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Herausgegeben von:
Sara Fürstenau
Mechtild Gomolla
Migration
und schulischer
Wandel: Unterricht
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1. Auflage 2009
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cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
ISBN 978-3-531-15376-6
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Kapitel 1
Mechtild Gomolla
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Kapitel 2
Ulrike Hormel, Albert Scherr
Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 45
Kapitel 3
Sara Fürstenau
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Kapitel 4
Petra Hild
Kooperatives Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Kapitel 5
Therese Halfhide
Teamteaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Kapitel 6
Agi Schründer-Lenzen
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Unterrichtsbedingung . . . . . 121
Kapitel 7
Tanja Tajmel
Ein Beispiel: Physikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Kapitel 8
Sabine Mannitz
Politische Sozialisation im Unterricht:
ein europäischer Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
• Elternbeteiligung
• Unterricht
• Mehrsprachigkeit
• Leistungsbeurteilung
• Stadtteilkooperation
• Organisationskultur
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Vorwort
tischen Gebieten und in den Metropolen immer mehr Schulen zu großen Teilen
von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund besucht. An diesen
Schulen ist die Verschiedenheit und Vielfalt der sprachlichen Voraussetzungen,
der Identitäten, Erfahrungen und Lebenshintergründe längst die Regel.
Insofern trägt migrationsbedingte Heterogenität keine ‚Zusatzaufgaben‘ an
Schulen heran, die mit ‚Sondermaßnahmen‘ zu bewältigen wären. Migration
fügt der Vielfalt und Verschiedenheit der Bildungsvoraussetzungen und Bedürf-
nisse lediglich weitere Facetten hinzu. Migrationsbedingte Heterogenität ist eine
grundlegende Bedingung für die Gestaltung von Schule und Unterricht.
4. Lernen und Lehren sind soziale Aktivitäten. In den letzten rund 20 Jahren
hat die Unterrichts- und Schul(qualitäts)forschung wichtige Erkenntnisse bei-
getragen, wie Unterricht und Schulen gezielt verändert werden können, um das
Lernen und die Entwicklung aller Schülerinnen und Schüler optimal zu fördern
und das Gefälle in den Erfolgen unterschiedlicher sozialer Gruppen abzutragen.
Dabei sind Klassenräume, Schulhöfe oder Lehrerzimmer keine Inseln, auf de-
nen abgetrennt von breiteren sozialen Prozessen gelernt und unterrichtet, bera-
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ten, Leistungen beurteilt und über Schulkarrieren entschieden wird. Lernen und
Lehren sind soziale Aktivitäten, die genauso von sozialen Werthaltungen, kul-
turellen Hintergründen und politischen Diskursen, die das Bildungsgeschehen
durchziehen, bestimmt sind wie von eher technischen Fragen des Unterrichts
und der Organisation von Schule. Bildungssoziologische Untersuchungen ma-
chen seit Jahrzehnten deutlich, dass Bildungserfolg keineswegs allein von den
Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler und ihres familialen Umfeldes
abhängt. Insbesondere Forschungsarbeiten zur institutionellen Diskriminierung
zeigen, dass die Mechanismen der Benachteiligung und des Ausschlusses be-
stimmter sozialer Gruppen im Schulalltag durch die regulären organisatorischen
Strukturen, Programme und Routinen der Schule wesentlicht mitverursacht
sind.
Eine Bildungspraxis, die eine hohe Qualität der schulischen Prozesse und
Ergebnisse – auch im Hinblick auf die Verwirklichung von schulpolitischen
Zielen der Gerechtigkeit und demokratischen Partizipation – anstrebt, geht von
einem umfassenden Lern- und Leistungsbegriff aus, der die emotionale, soziale
und kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt. Sie
stellt kritische Fragen, wie konventionelle Denkweisen und Praktiken in Schu-
len und anderen mit Bildung und Erziehung befassten Einrichtungen entstanden
sind und wer in der Gesellschaft von ihnen profitiert. Wenn allen Kindern und
Jugendlichen ein gleichberechtigter Zugang zu den schulischen Lernangeboten
eröffnet werden soll, müssen auch Fragen, wie die Subjekte die Komplexität und
Widersprüche unterschiedlicher Zugehörigkeiten leben und mit welchen Identi-
tätsstrategien sich Kinder und Jugendliche, aber auch Lehrpersonen und Eltern
im Schulalltag positionieren, thematisiert werden. V.a. kommt es darauf an, dass
Lehrerinnen und Lehrer u.a. an der Schulentwicklung Beteiligte lernen, in kon-
zertierten Anstrengungen die im institutionellen Setting in Unterricht, Schule
und dem Bildungssystem als Ganzes angelegten Mechanismen der Diskrimi-
nierung sichtbar zu machen, kritisch zu reflektieren und Schulorganisationen in
Richtung einer antidiskriminatorischen und inklusiven Praxis zu verändern.
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Vorwort
An dieser Stelle danken wir Stefanie Laux ganz herzlich für ihre Ermutigung,
dieses Lehrbuchprojekt anzugehen, und für ihre konstruktive Beratung und
Unterstützung! Ein herzlicher Dank geht ebenfalls an Therese Halfhide, Petra
Hild, Ulrike Hormel, Sabine Mannitz, Albert Scherr, Agi Schründer-Lenzen und
Tanja Tajmel dafür, dass sie aus ihren Praxis- und Forschungszusammenhängen
heraus Kapitel zu diesem Lehrbuch beigesteuert haben!
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Einführung
„Even in the most homogeneous communities, schools, and classrooms, students are
different. Much of the delight of teaching comes from observing and interacting with
these differences. Prior experiences, attitudes and expressions, charm and sociabili-
ty, shyness and silliness, mastery of sophisticated knowledge, and astonishing and
hysterical misunderstandings and gaps in what they ,should‘ but do not know all
vary among the students in any classroom. In many classrooms, students also differ
in the languages, cultures, and community resources they bring to school. These dif-
ferences influence how students approach classroom learning, but they bear little re-
lation to whether or not they are capable learners.” (OAKES/LIPTON 2003, S. 216f.)
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Einführung
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4. Eine Unterrichtsform, die sich bewährt hat, um sowohl fachliche und soziale
Lernziele zu erreichen als auch die in der Bildungsforschung nachgewiesenen
sozialen Ungleichheiten abzutragen, ist das Kooperative Lernen. Wie Petra
HILD im vierten Kapitel ausführt, werden unter diesen Begriff unterschiedliche
Unterrichtskonzepte gefasst, deren Gemeinsamkeit die Gruppenarbeit ist. Im
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Einführung
Rückgriff auf den von der Soziologin Elizabeth COHEN entwickelten Ansatz der
Komplexen Instruktion werden Aufgaben möglichst offen formuliert, so dass
eine Vielfalt an Vorgehensweisen und Lösungen möglich ist. Zur Umsetzung
einer solchen Arbeitsweise gehören Interventionen zum Abbau von Statusunter-
schieden, die Gewährleistung einer für alle sicheren und respektvollen Lernum-
gebung, Aufgabenstellungen, die unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten
für die Zielerreichung und vielfältige Interaktionen erfordern, Orientierung auf
den Erwerb von sozialen Kompetenzen und metakognitiven Fähigkeiten und die
gemeinsame Reflexion von Lernprozessen. Neben unterschiedlichen Strategien
und Methoden vermittelt HILD konkrete Anhaltspunkte, wie Kooperatives Ler-
nen im Unterricht eingeführt werden kann. Eine solche Unterrichtsentwicklung
hat v.a. dann eine Chance, so das Fazit der Autorin, wenn Schulteams sich ge-
meinsam an diese Aufgabe heranwagen und dazu die nötigen ineinandergrei-
fenden Veränderungen in den Organisationen installieren (z.B. Fortbildungen,
Aufbau einer Hospitations- und Feedbackkultur, Teamteaching, jahrgangsüber-
greifende Arbeit). In solchen Prozessen kann auch die Heterogenität im Kollegi-
um als Ressource für den Wandel von Unterrichts- und Schulkulturen fruchtbar
gemacht werden.
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Einführung
8. Durch Migration, ebenso wie durch andere globale und europäische Prozesse
der Transnationalisierung, wird die Vorstellung einer eindeutigen national-
kulturellen Zugehörigkeit in Frage gestellt. Auch ein strikter Zusammenhang
zwischen Staatsbürgerschaft und demokratischer Teilhabe kann in Einwande-
rungsgesellschaften nicht mehr aufrechterhalten werden. Diese Entwicklun-
gen bergen Konfliktpotenziale und erfordern einen Wandel nicht nur der schu-
lischen Konzepte politischer Bildung, sondern auch der schulischen Strategien,
Heranwachsenden unterschiedlicher Herkunft die Teilhabe am sozialen und
politischen Leben zu eröffnen. Die Herausforderung, Konzepte sozialer Zu-
gehörigkeit, demokratischer Mitbestimmung und politischer Bildung für eine
migrationsbedingt heterogene Schülerschaft zu praktizieren und zu vermitteln,
beleuchtet Sabine MANNITZ im achten Kapitel. MANNITZ stellt u.a. Ergebnisse
einer internationalen Schul- und Unterrichtsstudie in Berlin, Rotterdam, Paris
und London vor, die Aufschluss über Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den
nationalen Lernkulturen geben. Deutlich wird, dass Kinder aus zugewanderten
Familien durch die alltägliche Unterrichtspraxis tendenziell als Angehörige von
Minderheiten sozialisiert werden. Dadurch werde nicht nur die Identifikation
der Schülerinnen und Schüler mit der Einwanderungsgesellschaft erschwert.
Darüber hinaus bleibe häufig auch die Gelegenheit ungenutzt, sich im Unter-
richt konstruktiv mit dem komplexen Verhältnis von ethnisch, national, kultu-
rell heterogenen Bevölkerungen und nationalstaatlich verfassten Gesellschaften
auseinanderzusetzen. Diese Gefahr bestehe – das werde im europäischen Ver-
gleich am Beispiel einer Schule in Berlin deutlich – insbesondere innerhalb der
‚deutschen‘ Lernkultur, die durch einen restriktiven und ausgrenzenden gesell-
schaftspolitischen Umgang mit Migration geprägt sei.
Literatur
Oakes, J./Lipton, M. (2003): Teaching to Change the World. 2nd ed. New York.
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Kapitel 1
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In jüngster Zeit wird in Politik und Forschung zunehmend anerkannt, dass die
migrationsbedingte sprachliche und sozio-kulturelle Pluralisierung nicht länger
in Form von Zusatzmaßnahmen behandelt werden kann, sondern einen grund-
legenden Innovationsanspruch an die Gestaltung schulischer Strukturen, Pro-
gramme und Praktiken heranträgt. Damit ist die Aufmerksamkeit besonders auf
den Unterricht als Kernaufgabe der Schule gelenkt. ‚Heterogenität‘ ist in der
deutschsprachigen Schul- und Unterrichtsforschung geradezu zu einem Mo-
dethema avanciert (vgl. z.B. BECKER u.a. 2004; BRÄU/SCHWERDT 2005; BOLLER/
ROSOWSKI/STROOT 2007). Insbesondere in den USA und Großbritannien hat die
neuere Forschung zur Schul- und Unterrichtsqualität und zum geplanten Wan-
del schulischer Prozesse ein nützliches neues Wissen generiert, wie Unterrichts-
prozesse gestaltet werden können, um eine hohe Qualität des fachlichen und
sozialen Lernens zu gewährleisten und vorfindbare soziale Disparitäten in den
Bildungserfolgen abzubauen (als Überblick vgl. RÜESCH 1999; MÄCHLER u.a.
2000; OAKES/LIPTON 2003).
Allerdings werden auch in den aktuellen Bekenntnissen zur Überwindung
einer problemfixierten Sichtweise von Heterogenität – zugunsten eines Ver-
ständnisses von Verschiedenheit und Vielfalt als ‚normaler‘ Voraussetzung und
Ressource des Unterrichtshandelns – Leerstellen und Widersprüche rasch er-
sichtlich. Ein Beispiel ist der schlagwortartige Gebrauch des Begriffs ‚Hete-
rogenität‘, etwa als Synonym für Schulen (v.a. Hauptschulen) in ökonomisch
randständigen Gebieten, die hauptsächlich von Kindern aus einkommens-
schwachen Familien und mit Migrationshintergrund besucht werden – in denen
aber eher die Homogenität ungünstiger Bildungsvoraussetzungen und ein Über-
maß an strukturellen Mängeln das Problem sind. Abgekoppelt von Zielen der
Gleichstellung ist die Beschäftigung mit Heterogenität oft von Beliebigkeit in
Bezug auf konkrete soziale Differenzlinien und von einem ‚touristischen‘ Blick
auf Phänomene der Andersheit geprägt. Die strukturellen Rahmenbedingungen
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KASTEN 1 f Definitionen
‚Heterogenität‘ stammt aus dem Griechischen und bedeutet ‚Ungleichartigkeit‘.
Was wir als ‚heterogen‘ wahrnehmen, ist immer eine soziale Konstruktion, die
von expliziten oder impliziten Maßstäben für eine konstruierte Einheitlichkeit
bzw. Homogenität abhängt. ‚Heterogenität‘ impliziert die Differenz zu und die
Streuung um eine Norm und verweist immer auf den Kontext (z.B. in der Orga-
nisation Schule institutionalisierte Wertmaßstäbe) als Vergleichsdimension.
Der Begriff ‚Inklusion‘ folgt dem internationalen Konzept ‚inclusive educa-
tion‘. Dieses wird in Deutschland bisher v.a. in der integrationspädagogischen
Literatur aufgegriffen (vgl. SCHNELL/SANDER 2004; GEILING/HINZ 2005), jedoch
unter der Zielsetzung einer Bildung für alle zunehmend von der Inklusion von
als ‚behindert‘ etikettierten Kindern auf alle benachteiligten Gruppen ausgewei-
tet (vgl. CAMPBELL 2002; HALFHIDE im vorliegenden Band).
Mit dem Konzept der ‚inklusiven Schule‘ verbindet sich ein anspruchsvolles
Kriterium sozialer Gerechtigkeit, verstanden sowohl als formal und faktisch
gleichberechtigtem Zugang zu Bildungsangeboten, wie Gerechtigkeit in der
Partizipation und Behandlung in Unterricht und Schulleben sowie in den Bil-
dungsresultaten (Ergebnisgerechtigkeit) (vgl. CAMPBELL 2002; GILLBORN/YOU-
DELL 2000, 2f.).
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des Landes Sachsen-Anhalt allerdings auf die Einführung der Hauptschule ver-
zichtet.
Ab 1976 wurden in der Bundesrepublik zahlreiche Schulversuche mit Inte-
grationsklassen durchgeführt, die in den 1980er Jahren ausgeweitet wurden. Der
Großteil der Kinder mit ‚sonderpädagogischem Förderbedarf‘ wird jedoch nach
wie vor separiert in Sonderschulen unterrichtet (vgl. KMK 2008).
Seit Beginn dieses Jahrzehnts sind widersprüchliche Entwicklungen zu ver-
zeichnen: Auf der einen Seite löste das schlechte Abschneiden des deutschen
Bildungssystems in internationalen Schulleistungsvergleichen – v.a. die hohe
Kopplung des Bildungserfolgs an die soziale Herkunft (vgl. Kasten 4) – neue
Debatten über die Abschaffung der frühen Selektion und der gegliederten Se-
kundarstufe aus. Vor dem Hintergrund eines drastischen Schülerrückgangs in
den Hauptschulen werden in vielen Bundesländern unterschiedliche Modelle
zur Zusammenlegung der Real- und Hauptschulen oder einer schrittweisen Ein-
führung von Gemeinschaftsschulen, in denen alle Kinder bis zur 8. oder 10.
Klasse gemeinsam lernen, erprobt. Eine wichtige Innovation ist ferner die Flexi-
bilisierung der Schuleingangsphase, mit der ansatzweise das strikte Jahrgangs-
klassenprinzip aufgebrochen wird.
Auf der anderen Seite werden Tendenzen zur Homogenisierung durch
Reformen im Bildungssystem, die die Schulen zwingen, stärker nach ökono-
mischen Nutzenkalkülen zu arbeiten, verstärkt. Im Kontext der zunehmenden
Marktöffnung der Bildungssysteme und erweiterten Möglichkeiten zur freien
Schulwahl für Eltern und Schülerinnen und Schüler, wird es für Kinder aus
Armutsverhältnissen, mit Migrationshintergrund oder mit ‚besonderen Lernbe-
dürfnissen‘ zunehmend schwieriger, einen Platz an einer nach akademischen
Gesichtspunkten ‚guten Schule‘ zu erhalten. Sie landen vermehrt in sogenann-
ten ‚Restschulen‘, an denen auch das oft außerordentlich hohe Engagement von
Lehrkräften, Eltern und Schülerinnen und Schülern die vielfältigen strukturellen
Benachteiligungen nicht kompensieren kann. In diesem Zusammenhang ist auch
die zunehmende Standardsorientierung für die Arbeit in heterogenen Lerngrup-
pen umstritten (vgl. GEILING/HINZ 2005, S. 103-134).
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beschloss die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) die
Schulpflicht für ausländische Kinder und erklärte gemeinsamen Unterricht mit
autochthonen Kindern zum Regelfall. Durch Maßnahmen der äußeren Differen-
zierung in Vorlaufgruppen, Vorbereitungs- oder Förderklassen und zusätzliche
Förderstunden, Hausaufgabenhilfe, Zusammenarbeit mit Eltern, etc. nach dem
Wechsel in die Regelklasse, sollte den ausländischen Kindern und Jugendlichen
der Anschluss ermöglicht werden. Unterricht in den Erstsprachen diente v.a. der
Vorbereitung auf eine mögliche Rückkehr in die Herkunftsländer und war vom
regulären Schulunterricht abgekoppelt.
