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Sara Fürstenau · Mechtild Gomolla (Hrsg.

Migration und schulischer Wandel: Unterricht


In Vorbereitung:
Migration und schulischer Wandel: Leistungsbeurteilung
Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit
Migration und schulischer Wandel: Organisationskultur
Migration und schulischer Wandel: Stadtteilkooperation

Herausgegeben von:
Sara Fürstenau
Mechtild Gomolla

Konzeptionelle Gesamtleitung des vorliegenden Bandes:


Mechtild Gomolla
Sara Fürstenau
Mechtild Gomolla (Hrsg.)

Migration
und schulischer
Wandel: Unterricht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

1. Auflage 2009

Alle Rechte vorbehalten


© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009

Lektorat: Stefanie Laux

VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe


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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg


Satz: format absatz zeichen, Susanne Koch, Niedernhausen
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel
Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
Printed in the Netherlands

ISBN 978-3-531-15376-6
Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Sara Fürstenau, Mechtild Gomolla


Einführung
Migration und schulischer Wandel: Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Kapitel 1
Mechtild Gomolla
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Kapitel 2
Ulrike Hormel, Albert Scherr
Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 45

Kapitel 3
Sara Fürstenau
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Kapitel 4
Petra Hild
Kooperatives Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

Kapitel 5
Therese Halfhide
Teamteaching . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Kapitel 6
Agi Schründer-Lenzen
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Unterrichtsbedingung . . . . . 121

Kapitel 7
Tanja Tajmel
Ein Beispiel: Physikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Kapitel 8
Sabine Mannitz
Politische Sozialisation im Unterricht:
ein europäischer Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173


Vorwort

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das öffentliche Bewusstsein in Deutschland


für die Auswirkungen von Migration auf Bildung, wie umgekehrt für die Be-
deutung von Bildung für die Integration Zugewanderter und ihrer Nachfahren
gewachsen. Die Frage, wie es gelingen kann, die Potenziale aller Kinder und
Jugendlichen optimal zu fördern und das bestehende Gefälle in den Leistun-
gen und Abschlüssen entlang der Trennlinien Ethnizität, sozialer Herkunft und
Geschlecht abzubauen, gehört zu den Kernproblemen gegenwärtiger Bildungs-
politik. Ein wichtiges Ziel schulischen Wandels ist eine qualitativ hochwertige
und sozial gerechte Bildung, durch die alle Heranwachsenden die Kompetenzen
erwerben können, die sie benötigen, um in einer pluralen Gesellschaft unter An-
erkennung der Menschenrechte zu urteilen, zu handeln und an demokratischen
Prozessen teilzuhaben.
Um Lehrkräfte und andere mit der Schule befassten Fachkräfte zu befähigen,
einen solchen schulischen Wandel aktiv zu gestalten, verbindet die Lehrbuch-
reihe ‚Migration und schulischer Wandel‘ Erkenntnisse der Schul(qualitäts)for-
schung mit Perspektiven für eine inklusive Bildungspraxis in der Einwande-
rungsgesellschaft. Von 2009 bis 2011 erscheinen sechs Bände zu sechs zentralen
Feldern der Schul- und Unterrichtsentwicklung:

• Elternbeteiligung
• Unterricht
• Mehrsprachigkeit
• Leistungsbeurteilung
• Stadtteilkooperation
• Organisationskultur

Jeder Band versammelt Beiträge unterschiedlicher Autorinnen und Autoren und


enthält theoretisches Grundlagenwissen, Forschungsergebnisse sowie Strate-
gien und Praxisbeispiele.
Fünf leitende Prämissen liegen den Bänden zugrunde und verweben sie zu
einer kohärenten Geschichte:

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Sara Fürstenau | Mechtild Gomolla

1. Kinder und Jugendliche mit ‚Migrationshintergrund‘ sind eine heterogene


Gruppe. Der sperrig klingende Begriff ‚Migrationshintergrund‘ ist eine unge-
naue Hilfskonstruktion. Ein Migrationshintergrund wird an so unterschiedlichen
Merkmalen festgemacht wie an einer anderen Staatsangehörigkeit als Deutsch,
an einem anderen Geburtsland als Deutschland bzw. an dem Umstand, dass die
Eltern oder schon die Großeltern in einem anderen Land geboren wurden oder
daran, dass in den Familien andere Sprachen als Deutsch gesprochen werden.
Selbstverständlich kommen Kinder mit Migrationshintergrund mit ebenso unter-
schiedlichen Bildungsvoraussetzungen in die Schule wie Kinder aus autochthon
deutschen Familien. Ihre Lebenslagen differieren in Abhängigkeit von zahl-
reichen sozialen Unterscheidungsmerkmalen; zu diesen Merkmalen gehören
u.a. der sozioökonomische Status der Familien, die Bildungs- und Schulerfah-
rungen der Eltern, das Geschlecht, die Region und die Religionszugehörigkeit.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass die Bildungsbeteiligung
in der Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund variiert.
Einzelne Schülerinnen und Schüler oder Gruppen mit Migrationshintergrund
sind in deutschen Schulen außerordentlich erfolgreich. Im Gesamtbild sind Kin-
der und Jugendliche mit Migrationshintergrund allerdings deutlich unterreprä-
sentiert in den oberen Positionen der Bildungshierarchie, während sie auf den
unteren Rängen überdurchschnittlich vertreten sind. Sie verfügen nicht über die
gleichen Bildungschancen wie Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund.
Dieser Befund verweist auf den Entwicklungsbedarf der Schule im Umgang
mit migrationsbedingter Heterogenität. Dabei steht die Schul- und Unterricht-
sentwicklung vor der Herausforderung, migrationsbedingte Heterogenität zu
berücksichtigen, ohne der Vorstellung einer vermeintlich einheitlichen (und wo-
möglich defizitbehafteten) Gruppe von Schülerinnen und Schülern Vorschub zu
leisten und ohne dichotomisierende Sichtweisen (‚wir‘ vs. ‚die Anderen‘) zu
verstärken.

2. Migrationsbedingte Pluralisierungsprozesse sind konstitutiv für die Schu-


le in Deutschland. Migration, d.h. die Tatsache, dass einzelne Menschen oder
Gruppen aus ihren Herkunftsregionen aufbrechen und sich in anderen Gebieten
niederlassen, ist so alt wie die Geschichte der Menschheit. Im Zuge wachsen-
der globaler Verflechtungen und sich beschleunigender sozialer und technischer
Umwälzungen, aber auch bedingt durch (Bürger-)Kriege, Verfolgung und Ter-
ror, Hungersnöte und ökologischen Katastrophen, erreichen Migrationsbewe-
gungen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts quantitativ und qualitativ eine neue
Dimension. Dass Gesellschaften sich durch Migration verändern, ist an kaum
einem Ort so deutlich erkennbar wie in den Schulen. In Deutschland, wie in
anderen westlichen Einwanderungsgesellschaften, werden besonders in städ-

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Vorwort

tischen Gebieten und in den Metropolen immer mehr Schulen zu großen Teilen
von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund besucht. An diesen
Schulen ist die Verschiedenheit und Vielfalt der sprachlichen Voraussetzungen,
der Identitäten, Erfahrungen und Lebenshintergründe längst die Regel.
Insofern trägt migrationsbedingte Heterogenität keine ‚Zusatzaufgaben‘ an
Schulen heran, die mit ‚Sondermaßnahmen‘ zu bewältigen wären. Migration
fügt der Vielfalt und Verschiedenheit der Bildungsvoraussetzungen und Bedürf-
nisse lediglich weitere Facetten hinzu. Migrationsbedingte Heterogenität ist eine
grundlegende Bedingung für die Gestaltung von Schule und Unterricht.

3. Eine sozial gerechte Bildungspraxis erfordert institutionellen Wandel. Politik


und Schulen reagierten auf Migration und ihre Folgen bisher überwiegend mit
zusätzlichen kompensatorischen Fördermaßnahmen. Dabei ging es zunächst v.a.
darum, Kindern und Jugendlichen mit ‚anderen‘ Familiensprachen als Deutsch
durch Sprachförderung den Anschluss in der Schule zu ermöglichen. In den
1990er Jahren wurden darüber hinaus die unterschiedlichen ‚kulturellen‘ Le-
benshintergründe der Schülerinnen und Schüler vermehrt zum Thema in Unter-
richt und Schulleben. Erst in jüngster Zeit wächst das Bewusstsein, dass punk-
tuelle Maßnahmen nicht nur zu kurz greifen, um die schulischen Lernprozesse
und -ergebnisse positiv zu beeinflussen, sondern häufig sogar dazu beigetragen
haben, niedrige Erfolgserwartungen und Risiken der Benachteiligung zu ver-
stärken.
Um eine für alle Kinder und Jugendlichen förderliche und diskriminierungs-
freie Lernumgebung zu schaffen, muss die Heterogenität in den Kernbereichen
von Unterricht und Schulentwicklung angemessen berücksichtigt werden. Die
Herausforderung des schulischen Wandels im Kontext von Migration besteht
darin, alle konventionellen schulischen Arbeitsbereiche – vor allem auf den
Ebenen von Curricula und Material, Unterricht bzw. pädagogischer Arbeit,
Organisationen, Qualifizierung der Fachkräfte, administrativer und politischer
Steuerung – aus einer neuen Perspektive zu betrachten und ihre Gestaltung zu
überdenken. Dies schließt Strukturveränderungen im Umfeld der Schulen und
auf der Systemebene ein.

4. Lernen und Lehren sind soziale Aktivitäten. In den letzten rund 20 Jahren
hat die Unterrichts- und Schul(qualitäts)forschung wichtige Erkenntnisse bei-
getragen, wie Unterricht und Schulen gezielt verändert werden können, um das
Lernen und die Entwicklung aller Schülerinnen und Schüler optimal zu fördern
und das Gefälle in den Erfolgen unterschiedlicher sozialer Gruppen abzutragen.
Dabei sind Klassenräume, Schulhöfe oder Lehrerzimmer keine Inseln, auf de-
nen abgetrennt von breiteren sozialen Prozessen gelernt und unterrichtet, bera-

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Sara Fürstenau | Mechtild Gomolla

ten, Leistungen beurteilt und über Schulkarrieren entschieden wird. Lernen und
Lehren sind soziale Aktivitäten, die genauso von sozialen Werthaltungen, kul-
turellen Hintergründen und politischen Diskursen, die das Bildungsgeschehen
durchziehen, bestimmt sind wie von eher technischen Fragen des Unterrichts
und der Organisation von Schule. Bildungssoziologische Untersuchungen ma-
chen seit Jahrzehnten deutlich, dass Bildungserfolg keineswegs allein von den
Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler und ihres familialen Umfeldes
abhängt. Insbesondere Forschungsarbeiten zur institutionellen Diskriminierung
zeigen, dass die Mechanismen der Benachteiligung und des Ausschlusses be-
stimmter sozialer Gruppen im Schulalltag durch die regulären organisatorischen
Strukturen, Programme und Routinen der Schule wesentlicht mitverursacht
sind.
Eine Bildungspraxis, die eine hohe Qualität der schulischen Prozesse und
Ergebnisse – auch im Hinblick auf die Verwirklichung von schulpolitischen
Zielen der Gerechtigkeit und demokratischen Partizipation – anstrebt, geht von
einem umfassenden Lern- und Leistungsbegriff aus, der die emotionale, soziale
und kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt. Sie
stellt kritische Fragen, wie konventionelle Denkweisen und Praktiken in Schu-
len und anderen mit Bildung und Erziehung befassten Einrichtungen entstanden
sind und wer in der Gesellschaft von ihnen profitiert. Wenn allen Kindern und
Jugendlichen ein gleichberechtigter Zugang zu den schulischen Lernangeboten
eröffnet werden soll, müssen auch Fragen, wie die Subjekte die Komplexität und
Widersprüche unterschiedlicher Zugehörigkeiten leben und mit welchen Identi-
tätsstrategien sich Kinder und Jugendliche, aber auch Lehrpersonen und Eltern
im Schulalltag positionieren, thematisiert werden. V.a. kommt es darauf an, dass
Lehrerinnen und Lehrer u.a. an der Schulentwicklung Beteiligte lernen, in kon-
zertierten Anstrengungen die im institutionellen Setting in Unterricht, Schule
und dem Bildungssystem als Ganzes angelegten Mechanismen der Diskrimi-
nierung sichtbar zu machen, kritisch zu reflektieren und Schulorganisationen in
Richtung einer antidiskriminatorischen und inklusiven Praxis zu verändern.

5. Professionalisierung ist eine Voraussetzung für schulischen Wandel. In den


vergangenen Jahrzehnten sind Ansätze zur Verankerung der ‚Interkulturellen
Pädagogik‘ im Rahmen der Lehrerausbildung festzustellen. Trotzdem kann von
einer systematischen Vorbereitung angehender Lehrerinnen und Lehrer und
anderer pädagogischer Fachkräfte auf die Erfordernisse der Einwanderungsge-
sellschaft noch keine Rede sein. Vor diesem Hintergrund verstehen wir die im
Rahmen der Lehrbuchreihe bearbeiteten Schwerpunkte auch als zentrale Quali-
fizierungsbereiche im Rahmen der pädagogischen Ausbildung an Universitäten,

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Vorwort

Pädagogischen Hochschulen, Fachhochschulen und Fachschulen, ebenso wie in


der kontinuierlichen Fort- und Weiterbildung.
Die Erfahrung zeigt, dass pädagogische Fachkräfte die erwünschte Förder-
haltung und Sensibilität im Umgang mit Fragen der Differenz und Ungleichheit
nicht über Nacht erwerben können. Eine solche Qualifizierung erstreckt sich
idealerweise über die aufeinander aufbauenden Phasen der beruflichen Erstaus-
bildung und setzt sich in der beruflichen Praxis fort. Wo Qualifizierungs- und
Entwicklungsprozesse institutionell gefördert und ermöglicht werden, zeigen
sich oft erstaunliche Veränderungen pädagogischer Arbeits- und Organisations-
kulturen. Davon profitieren nicht nur die Schülerinnen und Schüler und ihre
Eltern. Auch von den Professionellen selbst werden solche gelungenen Prozesse
der Qualifizierung und des schulischen Wandels rückblickend oft als sehr be-
friedigend erlebt.

An dieser Stelle danken wir Stefanie Laux ganz herzlich für ihre Ermutigung,
dieses Lehrbuchprojekt anzugehen, und für ihre konstruktive Beratung und
Unterstützung! Ein herzlicher Dank geht ebenfalls an Therese Halfhide, Petra
Hild, Ulrike Hormel, Sabine Mannitz, Albert Scherr, Agi Schründer-Lenzen und
Tanja Tajmel dafür, dass sie aus ihren Praxis- und Forschungszusammenhängen
heraus Kapitel zu diesem Lehrbuch beigesteuert haben!

Hamburg und Münster im März 2009

Sara Fürstenau und Mechtild Gomolla

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Einführung

Sara Fürstenau, Mechtild Gomolla

Migration und schulischer Wandel: Unterricht

„Even in the most homogeneous communities, schools, and classrooms, students are
different. Much of the delight of teaching comes from observing and interacting with
these differences. Prior experiences, attitudes and expressions, charm and sociabili-
ty, shyness and silliness, mastery of sophisticated knowledge, and astonishing and
hysterical misunderstandings and gaps in what they ,should‘ but do not know all
vary among the students in any classroom. In many classrooms, students also differ
in the languages, cultures, and community resources they bring to school. These dif-
ferences influence how students approach classroom learning, but they bear little re-
lation to whether or not they are capable learners.” (OAKES/LIPTON 2003, S. 216f.)

