-
versuch (S01E05). Hart und Cohle werden zwar hernach als Helden ge-
feiert, aber es bleibt etwas Unbestimmbares, Ungeklärtes, Geheimnisvolles
bestehen und Cohle wird später realisieren, dass sie das Übel noch keines-
wegs aus der Welt geschafft haben, sondern dass sich ein noch viel erschre-
ckenderes, grausameres Geschehen im Verborgenen abspielt, in dem etwas
Dunkles, noch Unbekanntes sein Unwesen treibt.
Nach Abschluss des ersten Falles im Jahr 1995 entwickelt sich Cohle
weiter in eine Richtung, die ihn noch unbeliebter bei seinen Kollegen
macht; er wird als arroganter, auf alle anderen herabblickender Eigenbröt-
ler, aber nichtsdestoweniger herausragender Polizist und Verhörspezialist,
gezeichnet. Als er in seinem eigenen Verhör gefragt wird, wie er seine Be-
fragungen im damaligen Fall angelegt hat, weist er darauf hin, dass jeder
Mensch etwas beichten wolle und nach Vergebung verlange (S01E05). Er
spielt einerseits explizit auf eine kathartische Wirkung des Geständnisses
an, implizit aber auch auf seinen Part als Verhörexperte, der kurzzeitig in
die Rolle eines Psychotherapeuten schlüpft, um die festgefahrene kommu-
nikative Konflikthaftigkeit aufzubrechen (vgl. Lang, 2000, S. 126); und so
ist für den Zuseher in den Gesichtern der Verhörten die Anspannung zu
sehen – »Gram, der nicht spricht, presst das beladene Herz, bis es bricht«
(Lang, 2000, S. 116) –, die einer »Erlösung« harrt. Als er 2002 zu einem
Verhör gerufen wird und der von ihm Verhörte sich am nächsten Tag sui-
zidiert, erklärt Cohle, dass er und Hart 1995 nicht den Richtigen erwischt
hätten. Der Haupttäter sei noch auf freiem Fuß, habe Kontakte zu einfluss-
reichen Personen, die sein Treiben decken, und töte noch immer (S01E05).
Cohle beginnt nun, manisch auf eigene Faust ohne seinen Partner Hart
zu recherchieren und nach Vermissten zu suchen; die Dimensionen des
Falles lassen sich immer klarer erschließen. Er wirbelt gehörig Staub auf,
befragt viele Angehörige, spricht mit dem missbrauchten Mädchen von
1995, das ihm erklärt, dass der Mann mit der Narbe der schlimmste Pei-
niger von allen gewesen sei (S01E06), und besucht den einflussreichen
Initiator der mittlerweile aufgelassenen Privatschulen, Reverend Billy Lee
Tuttle. Da er im Zuge dessen gegen den Befehl seines Majors verstößt, wird
er von diesem suspendiert. Derjenige, der die Frau mit dem Geweih in den
Zuckerrohrfeldern als Botschaft zurücklies und noch weitere Spuren aus-

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I.2. Thomas Pröll: True Detective

streute, um indirekt auf seine »Werke« hinzuweisen, wird als ein immer
präsenter, aber im Hintergrund agierender okkulter, pathologischer »Vi-
sionär« eingeführt, der seine Taten in einen größeren spirituellen, quasi
traditionsreichen Zusammenhang eingebunden sieht. Die beiden Detecti-
ves scheinen in dieses okkulte »Arrangement« des Täters, das seine Taten
beflügelt und motiviert, fest eingebunden zu sein.
Bevor es aber weitere zehn Jahre später, im Jahr 2012, zum finalen Show-
down zwischen Hart und Cohle auf der einen und dem noch Dunklen,
Unbekannten auf der anderen Seite kommt, findet noch ein für die Serie
zentraler Bruch statt. Harts Frau Maggie, die 2002 ein zweites Mal mit der
Untreue ihres Mannes konfrontiert wird, entscheidet sich diesmal, offensiv
darauf zu reagieren und benützt Cohle – sie »dringt« in einem emotional
höchst aufgeladenen Moment nach seiner Suspendierung in dessen Woh-
nung ein und verführt ihn zum Sex –, um ihrerseits ihren Mann zu verletz-
ten und ihn auf diese Weise loszuwerden. Bevor sie sich von Hart trennt,
erzählt sie ihm das Vorgefallene und löst dadurch einen Sturm der Emotio-
nen und männlicher Rivalitätsaggression aus. Hart attackiert Cohle und es
kommt zu einer heftigen Prügelei zwischen den beiden (S01E06). Cohle
quittiert daraufhin den Dienst und verschwindet »von der Bildfläche«.
Der geschiedene Hart bleibt noch eine Weile bei der Polizei, kündigt aber
später ebenfalls und macht sich als Privatdetektiv selbständig.
Die Serie ist am Ende auch eine Geschichte über eine uneindeutige
Freundschaft und Schicksalsgemeinschaft unter widrigen Bedingungen,
die nach dem heftigen Konflikt um Harts Frau zehn Jahre (von 2002 bis
2012) unterbrochen wird. Letztlich überwiegt aber der Respekt, die An-
erkennung des Anderen, des fremden und feindschaftlichen Anteils in
jeder Freundschaft gegenüber der Gleichgültigkeit oder gar Rachsucht
(vgl. Nietzsche, 2002, S. 57) und Hart verhält sich trotz der Wut auf seinen
ehemaligen Partner diesem gegenüber loyal und kooperiert nicht mit der
Polizei, die Cohle verdächtigt, jener perverse Killer zu sein.
Der Faden der Handlung wird 2012 bei den – von anderen Detectives
geführten – Verhören von Hart und Cohle, der bis 2010 verschwunden
war, wieder aufgenommen. Kurz zuvor wurde – quasi als weitere Botschaft
des Unbekannten – wieder eine Leiche entdeckt, die in der Art ihrer Prä-
sentation der von 1995 sehr ähnlich ist. Es gelingt den nun ermittelnden
Detectives nicht, den verdächtigen Cohle mit der jetzigen Leiche in Ver-
bindung zu bringen, noch Hart so zu manipulieren, dass diesem eine An-
schuldigung gegen Cohle entlockt werden könnte. Umgekehrt gelingt es

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aber Cohle, trotz ihres Bruchs im Jahr 2002, Hart wieder auf seine Seite zu
ziehen. Er passt ihn nach dem Verhör ab und überzeugt ihn, nachdem er
ihm seine privaten Ermittlungsergebnisse der letzten zehn Jahre zeigt, dass
ihre Mission, den Haupttäter zur Strecke zu bringen, noch nicht erfüllt sei.
Ab hier (Folge sechs) ist der Rückblick beendet und die beiden Protago-
nisten arbeiten in der Gegenwart des Jahres 2012 zusammen an den Fällen,
misstrauisch beäugt von den offiziellen Ermittlungsbehörden. Sie kommen
dem Haupttäter dabei immer näher und landen schließlich an jenem Ort,
an dem der ominöse Carcosakult sein räumliches Zentrum hat. In einem
brutalen Kampf wird der lange gesuchte Frauen- und Kindermörder ge-
tötet und der Zyklus der ewigen Wiederkehr der grausamen Ritualmorde
durchbrochen. Aber auch Hart und Cohle werden schwer verletzt, Cohle
sogar so schwer, dass er eine visionäre Nahtoderfahrung macht. Die Serie
endet mit einer Hommage an die Freundschaft und einem kosmologischen
Resumée von Cohle, mit der Entdeckung, dass der ewige Kampf zwischen
Gut und Böse noch nicht verloren ist; zu Beginn der Welt habe es nur
Dunkelheit gegeben, ein Blick zu den Sternen am Firmament aber zeige,
dass das Licht – wenn auch bescheiden im Verhältnis zur Dunkelheit des
Alls – zugenommen habe. Cohle hat sich also gewissermaßen zu einem
Optimisten »bekehrt« und nimmt Abstand von Fantasien der Über-
wältigung durch die Allmacht der Dunkelheit, wie sie etwa noch Nietz-
sche durch seine Vorstellungen zu einer immerwährenden, fortdauernden
Nacht in seiner Fröhlichen Wissenschaft proklamierte: »Immer ist für den
Einsiedler der Freund der Dritte: der Dritte ist der Kork, der verhindert,
dass das Gespräch der Zweie in die Tiefe sinkt« (Nietzsche, 2002, S. 56).

Die beiden Hauptfiguren der Serie

Einen Teil der Spannung bezieht die Serie aus dem latenten und gelegent-
lich auch offen ausgetragenen Konflikt zwischen den beiden Protago-
nisten, die erst seit drei Monaten Partner sind und den wechselnden Wir-
kungsweisen der Melancholie als Reaktion auf den tatsächlichen (Cohle)
oder befürchteten (Hart) Verlust geliebter Personen oder Ideale ausgesetzt
sind (vgl. Freud, 1998, S. 173). Die beiden werden in ihrem Blick auf die
Welt und ihre Lebensphilosophie betreffend als sehr unterschiedliche In-
dividuen dargestellt. Der eine, Rust Cohle, der wegen seiner übergroßen
Notizmappe den Spitznamen »Taxman« trägt, ist ein asketisch-durchtrai-

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I.2. Thomas Pröll: True Detective

nierter, rationalistisch und unnahbar wirkender Typus. Von seinem frühe-


ren Drogenkonsum psychisch geschädigt – gelegentlich halluziniert er –
und von den familiären Schicksalsschlägen der Vergangenheit gezeichnet,
versucht er sich durch die »Herabsetzung seines Ichgefühls« (ebd., S. 176)
vor der eigenen Trauer und Melancholie zu schützen, und externalisiert
seinen Gemütszustand auf seine Welt- und Lebensanalyse. Er verkörpert
den geheimnisvolleren Teil des Duos, der bei seinen Kollegen und Vorge-
setzen aufgrund seiner Verschlossenheit und Arroganz sehr unbeliebt ist.
Er lebt sehr zurückgezogen und alleine, ist äußerst akribisch und fast ma-
nisch auf seine Arbeit als Spezialist für Sexualverbrechen und Ritualmorde
konzentriert. Seine Gemütslage kann nur als düster beschrieben werden.5
Spätestens nach dem Tod seiner zweijährigen Tochter steckt er in einem
»Bewusstseinszustand habitueller Melancholie« (Kaempfer, 1994, S. 207),
von dem er es nötig hat, auf manisch-obsessive Weise etwa in Form einer
totalen Fokussierung auf seine Arbeit kontinuierlich den »Ausbruch« zu
unternehmen (vgl. ebd.). Von seiner Geschichte oder seiner Familie wird
ansonsten kaum etwas bekannt und wenn, dann wird an den Details er-
kennbar, dass er nicht ohne Grund ein besonderer respektive sonderbarer
und pessimistischer Mensch geworden ist. Seine Mutter verschwand früh;
mit seinem Vater, mit dem er sich nicht verstanden hat, lebte er lange in
Alaska, seine Frau verließ ihn nach dem Unfalltod der gemeinsamen Toch-
ter. Auch wenn der Großteil seines Aktes unter Verschluss bleibt, werden
seine Vorgeschichte als langjähriger Undercover-Agent der Drogenfahn-
dung und die dort von ihm gemachten extrem brutalen Erfahrungen einer-
seits und seine eigenen Ausschweifungen – Konsum der von ihm als Poli-
zist eingezogenen Drogen, Erschießung eines Junkies usw. – andererseits
thematisiert. Immer wieder übt er sich in philosophischen Ausführungen
zu Zeit und Existenz, zu Glauben und Religion sowie zum menschlichen
Ego, seinen Ängsten und Sehnsüchten: »Wenn das Gemeinwohl darin
besteht, an Märchen zu glauben, wen soll das weiterbringen?« (S01E03).
Ebenso in Folge drei, in der die beiden Protagonisten auf die Freikirche der
»Freunde Jesu« treffen, bemerkt Cohle: »So sind die Menschen, sie sind
so schwach, dass sie lieber eine Münze in einen Brunnen werfen, als sich
Essen zu kaufen. […] Sie übertragen ihre Angst und ihren Selbsthass auf

5 In Folge eins spricht Cohle bei einer Autofahrt Marty gegenüber von seinen Medita-
tionen, von der Konzentration auf den Gedanken an die eigene Kreuzigung und vom
menschlichen Bewusstsein als einem Fehltritt der Evolution.

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

eine Autoritätsfigur. Das ist Katharsis. Er [der Prediger] nimmt ihre Furcht
mit seiner Geschichte auf, deshalb ist er auch so effektiv im Verhältnis zur
Gewissheit, die er den Leuten bieten kann.« Die Welt des Rust Cohle ist
ein dunkler Ort aus Verbrechen und Schuld, zu deren Abgründigkeit er
durch sein Gespür und trotz seiner intellektuellen Distanziertheit in engs-
ter Verbindung steht.
Sein Partner, Martin Hart, Spitzname Marty, wird zu Beginn als ein re-
lativ gut sozial integrierter Mann mit kleinbürgerlichem Leben gezeigt, der
von den Kollegen akzeptiert und von den Vorgesetzten geschätzt wird. Er
ist verheiratet, wohnt in einem Haus und hat zwei Töchter – er weiß noch
nicht, dass er sich im Verlauf des Falles für einen Kampf entscheiden wird,
der ihn eben dieses kleinbürgerliche Leben kosten wird; ihm ist noch nicht
bewusst, dass er kein gewöhnliches Familienleben führen kann, ein solches
ihm gar nicht zukommt, wenn er sich dem Abgründigen tatsächlich stellen
will. Als Konsequenz aus seiner Entscheidung, sich Cohle anzuschließen,
muss er am Ende dem vordergründig gewünschten Profanen, Einträchtigen
oder Kleinbürgerlichen den Rücken kehren.
Zu Beginn der Serie scheint er sich in der Rolle als etwas provinzieller,
scherzender, derbe Geschichten erzählender Kollege und gesetzter Fami-
lienmensch wohlzufühlen. Für Cohles Ansichten über die Welt und die
Menschen hat er anfänglich nichts übrig und ist auch an dessen Lebens-
geschichte beziehungsweise Leben, das ihm eher bedauernswert als beach-
tenswert erscheint, nicht besonders interessiert. Allerdings erkennt er sehr
schnell, dass sein neuer Partner ein hervorragender Polizist mit herausra-
gendem Instinkt und von durchschlagender Intelligenz ist, und hält als ein-
ziger im Polizeirevier zu ihm. Alles scheint in Ordnung, bis sich erste Risse
in der Fassade seines Lebens zeigen, denn seine familiäre Existenz verläuft
lange nicht so harmonisch, wie er es in seiner kleinbürgerlichen Traumwelt
für wünschenswert hält.
Er und seine Frau Maggie trauern über den Verlust »besserer Bezie-
hungszeiten«, sie in Form von Aufforderungen zum Dialog und »selbst-
gefällig bestrafende« Distanz zu ihm (S01E04), er mit regelmäßigem
Alkoholkonsum und gelegentlichen Liebschaften. Marty kommt den Dia-
logaufforderungen seiner Frau nicht nach, sondern verdrängt und flüch-
tet sich in einen oberflächlichen Habitus und in wenig tragfähige Ideale
vom Familienidyll. Für den Zuschauer deutet sich bereits an, dass er sich
krampfhaft gegen alles Tiefe, Schwere und Abgründige wehrt, das ihn aber
längst umgibt und ihn im Zuge der Fallarbeit immer mehr einnehmen

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wird. Die Einsicht, dass sein Leben nicht so weitergehen kann, ja bereits
aus den Fugen geraten ist, kommt das erste Mal zum Vorschein, als ihn
Maggie mit den Töchtern verlässt, nachdem seine – von ihm rücksichtslos
»abservierte« – junge Geliebte aus Rache darüber die Liaison seiner Frau
mitgeteilt hat. Trotz heftiger emotionaler Wutausbrüche und expliziter Be-
teuerungen der Reue gegenüber Maggie konzentriert er sich im Anschluss
daran fast ausschließlich auf die laufende Ermittlung.6
Auffallend an der Darstellung des Duos ist, dass beide – in Abgrenzung
zu den amerikanischen Kriminalserien der 2000er Jahre, in denen keine er-
mittelnden Detectives, sondern distanzierte Kriminaltechniker die Fälle
»sauber« lösen (vgl. Pfaller, 2009, S. 11) – keine »Saubermänner« sind,
eher den filmischen Darstellungen aus den 60er und 70er Jahren gleichen7,
in denen Polizisten zumeist als Grenzgänger zwischen Recht und Unrecht
gezeichnet werden, gerade dieser Grenzgang einen wesentlichen Kern der
Botschaft der Filme ausgemacht hat. Die Abscheu vor den Darstellungen
des Schmutzigen (ebd.) fehlt bei True Detective zur Gänze. Beide werden
im Laufe der Serie selbst des Öfteren und durchaus schwerwiegend das
Gesetz brechen. So dringt Hart beispielsweise mit Gewalt in die Wohnung
seiner Geliebten ein, schlägt den dort anwesenden Mann und droht diesem
unter Verweis auf seine Macht als Polizist, dass er ihn ins Gefängnis brin-
gen und dort vergewaltigen lassen würde (S01E03). Später verprügelt er
unter Zuhilfenahme seines Einflusses als Polizist zwei Jugendliche, die mit
seiner noch minderjährigen Tochter Sex hatten (S01E06). Cohle wiede-
rum schlägt zwei potentielle Zeugen zusammen, die sich nicht koopera-
tionsbereit zeigten (S01E02), und erwähnt einer Prostituierten gegenüber,
von der er sich Drogen beschafft hat, wie gefährlich er sei, da er als Poli-
zist Menschen ungestraft schlimme Dinge antun könne (S01E01). Später
erzählt er Hart, dass er deshalb so lange als Undercover Agent eingesetzt
wurde, weil er im Einsatz einen Junkie, der seiner Tochter Drogen spritzte,
erschossen beziehungsweise hingerichtet hat (S01E02). Beide verschwei-

6 Hier zeichnet sich bereits eine unbewusste Präferenz ab (S01E04), auch wenn Hart später
erfolgreich vieles unternehmen wird, um seine Frau zur vorübergehenden Rückkehr zu
bewegen. Letztlich wird sich aber zeigen, dass das Geschehen der Geschichte selbst eine
Rückkehr nicht zulassen wird, dass das fantasierte Familienidyll dem Fall – wenn auch
unbewusst und durch Cohles Eingreifen – geopfert werden muss.
7 Zu denken wäre hier an Filme wie Die Flic Story (1975) mit Alain Delon oder French Con-
nection (1971) mit Gene Hackman, in dem Polizisten regelmäßig Gesetze übertreten und
häufig Konflikte mit Vorgesetzten haben.

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gen ihren Vorgesetzen, dass sie weiter an dem Fall arbeiten, und übergehen
dabei willentlich die Befehlskette (siehe vorheriger Abschnitt).

Unbewusste Ängste, Verdrängungen


und Leerstellen der Serie

Bereits im Vorspann kündigt sich an, dass der folgende Inhalt sich mit
Schmerz, Düsternis und perverser Sexualität beschäftigen wird. Das Feuer,
die Schattierungen der harten, angespannt wirkenden Gesichter und diverse
Tier- und Kreuzsymboliken deuten einen diffusen, religiös-mystischen
Handlungskomplex mit potenziell apokalyptischen Zügen an und lassen
Assoziationen von Höllen- und Fegefeuer zu. Die Serie spielt immer mit
dem Schmerz am und im Leben, mit der Angst vor Verlusten, der Angst
vor der Begegnung mit sich selbst, der Angst vor der persönlichen und der
verborgenen gesellschaftlichen Wahrheit. Sie stellt die Ohnmacht und stille
Verzweiflung, die Vorstellungen und Lebenswelten von Armen und Unge-
bildeten zur Schau und deren notwendige Flucht in die Religion (vgl. Marx
& Engels, 1970), weil das Leben, die Wahrheit ansonsten zu hässlich wäre,
wie auch Nietzsche stets betonte. Auch stehen die zum Teil gänzlich un-
geklärten oder erst gegen Ende hin erklärten Zeiten – wo war Cohle zwi-
schen 2002 und 2010? – und Räume für jene Leerstellen, die von den Zu-
sehern gefüllt werden müssen – was ist in Cohles geheimem Lagerschuppen
verborgen? Steht dieser für das Verdrängte, das Potenzial des Menschen
zum Hässlichen, zum Bösen? Symbolisieren die geschändeten Frauen und
Kinder, für die sich niemand interessiert, das gesellschaftlich Verdrängte,
die Armut und die Schwächsten der Gesellschaft? Durch den Bezug zum
Missbrauch an Kindern, zum unaussprechlich Grausamen des Carcosa- be-
ziehungsweise Opferkults, erreicht die Abscheu ihren Höhepunkt.
Als Kunstwerk gibt sich die Serie, die wie alle Kunstwerke in der my-
thischen Verfasstheit des Daseins sich gründet, über die Figur von Detec-
tive Cohle, der die versuchte Negation des Mythischen verkörpert, selbst
Auskunft über ihren Ursprung, ihr Wirken im menschlichen Unbewussten
(vgl. Tiedmann, 1973, S. 91). Cohles Manie treibt ihn dazu, stundenlang
Bilder getöteter Frauen zu betrachten, und man weiß nicht, ob er sich dabei
dem Grauen und seiner Angst mutig entgegenstellt oder ob sich eine Art
Identifikation mit dem vollzieht, was ihn zutiefst ängstigt (vgl. Blanken-
burg, 1996, S. 65). Als er dann über das spricht, was ihm die Bilder ver-

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mittelt haben, welche Auskunft er von ihnen erhalten hat, vornehmlich


von den Gesichtern, den Augen der Frauen – er deutet ihre Gesichter als
ein Fanal des »Loslassen-Könnens« –, zeigt sich in seinen Ausführun-
gen der unbewusste Wunsch einer Erlösung vom Leben, als eine Ruhe
und Abkehr von der Angst kurz vor Eintreten des Todes; die Ermordeten
haben es hinter sich. Dabei verfolgt ihn selbst eine tiefsitzende unbewus-
ste Angst vor der Möglichkeit der ewigen Wiederholung des Gleichen,
der fatalistischen Unerlöstheit8, in psychoanalytischer Sprache vor der un-
aufhörlichen Wiederkehr des Verdrängten im Wiederholungszwang (vgl.
Freud, 1998, S. 207). Erst bei seinem eigenen Verhör spricht er von der
vierten Dimension, davon, dass die Raum-Zeit flach sei wie ein Kreis und
keineswegs linear verlaufe. Das alles hört sich für die das Verhör führen-
den (schwarzen) Detectives – 1995 waren fast alle Detectives Weiße – ver-
rückt an und bestärkt sie in der Annahme, Cohle selbst hätte etwas mit
den schrecklichen Verbrechen zu tun. Cohles manische Konzentration
auf den Fall ist wohl dem Wunsch geschuldet, dass der Zyklus der ewigen
Wiederkehr vielleicht doch zu durchbrechen ist. Zu dem, was der »gelbe
König« (Carcosa) verkörpert, besteht von seinem Blickwinkel aus nicht
nur eine moralische Abscheu, sondern eine tatsächliche, tiefe persönliche
Feindschaft, weil der Kult um Carcosa genau für jene reversible Form der
Zeit steht, für ein »Eingeschlossen-Sein« in einen wechselseitig provozier-
ten Zyklus von Entstehen und Vergehen (vgl. Kaempfer, 1994, S. 173), der
eine Erlösung vom »erbärmlichen Dasein« verunmöglicht.9 Die ständige
Wiederkehr wäre dann wie »das Drehmoment einer zyklisch-binären Pro-
zessform« (Kaempfer, 1994, S. 172), die kein Ende finden, sich nicht been-
den lassen kann. Allerdings verkennt Cohle bei seinen Meditationen, dass
die Bilder der Frauen lediglich isolierte, herausgerissene Darstellungen des
Geschehenen sind, ähnlich einer Laborsituation, die ein getaktetes Experi-
mentierfeld von Subjekt (Cohle) und Objekt (Bilder der getöteten Frauen)
eröffnet, das gerade dadurch keinen Abschluss ermöglicht (vgl. Kaempfer,
1994, S. 222).

8 Die Serie ist durch ihre betonte Langsamkeit auch als ein Hinweis auf ein Sein, eine Rea-
lität hinter beziehungsweise unter der betriebsamen Oberflächlichkeit moderner Seins-
vergessenheit zu sehen (vgl. Baier, 2000, S. 33).
9 Der Haupttäter weist darauf hin, als er zu Beginn der letzten Folge davon spricht, dass
seine Familie schon sehr lange dort lebt, und damit implizit zum Ausdruck bringt, dass
sie ihr Unwesen, ihre Taten schon »eine Ewigkeit« wiederholen.

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

Cohles philosophische Ausführungen sind als ein ständiger Angriff auf


die Sinnlosigkeit des Lebens, auf die hybride Verdrängung des Menschen
zu werten, der sich weigert, den blinden Willen (Nietzsche) oder stum-
men Trieb (Freud) als einzig wirkmächtige Kraft anzuerkennen. Diese von
Cohle postulierten Anmaßungen des Ichs, eine besondere Stellung im Uni-
versum zu beanspruchen, einzigartig sein zu wollen, geben darüber Aus-
kunft, wie sehr seine Trauer ihn dazu nötigt, sein Ich und das aller anderen
als nichtswürdig abzutun, obwohl und gerade weil er selbst unter dieser
Herabsetzung des Ichs unaufhörlich leidet (vgl. Freud, 1998, S. 176).

Der Blick auf die Zuseher

Nicht zufällig wird man durch die Bilder an die christlichen Höllener-
zählungen erinnert, in denen die dort Gefangenen in alle Ewigkeit leiden
müssen. Der Zuseher wird aber nicht nur durch die Darstellung des Bösen10
als eines ständig Wiederkehrenden irritiert und in Unruhe versetzt, er wird
auch durch den Umstand entlastet, dass andere, quasi Auserwählte, unter
Einsatz ihres Lebens den Kampf gegen diese abscheulichen Mächte aufneh-
men. Es wird suggeriert, dass wir als Menschen nicht gänzlich dem tran-
szendenten, übersinnlichen Treiben ausgeliefert sind, sondern über eine
Art menschliche Wirkmächtigkeit verfügen, einem Beschwörungszauber
gleich, der dem Bösen ebenbürtig ist, obgleich das nur für die Wenigsten
gelten mag. Nebenbei kann das Verwerfliche vollends vom eigenen Selbst
abgetrennt und auf diese schrecklichen Mächte projiziert werden. Als Au-
ßenstehender – »erste Reihe fußfrei« – ist man empathischer Beobachter
eines Geschehens, von dem man kaum erahnt, dass man selbst etwas damit
zu tun haben könnte. Vielmehr erlaubt dieses Miterleben durch den empa-

10 Eine zentrale Botschaft der Serienmacher war wohl auch, darauf hinzuweisen, zu wel-
chen Taten Menschen fähig sind, wenn sie bewusst Grenzen überschreiten und sich
damit dem aussetzen, was Kant das radikale Böse (eine bewusste, willentliche Gesinnung
zum Bösen) genannt hat. Daneben gibt es noch das banale Böse der Oberflächlichkeit,
des Opportunismus und der Gedankenlosigkeit derer, die zwar keine unmittelbaren Teil-
nehmer der Opferungen und Misshandlungen sind, durch ihren Mangel an Berufsethos
aber dieses Treiben indirekt unterstützen, denn letztlich ist es die reale, profane Macht
der Verbindungen von Politik (Gouverneur E. Tuttle), Exekutive (Sheriff Childress) und
Geld (B. L. Tuttles Privatschulen), die den Referenzrahmen für die okkulten Rituale und
Missbrauchsfälle darstellt.

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thischen Blick nicht nur eine Komplexitätsreduktion, die den Zuschauer


sofort Partei ergreifen und selbstgefällig in Schwarz-Weiß-Schemata urtei-
len lässt, sondern auch den empathischen Genuss des zur Anschauung ge-
brachten Schmerzes anderer, auch wenn dieser filmisch-künstlerisch ver-
mittelt ist (vgl. Breithaupt, 2017, S. 23–24).
Die Serie ist als Ganzes eine Kommunikation mit der Angst des Zusehers,
eine »Angst, nicht nur als Qual, sondern auch als Lust, Thrill, Nervenkitzel«
(Lang & Faller, 1996, S. 11). Permanent ist die Präsenz von etwas Bösem
spürbar, welches sich einmal offen durch die Darstellung der Leichen und
Zustände der Drogen- und Prostitutionsmilieus zeigt, zum anderen durch die
Bilder der Sümpfe, des Unwegsamen der Natur, welcher der Mensch, trotz
großer Anstrengungen bei der »Trockenlegung« durch Technik, Vernunft-
primat und Aufklärung, nicht Herr zu werden scheint. Der Nervenkitzel
liegt gerade darin, dass es bei Angstzuständen immer auch um eine Gefähr-
dung des »faktisch gelebten Daseins« (Condrau, 1996, S. 37) geht, welche
durch die dargestellten Personen für den Zuseher aus sicherer Distanz und
zum Teil empathisch mit verdoppelnder Wirkung der Wahrnehmung (vgl.
Breithaupt, 2017, S. 13) miterlebt werden kann. Die Serie kann als artifiziel-
les Produkt, das nahezu jedes menschliche Verhalten vor- und darzustellen in
der Lage ist, zwischen den verborgenen Ängsten und der sich entbergenden
Empathie mit den gefährdenden Charakteren der Serie vermitteln (vgl. ebd.,
S. 15). Im Mit-Erleben nimmt man imaginär den Standpunkt eines anderen
ein (vgl. ebd., S. 16), »man lernt sich auszumalen, unter welchen Umständen
Menschen schlimmste Verbrechen begehen oder die scheinbar absurdesten
Empfindungen haben können« (ebd., S. 15).
Neben den zahlreichen und wie oben erwähnt durchaus auch lustvollen
Beunruhigungen, den düsteren Bildern, der gedämpften Musik, den diffu-
sen Ahnungen, den Andeutungen von der Gefährlichkeit okkulter Mächte,
der ungewöhnlich verstörenden Langsamkeit vieler Abschnitte, welche die
Serie »tragen«, wird der Zuseher am Ende von seinen Ängsten und Zwei-
feln entlastet, insofern die »ewige Wiederkehr des Gleichen« jeden dazu
verurteile, selbst die brutalsten, schlimmsten und grausamsten Erfahrungen
des Daseins als permanente Wiederholung durchleben zu müssen. Man
wird mit der beruhigenden Botschaft einer linearen Zeitabfolge entlassen,
ähnlich der »Umwandlung« des Unbewussten – das auch keine Beziehung
zur Zeit hat (vgl. Freud, 1998, S. 138) – in den sicheren Hafen des zeit-
lich strukturierten Bewusstseins, in dem nicht nur das Gute stetig zunimmt,
sondern auch besonders leidvolle Zustände zu einem Ende gebracht werden

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können. Es hat den Anschein, dass selbst noch der Haupttäter als personifi-
zierte Manifestation der Macht der »ewigen Wiederkehr« (Carcosa) seine
Spuren zwar bewusst hinterlässt, aber mit der unbewussten Absicht, von
den beiden Detectives erkannt, in einem Endkampf entmachtet und damit
durch eine End-Setzung erlöst zu werden, denn auch er deutet an, dass ihn
eine äußerst brutale, leidvolle Lebensgeschichte gezeichnet hat.
Die Serie bietet reichlich Identifikationspotenziale durch die darge-
stellte Freundschaft der Protagonisten11 und die Alltagsprobleme, die
Martin Hart mit seiner Frau Maggie und in seiner Rolle als Familienvater
hat. Die sich vernachlässigt fühlende Maggie repräsentiert den Druck, die
Forderungen einer privaten Welt (Familie), die sich mit seinem beruflichen
Leben in der Öffentlichkeit nur schwer, am Ende gar nicht vereinbaren
lassen. Hart hat seine dem Lustprinzip folgenden Fantasien nach mehr
Freiraum im Leben, nach aufregenden Liebschaften und »Gelagen« mit
männlichen Freunden noch nicht aufgegeben. Seine familiären Verpflich-
tungen und seine Wünsche nach profaner, bürgerlicher Alltäglichkeit und
Ordnung konterkarieren diese Sehnsüchte und durchziehen sein Dasein
mit allerlei ambivalenten Gefühlen, denen er durch Verdrängung und Ag-
gression zu entkommen glaubt. Gerade als er die beiden Jungen, die mit
seiner minderjährigen Tochter Sex hatten, im Gefängnis verprügelt, zeigt
sich diese wiederholte innere Zerrissenheit (vgl. Freud, 2000, S. 90) als
negative Übertragung von unerwünschten Selbstanteilen (vgl. Hirblinger,
2013, S. 115–117), in der er unbewusst an den jungen Männern jene Seite
an sich selbst zu bestrafen trachtet, die ihn immer wieder vom bürgerlich-
sittsamen Weg abkommen lässt. Andererseits steht die Identifikation mit
dem »einsamen Wolf« Rust Cohle im Raum, der bis zur letzten Konse-
quenz sein Leben projektiert und alle Energie auf die Lösung des Falls rich-
tet, eine Reminiszenz an die Macht der Berufung, indem eine Ausdauer
und Hartnäckigkeit zur Darstellung gebracht wird, die letztlich – und trotz
leidvoller Konsequenzen für die beiden Protagonisten – zum Ziel führt
und bei der es nach 17 Jahren doch noch gelingt, den Mörder zu stellen
und damit die Wiederholung des Grauens zu durchbrechen. Wie Cohle
es in der letzten Folge zum Ausdruck bringt, ist das Leben zu kurz, um in
mehreren Dingen gut zu werden, aber in einer Sache kann es womöglich
gelingen. Diese Sache gälte es im je eigenen Leben zu finden.

11 Es wird eine Freundschaft gezeigt, die trotz zahlreicher Differenzen die Basis für den
letztendlichen Erfolg der beiden bildet.

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Biografische Notiz
Thomas Pröll, Dr., lehrt an der Pädagogischen Hochschule Tirol und an der Universität
Innsbruck, arbeitet als Psychotherapeut in freier Praxis; Schwerpunkte: praktische Philo-
sophie und psychoanalytische Kulturtheorie.
thomas.proell@ph-tirol.ac.at

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I.3. Sherlock
Sucht und Suche

Lutz Ellrich & Lisa Wolfson

Sherlock Holmes nach dem Update

Die vier Staffeln der von der BBC produzierten TV-Serie Sherlock wurden
von 2010 bis 2017 jeweils im Abstand von etwa zwei Jahren ausgestrahlt
und erreichten ein selbst für die Macher Steven Moffat und Mark Gatiss
erstaunlich großes Publikum. Im Zentrum der Handlung steht – noch stär-
ker als in der berühmten Vorlage von Conan Doyle – die ungewöhnliche
Beziehung zwischen dem Meisterdetektiv Sherlock Holmes und dem Arzt
Dr. John Watson, die sich im Verlauf mehrerer durch Krisen und Unter-
brechungen gekennzeichneter Jahre von einer funktionalen Arbeits- und
Wohngemeinschaft in eine tiefe Freundschaft verwandelt. Zum Running
Gag der Serie wird der aussichtslose Kampf gegen die Fehldeutung dieser
Beziehung. John muss immer wieder – selbst bei vorurteilsfreien Perso-
nen – die Annahme korrigieren, es handele sich bei ihm und Sherlock um
Homosexuelle, deren erotische Bindung sich äußerst positiv auf ihre beruf-
liche Tätigkeit auswirkt. Die Welt, in der sich das dubiose Duo bewegt, ist
jetzt nicht mehr das späte 19. Jahrhundert. Als neues Spielfeld bietet sich
den beiden die überkomplexe Gesellschaft der Gegenwart dar, die weit we-
niger durch ökologische und ökonomische Krisen bedroht zu sein scheint
als durch großformatige Verbrecher und Terroristen, denen Polizei oder
Geheimdienste ohne Sherlocks Beistand nicht gewachsen sind. Doch nicht
allein geniale Kriminelle wie Moriarty, Magnussen und Smith fordern den
Detektiv (und seinen Begleiter) heraus, sondern auch außergewöhnliche
Frauen wie Irene Adler, Molly Hooper und Mary Morstan. Jede dieser
Frauen verfügt über eminente Eigenschaften, die Sherlock stark irritieren
und so Lernprozesse in Gang setzen, die seine Selbstfindung beschleunigen.
Das Konzept der Serie beruht auf der Basisidee, dass sich Sherlock mit
jedem Akt der Aufklärung eines Verbrechens, um die ihn Inspektor Les-

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

trade oder sein im Dienste der Regierung stehender Bruder Mycroft bitten,
schrittweise jener grausamen familialen Urszene nähert, die letztlich für
seine pathologische Disbalance von Verstand und Gefühl verantwort-
lich ist. Paradoxerweise nötigt ihn also die kriminalistische Feinarbeit, die
Sherlock von der erforderlichen Forschungsreise ins eigene Ich ablenkt, zu-
gleich unablässig zur Erkundung der verborgenen Wahrheit.
In formaler Hinsicht bedient sich die BBC-Serie virtuos aller technischen
Instrumentarien, die heute für die Gestaltung von TV-Formaten zur Verfü-
gung stehen: Screen-Splitting, Schrift-Bild-Kombinationen, Überblendun-
gen und die ganze Palette möglicher Computersimulationen. Auf stilistische
Einheitlichkeit haben die Macher bewusst verzichtet. Realistische Darstel-
lungsweisen wechseln sich mit extrem artifiziellen ab. Die Optik des Guck-
kastentheaters wird ebenso geschätzt wie eine zu Kapriolen neigende Hand-
Kamera. Neben ernsten Szenen stehen pathetische, surreale, komische und
groteske. Dem Anspielungsreichtum der Dialoge und Bildfolgen vermögen
selbst Kenner und Medien-Addicts kaum zu folgen. Die Autoren und Regis-
seure der einzelnen Folgen spielen permanent auf der Klaviatur der Intertext-
ualität beziehungsweise Intermedialität. Sie zitieren, parodieren, verfremden,
überbieten und kombinieren Teile des vorliegenden Kanons von Doyle und
stehen in einem kommentierenden Verhältnis sowohl zu den »klassischen«
Sherlock-Holmes-Filmen aus dem 20. Jahrhundert als auch zu den aktuellen
Parallelaktionen von Guy Richie (Sherlock Holmes, 2009; A Game of Sha-
dows, 2011) und Robert Doherty (Elementary, 2012–2019), die ihrerseits
das Ziel verfolgen, die Sendepausen zwischen den Staffeln der BBC-Serie zu
füllen und die fiebernden Fans mit Stoff zu versorgen. Überdies nimmt das
Autorenduo nicht selten die Möglichkeit wahr, auf die in Internetforen ver-
öffentlichen Urteile, Vorschläge und Wünsche des vorwiegend jugendlichen
Publikums zu reagieren, indem sie es mal zufriedenstellen, mal überraschen,
zuweilen aber auch enttäuschen.

Latentes zum Vorschein bringen, oder:


Ein Spiel mit Elementen der Freud’schen Theorie

Nicht zu übersehen ist, dass die Autoren der BBC-Serie in ihrem »Holmes-
Update« ganz bewusst Köder auslegen, bei denen eine psychoanalytische
Betrachtungsweise der Charaktere und Handlungsverläufe automatisch zu-
schnappt. Wer das Schema von Ich, Es und Über-Ich vor Augen hat, wird in

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I.3. Lutz Ellrich & Lisa Wolfson: Sherlock

den Hauptfiguren griffige Versinnbildlichungen der von Freud differenzier-


ten Instanzen des psychischen Apparats erkennen: John repräsentiert das
Ich, Mycroft das Über-Ich und Moriarty das Es. Wer sich an Freuds letzter
Fassung der Triebtheorie in Jenseits des Lustprinzips (1920) orientiert, die
den Gegensatz zwischen Lebens- und Todestrieb, zwischen Eros und Tha-
natos ausbuchstabiert, mag in Moriarty eine Versinnbildlichung des Todes-
triebes, in Molly und Mycroft dagegen des Lebenstriebes und schließlich in
der cleveren Domina Irene1 sowie in der Profi-Killerin und späteren Mutter
Mary schillernde Formen einer Eros-Thanatos-Schnittstelle ausmachen.
Ohnehin dürfte es sich kaum vermeiden lassen, Sherlocks Demonstration
seiner überragenden Intelligenz als extreme Form der Triebsublimierung
zu interpretieren, um diese trivial-hermeneutische Übung sogleich als
»Küchenpsychologie« zu verwerfen. Das alles legen Moffat und Gatiss
augenzwinkernd nahe. Sie scheuen auch nicht davor zurück, manche ihrer
Protagonisten in psychoanalytische Behandlung zu schicken und dann die
Diagnosen der Seelenexperten mit alternativen Sichtweisen zu konfrontie-
ren. Die Wahl der triftigeren Deutung bleibt schließlich den Zuschauern
überlassen.2
Wesentlich interessanter ist aber, dass die Neufassung des Doyle’schen
Kanons eine Art Selbstanalyse des Meisterdetektivs in Szene setzt und
dafür äußerst einprägsame Bilder findet. Dabei spielt Sherlock die Doppel-
rolle von zielstrebigem Analytiker, dessen Hartnäckigkeit keine Grenzen
kennt, und widerspenstigem Patienten, der alle Register der Verleugnung,
Verdrängung und Abwehr zieht. Sherlocks Wunsch, ohne irgendwelche
Einflüsse und Einschränkungen das Produkt seiner eigenen Gedanken
und Handlungen zu sein3, kämpft mit dem Verlangen, den Prozess seiner
Selbstkonstitution vollständig rekonstruieren und die Vergangenheit bis
in die letzten Winkel ausleuchten zu wollen.4 Im Verlauf der Handlung

1 Irene Adler ließe sich auch als Verkörperung eines postmodernen Über-Ichs interpretie-
ren, das nicht länger die asozialen Kräfte des Sexualtriebs eindämmen muss, sondern das
weit strengere Gebot »Genieße!« ausspricht. Siehe hierzu Žižek (1996a).
2 So interpretiert Mycroft Johns »zeitweilig auftretende[n] Tremor in der linken Hand« –
anders als dessen Analytikerin – nicht als »posttraumatische Belastungsstörung«, deren
Ursache seine Erlebnisse bei Kampfeinsätzen in Afghanistan sind, sondern als Entzugs-
erfahrung: »Der Krieg verfolgt Sie nicht. Er fehlt Ihnen!« (S01E01). Auch Sherlock äußert
später die gleiche These (S03E03).
3 »Ich habe mich gemacht« (Sonderfolge; Die Braut des Grauens).
4 »Ich werde tief hinein müssen […] in mich« (Sonderfolge; Die Braut des Grauens).

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

lernt Sherlock, dass seine Suche nach Rätseln, die gelöst werden müssen,
nicht nur dem Bedarf seines überentwickelten Gehirns geschuldet ist,
das bei Unterbeschäftigung rebelliert, sondern einem Zwang gehorcht,
dessen Ursache (angeblich zu seinem eigenen Schutz) vom älteren Bruder
Mycroft vor ihm geheim gehalten wird. Im Zuge dieser – immer wieder
durch kriminalistische Ermittlungen aller Art unterbrochenen – Selbst-
erforschung bedient sich Sherlock einer speziellen Methode, die bereits
Freud zum Einsatz brachte, nicht ohne unerwähnt zu lassen, dass es sich
um die detektivische Technik des Kunsthistorikers Giovanni Morelli zum
Nachweis von Fälschungen handelt. Die Psychoanalyse – so Freud – »ist
gewöhnt, aus gering geschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem
Abhub – dem ›refuse‹ – der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes
zu erraten« (Freud, 1914b, 207). Sherlock und den Erfinder der Psycho-
analyse eint folglich jene Überzeugung, die Carlo Ginzburg auf den Punkt
gebracht hat: »Wenn auch die Realität ›undurchsichtig‹ ist, so gibt es
doch besondere Bereiche – Spuren, Indizien – die sich entziffern lassen«
(Ginzburg, 1983, 90). Anders als die Analyse von Verbrechen, an deren
Aufklärung die Polizei scheitert und deshalb auf externen Beistand ange-
wiesen ist, benötigt Sherlocks Selbstanalyse Mittel, welche die Tür zu den
verriegelten Kammern der Vergangenheit und des Unbewussten öffnen
und damit Zugang zu einem Korpus an Material gewähren, das dann mit
dem genannten Verfahren der Spurensicherung und -deutung ausgewertet
werden kann.
Drogen besitzen bei dieser rückhaltlosen Erforschung des eigenen Ichs
eine wichtige Funktion. Obschon der Status der Rohdaten, die ein Dro-
genrausch liefert, extrem unklar ist, findet Sherlock in ihnen genug An-
haltspunkte für Deutungen und Schlussfolgerungen, zu denen er im Wach-
zustand niemals gelangt wäre. Was für Freud die Traumberichte seiner
Patienten waren, die er im dialogischen Hin und Her der Rede-Kur zum
Sprechen brachte, das sind für Sherlock die Wahrnehmungen, zu denen er
nur unter dem Einfluss von Drogen fähig ist.
Um das zu erkennen, ist es erforderlich, sich von der BBC-Serie dazu
verleiten zu lassen, in Sherlocks Drogenkonsum mehr zu sehen als die
pathologische Kehrseite der detektivischen Genialität, mehr als den viel-
leicht unvermeidlichen Preis für die übermenschliche Speicherkapazität
und Kombinationsgabe des Sherlock’schen Geistes. Allem Anschein nach
nimmt der Detektiv, sobald er nichts Sinnvolles zu tun hat, Drogen. Lange-
weile ist für ihn unerträglich. Darin gleicht er nicht nur dem Serienmörder

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I.3. Lutz Ellrich & Lisa Wolfson: Sherlock

in der Start-Folge (S01E01), sondern auch seinem »Fan« Moriarty, der als
Sherlocks unheimlicher Doppelgänger (siehe auch Freud, 1919h) in der
Serie herumgeistert. Moriarty ist süchtig nach dem Allmachtsgefühl, das
ihm allein die Manipulation anderer Menschen und das raffinierte Spiel
mit deren Ängsten und vergeblichen Hoffnungen verschafft, doch er fürch-
tet die Leere, mithin die ernüchternde Erkenntnis, dass der Genuss der
eigenen Macht nicht mehr zu steigern, dass das Ende des Spiels nahe ist
und jetzt nur noch die Inszenierung des doppelten suizidalen Untergangs
(der eigene und der seines ebenbürtigen Rivalen) einen grandiosen Schluss-
punkt zu setzen vermag.
Auch Sherlock ist süchtig, aber er ist offenbar nicht abhängig von einem
einzigen »Stoff«. Er kann sein Verlangen nach mentalen Erregungszustän-
den und Hochstimmungen im Prinzip auf zwei Weisen befriedigen: erstens
mittels Kriminalfällen, die ein detektivisches Jagdfieber auslösen, das erst
dann abklingt, wenn das Verbrechen aufgeklärt ist, und zweitens mittels
unterschiedlich wirkender Drogen, die entweder seine kognitiven Leis-
tungen steigern (wie Kokain oder das in der BBC-Serie witzigerweise per
Pflaster verabreichte Nikotin) oder ihm (wie Morphium und Meth) hallu-
zinatorische Einblicke in eine abgründige Fantasie-Welt des Verbrechens
bieten, in der er nicht nur bedrohliche Situationen durchlebt und Schre-
ckensszenarien ausgesetzt ist, sondern eben auch die Heureka-Momente
des Entdeckers und die Euphorien des Retters oder Siegers auskosten kann.
Moffat und Gatiss fügen dieser Bestandsaufnahme etwas Entscheiden-
des hinzu: Gegenüber den Texten des Kanons und dessen zahlreichen fil-
mischen Reproduktionen nehmen sie eine deutliche Umakzentuierung der
Funktion, die bestimmte »Stoffe« für Sherlock haben, vor. Jene bei Doyle
beschriebene periodische »Flucht in drogeninduzierte Dämmerzustände«
spielt nun keine entscheidende Rolle mehr. Dass die »rationale Helden-
figur […] von unerklärlichen Dämonen immer wieder in den Sumpf irra-
tionaler Selbstzerstörung gelockt wird« (Suttles, 2017, 28), beschäftigt die
Autoren der BBC-Serie nur am Rande.5 Sie setzen zwar auch Sherlocks

5 Dieser Aspekt wird nur zu Beginn von S04E02 stark betont. Die Zuschauer dürfen einen
Blick in Sherlocks »Drogenküche« werfen und die herumliegenden Spritzen bemerken.
Verschwommene Bilder, verwegene Kamerafahrten und eine entsprechende musika-
lische Untermalung vergegenwärtigen Sherlocks Rauschzustand, der ein Gemisch aus
Erinnerungen, Assoziationen und Phantasmen darstellt. Die Relevanz der Szenen liegt
darin, dass sie die Folie bilden für das Beicht-Experiment des Serien-Killers Culverton

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

Kult um die Erhöhung der Konzentrations- und Kombinationsfähigkeit


durch Stimulanzien in Szene, aber in erster Linie interessieren sie sich für die
Droge als ein Mittel, das Wege in die Vergangenheit bahnt, verschüttete Erin-
nerungen freisetzt und Gefühle der Angst und des Kontrollverlustes erzeugt.
In Gatiss’ Version der ebenso häufig gelesenen wie verfilmten Erzählung Die
Hunde von Baskerville (S02E02) inhaliert Sherlock bei der Erkundung des
von Dunstschwaden durchzogenen Geländes, auf dem der grauenerregende
Riesenhund sein Unwesen treiben soll, eine gasförmige Substanz, die Wir-
kungen zeigt, welche Sherlock zunächst nicht wahrhaben will. Wie es für
psychogene Drogen typisch ist, öffnet das eingeatmete Gift Kanäle ins Un-
bewusste, ins Reich verdrängter seelischer Regungen. Während Sherlock
fluchtartig den Wald von Baskerville hinter sich zu lassen sucht, ruft er
mehrfach: »Ich habe nichts gesehen!« Mit Nachdruck verleugnet er das
Monströse, dessen er ansichtig geworden ist. Aber später – im Gespräch
mit John – gesteht er die Wahrheit: »Ich habe es auch gesehen. […] Ein
gigantischer Hund. […] Ich habe Angst.6 […] Ich war immer in der Lage, die
Distanz zu wahren. Mich abzuschotten von Gefühlen. Doch hier, sehen Sie,
ich bin meinem Körper ausgeliefert. Interessant, ja, Emotionen. Das Haar
in der Suppe. Das Staubkorn auf der Linse.« Noch weiß Sherlock nicht,
dass er unwissend Erfahrungen mit einer Droge gemacht hat, die er nicht
zu beherrschen vermag wie Odysseus den Gesang der Sirenen. Bis zu diesem
Augenblick im Wald hatte Sherlock geglaubt, er könne Art und Dosis der
Droge je nach gewünschtem Effekt ebenso kalkuliert zum Einsatz bringen7

Smith. Dieser offenbart ausgewählten Freunden, die unter dem Einfluss eines Medika-
ments stehen, das ihr Kurzzeitgedächtnis löscht, sein monströses Begehren. Gleichzeitig
parliert der Parade-Unhold über die Dialektik von Geständniswunsch und »freiwilliger
Unkenntnis«, von Wissensdurst und Latenzschutz-Bedarf (siehe Ellrich, 2012). »Unwis-
senheit ist ein Segen«, flüstert Smiths zwischen Fügsamkeit und Renitenz schwankende
Tochter und notiert im Verlauf der bizarren Séance unbemerkt mehrere Stichworte auf ei-
nem Zettel, der Sherlock später als wahre Fundgrube entzifferbarer Zeichen dienen wird.
6 Wäre John nicht bloß Patient einer Analytikerin, sondern darüber hinaus auch noch ein
Leser der Freud’schen Schriften, so hätte er Sherlock auf die »tiefere« Bedeutung seiner
Angst hinweisen können: »[W]enn Wunschregungen der Verdrängung unterliegen, [wird
nämlich] deren Libido in Angst verwandelt« (Freud, 1912–13a, 359).
7 In dieses Register der vermeintlichen Beherrschbarkeit von Drogen gehört auch das
»Junkie«-Theater, das Sherlock spielt, um Magnussen zu täuschen (S03E03). Die Ohrfei-
gen, die Molly Hooper ihm angesichts der Drogentest-Ergebnisse verpasst, muss Sher-
lock dann als unvermeidbare Elemente der gewählten Rolle akzeptieren.

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I.3. Lutz Ellrich & Lisa Wolfson: Sherlock

wie der souveräne »Opiumesser« Thomas DeQuincey, der 1822 seine


berühmten »Bekenntnisse« publizierte.8 Jetzt – unter dem Eindruck der
Angst-Erfahrung – ist Sherlock nur eines klar: »Cherchez le chien!« Was
das bedeuten könnte und was die wahre Quelle seiner Angst ist, wird er
erst viel später herausfinden. Dann weiß er, dass der klassische Ausspruch
»Cherchez la femme!« auch für ihn Gültigkeit besitzt. Denn die Frau, die
hinter allem steckt, ist seine Schwester Eurus.
Ein weiterer »Trip«, den Moffat und Gatiss ihrem Protagonisten zu-
muten, ist eine drogeninduzierte Reise in die Vergangenheit. Im rückbeor-
derten Flugzeug, das ihn an den Einsatzort eines Himmelfahrtskomman-
dos bringen sollte, träumt Sherlock sich – »high«, wie er ist – zurück in
das viktorianische London des Doyle’schen Kanons, wo er der legendären
»Braut des Grauens« begegnet. Mycroft hat ihn zuvor darüber in Kennt-
nis gesetzt, dass der totgeglaubte Moriarty wiederaufgetaucht ist. Um zu
begreifen, wie es zu diesem »Comeback« seines Widersachers kommen
konnte, begibt sich Sherlock in seinen »Gedankenpalast« (»mind
palace«); denn dort harrt ein ähnlicher Fall aus dem 19. Jahrhundert seiner
Aufklärung: Kurz nach ihrem öffentlich zelebrierten Selbstmord hatte eine
gewisse Emilia Ricoletti ihren widerwärtigen Ehemann in Gestalt eines
Geistes aufgesucht und ins Jenseits befördert.
Dass Sherlock sich selbst einredet, er könne Moriartys Auftauchen nur
erklären, wenn er das analoge Rätsel, das die Wiederkehr der toten Emilia
darstellt, gelöst habe, ist eine für die Zuschauer leicht durchschaubare Ra-
tionalisierung, also eine Verschleierung der unbewussten Motive für den
Besuch der untersten Gewölbe seines Gedankenpalastes. In Wahrheit geht
es um zwei (beim aktuellen Entwicklungsstand von Sherlocks Psyche) nur
im Traum- oder Rauschzustand mögliche Eingeständnisse: Während das
erste sich bereits in Worte fassen lässt, kann das zweite allein durch eine
symbolische Handlung vollzogen werden. Die erste Fantasie-Szene hat
die Vergegenwärtigung von (männlicher) Schuld zum Thema. Sherlock
erkennt die eigenen Taktlosigkeiten und Unverschämtheiten im Umgang
mit Frauen und reiht sich selbst bereitwillig in das Heer jener misogynen
Männer ein, die ihre Gattinnen schlecht behandelt haben. Als Sherlock
bei seinem Abstecher ins viktorianische England die herrschenden Ge-
schlechterverhältnisse durchleuchtet und die Ursache für die Rituale und

8 Dass Sherlock hier einer Täuschung unterliegt, zeigen verschiedene Szenen der Serie, in
denen er von Mycroft oder John aus dem Rausch »herausgeholt« werden muss.

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

Maskeraden der Suffragetten zu verstehen lernt, erteilt er John eine Lek-


tion:

»Sehen Sie sich um, Watson. Dieser Raum ist voll von Bräuten. […] Der
Rachegeist. Eine Legende, die das Herz jeden Mannes mit bösartigen Ab-
sichten mit Schrecken erfasst. Ein Gespenst, das diese ungestraften Rohlinge
heimsucht, bei denen die Abrechnung längst überfällig ist. Eine Liga von
Furien erwacht. Die Frauen, die ich, die wir belogen und betrogen haben, die
Frauen, die wir ignoriert und herabgewürdigt haben. Wenn die Idee einmal
da ist, ist sie unauslöschlich« (Sonderfolge; Die Braut des Grauens).

Die zweite Szene, die ohnehin zu den eindrücklichsten der ganzen Serie
gehört, thematisiert Sherlocks (noch nicht klar formulierbare und in
Handlungsanweisungen übersetzbare) Ahnung, dass er bei seinen (Nach-)
Forschungen auf dem Holzweg ist. Wie ein Besessener wühlt er im Grab
Emila Ricolettis. Tiefer und tiefer treibt er den Spaten in die Erde, aber das
Werkzeug biegt sich (im Wittgenstein’schen Sinne) nicht zurück. Sherlock
sucht die »Leiche in seinem Keller« am falschen Ort und hat noch keine
rechte Vorstellung von ihrer wahren Identität. Das Projekt, Emilias sterb-
liche Überreste zu exhumieren und jene Spuren und Zeichen zu finden, die
die entscheidenden Aufschlüsse liefern, scheitert dramatisch. Was bleibt, ist
die flehentliche Stimme der un-toten Toten, die die vergebliche Aktion be-
gleitet hat: »Vergiss mich nicht!« Aber genau das hat Sherlock getan, wie
man in der letzten Folge erfährt. Mycrofts Tricks der symbolischen Ver-
schiebung und Umlenkung lassen ihn nicht allein seinen einzigen Spielka-
meraden vergessen, sie bewirken auch, dass Sherlock seine Schwester Eurus
vollkommen vergisst und nicht zu erkennen vermag, dass Emilias inständige
Mahnung (genauso wie Moriartys sardonische Frage »Vermisst du mich?«)
kaum verschlüsselte Signale der Schwester sind, die zwei getrennten Welten
entstammen: dem eigenen Unterbewusstsein und der akuten Realität, in der
Eurus – raffiniert verkleidet und getarnt – immer wieder ihre Auftritte hat.9

9 Als Sherlock endlich hinreichend tief in seinen Erinnerungen »gräbt«, findet er dort
schreckliche Bilder, die zeigen, wie er als kleiner Junge unermüdlich die Erde zerwühlt,
um das verlorene Liebesobjekt (Freund/Hund) buchstäblich auszugraben. Zugleich stößt
er auf die Urszene, welche den Grund seines neurotischen Zwangs, unlösbar scheinende
Rätsel zu lösen, freilegt – nämlich jene von Eurus teuflisch klug konstruierter Aufgabe,
deren Bewältigung die Rettung des Freundes bedeuten würde.

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Gelungene und missglückte Trauerarbeit

Zu den zentralen Fragen, die in der BBC-Serie immer wieder be- und
verhandelt werden, gehören folgende: Wie lassen sich die schmerzlichen
Erfahrungen des Verlustes geliebter oder zumindest hochgeschätzter Mit-
menschen bewältigen, ohne dass die Hinterbliebenen zu seelischen Krüp-
peln werden? Unter welchen Bedingungen ist Trost möglich? Und wie
hoch ist der Preis, der für die Fähigkeit des Weiterlebens zu entrichten ist?
Im Laufe der Handlung spielen Moffat und Gatiss eine Reihe von Fällen
und Varianten durch, die auf der Folie von Freuds (1916–17g) Über-
legungen zum Verhältnis von »Trauer und Melancholie« interpretierbar
sind. Vermutlich haben sich die Autoren bei der szenischen Gestaltung dra-
matischer Verlusterfahrungen sogar von Einsichten oder Thesen Freunds
inspirieren lassen. Denn Freud gibt mit erstaunlicher Rigorosität darüber
Auskunft, wie und warum »Trauerarbeit« gelingen oder misslingen kann.
Zudem bestimmt er ohne Umschweife die Funktion eines seelischen Ge-
schehens, dessen Etikettierung als Arbeitsprozess auf den ersten Blick un-
angemessen zu sein scheint: »Die Trauer hat eine ganz bestimmte psychi-
sche Aufgabe zu erledigen, sie soll die Erinnerungen und Erwartungen der
Überlebenden an den Toten ablösen. Ist diese Arbeit geschehen, so läßt
der Schmerz nach, mit ihm die Reue und der Vorwurf und darum auch die
Angst vor den Dämonen« (Freud, 1912–13a, 356).
Johns Versuch, mit Sherlocks Selbstmord »zurechtzukommen« und
eben nicht »unterzugehen«, verdeutlicht die Schwierigkeiten, die das
Freud’sche Programm für eine normale und nicht-pathologische Trauer-
arbeit impliziert: »[D]ie Realitätsprüfung«, die John vornimmt, »hat
gezeigt, daß das geliebte Objekt nicht mehr besteht«. Sein Lebenstrieb
lässt daher an ihn »die Aufforderung« ergehen, »alle Libido aus ihrer
Verknüpfung mit diesem Objekt abzuziehen«. Gegen die nüchterne Be-
standsaufnahme und das aus ihr resultierende Gebot »erhebt sich ein be-
greifliches Sträuben« (Freud 1916–17g, 198f.), das bei Johns Besuch an
Sherlocks leerem Grab unzensiert zum Ausdruck kommt:10 »Eine Bitte
hätte ich noch: […] Ein Wunder! Seien Sie bitte nicht tot. Würden Sie
das für mich tun? Hören Sie einfach damit auf !« (S02E03). Welche Kraft

10 Zuvor hatte John seine Gefühlsambivalenz – »Ich bin wütend« – noch in Worte gefasst
und Mrs. Hudson dadurch veranlasst, sich an alle Schattenseiten von Sherlocks Charak-
ter zu erinnern, um so die Trauer, die sie am Grab ergreift, vehement abzuwehren.

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dieser Wunsch besitzt und in welch paradoxem Spannungsverhältnis er zur


Realität und deren Überprüfbarkeit steht, wird durch die Perspektive, aus
der die Szene gefilmt ist, ersichtlich. Die Zuschauer beobachten Sherlock,
der seinerseits beobachtet und hört, was sich abspielt. In einer späteren
Szene besucht Watson Hand in Hand mit Mary Morstan erneut das Grab.
Offenbar ist es ihm inzwischen gelungen, seine Libido (weitgehend) von
Sherlock abzuziehen und auf Mary zu verlagern. Freuds Feststellung, dass
»nach der Vollendung der Trauerarbeit das Ich wieder frei und ungehemmt
[wird]« (Freud, 1916–17g, 198f.), ist aufs Schönste ins Bild gesetzt.
Was dann folgt, führt jedoch Johns gelungene Trauerarbeit regelrecht ad
absurdum: zunächst eine surreale, schaurig-komische Folterszene in einem
osteuropäischen Land, sodann der clowneske Wiedereintritt Sherlocks in
das alte, vertraute Leben als Londoner Meisterdetektiv, der keine Scheu hat,
seinen einstigen Partner ohne Vorwarnung in der Öffentlichkeit eines Gast-
hauses zur Fortsetzung der früheren Zusammenarbeit zu bewegen. Dass
John ihn nicht überglücklich in die Arme schließt, sondern mit Schlägen
traktiert, ist (aus Sicht der Freud’schen Theorie) als Abwehr-Reaktion auf
eine jähe »Realitätsprüfung«, die eine erneute Umpolung der »Libido«
zu verlangen scheint, nur allzu »begreiflich«. Oberflächlich betrachtet
ließe sich Johns Wut durch die Kränkung erklären, die Sherlock ihm zu-
gefügt hat; denn er hat sowohl Molly Hooper als auch seine Hilfstruppen
unter den Junkies und Obdachlosen in den Suizid-Fake eingeweiht bezie-
hungsweise eingebunden, nicht aber ihn, seinen besten Freund. Untergrün-
dig löst Sherlocks Auferstehung von den Toten aber einen Konflikt um
diejenigen Libido-Anteile aus, die wirklich ins Gewicht fallen. Mary entwi-
ckelt sich jedoch nicht zur eifersüchtigen und unerbittlichen Streiterin um
Johns Gunst, sondern – im Gegenteil – zur belastbaren Gelenkstelle einer
libidinösen Dreiergemeinschaft, deren Zusammenhalt durch die Hochzeit
von John und Mary und sogar durch Marys Schuss auf Sherlock (S03E03)
nur noch gestärkt wird. Marys Schwangerschaft und die Geburt ihrer Toch-
ter erweitern die Gruppe um ein zusätzliches Mitglied und stabilisieren
den Bund. Dass diese – trotz aller Widrigkeiten – geradezu vorbildlich ge-
lungene Triangulierung keinen Bestand haben kann, liegt in der Logik am-
bitionierter narrativer Modelle, die ohne überraschende oder gar schock-
artige Wendungen und ohne pädagogische Zumutungen für das Publikum
nicht auskommen. Im Hinblick auf das Thema »Trauerarbeit« sehen die
Drehbuchautoren sich obendrein genötigt, neben zwei gelungenen Pro-
zessen der Verlustbewältigung auch prekäre und gescheiterte Formen der

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I.3. Lutz Ellrich & Lisa Wolfson: Sherlock

Trauerarbeit durchzuspielen. Als eine erste Vorübung zur Erfüllung dieser


ästhetischen Pflicht lässt sich eine Szene betrachten, die Sherlocks Umgang
mit dem Tod von Irene Adler zeigt. Die Zuschauer wissen, dass Irene ihren
Tod vorgetäuscht hat und können deshalb ihre ganze Konzentration auf
Sherlocks Reaktionen richten, an denen sich ablesen lassen wird, ob er das
tückische Spiel durchschaut oder nicht. Durch subtile gestische und mimi-
sche Darstellungsmittel macht Benedict Cumberbatch als Sherlock zweier-
lei deutlich: zum einen den ungemilderten Schmerz, den er angesichts der
Leiche Irene Adlers empfindet, zum anderen die unüberwindlichen inne-
ren Widerstände, sich einer »normalen Trauer« (im Sinne Freuds) auszu-
liefern und die mit dieser Form der Trauer verknüpfte seelische Arbeit zu
leisten. Die Ambivalenz, die hier sichtbar wird, ist ein klares Anzeichen für
einen bislang uneingestandenen Verlust, der sich aber – so viel ist sicher –
nicht lebenslang überblenden und verschweigen lässt.
Als zweites und weit gewichtigeres Beispiel für eine pathologische
Trauer setzen die Autoren Johns und Sherlocks Verhalten nach Marys
plötzlichem Tod in Szene. Während Sherlock in seine Drogenwelt abdrif-
tet, richtet John – wie der von Freud beschriebene Melancholiker – das
verlorene Liebesobjekt in sich selbst auf und imaginiert Marys Weiter-
leben. Zugleich ringt er mit den Kräften der Realitätsprüfung um einen
tragbaren Kompromiss: Er wechselt die Analytikerin, der er nichts von
Marys Präsenz zu erzählen wagt. Und die Kritik an seiner wenig aussichts-
reichen Strategie, Marys Tod zu verleugnen, legt er trickreich der völlig real
wirkenden Erscheinung in den Mund. So kann er ungehemmt mit einer
»lebenden Mary« kommunizieren, die ihn – um seiner selbst und ihrer
gemeinsamen Tochter willen – ständig ermahnt, nicht zu vergessen, dass
sie in Wahrheit tot ist: »Ich bin nicht hier und du weißt das!« – eine taug-
liche Lösung des Problems ist dieses Arrangement nicht.
Die dritte und wichtigste Auseinandersetzung mit gravierenden Verlust-
erfahrungen findet im Kontext der Rekonstruktion von Sherlocks trauma-
tischer Kindheit statt. Sherlock hat den verlorenen Freund aus Kindertagen
durch eine von Mycroft ständig aufgefrischte »Deckerinnerung« (Freud,
1916–17a, 205) in die Latenz gedrückt. An seine Stelle ist der Hund »Red-
beard«, den es in Wahrheit nie gegeben hat, getreten. Dessen fingierte
Existenz überlagert die des Freundes. Und der durch Mycroft narrativ oft
genug beschworene Verlust des Tieres macht schließlich den gewaltsamen
Tod des geliebten Freundes vollends unsichtbar. Der Name »Redbeard«
ist seinerseits das Produkt einer Verschiebung: Die beiden Jungen spielen

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

Piraten und stellen die Taten des berüchtigten Kapitäns Blackbeard nach,
von dem Charles Johnson (alias Daniel Defoe) in seiner legendären Ge-
neral History of the Robberies and Murders of the Most Notorious Pyrates
(1724) schreibt, »dass die Phantasie sich keine Vorstellung von einer Furie
aus der Hölle machen könnte, die furchterregender aussähe« ( Johnson,
1972, 85). Das Phantasma dieser Bestie aus der Hölle kehrt Jahre später als
eingebildeter Hund von Baskerville zurück, der nichts anderes ist als die
»mithilfe einer Droge […] künstlich hergestellt[e]« und »immer wieder
aktualisiert[e] […] Deckerinnerung« Henry Knights, die sich »über den
realen Mord an seinem Vater gelegt hat, den er als Kind beobachtet[e]«
( Jacke, 2017, 78).
Sherlocks Dauerarbeit an kriminalistischen Rätseln entpuppt sich in
Staffel vier der BBC-Serie als unvollendete und fehlgeleitete Trauerarbeit,
genauer als Arbeit an der Verdrängung eines frühen Traumas: Die hyper-
intelligente, ihre hochbegabten Brüder an Denkvermögen noch übertref-
fende und von den wilden Seeräuberspielen der Jungen ausgeschlossene
Eurus tötet – aus Eifer- oder Rachsucht – den ihr vorgezogenen Spielka-
meraden des kleinen Bruders.11 Aber nicht nur der Freund, sondern auch
die Schwester ist mithilfe einer Deckerinnerung aus Sherlocks Bewusstsein
gedrängt worden: Mycroft hat sie – unter Bezug auf den griechischen Ur-
sprung ihres Namens – durch die Metapher Ostwind ersetzt: »Es kommt
ein Wind aus dem Osten. Er kommt dich holen« (S03E03).
Durch ihre Tat und die damit verbundene, niemals abzutragende Schuld
ist die spätere Entwicklung des kleinen Mädchens vorgezeichnet. Sie wird
zur großen Drahtzieherin: Mycroft führt ihr Moriarty zu, den sie durch
ihre quasi-hypnotischen Kräfte zu ihrer Kreatur macht, während Moriarty
seinerseits Irene Adler manipuliert. Wie einst Dr. Mabuse (in den Filmen
von Fritz Lang) lenkt Eurus noch aus der Zelle (auf einer abgelegenen
Insel) Sherlocks Geschick.
Diese fast alle Zuschauer verblüffende, ja überrumpelnde und dennoch
ihre volle Zufriedenstellung bezweckende Schlusspointe der Serie ist von
einer tiefen Ironie durchzogen. Sie kombiniert nämlich das psychoanaly-

11 Die erinnerten Szenen liefern keine Anhaltspunkte dafür, dass Eurus und ihr inständi-
ger Wunsch, am Spiel teilzuhaben, wegen ihres Geschlechts ignoriert werden. Vielmehr
haben Sherlock und sein Freund eine derart enge Beziehung, dass kein Raum für eine
Dritte im Bunde bleibt. Eurus’ quälende Einsamkeit können die beiden Jungen weder
wahrnehmen noch verstehen.

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I.3. Lutz Ellrich & Lisa Wolfson: Sherlock

tische Trauma-Konzept mit einem Erklärungsmodell, das für Verschwö-


rungstheorien typisch ist: Alle wesentlichen Entwicklungen und Ereig-
nisse werden erstens auf eine unerträgliche Urszene sowie zweitens auf die
Machinationen eines bis zum letzten Moment, in dem die Entlarvung ge-
schieht, gänzlich unerkannten Akteurs zurückgeführt.
Moffat und Gatiss bieten den Fans der Serie mithin eine Konstruktion
an, die sie intellektuell und emotional extrem herausfordert. Ist die hier
offerierte Mixtur aus Kausalanalyse und Offenbarung überzeugend? Hält
sie einer rationalen Analyse stand? Und erfüllt sie wirklich die geheimen
Wünsche des Publikums? Wirkt sie nach wiederholter Betrachtung nicht
wie eine im Mediendrogenrausch halluzinierte Pseudo-Erklärung? Oder
ist es nichts weiter als ein souveränes Spiel des Autorenduos, das einen Test
durchführt, um herauszufinden, was die Zuschauer bevorzugen: offene
Fragen oder handfeste Problemlösungen?

Das Begehren des Publikums

Über das Faszinationspotenzial, das Sherlock Holmes und insbesondere


die von Cumberbatch verkörperte Person besitzt, wurde viel geforscht und
publiziert. Eine Reihe von Antworten auf die Frage, warum Doyles Figur
– trotz der abstoßenden und unsympathischen Seiten, die sie aufweist –
derart beliebt ist, zielen auf die besondere individuelle Leistung ab, die
Holmes erbringt. Er deckt nämlich auf beispielhafte und unverwechselbare
Weise einen Bedarf, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts rasant und stetig
angestiegen ist:

»Im Dschungel der Großstadt, im Dickicht der Zeichen, im Gewimmel der


Phänomene [vermag er] eine Ordnung der Dinge auszumachen, und diese
als rationale […] Deutung zu legitimieren. Wie unübersichtlich und ver-
meintlich undurchschaubar das Gewirr der Moderne auch sein mag, Sher-
lock Holmes reduziert es auf das Wesentliche« (Stiegler, 2014, 49).