Seit Ende der 1970er Jahre stand der Erwerb von Deutsch als Zweitsprache
im Vordergrund. In mehreren Bundesländern wurden Lehrpläne und Materialien
für den Zweitsprachenunterricht, Formen der zweisprachigen Alphabetisierung
und erste diagnostische Verfahren zur Sprachstandsfeststellung entwickelt. In
der ausländerpädagogischen Perspektive auf die Defizite der betroffenen Schü-
lerinnen und Schüler, ihrer Familien und ihrer vermeintlichen ‚Kultur‘ blieb es
aber bei einem völlig unzureichenden System organisatorischer ‚ad-hoc-Maß-
nahmen‘. Eine Neuausrichtung des Unterrichts und der Schulorganisationen an
die veränderten sozialen Bedingungen wurde nicht ins Auge gefasst. Auch die
in den 1980er Jahren verabschiedeten Erlasse zum ‚Unterricht für ausländische
Schüler‘ (zuerst in Nordrhein-Westfalen 1982) zielten v.a. auf die Aufhebung
der organisatorischen Separierung, die durch das Vorbereitungsklassensystem
verfestigt wurde und setzten primär auf die akkulturierende Wirkung der äußer-
lichen Integration.
Die 1996 verabschiedete KMK-Empfehlung ‚Interkulturelle Bildung und
Erziehung in der Schule‘ (KMK 1996) setzte erstmals die Tatsache einer kul-
turell und sprachlich pluralen Gesellschaft als Ausgangspunkt. Der Fokus auf
ausländische Kinder als Zielgruppe wurde fallengelassen. Interkulturelle Bil-
dung wurde als allgemeiner Erziehungsauftrag definiert, der als Spezial- und
Querschnittsaufgabe in der Schule behandelt werden soll. In dieser an sich
weitreichenden Empfehlung wurde die Auseinandersetzung mit Differenz aller-
dings primär auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler und auf die sozialen
Interaktionen im Schulleben bezogen. Der Schulmisserfolg vieler Kinder und
Jugendlicher mit Migrationshintergrund wurde nur indirekt thematisiert.
Erst die großflächigen Schulleistungsstudien Anfang diesen Jahrzehnts ha-
ben das Gefälle beim Zugang zu höher qualifizierenden Bildungsgängen entlang
der Trennlinien Ethnizität, soziale Herkunft und Geschlecht und damit auch die
Frage, wie sich Migration auf Bildung und wie sich Bildung auf die Integration
Zugewanderter und ihrer Nachfahren auswirkt, auf die Agenda gebracht.
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Der Zürcher Schulforscher Peter RÜESCH (1999, 2000) hat auf der Basis ei-
ner Analyse der internationalen Literatur zur Wirksamkeit von Unterricht und
Schule ein Modell zur Qualitätsentwicklung im sprachlich und sozio-kulturell
heterogenen Umfeld entwickelt. Demnach müssen Interventionen v.a. an den
Prozessen im Klassenzimmer und an der aktiven Ausgestaltung der Beziehung
der Schule zu Eltern ansetzen, da die Prozesse im Unterricht und das Eltern-
haus das Lernen direkt beeinflussen. Die Aktivitäten auf diesen Ebenen müssen
jedoch durch ein positives pädagogisches Klima in der Schulorganisation als
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Elternhaus
- Lernanregungen
- Elternengagement Lernen des Kindes
- Soziale Schicht
- Kulturelle Herkunft
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4 Zusammenfassung
Eine Möglichkeit, mit Differenz umzugehen, besteht darin, das Differente mit
etwas zu vergleichen, welches ‚nicht different‘ bzw. normal ist. Auf dieser Auf-
fassung basiert die Strategie, den ‚anderen‘ Kindern und Jugendlichen durch
Sonder- und Zusatzmaßnahmen den Anschluss an die schulischen Lernangebote
zu ermöglichen, die weiterhin an den idealisierten ‚normalen‘ Schülerinnen und
Schülern ausgerichtet sind. Eine andere Möglichkeit besteht in der Annahme,
dass es eine solche Normalität als Maßstab, an dem andere gemessen und be-
urteilt werden, nicht gibt. In Unterricht und Schule sind Räume zu schaffen,
in denen vielfältige Differenzen in ihrem eigenen Recht bestehen können, z.B.
Lerngruppen, in denen alle ihre Kompetenzen einbringen und Differenzen zur
Quelle reicher Lerninteraktionen werden können. Dies bedeutet keineswegs, un-
terschiedliche Lernbedürfnisse oder etwa unterschiedliche religiöse Praktiken,
lebensweltliche Erfahrungen oder genderspezifische Präferenzen zu ignorieren.
In einer solchen transformativen Perspektive kommt es jedoch v.a. darauf an, so-
ziale Bewertungsstrukturen – die nicht nur in den alltäglichen Interaktionen eine
Rolle spielen, sondern auch in den Strukturen und Praktiken im Unterricht und
in den Schulorganisationen institutionalisiert sind – sichtbar zu machen und zu
verändern, so dass langfristig Differenzen untergraben und Raum für künftige
Neugruppierungen entsteht.
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Literaturempfehlung
OAKES, J./LIPTON, M. (2003): Teaching to Change the World. New York.
Konventionelle Themen der Unterrichts- und Schulforschung (u.a. Lerntheorien,
Curriculum, Unterricht und Leistungsüberprüfung, Klassenführung, organisato-
rische Differenzierung, Schulkultur) werden konsequent aus dem Blickwinkel
der sprachlichen, sozialen und kulturellen Diversität und der Problematik der
Bildungsungleichheit behandelt. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Zu-
kunft des demokratisch verfassten Gemeinwesens entscheidend davon abhängt,
ob alle Heranwachsenden eine qualitativ hochwertige und sozial gerechte Bil-
dung und Erziehung erhalten und dass Schulen Institutionen sein können und
müssen, die sowohl von höchsten intellektuellen Ansprüchen wie vom Ziel sozi-
aler Gerechtigkeit bestimmt sind. In den einzelnen Kapiteln wird ein fundiertes
philosophisches, historisches und soziologisches Hintergrundwissen vermittelt.
Auf der Grundlage von kognitiven, soziokulturellen und konstruktivistischen
Lerntheorien und Konzepten demokratischer Bildung werden pädagogische, di-
daktische und schulentwicklerische Perspektiven eröffnet.
Literaturverzeichnis
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Mechtild Gomolla
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Schüler. Opladen, S. 111-139.
Weber, M. (2003): Heterogenität im Schulalltag. Konstruktion ethnischer und geschlecht-
licher Unterschiede. Opladen.
43
Kapitel 2
Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über pädagogische Konzepte, die
auf die mit der ‚Tatsache Einwanderungsgesellschaft‘ verbundenen Bildungs-
erfordernisse zu reagieren versuchen. Unser zentrales Argument lautet, dass die
Bildungsmöglichkeiten im Unterricht, um nationalistischen, ethnozentristischen
und rassistischen Tendenzen entgegen zu wirken, von breiteren strukturellen und
institutionellen Bedingungen mitbestimmt sind. Hierzu zählen insbesondere aus-
länder- und integrationspolitische Bestimmungen, bildungspolitische Rahmen-
vorgaben und Merkmale einzelner Schulorganisationen und ihres spezifischen
Umfeldes. Eine diversitätsbewusste Pädagogik kann daher nicht auf Aspekte der
politischen Bildung und des sozialen Lernens im engeren Sinne begrenzt wer-
den. Sie muss darüber hinaus auf die Überwindung strukturell und institutionell
bedingter Formen der Diskriminierung ausgerichtet sein. In diesem Sinne ist es
notwendig, die bislang getrennt geführten Debatten über die Bildungsbenach-
teiligung von Migrantinnen und Migranten einerseits und Erfordernisse Anti-
rassistischer und Interkultureller Pädagogik andererseits zusammenzuführen.
Erforderlich sind umfassende Strategien, die auf unterschiedlichen Gestaltungs-
ebenen der Schulentwicklung ansetzen – neben dem Unterricht auch auf der
Ebene der schulischen Organisationsentwicklung, der curricularen Vorgaben,
der Aus- und Weiterbildung für pädagogische Berufe bis hin zu den bildungspo-
litischen Festlegungen der Gliederung des Schulsystems.
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Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft
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Ulrike Hormel | Albert Scherr
KASTEN 1 f Dominanzkultur
Die Berliner Psychologin Birgit ROMMELSPACHER prägte in den 1990er Jahren
den Begriff der Dominanzkultur. Gemeint ist damit,
„… dass unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die
Bilder, die wir vom Anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterord-
nung gefasst sind. (…) Wobei Kultur hier in einem umfassenden Sinn verstan-
den wird, und zwar als das Ensemble gesellschaftlicher Praxen und gemeinsam
geteilter Bedeutungen, in denen die aktuelle Verfasstheit der Gesellschaft, ins-
besondere ihre ökonomischen und politischen Strukturen und ihre Geschich-
te zum Ausdruck kommen. Sie bestimmt das Verhalten, die Einstellungen und
Gefühle aller, die in dieser Gesellschaft leben, und vermittelt so zwischen den
gesellschaftlichen und individuellen Strukturen.“ (ROMMELSPACHER 1995, S. 22)
Vor diesem Hintergrund wird eine zentrale Aufgabe und Chance von Bildungs-
prozessen in der Einwanderungsgesellschaft darin gesehen, eine reflexive Aus-
einandersetzung mit eigenen Überzeugungen, Orientierungen und Gewissheiten
und den Grundlagen des je individuellen Selbst- und Weltverständnisses zu er-
möglichen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn Schülerinnen und Schüler sich
wechselseitig als Individuen mit heterogenen lebensgeschichtlichen (gesell-
schaftlichen, politischen, lebensweltlichen, ästhetischen usw.) Erfahrungshin-
tergründen wahrnehmen. In solchen Bildungsprozessen sind Vorstellungen einer
in sich geschlossenen und stabilen nationalen Kultur zu hinterfragen und ein
Verständnis von ‚Kulturen‘ als offene und dynamische Gebilde zu entwickeln,
die in sich heterogen und umstritten sind (vgl. AUERNHEIMER 2003; BANKS/MC-
GEE BANKS 2001; COHEN 1994; KRÜGER-POTRATZ 2005; QUEHL 2000).
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Beziehungen – in der Lage ist, wen zu tolerieren und wer darauf verwiesen ist,
sich tolerieren zu lassen.
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Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft
2.4 Diversity-Pädagogik
Im folgenden Abschnitt werden aktuell einflussreiche Konzepte der Diversity-
Pädagogik (vgl. CUSHNER/MCCLELLAND/SAFFORD 1996; LYNCH/MODGIL/MODGIL
1992; WLODKOWSKI/GINSBERG 1995), die auf eine Weiterentwicklung Antirassi-
stischer und Interkultureller Pädagogik zielen, ausführlicher diskutiert.
In der Perspektive der Diversity-Pädagogik werden soziale und kulturelle
Differenzen in modernen Gesellschaften nicht allein als Folgen von Einwande-
rung thematisiert. Die für vereinfachende Konzepte Interkultureller Pädagogik
charakteristische Tendenz, einen verstehenden Blick auf ‚die andere Kultur‘ zu
etablieren, ohne die Selbstverständlichkeiten und die Situiertheit der eigenen
Perspektive zu hinterfragen, wird aufgebrochen, indem angenommen wird, dass
soziale Klasse und sozialer Status, sex/gender, sexuelle Orientierung, Ethnizi-
tät/Nationalität, ‚Rasse‘, Alter, Sprache, Religion, psychische und physische
Gesundheit, Behinderung und Regionalität sowie politische Orientierungen be-
deutsame Bezugspunkte für individuelle und soziale Identitätskonstruktionen
und Lebensstile sowie möglicher Anlass für Konflikte und Diskriminierungen
sind (vgl. CUSHNER/MCCLELLAND/SAFFORD 1996, S. 75). Damit fordert der Di-
versity-Zugang einen umfassenden und auch selbstreflexiven Umgang mit mul-
tireferentiellen Identitätskonstruktionen sowie deren Verschränkung mit Domi-
nanz- und Unterordnungsstrukturen heraus.
53
Ulrike Hormel | Albert Scherr
Eine Bildungspraxis, die auf die Überwindung von Diskriminierung zielt, ist
entsprechend aufgefordert, jeweilige Verschränkungen in den Blick zu nehmen
und zu problematisieren. D.h. z.B., dass es nicht genügt, rassistische und kultur-
bezogene Vorurteile zu thematisieren, sondern erforderlich ist danach zu fragen,
in welchen sozialen Konstellationen sich diese als plausible Deutungen eigener
Erfahrungen darstellen können. Ein wesentliches Ziel der Diversity-Pädagogik
besteht darin, Annahmen über die keineswegs selbstverständlich voraussetzbare
Bedeutung kultureller Zugehörigkeiten und Unterschiede zu dekonstruieren,
indem auf die Multireferentialität der Kontexte hingewiesen wird, in denen in-
dividuelle Identitätsbildung und Lebenspraxis situiert ist.
Der Diversity-Ansatz, der sich von einem allzu einfachen Verständnis sozialer
und kultureller Zugehörigkeiten distanziert und die mögliche Bedeutung viel-
fältiger Unterschiede betont, weist einige Probleme auf der konzeptionellen
Ebene auf. In den letzten Jahren haben Diversity-Konzepte auch in Deutsch-
land in Politik und Praxis Verbreitung gefunden. Erklärtes Ziel ist v.a. eine po-
sitive Bewertung von Unterschieden. „Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“,
so etwa die Formulierung der im Dezember 2006 von DaimlerChrysler, der
Deutschen Bank, der Deutschen Telekom und der Deutschen BP gemeinsam
mit Staatsministerin Böhmer ins Leben gerufenen ‚Charta der Vielfalt‘ „sollen
Wertschätzung erfahren – unabhängig von Geschlecht, Rasse, Nationalität, eth-
nischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller
Orientierung und Identität.“ Diversity-Konzepte sind zunächst v.a. als Manage-
mentstrategien US-amerikanischer Unternehmen entwickelt worden. Sie zielen
entsprechend zentral darauf „Potentiale wert(zu)schätzen und für das Unterneh-
men gewinnbringend einzusetzen“ (vgl. www.vielfalt-als-chance.de).
Diversity Konzepte im Unternehmensmanagement sind im Wesentlichen
an Effizienzkalkülen orientiert und darauf ausgerichtet, die Unterschiedlichkeit
der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für den Unternehmenserfolg zu
nutzen. Innerbetriebliche Konflikte sollen vermieden und die Akzeptanz des
Unternehmens und seiner Produkte gestärkt werden. Betont wird dabei die Kon-
traproduktivität von Diskriminierungen. Die problematischen Grundannahmen
und Engführungen von Diversity-Konzepten im Sinne eines effizienten Zugriffs
auf verfügbare ‚Humanressourcen‘ sind mit der hier intendierten Antidiskrimi-
nierungsperspektive z.T. genuin unvereinbar (vgl. HORMEL/SCHERR 2004a; HOR-
MEL 2007).
Ein genereller Problempunkt liegt in der Gefahr, dass die Absicht der Sen-
sibilisierung für reale oder zugeschriebene Differenzen zu einer Einübung in
wechselseitige Stereotypisierungen entlang der Kategorien Geschlecht, Ethnizi-
54
Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft
tät, Religion usw. führt – dass also nicht die Wahrnehmung der Komplexität in-
dividueller Lebenskonstruktionen, sondern die routinierte Verwendung sozialer
Klassifikationen gelernt wird.
Dies kann nur dann vermieden werden, wenn die Forderung nach Beachtung
und Anerkennung von Differenzen und ein Plädoyer für Vielfalt nicht abgelöst
wird von der Auseinandersetzung damit, dass und wie soziale Klassifikationen
als Diskriminierungsressource verwendet werden und dass der Zwang, sich in
einer bestimmten Weise zu definieren bzw. definieren zu lassen (etwa als Junge
oder Mädchen, als Deutscher oder als Ausländer) zu einer Einschränkung indi-
vidueller Handlungsmöglichkeiten führen kann.
Deshalb ist es erforderlich, über ein Plädoyer für Vielfalt, das ethnisierende
und religionsbezogene Kategorisierungen und Klassifikationsprozesse nur aus-
differenziert und erweitert, hinaus zu gehen. Für eine angemessene Auseinan-
dersetzung mit Strukturen, Praktiken und Ideologien der Diskriminierung ist es
notwendig, zur Einsicht in Prozesse der Konstruktion des ‚Anderen‘ zu befähi-
gen. Die Vorstellungen, mit denen ein jeweiliges, z.B. religiöses oder nationales
‚Wir‘ bestimmt wird, stehen, wie sich an zahlreichen Bespielen verdeutlichen
lässt, in einem Zusammenhang mit historischen und gegenwärtigen Herrschafts-
verhältnissen sowie mit Prozessen, in denen eigene Erfahrungen projektiv verar-
beitet werden. So waren der Orient oder indigene Gruppen in einer europäischen
Perspektive immer wieder die Projektionsfolie für Ängste und Sehnsüchte, die
etwa zu Vorstellungen über ‚die edlen Wilden‘ geführt haben.
Diversity-Pädagogik kann so für Grenzüberschreitungen und in sich he-
terogene Identitäten und Praktiken sensibilisieren, die etablierte Unterschei-
dungen unterlaufen (vgl. MECHERIL 2003). Es gilt also z.B. Aufmerksamkeit für
die Formen zu entwickeln, in denen Mädchen und Jungen ein ironisches oder
spielerisches Verhältnis zu geschlechtsbezogenen Normen realisieren oder für
Situationen, in denen Schülerinnen und Schüler ethnische und nationale Zu-
ordnungen dramatisierend inszenieren und auch wieder außer Kraft setzen.
Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler sollen lernen, wahrzunehmen und
anzuerkennen, dass und wie vielfältige Bezüge in Bestimmungen der eigenen
Identität eingehen und dass deren Bedeutung situativ variiert. In Konzepten der
Diversity-Pädagogik deutet sich damit eine Perspektive an, die die Komplexität,
Situationsabhängigkeit und Veränderlichkeit der für individuelle und kollektive
Identitätsbildungen sowie für Zuordnungen zu sozialen Gruppen und Distanzie-
rungen bedeutsamen Bezüge und Verortungen in Rechnung stellt.
Für die Umsetzung einer solchen Bildungspraxis sind vier Gestaltungsebe-
nen in den Blick zu nehmen (vgl. HILD im vorliegenden Band):
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Ulrike Hormel | Albert Scherr
56
Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft
3 Zusammenfassung
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Ulrike Hormel | Albert Scherr
kann eine Tätigkeit von Lehrkräften mit Migrationshintergrund auf die schu-
lische Bildungspraxis haben?