Ob Kinder und Jugendliche in der Schule unabhängig von ihrer sozio-kultu-


rellen Herkunft ihre Kompetenzen entfalten können und mit diesen auch wahr-
genommen werden, hängt in hohem Maße von der Qualität des Unterrichts ab.
Fragen des Unterrichts im sprachlich und sozio-kulturell heterogenen Umfeld
haben seit einigen Jahren Konjunktur. ‚Heterogenität‘ ist in der deutschspra-
chigen Schul- und Unterrichtsforschung geradezu zu einem Modethema avan-
ciert. Bei genauerem Hinsehen sind im aktuellen Diskurs über Heterogenität
jedoch Leerstellen und Widersprüche zu erkennen, die darauf hinweisen, dass
ein Verständnis von Verschiedenheit und Vielfalt als ‚normale‘ Voraussetzung
und Ressource des Unterrichts in allen Schulen noch lange kein Konsens ist.
Der inflationäre und häufig schlagwortartige Gebrauch des Begriffs ‚Heteroge-
nität‘ bezieht sich meistens auf spezifische Ausschnitte der Schul- und Unter-
richtswirklichkeit und stellt die Idealvorstellung homogener Lerngruppen nicht
zwangsläufig in Frage.
So beziehen sich Konzepte zum Umgang mit Heterogenität vorrangig auf die
Unterrichtsentwicklung in Grundschulen und auf der Sekundarstufe I, während
Heterogenität in der gymnasialen Oberstufe nur selten als Herausforderung be-
schrieben wird. Der Begriff Heterogenität fungiert außerdem oft als Synonym
für Schulen in ökonomisch randständigen Innenstadtbezirken oder ländlichen

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Sara Fürstenau | Mechtild Gomolla

Kommunen, die hauptsächlich von Kindern aus einkommensschwachen Fa-


milien und mit Migrationshintergrund besucht werden. An solchen Lernorten
– häufig geht es um Hauptschulen – werden die Anstrengungen von Lehrkräften,
Schülerinnen und Schülern und Eltern jedoch eher durch die Homogenität un-
günstiger Bildungsvoraussetzungen und ein Übermaß an strukturellen Proble-
men konterkariert; der Begriff Heterogenität ist hier irreführend.
Abgekoppelt von Zielen der Bildungsgerechtigkeit ist die Beschäftigung mit
Heterogenität des Weiteren oft von einem ‚touristischen‘ Blick auf Phänomene
der Andersheit geprägt, der zu Stigmatisierung beiträgt. Die Bedeutung sozialer
Differenzlinien für offene und subtile Formen der Diskriminierung in Gesell-
schaft, Schule und Unterricht und deren komplexe Wirkungen auf die Lerner-
fahrung und den Verlauf von Schulkarrieren kann in dieser Perspektive nicht
erfasst werden.
Die strukturellen Rahmenbedingungen des Unterrichtshandelns in den Or-
ganisationen und ihrem breiteren gesellschaftspolitischen Umfeld werden in
den aktuellen Heterogenitätsdiskursen allgemein nur am Rande thematisiert.
Das Bekenntnis zu einem konstruktiven Umgang mit Heterogenität beschränkt
sich häufig auf Appelle an einen Einstellungswandel der Lehrerinnen und Leh-
rer oder auf eine eher technische Erweiterung des didaktisch-methodischen Re-
pertoires der einzelnen Lehrkraft im Klassenunterricht. Forschungsarbeiten aus
unterschiedlichen Disziplinen bestätigen jedoch den engen Zusammenhang von
organisationalen Rahmenbedingungen, Unterricht und Schülerleistung. Auch
verläuft die Umsetzung von Innovationen im Unterricht i.d.R. dann erfolgreich,
wenn die breiteren Handlungsbedingungen in den Organisationen und ihrem
Umfeld sorgfältig einbezogen werden. Hierzu zählen materielle und zeitliche
Ressourcen, vorgegebene Curricula, Klassengrößen, Teamstrukturen, Bedarfe
an Fortbildung und Begleitung, sowie politischer und administrativer Rückhalt.
Das Lehrbuch vermittelt einen Überblick über theoretisches Grundlagen-
wissen, Forschungsergebnisse sowie Strategien und Praxisbeispiele zum Thema
Unterricht und beleuchtet die wichtigsten Herausforderungen der Unterrichts-
entwicklung im Kontext sprachlich-kultureller Heterogenität:

1. Im deutschen Bildungssystem verstärken sich die selektiven Schulstrukturen


und die mangelnde Ausrichtung des Unterrichts auf die vorfindbare Heteroge-
nität in den Klassenzimmern wechselseitig und tragen gemeinsam zum ver-
mehrten schulischen Scheitern von Kindern und Jugendlichen mit Migrations-
hintergrund bei. Innerhalb von Unterrichtsstrukturen und -praktiken, die nicht
konsequent auf die Förderung von Kindern mit einem breiten Spektrum von
Lernvoraussetzungen und -bedürfnissen ausgerichtet sind, werden sprachliche
und sozio-kulturelle Differenzen unweigerlich zur Störung und zum Anlass für

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Einführung

Stigmatisierung, Benachteiligung und Ausgrenzung. Ohne die Forderung nach


grundlegenden Reformen im Bildungssystem überflüssig zu machen, hat die
neuere Forschung zur Schulqualität und Schulentwicklung v.a. in den USA und
Großbritannien jedoch auch ein nützliches neues Wissen generiert, wie Unter-
richtsprozesse gestaltet werden können, um eine hohe Qualität des fachlichen
und sozialen Lernens zu gewährleisten und vorfindbare soziale Disparitäten
in den Bildungserfolgen abzubauen. Ausgehend von dieser Prämisse skizziert
Mechtild GOMOLLA im ersten Kapitel theoretische Grundlagen der Unterrichts-
entwicklung in sprachlich, sozial und kulturell heterogenen Klassen, Schulen
und Gemeinden. Ein historischer Überblick untersucht zunächst Homogenität als
allgemeines Strukturprinzip von Schule und Unterricht. Der zweite Teil geht auf
die Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund
ein und wirft ein Schlaglicht auf den Umgang mit der migrationsbedingten He-
terogenität in der Alltagspraxis von Lehrkräften. Abschließend werden Perspek-
tiven zur Unterrichtsentwicklung vorgestellt, die pädagogische und didaktische
Neuerungen mit strukturellen Veränderungen auf der Ebene der Organisationen
und ihrem institutionellen und sozialen Umfeld verbinden.

2. Vor dem Hintergrund neuer Rechtsinstrumente zur Bekämpfung von Diskri-


minierung und Rassismus auf der europäischen und der nationalen Ebene etab-
liert sich – im Anschluss an den angloamerikanischen Fachdiskurs – auch im
deutschsprachigen Raum zunehmend ein Konsens, dass antirassistische und in-
terkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule das Problem der unterdurch-
schnittlichen Schulerfolge von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshin-
tergrund nicht ausblenden kann. Bildungseinrichtungen sind im Umgang mit
sozialen Differenzen alles andere als neutrale Instanzen. Eingebettet in breitere
soziale und politische Kräftefelder sind sie mit ihren historisch gewachsenen
Strukturen, Programmen und Verfahren der Problemlösung an der Konstruktion
und Rekonstruktion sozialer Unterschiede höchst aktiv beteiligt. An diesen Ge-
danken schließen die bildungstheoretischen Überlegungen von Ulrike HORMEL
und Albert SCHERR an. Als Orientierung für eine Bildungspraxis in der Einwan-
derungsgesellschaft schlagen sie eine Antidiskriminierungsperspektive vor, die
als integrativer Rahmen für die Umsetzung unterschiedlicher Bildungsansätze
– v.a. Menschenrechtspädagogik, Antirassistische Pädagogik, Interkulturelle
Pädagogik und Diversity-Pädagogik – dienen soll. Damit Bildungsprozesse im
Unterricht nationalistischen, rassistischen und ethnozentristischen Tendenzen
entgegenwirken können, müssen Schülerinnen und Schüler die Schule als einen
Ort erleben können, an dem für sie relevante Fragestellungen und Themen ver-
handelt werden. Hierzu ist es HORMEL und SCHERR zufolge v.a. erforderlich, ihre
biografischen und aktuellen Erfahrungen – die oftmals von individueller und

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Sara Fürstenau | Mechtild Gomolla

institutioneller Diskriminierung in Bildungseinrichtungen u.a. Alltagsfeldern


geprägt sind – in pädagogisch geeigneter Weise aufzugreifen. Um in Unterricht
und Schule einen Raum für Auseinandersetzungen mit den Grundlagen des
eigenen Selbst- und Weltverständnisses zu ermöglichen, wird eine diversitäts-
bewusste und antidiskriminatorische Gestaltung der schulischen Prozesse auf
mehreren Ebenen betont. Anzusetzen ist demnach v.a. an den Einstellungen von
Schulleitungen und Lehrpersonen, der Gestaltung der Schulorganisationen, den
Interaktionen und Kooperationen im Klassenunterricht und an der Konzeption
der Lehrpläne.

3. Die Vielfalt der Sozialisationsbedingungen von Kindern und Jugendlichen


mit und ohne Migrationshintergrund fordert die in der deutschen Schule traditi-
onell verankerten Normalitätserwartungen an die Vorkenntnisse und Lebenser-
fahrungen von Schülerinnen und Schüler heraus. Ein ‚guter Unterricht‘ zeichnet
sich dadurch aus, dass er der Heterogenität von Lerngruppen Rechnung trägt.
Das ist ein weitreichender Anspruch, der nicht nur Unterrichtsinhalte und -ziele,
sondern auch didaktische Methoden und Interaktionsformen im Unterricht be-
trifft. In der allgemeinen Literatur zur didaktischen Gestaltung von (Fach-)unter-
richt bleibt dieser Anspruch – insbesondere im Hinblick auf migrationsbedingte
Heterogenität – häufig ausgeblendet. Ausgehend von diesem Desiderat beleuch-
tet Sara FÜRSTENAU im dritten Kapitel die Bedeutung sozio-kultureller Kontexte
für das Lernen und Lehren im Unterricht. Auf der Grundlage sozialkonstruk-
tivistischer Lerntheorien werden die Rolle der Lehrperson und die Bedeutung
didaktischer Handlungsmodelle in heterogenen Lerngruppen diskutiert. Welche
Formen der Lehrer-Schüler-Interaktion tragen dazu bei, Perspektivenvielfalt im
Unterricht konstruktiv zu berücksichtigen? Welche Organisationsformen im Un-
terricht erlauben den Schülerinnen und Schülern individuelle Zugänge zu den
schulischen Inhalten? Auf diese Fragen bieten auch Schlagworte wie ‚Individu-
alisierung‘ oder ‚Innere Differenzierung‘ keine einfachen Antworten. Es wird
vielmehr deutlich, dass Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht mit heterogenen
Lerngruppen vor die Herausforderung gestellt sind, einen kompetenten Umgang
mit Dilemmata zu entwickeln, so z.B., wenn sie die Bedürfnisse einzelner Schü-
lerinnen und Schüler berücksichtigen und sich gleichzeitig an institutionellen
Vorgaben und Rahmenbedingungen orientieren.

4. Eine Unterrichtsform, die sich bewährt hat, um sowohl fachliche und soziale
Lernziele zu erreichen als auch die in der Bildungsforschung nachgewiesenen
sozialen Ungleichheiten abzutragen, ist das Kooperative Lernen. Wie Petra
HILD im vierten Kapitel ausführt, werden unter diesen Begriff unterschiedliche
Unterrichtskonzepte gefasst, deren Gemeinsamkeit die Gruppenarbeit ist. Im

16
Einführung

Rückgriff auf den von der Soziologin Elizabeth COHEN entwickelten Ansatz der
Komplexen Instruktion werden Aufgaben möglichst offen formuliert, so dass
eine Vielfalt an Vorgehensweisen und Lösungen möglich ist. Zur Umsetzung
einer solchen Arbeitsweise gehören Interventionen zum Abbau von Statusunter-
schieden, die Gewährleistung einer für alle sicheren und respektvollen Lernum-
gebung, Aufgabenstellungen, die unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten
für die Zielerreichung und vielfältige Interaktionen erfordern, Orientierung auf
den Erwerb von sozialen Kompetenzen und metakognitiven Fähigkeiten und die
gemeinsame Reflexion von Lernprozessen. Neben unterschiedlichen Strategien
und Methoden vermittelt HILD konkrete Anhaltspunkte, wie Kooperatives Ler-
nen im Unterricht eingeführt werden kann. Eine solche Unterrichtsentwicklung
hat v.a. dann eine Chance, so das Fazit der Autorin, wenn Schulteams sich ge-
meinsam an diese Aufgabe heranwagen und dazu die nötigen ineinandergrei-
fenden Veränderungen in den Organisationen installieren (z.B. Fortbildungen,
Aufbau einer Hospitations- und Feedbackkultur, Teamteaching, jahrgangsüber-
greifende Arbeit). In solchen Prozessen kann auch die Heterogenität im Kollegi-
um als Ressource für den Wandel von Unterrichts- und Schulkulturen fruchtbar
gemacht werden.

5. Die professionelle Praxis in Schulen – insbesondere in sozio-kulturell und


sprachlich heterogenen – ist komplex, ungewiss, mehrdeutig und von Wert- und
Interessenkonflikten geprägt, so dass sie längst nicht mehr von einzeln agierenden
Lehrpersonen zu bewältigen ist. Wenn Lehrpersonen und andere Fachkräfte die
Qualität des Unterrichts bezogen auf die komplexen Anforderungen einer he-
terogenen Schülerschaft nachhaltig entwickeln wollen, müssen Kooperationen
institutionalisiert werden. Ein gutes Beispiel ist das Teamteaching. Wie There-
se HALFHIDE im fünften Kapitel erläutert, geht es beim Teamteaching um weit
mehr als um die bloße Anwesenheit von zwei Lehrkräften im Klassenzimmer.
Im Mittelpunkt stehen die gemeinsame Verantwortung für das Unterrichten und
die gemeinsame Unterrichtsentwicklung. Dabei kann die Frage, wer für wel-
che Aufgaben oder Schülerinnen und Schüler zuständig ist, flexibel entschieden
werden. Beide Lehrkräfte können den Unterricht in wechselnden Rollen leiten
oder unterstützen. Durch die Kooperation soll das Lernen der Schülerinnen und
Schüler durch ein breit gefächertes Angebot differenziert und individualisiert
werden und eine flexible, den Lernanlässen und -niveaus angepasste Eintei-
lung in Gruppen ermöglicht werden. HALFHIDE geht in ihrem Beitrag auf die
Geschichte und unterschiedliche Konzepte von Teamteaching ein; von welchen
Bedingungen der Erfolg dieser Unterrichtsform abhängt und welche Wirkungen
auf Schülerinnen und Schüler, Lehrpersonen und Unterricht bekannt sind. Zum
Schluss werden im Rückgriff auf Erfahrungen aus dem Zürcher Schulentwick-

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Sara Fürstenau | Mechtild Gomolla

lungsprogramm ‚Qualität in multikulturellen Schulen‘ (QUIMS) Möglichkeiten


aufgezeigt, wann und wie Teamteaching sinnvoll eingesetzt werden kann.

6. Im Kontext migrationsbedingter Mehrsprachigkeit ist die Unterrichtssprache


Deutsch für einen großen Teil der Schülerinnen und Schüler die Zweitsprache.
In einer Großstadt wie Hamburg wächst z.B. inzwischen fast jedes zweite Kind
unter sechs Jahren mit mindestens zwei Sprachen auf. Diese Kinder erwerben
die kommunikativen Kompetenzen, die sie zur alltäglichen Verständigung im
Deutschen und in ihren Familiensprachen benötigen, meistens problemlos. Sie
verfügen über eine ‚lebensweltliche Zweisprachigkeit‘ (GOGOLIN), die aufgrund
der vielfältigen Erfahrungen mit dem Spracherwerb und -gebrauch als äußerst
günstige Voraussetzung für jedes weitere Sprachlernen betrachtet werden kann.
Gleichzeitig benötigen lebensweltlich mehrsprachige Kinder im Unterricht
häufig Unterstützung, um die schulspezifischen sprachlichen Anforderungen
im Deutschen erfüllen zu können. Die Qualität von Unterricht hängt demnach
maßgeblich davon ab, wie sprachliche Bildung in den Regelunterricht integriert
wird. Erfolg versprechende Ansätze stellt Agi SCHRÜNDER-LENZEN im sechsten
Kapitel über sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von
Schule und Unterricht dar. SCHRÜNDER-LENZEN plädiert für adaptive Lernange-
bote, die die sprachlichen Voraussetzungen in der Schulklasse auf der Grundlage
einer kontinuierlichen, prozessbegleitenden Sprachstandsdiagnostik berücksich-
tigen. Das Kapitel bietet einen Einblick in das Wissen über Zweitspracherwerb,
das alle Lehrerinnen und Lehrer benötigen, um den (Schul-)Spracherwerb von
Schülerinnen und Schülern mit Deutsch als Zweitsprache in jedem Unterricht
unterstützen zu können.