Wenn das Publikum tatsächlich nach einer solchen ordnungsstiftenden Re-


duktion verlangt und glaubt, dass ein einzelnes hochbegabtes und mutiges
Individuum dazu eher im Stande ist als die seit der Aufklärung entstan-
denen gesellschaftlichen Institutionen, so trifft Katherin Lanes Kommen-
tar zum großen Erfolg der BBC-Serie wohl einen entscheidenden Punkt:

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

»We’re still looking for a hero and Holmes – fallible, confusing, arrogant,
condescending, Bohemian – is that hero« (Lane, 2015, 224).12
Zeigt also die enthusiastische, im Hinblick auf den Plot einzelner
Folgen mitunter auch kritische Rezeption der BBC-Serie, dass wir die zwi-
schen 1990 und 2010 vielfach ausgerufene post-heroische Epoche hinter
uns haben und nach zeitgemäßen Helden Ausschau halten? Welche Art
des Heroismus repräsentieren diese neuen, in den gegenwärtigen Krisen so
gefragten Gestalten? Sind es charismatische Führer, die das Publikum von
mühsamen Reflexionsprozessen entlasten und ihm letztlich alle schwie-
rigen Beschlüsse abnehmen? Oder sind es vielmehr couragierte Einzelne,
die in entscheidenden Situationen persönliche Risiken auf sich nehmen
und ihre Mitmenschen dazu animieren, ebenso zu handeln? Während
charismatische Führer auf eine passive Menge angewiesen sind, die ihnen
huldigt und bedenkenlos Gefolgschaft leistet, »eröffnen [couragierte Ein-
zelne] einen Raum, den andere betreten können, die nicht nur zahlende
Zuschauer oder ferne Zeugen sind« (Thomä, 2019, 28) und sein wollen.
Wie aber passt nun der BBC-Sherlock, der zum aktuellen »Update«
von Doyles kanonischer Figur erklärt worden ist, in dieses Bild? Welchem
der beiden gegensätzlichen Idealtypen des Heldentums lässt er sich zuord-
nen? Oder bildet er eine eigene komplexe Kategorie? Veranschaulicht er
Ambivalenzen, Kippbewegungen, Entwicklungsmöglichkeiten? Spielt er
nicht eher den Anti-Helden, der jede heroisch anmutende Aktion durch
die asozialen oder psychopathologischen Kosten, die mit ihr verbunden
sind, unterminiert? Zu Sherlocks heldisch-antiheldischen Zügen gehört
auch die Art, wie er seine intellektuelle Überlegenheit rücksichtslos de-
monstriert, dümmere Mitmenschen verspottet, insbesondere Angehörige
der Polizei oder sonstiger Institutionen, die ihre Funktion für so wichtig
halten, dass sie die eigenen Kompetenzen leicht überschätzen. Wäre hier
nicht Nachsicht die angebrachte Haltung?
In Hinblick auf das ihm von den Fans zugesprochene Heldentum übt

12 »Readers love […] the two central characters. Audiences idolize them, live through
them, believe in them, and recreate them. They need such heroes who can solve any
problem or resolve any mystery, no matter how difficult or impossible it seems. […] We
want them to be real […] because the ideals they represent provide us with something
to look up to and that makes us feel safe« (La Paz, 2012, 81). Über die Motive für diese
Form der Aufwertung und Adoration gibt Freuds Theorie der Idealisierung (1914c, 37ff.;
1921c, 105ff.) Auskunft.

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I.3. Lutz Ellrich & Lisa Wolfson: Sherlock

Sherlock allerdings Bescheidenheit. Das bestätigt auch Watson ohne jede


hintergründige Ironie: »Sie haben mir mal gesagt, Sie seien kein Held«
(S02E03). Wenn Sherlock damit ausdrücken will, dass er Prioritäten setzt,
die sich nicht nach allgemein gültigen moralischen Kriterien richten, so
hat er zweifellos recht. Die Befriedigung der eigenen intellektuellen Be-
dürfnisse ist ihm wichtiger als das Gedeihen der Gemeinschaft. Er will
möglichst rasch und elegant ein Rätsel lösen, an dem alle anderen Experten
scheitern, und nicht unbedingt Gutes tun, zum Beispiel Menschen retten
oder vor Schäden bewahren.13 Für »richtige« Helden, das scheint Sher-
lock genau zu wissen, sind ihre Taten kein Privatvergnügen. »Sie widmen
sich einer Sache, die größer ist als sie selbst, und stellen diese Sache über
ihr eigenes Wohl« (Thomä, 2019, 27). In günstigen, vielleicht sogar vielen
Fällen mag sich das private Interesse des Detektivs an brillanten Deduktio-
nen und Aufklärungserfolgen mit den Interessen anderer Menschen oder
der ganzen Gemeinschaft in Übereinstimmung befinden. Dagegen hat
Sherlock nichts einzuwenden. Ein Zeichen für heldenhaftes Absehen von
der eigenen Person ist diese Koinzidenz nicht.
Dass es sich bei Sherlock um einen »hochfunktionalen Soziopathen«
handelt, lässt sich kaum übersehen. Und er selbst räumt dies – anfänglich
nicht ohne eine gewisse Koketterie – bei passenden Gelegenheiten auch
immer wieder ein. Als John, der gerade in den Dienst des Detektivs ge-
treten ist, im Zuge der ersten Ermittlung, die sie gemeinsam durchführen,
den Leiter der Mordkommission fragt, warum er – trotz der bedenklichen
charakterlichen Eigenschaften Sherlocks – mit diesem zusammenarbeitet,
erläutert Inspektor Lestrade, der nicht gerade der Schlaueste ist, bereitwil-
lig die Gründe für sein Verhalten und verkündet zugleich das pädagogische
Programm der ganzen BBC-Serie: »Sherlock ist ein großer Mann […],
und ich denke, eines Tages – wenn wir Glück haben – könnte er ein guter
Mensch werden« (S01E01). Folge auf Folge liefern die Drehbuchschreiber
dann Indizien, die belegen sollen, dass Sherlock im Grunde weder ohne
Gefühle noch ohne moralische Prinzipien handelt: Immer deutlicher tritt
sein Wunsch, Menschen zu retten, in Erscheinung. Er entschuldigt sich
bei Molly für seine abfälligen und verletzenden Bemerkungen. Er opfert
sich – wenn auch nur zum Schein – für die drei Menschen, die ihm am

13 Dass sich Sherlock oft wie eine moralisch indifferente Maschine verhält, ist unverkennbar
und wird ihm auch von John energisch vorgehalten. Zu den unterschiedlichen Konnota-
tionen der Maschinen-Metapher in Sherlock und im Kanon siehe Wolfson (2018, 41f.).

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Teil I: Sex, Murder and Crime. Über Krimis und Thriller

nächsten stehen ( John, Mrs. Hudson, Lestrade). Er erschießt den Verbre-


cher Magnussen aus lauteren Motiven und ist bereit, die Konsequenzen
für diesen selbstlosen Akt der Selbstjustiz zu tragen. Und er hält für John
und Mary eine bewegende Hochzeitsrede, in der er glaubhaft seine innigen
freundschaftlichen Gefühle für beide offenbart und zudem eine verblüf-
fend offene Kritik an den eigenen Charakterfehlern und Schwächen übt.
Dass John bei diesem Umerziehungsprozess entscheidende Verdienste zu-
kommen, ist offensichtlich.
Die Untersuchung der Wünsche und Vorlieben des Publikums im
Kontext der Sherlock-Rezeption hat nicht nur ein mehrheitlich starkes
Interesse an einer transparenten sozialen Ordnung ergeben, zu deren Her-
stellung »echte« Helden (die immer auch gute Menschen sein sollen) un-
verzichtbare Beiträge leisten. Ein Sherlock, der sich in Dr. Watsons Obhut
befindet, liefert in diesem Punkt eine ideale Projektionsfläche. Aber nicht
in allen Belangen kommt die Serie den Wünschen des Publikums entgegen.
Das wohl größte Geheimnis, das sie streng hütet, betrifft Sherlocks sexuelle
Orientierung. Ob er homo- oder hetero-, bi- oder pansexuell ist, bleibt
unklar. Und diese Ungewissheit hat die Gemüter der Fans – wie einschlä-
gige Diskussionen in den Internet-Foren zeigen – heftig bewegt.
Nun liegt der pädagogische Wert der Serie gerade darin, die besagte
Frage nicht zu beantworten und den Zuschauern stattdessen verschie-
dene Wege des Umgangs mit dem sogenannten Geheimnis (»the biggest
secret«, wie Lane es nennt) zu eröffnen und sie indirekt dazu aufzufor-
dern, über den sinnvollsten und gangbarsten Weg nachzudenken: Erstens
können die Zuschauer selbst zu Detektiven werden, nach lesbaren Spuren
suchen beziehungsweise Indizien für diesen oder jenen Tatbestand sam-
meln und dann ihre eigenen Schlüsse ziehen. Zweitens können sie von den
Drehbuchschreibern, die ja angetreten sind, um aus Holmes eine gänzlich
moderne Figur – »a fully modern figure« (Lane, 2015, 225) – zu machen,
in Blogs und Mails fordern, dass sie endlich eine plausible Story erfinden,
in deren Verlauf die sexuelle Identität des Helden geklärt wird. Drittens
können sie sich mit der Einsicht zufriedengeben, dass Sherlock asexuell ist,
oder die Serie als Plädoyer betrachten, Asexualität als eine sexuelle Orien-
tierung wie jede andere auch zu akzeptieren (Cumberbatch berichtete, dass
ihn Passanten auf der Straße ansprachen und sich dafür bedankten, dass er
bei den Serienkonsumenten ein Bewusstsein für die Existenz der Asexuali-
tät geweckt habe). Viertens können die Zuschauer die Serie als eine Übung
betrachten, die sie dazu veranlassen soll, die Unbeantwortbarkeit der Frage

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I.3. Lutz Ellrich & Lisa Wolfson: Sherlock

nach Sherlocks sexueller Orientierung gelassen hinzunehmen und diese


Form der Akzeptanz als Anzeichen dafür zu betrachten, dass sie eine Reife-
prüfung in Sachen Medienkompetenz abgelegt haben.
Es sollte jedoch nicht übersehen werden, dass die angeregten Debatten
über die »gay or straight«-Differenz (siehe Lane, 2015, 227) im Kontext
der Sherlock-Rezeption nur einen – wenn auch erheblichen – Teil des Dis-
kurses über den spätmodernen »gender-trouble« ausmacht. Äußerst um-
stritten ist nämlich die Bewertung des Geschlechterbildes, das Sherlock
insgesamt präsentiert. Einerseits wird die Serie dafür gelobt, dass sie die
hetero-normative Sexualität untergräbt. Andererseits wirft man ihr vor,
die herrschenden Stereotypen zu bestätigen oder in manchen Punkten
(z.B. bei der Darstellung der Irene Adler) sogar noch hinter das bereits von
Doyle erreichte Reflexionsniveau zu fallen (siehe Katzir, 2015).
Hört man sich bei denjenigen um, die den periodischen TV-Auftritt
von Sherlock und John vermissen, so entwerfen die Antizipationen künfti-
ger Plots in der möglichen Staffel fünf die Utopie einer neuen Triangulie-
rung aus den beiden männlichen »Helden« und Molly, die sich gemein-
sam um Johns Tochter kümmern und alle innerfamiliären Schwierigkeiten
mit Bravour meistern. Ferner wird über die Art der kriminalistischen Her-
ausforderungen spekuliert, die Sherlock beschäftigen und gegen regressive
Drogenexzesse immunisieren könnten. Hier imaginiert man nicht mehr
natürliche Bösewichter oder von Eurus ferngesteuerte Unholde, sondern
eine künstliche Superintelligenz, die alle Datenströme kontrolliert, das in-
ternationale Finanzkapital im Würgegriff hält und Sherlock gelegentlich zu
Sexspielen mit Robotern verleitet, deren heilsam abstoßende Wirkung den
Detektiv schließlich in die offenen Arme von Molly Hooper treibt. Aller-
dings fragen sich die Fans dann auch, ob ein empathiefähiger Holmes, der
seine eigenen Probleme vollständig gelöst hat, überhaupt noch im Stande
wäre, schwere Verbrechen aufzuklären und so den moralischen Pegelstand
der Gesellschaft zu erhöhen.

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I.3. Lutz Ellrich & Lisa Wolfson: Sherlock

Biografische Notiz
Lutz Ellrich, Prof. i. R. für Medienwissenschaft an der Universität Köln. Studium der Philo-
sophie, Soziologie und Theaterwissenschaft. Forschungsschwerpunkte: soziale Folgen der
Informationstechnik, experimentelles und politisches Theater, mediale Repräsentationen
des Holocaust, Konfliktanalyse. Aktuelle Projekte: »Facetten der Gewalt«, »Misstrauen in
Bürokratien und Netzwerken«. Publikationen u.a.: Vorführen und Verführen. Orientie-
rungsangebote in alten und neuen Medien, Bielefeld 2011.
lutz.ellrich@uni-koeln.de

Lisa Wolfson, Postdoc-Stipendiatin der Fritz Thyssen Stiftung am Institut für Theaterwis-
senschaft der Ruhr-Universität Bochum. Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissen-
schaft, Ethnologie, Pädagogik und Psychologie an der Universität zu Köln; Promotion
mit einer interdisziplinären Arbeit über Puppen und künstliche Menschen in Kultur und
Medien. Veröffentlichungen u.a.: Das Mysterium der Puppe. Semantik und Funktion eines
Zwischenwesens, Berlin 2018.
info@lisawolfson.de

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Teil II
Lach mal wieder!
Über Comedy, Sitcom und Satire

Comedyserien, Satiresendungen und Sitcoms können höchst unterschied-


liche Sujets behandeln, die ansonsten auch als Thema von Dramen oder
anderen Genres dienen können. Es sind Witz und Humor, derer sich die
Komödie bedient, um Handlungen und Ereignisse, die unter anderen Um-
ständen vielleicht unlustvolle Affekte provozieren würden, zu einer lust-
vollen Angelegenheit zu machen, indem sie Erleichterung, Freude und
Frohsinn verbreiten. Der Witz erlaubt eine Lockerung von Verdrängungen
und eine Überlistung des Überichs, sodass wir über Dinge lachen können,
die uns ansonsten eher Angst bereiten würden (Freud, 1905c). Das zeigt
sich vielleicht auch an der Doppelbödigkeit, die im Adjektiv »komisch«
steckt; einerseits bezeichnet es sonderbare und seltsame Merkmale, die
den eigenen Erwartungen zuwiderlaufen, andererseits sonderbare und selt-
same Attribute, die belustigend wirken und zum Lachen reizen. Zudem
erfüllt der Witz auch eine soziale Funktion, er baut Statusdifferenzen ab
und stärkt ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Insofern erfüllen Humor und
Witze, wie sie uns im Kabarett oder auch in komödiantischen Filmen und
Fernsehserien begegnen, eine gewichtige soziokulturelle Funktion, indem
sie uns helfen, an der Tragik des Lebens nicht zu verzweifeln. Kein Wunder
also, dass Humor immer wieder auch als einer der reifsten Abwehrmecha-
nismen gehandelt wird (Mentzos, 2014).

Gianluca Crepaldi analysiert im ersten Beitrag dieses Buchteils die Fernseh-


serie The Office. Diese porträtiert in semidokumentarischem Stil auf humor-

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

volle Art den skurrilen Alltag in einem Büro. Obgleich die Personen und
Ereignisse einerseits überzeichnet sind, haben sie andererseits doch einen
gewissen Wiedererkennungswert und werfen dadurch auch ein humoristi-
sches Licht auf das reale Verhältnis von Subjekt, Arbeit und Gesellschaft.

Rainer Spieler befasst sich in seinem Beitrag mit The Simpsons, der mit
ihren bald 700 Episoden mittlerweile am längsten laufenden US-Zeichen-
trickserie. Die Analyse einiger der dargestellten Fantasien und Tagträume
von Homer, Marge, Lisa und Bart Simpson lassen sich durchaus als Aus-
druck von deren »Persönlichkeit« auslegen und darüber hinaus als über-
zeichnete Darstellung unterschiedlicher Selbstanteile der Zuseher lesen.

Otto Teischel widmet sich der Fernsehserie Ally McBeal, die sich um die Ar-
beitswelt dreht, vor allem aber auch um die Absurdität und Schwierigkeit
der Anbahnung und Aufrechterhaltung von Liebesbeziehungen. Im Zen-
trum stehen die unerfüllten und vielleicht auch unerfüllbaren Sehnsüchte
der Protagonisten nach einem erfüllenden Beziehungsleben.

Achim Würker geht in dem von ihm verfassten Kapitel auf King of Queens ein
und fragt dabei, was das Publikum an einem dicklichen Paketdienstfahrer fas-
zinierend findet. Der Hauptdarsteller verkörpert vielfach regressiv-verdrängte
Anteile oraler Natur, die einen merklichen Kontrast zu anderorts vorherr-
schenden gesellschaftlichen Vorstellungen männlicher Virilität bilden.

Barbara Neudecker beleuchtet die Gilmore Girls, eine populäre und erfolg-
reiche Fernsehserie, deren Narrativ von einem quirligen Mutter-Tochter-
Gespann bestimmt wird. Wie die Detailanalyse der exaltierten Fassade der
Hauptrolle und der weichgezeichneten Kulisse der Kleinstadt Stars Hollow
zeigen, gelingt es dem warmen Schein der Hysterie nur schwerlich, die im
Hintergrund schwelenden Konflikte zu überstrahlen.

Gerald Poscheschnik

Bibliographie

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Mentzos, S. (2014). Lehrbuch der Psychodynamik. Die Funktion der Dysfunktionalität psy-
chischer Störungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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II.1. The Office
Psychoanalytische Interpretationen
zum Verhältnis von Subjekt und Arbeit

Gianluca Crepaldi

»They say on your deathbed, you never wish you spent


more time at the office. But I will.« (S07E22)
Michael Scott, Regional Manager
of Dunder Mifflin Paper Company, Inc.
Scranton, Pennsylvania

Die US-amerikanische Comedyserie The Office (2005–2013) ist eine Adap-


tion der gleichnamigen, jedoch wesentlich kürzeren Produktion der BBC
am Beginn der Nullerjahre, deren Konzept vom britischen Komiker Ricky
Gervais und seinem Co-Autor Stephen Merchant kreiert und in der Folge
zigmal kopiert wurde. In Frankreich, Chile, Israel, Schweden und weiteren
Ländern produzierten Studios eigene, an die jeweilige lokale Arbeitskultur
angepasste Versionen des »Büros«, wobei die deutsche Serie Stromberg zu
den bekanntesten Ausläufern dieses Trends zählt. Laut einer Statistik der
Medienanalysefirma Jumpshot war das amerikanische The Office im Jahr
2018, also 5 Jahre nach Einstellung der Produktion, die auf der weltweit
marktführenden Streaming-Plattform Netflix am häufigsten gesehene TV-
Serie. Knapp 7,2 Prozent des gesamten Streaming-Aufkommens entfielen
auf den subversiven Büroklamauk, und das ist angesichts des riesigen Ange-
bots auf Netflix eine beeindruckende Größenordnung (vgl. Recode, 2019).
Schauspieler und Produzenten der Serie werden seit Produktionsende
2013 von Fans und Journalisten fanatisch um eine Neuauflage angebettelt.
Verschiedene Darsteller des Office geben in Interviews an, derart auf ihre
Rollen reduziert worden zu sein, dass sie noch heute bei verschiedensten
privaten Gelegenheiten mit dem Namen ihrer Charaktere angesprochen
würden. Wie kann man sich diese frenetische Begeisterung erklären?
Die vom Drehbuchautor Greg Daniels eigens für das amerikanische
Fernsehen entwickelte Version von The Office ist einer jener seltenen Fälle,
bei dem die Imitation noch besser als das Original geraten ist, ganz so, als
ob sich erst in Daniels’ Neuinterpretation der durchaus anarchistische

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

Grundgedanke des ursprünglichen Scripts, nämlich die Zersetzung eines


ernsthaften Subjekts der Arbeit, zu voller Blüte entfalten konnte.1 Nir-
gendwo sonst wurde die Idee so kreativ und in qualitativer wie quantita-
tiver Hinsicht langfristig erfolgreich umgesetzt wie in den USA2, die als
ideologischer Prototyp des westlich-kapitalistischen Systems offenbar am
besten dafür geeignet sind, den Sinn und Unsinn postmoderner, postfor-
distischer working environments und darin subjektivierter Individuen zu
persiflieren.
Anders als der Traum ist der Witz nach Sigmund Freud (1905c) zwar
nicht Königsweg, aber als eine hochwertige Sublimationsleistung zumin-
dest ein interessanter Seitenpfad, um Unbewusstes zu erschließen, zumal
gerade der Witz in besonderer Weise dazu befähigt, die intrapsychische
Zensur zu umgehen. In diesem Sinne will vorliegender Beitrag mit psy-
choanalytischen Mitteln unbewusste Fantasien und verborgene Sinnge-
halte der kulturellen Objektivation Comedyserie als einer zeitgenössischen
Erscheinungsform des Witzes rekonstruieren, um darin kulturkritische
Thesen über den Zusammenhang von Subjekt und Arbeit zu diskutieren.

Setting, Charaktere und typische Handlungsmuster


von The Office

Was Setting und ästhetische Form anbelangt, ist The Office ein Genremix
aus klassischer Sitcom (Situationskomik) und sogenannter Mockumen-
tary, eine sich über sachlichen Dokumentarstil mokierende Parodie einer
Dokumentation. Ein Kamerateam begleitet über neun Staffeln die Beleg-
schaft des regionalen Büros der fiktiven Dunder Mifflin Paper Company,

1 An dieser Stelle darf nicht unerwähnt bleiben, dass das Autorenduo Gervais und Mer-
chant den US-Ableger teilweise mitproduziert hat.
2 Ein paar Zahlen: Neun Staffeln, 201 Episoden, über acht Jahre Produktionsdauer mit an-
haltend hohen Einschaltquoten (zwischen fünf und zehn Millionen Zuschauer pro NBC-
Erstausstrahlung allein in den USA), 42 Nominierungen für die Prime Time Emmy Awards,
fünf gewonnene Emmys, unzählige andere Fernsehpreise, euphorische Reviews von re-
nommierten Kritikern und Eintragungen in diverse Besten-Listen wie zum Beispiel die
Liste des Time Magazine der 100 besten TV-Serien aller Zeiten dürften als Beleg für Erfolg
und Reichweite der Serie dienen (vgl. hierzu http://time.com/collection/all-time-100-tv
-shows/ sowie den englischsprachigen Eintrag zu The Office auf https://en.wikipedia.
org, Stand: 15.03.2019).

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II.1. Gianluca Crepaldi: The Office

Inc. in Scranton (Pennsylvania), deren altbackenes und einigermaßen un-


solides Geschäftsmodell im Telefonverkauf von Druckerpapier an andere
Firmen in der Umgebung besteht – eine sterbende Branche im zunehmend
papierlosen Digitalzeitalter. So wird bereits im Piloten (S01E01) das mög-
liche downsizing des Unternehmens mit Sitz in New York thematisiert
und strukturiert als Motiv der Bedrohung von Arbeitsplatzverlust das ge-
samte Narrativ der Serie. Im Zentrum des Geschehens steht die unreife,
angestrengt komische und aufmerksamkeitssüchtige Persönlichkeit des Re-
gionalmanagers Michael Scott (bravourös verkörpert von US-Schauspie-
ler Steve Carell), der aufgrund seines unerträglichen Geltungsdranges und
seiner Selbstbezogenheit zunächst gar keine privaten Beziehungen einge-
hen kann und all seine Energien darauf verwendet, beliebtester Chef, clow-
nesker Entertainer und bester Freund seiner Angestellten zu werden, die
ihrerseits jedoch von der völligen Abwesenheit jedweder Führungskom-
petenz entnervt sind, täglich durch dessen Schabernack zermürbt werden
oder durch seine sinnlosen Pseudoaktivitäten, wie die berüchtigten Mee-
tings im conference room, permanent von der Arbeit abgehalten werden.
So ist es kaum verwunderlich, dass eine neue Mitarbeiterin am Ende ihres
ersten Arbeitstages eine Kollegin fragen muss: »When do people work?«
Und die langjährig im Office beschäftigte Phyllis antwortet: »Oh, we find
little times during the day« (S03E08).
Wichtigste Triebfeder des Michael Scott ist der Wunsch, zu jeder Zeit
von allen Mitarbeitern geliebt und bewundert zu werden, und er bringt
das narzisstische Element dieses Bedürfnisses unverhüllt zum Ausdruck:
»Would I rather be feared or loved? Um, easy. Both. I want people to be
afraid of how much they love me« (S02E06). Ökonomischen Werten wie
Effizienz scheint die Figur völlig indifferent gegenüberzustehen, obwohl
der Mutterkonzern immer wieder mit der Schließung seines regionalen
Büros in Scranton droht. Es fehlt Michael sowohl an betriebswirtschaft-
licher Intelligenz als auch an anderen Fähigkeiten, die nötig wären, um sich
mit Integrität auf die Erfüllung der primären Arbeitsaufgaben, nämlich
Mitarbeiterführung und Gewinnmaximierung, konzentrieren zu können,
was er manchmal selbst zu erahnen scheint: »I knew exactly what to do,
but in a much more real sense, I had no idea what to do« (S05E14). Das
Büro ist für ihn nichts als ein kindlicher Spielplatz für Blödeleien und
höchst unsachliche, pseudofamiliale und quasi-inzestuöse Verwicklungen;
jeden Hinweis auf den Ernst der Lage oder auf wichtige Entscheidungen,
die er zeitnah zu treffen hätte, verleugnet er mit aberwitziger Konsequenz,

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

die ihn immer wieder zu Äußerungen am Rand des Absurden führt: »No,
I’m not going to tell them about the downsizing. If a patient has cancer,
you don’t tell them« (S01E01). In seiner Überzeichnung steht der infantil-
narzisstische Charakter des Michael Scott prototypisch für das Paradigma
der Anerkennung bar jeder Rücksicht auf »harte« ökonomische Realitäten
und Kämpfe um materielle Existenzsicherung, die aber den verdrängten
realen Hintergrund (bzw. Untergrund!) des lustig-belanglosen Büroalltags
bilden.3 In Form des im Stockwerk unter dem Office befindlichen Lager-
hauses und seiner (finanziell schlechtergestellten) Mitarbeiter wird diese
verdrängte Ebene des realen Klassenkampfes thematisiert. In einer Episode
mit dem Titel Boys and Girls versucht Michael mit den Männern, die diese
»echte« Arbeit leisten, eine Art male bonding zu initiieren, weil er sich
durch die sich im Office solidarisierenden Frauen in seiner Männlichkeit
bedroht sieht; bei einem seiner zahllosen, die Arbeit unterbrechenden, an-
nouncements verkündet Michael:

»I know we all love our cushy jobs and our fun, exciting office. But do you
realize that underneath us, there is another world? The warehouse world. A
world that is teeming with sweat and dirt […]. These guys down there. They
are real men doing real men’s work« (S02E15).

Bei seinen Besuchen im Lagerhaus muss er jedoch mehrfach schmerzlich


feststellen, dass hier eine eigene vom Büro abgespaltene Welt mit eigenen
Gesetzen existiert, in der er als Anzugträger trotz seiner formalen Chef-

3 Die einseitige Hinwendung kultur- und sozialwissenschaftlichen Denkens und Forschens


zu Kategorien der Identität, Intersubjektivität und Anerkennung (vgl. exemplarisch: Hon-
neth, 2010) wird zunehmend kritisch diskutiert, da eine Marginalisierung beziehungs-
weise Verleugnung des, wie es in marxistischen Begriffen heißt, »Hauptwiderspruchs«,
nämlich jenem zwischen Kapital und Arbeit beziehungsweise zwischen Produktions-
verhältnissen und Produktivkräften, zu Gunsten von identitätspolitischen Nebenwider-
sprüchen und damit eine Entpolitisierung der Ökonomie insgesamt befürchtet wird (vgl.
hierzu etwa Eichler, 2013 oder Pfaller, 2018). Für Žižek (2001) ist »entpolitisierte Ökonomie
das verleugnete ›Fundamentalphantasma‹ der postmodernen Politik« (S. 492, Hervorheb.
i. O.). Dazu passt auch die »politisch philosophische Kontroverse« um die Frage: »Umver-
teilung oder Anerkennung?« zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth (2003) beziehungs-
weise das letzte Buch des amerikanischen Politikwissenschaftlers Mark Lilla (2017) mit
seiner umfassenden Kritik am identitätspolitischen Linksliberalismus, der Mitverantwor-
tung am Wahlsieg Donald Trumps trage.

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II.1. Gianluca Crepaldi: The Office

rolle keine Autorität mehr beanspruchen kann und in der er nicht im Min-
desten respektiert wird. Der Büroalltag, der vom lächerlichen Zeitvertreib
bestimmt ist, und das Lagerhaus, in dem die »echte Arbeit« von »echten
Männern« verrichtet wird, erscheinen als völlig inkompatible Welten.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien kurz weitere Figuren des
Office skizziert: Toby Flenderson, ein blasser und aggressionsgehemmter
Mittvierziger, der für Human Resources zuständig ist, übernimmt regel-
mäßig die Rolle des externalisierten Über-Ich für das kindische Verhalten
des Chefs, er bildet gewissermaßen den Antipoden zu Michael Scott, einen
langweiligen, desillusionierten Erwachsenen, der mit seinen lahmen Ver-
suchen, die Regeln einzumahnen, um für die in der amerikanischen Kon-
zernkultur so bedeutende appropriateness in der Bürokommunikation zu
sorgen, grandios scheitert. Der stets um die Gunst des Chefs buhlende
salesman Dwight K. Schrute repräsentiert den Typus des strammen, auto-
ritätsgläubigen Republikaners, für den Sozialleistungen wie die Kranken-
versicherung nichts als »cuddling« (S01E03) sind, eine unnötige Ver-
hätschelung von verweichlichten Mitarbeitern. In seiner überbordenden
Dienstbeflissenheit, seinem militärisch polternden Kadavergehorsam ge-
paart mit Humorlosigkeit ist er das ideale Opfer für die Späße, die sein
Tischnachbar, der smarte Jim Halpert, über Jahre mit ihm treibt. Dwights
Weltverständnis besteht – nicht zuletzt aufgrund seines Heranwachsens
im bildungsfernen Milieu der Farm – aus einer Reihe von sexistischen, ras-
sistischen und schwulenfeindlichen Vorurteilen sowie einer hohen Emp-
fänglichkeit für Verschwörungstheorien aus der Welt der Science-Fiction.
Vor diesem Hintergrund gelingt es dem mittelständischen und gebildeten
Demokraten Jim bei einem seiner zahlreichen Streiche, den reaktionären
Kollegen davon zu überzeugen, dass tatsächlich ein elektronisches Gerät
existiert, das »gaydar« genannt wird, ein handlicher Radar-Apparat, mit
dem homosexuelle Mitarbeiter identifiziert werden könnten (S03E01). Jim
Halperts Streiche sind ein weiterer Marker für die dauernde Regression des
Systems Büro ins präpubertäre Schulalter. Er selbst scheint hin- und herge-
rissen, zwischen ambitionierter Arbeitsleistung, spitzbübischer Vergnügt-
heit und depressivem Zynismus: »Well, if this were my career, I’d have to
throw myself in front of a train« (S01E03).
Liebschaften und Sexualität am Arbeitsplatz sind ein weiterer zentra-
ler Aspekt der Serie, die in der ersten Staffel vorerst als latent schwelende
Themen eingeführt werden, so etwa die heimliche Leidenschaft Jims für
die unscheinbare Sekretärin Pam Beesly, die jedoch bereits mit einem pro-

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

letenhaften Lagerarbeiter der Firma verlobt ist, der sie schlecht behandelt.
Bereits in den ersten Folgen wird absehbar, dass Jim ihr wahrer Märchen-
prinz sein muss und beide letztlich füreinander bestimmt sind; eine große
Liebe wird über mehrere Staffeln und Jahre angebahnt und wird zu einem
die Serie strukturierenden Leitmotiv.4 Ausgehend von Jim und Pams Lieb-
schaft entwickelt sich eine Reihe von anderen, in der amerikanischen Ar-
beitskultur quasi als unstatthaft zu qualifizierenden amourösen Paarungen
zwischen verschiedenen Angestellten und Vorgesetzten, die vielfach für die
absurd-hysterische Dynamik im Office verantwortlich sind.
Auch in den anderen Büroangestellten scheinen ganz gezielt US-ame-
rikanische Klischees verarbeitet zu werden: Die evangelikale Fundamen-
talistin und strenge Moralwächterin Angela Martin, der stark übergewich-
tige und nichtsnutzige Kevin Malone, der karrieregeile Praktikant und
arrogante Business-School-Student Ryan Howard und seine Verehrerin,
die oberflächliche Klatsch-und-Tratsch-Spalten-Leserin Kelly Kapoor, der
selbstbewusst-hypermaskulin auftretende schwarze Vorarbeiter des Lagers,
Darryl Philbin, und der schwule Buchhalter Oscar Martinez, der nicht nur
ständig auf seine Homosexualität reduziert wird, sondern als »Latino«
(seine Eltern stammen aus Mexiko) häufig Opfer eines in den USA durch-
aus verbreiteten (und mit der Regierung Trump neu belebten) anti-mexi-
kanischen Rassismus wird, der sich als »wohlwollender« jovialer Witz
geriert – sie alle stehen exemplarisch für Bruchlinien innerhalb der ame-
rikanischen Gegenwartsgesellschaft, die in zahlreichen Filmen, Romanen
und TV-Serien thematisiert werden.
Zwei weitere Charaktere sind trotz ihrer eher randständigeren Position
in der Serie für unseren Kontext hervorzuheben. Stanley Hudson ist ein
Urgestein der Firma und steht wenige Jahre vor seiner Pensionierung. Mit
behäbigster Beamtenmentalität verweigert er sich fast allem, was an ihn
herangetragen wird, und bewegt sich (symbolisch und real) keinen Mil-
limeter weiter, als unbedingt nötig. Den ganzen Arbeitstag lang sitzt er
an seinem Schreibtisch und macht ganz offensichtlich nichts anderes, als

4 Eine psychoanalytische Deutungslinie dieser Liebschaft, die ich hier jedoch nicht weiter-
folgen werde, könnte in etwa so lauten: Pam und Jim bilden ein »kreatives Paar« im Sinne
von Bions Pairing in Gruppen, ein Paar, auf dem die Hoffnungen der Gruppe ruhen, ein
Paar, das gewissermaßen die Manifestation eines unbewussten Wunsches der Gruppe
nach einer guten Zukunft ist, ein Paar, das für die Gruppe Nachkommen zeugen soll, je
mehr die Gruppe sich vom Zerfall bedroht sieht (vgl. Bion, 2001; Crepaldi, 2018).

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II.1. Gianluca Crepaldi: The Office

Kreuzworträtsel zu lösen. Er scheint ganz und gar desinteressiert an seinen


Kollegen sowie an sämtlichen Vorgängen im Office. Auch in den sinnent-
leerten Ad-hoc-Meetings, die Chef Michael ständig einberuft, blickt er
nicht von seinem Kreuzworträtselheft auf. Wenn er direkt angesprochen
wird oder eine dienstliche Anweisung erhält, hat er keinerlei Skrupel, direkt
und unverblümt die – oft zweifelhaften – Arbeitsaufträge zurückzuweisen.
Sein bevorzugter Sprechakt ist die Verneinung. Einer seiner mit strengem
und zugleich artikuliertem Tonfall gesprochenen Lieblingssätze lautet:
»I do not (care).« Mir scheint in der Figur des Stanley eine Hommage
an eine literarische Figur Herman Melvilles vorzuliegen, den mysteriösen
Kanzleischreiber Bartleby, der mit seinem bekannt gewordenen Stehsatz
Symbol eines unnachgiebigen, aber gewaltfreien Widerstands gegen den
ubiquitären Befehl zu arbeiten geworden ist: »I would prefer not to«
(Melville, 1985, S. 19). In Melvilles Erzählung aus dem Jahr 1853 ist Bart-
lebys Chef, der Anwalt der Kanzlei, selbst überrascht davon, wie sehr ihn
diese milde aber firm vorgetragene Phrase entwaffnet, wie wenig er als Ar-
beitgeber dieser, höflich als Präferenz formulierten, Arbeitsverweigerung
entgegenzusetzen hat und wie er zunehmend davon Abstand nimmt, mit
Appellen an die Vernunft auf seinen widerständigen Angestellten einzuwir-
ken. Ebenso zerschellen Michael Scotts Weisungen an Stanleys Mauer der
gleichgültigen Verweigerung.
Die unberechenbare, delinquente und zum Teil völlig von der Realität
abgeschnittene Figur des Creed Bratton steht für das abgespaltene, des-
organisierte, antisoziale, quasi psychotische Element der Gruppe. Er be-
stiehlt Firma und Kollegen, betreibt illegale Nebengeschäfte, hat verstö-
rende Perversionen und scheint zu keiner Zeit an einer sozialen Realität
der Gruppe teilzuhaben, sondern sich in einer irgendwie verrückten und
zügellosen Parallelwelt zu bewegen. Auf die Frage eines Kollegen, wo sa-
lesman Dwight heute sei, zeigt sich Creed spontan überzeugt, dieser wäre
enthauptet worden (S03E14).
Ein häufig wiederkehrendes Strickmuster der etwa 20-minütigen Epi-
soden besteht, wie oben angedeutet, in der systematischen Ablenkung
der Mitarbeiter von ihren primären Arbeitsaufgaben, meist durch belang-
lose oder dem Arbeitskontext unangemessene Anlässe oder Pseudoereig-
nisse. Da gibt es zum einen die Planung und Durchführung von zahllosen
Motto-Partys zu unterschiedlichen Anlässen (Halloween, Geburtstage,
Einstandsfeiern, Weihnachten, Thanksgiving, Party zum Start der neuen
Firmenwebseite, Abschiedsfeiern, Baby-Feiern, Rückkehrfeiern etc.),

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für deren Planung eigens ein Komitee eingerichtet wird (das sogenannte
PPC – Party Planing Committee); in anderen Episoden geht es um die
Ausrichtung von Firmenevents mit fragwürdigem Inhalt (Bootsausflug,
Casino-Night, Basketballmatch der Belegschaft, Verleihung von Firmen-
awards, Charity-Event für die Opfer der Tollwut, Firmenwettbewerb zur
Reduktion von Übergewicht, »Take Your Daughter to Work Day« und
viele weitere). Auch im Klatsch und Tratsch am Getränkeautomaten oder
in den scheinbar maßlos verlängerten Mittagspausen inszeniert sich die
völlige Gleichgültigkeit gegenüber der zu erbringenden Arbeitsleistung.
Das emotionale Engagement für den sogenannten »Pretzel-Day«, ein Tag,
an dem es gratis Brezeln für Mitarbeiter gibt, übersteigt jede Arbeitsbemü-
hung um ein Vielfaches.
Ein weiteres sich wiederholendes Szenario sind die bereits erwähnten ab-
surden und stets wirkungslos bleibenden Belehrungen im Konferenzraum,
zum Beispiel über politische Korrektheit in Bezug auf Fragen von Gender,
Ethnie und Sexualität oder Referate von Entertainer-Chef Michael Scott,
die thematisch in aller Regel seine Privatangelegenheiten betreffen und aus-
schließlich dafür da sind, seine Sucht nach Aufmerksamkeit zu befriedigen.
Egal was der spezifische Inhalt der jeweiligen Episode sein mag, die Regel
scheint zu lauten: Das Nebensächlichste hat – trotz sinkender Umsätze des
Unternehmens – stets im Vordergrund zu stehen, Arbeitsaufgaben werden
permanent unterbrochen und die Komik der Serie entfaltet ihre Wirkung
rund um die verschiedenen Verarbeitungsmodi beziehungsweise rund um
die Haltungen, welche die einzelnen Arbeitssubjekte in Bezug auf ihre per-
manente Sabotage und damit Ent-Subjektivierung5 einnehmen.

Das »Bürounbewusste« bewusst machen:


Zur Interpretation latenter Sinngehalte

Um es gleich vorwegzunehmen: Ich denke, dass der zentrale unbewusste


Gedanke der Serie in der durchaus anarchistischen Fantasie des Außer-
kraftsetzens jenes Selbst- und Weltverständnisses besteht, das im postfor-
distischen Kapitalismus vielleicht mehr denn je durch die Arbeit dominiert
wird und das Arbeit als wichtigsten Weltbezug des Menschen (durch-)
setzen möchte. Das gilt es im Folgenden argumentativ herauszustellen.

5 Im Sinne von: Entunterwerfung (Foucault, 1992, S. 15).

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Zunächst erlaubt das eigenwillige Format der Mockumentary die Er-


öffnung eines psychoanalytischen Raumes neben dem eigentlichen Hand-
lungsverlauf: Die Figuren sind angehalten, das aktuelle Geschehen einer
Episode in freier Assoziation vor einer Kamera zu kommentieren, die sich
ihrerseits jedes Kommentars enthält. Verkäufer Andy Bernard bringt die
Analogie zum psychoanalytischen Setting sogar explizit zur Sprache, wenn
er an einer Stelle sagt: »I wish this was a sofa, ’cause I feel like I could sit
here and talk for hours« (S05E24). Im unkontrollierten Gebrabbel der
Einzelnen – eine weitere Form der Nichtarbeit – werden relativ unzen-
siert innere Konflikte, Begierden, Abwehrformen und Selbstmissverständ-
nisse unmittelbar evident, bleiben jedoch un-gedeutet stehen. Die Fragen,
welche die Einzelnen beschäftigen, drehen sich fast ausschließlich um die
oft verzerrte Repräsentation ihres Selbst: Wie sehe ich mich? Wie sehe ich
die anderen und wie sehen die anderen mich? Wie kann ich das Interesse
eines Kollegen auf mich ziehen? Was sind meine höchst persönlichen Vor-
lieben? Wovon würde ich mich gern emanzipieren? Die Kamera dokumen-
tiert Personen, denen es vordergründig um ihre Selbstbehauptung als neu-
rotische Individuen zu gehen scheint, die sich in den allermeisten Fällen
der absoluten Sinnlosigkeit ihrer Tätigkeit, des Papierverkaufs, bewusst
sind und so gut wie nie mit Corporate, dem »großen Anderen«, sprich
dem Arbeitgeber und dessen Gewinninteressen, identifiziert scheinen.6
Dieser Umstand ist bemerkenswert, wenn man jene Befunde der Arbeitsso-
ziologie berücksichtigt, die seit über zwei Jahrzehnten die Subjektivierung
der Arbeit im Postfordismus diagnostizieren: Arbeit wäre ganz zur Sache
des eigenverantwortlichen Individuums gemacht worden, das sich als in-
dividualisierter »Arbeitskraftunternehmer« (Voß, 1998) oder als »unter-
nehmerisches Selbst« (Bröckling, 2007) begreift. Dadurch sei ein großer
Druck entstanden, sich mit der an sich von (ökonomischen) Fremdinteres-
sen bestimmten Erwerbsarbeit zu identifizieren, sie ganz zur eigenen Iden-
tität zugehörig zu denken und auszubrennen, sobald Arbeitsbemühungen
scheitern. Das heteronome »Du sollst/musst« des disziplinaren industri-
ellen Zeitalters würde in der postmodernen Leistungsgesellschaft durch das

6 Selbst der Typus des »Strebers«, verkörpert in der Figur des Dwight, offenbart ein heim-
liches Desinteresse an der primären Arbeitsaufgabe des Verkaufs, wenn es um seine
wahren Leidenschaften geht: Die Beliebtheit bei Autoritäten, seine Nebentätigkeit als
Farmer, sein Hobby als freiwilliger Hilfs-Sheriff der Gemeinde Scranton und seine sexuelle
Begierde für die Buchhalterin Angela.

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Modalverb »können« und einen paradoxen »Zwang zur Freiheit« und


individualisierter Verantwortung ersetzt: »Die Selbstausbeutung ist viel
effizienter als die Fremdausbeutung, weil sie mit dem Gefühl der Freiheit
einhergeht« (Han, 2013, S. 15). Der schlichte »Job-Aspekt« der Arbeit
würde zunehmend vernachlässigt, woraus sich ein bisweilen gesundheits-
gefährdender Mangel an vernünftiger subjektiver Gleichgültigkeit in der
objektiven Gleichgültigkeit kapitalistisch organisierter Arbeitsmärkte
ergibt (vgl. Ottomeyer, 2000, S. 39). Diese Ideologie, so eine gängig ge-
wordene Diagnose der Kulturkritik, mündet im erschöpften Selbst (Ehren-
berg, 2008), einem Subjekttypus, der massenhaft dem Burn-out oder der
Depression zuneigen würde.
In The Office fehlt sowohl vom Burn-Out als auch der vielzitierten
Selbstausbeutung jede Spur, das Scheitern der ohnehin kaum vorhandenen
Bemühungen der Angestellten ist die Regel, der Erfolg die Ausnahme oder
eine Zufallserscheinung, allenfalls ein Nebenprodukt irgendeiner Blöde-
lei. Arbeit wird zur bloßen Kulisse für Inszenierungen eines rein privaten
Selbst degradiert, das um Anerkennung kämpft und seine im engeren Sinne
libidinösen Interessen zu befriedigen trachtet. Die Vertreterin des Mutter-
konzerns in New York und Michaels Vorgesetzte, Jan Levinson, fordert in
einer Belehrung über die Rolle der Frau am Arbeitsplatz Mitarbeiterinnen
zwar direkt dazu auf, weniger an private Themen oder erotische Verwick-
lungen, sondern mehr an ihre Karrieren zu denken; sie selbst wird jedoch
wenig später eine intime Beziehung mit ihrem direkten Untergebenen Mi-
chael Scott eingehen und dadurch einen Konflikt mit dem Konzern her-
aufbeschwören, dessen CEO sogar einmal die Auffassung vertritt, »dass
selbst ein Witz über sexuelle Beziehungen am Arbeitsplatz hochgradig un-
angebracht sei«, ganz zu schweigen von tatsächlichen Affären (S02E16).
In The Office wird nicht nur ganz offen die Besessenheit des liberalen
Amerika mit übertriebener political correctness thematisiert, letztlich wird
das rigide Sexualdispositiv der (amerikanischen) Konzernkultur sogar mit
parodistischen Mitteln gestürzt.7 Die überbordend oft stattfindenden Be-

7 In einem Interview zeigt sich Michael-Scott-Darsteller Carell sehr skeptisch, ob unter


gegenwärtigen Bedingungen (Stichwort #metoo-Debatte) eine so bitterböse Parodie
der political correctness überhaupt erfolgreich sein könnte. Er äußert eine vorsichtig for-
mulierte Vermutung, worin der Grund dafür liegen könnte: Viele Menschen seien heute
offenbar schnell beleidigt (»offended«), und es scheint die – auch aus Sicht der Psycho-
analyse – für den Humor unabdingbare Fähigkeit der Distanzierung abhanden zu kom-

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II.1. Gianluca Crepaldi: The Office

lehrungen und strengen Regularien zum Thema Sexualität am Arbeits-


platz8 bleiben nicht nur völlig wirkungslos, vielmehr machen gerade diese
das moderne Büro zu jener züchtigen Arena, »die auf beispiellose Weise
sexuelles Verlangen erregt« (de Botton, 2014, S. 279), und daher müsse
es uns, wie Alain de Botton festhält, nicht verwundern, »wie die heutige
Internetpornographie sich in Übermaße mit Büroangestellten befasst, die
sich vor einem Hintergrund mit Schreibtisch und Computern Fellatio und
Sodomie hingeben« (ebd., S. 280).
Als der essayistische Feldforscher Alain de Botton im Rahmen seiner
kleinen Ethnografie moderner Arbeitsumwelten das Office eines großen
Wirtschaftsprüfungsunternehmens besucht, stellt er ebenfalls fest, dass in
der Unternehmenskultur sehr viel Aufwand betrieben wird, um gegen se-
xuelle Aktivität am Arbeitsplatz vorzugehen. Die entwickelten Codices und
zum Teil streng formulierten firmeninternen Paragraphen wollen den Ein-
druck erwecken, dass es um die Wahrung der Rechte Unschuldiger geht und
um den Schutz vor feindseligen, sexistischen und entwürdigenden Kontak-
ten zwischen Mitarbeitern, mit anderen Worten um eine Form von huma-
nitärem Fortschritt. Die proaktiven Schutzmaßnahmen scheinen jedoch
auch eine Verschränkung mit ökonomischen Interessen nicht verhehlen zu
können. So »könnte es einen zynischeren und nicht gar so uneigennützigen
Aspekt dieses schonungslosen Paragraphen geben, der in Wahrheit nicht ein
bestimmtes, anstößiger Aufmerksamkeit ausgesetztes Individuum, sondern
vor allem den Konzern selbst schützt« (ebd., S. 279). Erotische Gefühle, die
zwischen Mitarbeitern entstehen, seien »brandgefährlich, weil sie drohen,
das gesamte, rationale Grundprinzip des Unternehmens ins Wanken zu
bringen. Sie könnten eine unangenehme Wahrheit zutage fördern, nämlich
jene, dass wir Sex viel interessanter als Arbeit finden« (ebd.). Nicht wenige
amerikanische Konzerne (wie zum Beispiel der in die Schlagzeilen geratene
US-Händler Walmart) behalten sich das Recht vor, Mitarbeiter zu kündi-
gen oder zu verklagen, die sexuelle Beziehungen untereinander eingehen,
beziehungsweise verbieten solche schon per Dienstvertrag.

men, nämlich fiktive Charaktere und ihre Aussagen nicht nur wörtlich oder eindeutig
zu verstehen: »There’s a very high awareness of offensive things today – which is good,
for sure. But at the same time, when you take a character like that too literally, it doesn’t
really work« (Vanity Fair, 2018).
8 In The Office wird unter anderem das sogenannte PDA-Verbot (Public Display of Affection)
thematisiert, das Verbot, Zärtlichkeit im Arbeitsumfeld zu zeigen.

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

In der TV-Serie The Office entstehen trotz ähnlich moralisierender und


regulierender Eingriffe von Seiten der Konzernleitung – gerne auch direkt
im Büro ausgelebte – sexuelle Intimitäten am laufenden Band, die Ange-
stellten scheinen sich geradezu gegenseitig damit anzustecken. Der Manager
Michael Scott, resistent gegen jede Form der Aufklärung in Fragen zeitge-
mäßer Sexualmoral und politischer Korrektheit, bringt diese unbewusste
Fantasie unverblümt zum Ausdruck: »To run an office, you need men and
women. You know why? Because you need to have that crazy sexual tension
to keep things interesting« (S02E15). In der allerletzten Folge fasst Michael
die in der Serie gelungene und von ihm mitinitiierte Außerkraftsetzung des
ödipal-autoritären Konzerngesetzes und seines ihm eigenen Inzestverbots
zusammen und kommentiert die zahlreichen Paarungen des Office mit erns-
ter Miene und unfreiwillig-anstößiger Komik: »I feel like all my kids grew
up and then they married each other. It’s every parent’s dream« (S09E25).
Der letztendliche Sieg der polymorph-perversen Triebnatur über die Leiden
und Mühen der Arbeit scheint errungen worden zu sein.
Hierin und in anderen Fragen offenbart sich zunehmend eine unge-
ahnte Tiefe des zunächst hauptsächlich als kindisch-apolitischer Idiot ge-
zeichneten Hauptcharakters der Serie, denn letztlich ist es Michael, der die
unnachgiebige Revolte wider den Arbeitszwang ein- und anführt. Mit der
Ideologietheorie Louis Althussers (2010) ausgedrückt, ließe sich sagen,
dass die Figur des Michael Scott seine Untergebenen so gut wie nie als Sub-
jekte der Arbeit anruft, obwohl genau das von ihm als Repräsentant des
Konzernes (dem »großen anderen Subjekt«) und seiner Ideologie erwar-
tet wird. Vielmehr ist seine Haltung dazu angetan, die Anrufung des Indi-
viduums als eines Subjekts der Arbeit rückgängig zu machen, etwa indem er
Dogmen der modernen Arbeitswelt, zum Beispiel den Leistungsgedanken,
in ihr Gegenteil verkehrt, wie in diesem ganz ernstgemeinten Ausspruch:
»I just don’t want my employees thinking that their jobs depend on perfor-
mance. I mean, what sort of place is that to call home?« (S05E03). Als bei
einer Präsentation in der New Yorker Zentrale alle Regionalmanager auf-
gefordert werden, ihre aktuellen Zahlen und Gewinndiagramme auf den
Tisch zu legen, zeigt Michael stattdessen ein selbstgebasteltes Video, das
auf herzergreifende Art seine Angestellten portraitiert und den program-
matischen Satz enthält: »We’re not just in the paper business, we’re in the
people business« (S02E16). Er ist unfähig Leute zu feuern, und selbst der
kompetente Jim, der so oft von seinem nutzlosen Chef genervt ist, gesteht
zu, dass genau darin das Charisma des Michael Scott liege. In seinem völlig

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II.1. Gianluca Crepaldi: The Office

verkitschten Weltbild soll die Arbeit vor allem ein Ort des Familiären, der
Freundschaft und der Lebensfreude sein: »An office is a place to live life
to the fullest, to the max; an office is a place where dreams come true«
(S05E14).
Und gelebt wird nach Michael Scott am intensivsten, wenn geblödelt
werden kann. Mithilfe seiner Blödeleien stößt er eine De-Subjektivierung
der Arbeitssubjekte an und trägt damit indirekt zu einer Humanisierung
der ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse bei. Ausgerechnet der »ernste«
Theodor W. Adorno (1969) hat in einer Reflexion des Verhältnisses von
Arbeit und Freizeit gerade im »Blödeln« die Möglichkeit eines an sich
sinnvollen, spontanen menschlichen Tuns erblickt, »das selig als Dispens
von den Selbstkontrollen« (S. 62) der Arbeit genossen werden könne.
Nun ist gerade der aus dem Kirchenrecht stammende Begriff »Dispens«
hier auffällig und Adorno nicht bekannt dafür, dass er in seinen Formu-
lierungen irgendetwas dem Zufall überlässt. Eine Dispens [sic!] ist laut
Kirchenrecht der römisch-katholischen Kirche die in begründeten Ein-
zelfällen gewährte Befreiung von einer kirchenrechtlichen Vorschrift, die
Arbeit in Adornos Kommentar damit als weltliches Analogon der Kirche
ausgewiesen. Die komplexen Beziehungen und strukturellen Ähnlichkei-
ten zwischen Kapitalismus und Religion sind länger schon Gegenstand
theoretischer Debatten. So hat etwa Max Weber den Kapitalismus »als
riesige nicht-intendierte Nebenfolge der inneren Dynamik der christlichen
Religion« (Eichler, 2013, S. 119) verstanden. Damit verbunden kommt es
mit dem Protestantismus zu einer nie dagewesenen Aufwertung der Arbeit,
einer quasireligiösen Aufladung der Pflichterfüllung im weltlichen Beruf
als höchster Inhalt sittlicher Selbstbestätigung. Die Annäherung an Gott
ist nicht mehr kontemplativ zu erreichen, sondern die Arbeit ist nun »die
zentrale, nicht weiter durch die Geistlichkeit vermittelte Verbindung zwi-
schen Mensch und Gott« (ebd., S. 149). Damit verbunden sei eine eigen-
artige Gleichwertigkeit, oder besser Gleichgültigkeit, gegenüber den ver-
schiedenen Arten von Arbeit:

»Die Arbeit hat weder Ausrichtung auf und Zweck in bearbeiteter Natur
noch bildet sich der Mensch an den Dingen. Die Arbeit als Selbstzweck
dient nur dem sündigen Leib als Zucht und Antrieb. Demnach ist es auch
völlig sekundär, was wer wie zu welchem Zweck bearbeitet. […] Alle Berufe
gelten Luther vor Gott gleich viel, es ist auf der kurzen Pilgerfahrt des
Lebens sinnlos, auf die Art des Berufs Gewicht zu legen« (ebd., S. 149f.).

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

Die protestantische Ethik setzt die Arbeit im negativsten Sinne des Wortes
als Selbstzweck an. Die Frage nach dem Nutzen der Arbeit weicht damit
einer rigiden Selbstverständlichkeit und einer hohlen Selbstreferenzialität.
Mit Moderne und Postmoderne wird die Bedeutung der Mensch-Gott-
Beziehung zwar marginalisiert, das entsprechende Arbeitsethos überlebt
jedoch auch ohne Gott, entzieht der Arbeit aber womöglich ihre letzte
verbliebene Sinnstiftung als Garant für eine beruhigte Beziehung des Men-
schen zur Transzendenz. Zurück bleibt nur noch ein selbstbezügliches
Kreisen des Menschen um an sich zwecklose Betätigungen, die ihn von
seiner Endlichkeit ablenken sollen. Bei Hamacher (2002, S. 157f.) wird
diese düstere Diagnose fortgesetzt und Arbeit explizit als nihilistisch be-
ziehungsweise »endogen faschistisch« qualifiziert, weil sie nichts als sich
selbst und ihr »Volk« reproduziert und ausschließlich »als Form des
Gegen-Todes, als organisierte Abwehr der Endlichkeit und als phantasma-
tische Institution der Unsterblichkeit« gebraucht wird.

Psychoanalytische und gesellschaftliche Aspekte


der Rezeption von The Office

Eine Erklärung für die nachhaltige Begeisterung und massenhafte Nach-


frage für The Office liegt in der Funktion der Fernsehserie als künstlerische
»Artikulation gesellschaftlich-unbewusster Phantasien« (Poscheschnik,
2016); der einzelne Zuschauer findet – gerade bei jenen TV-Serien, die
große Publikumserfolge sind – mit hoher Wahrscheinlichkeit Bilder, Inter-
aktionen und Komplexe, die ihn vor dem Hintergrund eines bestimmten
soziokulturellen Kontextes selbst betreffen und deshalb eine starke identi-
fikatorische Resonanz erzeugen, deren unbewusster Hintergrund jedoch in
aller Regel verborgen bleibt. Interessant in diesem Zusammenhang könnte
auch eine bereits in die Jahre gekommene, psychoanalytisch inspirierte
Humorstudie sein, der zufolge »gut angepasste Personen den Humor mehr
schätzen« als andere (O’Conell, 1960, zit. n. Frings, 2008, S. 304) und der
anarchistische Humor von The Office gerade im puritanischen Amerika und
seiner Arbeitsideologie ein gutes Ventil für jene unzähligen Arbeitnehmer
des tertiären Sektors darstellt, denen alltäglich sehr hohe (moralische) An-
passungsleistungen abverlangt werden. Mit anderen Worten: Ich halte es für
sehr gut möglich, dass durch die Serie die prinzipiell jedem Individuum in-
newohnende – aber am eigenen Selbst womöglich tabuisierte – Lust an der

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II.1. Gianluca Crepaldi: The Office

»Leistungszurückhaltung« angesprochen beziehungsweise angeregt wird


(vgl. dazu auch Ottomeyer, 2000, S. 45). So weit zu gehen und der Serie
eine emanzipatorische Wirkung zuzuschreiben, die, im Sinne einer Subjekt-
bildung, das Verhältnis von Individuen zur Arbeit teilweise neu zu konfi-
gurieren vermag, wäre überzogen oder nur in Ausnahmefällen anzudenken.
Was die Serie neben der zentralen Frage des Arbeitssubjekts aufgreift, ist
die Frage nach dem Objekt der Arbeit beziehungsweise seinem Verlust. Das
zu verkaufende Produkt der fiktiven Firma Dunder Mifflin ist das Papier, das
als Material an sich zunächst völlig uninteressant wirkt, aber bei genauerer
Betrachtung eine große sozialhistorische Bedeutung trägt. Der französische
Realist Honoré de Balzac hat in seinem großen Roman Verlorene Illusionen
von 1843 gezeigt, welche riesige ökonomische und politische Bedeutung der
Frage der Papierherstellung noch im 19. Jahrhundert zukam und welches
Ränkespiel mit Macht, Korruption und Intrige sich um die wechselseitig
abhängigen Sektoren Buchhandel, Verlagswesen und Journalismus ergab,
die allesamt auf erschwingliches Papier angewiesen waren und ungeduldig
der Erfindung eines Papierrezepts harrten, das eine vergleichsweise einfache
Massenproduktion ermöglichte. Zugleich formuliert Balzac den Verfall der
Redlichkeit des politischen Diskurses am Beispiel des nach der französischen
Revolution aufblühenden polemischen Journalismus in Frankreich, wobei
gerade dem Papier hier die Rolle des entscheidenden Mediums zukam, das
die »unablässige Bekundung individuellen Denkens« (Balzac, 2017, S. 604)
überhaupt erst für jedermann zugänglich machte. Jeder konnte nun schreiben
und jeder konnte seine gekaufte Meinung in den bestechlichen Zeitungen
aller politischen Couleurs verbreiten. Diese Pseudodemokratisierung der
politischen Debatte und des Denkens, so insinuiert Balzac, führe direkt ins
Unheil. Über 150 Jahre später, im Zeitalter von Digitalisierung und New
Economy, ist das Papier nicht mehr als ein der absoluten Sinnlosigkeit näher
rückendes Wegwerfprodukt einer technisierten Überflussgesellschaft.
Deranty (2009) fasst psychodynamische Zugänge zum bis heute fortbe-
stehenden sozialwissenschaftlichen Problem einer befriedigenden Definition
des Arbeitsbegriffs zusammen und formuliert Arbeit als unauflösbar trian-
guläre Struktur zwischen dem Ich, den Anderen und dem Realen (»Ego –
Others – Real«). Das Modell ist gegen rein intersubjektivistisch ausgerich-
tete oder kulturalistisch verkürzte Ansätze gerichtet, die dazu neigen, das ob-
jektive, materielle oder reale Moment der Arbeit auszublenden. Würde man
Arbeit nur als Relation zwischen Subjekt und Subjekten begreifen, führte
das zu einer Überbetonung von Anerkennungskategorien und, so möchte

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

ich ergänzen, einer Überbetonung individualistischer Realitätsentwürfe


und narzisstischer Konkurrenzkämpfe. Das Objekt der Arbeit, die Sache,
mit der sich das Arbeitssubjekt zu beschäftigen hätte beziehungsweise das
Material, das dem Subjekt die Entwicklung von Strategien und Prozeduren
abverlangt, um im weitesten Sinne technisch-sachbezogene Hindernisse zu
überwinden und einen Mehrwert zu produzieren, ist zugleich Ort einer De-
personalisation. Diese ist nach Deranty (2009, S. 73ff.) immer ambivalent,
denn einerseits ist hierin das impliziert, was im Marxismus als Entfremdung
gebrandmarkt wurde, andererseits ist genau hier auch der Ort der mögli-
chen Befreiung des Subjekts, das seine existenziellen Sorgen abstreift und
sich in Selbstvergessenheit einer Sache hingeben kann, die jenseits von
gender, race und class – zumindest potenziell – auch rein sachlich gewürdigt
werden kann. An dieser Stelle sei gewissermaßen eine »objektive Anerken-
nung« durch das Objekt der Arbeit möglich, da nur der Sachaspekt von
Arbeit von individuellen Unterschieden abzusehen vermag. Zugleich ist das
»Sachliche« freilich nie ohne eine individuelle oder subjektive Aneignung
durch eine ganz bestimmte Person zu bearbeiten.
Volmerg (1988, S. 74) kritisiert, dass der »Familialismus« der klassi-
schen Psychoanalyse eine Erkenntnisbarriere für eine psychoanalytische
Sozialpsychologie der Arbeit darstellt, insofern die Eingliederung des
Menschen in Systeme der Arbeit […] nur unter dem besonderen Blick-
winkel der Aktualisierung kindlicher Konflikte und Triebschicksale in Er-
scheinung [tritt]«. Dadurch würde die »sozialisatorische Bedeutung der
Arbeit in der individuellen Entwicklung« (ebd., S. 82) zu wenig berück-
sichtigt. Das Reale der Arbeit wird im Sinne von Deranty (2009, S. 75)
aber auch zu einem möglichen Ort der Bildung, da es das Subjekt mit der
eigenwilligen Logik des Objekts und seinen Sachzwängen konfrontiert und
dadurch Veränderungen im Subjekt anstößt, die als Sozialisations- bezie-
hungsweise Bildungsprozess reflektiert werden können. Dieser Bildungs-
prozess am Objekt der Arbeit und seinen qualitativen Momenten wäre
unter Umständen auch als Gegenentwurf zur unterwerfenden Anrufung
der Arbeitssubjekte zu lesen. In The Office wird hingegen komödiantisch
durchgespielt, was uns blüht, wenn das Reale der Arbeit kollabiert. Den
Kollaps des Realen beziehungsweise den Umstand einer problematischen
Verschiebung vom Realen zum Intersubjektiven scheint der in seiner Idio-
tie abermals hellsichtige Michael Scott in einem seiner legendären und un-
absichtlich komischen Aussprüche auszudrücken: »What is more import-
ant than quality? Equality!« (S02E15).

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II.1. Gianluca Crepaldi: The Office

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Biografische Notiz
Gianluca Crepaldi, Mag. Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für
Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung und Psychoanalytiker in
freier Praxis. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der psychoanalytischen
Konzeptforschung, der Objektbeziehungstheorien (insbesondere die Werke W. R. Bions)
und der psychoanalytischen Subjekt- und Kulturtheorie.
gianluca.crepaldi@uibk.ac.at

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II.2. Die Simpsons
Fantasie und Traum in einer TV-Serie

Rainer Spieler

Einleitung

Die gesellschaftskritische Cartoon-Serie Die Simpsons, die 2019 ihr bereits


30-jähriges Bestehen feierte, thematisiert zahlreiche Bereiche der populä-
ren Kultur. Neben kritischer Auseinandersetzung mit Themenkomplexen
wie Erziehung, Religion, Konsum, Kapitalismus, Politik oder Medien, um
nur einige zu nennen, finden sich vor allem in den ersten Staffeln auch
zahlreiche Anspielungen auf Konzepte, Praktiken oder Methoden der
Psychoanalyse und Psychiatrie. Hier kommt der Zuseher immer wieder
in den Genuss der »Expertenmeinung« des fiktiven Psychotherapeuten
Dr. Marvin Monroe. Auch die Hauptcharaktere der Familie Simpson
haben wiederholt Begegnungen mit Psychiatern, Therapeuten, Schulpsy-
chologen oder Selbsthilfe-Gurus. Klischees und Verallgemeinerungen der
Populärpsychologie werden regelmäßig aufgezeigt und aufs Korn genom-
men. Die Wissenschaft der Psychologie ist fixer Bestandteil des Simpson-
Universums und zieht sich durch die gesamte Serie.
Der Kern der Simpson-Familie besteht aus den Eltern Homer und
Marge sowie ihren Kindern Bart, Lisa und dem Baby Maggie. Sie leben
gemeinsam in einem Vorort der Stadt Springfield, das Setting der Serie
entspricht einer typischen TV-Sitcom. Homer arbeitet in einem Atom-
kraftwerk als einfacher Angestellter, während Marge sich um den Haushalt
kümmert. Bart und Lisa gehen beide in die Grundschule, wobei Lisa eine
Vorzugsschülerin und sozial sehr engagiert ist und Bart eher den Rebel-
len, das Sorgenkind in der Familie darstellt, der ständig anderen Streiche
spielt und sich mit seinen Lehrern und anderen Erwachsenen anlegt. Die
Familienmitglieder pflegen zahlreiche soziale Kontakte zu anderen Ein-
wohnern in Springfield. In manchen Episoden werden die Simpsons als Pa-
radebeispiel für eine dysfunktionale Familie dargestellt, am Ende der Folge

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

kann die Familie ihre Probleme aber meistens durch Selbstreflexion oder
Kommunikation lösen. Die Simpsons erleben zahlreiche Abenteuer und
trotz vorhandener Schwächen der einzelnen Charaktere werden Konflikte
immer wieder bewältigt, indem die Familie letztendlich zusammenhält
(vgl. Snodgrass & Vlachos-Weber, 2005, S. 37ff.; Hook, 2005, S. 3ff.).
Die Serie beinhaltet zahlreiche Traumsequenzen, Tagträume, Fantasien,
Flashbacks oder auch visualisierte Gedankenvorgänge sowohl der Haupt-
charaktere als auch (wenn auch weniger häufig) der Charaktere außerhalb
der Simpson-Familie. In diesem Aufsatz werden der Übersichtlichkeit
wegen nur Beispiele aus Fantasien oder Träumen der Simpson-Familie er-
läutert, wobei man beim Baby Maggie Simpson in der Serie keine Hinweise
auf ihr seelisches Innenleben findet. Folglich werden in der Analyse nur
Bart, Lisa, Homer und Marge berücksichtigt. Visuell dargestellte Gedan-
kenprozesse beziehungsweise Darstellungen von Erinnerungen in der Serie
werden in dieser Analyse aber nicht mit einbezogen, da diese sich vom
unten erläuterten Konzept der Fantasie beziehungsweise des Tagtraums
deutlich unterscheiden.
Das Phänomen des Tagtraums beziehungsweise der Fantasie wurde be-
reits von Sigmund Freud untersucht, der darin vor allem ein Ventil für un-
befriedigte Wünsche sieht (Freud, 1908e, S. 27). Im Werk des Psychoana-
lytikers Jacob Arlow nehmen Fantasien eine zentrale Stellung ein. Er geht
davon aus, dass Fantasien selbst im Wachzustand ständig in unserer Psyche
vorhanden sind, auch wenn sie teils unbewusst und unbemerkt ablaufen.
Diese unbewussten Fantasien, die ihren Ursprung meistens in Kindheits-
wünschen haben (vgl. Arlow, 2008, S. 26), beeinflussen in einem Wechsel-
spiel mit unseren Sinneseindrücken unter anderem auch, wie Informatio-
nen aus der Außenwelt interpretiert werden:

»There is mutual and reciprocal effect of the pressure of unconscious fantasy


formations and sensory stimuli, especially stimuli from the external world.
Unconscious fantasy activity provides the ›mental set‹ in which sensory sti-
muli are perceived and integrated. External events, on the other hand, stimu-
late and organize the reemergence of unconscious fantasies« (Arlow, 2008,
S. 28).

Externe Stimuli können also einerseits Fantasien auslösen, andererseits


wird die Wahrnehmung der Außenwelt auch durch die vorherrschenden
unbewussten Fantasien gefiltert oder sogar verzerrt. Fantasien sind nicht

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II.2. Rainer Spieler: Die Simpsons

nur Ventile für Triebe, die in der Realität schwer oder gar nicht ausgelebt
werden können, auch das Über-Ich und das Ich können bei der Entste-
hung beziehungsweise Weiterentwicklung einer Fantasie beteiligt sein (vgl.
Arlow, 2008, S. 30).
Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass die Traum- und Fantasiesequenzen
in der Serie durch die filmtechnische Inszenierung deutlich hervorgehoben
werden, nach der Tradition, wie es auch in vielen Filmen dargestellt wird.
Man sieht den jeweiligen Charakter entweder vor der Traumsequenz ein-
schlafen oder danach aufwachen. Dasselbe gilt für die Fantasie- oder Tag-
traumsequenzen; hier wird vor der Sequenz auf den Kopf des Tagträumers
herangezoomt oder das Bild verschwimmt, bevor die Fantasie beginnt.
Schwieriger ist es, die dargestellten Traumsequenzen von den Tagtraum-
sequenzen inhaltlich und strukturell klar zu unterscheiden. Die Träume
dauern tendenziell etwas länger und enthalten häufiger surreale Elemente.
Allerdings herrschen auch in diesen Szenen die Tagesrealität und eine
Strukturiertheit immer in einem Maße vor, sodass der Traum leicht mit
dem »realen« Geschehen in der Folge in Verbindung gebracht werden
kann. In diesem Sinn unterscheiden sich die Inszenierungen von Traum
und Fantasie bei den Simpsons nicht wesentlich voneinander. Beide erzäh-
len dem Zuseher in etwa gleicher Weise von den inneren und äußeren Kon-
flikten und Wünschen der Charaktere. In der Analyse werden daher alle
Beispiele aus der Serie, ob Traum oder Tagtraum, als Fantasien behandelt.

Analyse der Fantasiesequenzen

Anhand einer Analyse einiger Fantasiesequenzen soll nun gezeigt werden,


wie die Fantasien den jeweiligen Charakter und seine Konflikte wider-
spiegeln. Haben die Fantasiesequenzen Auswirkungen auf die Handlung
oder auf das Verhalten des Charakters in der jeweiligen Folge? Existiert ein
Bezug zum sozialen Umfeld der Charaktere oder zu ihrer sozialen Stellung,
wie sie in der Serie dargestellt werden?
Die Inszenierung der Fantasie-Sequenzen bei den Simpsons steht im
Wesentlichen im Einklang mit Erkenntnissen der Psychoanalyse, wonach
in Fantasien oft unbewusste Wünsche und Konflikte ausgelebt werden. Das
Lustprinzip hat in diesen Sequenzen oft oberste Priorität, da in den Fanta-
sien keine Bestrafung durch die Außenwelt beziehungsweise keine Straf-
androhung des Über-Ichs zu erwarten ist (vgl. Freeman & Kupfermann,

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

1989, S. 12ff.). Nicht alle Fantasien in der Serie sind jedoch egoistisch. Be-
sonders in den Tagträumen von Lisa Simpson spielen Über-Ich und Ich-
Ideal eine wichtige Rolle.
Die in dieser Arbeit behandelten Beispiele stammen aus den ersten
neun Staffeln der Serie. Die meisten Tagtraum- und Traumszenen (vor
allem diejenigen, die auch für die Handlung der Episode relevant sind)
finden sich in den ersten fünf Staffeln. Was die Häufigkeit dieser Se-
quenzen bezüglich der zu besprechenden Hauptcharaktere betrifft, so
ergibt sich hier eine klare Reihung. Barts Fantasien kommen am häu-
figsten vor, danach kommt Lisa, die in etwa gleich häufig wie Homer
fantasiert, und schließlich Marge, deren psychisches Innenleben uns nur
selten offenbart wird. Anhand einiger ausgewählter Beispiele aus Fanta-
sien der Simpsons-Familie werde ich nun versuchen, ihre innerpsychi-
sche Entstehung und Beschaffenheit zu beleuchten sowie gewisse Muster
zu erkennen, die Rückschlüsse auf die Persönlichkeit der einzelnen Cha-
raktere erlauben.