4. Betrachten Sie die Gestaltungsebene der Interaktions- und Kooperationspro-
zess in Schulklassen (S. 56): Welche Ausprägungen sozialer und kulturel-
ler Heterogenität sind für die Unterrichtspraxis relevant? Welche Chancen
bieten die unterschiedlichen Erfahrungshintergründe der Schülerinnen und
Schüler für eine Gestaltung des Unterrichts?
5. Welche in Schulen verankerte Normalitätserwartungen (z.B. Erwartungen
in Hinblick darauf, was einen idealen Schüler kennzeichnen sollte) tragen in
welcher Weise zu Benachteiligungen und Diskriminierungen bei?
Literaturempfehlungen
DGB-BILDUNGSWERK THÜRINGEN E.V. (Hrsg.): Baustein zur nicht-rassistischen
Bildungsarbeit. Erfurt 2003.
Der „Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit“ ist zwar in erster Linie
für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit konzipiert, enthält aber zahlreiche
Materialien und Anregungen, die auch für den schulischen Unterricht genutzt
werden können. Das Konzept beruht auf einem breit gefassten Rassismusbegriff
und zielt darauf, Rassismus nicht als ein isoliertes Thema in eigens dafür aus-
gerichteten Antirassismus-Seminaren zu behandeln, sondern Ansatzpunkte und
Möglichkeiten aufzuzeigen, wie das Prinzip des ‚Nicht-Rassismus‘ sowie die
vertiefende Auseinandersetzung mit den Themen Rassismus, Antisemitismus,
Nationalismus, Diskriminierung, Migration etc. in der Bildungsarbeit verankert
werden kann.
58
Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft
Literaturverzeichnis
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xis und erziehungswissenschaftliche Theorie zwischen Lokalität und Globalität.
Frankfurt, S. 191-200.
59
Ulrike Hormel | Albert Scherr
60
Kapitel 3
Sara Fürstenau
61
Sara Fürstenau
62
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen
Definition: Unterricht
„Mit Unterricht sind im Allgemeinen solche Situationen gemeint, in denen mit
pädagogischer Absicht und in organisierter Weise innerhalb eines bestimmten
institutionellen Rahmens von professionell tätigen Lehrenden Lernprozesse ini-
tiiert, gefördert und erleichtert werden.“ (REINMANN-ROTHMEIER/MANDL 2001, S.
603)
1. Der erste Fokus liegt auf den Lernprozessen im Unterricht. Ausgehend von
(sozial-)konstruktivistischen Lerntheorien geht es um die Frage, wie die so-
ziale Interaktion im Unterricht Lernprozesse in heterogenen Lerngruppen
beeinflusst.
2. Im Unterricht werden Lernprozesse „von professionell tätigen Lehrenden
initiiert“. Es stellt sich die Frage nach der Rolle der Lehrkraft. Wie können
Lehrerinnen und Lehrer Lernprozesse „initiieren“ und „erleichtern“?
3. Unterricht vollzieht sich „in organisierter Weise“. Eine Grundlage für die
Unterrichtsgestaltung sind didaktische Handlungsmodelle. Wie beeinflussen
verschiedene Unterrichtsformen und -methoden das Lernen und das Lehren
in heterogenen Gruppen?
63
Sara Fürstenau
64
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen
65
Sara Fürstenau
ren und zu reflektieren. Welche Fähigkeiten die Schülerinnen und Schüler dabei
im Einzelnen erwerben können, hat GOGOLIN (2003) in einem Modell über „Fä-
higkeitsstufen der Interkulturellen Bildung“ ausformuliert (vgl. Kasten 2). Das
Modell beschreibt Kenntnisse und Fähigkeiten, die unabhängig vom Schulfach
und vom Alter der Schülerinnen und Schüler in jedem Unterricht erworben wer-
den können, wenn Perspektivenvielfalt thematisiert wird.
66
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen
auch zum Zwecke der Verteidigung von Privilegien oder der Beseitigung von
Benachteiligung dienen). […]
6. Fähigkeit, die eigenen Wahrnehmungen, Empfindungen und Verhaltensge-
wohnheiten bei der Begegnung mit Fremden oder Fremdem zu erkennen und
zu verstehen, worauf sie jeweils zurückzuführen sind (z.B.: […] durch welche
Merkmale des Aussehens eines Menschen schließe ich gewöhnlich auf seine
Herkunft? […]).
7. Fähigkeit, das eigene Handeln und Verhalten, die eigenen Gewohnheiten
und Werteorientierungen an den moralischen und ethischen Standards einer
modernen, pluralen, weltoffenen, demokratischen Gesellschaft auszurichten.“
(GOGOLIN 2003, S. 1-3)
67
Sara Fürstenau
68
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen
„vom Können des Kindes auszugehen und von da aus einen Weg zu den schu-
lischen Anforderungen zu suchen: Was kann das Kind schon? Was muß es
noch lernen? Was kann es als nächstes lernen? Zu diesem Blick auf das Kind
gehört neben der Wahrnehmung seiner (frühen) Formen von Schriftlichkeit
auch die Aufmerksamkeit auf sein ‚Selbst-Verständnis‘ – seine Initiative im
Klassenzimmer, sein Umgehen mit der Aufgabenstellung im Unterricht, sei-
ne Reaktion auf Ansprüche, auf Korrekturformen und Arten der Präsentation
der Arbeitsergebnisse (...)“ (DEHN 1996, S. 16).
69
Sara Fürstenau
Der Begriff ‚Scaffolding‘ wurde von David WOOD, Jerome S. BRUNER und Gail
ROSS (1976) eingeführt. Das Forschungsteam hat in einem Experiment mit drei-
bis fünfjährigen Kindern untersucht, wie eine erwachsene Person die Lernpro-
zesse der Kinder bei einer für die Kinder interessanten und herausfordernden
Aufgabe in der sozialen Interaktion optimal unterstützt. Das Experiment be-
stand im Bau einer Pyramide, bei dem Einzelteile in einer bestimmten Art und
Weise zusammengesetzt werden mussten. Die Ergebnisse geben Aufschluss
darüber, wie Lernende in der Interaktion mit einer ‚wissenden‘ bzw. lehrenden
Person dazu befähigt werden können, Problemlösungen zu finden, die sie von
sich aus nicht gefunden hätten. Zentral ist das Ergebnis, dass die Lehrperson
den Lernenden im gelungenen Fall ein temporäres ‚Gerüst‘ (scaffold, englisch
= Baugerüst) als Wegweiser zur Problemlösung zur Verfügung stellt, ohne da-
durch die Eigenaktivität der Lernenden zu behindern.
Ein „Modell des optimalen Scaffolding“ für den Unterricht skizzieren SALONEN
und VAURAS (2006, S. 209): „Der Scaffolding-Prozess enthält im Wesentlichen
eine graduelle Verschiebung von der Fremd- zur Selbstregulation mit dem Ziel,
dem Kind zu helfen, unabhängigeres Lernen zu erreichen. (...) In einem optima-
len Unterricht verändert die Lehrperson mit Scaffolding die Aufgabenschwie-
rigkeit sensibel und flexibel. Sie hilft dem Kind durch sprachliche Anleitung die
entscheidenden Zusammenhänge zu erkennen und zu formulieren, gibt ihm nur
die minimal nötige Unterstützung, damit die Aufgabe herausfordernd bleibt,
dosiert die Hilfe flexibel und lässt sie umso mehr auslaufen, je mehr das Kind
fähig ist, die Aufgabe unabhängig von Unterstützung zu bewältigen.“
70
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen
(ebd., S. 382). REICH (2006) zufolge zeichnen sich Lehrende als „Beziehungs-
didaktiker“ idealerweise durch „ein dialogisches Verhalten in der Kommunika-
tion“ und durch die „Fähigkeit zur Anerkennung und Wertschätzung anderer in
dieser Kommunikation“ aus (S. 21).
Die Unterrichtsforschung hat verschiedene Interaktionsmuster zwischen
Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern beschrieben, die dem Denken und
Sprechen der Lernenden mehr oder weniger Raum lassen. Eine zu starke Ge-
sprächslenkung durch die Lehrkraft kann die aktive Beteiligung der Lernenden
am Konstruktionsprozess verhindern. Die starke Lenkung zeichnet sich häufig
durch kleinteilige Fragen aus, die den Blick auf das Ganze verstellen, weil sie
die Inhalte portionsweise verhandeln.
Bis heute gilt der zuerst von MEHAN (1979) rekonstruierte IRE-Diskurs
(Initiation-Response-Evaluation-Diskurs) als in der Schule verbreitetes Interak-
tionsmuster. In diesem Diskurs stellt die Lehrkraft eine Frage, auf die eine Schü-
lerin oder ein Schüler antwortet, woraufhin die Evaluierung durch die Lehrkraft
folgt. Da der Lehrkraft die ‚richtigen‘ Antworten auf die Fragen meistens vorab
bekannt sind, ist ein eng geführter IRE-Diskurs eher statisch als dynamisch.
Nachgewiesenermaßen beteiligen sich an einer solchen Interaktion im Unter-
richt am ehesten Kinder von bildungserfolgreichen Eltern, denen sowohl das
Interaktionsmuster als auch viele ‚richtige‘ Antworten aus Gesprächen mit ihren
Eltern bereits bekannt sind.
Demgegenüber begünstigen reziproke Interaktionsprozesse, in denen sich
die Gesprächspartner aufeinander beziehen, eine aktive und fragende Lern-
haltung und damit die kognitive Beteiligung der Schülerinnen und Schüler.
Wenn die Lehrkraft den Gesprächsablauf weniger vorherbestimmt und häufiger
‚echte‘ Fragen stellt, ist außerdem die Wahrscheinlichkeit höher, dass Kinder
unterschiedliche Erfahrungen und Sichtweisen einbringen können. In der rezi-
proken Interaktion kann die Lehrkraft den Gedankengängen der Kinder folgen
und ihre individuellen Konstruktionsprozesse unterstützen. Eine Voraussetzung
dafür sind hohe Redeanteile der Schülerinnen und Schüler.
71
Sara Fürstenau
Das Beispiel stammt aus einer Untersuchung von Pauline GIBBONS (2006) in
einer Schule in Sydney (Australien). Es handelt sich um Unterricht zum Thema
Magnetismus in einer Schulklasse mit zehnjährigen Kindern, von denen die
Mehrheit aus zugewanderten Familien stammt und Englisch als Zweitsprache
erwirbt:
„Lehrerin: Versuch ihnen zu sagen, was du gelernt hast ... okay. (Zu Hannah)
ja?
Hannah: Ähm äh, ich hab gelernt, dass ähm wenn man einen Magneten ...
(Lachen von Hannah und anderen Kindern, als das Mädchen eine Erklärung
versucht, ohne die Hände zu benutzen) wenn ich [einen Magneten auf einen
Magneten] lege ... wenn man einen Magneten ... oben auf einen Magneten legt
... und der Nordpol Pole sind ... (Pause von 7 Sekunden, Hannah hat deutlich
Probleme auszudrücken, was sie sagen möchte)
Lehrerin: Ja, ja du machst das gut ... man legt einen Magneten oben auf einen
anderen ...
Hannah: Und und die Nordpole sind zusammen äh ähm der Magnet ... stößt den
Magneten äh ... der Magnet und der andere Magnet ... so als ob er in der Luft
schwimmt?
Lehrerin: Ich finde, das ist sehr gut gesagt ... sehr gut ... willst du etwas hinzu-
fügen, Charlene?
(Die Lehrerin fordert zu anderen Beiträgen auf und kehrt dann zu Hannah zu-
rück. Sie bittet Hannah, zuerst das Experiment den anderen Kindern zu zeigen,
und fordert sie anschließend auf, es noch einmal zu erklären.)
(...)
Lehrerin: Hört jetzt zu ... nun, Hannah, erkläre es noch einmal ... in Ordnung,
Hannah ... aufgepasst jetzt (sie stellt die Aufmerksamkeit der Klasse wieder her)
... hört noch einmal auf ihre Erklärung
Hannah: Die zwei Nordpole lehnen zusammen und der Magnet unten stößt den
Magneten oben ab, sodass der Magnet oben so ... in der Luft schwimmt
Lehrerin: Sodass sich diese zwei Magnete gegenseitig abstoßen und ... guck dir
die Kraft dabei an.“
(GIBBONS 2006, S. 279)
72
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen
3 Didaktische Handlungsmodelle
Ausgehend von der Erkenntnis, dass Lernen ein aktiver, konstruktiver und so-
zialer Prozess ist, wurde der normative Begriff ‚neue Lernkultur‘ geprägt (vgl.
HELMKE 2005, S. 66; WEINERT 1997b). Der Begriff wird programmatisch mit
Bezug auf reformpädagogische Ideale und in Abgrenzung von einem lehrer-
zentrierten Unterricht verwendet (vgl. KOLBE u.a. 2008, S. 127). Er beinhal-
tet Vorstellungen eines ‚guten Unterrichts‘, in dem Schülerinnen und Schüler
ihre Lernprozesse so weit wie möglich selbst organisieren, kontrollieren und
in Kontexten gestalten, die an ihre Interessen anschließen (vgl. als Beispiel für
die Aktualität dieser Ideale KOLLAR/FISCHER 2008). Dementsprechend gelten so
genannte progressive Unterrichtsmethoden, wie z.B. Werkstatt- und Projektun-
terricht, Freiarbeit und Kooperatives Lernen (vgl. Kapitel 4 in diesem Buch) als
Teil der neuen Lernkultur. In der Praxis in deutschen Schulen werden solche
Ansätze am ehesten im ‚Offenen Unterricht‘ in der Grundschule umgesetzt (vgl.
GÖTZ u.a. 2005). Individualisierende und differenzierende Handlungsmodelle
sollen dazu beitragen, unterschiedlichen Interessen, Lernvoraussetzungen und
-wegen der Schülerinnen und Schüler im Unterricht mehr Raum zu geben.
73
Sara Fürstenau
74
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen
75
Sara Fürstenau
Das folgende Beispiel aus dem Unterricht einer 1. Grundschulklasse hat Mecht-
hild DEHN als „Schlüsselszene zum Schrifterwerb“ identifiziert (DEHN 1994, S.
31):
Protokoll der Lehrerin: „Wir sitzen im Kreis, erzählen vom Wochenende. Sa-
scha sagt: „Ich habe euch etwas mitgebracht.“ Stolz präsentiert er fünf gleich-
große Papierschnipsel und legt sie in die Kreismitte. „Das ist ein Puzzle“, sagt
er mit einer Stimme, die verrät, daß wir das wohl nie rauskriegen. Die Kinder
schauen und bemerken dann, daß auf den einzelnen Papierstücken Buchstaben
stehen. Sandra hockt sich in den Kreis und beginnt, die Schnipsel nebeneinan-
der zu legen. Die Kinder sagen: Da ist ein O. Und ein N. Den kenn‘ ich, den
habe ich vorn. Das S ist auch da. Ja, und noch mal! Und ein E – wie Esel. In der
Kreismitte liegt jetzt ENNOS. Sandra (sie kann schon Wörter/kleine Sätze le-
sen) ruft: „Oh, das ist ja Sonne!“ Schnell legt sie die Buchstaben in die richtige
Reihenfolge: „Ja, das ist Sonne.“ Anwar hält sich die Hand vor den Mund, lacht
versteckt und prustet dann los: „Das soll eine Sonne sein, da lach‘ ich mich ja
kaputt, das ist doch keine Sonne!“ Die Kinder schauen etwas ratlos. Ich gehe an
die Tafel und male eine große Sonne auf die Vorderseite. „Ist das eine Sonne?“
frage ich. Er nickt: „Ja, das ist eine Sonne. So sieht nämlich eine Sonne aus.“ Im
Kreis zeige ich auf die Schnipsel und sehe die Kinder an. Sascha meint: „Ja, und
da steht auch Sonne. Das ist nämlich das Wort für Sonne.“ „Hääh?“ ... Keiner
kann dieses „häh“ so lang ziehen und so ungläubig gucken wie Anwar. „Das
ist auch ‘ne Sonne?“ Murat sagt: „Anwar, das sind die Buchstaben für Sonne,
so wenn man schreibt.“ Sascha erklärt noch, daß er sein Puzzle ja extra schwer
machen wollte, deshalb habe er keine Sonne gemalt. Anwar schaut noch etwas
ungläubig und fragt: „Und da steht jetzt Sonne“?
Klasse 1, 30.8.1993. Gedächtnisprotokoll: Sigrid Andersen“
(DEHN 1994, S. 82)
76
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen
„(...) the child who takes the teacher‘s instruction to ‚choose‘ from a range of
activities at face value, and spends his time on the tricycles [Dreiräder, S.F.]
rather than alongside the teacher in reading activities is seen less ‚ready‘ to
learn, does not receive instruction, and falls further and further behind, par-
ticularly if not at the same time receiving parental instruction in reading at
home.“ (BOURNE 2003, S. 498).
77
Sara Fürstenau
78
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen
• Zeitnutzung: Die Unterrichtszeit wird optimal für das fachliche Lernen ge-
nutzt.
• Umgang mit Störungen: Mit Störungen wird präventiv umgegangen; wird es
laut, greift die Lehrkraft schnell ein.
79
Sara Fürstenau
Eine günstige Bedingung für das Lernen in heterogenen Schulklassen ist ein
„adaptiver Lehrstil“, der unterschiedliche Bedürfnisse der Schülerinnen und
Schüler berücksichtigt (WEINERT 1997a, S. 52). Dazu gehören sowohl Indivi-
dualisierung und Stillarbeitsphasen als auch Instruktion und Lehrervortrag zur
Sicherung von Grundbegriffen als auch gemeinsames Lernen durch ko-kons-
truktive Interaktion.
4 Zusammenfassung
Lernprozesse im Unterricht werden aus sozialkonstruktivistischer Perspektive
durch die interaktive Konstruktion von Bedeutung initiiert. Gemäß den hier zu-
grunde gelegten normativen Prämissen für ‚guten Unterricht‘ in heterogenen
Lerngruppen gehört dazu sowohl ein konstruktiver Umgang mit unterschied-
lichen Sichtweisen und Erfahrungen als auch die interaktive Entwicklung ge-
meinsamer Grundbegriffe schulischer Inhalte. Dem entspricht eine reziproke
Unterrichtsinteraktion, die Raum für das Denken und Sprechen der Lernenden
lässt und in der das Können der Schülerinnen und Schüler ein Ausgangspunkt
für die Anleitung und Unterstützung durch die Lehrkraft ist. Die Variation ver-
schiedener didaktischer Handlungsmodelle und Unterrichtsmethoden in Ab-
hängigkeit von Unterrichtsinhalten und -zielen und in Abhängigkeit von den
Bedürfnissen der Lerngruppe kann dazu beitragen, dass Prozesse der interak-
tiven Konstruktion und der Instruktion durch die Lehrkraft aufeinander bezogen
sind.