7. Eine Herausforderung in jedem Fachunterricht besteht darin, allen Schü-


lerinnen und Schülern einen sprachlichen Zugang zu den fachlichen Inhalten
zu eröffnen. Den Stellenwert sprachlicher Bildung im naturwissenschaftlichen
Unterricht illustriert Tanja TAJMEL im siebten Kapitel am Beispiel von Physi-
kunterricht. Ausgehend von dem Tatbestand, dass bestimmte Schülergruppen
– nämlich Mädchen und Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund
– im naturwissenschaftlichen Unterricht weniger erfolgreich sind als der Durch-
schnitt, skizziert TAJMEL den Prozess einer Unterrichtsentwicklung, die darauf
abzielt, Barrieren für diese Schülergruppen abzubauen. In einer Problemanalyse
werden Unterrichtsfaktoren, die benachteiligend wirken können, beschrieben
und sprachliche, kulturelle und institutionelle Barrieren im Physikunterricht
identifiziert. TAJMEL stellt Lösungsansätze vor, die im Rahmen des internatio-
nalen Projekts PROMISE (Promotion of Migrants in Science Education) entwi-
ckelt worden sind. Der Ansatz, fachliches und sprachliches Lernen zu verbin-

18
Einführung

den, wird anhand konkreter sprachlernfördernder Unterrichtseinheiten für den


Physikunterricht, die das Berliner PROMISE-Team entwickelt hat, illustriert.

8. Durch Migration, ebenso wie durch andere globale und europäische Prozesse
der Transnationalisierung, wird die Vorstellung einer eindeutigen national-
kulturellen Zugehörigkeit in Frage gestellt. Auch ein strikter Zusammenhang
zwischen Staatsbürgerschaft und demokratischer Teilhabe kann in Einwande-
rungsgesellschaften nicht mehr aufrechterhalten werden. Diese Entwicklun-
gen bergen Konfliktpotenziale und erfordern einen Wandel nicht nur der schu-
lischen Konzepte politischer Bildung, sondern auch der schulischen Strategien,
Heranwachsenden unterschiedlicher Herkunft die Teilhabe am sozialen und
politischen Leben zu eröffnen. Die Herausforderung, Konzepte sozialer Zu-
gehörigkeit, demokratischer Mitbestimmung und politischer Bildung für eine
migrationsbedingt heterogene Schülerschaft zu praktizieren und zu vermitteln,
beleuchtet Sabine MANNITZ im achten Kapitel. MANNITZ stellt u.a. Ergebnisse
einer internationalen Schul- und Unterrichtsstudie in Berlin, Rotterdam, Paris
und London vor, die Aufschluss über Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den
nationalen Lernkulturen geben. Deutlich wird, dass Kinder aus zugewanderten
Familien durch die alltägliche Unterrichtspraxis tendenziell als Angehörige von
Minderheiten sozialisiert werden. Dadurch werde nicht nur die Identifikation
der Schülerinnen und Schüler mit der Einwanderungsgesellschaft erschwert.
Darüber hinaus bleibe häufig auch die Gelegenheit ungenutzt, sich im Unter-
richt konstruktiv mit dem komplexen Verhältnis von ethnisch, national, kultu-
rell heterogenen Bevölkerungen und nationalstaatlich verfassten Gesellschaften
auseinanderzusetzen. Diese Gefahr bestehe – das werde im europäischen Ver-
gleich am Beispiel einer Schule in Berlin deutlich – insbesondere innerhalb der
‚deutschen‘ Lernkultur, die durch einen restriktiven und ausgrenzenden gesell-
schaftspolitischen Umgang mit Migration geprägt sei.

Literatur
Oakes, J./Lipton, M. (2003): Teaching to Change the World. 2nd ed. New York.

19
Kapitel 1

Mechtild Gomolla

Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion

In jüngster Zeit wird in Politik und Forschung zunehmend anerkannt, dass die
migrationsbedingte sprachliche und sozio-kulturelle Pluralisierung nicht länger
in Form von Zusatzmaßnahmen behandelt werden kann, sondern einen grund-
legenden Innovationsanspruch an die Gestaltung schulischer Strukturen, Pro-
gramme und Praktiken heranträgt. Damit ist die Aufmerksamkeit besonders auf
den Unterricht als Kernaufgabe der Schule gelenkt. ‚Heterogenität‘ ist in der
deutschsprachigen Schul- und Unterrichtsforschung geradezu zu einem Mo-
dethema avanciert (vgl. z.B. BECKER u.a. 2004; BRÄU/SCHWERDT 2005; BOLLER/
ROSOWSKI/STROOT 2007). Insbesondere in den USA und Großbritannien hat die
neuere Forschung zur Schul- und Unterrichtsqualität und zum geplanten Wan-
del schulischer Prozesse ein nützliches neues Wissen generiert, wie Unterrichts-
prozesse gestaltet werden können, um eine hohe Qualität des fachlichen und
sozialen Lernens zu gewährleisten und vorfindbare soziale Disparitäten in den
Bildungserfolgen abzubauen (als Überblick vgl. RÜESCH 1999; MÄCHLER u.a.
2000; OAKES/LIPTON 2003).
Allerdings werden auch in den aktuellen Bekenntnissen zur Überwindung
einer problemfixierten Sichtweise von Heterogenität – zugunsten eines Ver-
ständnisses von Verschiedenheit und Vielfalt als ‚normaler‘ Voraussetzung und
Ressource des Unterrichtshandelns – Leerstellen und Widersprüche rasch er-
sichtlich. Ein Beispiel ist der schlagwortartige Gebrauch des Begriffs ‚Hete-
rogenität‘, etwa als Synonym für Schulen (v.a. Hauptschulen) in ökonomisch
randständigen Gebieten, die hauptsächlich von Kindern aus einkommens-
schwachen Familien und mit Migrationshintergrund besucht werden – in denen
aber eher die Homogenität ungünstiger Bildungsvoraussetzungen und ein Über-
maß an strukturellen Mängeln das Problem sind. Abgekoppelt von Zielen der
Gleichstellung ist die Beschäftigung mit Heterogenität oft von Beliebigkeit in
Bezug auf konkrete soziale Differenzlinien und von einem ‚touristischen‘ Blick
auf Phänomene der Andersheit geprägt. Die strukturellen Rahmenbedingungen

21
Mechtild Gomolla

des Unterrichtshandelns in den Schulen und ihrem weiteren gesellschaftlichen


Umfeld werden nach wie vor selten thematisiert. V.a. bestätigt eine zunehmende
Fülle an quantitativen und qualitativen Forschungsarbeiten im europäischen wie
im nordamerikanischen Raum, dass der Gebrauch von Selektion einzelne Schü-
lergruppen unterschiedlich trifft und dabei soziale Marginalisierungen verstärkt
(vgl. Kasten 4). Gegen diese Tendenzen kann die Verbesserung des Unterrichts
allein – ohne strukturelle Veränderungen auf den Ebenen der Schulorganisati-
onen und des Bildungssystems – wenig bewirken.
Dieses einführende Kapitel in Fragen eines inklusiven Unterrichts im Kon-
text migrationsbedingter Heterogenität behandelt drei Schwerpunkte: Der erste
Teil untersucht Homogenität als historisch gewachsenes Strukturprinzip von
Schule und Unterricht. Der zweite Teil beleuchtet den Umgang mit der migrati-
onsbedingten Heterogenität im professionellen Handeln von Lehrkräften auf der
Basis empirischer Forschungsergebnisse. Im dritten Teil werden Perspektiven
für einen inklusiven Unterricht vorgestellt, die pädagogische und didaktische
Innovationen mit strukturellen Veränderungen in den Organisationen und ihrem
institutionellen und sozialen Umfeld verbinden.

KASTEN 1 f Definitionen
‚Heterogenität‘ stammt aus dem Griechischen und bedeutet ‚Ungleichartigkeit‘.
Was wir als ‚heterogen‘ wahrnehmen, ist immer eine soziale Konstruktion, die
von expliziten oder impliziten Maßstäben für eine konstruierte Einheitlichkeit
bzw. Homogenität abhängt. ‚Heterogenität‘ impliziert die Differenz zu und die
Streuung um eine Norm und verweist immer auf den Kontext (z.B. in der Orga-
nisation Schule institutionalisierte Wertmaßstäbe) als Vergleichsdimension.
Der Begriff ‚Inklusion‘ folgt dem internationalen Konzept ‚inclusive educa-
tion‘. Dieses wird in Deutschland bisher v.a. in der integrationspädagogischen
Literatur aufgegriffen (vgl. SCHNELL/SANDER 2004; GEILING/HINZ 2005), jedoch
unter der Zielsetzung einer Bildung für alle zunehmend von der Inklusion von
als ‚behindert‘ etikettierten Kindern auf alle benachteiligten Gruppen ausgewei-
tet (vgl. CAMPBELL 2002; HALFHIDE im vorliegenden Band).
Mit dem Konzept der ‚inklusiven Schule‘ verbindet sich ein anspruchsvolles
Kriterium sozialer Gerechtigkeit, verstanden sowohl als formal und faktisch
gleichberechtigtem Zugang zu Bildungsangeboten, wie Gerechtigkeit in der
Partizipation und Behandlung in Unterricht und Schulleben sowie in den Bil-
dungsresultaten (Ergebnisgerechtigkeit) (vgl. CAMPBELL 2002; GILLBORN/YOU-
DELL 2000, 2f.).

22
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion

1 Heterogenität im Spiegel der Geschichte der Schule

1.1 Homogenität als Organisationsprinzip von Schule und Unterricht


Zwar überwiegt in der Fachwelt die Auffassung, dass homogene Lerngruppen
in der Realität nicht existieren und aus pädagogischer Sicht Lernchancen eher
versperren als eröffnen (vgl. BECKER u.a. 2004). Dennoch bildet die Klassifizie-
rung und Sortierung von Schülergruppen entlang relevanter Merkmale – v.a.
nach Alter, Vorerfahrungen in der Elementarstufe, Prognosen über künftige Ent-
wicklung und Leistungsvermögen, Leistungsresultate, sowie deutschen Sprach-
kenntnissen – ein zentrales Strukturprinzip im deutschen Bildungssystem: „Die
Bevorzugung von Homogenität und die Tendenz zur Vermeidung von Heteroge-
nität ist der Schule als Organisation – ganz unabhängig von den sozialpsycho-
logischen Problemen, den Einstellungen und Haltungen ihres Personals – inhä-
rent.“ (DIEHM/RADTKE 1999, S. 105).
Die jeweils gültigen Kriterien für Homogenität bzw. Heterogenität haben
sich in der Geschichte der Schule oft verändert. Sie sind mit den verschiedenen
und untereinander z.T. widersprüchlichen gesellschaftlichen Funktionen des
Bildungssystems, wie v.a. Qualifizierung, Selektion und Integration, eng ver-
zahnt. Sie sind Ausdruck sozialer Interessenskonflikte, für die die Schule – als
Scharnier zwischen einerseits familiärer Privatheit, persönlicher Biographie und
autonomer Öffentlichkeit und andererseits individuellen Interessen, partikularen
Interessen sozialer Gruppen sowie staatlicher Lenkung und Planung – seit jeher
ein zentraler Austragungsort ist (vgl. GRAF/LAMPRECHT 1991).
In den entstehenden Territorialstaaten des 17. Jahrhunderts (z.B. Preußen)
wurden erstmals auch auf dem Land in größerem Umfang Schulen gegründet.
Eine flächendeckende Bildungsversorgung sollte v.a. dazu beitragen, die breite
Bevölkerung aus ihren Loyalitäten an Städte, Stände und Kirche zu lösen und
an die neuen Landesherren zu binden (vgl. KEMPER 1990, S. 39). Seiner Zeit
weit voraus plädierte schon der Philosoph, Theologe und Pädagoge Johan Amos
COMENIUS (1592-1670) – nach dem Vorbild des Militärs – für einen Klassenun-
terricht mit Heranwachsenden etwa gleichen Lernstandes, die frontal durch eine
einzige Lehrperson unterwiesen werden sollten, um „alle alles im ganzen“ zu
lehren (Große Didaktik; zit. n. KEMPER 1990, S. 26).
Im 18. Jahrhundert wurde mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht
(1717 in Preußen) die Schulbildung als Aufgabe der staatlichen Gemeinwesen
und zugleich als Recht aller Kinder anerkannt. Vor dem Hintergrund der Men-
schen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 wurde Bildung zunehmend zum
Garanten der basalen formellen Gleichheit der Staatsbürgerinnen und -bürger,
welche ihrerseits bürgerliche Pflichten legitimiert (vgl. GRAF/LAMPRECHT 1991).

23
Mechtild Gomolla

Die zunehmend berufsbezogene Spezialisierung und soziale Verbreitung der


öffentlichen Schulbildung bereitete den Boden für den Übergang von einer ge-
burtsständisch-feudalen Gesellschaftsordnung zu einer berufsständisch-bürger-
lichen Sozialverfassung (vgl. KEMPER 1990, S. 62). Die Etablierung des Abiturs
als Voraussetzung für den Zugang zu Universitäten im Jahr 1834 in Preußen
gilt als Beginn des sogenannten ‚Berechtigungswesens‘ – der Entscheidung für
Leistung statt Standeszugehörigkeit als Auslesekriterium.
In der Organisation des staatlichen Schulwesens wurde jedoch eine strikte
soziale Trennung fortgeschrieben. Das schulgeldpflichtige höhere Schulwesen,
zu der eine dreijährige Vorschule und das neunjährige Gymnasium gehörte, blieb
Jungen aus höheren Schichten vorbehalten. Kinder aus ärmeren Verhältnissen
wurden in den Elementarschulen unterrichtet, welche keinerlei Berechtigungen
erteilen konnten (vgl. DIEDERICH/TENORTH 1997, S. 57). Selbst die sogenannten
‚höheren Mädchenschulen‘ waren Teil des niederen Schulwesens.
Sprachliche Homogenisierung gehörte in Verbindung mit dem Ziel der Her-
ausbildung einer völkisch definierten nationalen Identität im 19. Jahrhundert
zu den Hauptaufgaben der Schule (vgl. GOGOLIN 1994). Die Merkmale Spra-
che, Staatsangehörigkeit, Ethnizität und Kultur wurden vor dem Hintergrund
grenzüberschreitender Migrationsbewegungen sowie der häufigen Verschiebung
territorialer Grenzen auf vielfältige Weise zum Ausschlusskriterium (vgl. KRÜ-
GER-POTRATZ 2005).
Im Zuge der Ausdifferenzierung des modernen Schulwesens rückten auch
diejenigen in den Blick, die dem Unterricht nicht folgen konnten. Nach der Er-
richtung von Schulen für Blinde und Taubstumme fanden in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts heilpädagogische Einrichtungen für geistig- und körperlich
behinderte Kinder Verbreitung. Die um 1880 eröffneten Hilfsschulen wurden
vorwiegend von Kindern aus ärmsten Verhältnissen besucht. Sie zielten neben
der Förderung der ‚lernbeeinträchtigten‘ Kinder immer auch auf den vermeint-
lichen Schutz der ‚nicht beeinträchtigten‘ vor Störungen.
Die Jahrgangsklasse ersetzte im 19. Jahrhundert zuerst in den Gymnasien
das ‚Fachklassensystem‘ bzw. den Unterricht in fachspezifischen Niveaukursen,
die dem Kenntnisstand der Schüler entsprachen. Bis etwa 1870 setzte sie sich
auch in den Volksschulen durch. Mit der Altershomogenisierung etablierte sich
der lehrerzentrierte Frontalunterricht. Damit verbundene Leitideen wie das mi-
nutiöse Abarbeiten eines möglichst perfekten Drehbuchs, gleichschrittige Arbeit
der gesamten Lerngruppe mit möglichst geringen individuellen Abständen, die
ständige Kontrolle der einzelnen Lernenden durch die Lehrkraft und der fra-
gend-entwickelnde Unterricht als Methode der Wahl prägen Bilder von ‚gutem
Unterricht‘ bis heute (vgl. BECKER 2004).