Bart – der destruktive Underachiever

Zu Beginn befassen wir uns mit Bart, der uns am meisten Material für die
Analyse liefert. Seine Fantasien beinhalten regelmäßig ein Element der
Gewalt oder Zerstörung, es kommen darin oft Waffen vor, und es spielen
sich immer wieder Horror- oder Actionfilmszenarien (inklusive intertex-
tueller Zitate aus bekannten Filmen) in seinen Fantasien ab. Ohne bestraft
zu werden und in seinem Alltagsleben Probleme zu bekommen, kann Bart
dadurch Dampf ablassen, seine aggressiven und destruktiven Impulse ausle-
ben. An dieser Stelle sollen zwei Fantasiekomplexe, die bei Bart wiederholt
vorkommen, näher beleuchtet werden: Fantasien über die Schule und seine
Lehrer sowie über seine Zukunft, von der er manchmal recht ungewöhnli-
che Vorstellungen hat. Die folgenden zwei Sequenzen sind auch innerhalb
der Serie außergewöhnlich, da in ihnen der Übergang beziehungsweise
Unterschied zwischen bewusster, gelenkter Vorstellung und freier Fantasie
deutlich wird.
Als Bart in der ersten Staffel versucht, eine Mathematikaufgabe bei
einem IQ-Test zu visualisieren (S01E02), um das Rechenbeispiel anschau-
lich zu machen, gelingt ihm dies anfangs noch. Die Vorgabe lautet folgen-
dermaßen:

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II.2. Rainer Spieler: Die Simpsons

»The 7:30am express train travelling at 60 miles an hour leaves Santa Fe


bound for Phoenix, 520 miles away. At the same time, the local train travel-
ling 30 miles an hour and carrying 40 passengers leaves Phoenix bound for
Santa Fe. It is eight cars long and always carries the same number of passen-
gers in each car.«

Bart imaginiert sich in einen Zug und sieht die Ziffer 5 über jedem Fahr-
gast und visualisiert die Rechnung 40 (Fahrgäste)/8 (Waggons) = 5 (Fahr-
gäste pro Waggon). Die Aufgabe wird aber immer komplizierter und Barts
Visualisierung, die anfangs funktionierte, wird zu einer kafkaesken Angst-
fantasie, in der Ziffern bedrohliche Formen und Größen annehmen. Bart
und seine visualisierte Gleichung werden von den Fahrgästen niederge-
trampelt, als der Zug anhält. Ein Kontrolleur verlangt von Bart einen Fahr-
schein, er kann keinen vorweisen. Bart wird zum Lokführer gebracht, der
den Preis des Tickets wieder in einer Gleichung ausdrückt, die Vision wird
immer chaotischer und endet mit einem Zusammenstoß der zwei Züge aus
der Rechenaufgabe. Bart verliert also in dieser Sequenz die Kontrolle über
seine bewussten Gedanken und Vorstellungen, und aus dem Unbewussten
dringt seine Versagensangst in seine Vorstellung durch. Diesen Vorgang be-
zeichnet Arlow auch als »intrusion of fantasy upon conscious experience«
(Arlow, 2008, S. 29).
Die zweite Fantasie, aus der Folge »Bart gets an F« (S02E01), ist we-
niger drastisch, vom Inhalt und Ablauf aber ähnlich. Bart muss unbedingt
einen Geschichtetest bestehen, um in die nächste Klasse aufzusteigen,
schiebt das Lernen aber auf und betet um einen zusätzlichen Tag zur Vor-
bereitung. Seine Gebete werden erhört: Die Schulen bleiben wegen massi-
ven Schneefalls (im Juni!) geschlossen. Er sieht, wie sich draußen im Freien
Kinder sowie Erwachsene bei einer Schneeballschlacht vergnügen, und
muss sich dazu zwingen zu lernen. Er schlägt in seinem Buch das Kapitel
über die Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung auf und versucht
sich die Szene bildhaft vorzustellen. Das gelingt jedoch nur kurz, denn
wieder wird aus seiner Vorstellung eine Fantasie, als einer der Gründerväter
bemerkt, dass es draußen schneit. Sie unterbrechen ihre Sitzung und stür-
men nach draußen, um im Schnee zu spielen. Bart sitzt (in der Fantasie)
allein im Saal. Barts Drang nach Vergnügen schleicht sich so in seine Visua-
lisierung, das Lustprinzip dringt durch und hindert ihn daran, konzentriert
zu lernen. Hier wird eine unter Schülern und Studenten häufig vorkom-
mende Strategie des »self-handicapping« dargestellt. Man sucht unbe-

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

wusst nach Ablenkungen und Ausreden, die von konzentriertem Lernen


abhalten, um so sein Versagen zu rationalisieren (vgl. Arkin & Mazzocco,
2005, S. 128f.).
Bart ist ständig in Konflikt mit seinem Schuldirektor Principal Skinner
sowie seiner Lehrerin Edna Krabappel und anderen Schulbediensteten,
was sich ebenso deutlich in seinen Fantasien widerspiegelt. Das liegt einer-
seits an seinem fast zwanghaften Drang, den Erwachsenen in seiner Um-
gebung Streiche zu spielen, andererseits an seinem Widerwillen zu lernen
und seinem mangelnden Ehrgeiz. Seine Haltung entspricht dem Typ des
»underachiever«; er glaubt, wenig zu wissen und zu können, und strengt
sich, zumindest in der Schule, erst gar nicht an, um Erfolg zu haben (vgl.
Arkin & Mazzocco, 2005, S. 128). Seine Abneigung gegen die Schule hat
aber auch Ursachen in der Außenwelt: Die Inkompetenz seiner Lehrer, der
Kontrollwahn von Direktor Skinner und nicht zuletzt die Aggressionen,
denen er wiederholt durch die Schulrowdys ausgesetzt ist (S01E05). In
»Separate Vocations« (S03E18) zum Beispiel stiehlt Lisa alle Lösungsbü-
cher der Lehrer, woraufhin unter den Lehrern Chaos ausbricht. Die Folge
»Bart the General« (S01E05) hat Barts Angst vor Nelson Munz, einem
Schulrowdy, der ihn verprügelt, zum Thema. Seine Rachefantasien gegen-
über Schule und Lehrkörper beinhalten eine unverhältnismäßig starke Ag-
gressivität. Zu Beginn der Folge »Kamp Krusty« (S04E01) träumt er, dass
die Schule am letzten Schultag zerstört wird, Direktor Skinner hilft dabei,
Schulakten zu verbrennen, und Bart bedient eine Abrissbirne, als Hinter-
grundmusik läuft dazu Alice Coopers »School’s Out«. In einer zweiten
Fantasie lenkt Bart mit einer Fernsteuerung gigantische Ameisen (eine An-
spielung an den alten Horrorfilm Them), die die Schule demolieren und
den protestierenden Direktor Skinner in zwei Teile schneiden. Diese Fanta-
siesequenz hat eine Parallele zum Ende der Folge, als es zu einer Rebellion
der Kinder im Sommercamp kommt, in der Bart die Führung übernimmt.
Aber auch andere von Barts Fantasien, die nicht durch seine Konflikte
mit der Außenwelt ausgelöst werden, haben Gewalt oder Zerstörung zum
Thema. In Gedanken raubt er mit vorgehaltener Waffe den Weihnachts-
mann aus und fährt mit seinem Schlitten und den Geschenken davon
(S04E19). Als Lisa erzählt, dass das Ehepaar Curie die radioaktive Strah-
lung entdeckt und sich dadurch selbst vergiftet hat, fantasiert Bart eine
Szene, in der die Curies in der Größe eines Godzilla über die Dächer
der Hochhäuser der Stadt ragen und mit Strahlen, die aus ihren Augen
kommen, Angst und Schrecken verbreiten (S04E07).

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II.2. Rainer Spieler: Die Simpsons

Die Aggressivität Barts richtet sich aber nicht nur gegen andere, sondern
auch gegen sich selbst (s. z. B. Mentzos, 1994), wie seine selbstentwerten-
den und selbstschädigenden Fantasien über seine eigene Zukunft zeigen. In
der Folge »Bart gets an F« erklärt er vor seinen Eltern, der Lehrerin und
dem Schulpsychologen (der ihn als »Underachiever« einschätzt) sinn-
gemäß, er sei einfach dumm und könne nichts dagegen tun. In derselben
Folge sieht er sich in der Fantasie als Erwachsener immer noch in dersel-
ben Klasse sitzen, gemeinsam mit seinem Sohn. In S03E18 prophezeit der
Schulpsychologe Bart eine Zukunft als Landstreicher. Bart stellt sich eine
Szene vor, in der er als Landstreicher im Regen umherwandert. In anderen
Zukunftsfantasien sieht sich Bart zum Beispiel als Medikamenten-Tester,
der sich in eine Art Mr. Hyde verwandelt (S04E20), oder als herunter-
gekommenen Rock-Star, der zu betrunken ist, um aufzutreten (S03E22).
Auf die drei letztgenannten Fantasien reagiert Bart nicht etwa mit Angst
oder schlechtem Gewissen, sondern mit einem faszinierten »Cool!«. Er
identifiziert sich also sogar mit der Rolle des Versagers und hat unbewusst
Angst davor, Erfolg zu haben (vgl. Freeman & Kupfermann, 1989, S. 60f.).
Barts Befürchtungen, den Erwartungen der Gesellschaft nicht gerecht zu
werden, äußern sich manchmal in selbstmanipulativem Verhalten. Seine
Überzeugung, bei wichtigen Herausforderungen zu versagen, wird zu einer
Self-Fulfilling-Prophecy.
Bezüglich Barts mangelndem Ehrgeiz spielt wohl auch sein Vater
Homer eine nicht zu unterschätzende Rolle: Als Bart aufhört Gitarre zu
spielen, weil ihm das Üben zu mühsam ist, reagiert Homer gelassen und
gibt ihm den Ratschlag:

»Of course I’m not mad. If something’s hard to do, then it’s not worth
doing! You just stick that guitar in the closet next to your short-wave radio,
your karate outfit and your unicycle, and we’ll go inside and watch TV«
(S03E22).

Als schlechter Schüler und »Minderleister« in den vielen Aktivitäten im


Laufe der Serie (z.B. Kampfsport, Gitarre spielen) ist Bart auf sein auffäl-
liges Verhalten in der Schule und auch zuhause angewiesen, um Aufmerk-
samkeit und Anerkennung zu bekommen (s.a. Aichhorn, 2005). In seiner
Klasse funktioniert diese Strategie zum Teil: Wegen seiner zahlreichen
Streiche und Späße auf Kosten der Lehrer oder »Streber« ist Bart bei
vielen seiner Klassenkollegen sehr beliebt.

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

Lisa – die ambitionierte Zweiflerin

Ironischerweise ist es Lisa, die Musterschülerin, die mehr als alle anderen
Familienmitglieder in der Serie danach strebt, allgemein beliebt zu sein. Sie
ist aber nur der Liebling der Lehrer und wird sowohl von anderen Kindern
als auch Erwachsenen wegen ihrer kritischen Denkweise und Gewissenhaf-
tigkeit als Außenseiterin betrachtet. In dieser Beziehung stellt Lisa also das
Gegenteil von Bart dar. Lisa ist extrem, bis zu einem ungesunden Grad,
ehrgeizig und stellt sehr hohe Forderungen an sich selbst. Situationen, in
denen sie ihre eigenen Erwartungen, die Beste zu sein, nicht erfüllen kann,
stürzen sie in Selbstzweifel und manchmal in Angstfantasien über die
Folgen ihres (potenziellen) Versagens.
In S04E16 hat Lisa eine riesige genmanipulierte Tomate für ein Schul-
projekt gezüchtet. Sie fantasiert ein Szenario, in dem sie den Welthunger
beseitigt hat: Eine arme indische Familie sitzt am Esstisch, der Vater schnei-
det die Riesentomate auf und alle bedanken sich bei Lisa, deren Foto an
der Wand hängt. In S05E12 sieht sich Lisa in der Zukunft in ihrem Büro,
dessen Wände voll mit Auszeichnungen sind, und schreibt in ihre Memoi-
ren: »And that’s how I cured all disease, ended war, and reunited the entire
cast of TV’s ›Facts of Life‹, including long-time holdout, Tootie.«
In diesen altruistischen Fantasien hat also das Wohl ihrer Mitmenschen
beziehungsweise der Gesellschaft immer wieder eine zentrale Bedeutung.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Fantasiesequenzen in der Serie, die
in der Regel egoistische Wunscherfüllungen darstellen, dringt Lisas Über-
Ich dabei stärker in den Vordergrund. Dies stimmt auch überein mit der
Darstellung ihres Seriencharakters: Sie ist (vor allem in Anbetracht ihres
Alters) ungewöhnlich korrekt und rational und wird schnell von Gewis-
sensbissen geplagt. In der Folge S02E13 bezieht Homer Kabelfernsehen,
ohne dafür zu zahlen. Lisa sieht dies als Diebstahl, nachdem sie in der
Sonntagsschule die Zehn Gebote gelernt hat. Als die Familie später vor
dem Fernseher sitzt, verwandelt sich das Wohnzimmer in Lisas Fantasie
in ihre Version der Hölle und der Teufel sitzt inmitten der Familie auf der
Couch.
In anderen Fantasien dringt ihre Angst zu versagen durch. Als ihr eine
schlechte Note im Turnunterricht droht, stellt sie sich bei ihrer Angelo-
bung als Präsidentin der USA vor. Ein Reporter stürmt in die Angelobung
und enthüllt ihr sportliches Versagen. Sie wird nicht Präsidentin, sondern
wird auf »Monster Island« verbannt, wo sie von Dinosauriern gejagt

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II.2. Rainer Spieler: Die Simpsons

wird (ein sehr strenges Bestrafungsszenario für eine relativ unbedeutende


Schwäche). Eine sehr fatale Zukunftsvision ersinnt sie auch in der Episode
S03E14: Lisa hilft Homer bei Sportwetten, ihre Prognosen treffen zu und
das Verhältnis zwischen den beiden wird enger. Als Lisa vermutet, dass
Homer mehr am Wettgewinn interessiert ist als daran, Zeit mit ihr zu ver-
bringen, stellt sie sich Folgendes vor: Als spielsüchtige Erwachsene sitzt sie
an einem Roulette-Tisch und verspielt den Ring ihres dritten Ehemannes.
Lisas Fantasien kreisen oft um ihre teils unrealistischen Erwartungen an ihr
Selbst oder ihre Versagensängste, die daraus entstehen. In der Serie wird
dies, siehe die Beispiele oben, immer wieder in Größenfantasien (z.B. Lisa
als Präsidentin oder Nobelpreisträgerin) oder in Worst-Case-Szenarien
über ihre Zukunft dargestellt.
Um mit dem Erfolgsdruck umzugehen, geht Lisa im Vergleich zu Bart
den umgekehrten Weg und erhöht ihre Anstrengungen (Arkin & Maz-
zocco, 2005, S. 129). Während Barts Tagträume oft gegenwärtige Konflikte
thematisieren, spielt in Lisas Fantasie ihre eigene Zukunft und Karriere
eine große Rolle. Lisas Wunschfantasien, in denen sie enorm erfolgreich ist,
lösen auch ihre Versagensängste aus, da sie befürchtet, ihre Anstrengungen
werden nie genügen, um ihre Ziele zu erreichen.

Homer – der Hedonist

Wenden wir uns nun Homers Fantasien zu. Entsprechend seiner oralen
Fixierung und daraus folgenden hedonistischen Lebenseinstellung steht
oft die direkte Lustbefriedigung im Mittelpunkt. Regelmäßig fantasiert
Homer vom Konsum süßer und fetthaltiger Speisen und Snacks. Während
eines Mitarbeitergesprächs mit den kurzfristigen deutschen Eigentümern
des Atomkraftwerks stellt er sich Deutschland als das »Land of Choco-
late« vor, ein Schlaraffenland, in dem alles aus Schokolade besteht und
essbar ist (S03E11). In einer anderen Folge geht Homer, in Anlehnung an
eine Szene von Der Pate, über einen Wochenmarkt, wo ihm die Verkäufer
gratis Donuts anbieten (S04E17). An anderen Stellen, wenn auch nicht so
häufig, geht es um Geld oder Macht, zum Beispiel, als Homer sich vorstellt
im Lotto zu gewinnen und seinen Körper vergolden zu lassen (S03E19). In
der Folge S04E09 erwirbt Homer einen Schneepflug und fantasiert, dass
er damit im Auftrag des damaligen US-Präsidenten George Bush vor dem
weißen Haus demonstrierende Hippies aus dem Weg räumt.

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

Wie diese Beispiele zeigen, drehen sich Homers Tagträume meist um


materielle Dinge, die ihm direkte Befriedigung von Wünschen oder Begier-
den versprechen. Die Episode »Homer the Heretic« thematisiert sogar
diese hedonistische Lebensweise Homers explizit (S04E03). Als Homer
sich eines Sonntags weigert, mit seiner Familie in die Kirche zu gehen, ver-
bringt er zu Hause laut eigener Einschätzung den besten Tag seines Lebens.
Seine Aktivitäten an diesem Tag bestehen im Wesentlichen aus Schlafen,
Essen und Fernsehen. Nach einem Traum, in dem Gott ihm beipflichtet,
dass ein Footballmatch interessanter ist als die Sonntagspredigten in der
Kirche, beschließt Homer, eine eigene hedonistische Religion zu begrün-
den.
In einem von Homers Träumen (während seiner Arbeitszeit im Kraft-
werk) wird eine Szene aus 2001 – A Space Odyssey parodiert. In diesem
Film erscheint ein Monolith in den Anfangstagen der Menschheit, der
einen evolutionären Sprung bei den damals lebenden Hominiden aus-
löst. Während die anderen Hominiden sich mit Werkzeugherstellung
oder Feuer machen beschäftigen, lehnt Homer sich an den Monolithen
und beginnt zu dösen (S03E08). Diese Traumszene ist ein gutes Bei-
spiel für Homers Neigung, produktive oder konstruktive soziale Tätig-
keiten zu vermeiden; dies zieht sich durch die gesamte Serie. Übrigens
gibt es in der Serie immer wieder Momente, in denen Homer mit einem
Menschenaffen verglichen wird und so suggeriert wird, dass er sich auf
einer vormenschlichen Evolutionsstufe befindet. Deutlich wird dies
vor allem in S01E07: Homer wird in dieser Episode für den legendären
Bigfoot gehalten und schließlich als Versuchsobjekt der Verhaltensfor-
schung zahlreichen Tests unterzogen. Das Fazit eines der Wissenschaft-
ler: »This specimen is either a below-average human being or a brilliant
beast.«
Homers Verhalten in der Gesellschaft, seine Obsession mit Essen, sein
impulsives Verlangen nach möglichst schneller Lustbefriedigung sowie
seine Neigung, möglichst viel zu konsumieren, aber produktive Tätig-
keiten auf das Allernötigste zu beschränken, spiegeln sich also in seinen
Fantasien in gesteigerter Form wider. Homers Hedonismus hat allerdings
Grenzen. Während er kaum interessiert daran ist, einen konstruktiven
Beitrag in der Gesellschaft zu leisten, verzichtet er regelmäßig auf Be-
friedigung seiner egoistischen Impulse zugunsten des Wohls der Familie
(für Beispiele aus einzelnen Episoden zu diesem Verhalten vgl. Rousseve,
2001).

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II.2. Rainer Spieler: Die Simpsons

Marge – die sorgende Mutter

Im Vergleich zu Bart, Lisa und Homer tauchen Fantasien oder Träume von
Marge in der Serie eher selten auf. Gelegentlich flüchtet Marge aber in ro-
mantische Fantasien, etwa beim Lesen eines Liebesromans oder als sie beim
Bowling den schönen Jacques kennenlernt (S06E02, S05E06). In der fünf-
ten Staffel wird offenbart, dass Marge in ihren Tagträumen immer wieder
mit dem Schauspieler und Stuntman Lee Majors durchbrennt.
Die wenigen ausführlicheren von Marges Fantasiesequenzen kreisen
aber um die Familie und das Wohl ihrer Kinder. Die Folge »Itchy & Scrat-
chy: The Movie« zeigt ihre Angst vor Barts Zukunft, als sie in der Fan-
tasie den erwachsenen Bart als heruntergekommenen Stripper imaginiert
(S04E06). Ein interessantes Beispiel dafür, wie eine Traumsequenz einen
ganzen Handlungsstrang innerhalb einer Folge beeinflusst, findet man be-
reits in der ersten Staffel: In »Moaning Lisa« (S01E06) ist Lisa schwer-
mütig und lässt sich von ihrem Weltschmerz vereinnahmen. Das beschäf-
tigt Marge, die ihr helfen will, worauf Marge sich im Traum an ihre eigene
Sozialisation erinnert. Marge hatte als junges Mädchen Angst davor, in die
Schule zu gehen, und bekommt von ihrer Mutter den Rat: »Let’s put our
happy face on.« Der Traum beeinflusst Marges Verhalten im Handlungs-
verlauf der Episode. Sie gibt den Ratschlag ihrer Mutter an Lisa weiter.
Lisa befolgt ihren Rat und erzwingt ein Lächeln, als sie sich der Schule
nähert, und wird auch gleich freundlich von einem Jungen angesprochen.
Als Marge allerdings merkt, dass der Bursche Lisa nur seine Hausaufgaben
aufdrängen will, nimmt sie ihren Rat wieder zurück und versichert Lisa, sie
solle sich so verhalten, wie sie sich fühle. In dieser Folge hat Marges Traum
nicht nur Auswirkungen auf die weitere Handlung der Folge, er wird von
Marge auch reflektiert und als Teil ihrer Sozialisation erkannt. Schließlich
wird der von Marge als Kind internalisierte Ratschlag »let’s put our happy
face on« einer Realitätsprüfung unterworfen und seine allgemeine Wirk-
samkeit infrage gestellt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Inhalte der Fantasien in der
Regel auch die entsprechenden Charaktere und ihre Persönlichkeiten wie-
dergeben. Die Fantasiesequenzen geben uns einen Einblick ins Innenleben
der Charaktere der Familie Simpson und in die Motive ihres Handelns.
Oft werden darin Wunschbefriedigungen oder auch Ängste der Charak-
tere dargestellt. Barts Fantasien beinhalten oft aggressive beziehungsweise

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

destruktive Elemente (z.B. Gebrauch von Feuerwaffen, Zerstörung von


Objekten etc.). Bei Lisa handeln viele Tagträume von den überzogenen
Ambitionen hinsichtlich ihrer Karriere und Zukunft. Diesen idealistischen
Vorstellungen stehen wiederum Lisas Versagensängste gegenüber. Nicht
besonders überraschend – seine hedonistische Lebensweise verlangt oft
sofortige Lustbefriedigung – ist im Falle Homers ein Hauptthema seiner
Fantasien die orale Befriedigung, meistens in Form von Essen, wie etwa
in der Sequenz, in der er sich im »Land der Schokolade« befindet. Bei
Bart und Homer stehen das Ausleben von Aggressionen beziehungsweise
die Lustbefriedigung durch Konsum im Vordergrund, während Lisas und
Marges Fantasien eher ihre Rollen in ihrem sozialen Umfeld beziehungs-
weise in der Gesellschaft miteinbeziehen.

Rezeption der Fantasiesequenzen der Simpsons

Abschließend noch ein paar Gedanken dazu, wie die in der Serie vorkom-
menden Fantasiesequenzen von den Zusehern verstanden oder interpretiert
werden könnten. Da die Simpsons, obwohl eine Cartoon-Serie, manchmal
auf sehr realistische Weise den Umgang mit vielen alltäglichen Situationen
sowie Problemen und Konflikten schildern, kann man davon ausgehen, dass
sich die meisten Zuseher mit der einen oder anderen Figur aus der Serie
identifizieren können. Auch die hedonistischen Fantasien Homers bezie-
hungsweise Lisas Angstfantasien vor der Zukunft dürften vielen Zusehern
bekannt sein. Ebenso sind die in Barts Fantasien ausgelebten aggressiven
und destruktiven Tendenzen in jedem Menschen vorhanden. Die parodisti-
sche, oft bewusst übertriebene Darstellung der Zeichentrick-Figuren erlaubt
aber gleichzeitig eine klare Abgrenzung. Kaum jemand würde mit Homer
Simpson verglichen werden wollen, obwohl er eine Art Jedermann ist, in
dem sich eigentlich jeder zum Teil wiedererkennen kann. Barts aggressive
und destruktive Fantasien finden viele Zuseher vielleicht erheiternd, weil
jeder ähnliche Tagträume von sich selbst kennt, zugleich stellt aber Barts
Figur kein Vorbild dar, nach dem man sein Verhalten richten würde.
Die Serie beschäftigt sich auch mit diversen inneren Konflikten der
Hauptcharaktere, die auch in unserer Gesellschaft häufig auftreten. Lisa
hat eine Reihe von Ängsten wie Versagensangst sowie Zukunftsangst und
leidet unter zwanghaftem Perfektionismus. Auch Bart leidet unter Versa-
gensangst, die sich als Angst vor dem Erfolg äußert, was zu selbstmanipu-

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II.2. Rainer Spieler: Die Simpsons

lativem Verhalten führt. Homer legt ein bedenkliches Verhältnis zu Nah-


rungsmitteln an den Tag, und auch Marge muss sich in einer Folge wegen
ihrer Flugangst therapeutisch behandeln lassen (S06E11). Die Figuren der
Serie hadern also auch mit Ängsten und Konflikten, die vielen Zuschauern
aus dem eigenen Leben bekannt sind. Es ist die maßlose Übertreibung, die
hier die Tragik zum Humor macht.
Letztendlich ist auch der pädagogische Wert der Serie nicht zu unter-
schätzen. Die Simpsons beschäftigen sich auf sehr kritische Weise mit allen
denkbaren Aspekten der Gesellschaft und viele Szenen enthalten die Ein-
ladung zum Nachdenken über soziale Normen und Konventionen. In der
ersten Episode von Staffel drei wird Homer in eine Psychiatrie gebracht,
weil er in der Arbeit von der Norm abweicht. Hier wird etwa darüber re-
flektiert, wer unter welchen Kriterien eigentlich entscheiden darf, wer geis-
tig gesund oder krank ist und welche Rolle gesellschaftliche Machtverhält-
nisse dabei spielen (vgl. Snodgrass & Vlachos-Weber, 2005, S. 44f.). In der
bereits erwähnten Folge »Moaning Lisa« zum Beispiel erlangt Marge die
wichtige Selbsterkenntnis, dass ein von den Eltern gelerntes und interna-
lisiertes Verhaltensmuster nicht ihrem wahren Selbst und ihrer Überzeu-
gung entspricht (vgl. Freeman & Kupfermann, 1989, S. 60).
Die TV-Serie The Simpsons thematisiert den Zustand unserer modernen
Gesellschaft und vieler ihrer Facetten. Dass die Serie auch das Innenleben
der Charaktere auf eine dem Zuseher nachvollziehbare Weise zeigt, ist
einer der Gründe, warum die Simpsons eine der bekanntesten und erfolg-
reichsten TV-Familien sind.

Bibliographie

Aichhorn, A. (2005 [1925]). Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Fürsorgeerzie-


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C. (Hrsg.), The Psychology of the Simpsons. Dallas: BenBella.
The Simpsons Archive: https://www.simpsonsarchive.com/

Biografische Notiz
Rainer Spieler, Mag., ist Absolvent der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt im Fach Publizis-
tik und Kommunikationswissenschaft. Seine Diplomarbeit befasste sich mit der Evolution
der menschlichen Sprache. In seiner Freizeit ist er als begeisterter Hobby-Musiker aktiv.
rainerspieler@hotmail.com

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II.3. Ally McBeal
Searching My Soul

Otto Teischel

Ally McBeal – eine Kultserie zur Jahrtausendwende

Vier Folgen dieser US-amerikanischen Serie um die gleichnamige Anwäl-


tin einer Bostoner Kanzlei brauche es, um danach süchtig zu sein, schrieb
einmal ein Kollege anlässlich einer erneuten Wiederholung aller Staf-
feln beim deutschen Stammsender VOX (Leiendecker, 2005), als dieser
»Kult« im schnelllebigen Amerika längst wieder Geschichte war. Dort er-
reichte die Serie zu ihrer besten Zeit, während der zweiten Staffel, nahezu
14 Millionen Zuschauer.
Mit etwas Verzögerung und einer Verlegung des Sendeplatzes von Mitt-
woch um 21:10 Uhr auf Dienstag um 22:00 Uhr wurde Ally McBeal auch
im deutschen Sprachraum so einhellig positiv aufgenommen (in Deutsch-
land über eine Million Zuschauer pro Folge), dass bald nach dem Ende
der fünften und letzten Staffel bereits die ersten Wiederholungen im TV
gesendet wurden. Zuerst bei VOX, dann beim ORF (TV-Wunschliste,
2018), täglich von Montag bis Freitag chronologisch eine der insgesamt
112 Folgen, für alle, die noch nicht das Vergnügen hatten oder sich wieder
einmal so köstlich und zeitlos amüsieren wollten.
Was den Zuschauern weltweit so sehr aus der Seele (oder dem Herzen)
spricht und offensichtlich nicht nur ziemlich genau den Nerv des Zeitgeists
getroffen hat (was für einen besonders großen Publikumserfolg unerläss-
lich ist), sondern immer wieder auch wahrhaftige Dimensionen unserer zu-
tiefst bedürftigen und zerbrechlichen menschlichen Existenz berührt, kann
auch bei der x-ten Wiederholung nicht langweilen.
Wenn es in der Serie auch viele andere tragende und für die Atmosphäre
und Dynamik charakteristische Rollen gibt, die unzählige Aspekte mög-
licher Entwicklungen und Verirrungen unseres zwischenmenschlichen
Beziehungslebens darstellen, verkörpert doch die Hauptfigur Ally McBeal

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

eine Tragik, Komik und Größe menschlicher Existenz, die sie gleichsam
zum Archetypen eines modernen Sisyphos (Camus, 1959) stilisiert, dessen
unerfüllbare Sehnsucht ihn – beziehungsweise sie – trotzdem niemals auf-
geben lässt.
Diesen tiefgründigen Aspekt der vordergründig amüsanten und durch
ihre vielfältigen Assoziationsmöglichkeiten zum alltäglichen Wahnsinn
zwischen den Geschlechtern auch für ein eher kritisches Publikum augen-
zwinkernd unterhaltsamen Serie gilt es hier etwas genauer zu beleuchten.
Lassen sich doch an die überaus detail- und nuancenreiche Charakterisie-
rung der Protagonisten wesentliche Überlegungen einer existenziellen Psy-
choanalyse knüpfen.
Das allgemeine Bedürfnis, sich selbst und den/die Anderen zu ver-
stehen, zeigt sich heutzutage auch generell am anhaltenden Interesse für
psychodynamisch stimmige und differenzierte Fortsetzungsgeschichten
(Serien), in deren Verlauf uns die Lebensgeschichten und Beweggründe der
handelnden Personen nachvollziehbar werden können.

Im Panoptikum des Begehrens –


die Beziehungsdynamik in Ally McBeal

Die persönlichen Verstrickungen und Verschrobenheiten der Kanzleimit-


glieder mischen sich bei Ally McBeal in jeder Folge mehr oder weniger in-
tensiv mit denen ihrer oft höchst seltsamen Mandanten und deren biswei-
len grotesk verzerrter Weltsicht und Rechtsauffassung.
Dabei dienen alle Gerichtsfälle wiederum als Handlungsrahmen für das
Panoptikum der zwischenmenschlichen Beziehungen unter den Mitarbei-
tern dieser Anwaltskanzlei, die ihrerseits den Hintergrund für das Psycho-
gramm der titelgebenden Hauptfigur bilden: der hochneurotischen, hyper-
nervösen, chronisch unglücklichen und zugleich so offenen, einfühlsamen,
hilfsbereiten und liebreizenden Ally McBeal, die, trotz manchmal fast
comichafter Überzeichnung, doch immer auch die moderne, verzweifelt
ehrgeizige Stadtneurotikerin verkörpert, in der wohl nicht nur weibliche
Zuschauer Facetten ihrer eigenen Biografie gespiegelt finden können.
Zerrieben zwischen den beruflichen Erfolgsansprüchen und einer un-
bändigen Liebessehnsucht, deren Erfüllung sie endlich von Einsamkeit
und innerer Leere erlösen möge, wird nicht nur diese Protagonistin fast
irre an ihren so widerstreitenden Bedürfnissen – von Calista Flockhart un-

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glaublich nuancenreich, so energisch wie zerbrechlich und oft einfach um-


werfend komisch gespielt. Vielmehr droht sich hier – wie auch ein damals
populärer Buchtitel bezeugt – eine ganze Generation (Kullmann, 2002)
an der Oberfläche eitler Scheingefechte, Machtposen und Geltungsansprü-
che zu verlieren, deren narzisstische Inszenierung ein Gefühl tiefer Bedeu-
tungslosigkeit kaum verdecken kann.
Der Gerichtssaal erweist sich da – auch dramaturgisch – als ideale
Bühne solcher Ersatzhandlungen, und weil wir als Zuschauer die Protago-
nisten immer auch in ihrem alltäglichen Umfeld und mit ihren privaten
Obsessionen erleben, wird das Verhältnis von Sein und Schein, Rolle und
Wirklichkeit dabei nur umso anschaulicher.
Jede der Hauptfiguren – das sind vor allem die festangestellten Kanz-
leimitarbeiter um die beiden Seniorpartner Richard Fish und John Cage –
verkörpert einen bestimmten Aspekt jener kollektiven Neurose einer tiefen
Selbstentfremdung, die sie desorientiert umherirren lässt: von einer Ver-
liebtheit in die andere, von einer Zwangshandlung zur nächsten.
Das zunächst einzig vermeintlich normale Paar – Billy (Allys Jugend-
liebe) und Georgia Thomas – demonstriert seine Harmonie meist derart
bemüht und bieder, dass es bald ähnlich neurotisch verstrickt erscheint wie
Ally mit ihren andauernden Stimmungsschwankungen. In vielen Szenen
erscheint ihre »wahre Liebe«, die sie vor sich und anderen inszenieren, so
»echt« wie die von Barbie und Ken, und als es viel später zum Zerwürfnis
zwischen den beiden kommt, wird das bezeichnenderweise letztlich einer
heimtückischen Krankheit Billys zugeschrieben, die sein Wesen verändert
hat. Er leidet an einem Hirntumor, an dem er während einer Gerichtsver-
handlung plötzlich verstirbt (S03E16).
Zu Beginn der Serie soll es auch für die Zuschauer so erscheinen, als
hätten sich mit Billy und Georgia genau »die Richtigen« gefunden. Dass
Ally, die auf der Suche nach einem neuen Job ist, ausgerechnet in jener
Kanzlei landet, in der ihre Jugendliebe Billy arbeitet, ebenso wie seine Frau
Georgia, für die er Ally einst verlassen hat, erzeugt von Anfang an eine in-
tensive emotionale Spannung.
Ally, die ihre Trennung offensichtlich noch längst nicht überwunden
hat, erleidet immer wieder schwere Rückfälle und Eifersuchtsattacken und
trauert ihrer verlorenen Liebe nach, was immer wieder mit spontanen Be-
merkungen und inneren Monologen aus dem Off – besonders am Ende
einer Serienfolge – verdeutlicht wird.
Die Beziehung zwischen Billy und Georgia erscheint keineswegs als ver-

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lockende Alternative zu Allys Liebeswirren und dieser unstillbaren Sehn-


sucht, in der die eigentliche Faszination dieser Serie begründet liegt.
Auch das promiskuitive Verhalten ihrer besten Freundin Renée Raddick,
mit der sie in einer Wohngemeinschaft lebt, oder der Kanzlei-Sekretärin
Elaine Vassal, Ulknudel und Klatschbase vom Dienst, die in ihrer aufdring-
lichen Geilheit als wandelndes Klischee umherstolziert, ist eher als Kont-
rastfolie zum inneren Chaos und zur Zerbrechlichkeit der Hauptfigur an-
gelegt. Wobei auch bei diesen Figuren in einzelnen Szenen durchaus eine
tragisch ohnmächtige Grundstimmung vermittelt wird, die von frühen
Entbehrungen und Verletzungen herrührt, deren schmerzliche Wahrheit
sie mit ihrem extrovertierten Gehabe angestrengt kompensieren müssen
(z.B. S01E21; S01E19).
Ähnlich verhält es sich mit den beiden anderen Haupt-Protagonisten
der Serie, deren absonderliche Charaktere noch sehr viel differenzierter
ausgestaltet werden, da sie durch die zahllosen Verhandlungen und Ge-
richtsprozesse, an denen sie beteiligt sind, einen wesentlich breiteren Raum
einnehmen.
Während Richard Fish, ein ehemaliger Studienkollege von Billy und
Ally, als skrupellos ehrgeiziger Zyniker und Ober-Macho konzipiert ist, der
sein »Kotzbrocken-Image« auch noch eitel herauskehrt, wird sein Kom-
pagnon John Cage in jeder Hinsicht als Antipode vorgestellt.
Wenn Fish scheinbar Selbstkritik übt, soll ihn das nur umso überlegener
wirken lassen, doch die tieferen Ursachen seiner Gefühlskälte und seines
Machtstrebens müssen dabei für ihn ganz im Unbewussten verbleiben, um
seinen Narzissmus befriedigen zu können.
Dagegen erscheint Cage gehemmt und introvertiert, von Selbstzweifeln
und Komplexen zerfressen, die er mit Zwangsritualen und Tics zu bannen
und vor anderen zu verbergen versucht. Er vergräbt sich in seine Arbeit
und scheint vor allem auf den jeweiligen Fall bei Gericht und die entspre-
chende Lösungsfindung konzentriert.
John Cage gilt als der brillante Kopf des Teams, der noch die schwie-
rigsten Rechtsprobleme mit verblüffenden Strategien und Argumenten zu-
gunsten der Kanzlei und ihrer Mandanten zu entscheiden versteht, dabei
ständig »aufgewühlt« ist, wie er immer wieder betont, und sich dann oft-
mals zunächst durch obskure Konzentrationsübungen »sammeln« muss.
Sein Privat- und Liebesleben erscheint immer wieder als das reine De-
saster, entweder blockieren ihn seine Komplexe oder er will eine Beziehung
erzwingen und schießt peinlich über das Ziel hinaus. Dabei ist er in seiner

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skurrilen Verschrobenheit durchaus beliebt und auf kauzige Weise char-


mant – wie auch sein Kosename »Gummibärchen« zeigt, den er schon in
der Jugend verpasst bekam –, doch wenn es darauf ankommt, lähmen seine
Skrupel jede beherzte Initiative.
Während der Serien-Charakter von Richard Fish jede Obsession ausle-
ben muss – ihm für die Rolle zum Beispiel ein »Kehllappen«-Fetischismus
bei älteren Frauen angedichtet ist, der seine Partnerwahl bestimmt –, bleibt
John Cage im Zirkel seiner Blockaden und Zwangsrituale befangen. Auch
dann noch, wenn einmal die vermeintlich Richtige vor ihm steht, die ihn
genau so liebt, wie er ist.
Ally und John sind sich in vielem sehr ähnlich und können so eine
archetypische, geschlechtsneutrale Dramatik menschlicher Beziehungs-
verhältnisse veranschaulichen, insbesondere für sensible, verletzliche und
einsame Seelen, die in ihre Innenwelt eingesponnen bleiben.
»Du weißt doch, wenn ich bei dir bin, dann bist du nicht mehr die
merkwürdigste Person im Raum. Also los, sag ruhig was Verrücktes«, ver-
sucht Ally John einmal zu ermutigen, mit ihm über seine Ängste zu reden
(S02E02).
Deshalb gibt es zwischen ihnen auch immer wieder behutsame An-
näherungsversuche und es baut sich – vielleicht sogar als die eigentliche
Spannung dieser Serie – mit der Zeit die Frage auf, ob nicht diese beiden
– liebenswert, verschroben, humorvoll, intelligent und einsam – wie für-
einander geschaffen sind.
Zumal Peter MacNicol – neben Calista Flockhart – die andere schau-
spielerisch differenzierte Glanzrolle zugedacht worden ist, er sie jedenfalls
dazu gemacht hat. Doch zugleich scheuen gerade diese beiden »Sonder-
linge« als »gebrannte Kinder« auch am stärksten vor den möglichen
Konsequenzen einer intimen Beziehung zurück – zweifeln an sich und
dem anderen und haben Angst davor, wieder enttäuscht zu werden.
Neu eingeführte Protagonisten – die ab der zweiten Staffel regelmäßig
mehr oder weniger große Auftritte haben – verstärken jeweils bestimmte
Charaktermerkmale der Hauptfiguren oder sind Mischformen daraus,
sodass sich zahlreiche weitere Spiegelungen und Verstrickungen mit den
neurotischen Störungsbildern der Protagonisten aus der ersten Staffel er-
geben. Insbesondere Nell Porter (Portia de Rossi), die zu Beginn der zwei-
ten Staffel in die Kanzlei einsteigt und abwechselnd als kühler Vamp und
einfühlsame Partnerin auftritt, was den schüchternen John Cage immer
wieder gehörig verwirrt.

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Bald darauf wird auch noch Nells Freundin, die Chinesin Ling Woo
(Lucy Liu) engagiert, die zuerst als Mandantin eingeführt wird, in die Fish
sich sogleich verliebt und in der er schließlich seine zynisch berechnende,
egozentrische Meisterin findet.
Zu einer weiteren tragenden Figur der Serie wurde während der vier-
ten Staffel der selbständige Anwalt Larry Paul (Robert Downey Jr.), der
auch dem Publikum mehr und mehr als Allys potenzieller Mann fürs
Leben erscheinen soll. Trotz aller gravierenden Konflikte und tiefsitzen-
den Ängste auf beiden Seiten schienen Ally und Larry an ihrer Beziehung
zu reifen, und so hätte sich vermutlich aus ihrer Beziehungsdynamik noch
eine Menge tragikomischer Serien-Stoff gewinnen lassen. Doch nach etwa
zwei Dutzend Folgen musste seine Rolle wieder aus der Serie gestrichen
werden, da ihr Darsteller im realen Leben wegen seiner Drogensucht mit
dem Gesetz in Konflikt kam.
Als besonders geniale Einfälle für die Serie Ally McBeal erweisen sich
zwei wiederkehrende Handlungsorte, die als Bühne und Bezugsrahmen äu-
ßerer und innerer Konflikte zwischen den Akteuren fungieren. Abgesehen
von den Grundlinien des Drehbuchs und den dramaturgisch darin entwi-
ckelten Personenkonstellationen haben diese Locations erheblichen Anteil
an der spannungsreichen Dynamik des Plots:
Im Untergeschoss des Kanzleigebäudes befindet sich eine gemütliche
hauseigene Tanzbar, in der sich häufig zum Tagesausklang, oder bei beson-
deren feierlichen Anlässen, die Hauptakteure der jeweiligen Serienfolge
noch einmal treffen. Zur mal eher fröhlichen, mal überaus melancholi-
schen und meist eigens für die Serie komponierten oder neu arrangierten
Musik von Vonda Shepard, die mit ihrer markanten, kraftvollen Stimme
jeweils einen eigenen Gastauftritt hat. Begleitet von einer Band und ge-
legentlich auch noch drei Background-Sängerinnen, greift sie in der Bar
»live« mit einem Lied das Thema einer gerade miterlebten Szene wieder
auf oder leitet zur nächsten über. Man trifft sich in diesem einladenden
Ambiente auch, um gemeinsam das aktuelle Tagesgeschehen Revue pas-
sieren zu lassen und es in entspannter Atmosphäre vielleicht aus einer an-
deren Perspektive noch einmal neu zu betrachten. Wobei es immer wieder
– zumal unter steigendem Alkoholeinfluss – auch vorkommen kann, dass
sich etwaige Krisen (Intrigen, Affären, Eifersüchteleien) weiter zuspitzen.
Natürlich vor allem, um die Zuschauer auf den Fortgang der Entwicklung
neugierig zu machen.
Und der andere Ort – psychoanalytisch äußerst aufschlussreich und oft

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so übertrieben drastisch in Szene gesetzt, dass ihm unvermeidlich symbo-


lische Bedeutung für die diversen Austausch- und Ausscheidungsprozesse
der Protagonisten zukommt – ist die sogenannte »Uni-Sex«-Kanzlei-
toilette, auf die sich die Anwälte einzeln, paarweise oder gar in Gruppen
zurückziehen und sich voreinander oder den jeweils anderen zu verbergen
suchen, um ihre intimeren Macken zu pflegen, wobei sie sich oft unfreiwil-
lig oder eben auch absichtlich belauschen. Weshalb es allgemein üblich ge-
worden ist, sich vor einer vertraulichen Äußerung zum erhöhten Türende
hinunter zu beugen, um zu überprüfen, ob die gerade besprochene Person
nicht etwa doch im Raum ist – was die wiederum manchmal durch ein
Hochziehen der Füße zu verbergen versucht. Durch die an diesem ganz
und gar nicht »stillen Örtchen« für die Zuschauer lustvoll voyeuristisch
mitzuerlebenden Verhaltensweisen wird die ohnmächtige Lächerlichkeit
hinter der vermeintlich überlegenen Fassade jedes/jeder Einzelnen voll-
ends offensichtlich.
Und so muss einem Zuschauer, dem die Abgründe unserer verzweifelt
sehnsüchtigen Existenz halbwegs vertraut sind, diese hochneurotische
kleine Gesellschaft mehr oder weniger orientierungslos und bindungsun-
fähig umherirrender Zeitgenossen einfach ans Herz wachsen. Das erklärt
Kelleys großen Publikumserfolg nicht nur in diesem Fall.
»Liebe dein Symptom wie dich selbst« (Zizek, 1991) lässt sich auch
über die Figuren dieser Serie sagen, die alle mehr oder weniger ausgeprägte
Symptomträger unterschiedlichen Schweregrades sind und dem Publikum
die je eigene »Verrücktheit« zu spiegeln.
Wer mit so fröhlicher Melancholie wie Ally McBeal auf der Suche nach
sich selbst bleibt, ohne je die eigene Sehnsucht aufzugeben, mit dem wird
es eines Tages gewiss auch ein gutes Ende nehmen. »Am Ende wird alles
gut, und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende«, kommt
einem der berühmte, Oscar Wilde zugeschriebene Satz in den Sinn.

Ally McBeal – ein Sisyphos für unsere Zeit

So sehr die Serie mit all ihren mehr oder weniger schrägen Charakteren
und den vor Gericht verhandelten Streitfällen als ein absurd überzeichne-
ter Spiegel menschlicher Beziehungsverhältnisse zur Jahrtausendwende er-
scheinen mag, ist doch der Garant des überaus großen Erfolges vor allem
die Gestaltung der titelgebenden Hauptfigur gewesen.

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Mit der Welt dieser jungen Anwältin, deren Serien-Leben die Zuschauer
fast fünf Jahre lang mitverfolgen konnten, bot Kelley dem Publikum mit
augenzwinkernder Leichtigkeit eine geradezu ideale Projektionsfläche der
eigenen Ängste und Hoffnungen, Süchte und Sehnsüchte an – des eigenen
Scheiterns und der eigenen Suche nach Geborgenheit in zunehmend orien-
tierungsloseren, narzisstischen Zeiten.
Vor allem für ein weibliches Publikum im Alter der Hauptfigur, das
in Ally die eigene Suche nach Halt und Identität gespiegelt fand, zwi-
schen privatem Glück und beruflicher Erfüllung angesichts vermeint-
lich unbegrenzter Wahlmöglichkeiten, lag die Identifikation denkbar
nahe, sprach Ally doch offen aus, was viele ihrer Leidensgenossen ins-
geheim dachten.
Dabei wirkte zu Beginn der Serie, da die Figuren für die Zuschauer noch
neu und unvertraut waren, oft ein punktuell eingesetzter Off-Kommentar,
in dem Ally ihre eigenen Gefühle beschrieb und ein wenig Ordnung in die
chaotischen Ereignisse zu bringen versuchte, wie ein besinnlicher Ruhe-
punkt, der den Zuschauern die Person hinter der überdrehten Fassade nur
umso näher brachte.
Besonders zum Schluss einer jeweiligen Folge, da Ally nach der Arbeit
oft allein durch die Straßen der Stadt heimwärts geht oder wir sie noch
nachdenklich am Schreibtisch ihres Büros sitzen sehen, drückt sich
dabei in ihren Worten aus, was auch die Zuschauer so ähnlich im Sinn
haben. Am Ende der Pilotfolge zur Serie – »Am Anfang war das Feuer«
(1997) –, die in einem ersten Rückblick erzählt, dass Ally vor einiger
Zeit von Billy, ihrer ersten großen Liebe, verlassen worden ist, schließt
sich nach gut vierzig Minuten für die Zuschauer ein überaus turbulen-
ter Handlungsreigen, in dem dramaturgisch bereits alle Register gezogen
wurden. Und Ally kommentiert aus dem Off mit geradezu programma-
tisch wirkenden Sätzen, die ihr sehnsüchtiges Wesen kennzeichnen und
zugleich für viele andere »flexible Menschen« der Gegenwart (Sennett,
1998) die Einsamkeit hinter der gutgelaunten Fassade wiedererkennbar
werden lassen:

»In Wirklichkeit will ich wahrscheinlich gar nicht zu glücklich oder zufrie-
den sein. Denn … was wäre dann? Eigentlich … eigentlich gefällt mir dieser
Zustand, diese Suche. Genau darin liegt der Spaß … Je schlechter es einem
geht, umso mehr gibt es, worauf man sich freuen kann … Wer hätte das ge-
dacht, es … es geht mir richtig gut … Ich hab’s bloß nicht gemerkt.«

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Genau diese treffende Ironie, in der mit beiläufiger Leichtigkeit zugleich


Systemkritik geübt wird und wir über die absurden Anstrengungen der
Protagonisten, ihr Glück erzwingen zu wollen, ebenso amüsiert wie ent-
setzt sein können, macht den überragenden Erfolg der Serie aus.
Dass Richard Sennetts bahnbrechende Studie über die sich auflösenden
Identitäten im modernen Kapitalismus damals etwa zeitgleich herausge-
kommen ist, zeigt, wie stimmig Ally McBeal gleichsam Anschauungsma-
terial solcher Entfremdung liefert, indem diese Serie die gesellschaftlichen
Beziehungsverhältnisse im Mikrokosmos einer Bostoner Anwaltskanzlei
widerspiegelt. Deren Protagonisten bewegen sich alle auf eine besondere
und zugleich übertragbare Weise inmitten ihrer existenziellen Widersprü-
che zwischen »äußerer«, Über-Ich bedingter Rollenerwartung und der
mehr oder weniger unbewussten Dynamik ihrer inneren Realität – ihrer
Ängste und ihres Begehrens (Nasio, 2017).
Hinter den angestrengten Bemühungen der oder des Einzelnen ist
immer auch eine psychische Not verborgen, den Anforderungen eines kapi-
talistischen Systems entsprechen zu müssen, das nur an unserem möglichst
effizienten Funktionieren interessiert ist, an unserer Leistungsfähigkeit und
unserem Marktwert, und das unsere eigentliche existenzielle Sehnsucht
nach Geborgenheit und Freiheit mit den hedonistischen Ersatzbefriedi-
gungen einer oberflächlichen Konsum- und Spaßgesellschaft abzustillen
versucht. Ein vermeintlich verfügbares, käufliches Glück liefert so immer
nur der Kick eines nächsten Rausches oder einer nächsten »Eroberung«,
mit der die tatsächliche Beziehungsunfähigkeit mühsam verschleiert wird
(Teischel, 2014).
In oft grotesker Überzeichnung hat Kelley für seine Serie verschiedene
Typen skizziert, die sich ihren je eigenen Reim auf diese Entfremdungen
gemacht haben und die mit ihren eigenen Strategien, die sie inmitten ihrer
Spaltungen entwickelt haben, darauf antworten.
Fish stilisiert sich als Erzkapitalisten, der für seine Anwaltskanzlei das
Geldverdienen zum Selbstzweck erhoben hat, womit er sich und seinem
Team obendrein noch möglichst viel »Spaß« bereiten will. Cage ist das
verschrobene Superhirn, er ist mit seinen diversen Tics und absonderlichen
Verhaltensweisen gerade in aussichtlos erscheinenden Fällen ähnlich schrä-
ger Mandanten überaus erfolgreich. Billy und Georgia sind freundlich zu
allen und versuchen mit vorbildlichem Engagement und Tüchtigkeit zu
glänzen. Elaine hält mit ihrer neugierigen Beflissenheit den Laden zusam-
men und erweist sich letztlich als nützlich für alle. Nelle und Ling geht es

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auf unterschiedliche Weise darum – eher kokett oder eher dreist –, durch
das unverhohlene Aussenden sexueller Reize ihre Umgebung zu manipulie-
ren und so an narzisstischer Macht zu gewinnen. Renée hat sich, im Gegen-
satz zu Ally, ihre Verletzlichkeit auszutreiben versucht, und gibt sich ab-
gebrüht und erfahren, eine toughe und erfolgreiche Frau, die sich nimmt,
was sie braucht, während Ally die eigenen Komplexe und viel zu hohen
Ansprüche im Wege stehen.
Die Kunst der Übertreibung und verdichtenden Zuspitzung, die bereits
der zeitliche Rahmen einer knapp 40-minütigen Serienfolge vorgibt, in der
das Interesse des Publikums wachgerufen und erhalten bleiben soll, gehen
in der Figur von Ally McBeal eine nach Idee und Ausdruck, Inhalt und
Form idealtypische Verbindung ein.
Deren zugleich hochneurotische wie liebenswürdige, geltungsbedürftige
und selbstironische, albern überdrehte wie verzweifelt romantische Nervo-
sität nimmt in der ebenso fragilen wie einfühlsam zugewandten Schönheit
von Calista Flockhart eine idealtypische Gestalt an. Vergleichbar vielleicht
dem Zauber von Audrey Hebpurn als Holly Golightly in Breakfast At Tif-
fany’s (Edwards, 1961).
Von einem Moment zum anderen kann Flockhart zwischen mädchen-
hafter Verspieltheit, freundschaftlicher Nähe und verführerischem Charme
wechseln, so wie ihre Garderobe sich von Szene zu Szene und je nach Stim-
mungslage verändert; Ally McBeal wird so zur Projektionsfläche einer
ebenso unermüdlichen wie unstillbaren Sehnsucht eines verletzlichen,
ohnmächtigen, hilfsbedürftigen Menschen, der dabei niemals aufzugeben
bereit ist und aus der täglichen Revolte gegen sein Elend neue Kraft zu
schöpfen versucht (Camus, 1969).
Sei es dabei eher die Folge ihrer übergroßen Bedürftigkeit, die zum Ziel
kommen muss – endlich den Partner fürs Leben zu finden, der ihr Ge-
borgenheit vermitteln kann und seine Träume vom Glück mit ihr teilen
möchte –, oder ein tief verwurzelter Glaube an die eigene Besonderheit
und den Anspruch auf die eine »wahre Liebe«, die das Schicksal gewiss
für sie vorgesehen hat, solange sie nur die Sehnsucht danach bewahrt.
Das gute Ende soll gerade offenbleiben und das Geschehen dauernd
zwischen diesen beiden Polen, Sucht und Sehnsucht, schwanken – ganz so,
wie die psychische Stabilität unsicher-ambivalent gebundener Menschen
immer wieder plötzlich kippen kann und diese nie wirklich wissen, woran
sie in einer Beziehung tatsächlich sind (Brisch, 2006).
So verhält es sich bei allen Protagonisten der Serie auf mehr oder weni-

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ger drastische Weise, und genau aus diesem chaotischen Beziehungs-Wirr-


warr ergibt sich für den identifizierten Zuschauer jedes Mal aufs Neue die
nächste überraschende Wendung. Der nächste Ausbruch von Eifersucht, die
nächste Intrige, das nächste Verführungsszenario, die nächste Peinlichkeit.
Peinlich überzogen wirken häufig auch die klischeehaften Einfälle zur
Typisierung bestimmter Charaktere oder zu einzelnen Handlungssträngen,
und gelegentlich kann einem die ganze Serien-Folge von einer ausgewalzt
banalen Grundidee verdorben werden.
Doch auch damit bildet diese Serie die Realität eines klischierten Lebens
nach, in dem längst Rollen, Attitüden und Inszenierungen vorherrschen
und Individualität und Eigenwilligkeit entweder gar nicht mehr wahrge-
nommen oder offensiv als hinderlich bekämpft werden. Bestenfalls sind
sie noch geduldet als für die anderen amüsante Verschrobenheiten, wie
bei Ally und John, die sich in ihrem absonderlichen Benehmen – in einer
mehr extra- oder intravertierten Form – in nichts nachstehen. Solange die
beiden nur trotzdem oder womöglich wegen ihres Einfühlungsvermögens
dem System nützlich sein können.
Dabei sind es die tief berührenden, romantischen Höhepunkte der
Serie, in denen die einzigartige Besonderheit dieser seltsamen Charaktere
zum Vorschein kommt und ihr unerschütterlicher Glaube an eine tiefgrün-
dige Welt hinter der lauten, verrückten Oberfläche (»Der Wahnsinn der
Normalität«, Gruen, 1987) umso wahrhaftiger erstrahlt.
John Cage wird im Lauf der Serie für Ally gleichsam zum Bruder im
Geiste jener Sehnsucht nach einer zutiefst empathischen, liebevollen,
menschlichen Welt und einem zugewandten Miteinander, das beide seit
je zu finden hoffen und dabei immer wieder so schmerzlich enttäuscht
werden, ohne ihren Glauben daran jemals ganz zu verlieren.

Die Revolte der Sehnsucht

Ally und John sind die verzweifelt Liebenden schlechthin, denen ihre eher
überdreht nervöse (Ally) oder gehemmt zwanghafte ( John) Persönlich-
keitsstruktur immer wieder in die Quere kommt und letztlich alle Liebes-
beziehungen früher oder später daran scheitern lässt. Was jedoch beide
nicht daran hindert, weiterhin an die eigene Liebenswürdigkeit zu glauben
und auf den einen Menschen zu hoffen, der sie eines Tages so erkennen und
annehmen wird, wie sie sind.

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Während Ally immer wieder »rückfällig« wird und sicher zu sein


glaubt, diesen Menschen mit Billy schon in ihrer Kindheit gefunden
zu haben – manchmal bekennt auch Billy sich zu ihr als seiner einzigen
großen Liebe, sodass die Serie in der Anfangszeit große Spannung daraus
bezieht, ob die beiden nicht doch noch »für immer« zusammenkommen
werden –, hat John sich weitgehend mit seinem Außenseitertum abge-
funden, wenn er auch des Öfteren angesichts neuer Kolleginnen oder be-
stimmter Mandantinnen vor sich und anderen bekennen muss: »Ich fühle
mich zu ihr hingezogen.«
Eine tiefe Seelenverwandtschaft allerdings empfindet John im Grunde
nur mit Ally, der er früh bereits ein bezeichnendes Kompliment macht
(S01E06). Da sind sie noch »per Sie« und haben gerade gemeinsam vor
Gericht ein Verfahren gewonnen, bei dem eine Anwältin der Prostitution
angeklagt worden war.
In einer Parallelhandlung der Episode erleidet zudem ein sehr stark
übergewichtiger Anwalt der gegnerischen Seite bei Gericht einen Herz-
anfall und verliebt sich durch Allys Mund-zu-Mund-Beatmung in seine
Lebensretterin, obwohl er gerade kurz davorsteht, seine ähnlich beleibte,
langjährige Freundin zu ehelichen.
Ally rät ihm zunächst, auch wenn sie ihm für sich einen Korb geben
muss, seine Empfindungen ernst zu nehmen und sie als Zeichen des Schick-
sals zu verstehen: »Wir sollten auf den einen Menschen warten, der unser
Herz zum Hüpfen bringen kann.«
Eine typische Problem-Konstellation dieser Serie, die ebenso mit den
Projektionen der Hauptfiguren aufeinander spielt und sie ironisch bricht,
wie auch mit denen der jeweiligen Mandanten auf die sie vertretenden An-
wälte (und umgekehrt). Und die vor allem auf die Projektionen des Publi-
kums abzielt, dem im Verlauf dieser turbulenten 40 Minuten die verschie-
densten Beziehungsangebote und Verstrickungen als Anknüpfungspunkte
geboten werden.
Immer wieder stehen, wie in dieser frühen Folge der Serie, Allys eigene
Illusionen vom Glück der »wahren Liebe« infrage, und so rät sie letzt-
lich auch dem Dicken, was sie selber nicht beherzigt: Er solle nicht länger
von der wahren Liebe träumen, sondern lieber über die vertrauensvolle
Nähe zu seiner Partnerin erfreut sein und sie heiraten (was die beiden
letztlich tun). Doch am Ende dieser Episode kann Ally sich John gegen-
über gerade wegen der vorherigen Geschehnisse nicht länger zurückhal-
ten:

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II.3. Otto Teischel: Ally McBeal

»Wollen sie wirklich wissen, was ich denke, John? Ich glaube, die Welt steckt
in enormen Schwierigkeiten. Wir lachen über Menschen, die sich nach einer
romantischen Liebe sehnen, wir verharmlosen Hurerei als weibliche Auto-
nomie …«

Worauf John ihr gesteht, was er offenbar schon längst loswerden wollte:

»Die Welt ist kein romantischer Ort mehr. Einige Menschen in dieser Welt
sind es aber trotzdem noch. Und darin liegt die Hoffnung. Lass die Welt
nicht gewinnen, Ally McBeal.«

In der vorletzten Episode der zweiten Staffel, »Zur Sache, Schätzchen«


(S02E22), erfährt der Zuschauer erstmals von der unglücklichen Ehe ihrer
Eltern. Wir sehen Ally als etwa Siebenjährige in ihrem Kinderzimmer, wo
sie einen entsetzlichen Streit ihrer Eltern mit anhören muss. Und gegen
Ende der Folge erklärt sie ihrer Freundin Renée, dass sie seitdem angefan-
gen habe, in ihrer Fantasiewelt zu leben. Ihre Mutter habe ihren Vater nie
geliebt, trotzdem seien sie noch immer zusammen. Als Dreijährige habe
Ally die Mutter bereits zu Hause mit einem fremden Mann im Bett ent-
deckt. Deshalb hänge sie bis heute an ihrem romantischen Traum von der
wahren Liebe.
Wieder hat Kelley hier als Rahmenhandlung einen passenden Gerichts-
fall entworfen, bei dem Ally, gemeinsam mit John, eine Mandantin vertre-
ten muss, die in ihrer Ehe weiterhin Briefe an einen fantasierten Geliebten
schreibt, dem sie bereits seit vielen Jahren ihre intimsten Gefühle anver-
traut. Als ihr Mann das eines Tages herausfindet, reicht er tief verletzt die
Scheidungsklage ein. Die Frau spricht trotzdem von aufrichtiger Liebe zu
ihm, in der es für sie jedoch an Leidenschaft fehle, weshalb sie sich weiter-
hin in ihre heimliche Fantasiewelt zurückgezogen habe.
Während der Verhandlung, die das Drama ihres Lebens genau zu spie-
geln scheint, halluziniert Ally den Richter als den Soulsänger Al Green,
der sie mit einer passenden Botschaft (»Keep On Pushing Love«, Green,
1995) direkt anzusingen scheint, während die Geschworenen im Saal dazu
tanzen. Gerade Soulmusik spielt in vielen Episoden der Serie dramatur-
gisch immer wieder eine entscheidende Rolle – sogar solche Besonderhei-
ten waren seinerzeit Gegenstand des öffentlichen Diskurses (Diederichsen,
2001).
In einem sehr bezeichnenden Dialog mit John – der dabei ausgerechnet

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

in Ordnungshaft hinter Gittern sitzt, wozu ihn der Richter wegen seines
ungebührlichen Benehmens während der Verhandlung verurteilt hat –
sprechen die beiden über diesen Fall, dessen Heucheleien John unerträg-
lich findet, weil in der Realität fast alle Partner einander etwas vorspielen
würden.
»Männer lügen, um eine Frau ins Bett zu bekommen, Frauen lügen,
damit ein Mann sie heiratet, so ist das Leben nun mal.«
Ally ist entsetzt über seine Ansichten. »Das glaubst du wirklich?«
»Ich glaube, dass Frauen sich gezwungen sehen, einen Mann abzukriegen,
bevor ihre biologische Uhr abläuft. Und wenn sie ihre verwandte Seele nicht
gefunden haben, gehen sie einen Kompromiss ein.«
»Das würde ich niemals tun!«, widerspricht Ally vehement.
»Nun, du hast weniger Angst vor dem Alleinsein als die meisten.«
»Was erzählst du da, ich habe panische Angst davor, allein zu bleiben.«
Jetzt kann John sich nicht länger zurückhalten und tritt nah an die Git-
terstäbe seiner Zelle: »Ally, das ist von all deinen Einbildungen die größte.
In Wirklichkeit bist du allein vermutlich glücklicher.«
»Wie bitte?«
»Ja, so traurig es ist, etwas zu wollen, was man nicht hat – es ist viel
schlimmer, etwas zu haben, was man nicht will. Solltest du heiraten, so wird
es irgendwann zu etwas werden, was du nicht willst.«
Ally ist dem Weinen nah: »Wieso sagst du das?«
Doch John will jetzt ganz ehrlich zu ihr sein: »Weil den, den du wirk-
lich willst, den gibt es nicht …«
»Nicht?«
»Nein. Und ich glaube, dass du das insgeheim weißt. Deshalb hast du diese
Fähigkeit entwickelt, einen Richter anzusehen und Al Green zu sehen. Eine
Wolke anzusehen und Zuckerwatte zu sehen. Im Innersten weißt du wahr-
scheinlich, dass die einzige Welt, die dich nicht irgendwann enttäuschen wird,
eben die ist, die du für dich erfindest.«
Ally spürt offenbar, dass John recht hat, doch in ihrer Verzweiflung tritt
sie aggressiv die Flucht nach vorn an und schützt sich mit ihren Symp-
tomen: »Das ist nicht wahr! Ich mache das alles nur, weil ich verrückt bin.
Was du da sagst, stimmt nicht. Ich werde irgendwann jemanden finden …
Ich bin nur verrückt. Deshalb sehe ich Dinge, die nicht da sind. Ich liebe
diese Welt … Ich liebe diese Welt, John.«
»Schön«, gibt John sich verständnisvoll, »vielleicht entschließt du
dich dann eines Tages, mit uns anderen darin zu leben.«

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II.3. Otto Teischel: Ally McBeal

So setzt sich diese Serie entlang der Ambivalenz ihrer Hauptfigur noch
viele Episoden lang fort, mit immer neuen schrägen Mandanten und deren
Gerichtsfällen, auch immer neuen Kollegen und Beziehungsturbulenzen
aller Art – doch bis zuletzt bleibt Ally ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit
in einer Liebe treu, die sie bereits als Kind nicht erfahren hat und daher
letztlich immer wieder in sich selbst und ihrer Fantasie zu finden versucht.
Zugleich bleibt bis etwa zur Mitte der fünften und letzten Staffel für
den Zuschauer auch die ambivalente Beziehung zu John in der Schwebe
des Möglichen. Beide fühlen sich in ihrer romantischen Sehnsucht nach
wahrhaftiger Verbundenheit oft besonders seelenverwandt. Doch weil Ally
ihrem Ideal einer leidenschaftlichen, auch sexuell erfüllenden Beziehung
seit der frühen Trennung von ihrer Jugendliebe Billy hinterherläuft und
eigentlich von sich selbst und ihrem Unglück »erlöst« werden möchte,
muss John ihr tragisches Spiegelbild bleiben, das sie an diesen inneren
Mangel und die große Leere erinnert.
Im Verlauf der vierten Staffel scheitert schließlich auch ihre innige und
leidenschaftliche Liebe zu Larry, die sich zunächst für beide so hoffnungs-
voll zu entwickeln scheint, an den inneren Widersprüchen und ungelösten
Konflikten der Vergangenheit (Larry kehrt letztlich zu Ex-Frau und Sohn
zurück).
So wirkt die Serie, gerade auch in ihrer oft absurd komischen Zuspit-
zung, noch immer wie eine stimmige Reflektion der Beziehungsverhält-
nisse des modernen Menschen. Einerseits rational aufgeklärt über seine
Bedürfnisse und Mängel, doch emotional (unbewusst) umso blinder ge-
trieben vom Wunsch nach Erlösung im narzisstischen Verschmelzen mit
seinen eigenen Projektionen vom idealen Selbst (Maaz, 2012).
Da mutet die dramaturgische Entwicklung zum Ende der Serie, ob
beabsichtigt oder nicht, als Ausdruck einer existenziellen psychoanalyti-
schen Wahrheit an: Solange es der Einzelne mit sich selbst nicht auszu-
halten vermag, keine fürsorgliche Beziehung zu sich hat und das Drama
des ungeliebten, früh verlassenen oder emotional ausgebeuteten Kindes
immer wieder durch Unterwürfigkeit oder Dominanz zwanghaft abwehren
»muss«, kann er nicht beziehungsfähig sein (Maaz, 2007).
Umso stimmiger erscheint da schließlich ein auf den ersten Blick ver-
blüffender Drehbuch-Einfall: die Begegnung Allys mit ihrer eigenen Toch-
ter als ihrem »inneren Kind« (Chopich, 1993), das da eines Tages plötz-
lich als Zehnjährige vor ihrer Haustür steht (S05E11). Das Kind ist aus
einer von Ally vor Jahren im Rahmen einer Unfruchtbarkeits-Studie ge-

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

spendeten und dann versehentlich weitergeleiteten Eizelle geboren worden


und hat sich nun, nach dem Tod des Vaters, auf die Suche nach seiner bio-
logischen Mutter gemacht.
Maddie, wie das Mädchen heißt, hatte zuletzt bei einer Tante gewohnt,
die sich jedoch nicht angemessen um sie kümmern konnte. Insofern erweist
sich die Kleine als ähnlich resolut und entschlossen, ihr Leben zu verän-
dern, wie Ally. Die gesteht der Tochter, nach anfänglichem Misstrauen und
einem Test, der ihre Mutterschaft bestätigt, dass sie die Existenz des Kindes
immer schon geahnt habe und in Wahrheit nicht nach einem Mann, son-
dern nach ihr, dem Kind, gesucht habe.
So erscheint diese Entwicklung, mag sie im Rahmen der Serie zunächst
konstruiert wirken, in der inneren Logik von Allys unermüdlicher Revolte
nicht als Verdopplung ihres eigenen narzisstischen Größen-Selbst, sondern
tatsächlich wie das Wiederfinden ihrer eigenen, so früh schon verloren ge-
gangenen Seele (»Searching My Soul«, Shepard, 1998), die es jetzt end-
lich symbolisch und leibhaftig in Gestalt dieses Kindes in die Arme zu
schließen gilt.
Als schließlich Maddie, aufgrund ihrer traumatischen Vergangenheit, ih-
rerseits psychische Probleme entwickelt, zudem Heimweh nach ihrer Tante
und der vertrauten früheren Umgebung bekommt, ist die Verbundenheit
zwischen Mutter und Kind bereits so gefestigt, dass Ally ihrer Tochter –
und damit endlich sich selbst – zuliebe dorthin geht, wo beide gemeinsam
einen Neuanfang wagen können, nach New York City.
Ohne die Kanzlei, die so lange ihre einzige stabile »Familie« war, und
ohne das Publikum, das Ally zuletzt beruhigt loslassen kann. Wie nach
jeder Folge mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

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II.3. Otto Teischel: Ally McBeal

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Biografische Notiz
Otto Teischel, Dr., Philosoph, Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Autor, arbeitete als
Kleinverleger, Galerist, Buchhändler, Filmkritiker, Dozent in der Erwachsenenbildung und
in einer eigenen philosophischen Praxis. Langjähriger Leiter einer filmtherapeutischen
Patientengruppe in einer psychosomatischen Klinik. Seit 2010 Psychotherapeut und
Psychoanalytiker in eigener Praxis in Klagenfurt am Wörthersee. Entwicklung einer
»existenziellen Psychoanalyse« am Beispiel der Filmdeutung, u. a. mit monatlichen
Live-Gesprächen im Kino.
www.teischel.com; teischel@mailbox.org

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II.4. King of Queens
Was fasziniert
an einem dicklichen Paketdienstfahrer?
Einige Überlegungen zur latenten Wirkungsdynamik

Achim Würker

Zunächst eine persönliche Vorbemerkung: Ich schaue mir seit vielen Jahren
Comedy-Serien an und genieße die familiäre Vertrautheit mit den Figuren,
die sich nach kurzer Zeit einstellt, die ritualhaften Wiederholungen, begin-
nend mit dem Intro zur Serienfolge nebst entsprechender Titelmusik, die
wiederkehrenden szenischen Konstellationen, gegliedert durch die immer
gleichen Zwischenschnitte auf Hausfassaden oder Straßenzüge, die die ört-
liche Orientierung bieten. All das gewährt mir ein anstrengungsfreies Zu-
schauen und müheloses Wahrnehmen der geringfügigen Variationen, die
der Repetition das Stumpfsinnige nehmen und Interesse und Vergnügen er-
halten.1 Wenn ich – wie durch das Vorhaben, diesen Aufsatz zu schreiben,
veranlasst – konkret die Folgen von King of Queens an meinem inneren
Auge vorbeiziehen lasse, dann tauchen zwei Szenen auf, die ich umgangs-
sprachlich als witzige Highlights, fachlich als Schlüsselszenen bezeichnen
möchte.2 Von ihnen ausgehend möchte ich die Wirkung der Serie, ihren
Erfolg und ihre kulturelle Bedeutung im Hinblick auf latente Sinnfacetten3
erschließen.