80
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen
2. Erläutern Sie den didaktischen Anspruch, das Können des Kindes als Aus-
gangspunkt für Instruktion zu nehmen, mit WYGOTSKIS Begriffen!
3. Analysieren Sie die Interaktion zwischen Lehrerin und Schülerinnen in dem
Beispiel in Kasten 4! Wodurch zeichnet sich das Gesprächsverhalten der Leh-
rerin aus? Wie wirkt es auf die Beiträge der Schülerin Hannah?
4. Klären Sie den Begriff ‚Innere Differenzierung‘ und illustrieren Sie ihn an
einem (fiktiven) Beispiel aus dem Unterricht! Welche Potenziale und welche
Probleme birgt Innere Differenzierung im Unterricht?
5. Analysieren Sie das Unterrichtsbeispiel in Kasten 5 („Das soll eine Sonne
sein?“)! Welche Lernprozesse werden wie initiiert? Welche Rolle spielt die
Lehrerin?
Literaturempfehlungen
REICH, K. (2006): Konstruktivistische Didaktik. Lehr- und Studienbuch mit Me-
thodenpool. Weinheim und Basel.
Kersten REICH, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Köln,
stellt in dem Lehr- und Studienbuch theoretische Grundlagen und praxisbezo-
gene Konzepte einer konstruktivistisch orientierten Didaktik dar. Ausgangs-
punkt ist die Frage, wie wir „alle Lerner (...) noch mehr zu ihrem individuell
erfolgreichen, optimierten, für sie passenden Lernen“ kommen lassen können
(S. 10f). Ein Methodenpool auf CD führt in verschiedene Unterrichtsmethoden
ein und enthält konkrete Beispiele für die Unterrichtsgestaltung.
81
Sara Fürstenau
Literaturverzeichnis
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82
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen
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Lehberger, R./Sandfuchs, U. (2008): Heterogenität in Schule und Unterricht – einleitende
Reflexionen. In: R. Lehberger/U. Sandfuchs (Hrsg.) (2008): Schüler fallen auf. He-
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Lipowsky, F. (2007): Unterrichtsqualität in der Grundschule – Ansätze und Befunde der
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Reinmann-Rothmeier, G./Mandl, H./Erlach, C./Neubauer, A. (2001): Wissensmanage-
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Weinheim u.a.
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Grundschulalter. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 11. Jg., Nr. 1, S. 7-29.
83
Sara Fürstenau
84
Kapitel 4
Petra Hild
Kooperatives Lernen
Lernen geschieht in und durch Interaktion. Dies ist eine der Kernaussagen dieses
Beitrages über Kooperatives Lernen. Als Kooperatives Lernen bezeichnet man
ganz allgemein verschiedene Unterrichtsstrategien, deren Gemeinsamkeit die
Gruppenarbeit ist. Der Ansatz des Kooperativen Lernens soll sichern, dass die
Schülerinnen und Schüler nicht nur zusammenarbeiten, sondern dass sie ge-
meinsam mehr lernen als allein. Kooperatives Lernen nutzt Heterogenität als
Ressource. Es ist eine interaktive und strukturierte Lernform, bei der alle Ler-
nenden sich und ihre Kompetenzen beim Bearbeiten einer komplexen Aufgabe
möglichst eigenverantwortlich und gleichberechtigt einbringen, wobei die Leh-
rerin oder der Lehrer Autorität delegiert. Dadurch entstehen für die Lehrper-
son Räume zur Beobachtung, die im herkömmlichen Unterricht meist fehlen.
Kooperatives Lernen ist vom Grundgedanken her nichts Neues. Bereits Amos
COMENIUS (1592-1670) beklagte, dass das Prinzip ,Wer andere lehrt, bildet sich
selbst‘ in den Schulen zu wenig bekannt sei. Die Zunahme der Beschäftigung
mit kooperativem Lernen innerhalb der letzten Jahre hat stark mit einem ver-
änderten Lehr-Lernverständnis zu tun. Zahlreiche Forschungen bestätigen die
Wirksamkeit von Kooperativen Lernprozessen (vgl. GREEN/GREEN 2007; HUBER
1993; JOHNSON/JOHNSON/HOLUBEC 2002; KONRAD/TRAUB 2001).
1 Kooperatives Lernen?
Gruppenarbeit kennen wir doch ...
Bevor Sie sich gleich eingehender mit Kooperation und Kooperativem Lernen
beschäftigen, nehmen Sie sich bitte 20 Minuten Zeit für die folgenden zwei
Aufgabenstellungen:
85
Petra Hild
Zwei oder mehr (höchstens sechs) Personen arbeiten mit dem Ziel zusammen,
gemeinsam ein Problem zu lösen oder einen Lernauftrag zu erfüllen. Alle ken-
nen das Ziel und wollen es erreichen. Die oder der Einzelne erreicht es, wenn
die Gruppe es erreicht hat. Jedes Gruppenmitglied hat eine Rolle und eine Auf-
gabe, die seinen Fähigkeiten entspricht. Diese Rolle und diese Fähigkeiten sind
notwendig zum Erreichen des Ziels. Das macht die Einzelnen zur Gruppe. Alle
Mitglieder sind somit voneinander abhängig. Sie kooperieren, wenn sie einan-
der ihre Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Dazu müssen sie interagieren und
kommunizieren. Sie müssen sich gegenseitig fragen, einander zuhören, eine
Meinung vertreten, Gedanken strukturieren, den Überblick behalten und Ar-
beitsteilung organisieren.
86
Kooperatives Lernen
Kooperatives Lernen wird seit über zwanzig Jahren innerhalb der Interkul-
turellen Pädagogik diskutiert, erforscht und reflektiert. Anfang der neunziger
Jahre hat z.B. Pieter BATELAAN (Niederlande) zur Förderung der Interkulturellen
Pädagogik in Europa SLIM eingeführt. SLIM heißt im Holländischen ,klug‘ und
steht hier für gemeinsames Lernen in multikulturellen Gruppen. Die schwed-
ische Variante ist als CLIP (Cooperative Learning in Intercultural Education
Projects) bekannt. SLIM und CLIP beruhen auf den Ideen der Komplexen In-
struktion, die im Folgenden vorgestellt werden (1.1). Auf zentrale Merkmale
Kooperativen Lernens wird im Anschluss daran eingegangen (1.2).
87
Petra Hild
A Arbeitsauftrag 1
Die erste (und zweite) Aufgabe ist für alle Gruppen gleich. Sie führt ins Thema
ein, holt Vorwissen ab, ermöglicht Austausch und lässt alle zu Wort kommen.
Für diese Phase eignet sich z.B. die Taktik ,Platzdeckchen‘ (s. S. 94).
B Inhaltskarte
In einem zweiten Schritt befasst sich die Gruppe mit einer von der Lehrperson
gestalteten Inhaltskarte. Eine Inhaltskarte stellt auf 1 bis 2 Seiten das Wesent-
liche zum Thema dar und dient der Wissenserweiterung. Ist etwas neu für die
Gruppe? Welche Fragen wirft die Inhaltskarte auf? Diskursiv einigt sich die
Gruppe auf zentrale Inhalte und Aussagen zur gestellten Frage.
C Arbeitsauftrag 2
Im letzten Teil von CLIP soll das bisher erarbeitete Wissen zur Anwendung
kommen, es geht um Transfer von Wissen. Im Gegensatz zu den ersten zwei
Schritten unterscheidet sich die dritte Aufgabenstellung für jede Gruppe, indem
sie unterschiedliche Zugänge ermöglicht. Zum Thema Kinderrechte kann z.B.
von einer Gruppe ein Hörspiel geschrieben oder ein Plakat gestaltet und von
einer anderen ein Interview vorbereitet oder ein Rollenspiel erarbeitet werden.
Materialien sind pro Gruppe nur einmal vorhanden. Es ist wichtig, dass alle
ihr Wissen in die Gruppe einbringen und notwendige Informationen beisteuern.
Jede Gruppe ist als Team für die Präsentation verantwortlich und steht zur Be-
antwortung von Fragen zur Verfügung. Abgerundet wird die komplexe Instrukti-
on jeweils durch eine Reflexionsphase (s. auch unter Reflexion, S. 92).
88
Kooperatives Lernen
89
Petra Hild
• Die direkte Kommunikation und Interaktion hängt wesentlich von der Auf-
gabenstellung und deren Formulierung ab. Geeignet sind z.B. die folgenden
Aufforderungen: ,vergleicht‘ ..., ,beurteilt gemeinsam‘, ...
• Die Aktivierung des Vorwissens der Lernenden ist eine wichtige Grundlage
für das Erklären relevanter Gedanken oder Konzepte in der Interaktion.
• Das Vorentlasten (vor gelagertes Lehrgespräch, Illustrationen, o.ä.) unge-
wöhnlicher Begriffe und Gedankengänge eines neuen Konzeptes sowie das
Übertragen von Wörtern, Satzgefügen und Textstellen in eine Sprache, die
den Lernenden bekannt und vertraut ist, bieten nötige Grundlagen für nach-
folgende Erklärungs- und Aushandlungsprozesse.
• Ausschlaggebend ist auch die kommunikationsgerechte Anordnung des Mo-
biliars (z.B. Gruppentische).
90
Kooperatives Lernen
• Zielabhängigkeit: Die Gruppe erhält eine klare und komplexe Aufgabe, die
gemeinsam zu erfüllen ist und durch die genau festgelegt ist, was von den
Einzelnen erwartet wird. Den Schülern und Schülerinnen wird klar, dass das
Ziel nur erreicht wird, wenn alle ihren Beitrag leisten können.
• Rollenabhängigkeit: Jedes Gruppenmitglied bekommt eine bestimmte Rol-
le, die es zusätzlich erfüllt (vgl. HILD/WÜLSER 2000, S.44).
• Ressourcenabhängigkeit: Jedes Gruppenmitglied bekommt nur einen Teil
des Materials oder der Information, so dass in direkter Interaktion diskutiert
und ausgehandelt werden muss, um die Aufgabe zu erfüllen.
• Wenn eine Gruppe für eine längere Lerneinheit zusammen bleibt, wie bei-
spielsweise in einer Projektwoche, kann das Zusammengehörigkeitsgefühl
auch durch Identitätssymbole (Entwerfen eines Logos, Namensgebung ...)
oder durch Rituale (Song, Slogan, ...) unterstützt werden.
(6) Verbindlichkeit
Jede oder jeder kann dran kommen, alle müssen ihren Anteil beitragen. Die
Leistungen der Mitglieder sind verschieden. Im Idealfall sind die Gruppen-
mitglieder daran interessiert, dass die Lernresultate jedes einzelnen Mitgliedes
maximiert werden, dass das erarbeitete Produkt funktioniert und gefällt. Jedes
Gruppenmitglied muss den Prozess und das Ergebnis der Gruppe verantworten.
Jedes Gruppenmitglied tut, was seinen Möglichkeiten entspricht. Wenn diese
Haltung entsteht, gibt es kein ‚Trittbrettfahren‘. Folgende Hinweise unterstützen
eine Entwicklung in diese Richtung:
91
Petra Hild
92
Kooperatives Lernen
1. Der erste Schritt ist die individuelle Reflexion der Qualität des eigenen Bei-
trags am Gruppenergebnis. Dabei kann zwischen individuellen Zielen und
Gruppenzielen unterschieden werden.
2. Jede Gruppe erhält ein Feedback zur Art und Weise ihrer Zusammenarbeit.
Die Lehrpersonen können dafür auf Beobachtungen zurückgreifen, die sie
sich während der Gruppenarbeitsphase notiert hat.
3. Die Gruppenmitglieder besprechen innerhalb der Gruppe, abhängig von der
Zielsetzung und je nach Prozessstand folgende Elemente: Art und Weise der
Zusammenarbeit; Rollenübernahme; Einhalten von Regeln; Kooperations-
und Kommunikationsverhalten; entstandene Unklarheiten oder Fragen zum
Lernstoff; Beurteilung des Endproduktes; falls die Gruppe zusammen bleibt,
erfolgt auch eine möglichst konkrete Planung der Weiterarbeit.
4. Regelmäßig aber nicht immer wird in der Großgruppe über Qualität und Vor-
gehensweise der Teamarbeit berichtet und reflektiert. Diese Reflexionen er-
gänzen das Überdenken in den Arbeitsgruppen.
5. Der letzte Schritt ist jeweils ein Höhepunkt in der Kooperativen Lerneinheit.
Lernerfolge, entstandene Produkte und Fortschritte werden präsentiert und
gewürdigt, und je nach Umfang auch gefeiert.
Lernen kann nur in dem Maße als wirksames kooperatives Lernen bezeichnet
werden, als die acht hier vorgestellten Kriterien erfüllt sind. Grundlegend für die
Qualität von Kooperativem Lernen ist das Bewusstsein vom Beziehungsgeflecht
zwischen Status und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, dem Arbeits-
auftrag, den Prozessen und der Dynamik der Lerngruppen sowie der Lehrerin-
tervention.
Beim Kooperativen Lernen kommen Strategien und Methoden zum Einsatz, die
die Interaktion und die Struktur der Gruppenarbeit wesentlich unterstützen. Im
angloamerikanischen Sprachraum wird zwischen Strategien und Taktiken Ko-
operativen Lernens unterschieden. Unterrichtsstrategien können verschiedene
Taktiken umfassen. Im Folgenden werden ausgewählte Beispiele vorgestellt.
93
Petra Hild
94
Kooperatives Lernen
D Präsentation
Während der Präsentation der Ergebnisse können diese dann z.B. an der Tafel
gesammelt werden. Variante: Die einzelnen ,Platzdeckchen‘ wandern von Grup-
pe zu Gruppe und werden gegen gelesen. Mit einem Haken versehen, zeigt die
Gruppe ihr Einverständnis. Ein Minuszeichen bedeutet Ablehnung. Mit einem
Fragezeichen werden Unklarheiten gekennzeichnet.
Die Taktik ,Platzdeckchen‘ kann in verschiedenen Fächern zum Einsatz kom-
men. In der Mathematik steht z.B. in der Mitte eine 4. Die Aufgabe für die
Schülerinnen und Schüler ist es dann, so viele Rechnungen wie möglich zu
finden, die als Resultat 4 ergeben.
(vgl. GREEN/GREEN 2007)
Denken-Austauschen-Vorstellen
Eine der einfachsten Taktiken mit der Bezeichnung Denken-Austauschen-Vor-
stellen strukturiert auf simple Art und Weise die Vernetzung von Wissen und
fördert die Interaktion und Kommunikation. Wenn die Lerngruppe ihre Per-
spektiven austauscht, kann jedes Mitglied ein Problem unter mehreren Aspekten
kennen lernen. Vergleichen, Erklären und Nachfragen sind Voraussetzungen für
Verstehensprozesse, welche durch die Interaktion ermöglicht werden. Dadurch,
dass sich mehr Betrachtungsweisen und Lösungswege ergeben, kann Wissen
langfristiger erhalten bleiben. In ihrer Einfachheit kann diese Taktik als eine Art
universelles Muster für kooperative Lernprozesse gelten.
A Denken
In einer individuellen Phase machen sich die einzelnen Lernenden allein Ge-
danken zur gestellten Lernaufgabe (z.B. ,Welche sieben Sehenswürdigkeiten
zeigt ihr in Zürich Touristen und Touristinnen?‘) und aktivieren somit ihre Vor-
erfahrungen und ihr Vorwissen. Die Lehrperson gibt dafür genügend Zeit.
B Austauschen
In einer anschließenden kooperativen Phase (zu zweit oder in Kleingruppen)
werden die Einzelbeiträge ausgetauscht. Alle kommen zu Wort. Der Vergleich
von Ergebnissen und die Diskussion abweichender Resultate fördert die Vernet-
zung von Wissen. Gleichzeitig findet in einfacher Form „Lernen durch Lehren“
statt. Die notwendige Diskussion einzelner Zwischenschritte kann zur Erfül-
lung einer komplexeren Aufgabenstellung beitragen.
95
Petra Hild
C Vorstellen
In der letzten Phase werden die Erkenntnisse und Lösungen im Plenum präsen-
tiert. Die erneute Aktivierung des Wissens festigt damit das Gelernte.
(vgl. GREEN/GREEN 2007, S. 130)
Dieses überaus einfache Prinzip ist wirksam, weil es die Lehrperson davor
schützt, diejenigen aufzurufen, die die Antwort bereits parat haben, bevor die
Lehrerfrage ausformuliert ist. So hat zum Beispiel eine Schülerin, welche die
Unterrichtssprache Deutsch noch erlernt, die Gelegenheit, Begriffe, die ihr feh-
len, in Erfahrung zu bringen und gleichzeitig in Phase C durch mehrmaliges
Hören zu festigen. Darüber hinaus werden alle Lernenden aktiviert, nicht nur
diejenigen die aufgerufen werden. Die Beteiligung aller am Unterrichtsgesche-
hen steigt.
96
Kooperatives Lernen
Das Gruppenrallye
Mit der Strategie ,Gruppenrallye‘ (vgl. SLAVIN 1993, S. 154) kann die gegensei-
tige positive Abhängigkeit in der Gruppe unterstützt werden. Die Ablaufstruktur
wird im Folgenden in einer praxisorientierten Beschreibung dargestellt, die in
Zusammenarbeit mit Gabriela Bai, einer Lehrerkollegin, entstand.
97
Petra Hild
98
Kooperatives Lernen
1. In der Anfangsphase legt die Lehrperson mehr Aufmerksamkeit auf die Ent-
wicklung der Qualität der Zusammenarbeit als auf das Lernprodukt.
2. Funktion und Sinn von Kooperativem Lernen muss den Lernenden einsichtig
werden. Sie verstehen den Mehrwert im Vergleich zum individuellen Lernen.