24
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion

Martin GRAF und Markus LAMPRECHT (1991) zeichnen in ihren historisch-so-


ziologischen Analysen nach, wie durch Altershomogenisierung eine künstliche
Gleichheit geschaffen wird, die zusammen mit der Idee, dass alle Lernende in
einer Jahrgangsklasse die gleiche Behandlung erfahren, zur Rechtfertigung von
Selektion auf der Basis von Leistung dient. Mit Hilfe dieses Prinzips kann sich
die Schule von der aktiven Auseinandersetzung mit Heterogenität entlasten und
trägt zugleich zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung bei:

KASTEN 2 f Homogenität und der Mythos der Leistungsgerechtigkeit

„Im Mechanismus der Einschulung erfahren die Schulabsolventen eine basale


Gleichmachung ihrer eigenen Existenzen. Das Ausblenden der eigenen Vergan-
genheit, der spezifischen sozialen Verhältnisse und das Ersetzen der privaten
durch eine nationale Geschichte verunmöglichen, dass alltägliche soziale The-
men wirkliche Relevanz innerhalb des Schulsystems erlangen können. […]
Die Schule beginnt mit einer eigenen ‚Stunde Null‘, auf welche sich alle in ihrer
Bildungskarriere zu beziehen haben. Die formalrechtliche Gleichbehandlung
findet hier ihre wichtigste Stütze, welche sich auch nachhaltig ins Bewusstsein
einzuprägen vermag, weil sie durch das Zeremoniell des ersten Schultages ge-
festigt, real erlebt worden ist. Die Chancengleichheit bezieht sich in der Folge
auf das Prinzip der Jahrgangsklasse, welches auch hier nur scheinbare Gleich-
heit zu vermitteln vermag. Im Jahrgang sind wesentliche Unterschiede des Ge-
burtszeitpunktes und der individuellen intellektuellen, körperlichen und psy-
chosexuellen Entwicklung verdeckt.
Die ‚Stunde Null‘ erfasst sämtliche relevanten Dimensionen des späteren Schul-
alltags und bildet die Basis für die individualistische, leistungsbezogene Per-
spektive auf die im Bildungssystem vermittelte Bildungsarbeit. So sind einmal
die objektiven materiellen Bedingungen für jeden Schüler und jede Schülerin
primär gleich: Die gleichen Lehrmittel, die gleichen Plätze, dieselben Hilfsmit-
tel, dieselbe Lehrperson usw. suggerieren, dass für alle Schulanfänger die Start-
bedingungen vergleichbar seien. Genauso wie die Angebotsseite der Schule an
ihre neuen Absolventen eine Gleichbehandlung in formaler Hinsicht durchsetzt,
so sind auch die zu erleidenden Einschränkungen für alle gleich: Alle haben sich
den neuen raumzeitlichen Einschränkungen zu unterziehen, alle haben densel-
ben Stoff zu lernen und dies in derselben Zeit. Dabei wird im Regelfall von
gleichen Voraussetzungen in der Gesellschaft für die Individuen ausgegangen,
so dass letztendlich alle Unterschiede auf Unterschiede in den Individuen selbst
zurückgeführt werden können und müssen. So müssen dann alle Differenzie-
rungen, die die Schule weiter bereithält, auf unterschiedliche Eigenschaften, –

25
Mechtild Gomolla

seien es Unterschiede im Vermögen oder in der Bereitschaft, zurückgeführt


werden können. Das System ist mit dem Prinzip der Chancengleichheit schein-
bar vollständig entlastet.“ (GRAF/LAMPRECHT 1991, 80f.)

1.2 Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Schule für alle?


Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts rücken gesellschaftliche Kräfte,
die für die Liberalisierung und Demokratisierung der Schule eintreten, immer
wieder die Forderung nach einer integrativen Gestaltung von Schule und Unter-
richt in den Mittelpunkt. Ein Meilenstein war die Einführung der vierjährigen
Grundschule als undifferenzierter Elementarschule für alle schulpflichtigen Kin-
der in der Weimarer Republik 1919/1920. In pädagogisch-didaktischer Hinsicht
konnte die Grundschule auf Konzepte unterschiedlicher reformpädagogischer
Strömungen zurückgreifen, die seit Ende des 19. Jahrhunderts an der ‚inneren
Erneuerung‘ der Schule interessiert waren.
Zuletzt in Preußen 1908 wurde auch für Mädchen der Zugang zu höheren
Schulabschlüssen und zum Universitätsstudium eröffnet (vgl. DIEDERICH/TEN-
ORTH 1997, S. 58). Erst in den 1960er Jahren wurde in der Bundesrepublik auch
in den höheren Schulen gemeinsamer Unterricht für Mädchen und Jungen ein-
geführt.
Aus den Reformdebatten der 1960er und 1970er Jahre ging als zentrales
Vehikel zum Abbau sozialer Ungleichheit die Gesamtschule hervor. Sie konnte
jedoch lediglich in Ergänzung zum dreigliedrigen Sekundarschulsystem etab-
liert werden. In den Neuen Bundesländern wurde nach 1989/90 mit Ausnahme

26
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion

des Landes Sachsen-Anhalt allerdings auf die Einführung der Hauptschule ver-
zichtet.
Ab 1976 wurden in der Bundesrepublik zahlreiche Schulversuche mit Inte-
grationsklassen durchgeführt, die in den 1980er Jahren ausgeweitet wurden. Der
Großteil der Kinder mit ‚sonderpädagogischem Förderbedarf‘ wird jedoch nach
wie vor separiert in Sonderschulen unterrichtet (vgl. KMK 2008).
Seit Beginn dieses Jahrzehnts sind widersprüchliche Entwicklungen zu ver-
zeichnen: Auf der einen Seite löste das schlechte Abschneiden des deutschen
Bildungssystems in internationalen Schulleistungsvergleichen – v.a. die hohe
Kopplung des Bildungserfolgs an die soziale Herkunft (vgl. Kasten 4) – neue
Debatten über die Abschaffung der frühen Selektion und der gegliederten Se-
kundarstufe aus. Vor dem Hintergrund eines drastischen Schülerrückgangs in
den Hauptschulen werden in vielen Bundesländern unterschiedliche Modelle
zur Zusammenlegung der Real- und Hauptschulen oder einer schrittweisen Ein-
führung von Gemeinschaftsschulen, in denen alle Kinder bis zur 8. oder 10.
Klasse gemeinsam lernen, erprobt. Eine wichtige Innovation ist ferner die Flexi-
bilisierung der Schuleingangsphase, mit der ansatzweise das strikte Jahrgangs-
klassenprinzip aufgebrochen wird.
Auf der anderen Seite werden Tendenzen zur Homogenisierung durch
Reformen im Bildungssystem, die die Schulen zwingen, stärker nach ökono-
mischen Nutzenkalkülen zu arbeiten, verstärkt. Im Kontext der zunehmenden
Marktöffnung der Bildungssysteme und erweiterten Möglichkeiten zur freien
Schulwahl für Eltern und Schülerinnen und Schüler, wird es für Kinder aus
Armutsverhältnissen, mit Migrationshintergrund oder mit ‚besonderen Lernbe-
dürfnissen‘ zunehmend schwieriger, einen Platz an einer nach akademischen
Gesichtspunkten ‚guten Schule‘ zu erhalten. Sie landen vermehrt in sogenann-
ten ‚Restschulen‘, an denen auch das oft außerordentlich hohe Engagement von
Lehrkräften, Eltern und Schülerinnen und Schülern die vielfältigen strukturellen
Benachteiligungen nicht kompensieren kann. In diesem Zusammenhang ist auch
die zunehmende Standardsorientierung für die Arbeit in heterogenen Lerngrup-
pen umstritten (vgl. GEILING/HINZ 2005, S. 103-134).

1.3 Schulpolitische Antworten auf migrationsbedingte Heterogenität


Ausgehend von dem bis Ende der 1990er Jahre vorherrschenden Selbstverständ-
nis der Bundesrepublik Deutschland als Nicht-Einwanderungsland und von der
Vorstellung, die ausländischen Familien kehrten bald in ihre Heimat zurück,
wurden für die ab 1955 einreisenden ‚Gastarbeiterkinder‘ zunächst keinerlei
Vorkehrungen zur schulischen Integration getroffen (vgl. KRÜGER-POTRATZ 2005;
zum Umgang mit Zuwanderung im Bildungswesen der DDR: 1991). Erst 1964

27
Mechtild Gomolla

beschloss die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) die
Schulpflicht für ausländische Kinder und erklärte gemeinsamen Unterricht mit
autochthonen Kindern zum Regelfall. Durch Maßnahmen der äußeren Differen-
zierung in Vorlaufgruppen, Vorbereitungs- oder Förderklassen und zusätzliche
Förderstunden, Hausaufgabenhilfe, Zusammenarbeit mit Eltern, etc. nach dem
Wechsel in die Regelklasse, sollte den ausländischen Kindern und Jugendlichen
der Anschluss ermöglicht werden. Unterricht in den Erstsprachen diente v.a. der
Vorbereitung auf eine mögliche Rückkehr in die Herkunftsländer und war vom
regulären Schulunterricht abgekoppelt.
Seit Ende der 1970er Jahre stand der Erwerb von Deutsch als Zweitsprache
im Vordergrund. In mehreren Bundesländern wurden Lehrpläne und Materialien
für den Zweitsprachenunterricht, Formen der zweisprachigen Alphabetisierung
und erste diagnostische Verfahren zur Sprachstandsfeststellung entwickelt. In
der ausländerpädagogischen Perspektive auf die Defizite der betroffenen Schü-
lerinnen und Schüler, ihrer Familien und ihrer vermeintlichen ‚Kultur‘ blieb es
aber bei einem völlig unzureichenden System organisatorischer ‚ad-hoc-Maß-
nahmen‘. Eine Neuausrichtung des Unterrichts und der Schulorganisationen an
die veränderten sozialen Bedingungen wurde nicht ins Auge gefasst. Auch die
in den 1980er Jahren verabschiedeten Erlasse zum ‚Unterricht für ausländische
Schüler‘ (zuerst in Nordrhein-Westfalen 1982) zielten v.a. auf die Aufhebung
der organisatorischen Separierung, die durch das Vorbereitungsklassensystem
verfestigt wurde und setzten primär auf die akkulturierende Wirkung der äußer-
lichen Integration.
Die 1996 verabschiedete KMK-Empfehlung ‚Interkulturelle Bildung und
Erziehung in der Schule‘ (KMK 1996) setzte erstmals die Tatsache einer kul-
turell und sprachlich pluralen Gesellschaft als Ausgangspunkt. Der Fokus auf
ausländische Kinder als Zielgruppe wurde fallengelassen. Interkulturelle Bil-
dung wurde als allgemeiner Erziehungsauftrag definiert, der als Spezial- und
Querschnittsaufgabe in der Schule behandelt werden soll. In dieser an sich
weitreichenden Empfehlung wurde die Auseinandersetzung mit Differenz aller-
dings primär auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler und auf die sozialen
Interaktionen im Schulleben bezogen. Der Schulmisserfolg vieler Kinder und
Jugendlicher mit Migrationshintergrund wurde nur indirekt thematisiert.
Erst die großflächigen Schulleistungsstudien Anfang diesen Jahrzehnts ha-
ben das Gefälle beim Zugang zu höher qualifizierenden Bildungsgängen entlang
der Trennlinien Ethnizität, soziale Herkunft und Geschlecht und damit auch die
Frage, wie sich Migration auf Bildung und wie sich Bildung auf die Integration
Zugewanderter und ihrer Nachfahren auswirkt, auf die Agenda gebracht.

28
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion

KASTEN 3 f Chancengleichheit als Qualitätskriterium im Bildungsbereich

„Die Verbesserung der Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit


Migrationshintergrund muss in allen Bildungsbereichen zum Qualitätskriteri-
um werden. Dem sollte auch die aktuelle Debatte um die Entwicklung von Bil-
dungsstandards, Bildungsevaluation und -berichterstattung Rechnung tragen.“
(Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration
2005a, S. 12)

2 Empirische Befunde zum Umgang mit Heterogenität im


Unterricht

2.1 Bildungsungleichheit – Daten und Erklärungsperspektiven


Um die (Un-)Gleichbehandlung sozialer Gruppen im Bildungssystem zu erfas-
sen, sind in der quantitativen Bildungsforschung drei Indikatoren gebräuchlich:
die Bildungsbeteiligung (Anteilswerte und Beteiligungsquoten von Gruppen in
Schulformen), die Schulleistung (Noten, Testergebnisse, Übergänge) und der
Bildungserfolg (formale Abschlüsse) (vgl. DIEFENBACH 2007). Die in Kasten 4
zusammengefassten Daten verdeutlichen die Bildungsbenachteiligungen von
Kindern und Jugendlichen aus Einwandererfamilien:

KASTEN 4 f Daten zur Bildungsungleichheit

• Die Beteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund in den Kindergär-


ten unterscheidet sich kaum noch von der deutscher Kinder. Die Logik der
Aussonderung spiegelt sich in den überproportionalen Zurückstellungen
ausländischer Kinder beim Schuleintritt (vgl. KONSORTIUM BILDUNGSBERICHT-
ERSTATTUNG DEUTSCHLAND 2006).

• Die Überrepräsentanz ausländischer Kinder und Jugendlicher an Sonder-


schulen hat sich zu einem Dauerproblem verfestigt. Im Jahr 2002 lag im
Bundesdurchschnitt die Wahrscheinlichkeit für ausländische Schülerinnen
und Schüler auf eine Sonderschule mit Förderschwerpunkt Lernen überwie-
sen zu werden, im Vergleich zu deutschen Gleichaltrigen um mehr als das
Doppelte höher. Dabei ist die Spannbreite zwischen den Bundesländern wie
auch zwischen einzelnen Nationalitätengruppen beträchtlich (vgl. DIEFEN-
BACH 2007; KORNMANN 2009).

29
Mechtild Gomolla

• Während im Schuljahr 2005/06 nur knapp 15% aller deutschen Schü-


lerinnen und Schüler eine Hauptschule besuchten, lag der Anteil bei den
ausländischen bei knapp 41% (vgl. DIEFENBACH 2007). Kinder mit Migrati-
onshintergrund wechseln ferner häufiger von höheren auf niedrigere Sekun-
darschulgänge (vgl. AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG 2008).
• Das Risiko, eine Klasse zu wiederholen, ist bei Kindern mit Migrationshin-
tergrund in den Jahrgangsstufen 1 bis 3 viermal höher als bei anderen (vgl.
KONSORTIUM BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG 2006).
• Laut IGLU-Studie ist bei gleichem sozialen Status und gleicher Lesekom-
petenz die Wahrscheinlichkeit von Kindern mit Migrationshintergrund, eine
Gymnasialempfehlung zu erhalten, fünfmal geringer als bei Einheimischen
(vgl. Bos u.a. 2003).
• Im Hinblick auf die Lesekompetenz stellte die PISA-2000-Studie fest, dass
fast die Hälfte aller getesteten Schülerinnen und Schüler, die und deren El-
tern beide im Ausland geboren wurden, in ihrer Lesekompetenz über die
elementare Kompetenzstufe I (von insgesamt fünf Kompetenzstufen) nicht
hinauskommen und dies, obwohl 70% von ihnen die gesamte Schullaufbahn
in Deutschland absolviert hat (vgl. STANNAT et al. 2002). Obgleich die Grund-
schule tendenziell bessere Ergebnisse vorweisen kann, wurde auch in der
IGLU-Studie 2006 noch immer eine signifikante Differenz zwischen den
Lesekompetenzen von Kindern, deren Eltern beide im Ausland geboren sind
und denen ohne Migrationshintergrund konstatiert (vgl. BOS u.a. 2007).
• Knapp 18% der ausländischen im Vergleich zu rund 7% der deutschen
Jugendlichen verlässt die Schule ohne Abschluss. 40% der auslän-
dischen im Vergleich zu 15% der deutschen Jugendlichen bleiben ohne
abgeschlossene Berufsausbildung (vgl. DIE BEAUFTRAGTE DER BUNDESRE-
GIERUNG FÜR MIGRATION, FLÜCHTLINGE UND INTEGRATION 2007).