1 Insofern ähnelt die Fernsehserie den Serienproduktionen der Trivialliteratur (vgl. Zimmer-
mann, 1982; Nusser, 1991).
2 Als Schlüsselszene bezeichne ich eine besonders eindrückliche und erinnerungsträch-
tige Szene, in objektiver Sicht eine Szene, die prägnant zentrale Bedeutungslinien zur
Geltung bringt. Innerhalb des Konzepts der tiefenhermeneutischen Interpretation kenn-
zeichnet die Schlüsselszene einen Knotenpunkt latenter Sinnfacetten, der sich durch die
subjektiv-assoziative Abarbeitung an der Resonanz ergibt, die eine kulturelle Objektiva-
tion im Interpreten wachruft.
3 Mit dem Begriff des Latenten verweise ich im psychoanalytischen Sinn auf die Relevanz einer
unbewussten Bedeutungsebene und deren tiefenhermeneutische Erschließung. Auch wenn
diese Methode nicht stringent angewendet wird, so bildet sie doch den Hintergrund meines
Zugangs zu den Folgen der Serie. Übernommen habe ich zum Beispiel die Konzentration auf

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

Einige Informationen zu King of Queens

Bevor ich mich meiner konkreten Szenenbetrachtung zuwende, möchte


ich für jene, die die Serie King of Queens nicht kennen, ein paar Informatio-
nen vorwegschicken. Ich zitiere zunächst den kurzen Inhaltsüberblick, den
Wikipedia gibt:

»Die Serie handelt von Douglas Heffernan, einem übergewichtigen Ku-


rierfahrer des fiktiven Logistik-Unternehmens IPS aus dem New Yorker
Stadtteil Queens, und seiner Frau Carrie, einer Rechtsanwaltsgehilfin, die
in Manhattan arbeitet. Nachdem Carries Vater Arthur in der Pilotfolge ver-
sehentlich sein Haus niedergebrannt hat, sind die Heffernans gezwungen,
ihn im Souterrain des eigenen Hauses wohnen zu lassen. Arthurs Starrköp-
figkeit und Nörgelei, Dougs Maßlosigkeit und Infantilismus sowie die All-
tagsprobleme ihrer Ehe sind die Themen der Serie.«4

Einige weitere Erläuterungen gelten der Produktion und der Popularität


der Serie:

»King of Queens (Originaltitel: The King of Queens) ist eine US-amerika-


nische Sitcom, die von 1998 bis 2007 beim US-amerikanischen Fernseh-
network CBS lief. Im deutschsprachigen Fernsehen wurde die Serie unter
diesem Titel zunächst bei RTL 2 (Staffel 1–5) und dann bei Kabel eins
(Staffel 6–9) ausgestrahlt. Wiederholungen wurden bei Comedy Central,
VIVA, TNT Serie sowie in Österreich auf ATV gezeigt. Seit 2016 werden
Wiederholungen beim deutschen Sender RTL Nitro und bei TNT Comedy
ausgestrahlt« (ebd.).

Insgesamt wurden 207 Folgen gedreht, neben den beiden Protagonisten


Doug und Carrie, die in jeder Folge zu sehen sind, gibt es etwa sieben wich-
tige Nebenfiguren sowie rund ein Dutzend Figuren, die nur sporadisch auf-

die eigene Reaktion als Ausgangspunkt, eine Wahrnehmung mit einer ansatzweise gleich-
schwebenden Aufmerksamkeit sowie die Interpretation entlang den Strukturübereinstim-
mungen der Bilder und Szenen. Zur Methode der Tiefenhermeneutik beziehungsweise des
Szenischen Verstehens: Lorenzer, 1981, 1986, 2006; Würker, 2006, 2013. Zum Zusammenhang
von Tiefenhermeneutik und Filmanalyse sei auf Hamburger (2018) verwiesen.
4 https://de.wikipedia.org/wiki/King_of_Queens (24.07.2019).

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II.4. Achim Würker: King of Queens

treten. Hinzu kommen Gastauftritte von mehr oder weniger prominenten


Schauspielern und Akteuren der Unterhaltungsbranche.
Bemerkenswert ist auch die Vernetzung mit anderen Sitcoms: Durch
Verknüpfungen mit anderen Serien ist King of Queens Teil des »Serienuni-
versums von Alle lieben Raymond, Becker, Cosby, Die Liebe muß verrückt
sein, Die Nanny und Saras aufregendes Landleben sowie dem Spielfilm This
Is Spinal Tap« (ebd.).
Weitere Informationen dokumentieren den Erfolg von King of Queens.
So wurde die Serie »in mehr als dreißig Ländern ausgestrahlt, in Deutsch-
land verzeichnete die Serie hohe Einschaltquoten, die höchste wurde bei
der letzten Folge am 15. Oktober 2007 auf Kabel eins registriert, nämlich
etwa 2,5 Millionen Zuschauer, was 13 Prozent der Gesamtzuschauer ent-
sprach« (ebd.). Bis heute werden im deutschen Fernsehen Wiederholun-
gen ausgestrahlt, und selbstverständlich sind alle Folgen mittlerweile auf
DVD und Blu-ray erhältlich.
Von diesen Indizien des (Markt-)Erfolgs der Serie komme ich nun
zurück zur Frage, wie dieser Erfolg zu erklären ist beziehungsweise was das
Anschauen so vergnüglich macht. Wie angekündigt möchte ich zunächst
eine subjektive Wirkungsanalyse entfalten, die von zwei Schlüsselszenen
ausgeht.

Szene eins: Das vergnügliche Drama oraler Gier (S04E02)

Der Zuschauer5 sieht Doug neben Carrie in ihrem SUV sitzend. Es ist
dunkel. Beide sind von vorne zu sehen. Sie steuert und er hat einen Pizza-
karton auf dem Schoß. Sie bittet ihn, nichts herauszunehmen, weil er sonst
nur kleckern würde. Er lässt sich nicht abhalten, entnimmt dem Karton ein
Stück, und es fällt ihm, als er es zum Mund führt, aus der Hand.
So erzählt, wäre das weder sonderlich witzig noch interessant. Es ist die
konkrete Inszenierung, besonders der Dialog, der die Szene eindrucksvoll
werden lässt6:

5 Ich habe bewusst die männliche Form gewählt, weil sich meine Interpretation im We-
sentlichen auf die Wirkungen bezieht, die die Serienfolgen auf männliche Zuschauer
ausüben.
6 Die folgende Dialog- und Szenenwiedergabe ist eine selbst verfasste Verschriftlichung
der filmischen Szenen und folgt insofern sprachlich dem Synchronisierungsdrehbuch.

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

Doug (zu Carrie blickend): Es gibt kein besseres Gefühl auf der Welt, als
eine warme Pizzaschachtel auf dem Schoß zu haben.
Carrie: Ich weiß, dass du das magst.
(Sie streicht ihm über die Schulter.)
(Doug schaut zögernd nach unten auf die Pizzaschachtel und öffnet vor-
sichtig den Karton.)
Carrie: Halte dich zurück und versuche jetzt nicht, ein Stück herauszu-
nehmen. Du verkleckerst dich doch nur und das Auto.
Doug: Ich will ja nur schauen, ob es auch unser Mädchen ist. – Ja es
ist unsere Ann-Marie. Es ist wirklich ein schönes Kind (unverständlich,
könnte auch »Teil« heißen).
(Doug greift in die Schachtel, nimmt etwas heraus und führt etwas zum
Mund.)
Carrie (kurz zu Doug schauend): Doug!
Doug: Es ist doch nur eine Peperoni.
(Doug fällt das Stück Pizza mit Käse, der sich von seinen Fingern etwas
herunterzieht, aus der Hand. Er erstarrt, blickt dann zu Carrie.)
Doug: Ich habe mich und das Auto mit Pizza bekleckert.

Diese Szene wiederholt sich am Schluss der Serienfolge, mit einigen gering-
fügigen Variationen:
Statt eines Pizzakartons hat Doug eine Tüte auf dem Schoß.
Doug (zu Carrie blickend): Es gibt kein besseres Gefühl auf der Welt, als
eine Tüte mit chinesischem Essen auf dem Schoß zu haben.
Carrie: Gab dir nicht eine Pizza auf dem Schoß das beste Gefühl?
Doug (zu Carrie gewandt und mit weihevoller Stimme): Nein. Chine-
sisches Essen.
Carrie: Alles klar.
(Doug öffnet vorsichtig die Tüte, Carrie blickt kurz zu ihm hinüber, sagt
nichts, ihr Mund deutet ein Lächeln an. Doug nimmt etwas aus der Tüte,
führt es zum Mund. Es fällt ihm aus der Hand.)
Doug: Ich habe das Auto und mich mit Frühlingsrolle bekleckert.
(Carrie lächelt und nickt kaum merklich.)

Vor allem die Wiederholung der Szene am Schluss der Serienfolge – die üb-
rigens nichts mit der Rahmung zu tun hat – brachte mich als Mischung aus
geringfügiger Variation und Parallele zum Lachen. Hintergrund war meine
leichte Identifikation mit Doug, der es nicht abwarten kann, dass er Pizza

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II.4. Achim Würker: King of Queens

und Frühlingsrolle essen darf. Auch die Interaktionsfigur – der gierige


und undisziplinierte Mann versus die Frau, die zu Geduld und Vorsicht
mahnt – kam mir vertraut vor. Ganz konkrete Erinnerungen bilden dafür
den Hintergrund, sowohl aus meiner Kinderzeit, den Reisen mit meinen
Eltern, als auch von heutigen Reisen im Auto und dem Umgang mit Pro-
viant. Insofern fiel mir der Zugang zur Szene spontan leicht.
Nun schaue ich mir etwas genauer an, was da präsentiert wird:
Zunächst einmal fällt die klare Rollenverteilung ins Auge: Doug ist
nicht einfach ein hungriger Erwachsener, er verhält sich vielmehr wie ein
gieriges Kind. Er ist unfähig, abzuwarten, bis er zusammen mit Carrie zu
Hause angekommen ist und mit ihr essen kann. Und er ist unfähig, sein
voreiliges Essen so zu organisieren, dass er dabei weder sich noch das Auto
verschmutzt. Es liegt auf der Hand: Der erwachsene Doug benimmt sich
wie ein unreifes Kind, das weder Triebaufschub leisten beziehungsweise
Frustrationen ertragen noch realitätsgerecht sein Handeln gestalten kann.
Er übertritt beziehungsweise ignoriert somit zweifach kulturelle Normen:
erstens die Norm, nur unter bestimmten, zum Beispiel sozialen und räum-
lichen, Bedingungen zu essen, zweitens so zu essen, dass dabei nichts durch
das Essen verschmutzt wird. Demgegenüber spielt Carrie die Kontrastfi-
gur: Sie mahnt, sie sieht voraus, was passieren könnte. Sie vertritt insofern
die Normen, die Doug übertritt, und ihre Dominanz wird allein schon da-
durch erfahrbar, dass sie es ist, die den Wagen steuert. Der Vergleich ihres
Verhaltens in der ersten und der zweiten Szene lässt deutlich werden, wie
milde und nachsichtig sie gegenüber Doug die Normen ins Spiel bringt:
Während sie in der ersten Szene noch die Norm formuliert und verstär-
kend und mahnend »Doug!« nachschiebt, sagt sie in der zweiten nichts
mehr und lächelt nur vor sich hin beziehungsweise zeigt durch ihr beja-
hendes Nicken, dass sie vorhergesehen hat, was kommt. Dass Doug mit der
fast identischen Formulierung wie beim ersten Mal gesteht »Ich habe das
Auto und mich mit Frühlingsrolle bekleckert«, lässt deutlich werden, dass
es ihrer Ermahnung auch gar nicht bedurft hätte.
Ich erlebe also eine Interaktion, in der Lust auf Essen und die Tendenz
zur Verschmutzung konfrontiert werden mit den diese Lust und diese Ten-
denzen disziplinierenden kulturellen Normen, die aber nicht gnadenlos
durchgesetzt, sondern lediglich sprachlich und gestisch aufgerufen werden.
Anders formuliert: Ich erlebe Verhaltensweisen auf kindlichem Niveau in
einem Kosmos, in dem Normen und Realitätsprinzip nicht bestimmend
werden. Oder mit psychoanalytischen Begriffen gesprochen: Ich erlebe

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

eine infantile Triebhaftigkeit, deren Unterdrückung zwar gefordert, aber


nicht durchgesetzt wird.

Szene zwei: Konkurrenz der Attraktionen (S05E13)

Doug und Carrie haben vereinbart, öfters während des Tages aneinander
zu denken. Als Deacon Doug im Aufenthaltsraum der Spedition fragt, ob
er zum Essen mitkommen wolle, bittet Doug sich noch einen Moment
Zeit aus, er müsse an Carrie denken. Nun folgt eine Überblendung seines
Gesichts in Großaufnahme mit dem Großraumbüro von Carrie. Ohne
Schnitt wird nun folgender Ablauf gezeigt: Carrie sitzt an ihrem Schreib-
tisch (kurzer Zoom auf sie zu). Eine gutaussehende Mitarbeiterin kommt,
um ihr eine Akte zu geben, beugt sich zu ihr herunter. Sie sprechen ein
paar Worte, die man nicht hört (Halbtotale). Die Szene ist nicht vertont,
sondern mit der Melodie von »You were always on my mind« unterlegt.
Die Mitarbeiterin richtet sich wieder auf und geht hinter Carries Schreib-
tisch vorbei nach rechts zur Kaffeemaschine im hinteren Teil des Büros.
Die subjektive, den Blick Dougs imitierende Kamera folgt ihr dabei, und
während Carrie aus dem Kamerablick verschwindet, präsentiert sie ihre
sexy Figur, die ein enger Pullover betont (amerikanische Einstellung). An
der Kaffeemaschine dreht sie sich zu jemandem um, der sich links, außer-
halb des Bildes, befindet und der sie offenbar etwas fragt. Sie verneint.
Ein großer Servierwagen, auf dem appetitliche Sandwiches gestapelt sind,
kommt ins Bild, wobei die Kamera leicht nach unten schwenkt, um den
Berg Sandwiches etwa mittig zu fokussieren. Und nun folgt die Kamera in
der Gegenrichtung, also von links nach rechts, der Fahrt des Servierwagens
und den Sandwiches. Sie bleibt in dieser Bewegung, auch als der Wagen
kurz von Carrie an ihrem Schreibtisch verdeckt ist, bis er rechts aus dem
Bild verschwindet. Das überblendete Gesicht von Doug zeigt während des
gesamten Verlaufs einen nach oben gerichteten, versonnenen Blick, drei
Mal wechselt er die Neigung des Kopfes, was den Eindruck erweckt, dass
er das fokussiert, was die Kamera erfasst: zuerst Carrie, dann die attraktive
Mitarbeiterin, zuletzt die Sandwiches. Auffällig ist, dass er erst zu lächeln
beginnt, als die Kamera die Sandwiches erfasst und mit dem Servierwagen
nach rechts schwenkt.
Auch diese Szene hat mich zu schallendem Lachen gebracht. Der
Schwenk wirkt ähnlich wie witzige Montagen, bei denen unvermittelt

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II.4. Achim Würker: King of Queens

unterschiedliche Perspektiven aufeinanderprallen und, einer Assoziation


ähnlich, daraus eine neue Bedeutung, eine Einsicht entsteht, die Lachen
provoziert. Hier ist der Wechsel von drei bedeutsamen Vorstellungen aus-
schlaggebend: Die erste ist die von Carrie, so wie es der Vereinbarung,
während des Tages aneinander zu denken, entspricht. Hiermit ist die Vor-
stellung von ehelicher Nähe und Harmonie verknüpft. Von dieser norm-
konformen Perspektive weicht der Blick auf die attraktive Mitarbeiterin
ab: Die Frau als Sexualobjekt, Seitensprung und Untreue kommen ins
Spiel und konterkarieren die Vorstellung ehelicher Exklusivität. Und dann
kommt die dritte Vorstellung: Erneut wird ein Objekt der Begierde ins Bild
gesetzt, aber es geht plötzlich nicht mehr um genital-sexuelle Lust, sondern
es ist der orale Wunsch, der aufgerufen wird. Im unerwarteten Blick- und
Richtungswechsel der Kamerabilder teilt sich zunächst ein Wechsel von
der moralisch legitimen Vorstellung zu dieser widersprechenden, tabuier-
ten Vorstellung mit und darauf folgend ein regressives Gefälle von Geni-
talität zu Oralität. Dass dies mit einer einzigen Einstellung, einer nicht
geschnittenen Aufnahmesequenz zur Darstellung kommt, die drei höchst
unterschiedlichen Vorstellungen auf engstem Raum und knappster Zeit
zusammengeführt werden, kommt einer Verdichtung gleich, aus der die
Komik der Szene entsteht.
Um den verwendeten Begriff der Regression noch einmal zu erläutern:
Wenn man in der Szene eine Bewegung sieht von der ehelichen als einer
kulturell normierten Paarbeziehung zur jenseits bürgerlicher Moral ange-
siedelten Triebhaftigkeit und weiter von der genitalsexuellen Triebhaftig-
keit zur oralen, dann wäre auch hier der weibliche Kosmos ein letztlich
mütterlicher. Was die erste Szene bereits andeutet, wird hier in der zweiten
variiert: Der Zuschauer begegnet dem Changieren zwischen der ehelichen
(Erwachsenen-)Beziehung und einer der Struktur nach mütterlichen Be-
ziehung zum kleinen Sohn. Für die Qualität der Serie spricht, dass diese
Bedeutung nicht aufdringlich oder klischeehaft zur Darstellung gebracht
wird. So könnte man die Dominanz Carries, ihre Rationalität und Reali-
tätstüchtigkeit, ihre Berufstätigkeit auch als eine väterliche Position im Be-
ziehungsgefüge verstehen. Und Carrie wird auch nie klischeehaft als sor-
gende Hausfrau gezeigt, die sich bemüht, Doug und andere zu verköstigen.
Im Gegenteil, sie wird ab und zu als »schlechte« Köchin in Szene gesetzt,
die zum Beispiel nicht in der Lage ist, einen Kuchen für einen Wohltätig-
keitsbazar zu backen. Und in vielen Szenen wird Doug als Selbstversorger
präsentiert, wenn er sich etwa in Fastfood-Restaurants Hamburger oder

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

Hotdogs kauft. Und dennoch ist es oft Carrie, die Essen bestellt oder ein-
kauft und mitbringt. Insofern scheint sie doch für den Haushalt verant-
wortlich zu sein, denn sie ist es, die den Kühlschrank füllt oder, wenn etwas
fehlt, zum Adressaten enttäuschter Vorwürfe von Ehemann oder Vater
wird. Und sie ist die Einzige, die sich in der Küche auskennt und auf Fragen
antworten kann, wo sich ein Küchenutensil befindet oder eine Zutat ge-
lagert ist. Insofern spielt Carrie hintergründig doch die Hausfrau, ist doch
die Versorgerin, die gewährleistet, dass Hunger gestillt und Durst gelöscht
wird.

Die Szenenerläuterungen im Lichte


von Freuds Theorie des Witzes

Freuds Analyse der Funktion und Wirkung von Witz, Komik und Humor
hilft zu verstehen, wie das Amüsement der Serienfolgen von King of
Queens zustande kommt. Er zeigt, wie diese Ausdrucksformen auf unbe-
wussten Inhalten beruhen und darin bestehen, die Energien, die mit dem
Fernhalten vom Bewusstsein gebunden sind, überraschend und kurzfristig
zu befreien: »Die Lust des Witzes schien uns aus erspartem Hemmungs-
aufwand hervorzugehen, die der Komik aus erspartem Vorstellungs(Be-
setzungs)aufwand und die des Humors aus erspartem Gefühlsaufwand«
(Freud, 1905c, S. 219). Er führt die durch diese Dynamiken entstehende
»Euphorie« darauf zurück, dass sie in die Stimmung der Kindheit zu-
rückversetzten, »in welcher wir unsere psychische Arbeit überhaupt
mit geringem Aufwand zu bestreiten pflegten […], in der wir das Ko-
mische nicht kannten, des Witzes nicht fähig waren und den Humor
nicht brauchten, um uns im Leben glücklich zu fühlen« (Freud, 1905c,
S. 219). Der »Infantilismus«, den die oben zitierte Inhaltsangabe Doug
zuschreibt, ist also so verstanden Merkmal der Wirkungsdynamik der Se-
rienfolgen: Wir Zuschauer erleben, wenn wir uns in die Szenen einfühlen,
eigene Persönlichkeitsanteile, die im Alltag ausgegrenzt bleiben müssen,
und die konkrete Form der Szenen, die Interaktions- und Gesprächsab-
läufe überraschen uns, veranlassen uns spontan dazu, uns darauf einzulas-
sen, wenn nicht sogar uns mit Figuren zu identifizieren, statt sie kritisch
zu analysieren. Sie ersparen uns die Energie, der wir zur Wahrung unse-
rer Realitätstüchtigkeit bedürfen. Wir lachen über den infantilen Doug
und die um Erwachsenennormalität bemühte Carrie, die immer wieder

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II.4. Achim Würker: King of Queens

scheitert. Wir genießen Dougs kindliche Eskapaden, mit denen er immer


erneut auf die Disziplinierungsversuche von Carrie reagiert. Wir freuen
uns, wenn die einengenden kulturellen Normen einmal – wenn auch nur
für kurze Zeit – ihre disziplinierende Macht verlieren und wir uns den
Energieaufwand ersparen, unsere nicht normkonformen Wünsche abweh-
ren zu müssen.
Nun drängt sich die Frage auf, was geschieht, wenn die Mechanismen
von Komik und Witz nicht funktionieren. Freud betont ausdrücklich, dass
»der Witzcharakter […] nicht dem Gedanken anhaftet«, sondern »in
der Form, im Wortlaut seines Ausdruckes zu suchen« (1905c, S. 21) sei.
Was ist also, wenn die filmischen Szenen in ihrer Gestaltung nicht einem
gelungenen Witz entsprechen? Auch hierzu eine Szene – diesmal aus der
ersten Staffel der Serie (S01E13): Doug und Carrie sind zur Hochzeit eines
früheren Freundes von Carrie eingeladen. Kurz vor dem Aufbruch zur
Feier erfährt Doug durch eine ungeschickte Bemerkung von Deacon, dass
Carrie mit diesem früheren Freund auch ein sexuelles Verhältnis gehabt
habe, was ihn verunsichert, ja entsetzt. Als später die Gratulation ansteht,
er und Carrie dem Brautpaar gegenüberstehen, gratuliert Carrie zunächst
etwas steif mit einer Floskel, woraufhin der frühere Freund die Arme aus-
breitet und Carrie zu einer Umarmung auffordert. Nach kurzem Zögern
lässt sich Carrie darauf ein, es kommt zu einer innigen Umarmung. Doug,
der danebensteht, ist einen Moment wie erstarrt, dann stürzt er sich auf
die Braut und umarmt sie. Diese ist offenkundig sehr befremdet und fragt
»Kennen wir uns?«, worauf Doug antwortet: »Jetzt schon!«. Als nun der
Bräutigam nach einem kurzen Moment Geplauder Carrie erneut zu einer
Umarmung auffordert und sie sich umarmen, wiederholt auch Doug seine
Attacke auf die Braut.
Als ich diese Szene ansah, lachte ich nicht, sondern ich fühlte Pein-
lichkeit. Konnte ich zuvor Dougs Verunsicherung nachvollziehen, sogar
nachfühlen, dass die Umarmung von Carrie mit ihrem früheren Freund
beziehungsweise – wie Doug jetzt weiß – Liebhaber ihn peinigt, weil er
die sexuelle Szene assoziiert, so riefen seine Umarmungen der Braut als
Versuch, die Umarmung von Carrie und dem Bräutigam zu »neutralisie-
ren«, sie harmlos erscheinen zu lassen, in mir eine Art Schamgefühl7 wach.

7 Wenn ich hier nicht erneut von Peinlichkeit spreche, sondern zum Begriff Scham wechsle,
so zeigt dies meine Unsicherheit, inwiefern es hier um die Übertretung von selbst ge-
steckten oder fremden Normen geht beziehungsweise um einen inneren Konflikt, der

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

Ich empfand Dougs Verhalten als peinliche Offenbarung einer privaten


Regung, die besser privat geblieben wäre. Stattdessen handelt er vollkom-
men unangemessen, ist übergriffig, offenbart einen Impuls, der keinem
anderen – außer Carrie – verständlich sein kann. Hier gelingt es dem
Drehbuchautor und dem Regisseur nicht, eine witzige Form zu finden, die
die Peinlichkeit der Offenbarung durch eine gelungene Gestalt tilgt und
Lachen provoziert. Das Unterdrückte gewinnt zwar Ausdruck, da aber
mein Urteilsvermögen im Spiel bleibt, entsteht keine Aufwandsersparnis
und kein befreiendes Lachen.

Variationen: Weitere Bedeutungslinien in King of Queens

Die Attraktivität einer Serie entsteht aus der Balance von Wiederholung
und Variation. Dominiert Ersteres, droht die Langeweile, dominiert Letz-
teres, entfällt die wohlige Vertrautheit und die Mühelosigkeit der Rezep-
tion. King of Queens ist ein gutes Beispiel für einen gelungenen Ausgleich
zwischen Strukturwiederholungen der szenischen Dynamik und Variatio-
nen in der konkreten Ausgestaltung.
Auch wenn sich durch fast alle Folgen das Thema der oralen Gier zieht
und sich die Komik aus der Infantilität des Protagonisten Doug speist, so
bringen die weiteren Mitspieler doch gewichtige andere Konstellationen
ins Spiel.
Auffällig ist zum Beispiel, dass Carrie, die in der ersten der oben erläu-
terten Szenen eher normbewusst und mütterlich gezeichnet ist, in anderen
Szenen als berufstätige Frau ins Spiel kommt. Sie kümmert sich auch zu
Hause um das Finanzielle und Organisatorische und vertritt somit über die
sozialen und kulturellen Normen hinaus auch das Realitätsprinzip. Doug
handelt oft nicht realitätsgerecht, folgt Träumen und Illusionen, sodass
Carrie ihn auf die Notwendigkeiten des Alltags hinweisen muss. Dies er-
weitert die Struktur Trieb versus Norm um die Dimension Trieb versus Re-
alitätsprinzip. Dougs Ignoranz gegenüber den Anforderungen der Realität

gegen die Öffentlichkeit abgeschottet bleibt, oder um einen Konflikt, der öffentlich wird.
Kann ein Film überhaupt Scham auslösen (umgangssprachlich: ein Fremd-Schämen)?
Ist da – unabhängig davon, ob inhaltlich Öffentlichkeit eine Rolle spielt – nicht eigent-
lich immer ein Publikum mitzudenken, sodass nur von Peinlichkeit gesprochen werden
kann?

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II.4. Achim Würker: King of Queens

zeigt sich zum Beispiel darin, dass die von ihm verantworteten Investitio-
nen, die er nach seinen spontanen Vorlieben tätigt, regelmäßig zu Verlusten
führen.
Noch bedeutsamer ist aber die Tatsache, dass sich die Positionsvertei-
lung in Triebgesteuertheit und Norm- beziehungsweise Realitätsbewusst-
heit bisweilen umkehrt: Carrie gerät des Öfteren durch ihren Ehrgeiz
beziehungsweise ihr Streben nach Aufstieg und sozialer Anerkennung in
Situationen, in denen Doug beschwichtigt und zur Vorsicht mahnt, auch
wenn er sich bisweilen mitreißen lässt. In diesen Szenen geht es um nar-
zisstische Strebungen, die Realitätsbedingungen und Normen in den Hin-
tergrund treten lassen. Nicht nur Doug scheitert immer erneut bei seinen
Versuchen, sich als erfolgreicher Macher in Szene zu setzen, sondern auch
Carrie ist nie erfolgreich darin, ihren Aufstieg zu managen oder die erhoffte
Bewunderung anderer auf sich zu ziehen. Obwohl ihr alle Mittel recht sind
– sie nimmt Nachteile für andere ohne Skrupel in Kauf –, enden ihre kind-
lichen, narzisstischen Inszenierungen regelmäßig in einem Desaster, was
zugleich peinlich und witzig in Szene gesetzt wird. Hier ist es dann Doug,
der sie tröstet und ihr verdeutlicht, dass sie auch ohne den erstrebten Erfolg
mit ihm zusammen glücklich sein kann.
Während Doug im Wesentlichen als Repräsentant oraler Triebstrebun-
gen gezeichnet wird, ist Carrie also eine Repräsentantin von narzisstischen
Entwürfen. Beide Protagonisten sind immer nur kurzfristig erfolgreich
darin, ihre Hoffnungen und Strebungen zu realisieren, beide scheitern
schließlich. Doch dieses Scheitern verblasst am Ende jeder Serienfolge
durch die Harmonie des Paares. Der Zuschauer kann beruhigt darauf
warten, dass in der nächsten Folge erneut das nonkonforme und kindlich-
lustvolle Spiel abläuft.
Eine weitere wichtige, viele Szenen prägende Figur ist Carries Vater,
der im Keller des Hauses mit Doug und Carrie zusammenwohnt. Er
taucht denn auch immer wieder aus der Tiefe auf, greift in zum Teil
grotesker Weise in die Konflikte zwischen Doug und Carrie ein. Er ist
ein »Versorgungsfall«, ist finanziell abhängig und auf die Duldung im
Keller angewiesen. Insofern besteht grundlegend eine Parallele zu Doug
in seinem Beharren auf (oraler) Versorgung. Aber die Übereinstimmung
geht darüber hinaus: Auch er – noch radikaler als Doug – versucht, reali-
tätsferne Wünsche in die Realität umzusetzen. Mehrfach wird nur durch
das Eingreifen von Doug und Carrie verhindert, dass sein Verhalten dra-
matische Folgen hat. Für ihn scheint das Realitätsprinzip nicht zu existie-

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

ren, und er ignoriert Normen, indem er sich radikal opportunistisch ver-


hält und skrupellos lügt und betrügt. Vollkommen kindlich folgt er dem
Prinzip absurder Ausreden und künstlicher Inszenierungen als Opfer der
Verhältnisse.
Zwei weitere Paare verstärken die Geschlechterverteilung bezüglich der
Spannung zwischen Lustprinzip und Realitäts- beziehungsweise Norm-
prinzip: Sowohl Deacon und Kelly Palmer, die mit Doug und Carrie
befreundet sind, als auch Spence und Danny, die in einer Wohngemein-
schaft leben, ähneln in ihrem Zusammenspiel den Protagonisten. Deacon
betont des Öfteren, dass seine Frau von ihm ein (erwachsenes) Verhalten
fordert, was es ihm unmöglich macht, Doug immer nachzugeben. Er ver-
körpert insofern eine Norm- und Realitätsgerechtigkeit aus zweiter Hand,
im Hintergrund ist es Kelly, die ihn steuert. Beim rein männlichen Wohn-
gemeinschaftspaar gibt es ebenfalls eine Rollenverteilung mit Zügen tra-
ditioneller beziehungsweise klischeehafter heterosexueller (Ehe-)Paare, bei
der Spence kocht und für Ordnung sorgt, während sich Danny, ähnlich wie
sein Bruder Doug, um Notwendigkeiten wenig kümmert. So wird durch
die Nebenfiguren in Abmilderung und Variation die Struktur multipliziert,
die schon das Protagonistenpaar erlebbar macht.

Zusammenfassung

King of Queens gibt dem Zuschauer8 Raum, zu regredieren und Trieb-


haftes zu erleben. Er genießt den identifikatorischen Zugang zu eigenen

8 Ich habe in Fußnote 5 erläutert, dass ich zunächst einmal den Film aus männlicher Per-
spektive interpretiere. Nun möchte ich aber zumindest andeuten, weshalb die Inter-
pretation auch erhellend ist, wenn man die Attraktivität der Serie für Zuschauerinnen
verstehen möchte und deshalb die eine weibliche Sicht auf die Szenen betont: Einerseits
wurde deutlich, dass im Falle von Egoismus und Karrierestreben, im Falle der skrupel-
losen Durchsetzung narzisstischer Wünsche die weibliche Hauptfigur Carrie des Öfteren
im Mittelpunkt steht und sie es ist, die amoralisch und triebhaft agiert, was den Genuss
ermöglicht, die kulturellen Normen für eine Weile hinter sich zu lassen. Allerdings ent-
steht bisweilen der Eindruck, dass ihr narzisstisch-triebgesteuertes Verhalten stärker ab-
gewertet wird als Dougs orale Gier, die eher nachsichtig als vernachlässigbare Schwäche
erscheint. Genuss entsteht auch aus einer anderen erwähnten Bedeutungsfacette: Indem
Carrie in vielen Szenen Vernunft, Kultur und Moral repräsentiert, wird die Dominanz ge-
genüber dem Mann (dem Kind) erlebbar.

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inneren Strebungen, die er sonst in der Logik von Notwendigkeit und


Kultur unterdrücken muss. Er erlebt Szenen (mit), in denen sich Oralität
und narzisstische Größenfantasien gegenüber Norm und Notwendigkeit
durchsetzen. Er genießt das, auch wenn am Ende jeder Serienfolge klar
wird, dass dies nur für eine Weile, sozusagen probehalber, gelingt. Der
Abbau der Spannung zwischen Wunsch und Norm, der immer erneut
in Szene gesetzt wird, ist die Quelle des Lachens beim Anschauen der
Comedy. Der Zuschauer darf sich zugestehen, unfähig zum Triebauf-
schub zu sein oder von der genitalen zur oralen Sexualität zu wechseln.
Er darf seinem Egoismus frönen, kann seinen narzisstischen Sehnsüch-
ten nachgehen, radikal und ohne moralische Skrupel. Einfühlend mit
den Figuren lügt und betrügt er um der eigener Wunscherfüllung willen.
Kurz: Beim Anschauen jeder Serienfolge von King of Queens wird der
Zuschauer (kurzzeitig) zum kindlichen King, der dem »Unbehagen in
der Kultur« entflohen ist.

Kulturanalytische Ausblicke

Mir fiel beim Nachdenken über King of Queens der Kontrast zu den
Männerdarstellungen auf, wie ich sie aus den Actionfilmen Hollywoods
kenne. Zwar enthält die Inszenierung des Serienintros eine deutliche
Anspielung auf die Western-Tradition, wenn Doug sich lässig hinter das
Steuer seines Paketboten-Kleinlasters schwingt wie einstmals die Cow-
boys in den Sattel ihrer Pferde oder die rettenden Sheriffs auf den Bock
der Postkutsche. Aber darüber hinaus ist der Unterschied zu den männli-
chen Helden, die mich in meiner Jugend begeistert haben – John Wayne,
Kirk Douglas, Burt Lancaster – radikal: Sie waren von jeder Regression
und triebhaften Gefühligkeit weit entfernt, waren gepanzert gegen das,
was Doug antreibt. Sie handelten hoch funktional und zugleich hoch
moralisch (wie auch immer diese Moral kritisch einzuschätzen ist). Sie
imponierten durch ihre Stärke und ihre Erfolge, denn sie scheiterten nie.
Sie faszinierten durch ihre Konsequenz und Kompetenz. Und die Tra-
dition dieses Männlichkeitsideals setzten spätere Generationen von Ac-
tionstars fort bis hin zur Inszenierung von tatsächlich gefühllosen Kämp-
fern wie Arnold Schwarzeneggers Verkörperung eines Androiden in den
Terminator-Filmen.
Wie passen diese erfolgreichen Männerinszenierungen als Kämpfer und

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

Kampfmaschinen zur Attraktivität der Loser-Männlichkeit9, wie sie King


of Queens präsentiert? Vor dem Hintergrund meiner bisherigen Über-
legungen lässt sich das Verhältnis der beiden so gegensätzlichen Männlich-
keitsinszenierungen als Kontrast von Abwehr und witziger Offenbarung
beschreiben: Es geht im traditionellen Western (und in ähnlich struktu-
rierten Actionfilmen) um die Verdrängung von – gesellschaftlich wie inner-
lich – nicht zugelassenen Persönlichkeitsanteilen und um die Stilisierung
narzisstischer Großartigkeit, die King of Queens offen inszeniert. Während
die Kämpfer-Helden die Illusion befördern, es gebe keinen Regressionssog
und Subjektivität könne konsistent normkonform und erfolgreich funktio-
nal organisiert werden, führt King of Queens diese Regressionsneigung als
Reihung von Gags vor. Was im ersten Fall der Propagierung eines gesell-
schaftskonformen Leitbildes dient, wird im zweiten Fall entlastend konter-
kariert.
Wie relevant die Tradition der Westernhelden und ihrer Nachfahren
ist, zeigt sich, wenn man die Auswirkungen auf die amerikanische Politik
berücksichtigt: Nicht nur Ronald Reagan hat diesen traditionellen Bedeu-
tungshintergrund wahltaktisch genutzt, auch Präsidenten vor ihm haben
den Mythos aufgegriffen. Noch vor Kurzem hat Arnold Schwarzenegger
sein Terminator-Image, das ihn als modernen Nachkommen der Cowboys
beziehungsweise als furchtlosen Kämpfer gegen das Böse erscheinen lässt,
in Wahlerfolg ummünzen können. Hans-Dieter König hat diese Leitbild-
tradition am Beispiel verschiedener Cowboyinszenierungen sozialpsycho-
logisch analysiert. Im Zusammenhang mit William Codys (alias Buffalo
Bill) Westernshows weist er auf Folgendes hin:

»Als Manifestation eines Pseudorituals erweisen sich die Wildwestinszenie-


rungen Codys auch deshalb, weil in ihnen die Wünsche der an die Mütter
gebundenen Söhne keinen symbolischen Ausdruck finden, sie vielmehr das
Drängen nach Wiederverschmelzung mit der Mutter abwehren und in der

9 Es ist nötig, diesen Begriff zu erläutern: Der Serienprotagonist ist nicht umfassend als
Loser, als unattraktiver Verlierer und Unfähiger präsentiert. Das beginnt schon bei der
Aufwertung der Figur durch die attraktive Carrie, die der Zuschauer spontan wahrnimmt
als Spiegelung einer gewissen Attraktivität des Mannes, der diese sexy Frau an sich zu
binden weiß. Es setzt sich fort in der Wahrnehmung von Dougs erstaunlicher Beweglich-
keit, mit der er trotz seiner Körperfülle in manchen Szenen agiert und die körperliche
Fitness, wenn nicht sogar Sportlichkeit, assoziieren lässt.

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II.4. Achim Würker: King of Queens

Wildnis eine eigene Welt mit Ersatzobjekten figurieren. Und so wie die
Männer des Westens nun die zärtliche Bindung an die Mutter in die Bin-
dung an die Gefährten überführen, in deren Nähe sie die Herzlichkeit genie-
ßen, die sie bei der eigenen Mutter vermißt haben, so geben sie ihrem Haß
auf die Mutter, den sie entwickelten, weil diese sie beherrschte und kränkte,
in der Wut auf den Feind und daher im Kampf freien Lauf« (König, 1986,
S. 311).

Und im Hinblick auf die politische Dimension des Cowboy-Mythos


kommt König zu dem Schluss:

»Anders als zu den Zeiten Roosevelts, da der Cowboy seine politpsycho-


logische Funktion dadurch gewann, daß er als der Held der Pionierzeit dazu
aufforderte, sich nach der Inbesitznahme des Wilden Westens nun die ganze
Welt untertan zu machen, greift Reagan auf den Cowboy zurück, um die
Massen für die Verteidigung der herrschenden Machtverhältnisse zu mobili-
sieren« (König, 1986, S. 357).

Interessant ist vor diesem gedanklichen Hintergrund die Selbstinszenie-


rung von Donald Trump: Er scheint die latente Regressionsneigung, die
für die Wirkung von King of Queens eine Rolle spielt, mit der Abwehrhal-
tung, die die Actionhelden in der Tradition des Cowboymythos zur Gel-
tung brachten beziehungsweise bringen, zu verbinden. Sein kolportierter
Heißhunger auf Hamburger gleicht dem von Doug Heffernan, seine Du-
ellinszenierungen mit anderen Machthabern im internationalen System,
wie zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit Kim Jong-un, gehören ins
Genre der Western. Sein protziges Imponiergehabe auf sexuellem wie poli-
tischem Gebiet wiederum wirkt kindlich und triebgesteuert. Seine Ausre-
den und Lügen sowie seine Skrupellosigkeit gleichen der Comedy-Serie,
sein Plädoyer für Waffen und seine Idealisierung von allseitiger Wehrhaf-
tigkeit entsprechen der Westernlogik.
Vielleicht lässt sich also aus der genaueren Betrachtung, woraus sich der
Erfolg von King of Queens speist, auch etwas von den subjektiven Vorstel-
lungswelten beziehungsweise den Trieb- und Abwehrkonflikten verstehen,
die als latenter Hintergrund politischer Ideologien die politische Praxis be-
stimmen.

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

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Zimmermann, H. D. (1982). Trivialliteratur? Schema-Literatur. Stuttgart: Kohlhammer.

Biografische Notiz
Achim Würker, Dr. Dr., Studiendirektor im Ruhestand, freier Wissenschaftler, Mitglied
des Frankfurter Arbeitskreises für Tiefenhermeneutik und Sozialisationstheorie und der
Kommission Psychoanalytische Pädagogik der DGfE. Schüler und Mitarbeiter von Alfred
Lorenzer, seitdem Forschung zu »Szenischem Verstehen« und »Tiefenhermeneutischer
Kulturanalyse«. Arbeitsfelder: Literatur- und Filmanalyse und Psychoanalytische Päda-
gogik. Weitere Informationen sowie Publikationen siehe www.achim-wuerker.de

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II.5. Gilmore Girls
Der warme Schein der Hysterie

Barbara Neudecker

»Where you lead, I will follow, anywhere that you tell me to …« – sieben
Staffeln lang begleitete Carole Kings Stimme den Vorspann der Gilmore
Girls. Die amerikanische Serie hebt sich von anderen Familienserien ab,
nicht zuletzt durch ihre Dialoglastigkeit: Konflikte und innere Befind-
lichkeiten der Protagonistinnen werden wortreich und mit Witz in Szene
gesetzt. Die Serie spricht zwar als »Chick Flick« offenkundig ein weib-
liches Publikum an, doch können auch erstaunlich viele Männer ebenso
wie Feministinnen und Intellektuelle mitreden, wenn es um Lorelai
Gilmore und ihre Tochter Rory geht. Dies lässt vermuten, dass es unter
der unterhaltsamen, süßlichen Oberfläche, auf der »Mädchenthemen«
verhandelt werden, auch um andere Inhalte geht. So war die Serie auch
schon Gegenstand verschiedener sozialwissenschaftlicher (z.B. Kreien-
baum & Knoll, 2011) und psychoanalytischer (Brinkema, 2013; Leitner,
2018) Veröffentlichungen. In diesem Beitrag wird der Frage nachgegan-
gen, was uns an den Gilmore Girls so anspricht und welche Bedeutung die
unter der Oberfläche verborgenen Themen für die Beliebtheit der Serie
haben könnten.

Zum Inhalt der Serie

Lorelai Gilmore und ihre 16-jährige Tochter gleichen Namens, die aber
Rory genannt wird, leben im pittoresken Stars Hollow in Connecticut.
Soziale Probleme, Gewalt oder Abweichungen von amerikanischer He-
teronormativität sind diesem beschaulichen Städtchen fremd. Dafür ist
es von einer Vielzahl freundlich-schrulliger Charaktere bevölkert – etwa
Luke, der schroffe Besitzer von Lorelais Stammlokal, Lorelais naiv-fröhli-
che Freundin Sookie und ihr stets indignierter Mitarbeiter Michel, Rorys

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

beste Freundin Lane und ihre strenge koreanische Mutter Mrs. Kim oder
das rigide Stadtoberhaupt Taylor.
Bereits die Eröffnungsszene (S01E01) ist bezeichnend: In Luke’s Diner
versucht ein Student erst mit Lorelai und dann mit Rory zu flirten, tritt aber
rasch den Rückzug an, als er realisiert, dass es sich um Mutter und Toch-
ter handelt. Während Lorelai und Rory die Situation nützen, um sich über
den jungen Mann lustig zu machen, versteht die aufmerksame Beobachte-
rin: Lorelai und Rory sind anders als andere Mutter-Tochter-Paare, die wir
aus Fernsehserien kennen. Lorelai hatte Rory im Alter von 16 Jahren – also
genau dem Alter, in dem sich Rory zu Beginn der Serie befindet – bekom-
men und alleine aufgezogen. Sie arbeitete sich vom Zimmermädchen zur
Managerin eines Hotels hoch und holt nun mit 32 Jahren ihren Abschluss
an einer Abendschule nach. Sie hat ein enges Verhältnis zu ihrer Tochter,
kann aber nicht kochen, ist unreif, unernst und unpünktlich. Rory wirkt
am Beginn der Serie wie das Gegenteil ihrer Mutter: Sie ist schüchtern, liest
ständig in Büchern und träumt davon, in Harvard zu studieren, um eine be-
rühmte Journalistin zu werden. Dieser akademische Ehrgeiz bringt Dyna-
mik ins beschaulich-oberflächliche Leben der beiden. Rory hat die Gelegen-
heit, auf die elitäre Privatschule Chilton zu wechseln, die ihr den Weg nach
Harvard ebnen würde. Um ihrer Tochter diesen Wunsch zu erfüllen und
die Schulgebühren finanzieren zu können, sieht sich Lorelai gezwungen,
ihre Eltern um ein Darlehen zu bitten, mit denen sie nach Rorys Geburt
gebrochen hatte. Richard und Emily, betuchte Mitglieder der High Society,
stimmen unter der Bedingung zu, Anteil an Rorys Leben haben zu wollen –
vor allem aber müssen sich Lorelai und Rory dazu verpflichten, jeden Frei-
tagabend bei den Eltern zum Abendessen zu erscheinen. Nur unter Protest
willigt Lorelai ein. Während Rory und ihre Großeltern sich rasch annähern,
flammen zwischen Lorelai und ihren Eltern ständig alte Konflikte auf. Die
Auseinandersetzungen mit Emily lassen die freundschaftliche Verbindung
zwischen Lorelai und Rory besonders harmonisch wirken. Doch auch zwi-
schen den beiden kommt es immer wieder zu kleineren Konflikten. Wäh-
rend Rory sich nach ihrem Schulabschluss entgegen aller bisherigen Pläne
für ein Studium in Yale entscheidet und Lorelai ihr eigenes Hotel eröffnet,
wechseln die Männer im Leben der beiden Frauen. Rory scheint in ihren
Beziehungen – zunächst der sanfte Dean, dann der rebellische Jess und
schließlich der reiche Schnösel Logan – relativ beständig, die Männer in
Lorelais Leben wechseln rascher. Immer wieder taucht Rorys Vater Chris-
topher auf, und auch mit Luke, der seit langem in Lorelai verliebt ist, gibt

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II.5. Barbara Neudecker: Gilmore Girls

es viele dramatische Verstrickungen, ehe die beiden endgültig zueinander


finden. Die Serie endet nach sieben Jahren mit Rorys Abschluss am College,
einer glanzvollen Karriere als Journalistin scheint nichts im Wege zu stehen.
Ein besonderes Merkmal der Serie liegt im Element der Inszenierung.
So werden die Orte der Handlung aufwändig und detailreich in Szene ge-
setzt, um stimmungsvolle Bilder zu erzeugen: Sookies Hotelküche mutet
mit ihren brutzelnden Pfannen, den vollen Schüsseln und Platten wie ein
Schlaraffenland oraler Versorgung an. Lorelais Häuschen wirkt wie eine
heimelige, gentrifizierte Version der Villa Kunterbunt, und das Städtchen
Stars Hollow ist stets der Jahreszeit entsprechend dekoriert. Aber auch
innere Prozesse und Zustände werden häufig als etwas inszeniert, das sich
im Außen manifestiert. Dies geschieht in Form von raschen, schlagfertigen
Dialogen oder wortreichen Schilderungen innerer Befindlichkeiten oder
durch dramatisch gesetzte Handlungen der Figuren. Nun liegt das drama-
tische Element zweifellos im Wesen einer Fernsehserie, die im Englischen
als »drama« bezeichnet wird, doch darüber hinaus könnte es auch einen
Hinweis auf die latente Psychodynamik der Protagonistinnen geben, wie
ich später noch ausführen werde.
Das auffallende Element des In-Szene-Setzens lässt an das psychoanaly-
tische Konzept des Szenischen Verstehens denken. Als Herangehensweise,
um den latenten unbewussten Gehalt von Szenen zu entschlüsseln (Laim-
böck, 2013), kann das Konzept Lorenzers auch aufschlussreich sein, um
die Inszenierungen der Gilmore Girls zu verstehen:

»Es geht um die Überwindung, das Verstehen der in der Szenenoberfläche


notwendig enthaltenen Sinnlücken, die sich aus der Unmöglichkeit, eine
völlig stimmige Szene zu gestalten, ergeben. Konflikte, Ambivalenzen und
Ängste sind neben der Überforderung der szenischen Funktion Gründe für
die Brüchigkeit der Szenenoberfläche« (Laimböck, 2013, S. 889).

So kann zusätzliches Material über innere Prozesse generiert werden, das


das Beobachtete, den gesprochenen Text und biografische Informationen
über die handelnden Personen ergänzt. Durch den Blick auf die Szene er-
schließen sich tieferliegende Konflikte und Zusammenhänge, die den Blick
auf die an der Oberfläche dargestellten Themen erweitern und verändern.
Welche zentralen Themen werden bei den Gilmore Girls verhandelt? Mit
Blick auf Rorys Alter bietet sich die Annahme an, dass es um die Adoles-
zenz und die damit verbundenen Konflikte geht.

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

Die Gilmore Girls – eine Geschichte der Adoleszenz?

Die Geschichte der adoleszenten Rory und ihrer Mutter eignet sich auf
verschiedenen Ebenen als Projektionsfläche: Mädchen und junge Frauen
fühlen sich von den Themen angesprochen, die auch Rory beschäftigen:
das erste Verliebtsein, die Peers, die Eltern, die offene Zukunft. Mit Lore-
lai können sich alle Frauen jenseits der Adoleszenz identifizieren, die ihren
Töchtern ein gutes Vorbild sein wollen, dabei aber doch immer wieder an
ihre Grenzen stoßen. Eine dritte Ebene ist die Konfrontation mit der eige-
nen Jugendzeit, die aber bei den Erwachsenen anders als bei den Töchtern
in der Vergangenheit liegt und eine Projektionsfläche für Schmerz, Neid
und Sehnsucht darstellt.
Im Vergleich zu anderen Jugendlichen verläuft Rorys Adoleszenz auf
den ersten Blick wenig krisenhaft, doch bald wird deutlich, dass auch sie
mit den großen Entwicklungsaufgaben dieses Lebensabschnitts ringt. In-
teressant in diesem Zusammenhang ist, dass ein relevantes triangulieren-
des väterliches Objekt in Rorys und Lorelais sehr enger Beziehung fehlt.
Eine zentrale Entwicklungsaufgabe für das adoleszente Mädchen ist die
Aneignung des neuen, geschlechtlichen Körpers und lustvoller weiblicher
Sexualität (Flaake, 1992) und damit der Abschied vom früheren kindli-
chen Selbstbild (King, 2001, S. 244). Rory scheint diese Auseinanderset-
zung zunächst zu vermeiden und zeigt sich eher als geistiges Wesen, das
an Schule, Büchern und Populärkultur interessiert ist und auf Annäherun-
gen von Jungen gehemmt reagiert. Wie Poluda (1999, S. 109) beschreibt,
»kapselt sich das Mädchen nach außen bzw. von den Elternkörpern ab, um
ihren reifenden sexuellen Körper zu integrieren«. Auch wenn Rory wenig
abgegrenzt von ihrer Mutter erscheint und ihr alles erzählt, zeigt sich all-
mählich doch, dass sie ihre ersten erotischen Erfahrungen wie den ersten
schüchternen Kuss mit Dean oder ihr Interesse an Jess nicht oder nicht
gleich mit ihrer Mutter teilt.
Auch die andere große Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz, die Ablö-
sung von den elterlichen Primärobjekten (Flaake, 2000), scheint bei Rory
anfangs weniger konflikthaft abzulaufen als bei anderen Jugendlichen.
Mutter und Tochter sind eng, vielleicht etwas zu eng, miteinander ver-
bunden, und auch grenzüberschreitende mütterliche Aktionen lösen bei
Rory keinen nachhaltigen Protest aus. Später allerdings werden die Kon-
flikte zwischen den beiden mit großer Heftigkeit ausgetragen. Am Ende
der fünften Staffel überwerfen sich Mutter und Tochter, und Rory wählt

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nicht ihren Vater, sondern ihre Großeltern, zu denen Lorelai ein äußerst
konflikthaftes Verhältnis hat, als triangulierendes Objekt.
Um diese Dynamik besser zu verstehen, ist es notwendig, einen Blick
auf das zweite adoleszente Narrativ zu werfen, das die Serie bestimmt, näm-
lich Lorelais Biografie. Aufgewachsen in der konservativen Upper Class
Connecticuts, fühlt sie sich schon früh von den Zwängen und Konventio-
nen ihrer Eltern eingeengt und bekommt immer wieder bestätigt, dass sie
ihnen nicht entsprechen kann. Als sie mit 16 ungeplant schwanger wird,
widersetzt sie sich den elterlichen Plänen einer Heirat mit Christopher.
Stattdessen bekommt sie Rory alleine in einem Spital, reißt mit ihr von
zuhause aus und heuert als Zimmermädchen in einem Hotel, das den be-
zeichnenden Namen Independence Inn trägt, an. Die Besitzerin des Hotels
und ihre Kollegen werden zu einer Ersatzfamilie. Der Bruch mit ihren
Eltern bleibt unbearbeitet, und bis zu Rorys 16. Geburtstag ist der Kontakt
auf das Nötigste beschränkt. Für Lorelai endete der »Entwicklungsspiel-
raum« der Adoleszenz, in der das Mädchen experimentieren und kreative
Lösungen für die anstehenden Veränderungsprozesse finden kann (King,
2001, S. 247), durch ihre Schwangerschaft abrupt. Wenn man darüber
hinaus annimmt, dass es Emily schon vor dieser Zeit schwergefallen ist zu
akzeptieren, dass ihre Tochter eigene Wünsche verfolgt, dann wäre Lore-
lais adoleszenter »Möglichkeitsraum« (King, 2006, S. 219) auch ohne
ihre Schwangerschaft eingeschränkt gewesen. Zum einen hätte die Mutter-
Tochter-Dynamik den Spielraum eingeschränkt, zum anderen die kulturel-
len Zwänge der Society, die keine Lösung anbieten, »Individuierung und
Bindung in Einklang zu bringen« (a. a. O.).

»Wenn junge Frauen bruchlos vom Kind-Sein zum Kind-Haben gelangen,


gibt es keine Übergangsformen jugendlicher Reifung, weder Raum noch
Zeit für Trauer und neue Erfahrung, die die Trennung von der Kindheit
umgestalten helfen könnten. […] Die innere Welt von Selbst und Objekten
kann nicht neu geordnet werden, so dass Wiederholungszwänge vorgezeich-
net sind« (King, 2001, S. 246f.).

16 Jahre später kommt Lorelai als Rorys Mutter in die Situation, ihre Toch-
ter durch eine Entwicklungsphase zu begleiten, die sie selbst – eben wegen
Rory – nicht kreativ lösen konnte, sondern sich stattdessen einer Lösung
des Ablösungskonflikts mit ihren Eltern durch Flucht entzog.
Im Zentrum der Serie stehen also zwei Mutter-Tochter-Beziehungen,

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die vom Thema der (adoleszenten) Ablösung geprägt sind. Im Vergleich


zu Emily, die als Mutter hart und unerbittlich wirkt, erscheint Lorelai ihrer
Tochter sehr nahe, freundschaftlich und verständnisvoll. Wird sie es schaf-
fen, die vorgezeichneten Wiederholungszwänge aufzubrechen? Leicht
gerät aus dem Blick, dass Lorelai als Mutter auch problematische Züge
aufweist. Dass sie nicht kochen kann oder dass es viele Jahre lang keine
relevante väterliche Figur in Rorys Leben gab, wird oft als feministisches
Statement betrachtet. »Hätte ich doch nur so eine großartige Mutter wie
Lorelai gehabt!«, schwärmt eine Kollegin, die als graduierte Bildungswis-
senschaftlerin aber durchaus ein differenzierteres Verständnis von Eltern-
Kind-Beziehungen hätte. Dies entspricht auch dem Bild, das Lorelai von
sich als Mutter zeichnet. Dass sie ihre Tochter nach sich selbst benannt hat,
versteht Lorelai nicht als narzisstischen, sondern als feministischen Akt (an
den »nom de la mère« knüpft Brinkema [2013, S. 8] in ihren Ausführun-
gen zu den Gilmore Girls an).
Das Wissen um Lorelais ungelöste Entwicklungsthemen gibt Anlass,
genauer zu untersuchen, ob sich Lorelais ungelöste Konflikte in der Be-
ziehung zu ihrer Tochter widerspiegeln. In Anlehnung an das Konzept
des Szenischen Verstehens soll am Beispiel von Rorys erstem Tag an ihrer
neuen Schule ein genauerer Blick auf die »Bruchlinien, an denen die Ge-
staltoberfläche zerreißt« (Laimböck, 2013, S. 888) in der Beziehung zwi-
schen Lorelai und Rory geworfen werden.

Erste Brüche an der Oberfläche

Am Morgen von Rorys erstem Schultag in der elitären Chilton Academy


ist Rory bereits früh in ihrer Schuluniform, doch Lorelai verschläft und
muss Rory in Eile und in Hotpants und Cowboystiefeln zur Schule brin-
gen, da sie vergessen hat, ihre Kleidung rechtzeitig aus der Reinigung zu
holen (S01E02). Bereits hier zeichnet sich ab, dass Rory in dieser Bezie-
hung häufig die Vernünftigere, die Erwachsene ist. Den langen Blick, den
Rory aus dem Auto heraus ihrer alten Schule zuwirft und der Ausdruck
von Unsicherheit, Zweifel oder Abschiedsschmerz sein könnte, bemerkt
die Mutter nicht. Vor der neuen Schule gibt Lorelai ihrer Tochter im Auto
zwar noch ermutigende Worte mit, will dann aber schnell wegfahren und
ihre Tochter alleine zur Schulleitung schicken, um nicht in ihrer unange-
messenen Kleidung gesehen zu werden. Doch Rory besteht darauf, von

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ihrer Mutter begleitet zu werden, und obwohl sie spät dran sind und Rory
anzusehen ist, dass sie sich unwohl fühlt, beginnt Lorelai vor dem Schul-
gebäude mit einem Vater zu flirten. Auch im Büro des Direktors fällt sie
durch ihre unpassende Kleidung und ihren Redefluss auf und zieht dadurch
mehr Aufmerksamkeit auf sich als Rory. Diese scheint ihrer Mutter all das
nicht übelzunehmen, und als sie am Nachmittag nach einem frustrierenden
und anstrengenden ersten Tag abgeholt wird, lässt sie sich mit einer Um-
armung und einem mitgebrachten Coffee-to-go von Lorelai rasch trösten.
Lorelai scheint Rorys Bedürfnisse und die Ängste, die die neue Schulsitu-
ation in ihr auslösen, gar nicht wahrzunehmen. Vielmehr ist sie mit einem
Konflikt mit ihrer eigenen Mutter beschäftigt, die am Morgen ebenfalls im
Büro des Direktors anwesend war, um ihr Engagement an Rorys Schulbe-
such klar zum Ausdruck zu bringen.
Die »Unstimmigkeit« (Laimböck, 2013, S. 888), die bei näherer Be-
trachtung der Szene irritiert, liegt weniger im unangemessenen Verhalten
Lorelais als in Rorys Reaktion darauf. Zu erwarten wäre, dass eine pflicht-
bewusste, struktursuchende Jugendliche wie Rory in Stress gerät, wenn
ihre Mutter den wichtigen ersten Tag an der neuen Schule zu sabotieren
droht, und dass sie entweder stärkeren Protest zeigt oder sich aber von
ihrer Mutter unabhängig macht, indem sie beispielsweise diesen Tag ohne
Beteiligung ihrer Mutter plant. Rory aber macht den Eindruck, als wäre
eine Situation wie diese nichts Neues für sie, und als sie abends nach einem
Gespräch über ein Problem an der neuen Schule zu Lorelai sagt »I’ll just
figure it out myself«, lässt sich dazudenken, dass Rory offenbar schon oft
alleine mit schwierigen Situationen fertigwerden musste. Dies scheint vor
allem dann der Fall zu sein, wenn in Lorelai eigene Bedürfnisse auftauchen,
die es ihr schwermachen, die Bedürfnisse ihrer Tochter wahrzunehmen.
Die Perspektive des Szenischen Verstehens hilft also, auch ohne biografi-
sches Hintergrundwissen Hinweise dafür zu finden, dass die Beziehung
zwischen den beiden nicht so unbelastet ist, wie man auf den ersten Blick
vermuten würde.
Doch zunächst erscheinen Lorelai und Rory – anders als Lorelai und
Emily – nicht als Beispiel einer gestörten Mutter-Tochter-Beziehung. Auch
die Zuseherin fühlt sich geneigt, Lorelais Selbstbild einer Löwenmutter,
die die Bedürfnisse ihrer Tochter über alles andere stellt, zu übernehmen.
Doch hat man erst begonnen, die Brüche an der Oberfläche zu sehen, wird
man nachdenklich: Wenn es Lorelai als erwachsener Frau schwerfällt, am
ersten Schultag ihrer Tochter ihre eigenen Bedürfnisse hintanzustellen,

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wie mag es den beiden dann in Rorys ersten Lebensjahren ergangen sein?
Wie sehr konnte Rory ihre Mutter als feinfühlig erleben, obwohl Lorelai
damals offenbar ein impulsiver Teenager in einer prekären Lebenssituation
war? Die wissenschaftlich gut belegten Belastungen und Risiken adoles-
zenter Mutter-Kind-Paare (Lehmann, Hiermann & von Klitzing, 2010)
kommen uns bei den beiden nicht gleich in den Sinn, doch achtet man
auf die »Bruchlinien«, erscheint vieles in einem anderen Licht. Könnte es
denn sein, dass Rory sich in ihre Bücher und das schulische Lernen flüch-
ten muss, um dort Sicherheit zu finden und sich unabhängig von elterli-
chen Objekten zu machen, von denen sie sich nicht ausreichend Schutz
und Halt versprechen kann?
All dies veranlasst zu der Annahme, dass die Dynamik der Protagonis-
tinnen nicht bloß entwicklungstypische Prozesse der Adoleszenz abbildet,
sondern Hinweise auf problematische Entwicklungen und pathologische
Prozesse gibt, die sich auf den ersten Blick nicht gleich erschließen. Viel-
leicht lohnt es sich, Lorelais sarkastischer Bemerkung zu folgen, wenn man
herausfinden wolle, was mit ihr los ist, müsste man Sigmund Freud ausgra-
ben »and have him work on me full time« (S02E04). Unternehmen wir
also den Versuch einer psychoanalytischen Annäherung.

Lorelai und das hysterische Theater

Leitner (2018) hat in ihrer psychoanalytischen Interpretation der Serie die


ödipale Thematik und das fehlende väterliche Element hervorgehoben.
Dass die männlichen Objekte in der Serie fehlen oder neben den starken
weiblichen Persönlichkeiten blass wirken, stimmt zweifellos, greift aller-
dings nicht weit genug, wenn es um das Verstehen der Psychodynamik Lo-
relais (und in weiterer Folge auch jener von Rory) geht.
Lorelai und Rory wirken sehr aufeinander bezogen. Bei näherer Be-
trachtung wird allerdings deutlich, dass dies vielleicht die einzige wirklich
nahe Beziehung ist, die Lorelai hat. Ihre einzige Freundin ist Sookie, doch
auch vor ihr zeigt sich Lorelai nur selten unverstellt. Die Beziehung zu
Luke in der Zeit vor ihrer Romanze wird als freundschaftlich dargestellt,
doch für eine Freundin weiß Lorelai erstaunlich wenig über Lukes Leben –
und interessiert sich auch nicht dafür, mehr über ihn zu erfahren. Erst als
sie eine Beziehung miteinander führen, beginnt Lorelai sich damit ausei-
nanderzusetzen, dass sie sehr unterschiedliche Lebensstile haben. Lorelai

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ist mit ganz Stars Hollow bekannt – doch all diese Beziehungen sind zwar
freundlich, aber oberflächlich und unverbindlich. Dies gilt auch für ihre
Männerbeziehungen, die sich in der Regel dadurch auszeichnen, dass Lo-
relai der Hof gemacht wird und sie sich irgendwann darauf einlässt, aber
eigentlich nichts an ihrem bestehenden Leben verändern möchte. Charak-
teristisch für die meisten von Lorelais Beziehungen ist, dass sie einerseits
unverbindlich wirken und andererseits oft mit viel Dramatik und Inszenie-
rung verbunden sind (zum Beispiel ein Heiratsantrag in einem Meer aus
tausend Blumen). Die Inszenierung und das Flüchtige zählen zu den Merk-
malen der Hysterie, und tatsächlich weist Lorelai Anzeichen einer hysteri-
schen Persönlichkeit auf: Sie zieht durch ihr extravertiertes Verhalten viel
Aufmerksamkeit auf sich, doch ihre Emotionalität wirkt oft aufgesetzt und
unangemessen. Ihre Bedürfnisse – nach Kaffee, nach Hamburgern, nach
prompter Bedienung ihrer Anliegen – setzt sie mit viel Theatralik in Szene,
doch sie sind oft genauso flüchtig wie ihre Ideen und Pläne. Ihr »impressio-
nistischer«, am Augenblick orientierter Denkstil (Rohde-Dachser, 2008,
S. 338), der als ein Merkmal histrionischer Persönlichkeitsstörungen gilt
(Mentzos, 2009, S. 93), wird zum Beispiel deutlich, wenn sie den flirten-
den Vater einer Mitschülerin ihrer Tochter abweist, weil sie Rory in ihrer
neuen Schule nicht in eine unangenehme Situation bringen möchte, sich
aber kurz darauf auf eine noch viel unangemessenere Beziehung zu Rorys
Englischlehrer einlässt. Trotz ihrer tief ausgeschnittenen Kleider und ihres
kokett-verführerischen Verhaltens erscheint Lorelai nicht als begehrende
Person, die besonderes Interesse an Sexualität hat. Sie setzt diese Attribute
eher dazu ein, um andere dazu zu bringen, ihre Anliegen zu erfüllen. Auch
dies passt ins Bild der hysterischen Persönlichkeit.
Nun wäre die von Leitner angeführte ödipale Problematik kein Wider-
spruch zur Hypothese, dass das Geschehen in und um Lorelai von einer
hysterischen Dynamik geprägt ist, ging Freud doch davon aus, dass die Hys-
terie in ungelösten ödipalen Konflikten wurzelt (Breuer & Freud, 1895).
Im gegenwärtigen psychoanalytischen Diskurs besteht allerdings weitge-
hend Einigkeit, dass mit dem Konzept »Hysterie« sehr unterschiedliche
klinische Bilder zusammengefasst werden, die allenfalls gemeinsam haben,
dass sie »mehr Schein als Sein« produzieren (King, 2001, S. 236). Auf
die Differenzierungen zwischen hysterischer, hysteriformer und histrio-
nischer Persönlichkeit beziehungsweise Persönlichkeitsstörung bei unter-
schiedlichen Autorinnen und Autoren kann hier nicht näher eingegangen
werden (vgl. dazu Berberich, 2016). Als »Brückenkonzept« (Küchenhoff,

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2002, S. 243) umspannt die Hysterie auch unterschiedliche psychodyna-


mische Prozesse, bei denen neben ödipalen zumeist auch frühe präödipale
Konflikte eine bedeutende Rolle spielen (z.B. Küchenhoff, 2002; Rohde-
Dachser, 2008; Mentzos, 2009). Jene Konzepte, die die Hysterie als frühe
Störung beschreiben, eignen sich vermutlich mehr zum Verständnis von
Lorelais Persönlichkeitsstruktur als ödipale, die die Unfähigkeit der hyste-
rischen Persönlichkeit, befriedigende Beziehungen zu leben, damit erklä-
ren, dass die Bindung an das gegengeschlechtliche ödipale Objekt niemals
aufgegeben werden konnte (Küchenhoff, 2002, S. 227). Nach dem, was
wir über Lorelais Familie wissen, ist es fraglich, ob der Vater in Lorelais
Kindheit überhaupt ein ödipales Objekt in diesem Sinne sein konnte. Da-
rüber hinaus erscheint es wenig plausibel, dass in einem Familiensystem,
das von starken Frauenpersönlichkeiten und hoch ambivalent besetzten
Mutter-Tochter-Beziehungen geprägt ist, dem schwachen Vater eine stär-
kere Bedeutung für die Entwicklung der Persönlichkeit zukommen soll
als der mütterlichen Objektbeziehung. Rohde-Dachser sieht in der Hys-
terie vielmehr eine pathologische »innere Organisation an der Schwelle
zur symbolischen Ordnung, die dazu dient, die Trennung der ursprüng-
lichen Mutter-Kind-Einheit zu verleugnen« (2008, S. 333). Die Trennung
dieser Einheit und die »Einführung von Differenz« (a. a. O., S. 334) muss
in der Hysterie verleugnet werden, weil sie mit der Anerkennung eigener
Begrenztheit und einem Gefühl des Mangels an der Stelle des verlorenen
Objekts verbunden und zu schmerzhaft wäre. Stattdessen wird der Illusion
gefolgt, es existiere ein ideales Objekt des Begehrens, »das volle Erfüllung
verspricht« (a. a. O.). Wenn man bedenkt, wie wenig Emily es zulassen
kann, ihre Tochter und später auch ihre Enkeltochter als autonome Per-
sönlichkeiten mit einem eigenen Willen zu erleben, dann war dies vermut-
lich bereits in Lorelais früher Kindheit so. Vor diesem Hintergrund liegt
die Annahme nahe, dass es mit der aufkeimenden Autonomieentwicklung
Lorelais zu einem Bruch in der Mutter-Tochter-Beziehung gekommen sein
könnte, der von der Tochter als schmerzhafte Trennung oder sogar als Ver-
lust eines guten mütterlichen Objekts erlebt wurde.
Auch in der weiteren Schilderung der Hysterie bei Rohde-Dachser
können wir Lorelai wiederfinden: Gefühle der Einsamkeit und der Ver-
lassenheit dürfen nicht offenbar werden und werden in späteren Jahren
durch das »hysterische Theater« (a. a. O., S. 337) überdeckt und manisch
abgewehrt. Verhüllung und andere Abwehraktivitäten, die die Realität ver-
leugnen und durch Illusionen ersetzen, sind typisch für die Hysterie. Dazu

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passt, dass Lorelai gut nähen kann und Rory Kleider für besondere Anlässe
schneidert. Auch hier geht es auf einer sehr konkreten Ebene um Verhül-
lung und Inszenierung von Weiblichkeit.
Mentzos (2009, S. 97) sieht als gemeinsamen Modus aller hysterischen
Bilder

»eine charakteristische unbewusste Inszenierung, innerhalb derer der Be-


treffende, das Objekt und die Situation sowohl für die anderen, aber auch
insbesondere für sich selbst anders erscheinen sollen, als sie sind. Die Insze-
nierung stellt den Betreffenden in ein anderes Licht: Er soll besser, stärker,
schöner, gewinnender […] erscheinen, als er tatsächlich ist.«

So setzt sich Lorelai als unabhängige, unzerstörbare, begehrenswerte Po-


wer-Frau in Szene, der es höchstens an Koffein und Kohlenhydraten man-
gelt, aber nicht an Beziehung. Dahinter liegt aber eine tiefe Ambivalenz
verborgen (Küchenhoff, 2002, S. 232), in der Nähe und Zugehörigkeit
gesucht und gleichzeitig gefürchtet werden. So bleibt Lorelai eine »Wand-
lerin zwischen zwei Welten« (Rohde-Dachser, 2008, S. 341), die sich nicht
festlegen kann:

»Früher oder später wird die Hysterikerin jeden zurückweisen, der sie liebt,
und sich nach einem anderen sehnen […] Denn sie lebt von der Sehnsucht,
und Sehnsucht ist mit Abwesenheit verbunden. Erfüllung würde dieser
Sehnsucht ein Ende setzen. Solange dies nicht geschieht, bleibt jede Mög-
lichkeit offen. Aus dieser selbst kreierten Unbestimmtheit beziehen Hysteri-
kerinnen ihr Lebenselixier« (a. a. O., S. 342).

Bollas (zit. nach Küchenhoff, 2002, S. 228) betont, dass in der Hysterie
sowohl Sexualität als auch psychische Entwicklung abgewehrt werden
müssen. Tatsächlich wirken Lorelais Beziehungen oft erstaunlich leiden-
schaftslos und desexualisiert, und wenn sie ihre Beziehung zu Luke mit den
Worten »He feeds me!« charakterisiert, dann ist das mehr als bezeich-
nend. Die den Beziehungen entzogene Sexualität wird in der Hysterie auf
andere Objekte verschoben, etwa durch die autoerotische Besetzung des
eigenen Körpers oder von Sprache, was bei Lorelai der Fall zu sein scheint.
»Die Sprache selber wird autoerotisch aufgeladen, dann ist es nicht mehr
wichtig, was inhaltlich gesagt wird, sondern nur noch[,] dass etwas gesagt
wird« (a. a. O.).