Die Lehrperson beginnt z.B. damit, die Klasse erst einmal Vorteile von Teams
und erfolgreicher Kooperation durchdenken zu lassen (Orchester, Fußball-
mannschaft). Die Lernenden erfahren und reflektieren, dass eine komplexe
Aufgabe unterschiedliche Fähigkeiten erfordert und erkennen wie wertvoll
das unterschiedliche Können und Wissen jedes Gruppenmitgliedes ist. Ge-
eignete Übungen finden sich z.B. bei STANFORD (1998).
3. In einer nächsten Phase setzen sich die Lernenden mit Merkmalen, Ele-
menten, Taktiken und Strategien auseinander. Die Schülerinnen und Schüler
lernen die Basiselemente des Kooperativen Lernens und Formen der Zusam-
menarbeit kennen. Erste Regeln werden gemeinsam diskutiert, festgehalten
und reflektiert. Auf der Unterstufe beschäftigen sich Lehrpersonen sinnvoller
Weise vertiefter mit Rollen (z.B. Lernanlage ,gemeinsam kochen‘). Jede neu
eingeführte Rolle wird in ihrer Bedeutung, Dimension und Funktion bespro-
chen. Beobachtbarkeit ist für jüngere Lernende zentral.
99
Petra Hild
4 Zusammenfassung
Zwar kann jede Lehrperson bereits morgen beginnen, Elemente des Koopera-
tiven Lernens in den eigenen Unterricht aufzunehmen, indem z.B. die Taktik
,Denken-Austauschen-Vorstellen‘ integriert wird. Unterrichtsentwicklung hat
aber vor allem dann eine Chance, wenn Schulteams sich zu diesen Fragen aus-
tauschen und gemeinsam weiterbilden. Nötig ist eine ebenso konsequente wie
systematische Entwicklungsarbeit mit vielfältigen ineinander greifenden Quali-
fizierungs- und Innovationsmaßnahmen in der Einzelschule. Hospitationen und
Feedbackkultur gehören ebenso dazu wie Teamteaching oder jahrgangsüber-
greifendes Arbeiten. Vergegenwärtigen Sie sich, dass auch die Heterogenität im
Schulteam eine Ressource und produktive Kraft ist.
100
Kooperatives Lernen
Literaturempfehlungen
HUBER, G.L. (Hg.) (1993): Neue Perspektiven der Kooperation. Ausgewählte
Beiträge der internationalen Konferenz 1992 über Kooperatives Lernen. Hohen-
gehren.
Diese Publikation gehört m. E. zur Grundlagenliteratur, wenn sich Pädagogen
und Pädagoginnen eingehender mit Kooperativem Lernen befassen wollen. Ne-
ben der historischen Dimension ist dabei die Verknüpfung von Interkulturel-
ler Pädagogik und Kooperativem Lernen (learning to learn, learning to life and
learning to life together) bedeutsam. Außerdem beruhen die hier vorgestellten
und beteiligten europäischen Ansätze auf den Ideen der Komplexen Instrukti-
on (basierend auf 20jähriger Forschung der Soziologin Elizabeth COHEN an der
Stanford University in Kalifornien), die im ersten Kapitel dieses Aufsatzes be-
schrieben werden. Die Publikation ist wohl die einzige im deutschsprachigen
Raum, welche diese Wurzeln berücksichtigt.
101
Petra Hild
Literaturverzeichnis
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Das Trainingsbuch. 3. Aufl., Seelze-Velber.
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schule und Erwachsenenbildung. Hohengehren.
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stärken. Friedrich Jahresheft XXII, 2004, S. 44-46.
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Stanford, G. (1998): Gruppenentwicklung im Klassenraum und anderswo. 5. Aufl., New
York.
102
Kapitel 5
Therese Halfhide
Teamteaching
1 Einleitung
Teamteaching ist eine Form der Zusammenarbeit von mindestens zwei koope-
rierenden Lehrpersonen, bei der die gemeinsame Verantwortung für das Un-
terrichten und die gemeinsame Unterrichtsentwicklung im Zentrum stehen.
Teamteaching gilt als besonders geeignet für einen inklusiven Unterricht (vgl.
BRÜSEMEISTER 2004; GEILING/HINZ 2005; GRAUMANN 2005; PRENGEL 1993). Dabei
geht es um sehr viel mehr als um die bloße Anwesenheit von zwei Lehrpersonen
im Klassenzimmer. Die Qualität des Unterrichts von im Teamteaching koope-
rierenden Lehrpersonen muss sich daran messen lassen, welche Konsequenzen
für die Schülerinnen und Schüler resultieren (vgl. HELMKE 2003, S. 236). Wenn
heute von Teamteaching in heterogenen Schulklassen die Rede ist, geht es primär
darum, die pädagogische Arbeit im Sinne einer optimalen Förderung eng an den
Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler auszurichten, um den Unter-
richt zugunsten gleicher Lern- und Partizipationschancen für alle Schülerinnen
und Schüler zu optimieren (vgl. BONSEN/VON DER GATHEN 2006). Teamteaching
ist im Rahmen integrativer heilpädagogischer Schulmodelle, in denen eine schu-
lische Heilpädagogin und eine Regellehrperson zusammen arbeiten, etabliert. In
jüngster Zeit steht auch die migrationsbedingte sprachliche und sozio-kulturelle
Heterogenität im Zentrum von Schul- und Unterrichtsinnovationen. Im Zusam-
menhang mit dem Zürcher Schulentwicklungsprojekt „Qualität in multikultu-
rellen Schulen“ (QUIMS) sind seit Mitte der 1990er Jahre etliche Projekte ent-
standen, in denen Teamteaching integraler Bestandteil ist (vgl. www.quims.ch;
TRUNIGER 2005; BILDUNGSDIREKTION ZÜRICH 2006). Teamteaching wird als eine
der Maßnahmen angesehen, um den in der Bildungsforschung nachgewiesenen
ungleichen Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen aus Einwanderer-
familien tieferer sozialer Schichten entgegen zu wirken.
103
Therese Halfhilde
Teamteaching ist keineswegs neu. Nach dem Vorbild der Teamarbeit in Wirt-
schaftsbetrieben entstand bereits Mitte der 1950er Jahre in den USA eine Team-
teaching-Bewegung, um Missstände im Schulwesen zu beheben. Dabei ging es
nicht um eine pädagogische Begründung dieser neuen Form, sondern lediglich um
das Festlegen der Aufgabenteilung unterschiedlich ausgebildeter Lehrpersonen.
Kennzeichen des frühen Teamteaching in den USA war eine strenge Hierarchie
unter den beteiligten Lehrpersonen (vgl. HOFFELNER 1995). In den 1960er Jah-
ren wurde Teamarbeit und Teamteaching in Großbritannien zu einem wichtigen
pädagogischen Ansatz erklärt. Im Zentrum standen eine flexible Kommunikati-
on und die Kooperation zwischen Lehrpersonen und Lernenden sowie Evalua-
tionen dieser Maßnahmen. Als man sich während der späten 1960er und 1970er
Jahre auch in Deutschland mit dem Thema befasste, lag der Schwerpunkt v.a.
bei der inneren Differenzierung in einer Klasse, die durch zusammenarbeitende
Lehrerteams gewährleistet werden sollte. In jüngster Zeit gewinnt Teamteaching
in der Diskussion um integrative Schulmodelle zunehmend an Bedeutung, um
zu gewährleisten, dass alle Schülerinnen und Schüler eines Lernverbandes mög-
lichst optimale Lernchancen erhalten. Dabei rücken die Zusammensetzung der
im Team arbeitenden Lehrpersonen und die Formen ihrer Zusammenarbeit ins
Zentrum sowie die Anforderung, einer heterogenen Schülerschaft in einem qua-
litativ guten Unterricht gerecht zu werden.
104
Teamteaching
105
Therese Halfhilde
die Auswahl der Unterrichtsinhalte und -methoden erfolgen gemeinsam. Mit der
gemeinsamen Verantwortung ist eine flexible Aufteilung der Aufgaben bzw. der
Zuständigkeiten für einzelne Schülerinnen und Schüler verbunden. Die Lehr-
personen wechseln dabei zwischen initiierenden und unterstützenden Aufgaben
im Unterricht ab. Es gibt ein breit gefächertes Angebot von Lernanlässen, das
eine flexible Differenzierung und Individualisierung ermöglicht (vgl. DAXBA-
CHER/BERGER 1993, S. 243). Dieses Teamteaching-Verständnis kommt demjeni-
gen von heute am nächsten, weil die Aspekte Integration, Differenzierung und
Individualisierung mit einbezogen werden (vgl. FROMMHERZ/HALFHIDE 2003).
Dieses Verständnis von Teamteaching lässt sich ohne weiteres loslösen von der
Kategorisierung der Kinder z.B. in ‚behinderte‘ und ‚nicht behinderte‘ und dem
Gedanken, die eine Gruppe müsse in die andere integriert werden. Es entspricht
der internationalen Ablösung des Begriffs ,Integration‘ durch ,Inklusion‘. Nach
dem Inklusions-Konzept werden alle Aspekte, die im Zusammenhang mit Hete-
rogenität in den Blick genommen werden können, als ,normal‘ angesehen.
106
Teamteaching
den werden. Durch Teamteaching soll gewährleistet werden, dass die sprach-
liche Förderung trotz unterschiedlichstem Sprachstand der Schülerinnen und
Schüler für alle gewährleistet werden kann. Unter dem Leitbegriff ,Inklusion‘
„weitet sich dieses Verständnis zur positiven Wahrnehmung und Nutzung von
Heterogenität mit all ihren unterschiedlichen Dimensionen in einer Schule für
alle“ (BOBAN/HINZ 2004, S. 39). Inklusion bedeutet, dass eine – als unteilbar ver-
standene – heterogene Lerngruppe unter pädagogischen Gesichtspunkten nicht
mehr trennscharf in zwei oder mehr Teilgruppen unterschieden werden kann.
Alle haben teil an der Gemeinschaft ihrer Schule.
Annedore PRENGEL legte bereits 1995 in ihrem Buch „Pädagogik der Vielfalt“
die Elemente und Merkmale dar, die heute unter dem Begriff ,Inklusion‘ disku-
tiert werden. Sie stellte die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler explizit
in den Mittelpunkt ihrer theoretischen und praktischen Überlegungen. Sie geht
soweit, dass sie eine Aufhebung der homogenen Jahrgangsklasse in der Regel-
schule fordert, da die heterogene Zusammensetzung ohnehin kein gleichschrit-
tiges Lernen zulasse. Auszugehen sei von der Unterschiedlichkeit der Lernziele
in einer Klasse. Dieses Prinzip nennt sie ,zieldifferentes Lernen‘. Sie spricht von
Vielfalt im Sinne einer ,egalitären Differenz‘ (vgl. PRENGEL 2001) und geht von
einem demokratischen Differenzbegriff aus. In diesem Denkzusammenhang ist
Teamteaching als eine Form von kooperierenden Lehrpersonen in einem inklu-
siven Unterricht zu verstehen.
Vielfalt: Alle Lernenden in der Schule werden in den Blick genommen und in
ihrer Vielfalt wertgeschätzt. Kategorisierungen werden vermieden.
Lernen und Teilhabe: Barrieren für das Lernen und die Teilhabe werden besei-
tigt, denn alle sind in das Recht auf Lernen einbezogen. Dies gilt für Schüle-
rinnen und Schüler wie für Lehrpersonen.
Demokratie: Alle Stimmen kommen zur Geltung und Zusammenarbeit auf al-
len Ebenen ist unentbehrlich.
Die Schule als Ganzes: Die Schule als Ganzes muss sich verändern und Barrie-
ren für das Lernen und die Teilhabe sind nicht primär in einzelnen Lernenden zu
suchen, sondern bei allen Aspekten einer Schule (alle Ebenen des Systems).
Die Gesellschaft als Gesamtes: Inklusion ist kein Status, der erreicht werden
kann, sondern ein kontinuierlicher Prozess, ist politisch und konflikthaft und
bezieht sich auf den Anspruch auf Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft.
(vgl. BOBAN/HINZ 2004, S. 40f.)
107
Therese Halfhilde
Wie zu Beginn erwähnt, ist Teamteaching weit mehr, als die Anwesenheit von
zwei Lehrpersonen in einem Klassenzimmer. GRÄSEL u.a. (2006, S. 206) halten
fest, dass Schulen Organisationen sind, in denen Lehrpersonen i.d.R. alleine für
eine Klasse verantwortlich sind. Obwohl Zusammenarbeit heute meist vorgese-
hen ist, bedeutet dies nicht, dass automatisch von kooperierenden Teams gespro-
chen werden kann. Die Autorinnen und Autoren werfen die Frage auf, inwieweit
strukturelle Bedingungen der Schule die Kooperation erschweren.
Kooperation ist nach SPIESS (2004, S. 199) gekennzeichnet “durch den Bezug
auf andere, auf gemeinsam zu erreichende Ziele bzw. Aufgaben, sie ist intentio-
nal, kommunikativ und bedarf des Vertrauens. Sie setzt eine gewisse Autonomie
voraus und ist der Norm von Reziprozität verpflichtet“. ROLFF (1980, S. 113)
definiert Lehrerkooperation als Problemlösekompetenz, die sich prozesshaft
entwickelt und im Idealfall zum teamartigen kooperativen Handeln führt. Leh-
rerinnen und Lehrer, die eine solche Handlungskompetenz entwickeln, erfüllen
die Voraussetzungen von ,Professionellen Lerngemeinschaften‘ (PLG), die ge-
kennzeichnet sind durch einen reflektierenden Dialog, eine Bereitschaft, ihre
Unterrichtspraxis schulintern öffentlich zu machen, eine kontinuierliche Zusam-
menarbeit und Kooperation sowie gemeinsamen handlungsleitenden Zielen. Als
Schlüsselwerte in PLGs gelten vor allem eine ,Hilfe-Kultur‘ und ,Fehlertole-
ranz‘ (vgl. ROLFF 2006, S. 238). Die professionelle Praxis in Schulen – insbe-
sondere in sozio-kulturell und sprachlich heterogenen – ist „komplex, ungewiss,
mehrdeutig, einzigartig und von Wert- und Interessekonflikten geprägt“ (ebd. S.
235) und ist längst nicht mehr von einzeln agierenden Lehrpersonen zu bewäl-
tigen. PLGs an Schulen, welche die Qualität des Unterrichts, bezogen auf die
komplexen Anforderungen einer heterogenen Schülerschaft, entwickeln, benöti-
gen eine institutionelle Basis, wenn sie dauerhaft und nachhaltig wirken sollen.
An Schulen sind unterschiedliche PLGs von Lehrpersonen möglich: z.B. Fach-
gruppen unterschiedlicher Lehrpersonen, Jahrgangs- oder Klassenteams sowie
Teamteaching-Tandems.
Teamteaching ist also nur als eine Form von kooperativ handelnden Lehrper-
sonen im Sinne einer PLG an einer Schule zu verstehen. Wie eine Erhebung in
sechs Primarschulklassen in der Stadt Zürich (vgl. FROMMHERZ/HALFHIDE 2003)
gezeigt hat, werden die Chancen des Teamteaching in höherem Maße genutzt,
wenn alle Lehrpersonen einer Schule in die Unterrichtsentwicklung unter dem
Gesichtspunkt der Heterogenität verbindlich einbezogen sind. Dieses Ergebnis
deckt sich mit den Aussagen von HORSTER/ROLFF (2001, S. 58), in denen sie die
108
Teamteaching
Wichtigkeit betonen, dass Lehrpersonen einer Schule sich über ihre Vorstellun-
gen von Unterricht verständigen müssen und die dafür notwendigen Schritte
vereinbaren sowie die Kriterien definieren, anhand derer der Erfolg der gemein-
samen Anstrengungen gemessen werden kann.
Das gemeinsame Unterrichten im Teamteaching verlangt eine anspruchs-
volle Form der Kooperation, die über den Austausch und die Arbeitsteilung hin-
aus geht. GRÄSEL u.a. (2006, S. 211) nennen die am höchsten entwickelte Form
von Kooperation ,Kokonstruktion‘. Kokonstruktion zeichnet sich durch einen
intensiven Austausch zwischen den Partnerinnen und Partnern hinsichtlich ih-
rer Aufgabe aus. Indem die Lehrpersonen ihr individuelles Wissen aufeinander
beziehen, kokonstruieren sie Bedeutungen. Im Unterschied zur arbeitsteiligen
Kooperation wird kontinuierlich an der gemeinsamen Aufgabe gearbeitet. Im
Zentrum stehen sowohl ein gemeinsames Ziel als auch der Arbeitsprozess. Für
eine produktive Kokonstruktion ist Vertrauen besonders wichtig. “Jeder Einzel-
ne muss das Risiko eingehen, Fehler anzusprechen, zu kritisieren und zu hinter-
fragen bzw. selbst unsichere Vorschläge zu machen, die auf Ablehnung stoßen
können. (...) Der Aufwand für gemeinsame Abstimmungen ist relativ hoch und
die Gefahr für sachliche und soziale Konflikte größer als bei anderen Koope-
rationsformen“ (ebd. S. 211). Teamteaching sehen GRÄSEL u.a. als die eindeu-
tigste Form von Kokonstruktion, weil Lehrpersonen gemeinsam unterrichten.
Gemeinsam zu unterrichten bedingt eine gemeinsame Planung, das gemeinsame
Erstellen von Unterrichtsmaterialien und die Reflexion über Unterrichtsepiso-
den.
109
Therese Halfhilde
110
Teamteaching
111
Therese Halfhilde
112
Teamteaching
• verbessert die Qualität des Unterrichts, da sich die Lehrpersonen häufig er-
gänzen;
• erhöht die Objektivität der Leistungsbeurteilung;
• schafft überhaupt erst die Möglichkeit, in sehr heterogenen Klassen den Un-
terricht genügend zu differenzieren und zu individualisieren;
• ermöglicht eine permanente Unterrichtsentwicklung durch den Aufbau ei-
ner Feedbackkultur.
Die Arbeit im Teamteaching stellt eine Chance dar, die Arbeitsqualität und die
Berufszufriedenheit der Lehrpersonen zu verbessern. Die oben aufgeführten
Wirkungen bleiben jedoch teilweise oder ganz aus, wenn die Lehrpersonen nur
nebeneinander arbeiten und kein Interesse an Unterrichtsentwicklung haben.