So offensichtlich die Benachteiligungen von Kindern und Jugendlichen mit


Migrationshintergrund in den Bildungs- und Erziehungseinrichtungen sind, so
kontrovers werden die Ursachen für diese Schieflage diskutiert (als Überblick
vgl. GOGOLIN/KRÜGER-POTRATZ 2006, S. 151ff.; DIEFENBACH 2007). Grob lassen
sich drei Erklärungslinien voneinander abgrenzen. Im Blickpunkt stehen ent-
weder

• strukturell unterschiedliche Ausgangsbedingungen der Kinder (v.a. man-


gelnde materielle, soziale und kulturelle Ressourcen);

30
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion

• sekundäre Herkunftseffekte (v.a. Bildungsaspirationen und -strategien als


Folge milieutypischer Erfahrungen und Tradierungen);
• Merkmale der Institution Schule (v.a. Effekte des Lehrerhandelns, Kontext-
bedingungen des Schulbesuchs, Mechanismen institutioneller Diskriminie-
rung).

Im Folgenden werden Ergebnisse empirischer Studien vorgestellt, die plausibel


machen, dass und wie Bildungsverläufe vom professionellen Handeln der Lehr-
kräfte und den organisationalen Handlungskontexten in Unterricht, Schulen und
dem Bildungssystem als Ganzem entscheidend mitbestimmt werden.

2.2 Heterogenität im beruflichen Handeln von Lehrkräften


Der Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität im professionellen Han-
deln von Lehrerinnen und Lehrern ist seit den 1990er Jahren vermehrt zum
Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden (als Überblick vgl.
GOGOLIN/KRÜGER-POTRATZ 2006, S. 165ff.; EDELMANN 2007, S. 49ff.). Insgesamt
zeichnen die vorliegenden Studien ein wenig zufriedenstellendes Bild. Aller-
dings zeigen sich deutliche Brüche in den Problemwahrnehmungen und Hand-
lungsmustern einzelner Lehrkräfte. Neuere Arbeiten legen insbesondere nahe,
dass Fortbildungen zum Umgang mit der sprachlich-kulturellen Heterogenität
im regulären Unterricht, die Einbindung in Teamstrukturen und umfassende
Schulentwicklungsstrategien die Professionalisierung maßgeblich fördern. Zen-
trale Befunde lassen sich auf drei Punkte zusammenfassen:

2.2.1 Mangelnde Anpassung von Unterricht und Schule an Heterogenität


Der Großteil der Literatur zeigt, dass die Schul- und Unterrichtsstrukturen weit-
gehend an den Normalitätserwartungen der gesellschaftlichen Mehrheit orien-
tiert sind. Dies wirkt sich auf die Handlungsorientierungen und Strategien der
Lehrkräfte aus. Wenn Unterrichtsstrukturen und -praktiken nicht konsequent auf
die Förderung von Kindern mit einem breiten Spektrum von sprachlichen Vor-
aussetzungen und Lebenshintergründen ausgerichtet sind, wird die migrations-
bedingte sprachlich-kulturelle Heterogenität nicht nur von Berufsanfängerinnen
und -anfängern (vgl. BENDER-SZYMANSKI 2001), sondern auch von erfahrenen
Lehrkräften als Verunsicherung erlebt.
Wie schon in frühen Untersuchungen aufgezeigt (vgl. CZOCK/RADTKE 1984)
werden bis heute die unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen und Entwick-
lungsstände der Kinder, die zu bearbeiten Aufgabe des Unterrichts sein sollten,
als Störung und Beeinträchtigung der Lehrerarbeit wahrgenommen. Vorfindbare

31
Mechtild Gomolla

Lernschwierigkeiten (z.B. mangelnder Zugang zum Unterrichtsstoff, fehlendes


Verständnis von Arbeitsanweisungen, Redehemmungen, Aufmerksamkeits- und
Disziplinprobleme) werden nicht auf den Unterricht bezogen, sondern als Re-
sultat ihrer defizitären sprachlichen und fachlichen Voraussetzungen den Schü-
lerinnen und Schülern angelastet. Auf diese Weise entsteht eine Dynamik in
den Organisationen, in der sprachliche und sozio-kulturelle Differenzen v.a. zur
Rechtfertigung für schulisches Scheitern und Ausgrenzung genutzt werden (vgl.
z.B. GOGOLIN 1994; AUERNHEIMER u.a. 1996; GOGOLIN/NEUMANN 1997; WEBER
2003).
In einer von der Verfasserin mit durchgeführte Untersuchung schulischer
Entscheidungspraktiken an zentralen Übergangsschwellen im Verlauf von
Schulkarrieren (v.a. Einschulung, Umschulung auf eine Sonderschule, Über-
gangsempfehlung für eine Sekundarschulform) konnte anschaulich nachge-
zeichnet werden, wie in den allfälligen organisatorischen Prozessen der Dif-
ferenzierung und Auslese – primär unter dem Ziel, homogene Lerngruppen zu
bilden – systematisch von stereotypisierenden Zuschreibungen hinsichtlich des
sprachlichen und sozio-kulturellen Hintergrundes als Indikatoren für das Lern-
und Leistungsvermögen eines Kindes Gebrauch gemacht wurde – mit dem Er-
gebnis, dass Kinder auf vielfältige Weise negativer beurteilt wurden als ihrem
Leistungsvermögen entsprach, vom Regelunterricht ausgegrenzt und in anfor-
derungstieferen Bildungsgängen platziert wurden. Dabei erwiesen sich die dis-
kriminierenden Entscheidungsmuster als eng verzahnt mit der organisatorischen
Handlungsrationalität der Schule als Ganzes (vgl. GOMOLLA/RADTKE 2007). Etwa
wenn in allfälligen Entscheidungen über die Einschulung von Kindern das Inte-
resse, den Anteil mehrsprachiger Schülerinnen und Schüler in den Klassen nied-
rig zu halten, Strategien der Ethnisierung Vorschub leistet (z.B. die Feststellung
einer Schulleiterin „Mangelnde Sprachkenntnisse gehen oft Hand in Hand mit
anderen Schwierigkeiten, die das Kind noch hat.“; ebd. S. 172). Solche Muster
der Kulturalisierung sind für die Organisationen funktional. Diskriminierende
Wirkungen für die betroffenen Kinder werden mit Verweis auf die begrenzten
Kapazitäten und Möglichkeiten der Schule offenbar hingenommen.

2.2.2 Ein gutes Schulklima ist kein Schutz vor Selektion


In den vergangenen Jahrzehnten haben vereinzelte Lehrkräfte an der Basis z.T.
ein hohes Engagement entwickelt, um ihre Angebote und Praxis besser auf mig-
rationsbedingte Heterogenität abzustimmen. Obgleich solche Anstrengungen
vielfach zu einem besseren Schulklima und zu einem graduellen Wandels schu-
lischer Strukturen und Arbeitsabläufe beitragen, machen umfassendere Fallstu-
dien ersichtlich, dass trotz dieser Anstrengungen Mechanismen der Benachteili-

32
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion

gung und Ausgrenzung entlang sprachlich-kultureller Trennlinien intakt bleiben


können.
Beispielsweise zeigten Ingrid GOGOLIN, Ursula NEUMANN und Kolleginnen
und Kollegen (vgl. GOGOLIN 1994; GOGOLIN/NEUMANN 1997) an einer Grund-
schule in der Hamburger Innenstadt auf, wie die Mehrsprachigkeit im Schulall-
tag zwar in vielerlei Hinsicht berücksichtigt wurde (z.B. Anwesenheit von Lehr-
kräften mit türkischem Herkunftshintergrund, türkischsprachige Mitteilungen
an Eltern, bilinguale Alphabetisierung). Dennoch habe dieser Wandel eine von
allen Lehrkräften geteilte „monolinguale Grundüberzeugung“ unangetastet ge-
lassen. Im Gegenteil: „Die […] herausgehobene Stellung des Türkischen an
der untersuchten Schule beinhaltet die tendenziell negative Einschätzung ihres
Einflusses auf den Schulerfolg der Kinder“ seitens der Lehrpersonen (GOGOLIN
1994, S. 70). Das Türkische im Schulalltag hatte v.a. Hilfsfunktionen, um den
Zweck des Unterrichts zu erreichen („,Bei der Arbeit sprechen wir Deutsch‘“;
ebd., S. 72). Die Handlungsweisen türkischer Kinder und ihrer Familien wurden
nach wie vor als Beeinträchtigung der schulischen Routinen wahrgenommen.
Die Verfasserin untersuchte die Reichweite von Strategien zur ‚interkul-
turellen Öffnung‘ am Fallbeispiel einer nordrhein-westfälischen Grundschule
(vgl. GOMOLLA 2005, S. 117ff.). Auch hier war es der Schulleiterin und den Lehr-
kräften gelungen, in unterschiedlichen Feldern des schulischen Handelns (v.a.
Sprachförderung beim Schuleintritt, Kooperation mit Eltern, Vernetzung mit ei-
ner Vielzahl von Institutionen im Stadtteil, soziales und interkulturelles Lernen,
außerunterrichtliche Lern- und Freizeitangebote) kreative Lösungen zu entwi-
ckeln, um der sprachlich-kulturell heterogenen Schülerschaft und den ungüns-
tigen sozio-ökonomischen Ausgangsbedingungen im Stadtteil besser gerecht zu
werden. Allerdings wurden Fragen des Schulerfolgs kaum explizit berücksich-
tigt. Die für den Bildungserfolg relevanten Prozesse im regulären (Fach-)Unter-
richt, die Praxis der Beurteilung von Schülerleistungen und schullaufbahnrele-
vante Entscheidungen blieben von den Veränderungsstrategien in den Schulen
weitgehend unangetastet.

2.2.3 Schulische Gesamtstrategien fördern die Professionalisierung


Diverse Studien machen ersichtlich, dass Lehrerinnen und Lehrer und Fach-
kräfte in Kindergärten im Umgang mit der sprachlich-kulturellen Heterogenität
sehr unterschiedliche Handlungsstile entwickeln, die sich zwischen den Polen
des ‚Ignorierens‘ und eines ‚professionellen Umgangs‘ mit der Facetten der
Differenz und Vielfalt bewegen (vgl. BENDER-SZYMANSKI 2001; WALTER 2001;
LANFRANCHI 2002). Diese individuellen Handlungsprofile sind oft von Orientie-
rungen und Kompetenzen beeinflusst, die nicht in der Institution Schule erwor-

33
Mechtild Gomolla

ben werden (z.B. ein eigener Migrationshintergrund, Auslandserfahrungen). Mit


anderen Worten: ein kompetenter Umgang mit migrationsbedingter Heterogeni-
tät in Kindergärten und Schulen hängt weitgehend vom Zufall ab! Neuere Studi-
en bestätigen allerdings, dass gezielte Fortbildungen, v.a. aber auf die Heteroge-
nität bezogene Teamarbeit und schulische Gesamtstrategien die professionellen
Handlungskompetenzen im Umgang mit Heterogenität entscheidend verbessern
(vgl. GOMOLLA 2005, 2009).
Doris EDELMANN (2007) untersuchte die Handlungsorientierungen von 40
Lehrerinnen und Lehrern, darunter 15 Lehrpersonen mit Migrationshintergrund,
an 29 Primarschulen im Kanton Zürich. Da Ende der 1990er Jahre der Umgang
mit migrationsbedingter Heterogenität zum Ausbildungsziel für alle Lehrkräfte
erklärt und parallel das Schulentwicklungsprogramm ‚Qualität in multikultu-
rellen Schulen‘ (QUIMS) flächendeckend institutionalisiert wurde, waren etli-
che der Befragten in umfassendere auf die sprachlich-kulturelle Heterogenität
bezogene Schulentwicklungsprojekte involviert.
EDELMANN identifizierte auf der Basis ihres Interviewmaterials vier idealty-
pische Handlungsorientierungen hinsichtlich der sprachlich-kulturellen Hetero-
genität: (1.) den bewussten Einbezug des kulturellen, sprachlichen und religi-
ösen Wissens der Kinder im Unterricht aller Fächer; (2.) die Konzentration auf
die Vermittlung guter Kenntnisse der Unterrichtssprache, wobei die Sprachen-
vielfalt als Chance für alle akzentuiert wird; (3.) eine hohe Aufmerksamkeit für
soziale Integration im Klassenverband und Wertschätzung aller Kinder in ihrer
Individualität, ohne Merkmale der Differenz explizit zu thematisieren und (4.)
eine abgrenzend-distanzierte Haltung – bei diesem Typus habe die Heterogeni-
tät keinerlei Bedeutung für pädagogisches Handeln.
Auch in EDELMANNS Studie war der Umgang mit der Heterogenität stark vom
individuellen Engagement bestimmt, das wiederum oft mit einem eigenen Mig-
rationshintergrund oder einer binationalen Partnerschaft geprägt war. Darüber
hinaus erwies sich jedoch auch als ausschlaggebend, ob die befragten Lehrper-
sonen durch innovative Teamstrukturen unterstützt wurden oder als Einzelstra-
tegen agierten. z.B. von denjenigen, die dem ‚abgrenzend-distanzierten Typus‘
zugeordnet werden konnten, war keine in Teamarbeit integriert. Als zentrale
Bedingung für die aktive Auseinandersetzung mit sprachlich-kultureller Hete-
rogenität im Unterricht, sowie enge Kooperation mit Eltern und Fachlehrkräften
erwiesen sich die explizite Erläuterung dieser Ziele im Schulprogramm und ihre
Unterstützung durch Schulleitungen. Zudem verfügten alle Lehrpersonen, die
dem sprachorientierten Typus zugeordnet werden konnten, über mindestens eine
Zusatzqualifikation im Bereich Deutsch als Zweitsprache.

34
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion

3 Heterogenität als Anlass unterrichtsbezogener


Schulentwicklung
Im Anschluss an internationale Reformen nimmt mittlerweile auch in Deutsch-
land das Bemühen um die Verbesserung der Qualität im Bildungswesen in
Forschung, Politik und Schulpraxis breiten Raum ein. Dies zeigt sich v.a. in
der wachsenden Verbreitung von Assessment-Programmen wie TIMSS, PISA
und IGLU, dem Aufbau einer neuen Evaluationskultur und der Aufforderung an
Schulleitungen und Lehrkräfte, im Rahmen der sogenannten ‚Teilautonomie‘
ein individuelles Schulprofil und -programme zu entwickeln und die schulischen
Angebote und Praktiken besser auf lokale Bedürfnisse auszurichten. Die For-
schung zur Schulqualität hat in den letzten Jahren zu neuen Verbindungen der
interkulturellen Bildungsforschung mit allgemeinen schulpädagogischen und
bildungspolitischen Fragestellungen geführt. Wie im vorhergehenden Abschnitt
deutlich wurde, hat sie hinsichtlich des Problems der Bildungsungleichheit zu
einer Verlagerung der Aufmerksamkeit von den Merkmalen der Schülerinnen
und Schüler und ihrer Familien auf die institutionellen Bedingungen des Ler-
nens und Lehrens beigetragen.