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Indem die Hysterikerin sich nicht festlegt, kann wirkliche Entwick-


lung nicht stattfinden, kann sie nicht erwachsen werden. Die Verleugnung
des Getrenntseins muss immer wieder aufs Neue inszeniert werden: »Im
hysterischen Theater gibt es keinen letzten Akt« (Rohde-Dachser, 2008,
S. 339).
In der Beschreibung der inneren Dynamik der Hysterie findet sich also
vieles, mit dem sich Lorelais Verhalten besser verstehen lässt. Das Bild
vervollständigt sich weiter, wenn an die bereits erwähnten Entwicklungs-
aufgaben in der Adoleszenz angeknüpft wird (King, 2001). Nach King
fixieren sich hysterische Prozesse, wenn der adoleszente »Entwicklungs-
spielraum« verkürzt wird, in dem mit der neuen genitalen Körperlichkeit
experimentiert und diese schließlich psychisch integriert werden kann.
Diese Einschränkung kann wie zu Freuds Zeiten kulturell determiniert sein
oder auch dadurch, dass familiär keine Lösungen angeboten werden, wie
Individuierung und Bindung vereinbar werden können. Nach King (2001,
S. 247) ist einer der Gründe, warum die Hysterie bei Frauen häufiger als
bei Männern auftritt, dass Mädchen früher und heute eher gefährdet sind,
ihre Adoleszenz nicht in befriedigender Weise abschließen zu können. Mit
16 Jahren ein Kind zu bekommen, setzt dem adoleszenten Experimentieren
mit Sicherheit ein jähes Ende. Die »kindlich unausgereifte Psyche und der
erwachsen gewordene genitale Körper treffen dann gewaltsam unvermit-
telt aufeinander« (a. a. O., S. 246).
Auch King betont den mit der Hysterie verbundenen Wiederholungs-
zwang, der dadurch entsteht, dass durch die Verkürzung der Adoleszenz die
»innere Welt von Selbst und Objekt« (a. a. O., S. 247) nicht neu geordnet
werden kann. Wie sehr Lorelai durch Wiederholung innere Reifung ver-
meidet, wird in der Fortsetzung der Serie neun Jahre später deutlich, auf die
später noch eingegangen wird.
Doch zunächst stellt sich die Frage, wie sich die hysterische Persönlich-
keit der Mutter auf die Tochter auswirkt. Wiederholt sich das hysterische
Theater auch in der nächsten Generation? Die Analogien – derselbe Name,
das bedeutsame Alter von 16 Jahren – könnten es nahelegen … Doch letzt-
lich hängt die Frage, ob Lorelai eine »tolle« Mutter ist oder doch nicht,
nicht vom Ausmaß ihrer pathologischen Tendenzen ab, sondern davon, ob
und wie sich diese auf ihre Beziehung zu Rory und deren Entwicklung aus-
wirken. Behindern die Schwierigkeiten der Mutter, zu einer erwachsenen
Persönlichkeit zu reifen, auch Rory in der Bewältigung ihrer adoleszenten
Entwicklungsaufgaben?

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II.5. Barbara Neudecker: Gilmore Girls

Rory – die andere Lorelai

Wie bereits angedeutet, wirkt Rory zu Beginn der Serie wie eine vernünf-
tigere Version ihrer Mutter. Zwar ernährt auch sie sich ungesund, kann
viel und schnell reden, ihrer Meinung pointiert Ausdruck verleihen und
sich in Nebensächlichkeiten verlieren. Doch die Attribute, die bei ihrer
Mutter einen hysterischen Anschein erwecken, findet man bei ihr kaum:
Anders als ihre Mutter versucht sie zu vermeiden, Aufmerksamkeit auf sich
zu ziehen, sie dramatisiert die Dinge in ihrem Leben nicht mehr, als es in
der Adoleszenz üblich ist. Sie wirkt emotional stabiler als ihre Mutter und
setzt dem impressionistischen Denkstil ihrer Mutter abwägendes, logisches
Denken entgegen, das die Konsequenzen ihrer Handlungen für sich selbst
und andere berücksichtigt. Im Gegensatz zu anderen Mädchen ihres Alters
ist sie wenig auf ihr Äußeres und ihre Wirkung auf andere bedacht.
Zwar endet ihre erste Beziehung zu Dean, weil sie sich zu Jess hinge-
zogen fühlt, doch lässt sich daraus kein hysterisches Muster des Zurück-
weisens, um weiter von der Sehnsucht nach einem idealen Objekt leben zu
können, ableiten. In späteren Beziehungen ist Rory diejenige, die verlassen
wird beziehungsweise mit dem Zweifel leben muss, nicht gut oder liebens-
wert genug zu sein. Dies scheint der große Unterschied zwischen Rory und
Lorelai zu sein: Gefühle von Unsicherheit und Selbstzweifel, die bei Lore-
lai nicht spürbar werden dürfen, nehmen in Rorys Erleben großen Raum
ein. Könnte dies ein Hinweis darauf sein, dass es für sie in ihren ersten Le-
bensjahren schwierig war, ein Bild von sicheren Beziehungen zu bedeutsa-
men Anderen zu verinnerlichen? Über ihre Beziehung zu Dean sagt sie, bei
ihm hätte sie gelernt, wie sich »Sicherheit« anfühlt (S04E22) – das würde
aber bedeuten, dass sie dieses Gefühl zuvor in dieser Form nicht kannte.
In einem Punkt könnte man allerdings eine Parallele zum hysterischen
Modus ausmachen: Ähnlich wie Lorelai wirkt auch Rory auffallend unver-
bunden mit ihrer Leiblichkeit, ihr Körper scheint wenig besetzt zu sein.
Beide machen keinen Sport und ernähren sich von Junk-Food. Interessan-
terweise verhalten sich auch ihre Körper in einem gewissen Sinne abgespal-
ten – sie sind trotz der wenig fürsorglichen Behandlung gesund, attraktiv
und leistungsfähig. Hier könnte aber auch ein Hinweis auf frühe Defizite
in der Persönlichkeitsbildung verborgen sein: So wie sich die vielen Kalo-
rien nicht am Körper »anlegen«, konnten möglicherweise auch nährende
Beziehungserfahrungen nicht in ausreichender Form zur Strukturbildung
genutzt werden. Dass beide nach einem üppigen Abendessen bald wieder

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

Hunger bekommen und etwas essen müssen, verweist auf einen frühen
Mangel, einen Hunger, der nicht gestillt werden kann.
Zusammenfassend entsteht in den ersten vier Staffeln dennoch der Ein-
druck, dass es sich bei Rory um eine typische Adoleszente mit altersgemä-
ßen inneren und äußeren Konflikten handelt. Dann allerdings erschüttert
eine massive Adoleszenzkrise Rorys Leben und die Beziehung zu ihrer
Mutter: In ihrem Bestreben, eine erfolgreiche Journalistin zu werden, ab-
solviert sie ein Praktikum bei einer Zeitung, deren Besitzer der Vater ihres
Freundes Logan ist. Als er ihr mitteilt, sie hätte nicht das Zeug zu einer
guten Journalistin, bricht für sie die Welt zusammen. Sie landet im Ge-
fängnis, nachdem sie mit Logan ein Boot gestohlen hat, bricht ihr Studium
in Yale ab und zieht ins Gästehaus ihrer Großeltern (S05E22). Lorelai ist
nicht in der Lage, dies zu akzeptieren, und bricht den Kontakt zu Rory und
ihren Eltern ab. Diese Situation würde viel Material bieten, um Lorelais
innere Welt weiter zu erforschen: ihre Unfähigkeit, Differenz zu ertragen
und sich mit Rorys Autonomiewünschen auseinanderzusetzen, ihre Flucht
aus der Beziehung, dort, wo es darum ginge, einen Konflikt miteinander
auszutragen und daran zu wachsen, und das Eröffnen eines neuen Schau-
platzes – sie macht Luke einen Heiratsantrag und schafft sich einen Hund
an (der im Übrigen ebenfalls einige Kriterien einer hysterischen Persön-
lichkeit erfüllen würde).
Doch wir wollen bei Rory bleiben: Auch wenn anzunehmen ist, dass
diese verspätete Krise der inneren Ablösung von den Erwartungen und der
engen Verbundenheit mit ihrer Mutter dient, bleiben Fragen offen. Ist es
nicht überraschend, dass eine einzige – wenn auch vernichtende – negative
Rückmeldung ausreicht, um ihren gesamten Lebensentwurf, Journalistin
zu werden, und alles, was ihr bisher im Leben Halt gegeben hat, zu verwer-
fen? Der Gedanke liegt nahe, dass dieser Lebensentwurf möglicherweise
gar nicht ihr eigener war, sondern die unbewusste Übernahme eines Wun-
sches, eines Auftrags ihrer Mutter. Wir wissen, dass auch Lorelai ein begab-
ter Teenager war, aufgrund ihrer Schwangerschaft aber nicht aufs College
gehen konnte, und ebenso erfahren wir, dass Lorelai immer schon den Plan
hatte, dass Rory nach Harvard gehen sollte. In diesem Sinne wäre es für
eine erfolgreiche Bewältigung der Adoleszenz für Rory erforderlich, sich
von den Erwartungen und Zielen ihrer Mutter zu befreien und sie sich als
ihre eigenen wieder anzueignen.
Auch bei Rory kann man also eine »brüchige Szenenoberfläche« er-
kennen. Anders als Lorelai, die nicht nur vor der Auseinandersetzung mit

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II.5. Barbara Neudecker: Gilmore Girls

inneren Konflikten, sondern auch vor äußeren flüchtet und Schmerz und
Mangel durch das »hysterische Theater« überspielt, wirkt Rory fragiler,
auch wenn sie in der Zeit der Trennung von ihrer Mutter oberflächlich er-
scheint und hauptsächlich an Partys interessiert ist. Doch dann rappelt sie
sich auf und kehrt in ihr altes Leben zurück. Kann man also davon aus-
gehen, dass Rory nach der Versöhnung mit ihrer Mutter, ihrer Rückkehr
nach Yale, dem erfolgreichen Abschluss ihres Studiums und dem ersten
vielversprechenden Jobangebot die Entwicklungsphase der Adoleszenz er-
folgreich abschließen kann? Ob die adoleszente Entwicklung glückt, zeigt
sich bekanntlich weniger am Verlauf der Adoleszenz an sich als in den fol-
genden Entwicklungsabschnitten, wenn es darum geht, die Aufgaben des
Erwachsenenlebens zu bewältigen. Die Gilmore Girls geben uns die Mög-
lichkeit, diesen Fragen genauer nachzugehen, denn in vier Folgen einer
Fortsetzung erfahren wir, wie die Leben von Rory und Lorelai neun Jahre
später aussehen.

Die beiden Lorelais


zwischen Entwicklungsstillstand und Progression

Neun Jahre später lebt Lorelai mit Luke zusammen. Sie ist damit beschäf-
tigt, dass die ihr Nahestehenden sich weiterentwickeln, doch sie selbst
möchte Veränderung vermeiden: Sookie hat das Hotel verlassen, und auch
Michel kündigt sein Weggehen an. Das hysterische Theater wird brüchig:
Nachts hat Lorelai beunruhigende Träume, untertags wird sie von einer in-
neren Unzufriedenheit begleitet und überlegt, ob sie und Luke ein Baby
haben sollten. Bezeichnenderweise wird sie von ihrer mittlerweile verwit-
weten Mutter damit konfrontiert, wie unverbindlich ihre Beziehung zu
Luke ist. Genervt fragt Emily ihre Tochter: »Why is everything so drama-
tic with you?« (A New Year: Fall). Die weitere Handlung der vier Episo-
den soll nahelegen, dass Lorelai sich nun endlich doch weiterentwickelt.
Sie macht ein bisschen Psychotherapie, und am Höhepunkt ihrer Sinn-
krise verlässt sie Stars Hollow, um sich auf dem Pacific Crest Trail selbst
zu finden. Sie beginnt die Wanderung nicht einmal, doch die gesuchte
Erkenntnis tritt offenbar trotzdem ein, denn sie kehrt umgehend zu Luke
zurück, um ihm einen Heiratsantrag zu machen – und diesmal findet die
Hochzeit tatsächlich statt.
Als in Stars Hollow ein Musical – ein reales hysterisches Theater also –

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

aufgeführt wird und Lorelai aufgewühlt dem Lied »I am not unbreakable«


zuhört, wird deutlich, wie ihre stets in Szene gesetzte Unzerstörbarkeit brü-
chig wird und sie zumindest für kurze Zeit ihren Schmerz spüren kann. Spä-
testens bei der Hochzeit beginnen wir aber zu zweifeln, ob es diesmal eine
echte Entwicklung gibt oder es auch hier keinen letzten Akt geben wird.
Lorelai wird am Vorabend der Hochzeit erneut dramatisch und überredet
Luke, auf der Stelle zu heiraten. Einmal mehr bleibt Luke ein Statist: In der
Szene nach der Trauung (die zugleich den Abschluss des Sequels darstellt)
sind Lorelai und Rory in einem Gespräch vertieft, doch Luke fehlt. Es ist
Lorelai also wieder einmal nicht gelungen, sich auf eine intime Beziehung
mit ihm einzulassen, sie bleibt eine Wandlerin zwischen den Welten.
Rory hat mit 32 Jahren nach einer erfolgreichen Veröffentlichung im
New Yorker keinen Plan für ihr weiteres Leben. Sie führt seit zwei Jahren
eine Beziehung mit einem netten jungen Mann, den sie allerdings ständig
versetzt und vergisst, gleichzeitig hat sie eine Affäre mit Logan, der mittler-
weile in London lebt und verlobt ist. Rastlos fliegt sie zwischen London
und den USA hin und her, hantiert hektisch mit drei Smartphones gleich-
zeitig und verfolgt erfolglos verschiedene berufliche Projekte, aus denen
dann doch nichts wird. Sie ist nicht mehr die kontrollierte und verant-
wortungsbewusste junge Frau von früher. Ist sie nun auch eine Wandlerin
zwischen den Welten geworden? Der Vergleich mit dem unterhaltsamen
hysterischen Theater Lorelais hält nicht stand, denn wo die Mutter es er-
folgreich schafft, durch ihre Inszenierungen Gefühle von Schmerz und Un-
zulänglichkeit zu verhüllen, wirkt Rory einerseits manisch-getrieben und
andererseits verloren. Die Defizite und die Leere, die Lorelai überspielt,
werden bei Rory manifest.
Doch anders als bei Lorelai könnte bei Rory noch etwas in Bewegung
kommen. Nach einer letzten Nacht mit Logan beginnt sie, ein Buch über
sich und ihre Mutter zu schreiben. Auch in dieser Situation zeigt Lorelai
zunächst wieder ihre Unfähigkeit, »intergenerationale Ambivalenz nicht
in Destruktivität abgleiten zu lassen« (King, 2001, S. 220), und will Rorys
Plan unterbinden. Einmal mehr ist der Kontakt zwischen ihnen unterbro-
chen. Möglicherweise holt Rory mit dem Projekt, ein Narrativ ihrer Bio-
grafie zu erschaffen, etwas nach, das ihr früher nicht geglückt ist: »In der
Adoleszenz setzen sich Heranwachsende […] mit der Welt der Kindheit,
mit ihrer Familie, mit den bisherigen selbstverständlichen Lebensbedin-
gungen auf eine andere Weise als zuvor auseinander« (King, 2001, S. 218).
King führt weiter aus:

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II.5. Barbara Neudecker: Gilmore Girls

»Die psychische Arbeit, die dabei jeweils geleistet werden muss, liegt in
Abschied und Trauer, des Weiteren in der Fähigkeit, Bestehendes in Frage
zu stellen und die damit verbundenen Ängste und Schuldgefühle auszuhal-
ten, und schließlich darin, aus den vorhandenen Ressourcen Vergangenes
und Gegenwärtiges zu einem neuen Lebensentwurf zu verknüpfen« (King,
2001, S. 219).

Wird Rory es schaffen, sich mit ihrer Geschichte aus der Abhängigkeit
von der Anerkennung ihrer Mutter zu lösen und einen eigenen Weg zu
finden? Zumindest kann Lorelai schließlich akzeptieren, dass Rory ihre
gemeinsame Geschichte autonom, aus ihrer Perspektive der Differenz er-
zählt.
Ob Rory ihren Weg in die Progression tatsächlich finden kann, bleibt
offen: In der bereits erwähnten letzten Szene der Fortsetzung teilt Rory
ihrer Mutter mit, dass sie schwanger ist. Wiederholt sie damit das Schicksal
ihrer Mutter? Zum einen ist Rory älter als Lorelai, als diese Rory bekam,
und sie konnte ihre adoleszenten »Entwicklungsspielräume« ausnutzen.
Zum anderen könnte aber auch diese Schwangerschaft zu einem narziss-
tischen Versuch werden, Unabhängigkeit zu demonstrieren und Triangu-
lierung zu vermeiden.

»Where you lead, I will follow …« –


der Reiz des hysterischen Scheins

Kehren wir zurück zur Eingangsfrage, was uns denn an den Gilmore Girls
so »verzaubert«, wie Kreienbaum (2011) es formuliert. Sie nimmt an, dass
es der Serie offenbar gelingt, Botschaften auszusenden, die »Bezüge zu den
zentralen Lebensthemen und Entwicklungsaufgaben der Menschen« her-
stellen (Kreienbaum, 2011, S. 26). »This is, in the end, a series about what
it means to be a little too close, about the problem of boundaries and the
impossibility sometimes with family«, beschreibt Brinkema (2013, S. 6)
diese Themen.
Dies mag stimmen, und doch drängt sich der Gedanke auf, dass die hys-
terischen Inszenierungen, die sich nicht nur auf Lorelais Figur beschrän-
ken, sondern die gesamte Serie durchziehen, auch ihre Auswirkungen auf
die Zuschauer haben. Offenbar möchten auch wir uns dem Schein, dem
hysterischen Theater hingeben, das schmerzhafte Zusammenhänge ver-

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

hüllt und nicht spürbar werden lässt. Eine charakteristische Filmtechnik


der Serie ist der sogenannte Master Shot, bei dem Szenen von Anfang bis
Ende in der Totalen oder Halbtotalen gefilmt werden. Laut Wikipedia ist
der dramaturgische Zweck, eine »theatralische« Wirkung zu erreichen
und den filmischen Raum auf einen Blick darzustellen. Die Gesamtszene
wird damit stärker betont als bei Nahaufnahmen, die mehr Subjektivität
und Intimität vermitteln. Damit wird auch verhindert, dass wir Zuseherin-
nen Lorelai zu nahe kommen.
Der Gewinn der Hysterie ist, Schmerz und Getrenntheit nicht spüren
zu müssen. Rohde-Dachser (2008, S. 341) beschreibt, wie sich die kon-
flikthaften »Geschichten regelmäßig in eine Welt, die statt in Blut in Ro-
sarot getaucht« ist, verwandeln und in die Harmonie zurückführen. So
wird die Pathologie nicht sichtbar. Am Eingangslied der Serie lässt sich
dies exemplarisch veranschaulichen: »Wohin du mich führst, ich werde
dir folgen« – wer führt denn hier wen, und in welcher Variante wäre diese
Textzeile einer gesunden Mutter-Tochter-Beziehung angemessen? Wären
es die Worte der Tochter, so wäre es eine Botschaft der Anpassung und
Unterwerfung. Wären es die Worte der Mutter, so würde sie damit zum
Ausdruck bringen, dass ihre Tochter keine Orientierung von ihr erwarten
darf, sondern diejenige sein müsste, die den Weg findet und die Mutter
mit sich führt. Eigentlich wird damit bereits am Anfang jeder Folge mit-
geteilt, dass hier etwas unangemessen ist, dass Separation nicht stattfin-
den darf, doch wir übergehen diese »Bruchlinie an der Oberfläche« und
lassen uns vom in warmes Licht getauchten Vorspann »verzaubern«.
Damit folgen auch wir als Zuseherinnen dorthin, wohin Lorelai uns führt,
nämlich weg vom Konflikt und von der Pathologie, hin zur Harmonie.
Wir wollen Lorelai nicht als Leidende sehen, sondern als unabhängige
Frau, und Lorelai und Rory als glückliches Paar. Die beiden werden zu
einer Projektionsfläche für Wünsche nach einem Leben ohne Getrennt-
heit. Dass »kitschige« Produktionen uns ansprechen, obwohl sie Gefühle
vermitteln, die unecht oder überschwänglich wirken und daher wenig au-
thentisch sind, erklärt Schiltz (2013, S. 27) mit der »Sehnsucht nach dem
verlorenen Paradies«. Auch in der Hysterie bleibt die Hoffnung bestehen,
diesen idealisierten Ort zu finden. Wir lassen uns gerne dazu verführen,
der hysterischen Abwehr zu folgen und dieses Paradies in Stars Hollow bei
den Gilmore Girls zu finden.

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II.5. Barbara Neudecker: Gilmore Girls

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Biografische Notiz
Barbara Neudecker, Mag.a MA, Lehrtherapeutin im Österreichischen Verein für Individual-
psychologie (ÖVIP), Psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin (APP Wien),
leitet die Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche im Bundesverband
Österreichischer Kinderschutzzentren, Lehrbeauftragte unter anderem an den Univer-

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Teil II: Lach mal wieder! Über Comedy, Sitcom und Satire

sitäten Wien und Innsbruck, Forschungsschwerpunkte: Kinderschutz/pädagogischer


Umgang mit traumatischen Erfahrungen.
b.neudecker@gmx.net

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Teil III
Tragik, Krieg und Katastrophen
Über Drama und Tragödie

Das Drama und die Tragödie machen es ihrem Publikum möglich, das
tragische Schicksal eines anderen Menschen mitzuerleben und durchzu-
leben. Dieses wirkt auf den ersten Blick fremdartig und in seiner Größe
das Leid der eigenen Existenz übersteigend, im Kern handelt es sich aber
doch um vertraute Elemente. Wesentlich dabei ist, dass es zu einer Katast-
rophe kommt, die den Helden allerdings nicht zwangsläufig tötet, sondern
ihn zwingt, mit seinem Scheitern zu leben. Heinz Kohut (1979) hat zwi-
schen dem schuldigen Menschen der Konfliktpsychologie Freuds und dem
tragischen Menschen seiner Selbstpsychologie unterschieden: Der schuldige
strebt nach Lust und gerät mit dem Überich in Konflikt, der tragische ver-
sucht sich selbst zu verwirklichen und steckt dabei häufiger Niederlagen
als Erfolge ein. Die Tragödie reinigt und läutert ihren Zuschauer kathar-
tisch, indem sie ihn die Verzweiflung des Heros durchleben lässt, und lehrt
ihn so, wieder den ihm angestammten Platz einzunehmen, bescheiden und
schicksalsergeben zu sein. Der Mensch lernt dabei, dass jede Hybris unan-
gebracht und fehl am Platz ist, da jeder trotz aller Bemühungen von glück-
lichen Umständen abhängig bleibt, über früher oder später trotz aller Be-
mühungen scheitern kann und wahrscheinlich auch wird.

Timo Storck folgt in seiner Interpretation von The Deuce einer Reihe von
Personen, die sich in unterschiedlichen Rollen im Rotlichtmilieu der 70er
und 80er Jahre bewegen, darunter Prostituierte, Zuhälter, Pornodarsteller,
Polizisten. Ausgewählte Schlüsselszenen zeigen frappante Parallelen zwi-

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

schen dem Geschehen in der Serie und der Welt außerhalb der Serie, etwa
in den Themen Macht und Unterdrückung sowie der Legitimation von
Gewalt als Schutz vor (vermeintlicher) Gefahr.

Olaf Knellessen bespricht die Fernsehserie Fauda, die sich anhand der Er-
zählung einzelner Schicksale rund um den israelisch-palästinensischen
Konflikt rankt. Die dargestellten Agenten und Terroristen müssen ein dop-
peltes Spiel spielen, um zu tarnen und zu täuschen. Dabei stehen Verstri-
ckungen des professionellen und des familiären Lebens mehr oder weniger
auf der Tagesordnung.

Catharina Thüner und Susanne Hörz-Sagstetter gehen auf Chernobyl ein,


eine Miniserie, die jene Ereignisse, die im Jahre 1986 zur Reaktorkatast-
rophe führen, nachzeichnet. Die Serie hält ihren Zuschauern insofern
den Spiegel vor, als es auch hier Risiken sind, die ignoriert und verleugnet
werden, bevor sie sich zur Tragödie auswachsen.

Thomas Reichsöllner beschließt diesen Teil des Buchs mit der Analyse von
Breaking Bad. In dieser Serie wendet sich der an Krebs erkrankte und von
seinem Schicksal frustrierte Chemielehrer Walter White der Kriminalität
zu und baut mit einem ehemaligen Schüler einen florierenden Drogenhan-
del auf. Das Narrativ oszilliert zwischen einer ostentativen Faszination für
den Tabubruch und dem drohenden Kollaps durch Polizei und konkurrie-
rende Verbrechersyndikate.

Gerald Poscheschnik

Bibliographie

Kohut, H. (1979). Die Heilung des Selbst. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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III.1. The Deuce
Subjekte, Objekte und Quasi-Subjekte

Timo Storck

Einleitung

The Deuce wurde in 25 Episoden in drei Staffeln zwischen 2017 und 2019
ausgestrahlt. »Showrunner« sind George Pelecanos und David Simon,
der zuvor durch seine Arbeit an The Wire (2002–2008) oder Treme
(2010–2013) bekannt geworden ist. Die Serie spielt zwischen 1971 und
1985 (dem »Golden Age of Porn«) und erhielt ihren Namen vom »Spitz-
namen« der New Yorker 42nd Street (inklusive Times Square). Es wird
eine kritische Geschichte von Pornografie, Prostitution und organisierter
Kriminalität in New York erzählt, damit ist es auch eine Geschichte über
Gewalt von Männern gegenüber Frauen. Dabei lässt sich das Sex-Thema
auch als Feld der Geschlechterungerechtigkeit auffassen: Wiederholt wird
deutlich, dass das passiert, wofür Männer Geld zahlen (das betrifft Sexua-
lität ebenso wie Drogen, Korruption oder Immobilienhandel und damit
Stadtentwicklung). Schließlich ist es auch eine Geschichte über Macht: Es
passiert eben auch das, womit sich (von Männern) Geld verdienen lässt.
Filmpsychoanalyse, wie ich sie verstehe (vgl. a. Hamburger, 2018) – und
die Psychoanalyse der TV-Serie entspricht dem im Wesentlichen –, nutzt
die psychoanalytische Methode der Reflexion des eigenen In-Beziehung-
Stehens zu einem Gegenüber, um zu verstehen, von welchen unbewussten,
konflikthaften Dynamiken das geleitet wird, was sich manifest zeigt (»sze-
nisches Verstehen«). Wenn wir eine TV-Serie betrachten, haben wir es al-
lerdings nicht – wie im Behandlungszimmer – mit einem personalen Ge-
genüber (»Subjekt«) zu tun, sodass die »Beziehung«, in die wir eintreten
und die wir reflektieren, eine besondere Qualität hat. Wir können gleich-
wohl unsere affektive Antwort auf den filmischen Gegenstand ebenso zum
Ausgang einer Reflexion nehmen wie die Beziehung zu einem personalen
Gegenüber. Daher kann von einer »Quasi-Intersubjektivität« gesprochen

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

werden, von der Beziehung zum Film als einem »Quasi-Subjekt«. Die Re-
flexion betrifft dann den Gegenstand einer Interpretation so, als ob er zu
uns in einer intersubjektiven Beziehung stünde, und bezieht sich im We-
sentlichen auf zwei Fragen: Welche Art von Beziehung zur TV-Serie ent-
steht? Und: Welches sind deren unbewusste Strukturdimensionen? Dabei
ist ferner zum einen wichtig, nicht nur inhaltsbezogene Überlegungen vor-
zulegen, sondern auch dem filmischen Medium gerecht zu werden, und
zum anderen, dass auf diese Weise eine psychoanalytische Interpretation
entsteht, die sich nicht auf das Unbewusste von Figuren oder Individuen
bezieht, sondern – insofern es sich beim Film oder anderen medialen Dar-
stellungen um etwas handelt, das Teil eines kulturell-gesellschaftlich Zu-
sammenhangs ist – auf Soziales.
Dieser Aspekt – das Verhältnis des Besonderen (Film, Serie, jeweilige In-
terpretation) zum Allgemeinen – ist in einer psychoanalytischen Betrach-
tung von The Deuce besonders wichtig und ertragreich. Immerhin wird hier
nicht nur eine Straße, eine Stadt oder eine Nation zu einem bestimmten
Zeitpunkt porträtiert, sondern die New Yorker 42nd Street ist selbst Pro-
tagonist. Ich werde zunächst den Inhalt der Serie darstellen (samt einigen
knappen Bemerkungen zum Filmischen), bevor ich methodisch geleitete
Überlegungen zu unbewussten Aspekten der Serie anstelle, die in Annah-
men dazu münden, was die Anreize der Rezeption sind.

Über The Deuce

In Staffel eins (1971/72) lernen wir Vincent Martino kennen, der im Ver-
lauf der Handlung zum Betreiber unterschiedlicher Bars und Clubs wird,
die von einer lokalen Mafiagröße, Rudy Pipilo, gesteuert werden, bei dem
sein Zwillingsbruder Frankie hohe Wettschulden hat. Die Entwicklun-
gen »auf der Straße« und die veränderte Haltung von Politik und Polizei
führen dazu, dass Prostitution weniger auf der Straße angeboten und in
Hotelzimmern vollzogen wird, sondern in Bordellen, von denen im späte-
ren Verlauf eines von Vince und seinem Schwager Bobby betrieben wird.
Diese Bewegung verändert die Machtdynamiken zwischen den Prostitu-
ierten und ihren schwarzen Zuhältern, deren vermeintlicher Schutz vor
der Gewalt einiger Freier nicht mehr benötigt wird. Zu den Prostituier-
ten gehört Eileen, die sich Candy nennt, sie ist die Einzige, die ohne Zu-
hälter arbeitet. Eileen lernt die zu Beginn der 1970er Jahre expandierende

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III.1. Timo Storck: The Deuce

Pornofilm-Kultur kennen, zunächst als Darstellerin, recht bald aber auch


in der Zusammenarbeit mit Harvey als Autorin und Regisseurin von ei-
genen Filmen. Zu den anderen Prostituierten gehört Lori, die zu Beginn
der ersten Staffel am New Yorker Busbahnhof Port Authority eintrifft
und C. C. kennenlernt, für den sie zu arbeiten beginnt. Auch sie verdient
wenig später ihr Geld als Pornodarstellerin. Die Prostituierte Darlene ent-
scheidet sich gegen die Unterstützung von Abby, mit der Vince in einer
offenen Partnerschaft lebt und die ihr ein Busticket in ihre Heimatstadt in
die Hand gibt; im Verlauf der Serie wird sie ihren Schulabschluss machen
und ihren Zuhälter Larry verlassen. Neben Abby, die im HiHat, einer der
Bars, die Vince im Auftrag der Mafia betreibt, als Barfrau arbeitet, enga-
giert sich auch Sandra, eine Journalistin, für bessere Lebensbedingungen
auf der 42nd Street. Sie schreibt einen Artikel, in dem sie die Korruption
der Polizisten offenlegt, deren Erwähnung in der Publikation ihr jedoch
untersagt wird. Der Streifenpolizist (später Detective) Chris Alston pflegt
einen freundschaftlich lockeren, aber unkorrumpierbaren Kontakt zu den
Zuhältern. Neben der Entwicklung von Prostitution und Porno-Gewerbe
(zu dem auch Peepshows gehören) wird, am Beispiel von Paul, der anfangs
ebenfalls als Barkeeper für Vince, später in seiner eigenen Bar arbeitet, das
Leben Homosexueller zum Gegenstand der soziokulturellen Entwicklun-
gen. Während es in der ersten Staffel noch zu Festnahmen kommt und Ei-
leens Bruder »Schocktherapien« erleidet, geht es in der dritten Staffel um
den Umgang mit Aids, nicht nur für die homosexuelle Community.
In der zweiten Staffel (1977/78) ist Eileen als Regisseurin, Lori als
Darstellerin bekannt und erfolgreich geworden. Die weiter veränderten
Machtverhältnisse zwischen Frauen, die ihr Geld mit Sex verdienen, und
den Zuhältern führen zu Spannungen, die immer auch im Kontext eines
veränderten gesellschaftlichen Blicks stehen, zum Beispiel aus Sicht des
Feminismus oder der Frauenrechtsbewegung. Abby kritisiert Vince scharf
dafür, mit der Mafia zusammenzuarbeiten, und Bobby dafür, die Namen
der Frauen, die im von ihm betriebenen Bordell arbeiten, nicht zu kennen
(was deutlich wird, als eine 16-Jährige bei einem Brandanschlag durch eine
verfeindete Mafiagruppe zu Tode kommt). Abby engagiert sich auch in der
Unterstützung der Prostituierten, gemeinsam unter anderem mit Ashley,
die in der ersten Staffel noch für C. C. gearbeitet hat, und nun Frauen
unterstützt, die, wie sie, den Ausstieg schaffen wollen, allerdings wird sie
gegen Ende der zweiten Staffel tot aufgefunden. Lori hat nun eine Agen-
tin, Kiki, die ihr rät, sich von C. C. zu trennen (was aber für Lori, der Na-

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

mensgleichklang deutet es an, eine weitere »Zuführung« zum Sex gegen


Geld bedeutet). Die Mafia ist als Geldgeber in die Filmproduktion einge-
stiegen und deren Anführer entscheiden sich, C. C. Lori »abzukaufen«.
Dieser misshandelt sie schwer und wird wenig später im Streit von Frankie
erschlagen. Larry wird Filmdarsteller und der inzwischen schwer drogen-
abhängige Zuhälter Rodney bei einem Überfall auf eine Apotheke von der
Polizei erschossen, sodass am Ende der zweiten Staffel alle Zuhälter von der
Bildfläche verschwunden sind. Das Leben auf der 42nd Street verändert
sich noch auf andere Weise, nämlich im Zuge der Pläne von Investoren,
Immobilien dort anders zu nutzen (vertreten durch den seitens der Politik
eingesetzten Gene Goldman). Paul eröffnet einen eigenen Club (wobei er
hart darum ringt, dies ohne die Abhängigkeit von der Mafia zu tun) und
beginnt eine Beziehung mit Todd.
Nachdem zum Ende der zweiten Staffel der Heim-Videorekorder auf-
taucht, der den Pornofilm prinzipiell aus den Kinos oder Peepshows her-
ausführt, hat sich die Szene zu Beginn der dritten Staffel weiter verändert.
Noch stärker als zuvor ist der Pornofilm zu etwas geworden, das hohe Ge-
winne verspricht, umso mehr bei geringen Produktionskosten. Die Bars
und Clubs werden von anderen Personen als zuvor besucht, von Menschen
mit viel Geld (und viel Kokain), und auch die Abkommen mit der Polizei
haben die Balance verloren, was besonders Vince und Frankie zu spüren
bekommen, die sich mit Razzien konfrontiert sehen. Bobbys Sohn arbeitet
an der Wall Street und versucht, seine Stellung zu verbessern, indem er für
Partys Kokain und Prostituierte organisiert. Nachdem dies zunächst sehr
erfolgreich ist, führt es zu einer Art von Emanzipation der Prostituierten:
Diese nutzten nun das Vorgehen, per Beeper erreichbar zu sein, um sich
von der Organisation durch die Betreiber der Bordells zu lösen und in der
relativen Sicherheit von Hotel-Lobbys unabhängig Sex anzubieten. Wenig
später werden außerdem Badehäuser, Massagesalons und Bordelle seitens
der Stadt geschlossen, weil Bürgermeister Ed Koch dies als erforderlichen
Schritt zur Bekämpfung von Aids ansieht. Pauls Partner Todd stirbt an
den Folgen der eigenen Erkrankung, ebenso Vinces Türsteher und Freund
Mike. Melissas Ehemann Reg und Paul selbst werden als erkrankt gezeigt.
Hier wird mittels der Krankheit auch eine Stimmung der Menschen rund
um die 42nd Street gezeigt: Es ist ein Niedergang, eine Auszehrung, die
sich vollzieht, etwas liegt im Sterben. Frankie wird im Streit über Drogen
erschossen, aus Rache erschießt Vincent etwas später den Mörder, ver-
strickt sich darüber aber nur noch mehr in die Fänge der Mafia. Da Rudy

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III.1. Timo Storck: The Deuce

ihn schützt, wird er von seinem eigenen »zweiten Mann« Tommy Longo
erschossen. Schließlich gelingt es Vincent, sich, Paul und das HiHat für
200.000 Dollar »freizukaufen«. Vince und Abby trennen sich, nachdem
sie zweimal, entgegen seiner vorangegangenen Beteuerungen, einen Revol-
ver in der gemeinsamen Wohnung gefunden hat. Abby engagiert sich weiter
politisch, zum Beispiel bei einer Bürgerversammlung, die sich kritisch mit
Bürgermeister Kochs Midtown Enforcement Project auseinandersetzt, und
diskutiert, ob die Initiative Women Against Pornography unterstützenswert
ist, wenn diese offensichtlich von rechten Gruppierungen oder von Nancy
Reagan instrumentalisiert werde. Eileen, die offensiv ihren feministischen,
affirmativen Blick auf Pornografie vertritt, bekommt Gegenwind von einer
Gruppe pornografie-kritischer Feministinnen, die ihr vorhält, dass ihr (ver-
meintlich) emanzipatorischer Weg heraus aus der Prostitution ins Schaffen
von Kunst wohl kaum für die Mehrheit der Frauen gangbar sei. Eileen sieht
sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, mit ihren künstlerischen Filmen
weder Geld einzunehmen noch Geld für diese zur Verfügung zu haben. Sie
lehnt das Angebot ihres wohlhabenden Freundes Hank ab, dass er ihren
aktuell geplanten Film finanzieren könne, und fasst den Plan, Lori als Dar-
stellerin aufzunehmen, deren Entwicklungsversuche wegen ihrer Drogen-
abhängigkeit und ihrer dysfunktionale Partnerschaft wiederholt gescheitert
sind. Kurz entschlossen stellt sich Lori jedoch am Vorabend des Drehs bei
Eileen in New York an die 42nd Street und geht mit einem Freier ins Ho-
telzimmer, wo sie sich nach dem Sex erschießt. Um Lori als Schauspielerin
zu verpflichten, geht Eileen einen Deal mit Loris Produktionsfirma ein: Sie
willigt ein, als Darstellerin in einem von deren Filmen mitzuspielen. Da-
rüber geht ihre Partnerschaft zu Bruch, aber sie kann ihren Film drehen,
aus dem sie, auf Harveys Rat, die Sex-Szenen wieder herausnimmt. Die
letzten rund 15 Minuten der Serie spielen im Mai 2019. Der alte Vincent
verlässt sein Hotelzimmer und liest in einer Bar in der Zeitung von Eileens
Tod – als eine Regisseurin von knapp 100 Pornofilmen sowie einem »Art-
house Classic« erscheint sie dort. Er geht auf die Straße – zum Song The
Sidewalks of New York in der Version von Blondie – und sieht im Treiben
der zeitgenössischen 42nd Street die »Geister« von vor 35 bis 50 Jahren.
Dazu gehört auch Frankie, mit dem er schließlich die Treppe zu einer U-
Bahn-Station heruntergeht. Danach sehen wir die alte Abby als Geschäfts-
frau durchs Bild gehen (dass Vince sie nicht gesehen hat, deutet an, dass sie
noch am Leben ist).
Ein genaueres Eingehen auf die filmischen Elemente kann in diesem

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

Rahmen nicht erfolgen. The Deuce beeindruckt durch das detaillierte Port-
rät der 1970er und 1980er Jahre. Sex und nackte Körper werden so explizit
gezeigt wie kaum woanders, insbesondere was männliche Geschlechtsor-
gane angeht. Die Serie schafft es dabei, weder romantisierend noch »car-
toonisierend« oder schockierend mit ihrem Gegenstand und den Figuren
umzugehen und, auch wenn die Betrachtung menschlicher Intimität ir-
gendwie immer einen Aspekt des Voyeurismus haben mag, so handelt sie
ihre Figuren doch mit großer Ernsthaftigkeit.
Hervorzuheben ist die Wahl der »Themensongs« der Staffeln, die über
den Vorspann laufen. In der ersten Staffel (1971/72) ist das (Don’t Worry)
If There’s a Hell Below, We’re All Going to Go (1970) von Curtis Mayfield,
in der zweiten Staffel (1977/78) This Year’s Girl von Elvis Costello/Nata-
lie Bergman (1978) und in der dritten Staffel (1984/85) Dreaming (1979)
von Blondie – allesamt Ohrwürmer, die das Potenzial haben, die Episode,
die man im Anschluss daran jeweils sieht, auch thematisch zu untermalen.
Es geht um die Spannungen zwischen Menschen unterschiedlichen Ge-
schlechts oder unterschiedlicher Hautfarbe (Mayfield), dann um das beson-
dere, aber brutal behandelte »Mädchen des Jahres« (Costello) und schließ-
lich um die sehnsuchtsvolle Versicherung der Freiheit zu träumen (Blondie).
Die Tatsache, dass The Deuce selbst ein mediales Produkt ist, in dem Sex-
Szenen gefilmt werden, muss hinsichtlich der Betrachtung noch erwähnt
werden. Die Verantwortlichen engagierten eine Person als »intimacy coor-
dinator« zur Unterstützung bei den Szenen, in denen Darstellerinnen und
Darsteller nackt sind und/oder Geschlechtsverkehr »spielen«. Des Wei-
teren ist zu erwähnen, dass sich James Franco, der Darsteller von Vincent
und Frankie Martino, zwischen der Ausstrahlung der ersten und der zwei-
ten Staffel von mehreren Seiten mit Vorwürfen des Fehl- beziehungsweise
missbräuchlichen Verhaltens im Umgang mit Darstellerinnen in anderen
Kontexten ausgesetzt gesehen hat, die er in Teilen bestätigte.

Das Objekt klein p:


Unbewusste Strukturdimensionen in The Deuce

Eine filmpsychoanalytische Interpretation geht von Irritationen aus, die


sich in einer »gleichschwebend aufmerksam« beginnenden Rezeption
einstellen, also besondere Momente von Brüchen, affektiven Reaktionen,
Unverständnis und Anderem. Das ist bei einem Spielfilm ungleich einfa-

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III.1. Timo Storck: The Deuce

cher zu realisieren als bei einem Format von 25 Episoden mit 55 bis 80 Mi-
nuten Länge. Zu Beginn fiktionaler Mediendarstellung wird eine »Verab-
redung« mit dem Publikum gemacht, worauf dieses sich hier einlassen soll.
Aus diesem Grund und der methodischen Einfachheit halber werde ich
daher die drei Eingangssequenzen der jeweiligen Staffeln zum Ausgangs-
punkt nehmen.

Erste Staffel (S01E01, »Pilot«)

Zwar beginnt die Staffel mit einem Überfall auf Vince Martino, der da-
durch eine Kopfverletzung erhält, und seinem Weg nach Hause sowie dem
nächsten Morgen, allerdings möchte ich diesen Teil hier nicht zum Aus-
gangspunkt nehmen; er erfüllt die Funktion, uns mit einer der zentralen
Figuren bekannt zu machen, und zudem, so kann vermutet werden, hat
die Kopfverletzungsszene auch die zumindest indirekte Funktion, dass
wir während der ersten Szenen Vince und seinen Zwillingsbruder Frankie
leichter unterscheiden können.
Aussagekräftiger erscheint die erste Szene nach dem Vorspann der ersten
Staffel: Die beiden Zuhälter Reggie Love und C. C. sitzen am Busbahnhof
Port Authority, es ist 1971, Richard Nixon ist zwei Jahre zuvor zum US-
Präsidenten gewählt worden. Reggie sagt über Nixon:

»He president. So he got to front some, being the man, right? […] Got to
make those slopes think he’s crazy enough to do all kind of shit. Bomb the
shit out of Vietnam, take over Cambodia, whatever the fuck … That man
want out of the war just like everyone else. But he can’t play it like that. … So,
he got to make those motherfuckers think he doing any goddamn thing they
can imagine. … Shit, if I was him, I’d be flashing nuclear weapons and shit.
… I’m not saying I’m gonna use that shit, I’m saying I’d be like, do not fuck
with President Reggie Love because the nigger’s crazy and he will drop that
big motherfucker on you. – I mean it’s like this here. I mean, C.C., you ever
really wanna have to cut a bitch? Sometimes you want a bitch to think you
might but… Shit.« C. C. antwortet: »So, Nixon pimpin’? Shit. Yeah. That
makes good sense to me.«

In Reggies Monolog wird Nixons Vietnampolitik mit der Machtdynamik


zwischen Zuhältern und Prostituierten verglichen. Das liefert die Folie

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

dafür, das eine im Licht des anderen zu verstehen. 1971 ist Amerika in
einem Zustand des Umbruchs (insbesondere im Hinblick auf die recht-
liche Situation von Pornografie, aber auch von Homosexualität, und na-
türlich auch bezüglich der (Un-)Gleichbehandlung von Menschen unter-
schiedlicher Hautfarbe oder unterschiedlichen Geschlechts), und das
liberale New York erlebt die Spannungen in Außen- und Sozialpolitik
besonders deutlich – der Blick auf Prostitution und Pornografie ist offen-
sichtlich nur verstehbar, wenn man diese innen- und außenpolitischen
Lagen in Betracht zieht. Noch interessanter, und das legt das Gespräch
zwischen Reggie und C. C. frei, ist es, die Auseinandersetzung von The
Deuce mit Prostitution und Pornografie umgekehrt als Verstehenszugang
zur US-(Außen-)Politik zu nehmen. Das würde heißen, die Machtdyna-
mik zu untersuchen: Nixon sollte so auftreten, als wäre er zu allem fähig,
um seine Ziele durchzusetzen, das heißt, um außenpolitisch Angst und
Respekt einzuflößen, aber auch andere dazu zu bringen, für ihn »anschaf-
fen« zu gehen. Im Verlauf der Serie gerät nun die Zuhälterei ganz offen-
sichtlich in eine Krise und keiner der Zuhälter ist am Ende der zweiten
Staffel noch am Leben beziehungsweise als solcher tätig. Mittels dieser
»Verabredung« der Serie mit den Rezipierenden wird die Möglichkeit er-
öffnet, durch das Schicksal der Zuhälterei das Schicksal der US-Politik zu
befragen.
Es geht also um Glaubwürdigkeit von Macht, aber natürlich auch um
Legitimation. Hinzu kommt, dass die Zuhälter nicht nur Gewalt gegen-
über den Prostituierten ausüben, sondern dass sie diese der Vereinbarung
nach auch schützen (Candy als »Selbstständige« zeigt, worin diese be-
steht, stellt sie aber auch in Frage). Auch auf dieser Ebene kann der Blick
auf die Außenpolitik erfolgen, ist doch die Legitimation des Vietnamkriegs
immer auch in Verbindung mit dem Schutz der US-Bevölkerung vor der
»roten Bedrohung« geschehen. Wenn Nixon »pimpt«, dann also auch in
der zynischen Legitimation, die US-Bevölkerung vor einer vermeintlichen
Gefahr zu schützen, indem er sie in Gefahr bringt, Zwang ausübt und in
Wirklichkeit andere Interessen durchsetzt.
Nun geht die Unterhaltung noch weiter, wenn Reggie und C. C. über
ihr »Produkt« sprechen, also die Frauen, die sie für sich anschaffen gehen
lassen wollen (Reggie: »Haven’t met one yet that couldn’t be broken« –
C.C.: »I’m looking for product, not a challenge«). Da geht es um die
»Internationalität« der Frauen (Reggie: »I want my herd to be interna-
tional«), um die Größe von deren Gesäß, und schließlich verabschiedet

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III.1. Timo Storck: The Deuce

C. C. sich, weil er Lori die Rolltreppe herunterfahren sieht und sie für sich
gewinnen will.
Neben der Verbindung des Geschehens auf der 42nd Street zur US-Poli-
tik ist also initial bereits ein weiteres zentrales Thema benannt: die Objek-
tivierung, hier auf den Punkt des »Produkts« gebracht. The Deuce nimmt
dazu eine differenzierte Haltung ein – so gibt es beispielsweise die Szene,
in der Larry die neu zugereiste Bernice an Rodney buchstäblich verkauft,
der entscheidet, er werde sie Ginger nennen. Kaum eine der Prostituierten
trägt ihren eigentlichen Namen und das geht darüber hinaus, in halbwegs
gewahrter Anonymität anschaffen zu gehen, immerhin wählt Rodney kon-
kret einen Namen, mit dem sich sein »Produkt« besser verkaufen lässt.
Eileen tritt als Candy auf, Margaret als Melissa, Leila als Shae, Ruby als
Thunderthighs. Lori stellt die einzige Ausnahme unter den zentralen Fi-
guren der Prostituierten dar: Gegen Ende fragt Eileen sie, wie sie wirklich
heiße, und Lori sagt »Land o’ Lakes Girl«. Erst ihrem letzten Freier stellt
sie sich als Sarah vor, und es erweckt den Anschein, als sei das wahr – es
markiert aber auch ihren Abschied aus der Welt.
Mit den Namen/Figuren – auch bezüglich der Titulierung einer als
»Black Frankie« oder der Tatsache, dass James Franco zwei Figuren
spielt – werden Spannungsfelder markiert: Objektivierung, Zusammenge-
hörigkeit und Unterschiede, Hautfarbe und ihre Bedeutung in der Sprache
und in Handlungen – und nicht zuletzt die Frage der Maskierung (Nixon
»gotta front, being the man, right?«). Die Prostituierten bekommen zwar
in manchen Fällen eine Benennung aufgezwungen, aber, ähnlich wie durch
die häufig (besonders bei Eileen) zum Einsatz gebrachten Perücken, wird
hier gezeigt, dass etwas (vor-)gespielt wird (oder gespielt werden muss).
Das Spiel mit Maskierungen betrifft dann natürlich erst recht den Porno-
film – so sehr die fiktionale Handlung gegenüber den expliziten Szenen im
Hintergrund steht und so real der vollzogene Geschlechtsverkehr vor der
Kamera auch ist, so sehr wird hier auch etwas für ein Publikum aufgeführt.
In der ersten Staffel (S01E03) gibt es eine aufschlussreiche Szene. Eileen
und Ruby besuchen ein Filmset, weil sich unter den Frauen herumgespro-
chen hat, dass hier Geld zu verdienen ist, ohne im Regen herumstehen zu
müssen und mit geringerer Gefahr, körperliche Gewalt durch einen Freier
zu erfahren. Sie sehen, wie Harvey (vermeintlich) eine Sex-Szene filmen
lässt und erfahren, dass es Männer gibt, die dafür bezahlen, am Set dabei
sein und zusehen zu können. Dann aber zeigt sich, dass Harvey keinen Film
in die Kamera einlegen lässt – dass es eigentlich um die zahlenden Besucher

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

geht, nicht um das Herstellen eines Produkts. Selbst der so aufgeführte


Sex, zu dem es kommt, damit jemand zusehen kann, ist »fake fake real«.
Namen, Perücken, Kameras ohne Film – hier wird mit der Objektivierung
auch gespielt, es wird darüber getäuscht, dass jemand das »Eigentliche«
bekommt, wenn er dafür bezahlt. Es ist eine Art von »Als-ob-Objektivie-
rung«, hat allerdings für die einzelnen Figuren die Erschwernis zur Folge,
selbst etwas jenseits einer Rolle, Maskierung oder »front« zu finden. Be-
sonders Lori bekommt das zum Ende hin zu spüren.
Objektiviert werden allerdings in The Deuce alle, es sind Figuren, die be-
ständig in der Welt, in der sie leben, verschoben werden. Auch Vince und
Frankie gehen für die Mafia »anschaffen« (wenn auch Frankie etwas an-
archischer und egoistischer), jeder unterliegt Zwängen, Machtdynamiken,
Biopolitiken und Kommodifizierung (womit nicht die konkret körperlich
gewalttägige und ausbeuterische Haltung der Zuhälter relativiert werden
soll). Es geht um diese Spannung: zwischen Objektivierung und Zwang auf
der einen und der Aussicht auf Entwicklung, Aufstieg oder Ausstieg/Frei-
heit auf der anderen Seite – dafür eignet sich die Figur des »Anschaffen-
Gehens« besonders.

Zweite Staffel (S02E01, »Our Raison d’Être«)

Es ist 1977 und die Staffel beginnt damit, dass die Kamera Eileen ein Stück
über die 42nd Street begleitet, mit viel Eleganz und Glamourösität. Sie
betritt einen Hauseingang und geht eine Treppe nach oben. Dazu läuft,
erst extradiegetisch und später intradiegetisch, Let the Music Play von
Barry White. Mike nimmt ihr am Eingang zum von Vince betriebenen
»Club 366« den Pelzmantel ab und sagt: »She’s at home«, was unmittel-
bar mit Barry Whites Textzeile »Yeah, she’s at home« bekräftigt wird. Im
gut besuchten Club trifft Eileen zunächst Lori (der sie den Hinweis gibt,
sich vor einem bevorstehenden Dreh noch gynäkologisch untersuchen
zu lassen) und C. C. (der darum bemüht scheint zu unterstreichen, dass
er auch etwas zu sagen hat), dann Frankie und Vince. Vince gibt ihr mit
dem Hinweis auf ihre Berühmtheit ein Getränk aus, sie entgegnet: »I am
a celebrity?« Sie sieht sich um und sagt zu Vince »Look at us«, und er
antwortet mit »Who would have though t…«
Zum einen irritiert die untypische Bekleidung C.C.s, der eine Kapitäns-
mütze trägt. Sicher, Midtown New York bleibt eine Gegend des extrava-

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III.1. Timo Storck: The Deuce

ganten Ausdrucks, und auch zuvor gab es Übertreibung und gelegentlich


Selbstparodistisches in der Inszenierung der Zuhälter, aber es stellt doch
einen Bruch zum sonstigen Auftreten und der sonstigen Kleidung C.C.s
dar. Vielleicht nicht nur, weil es näher an den Village People (deren De-
bütalbum 1977 erschien) als an der gängigen Zuordnung der Zuhälter zu
heterosexueller Männlichkeit liegt, sondern auch, weil Eileen ironisch salu-
tierend von ihm und Lori weggeht, nachdem er auf seiner Wichtigkeit in-
sistiert hat, wird deutlich unterstrichen, dass er seit der ersten Staffel aus der
Zeit gefallen ist. Das zeigt sich später noch offensichtlicher, als ihn seine
Flugangst daran hindert, mit der üblichen besitzergreifenden Haltung an
Loris Seite bei Filmsets in Los Angeles aufzutreten. Als Lori einen Preis
gewinnt, wird er gewalttätig, als die Mafia sie finanziell aus seiner Gewalt
löst, vergewaltigt er sie. Seine Existenzberechtigung ist dahin.
Zum anderen steigt Eileen eine Treppe hinauf – das ist ein wiederkeh-
rendes Motiv und steht, wie hier, oft im Zusammenhang mit der Frage
nach einer möglichen Entwicklung: Bleibt jemand »auf der Straße« oder
gelingt ein Aufstieg – wie Alstons Karriere bei der Polizei (die jedoch
nicht unbedingt dazu führt, dass er mehr Einfluss nehmen kann), wie
die von Vince und Frankie als Betreiber unterschiedlicher Einrichtungen
(aber immer mit der Mafia im Hintergrund), wie die von Eileen im Film-
geschäft? Neben Aufstiegen gibt es Ausstiege beziehungsweise die Versu-
che dazu: Darlene fährt zunächst nicht mit Abbys Ticket zurück in die
Heimat, später tut sie es, kommt aber wieder zurück; Ashley gelingt der
Ausstieg, aber auch sie kehrt zurück und wird dann getötet; Shae hat die
Möglichkeit, sich von Rodney zu lösen und clean zu werden, beides setzt
sie nicht dauerhaft um und stirbt schließlich an den Folgen ihrer Dro-
gensucht; Melissa verlässt mit ihrem Vater New York, aber wie selbstver-
ständlich kommentiert Mike »They can never go home« (S03E04) – sie
kehrt dann doch zurück (ähnlich wie später Lori das Haus ihrer Familie in
Minnesota verlassen und vernagelt vorfindet). Ausstiege hinterlassen fast
durchgängig einen trügerischen Eindruck oder einen der Vorläufigkeit. The
Deuce zeigt hier etwas sehr Diffiziles: Wiederholt wird klar, dass die Figu-
ren nicht »nach Hause gehen können«, sie bleiben in irgendeiner Weise
das, was sie geworden sind: Lori spielt Gitarre und versucht sich als Schau-
spielerin, endet dann aber doch als jemand, der Sex gegen Geld anbietet.
Eileen dreht künstlerische Filme, verkauft dafür aber auch ihren Körper.
Vince verliert seinen Bruder und seine Freundin, weil er sich von der Mafia
nicht lösen kann, erst in einem radikalen Schnitt, der ihm nichts lässt. Was

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

nun Diffiziles entsteht, ist, dass die Figuren als Teil des großen Ganzen ge-
fangen scheinen und Veränderungen (Treppe hinauf, Treppe hinab) schwer
möglich sind – und dass sie zugleich damit konfrontiert sind, dass sich ihre
Welt um sie herum verändert: Immer wieder verändern sich die Umstände
der Sexarbeit, der Polizeiarbeit, der Wirtschaft – die Figuren selbst finden
nur schwer zur Veränderung. Das zeigt die Serie, und besonders Staffel drei,
in unzähligen Szenen, in denen Charaktere mit Koffern (oder gar Umzugs-
wagen) aufbrechen und dann doch zurückkehren.
»Zuhause« hat eine mehrfache Bedeutung. »Zuhause« ist die 42nd
Street, in der sich die Figuren jedoch zunehmend verloren fühlen werden.
In einem Teil des früheren Lebens wieder ein Zuhause finden, das kann
nicht gelingen, ebenso wenig aber bietet die Zukunft für die meisten Figu-
ren einen Platz. In der dritten Staffel gibt es einzelne, von Krankheit und
Veränderung überschattete Momente eines emotionalen »Zuhauseseins«.
Pauls Fürsorge für seinen sterbenden Freund Todd oder die Hochzeit zwi-
schen Melissa/Margaret und dem sterbenden Reg sind von einer schmer-
zenden Zärtlichkeit erfüllt, in der emotionale Zugehörigkeit untrennbar
mit Veränderung und Verlust verbunden ist.

Dritte Staffel (S03E01, »The Camera Loves You«)

Es ist Dezember 1984, Vince betreibt noch den Club 366, sieht aber müde
aus, und als er eine Line Kokain von einem Spiegel zieht, sieht er sich selbst
darin an, als ob er überprüfen müsste, wie es ihm geht. Frankie wickelt
ein Geschäft mit einem Mann ab, den er als »Scheiß-Grieche« bezeich-
net und der anderen im Club dann sagt, Frankie wäre selbst gern Grieche.
Etwas später begleitet Vince Abby zu Fuß nach Hause. Sie gehen wieder
auf die Straße und bewegen sich auf einen fast fertiggestellten Wolkenkrat-
zer zu, der, so Vince, 2.000 Räume, 40 Stockwerke und ein sich drehen-
des Restaurant auf der obersten Etage haben werde: Es sei, als würde der
Taj Mahal auf einer Toilette gebaut. Abby sagt, sie würden schon wissen,
was sie tun und warum. Als Vince nachfragt, wen sie meine, antwortet sie:
»The money people. They always know.«
Hier wird ein durchgängiges Thema deutlich: Es gibt Entwicklungen,
mal liberalisierende, mal oppressive, auf die die Figuren reagieren. Sie erhal-
ten dadurch Möglichkeiten, die sie mal ergreifen, mal nicht, die ihnen mal
Nutzen bringen und mal nicht, und meist werden sie dadurch an anderer

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III.1. Timo Storck: The Deuce

Stelle eingeschränkt und tragen Schaden davon. Im Werk David Simons,


insbesondere in The Wire, ist der Bezug zur griechischen Tragödie gezo-
gen worden, in erster Linie dahingehend, dass die handelnden Personen
in irgendeiner Weise einer Schicksalsmacht ausgeliefert sind und es für sie
schwer bis unmöglich ist, aus der ihr (vermeintlich) zugedachten Rolle auf-
zusteigen (Treppen und Aufgänge!). Das zeigt sich auch in The Deuce und
im Besonderen in der dritten Staffel, die voll von Ernüchterung ist: Eileen
kann zwar filmen und sich als Autorin und Produzentin von Femerotica
bezeichnen, aber eine Berühmtheit, wie zu Beginn der zweiten Staffel an-
gekündigt, ist sie nicht (geblieben), der hohe Profit billiger produzierter
Filme und die Ankunft des Heim-Videorekorders haben das verhindert.
Lori sieht sich damit konfrontiert, auch als Pornofilmstar das machen zu
müssen, was derjenige, der das Geld hat, von ihr fordert. Vince ist müde
und seine Clubs werden von der Polizei mit unzähligen Razzien unter
Druck gesetzt, weil ein anderes Publikum sie besucht und die Machtstruk-
turen zwischen Mafia und Politik sich verändert haben.
Allerdings ist das nur scheinbar griechisch-tragisch. Das antike griechi-
sche Drama zeichnet sich ja dadurch aus, dass die Götter den Menschen
übel mitspielen und diese nicht dagegen ankommen, das ihnen zugedachte
Schicksal zu leben. Das Geschehen in The Deuce ist ein anderes als im an-
tiken Drama, wie Frankie wäre es allenfalls gern griechisch. Was geschieht
und was die Figuren mal nach oben und mal nach unten treibt, sind sozial-
politische Dynamiken. Denen sind sie ausgeliefert, aber die Entwicklungen
sind nichtsdestoweniger menschengemacht. Es ist nur scheinbar so, dass
letztlich irgendwo »money people« alle Geschicke lenken – auch sie sind
Dynamiken unterworfen, und sei es in ganz allgemeiner Weise der Kapi-
talismus. Es gibt keine Schicksalsmacht, die lenkt, und auch keine einzel-
nen Individuen »da oben«, sondern eine Eigendynamik des Soziallebens.
The Deuce führt dabei immer wieder vor, dass es zwar ein Irrtum ist, zu
denken, man entscheide oder ergreife Chancen. Die Tragödie allerdings ist,
wenn auch nicht individuell erzeugt, so doch aber menschlich. Niemand
ist dann »selbst schuld«, schon gar nicht diejenigen, die sich in prekären
Lebensbedingungen und unterschiedlichen Abhängigkeiten befinden, und
selbstverständlich gibt es Ungleichheit, aber das ist keine Natur und kein
Schicksal, sondern sozialer Prozess. Auch Goldman ist nicht frei, er lässt
genau das Badehaus schließen, das er selbst frequentiert hat.
The Deuce, so könnte man etwas zugespitzt und in Abwandlung des La-
canschen (vgl. z. B. 1962/63) Ausdrucks zur Bezeichnung dessen, worum

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

das menschliche Begehren kreist, es nie erreicht, sich aber dadurch kons-
tituiert, sagen, thematisiert das »Objekt klein p« – es geht um Pornogra-
fie, Peepshows und Prostitution, um Polizei und Politik. Aber anders als
in der Lacanschen Theorie, wo der kleine andere (als Gegenüber in einer
Spiegelbeziehung) neben dem großen Anderen (Sprache, Gesetz, symbo-
lische Ordnung) steht, erweist sich in The Deuce noch der große Andere
als Illusion, als ambivalenter Trost gegenüber der unangenehmen Einsicht,
dass es eben nicht Richard Nixon oder Ed Koch sind, die der Gesellschaft
in mikro- oder makrosozialen Kosmen Unglück bringen (so sehr auch
einzelne Entscheidungen konkrete Folgen haben und man die Funktion
eines Präsidenten oder Bürgermeisters unterschiedlich umsichtig ausfüllen
kann), sondern dass die komplexeren Verhältnisse der Menschen zueinan-
der Dynamiken entstehen lassen, unter denen die einen zu leiden haben
und die anderen Macht erlangen.
Das kann nun einen wichtigen Akzent in der Methode der Filmpsycho-
analyse herausstellen. Deren methodischer Gegenstand kann ohne inter-
disziplinäre Vermittlung nichts anderes als der Film, hier die TV-Serie,
sein – nicht Regisseur, Autor oder »Showrunner«, nicht der Produktions-
kontext oder die Zeitgeschichte, nicht einzelne Schauspieler und, zumin-
dest unmittelbar, noch nicht einmal die einzelne filmische Figur. Das, zu
dem wir in eine Rezeptionsbeziehung einsteigen, ist die Serie, ihr Narrativ,
ihre Ästhetik, ihre sonstige filmische Gestaltung. Auf dieser Basis treten
Einfälle des Interpretierenden hinzu (also etwa, dass David Simon auch
für The Wire verantwortlich war, dass James Franco Vorwürfen sexueller
Grenzverletzungen ausgesetzt war, wann Blondie Dreaming aufgenommen
haben etc.). Diese sind ohne Zweifel wichtige Elemente jeder Interpreta-
tion, die aber nicht »in« der Serie stecken, sondern »in« den Einfällen
der Rezipierenden. Das ermöglicht es, eine emotionale Beziehung zu The
Deuce als solches einzugehen, und so vermittelt sich die Möglichkeit, psy-
choanalytisch etwas über gesellschaftliche Verhältnisse und das Individuum
darin zu sagen – statt sich nur auf das individuelle, womöglich biografisch
verstehbare Einzelner zu beziehen. The Deuce ist nicht psychologistisch,
Biografien werden überwiegend allenfalls angedeutet, die Serie selbst ist als
Ganze dasjenige »Quasi-Subjekt«, um das es in einem psychoanalytischen
Zugang geht. So kann die Interpretation eine werden, die Kultur/Gesell-
schaft zum Gegenstand hat und ihrerseits zumindest der Möglichkeit nach
von kultureller/gesellschaftlicher Relevanz ist.
Die oben aufgeworfenen allgemeinen Fragen der psychoanalytischen

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III.1. Timo Storck: The Deuce

Interpretation von Film, nämlich, welche Art von Beziehung zu welcher


Art Objekt sich in der Rezeption zeigt und was latente Strukturdimensi-
onen sind, lassen sich in folgender Weise beantworten: Es ist die Rezep-
tionsbeziehung zu einem Quasi-Subjekt, das geprägt ist von »fake real«
(einem vermeintlichen Eigentlichen), von Faszination/Verführung und
Maskierung/Täuschung, von einem Versprechen, etwas zu besitzen oder
sein zu können, das sich als Illusion entpuppt, und von der Dynamik, ein
Objekt zu sein, welches der Spielball sozialer Dynamiken ist. Die latente
Strukturdimension darin ist, dass eine Unsicherheit darüber besteht, ob es
dieses Eigentliche, Echte oder Reale und damit auch das Subjekt in der Ob-
jektivierung überhaupt gibt. Das schließt auch ein, ob eine Zuschreibung
von »die da oben« als Verantwortliche für sozialpolitische Entwicklungen
und offene und verstellte Möglichkeiten treffend ist oder ob es nicht ein
Phantasma ist.

»Do you like movies?« –


Moralische und unmoralische (Rezeptions-)Angebote

In einer Folge (S01E04) entscheidet sich Eileen als Candy aufgrund der
schlechten Wetterlage, ihre Dienste im Pornokino anzubieten, in Form
eines Blowjobs. Der Code zur Kontaktaufnahme ist, dass der Freier mit
den Worten »Do you like movies?« auf sie zugeht. Ist damit auch etwas
über die Rezipierenden gesagt? Werden wir von The Deuce – dann aller-
dings in einem »Eyejob« – befriedigt?
Was bietet die Rezeption von The Deuce für eine Art von Anreiz? Auf
einer ersten, oberflächlichen Ebene könnte man fragen, ob die Rezeption
nicht ein anspruchsvoll verkleideter voyeuristischer Wunsch ist, nicht
allein auf die Sexualität bezogen, sondern als eine Art Sozialvoyeurismus.
Es ginge dann um einen Blick »auf die Straße«, auf der man sich selbst
dann doch nicht befinden, aber identifikatorisch etwas vom »porn chic«
oder Ähnlichem abbekommen möchte.
Man kann eine Funktion der Selbsterkundung in der Rezeption von
TV-Serien postulieren (vgl. Storck, 2020), die in The Deuce besonders
deutlich zutage tritt. Böhner und Reszke (2019) argumentieren dafür,
dass in »popkulturellen Sekundärwelten« wie zum Beispiel der TV-Serie
etwas möglich ist, das dem philosophischen Gedankenexperiment ähnelt
und so »modales Wissen« generiert. Das bedeutet, dass den Rezipieren-

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

den das Angebot gemacht wird, sich angesichts der Rezeption Gedanken
über etwas zu machen. Dann lernen wir in Mad Men eben nicht nur etwas
davon kennen, wie Frauen und Männer in den 1960er Jahren miteinander
gesprochen haben, oder erhalten in The Walking Dead nicht nur Hinweise
auf hilfreiches Verhalten nach dem Eintreten einer Zombie-Apokalypse,
sondern wir lernen etwas über uns in Beziehung zu anderen in einem kul-
turell-gesellschaftlichen Kontext.
Was ist das im Besonderen in The Deuce? Die erste Staffel wurde im
Herbst 2017 ausgestrahlt, ziemlich genau ein Jahr nach der Wahl Donald
Trumps zum US-Präsidenten. Die zentralen Fragen, die aufgeworfen
werden, sind gemäß der oben entwickelten Interpretation: Was leitet ge-
sellschaftliche Entwicklungen? Was ist das Eigentliche hinter der Maske,
der Täuschung oder dem Vorgespielten? Gibt es »das Subjekt« hinter der
Objektivierung?
Ebenso wenig wie es in The Deuce hinreichend ist, die Entwicklungen,
denen die Figuren auf der 42nd Street ausgesetzt sind, auf »die da oben«
zurückzuführen, so wenig ertragreich ist es, die Wahl Trumps als Irrtum,
Manipulation dieser oder jener Interessengruppe oder Ähnliches zu erklä-
ren. Auch hier geht es darum, das, was passiert und dessen Folgen zu spüren
sind, als Teil eines gesellschaftlichen Prozesses zu begreifen.
Angesichts der vorangegangenen Überlegungen könnte man nun sagen,
dass The Deuce geschaut wird, weil sich darin etwas über Machtverhältnisse
verstehen lässt – in der Sexualität im Allgemeinen, in Geschlechterverhält-
nissen im Besonderen, aber eben auch im Verhältnis des Individuums zur
Gesellschaft, im Hinblick auf komplexe soziale Entwicklungen und auf die
Frage danach, was diese steuert. Der Serie gelingt es, dies auf immer wieder
beeindruckend warme, zärtliche und kämpferische, gewalttägige oder des-
illusionierende Weise zu erzählen und sich dabei nicht dauerhaft auf die
eine oder andere Seite zu schlagen. Und: The Deuce ist nicht bloß eine in-
tellektuelle Übung in Gesellschaftskritik, sondern erzählt Geschichten und
berührt dabei auf verschiedene Weise. Dadurch wird es für die Rezipieren-
den persönlich, auch für diejenigen, die nicht in Trumps Amerika oder im
gentrifizierten Midtown New York leben oder mit Sex ihr Geld verdienen.
Das Angebot, das die Serie macht, ist nicht zuletzt, darüber nachzudenken,
in welcher Welt wir leben wollen.

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III.1. Timo Storck: The Deuce

Bibliographie

Böhnert, M. & Reszke, P. (2019). Nicht-triviale Trivialitäten. Popkulturelle Sekundärwelten


als Gedankenexperimente und ihr erkenntnistheoretischer Nutzen. In dies. (Hrsg.).
Vom Binge Watching zum Binge Thinking (S. 11–50). Bielefeld: Transcript.
Hamburger, A. (2018). Filmpsychoanalyse. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Lacan, J. (1962/63). Das Seminar, Buch X. Die Angst. Wien, 2010: Turia + Kant.
Storck, T. (2020). Binge Watching als Selbstschädigung, Selbstfürsorge und Selbsterkun-
dung. Persönlichkeitsstörungen, 24(2), 128–138.