Die Chance, dass sich die positiven Wirkungen tatsächlich ergeben, erhöht sich,
wenn Teamteaching im Kontext einer umfassenden Schul- und Unterrichtsent-
wicklung umgesetzt wird.
113
Therese Halfhilde
Beiden Modellen gemeinsam ist die Vernetzung über die Einzelschule hinaus
und eine kontinuierliche Unterrichtsentwicklung über mehrere Jahre, wobei
Teamteaching ein integratives Element darstellt. Mindestens eine der beteiligen
Lehrpersonen eines Tandems, das im Teamteaching unterrichtet, verfügt über
spezifische Fachkenntnisse in Deutsch als Zweitsprache-Didaktik. Die einzel-
nen Tandems entwickelten innerhalb der vorgegebenen Rahmenbedingungen
geeignete Teamteachingformen, um die sprachliche Bildung im Unterricht zu
optimieren. An den regelmäßigen Treffen der Tandems reflektierten alle ihre
Erfahrungen und planten nach Bedarf Begleit- oder Weiterbildungsmaßnahmen.
Gegenseitige Hospitationen bilden dabei ein wesentliches Element, um den
Teamteachingunterricht zu optimieren. Beide Projekte wurden nach einer Er-
probungsphase evaluiert (vgl. HALFHIDE u.a. 2001, S. 14ff.).
114
Teamteaching
6.3 Unterrichtsorganisation
Ein wichtiges Merkmal von inklusivem Unterricht ist die Überwindung der Vor-
stellung von immer gleichen Lerngruppen nach dem Muster ,mit/ohne‘ Förder-
bedarf. Die Lerngruppen werden je nach Unterrichtsgegenstand oder gewählter
Lernform immer wieder neu zusammengesetzt. Teamteaching ermöglicht eine
Vielfalt an Unterrichtsformen und Methoden. Je nachdem variieren die Rol-
len der Lehrpersonen. Die im Folgenden aufgeführten Beispiele stammen aus
der Praxis von Lehrpersonen, die im Teamteaching unterrichten. Sie wurden
an Weiterbildungsveranstaltungen der Autorin zusammen getragen. Wichtig ist,
dass die aktive Lernzeit der Schülerinnen und Schüler möglichst hoch sein soll.
Zudem achten die Lehrpersonen darauf, dass sie während des Teamteaching-Un-
terrichts immer eine klar definierte Aufgabe wahrnehmen. Eine solche Aufgabe
kann auch die gegenseitige Hospitation sein sowie gezieltes Beobachten einzel-
ner Schülerinnen und Schüler im Zusammenhang mit der Förderdiagnostik.
115
Therese Halfhilde
116
Teamteaching
7 Zusammenfassung
117
Therese Halfhilde
Literaturempfehlungen
HALFHIDE, T./FREI, M./ZINGG, C.: Teamteaching. Wege zum guten Unterricht.
Zürich 2001.
Eine Broschüre, die sich vor allem auf praktische Erfahrungen aus dem Kanto-
nalzürcher Projekt ‚Qualität in multikulturellen Schulen‘ (QUIMS) stützt. Sie
enthält Ideen und Modellbeschreibungen, die die Einrichtung von Teamteaching
erleichtern.
BOBAN, I./HINZ, A.: Der Index für Inklusion – ein Katalysator für demokratische
Entwicklung in der „Schule für alle“. In: Heinzel, F./Geiling, U. (Hrsg.): Demo-
kratische Perspektiven in der Pädagogik. Wiesbaden 2004, S. 37-48.
Mit dem Index für Inklusion stellen die Autoren ein Material der Selbstevalua-
tion von Schulen vor, das die Funktion einer demokratischen Entwicklung einer
‚Schule für alle‘ haben kann.
118
Teamteaching
Literaturverzeichnis
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die Methoden der Aktionsforschung. 3. durchgesehene und erweiterte Auflage. Bad
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Therese Halfhilde
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120
Kapitel 6
Agi Schründer-Lenzen
1 Sprachliche Heterogenität
121
Agi Schründer-Lenzen
122
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
rierten Lernsituationen (HÖLSCHER u.a. 2006) lässt sich von dem sprachsystema-
tischen Konzept der Berliner DaZ-Handreichung unterscheiden, das besonderes
Gewicht auf den Erwerb bestimmter grammatischer Strukturen legt (vgl. RÖSCH
2005).
123
Agi Schründer-Lenzen
124
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
KASTEN 1 f
In der Praxis ist die Vernetzung der vorschulisch erhobenen Informationen über
die Sprachentwicklung mit dem Anfangsunterricht ein gravierendes Problem,
das zumeist durch punktuelle Verständigung zwischen Kindergärtnerin und
Grundschullehrerin ‚gelöst‘ wird. Ansatzpunkte für eine institutionenübergrei-
fende diagnostische Orientierung lassen sich z.B. in dem Berliner Konzept des
Sprachlerntagebuches für den Elementarbereich und der sich anschließenden
„Lerndokumentation Sprache“ finden. Hier werden einerseits die diagnosti-
schen Kategorien der Vorschulphase wieder aufgegriffen und andererseits er-
weitert, indem neben den üblichen Beobachtungsdaten für den Schriftsprach-
erwerb (phonologische Bewusstheit, Schreibmotorik, Lesen, Rechtschreiben,
Textproduktion) auch Kategorien für das mündliche Sprachhandeln, die mor-
pho-syntaktische Entwicklung, die Sprachlernmotivation und das Sprachwissen
berücksichtigt werden.
Damit wird an Erkenntnisse aus der Spracherwerbsforschung angeknüpft,
die – unabhängig von der jeweiligen Herkunftssprache – im Bereich der Syntax
einen idealtypischen Erwerbsverlauf des Deutschen als Zweitsprache gezeigt
haben.
Besonders markant ist die sprachliche Progression im Bereich der Wortstel-
lung, die sich in Anlehnung an GRIESSHABER (2005) in folgenden Stufen be-
schreiben lässt:
125
Agi Schründer-Lenzen
Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Tatsache, dass die syntaktischen
Strukturen von Deutsch als Zweitsprache in bestimmten Sequenzen erworben
werden? Lässt sich durch Unterricht die Reihenfolge dieser Erwerbssequenzen
beschleunigen bzw. verändern? Diese Fragen sind von hoher didaktischer Rele-
vanz und konnten bereits in den 1980er Jahren von PIENEMANN beantwortet und
von DIEHL u.a. (2000) erneut bestätigt werden: Der Erwerb von grammatischen
Strukturen, die eine Stufe über dem bereits erreichten Sprachstand liegen, kann
durch Unterricht positiv beeinflusst werden.
Teachability-Hypothese:
Sprachentwicklung ist durch Instruktion beeinflussbar!
Wenn jedoch das Lernangebot Sprachstrukturen enthält, die mehr als eine Stufe
über dem jeweils aktuellen Sprachstand liegen, dann ist der Unterricht besten-
falls wirkungslos, wenn er nicht sogar zu einer Beeinträchtigung der weiteren
Sprachentwicklung führt. Diese Aussage bezieht sich aber nur auf das didak-
tische Lernmaterial, nicht auf die Lehrersprache. Gerade die Vorbildfunktion
einer variantenreichen aber verständlichen Lehrersprache ist wichtig für impli-
zite Spracherwerbsprozesse, die zumindest im Grundschulalter noch erwartet
werden können (DEKEYSER 2003, N.C. ELLIS 2002, OERTER 2000). Allerdings
sind diese Erwerbsprozesse auch in spezifischer Weise fragil: Anders als der so-
zusagen robuste Erstspracherwerb unterliegt der Zweitspracherwerb ‚Fossilie-
rungstendenzen‘, d.h. es besteht die Gefahr, dass die Lernersprache auf einem
Sprachentwicklungsniveau stehen bleibt. Gerade diese Stagnationen sind ohne
eine kontinuierliche Beobachtung nicht bemerkbar und nur durch gezielten
sprachsystematischen Input aufzubrechen (vgl. DOUGTHY 2003, R. ELLIS 2002).
126
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
127
Agi Schründer-Lenzen
• Sie bezieht sich auf den gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und
Schülern unterschiedlicher Erstsprachen und ethnischer Zugehörigkeit.
• Sie bedeutet die Verbindung aller Bereiche der Spracherwerbsaufgabe.
• Sie meint die Verzahnung von Sprach- und Fachlernen.
Für den Umgang mit Heterogenität gibt es eine Reihe praxiserprobter Unter-
richtsmethoden wie z.B. Projektarbeit, Lernen an Stationen, Wochenplanarbeit,
Lernen durch Lehren, die die drei klassischen Prinzipien des Umgangs mit He-
terogenität umsetzen: Differenzierung, Individualisierung und soziale Koopera-
tion (vgl. auch Kapitel 3 und 5). Dabei lassen sich aus didaktischer Perspektive
zwei Pole der unterrichtlichen Umsetzung unterscheiden:
128
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
KIPER/MISCHKE 2004). Was aber bedeuten diese Überlegungen für eine didak-
tische Perspektive auf sprachlich-kulturelle Heterogenität?
Aus empirischer Sicht gibt es dazu bisher erst wenige Befunde: In der Berli-
ner Längsschnittstudie zur Lesekompetenzentwicklung von Kindern mit Migra-
tionshintergrund (BeLesen vgl. SCHRÜNDER-LENZEN/MERKENS 2006) zeigte sich,
dass sich die Effekte unterschiedlicher fachdidaktischer Strukturierungen des
Anfangsunterrichts zumindest bis zum Ende der Primarstufe verlieren, d.h. die
anderen Effekte der Unterrichtssituation und auch der individuellen Lernvor-
aussetzungen sind bedeutsamer für den Lernerfolg als die Unterrichtsmethode:
Am Ende von Klasse 4 hatten die Kinder besonders viel dazugelernt, die in einer
Klasse lernen konnten, in der der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund
geringer als in anderen war und das allgemeine kognitive Leistungsniveau der
Klasse besonders hoch lag (vgl. MÜCKE 2007). Welche Relevanz haben dann
noch unterrichtsmethodische Entscheidungen? Kann es überhaupt eine didak-
tische Antwort geben, die über den üblichen Umgang mit Heterogenität wie z.B.
Individualisierung von Unterricht hinausgeht?
Eine Antwort auf diese Fragen hängt auch von der didaktischen Grund-
orientierung ab, unter der die migrationsbedingte Heterogenität gesehen wird:
Wird die soziokulturelle und sprachliche Distanz der Kinder und Jugendlichen
zur schulischen Bildungssprache als ein Problem gesehen, dann muss ein kom-
pensatorisches Konzept entwickelt werden, mit dem Sprachförderung und kul-
turelle Integration als ein notwendiges Additum angeboten werden. Diese Sicht
wird teilweise durch eine Einschätzung überlagert, die die sprachlich-kulturelle
Heterogenität in der deutschen Schule als ‚normale‘ Erscheinung einer ‚multi-
kulturellen Gesellschaft‘ bzw. als Chance für die Erweiterung einer nationalen
Kultur betrachtet. Schülerinnen und Schüler aus anderen Kulturen mit anderen
Sprachen werden als Bereichung für die Klasse gesehen. Aufgabenstellungen
und Materialien sollen daher unterschiedliche Kulturen und Sprachen einbe-
ziehen, Weltoffenheit vermitteln und Differenzen transparent machen. Das
wechselseitige Lernen, eine Kultur der Anerkennung sind das Ziel. Für die
heterogene Klasse wird damit die Aufgabe gesehen, eine Atmosphäre der Ge-
meinsamkeit und des Miteinander zu kultivieren. Es kann aber nicht nur darum
gehen, Toleranz und Wertschätzung gegenüber Anderen und fremden Kulturen
zu vermitteln, sondern auch Grenzen der Toleranz innerhalb einer freiheitlich
demokratischen Gesellschaft bewusst zu machen (ATES 2007, TIBI 2002). Dieser
Komplex von Unterrichtszielen und -inhalten berührt im Kern die Frage der nor-
mativen Setzungen, die sich mit dem Konzept eines „interkulturellen Lernens“
verbinden (vgl. GOGOLIN/KRÜGER-POTRATZ 2006 und Kapitel 2).
129
Agi Schründer-Lenzen
130
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
131
Agi Schründer-Lenzen
Insbesondere das tägliche Vorlesen durch die Lehrperson kann ein sprachlich
gutes, Wissen vermittelndes und emotional anschlussfähiges Lernangebot
sein. Die Prozesse des Hör- und Leseverstehens gleichen sich zu einem großen
Teil, allerdings mit einigen zentralen Unterschieden: Die Entschlüsselung des
sprachlichen Inputs muss sehr schnell erfolgen und ist häufig nur unvollständig
bzw. mit Verstehenslücken möglich. Eine gut artikulierte und ausdrucksvolle
Lehrersprache, wechselnde Sprecher beim Vorlesen, der Einsatz von Hörkasset-
ten (Globalverstehen), Höraufgaben, in denen das Zuhören auf einzelne Schlüs-
selwörter (selektives Hören) oder inhaltliche Aspekte (Detailverstehen) gelenkt
wird, können hier unterstützend wirken. Über ein interaktives, ‚dialogisches‘
Vorlesen kann eine Lesehaltung demonstriert werden, die die Kinder beim
selbstständigen Lesen zunehmend allein übernehmen können. So werden sie zu
132
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
Leserinnen und Lesern, die einen Text nicht ‚rezipieren‘, sondern befragen und
solange ‚kneten‘ bis sie ihn verstanden haben.
Für die Unterstützung eines expliziten Sprachlernens ist die Vermittlung
von Lernstrategien wichtig, durch die die Lernenden in die Lage versetzt wer-
den, ihren Sprachlernprozess selbständig zu steuern (kognitive Strategien), zu
überwachen (metakognitive Strategien) und aufrechtzuerhalten (sozial-affek-
tive Strategien) (zu der Strategietypologie eines good language learners vgl.
O’MALLEY/CHAMOT 1990, S. 137ff.). Lernstrategien müssen domänenspezifisch
erworben werden, also z.B. für das Abschreiben, für das Lösen des Dreisatzes
oder die Erarbeitung von Texten. In dem o. g. Beispiel (Abb. 2) finden sich
bereits alle drei Lernstrategien: die kognitiven Strategien durch das Textstellen
markieren, Erstellen von mind maps etc., die metakognitiven Strategien durch
die bewusste Steuerung der Aufmerksamkeit auf Schlüsselwörter, hypothesen-
testendes Lesen etc. und die sozial-affektiven Strategien durch die Lesekonfe-
renz, durch die Orientierung auf das Verstandene, die ‚Inseln des Verstehens‘.
133
Agi Schründer-Lenzen
3 Zusammenfassung:
Zentrale didaktische Grundsätze für den Umgang mit
sprachlich-kultureller Heterogenität
Zusammenfassend lassen sich einige Aspekte pointieren, die für den Umgang
mit migrationsbedingter Heterogenität bedeutsam sind:
Ausgangspunkt von Unterricht in der sprachlich-kulturell heterogenen Klas-
se sollten individuelle Sprachstandsanalysen sein, die nicht nur die linguistisch
markierten sprachlichen Basisqualifikationen umfassen, sondern das Kind als
Ganzes in den Blick nehmen, mit allen seinen Ressourcen, von denen die Mehr-
sprachigkeit nur eine ist. Sprachstandsdiagnostik ist dabei notwendig prozessbe-
gleitend zu gestalten, und zwar über die gesamte Schulzeit.
Die Vielfalt der Klasse sollte – so weit möglich – für die Bildung sprachlich
heterogener Lerngruppen genutzt werden, damit implizite Sprachlernprozesse
begünstigt werden. Gleichwohl werden explizite Sprachlernprozesse notwendig
bleiben, um eine Stagnation des Erwerbsprozesses zu verhindern. Bewusstma-
chen und Üben der sprachsystematischen Strukturen der Zielsprache, d.h. nicht
formaler Grammatikunterricht, sondern eine an der sprachlichen Progression
des Zweitspracherwerbs ausgerichtete, fachlich integrierte Vermittlung sprach-
systematischer Strukturen erscheint günstig. Anders als Monolinguale können
Zweitsprachlernende nicht in gleichem Maße auf sprachkonstruktive Leistungen
aufbauen, so dass ihr Lernen auf ein Mehr an sachstruktureller Vorentlastung
(advance organizer, mind map) und an Unterstützung, ein Scaffolding, angewie-
sen ist. Für viele Schülerinnen und Schüler in der sprachlich-kulturell hetero-
genen Klasse ist aber auch die Bereitstellung von kulturgebundenem Weltwissen
und sozialen Erfahrungen notwendig, die eine ‚Integration durch Sprache‘ erst
ermöglichen.
134
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
Beispiel:
1. Auf der Innenseite einer Zwiebelschuppe
wird mit einem Messer ein kleines Viereck
eingeritzt.
3. Anschließend ...
4. Danach ...
5. Am Schluss...
Abb. 3: Beispiel für die Integration von Sprachlernen in den Fachunterricht der
Sekundarstufe (LEISEN 2003)
135
Agi Schründer-Lenzen
Literaturempfehlungen
SCHRÜNDER-LENZEN, A. (Hrsg.) (2006): Risikofaktoren kindlicher Entwicklung.
Wiesbaden
Im Zentrum des Bandes steht die Schulleistungsentwicklung von Kindern mit
Migrationshintergrund. Von besonderem Interesse ist dabei die schriftsprach-
liche Kompetenzentwicklung in sprachlich-kulturell heterogenen Klassen,
wobei auch die emotionalen und persönlichkeitsbezogenen Aspekte der Kom-
petenzentwicklung einbezogen werden. Der Übergang von der Grundschule
in die Sekundarstufe 1 wird thematisiert, wobei gerade auch unterschiedliche
Verarbeitunsstrategien, personale und soziale Ressourcen von Kindern mit und
ohne Migrationshintergrund aufgezeigt werden. Alle Beiträge des Bandes bieten
jeweils einen empirisch fundierten Einblick in die Thematik und präsentieren
Forschungsergebnisse, die für die weitere wissenschaftliche Auseinanderset-
zung mit der schulischen Lernsituation von Kindern mit Migrationshintergrund
bedeutsam sind.