Schulqualität und Chancengleichheit:


KASTEN 5 f
eine wechselvolle Geschichte

Auch wenn das Paradigma der ‚Schulqualität‘ – als Forschungsansatz, popu-


läres politisches Konzept und Set von Praktiken – zumeist mit den Begriffen
‚Heterogenität‘, ‚Chancengleichheit‘ und ‚schulischer Wandel‘ konnotiert ist,
entfaltet der Schulqualitätsdiskurs unter dem Blickwinkel der sozialen Gerech-
tigkeit sehr konträre Wirkungen.
Das Paradigma der ‚Schulqualität‘ (engl.: school effectiveness) entstand in den
1970er und 1980er Jahren in den USA und Großbritannien. In Abgrenzung von
der Sichtweise, die Bildungschancen eines Kindes seien gänzlich durch das
Elternhaus bestimmt, suchten frühe Arbeiten zur Schuleffektivität zu beweisen,
„all children are eminently educable and [...] the behaviour of the school is
critical in determining the quality of that education“ (EDMONDS 1979, S. 29). Im
Mittelpunkt stand die Identifikation von Schulmerkmalen (z.B. klare Schulmis-
sion, entschiedenes Schulleitungshandeln, unterstützendes und sicheres Schul-
klima, angepasste Curricula und Unterrichtsmethoden, regelmäßiges Monito-
ring der Lernfortschritte, positive Beziehungen zwischen Schule und Eltern und
Gemeinden), die in der Lage sein sollten, die Leistungen von Kindern in den
Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen unabhängig von ihrem

35
Mechtild Gomolla

sozio-ökonomischen Status zu steigern. Kerngedanken der frühen Schulqua-


litätsforschung, v.a. der Fokus auf hohen akademischer Leistungen und dem
Abbau sozialer Disparitäten, sowie auf den zur Umsetzung dieser Ziele erfor-
derlichen organisationalen Veränderungsprozessen, haben in den anglo-ameri-
kanischen Ländern Konzepte der ‚multicultural education‘ (vgl. BANKS 2004)
oder der ‚inklusiven Bildung‘ (vgl. CAMPBELL 2002) geprägt.
In den 1980er und 1990er Jahren wurden Gleichheitsziele jedoch mit der zu-
nehmenden Nutzbarmachung von school effectiveness/school improvement als
Steuerungskonzept in vielen Ländern vom Interesse an hohen Standards in den
Grundlagenfächern, der Unterordnung öffentlicher Schulbildung unter die Öko-
nomie und Tendenzen zur Deregulierung und Privatisierung von der Agenda
verdrängt. Wie am Beispiel England besonders deutlich wird entfaltet die Qua-
litätssteuerung in diesem veränderten politischen Kontext homogenisierende
bzw. repressive Wirkungen im Umgang mit Heterogenität (z.B. Verdrängung
von sozialen Lernen, ästhetischer Erziehung und politischer Bildung aus dem
Aufgabenspektrum von Schule; verschärfte soziale Selektion beim Zugang zu
und innerhalb von Schulen; vgl. GILLBORN/YOUDELL 2000; GOMOLLA 2005).
Seit den 1990er Jahren finden sich in Ländern wie z.B. Großbritannien und die
Schweiz neue Initiativen, um Aspekte der sprachlichen und sozio-kulturellen
Heterogenität und Ziele der Gleichstellung in die Qualitätsentwicklung in Bil-
dungssystem und Schulen zu integrieren. Als Modell für einen solchen ‚Main-
streaming-Ansatz‘ im deutschen Sprachraum ist das Zürcher Programm ‚Qua-
lität in multikulturellen Schulen‘ wegweisend (vgl. www.quims.ch). Die neuere
– in einem breiten Verständnis des Begriffs – ‚interkulturelle‘ Schulqualitäts-
forschung schließt an aktuelle Stränge innerhalb der Forschung zur Schulef-
fektivität an, die die Prozesse im Unterricht in den Mittelpunkt rücken, darüber
hinaus aber auch die schulischen Rahmenbedingungen, die mittelbaren Einfluss
auf das Unterrichtshandeln haben (z.B. Teamstrukturen, das Vorhandensein von
Beratungssystemen, die Qualität der Lehreraus- und -fortbildung) einbeziehen
(vgl. RUESCH 1999; ohne spezifischen Bezug zu Migration: DITTON 2000).

Der Zürcher Schulforscher Peter RÜESCH (1999, 2000) hat auf der Basis ei-
ner Analyse der internationalen Literatur zur Wirksamkeit von Unterricht und
Schule ein Modell zur Qualitätsentwicklung im sprachlich und sozio-kulturell
heterogenen Umfeld entwickelt. Demnach müssen Interventionen v.a. an den
Prozessen im Klassenzimmer und an der aktiven Ausgestaltung der Beziehung
der Schule zu Eltern ansetzen, da die Prozesse im Unterricht und das Eltern-
haus das Lernen direkt beeinflussen. Die Aktivitäten auf diesen Ebenen müssen
jedoch durch ein positives pädagogisches Klima in der Schulorganisation als

36
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion

Ganzes und durch Maßnahmen im weiteren institutionellen Umfeld der Schule


abgestützt sein. Da die Interventionsfelder der Schulentwicklung wechselseitig
voneinander abhängen, erfordert die Gestaltung inklusiver Schulen vor allem
eine kohärente Gesamtstrategie: „Diese muss die verschiedenen Handlungsebe-
nen innerhalb einer Schule – vom Unterricht der einzelnen Lehrperson über die
Zusammenarbeit in Lehrerteams bis hin zur Verankerung der Schule in ihrem
Quartier – gleichzeitig erfassen“ (ebd., S. 15).

Interventionsfelder der Schulentwicklung


KASTEN 6 f
(RÜESCH 2000, S. 15)

Schulumfeld Schulhaus Schulklasse


- Bevölkerungs- - Zielsetzungen - Unterricht
struktur - Leistungsformen - Soziale Inter-
- Gesetze, Systeme - Teamprozess aktion
- Behörden - Organisation - Kontext

Elternhaus
- Lernanregungen
- Elternengagement Lernen des Kindes
- Soziale Schicht
- Kulturelle Herkunft

Wie im vorangegangenen Abschnitt schon deutlich wurde, bestätigen zahlreiche


wissenschaftliche Studien und Evaluationen konkreter Programme, dass eine
solche unterrichtsbezogene Schulentwicklung ein praktikabler Handlungsrah-
men ist, in dem Lehrkräfte u.a. an der Schulentwicklung Beteiligte in konzer-
tierter Anstrengung schulische Arbeitsstrukturen und -kulturen in einer inklusi-
ven Richtung verändern können.
Forschungsarbeiten, die dezidiert der Frage nachgehen, wie ein hohes in-
tellektuelles Niveau der schulischen Arbeit von Lernenden und Lehrenden, das
sich auch in guten Fachleistungen niederschlägt mit dem Ausgleich vorfindbarer
Disparitäten in den Bildungserfolgen verbunden werden kann, sind jedoch noch
immer die Ausnahme. In Kasten 7 sind exemplarisch drei prominente Beispiele
aus der amerikanischen Schulforschung aufgeführt, die dieses Ziel explizit ver-
folgen.

37
Mechtild Gomolla

KASTEN 7f Unterrichtsqualität und Abbau von Bildungsungleichheit

Robert SLAVIN (1996) geht in seinem QuAIT-Modell (Quality, Appropriatness,


Incentives, Time) von vier zusammengehörigen Schlüsselmerkmalen des Un-
terrichtserfolgs aus: (a) Qualität der Lehre: Gutes Klassenmanagement, klare
Strukturierung des Unterrichtsverlaufs, Übungsintensität, Verständlichkeit der
Inhalte, Nutzung von Schülerfeedback; (b) Angemessenheit der Unterrichts-
führung: Schwierigkeitsniveau, individuelle Unterstützung; (c) Hohe Motivie-
rungsqualität: bedeutungsvolle Inhalte, lernfreundliches Klima, Vermeidung
von Angst; (d) Von den Schülerinnen und Schülern aktiv genutzte Lernzeit:
Hilfen der Lehrperson (gute Vorbereitung, Pünktlichkeit, angemessenes Tempo,
Rhythmisierung), Beiträge der Schülerinnen und Schüler (gute Vorbereitung,
Ausdauer und Rücksichtnahme, Selbstorganisation des Lernprozesses).
Im Wisconsin-School Restructuring-Projekt gingen Fred M. NEWMANN u.a. da-
von aus, dass Leistungen, die als lohnenswert, bedeutsam und sinnvoll im realen
Leben der Schülerinnen und Schüler erlebt werden (authentic achievement) die
intellektuelle Qualität des Lehr-Lern-Geschehens steigern. Sie identifizierten
drei Merkmale des Unterrichts, die Authentizität und eine hohe intellektuelle
Qualität gewährleisteten: „(a) Construction of Knowledge – Students learn to
organize, interpret an analyze information, instead of merely reproducing speci-
fic bits of knowledge from a textbook or classroom lecture. They learn to apply
knowledge, not just collect facts. (b) Disciplined Inquiry – Using established
knowledge in science, mathematics, history or literature, students develop in-
depth understanding. They express that understanding in an ’elaborate‘ way,
such as writing an essay or engaging in a substantial discussion of the topic,
instead of merely checking boxes or filling in the blanks on a test. (c) Value
Beyond School – Students produce work, or solve problems, that have meaning
in the real world.” (NEWMANN/WEHLAGE 1995, S. 1f.)
Am ‚Center for Research on Education, Diversity, and Excellence‘ an der Uni-
versity of California, Santa Cruz identifizierte ein Forscherteam unter Leitung
von Roland THARP (2000) fünf Prinzipien, die akademische Exzellenz befördern
und diese auf alle Schülerinnen und Schüler ausweiten: (a) Lehrpersonen und
Schülerinnen und Schüler arbeiten zusammen; (b) Förderung der sprachlichen
und literalen Fähigkeiten in allen Fächern; (c) Verbindung der schulischen In-
halte mit dem Alltagsleben der Lernenden; (d) Vermittlung von komplexem
Denken im Unterricht; (e) Lehren durch Konversation.

38
Heterogenität, Unterrichtsqualität und Inklusion

4 Zusammenfassung

Eine Möglichkeit, mit Differenz umzugehen, besteht darin, das Differente mit
etwas zu vergleichen, welches ‚nicht different‘ bzw. normal ist. Auf dieser Auf-
fassung basiert die Strategie, den ‚anderen‘ Kindern und Jugendlichen durch
Sonder- und Zusatzmaßnahmen den Anschluss an die schulischen Lernangebote
zu ermöglichen, die weiterhin an den idealisierten ‚normalen‘ Schülerinnen und
Schülern ausgerichtet sind. Eine andere Möglichkeit besteht in der Annahme,
dass es eine solche Normalität als Maßstab, an dem andere gemessen und be-
urteilt werden, nicht gibt. In Unterricht und Schule sind Räume zu schaffen,
in denen vielfältige Differenzen in ihrem eigenen Recht bestehen können, z.B.
Lerngruppen, in denen alle ihre Kompetenzen einbringen und Differenzen zur
Quelle reicher Lerninteraktionen werden können. Dies bedeutet keineswegs, un-
terschiedliche Lernbedürfnisse oder etwa unterschiedliche religiöse Praktiken,
lebensweltliche Erfahrungen oder genderspezifische Präferenzen zu ignorieren.
In einer solchen transformativen Perspektive kommt es jedoch v.a. darauf an, so-
ziale Bewertungsstrukturen – die nicht nur in den alltäglichen Interaktionen eine
Rolle spielen, sondern auch in den Strukturen und Praktiken im Unterricht und
in den Schulorganisationen institutionalisiert sind – sichtbar zu machen und zu
verändern, so dass langfristig Differenzen untergraben und Raum für künftige
Neugruppierungen entsteht.

Fragen und Denkanstöße


1. Bitte sammeln Sie auf der Basis des Textes Beispiele für die Tendenz, dass
auch pädagogische Handlungsansätze, die ,Heterogenität‘ als Voraussetzung
des Unterrichts betonen, die realen Bedürfnisse von Schülerinnen und Schü-
lern wie von den Lehrkräften verfehlen können oder z.T. Formen der Stig-
matisierung und Benachteiligung noch verstärken.
2. Inwiefern ist die Bevorzugung von Homogenität und die Vermeidung von
Heterogenität der Organisation von Schule und Unterricht inhärent?
3. Erläutern Sie das komplexe Verhältnis zwischen dem Strukturprinzip der
Homogenität und dem schulpolitischen Ziel der Chancengleichheit.
4. Diskutieren Sie die Vorteile und Grenzen von unterrichtsbezogener Schulent-
wicklung, um das schulische Lernen aller Schülerinnen und Schüler besser
zu fördern und soziale Disparitäten in den Bildungserfolgen zu minimieren.

39
Mechtild Gomolla

Literaturempfehlung
OAKES, J./LIPTON, M. (2003): Teaching to Change the World. New York.
Konventionelle Themen der Unterrichts- und Schulforschung (u.a. Lerntheorien,
Curriculum, Unterricht und Leistungsüberprüfung, Klassenführung, organisato-
rische Differenzierung, Schulkultur) werden konsequent aus dem Blickwinkel
der sprachlichen, sozialen und kulturellen Diversität und der Problematik der
Bildungsungleichheit behandelt. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Zu-
kunft des demokratisch verfassten Gemeinwesens entscheidend davon abhängt,
ob alle Heranwachsenden eine qualitativ hochwertige und sozial gerechte Bil-
dung und Erziehung erhalten und dass Schulen Institutionen sein können und
müssen, die sowohl von höchsten intellektuellen Ansprüchen wie vom Ziel sozi-
aler Gerechtigkeit bestimmt sind. In den einzelnen Kapiteln wird ein fundiertes
philosophisches, historisches und soziologisches Hintergrundwissen vermittelt.
Auf der Grundlage von kognitiven, soziokulturellen und konstruktivistischen
Lerntheorien und Konzepten demokratischer Bildung werden pädagogische, di-
daktische und schulentwicklerische Perspektiven eröffnet.

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43
Kapitel 2

Ulrike Hormel, Albert Scherr

Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft

Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über pädagogische Konzepte, die
auf die mit der ‚Tatsache Einwanderungsgesellschaft‘ verbundenen Bildungs-
erfordernisse zu reagieren versuchen. Unser zentrales Argument lautet, dass die
Bildungsmöglichkeiten im Unterricht, um nationalistischen, ethnozentristischen
und rassistischen Tendenzen entgegen zu wirken, von breiteren strukturellen und
institutionellen Bedingungen mitbestimmt sind. Hierzu zählen insbesondere aus-
länder- und integrationspolitische Bestimmungen, bildungspolitische Rahmen-
vorgaben und Merkmale einzelner Schulorganisationen und ihres spezifischen
Umfeldes. Eine diversitätsbewusste Pädagogik kann daher nicht auf Aspekte der
politischen Bildung und des sozialen Lernens im engeren Sinne begrenzt wer-
den. Sie muss darüber hinaus auf die Überwindung strukturell und institutionell
bedingter Formen der Diskriminierung ausgerichtet sein. In diesem Sinne ist es
notwendig, die bislang getrennt geführten Debatten über die Bildungsbenach-
teiligung von Migrantinnen und Migranten einerseits und Erfordernisse Anti-
rassistischer und Interkultureller Pädagogik andererseits zusammenzuführen.
Erforderlich sind umfassende Strategien, die auf unterschiedlichen Gestaltungs-
ebenen der Schulentwicklung ansetzen – neben dem Unterricht auch auf der
Ebene der schulischen Organisationsentwicklung, der curricularen Vorgaben,
der Aus- und Weiterbildung für pädagogische Berufe bis hin zu den bildungspo-
litischen Festlegungen der Gliederung des Schulsystems.