Biografische Notiz
Timo Storck, Dr. phil., Dipl.-Psych., ist Professor für Klinische Psychologie und Psychothe-
rapie an der Psychologischen Hochschule Berlin sowie psychologischer Psychotherapeut
und Psychoanalytiker (DPV, DGPT, IPA). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören:
Filmpsychoanalyse, psychoanalytische Konzeptforschung und Methodologie, psycho-
somatische Erkrankungen, Psychotherapieforschung. Ausgewählte Buchpublikationen:
Psychoanalyse nach Sigmund Freud (2018), Buchreihe Grundelemente psychodynamischen
Denkens (bisher 6 Bände, seit 2018).
t.storck@psychologische-hochschule.de

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III.2. Fauda
Die Serie als Familie – die Familie als Serie

Olaf Knellessen

Der Monitor ist das Visier einer Drohne, auf dem angezeigt wird: Wadi
Zaitoon, westlich von Ramallah.
Ein Auto kommt angefahren, bleibt mitten auf der Straße stehen, zwei
mit Palästinensertüchern Vermummte steigen aus, gespannte Blicke, einer
schaut mit dem Fernglas in die entgegengesetzte Richtung der Straße, sagt
in sein Handy, es sei alles sauber, der andere holt einen Mann aus dem Auto
– es ist Boaz, wie man da schon weiß –, nicht vermummt, er scheint sich
vor Schmerzen zu krümmen, kann selbst kaum stehen, nun kommt aus der
anderen Richtung ein weiteres Auto den Hügel hinunter – links und rechts
Stacheldraht –, es bleibt in einigem Abstand stehen. Eine Stimme aus dem
Handy fragt den Mann, ob er den Scheich sehe. Aus dem anderen Auto
steigen drei ebenfalls mit Palästinensertüchern Vermummte aus, einer zieht
einen älteren Mann – es ist der Scheich – aus dem Wagen, so stehen sich
die beiden Gruppen, beide vor ihren Autos, gegenüber. Aus dem Handy
fragt die Stimme, ob Gideon Avital da sei, Schnitt, aus dem zweiten Auto
wird eine weitere Person gezerrt, es ist nicht Gideon Avital – der erwartete
Verteidigungsminister –, sondern ein kleines Mädchen, Abir, mit einem
Megafon und einem Sprengstoffgürtel um den Oberkörper. Der Mann am
Handy ruft erregt: »Abir, Abir ist hier. Zwei bewaffnete Männer mit Abir
und dem Scheich, die Sprengstoffgürtel tragen.« Von der anderen Front
– so stehen sie sich gegenüber – kommt durchs Megafon: »Wenn ihr Boaz
explodieren lasst, jage ich Abir in die Luft.«
Die Frage ins Handy, an den Anführer: »Was sollen wir tun?« Und
nochmals immer nervöser: »Abu Ahmad, was sollen wir tun?« Wie weit
entfernt er von Abir sei? Es sei schwer zu sagen, die Spannung steigt an, der
Rhythmus des musikalischen Hintergrunds wird schneller, Abu Ahmad
spricht ein Stoßgebet an Allah durchs Telefon und dann: »Lass ihn gehen,
Walid.« Und sie schicken Boaz los, der geht gekrümmt, wankt, stöhnt,

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

dreht sich nochmals um, um zu schauen, was hinter ihm passiert, er wird
angewiesen weiterzugehen, aus dem Handy kommt der Befehl: »Drück
ab!«, Walid kann es nicht glauben, nochmals: »Drück ab!« Boaz geht
weiter, in seinem Gesicht ein freudiges Lächeln, da passiert es: der Knall,
die Explosion, Staub, das Bild wird schwarz … Ende der Folge sieben.
Anfang der Folge acht: Der Bildschirm wieder schwarz, immer noch
schwarz, dann Augen zwischen dem Palästinensertuch, werden gerieben,
entsetzt, »Nein« – »Boaz?«, Schnitt und Kamera auf die Stelle, an der
es passiert ist, immer noch der Staub, der Rauch, sonst sieht man nichts,
dann: »Schick ihn los. Los!« Der Scheich wird auf den Weg geschickt, er
beeilt sich, wird nochmals gerufen: »Scheich!«, er dreht sich um, dann
passiert es wieder, der Knall, die Explosion, Staub … Die anderen rennen
zum Auto, springen rein, fahren los. Quietschende Reifen, Panik, Flucht.
Man sieht wieder die Stelle, an der die Explosionen waren, immer noch
Rauch und Staub, sonst sieht man nichts. Einer, Doron, läuft los, die an-
deren liegen noch am Boden von der Wucht der Explosion, auch das Mäd-
chen Abir, die Tochter von Abu Ahmad. Der Blick der Kamera geht wieder
auf Doron, von hinten, er wirft sein Palästinensertuch weg, an der Stelle,
an der es passiert ist, ist es leer, da ist nichts mehr, nur ein kleiner Krater, er
geht weiter die Straße entlang, biegt nach links ab, verschwindet durch den
Stacheldraht hindurch im Irgendwo.
Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn, könnte man sagen. Das ist sicher auch
richtig, ebenso sicher ist es nicht alles. Das Geschehen ist offensichtlich Teil
der Inszenierung der Serie. So wie die beiden Parteien, die beiden Fronten,
einander gegenüberstehen, so sind auch die beiden Folgen der Serie ange-
ordnet. In ihrer Mitte ist die Explosion, in ihrer Mitte passiert es.
Das erste Bild der Serie war der Blick von oben in eine Moschee. Der
gelbgraue, ornamentale Teppichboden, der den ganzen Raum auskleidet
und auch gar nicht aufzuhören scheint, ist unterteilt in braune Flächen in
der Größe eines Gebetsteppichs, auf denen einzelne Gläubige stehen oder
knien. Links und rechts im großen Raum stehen Reihen von Säulen ein-
ander gegenüber, alles sehr geometrisch, symmetrisch angeordnet. Es geht
um die Ordnung.
Fauda ist ein arabisches Wort und bedeutet Chaos.
An der Decke kreisen Ventilatoren, lassen die Luft leicht erzittern. Die
Gläubigen knien nieder zum Gebet, von draußen hört man Lärm, »Ich
brauche Hilfe«, einer der Betenden dreht sich um, scheint zu lauschen, er
steht auf, geht Richtung Tür, es scheint ein Verantwortlicher zu sein, ein

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III.2. Olaf Knellessen: Fauda

Mann wird hereingebracht, auch von Schmerzen gekrümmt, kann nicht


alleine gehen, wird gestützt, man legt ihn auf den Boden, der, der gerade
noch gebetet hat, beugt sich zu ihm herab, will den Verletzten auf die Seite
drehen, plötzlich geht es ganz schnell, der scheinbar Verletzte dreht sich
um, zieht einen Revolver, richtet ihn auf den Verantwortlichen, der wird
von einem anderen, von einem der Reingekommenen, gepackt, Pistole
an die Schläfe, und aus der Moschee gezerrt, die anderen in der Moschee
werden mit Waffen in Schach gehalten, draußen fährt ein Wagen vor, der
Entführte wird hineingezerrt, quietschende Reifen, der Wagen braust
davon.
Mit dem Gebet ist es zu Ende, mit der Ordnung ist es zu Ende, ob es
mit der Symmetrie zu Ende geht, ist die Frage. Sie ist nicht nur eine des
Ornaments, sie ist nicht nur eine der Säulen, sie ist natürlich auch eine der
Serie und ihrer Form. Sie ist schon hier eine der Ähnlichkeiten. Diejeni-
gen, die um Hilfe rufend in die Moschee kommen, scheinen auch Araber,
Palästinenser zu sein, sie tragen die gleiche Kleidung, sie haben das gleiche
Aussehen. Und der scheinbar Verletzte ist nicht verletzt. Es geht nicht nur
um Ähnlichkeiten, ebenso um Verkleidungen, die Palästinensertücher sind
solche Kleidungen, die auch Verkleidungen sind.
Fauda ist zudem der Warnruf im israelischen Geheimdienst, wenn eine
Tarnung auffliegt. Noch in der ersten Folge wird Doron, ein Geheimagent,
mit einem anderen seines Teams als Auslieferer einer Bäckerei auf einer
Hochzeit eingeschleust, zu der sie das für das Fest so wichtige Gebäck brin-
gen und unter den Gästen der Hochzeit servieren sollen. Die richtigen An-
gestellten wurden auf dem Weg zur Feier gefangen genommen und durch
Israelis ausgetauscht. Doron und das Team wollen auf der Hochzeit Abu
Ahmed, den Panther, festnehmen. Er ist der Bruder des Bräutigams und
wird dort – natürlich verkleidet – erwartet. Doron würde ihn von einem
früheren Auftrag her wiedererkennen. Die Festnahme der Bäckerei-Ange-
stellten ist aber beobachtet worden und an die Familie gemeldet worden.
So kommt dort Verdacht auf, man beginnt die beiden falschen Angestellten
immer wieder kritisch zu beäugen. Sie merken und melden das über Funk
ins Hauptquartier, es kommt der Befehl zum Rückzug, Doron will aber
noch warten, er will Abu Ahmed, zögert den Abgang hinaus. Der Blick
der Kamera wird unruhig, wird schneller, beginnt sich zu drehen, es kann
nun von allen Seiten kommen – Wer? Kommt Abu Ahmad doch noch?
Oder fliegen sie auf, werden entdeckt und gepackt? –, die Musik wird ge-
triebener, alles dreht sich, sie werden angesprochen, um Hilfe für etwas

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

und in einen anderen Raum gebeten, sie wollen los, aber es hilft nichts, –
»Nur ganz kurz«. Dort werden dann Waffen gezogen, sie werden verhört,
können sich herauswinden, alles ist ziemlich knapp, man lässt sie gehen, es
kommt doch noch zum Kampf, die Agenten schlagen die anderen nieder:
»Fauda, Fauda« – das ist das Signal, das ist der Warnruf. Und das Chaos
bricht aus. Die Braut wird als Geisel, als Schutzschild genommen, später
der Bräutigam, der Bruder des Gesuchten Abu Ahmad, erschossen.
Fauda ist also das Chaos, ist der Warnruf bei der Enttarnung. Es geht
also um Verkleidungen, aber nicht nur um äußere, nicht allein um die An-
gestellten-Uniform. Das Team der Undercover-Agenten des israelischen
Verteidigungsministeriums heißt auf Hebräisch Mista’aravim, auf Deutsch
Die Arabisierten. Manchmal kann man in der Serie den Eindruck haben,
dass der gleiche Schauspieler noch eine andere Rolle spielt, eine aus dem
anderen Lager, von der anderen Front. Der Agent, das wird da vorgeführt,
ist immer ein Doppelagent.
Fauda ist eine TV-Serie, deren erste Staffel 2015 vom israelischen TV-
Sender Yes produziert und ausgestrahlt wurde und ab Dezember 2016 bei
Netflix verfügbar war. Bisher sind zwei Staffeln erschienen, die dritte ist im
Dezember 2019 angelaufen und sollte im Laufe des Jahres 2020 ebenfalls
bei Netflix verfügbar sein. Regisseur aller Staffeln ist Assaf Bernstein.
Nachdem er gleich zu Beginn der Serie aus der Moschee entführt
worden ist, wird Ali vom Hauptmann Ayub, Gabi genannt, verhört. Er will
von ihm wissen, wer hinter den Plänen der Palästinenser steckt, die Atten-
tate zur Folge haben können und werden. Und Gabi versucht, Ali mit dem
Angebot zu ködern, seiner Tochter zu helfen, die schwer krank ist und eine
Niere benötigt, sonst bald sterben würde. Er könnte das vermitteln. Ali
antwortet, er tue alles, was er könne für seine Tochter. Worauf Gabi schon
beinahe beschwörend sagt: »Ich habe fünf Kinder, möge Gott sie beschüt-
zen. Ich schwöre Ihnen, wäre eines an der Stelle von Nadia, ich würde alles
tun, um sie zu beschützen. Nichts würde mich aufhalten.«
Es ist nicht von ungefähr, dass ebenfalls gleich zu Beginn die Familie mit
ihren Bindungen und ihren Loyalitäten ins Spiel kommt. Ganz offensicht-
lich gibt es Ähnlichkeiten zum Geheimdienst – zu den Geheimdiensten
auf beiden Seiten, auch sie sind Familien, bezeichnen sich immer wieder so.
Gabi will nur einen Namen, nur einen einzigen Namen, dann kümmert
er sich um Alis Tochter. Und er nennt ihn: »Abu Ahmad – Abu Ahmad,
Taufiq Hamed«. Gabi ist empört, Ali mache sich lustig über ihn. Aber
Ali beharrt, es sei der Panther. Aber, so Gabi, der Panther sei tot. Dann

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III.2. Olaf Knellessen: Fauda

Schnitt und Szenenwechsel zur Familie, aber diesmal zu der von Doron,
der irgendwo draußen ein Weingut hat. Die Kinder spielen, spritzen sich
mit Wasser nass, Doron kommt, spielt mit, die Stimmung ist fröhlich, ent-
spannt. Da kommt jemand im Spalier der Weinstöcke ihm entgegen. Links
und rechts stehen sie, wie die Säulen, wie die Fronten. Es ist Moreno, der
frühere Chef von Doron, als er noch beim Geheimdienst war. Er will ihn
für einen Auftrag zurück, es geht um Abu Ahmad, den Panther. Der war
totgesagt, Doron hatte ihn vor einiger Zeit angeschossen und getroffen, er
war beerdigt worden und galt als tot. Nun soll Doron, der ihn noch kennt,
der ihn damals gesehen hat, Doron soll helfen, ihn wieder aufzuspüren.
Das ist der Plot dieser Staffel, vor allem aber ist es die Form der Serie,
von Staffel zu Staffel hört sie auf, ist zu Ende und geht dennoch weiter.
So ist auch Abu Ahmed wieder auferstanden – und die Geschichte spielt
dort im Westjordanland, wo Jesus geboren wurde, der auch gestorben und
wieder auferstanden ist – und lebt weiter, so kommt ebenfalls Doron, der
weg war, wieder zurück. Wir haben die Serie und ihre Struktur also auf
beiden Seiten, auch darin sind sich die Seiten ähnlich. Und beide, Abu
Ahmad und Doron, binden sich, als es losgeht, das Palästinensertuch um
den Kopf, das ist ihre Tarnung, ihre Verkleidung, sie sind immer auch am
anderen Ort, nicht nur Agent, sondern Doppelagent. Auch das geht weiter.
Und hat kein Ende.
Als Doron und das Team fluchtartig das Geschehen der Hochzeit, die
zur Fauda wurde, verlassen haben, schaut sich Doron nach Abu Ahmad
um. Er will ihn haben, er hat – mit seinen Worten – noch eine Rechnung
zu begleichen. Und er entdeckt ihn in einem alten Mann, der mit Krücken
unterwegs ist, nimmt die Verfolgung auf, jagt ihn, schießt wieder auf ihn
und trifft ihn nochmals – wie damals.
Und es trifft weiter. Die Braut des ermordeten Bashir hat ebenfalls
eine Rechnung offen. Sie will nicht Allah dienen und Mutter sein, sie
will Rache. Sie gehört aber zur Familie von Abu Ahmad, zur Familie der
Hamas, da ist das nicht vorgesehen. Die Rache schon, nicht aber, dass sie
zum Shihad, zur Märtyrerin wird. Sie will einen Club in die Luft jagen, in
dem sich einer der Mörder ihres Mannes, eben Boaz, aufgehalten hat. Boaz
ist der Schwager von Doron.
Und der macht sich wieder fit. Im großen Garten seines Weinguts trai-
niert er wieder und übt den Umgang mit der Waffe: Sucht, schaut um sich,
bückt sich, zieht, weiter auf alle Seiten, dreht sich um und zieht, da steht
sein Sohn vor ihm und sieht ihn. Beide sind erschrocken. Aber es geht

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

weiter und wieder dreht er sich um, zieht und zielt direkt in die Kamera,
zielt auf uns. Es geht auch uns an, was da passiert. Wir sind nicht nur Zu-
schauer, sind Teil des Geschehens, Teil der Szenerie der Serie. Sie lässt uns
nicht los.
Die Vorbereitungen für das Bombenattentat auf den Club laufen,
Amal, die verwitwete Braut, ist bereit. Es ist ein Zeitzünder, sie hat drei
Minuten, um ihre Handtasche mit der Bombe drinnen zu deponieren und
wieder rauszukommen. Sie aber will sterben, die Bombe explodiert mit
ihr und reißt auch die bildhübsche Freundin von Boaz in Stücke. Er war
im Moment der Explosion draußen vorgefahren, kann seine Freundin nur
noch am Amulett identifizieren, das er ihr am Abend davor geschenkt hat.
Ein Verlobungsring sollte es sein, er wollte sie heiraten – auch er wollte hei-
raten, wie Bashir und seine Braut, der Verlobungsring verbindet alle mit-
einander. Und Boaz wird später – wir wissen es schon – ebenfalls so in die
Luft gesprengt wie Amal und seine Freundin.
Amal wurde zum Club von einem Hamas-Mitglied gefahren, den sie
»den Juden« nennen, weil er so aussieht wie diese. Er ist das Pendant zu
den »Arabisierten«.
Diese Verbindungen sind besonderer Art, sie sind Vertauschungen der
Positionen, die Positionen wandern vom einem zum anderen. Sie sind
nicht nur eine Gestalt, die immer wieder auftauchen kann im Plot. Sie sind
das Prinzip der Serie. Es werden ständig die Positionen getauscht. Schon
im Verhör mit dem aus der Moschee entführten Ali wechselt das Gespräch
von der Hamas auf die Familie, setzt beide damit in die gleiche Position
und geht auf die nächste Szene über, in der die Kinder von Doron ausge-
lassen im Garten spielen. Bei dieser Entführung von Ali wird ein Teammit-
glied von Doron verletzt, sein Name Eli. Da wurde nur ein Buchstabe ver-
tauscht und so beide Figuren miteinander verbunden. Beide werden später
aus der Serie verschwinden.
So ist nach der Entführung nicht nur Eli im Spital, sondern auch Abu
Ahmad – beide ja angeschossen. Der eine im israelischen natürlich, der
andere im palästinensischen. Dort ist auch Doron, der ihn sucht und
wieder trifft. Diesmal die Ärztin Shirin. Sie ist hier aufgewachsen, hat lange
Zeit in Paris gelebt und ist wieder zurückgekehrt. Doron spricht sie als Pa-
tient an, sie flirten miteinander.
Abu Ahmad, der Panther, entkommt knapp, er wird von Shirin beglei-
tet, die von ihrem Cousin dazu gedrängt wird. Doron verpasst so fürs Erste
nicht nur den Panther, sondern auch Shirin. Und er verpasst noch etwas:

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III.2. Olaf Knellessen: Fauda

Seine Frau Gali will nicht, dass er wieder zurückgeht, sie will lieber mit ihm
weg, alles aufgeben, ein Ende hier machen. Sie will mit ihm das Leben ge-
nießen und mit ihm tanzen. Er aber muss es machen, es sei, so sagt er später,
stärker als er, setzt sich ins Auto und fährt zum Team – und tanzt dort mit
ihnen. Auch Vertauschungen, solche des Tanzes, solche von Familie und
Zugehörigkeit im Kampf. Wie schon bei Ali und seiner Tochter.
Aber auch Gali ist weg. Sie hat einen Geliebten, Naor, auch einen aus
dem Team. Auch hier wurde der Platz vertauscht zwischen Doron und
Naor. Rechnungen gehen auf – oder auch nicht. Die mit dem Panther ist
offen, sie sind ihm auf der Spur. Ali muss nämlich unbedingt mit ihm spre-
chen – er ist wegen der Sache mit dem israelischen Spital in Verruf geraten.
Der Panther soll ein Machtwort sprechen. Er, Ali, habe doch immerhin
eine Führungsposition bei der Hamas, vor allem kennt er Abu Ahmad seit
Kindesjahren, hat ihn unterstützt und geschützt, der hat viel von ihm ge-
lernt. Doron und sein Team haben davon Wind bekommen, verfolgen ihn,
dringen in das Gebäude ein, kommen aber zu spät. Ali wurde erschossen
auf Befehl von Abu Ahmad. Er war ein Verräter. Und Boaz wird bei der
Aktion gefangen genommen.
Ein gefundenes Fressen für die Hamas, für Walid, den noch jungen,
fast kindhaften Cousin von Shirin, der sich zum Beschützer vom Panther
aufbaut und zum Beschützer von Shirin aufbauscht. Boaz spielt zunächst
eine neue Verkleidung, als Teil des palästinensischen Geheimdienstes, das
klappt beinahe, bis der Panther auf seinem Handgelenk den Stempel des
Clubs entdeckt und es jetzt weiß: Boaz ist der Mörder seines Bruders.
Und dann kommt Rache. Keine Frage. Aber auch hier ist wieder die
Frage, ob es nur Rache ist. Boaz wird nicht nur gefoltert, er wird operiert.
Es wird ihm, so teilt man ihm mit, eine Niere rausgenommen – hier wieder
das Pendant zur Tochter von Ali, die ja eine geschenkt bekommen hat.
Aber in der Tat wird nichts herausgenommen, sondern – wie man später
erfährt – etwas eingesetzt. Auch hier wieder Vertauschungen. Und dazu
wurde Shirin gezwungen, indem man ihre Mutter zur Geisel nahm. Sie hat
sich geweigert, auf ihr Ärztin-Sein gepocht. Ihr Cousin Walid hält ihr ent-
gegen: »Es gibt wichtigere Dinge als den hippokratischen Eid, die Treue
zum Heimatland zum Beispiel.« Zur Familie gesellt sich das Heimatland,
zum Verrat die Treue.
Und genauso heißt es im Team, als von Naor, dem Geliebten von
Dorons Frau, infrage gestellt wird, ob Doron da weiter das Team leiten
könne: »Unsere Crew ist wohl mehr als Familie.« Die Familie ist also am

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

Ort des Agenten, die Familie ist demnach ein Agent, ein Geheimagent.
Das wird hier erzählt.
Dann Schnitt zu Gali, Dorons Frau. Sie und die Kinder wissen inzwi-
schen, dass Boaz entführt und in Gefangenschaft ist. Sie ist verzweifelt,
will, dass Doron ihn befreit und holt. Er ruft an, ist ganz angespannt und
teilt mit, dass er ein paar Tage nicht erreichbar sein wird. Sein Sohn Idoni
kommt dazu und fragt seinen Vater, ob sie Boaz töten werden. Er antwor-
tet, nein, er werde ihn holen und zurückbringen. Idoni sagt ihm darauf, er
solle aufpassen, dass sie nicht ihn entführen. Er würde in der Zwischen-
zeit auf seine Mama und seine Schwester aufpassen. Er hat eine Stelle ein-
genommen in der Familie, in diesem Kampf zwischen Treue und Zusam-
menhalt und Verrat und Auflösung. Und es ist offensichtlich, dass es nicht
einfach um die Familie geht, sondern um mehr. Er hat eine Stelle einge-
nommen in dieser Serie, die ein Gefüge von Schnittstellen entfaltet, nicht
nur zwischen den einzelnen Folgen, die immer im Schnitt von Fortsetzung
und Abbruch situiert sind, sondern zwischen den verschiedenen Szenen,
ihren Verbindungen und Bewegungen, den Vertauschungen und Verstri-
ckungen ihrer Personage.
Diese Bewegungen zwischen den Szenen und ihren Orten werden nicht
von ungefähr immer wieder über das Visier einer Drohne, das dann den
ganzen Bildschirm einnimmt, nicht nur dargestellt, sondern geführt. So
wird der Bildschirm zum Visier der Drohne, die uns anschaut und uns
lenkt, mit der gleichzeitig auch wir schauen und schießen und treffen.
Die Mündung der Waffe von Doron hat auch schon auf uns geschaut und
gezielt. So ist die Drohne die Verbindung und nimmt den Blick auf, den
die Kamera schon in der ersten Szene eingenommen hat, den Blick von
oben, aus einer dem Geschehen entrückten, nicht direkt in es involvierten
Position. Auch wenn ihr Blick von irgendwoher kommt, ist sie nicht wirk-
lich entrückt, vielmehr stellt sie Verbindungen her, scheint das Geschehen
zu steuern. Und das Visier der Drohne ist das Visier der Kamera, ist das
Visier, mit dem geschossen wird. Nicht nur Bilder werden da geschossen,
da werden auch Geschoße abgefeuert, Geschoße, die aber nicht zu trennen
von den Bildern sind.
Es ist diese Position, die eine andere Ordnung einstellt, welche die Gren-
zen und Identitäten ständig überschreitet, übertritt, welche von der einen
Seite auf die andere wechselt und übertragen wird. Doron, der durch den
Zaun verschwindet. Vielleicht könnte man sagen, dass die Drohne eine
ähnliche Position innehat wie – als Subjekt des Unbewussten – der Regis-

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III.2. Olaf Knellessen: Fauda

seur des Traums, der ja zwischen den Elementen des Traums ebenfalls eine
ganz andere Ordnung aufspannt, die nicht der üblichen Logik von Kausali-
tät, Zeit und Raum entspricht.
So ist es kaum Zufall, dass nach einem Schnitt die neue Szene häufig
mit einem Auto beginnt, das um die Ecke kommt und auf die Kamera zu-
fährt. Am Ende einer Szene fahren sie dann wieder – quietschend oder
nicht – davon. Es sind die Autos, die immer schon am Kommen und in
Fahrt sind. In sie steigt man ein, in sie wird man gezerrt, aus ihnen wird
man gezerrt, sie sind Schutz, aber auch Gefahr. Das wird eindrücklich vor-
geführt in einer Szene gegen Ende dieser Staffel, als Nasrin, die Frau von
Abu Ahmad, der inzwischen von Walid erschossen wurde, im Taxi auf
dem Weg zum Flughafen sitzt. Abir, ihre Tochter, die bei der zu Beginn be-
schriebenen Explosion am Auge verletzt wurde, hat von Gabi als Geschenk
zur gelungenen Operation einen Riesen-Teddy bekommen – natürlich
auch in einem israelischen Krankenhaus. Nasrin lässt das Taxi an einer Bus-
haltestelle anhalten, nimmt den Teddy und setzt ihn auf die Bank der Hal-
testelle. Alle Wartenden bekommen Angst und entfernen sich. Es könnte
ja eine Bombe sein. Auch bei den Schnitten und ihren Übergängen geht es
demnach um diese Auto-Mobilität, die auch die Drohne und ihr Visier ist.
Wo also liegt die Verantwortung, wem vertraut man sich an, wem ver-
traut man? Nasrin, der Frau des Panthers, dämmert es zunehmend, dass
dieser Krieg, die ständige Gefahr, die Angst und der Schrecken nicht
enden werden, dass es für sie und ihre Kinder hier kein normales Leben
geben wird, und sie überlegt, weg, wieder zurück nach Berlin zu gehen, wo
sie zuvor mit ihren Eltern gelebt hat. Hauptmann Gabi versucht, ihr das
schmackhaft zu machen, stellt ihr nicht nur die dringende Operation an
den Augen von Abir, darüber hinaus die Tickets, eine Wohnung und Sons-
tiges dort in Aussicht. Sie steht vor der Wahl, für Abir das palästinensische
Krankenhaus oder das israelische mit seinem Spezialisten zu nehmen. Gabi
will dafür den Aufenthaltsort ihres Mannes wissen, dann könnten sie ihn
gefangen nehmen und er könne mit ihr und der Familie nach Berlin gehen.
Das wäre im Interesse aller, im Interesse der Familie, es wäre zudem Treue
zur Familie und gleichzeitig Verrat an ihrem Mann und an der Sache der
Hamas – auch Familie.
Wie da entscheiden? In wessen Hand liegt das Leben? Nasrin schwört
auf Allah, das Leben sei in seiner Hand, Gabi stellt dem entgegen, dass es in
der Hand jedes Einzelnen liege. Das bleibt unentschieden. Nasrin auf jeden
Fall entscheidet sich für Berlin und gegen ihren Mann – und legt dabei die

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

Finger auf den Ring an ihrer Hand –, der sie anfleht, es würde alles besser,
nur noch dieses eine Mal, dann sei es vorbei.
Bald darauf taucht das Bild, es mit der eigenen Hand tun zu müssen,
wieder auf. Diesmal auf der anderen Seite. Walid, der Jünger Abu Ahmads,
der immer mehr Zweifel an dessen Vorgehen bekommen hat, von dem Abu
Ahmad zudem verlangt, er solle seine Cousine Shirin, in die er, Walid, seit
seiner Kindheit verliebt ist, als Verräterin aus dem Weg schaffen lassen,
Walid geht zur Führung der Hamas, der die Kontrolle über den Panther
längstens entglitten ist. Er fordert, man müsse ihn umbringen. Abu Samara,
der Führer, ist ganz und gar einverstanden, er will ihn längstens loswerden,
den Panther. Er gibt Walid eine Waffe, mit der er dem Panther eine Kugel
durch den Kopf schießen soll. Dann solle er verbreiten, sie seien überfallen
worden, er wäre der Einzige, der überlebt habe. So würde es sein und ihrer
beider Geheimnis bleiben, sie würden es mit ins Grab nehmen.
Aber er, Walid, müsse es tun – mit seinen eigenen Händen. Damit würde
er Abu Ahmad sogar einen Gefallen tun, weil er ihn so zum Helden macht,
wohingegen er sonst in Gefahr wäre, sich immer noch lächerlicher zu
machen. Und das liege an ihm, Walid, niemand anderer könne das machen,
weil er Abu Ahmad dadurch ehre, weil er ihn so erst zum Helden, sogar
zum Vater der Bewegung mache, zu dieser Figur, zu der man aufblickt.
Nicht nur hier: Die Väter werden erschossen von den Söhnen. Auch das
mäandert, beinahe ornamental, durch die Geschichten, durch die Familien,
überschreitet die Fronten und verbindet sie, überträgt sich und verbindet
sie. Ali war für Abu Ahmed wie ein Vater und dieser hat ihn dann erschos-
sen, der Scheich war ihm, Abu Ahmad, ebenfalls ein Vater und er hat ihn
geopfert und in die Luft sprengen lassen, sogar seine Tochter hat er dieser
Gefahr ausgesetzt. Und Idoni übernimmt die Position des Vaters, schützt
seine Mutter und seine Schwester, wird dann auch die Waffe auf Naor rich-
ten, den Geliebten der Mutter.
Walid, der Abu Ahmad dann erschießen wird, wird so zum Agenten
dieses Geschehens, zum Geheimagenten, der immer auch Doppelagent
ist. Er kann nicht anders, als auf beiden Seiten zu stehen, steht immer in
der Spannung von Treue und Verrat, steht immer in der Schuld. Und diese
Schuld – wir wissen es aus Freuds Totem und Tabu (1912–13a) – ist es, die
verbindet. Sie knüpft das Netz der Verbindungen, der Assoziationen der
Einzelnen, sie macht das Geflecht der Vergesellschaftung aus.
In einer Szene nicht lang vor seinem Tod spricht Abu Ahmad davon,
dass er getötet würde. Vielleicht von den Israelis, vielleicht auch von den

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III.2. Olaf Knellessen: Fauda

anderen, den Eigenen, der Hamas, und er macht Walid zu seinem Nach-
folger: »Walid, du bist wie ein Sohn für mich.« Eigentlich war ihm
dort schon klar, dass Walid ihn umbringen werde – der die Waffe schon
im Gürtel stecken hatte –, eigentlich war dort schon klar, das Visier der
Drohne hätte es anzeigen können, dass Walid es sein muss, der ihn tötet,
weil es die Choreografie ist, die da lenkt, weil es die Fernsteuerung dessen
ist, dass nicht mehr klar ist, was was und wer wer ist.
Identitäten, Identität überhaupt, sind nicht einfach zu haben. Im Spiel
der Verkleidungen, der Vertauschungen, im Spiel der Positionswechsel und
Stellungswechsel lösen sie sich immer wieder auf, ergeben sich neu und
anders, um ebenso wieder aufgelöst zu werden. Der Agent ist der Doppel-
agent. Der Agent ist die Drohne, ist die Familie, ist der Glaube. Der Agent
ist auch die Liebe, die nicht weniger im Zeichen von Verrat und Treue
steht, die sich nicht nur gegenseitig ausschließen und bekämpfen, die sich
auch gegenseitig verstärken. Gali, die Frau von Doron, hat ein Verhältnis
mit dessen Kollegen Naor, der erst von ihr will, dass sie sich von Doron
trennt und zu ihm kommt, es dann aber doch nicht will, als sich die Situ-
ation zuspitzt und Doron im Zentrum steht, dann aber Gali noch umso
mehr begehrt und will, Doron hat sich in Shirin verliebt, die Palästinen-
serin, die nichts davon weiß, dass er ein Agent ist. Und als Naor ihm nach
seiner Rettung vor dem Tod auf die Schulter klopft, fährt er ihn an, er solle
das lassen: »Hast du sie bei mir zu Hause gefickt?« – »Was kümmert’s
dich?« – »Tut es aber.« Es habe nichts mit ihm zu tun, antwortet Nao. So
sei er nicht, das wisse Doron doch, er kenne ihn doch. Doch, er sei so. »Du
warst schon immer so: ein schmieriger Verräter.« Sie sind Liebende und als
Liebende Treue und Verräter gleichzeitig.
Und wenn Gali, die Frau, um die es da geht, diesen Kampf, das Töten
und Morden, nicht mehr will – so wie Nassrin, die Frau des Panthers –,
sind alle ihre Männer aber solche Kämpfer: Boaz, ihr Bruder, Doron, ihr
Mann, und Noar, ihr Geliebter. Und ihr Sohn Idoni ist es schon längstens.
Auch die Liebe ist der Agent und der Agent ist die agency, die Agen-
tur. Und er ist immer Doppelagent, nicht einfach nur auf der einen, ebenso
wenig nur auf der anderen Seite, so wie er nicht einfach Gott ist, aber auch
nicht die eigene Hand.
So wenig wie die Namen eindeutig sind. Der Name des Hamaskämpfers
»der Jude« hat das sehr schön vorgeführt. Er ist es eben gerade nicht. Und
als Nurit, die einzige Frau im Team von Doron, in der Verzweiflung über die
unfassbare Folter am Scheich, ihren Kollegen, bei dem sie Trost sucht, fragt,

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

wie er heißt, ist der erstaunt und nennt seinen Decknamen, den, unter dem
sie sich alle kennen. Sie aber fragt weiter, wie er denn heiße, und dann erst
kapiert er es und sagt: »Hertzel« – und alle beiden müssen lachen.
So sehr die Serie Fauda mit den Bewegungen der Drohne und ihrer
Choreografie spielt, diese immer wieder in den Schnitten und Wechseln
der Szenen platziert und so die Orte nach anderen Ordnungen verbindet
und verknüpft, so sehr hält sie an der Differenz, an der Spannung fest, die
dieses Geschehen antreibt. In der Netflix-Version wenigstens – und man
kann davon ausgehen, dass das nicht Zufall ist – sind die Gespräche der
Israelis immer auf Deutsch synchronisiert, die Gespräche unter oder mit
den Palästinensern bleiben arabisch und sind untertitelt. Natürlich könnte
man auch diese Gespräche synchronisieren, so wie es ja meist der Fall ist,
aber offensichtlich geht es darum, diese Spannung nicht aufzuheben, sie ist
Teil des Geschehens, Teil der Inszenierung und ihrer Choreografie, ist Teil
dieses ständigen ornamentalen Wechsels der Positionen und Formationen.
Friedrich Kittler erwähnt in Grammophon, Film, Typewriter Gottfried
Benn und die Lagebesprechungen des deutschen Generalstabs:

»Lagen, große am Mittag und kleine am Abend, veranstaltete bekanntlich


der deutsche Generalstab, vor Sandkästen und Stabskarten in Krieg und so-
genanntem Frieden. Bis Dr. med. Gottfried Benn, Schriftsteller und Ober-
feldarzt, das Erkennen der Lage zur Aufgabe auch von Literatur und Lite-
raturwissenschaft erhob. Seine Rechtfertigung (im Brief an einen Freund):
›Sie wissen, ich zeichne: Der Chef d. Oberkommandos der Wehrmacht: Im
Auftrage Dr. Benn‹« (zit.n. Kittler, 1986, S. 3).

Die Lage hat sich geändert, sie ist offensichtlich nicht mehr so auktorial,
nicht mehr so planbar, die Rechnungen bleiben offen, wie es immer wieder
heißt.
Nicht unähnlich wie im Generalstab der deutschen Wehrmacht, bei der
es um den Endsieg ging, hat auch Abu Ahmad einen großen Plan. Es ist das
Attentat, von dem geheimnisvoll immer wieder die Rede ist. Und er hat aus
Amman, von einem der Führer dort, einen Koffer erhalten, in dem sich das
Geheimnis einer Waffe befindet. Der Anschlag steht kurz bevor. Doron hat
sich – natürlich getarnt und verkleidet – als Shahid zur Verfügung gestellt,
Abu Ahmad glaubt ihm, weil er die Verzweiflung und die Rachegelüste
spürt. Sie kennen sich, verstehen sich, die beiden. Sie kennen sich besser, als
sie es wissen und ahnen.

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III.2. Olaf Knellessen: Fauda

Die Geheimdienste, der israelische und der palästinensische, kennen


sich ebenfalls. Und sie kooperieren miteinander. Gabi, der Hauptmann des
israelischen, geht dort ein und aus, kann Doron einfach mitnehmen, den
sie gefangen genommen haben, gibt ihnen Tipps dazu, was auf ihrer Seite
los ist, auch hier ist es so, eine Hand wäscht die andere, die Rechnungen
bleiben immer offen, auch wenn man sich natürlich versichert, nun quitt
zu sein. Man weiß, was wahre Freunde sind, es sind die, die einem etwas
schulden, mit denen man über das Schuldig-Sein verbunden ist.
Abu Ahmed eröffnet Walid, dort als er ihn zum Sohn und Nachfolger
macht, dass es ein Anschlag mit dem Nervengift Sarin werden würde. Tau-
sende würden sterben. »Das wird Krieg geben«, ruft Walid erschüttert.
Den hätten sie ja ohnehin die ganze Zeit, antwortet der Panther – und es
ist der Vorwurf, den seine Frau Nassrin ihm macht, dass es nie aufhören
werde. Abu Ahmad erzählt weiter, der Anschlag würde in einer Synagoge
stattfinden und die Antwort der Juden würde so gewaltig sein, dass sie
schwerste Kriegsverbrechen begehen würden. Dann würden sich alle isla-
mischen Staaten einschalten, sogar der Iran. Und bis die Amerikaner sich
entschieden hätten einzugreifen, würde es zu spät sein. Das wäre das Ende
des Zionismus. Auch hier geht es um das Ende.
Die Serie ist aber ohne Ende – auch dann, wenn sie irgendwann auf-
hören sollte. Das unterscheidet sie vom Spielfilm. Sie ist ein Format – und
das führt Fauda auf den verschiedenen Ebenen, inhaltlich, vor allem aber
formal, sehr eindrücklich vor –, bei dem es nicht um eine feststehende
Ordnung geht. Die einzelnen Folgen, die Staffeln und die einzelnen Szenen
sind nicht in sich und nicht für sich abgeschlossen, Fauda ist geprägt von
den Verkleidungen, von den ständigen Wechseln, den Vertauschungen und
Verschränkungen der Figuren, die letztlich als Agenten agieren. Sie sind
Geheimagenten in diesem Hin und Her der Wechsel, in dem sie weniger
als Akteure immer wieder neue Positionen einnehmen, sondern Teil dieser
Bewegungen von der einen Szene in die nächste sind. Woher sie kommen,
wer sie führt und treibt, das ist geheim. Sie kommen von irgendwo, wofür
die Drohne und die von ihr vorgenommenen Ortswechsel stehen, deren
Koordinaten links oben auf dem Screen durchrattern. Ihr Visier – das fern-
gesteuerte – ist das der Kamera, das des Gewehrs, des Schusses, des Tref-
fens und Todes. Es hat uns im Anschlag und wir sehen mit ihm. Diese Be-
wegungen, diese Wechsel, diese Übergänge und Übertragungen – mit der
Drohne durchaus medial gemeint – sind Teil des Netzes, das sie gleichzeitig
immer neu aufspannen und neu verorten, neu generieren.

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

In der Schlussszene der letzten Folge der ersten Staffel geht Walid eine
Straße herunter. Es geht ja immer auf und ab – wie bei Sisyphus. Er hat
Abu Ahmad umgebracht, für den er wie ein Sohn war, der für ihn wie ein
Vater war. Er geht die Straße hinunter, die Arme an der Seite leicht ab-
gewinkelt, die Hände beinahe zur Faust geballt, er geht im Gefühl, es ge-
macht zu haben, auf etwas zu, das ist keine Frage. Und wir können fast
schon sicher sein, dass die nächste Staffel, die nächste season, dann mit
Doron und seinem Vater weitergehen wird. Die Familie – das wird hier
nicht nur erzählt, das wird auch in diesem Wechsel in Szene gesetzt – ist
nicht der Halt, ist nicht die Ordnung, die fest steht und fest bleibt, sie ist
immer schon Verkleidung und Tarnung dessen, dass sie ebenso sehr Verlust
und Auflösung, dass sie Treue und Verrat gleichzeitig, dass sie immer schon
Agent und damit Doppelagent ist. Sie generiert nicht nur die Generatio-
nen und ihre Ordnung, sie generiert ebenso das Chaos. Fauda!

Bibliographie

Freud, S. (1912–13a). Totem und Tabu. SA IX, S. 287–444.


Kittler, F. (1986). Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose.

Biografische Notiz
Olaf Knellessen, Dr. phil., Psychoanalytiker in eigener Praxis in Zürich, Teilnehmer am
dortigen Psychoanalytischen Seminar Zürich, Mitbegründer und -organisator des Preises
für interdisziplinären Austausch mit der Psychoanalyse The Missing Link.
olaf@knellessen.ch

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III.3. Chernobyl
Naive Idiots Are Not a Threat –
Von der Macht des Wissens

Catharina Thüner & Susanne Hörz-Sagstetter

Im Mai 2019 konnte die HBO-Produktion zur Reaktorkatastrophe ver-


mutlich ein wenig hinwegtrösten über die kollektive Enttäuschung ange-
sichts der fast zeitgleich erschienenen finalen Staffel von Game of Thrones.
Die fünf jeweils etwa einstündigen Folgen der amerikanisch-britischen
Miniserie überstrahlten alles bisher Dagewesene – mit einer Wertung von
9,6 von 10 Punkten löste Chernobyl plötzlich Breaking Bad (9,5) und eben
auch Game of Thrones (9,4) als »beste Serie der Welt« (imdb.com) ab und
initiierte einen medialen Hype, der dem um Ned Starks Enthauptung um
nichts nachstand. Die Produktion begann im April 2018 in einem Vorort
von Vilnius, der als Kulisse für die Plattenbauten Pripyats diente. Die
Szenen im Atomkraftwerk wurden in Ignalina gedreht, welches ebenfalls
mit RBMK-Reaktoren noch bis 2009 am Netz war und als »Schwester
Tschernobyls« gilt (Fenwick Elliot, 2019).
Die Serie zeigt die Chronologie der Katastrophe und deren Auswirkun-
gen vom Mittag des 25.04.1986 bis zum Suizid Legasovs am 25.04.1988.
Chernobyl begleitet Männer und Frauen, die eine noch dramatischere Wen-
dung verhinderten oder verhindern hätten können – zum Teil durch den
Einsatz ihres eigenen Lebens.

Inhalt

Folge eins »1:23:45«

Die ansonsten chronologisch erzählte Serie beginnt mit dem Suizid des
Wissenschaftlers Valery Legasov. Zuvor belastete er den stellvertretenden
Chefingenieur des Kernkraftwerkes Anatoly Dyatlov über Tonbandauf-
nahmen mit der Verantwortung für die Reaktorkatastrophe. Als nächstes

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

beobachten wir zwei Jahre und eine Minute früher eine Explosion, dann
ein brennendes Kernkraftwerk aus dem Fenster der Wohnung des Feuer-
wehrmanns Vasily Ignatenko. Er und seine Frau Lyudmilla leben in der drei
Kilometer vom Kraftwerk entfernten Stadt Pripyat. Daraufhin kommen
wir an den Ort des Geschehens, wo Dyatlov nach einem Test zur Not-
stromversorgung versucht, der Situation Herr zu werden. Er vertritt, trotz
immer eindeutig werdender Hinweise auf das kolossale Ausmaß der Katas-
trophe – verbrannte Gesichter, sich übergebende Mitarbeiter, Grafitblöcke
auf dem Dach, Geigerzähler, die über den Anschlag ihrer Skala gehen –, in
stoischer Konsequenz weitaus harmlosere Narrative für das Geschehene.
Er beschimpft die ihm unterstellten Ingenieure Akimov und Toptunov, die
ihn immer wieder anzweifeln. Zur Einschätzung der Lage schickt er Sitni-
kov trotz Weigerung in einer Mission zum Kern, mit der er dem sicheren
Tod geweiht ist. Vor dem Führungsstab des Kernkraftwerks inklusive anwe-
sendem Apparatschik Zharkov bagatellisiert Dyatlov den »Unfall«. Zhar-
kov entscheidet in einer pathetischen Rede unter dann folgendem Applaus,
das benachbarte Pripyat abzuriegeln und nicht zu evakuieren. Während-
dessen staunen die Bürger*innen Pripyats durch Fenster und von Brücken
über die schaurige Ästhetik der austretenden Strahlung. Kinder tanzen im
Ascheregen und am nächsten Schultag geht alles seinen gewohnten Gang.
Boris Shcherbina, Abgesandter des sowjetischen Ministerrates, instruiert
Legasov am Telefon, als Experte für RMBK-Reaktoren einem Komitee bei-
zutreten, das den »Unfall« untersuchen soll.

Folge zwei »Please Remain Calm«

Ulana Khomyuk, Wissenschaftlerin des weißrussischen Instituts für nu-


kleare Energie, bemerkt eine drastische Zunahme an Radioaktivität in
Minsk. Legasov erklärt zunächst Gorbatschow im Kreml die Wirkweise
von Uran 235, später Shcherbina die Wirkweise eines RBMK-Reaktors.
Shcherbina insistiert bei einem Helikopterflug zum Kernkraftwerk darauf,
den Helikopter über den beschädigten Reaktor zu lenken, um sich ein Bild
vom Ausmaß der Katastrophe zu machen. Legasov kann den Piloten gerade
noch davon abhalten, die radioaktive Rauchsäule zu passieren. Chefinge-
nieur Fomin und der Direktor von Tschernobyl Bryukhanov versuchen
den Vorfall zu relativieren, woraufhin Shcherbina sie abführen lässt. Zur
Messung der exakten Strahlenbelastung fährt ein Soldat in Schutzmontur

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III.3. Catharina Thüner & Susanne Hörz-Sagstetter: Chernobyl

an die Stelle des zerstörten Reaktors, um eine Belastung von 15.000 Rönt-
gen anstatt der bislang aufgrund des zu niedrigen Messbereichs der Geräte
gemessenen 3,6 Röntgen festzustellen (Dyatlov: »Not bad, not terri-
ble«). Legasov setzt mit Unterstützung Shcherbinas die Löschung mit-
tels 5.000 Tonnen Bor und Sand in Gange. Ein Helikopter stürzt ab, da
er der austretenden radioaktiven Wolke zu nahe kam. Nachdem bereits
international über Tschernobyl berichtet wird, beschließt Shcherbina die
Evakuierung Pripyats. Die Löschung offenbart ein neues Problem, welches
Khomyuk ans Licht bringt und später Gorbatschow erläutert: Die ge-
schmolzene Verbindung droht das Grundwasser zu verunreinigen. Es droht
zudem eine massive Explosion durch das Löschwasser in den wieder auf-
gefüllten Kühltanks. Durch die dann folgende Dampfexplosion der bislang
noch intakten drei Reaktoren würden mindestens 50 Millionen Menschen
massiver permanenter Radioaktivität ausgesetzt. Zur Verhinderung der
weiteren humanitären Katastrophe werden drei Taucher in das Kraftwerk
geschickt, um das Wasser aus den Tanks zu entlassen.

Folge drei »Open Wide, O Earth«

Durch das erfolgreiche Ablassen des Löschwassers konnte eine Explosion


der weiteren Reaktoren verhindert werden. Die beteiligten Feuerwehr-
männer und Nukleartechniker werden im Verlauf der Folge in unter-
schiedlichen Stadien der Strahlenkrankheit gezeigt. Lyudmilla Ignatenko
begleitet ihren Ehemann, trotz Aufenthaltsverbot, in die Krankenstation
für akut Strahlen-Vergiftete. Derweil werden Minenarbeiter mobilisiert,
um unter schwersten Bedingungen einen Tunnel unter dem Kernkraftwerk
zu graben. Dieser soll durch ein Stickstoffkühlsystem die voranschreitende
Kernschmelze verhindern. Khomyuk interviewt Akimov und Toptunov
im Krankenhaus, um den Vorfall zu rekonstruieren. Sie wird durch den
KGB verhaftet, als sie Zeugin der Berührung zwischen dem bei lebendigem
Leib verwesenden Ignatenko und seiner schwangeren Frau wird (»People
are going to hear about this!«). Auf Gesuch Legasovs beim KBG-Chef
Charkov wird sie wieder freigelassen. Im Kreml empfehlen Legasov und
Shcherbina das weitere Vorgehen unter Einzug Hunderttausender für die
Aufräumarbeiten im kontaminierten Gebiet. Währenddessen werden die
verstorbenen Männer unter Sicherheitsvorkehrungen im Beisein von Ly-
udmilla Ignatenko beerdigt.

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

Folge vier »The Happiness of All Mankind«

Die weitere Räumung des Sperrgebietes schreitet voran. Bewohner*innen


werden aus ihren Dörfern evakuiert, Felder und Wälder zerstört. Damit
der immer noch offenliegende Kern abgedeckt werden kann, müssen die
mit nuklearen Grafitblöcken bedeckten Dächer des zerstörten Reaktors
geräumt werden. Es gelingt, zwei von drei Dächer mit Spezialvehikeln zu
räumen. Pavel, ein jugendlicher Einberufener, trifft im Camp auf Bacho,
einen Soldaten, der bereits im Afghanistan-Krieg diente. Zusammen mit
Garo haben sie die Anweisung, sämtliche Tiere wegen der Gefahr der
von ihnen ausgehenden Strahlenbelastung im Sperrgebiet zu eliminieren.
Im Moskauer Staatsarchiv recherchiert Khomyuk, wie im folgenden Ge-
spräch mit Dyatlov zu hören ist, zu systematischen Sicherheitsmängeln bei
RBMK-Reaktoren. Ein, wie sich herausstellt, lediglich für Propaganda-
zwecke eingesetztes Räumvehikel wird durch die Strahlung auf dem drit-
ten Dach zerstört. Legasov lässt daraufhin »Bioroboter« einsetzen. Die
Soldaten entfernen in einem auf 90 Sekunden begrenzten Intervall Grafit-
blöcke von Hand.
Legasov, Shcherbina und Khomyuk treffen sich zur Absprache bezüg-
lich ihrer Zeugenaussagen in der kommenden Gerichtsverhandlung gegen
Dyatlov, Fomin und Bryukhanov. Dabei offenbart sich die Vertuschung
bereits zehn Jahre zuvor geäußerter Sicherheitsbedenken eines Wissen-
schaftlerkollegen von Legasov. Legasov wird vom Zentralkomitee nach
Wien zur Internationalen Atomenergieagentur mit zweifelhaftem Auftrag
geschickt – »Tell them what happened«.

Folge fünf »Vichnaya Pamyat«

In einer Rückblende wird die heile Sowjetwelt Pripyats mit den beteiligten
Protagonist*innen gezeigt. Im Kernkraftwerk werden in Anbetracht des
ausstehenden Notstromtests Vorkehrungen getroffen, zwölf Stunden vor
Detonation. Hier offenbaren sich die Machtmotive der in einem Schein-
prozess angeklagten Führungsriege Tschernobyls. Charkov ist zufrieden mit
Legasovs KBG-loyaler Darstellung menschlichen Versagens in Wien, weiß
auch um dessen desolaten gesundheitlichen Zustand. Im nachfolgend ge-
zeigten Gerichtsverfahren weist der ebenfalls angeschlagene Shcherbina die
Ursache für den Unfall Dyatlov, Fomin und Bryukhanov zu. Deren Streben

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III.3. Catharina Thüner & Susanne Hörz-Sagstetter: Chernobyl

nach Anerkennung führte zur verzögerten Durchführung des Notstrom-


tests. Khomyuk beschreibt das Wechselspiel aus menschlichem und wissen-
schaftlichem Scheitern, das zum Desaster führte. Legasov erklärt die Wirk-
weise des RBMK-Reaktors, der durch die Dysbalance zwischen Temperatur
und Radioaktivität zur Explosion führte. In einer Unterbrechung der Ver-
handlung redet Shcherbina Legasov ins Gewissen. Im Verlauf seiner Aussage
offenbart Legasov die Lügen und Vertuschungen des Systems, die letztend-
lich auch seine eigenen sind. Es wird klar, dass aufgrund des Ungleichge-
wichts im Reaktor, für das Dyatlov verantwortlich ist, die Betätigung des
AZ-5-Notknopfs nicht die intendierte Abschaltung ausgelöst hatte. In
Kombination mit den bislang vertuschten Sicherheitsmängeln hatte der
AZ-5 nun wie ein Zünder gewirkt. In einer Ansprache Charkovs wird der
inhaftierte Legasov als Bestandteil des politischen Systems demaskiert. In
Abstrafung für seine Denunzierung des Systems in seiner Aussage wird er
ins inländische Exil entlassen und ausgeschlossen aus der wissenschaftlichen
Community. Legasov nimmt isoliert in seiner Wohnung in Moskau die
Tonaufnahmen auf. Im Epilog werden tatsächliche Aufnahmen der Prota-
gonist*innen und Schauplätze eingeblendet und deren Folgen skizziert.

Subtext

Die Eingangsszene: die ständige Bedrohung

Die ersten Sekunden der Serie führen uns gleich in die zentrale Symbolik
und die Konflikte der Serie ein: Wir hören Schritte, das Öffnen einer Tür,
das Geräusch eines Glases, das Eingießen einer Flüssigkeit darin, das Ein-
schalten eines Aufnahmegeräts. Unser Gehör wird sich im Laufe der Serie
noch mit unseren sensorischen Modalitäten verknüpfen, wenn die ersten
Geigerzähler knacken und klicken. Wir sehen stilllebenartige Aufnahmen
eines Gaszählers, von Notizbüchern und einem Taschenrechner, von ge-
putzten Schuhen, der Glut einer Zigarette. Vereinfacht könnte man sagen,
es geht hier ganz offenbar um Fakten, Menschlichkeit und um Dinge, die
herunterbrennen. Statt dabei nun ausschließlich aufs Plakative zu achten,
werden all unsere Sinne ab der ersten Sekunde geschärft für das Latente.
Die Uhr steht auf 01:10. Der Titel der Folge »1:23:45« eröffnet eine
dunkle Vorahnung. Dessen Bedeutung offenbart unmittelbar die Suche via
Google (ein weiterer ständiger Begleiter beim Schauen der Serie). Dann die

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

Stimme des Protagonisten Valery Legasov. Noch bevor wir uns ein Bild von
ihm machen können, ertönt die Stimme der Vernunft:

»What is the cost of lies? It’s not that we mistake them for the truth. The
real danger is that if we hear enough lies, then we no longer recognize the
truth at all« (S01E01).

Vermag Legasov uns bereits durch diesen ersten Satz als moralische Orien-
tierung durch den kommenden Plot zu führen? Dessen Eckdaten kennen
wir natürlich als geschichtskundig Interessierte oder weil wir es vielleicht
selbst miterlebt haben. Er repräsentiert in ruhigem Duktus das Faktische,
aber auch einen zeitweise naiven Idealismus der Wissenschaft gegenüber
dem autoritären Pragmatismus des politischen System (durch Apparatschik
Boris Shcherbina repräsentiert). Legasov erscheint in diesem Moment als
heroisch und wahrhaftig.
Wir werden unmittelbar folgend mit dem Auftreten von Anatoly Dyat-
lov eingeführt in die zentrale Schuldfrage und den Dualismus der Serie –
das System gegen das einzelne Individuum, beziehungsweise Einstehen und
Opfern des Subjekts für das Wohl des Kollektivs.
Legasov suizidiert sich in der Serie im April 1988 um 1:24:45 Uhr. Dies
ist genau eine Minute später als die Explosion von Reaktor 4 durch die Be-
tätigung des Abschaltknopfs AZ-5. Die individuelle Katastrophe wird in
der Serie der kollektiven vorgeschaltet. Dies geschieht sicher nicht nur aus
dramaturgischen Gesichtspunkten (dazu später), sondern auch als zentra-
les Sujet der Serie.

»Naive idiots are not a threat« (Shcherbina zu Legasov, S01E03)

Ende der zweiten Episode. Einige Tage, nachdem aus bisher noch ungeklär-
ten Gründen der Reaktor 4 explodierte und der Kern freigelegt wurde. Drei
Taucher in Strahlenschutzanzügen, dunkelgrünes Gummi, nur die Augen
unter der Atemmaske sichtbar, betreten den Keller des stark beschädigten
Reaktorgebäudes. Sie sollen das Löschwasser ablassen, um so eine Dampf-
explosion zu verhindern, die im schlimmsten Fall die weiteren Reaktoren
zerstören könnte. Die beinahe friedlich wirkende, blechern klingende, in
der Serie immer wieder eingespielte Titelmelodie wird ausgeblendet, als
die Männer den dunklen Keller betreten. Wir hören von nun an nur noch

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III.3. Catharina Thüner & Susanne Hörz-Sagstetter: Chernobyl

die Geräuschkulisse im Keller: das Klicken der Geigerzähler, das Rauschen


des Wassers, das Stoßen von Metall auf Metall der Ausrüstung, die schwere
Atmung der Männer. Das Innehalten des Tauchers kurz vor Betreten des
Wassers erinnert an zahlreiche Horrorfilme, in denen Monster (wahlweise
Zombies) im dunklen Wasser lauern (u.a. Alien, Resident Evil, Jaws). Die
Szene verunsichert die Zuschauenden. Legasov spricht in einer später fol-
genden Einblendung das aus, vor dem es den Zuschauenden graut: dass die
Männer längst im verseuchten Wasser umgekommen sind. Es ist unklar, ob
den Männern die Gefährlichkeit dieser Mission bewusst ist, oder ob der
Selbsterhaltungstrieb im Heldenpathos der Ansprache Shcherbinas im Vor-
feld unterging. Die in der Regel nicht nuklearphysikalisch bewanderten Zu-
schauenden wissen zu diesem Zeitpunkt der Serie, dank diverser Ansprachen
Legasovs gegenüber Kreml und Shcherbina, was Uran 235 ist. Es ist noch
nicht bekannt, wie hoch die Strahlenbelastung tatsächlich ist. »3,6 Roent-
gen. Not bad, not terrible« erscheint jedenfalls wenig glaubwürdig. Unsere
Vorstellungskraft vermag sich noch nicht ein Bild davon zu machen, wie
sich zersetzendes, verstrahltes menschliches Gewebe aussieht (damit werden
wir in S01E03 recht schonungslos konfrontiert). Zu dem Zeitpunkt, als die
drei Taucher ins Wasser steigen, steigen auch wir mit ihnen in eine Menge
existenzieller Ungewissheit. Es ist nur das zu sehen, was im giftig wirkenden,
gelblichen Licht der Lampen angestrahlt wird. Die Beklemmung nimmt
mit steigendem Wasserpegel zu. Das Klicken der Geigerzähler drängt sich
in den Vordergrund und wird zu einem unerträglichen Knistern. Die Be-
wegungen der Männer werden hektischer, schließlich ist das Geräusch der
Strahlenmessgeräte nur noch ein einziges Störgeräusch. Die Lampen fallen
aus. Es ist nichts mehr zu sehen. Nur das panische Atmen der Männer ist zu
hören. Stille, Abspann – wie brutal kann ein Cliffhanger sein?

Beklemmung über alle Sinneswege

Diese Szene enthält zwei Darstellungsformen, die regelmäßig als Garant für
maximale Beklemmung sorgen. Zum einen ist es das lauter und schneller
werdende Klicken der Geigerzähler. Dies sorgt als akustisches Tool dafür,
dass das unsichtbare Grauen scheinbar greif- beziehungsweise messbar
wird. Zum anderen wird die unsichtbare Strahlung immer wieder durch
Blenden auf bestimmte subtile Elemente sichtbar gemacht: ein Windhauch
in den Haaren, Regentropfen, aufgeschäumtes Wasser, das in Zeitlupe die

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

Trucks herunterrinnt. Es scheint nicht ganz klar, was den Horror und ein-
hergehende Beklemmungsgefühle hervorruft. Ist es die Strahlung selbst,
ihre diffuse Bedrohlichkeit und deren andeutungsweise Darstellung? Oder
ist es unser Wissensvorsprung als hilflose Zuschauer*innen und der ent-
sprechende Umgang mit den involvierten Menschen?

Wider besseres Wissen?

Es gibt eine weitere grauenhafte Szene zum Ende in S01E04, die eine diffe-
renzierte Untersuchung der Ursachen der Beklemmung ermöglicht. Um den
Kern abzudecken, muss zunächst das Dach des zerstörten Reaktorgebäudes
von den stark strahlenden Grafitblöcken freigeräumt werden. Beim ersten
und zweiten Dachabschnitt (Katya und Nina getauft) gelingt die Räumung
mittels Spezialvehikel. Mascha, der dritte Abschnitt, soll nun mit einem Spe-
zialräumfahrzeug bereinigt werden. Dies scheitert an der Strahlung. Es stellt
sich heraus, dass es auch niemals funktionieren hätte können. Das Zentral-
komitee hatte in der BRD zu Propagandazwecken ein Vehikel angefragt, das
einer Strahlenbelastung von maximal 2.000 Röntgen standhält.
Wir sahen in S01E01 Sitnikovs Gesicht, das durch die tödliche Strah-
lung vom oberen Dach verbrannte. Wir wissen, wie es den Rettungskräften
erging, die Grafit berührten. Wir sahen, wie Akimov und Toptunov star-
ben. Wir wissen um eine Strahlenbelastung von 15.000 Röntgen und deren
Kraft, dutzende Male so hoch wie bei den Bombenabwürfen auf Nagasaki
oder Hiroshima. Und wir wissen, laut Legasov noch zu Beginn der vierten
Episode: »Under no circumstance can men go up there.« Auch die dann
schließlich doch mobilisierten »Bioroboter« werden vor ihrem Einsatz
auf dem Dach nur über das Nötigste für ihre Mission in Kenntnis gesetzt.
So haben wir und auch die Liquidatoren im Vergleich zur Taucherszene
nun ziemlich viel konkretes Wissen darüber, dass Mash mit einer Handvoll
Männern in brauner, ledern anmutender, uniformer Rüstung mit Atem-
schutzmaske. Es ist zu hell, die Geigerzähler klicken, die Männer atmen
schnell. Das Chaos ist unübersichtlich. Überall liegt Schutt, dazwischen
hektisch laufende Männer. Der Geigerzähler taktiert schneller beim ersten
Kontakt der Schaufel mit einem Grafitblock und wird am Rande des Lochs
im Dach zu einem einzigen surrenden Störgeräusch. Die Sekunden ver-
streichen quälend. Das Signal ertönt, die Zeit ist abgelaufen. Ein Arbeiter
stolpert, hängt erst an einem Grafitblock fest, stürzt dann in eine Pfütze

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III.3. Catharina Thüner & Susanne Hörz-Sagstetter: Chernobyl

verseuchten Wassers, bevor es ihm doch gelingt, den Eingang zu erreichen.


Er bemerkt einen Riss in seinem Stiefel. Flashbackartig erscheinen vorhe-
rige Szenen von verstrahlten Körperteilen, sodass man innerlich nur dem
Anleiter zustimmen kann, als der meint: »Comrade soldier, you’re done.«
Genosse Soldat, du bist geliefert.

Wissen und Macht

Wir sind Verbündete im Wissen und in der Naivität. Wir wissen um


die nukleare Katastrophe, um die Strahlung, um deren Auswirkung und
Gefahr. Gerade dieses Wissen produziert massives Unbehagen, wenn wir
die Einwohner*innen Pripyats im Ascheregen tanzen sehen. Die Serie spielt
immer wieder mit dem Gegenpaar aus Naivität und Wissen und deren ver-
wobenen Auswirkungen auf Macht und Unschuld. Zu der einen Entität
scheinen die Bürger*innen Pripyats zu gehören. Das wiederholte Auftreten
von Kindern in verschiedenen Kontexten, der 25-jährige Toptunov, Lyud-
milla Ignatenko, die heroischen Feuerwehrmänner und Pavel (S01E04)
lassen sich als Symbole naiver Unschuld deuten. Am Gegenpol treten der
KGB, das politische System, Dyatlov, Fomin und Bryukhanov auf. Inte-
ressante Zwischentöne zeichnen der Chef der Minenarbeiter Glukhov
(S01E03), die melkende alte Frau (S01E04) und auch Bacho (S01E04), die
sich aufgrund ihres Erfahrungswissens weniger für dumm verkaufen lassen.
Dennoch müssen auch sie sich dem Einfluss des Systems unterwerfen.
Auch wir Zuschauenden werden von Craig Mazin meist nicht für dumm
verkauft. Im Gegenteil traut er uns eine ganze Menge Fachtermini zu. Im
Verlauf nimmt unser Wissen immer mehr zu. Zum einen liegt das an den
wiederkehrenden Erläuterungen der Wissenschaftler*innen. Zum anderen
durch eigene Recherchen, um das Wissen zu erweitern und um gegen das
schwer aushaltbare Nichtwissen anzukommen.

Entmenschlichung versus individuelle Schicksale

Was ist nun also das Unaushaltbare an Chernobyl? Beide oben beschriebenen
Szenen enthalten drastische Maßnahmen, um eine noch schlimmere humani-
täre Katastrophe abzuwenden. Im Trolley-Dilemma (u.a. in Thomson, 1976)
droht eine Straßenbahn fünf Menschen zu überfahren. Durch Umlegen

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

einer Weiche kann die außer Kontrolle geratene Straßenbahn auf ein ande-
res Gleis umgeleitet werden, auf dem sich aber eine weitere Person befindet.
Darf man zum Wohle der Vielen einzelne Individuen opfern? Was ist, wenn
die Einen geopfert werden, aufgrund des Versagens Anderer? Die Schuld-
frage durchzieht die Serie in diffuser Beklemmung analog zur Strahlung. Sie
vermag menschliche Körper in ähnlich drastischer Weise zu zersetzen und
ganze Ausbrüche an verleugnender Abwehr und Lügen zu mobilisieren.
Als wahre Grausamkeit in der Dachszene lässt sich die wiederholte Ent-
menschlichung (vgl. hierzu auch die sich tatsächlich in S01E03 zersetzen-
den Menschen) identifizieren. Dabei erscheint es umso absurder, dass die
Dächer durch Frauennamen personifiziert werden – im Kontrast zu den
Brigaden namen- und gesichtsloser Liquidatoren. Wie viel zählt ein Indi-
viduum in einem autoritären, kollektivistischen System? Es fällt leicht, als
westlich sozialisierter Mensch in einer individualisierten Gesellschaft darü-
ber moralisierend den Finger zu heben.
Dieser Entmenschlichung gegenübergestellt werden von Mazin ein-
zelne Geschichten, die über die Serie hinweg sehr plastisch erzählt werden.
Den individuellen Schicksalen mit ihren grauenerregenden Erfahrungen
(die Witwe des Feuerwehrmanns, der junge Mann, der Tiere im direkten
Umfeld exekutieren muss) kann man sich als Zuschauer*in nicht entzie-
hen. Genau dieser Gegenpol zum gleichmacherischen kollektivistischen
System ist es, der uns berührt und die Geschichte lebendig und spürbar
werden lässt. Man versteht anhand dieser Geschichten, wie die Katastro-
phe die Einzelnen betraf.
Im Verlauf der Serie tritt ein weiteres diffuses Grauen auf. Der KGB be-
ziehungsweise die mehr oder weniger sichtbaren Machtstrukturen eines
repressiven Systems können ebenfalls fatal sein. So verwundert es kaum,
dass man Sequenzen aus Legasovs Aussage in S01E05 beinahe eins zu eins
auf das System, von dem schlussendlich auch er Teil ist, übertragen kann –
etwa wie »je mehr Dampf im System, desto höher die Reaktion« oder
»der unsichtbare Tanz, der ganze Städte antreibt, der wunderschön ist,
wenn die Dinge normal laufen«. Eine Ode auf die Räterepublik.

Die Hauptperson im Spannungsfeld

Kein anderer Protagonist vermag das Wechselspiel zwischen Schuld und


Unschuld, Wissen und Naivität, Unterwerfung und Kontrolle besser

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III.3. Catharina Thüner & Susanne Hörz-Sagstetter: Chernobyl

durchzuarbeiten als Legasov. Repräsentiert er zu Beginn (siehe Eingangs-


szene) den naiven Wissenschaftler, wird er ausgerechnet durch Charkov als
Bestandteil des politischen Systems demaskiert. Es ist doch einigermaßen
verwunderlich, dass sich gerade sein Gegenspieler aus der Politik Shcher-
bina als doch ebenbürtiger heldenhafter Weichensteller entpuppt. Und das,
als er eine Raupe auf seinem Bein betrachtet, welch Kraft der Symbolik –
»it’s beautiful« (S01E05).
Legasov wirkt zu Beginn in seiner Ratio und Weisheit idealisiert, weil er
doch Orientierung und Identifizierung bietet. So werden über Abschnitte
mehr und mehr Hinweise seiner Doppelmoral ausgeblendet, damit wir
dann schmerzhaft zu desillusionierten Mitwissenden werden. »The truth
doesn’t care about ideologies.« Die Wahrheit ist, wie die Strahlung,
meist diffus vorhanden, muss aber oft lange im Verborgenen bleiben. Wie
Shcherbina die eigene Sterblichkeit und Ohnmacht in Episode fünf reflek-
tiert, ist es doch so häufig eine existenzielle Erschütterung für unser ganzes
Sein, wenn die Wahrheit unsere Abwehr durchbricht.

Rezeption

Abgleich mit der Realität

Besonders via Social Media entstand eine wahre Obsession darüber,


Szenen, Kostüme, Charaktere und Settings mit realen Begebenheiten zu
vergleichen (z.B. Youtuber Thomas Flight, 2019; Shramovych & Chor-
nous, 2019; Fountain, 2019). Die Serie möchte den Anspruch eines
Hyperrealismus erfüllen (Schwartz, 2019), ohne Dokumentation und
doch Unterhaltungsmedium zu sein. Drehbuchautor Craig Mazin wid-
mete der Auseinandersetzung mit der Frage, warum und wo er Stilmittel
und Dramaturgie bewusst eingesetzt habe, einen fünfteiligen Podcast. Er
betont in einem Interview (Schwartz, 2019), dass Lügen im sowjetischen
System eine zentrale Rolle spielten: »In meinen Augen wäre es deswegen
fatal gewesen, diese Geschichte zu fiktionalisieren und zu überdramati-
sieren.«
Der Suizid Legasovs wird laut Mazin bewusst an den Anfang gestellt,
um auf personenbezogene Dramaturgie größtmöglich zu verzichten und
entsprechend zu betonen, dass das realistisch Geschehene allein maximal
erschütternd ist.

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Katastrophentourismus

Tschernobyl wurde 2011 für Reisende geöffnet, seitdem boomt der Katast-
rophentourismus. Man kann eine Zeitreise in die Originalkulisse des Sozia-
lismus unternehmen und für 185 Dollar (via chernobyl-tour.com) eine mit
Geigerzählern geführte HBO-Chernobyl-Tour buchen. Seit Ausstrahlung
der Serie verzeichnen Anbietende geführter Touren einen Anstieg der Bu-
chungen um weitere 40 Prozent. Etwa 1.000 Menschen besuchen Tscherno-
byl täglich (Hunder, 2019; Llewelyn, 2019). Die Besichtigung von Orten,
an denen sich humanitäre Katastrophen ereignet haben, wird als »Dark
Tourism« bezeichnet. Beim Besuch von Konzentrationslagern oder dem
9/11 Memorial Museum kann es um die Konfrontation mit den eigenen
Moralvorstellungen (Street, 2019) gehen. Die Motive sind aber sicherlich
vielschichtig und reichen von der Lust am Destruktiven, dem Spiel mit der
Gefahr bis zum Versuch, das nicht Fassbare zumindest zu invadieren. Nicht
zuletzt wurden Selfies von Influencer*innen in zweifelhafter Pose (etwa
halbnackt vor Reaktorgebäuden in Tschernobyl oder auf dem Denkmal für
die ermordeten Jüd*innen Europas in Berlin in Szene gesetzt) publik, die
mit fehlendem Respekt gegenüber den Orten humanitärer Katastrophen
einen entsprechenden Shitstorm provozierten (via BBC Newsbeat).

Internationale Rezensionen

Auch Journalist*innen scheinen durch Reisen und Interviews mit Zeit-


zeug*innen regelrecht davon besessen, »die Wahrheit« in der Sperrzone
aufzudecken (z.B. Shramovych & Chornous, 2019). Die Rezensionen aus
Russland zur britisch-amerikanischen Produktion reichen von amüsierten
(»The only things missing are the bears and accordions!«) über kritische
Stimmen (»If Anglo-Saxons film something about Russians, it definitely
will not correspond to the truth«) bis hin zu Plänen einer eigenen Serie,
die die Spionage von CIA-Agent*innen am Ort des Geschehens porträtie-
ren soll (Shepelin, 2019, via themoscowtimes).
Nach dem jüngsten Nuklearunfall in Njonoksa im August 2019 wird
via Spiegel Online (Minkmar, 2019) über die Produktion als »Serie über
unsere Epoche« berichtet. Der Bezug zu gegenwärtigen diffusen Bedro-
hungen jenseits von radioaktiver Strahlung fällt leicht – der Klimawandel,
entkoppelte Märkte, Rechtspopulismus und -extremismus, Umgang mit

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Big Data, Künstliche Intelligenz und neue Technologien. Hier scheinen


wir es mit Entwicklungen zu tun zu haben, deren Folgen, so Minkmar, wir
kaum noch begreifen können.

Aktualität der ethischen Fragen

Auch im Jahr 2019 kann man sich als Zuschauende mit den moralischen
Konflikten der Protagonist*innen von 1986 identifizieren. Gerade wenn es
um Ethik geht, sind die Fragestellungen, die uns in Chernobyl interessieren,
immer noch aktuell. Es wird danach gefragt, ob in bestimmten Konstella-
tionen das Wohl Einzelner für das Wohl des großen Ganzen einzuschränken
ist, wie der Umgang mit Technologien, deren Folgen und Risiken nicht
vollkommen absehbar sind, gesichert werden muss. Überlegungen zum
Trolley-Dilemma (siehe oben) fließen beispielsweise in die Einschätzung
zum Einsatz autonomer Fahrzeuge ein. Moral Machine (http://moralma
chine.mit.edu/hl/de) ist ein Online-Projekt, in dem moralische Dilem-
mata durchgespielt werden, die mit dem Einsatz neuartiger Technologien
einhergehen können (Awad et al., 2018).
Oft knacken die inneren Geigerzähler doch ganz ungeheuerlich bei be-
stimmten Alltagsthemen: Weiß ich, was mit meinen Urlaubserinnerungen
auf Instagram passiert? Bin ich mir der ökologischen Folgen meiner Flug-
reise und meines Konsums bewusst? Gibt es ein Problem mit Rechtsext-
remismus in Deutschland? Achtung Spoiler! – Ja, gibt es. Allerdings löste
beispielsweise nicht etwa der Aufdeckungsartikel über das rechte Netzwerk
Hannibal in der Bundeswehr (Kaul, Schmidt & Schulz, 2018) einen Skan-
dal aus, sondern schien medial zu versickern. Wir sind auch trotz Daten-
skandal (z.B. Dachwitz et al., 2018) immer noch bei Facebook eingeloggt.
Wir tanzen doch sehr häufig, eben genau wie die Bürger*innen von Pripyat,
im Ascheregen.
Schützt uns aber unsere Naivität nicht auch immer wieder vor existenzi-
ellen Krisen? Würden wir mit der ständigen Gewissheit des eigenen Todes
oder des unserer Angehörigen konfrontiert – wer könnte das aushalten?
Treibt uns unser sicherlich häufig verblendeter Idealismus nicht immer
wieder zu Leistungen an? Wollen wir wirklich wissen, ob uns geliebte Men-
schen betrügen? Die Wahrheit besitzt eine gewisse Sprengkraft, vor allem
bedingt durch die lange Halbwertszeit von Verleugnung und Schuldgefüh-
len.