Literaturverzeichnis
136
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht
137
Agi Schründer-Lenzen
Links:
www.foermig-brandenburg.de
Berliner „Lerndokumentation Sprache” unter
http://www.bildung-brandenburg.de/transkigs/materialberlin.html
138
Kapitel 7
Tanja Tajmel
Die sprachliche und kulturelle Diversität der Gesellschaft stellt eine neue He-
rausforderung für jede Fachdidaktik und für die Unterrichtsgestaltung in allen
Fächern dar. In diesem Kapitel soll am Beispiel des Physikunterrichts gezeigt
werden, auf welche Weise dieser Herausforderung nachgegangen werden kann.
Zunächst wird ein Überblick über jene Faktoren des Physikunterrichts gegeben,
welche Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund den Zugang zu
naturwissenschaftlicher Bildung erschweren. Die Entwicklung in Richtung eines
barrierefreien Zugangs zu naturwissenschaftlicher Bildung wird als Prozess dar-
gestellt. Auf einer Problemanalyse basierend werden Ziele und Lösungsansätze
formuliert. Konkret wird auf Maßnahmen zur Sprachförderung im Physikunter-
richt durch Planung und Entwicklung von so genannten sprachlernfördernden
Unterrichtsmaterialien eingegangen.
Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist das Recht eines jeden Men-
schen auf Bildung und Ausbildung ohne Rücksicht auf Herkunft, wirtschaftliche
Lage oder Geschlecht festgeschrieben. Aufgabe der Schule sowie Kennzeichen
eines guten Unterrichts ist es somit, Benachteiligungen aufgrund der Herkunft
auszugleichen, d.h. folglich differenzierende Maßnahmen zu setzen, um Bil-
dungschancengleichheit zu gewährleisten. Mit dem Beschluss der Lissabon
Ziele (EUROPÄISCHER RAT 2000) wurde die wissenschaftliche Kapazität Europas
im naturwissenschaftlichen Bereich ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.
139
Tanja Tajmel
KASTEN 1 f
Es ist zu vermuten, dass die Unterrepräsentanz dieser Gruppen zum Teil auf
unzureichende Differenzierungsmaßnahmen im naturwissenschaftlichen Unter-
richt zurückzuführen ist. Die Tatsache der Existenz von Bildungsreserven lässt
daher bereits einen Zustand der Benachteiligung einzelner Gruppen im Bil-
dungssystem vermuten.
Der erste Schritt ist es, die benachteiligenden Faktoren zu identifizieren, um
in weiterer Folge gezielte Maßnahmen zur Herstellung der Chancengleichheit
und zur Verbesserung der Unterrichtsqualität entwickeln zu können.
140
Ein Beispiel: Physikunterricht
se, dass die Defizite nicht auf Seiten der Mädchen sondern auf Seiten des Phy-
sikunterrichts angesiedelt sind (MUCKENFUSS 1995, HÄUSSLER/HOFFMANN 1995).
Es wurde festgestellt, dass die gewählten Beispiele im Physikunterricht viel
stärker den Lebensbereich und die Interessensgebiete von Jungen widerspie-
geln als jene von Mädchen. Man gelangte zur Erkenntnis, dass der Unterricht
nur dann erfolgreich sein kann, wenn er derart gestaltet wird, dass er für bei-
de Geschlechter verständlich ist und dass auf unterschiedliche Vorerfahrungen
der Geschlechter Rücksicht genommen wird (HERZOG 1996). In der Schwei-
zer Koedukationsstudie (HERZOG/LABUDDE u.a.1997) wurde eine Checkliste
für mädchengerechtes Lehrerverhalten entwickelt. Weitere Studien zeigten: Je
mehr Kriterien eines mädchengerechten Unterrichts erfüllt waren, desto zufrie-
dener waren die Schüler und Schülerinnen mit dem Unterricht. Zudem wurde
beobachtet, dass die Motivation sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen stieg.
(HOFFMANN/HÄUSSLER/LEHRKE 1998, HÄUSSLER/HOFFMANN 1998). Daraus kann
geschlossen werden, dass ein mädchengerechter Unterricht alle Schüler und
Schülerinnen stärker anspricht und somit ,besserer Unterricht‘ ist.
2.1 Problemanalyse
Für die Identifikation der benachteiligenden Faktoren, welche Migrantinnen und
Migranten den Zugang zu naturwissenschaftlicher Bildung erschweren, wird
hier die Methode des Logischen Rahmens zur Problemanalyse und Zielformu-
lierung (AUSTRALIEN GOVERNMENT 2005) verwendet. Ausgehend von einem un-
erwünschten Faktum wird eine hypothetische Ursache formuliert. Daraus wer-
den Folgen abgeleitet, die wiederum Ursachen für weitere Folgen darstellen,
bis schließlich aus diesem logischen Ursachen-Wirkungs-Zusammenhang das
unerwünschte Faktum hervorgeht. In Abbildung 1 ist die Ableitung des nega-
141
Tanja Tajmel
tiven Faktums aus einer hypothetischen Ursache über mehrere Teilursachen dar-
gestellt. Negatives Faktum ist in diesem Fall, dass Migrantinnen und Migranten
schlechtere Leistung in naturwissenschaftlichen Fächern erzielen und in natur-
wissenschaftlichen Berufsfeldern unterrepräsentiert sind. Als hypothetische Ur-
sache wird die mangelnde Berücksichtigung der sprachlichen und kulturellen
Diversität im naturwissenschaftlichen Unterricht angenommen. Auf Basis die-
ser Problemanalyse können drei Bereiche von Barrieren identifiziert werden,
welche Zugang zu Bildung behindern: A) Sprachliche Barrieren, B) kulturelle
Barrieren und C) institutionelle Barrieren. Der hier gewählte defizitorientierte
Ansatz identifiziert nicht Defizite seitens der Migrantinnen und Migranten (wie
etwa mangelhafte Deutschkenntnisse). Wenn in der Problemanalyse von Defizi-
ten und Mängeln die Rede ist, so sind stets Defizite des naturwissenschaftlichen
Unterrichts gemeint.
Negatives Faktum:
Schüler/innen mit Migrationshintergrund zeigen schlechte Leistungen in naturwissenschaft-
lichen Fächern und sind unterrepräsentiert in naturwissenschaftlichen Berufsfeldern.
A B C
Mangelnde
Mangelnde Mangelnde
Berücksichtigung
Berücksichtigung Präsenz diverser Mangelnde Ausbildung
geschlechts-
des Sprachstands der Kulturen im der Lehrer/innen
spezifischer
Schüler/innen Unterricht
Unterschiede
Hypothetische Ursache:
Die sprachliche und kulturelle Diversität der Schüler/innen wird
im naturwissenschaftlichen Unterricht nicht berücksichtigt.
Abbildung 1
142
Ein Beispiel: Physikunterricht
A) Sprachliche Barrieren
Schülerinnen und Schüler nicht deutscher Herkunftssprache sind im deutschen
Unterricht prinzipiell dadurch benachteiligt, dass sie in einer Sprache kommuni-
zieren müssen, welche nicht ihre erste bzw. beste Sprache ist. Schülerinnen und
Schüler deutscher Herkunftssprache sind hier im Vorteil. Der Sprachstand der
Schülerinnen und Schüler wird im naturwissenschaftlichen Unterricht bis dato
nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. Es muss daher davon ausgegangen
werden, dass nicht in ausreichendem Maße dafür Sorge getragen wird, dass die
Schülerinnen und Schüler den Unterricht sprachlich verstehen.
KASTEN 2 f Gedankenexperiment
Versetzen Sie sich bitte in eine Standardsituation des Unterrichts, der Vorfüh-
rung eines Demonstrationsexperiments zum Auftrieb. Ein Stein hängt an einem
Federkraftmesser. Nun wird der Stein in Wasser getaucht. Was passiert? Bitte
versetzen Sie sich in die Rolle einer Schülerin oder eines Schülers. Sie werden
aufgefordert, Ihre Beobachtung so detailliert wie möglich den anderen mitzutei-
len - jedoch nicht in Ihrer besten, sondern in Ihrer zweitbesten Sprache. Wären
Sie in einer Prüfungssituation und könnten die Sprache wählen, dann würden Sie
vermutlich Ihre beste Sprache wählen, weil Sie sich darin am sichersten fühlten.
Hätten Sie diese Wahlmöglichkeit nicht, würden Sie vermutlich dankbar für
kleine Hilfestellungen, z.B. in Form von Vokabeln sein. Ihre Aufmerksamkeit
könnte dann in viel stärkerem Ausmaß der Beobachtung gelten und würde nicht
vordergründig davon beansprucht, die richtigen Worte zu finden. Vermutlich
wären Sie der Meinung, dass all jene, deren Erstsprache die Unterrichtssprache
ist, gegenüber Ihnen im Vorteil wären, weil sie präziser und schneller antworten
könnten. Der Rückschluss, dass all jene, die sich schneller melden, auch schnel-
ler den Inhalt begriffen hätten, und daher besser in Physik seien, würde Ihnen
ungerecht und unrichtig erscheinen. Denn Sie müssten in einer Fremdsprache
antworten und hätten daher schlechtere Ausgangsbedingungen.
B) Kulturelle Barrieren
Der Unterricht an deutschen Schulen ist monokulturell und monolingual aus-
gerichtet (vgl. GOGOLIN 1994). Dies zeigt sich in der kulturellen Herkunft der
Lehrerinnen und Lehrer ebenso wie bei der Darstellung von fachlichen Inhal-
ten in Schulbüchern. Auch die Darstellung von Personen und von Artefakten
in Schulbüchern oder Textaufgaben spiegelt nicht die kulturelle Diversität der
Gesellschaft wider. Bewusstseinsbildung und Bereitschaft zur Veränderung ist
in diesem Bereich besonders schwierig, da die verbreitete Annahme besteht,
Naturwissenschaften seien objektiv und wertneutral. Studien zeigen, dass Na-
143
Tanja Tajmel
turwissenschaft und insbesondere Physik nicht nur als ,männlich‘, sondern auch
als ,westlich-weiß‘ konnotiert sind. (vgl. AIKENHEAD/JEGEDE 1999). Die Vermu-
tung liegt nahe, dass ähnliche Unterrichtsdefizite – wie aus der Geschlechter-
forschung bekannt – für die schlechteren Leistungen von Migranten und Mig-
rantinnen verantwortlich sind: Mangelnde Identifikationsmöglichkeiten sowie
mangelnde Anknüpfung an Lebensbereiche und Interessensgebiete. Kulturelle
Barrieren sind hier – ebenso wie Sprachbarrieren – also nicht als Defizite seitens
der Migrantinnen und Migranten zu verstehen, sondern als Defizite des Unter-
richts in Form von mangelnder Differenzierung und mangelhafter Berücksichti-
gung der Lebensbereiche von Migranten und Migrantinnen.
C) Institutionelle Barrieren
Als institutionelle Barrieren werden Hindernisse verstanden, welche im Schul-
system und in der Bildungspolitik begründet liegen. Hierzu zählt, dass Lehre-
rinnen und Lehrer für die neuen Anforderungen, welche eine sprachlich und
kulturell heterogene Gesellschaft mit sich bringt, nicht entsprechend ausgebildet
werden. Die mangelhafte Berücksichtigung der Diversität von Schülerinnen und
Schülern in der Lehrerausbildung führt etwa dazu, dass die Lehrerinnen und
Lehrer weder über die notwendigen Kompetenzen verfügen noch es als ihre
Aufgabe wahrnehmen, Sprachförderung in den Fachunterricht zu integrieren.
Weitere institutionelle Barrieren finden sich in Lehrplänen und in der Festlegung
der Klassengröße, also in Bereichen, auf welche die einzelne Lehrkraft keinen
Einfluss hat.
2.2 Zielformulierungen
Als Lösungsansatz für die Überwindung der aus der Problemanalyse resultie-
renden drei Barrierenbereiche werden, mit der hypothetischen Ursache begin-
nend, alle Aussagen sukzessive in das positive Gegenteil umformuliert. Das
Ergebnis sind die Maßnahmen, aus denen wiederum erwünschte Wirkungen fol-
gen, welche letztlich zum erwünschten Ziel führen. In Abbildung 2 sind die Um-
kehrungen der negativen Aussagen aus Abbildung 1 in ihr positives Gegenteil
dargestellt; die notwendigen Maßnahmen sind durch den dunkleren Kasten her-
vorgehoben. Es sind dies: (i) Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Un-
terricht, (ii) Einbeziehung der Kulturen und Lebensbereiche aller Schülerinnen
und Schüler, (iii) Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede, und
(iv) entsprechende Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte.
144
Ein Beispiel: Physikunterricht
Ziel:
Schüler/innen mit Migrationshintergrund zeigen gute Leistungen in
naturwissenschaftlichen Fächern und wählen naturwissenschaftliche Berufe.
A B C
Lösungsansatz:
Die sprachliche und kulturelle Diversität der Schüler/innen wird im
naturwissenschaftlichen Unterricht berücksichtigt.
Abbildung 2
145
Tanja Tajmel
146
Ein Beispiel: Physikunterricht
4 Sprachförderung im Physikunterricht
Im Folgenden werden Möglichkeiten präsentiert, wie Sprachförderung in den
Physikunterricht integriert werden kann. Dabei wird das Konzept Language
across the curriculum (LAC) verfolgt, wonach jede Form von Unterricht auch
als Sprachunterricht zu verstehen ist (vgl. ACT DEPT FOR EDUCATION AND TRAINING
1997). In ähnlicher Weise werden bereits seit Jahren im bilingualen Unterricht
und im Unterricht zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ) bzw. Deutsch als Fremd-
sprache (DaF) Fach- und Sprachlernen miteinander verwoben. Im Englischen
wird dieser Ansatz als Content and language integrated learning (CLIL) be-
zeichnet (MOHAN 1986, GIBBONS 1993). Im Gegensatz zum reinen Sprachunter-
147
Tanja Tajmel
richt wird dabei ein funktionaler Sprachansatz verfolgt, wonach nicht die gram-
matikalische Richtigkeit im Vordergrund steht, sondern die Kommunikation der
Inhalte (MOHAN 1986). Sprachfördernde Modifikationen sind beispielsweise
Textvereinfachungen, die Verwendung kürzerer Sätze und die Angabe von Vo-
kabeln.
4.1 Sprachstand
Um gezielte Sprachförderung im Unterricht planen zu können, müssen die be-
reits bestehenden sprachlichen Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler be-
kannt sein. Neben den standardisierten Sprachstandstests kann jede Lehrerin
und jeder Lehrer zum aktuellen Unterrichtthema passende kleinere Sprachtests
selbst durchführen. Beispielsweise kann abgefragt werden, ob ausgewählte Be-
griffe, welche im Kontext eines bestimmten Unterrichtsthemas vorkommen, be-
kannt sind oder nicht. Dabei geht es nicht um Fachtermini, die erst durch den
Unterricht eingeführt werden, sondern um alltägliche Begriffe. Auf diese Weise
kann bereits ein erstes Bild gewonnen werden, ob Begriffe, welche für den Leh-
rer oder die Lehrerin zum Alltagswortschatz gehören, auch im Wortschatz der
Schülerinnen und Schüler vorkommen. Die im Folgenden angeführten Beispiele
entstammen einer explorativen Untersuchung, welche im Juli 2007 an zwei
Schulen in Berlin in zwei siebten und zwei achten Klassen durchgeführt wurde.
Eine der beiden Schulen ist eine Haupt- und Realschule in Berlin-Kreuzberg
mit 100% Schülerinnen und Schülern nicht deutschsprachiger Herkunft. In Ab-
bildung 3 ist das Ergebnis der Befragung in zwei achten Klassen dieser Schule
dargestellt. Die Schülerinnen und Schüler sollten angeben, ob sie glauben, dass
die genannten Gegenstände schwimmen oder sinken oder ob sie den Gegenstand
nicht kennen. Etwa ein Sechstel der Schülerinnen und Schüler wusste nicht, was
ein Korken ist. Die Balken in Abb. 3 geben den Prozentanteil jener SchülerInnen
an, die den Begriff nicht kannten. Der Lehrer oder die Lehrerin kann auf Basis
dieser kurzen Umfrage bereits gezielt auf einige zentrale und im Unterrichtskon-
text stehende Begriffe näher eingehen. Die Umfrage kann wahlweise dadurch
erweitert werden, dass die Schülerinnen und Schüler aufgefordert werden anzu-
geben, was sie hinter dem jeweiligen Begriff vermuten. Auf diese Weise können
Fehlvorstellungen festgestellt und gezielt angesprochen werden. Ein Beispiel
hierfür aus derselben Umfrage: Auf die Frage, ob der Begriff Volumen schon
einmal gehört worden wäre, und ob man wisse, was dieser bedeute, antworteten
einige Schülerinnen und Schüler, Volumen hinge mit ‚Lauter Drehen der Musik’
zusammen. Eine andere Schülerin meinte: „Volumen ist das bei den Haaren“.
148
Ein Beispiel: Physikunterricht
Abbildung 3
Neben der Evaluation der Bekanntheit von Begriffen kann die Fähigkeit zur
Formulierung von Begründungen und Argumenten getestet werden. Das Ver-
ständnis von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen ist grundlegend für den phy-
sikalischen Erkenntnisgewinn. Entsprechend sollen die Schülerinnen und Schü-
ler explizit darin geschult werden, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge korrekt
auszudrücken. Als Test dieser Ausdrucksfähigkeit können Fragen folgender Art
gestellt werden: „Schwimmt eine Metallplatte oder geht sie unter? Kreuze an
und begründe deine Entscheidung!“ Diese Frage wurde der untersuchten Klasse
mit dem Bild einer Metallplatte vorgelegt, bevor der Begriff Dichte durchge-
nommen wurde. Eine Schülerin der achten Klasse schrieb als Antwort: Eine
Metallplatte geht unter, weil … „der platte aus Metall entschteht und der Metall
ist immer schwer egal ob es leicht oder schwer ist wen es ein Metall ist dan geht
es unter!“ Die Schülerin versteht, dass es vom Stoff eines Körpers abhängt, ob er
schwimmt oder nicht. Dies ist eine sehr gute Voraussetzung für die Bearbeitung
des Themas Dichte. Die Antwort ist also fachlich ihrem Wissensstand entspre-
chend korrekt, bildungssprachlich jedoch nicht. Die Schülerin hat Probleme,
149
Tanja Tajmel
die korrekten Artikel zu wählen. Zudem kann sie nicht korrekt ausdrücken, dass
Metall - unabhängig von der Größe des Körpers - immer untergeht. Hier könnte
die Lehrkraft gezielt im Unterricht nachfragen, was die Schülerin meint, wenn
sie sagt: „Metall ist schwer, egal ob es leicht oder schwer ist.“ Es könnte ge-
meinsam nach einer bildungssprachlich korrekten Formulierung gesucht wer-
den, die dann als Erkenntnis und Lernziel festgehalten wird. Den Schülerinnen
und Schülern soll nicht nur vermittelt werden, dass sie einen Lernerfolg erzielt
haben, wenn sie zu physikalisch richtigen Ergebnissen gelangen, sondern zu-
sätzlich, wenn sie sprachlich richtige Formulierungen dafür finden.