45
Ulrike Hormel | Albert Scherr

1 Ausgangsbedingungen und pädagogische


Leitorientierungen
1.1 Schulerfolg und Schulerfahrungen von Kindern aus
Einwandererfamilien
Unterrichtsqualität – und dies gilt für das Erreichen fachlicher wie sozialer
Lernziele – wird von einer Reihe von Faktoren mitbestimmt, die außerhalb der
Reichweite des pädagogischen Handelns von Lehrpersonen liegen. Ob Schü-
lerinnen und Schüler die Schule etwa als einen Ort begreifen, an dem sie für
sich relevante Bildungschancen vorfinden und ob sie davon überzeugt sind,
dass schulisches Lernen ihnen erstrebenswerte berufliche Perspektiven eröffnet,
hängt nicht unwesentlich von Sozialisationsprozessen in ihrem Herkunftsmilieu
ab – aber auch davon, welche faktischen Chancen ein Hauptschul-, Realschul-
oder Gymnasialabschluss eröffnet.
Auch die Zusammensetzung einer Schule und einer Schulklasse hat Auswir-
kungen auf die Lernprozesse. Schülerinnen und Schüler lernen nicht nur von den
Lehrkräften, sondern auch voneinander und miteinander. So werden in der ein-
schlägigen Forschung etwa Hauptschulklassen, in denen sich Schülerinnen und
Schüler mit besonders schwierigen Lernbiografien und belastenden Lebenshin-
tergründen übermäßig konzentrieren, vielfach als Lernprozesse erschwerende
Mikromilieus dargestellt (vgl. SCHÜMER 2004).
Die selektive Verteilung von Einheimischen und Migrantinnen und Mig-
ranten auf unterschiedliche Schultypen etabliert auch folgenreiche Bedingungen
im Hinblick auf die Möglichkeiten Interkultureller und Antirassistischer Bil-
dung: Sie konterkariert das Lernziel, dass Einheimische und Migrantinnen und
Migranten sich als gleichberechtigte Individuen betrachten sollen, denn letztere
finden sich mehrheitlich als Schülerinnen und Schüler vor, die auf ungleichwer-
tigen Schulen ungleichwertige Abschlüsse erhalten.
Die Struktur des viergliedrigen Schulsystems und die institutionelle Ordnung
in Schulen – z.B. dass die Mehrsprachigkeit von Kindern nicht als Ressour-
ce betrachtet, sondern auf der symbolischen Ebene wie durch die bestehenden
Lehr- und Lernarrangements weitgehend ignoriert wird (vgl. GOGOLIN 2005) –
tragen dazu bei, dass Schülerinnen und Schüler sich innerhalb einer hierarchisch
nach Leistungs- und Altersgruppen gegliederten Sozialordnung erfahren, wobei
Einheimischen und Zugewanderten typischerweise unterschiedliche Positionen
zugewiesen sind.
Diese Konstitution sozialer und ethnischer Differenzierungen im Schulall-
tag verbindet sich vielfach mit hoch problematischen, ideologisch konturierten
Annahmen über vermeintliche soziale, kulturelle oder religiöse Besonderheiten

46
Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft

von ‚Migrantinnen‘ und ‚Migranten‘. Folgeeffekte von sozialer Benachteili-


gung und Ausgrenzung werden wiederkehrend als Ausdruck ‚kultureller Unter-
schiede‘ missverstanden. Das Reden über ‚die Kultur‘ ‚der Migrantinnen‘ und
‚Migranten‘ dient dann der Legitimation ihrer Ungleichbehandlung.
Obgleich kulturelle Differenz keineswegs ‚die Ursache‘ von Bildungsmiss-
erfolg darstellt, können spezifische Erfahrungen – insbesondere der Diskriminie-
rung in der Einwanderungsgesellschaft – und nicht zuletzt dadurch mit bedingte
kulturelle Bezugnahmen und Identifikationen als Bezugspunkt schulischen
Lernens nicht folgenlos ignoriert werden. Damit Schülerinnen und Schüler die
Schule als einen Ort erleben können, an dem für sie relevante Fragestellungen
und Themen verhandelt werden, ist es erforderlich, ihre biografischen und ak-
tuellen Erfahrungen in pädagogisch geeigneter Weise aufzugreifen. Dabei ist zu
vermeiden, dass Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund offen
und verdeckt mitgeteilt wird, dass sie als Angehörige einer Sondergruppe wahr-
genommen werden, deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft und zur Schulgemein-
schaft einen außergewöhnlichen Sachverhalt darstellt und deren Scheitern an
schulischen Leistungsnormen erwartbar ist.
Bildungstheoretisch und praktisch besteht die zentrale Lernherausforderung
in der Überwindung der institutionalisierten Fiktion voraussetzbarer Gleichheit
und Homogenität (vgl. TILLMANN 2004). So ist etwa sprachliche Heterogenität
in Schulklassen eine nicht hintergehbare Realität, auf die nicht angemessen mit
Ignoranz und Abwehr reagiert werden kann. Vielmehr gilt es, „Sprachenvielfalt
als Chance“ (SCHADER 2000) für schulisches Lernen zu entdecken. Für die Ent-
wicklung eines angemessenen Umgangs mit Heterogenität im Bildungssystem
kommt es darauf an, zu hinterfragen, welche Normalitätserwartungen im Bil-
dungssystem und in Schulen etabliert sind und welche Diskriminierungen und
Benachteiligungen hieraus resultieren (vgl. GOMOLLA/RADTKE 2007; GOMOLLA
2005).

1.2 ‚Normalfall Heterogenität‘: Lernherausforderungen und


Lernblockaden
Migrationsprozesse können als zweiseitige Lernherausforderung charakterisiert
werden: Migrantinnen und Migranten sind veranlasst, sich auf die Lebensbe-
dingungen in der Aufnahmegesellschaft einzustellen. Einheimische bzw. die
Institutionen der Aufnahmegesellschaft sind zur Auseinandersetzung mit dem
sozialen und kulturellen Wandel aufgefordert, der durch Migration mit bedingt
ist bzw. durch die Anwesenheit von Migrantinnen und Migranten in besonderer
Weise sichtbar wird. Solche in modernen Einwanderungsgesellschaften erfor-
derlichen Lernprozesse gelingen in vielen Bereichen des Alltagslebens oft recht

47
Ulrike Hormel | Albert Scherr

unspektakulär als pragmatischer Wissens- und Kompetenzerwerb der beteiligten


Akteure und Institutionen.
Ein Verständnis der ‚nationalen Kultur‘ des Einwanderungslandes als ‚Leit-
kultur‘ – d.h. als ein vermeintlich eindeutig bestimmter und abgrenzbarer Kom-
plex von Normen und Werten, für die eine Vorrangstellung beansprucht werden
kann – und damit einhergehende Dominanzansprüche, stellen dagegen eine
Lernblockade dar: Lernen wird von ‚den Anderen‘ im Sinne einer Anpassungs-
leistung erwartet. Sie wird von denjenigen aber verweigert, die sich als Reprä-
sentantinnen und Repräsentanten der nationalen Kultur begreifen.

KASTEN 1 f Dominanzkultur
Die Berliner Psychologin Birgit ROMMELSPACHER prägte in den 1990er Jahren
den Begriff der Dominanzkultur. Gemeint ist damit,
„… dass unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die
Bilder, die wir vom Anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterord-
nung gefasst sind. (…) Wobei Kultur hier in einem umfassenden Sinn verstan-
den wird, und zwar als das Ensemble gesellschaftlicher Praxen und gemeinsam
geteilter Bedeutungen, in denen die aktuelle Verfasstheit der Gesellschaft, ins-
besondere ihre ökonomischen und politischen Strukturen und ihre Geschich-
te zum Ausdruck kommen. Sie bestimmt das Verhalten, die Einstellungen und
Gefühle aller, die in dieser Gesellschaft leben, und vermittelt so zwischen den
gesellschaftlichen und individuellen Strukturen.“ (ROMMELSPACHER 1995, S. 22)

Vor diesem Hintergrund wird eine zentrale Aufgabe und Chance von Bildungs-
prozessen in der Einwanderungsgesellschaft darin gesehen, eine reflexive Aus-
einandersetzung mit eigenen Überzeugungen, Orientierungen und Gewissheiten
und den Grundlagen des je individuellen Selbst- und Weltverständnisses zu er-
möglichen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn Schülerinnen und Schüler sich
wechselseitig als Individuen mit heterogenen lebensgeschichtlichen (gesell-
schaftlichen, politischen, lebensweltlichen, ästhetischen usw.) Erfahrungshin-
tergründen wahrnehmen. In solchen Bildungsprozessen sind Vorstellungen einer
in sich geschlossenen und stabilen nationalen Kultur zu hinterfragen und ein
Verständnis von ‚Kulturen‘ als offene und dynamische Gebilde zu entwickeln,
die in sich heterogen und umstritten sind (vgl. AUERNHEIMER 2003; BANKS/MC-
GEE BANKS 2001; COHEN 1994; KRÜGER-POTRATZ 2005; QUEHL 2000).

48
Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft

KASTEN 2 f Vielfalt – soziale und kulturelle Unterschiede


Migration ist – worauf Annedore PRENGEL bereits vor mehr als 10 Jahren in
ihrer ‚Pädagogik der Vielfalt‘ (vgl. PRENGEL 1995) hingewiesen hat – keines-
wegs die alleinige Ursache sozialer und kultureller Heterogenität in modernen
Gesellschaften. Migrationsbedingte Heterogenität ist vielmehr nur ein Element
der Prozesse, die dazu geführt haben, dass in Schulen keineswegs mehr vor-
ausgesetzt werden kann, dass alle Schülerinnen und Schüler z.B. über ähnliche
Erfahrungen mit Erziehungsstilen, ein gemeinsames Verständnis über den an-
gemessenen Umgang zwischen Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen verfü-
gen oder in ihren Annahmen darüber übereinstimmen, was vermeintlich typisch
männliche und typisch weibliche Verhaltensweisen sind.
Unter Bedingungen moderner, sozial und kulturell heterogener (Einwanderungs-)
Gesellschaften kann entsprechend nicht sinnvoll an ein selbstverständlich gege-
benes Vorwissen über die vielfältigen impliziten Regeln appelliert werden, die
festlegen, was als angemessenes oder wünschenswertes Verhalten gilt. Vielmehr
wird eine Verständigung über wechselseitige Erwartungen erforderlich, wenn
vermieden werden soll, dass diejenigen als ‚Problemschüler- und schülerinnen‘
etikettiert werden, denen die Normalitätsannahmen von (deutschen) Lehrkräf-
ten nicht schon deshalb bereits vertraut sind, weil sie mit denjenigen ihrer Her-
kunftsfamilie übereinstimmen.

Als Orientierung für eine Bildungspraxis in der Einwanderungsgesellschaft


wird im Folgenden keine zentral und primär auf die Anerkennung der Vielfalt
von Herkunftskulturen ausgerichtete Programmatik, sondern eine Antidiskrimi-
nierungsperspektive vorgeschlagen. Um sowohl unterschiedliche Formen der
Benachteiligung in und außerhalb der Schule abzutragen, wie auch eine kri-
tische Auseinandersetzung mit Fragen der eigenen Zugehörigkeit, politischen
und religiösen Identifikationsangeboten, aber auch mit fremdenfeindlichen, na-
tionalistischen und rassistischen Ideologien zu ermöglichen, sind insbesondere
die vielfältigen und sich potentiell wechselseitig verstärkenden Zuschreibungs-
prozesse sowie damit verbundene Diskriminierungspraktiken und -strukturen in
den Blick zu nehmen. In einer Perspektive der Antidiskriminierung ist in erster
Linie danach zu fragen, welche Bedeutung soziale, kulturelle und religiöse Zu-
ordnungen für die Herstellung und Rechtfertigung von Machtverhältnissen und
Benachteiligungen haben. Entsprechend können kulturelle Unterschiede nicht
als eigenständige und isolierbare Ursache von Konflikten, denen mit einer Hal-
tung der Toleranz zu begegnen ist, betrachtet werden. Die Forderung nach To-
leranz blendet häufig aus, wer – in durch Machtasymmetrien gekennzeichneten

49
Ulrike Hormel | Albert Scherr

Beziehungen – in der Lage ist, wen zu tolerieren und wer darauf verwiesen ist,
sich tolerieren zu lassen.

KASTEN 3 f Toleranz – eine durchaus ambivalente Haltung


Die Forderung nach Toleranz zielt auf eine akzeptierende Haltung gegenüber
Praktiken und Überzeugungen, die sich von den eigenen unterscheiden und die
in einem spezifischen Kontext als problematisch betrachtet werden. Mit Irri-
tationen soll gelassen umgegangen und es soll darauf verzichtet werden, die
jeweils Anderen von der fraglosen Richtigkeit eigener Sichtweisen überzeugen
zu wollen. Im Kontext von Beziehungen zwischen sozial ungleichen Gruppen,
zwischen Reichen und Armen, Etablierten und Außenseitern, Mächtigen und
Machtunterworfenen steht die Forderung nach Toleranz in der Gefahr, einen
paternalistischen Gestus der widerrufbaren Duldung aufzurufen.

Für eine solche Antidiskriminierungsperspektive sind also nicht nur diskrimi-


nierende Praktiken im Sinne von Handlungen bedeutsam, denen Vorurteile zu
Grunde liegen. In Anschluss an sozialhistorische, sozialwissenschaftliche und
erziehungswissenschaftliche Studien (s. insbesondere ELIAS/SCOTSON 1993;
FEAGIN/BOOHER FEAGIN 2003; GOMOLLA/RADTKE 2002) ist vielmehr davon aus-
zugehen, dass Strukturen und Praktiken der Diskriminierung keineswegs auf
diskriminierende Absichten von Akteuren angewiesen sind und an vielfältige
gesellschaftsstrukturell sowie diskursiv und ideologisch verankerte Ungleich-
heiten und Differenzkonstruktionen anschließen können.

2 Antidiskriminierung als Bildungsprogrammatik

Eine pädagogische Antidiskriminierungsperspektive begründet keine eigen-


ständige Spezialpädagogik. Sie ist vielmehr als ein integrativer Rahmen für
unterschiedliche Bildungsansätze relevant – insbesondere Konzepte der Men-
schenrechtspädagogik, der Antirassistischen Pädagogik, der Interkulturellen
Pädagogik und der Diversity-Pädagogik. Der Stellenwert dieser unterschied-
lichen Programmatiken im Kontext einer Bildung für die Einwanderungsgesell-
schaft kann wie folgt zusammengefasst werden:

50
Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft

2.1 Pädagogik der Menschenrechte


Die Aufgabe von Menschenrechtspädagogik (vgl. z.B. Kompass 2005) besteht in
diesem Kontext v.a. darin, dass sie eine Grundlage für Verständigungsprozesse
über elementare normative Maßstäbe und moralische Orientierungen bietet, auf
die in Konflikten und Kontroversen Bezug genommen werden kann. Hierfür ist
ein Verständnis von Menschenrechtsbildung bedeutsam, das nicht auf ‚Werte-
vermittlung‘ zielt. Zu betonen sind dagegen dialogische Verständigungsprozesse
über den Sinn und die Bedeutung menschenrechtlicher Prinzipien. Menschen-
rechtliche Prinzipien können nicht vorausgesetzt, sondern müssen erarbeitet
werden. Die Menschenrechte sind als ein kritischer Maßstab zu vermitteln, der
der Auseinandersetzung mit manifester Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und
Rechtsextremismus, aber auch mit struktureller und institutioneller Diskriminie-
rung zugrunde gelegt werden kann. Die gängige deklaratorische Beanspruchung
der Menschenrechte in politischen, medialen und pädagogischen Diskursen als
ein unstrittiger Grundkonsens blendet dagegen aus, dass die verfassten Men-
schenrechte und ihre Interpretation Ergebnis bzw. Gegenstand politischer Aus-
einandersetzungen sind.
Was die Menschenrechte konkret bedeuten, welche Ansprüche aus ihnen
legitim abgeleitet werden und ggf. juristisch durchgesetzt werden können, ist
jedoch keineswegs evident und unstrittig (vgl. IGNATIEFF 2002, S. 30ff.). Z.B. ist
das Asylrecht als ein Menschenrecht in der Allgemeinen Erklärung der Men-
schenrechte ausdrücklich verankert. Gleichwohl war und ist es umstritten, unter
welchen Voraussetzungen Flüchtlinge als Asylsuchende zu betrachten sind und
was gegeben sein muss, damit sie in jeweiligen Zielländern aufgenommen wer-
den.