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Bibliographie

Awad, E., Dsouza, S., Kim, R., Schulz, J., Heinrich, J., Shariff, A., Bonnefon, J.-F. & Rahwan,
I. (2018). The Moral Machine experiment. Nature, 563, 59–64.
BBC Newsbeat (2019). Chernobyl selfies lead to warning from show’s writer. https://
www.bbc.com/news/newsbeat-48608713 (Stand 26.11.2019).
Chernobyl in der Internet Movie Data Base. https://www.imdb.com/title/
tt7366338/?ref_=nv_sr_1?ref_=nv_sr_1 (Stand 26.11.2019).
Dachwitz, I., Rudl, T. & Rebiger, S. (2018). Was wir über den Skandal um Facebook und
Cambridge Analytica wissen. https://netzpolitik.org/2018/cambridge-analytica
-was-wir-ueber-das-groesste-datenleck-in-der-geschichte-von-facebook-wissen/
(Stand 19.11.2019).
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III.3. Catharina Thüner & Susanne Hörz-Sagstetter: Chernobyl

Biografische Notiz
Catharina Thüner, M. Sc. Psychologie, Psychologische Hochschule Berlin (PHB). Inter-
essens- und Forschungsschwerpunkte: Psychodynamische Strukturdiagnostik, bipolare
Störungen.
c.thuener@tp.phb.de

Susanne Hörz-Sagstetter, Prof. Dr., Professur für Klinische Psychologie und Psycho-
therapie mit dem Schwerpunkt Tiefenpsychologisch Fundierte Psychotherapie an der
Psychologischen Hochschule Berlin (PHB). Interessens- und Forschungsschwerpunkte:
Diagnostik und Therapie von Persönlichkeitsstörungen, psychodynamische Diagnostik
und Psychotherapieprozessforschung, Alternatives Modell der Persönlichkeitsstörungen
des DSM-5, Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP).
s.hoerz@psychologische-hochschule.de

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III.4. Breaking Bad
Plan zur Sterblichkeit

Thomas Reichsöllner

Vorschattierung

Der Start der US-amerikanischen TV-Serie Breaking Bad wurde mit


einem viralen Spot im Internet beworben, der, in verpixelter Bildqualität,
aus halbhoher Perspektive von unten gefilmt, das chaotische Innere eines
Wohnmobils zeigt, in dem ein Mann in Unterwäsche, unter dem Lärm von
Polizeisirenen, hektisch Unmengen von Geldscheinbündeln zusammen-
rafft und damit auf die Kamera zustürzt. Das Gesicht, das uns nun ganz
nahe ist, gehört dem Schauspieler Bryan Cranston, oder vielmehr dem toll-
patschig-liebevollen Vater aus der Sitcom Malcom Mittendrin, jener Rolle,
der er bis dato eine breitere Popularität zu verdanken hatte. Cranston stellt
sich seinem Publikum nun neu vor – »You don’t know me. My name is
Walter H. White« – und richtet sich sogleich mit einer Botschaft direkt
an den Zuseher, den er als »timewaster« anspricht:

»You still have time to change. So, whatever you can do, or want to do, or
dream that you can do, start doing it right away, because there is nothing
more dangerous in life than not living. Don’t be like me. Be yourself. Good
luck« (Walter White’s Personal Advice To Me, youtube.com).

Seine eigene dubiose Lage lässt der zukünftige Protagonist gänzlich un-
kommentiert. Stattdessen wirft er diese allgemeinen Floskeln, die man
ebenso gut in einem Lifestylemagazin abgedruckt finden könnte, in eine
Szenerie hinein, zu der diese so gar nicht passen wollen.
Die für die Serie markante Verschränkung ihrer diegetischen Realität
(dem Erzähluniversum) mit der Zeit, in der sie produziert wurde, lassen
sich jedoch bereits an diesem ersten Kontakt des Protagonisten mit seinen
Rezipienten ablesen: Es wird eine Botschaft transportiert, die allein schon

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

durch die Person Cranstons unbewusst mit einem väterlichen Ratschlag as-
soziiert werden kann. Für sich genommen entsprechen jene Formulierun-
gen in Walters Monolog einer zeitgenössischen Wendung der inflationär
zitierten Sentenz »carpe diem« ins gerade zu dieser Zeit aufkommende
Akronym »YOLO« (You Only Live Once). Durch die Szenerie werden
sie jedoch in ein entschieden gebrochenes Licht gerückt. Der Imperativ
»Nutze den Tag!« oder – in der psychoanalytischen Version von Slavoj
Žižek (1991) – »Du musst genießen!« wird durch eine Bedrohung ge-
rahmt beziehungsweise als etwas präsentiert, das vermutlich delinquen-
ten Ursprungs ist. In der Form des Spots liegt zudem eine beachtenswerte
Neuerung in der Vermarktungstechnik vor, die vielleicht einen Übergang
vom herkömmlichen Fernsehen zum Streaming-Zeitalter markiert. Der
Betrachter der Video-Botschaft wurde in der ursprünglichen Fassung mit-
tels personalisierter E-Mail adressiert und darin der Zeitverschwendung
bezichtigt.
Seiner eigenen Aussage zufolge wollte Vince Gilligan mit Breaking
Bad eine Geschichte erschaffen, in deren Verlauf sich der Protagonist in
einen Antagonisten verwandeln sollte. Als auslösendes Moment für eine
entsprechende Entwicklung des Plots verpasst er seiner Figur einen unheil-
baren Krebs, der aus meiner Sicht eines der wichtigsten Strukturelemente
bildet. Was kann mir dieser todkranke Antiheld sagen, der sich mit seinen
Lebensweisheiten direkt an eine Konsumentenschaft wendet, die sich stun-
denlang (und nur bedingt ähnlich dem rastlos weiterblätternden Roman-
leser) Serien »reinzieht« (»Binge-Watching«) und die am Ende des Spots
symbolisch ausgelöscht wird? – Cranston nimmt die Webcam, richtet sie
auf einen an die Wohnmobilwand gehefteten Zettel, auf dem eine Liste mit
durchgestrichenen Namen zu sehen ist, und streicht schließlich auch den
Namen jenes Zusehers aus, der gerade die Videobotschaft via E-Mail er-
halten hat.

Setting

»Es muss was passieren, aber g’schehn darf nix.«


Theo Waigel

Die Ausgangslage für Walter Whites Odyssee setzt mit seiner Darstellung
als typischer, vom Alltag frustrierter Vertreter des prekären amerikani-

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III.4. Thomas Reichsöllner: Breaking Bad

schen Mittelstands ein. Er wird als fürsorglicher Familienvater gezeichnet,


der am Frühstückstisch harmlose Späße mit seinem an zerebralen Bewe-
gungsstörungen leidenden Teenager-Sohn treibt und der zum 50. Ge-
burtstag von seiner schwangeren Frau Skyler einen »handjob« bekommt,
während sie auf den Bildschirm ihres Laptops schaut. Anflüge einer ehe-
mals großen und wissenschaftlich ambitionierten Leidenschaft für das
Fach Chemie, das er nunmehr auf der Highschool unterrichtet, die auch
sein Sohn besucht, versanden im Angesicht einer mediokren Schüler-
schaft. Aus einem oberflächlich gepflegten Bekanntenkreis treten nur ein
kinderloses Paar, Skylers Schwester und ihr Mann Hank Schrader hervor,
dessen Job als Agent der Drug Enforcement Administration (DEA) und
sein viriler Charakter ihn zum Konkurrenten um die Rolle des männli-
chen Vorbilds für Walter Junior prädestinieren – ein schwelender Kon-
flikt, dem Walter wie anderen Schmähungen mit der passiven Arroganz
des sprichwörtlich Klügeren gegenübertritt, der im Sinne eines ideellen,
sozialen Friedens nachgibt.
Hank, dessen Figur als eine Art joviale Variante des Bruce-Willis-Ty-
pus aus Die Hard angelegt ist, erntet mit einem Fernsehbeitrag, der ihn
als Helden des Berufs feiert, Bewunderung, während Walter die derben
Sprüche seines Schwagers über sich ergehen lässt. Die im Fernsehbeitrag
erwähnte Geldsumme, welche die im berichteten Vorfall von Hank kon-
fiszierte Drogenmasse wert wäre, und eine Einladung, ihn bei einem Poli-
zeieinsatz zu begleiten, lassen Walter zwar kurz aufhorchen, im Grunde
fügt sich der Antiheld aber der unveränderbaren Selbstverständlichkeit
seines Lebens, über das jäh die Nachricht hereinbricht, dass es nur noch
zwei Jahre dauern wird. Die Diagnose eines Lungenkarzinoms sowie die
unorthodoxen Konsequenzen, die er aus ihr zieht, bilden die entschei-
dende Zündung für den Plot: Walter White beschließt, ins Drogenge-
schäft einzusteigen. Der Entwurf für ein restliches Leben in fünf Staffeln
steht. In deren Verlauf wird Walt, wie er in der Familie genannt wird, seine
zweite Identität als Mr. Heisenberg annehmen, der brillante Kopf einer
immer megalomaneren kriminellen Unternehmung zur hochprofessionel-
len Herstellung und massenhaften Verbreitung von Crystal Meth. Neben
dem über allem schwebenden Damoklesschwert der bösartigen Krebs-
erkrankung und den mit Finesse und Brutalität geführten Kämpfen in der
Schattenwelt des Drogenhandels, denen das vordergründige Publikums-
interesse gilt, sind es gerade Walters Versuche, die Fassade eines braven
Familienvaters aufrechtzuerhalten, sowie die zwangsläufigen Bruchstellen

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

in dieser, die den Kern von Breaking Bads Dramaturgie darstellen. Für
Heisenberg muss es passieren, für die öffentliche Person Walter darf nichts
geschehen.
Ich möchte im Folgenden die Genese dieses Planes vor allem im Spiegel
des Piloten der Serie betrachten. Mein Fokus auf nebensächlich erschei-
nende Details1 ist dem Versuch geschuldet, jene Momente aufzuspüren, in
denen das Unbewusste des Antihelden mit dem Unbewussten des Zusehers
(mir selbst) zusammenfällt; ich möchte dafür in der Konstellation symbo-
lischer Objekte, in Mise en Scène, Kameraführung und Dialog »wühlen«,
bis sich Perspektiven eröffnen, die mich das Subjekt des Walter White ver-
stehen lassen.

Ein Senffleck

»[…] denn da ist keine Stelle,


die dich nicht sieht.
Du musst dein Leben ändern.«
Rainer Maria Rilke

Ich beginne bei der Inszenierung des Diagnosegesprächs: Wir sehen in


Nahaufnahme einen sprechenden Mund, hören aber statt dem Sprechen
nur ein Rauschen. Die Kamera fährt allmählich vom Mund weg, den
weißen Kragen eines Arztkittels entlang, zu einem gelben Fleck. Das Rau-
schen kippt und wird zu einem hochfahrenden Piepsen, das bei einem tin-
nitushaften Pegel abbricht. Man hört jetzt klar die Frage des Arztes – »Did
you understand?« – und die Antwort Walters, »Lung cancer, inopera-
ble …«, die Diagnose im Wortlaut aus seinem eigenen Mund. Wer kennt
nicht den Versuch, sich angesichts einer unangenehmen Überraschung mit
einer banalen Kleinigkeit abzulenken? Psychoanalytisch betrachtet sollten
wir gerade dieses Detail in den Blick nehmen, um die latente Logik der
Szene zu rekonstruieren. Wir vernehmen also die Nachricht des Todes-
urteils und im selben Atemzug wird die Figur Walters mit zwei Charak-

1 Ich nehme mir dafür Adorno zum Vorbild, der in einem Verdikt über die Psychoanalyse
sagt, ihre Wahrheit liege einzig in der Übertreibung, und der, seiner philosophischen
Methode entsprechend, nur durch das Dickicht des Besonderen und Spezifischen hin-
durch Perspektiven eines Allgemeinen erringen will (vgl. Adorno, 2001).

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III.4. Thomas Reichsöllner: Breaking Bad

tereigenschaften erhellt: Die Nüchternheit seiner Auffassungsgabe wird ins


unmittelbare Nahverhältnis zu einer peniblen, fast zwanghaften Konzen-
tration auf eine nichtssagende Belanglosigkeit, auf den Senffleck, gesetzt.
»It’s just … you’ve got mustard on your …«. Im Fortlauf der Serie finden
wir diese zwei Eigenschaften in verschiedenen Ausprägungen wieder. Es
zeigt sich seine überdurchschnittliche Intelligenz (als Geschäftsstratege,
als Improvisateur, der sich aus vermeintlich ausweglosen Situationen zu
winden weiß, als psychologischer Manipulator etc.), und daneben – oder
besser: unheilvoll damit verbunden – tauchen immer wieder seine neuro-
tischen Ticks auf: anale Fixierungen, wie das ritualhafte Belegen und
Schneiden von Sandwiches, ein nicht plan auflagerndes Tischbein, das er
nicht ignorieren kann, oder eine Stubenfliege, die er eine ganze Episode
lang jagen muss, weil er fürchtet, dass sie ihm das Drogenlabor kontami-
niert; aber nie wieder sehen wir seinen Intellekt so eng mit seinem Sym-
ptom zusammengeschweißt wie in der Diagnose-Szene. In der scheinbar
idiotischen Ablenkung vom eigentlichen Geschehen (in der Konzentration
auf den Senffleck) liegt zugleich eine eigenwillige Umdeutung, eine vorbe-
griffliche Erfassung einer Alternative zum Unumgänglichen der Nachricht
über das baldige Sterben. Hier ist Walter gerade nicht als passives Objekt
der Umstände zu betrachten, sondern als ein aktiv erkennendes – mit Kant
oder im materialistischen Phantasma des Chemikers gesprochen: synthe-
tisierendes – Subjekt. Analog zur »Wiederkehr des Verdrängten im Sym-
ptom« (Žižek, 1991) bündeln sich an den Rändern dieses Senfflecks alle
Konflikte im Leben des Walter White, allem voran die demütigende Bana-
lität im Angesicht der eigenen Endlichkeit, zu kurz gekommen zu sein. Im
Senffleck – um mit obigem Rilke-Zitat in die Perspektive des Objekts auf
das Subjekt zu wechseln – blickt ihn bereits die Struktur einer Lösung an,
die Existenz von etwas, das als Reaktion auf die Ohnmacht vom Subjekt er-
schaffen wurde und etwas, das es ermöglicht, Kontrolle zurückzuerobern.
Kreativität zielt auf den hohlen Konjunktiv, nährt sich von der Behaup-
tung, dass da ein Ausweg wäre. Die Bedrohung durch die Krankheit gesellt
sich mit ihrer spontanen Wucht zu den anderen verdrängten Wünschen,
die im Fleck als Symptom bereits repräsentiert sind, wirbelt diese quasi
auf. Was im Moment der Diagnose passiert ist eine Identifizierung Walter
Whites mit seinem Symptom, das ihm erst die Metaphysik eines Planes zu-
gänglich macht, die Behauptung einer (noch nicht) existenten Lösung.
Durch eine medizinische Tatsache wird ihm seine Sterblichkeit bewusst
gemacht, zugleich verdrängt er diese, indem er sie auf ein kleines Objekt

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

projiziert, einen Auswurf seines Innersten, ein Objekt a, wie es im Diskurs


der Lancan’schen Psychoanalyse heißt (vgl. Žižek, 1991). Der Impuls der
Verdrängung ist nicht nur ein Ausweichen, sondern der eigentliche Weg,
auf dem das Subjekt sich als handlungsfähig konstituiert. Das ablenkende
Detail, das sensorisch wachhält, bietet die Lücke in der illusorischen Ganz-
heit der alltäglichen Realität (symbolische Ordnung), weist einen Ausweg
aus ihrer Abgeschlossenheit. Walter erkennt im Senffleck den Umriss eines
(noch leeren) Planes, den ich hier begrifflich der »Strategie« vorziehen
möchte. Der Plan eines Architekten, in seiner haptischen Präsenz als leerer
Papierbogen, dient mir als Metapher für das anmaßend Metaphysische in
Walters Idee.

Fenstersturz

Walter folgt in seinem weiteren Handeln der Eigenwilligkeit des Flecks als
etwas Verworfenem, wenn er seiner Familie den Krebs zunächst verheim-
licht. Durch den radikalen Perspektivenwechsel, der durch die traumatische
Qualität der Diagnose möglich wird, kann er die Planungshoheit wahren.
Eine abwegige Idee, die unter alltäglichen Bedingungen als Hirngespinst
abgetan würde, erhält auf diesem Wege – und abseits einer erstickenden
Anteilnahme des sozialen Umfelds – entscheidenden Raum zur Reifung.
Walter greift nun diese noch losen Fäden seiner Fantasie auf, als er Hank
bei einem Einsatz der DEA begleitet, bei dem ein stadtbekannter Dealer
gestellt werden soll. Im Auto sitzend, beobachtet er die von den Polizisten
unbemerkte Flucht des gesuchten Kriminellen. Als dieser, nachdem er aus
einem Fenster der ersten Etage gestürzt ist, sich umblickend vom Boden
erhebt, treffen sich seine und Walters Blicke: Sie kennen einander. Der Ge-
suchte ist Jesse Pinkman, Walts ehemaliger Schüler, der mimisch halb dro-
hend, halb flehend bittet, ihn nicht zu verraten. Walt gehorcht. Liegt hierin
nur ein Kalkül, weil er in Jesse ein Vehikel zur Umsetzung seiner vagen
Ideen wittert, oder begegnet er in diesem zufälligen Aufeinandertreffen
mit Jesse als einem konkreten Vertreter der mediokren Schülerschaft der
Anrufung einer verdrängten Pädagogenpflicht, als Lehrer und väterliches
Übertragungsobjekt?
Bei Jesse Pinkman handelt es sich um einen wohlstandsverwahrlosten
Schulabbrecher, dessen gutsituierte Eltern den Kontakt mit ihm beinahe
vollständig eingestellt haben. Seine Art sich zu kleiden und zu sprechen

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III.4. Thomas Reichsöllner: Breaking Bad

drückt eine naive, infantile Identifikation mit einem, den kapitalistischen


Hedonismus idealisierenden, Hip-Hop-Style aus, der schnell als Schale
einer pseudo-autonomen Identität, eines vaterlosen und ungenügend ödi-
palisierten Subjekts durchschaut werden kann. Im Anschluss an den Fens-
tersturz sucht Walter Jesse auf, um ihm ein arbeitsteiliges Geschäftsmodell
vorzuschlagen, in dem er selbst für die fachgerechte Produktion und Jesse
für die Distribution der Drogen verantwortlich sein soll. Jesse vermutet an-
fänglich noch eine bizarre Erziehungsmaßnahme hinter Walts Plan, willigt
aber schließlich ein und schlägt als ideales, vor der Entdeckung sicheres
Labor ein Wohnmobil vor, das zum symbolträchtigen Kultobjekt der Serie
mutiert.
Walter erkennt in Pinkman das Potenzial für einen Geschäftspartner
und zugleich handelt es sich beim »Fenstersturz« um die Wiederkehr
einer misslungenen Lehrer-Schüler-Beziehung. Der unbewusste Reiz für
Walt ist nicht nur humanistischer, sondern auch sadistischer Natur, und
die vielfältigen Weisen, wie Jesse stellvertretend für die zahllosen Frustrati-
onen, die ein Lehrer an seinen unbegabten Schülern erlebt, herhalten muss,
finden in den fünf Staffeln variantenreiche Ausprägungen. Dies bleibt aber
stets in einer Ambivalenz mit der symbolischen Position eines liebenden
Vaters, als der sich Walt von Beginn an von Jesse angerufen und subjek-
tiviert sieht. Dass Jesse für die Einrichtung des ersten Drogenlabors ein
Wohnmobil wählt, lässt sich mit dem unbewusst gewünschten Szenario
eines Camping-Trips assoziieren, eine von vielen prototypischen Vater-
Sohn-Erfahrungen, die bei Jesse unerfüllt geblieben sind. Das fachlich an-
geleitete Kochen von Crystal Meth ist wie das Nachsitzen in Chemie, bei
dem einem Problemschüler ein Maß individueller Aufmerksamkeit und
Betreuung durch den Lehrer zuteilwird, die er nie genossen hat. Die Inten-
sität ihrer Beziehung erfährt in zahllosen überspannten Konfrontationen
lebendigen Ausdruck und verhält sich direkt proportional zum Lautstärke-
pegel ihrer Stimmen. Hinter den ikonischen Wortgefechten (in denen sich
ihre Gesichter bis auf wenige Zentimeter nähern) liegt das paradox-sym-
biotische Rezept eines Film-Paars, das erfolgreich ist, weil es aus gegensätz-
lichen Charakteren besteht, die schicksalhaft aufeinander angewiesen sind.
Das rationalisierende Genie von Walter erhält erst durch Jesses impulsiven
Aktionismus und seine oft primitiv moralistische Argumentation das für
eine kreative Paardynamik nahrhafte Material. Das reflexionslose Agieren
des Schülers, seine haarsträubende Insuffizienz, hat im Detail-Maßstab des
Plans (ein erfolgreiches Drogengeschäft aufzubauen) betrachtet häufig

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

einen sabotierenden Effekt. Auf der Metaebene aber, und das ist die Ebene
des Unbewussten im Plan Walters, ist Jesse als Objekt einer Verwerfung un-
abdingbar. Für das Publikum ist er der liebenswerte Idiot, für die Drama-
turgie der Serie der Handlungsmotor, für Walters (bewussten) Plan die List
seiner (unbewussten) Vernunft.2 Aus ihm bezieht der narzisstische Grö-
ßenwahn, die Vorstellung von Unsterblichkeit, seinen notwendigen Bruch,
er ist der Makel, auf den sich der hermetische Plan rausreden kann, um die
Zwangsläufigkeit seines Scheiterns zu verbergen.

Jesse: »Are you breaking bad?«


Walter: »I am awake.«

Wer hat hier die Hose an?

Walters Verdrängung, die seine (kriminelle) Handlungsfähigkeit konstitu-


iert, bedarf nun auch einer Rechtfertigung oder Einbettung in die symbo-
lische und familiäre Ordnung. Auch wenn er über die schlechten Nach-
richten vom Arzt schweigt, seinen Lieben teilt sich eine Veränderung in
seinem Verhalten durchaus mit: Als sich bei einem von der ganzen Familie
getätigten Einkauf, um eine passende Hose für den Sohn zu finden, einige
Jugendliche über dessen Behinderung lustig machen, ist die Mutter un-
entschlossen, ob sie etwas dagegen unternehmen soll oder ob sie zuwartet,
bis Walt einschreitet; als sie jedoch zu ihrem Mann hinüberblickt, ist er
verschwunden. Zwischen verblüfft und resigniert nimmt Skyler das Nicht-
Handeln ihres Mannes als seine gewohnte Passivität zur Kenntnis und
geht selbst auf die jugendlichen »Bullies« zu. In diesem Moment taucht
Walter wieder auf, stürmt durch den Haupteingang der Shopping-Mall auf
den Rädelsführer der Gruppe zu und drückt ihn gewaltsam zu Boden. Es
ist nicht schwer zu erraten, dass sich hier auch sein Zorn gegen das eigene
Schicksal Bahn bricht und ihm Schwung zur Verteidigung seiner Familie
verleiht. Die Möglichkeit, Aggression auf einen externalisierten Sünden-
bock zu konzentrieren, liefert nun die erste Skizze3 für Walters Plan: ein
moralisch legitimierter Zorn.

2 Man erlaube mir hier die lyrische Verwendung von Hegels Idiom.
3 Bei einer Skizze handelt es sich um die gefrorenen Bewegungen des planenden Subjekts,
das intuitiv eine objektive Problemstellung zu bewältigen hat. In ihr liegt die »Seele«

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III.4. Thomas Reichsöllner: Breaking Bad

Daneben wird im Verschwinden und Wiederauftauchen Walters ver-


dichtet vorausgeschickt, wie seine zweite Identität als Krimineller später
in Abgrenzung von seiner Familie aussehen wird. Allein aus Gründen des
Zeitmanagements muss er sich immer wieder entziehen, um seinen ver-
botenen Geschäften nachzugehen. Er tauscht sozusagen die physische
Anwesenheit als liebevoller Vater partiell mit der Rolle des abwesenden,
ideellen Familienversorgers, der – so seine rationalisierte Fantasie – erst
dann in vollem Glanze erstrahlt, wenn der Familie sein Erbe (das ange-
häufte Drogengeld) zukommt. Als Vater, der aus dem Jenseits noch wirkt,
gelänge ihm eine Steigerung der genealogischen Unsterblichkeit. Hinter
der verklärten Pflicht in der Vateridentität bläht sich schon die narzissti-
sche Hybris auf, die ihn später zum Drogenimperator werden lässt. Diese
idealisierte Vaterrolle und das Verkennen ihres egoistischen Anteils schenkt
ihm die entscheidende Rechtfertigung: Für die Familie »darf« er Grenzen
überschreiten; den Aggressionsimpulsen nachzugeben eröffnet in diesem
Kontext sogar die Möglichkeit einer hemmungslosen Triebbefriedigung,
die mit Ansprüchen des Ich-Ideals zusammenfällt. Walter revitalisiert eine
patriarchale Ordnung, er agiert als ultimativer pater familias und wird in
dieser Versorgerrolle mit der uneingeschränkten Autorität des Familien-
oberhauptes belohnt. Die Grundkonstellation der White-Familie hat sich
jetzt neu hergestellt: Der mütterlichen Moral des vernünftigen Abwägens
steht eine väterliche Ethik gegenüber, die Tatsachen geschaffen hat. Žižek
(2016, S. 176) liefert hierzu eine hilfreiche Unterscheidung von Moral und
Ethik: »Bei der Moral geht es um die Symmetrie meiner Beziehungen zu
anderen Menschen; ihre Grundregel lautet: ›Was du nicht willst, das man
dir tut, das füg auch keinem anderen zu.‹ Ethik hingegen betrifft meine
Übereinstimmung mit mir selbst, die Treue zu meinem Begehren« und die
Treue zum Symptom, könnte man hier erweitern.
Mit dem Anwachsen der widrigen Umstände und der Kenntnisnahme
von der Erkrankung ihres Mannes kommt es bei Skyler zu einem Aufblü-
hen, ganz so, als ob sie auf einen Anlass gewartet hätte, um die Rolle der
Hausfrau abzustreifen. Ein brachliegendes kreatives Talent, das sie vormals
durch schriftstellerische Ambitionen zu sublimieren versuchte, findet un-
geahnte Entfaltung, als sie später im Handlungsverlauf – nun eingeweiht in
Walters kriminelle Aktivitäten – ein geschickt konstruiertes Lügengebäude

eines Planes, die sich im besten Fall in das ausgeführte Objekt überträgt, analog zum
Ausdruck des Tänzers in seiner Bewegung (vgl. Miklautz, 2010).

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

vor dem Rest der Familie präsentiert. Sie entwickelt sich von der Buch-
halterin zur Chefin einer zum Zweck der Geldwäsche betriebenen Auto-
waschanlage. Die Gesten der Komplizenschaft geschehen unter gleichzeitig
vehementer Abgrenzung zu Walter als Ehemann, letztlich reicht sie sogar
die Scheidung ein und versucht, Walt die Kinder wegzunehmen. Hinter
ihren klaren Forderungen, die Grenzen der gesellschaftlichen Sitten ein-
zuhalten, schimmert immer deutlicher ihre genuine Ethik durch, nämlich
die einer beschützenden Mutter. Jene dramaturgische Grundintention Gil-
ligans, die Walters Charakter zunehmend als personifiziertes Böse in den
Mittelpunkt stellen will, verlangt nach einem moralischen Opfer, der Frau,
die sich vor ihm fürchtet, als kontrastierenden Effekt.
Oder wäre im Grunde nicht auch eine sexuelle Interpretation nahe-
liegend? Gibt es nicht auch so etwas wie eine hysterische Spiegelung des
Begehrens von Mann und Frau in Gestalt von Walt und Skyler, die sich
gegenseitig ihr Begehren entlehnen? Am Ende des Piloten wird ein Bild
wieder aufgegriffen, das ganz zu Beginn gezeigt, aber noch nicht kontext-
ualisiert wurde. Die in der Serie oft angewandten Vor- und Rückblenden
zeigen immer wieder Objekte, die zunächst nur in ihrer symbolischen
Nacktheit erlebt werden können. In der allerersten Einstellung von Break-
ing Bad fliegt eine sich vom blauen Himmel abhebende beige Herrenhose
durch die Luft. Wer hat seine Hosen verloren? Am Ende des Piloten legt
sich Walter unter dem starken emotionalen Eindruck seines ersten krimi-
nellen Abenteuers, das er nur knapp überlebt hat, zu Skyler ins Bett, erhebt
umstandslos Anspruch auf Sex und man hört noch aus dem Off ihre stöh-
nende Stimme mit der Frage: »Walt, is that you?«

Laboratorien, oder: Wer ist Walter White?

»Du bist Gott einen Tod schuldig!«


William Shakespeare

Ein wiederkehrendes Motiv der Serie ist das Laboratorium, das als äußere
Materialisierung von Walters Subjektivität gelesen werden kann. Die häufig
gebrauchte Beschreibung von Krebs »als ein Exzess des Lebens, der seinen
Tod bedeutet«, lässt sich auf die konkreten Meth-Labore übertragen, die
ihre Gestalt wandeln, beginnend beim kleinunternehmerischen Wohnmo-
bil, über eine von Tunnelbauprofis angelegte unterirdische Riesenanlage

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III.4. Thomas Reichsöllner: Breaking Bad

hin zu einer Form, die sinnbildlich für das Wuchern des Krebsgeschwürs
steht. In Kollaboration mit einer Kammerjägerfirma wird die neue, mobile
Laborform in solchen Einfamilienhäusern untergebracht, die temporär für
die Bekämpfung von Ungeziefer leer stehen müssen. Am Ende einer mit
Musik von Sinatra unterlegten Sequenz mit Scorsese-Reminiszenzen fliegt
die Kamera über die Stadt und man sieht die für den Insektizid-Einsatz
notwendigen Zelte über den Häusern aufpoppen. Eine gesunde Zelle nach
der anderen wird vom »Krebs« der kriminellen Machenschaft infiltriert.
Es wirkt beinahe so, als dränge Walter in jedes, also auch in unser Wohn-
zimmer ein, wo gerade ein Fernseher läuft, auf dem wir sein Schicksal ver-
folgen.
Das Wort Labor trägt etymologisch die Arbeit in sich. Der Held voll-
zieht vor seinem Schritt ins Jenseits zwar eine immanente Grenzüberschrei-
tung, um in einer amerikanischen Kultur der expliziten Sitten (vgl. Slo-
terdijk, 2019) seine eigene Ethik auszuloten. Doch was wir faktisch sehen
sind vor allem ideelle und materielle Anläufe zur Unsterblichkeit, die mit
einer unerbittlichen, durch lebensbedrohliche Brutalität verschärften Ar-
beitsmoral erreicht werden soll. Ist es das, was sich hinter seinen YOLO-
Sprüchen verbirgt: ein Rationalisierungs-Genie, das nie die Früchte seiner
Arbeit genießen kann? Nach Žižek (2016)

»wirkt die ethische Pflicht wie ein fremder Eindringling, der das homöosta-
tische Gleichgewicht des Subjekts stört und dessen unerträglicher Druck das
Subjekt zwingt, ›jenseits des Lustprinzips‹ zu handeln und das Streben nach
Vergnügen außer Acht zu lassen. Für Lacan gilt exakt dieselbe Beschreibung
für das Begehren« (S. 174f.).

Kann Walter als ein Paradeexemplar für eine in diesem Sinne unmoralische
Ethik gelten? In vielen Szenen verfällt er in selbstgefällige Monologe vor
den Familienmitgliedern, die dem Duktus nach allesamt in Richtung des
YOLO gehen. Mit einer Ausrede für seine häufigen Abwesenheiten gelingt
ihm sogar die perfekte Persiflage des hedonistischen Standpunktes: Er ver-
bringe zur Kontemplation gerne Zeit in der Natur – einfach so drauflos-
spazieren! Seine ewigen Beteuerungen gegenüber Skyler, kondensiert im
Satz »all I did, I did it for the familiy«, sind sein Mantra an sich selbst.
Er musste zunächst die falsche intellektuelle Deutung seiner Handlungen
vornehmen, um am Ende zur wahren Erkenntnis zu gelangen, die er beim
letzten Zusammentreffen mit Skyler endlich ausspricht: Als er wieder mit

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

»all I did« ansetzt und Skyler fassungslos die Augen verdreht, weil er es
immer noch wagt sich zu rechtfertigen, beendet er seinen Spruch mit: »I
did it for me. Because I liked it. Because I was good at it.« Er hat am Ende
eine Wandlung vom nicht-ethischen Moralisten (ein Objekt schlechter
Umstände) zum unmoralischen Ethiker (seinem Begehren treu sein) voll-
zogen. Man kann seinen Plan zur Sterblichkeit als Weg zu seinen innersten
Begehren auffassen, der nur über den Umweg ungeheuerlicher Rationali-
sierungen begehbar wurde.
Um noch mehr über Walter zu erfahren, muss man vielleicht die di-
egetische Realität ganz verlassen und auf den eingangs erwähnten Spot
zurückkommen, mit dem er in unsere Wohnzimmer eindringt, um eine
personalisierte Botschaft an uns zu richten. Walter White ist ein Produkt
der Kulturindustrie (Adorno & Horkheimer, 2004), das den Rahmen des
Begriffs Kulturindustrie performativ erweitert. Im Kontext des Werbespots
erschien er als Maskottchen eines Marketing-Gags, der uns schlicht zu dem
machen will, als das er uns zugleich verunglimpft: zu einem »timewaster«,
der sich stundenlang diese Qualen des Walter White reinziehen soll. Nach
Nietzsche (1988, S. 58f.) wurden Götter schon allein deshalb erfunden,
damit sinnlosem Leiden ein Sinn gegeben werden kann, und zwar indem
das Leben durch Gott einen ständigen Zuseher bekommt. Wir bezeugen
Walters Passionsgeschichte (im doppelten Sinn von Leidens- und Leiden-
schaftsgeschichte), sind für seine Existenz gleichsam die Götter, welche er
am Ende des Spots von seiner Liste streicht. Shakespeares Vers ließe sich
nun folgendermaßen modifizieren: »Du bist Gott einen Tod schuldig.«
Die Leerstelle, die durch die Streichung entsteht, lässt sich nur mit dem
Äquivalent des Geldes füllen und wir hätten Walters Plan zur Unsterblich-
keit ganz entschlüsselt: Man müsse versuchen, den Tauschwert des Geldes
ins Transzendente zu hypostasieren, und dann …

Rezeption diesseits des Lustprinzips

Wie kommt trotz der ganzen Morbidität der riesige Publikumserfolg zu-
stande? Wieso sollte sich jemand angesichts dieser Plagerei überhaupt zum
Zeitverschwender machen? Wo bleibt all das Lustvolle und Lustige, das
mich und Millionen andere zu Fans werden ließ? Was ist mit all den kurio-
sen kleinen und großen Szenen und Geschichten, die, im besten Sinne des
Begriffs, Unterhaltung bieten – jenseits entlarvender Kulturkritik und dies-

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III.4. Thomas Reichsöllner: Breaking Bad

seits des Genusses? Vor meinen inneren Augen lasse ich die Bilder Revue
passieren, wie Walter das erste Mal Probleme mit einem lokalen Drogen-
boss bekommt, die er schlicht dadurch löst, dass er dessen Behausung in die
Luft sprengt; dann muss ich daran denken, wie die komplex-komische Ver-
wicklung mit dem Fastfood- und Drogenlogistikunternehmen Los Pollos
Hermanos und ihrem charismatischen Boss dazu beiträgt, die Begeisterung
für die Serie über so viele Stunden aufrechtzuerhalten. Ich entsinne mich
all der Ups und Downs und an das ständige »Wie gewonnen, so zerron-
nen!«, welche die Erzählung so nervenaufreibend spannend machen, denn
der ganz große Geldsegen stellt sich erst ein, als sich die Schlinge um Wal-
ters Hals immer enger zusammenzieht. Ich muss schmunzeln beim Gedan-
ken an den obszön riesigen Haufen mit Dollarnoten auf jener Holzpalette
und an das große Finale, in dem Walter mit einer selbstgebauten Kanone
alle niederballert und – dabei noch einmal die Rolle des beschützenden
Vaters einnehmend – seinen Zögling Jesse rettet. Es ist beachtlich, dass
Walter seinen eigenen Tod letztlich nicht durch die Krankheit findet, son-
dern fast schon selig lächelnd im Drogenlabor verendet, hingerichtet von
einer der vielen Kugeln aus jenem Gewehr, das von einem Mechanismus
bewegt und abgefeuert wurde, den er selbst geplant hat, um eine konkurrie-
rende Drogenbande zu eliminieren.
Es wäre unplausibel anzunehmen, dass die Serie gleichermaßen erfolg-
reich wäre, wenn sie nur die unorthodoxe Verarbeitung eines Krebsleidens
zum Gegenstand hätte. Die Lust, und noch mehr, die große Verführung
für uns, entsteht genau an jener Stelle, wo der Protagonist stellvertretend
für den Zuseher die bürgerliche Ordnung in Richtung der kriminellen
Leidenschaften durchbricht (breaking) und damit einen intermediären
Spielraum für die delinquenten Neigungen eröffnet, die in uns schlum-
mern. Anders als die soziopathischen Verbrecher, mit denen er auf seiner
Odyssee Bekanntschaft macht, hat Walter White viele Seiten an sich, mit
denen wir uns vom Standpunkt eines gelangweilten Arbeitnehmers leicht
identifizieren können. Und genau deshalb sind wir ohne Weiteres bereit,
ihm relativ lange und ohne Murren in seinen Entscheidungen zu folgen,
bis wir mit ihm auf charakterliche Abgründe treffen, die uns eine Identi-
fikation zunehmend versperren und ihn letztlich doch zum abschrecken-
den Beispiel oder Menetekel machen, das vom Untergang kündigt, der uns
drohte, wenn wir Walter nicht nur die imaginäre, sondern die reale Ge-
folgschaft erklärten.

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Teil III: Tragik, Krieg und Katastrophen. Über Drama und Tragödie

Bibliographie

Adorno, T. W. (2001). Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/
Main: Suhrkamp.
Adorno, T.W., Horkheimer, M. (2004). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/Main: Fischer.
Miklautz, V. (2010). Individualstrukturalismus. Unveröffentlichte Dissertation, Universität
Innsbruck.
Nietzsche, F. (1988). Zur Genealogie der Moral. Stuttgart: Reclam.
Sloterdijk, P. (2019). Zur Lage der Welt. Gespräch mit Yves Bossart in der SRF Sendung:
Sternstunde Philosophie, 7.4.2019. https://www.youtube.com/watch?v=DHu2qzo
Zacg (Stand 8.1.2020).
Žižek, S. (1991). Liebe dein Symptom wie dich selbst! Berlin: Merve.
Žižek, S. (2016). Weniger als Nichts. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Biografische Notiz
Thomas A. Reichsöllner, Arch. DI, hat Architektur an der Universität Innsbruck studiert
und immer wieder verschiedenste Ausflüge in künstlerische, psychoanalytische und
philosophische Gefilde unternommen. Er ist als Architekt beim Innsbrucker Architektur-
büro i-unit tätig.
reichsoellner@i-unit.at

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Teil IV
Übersinnlich und übernatürlich
Über Mystery, Fantasy und Horror

Dieses Genre operiert mit der Produktion von Angst im Zuschauer. Zen-
trales Muster dieses Genres ist ein von unheimlichen Kräften bedroh-
tes Individuum, das Ängste vor Tod und Annihilation durchschreiten
muss, um letztlich seinen Todfeind und damit auch sich selbst und seine
eigene Angst zu überwinden. Für Freud (1919h) entsteht dieses ängstli-
che Gefühl des Unheimlichen, wenn man mit etwas konfrontiert wird,
das zugleich unvertraut und vertraut ist. Die Angst entsteht dabei, wenn
verdrängte Elemente in entstellter Form wiederkehren und ein über-
wunden geglaubtes Denken aus der Zeit der Kindheit wiederbelebt wird.
Bion (1962) hat ein namenloses Grauen als primitivste aller Ängste be-
schrieben und sehr früh in der menschlichen Entwicklung verortet; der
Säugling wird von absoluter Todesangst heimgesucht, wenn er sich mit
seinen Triebspannungen völlig allein gelassen wähnt. Im Horror werden
somit sehr frühe und primitive, im Unterschied zum Krimi oft präödipale
Ängste aktiviert. Trotzdem erlauben Film und Fernsehen ein Durcharbei-
ten und kathartisches Verarbeiten dieser Ängste, Spannungen und quasi-
traumatischen Zustände, denn letztlich kann sich der Ohnmächtige aus
seiner misslichen Lage befreien und allein oder mit Hilfe anderer wieder
die Handlungsmacht zurückgewinnen. Aufgrund der Aussicht, dass dieses
Gefühl der Angst und des Unheimlichen überwunden werden kann, ent-
steht nicht nur Panik im Publikum, sondern eine Mischkulanz aus Furcht
und Hoffnung, die Michael Balint (1994) Thrill beziehungsweise Angst-
lust genannt hat.

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

Gerald Poscheschnik enthüllt in seiner Analyse von Game of Thrones, einer


in vielerlei Hinsicht heftigen Fantasy-Mittelalter-Show voller Gewalt und
Sex, bemerkenswerte Parallelen zu momentan kursierenden gesellschafts-
politischen Fantasien. Die Ereignisse auf dem fiktiven Kontinent Westeros
zeigen eine Kultur im Niedergang. Der Norden, der durch eine gewaltige
Mauer von Westeros abgeschnitten ist, kann als Depot verdrängter Neben-
wirkungen des eigenen Handelns angesehen werden. Der ferne Kontinent
Essos steht für die Hoffnung, dass ein Wandel oder eine alternative Welt
möglich sind.

Lars Steffes verfolgt die Spuren der Fantasy-Mystery-Serie Akte X, in der


die Agenten Scully und Mulder versuchen, unheimliche Fälle aufzuklären.
Das Zusammentreffen der Verkörperungen von Mythos und Logos führt
zu spannenden und produktiven Konfliktlösungen. Die Stimmung des
Unheimlichen und paranoid anmutende Fragen ziehen sich wie ein roter
Faden durch die einzelnen Episoden und die Staffeln.

Nina Kemereit beschließt das Buch mit Überlegungen zur Fernsehserie


Stranger Things. Sie interpretiert die Geschichte über unheimliche Ereig-
nisse, die einer Gruppe von an der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend
stehenden Protagonisten widerfahren, als Widerspiegelung und szenische
Wiederholung von adoleszenten Psycho- und Beziehungsdynamiken. Die
mächtigen und kulturfeindlichen Triebe ringen mit hemmenden Strebun-
gen um die Macht im Individuum.

Gerald Poscheschnik

Bibliographie

Balint, M. (1994). Angstlust und Regression. Stuttgart: Klett.


Bion, W. R. (1962). The Psycho-Analytic Study of Thinking. Int J Psycho-Anal, 43, 306–310.
Freud, S. (1919h). Das Unheimliche. GW XII, 227–278.

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IV.1. Game of Thrones
Die Fernsehserie
als Spiegel gesellschaftlicher Fantasien

Gerald Poscheschnik

Einführung –
über die Realität in der Fiktion audiovisueller Narrative

Die US-amerikanische TV-Serie Game of Thrones (GoT), die von 2011 bis
2019 ausgestrahlt wurde, hat Millionen von Zuschauern weltweit begeis-
tert und ist zur erfolgreichsten Fernsehserie von HBO aufgestiegen. Ob-
gleich die Serie vielfach auch wegen ihrer expliziten Gewaltdarstellungen
kritisiert wurde, erhielt sie in den Feuilletons überwiegend positive Rezen-
sionen. GoT ist eine Adaption von George R. R. Martins Romanreihe A
Song of Ice and Fire und verwebt Stränge des traditionellen Dramas mit
Elementen aus Trash, Splatter, Horror, Porno und Fantasy.
In den insgesamt acht Staffeln mit 73 Folgen webt GoT einen narrativen
Teppich unterschiedlicher Storylines, an dem etwa hundert handlungsrele-
vante Rollen beteiligt sind. Insgesamt kann man mit einer gewissen Berech-
tigung von Complex-TV sprechen (Mittell, 2015), um solche Fernsehserien
zu charakterisieren. Allein schon aufgrund dieser Komplexität des Narrativs
würde eine Auswahl einzelner Handlungsstränge oder Charaktere eine Viel-
zahl von Interpretationsmöglichkeiten zulassen. In Online-Foren werden
beispielsweise Versuche unternommen, die Personae der Serie mit psychi-
atrischen Diagnosen zu versehen. Die Palette dieser durchaus zutreffenden
Klassifikationen reicht von Borderline über antisoziale Persönlichkeits-
störungen bis hin zu Alkoholismus. Aus psychodynamischer Sicht könnte
man zum Beispiel auch ödipale Konflikte, juvenile Heldenreisen und Per-
sönlichkeitsentwicklungen, sadomasochistische Auseinandersetzungen, die
Logik des Primärprozesses und magisches Denken aufspüren. In meiner
psychoanalytischen Interpretation von GoT versuche ich weder einzelne
Charaktere noch spezielle psychodynamische Handlungsmuster, sondern
die Großgruppendynamik, den narrativen Kern des gesamten Dramas zu fo-

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

kussieren. Mit der Konzentration auf das kollektive Schicksal aller Figuren
möchte ich nicht die Bedeutung der Serie als Ausdruck individuell-unbe-
wusster Fantasien schmälern, sondern lediglich unterstreichen, dass sich der
enorme Erfolg einer Fernsehserie zum Teil auch dadurch erklären lässt, dass
diese momentan virulente gesellschaftlich-kulturelle Fantasien einfängt und
in symbolisch verkleideter Form widerspiegelt. Auf der manifesten Ebene
spielt GoT in einer historisch und geografisch entfernten, ja sogar fiktiven
Welt, die so gut wie keine Berührungspunkte mit dem privaten und öffent-
lichen Leben des durchschnittlichen zeitgenössischen Betrachters hat. Es ist
ein Fantasy-Mittelalterspektakel mit übernatürlichen Kreaturen und einer
Freakshow grausamster Potentaten, gegen die sich selbst die umstrittens-
ten Politiker der westlichen Welt wie Wiener Sängerknaben ausnehmen.
Zudem provoziert die Serie mit einer Orgie aus Blut, Gewalt und Gemet-
zeln, die zumindest in dieser Quantität verschwunden sind (Pinker, 2013).
Analysiert man die audiovisuelle Erzählung der Serie mit der psycho-
analytischen Methode des Szenischen Verstehens (s. z. B. Lorenzer, 1973;
Poscheschnik, 2020), so ergeben sich allerdings bemerkenswerte Parallelen
zwischen dem narrativen Wesenskern der Erzählung und aktuellen öffentli-
chen Fantasien über unsere Gesellschaft. Indem man alle typischen Elemente
des Genres subtrahiert und die Handlung auf ihre Elemente und deren Re-
lationen reduziert, lässt sich eine latente beziehungsweise szenisch-unbewus-
ste Bedeutungsebene entdecken, die das Gefühl vieler Menschen über den
Status quo der westlichen Gesellschaft reflektiert. Ich werde mich an der To-
pografie von Game of Thrones mit ihren drei Regionen (der Kontinent West-
eros, der Norden und der Kontinent Essos) orientieren, um diese mehr oder
weniger vage gesellschaftlich-kulturelle Fantasie herauszuarbeiten. Die szeni-
sche Assemblage beinhaltet kollektivierte Ängste und Hoffnungen über die
gesellschaftliche Dynamik, die plötzlich alles andere als entfernt und fremd
erscheinen. Hinter der Maske der furiosen mediävalen Geschichte verbirgt
sich ein narrativer Kern mit überraschend aktuellen gesellschaftlichen Be-
zügen, der seine Zuschauer zum Nachdenken über sich selbst als politisches
und gesellschaftliches Wesen sowie die Gesellschaft an sich animieren kann.

Westeros – Ränkespiel um Macht und Geld

Die Zivilisation von Westeros befindet sich technologisch und kulturell


etwa auf dem Stand des Mittelalters. Klimatisch wird der Kontinent von

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IV.1. Gerald Poscheschnik: Game of Thrones

ausgeprägten Wintern und Sommern bestimmt, die sich jeweils über meh-
rere Jahre erstrecken. Am Ende eines solchen Sommers, kurz vor Beginn
eines langen Winters, wird der amtierende König Robert Baratheon, ein
notorischer Säufer und Weiberer, auf der Jagd von einem Wildschwein
tödlich verletzt. Einflussreiche und mächtige Familiendynastien, darunter
die Lannisters, die Starks und die Baratheons, beginnen daraufhin, um den
sogenannten Eisernen Thron zu rivalisieren. Die Mächtigen des Landes be-
stechen in diesem Kampf nicht durch Edelmut und Heldentum, sondern
sind schlichtweg machtversessen und moralisch verkommen. Joffrey Barat-
heon zum Beispiel, der vermeintliche Sohn des verstorbenen Königs (tat-
sächlich aber Resultat von Untreue und Inzest seiner Mutter Cersei, der
Witwe des Königs, mit ihrem eigenen Bruder Jaime), ist ein sadistischer
Machiavellist; seine politischen Opponenten lässt er foltern und töten,
seine Verlobte Sansa misshandelt und erniedrigt er in aller Öffentlichkeit.
Aber auch andere Thronaspiranten sind von Wahnsinn und Unmensch-
lichkeit gezeichnet; Robert Baratheons Bruder Stannis, der sich als göttlich
legitimierter Herrscher wähnt, verbrennt – getrieben von der vergeblichen
Hoffnung, seinen Gott auf diese Weise gnädig zu stimmen – sogar seine
eigene Tochter auf dem Scheiterhaufen. Selbst die scheinbaren Ausnahmen
unter den Protagonisten, wie Jon Snow oder Robb Stark, bedienen sich
drakonischer Strafen und dekapitieren jene, die sich ihnen nicht beugen
wollen. In diesem Ränkespiel kann Macht immer je in Ohnmacht um-
schlagen. »When you play the Game of Thrones, you win or you die. There
is no middle ground«, wie Cersei Lannister es formuliert (S01E07). Die
Familie Stark, einst mächtige und treue Verbündete des Königs, wird bei
einer Hochzeitsfeierlichkeit fast vollständig ausgelöscht. Auch der tyran-
nische König Joffrey segnet auf seiner eigenen Hochzeit das Zeitliche; er
wird vergiftet und krepiert elendiglich vor aller Augen. Die Königinmutter
Cersei bewaffnet religiöse Fanatiker, um ihre eigene Macht abzusichern,
wird dann allerdings von ihnen gefangen genommen und öffentlich gede-
mütigt, bevor sie sich mit einem infernalen Coup ihrer entledigen kann.
Das gemeine Fußvolk spielt bei diesen Intrigen übrigens nur eine marginale
Rolle: Manchmal sind sie Opfer von Hunger und Plünderungen, manch-
mal Kriegsdienstleistende, die verstümmelt und getötet werden.
Die Ereignisse auf Westeros scheinen eine gesellschaftliche Fanta-
sie widerzuspiegeln, die viele Menschen in der westlichen Gesellschaft
teilen. Der Tod des Königs, der zum Auslöser des Krieges wird, lässt sich
mit Lacan als Zusammenbruch der bestehenden symbolischen Ordnung

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

auslegen und trifft das Gefühl vieler Menschen, dass die bestehende Ord-
nung der westlichen Gesellschaft an einen Wendepunkt gelangt ist. Der
nahende Winter vermittelt die Stimmung, dass die Zeiten schlechter zu
werden drohen und passt zur globalen Wirtschaftskrise. Der Ausbruch
des Krieges und der existenzielle Kampf ums Überleben, die Hilflosigkeit
und drohende Zerstörung dienen als szenische Darstellung des täglichen
Kampfes ums wirtschaftliche Überleben. Die Intensivierung des globalen
Wettbewerbs zwischen einzelnen Staaten verschärft die Prekarisierung von
Arbeitsplätzen und Lebensverhältnissen. Viele Menschen spüren, dass sie
zu austauschbaren Robotern geworden sind, deren Arbeitsplatz jederzeit
an einen anderen Ort verlegt oder jemandem mit höherer Motivation zu-
gewiesen werden kann (s.a. Beck, 1992). Während der bescheidene Wohl-
stand der unteren und mittleren Schichten schrumpft, werden die Reichen
zunehmend reicher (Piketty, 2014; Stiglitz, 2012). Der soziale Abstieg
wird für viele zur realen Bedrohung (Nachtwey, 2016). Die archaische
Brutalität von GoT entspricht dem Gefühl, dass dieser Kampf als existen-
ziell bedrohlich und vor allem immer härter werdend erlebt wird. Dass
die meisten Zuschauer der Serie wahrscheinlich immer noch im reicheren
und demokratischeren Teil der Welt leben und sich eigentlich kaum um
ihre physische und ökonomische Existenz sorgen müssen (Pinker, 2018),
tut dieser subjektiven Angst keinen Abbruch. Vor allem die Darstellung
der einfachen Menschen, die den äußeren Umständen völlig ohnmächtig
ausgeliefert sind, hungern müssen, schikaniert und verwundet werden,
fängt das weitverbreitete Gefühl ein, dass jeder Mensch ein Spiel spielen
muss, dessen Regeln ihm von anderen aufoktroyiert werden. Der subjektive
Eindruck, dass die Mächtigen die Bevölkerung nur zu ihrem eigenen Vor-
teil ausbeuten, breitet sich auch in westlichen Demokratien aus (Crouch,
2008). Freihandelsabkommen und internationale Verträge werden meist
über die Köpfe der davon betroffenen Bürger hinweg beschlossen. Die sol-
cherart durchgesetzten Maßnahmen werden von der politischen Elite als
unvermeidliche Zwänge dargestellt.

Der Norden – Wiederkehr verdrängter Probleme

Die Kronländer sind durch eine gigantische Mauer, die vor Äonen errich-
tet wurde, vor dem fast vollständig vergletscherten Norden geschützt. Der
Nachtwache, eine Truppe von schwarz gekleideten Männern, obliegt die

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IV.1. Gerald Poscheschnik: Game of Thrones

Aufgabe, die Mauer zu bewachen. Diese Männer legen ein Gelübde ab, das
ihnen bedingungslose Loyalität gegenüber ihren Pflichten abverlangt und
den Verzicht auf Ehe, Kinder und Familie beinhaltet. Was nach hehrem
Ethos klingt, ist in der Tat nur ein zusammengewürfelter Haufen von in
der Mehrzahl Kriminellen, die sich der Nachtwache nur verschrieben
haben, um Gefängnis oder Todesstrafe zu entgehen. Das Land nördlich der
Mauer zeichnet sich durch weitgehende Anarchie aus. Die dort lebenden
Menschen werden als freies Volk oder Wildlinge bezeichnet; sie kennen
keinen Staat, keine Zivilisation und keine Unterwerfung unter Obrigkei-
ten. Jenseits der Mauer lebt unter anderem Craster, Sohn eines Nachtwa-
chesoldaten und einer Wildlingsfrau. Er ist ein alter und zänkischer Mann,
der mit seinen Töchtern auf inzestuöse Weise zusammenlebt; die weibli-
chen Kinder, die er mit ihnen zeugt, behält er als künftige Konkubinen,
die männlichen Babys gibt er dem Tod preis. In Westeros existieren alte
Überlieferungen über untote Kreaturen, die hinter der Mauer ihr Unwesen
treiben sollen; im modernen Westeros gelten diese aber nur noch als Kin-
derschreck, an den niemand mehr glaubt. Als von der Nachtwache hinter
der Mauer plötzlich wieder die sogenannten Weißen Wanderer gesichtet
werden, informieren sie die Herrscher von Westeros über diese Gefahr.
Die drohende Katastrophe, von einer Armee von Untoten überrannt zu
werden, könnte die Bedeutung des Ränkespiels verblassen lassen, die Re-
genten schlagen die Warnungen allerdings in den Wind.
Die Mauer und der Norden lassen sich psychoanalytisch als Darstel-
lung des Verdrängt-Unbewussten verstehen. Die Produktion von Gütern,
die tatsächlich oder vermeintlich fürs alltägliche Leben in der westlichen
Wohlstandsgesellschaft benötigt werden, führt zu einer räuberischen Aus-
beutung der natürlichen Ressourcen unseres Planeten und einem rück-
sichtslosen Umgang mit der Natur. Die zunehmende Verschmutzung von
Luft, Boden und Wasser, die Rodung von Wäldern, die Wüstenbildung
und der Treibhauseffekt zerstören die Umwelt als alleinige Grundlage
der menschlichen Existenz zwar nicht kurzfristig, aber auf lange Sicht.
Die Globalisierung und der zügellose Kapitalismus erfordern aber auch
auf der menschlichen Seite ihre Opfer. Trotz Wirtschaftswachstums gibt
es noch immer Arbeitslosigkeit und Armut; die Jugendarbeitslosigkeit er-
reicht beispielsweise selbst in manchen europäischen Ländern schwindel-
erregende Höhen und hinterlässt eine verlorene Generation von jungen
Menschen ohne Perspektive. Kurzum, die westliche Lebensweise erzeugt
unerwünschte Nebenwirkungen, die permanent abgewehrt und verdrängt

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

werden müssen, damit unser Modus Vivendi nicht infrage gestellt werden
muss. Nach Freud (1915d) ist Verdrängung allerdings keine statische Kate-
gorie, sondern ein dynamischer Prozess. Verdrängte Inhalte tendieren zur
Wiederkehr in mehr oder weniger entstellter Form. Die drohende Über-
wältigung der Mauer durch monströse Kreaturen lässt sich als Wiederkehr
des Verdrängten verstehen. Freud (1919h) hat herausgearbeitet, dass Dinge
und Kreaturen, die wir als unheimlich erleben, zwar fremd und ungewohnt
aussehen, aber einst vertraut und nah waren. Sie entspringen verdrängten
Erinnerungen und Ängsten, die in eine Figur projiziert werden, die ver-
sucht, aus böser Absicht unsere Existenz zu bedrohen und zu schädigen
(Suler, 2016). Dass es sich bei den Zombies um auferstandene Menschen
oder um verwandelte menschliche Babys handelt, die vom oben erwähnten
Craster geopfert wurden, unterstreicht nochmals, wo der Ursprung dieses
Übels liegt. Die Symbolik der auferstandenen Toten und ihr Antrieb, die
Mauer zu überwinden, bezieht sich auf die unzähligen Leichen im Keller
von Westeros und stellt die Wiederkehr des Verdrängten dar (Freud,
1915d). So ist unsere eigene Zivilisation wie auch Westeros von selbst ge-
schaffenen Problemen bedroht, die hartnäckig verdrängt werden, aber den-
noch drohen, wie das Damoklesschwert auf unsere Häupter niederzufah-
ren. Die Schuld, die Westeros für sein Treiben auf sich geladen hat, scheint
als Rachegeist in Form von Wiedergängern zurückzukehren.

Essos – Hoffnung auf eine andere Welt

Auf dem fernen Kontinent Essos, durch das Meer von Westeros getrennt,
leben die letzten Nachfahren des ehemaligen Herrschergeschlechts von
Westeros, die Targaryens, im Exil. Bevor sie vom verstorbenen König
Robert Baratheon vertrieben wurden, erhielten sie ihre Macht mithilfe von
feuerspeienden Drachen, die inzwischen aber ausgestorben sind. Um eine
Armee aufzubauen und den Eisernen Thron zurückzuerobern, arrangiert
Viserys Targaryen eine Zwangsheirat für seine jugendliche Schwester Dae-
nerys, eine ätherische Schönheit, mit dem mächtigen Stammesführer Khal
Drogo. Nach dem Tod ihres Mannes begibt sie sich ins Feuer, das ihn ein-
äschern soll, überlebt aber völlig unversehrt. Aus den versteinerten Dra-
cheneiern, die sie mit sich nimmt, schlüpfen drei kleine Drachen. Schritt
für Schritt gelingt es Daenerys, eine beeindruckende Armee aufzubauen
und einige Städte in Essos von der Sklaverei zu befreien. Obwohl Daenerys

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IV.1. Gerald Poscheschnik: Game of Thrones

in ihren Entscheidungen oft wankelmütig wirkt und offensichtliche Fehler


macht, zeichnet sie sich doch durch die Einsicht aus, dass sie noch viel zu
lernen hat, um eine weise und gute Monarchin zu werden. Deshalb setzt
sie auf einen Stab aus erfahrenen Beratern, die ihr helfen sollen, die Fähig-
keit zur ausgewogenen Regentschaft zu erlernen. Bevor sie nach Westeros
übersetzt, um den Eisernen Thron für sich zu beanspruchen, übt sie sich
deshalb als Königin in den von ihr befreiten Städten. Sie bleibt allerdings
eine ambivalent gezeichnete Persönlichkeit, die durch eine gewisse Unbe-
rechenbarkeit charakterisiert ist und oft nach dem Talionsgesetz richtet.
Während Westeros vom zerstörerischen Ränkespiel um den Fetisch des
Eisernen Throns völlig gebannt ist und sich im Norden eine verheerende
Bedrohung zusammenbraut, stellt die Figur der Daenerys Targaryen auf
gewisse Art und Weise einen Hoffnungsschimmer dar. Daenerys scheint
die Hoffnung vieler Menschen zu verkörpern und zu befriedigen, dass
eine bessere Welt, in der weniger Gier und weniger Wettbewerb und dafür
mehr Frieden und mehr Gerechtigkeit herrschen, möglich sein könnte.
Tatsächlich unterscheidet sich Daenerys von den meisten anderen Poten-
taten durch ihre Bereitschaft zu lernen und ihren Willen sich zu verbes-
sern. Sie strebt danach, eine bessere Regentin zu werden und aus ihren
Fehlern klüger zu werden. Mit ihren Drachen scheint sie zudem auch über
ein Rezept gegen die dunkle Bedrohung aus dem Norden zu verfügen. Die
Hoffnung, die auf dem Grund der Büchse der Pandora liegt, nachdem alle
Übel entkommen sind, ist nur ein schwacher Trost. Trotzdem ist sie auch
ein wirksamer Abwehrmechanismus, der Zustände von Depression und
Angst in Schach zu halten vermag. Wie das Sprichwort »Die Hoffnung
stirbt zuletzt« zeigt, hat die Hoffnung eine trotzige und motivierende Di-
mension. Doch Daenerys repräsentiert kein ausgearbeitetes Konzept einer
besseren Welt; ihre persönliche Suche nach Identität symbolisiert eher
eine Hoffnung in statu nascendi als eine fertig ausgearbeitete Lösung. Dae-
nerys steht somit als Chiffre auch für das Gefühl, dass in der westlichen
Gesellschaft vieles schief läuft, aber niemand so recht weiß, wie es anders
sein könnte. Auf der einen Seite gibt es eine weitverbreitete Unzufrieden-
heit mit den tatsächlichen gesellschaftspolitischen Entwicklungen und
den Wunsch nach Veränderung, auf der anderen Seite mangelt es – viel-
leicht auch wegen des Untergangs linker Utopien (Honneth, 2015) oder
des Verpuffens der New-Age-Bewegung – an Vorstellungen, welchen Weg
die westliche Gesellschaft einschlagen könnte. Hoffnung als Gefühl exis-
tiert wohl, aber es gibt keine klare Vision. Dass Daenerys in Essos, einem

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

fernen Kontinent, ansässig ist und noch auf der Suche nach einer Identi-
tät ist, passt gut zu diesem Gefühl, dass Hoffnung und Veränderung noch
weit entfernt sind und sich erst in Entwicklung befinden. Jenseits dieser
Dimension der Hoffnung kann Daenerys Targaryen psychoanalytisch auch
als Inbegriff eines Reparationswunsches verstanden werden, der in vielen
Medienproduktionen ein häufiges und kraftvolles Thema ist (Yates, 2014).
Die Schuldgefühle, die durch die Gewalttaten von Westeros verursacht
und durch die drohende Gefahr aus dem Norden symbolisiert werden,
sollen durch die quasi-magische Tat eines scheinbar unschuldigen Retters
kompensiert werden.

Enttäuschte Erwartungen –
das Serienfinale als Bildungschance

Das Ende von Game of Thrones hat viele Fans der Serie regelrecht ent-
setzt. Mit einer von über einer Million Zusehern unterzeichneten Petition
wurden die Produzenten aufgefordert, die letzte Staffel komplett neu zu
drehen und mit einem anderen, wohl gefälligeren Finale zu versehen. Zum
einen hat das sicherlich auch damit zu tun, dass das Ende einer Fernseh-
serie niemals alle Fans zufriedenstellen kann, weil von den vielen mögli-
chen Abschlussszenarien, die in den Köpfen der Zuschauer herumspuken,
nur ein einziges realisiert werden kann. Zudem muss man sich von lieb ge-
wonnenen Figuren, die über viele Jahre virtuelle Begleiter waren, zu denen
man quasi eine parasoziale Bindung aufgebaut hat, verabschieden. Ob man
zum Verständnis dafür Arthur Schnitzler bemüht, der meinte »Ein Ab-
schied schmerzt immer, auch wenn man sich schon lange darauf freut«,
oder auf Sigmund Freuds (1916–17g) Trauer und Melancholie rekurriert,
in dem hervorgehoben wird, dass Erfahrungen des Verlusts immer auch die
Durcharbeitung negativer Affekte wie den Zorn, verlassen worden zu sein,
einfordern, ist einerlei. Erschwerend kommt bei Game of Thrones gewiss
noch hinzu, dass die Qualität der Serie seit dem Fehlen der Romanvorlage
(George R. R. Martin hat bis dato erst fünf der geplanten sieben Bücher
vollendet) in mehrerlei Hinsicht nachgelassen hat. Dass Tiefe, Handlung,
Dialog und Witz seitdem nicht mehr an die ersten Staffeln heranreichen,
ist kaum zu verhehlen, möchte ich aber nicht weiter kommentieren.
Die Enttäuschung über das Serienfinale sitzt aber wohl noch tiefer.
Gewiss haben sich viele Zuschauer eine am Thron sitzende und vom be-

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IV.1. Gerald Poscheschnik: Game of Thrones

freiten Volk bejubelte Daenerys ausgemalt, eine Daenerys, die den epocha-
len Kampf gewinnt und die versprochene bessere Welt aufbaut. Die große
Hoffnungsträgerin entpuppt sich zum Schluss allerdings als brutale und
rücksichtslose Despotin, die unschuldige Zivilisten einschließlich kleiner
Kinder höchstpersönlich mit dem Feuer ihrer Drachen vernichtet. Die
»Befreiung«, von der Daenerys immer wieder gesprochen hat, und die sie
versprochen hat, ist in eine völlig außer Rand und Band geratene Kriegs-
und Vernichtungsmaschinerie umgeschlagen. Nach der Auslöschung der
gesamten Stadtbevölkerung von King’s Landing schwört sie ihre frenetisch
applaudierenden Soldaten auf die Fortsetzung des Krieges ein: »Now …
you are liberators! You have freed the people of King’s Landing from the
grip of a tyrant! But the war is not over. We will not lay down our spears
until we have liberated all the people of the world!« (S08E06). Die Frei-
heit, die sie hier meint, ist wohl eine andere als jene, die sich das Publikum
imaginiert hat.
Es mag wohl sein, dass ein versöhnlicheres Finale lustvollere Gefühle
im Publikum ausgelöst hätte, das Erlebnis des Schocks, das Timo Storck
(2017) in seiner lesenswerten Interpretation von GoT ins Zentrum gerückt
hat, konnte den Zuschauern eine andere Form des psychischen Mehrwerts
bieten. Einmal mehr ist es Game of Thrones mit seinem Finale gelungen,
die Erwartungen, die Illusionen, die trügerischen Hoffnungen des Publi-
kums mit einem Schlag zu zertrümmern. Der Schock über das Ende hat das
von Erlösungsfantasien beseelte Publikum auf den Boden der Tatsachen
zurückgeholt. Die Hoffnung, die Daenerys verkörpert hat, war eigentlich
von Anfang an naiv, und wenn wir die ganze Serie vor unserem inneren
Auge nochmals Revue passieren lassen, werden wir erkennen müssen, dass
die Katastrophe absehbar war. Schon früh in der Serie projektiert Daene-
rys ihre Pläne für die Zukunft eigentlich recht unverhohlen: »When my
dragons are grown, we will take back what was stolen from me and destroy
those who wronged me! We will lay waste to armies and burn cities to the
ground!« (S02E04). Tyrion Lannister hat die Historie in der letzten Staf-
fel dann pointiert zusammengefasst:

»When she murdered the slavers of Astapor, I’m sure no one but the slavers
complained. After all, they were evil men. When she crucified hundreds of
Meereenese nobles, who could argue? They were evil men. The Dothraki
khals she burned alive? They would have done worse to her. Everywhere
she goes, evil men die and we cheer her for it. And she grows more power-

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

ful and more sure that she is good and right. She believes her destiny is to
build a better world for everyone. If you believed that, if you truly believed
it, wouldn’t you kill whoever stood between you and paradise?« (S08E06).

Die Rezipienten der Serie haben sich vielleicht blenden lassen von einer
Mischung aus Schönheit1 und leeren Versprechungen, die zu erfüllen sie
niemals in der Lage war, wie ihre Handlungen und die Resultate ihrer Re-
gentschaft doch recht augenscheinlich demonstriert haben. Daenerys hat
sich zum Beispiel über die Ungerechtigkeit der von ihr besiegten Usur-
patoren empört und Gerechtigkeit versprochen: »I will answer injustice
with justice« (S04E04). Tatsächlich war mit Gerechtigkeit aber nur bloße
Rache gemeint, die Hinrichtung ebenso vieler ehemaliger Aristokraten wie
von diesen gekreuzigter Sklavenkinder. Die Aufrechterhaltung der Illusion
wurde auch befördert durch das schreckliche Grauen, den Horror aus dem
Norden. Kaum waren die Untoten aber besiegt, ihr grusliger König getötet,
zerbröselt die durch den Außenfeind aufrechterhaltene Spaltung in Gut
und Böse. Der Projektion der eigenen negativen Anteile ins Außen wird
damit die Grundlage entzogen und die vermeintlich Guten entblößen die
hässliche Fratze ihrer eigenen Bestialität.
Freud (1915b) hat in »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« die folgen-
den schönen Worte über Illusionen formuliert: »Illusionen empfehlen sich
uns dadurch, daß sie Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befrie-
digungen genießen lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen,
daß sie irgend einmal mit einem Stücke der Wirklichkeit zusammenstoßen,
an dem sie zerschellen« (Freud, 1915b, S. 331). Kurzum, wir haben uns
von Beginn an täuschen lassen und sind schließlich ent-täuscht worden. In-
sofern hat die Reaktion der empörten Fans auf das Finale der Serie meines
Empfindens nach geradezu den Beweis angetreten, dass Game of Thrones
alles richtig gemacht hat. Die Serie beschert den Zuschauern zwar kein
emotional befriedigendes Happy End, offeriert ihnen aber eine Bildungs-
erfahrung im Sinne von Koller (2011), der darunter nicht eine Anhäufung
von bürgerlichem Weltwissen, sondern die Transformation bestehender
Schemata durch krisenhafte Erfahrungen versteht. Game of Thrones rät uns
so gesehen, nicht den Versprechungen derjenigen zu vertrauen, die Freiheit

1 In der Psychologie ist das Phänomen, dass man Personen aufgrund eines attraktiven Äu-
ßeren auch positive Charaktereigenschaften attribuiert, als Halo-Effekt bekannt (Kaplan,
1978).

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IV.1. Gerald Poscheschnik: Game of Thrones

und Gerechtigkeit predigen, sondern kritisch und skeptisch in alle Rich-


tungen zu bleiben, denn – um es mit den Worten des verstorbenen öster-
reichischen Kabarettisten Helmut Qualtinger (1928–1986) zu sagen – die
»moralische Entrüstung ist der Heiligenschein der Scheinheiligen«.

Der irritierte Zuschauer –


Fernsehen als Psychoanalyse für die Armen?

Viele moderne TV-Serien, darunter auch Game of Thrones, legen es darauf


an, ihre Zuschauer nicht nur zu unterhalten, sondern auch zu irritieren.
TV-Serien wie Breaking Bad, House of Cards oder The Sopranos, um nur
einige von vielen möglichen Beispielen zu nennen, zertrümmern die Er-
wartungen des durchschnittlichen Zuschauers. Das Publikum findet keine
manichäischen Konstruktionen der Charaktere, weder gibt es völlig Gute
noch absolut Böse, fast alle Figuren sind ambivalent und überraschend
facettenreich gezeichnet. Es gibt auch keine eindeutig erkennbare Moral
von der Geschicht’, die eine unverblümte Erziehung der Zuschauer versu-
chen würde. Weder gewinnen die Untadeligen immer, noch verlieren die
Verderbten stets. Auch Game of Thrones unterwirft sich keinem simpli-
fizierenden Deutungsschema und bleibt bis zum Schluss unberechenbar.
Gerade deshalb ist der Betrachter gezwungen, sich mit seinen Irritationen
und enttäuschten Erwartungen auseinanderzusetzen und darüber nach-
zudenken, was das Geschehene zu bedeuten hat. Das ist ein Prozess, der
teilweise allein, teilweise im Austausch mit anderen vollzogen wird. Dabei
kann auch unbewusstes Material, das in der audiovisuellen Inszenierung re-
präsentiert ist, mental contained und bearbeitet werden.
Die Psychoanalyse leistet nicht nur einen Beitrag zum Verständnis
der unbewussten Dimension eines Narrativs, sondern trägt auch zur Er-
klärung der subjektiven Rezeption von Medieninhalten bei. Donald
Winnicotts Idee des Übergangsraums lässt sich auch auf die Erforschung
kultureller Phänomene wie Fernsehserien anwenden (Kuhn, 2013). Ent-
wicklungsprozesse finden oft mit sogenannten Übergangsobjekten oder
in Übergangsräumen beziehungsweise Möglichkeitsräumen statt (Win-
nicott, 1999). Diese Dinge und Zonen sind einerseits Teil der realen
äußeren Umgebung, andererseits aber auch mit subjektiver, psychischer
Bedeutung aufgeladen. Sie liegen also irgendwo zwischen der äußerlich-
materiellen und der innerlich-psychischen Welt. Die Frage, ob es sich

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

hierbei um Realität oder Fiktion handelt, spielt demzufolge keine Rolle.