4.2 Unterrichtsplanung
Damit Sprache und Sprachförderung ein inhärenter Teil des naturwissenschaft-
lichen Unterrichts werden, muss Sprache bereits in der Unterrichtsplanung mit
berücksichtigt werden. Im Folgenden wird die deutsche Adaption eines Pla-
nungsrahmens vorgestellt, welcher von Pauline GIBBONS entwickelt und bereits
in englischsprachigen Schulen erfolgreich eingesetzt wurde (SOMANI/MOBBS
1997). Der Planungsrahmen stellt auf sehr übersichtliche und gut nachvoll-
ziehbare Art und Weise dar, wie Sprache in die fachliche Unterrichtsplanung
integriert werden kann. Ein weiteres positives Merkmal des Planungsrahmens
ist, dass er auch von Laien der Sprachdidaktik ohne größere Schwierigkeiten
verwendet werden kann. Dies ist hier insofern von Bedeutung, als Lehrerinnen
und Lehrer naturwissenschaftlicher Fächer in den meisten Fällen nicht Sprache
als Zweitfach unterrichten und daher selten über eine Ausbildung in Sprachen-
didaktik verfügen.
Der Planungsrahmen besteht aus den fünf Bereichen Thema, Aktivitäten,
Sprachfunktionen, Sprachstrukturen und Vokabular. Geplant wird nach den fol-
genden Leitfragen:
150
Ein Beispiel: Physikunterricht
Dieses ... beinhaltet Diese Akti- ... nach dieser .... unter
Thema diese vitäten ver- Struktur ... Verwendung
Aktivitäten langen diese dieses
Sprachfunk- Vokabulars
tionen ...
Abbildung 4
4.3 Unterrichtsmaterialien
Entsprechend der Einbeziehung von Sprache in die Unterrichtsplanung finden
sich explizit ausgewiesene Elemente des Sprachlernens auch in den Unterrichts-
materialien wieder. Als Unterrichtsmaterialien sollen hier Arbeitsblätter, Unter-
richtstexte, Experimentieranleitungen, Versuchsbeschreibungen, Schulbücher
und auch Tafelbilder verstanden werden. Leider kann (noch) nicht davon aus-
gegangen werden, dass deutsche Physikschulbücher sprachlernfördernde Ele-
mente beinhalten bzw. solche explizit ausweisen. Es ist jedoch für den Lehrer
oder die Lehrerin bis zu einem gewissen Grad möglich, diese fehlenden Ele-
mente in die Schulbucharbeit mit einzubringen. Eine mögliche Gestaltung eines
sprachlernfördernden Arbeitsblattes ist in Abbildung 5 dargestellt: Der Sprache
151
Tanja Tajmel
steht eine eigene Spalte zur Verfügung (TAJMEL et al. 2009). Die Elemente zu
Sprachfunktion, Sprachstruktur und Vokabular aus dem Planungsrahmen finden
sich hier wieder. Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, wie man richtig
von Volumen spricht. Die Antworten sind als Lückentexte vorgegeben, wobei
sich die Lücken von Beispiel zu Beispiel vergrößern und die sprachstrukturelle
Hilfestellung damit abnimmt. Das Arbeitsblatt soll den Schülerinnen und Schü-
lern deutlich machen, dass sie Sprache lernen und dass die sprachlich korrekte
Antwort ein Lernziel darstellt.
Physik Sprache
Schätze wie groß das Volumen der die Schätzung, -en
abgebildeten Gegenstände ist. Gib schätzen, ich schätze/schätzte/hat
deine Schätzung in Milliliter (ml) und geschätzt
Kubikzentimeter (cm3) an. Das Volumen beträgt
(Das Volumen ist …)
Der Körper hat ein Volumen von ….
Ein ml ist ein cm3.
Zwei ml sind zwei cm3.
Antwort:
Das Teeglas hat ein Volumen von
ungefähr _________ ml.
Man kann auch sagen:
Das Volumen des Teeglases __________
das Teeglas __________ cm3.
5 Zusammenfassung
Literaturempfehlungen
AHRENHOLZ, B. (2009): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache: Tübingen
Dieses Buch stellt eine Sammlung an Aufsätzen zum Thema Sprache und Fach-
unterricht aus der Perspektive der jeweiligen Fächer dar. Dabei werden Mathe-
matik-, Physik- und Biologieunterricht ebenso betrachtet wie Literaturunterricht,
Englischunterricht und bilingualer Sachfachunterricht. Es geht um Schreiben
und Textkompetenz, CLIL (content and language integrated learning) und DaZ
(Deutsch als Zweitsprache), Sprachdiagnose und Sprachförderung.
153
Tanja Tajmel
Literaturverzeichnis
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for understanding across the curriculum. Strategies Handbook. http://www.det.act.
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tion of a cultural phenomenon. In: Journal of Research in Science Teaching, Volu-
me 36, Issue 3, pp. 269-287
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http://www.ausaid.gov.au/ausguide/pdf/ausguideline3.3.pdf
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von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland, S. 25f.
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Jungen orientiert. Unterrichtswissenschaft, 23, S. 107-126
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– Ergebnisse eines erweiterten BLK Modellversuch. Zeitschrift für Didaktik der
Naturwissenschaften, 4, S. 51-67
Herzog, W. (1996): Motivation und naturwissenschaftliche Bildung. Kriterien eines
„mädchengerechten“ koedukativen Unterrichts. Neue Sammlung, 36, S. 61-91
154
Ein Beispiel: Physikunterricht
155
Kapitel 8
Sabine Mannitz
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr zu übersehen, dass die in vorhe-
rigen Jahrzehnten gewohnten, vielfach für selbstverständlich gehaltenen Rah-
menbedingungen, Voraussetzungen und Zielvorstellungen politischer Bildungs-
arbeit einen grundlegenden Wandel erfahren haben. Der pädagogische Impetus
der politischen Bildung in der modernen Demokratie gilt der Entwicklung eines
Bürgerverständnisses der gemeinsamen Verantwortung. So einfach und ein-
leuchtend dieser Zusammenhang klingen mag, ist er doch voraussetzungsvoll:
Die mündigen Bürgerinnen und Bürger sollen in der Lage sein, die Angelegen-
heiten ihres Gemeinwesens im kollektiven Interesse zu regeln. Wie das Credo
der Aufklärung es pointiert, sollen sie den Mut haben, sich auch in politischen
Belangen ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Dazu braucht es Wissen über
die demokratische Herrschaftsform, politische Urteilsfähigkeit, das Bewusst-
sein der eigenen Interessen und die Kenntnis der Mittel, mit denen diese verfolgt
werden können, nicht zuletzt aber auch das Wissen um die Grenzverläufe von
partikularen zu kollektiven Interessen, von legitimen zu illegitimen Mitteln der
Einflussnahme.
Politische Bildung beinhaltet neben Zielen, die sich auf eine Stabilisierung
des Gemeinwesens richten, auch die emanzipativen Kompetenzen zum selbst-
gesteuerten Lernen. Das schnelle Veralten einmal erworbener Wissensbestände
und die digital verfügbaren Informationen aus aller Welt forcieren in den spät-
modernen Gesellschaften ein Bildungskonzept, das die Einzelnen zu Eigeniniti-
ative und Partizipation qualifizieren will, indem es Medienkompetenz und ganz
allgemein die individuelle biographische „Gestaltungskompetenz“ ins Zentrum
rückt (vgl. DE HAAN 2004, S. 41). Dem entspricht, dass von der einstigen Be-
157
Sabine Mannitz
158
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften
Bildung in den Schulen sind damit komplexer geworden: Die soziale Differen-
zierung ist insgesamt weit fortgeschritten. In den individualisierungsbetonten
Gesellschaften der Gegenwart haben sich die sozial akzeptierten Formen der
Lebensführung so vervielfacht, dass „jede Kultur in sich selbst ‚multikultu-
rell‘ ist“, wie Jean-Luc NANCY zugespitzt hat (1993, S. 6). Hinzu kommt, dass
eine Reihe von politischen Beteiligungsmöglichkeiten auch unabhängig vom
formellen Status der nationalen Staatsangehörigkeit bestehen, also auch von
Ausländerinnen und Ausländern in Anspruch genommen werden können. (vgl.
SOYSAL 1994).
Kurz, die Schwierigkeit schulischer politischer Bildung lautet gegenwärtig,
die bestehenden Werte und Normen des politischen Systems zu repräsentieren,
ohne es beliebig erscheinen zu lassen, und zugleich die gewachsene Unüber-
sichtlichkeit der Grenzen von Staaten und Zugehörigkeiten in Europa zu be-
rücksichtigen, die eine Grundbedingung des sozialen und politischen Handelns
geworden ist.
159
Sabine Mannitz
160
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften
161
Sabine Mannitz
Im Folgenden will ich die verschiedenen Ansätze der im Projekt „Staat – Schu-
le – Ethnizität“ untersuchten vier Fallstudien kurz erläutern. Freilich kann aus
Platzgründen hier nur schlaglichtartig illustriert werden, was die jeweilige Be-
sonderheit ausmacht.
An den öffentlichen Schulen jedes Landes werden spezifische Ideale, Stile und
Verfahrensweisen vermittelt, die die heranwachsende Generation zur politischen
Partizipation in der Bürgergesellschaft befähigen soll. Daneben werden die
Spielregeln zum richtigen Verhalten im öffentlichen Leben auf verschiedenen
Ebenen des Schulalltags auch praktisch eingeübt. Das explizite Curriculum
der politischen Bildung – der normative Diskurs in Schulbüchern, Lehrplänen
etc. – macht insofern immer nur einen Teil dessen aus, was Schulen zu wich-
tigen Orten der politischen Sozialisation macht. In den expliziten Curricula und
Schulbüchern für Geschichte und Sozialkunde werden normative Kernaussa-
gen über die „Wir-Imaginationen“ (s.o.; MECHERIL 2007) jedoch am fassbarsten.
162
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften
163
Sabine Mannitz
sich demonstrativ dazu, alle in ihrer Eigenart respektieren zu wollen und diesen
Respekt gegenüber Anderen zugleich allen Schüler/innen abzuverlangen. Es
gelte, allen gleiche Entwicklungschancen einzuräumen, und ein nicht-diskrimi-
nierendes soziales Klima sei dafür wesentliche Voraussetzung.
Jungen Leuten sollte in London also weder ein Staatsbürgerkonzept an-
getragen werden, das für die Diversität der Bürger/innen blind ist, noch eine
gleichförmige, vereinheitlichende nationale Identität. Vielmehr wurde das Ziel
in den Vordergrund gerückt, das Bewusstsein von den vielfältigen Wurzeln der
britischen Gegenwartsgesellschaft zu stärken um die Schülerinnen und Schüler
in Anerkennung dieser Tatsache Toleranz und Respekt für sich selbst und vor-
einander entwickeln zu lassen. Um junge Menschen auf ihre aktive Rolle im Ge-
meinwesen ganz praktisch vorzubereiten, wurde die ideale Ausübung der Staats-
bürgerschaft sehr alltagsnah als Dienst an der Partnerschaft von Bürgerinnen
und Bürgern verstanden, der lokales Engagement und Hilfsbereitschaft für das
soziale Leben an der Schule oder im Stadtteil bedeute. Die Schule betrieb ak-
tiv ein Belobigungssystem für vorbildliches Verhalten. Wer sich als besonders
hilfsbereit zeigte, konnte seitens der Schule eine Auszeichnung in citizenship
erhalten. Bürgersinn wurde so auf die Ebene des für alle Machbaren herunter-
gebrochen.
164
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften
165
Sabine Mannitz
166
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften
167
Sabine Mannitz
ändern, dass die Einzelnen sich umso leichter als ohnmächtig erfahren können.
Dem im inhaltlichen Zuschnitt, Konzeption und Didaktik entgegenzuwirken,
wird immer schwieriger. Die Etikettierungen der gesellschaftlichen Transforma-
tionsprozesse als internationaler, postnationaler oder globaler Trends verdeut-
lichen das: Die Transnationalisierung des politischen Raumes in Europa, die
voranschreitende Globalisierung von Kommunikation, Finanz- und Warenfluss,
kulturellen Ausdrucksformen, Wissenszusammenhängen und nicht zuletzt auch
Konflikt- und Bedrohungsfaktoren muss wachsende Berücksichtigung erfahren,
ohne dass konkrete Zukunftsszenarien absehbar wären. Praktisch sollten Her-
anwachsende also stärker mit der Gewissheit von Ungewissheiten vertraut ge-
macht werden als mit definitiven Zustandsbeschreibungen. Mit Widersprüchen
und Ungleichzeitigkeiten umgehen zu können, muss lernen, wer angesichts der
Komplexität von ‚Wissensgesellschaft‘ und globaler digitaler Revolution nicht
bloß überwältigt sein soll.
Um in dem von Entgrenzung, Heterogenität, Vermischung und strukturel-
ler Fremdheit geprägten demokratischen Gemeinwesen der Gegenwart Mün-
digkeit und Gestaltungskompetenz zu erlangen, ist eine Orientierung an den
idealtypischen Nationalstaats-Gemeinschaften der Vergangenheit nicht mehr
zielführend; nationalstaatliche politische Traditionen wirken aber fort. Selbst im
Kontext der vorangeschrittenen EU-Europäisierung sind die nationalen Öffent-
lichkeiten wichtige Foren der politischen Auseinandersetzung und Gestaltung
geblieben. Um die Handlungsfähigkeit und politische Urteilskraft der heran-
wachsenden Generation wäre es gleichwohl schlecht bestellt, wenn ihr nicht
auch eine „Bildung im Horizont der Weltgesellschaft“ (SEITZ 2002, S. 49) an-
geboten würde. Schon jetzt liegen bedeutsame Handlungsfelder der mündigen
Bürgerinnen und Bürger außerhalb der Landesgrenzen sowie mehr und mehr im
virtuellen Raum. Zudem ergibt sich aus der heutigen Normalität von nicht nur
internationalen Verflechtungen, sondern auch multinationalen, multireligiösen
und multiethnischen Bevölkerungen in den nationalstaatlichen Gesellschaften
ein wachsender Bedarf, auch im eigenen Lebensalltag mit Ungewohntem, Unsi-
cherheit und Uneindeutigkeit umgehen zu können. Für die schulische politische
Bildung bedeutet das Einwanderungsgeschehen daher nicht nur Komplikationen,
sondern vor allem eine Chance: Durch Migration gewachsene innergesellschaft-
liche Heterogenität bietet wichtige Lernfelder für den Umgang mit Situationen,
die Gewohntes in Frage stellen und für Verunsicherung sorgen.
Es ist für die Entwicklung von Ambiguitätstoleranz hilfreich, wenn Heran-
wachsende mit den Anerkennungskonflikten der multikulturellen Realität im
schulischen Rahmen in strukturierter Weise vertraut gemacht werden; das haben
die vertiefenden Untersuchungen der zitierten Vergleichsstudie bekräftigt. In den
Ländern, die sich grundsätzlich zum Charakter der Einwanderungsgesellschaft
168
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften
bekennen, fanden wir auch in den Schulen explizite Strategien dazu, welche
Verhaltensnormen für einen konstruktiven Umgang der diversen Bevölkerungs-
gruppen miteinander wünschenswert oder notwendig seien. Dagegen herrschten
in der Berliner Schule Ratlosigkeit, Unbehagen und eine inkonsistente Praxis,
die das Fehlen einer staatlichen Integrationskonzeption auf schulischer Ebene
wiederholte, statt einen Ausgleich zu suchen. Wer jungen Leuten unterschied-
licher Herkunft konkrete Identifikations- und Gestaltungsangebote machen will,
kann die alltägliche Normalität der gesellschaftlichen Multinationalität, Mul-
tireligiosität und lebensweltlichen Vielfalt nutzen: Statt Teenagern zuzumuten,
sich als ‚Türkin‘ oder als ‚Muslim‘ zu diesem oder jenem äußern zu sollen, kann
z.B. die Unangemessenheit von national-kulturellen Zuschreibungen oder des
Schwarz-Weiß-Vokabulars von ‚Ausländern‘ versus ‚Deutschen‘ im Unterricht
thematisiert werden. Nachholbedarf besteht hier in beide Richtungen: Lehrern
und Lehrerinnen sollte bewusst sein, dass auch ihrer Staatsangehörigkeit nach
‚ausländische‘ Schülerinnen und Schüler für eine möglichst weitgehende Teil-
habe am öffentlichen Leben auszubilden sind. Heranwachsenden gilt es klar zu
machen, dass politische Teilhabe in der Bürgergesellschaft auch diejenigen for-
dert und einschließen kann, die Schwierigkeiten haben, das Attribut des Deut-
schen für sich anzunehmen.
5 Zusammenfassung
169
Sabine Mannitz
Literaturempfehlungen:
BENHABIB, S. (1999): Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Poli-
tische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung. Horkheimer Vorlesungen.
Frankfurt am Main.
Der Band führt in kurzen Einzelbeiträgen in die Grundzüge der politischen The-
orie zu Fragen des Umgangs mit Differenz ein. Da es sich um die „Horkheimer
Vorlesungen“ handelt, die Seyla BENHABIB 1997 in Frankfurt am Main gehalten
hat, haben die einzelnen Beiträge gut verdauliche Länge. BENHABIB verknüpft
die theoretische Kost überdies mit anschaulichen Beispielen aus der gesell-
schaftlichen Praxis.
170
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften
Literaturverzeichnis
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172
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
173
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Albert SCHERR, Dr. phil., Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hoch-
schule Freiburg, Institut für Sozialwissenschaften; Arbeitsschwerpunkte: Bil-
dungsforschung, Jugendforschung, Migration und Diskriminierung.
174