Phyllis Crème (2013) spricht vom playing spectator, wenn sie die Ausein-
andersetzung des Zuschauers mit den audiovisuellen Medien als eine Art
Spiel in einem Möglichkeitsraum im Sinne von Winnicott thematisiert.
Wenn wir anfangen, einen Film anzusehen, machen wir eine psychische
Verschiebung in den Möglichkeits- beziehungsweise Übergangsraum und
fangen an zu glauben, was auf der Leinwand gezeigt wird. Fernsehen wird
zu einer virtuellen intersubjektiven Situation in einem Multimedia-Reich.
»Das ist mehr als ›Eskapismus‹; es ist lebensbereichernd« (Crème, 2013,
S. 49), denn beim Spielen entdeckt das Individuum sich selbst (Winni-
cott, 1999). »[D]as Publikum verschmilzt nicht einfach nur emotional
mit Medientexten (eine Art von Abhängigkeit), sondern (re)formiert und
(re)orientiert das Selbst (eine Art von Handeln)« (Hills, 2013, S. 84).
Die Beteiligung des Publikums sollte daher nicht als pathologisch, son-
dern zunächst als kreativer Prozess verstanden werden (s. a. Hills, 2013).
Die Auseinandersetzung mit Medien bietet eine Art Übergangsraum, der
die Möglichkeit bietet, persönliche und psychisch-kulturelle Konflikte
zu containen und durchzuarbeiten. Yates (2014) erwähnt in diesem Zu-
sammenhang auch Christopher Bollas’ (1979) Konzept des Transforma-
tionsobjekts; es baut auf Winnicotts Ideen zum Übergangsobjekt auf und
betont, dass wir von diesen Objekten auch verändert und transformiert
werden. Daher kann Fernsehen via Durcharbeiten sogar zum Objekt der
Transformation werden (Yates, 2014). Die Serie liefert ihren Zuschauern
psychische Rohmaterialien, wie emotionale Beta-Elemente oder auf un-
bewussten Klischees basierende Szenen, mit denen im Möglichkeitsraum
gespielt werden kann, indem sie mit eigenen psychischen Erfahrungen
und mentalen Mustern angereichert werden. Die mentalen Prozesse, die
in diesem dritten Raum stattfinden, haben ein transformatives Potenzial
für den einzelnen Zuschauer. Sie können – je nach paradigmatischem
Schwerpunkt – als Durcharbeiten (Freud, 1914g), Containen (Bion,
1962), Spielen (Winnicott, 1999) oder Mentalisieren (Fonagy et al.,
2004) konzeptualisiert werden.
Während mithilfe des Szenischen Verstehens ein psychoanalytisches
Verständnis der Serie selbst gewonnen werden kann, helfen die Konzepte
des Übergangsraums und des spielenden Zuschauers zu verstehen, was mit
der audiovisuellen Geschichte im Kopf des Zusehers passiert. Obwohl die
Szenen und Rollen einer Serie sehr individuell rezipiert werden können,
bleibt dieser mentale Prozess an Inhalt und narrativen Rahmen gebunden.

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IV.1. Gerald Poscheschnik: Game of Thrones

Die in einer Serie präsentierten Szenen werden ähnliche Repräsentationen


im Bewussten und Unbewussten der Zuschauer auslösen. Im Falle von GoT
lädt selbst der manifeste Inhalt der Serie zum Nachdenken und zur Refle-
xion über kulturelle und gesellschaftliche Themen wie Krieg und Frieden,
die Ethik von Regentschaft und Führung, Macht und Ohnmacht, Ethnie,
Geschlecht, Behinderung und Klasse ein. Auf einer szenischen Ebene spie-
gelt das Meta-Narrativ sogar weitverbreitete und allgemein geteilte, aber
unterdrückte Ängste und Hoffnungen über eine Gesellschaft im Nieder-
gang wider, die sich weigert, ihre Probleme zu erkennen. GoT ist somit ein
Tableau, das eine Diagnose und Reflexion von Fantasien über gesellschaft-
liche und kulturelle Veränderungen bietet. Auf diese Weise ist die Serie tief
mit dem realen Leben verbunden:

»Vielmehr dürfte es gerade ein zentrales Merkmal der Rezeption der zeit-
genössischen Serie sein, dass sie etwas in uns berührt, es potenziell durch-
zuarbeiten hilft, so dass etwas innerlich ›behalten‹ wird. […] Dass auf diese
Weise etwas nachhaltig verinnerlicht wird, würde sowohl auf persönlicher
Ebene gelten (wir reflektieren unsere Auffassung zu Geschlechterrollen und
-verhältnissen ›damals und heute‹, wenn wir Mad Men anschauen) als auch
auf gesellschaftlicher oder politischer Ebene (wenn wir anlässlich von Game
of Thrones darüber nachdenken, was ein gutes Staatsoberhaupt ausmacht).
Dann verändern die Serien uns, und ihr emanzipatorisches Potenzial betrifft
überindividuelle Prozesse und Zustände in ›transgressiver‹ […] Art und
Weise. Mehr noch als das sogenannte ›Reality TV‹ hilft die Serie das All-
tägliche zu durchdringen, selbst noch, wenn wir nach Westeros oder in die
Welt nach einer Zombie-Apokalypse versetzt werden« (Storck & Taubner,
2017, S. 2).

Die verborgene Bedeutung von GoT, die sich im Erzählraum eines mittel-
alterlichen Fantasy-Genres befindet, kann im Möglichkeitsraum zumindest
teilweise entschlüsselt werden, indem man mit den Inhalten spielt, indem
man über sie fantasiert, indem man über die eigenen emotionalen Reak-
tionen reflektiert, indem man die Geschichte mit eigenen Assoziationen
anreichert, indem man Analogien zu seinem eigenen (gesellschaftlichen
und kulturellen) Leben entdeckt. Auf diese Weise können die in GoT ent-
haltenen unbewussten Fantasien, Konflikte, Ängste und Hoffnungen bis
zu einem gewissen Grad bewusst gemacht und anschließend mental reflek-
tiert, durchgearbeitet und transformiert werden. Auf bewusster Ebene er-

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

füllt Game of Thrones, wie auch andere moderne TV-Serien, die Aufgabe,
ihre Zuschauer von gesellschaftlichen Konflikten und Problemen durch
simple Unterhaltung abzulenken. Andererseits aber – obwohl in einer
fernen mittelalterlichen Fantasiewelt handelnd – stellt GoT unbewusst ge-
sellschaftliche und kulturelle Ideologien infrage, indem es eine Beschrei-
bung der Gegenwart liefert, die vielleicht treffsicherer ist als affirmative
Ideologie. Auf dieser latenten Ebene richtet GoT die Aufmerksamkeit auf
jene Aspekte der westlichen Gesellschaft, die gern unter den Teppich ge-
kehrt werden, räumt aber auch mit naiven Heilsfantasien auf. Deshalb ist
Game of Thrones eine fast schon therapeutische Konfrontation, die gesell-
schaftliche Überzeugungen herausfordert. Um diese Konflikte zu lösen,
muss der irritierte Zuschauer mit diesen Bedeutungen spielen und darü-
ber nachdenken. Infolgedessen kann die mentale Beschäftigung mit GoT
durchaus dazu beitragen, die mentalen Repräsentationen von Kultur und
Gesellschaft zu verändern.
Von diesem Standpunkt betrachtet kann Fernsehen sogar eine Art the-
rapeutische Funktion erfüllen, die Bewusstheit und Reflexivität fördert
(Yates, 2014; Bainbridge, 2014). Vielleicht hatte der französische Philo-
soph und Psychoanalytiker Félix Guattari (2009) völlig recht, als er das
Kino als die Couch der Armen bezeichnet hat. Dieses Bonmot trifft noch
mehr zu, wenn man im eigenen Wohnzimmer fernsieht: So wie die Couch
des Psychoanalytikers einen sicheren Ort bietet, an dem es möglich ist, stö-
rende Themen genauer zu betrachten, kann das Fernsehen auf der Couch
zu einem Möglichkeitsraum werden, in dem mit unbewussten Elementen
gespielt werden kann.

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Biografische Notiz
Gerald Poscheschnik, Mag. Dr., Psychologe, Klinischer Psychologe und Gesundheitspsy-
chologe. Nach langjähriger Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität
Innsbruck seit Oktober 2019 Professor für Theorien, Konzepte und Methoden der Sozialen
Arbeit an der FH Kärnten. Forschungs- und Interessensschwerpunkte sind Theorie und
Praxis (psycho-)sozialer Hilfsangebote, Methodologie und qualitative Sozialforschung,
Entwicklungswissenschaft, Psychoanalyse und Kulturwissenschaft.
g.poscheschnik@fh-kaernten.at

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IV.2. Akte X
Leben mit der Illusion

Lars Steffes

In den frühen 90er Jahren startete in den USA und im deutschsprachigen


Raum die Ausstrahlung der X-Akten. Die Serie sollte neun Jahre lang unun-
terbrochen laufen und nach der darauf folgenden 14-jährigen Unterbrechung
ein Comeback in Form von zwei weiteren Staffeln feiern. Im Jahre 2003
wurde die Serie mit dem Curt-Siodmark-Preis ausgezeichnet und 2017 wurde
sie in die Science Fiction and Fantasy Hall of Fame des Museum of Pop Culture
aufgenommen. Daneben gewann die Serie fünf Golden Globes und war für
zahlreiche weitere Preise nominiert (vgl. IMDb). Die beiden Hauptfiguren
der Serie hatten auch einen Gastauftritt in Springfield bei den Simpsons, die
Fandom-Seite der Serie umfasst über 5.000 Artikel und in den dazugehörigen
Diskussionsforen zeigt sich auch 2019 noch Aktivität (vgl. The X-Files Wiki).
Der Erfolg der Serie, ihre begeisternde Wirkung auf zahlreiche RezipientIn-
nen, ist also offensichtlich. Den unbewussten Prozessen, die an diesem Erfolg
mitbeteiligt sein können, sind die folgenden Abschnitte gewidmet.

Inhalt

Bei Akte X handelt es sich um eine in den USA unter der Leitung von Chris
Carter produzierte Fernsehserie aus dem Mystery-Genre, welche elf Staf-
feln mit insgesamt 218 Folgen umfasst. Die Serie wurde in den USA erst-
mals 1993, im deutschsprachigen Raum 1994, ausgestrahlt und lief ohne
längere Unterbrechung bis zur neunten Staffel, welche 2002 in den USA
und 2003 im deutschsprachigen Raum endete. Die Staffeln zehn und elf
wurden in den Jahren 2016 und 2018 ausgestrahlt. Weiterhin wurden zwei
Akte-X-Kinofilme veröffentlicht, Akte X – Der Film (The X-Files: Fight the
Future) im Jahre 1998 und Akte X – Jenseits der Wahrheit (The X-Files: I
Want to Believe) im Jahre 2008.

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

Inhaltlich stehen die FBI-Agentin Dana Scully, gespielt von Gillian An-
derson, und der FBI-Agent Fox Mulder, gespielt von David Duchovny, im
Zentrum des Geschehens. Beide ermitteln unter der Leitung von Assistant-
Director Walter Skinner in außergewöhnlichen Fällen, wobei die beiden sehr
unterschiedliche Ansätze verfolgen, gemeinsam jedoch sehr erfolgreich sind.
Die Serie lässt sich aufteilen in Monster of the Week-Episoden und My-
thology-Episoden. Die Mythology-Episoden verleihen der Serie einen roten
Faden, indem ein episodenübergreifender Handlungsbogen kreiert wird.
Die Folgen handeln von einer internationalen Verschwörung, die von einer
Gruppierung namens Syndikat geleitet wird. Diese Gruppierung arbeitet
beispielsweise an der Vertuschung der Existenz von Außerirdischen, die
planen, die Erde zu kolonialisieren.
Die Monster of the Week-Episoden sind vom roten Faden der Serie größ-
tenteils unabhängig und machen den überwiegenden Teil der 218 Episo-
den aus. Sie handeln von übernatürlichen Wesen und Mutanten, oder von
kriminellen Menschen mit besonderen Fähigkeiten.

Figuren

Bei der Darstellung der Figuren, die in der Serie vorkommen, möchte ich
mich insbesondere auf die beiden Hauptfiguren Agent Mulder und Agent
Scully konzentrieren. Daneben sollen aber auch deren Vorgesetzter, Assis-
tant-Director Walter Skinner, und das Syndikat-Mitglied Carl Gerhard
Bush Spender kurz vorgestellt werden, da beide von großer Bedeutung für
die Handlung der Serie sind. Über die elf Staffeln der Serie hinweg treten
gewiss noch weitere Figuren auf die Bühne, von denen – abschließend –
jedoch nur eine kleine Auswahl Erwähnung finden soll.

Agent Mulder

Fox William Mulder wurde am Freitag, den 13. Oktober 1961 als Sohn
von William »Bill« Mulder und Elizabeth »Teena« Mulder geboren. Sein
Vater war beim Außenministerium angestellt und später Mitglied des Syn-
dikats, wobei er sich bald gegen deren Arbeit stellte. Im Laufe der Serie
wird die Vermutung nahegelegt, dass Carl Gerhard Bush Spender der leib-
liche Vater von Fox Mulder ist.

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IV.2. Lars Steffes: Akte X

Im Alter von zwölf Jahren war Fox anwesend, als seine jüngere Schwester
Samantha verschwand. Das Ereignis erinnert er so, dass er sich nicht
mehr bewegen konnte und machtlos mitansehen musste, wie Aliens seine
Schwester entführten. Die darauf folgende Suchaktion verlief erfolglos und
die Familie Mulder blieb ohne eine Erklärung für das Verschwinden von
Samantha zurück.
Einige Jahre später schloss Fox als Jahrgangsbester in Psychologie an der
Universität Oxford ab, bevor er beim FBI als Profiler zu arbeiten begann.
Die Reputation von Fox Mulder unter KollegInnen und Vorgesetzten
schwankt zwischen der einer nicht ernstzunehmenden Witzfigur namens
»Spooky-Fox« und der eines Ausnahmetalents. Er ist bekennender Belie-
ver, glaubt also an die Existenz außerirdischen Lebens, und greift bei seiner
Arbeit regelmäßig auf Sagen, Mythen und das Übernatürliche zurück, um
Ereignisse zu erklären. Weiterhin fällt Fox Mulder häufig durch humor-
volle Äußerungen und insbesondere durch seine Faszination für mysteriöse
Fälle auf.

Agent Scully

Dana Katherine Scully wurde am 23.02.1964 geboren. Ihre Eltern sind


William Scully und Margaret Scully. Dana studierte Medizin, womit ihr
Vater wenig einverstanden war, und wurde später FBI-Agentin. Sie wurde
Fox Mulder als Partnerin zugeteilt, um seine Arbeit zu überwachen und
gegebenenfalls zu widerlegen. Auffällig ist ihre streng rationale und skepti-
sche Sichtweise, die einen Gegenpol zu der von Mulder darstellt, denn sie
beruft sich bei ihrer Arbeit auf Studien und wissenschaftliche Theorien und
tritt stets professionell auf. Auch nachdem sie Zeugin mehrerer paranor-
maler Ereignisse geworden ist, vertritt sie einen wissenschaftlichen Stand-
punkt und fordert stets Beweise, bevor sie sich auf Mulders Hypothesen
einlässt, beziehungsweise bietet alternative Hypothesen. Trotz ihres eigent-
lichen Auftrags und der von Mulder sehr verschiedenen Sichtweise wird sie
bald zur verlässlichen Partnerin bei der Bearbeitung der X-Akten.
Bereits mit der Pilot-Folge von Akte X beginnt eine romantische Span-
nung zwischen Fox und Dana, wenn Scully Mulder aufsucht und sich
entkleidet, um ihn vermeintliche Kennzeichen beziehungsweise Flecken
betrachten zu lassen, welche bei allen Todesopfern im Rahmen der Unter-
suchung gefunden wurden. Im weiteren Verlauf der Serie kommt es immer

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

wieder zu nahen und intimen (aber auch distanzierten und konfliktrei-


chen) Momenten zwischen den beiden. Schließlich bekommen sie einen
gemeinsamen Sohn, William, wobei nicht ausgeschlossen werden kann,
dass Mulder nicht der biologische Vater ist.

Assistant-Director Walter Skinner

Er ist der direkte Vorgesetzte von Agent Fox Mulder und Agent Dana
Scully. Zu Beginn der Fernsehserie ist seine Position beziehungsweise
Vertrauenswürdigkeit noch unklar: So beendet Walter Skinner im Finale
der ersten Staffel die Arbeit von Scully und Mulder an den X-Akten. Mit
Beginn der zweiten Staffel wird jedoch klar, dass Skinner auf der Seite von
Scully und Mulder steht und ihnen ein zuverlässiger Verbündeter ist.
Vor seiner Arbeit beim FBI war Skinner als Soldat im Vietnam-Krieg
vertreten. Dort erlebte er ein traumatisches Ereignis, als er einen kleinen
Jungen erschoss, der mit Granaten behangen in das Camp seines Tycoons
gestürmt kam. Das Ereignis hat ihn abgestumpft und sich negativ auf seine
Ehe ausgewirkt.

Carl Gerhard Bush Spender (Cigarette Smoking Man)

Über die Geschichte beziehungsweise Biografie dieses Charakters ist wenig


bekannt. Klar ist, dass Spender eine hohe Position innehaben muss, da er
nicht nur beim FBI Vorgaben machen kann, sondern auch Zugang zum
Pentagon hat. Weiterhin ist Spender Mitglied des Syndikats und arbeitete
einst mit Mulders Vater zusammen. Seinen Spitznamen erhält er aufgrund
seines starken Zigarettenkonsums.

Weitere

Neben diesen Hauptfiguren gibt es eine Vielzahl wiederkehrender Neben-


figuren im Universum der X-Akten. Unter ihnen ist beispielsweise Mr. X
(oder kurz: X) zu nennen, der für den Cigarette Smoking Man arbeitet,
aber immer wieder als Informant für Agent Mulder in Erscheinung tritt.
Mulder kontaktiert ihn, indem er mit Tape ein »X« an sein Fenster klebt.

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IV.2. Lars Steffes: Akte X

In der vierten Staffel wird Mr. X getötet, nachdem seine Tätigkeit für
Mulder auffliegt.
Zu den weiteren Verbündeten der Hauptfiguren zählen die »Lone
Gunmen«, ein nerdiges Dreiergespann, bestehend aus Melvin Frohike,
John Fitzgerald Byers und Richard Langly, welches mit Agent Mulder be-
freundet ist. Die drei unterstützen Mulder und Scully regelmäßig durch
technisches Know-how und mancherlei nützliche Information.
Regelmäßige Auftritte liefert auch Alex Krycek, der zunächst als Part-
ner von Mulder bei der Bearbeitung eines Falles vorgestellt wird. Bald stellt
sich jedoch heraus, dass Krycek für den Cigarette Smoking Man arbeitet
und von diesem beim FBI etabliert wurde, um Agent Mulders Arbeit am
Fall zu sabotieren. In vielen weiteren Folgen kommt Krycek der Arbeit der
zwei Hauptfiguren in die Quere und ist sogar für den Tod von Agent Mul-
ders Vater verantwortlich.

Handlungsmuster

Bevor es darum geht, sich in die unbewussten Gefilde vorzuarbeiten, sollen


zunächst die Folge für Folge strukturierenden Handlungsmuster bespro-
chen werden.
Die typische Akte-X-Folge beginnt mit der Darstellung eines paranor-
malen Ereignisses: Eine Person wird von einem Mutanten angegriffen,
jemand verschwindet spurlos, ungewöhnliche Kreaturen werden gesichtet.
Nach einem Cut und dem Intro der Serie treffen Agent Scully und Agent
Mulder am Ort des Geschehens ein und beginnen ihre Arbeit. Sie be-
gutachten, befragen und sichern Beweise. Bald kommt es zum Konflikt:
Mulder stellt eine Hypothese zum Geschehen auf, die auf Mythen oder
Übernatürlichem basiert, während Scully bemüht ist, eine rationale Erklä-
rung für das Geschehen zu finden. Häufig entfernen sich die beiden nicht
nur hinsichtlich ihrer Hypothesen voneinander, sondern verfolgen ge-
trennt ihre Spuren. Dementsprechend fällt bei Telefonaten miteinander oft
die Frage, wo sich der/die andere gerade aufhält: »Mulder/Scully, where
are you?« Im Laufe der Ermittlungen können in der Regel beide (für sich
und zusammen im Team) ihre Kompetenz unter Beweis stellen und einige
Aspekte des Falls aufklären. Jedoch bleibt zum Ende stets eine Frage offen,
es gibt einen Aspekt, der nicht geklärt werden kann. Anhand dieser Aus-
führung können wir zwei zentrale Themen der Serie erkennen, die eng mit-

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

einander verknüpft sind: Es geht um die Möglichkeit und das Scheitern,


etwas wissen und erklären zu können beziehungsweise um den Versuch,
Licht ins Dunkel zu bringen, und zwei sehr unterschiedliche Herangehens-
weisen dabei: das magische und das rationale Denken.
Für die beiden Hauptfiguren der Serie (aber auch für weitere Protago-
nistInnen und letztlich auch für die ZuschauerInnen) stellt sich regelmä-
ßig die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit anderer Figuren. Ein gutes
Beispiel hierfür ist Alex Krycek, der zunächst als Mulders Partner auf-
tritt, sich dann jedoch als für das Syndikat arbeitend offenbart. Doch die
Frage nach der Vertrauenswürdigkeit gilt nicht nur einzelnen Personen,
sondern auch Institutionen. So stellt sich bald heraus, dass das Militär
an gewissen Aktionen des Syndikats beteiligt ist und insofern nicht als
Unterstützung für die Ermittlungen von Agent Scully und Agent Mulder
gelten kann. Und auch der eigenen Institution, dem FBI, muss mit Skep-
sis entgegengetreten werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die
Vertrauensfrage ein weiteres zentrales Thema der Serie ist: Wem können
wir vertrauen?
Zuletzt noch eine Beobachtung auf szenischer Ebene: Über die ge-
samte Serie hinweg fällt auf, dass ein großer Teil der Szenen von den
Lichtverhältnissen her sehr dunkel gehalten ist. Viele Ereignisse finden
nachts statt, und wenn sie draußen stattfinden, ist es noch dazu oft
neblig. Spuren oder Verfolgungsjagden führen regelmäßig in unbeleuch-
tete Gebäude, düstere Verstecke oder dunkle Wälder. Manchmal sind
Agent Scully und Agent Mulder in solchen Szenen mit Taschenlampen
ausgestattet, die zwar eine recht große Reichweite haben, aber dafür nur
kleine Flächen beleuchten.
Die genannten Elemente schaffen eine Atmosphäre des Unheimlichen.
Eine klare Grenze zwischen Mythos und Logos lässt sich nicht ziehen, ob
man noch auf dem Boden der Realität steht oder doch übernatürliche Ein-
flüsse im Spiel sind, lässt sich nicht sicher sagen. Es stellt sich immer die
Frage, ob anderen Menschen vertraut werden kann oder nicht. Man ist
also zu einem paranoiden Denken gezwungen, da das soziale Umfeld der
Hauptfiguren als feindlich und bedrohlich dargestellt wird (vgl. Mertens,
2014, S. 686). Und schließlich muss stets damit gerechnet werden, dass in
der Dunkelheit Gefahren lauern. Akte X spielt – um die bisherigen Aus-
führungen auf einen Punkt zu bringen – also auf vielen Ebenen mit dem
Unheimlichen und versetzt die ZuschauerInnen in eine dementsprechende
Stimmung.

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IV.2. Lars Steffes: Akte X

Interpretation der unbewussten Bedeutung –


Das Unheimliche: Sigmund Freud über die X-Files

In seiner 1919 erstveröffentlichten Schrift Das Unheimliche widmet sich


Sigmund Freud der Ästhetik des Unheimlichen. Den Ursprung dieser
Empfindung, also das, was das Ängstliche zum Unheimlichen macht (vgl.
Freud, 1919, S. 256), fasst er folgendermaßen zusammen:

»Das Unheimliche des Erlebens kommt zustande, wenn verdrängte in-


fantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden, oder wenn
überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen« (Freud,
1919, S. 263).

Zu dieser Zusammenfassung führen ihn spezifischere Beobachtungen, von


denen einige in folgenden Zeilen angeführt werden, da diese meines Er-
achtens hervorragend geeignet sind, um sich der latenten Ebene der Serie
anzunähern.
Als unheimlich können wir laut Freud einen lebenden Menschen dann
bezeichnen, wenn dieser böse Absichten verfolgt und sich zur Erreichung
dieser Absichten besonderer Kräfte bedient (vgl. Freud, 1919, S. 256).
Diese Charakterisierung trifft auf eine Sparte der Monster zu, die in den X-
Files dargestellt werden: Mutanten, wie Eugene Victor Tooms, der reihen-
weise Menschen tötet, um deren Leber zu verspeisen und sich dabei der be-
sonderen Fähigkeit bedient, seinen Körper strecken und biegen zu können,
sodass er sich durch engste Spalten und Schächte hindurchbewegen kann.
Mit den besonderen Kräften bewegen wir uns nach Freud auf dem
Boden des Animismus (vgl. Freud, 1919, S. 256f.), einer magischen Denk-
weise, die wir bereits überwunden haben. Aber eben weil wir diese Denk-
weise bereits überwunden haben, löst ihre Rückkehr in uns die Empfin-
dung des Unheimlichen aus. Oder wie Robert Pfaller es formuliert: »In
Angst versetzen kann man folglich immer nur diejenigen, die nicht mehr
an Gespenster glauben« (Pfaller, 2015, S. 83).
Apropos Gespenster, diesen spricht Freud ihre unheimliche Wirkung
zu, da sie als Wiederkehr unserer eigenen verdrängten Sterblichkeit zu
interpretieren sind:

»Der Satz: alle Menschen müssen sterben, paradiert zwar in den Lehrbü-
chern der Logik als Vorbild einer allgemeinen Behauptung, aber keinem

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

Menschen leuchtet er ein, und unser Unbewußtes hat jetzt so wenig Raum
wie vormals für die Vorstellung der eigenen Sterblichkeit« (Freud, 1919,
S. 255).

Auch Geister und Gespenster begegnen uns in den X-Files, ebenso wie
andere Hinweise auf den Tod: Leichen, Friedhöfe, Zombies, Vampire etc.
Mit den soeben ausgeführten Formen des Animismus und des Unheim-
lichen finden sich die beiden Hauptfiguren der Serie, Agent Scully und
Agent Mulder, von Folge zu Folge der X-Files konfrontiert. Wie weiter
oben ausgeführt wurde, nehmen beide dabei einander entgegengesetzte
Positionen ein: Agent Mulder ist in seiner Denkweise dem Animismus
nahe und sucht nach Belegen dafür. Er ist »Believer«, glaubt also an die
Existenz von Geistern und übernatürlichen Kräften. Agent Scully hinge-
gen beruft sich auf rationale Erklärungen. Sie ist Skeptikerin und überwin-
det den Animismus, auch nachdem sie mehrfach Zeugin übernatürlicher
Ereignisse geworden ist. Aus diesen entgegengesetzten Denkweisen ergibt
sich ein Spannungsfeld, in das wir als ZuseherInnen mit unseren eigenen
Anteilen einsteigen können. Nach Freud haben wir den Animismus über-
wunden, allerdings mit der Möglichkeit eines qualitativen Unterschieds
auf individueller Ebene: Manche Menschen haben die animistischen Über-
zeugungen gründlich abgelegt, während andere sich nicht sicher sind, ob
diese nicht doch eine Berechtigung haben:

»Heute glauben wir nicht mehr daran, wir haben diese Denkweisen über-
wunden, aber wir fühlen uns dieser neuen Überzeugungen nicht ganz sicher,
die alten leben noch in uns fort und lauern auf Bestätigung. Sowie sich nun
etwas in unserem Leben ereignet, was diesen alten abgelegten Überzeugun-
gen eine Bestätigung zuzuführen scheint, haben wir das Gefühl des Unheim-
lichen, zu dem man das Urteil ergänzen kann: Also ist es doch wahr, daß
man einen anderen durch den bloßen Wunsch töten kann, daß die Toten
weiterleben und an der Stätte ihrer früheren Tätigkeit sichtbar werden u.
dgl.! Wer im Gegenteil diese animistischen Überzeugungen bei sich gründ-
lich und endgültig erledigt hat, für den entfällt das Unheimliche dieser
Art. Das merkwürdigste Zusammentreffen von Wunsch und Erfüllung, die
rätselhafteste Wiederholung ähnlicher Erlebnisse an demselben Ort oder
zum gleichen Datum, die täuschendsten Gesichtswahrnehmungen und ver-
dächtigsten Geräusche werden ihn nicht irre machen, keine Angst in ihm
erwecken, die man als Angst vor dem ›Unheimlichen‹ bezeichnen kann. Es

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IV.2. Lars Steffes: Akte X

handelt sich hier also rein um eine Angelegenheit der Realitätsprüfung, um


eine Frage der materiellen Realität« (Freud, 1919, S. 263).

Nun muss angemerkt werden, dass die ZuseherInnen die Geschehnisse, die in
den X-Files dargestellt werden, nicht für wahr nehmen, sie wissen genau, dass
es sich lediglich um eine Fernsehserie handelt, die einer Fiktion eine real an-
mutende Gestalt verleiht. Bringen die ZuseherInnen also wirklich ihre eige-
nen Anteile in das Erlebnis der Rezeption mit ein? Dieses Problem hat Freud
selbst erkannt, da er sich schließlich in seiner Untersuchung auf reale Erleb-
nisse und auch auf die Wirkung von Dichtungen, also Fiktionen, bezieht.
Der entscheidende Punkt besteht bei der Dichtung für Freud darin, ob der
Produzent der Dichtung sich darin »dem Anscheine nach auf den Boden der
gemeinen Realität« (vgl. Freud, 1919, S. 265) stellt oder diesen von Anfang
an und ganz offensichtlich verlassen hat, wie beispielsweise im Märchen. Die
Wirkung sei im ersten Fall die gleiche, wie wenn wir etwas wirklich erleben:

»Er [der Dichter] verrät uns dann gewissermaßen an unseren für über-
wunden gehaltenen Aberglauben, er betrügt uns, indem er uns die gemeine
Wirklichkeit verspricht und dann doch über diese hinausgeht. Wir reagieren
auf seine Fiktionen so, wie wir auf eigene Erlebnisse reagiert hätten; wenn
wir den Betrug merken, ist es zu spät« (Freud, 1919, S. 265).

Lediglich ein gewisses Ärgernis über den Betrug bleibe zurück, die Wir-
kung sei also keine reine. Wenn jedoch die Entdeckung der Täuschung für
Unmut sorgt, wie Freud nahelegt, stellt sich die Frage, weshalb eine Serie
wie Akte X auf solch großen Zuspruch trifft. Würden sich die Rezipien-
tInnen über den Betrug der Fiktion ärgern, so würden sie sich doch nach
kurzer Zeit von dieser abwenden? Einen Hinweis darauf, warum dem mög-
licherweise nicht so ist, finden wir wiederum bei Freud selbst, wenn er an-
merkt, »daß die Fiktion neue Möglichkeiten des unheimlichen Gefühls
erschafft, die im Erleben wegfallen würden« (Freud, 1919, S. 266). Mög-
licherweise besteht der Reiz von Akte X also darin, dass uns die Serie Erleb-
nisse auf der Ebene der Fiktion bietet, die wir im realen Erleben vermissen.
Dies angenommen, sollten wir uns Pfallers Aussage zu einem kultivierten
Umgang mit Illusionen vor Augen führen:

»[S]olche Fiktionen werden nicht entwickelt, um […] mit der Fiktion


ein für alle Mal Schluss zu machen. Vielmehr zeigt sich in den kulturellen

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

Formen des Unheimlichen und des Komischen die Fähigkeit, solche Fiktio-
nen als Fiktionen zu durchschauen und gerade deshalb liebevoll an ihnen
festzuhalten« (Pfaller, 2015, S. 272).

Anliegen des vorliegenden Beitrages (und des gesamten Sammelbandes) ist


es nicht nur, auf die individuelle und kollektive Rezeption der Serie einzu-
gehen, sondern auch die Frage zu stellen, welche Erfahrung von Bildung,
Entwicklung und Sozialisation die Serie ermöglicht. Betrachten wir Sozia-
lisation als »lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den
natürlichen Anlagen, die für den Menschen die ›innere Realität‹ bilden,
und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die
›äußere Realität‹ bilden« (vgl. Hurrelmann et al., 2015, S. 15f.), so liefert
die Psychoanalyse mit der Identifizierung ein Konzept, über welches sich
diese Aneignung der äußeren Realität erklären lässt. Unter Identifizierung
wird ein psychologischer Vorgang der teilweisen oder vollständigen An-
gleichung nach dem Vorbild einer anderen Person verstanden (Laplanche
& Pontalis, 1973, S. 219). Die beiden Figuren, die sich hinsichtlich der
Möglichkeit, sich mit ihnen zu identifizieren, anbieten, sind natürlich die
zwei ProtagonistInnen Scully und Mulder. Wiederholen wir deshalb knapp
die Eigenschaften der beiden Figuren: Agent Mulder ist eine extrem talen-
tierte, humorvolle und begeisterungsfähige Person, die jedoch auch etwas
Verschrobenes hat und deshalb teilweise den Ruf einer Witzfigur hat. Er
steht dem animistischen Denken nahe. Agent Scully ist ebenfalls extrem
talentiert, jedoch eher skeptisch und bedacht. Sie vertritt ein strikt wissen-
schaftliches und rationales Denken. Wichtig ist anzumerken, dass beide
Figuren, trotz der augenscheinlichen Differenzen und der immer wieder
zwischen ihnen auftretenden Uneinigkeit, sehr gut als Team funktionie-
ren. Die Serie liefert also zur Identifikationsmöglichkeit einen Gegenpol
und eine produktive Interaktion zwischen beiden. Insofern verdeutlicht
sie auch das, was als produktive Funktion des Konflikts bezeichnet werden
kann (vgl. Mentzos, 2017, S. 29).
In den Ausführungen zu den Handlungsmustern innerhalb der Serie
wurde bereits erläutert, dass ein zentrales Thema die Möglichkeit und Un-
möglichkeit des Wissens darstellt. Jede Folge zeigt den Versuch, Licht ins
Dunkel zu bringen, der letztlich jedoch nicht vollständig gelingt. Auf sze-
nischer Ebene wird diese Problematik ebenfalls deutlich: Es ist dunkel und
die zur Verfügung stehenden Taschenlampen erlauben immer nur die Er-
hellung kleiner Bereiche. Slavoj Žižek hat in Bezug auf die Mythologie der

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IV.2. Lars Steffes: Akte X

Serie darauf hingewiesen, dass diese stetige Unklarheit etwas für die Serie
Notwendiges und Unabdingbares ist:

»In ›Akte X‹ ist die Beziehung zwischen den Außerirdischen, die sich in
unser Leben einmischen, und der mysteriösen Regierungskraft, die darüber
informiert ist, völlig uneindeutig: Wer zieht tatsächlich die Fäden, Regie-
rungskraft oder Außerirdische? Benutzt die Regierungskraft die Außerirdi-
schen, um ihren Einfluss auf die Population zu erhöhen, oder kollaboriert sie
passiv, um Panik zu vermeiden, da sie hilflos ist und von ihnen in Schach ge-
halten wird? Der Punkt ist, dass die Situation offen, unentscheidbar bleiben
muss: Würden die (Wissens-)Lücken gefüllt werden, wenn wir den wirkli-
chen Stand der Dinge erfahren würden, so würde das gesamte symbolische
Universum von Akte X zerfallen« (Žižek, 2009, S. 203f.; Übers. d. Verf.).

Die Serie mutet ihren ZuschauerInnen einiges an Frustrationstoleranz zu,


da mit fast jeder neuen Folge eine neue Wissenslücke entsteht. Gewiss er-
fahren die ZuschauerInnen auch etwas über die Machenschaften, Struk-
turen und Vorhaben der Verschwörung und die Hintergründe einzelner
Fälle – aber wie bereits angeführt, bleibt immer ein Rest offen. Der Kreis
schließt sich nicht ganz und das frustriert. Die Serie tut dies jedoch in einer
mitreißenden und unterhaltsamen Form und erlaubt den ZuschauerInnen
insofern auf vergleichsweise angenehme Art, sich in der sonst eher mühsam
zu erlernenden Fähigkeit der Frustrationstoleranz zu üben.
Kommen wir zurück zur produktiven Funktion des Konflikts. Stavros
Mentzos beschreibt die individuelle Entwicklung als einen dialektischen
Prozess, »innerhalb dessen diese potenziell unvereinbar erscheinenden
Gegensätzlichkeiten bzw. Bipolaritäten immer wieder integriert oder –
besser gesagt – ausbalanciert werden, wodurch Erneuerung, Dynamik,
Fortschritt und Differenzierung gewährleistet sind« (Mentzos, 2017,
S. 29). Der dialektische Prozess beinhalte jedoch auch die Gefahr einer
rigiden und letztlich blockierenden Entweder-oder-Haltung (vgl. Ment-
zos, 2017, S. 29). In Akte X finden wir mit Agent Scully und Agent
Mulder die beiden Seiten des Spannungsfelds zwischen Mythos und
Logos – oder zwischen psychischer und faktischer Realität – verkörpert.
Beiden Polen wird in der Serie Platz eingeräumt. Ein Entweder-oder ist
nicht notwendig, stattdessen wird durch die Serie ein Sowohl-als-auch
ermöglicht, in welchem beide Pole nebeneinander existieren können.
Dadurch wird die permanente innere Spannung zwischen ihnen aufgeho-

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

ben. Für die RezipientInnen lässt sich der Serie deshalb eine entlastende
Funktion zuschreiben.

Zusammenfassung der Ergebnisse

Akte X wird als Serie dem Mystery-Genre gerecht. Sie erzeugt eine Stim-
mung des Unheimlichen und Mysteriösen, indem sie die Grenze zwischen
Realität und Fantasie verwischt. Die Hauptfiguren tappen metaphorisch
wie buchstäblich in jeder Episode aufs Neue im Dunkeln und müssen sich
stets fragen, wem sie Vertrauen schenken können. In ihrer Arbeitsweise
könnten sie kaum unterschiedlicher sein, ergänzen sich jedoch gut und
sind als Team dementsprechend erfolgreich.
Als ZuschauerIn wird man beim Sehen der Serie zu paranoidem Denken
gezwungen, wird durch die zahlreichen Monster mit der unbequemen To-
desthematik konfrontiert und muss eine Fülle an Unklarheit aushalten.
Daneben werden den RezipientInnen aber auch zwei charismatische und
talentierte Identifikationsfiguren zur Verfügung gestellt, und die Serie er-
möglicht ihnen ein unheimliches Erlebnis, wie sie es im realen Leben ver-
missen. Weiterhin ermöglicht die Serie auch eine Spannungsaufhebung, die
die RezipientInnen nur in der virtuellen Welt erfahren: Zwei Pole, Mythos
und Logos beziehungsweise psychische und faktische Realität, können ne-
beneinander existieren.

Bibliographie

Freud, S. (1919). Das Unheimliche. GW XII. S. 229–268.


Hurrelmann, K., Bauer, U. (2015). Einführung in die Sozialisationstheorie. Das Modell der
produktiven Realitätsverarbeitung. Basel: Beltz.
Laplanche, J., Pontalis, J. B. (1973). Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt/Main:
Suhrkamp.
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chischer Störungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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IV.2. Lars Steffes: Akte X

The X-Files Wiki. https://www.x-files.fandom.com (02.12.2019).


Žižek, S. (2009). The plague of fantasies. London: Verso.

Biografische Notiz
Lars Michael Steffes, Master of Arts in Erziehungs- und Bildungswissenschaft an der
Universität Innsbruck. Sozialpädagogischer Mitarbeiter der Therapeutischen Jugend-
wohngruppe bei SOS-Kinderdorf und Ausbildungskandidat am Psychoanalytischen
Seminar Innsbruck (PSI).

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IV.3. Stranger Things
Pubertierende Jugendliche?
Psychoanalytische Betrachtungen

Nina Kemereit

Stranger Things ist eine US-amerikanische Science-Fiction-Mystery-Serie,


die seit 2016 von Netflix produziert wird und mittlerweile drei Staffeln
umfasst. Sie konnte sich als eine der beliebtesten Serien aller Zeiten etab-
lieren und besticht durch nostalgische Anspielungen, eine spannende Er-
zählung sowie moderne Spezialeffekte, die die dargestellten Monster täu-
schend echt wirken lassen. Stranger Things begeistert nicht nur das jüngere
Publikum, sondern kann auch ältere Generationen ansprechen. In den fol-
genden Abschnitten werden Narration und Figuren der Serie psychoanaly-
tisch betrachtet und als Darstellung adoleszenter Entwicklungsdynamiken
interpretiert. Abschließend werden implizit-unbewusste Botschaften ans
Publikum diskutiert.

Die Narration der ersten und zweiten Staffel

Die Erzählung von Stranger Things spielt in den 1980er Jahren und ver-
folgt eine Gruppe elfjähriger Burschen (Mike, Lucas, Dustin), die sich
auf der Suche nach ihrem Freund Will befinden, der gleich zu Beginn der
ersten Folge spurlos verschwindet. Dabei werden sie mit mysteriösen Er-
scheinungen konfrontiert, darunter das Auftauchen eines Mädchens, das
die Nummer elf auf ihren Unterarm tätowiert hat. Wie sich herausstellt,
verfügt das von den Buben Elf genannte Mädchen über psychokinetische
und telepathische Kräfte und hilft bei der Suche nach Will. An der Such-
aktion nach Will sind ebenso dessen Mutter Joyce, sein älterer Bruder Jo-
nathan und der örtliche Polizeichef Hopper beteiligt. Mithilfe einer Lich-
terkette gelingt es Joyce, mit Will zu kommunizieren, und sie gewinnt so
die Überzeugung, dass dieser am Leben ist. Sie vermutet bald, dass das in
der Nähe des Orts befindliche Forschungslabor etwas mit dem Verschwin-

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

den ihres Sohnes zu tun hat. Wie sich herausstellt, ist Elf aus dem Labor in
Hawkins geflohen, wo sie mit ihren Kräften das Tor zu einer anderen Di-
mension geöffnet hat, die als Upside-Down oder Schattenwelt bezeichnet
wird. Gefangen in dieser Welt, wird Will von dem darin lebenden Mons-
ter, dem Demogorgon, bedroht. Mit vereinten Kräften kann Will am Ende
der ersten Staffel von Hopper und Joyce gerettet werden, während Elf das
Monster erfolgreich bekämpft und die Verbindung zum Upside-Down
wieder verschließt. Elf taucht daraufhin in den Wäldern von Hawkins
unter. Das Ende der ersten Staffel zeigt einen mittlerweile erholten Will
im Kreis seiner Familie zum Weihnachtsfest. Als er sich auf der Toilette die
Hände wäscht, wird ihm übel und er spuckt etwas Schleimiges, Schnecken-
ähnliches aus, das schließlich im Abfluss verschwindet.
Die zweite Staffel beginnt einige Monate später. Gleich am Anfang sorgt
eine neue Mitschülerin namens Max, die besonders bei Dustin und Lucas
auf großes Interesse stößt, für Zwietracht in der Freundesgruppe. Mike ist
wegen des Verschwindens von Elf noch immer verzweifelt und deprimiert;
Will, bei dem häufig Erinnerungen ans Upside-Down hochkommen, kann
nicht mit den Vorfällen des letzten Jahres abschließen. Bob, der neue Part-
ner von Joyce, denkt, Will leide an Angstfantasien, und rät ihm, sich seiner
Angst vor der Schattenwelt zu stellen. Als Will nicht mehr davonläuft, wird
er von einem neuen Monster, dem Gedankenschinder (Mind Flayer), in
Besitz genommen. Will verändert sich daraufhin rapide, wird aggressiv und
scheint nicht mehr er selbst zu sein. Während Will immer tiefer ins Up-
side-Down gesogen wird, entdeckt Sheriff Hopper ein massenhaftes Ster-
ben von Pflanzen in der Umgebung von Hawkins. Es stellt sich bald heraus,
dass sich das Upside-Down in einem vom Forschungslabor ausgehenden
Tunnelsystem ausbreitet; bevölkert wird dieses von hundeähnlichen Mons-
tern. Nachdem sich Wills Zustand zunehmend verschlechtert, wird er ins
Labor gebracht, wo sich herausstellt, dass der Mind Flayer Will zu einem
Teil der Schattenwelt gemacht hat. Der Gedankenschinder nutzt Will als
Spion, um das Labor anzugreifen. Im Kampf gegen die Demohunde ge-
lingt es Hopper, Joyce und Mike, Will aus dem Labor zu retten, allerdings
nur dank Bob, der sich heldenhaft aufopfert. Gemeinsam mit den anderen
Jugendlichen machen sie sich auf den Weg, um das Upside-Down und den
Mind Flayer ein für alle Mal zu besiegen und Will von diesem zu befreien.
Elf, die während der gesamten Zeit in Hoppers Obhut in einer kleinen
Hütte im Wald gelebt hat, hat in der Zwischenzeit ihre Mutter und ihre
Schwester aufgesucht, von der sie gelernt hat, ihre Kräfte besser zu kontrol-

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IV.3. Nina Kemereit: Stranger Things

lieren. Die Schwester will Elf davon überzeugen, sich ihrem Rachefeldzug
gegen die ehemaligen Peiniger anzuschließen, Elf weigert sich jedoch und
kehrt nach Hawkins zurück. Gemeinsam mit Hopper geht sie ins Labor
zurück und kämpft gegen die Schattenwelt, während der Gedankenschin-
der aus Will vertrieben wird. Mit all ihren Kräften verbannt sie den Ge-
dankenschinder und die Demohunde in die Schattenwelt und verschließt
das Tor zur anderen Dimension. Am Ende der Staffel befinden sich die
Freunde auf dem Abschlussball der Schule. Dort kommt es auch zur lang
ersehnten Wiedervereinigung von Elf mit Mike. Der glückliche Ausgang
wird erneut kurz getrübt durch das Auftauchen des alle umgebenden Up-
side-Downs.

Stranger Things und die adoleszente Phase

Upside-Down oder Schattenwelt, Demohunde, Demogorgon und Mind


Flayer sind Figuren aus einem Pen-&-Paper-Rollenspiel namens Dun-
geons and Dragons. Stranger Things bedient sich unheimlicher Monster aus
einem Fantasy-Spiel, um den Grusel des Kampfs einer Gruppe zu Beginn
der Serie elfjähriger Burschen darzustellen, die gegen etwas Größeres,
etwas vermeintlich Böses kämpfen. So gesehen erzählt die Serie aber auch
von Entwicklungsprozessen, die jeder Adoleszente durchlaufen muss. Im
Kampf der Jugendlichen gegen die Monster werden jene Konflikte auf die
Leinwand gebracht, die sich in der Psyche aller Adoleszenten abspielen. Die
gesamte Serie lässt sich als symbolisch-szenische Darstellung der Jugendzeit
interpretieren, in der »es zu einem neuerlichen Aufwallen aller infantilen
Partialtriebe« kommt. »Bereits verdrängt geglaubte orale, anale, genitale,
ödipale, exhibitionistische und voyeuristische Tendenzen werden wieder-
belebt. In der Pubertät ringen also die sexuellen Strebungen der Kindheit
mit den Hemmungen der Latenz« (Poscheschnik, 2016, S. 40). Die Serie
greift, wenn man so will, diesen fundamentalen Grundkonflikt der Ado-
leszenz auf, stellt die Triebkräfte als externalisiertes, umgebendes Böses dar
und zeigt schließlich, dass die zivilisierten Anteile, also das »Gute«, diesen
Kampf gewinnen können. Es ist ein allmählich vonstattengehender Prozess
zunehmender Integration körperlicher Veränderungen, sich reformieren-
der Beziehungsmuster und zuvor verdrängter Konflikte, die zuerst als von
außen kommend erlebt, dann aber durch zunehmende Akzeptanz verinner-
licht werden. Das Spiel der Triebe aktiviert einen Lernprozess, der anfangs

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

bedrohlich und angsteinflößend ist, da der Wandel und die Veränderung


der jugendlichen Lebenswelt noch nicht konstituiert ist; deshalb klammert
sich der Jugendliche zuerst noch an bestehende Bindungen und Muster.
Es scheint daher wenig verwunderlich, dass selbst die Namen der be-
drohlichen Monster allesamt aus einem bereits vertrauten Spiel geschöpft
werden. Dadurch entsteht ein geschützter Rahmen, ein Übergangsraum,
in dem der Kampf, der übernatürlich und extrem bedrohlich imponiert,
ausgefochten werden kann.
In der Adoleszenz kommt es allerdings nicht nur zu einem erneuten
Aufwallen und Erstarken der Triebe, sondern auch zu einer Zunahme der
psychischen Kapazitäten, die es erlauben, die Kräfte aus dem Es zu verar-
beiten. Mit dem einsetzenden Mentalisierungsschub (Fonagy et al., 2008)
wird auch die Fähigkeit zur Differenzierung vorangetrieben:

»Die Schritte der Ablösung, des Aushandelns neuer Beziehungsformen mit


den Eltern […] und der Identitätsentwicklung gehen mit charakteristischen
Veränderungen der Beziehung des Jugendlichen zu sich selbst und zu seiner
Umwelt einher. Die Veränderungen sind Folge der sich verändernden Selbst-
konfiguration im Verhältnis zu inneren und äußeren Objekten« (Streeck-Fi-
scher, 2016, S. 320).

Diese Differenzierungsprozesse führen nicht nur zur Neuinterpretation


von Beziehungsformen, sondern auch von innerpsychischen Strukturen,
darunter die der bestehenden Ideale. Die einzelnen Rollen verkörpern un-
terschiedliche Aspekte der intra- und interpsychischen Dynamik. Anhand
von zwei ausgewählten Figuren aus der Serie und ihren Relationen zu an-
deren sollen typische Entwicklungsdynamiken der Adoleszenz illustriert
werden:
Will Byers repräsentiert in der Serie jenen Burschen, der von dieser
neuen, anderen Welt komplett eingenommen, übermannt und bedroht
wird. Dabei steht er für alle, die von einem Moment zum anderen aus der
Latenzzeit mit unerwarteter Wucht in die nun erwachende triebhafte und
konflikthafte Welt der adoleszenten Phase geworfen werden.
Die Frage, weshalb es ausgerechnet die Figur von Will ist, deren Ent-
wicklungsprozess auf extreme Weise dargestellt und externalisiert wird,
lässt sich mit dem Blick auf die Vorgeschichte von dessen Bindungs- und
Beziehungsmuster verständlich machen. Will ist in der Serie der zweite
Sohn von Joyce und scheint sehr behütet aufzuwachsen. Die Beziehung zur

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IV.3. Nina Kemereit: Stranger Things

Mutter ist damit sehr nah und innig, teilweise lassen sich auch Tenden-
zen einer mütterlichen Bevormundung, ja Überbehütung, finden. Auch
zu seinem älteren Bruder Jonathan hat Will eine enge Beziehung. Selbiger
verfügt über keinen nennenswerten Freundeskreis und gilt als Eigenbröt-
ler. Forciert wird die Intensität und Enge der dyadischen und familiären
Beziehungsdynamiken durch einen beinahe gänzlich fehlenden Vater. Eine
triadische Beziehungswelt, die Individuation und Autonomie des Kindes
gefördert hätte, indem der Vater eine Beziehungswelt jenseits der Symbiose
mit der Mutter offeriert (s. z. B. Rotmann, 1978), konnte sich deshalb nicht
etablieren. Für diese Annahme spricht auch die Beziehung zwischen Jona-
than und Joyce. Es mag ein wenig übertrieben sein, von Parentifizierung
zu sprechen, aber ihm scheint vielfach die Aufgabe zuzukommen, seine
unorganisierte, chaotische und hilfsbedürftige Mutter zu unterstützen.
Jedenfalls muss der ältere Sohn von Beginn an eigenständig und autonom
handeln, während sich die Mutter liebevoll, beschützend und aufopfernd
um ihr jüngeres Kind kümmert. Die negativen Anteile werden vom früh-
adoleszenten Jugendlichen Will auf ein Böses außerhalb der Dyade proji-
ziert, da ein Aufgeben der Abhängigkeitsbeziehung noch nicht denkbar ist
(vgl. Streeck-Fischer, 2016, S. 321f.). Selbst als Will sich schon im Upside-
Down befindet, also von der Mutter getrennt ist, kann diese mit ihm eine
exklusive Kommunikation über eine Lichterkette aufbauen. Das heißt,
diese Szenen verweisen auf eine bereits vollzogene Loslösung, die im selben
Atemzug aber konterkariert wird.

»[E]inige Bereiche, zu denen die Beschäftigung mit körperlichen Verände-


rungen und der erwachenden Sexualität gehören, werden jedoch von der
früheren Abhängigkeit von den Eltern ausgespart und abgeschirmt und
schaffen eine zweite Wirklichkeit. Die Abschirmung, ausgelöst durch die
Schamkrise und die Distanzierung von den elterlichen Vorstellungen und
deren Introjekten, die bis dahin anleitende Funktionen hatten, die soziale
Wirklichkeit definierten und Werte bestimmten und bestätigt haben, sind
erste Schritte der Loslösung« (Streeck-Fischer, 2016, S. 321f.).

Wills in der ersten Staffel erwachenden Triebe sind für ihn angsteinflößend.
Um an der mütterlichen Beziehung festzuhalten, braucht er die phantas-
matische zweite Wirklichkeit, in die er alle bösen und bedrohlichen An-
teile abschieben kann. Mit der Rettung Wills aus dem Upside-Down durch
Joyce und Hopper am Ende der ersten Staffel wird er vorerst erneut in das

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

sichere Nest zurückgeholt, das weder Mutter noch Sohn aufgrund ihrer
wechselseitigen Verstrickung und Abhängigkeit verlassen wollen.
Da jedoch die Loslösung unabdingbar für die Möglichkeit neuer Bin-
dungen ist, kommt es in der zweiten Staffel erneut zur Reinszenierung
des ödipalen Konflikts. Diese adoleszenten »Wiederbelebungen ödipa-
ler Dreieckskonstellationen, die vor dem Hintergrund der fantasierten
Urszene der Kindheit […] erfahren werden«, bestimmen »im Wechsel
zwischen wiederholender Inszenierung und Neuschöpfung den Adoles-
zenzverlauf maßgeblich« (Streeck-Fischer, 2016, S. 329). Nachdem Will
in der ersten Staffel schon mit der Hilfe des symbolischen Vaters Hopper
gerettet wird, der allerdings nicht zum Partner von Joyce wird, tritt in
der zweiten Staffel Bob in Erscheinung, der als neuer Lebensgefährte von
Joyce als symbolischer Vater (vgl. Pagel, 1989, S. 96ff.) fungiert. Er kann
sich allerdings auch nicht längerfristig als Ersatzvater und Rivale etablieren
und findet ähnlich dem Vater in der Ödipus-Sage ein jähes Ende. Bevor es
dazu kommt, bringt Bob durch die Triangulierung aber die Narration der
zweiten Staffel ins Rollen, indem er Will den gut gemeinten väterlichen
Rat gibt, sich dem Monster zu stellen. Dieser Schlüsselmoment demons-
triert die Aufgabe des Vaters: Er stellt sich zwischen die mütterlich-kind-
liche Beziehung und drängt den Sohn, sich von ihr abzulösen. Zugleich
stellt der Vater im Idealfall ein Objekt zur Identifikation zur Verfügung,
das dem Kind Trost für den Verlust und Verheißung einer erfüllten Zu-
kunft bieten kann (vgl. Freud, 1923a, S. 276ff.). In dem Moment, in dem
Will vor den als verfolgende Monster symbolisierten Trieben nicht mehr
davonläuft, sondern sich ihnen stellt, wie es Bob empfiehlt, fahren sie in
seinen Körper, übernehmen die Kontrolle über ihn und werden somit zu
einem Teil von ihm. Auch dieser Schritt ist entscheidend im adoleszenten
Entwicklungsprozess. Die anfänglich auf äußerliche Symbole und Objekte
projizierten Triebe müssen integriert werden. Das heißt, der Umgang mit
ihnen kann nur erlernt werden, wenn man sie auch annimmt. In der er-
neuten Wiederbelebung des Ödipuskonflikts wird der symbolische Vater
Bob über die Repräsentanten der Triebe (Demohunde und Gedanken-
schinder) umgebracht; Bob ist ein symbolisches Opfer für das universale
Gesetz des Vaters (vgl. Lacan, 1991, S. 198f.). Die Verinnerlichung des vom
getöteten Vater verkörperten Inzesttabus ermöglicht den Zivilisationspro-
zess (vgl. Pagel, 1989, S. 97). Auch die Serie zeigt diese Entwicklung: Die
Beziehung zwischen Mutter und Sohn verändert sich enorm im Verlauf
der beiden Staffeln. Die Kommunikation zwischen den beiden wirkt am

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IV.3. Nina Kemereit: Stranger Things

Ende wie gekappt, und Will sucht nicht mehr die Nähe zu seiner Mutter.
Er ist selbstständiger und autonomer geworden. In der Schlussszene wird er
am Abschlussball sogar von einem Mädchen als Zombieboy angesprochen
und zum Tanz aufgefordert; er kann also neue Beziehungen außerhalb der
Dyade mit der Mutter eingehen (vgl. Pagel, 1989, S. 101). Auch die Be-
ziehung zu seinem Bruder ist wie ausgewechselt. Während am Ende der
ersten Staffel noch die Rückkehr in alte Beziehungsmuster möglich zu sein
scheint, wird am Ende der zweiten Staffel klar, dass sich die Brüder nun
verändert haben und unabhängiger gegenüberstehen. Will hat die erste
Phase der Adoleszenz überstanden, und die Loslösung von alten Bildern,
alten Idealen, zuvor vorhandenen Bindungen hat begonnen. Das nun ein-
setzende Begehren wird zum Motor der Entwicklung und ermöglicht neue
Lernerfahrungen.
Abschließend soll noch auf Sheriff Jim Hopper eingegangen werden,
der ebenfalls eine adoleszente Entwicklungsdynamik verkörpert. Obwohl
schon biologisch erwachsen, durchläuft er im Verlauf der Serie doch eine
adoleszente Entwicklung vom Lustprinzip zum Über-Ich. Es zeigt sich,
dass infantile Tendenzen aufgegeben werden zugunsten übergeordneter
gesellschaftlicher Werte. Hopper wird anfangs als etwas fauler und nach-
lässiger Polizeichef von Hawkins eingeführt, der kaum auf sich selbst und
auch nicht auf andere Rücksicht nimmt. So gesehen verkörpert er das Lust-
prinzip.

»Das Lustprinzip bleibt dann noch lange Zeit die Arbeitsweise der schwerer
›erziehbaren‹ Sexualtriebe, und es kommt immer wieder vor, daß es, sei es
von diesen letzteren aus, sei es im Ich selbst, das Realitätsprinzip zum Scha-
den des ganzen Organismus überwältigt« (Freud, 1920g, S. 6).

Mit dem Verlauf der Erzählung und den Erfahrungen, die Hopper macht,
wandelt er sich zu einem sehr aktiven und seine Rolle ernst nehmenden
Hüter des Gesetzes. Hier geht es weniger um das Polizeigesetz und mehr
um ein universales Gesetz, das ihn zu verpflichten scheint, Beschützer aller
beteiligten Charaktere in der Serie zu werden. Dieser Aufgabe kommt er
selbstlos nach. Dabei steht er symbolisch für das regulierende und herr-
schende Über-Ich, das gütig, jedoch ebenso strafend sein kann.

»Das Über-Ich ist ja durch eine Identifizierung mit dem Vatervorbild ent-
standen. Jede solche Identifizierung hat den Charakter einer Desexualisie-

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

rung oder selbst Sublimierung. Es scheint nun, daß bei einer solchen Um-
setzung auch eine Triebentmischung stattfindet. Die erotische Komponente
hat nach der Sublimierung nicht mehr die Kraft, die ganze hinzugesetzte
Destruktion zu binden, und diese wird als Aggressions- und Destruk-
tionsneigung frei. Aus dieser Entmischung würde das Ideal überhaupt den
harten, grausamen Zug des gebieterischen Sollens beziehen« (Freud, 1923b,
S. 284f.).

Seine Rolle wird dementsprechend wichtiger und stärker, je stärker sich die
Triebe gebärden. Deutlich wird dies zu Beginn der zweiten Staffel, als er
versucht, Elf in beschützender, aber gleichzeitig extrem einschränkender
Weise klein und gering zu halten. Ebenso kümmert sich Hopper zu dieser
Zeit um Will und versucht auch hier dessen destruktive Energien ruhigzu-
halten. Es ist wohl auch kein Zufall, dass Hopper als die überwachende Ins-
tanz der Erste ist, der entdeckt, dass das Upside-Down erneut wiederkehrt.
Auch Hopper muss erst lernen, mit dem Aufbegehren der beiden Triebe
umzugehen; Elf als Eros und Will als Thanatos lehren ihn, dass völlige
Unterdrückung keine Lösung ist. Auch hier ist die Endszene aufschluss-
reich: Hopper steht als Beschützer und Gesetz vor der Turnhalle, wo der
Ball stattfindet, er greift jedoch nicht ins Geschehen ein und vertraut, dass
die Charaktere ihn als regulierendes Prinzip verinnerlicht haben.

Stranger Things – ein Seherlebnis der besonderen Art

Abschließend soll die Frage behandelt werden, weshalb die Serie weltweit
von Millionen von Zusehern verfolgt wird, von denen die Mehrzahl längst
ein Alter jenseits von Adoleszenz und Pubertät im engeren Sinne erreicht
hat. Oder anders gefragt, was macht eine Serie, deren Hauptcharaktere
zum überwiegenden Teil nur knapp über zehn Jahre alt sind, für ein mehr
oder weniger erwachsenes Publikum so interessant?
Vereinfacht gesagt ist es das universale Moment der Adoleszenz, das alle
begleitet, die diese Phase bereits erlebt und durchlebt haben. Der Psycho-
analyse zufolge verschwinden die dominierenden Themen von Entwick-
lungsphasen nach ihrem Ende nicht völlig aus der Psyche, sondern blei-
ben im Unbewussten lebendig (Poscheschnik, 2016). In der Serie werden
psychologische Prozesse und Dynamiken verbildlicht, die sich innerhalb
einer Zeit abspielen, in der Worte zu ihrer Beschreibung noch fehlen. Alles

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IV.3. Nina Kemereit: Stranger Things

wirkt erst einmal bedrohlich, gefährlich und neu, ist aber unabwendbar.
Der Körper wandelt sich und ebenso die Beziehungen, die nie wieder sein
werden wie zuvor. Das anfängliche Spiel wird zum Ernst des Lebens, mit
Aufgaben, die bewältigt werden müssen. All dies verpackt die Serie mit
fantastischen Filmeffekten, einer gelungenen Narration und vielschichti-
gen Charakteren, die Raum und Möglichkeit zur Identifizierung bieten.
Mit nostalgischen Referenzen auf vertraute, popkulturelle Filme, Spiele
und Gegenstände werden die Zuseher abgeholt. Die ganze Szenerie der
80er Jahre bietet nostalgische Referenzen an eine Zeit, in der heute 30- bis
50-Jährige Teile ihrer Kindheit und Jugend verbracht haben. Aufbauend
auf diesem vertrauten Rahmen, der Sicherheit und Stabilität gewährleistet
(s. Winnicott, 1985), können sich die dem Unheimlichen, den ins Unbe-
wusste verdrängten Trieben und Konflikten erneut stellen. In der Betrach-
tung der Serie wird eine persönliche und historische Vorzeit aufgearbeitet,
die vom Großteil des Publikums bereits durchlebt wurde. Aufgrund dessen
erahnen die Zuseher bei der Betrachtung der Serie, dass alles einen guten
Ausgang nehmen wird, denn auch ihre adoleszente Phase ist überstanden
und konnte bewältigt werden. Unbewusst wird dies mit dem positiven
und sich zum Guten wendenden Grundtonus vermittelt, der immerzu die
Narration sowie die Charaktere begleitet. Denn mit übernatürlichen Be-
schützern, einer aufopfernden Mutter, einem helfenden Hopper und einer
Gruppe von Freunden, die immer zur Seite stehen, ist alles zu bewältigen.
Die erste Folge ist unheimlich, überwältigend und überfordernd und steht
sinnbildlich für das Ende der Latenzzeit und den Anfang der Adoleszenz.
Das gute Gefühl zieht sich jedoch durch die gesamte Serie, die dem Zu-
seher mit dem wiederholten Sieg des Guten auch bestätigt, dass sich alles
hin zum Positiven wendet. Das Narrativ zeigt einen Sieg des Zivilisations-
prozesses über das Triebhafte. Dadurch wird dem Zuseher bestätigt, dass
er selbst bereits etwas Bedeutendes errungen hat und der Sieg der Kultur
der richtige Weg war. Die Serie hat somit einen spezifischen Erziehungs-
effekt beim Publikum, der sich je nach Altersgruppe unterscheidet: Einer-
seits wirkt sie affirmativ für Personengruppen, die bereits die adoleszente
Phase bewältigt haben; diese werden darin bestärkt, dass sie mit der Trieb-
kontrolle den richtigen Weg gewählt haben. Andererseits könnte die Serie
eine Vorbildfunktion und einen Lerneffekt für Altersgruppen haben, die
sich in der Adoleszenz befinden; diesen wird der Weg zu Triebregulation
und Zivilisation gewiesen und Bewältigungsstrategien dorthin gezeigt (vgl.
Streeck-Fischer, 2016, S. 317).

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Teil IV: Übersinnlich und übernatürlich. Über Mystery, Fantasy und Horror

Bei der Betrachtung der Serie kann das Publikum ein externalisiertes
Abenteuer erleben, bei dem starke und furchtlose Charaktere mit jugend-
licher Leichtigkeit fantasievolle Dramen meistern. Dabei können sich die
Zuseherin und der Zuseher mit vielschichtigen Charakteren (vgl. Ham-
burger & Hahm, 2017, S. 257) identifizieren, die selbst keine Superhelden,
geschweige denn besonders beliebt sind. Es sind lediglich relativ normale
elfjährige Buben, die ihre Nachmittage damit verbringen, zusammen zu
spielen und sich Fantasiewelten aufzubauen. Auch die dargestellten Mäd-
chen, darunter zum Beispiel die burschikose und charakterstarke Max,
stellen attraktive Identifikationsangebote für die Zuseherinnen dar. Gene-
rell werden weibliche Rollen als starke, aktive und mutige Frauen heraus-
gearbeitet, die nicht vor Herausforderungen zurückschrecken. Auch dies
könnte ansprechend auf das Publikum wirken, denn mit den verlängert
wahrgenommenen Abenteuern kann jeder Heldin oder Held sein. Und
genau dieses Gefühl spiegelt und vermittelt die Serie den Zusehern, die
diesen Prozess der Adoleszenz bereits erfolgreich gemeistert haben. Somit
begleitet das Publikum Kinder, die zu jungen Erwachsenen und schluss-
endlich zu vollständigen Mitgliedern der Gesellschaft werden. Retrospek-
tiv sehen sich die Zuschauer selbst, betrachten sich über die Verlängerung
der Serie in der eigenen Adoleszenz. Mit möglichen Regressionen in noch
unbewältigte Phasen ist der in der Serie dargestellte Grusel somit ein Spie-
gel: Denn der beste Horror kommt von eigenen Ängsten und eigenen Be-
fürchtungen (Freud, 1919h; Kappelhoff, 2002). Wenn gewisse Folgen zu
unheimlich für Zuseherinnen oder Zuseher erscheinen, so könnte dies ein
Hinweis auf mögliche ausstehende Bewältigungskonflikte sein.
Stranger Things mag oberflächlich eine Serie voll Fantasy und Mystery
gepaart mit Horror sein, in ihrem narrativen Kern zeigt sie jedoch die uni-
versale Erfahrung der Adoleszenz. Sie zeigt Entwicklungskonflikte und
Bewältigungsprozesse, die extrem persönlich und individuell zu sein schei-
nen und doch sehr allgemein sind. Mit der vielschichtigen Aufbereitung
der Bilder und Ängste aus der adoleszenten Phase ist es jeder Zuseherin
und jedem Zuseher möglich, sich darin zu spiegeln und möglicherweise
einen Konflikt erneut auszuleben und zu bewältigen. Die Serie als popu-
läre und kulthafte Geschichte zeigt nicht nur eine Möglichkeit des Lernens
und der Erziehung, sondern sie ist darüber hinaus gefüllt mit traditionellen
und kulturellen Werten, die Stabilität und Sicherheit kombiniert mit tole-
rierbarer Spannung bieten. Sie ist durch und durch konservativ mit einem
eindeutig linearen Ausgang hin zur Triebkontrolle. Für ein spannenderes

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IV.3. Nina Kemereit: Stranger Things

Ende und Bilder, die dem Imaginären aufgrund des Über-Ichs nicht mög-
lich sind, fordere ich daher: Lasset die Triebe gewinnen!

Bibliographie

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Biografische Notiz
Nina Kemereit, BA, MA, Studium der Erziehungs- und Bildungswissenschaften an der
Universität Innsbruck. Schwerpunkt im Bereich Psychoanalyse und Neue Medien.
Psychoanalytische Studien zu sozialen Netzwerken (z.B. Instagram) und Fernsehserien.
nina.kemereit@yahoo.at

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Silvia Herb
Psychoanalytiker im Spielfilm
Mediale Darstellungen einer Profession

Seit Anbeginn der Filmgeschichte


bevölkern Psychoanalytikerinnen
und Psychoanalytiker die Lein-
wand.
Wie kann man dieses anhaltende
Interesse erklären? Was fasziniert die
Gesellschaft an diesem Beruf ?
Populäre Medien thematisieren
häufig Aspekte professioneller Rollen,
die dem Publikum nachhaltiges Un-
behagen bereiten. Das beharrliche In-
teresse an Psychoanalysedarstellungen
im Film kann daher aus soziologischer
Perspektive als anhaltendes Unbehagen
der Gesellschaft gegenüber der Psycho-
analyse interpretiert werden. Silvia
Herb untersucht im vorliegenden Band
eine Reihe bekannter Hollywoodfilme
der letzten 30 Jahre – wie Analyze This,
Nuts oder What about Bob? – und arbei-
2012 · 346 Seiten · Broschur tet das darin zum Ausdruck kommende
ISBN 978-3-8379-2173-1 Verhältnis zwischen Psychoanalyse und
Gesellschaft detailliert heraus.

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Konrad Heiland, Theo Piegler (Hg.)
Der Soundtrack unserer Träume
Filmmusik und Psychoanalyse

Dieses Buch wird Ihnen die Ohren


öffnen!
Erst in den letzten Jahrzehnten begann
die psychoanalytische Auseinanderset-
zung mit Film und Musik. Insbesondere
Soundtracks von Filmen wurde bisher
wenig Beachtung geschenkt. Dabei ist die
Gestaltung der Tonspur wesentlich für
die emotionale und ästhetische Wirkung
eines Films.
Im vorliegenden Band untersuchen
renommierte MusikwissenschaftlerIn-
nen und PsychoanalytikerInnen Film-
musik von ihrer Komposition über de-
ren Wirkung – auch der von Stille oder
Geräuschen – bis hin zu ihrer Rezeption
im Rahmen des audiovisuellen Gesamt-
kunstwerks. Zur Veranschaulichung wer-
den zahlreiche Filmbeispiele, wie Disneys
Fantasia (1940), The Shining (1980) oder
2013 · 271 Seiten · Broschur The Artist (2011), herangezogen.
ISBN 978-3-8379-2295-0
Mit Beiträgen von Stephan Brüggenthies,
Helga de la Motte-Haber, Christina
Fuchs, Konrad Heiland, Johannes
Hirsch, Mathias Hirsch, Matthias Horn-
schuh, Andreas Jacke, Irene Kletschke,
Hannes König, Sebastian Leikert, Theo
Piegler, Enjott Schneider und Willem
Strank

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Andreas Hamburger
Filmpsychoanalyse
Das Unbewusste im Kino – das Kino im Unbewussten

Was erleben wir, wenn wir einen Film


anschauen? Wieso und auf welche Art
und Weise identifizieren wir uns mit den
ProtagonistInnen? Und wie steuern Fil-
me unsere Affekte? Andreas Hamburger
untersucht aus psychoanalytischer Sicht
die subjektive Filmerfahrung. Ausgehend
von Alfred Lorenzers Übertragung des
Szenischen Verstehens auf die Kultur-
analyse entfaltet er systematisch die
Methode der Filmpsychoanalyse aus der
Begegnung des Betrachters mit dem
Werk. Anhand zahlreicher Beispiele ent-
wickelt er ein methodisches Vorgehen
für eine psychoanalytische Filminterpre-
tation, diskutiert Einzelaspekte des Me-
diums – wie Schnitt, Raum- und Zeit-
gestaltung etc. – und stellt Ansätze der
Filmpsychoanalyse und Kinotheorie in
2018 · 403 Seiten · Broschur eine systematische Perspektive.
ISBN 978-3-8379-2673-6 Dabei zeigt sich: In der Praxis der In-
terpretation ist es oft das Verlorengehen
im Text, das Chaos, das Nichtverstehen,
das schließlich erst die neue und über-
raschende Anordnung des Materials er-
möglicht, die als psychoanalytische Inter-
pretation bezeichnet werden kann.

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