2.2 Antirassistische Pädagogik


Theorien und Konzepte Antirassistischer Pädagogik (vgl. DADZIE 2000; STENDER/
ROHDE/WEBER 2003) grenzen sich explizit gegen ein Verständnis ab, das Kon-
flikte in der Einwanderungsgesellschaft als Folge kultureller Unterschiede be-
trachtet und daraus Forderungen nach Verständigung und Toleranz ableitet. Sie
betrachten rassialisierende und ethnisierende Gruppenkonstruktionen als Ele-
ment historisch gewordener Machtverhältnisse und sozialer Ungleichheiten. Sie
ermöglichen eine Konkretisierung sowie historische und gesellschaftstheore-
tische Fundierungen der in den Menschenrechtserklärungen formulierten An-
tidiskriminierungsprinzipien. Akzentuiert werden die Erfordernisse einer offen-
siven Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Strukturen und Praktiken der
Diskriminierung, in denen sich biologistische und kulturalistische Rassenkons-

51
Ulrike Hormel | Albert Scherr

truktionen mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen und sozioökonomischen


Ungleichheitsstrukturen verschränken. Ein wesentliches Moment Antirassisti-
scher Pädagogik ist eine Bildungsarbeit, die Über- und Unterordnungsverhält-
nisse in der Einwanderungsgesellschaft sowie historische und aktuelle Ideolo-
gien und Diskurse thematisiert, die Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse
durch Annahmen über ungleiche und ungleichwertige Kollektive legitimieren.

2.3 Interkulturelle Pädagogik

Eine reflektierte Interkulturelle Pädagogik (vgl. HAMBURGER 2000; HORMEL/


SCHERR 2004b) zielt auf die Überwindung nationalistischer oder kulturrassisti-
scher Ideologien, die politische Vorherrschaftsansprüche mit kulturellen Über-
legenheitspostulaten verbinden. Sie bricht mit der Prämisse eines naiven ‚Mul-
tikulturalismus‘, derzufolge Individuen Angehörige einer (und nur einer) Kultur
und durch diese geprägt sind. In einer solchen Sichtweise wird auch verkannt,
dass und wie sich Migrantinnen und Migranten mit kulturellen Tradierungen
und ihren Erfahrungen in der Aufnahmegesellschaft eigensinnig auseinanderset-
zen. Dabei wird ausgeklammert, dass Heranwachsende und Erwachsene mit und
ohne Migrationshintergrund in der Lage sind, sich distanzierend und kritisch zu
nationalen, kulturellen und religiös gefassten Bezügen, Zuordnungen und Zu-
schreibungen zu verhalten.
Demgegenüber fordert eine reflektierte Interkulturelle Pädagogik zur Aus-
einandersetzung mit den Bedingungen, Formen und Folgen von ethnischen,
kulturellen und religiösen Zuschreibungen und Identifikationen sowie ihrer ge-
sellschaftspolitischen, sozialen und individuellen Bedeutung auf. Dabei ist zu
vermitteln, dass kulturelle Differenzen weder notwendig Ursache von Problemen
und Konflikten noch allein als ein Effekt sozialer Ungleichheiten verständlich
sind. An die Stelle einer Beanspruchung kulturalisierender und ethnisierender
Stereotype tritt folglich der Versuch einer differenzierten Auseinandersetzung
mit konkreten Praktiken und Lebensentwürfen, der auf generalisierende Annah-
men über eine vermeintliche Besonderheit von MigrantInnen und Migranten
verzichtet. Entsprechend weisen einschlägige Studien etwa darauf hin, dass
Zugewanderte mit einem ähnlichen Migrationshintergrund sich in höchst un-
terschiedlicher Weise auf jeweilige kulturelle Traditionen beziehen (vgl. DAN-
NENBECK/ESSER/LÖSCH 1999).

52
Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft

2.4 Diversity-Pädagogik
Im folgenden Abschnitt werden aktuell einflussreiche Konzepte der Diversity-
Pädagogik (vgl. CUSHNER/MCCLELLAND/SAFFORD 1996; LYNCH/MODGIL/MODGIL
1992; WLODKOWSKI/GINSBERG 1995), die auf eine Weiterentwicklung Antirassi-
stischer und Interkultureller Pädagogik zielen, ausführlicher diskutiert.
In der Perspektive der Diversity-Pädagogik werden soziale und kulturelle
Differenzen in modernen Gesellschaften nicht allein als Folgen von Einwande-
rung thematisiert. Die für vereinfachende Konzepte Interkultureller Pädagogik
charakteristische Tendenz, einen verstehenden Blick auf ‚die andere Kultur‘ zu
etablieren, ohne die Selbstverständlichkeiten und die Situiertheit der eigenen
Perspektive zu hinterfragen, wird aufgebrochen, indem angenommen wird, dass
soziale Klasse und sozialer Status, sex/gender, sexuelle Orientierung, Ethnizi-
tät/Nationalität, ‚Rasse‘, Alter, Sprache, Religion, psychische und physische
Gesundheit, Behinderung und Regionalität sowie politische Orientierungen be-
deutsame Bezugspunkte für individuelle und soziale Identitätskonstruktionen
und Lebensstile sowie möglicher Anlass für Konflikte und Diskriminierungen
sind (vgl. CUSHNER/MCCLELLAND/SAFFORD 1996, S. 75). Damit fordert der Di-
versity-Zugang einen umfassenden und auch selbstreflexiven Umgang mit mul-
tireferentiellen Identitätskonstruktionen sowie deren Verschränkung mit Domi-
nanz- und Unterordnungsstrukturen heraus.

KASTEN 4 f Diversity und Intersektionalität


Gudrun-Axeli KNAPP (2005, S. 70) hat darauf hingewiesen, dass sich die Ver-
wendung des Diversity-Konzepts inzwischen zu einem recht unübersichtlichen
Diskurs entwickelt hat. Zu unterscheiden sei dabei insbesondere
a) ein funktionales Verständnis von Diversity als ökonomisch relevanter Faktor,
der für das Personalmanagement ebenso relevant ist wie für die Produktpla-
nung;
b) die Thematisierung von Heterogenität in einem politisch-rechtlichen Anti-
Diskriminierungsdiskurs;
c) eine kritische Perspektive, die die Verschränkung sozialer Klassifikationen
mit sozioökonomischen Ungleichheiten sowie politischen Macht- und Herr-
schaftsbeziehungen in den Blick rückt.
Konzepte der Intersektionalität stellen dabei ins Zentrum, dass sozioökono-
mische Ungleichheit, Rassialisierung, Ethnisierung, Vergeschlechtlichung so-
wie politische, rechtliche, institutionelle und interaktionelle Diskriminierung
nicht unabhängig voneinander sind, sondern in einem engen Zusammenhang
miteinander stehen (vgl. etwa ANDERSON/HILL 2004; LEIPRECHT/LUTZ 2006).

53
Ulrike Hormel | Albert Scherr

Eine Bildungspraxis, die auf die Überwindung von Diskriminierung zielt, ist
entsprechend aufgefordert, jeweilige Verschränkungen in den Blick zu nehmen
und zu problematisieren. D.h. z.B., dass es nicht genügt, rassistische und kultur-
bezogene Vorurteile zu thematisieren, sondern erforderlich ist danach zu fragen,
in welchen sozialen Konstellationen sich diese als plausible Deutungen eigener
Erfahrungen darstellen können. Ein wesentliches Ziel der Diversity-Pädagogik
besteht darin, Annahmen über die keineswegs selbstverständlich voraussetzbare
Bedeutung kultureller Zugehörigkeiten und Unterschiede zu dekonstruieren,
indem auf die Multireferentialität der Kontexte hingewiesen wird, in denen in-
dividuelle Identitätsbildung und Lebenspraxis situiert ist.

Der Diversity-Ansatz, der sich von einem allzu einfachen Verständnis sozialer
und kultureller Zugehörigkeiten distanziert und die mögliche Bedeutung viel-
fältiger Unterschiede betont, weist einige Probleme auf der konzeptionellen
Ebene auf. In den letzten Jahren haben Diversity-Konzepte auch in Deutsch-
land in Politik und Praxis Verbreitung gefunden. Erklärtes Ziel ist v.a. eine po-
sitive Bewertung von Unterschieden. „Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“,
so etwa die Formulierung der im Dezember 2006 von DaimlerChrysler, der
Deutschen Bank, der Deutschen Telekom und der Deutschen BP gemeinsam
mit Staatsministerin Böhmer ins Leben gerufenen ‚Charta der Vielfalt‘ „sollen
Wertschätzung erfahren – unabhängig von Geschlecht, Rasse, Nationalität, eth-
nischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller
Orientierung und Identität.“ Diversity-Konzepte sind zunächst v.a. als Manage-
mentstrategien US-amerikanischer Unternehmen entwickelt worden. Sie zielen
entsprechend zentral darauf „Potentiale wert(zu)schätzen und für das Unterneh-
men gewinnbringend einzusetzen“ (vgl. www.vielfalt-als-chance.de).
Diversity Konzepte im Unternehmensmanagement sind im Wesentlichen
an Effizienzkalkülen orientiert und darauf ausgerichtet, die Unterschiedlichkeit
der einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für den Unternehmenserfolg zu
nutzen. Innerbetriebliche Konflikte sollen vermieden und die Akzeptanz des
Unternehmens und seiner Produkte gestärkt werden. Betont wird dabei die Kon-
traproduktivität von Diskriminierungen. Die problematischen Grundannahmen
und Engführungen von Diversity-Konzepten im Sinne eines effizienten Zugriffs
auf verfügbare ‚Humanressourcen‘ sind mit der hier intendierten Antidiskrimi-
nierungsperspektive z.T. genuin unvereinbar (vgl. HORMEL/SCHERR 2004a; HOR-
MEL 2007).
Ein genereller Problempunkt liegt in der Gefahr, dass die Absicht der Sen-
sibilisierung für reale oder zugeschriebene Differenzen zu einer Einübung in
wechselseitige Stereotypisierungen entlang der Kategorien Geschlecht, Ethnizi-

54
Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft

tät, Religion usw. führt – dass also nicht die Wahrnehmung der Komplexität in-
dividueller Lebenskonstruktionen, sondern die routinierte Verwendung sozialer
Klassifikationen gelernt wird.
Dies kann nur dann vermieden werden, wenn die Forderung nach Beachtung
und Anerkennung von Differenzen und ein Plädoyer für Vielfalt nicht abgelöst
wird von der Auseinandersetzung damit, dass und wie soziale Klassifikationen
als Diskriminierungsressource verwendet werden und dass der Zwang, sich in
einer bestimmten Weise zu definieren bzw. definieren zu lassen (etwa als Junge
oder Mädchen, als Deutscher oder als Ausländer) zu einer Einschränkung indi-
vidueller Handlungsmöglichkeiten führen kann.
Deshalb ist es erforderlich, über ein Plädoyer für Vielfalt, das ethnisierende
und religionsbezogene Kategorisierungen und Klassifikationsprozesse nur aus-
differenziert und erweitert, hinaus zu gehen. Für eine angemessene Auseinan-
dersetzung mit Strukturen, Praktiken und Ideologien der Diskriminierung ist es
notwendig, zur Einsicht in Prozesse der Konstruktion des ‚Anderen‘ zu befähi-
gen. Die Vorstellungen, mit denen ein jeweiliges, z.B. religiöses oder nationales
‚Wir‘ bestimmt wird, stehen, wie sich an zahlreichen Bespielen verdeutlichen
lässt, in einem Zusammenhang mit historischen und gegenwärtigen Herrschafts-
verhältnissen sowie mit Prozessen, in denen eigene Erfahrungen projektiv verar-
beitet werden. So waren der Orient oder indigene Gruppen in einer europäischen
Perspektive immer wieder die Projektionsfolie für Ängste und Sehnsüchte, die
etwa zu Vorstellungen über ‚die edlen Wilden‘ geführt haben.
Diversity-Pädagogik kann so für Grenzüberschreitungen und in sich he-
terogene Identitäten und Praktiken sensibilisieren, die etablierte Unterschei-
dungen unterlaufen (vgl. MECHERIL 2003). Es gilt also z.B. Aufmerksamkeit für
die Formen zu entwickeln, in denen Mädchen und Jungen ein ironisches oder
spielerisches Verhältnis zu geschlechtsbezogenen Normen realisieren oder für
Situationen, in denen Schülerinnen und Schüler ethnische und nationale Zu-
ordnungen dramatisierend inszenieren und auch wieder außer Kraft setzen.
Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler sollen lernen, wahrzunehmen und
anzuerkennen, dass und wie vielfältige Bezüge in Bestimmungen der eigenen
Identität eingehen und dass deren Bedeutung situativ variiert. In Konzepten der
Diversity-Pädagogik deutet sich damit eine Perspektive an, die die Komplexität,
Situationsabhängigkeit und Veränderlichkeit der für individuelle und kollektive
Identitätsbildungen sowie für Zuordnungen zu sozialen Gruppen und Distanzie-
rungen bedeutsamen Bezüge und Verortungen in Rechnung stellt.
Für die Umsetzung einer solchen Bildungspraxis sind vier Gestaltungsebe-
nen in den Blick zu nehmen (vgl. HILD im vorliegenden Band):

55
Ulrike Hormel | Albert Scherr

• das Selbstverständnis, die Einstellungen und Überzeugungen von Schullei-


tungen und Lehrpersonen und die Erfordernisse einer Befähigung zu einem
reflektierten und nicht diskriminierenden Umgang mit Vielfalt im Bereich
der Aus-, Fort- und Weiterbildung;
• Schulen als Organisationen – insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob
und wie die Zusammensetzung ihrer Schülerschaft und ihres pädagogischen
Personals Erfahrungen des Umgangs mit sozialen und kulturellen Unter-
schieden ermöglicht oder einschränkt;
• Interaktions- und Kooperationsprozesse in Schulklassen in Bezug darauf,
welche Unterschiede für den Erfahrungshintergrund und das Selbstverständ-
nis von Lehrkräften und Schülerinnen und Schüler bedeutsam sind, ob und
ggf. wie diese zu Abgrenzungen führen, also auch, wer mit wem in Interakti-
on tritt und welche wechselseitigen Vorannahmen damit einhergehen;
• die curriculare Thematisierung von Diversität hinsichtlich ihrer inhaltlichen
und methodischen Aspekte – also etwa, welche ethnischen und religiösen
Klassifikationen in Unterrichtsmaterialien vorgenommen werden und wel-
che, z.B. national gefassten Perspektiven ins Zentrum gestellt werden.

KASTEN 5 f Materialien für Diversity-Pädagogik


Eine insgesamt empfehlenswerte Zusammenstellung von Materialien für Unter-
richtsprojekte und -einheiten, die der Programmatik einer Diversity-Pädagogik
folgen, liegt im deutschen Sprachraum unserer Kenntnis nach nicht vor.
Die von der Bertelsmann-Stiftung ausdrücklich als Praxishandbuch für Lehr-
kräfte verbreitete Materialiensammlung „Eine Welt der Vielfalt“ (2001) ist v.a.
aufgrund des zugrunde liegenden naiven Verständnisses kultureller Vielfalt und
kultureller Unterschiede für pädagogische Prozesse, wie sie im Rahmen des
vorliegenden Artikels skizziert wurden, nicht zu empfehlen.
In der Materialiensammlung von Marina KHANIDE und Karl GIEBLER (2003)
‚Ohne Angst verschieden sein‘ finden sich einzelne Übungen, die zu einer refle-
xiven Auseinandersetzung mit eigenen sozialen Verortungen anregen.
Eine Übersicht zu praxisrelevanten Materialien und Publikationen, die u.a. im
Rahmen einer Diversity-Programmatik nutzbar sind, findet sich unter http://
www.ida-nrw.de/Diskriminierung/html/fmaterialien.htm.
Materialien für diversitätsbewusste Organisationsentwicklung in englischer
Sprache finden sich auf den folgenden Internetseiten:
Harvard University: Derek Bok Center for Teaching and Learning; http://bokcenter.
harvard.edu/icb/icb.do?keyword=k1985&pageid=icb.page29721#questions
University of North Carolina at Chapel Hill: Diversity in the College Class-
room: http://ctl.unc.edu/TeachforInclusion.pdf

56
Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft

3 Zusammenfassung

Pädagogische Konzepte, die auf die Situation von Einwanderungsgesellschaften


reagieren, sind darauf verwiesen, soziale und kulturelle Heterogenität in Zu-
sammenhang mit sozialen Ungleichheiten und Machtbeziehungen in den Blick
zu nehmen. Grundlegend ist folglich eine Anti-Diskriminierungsprogramma-
tik, die nicht das Verstehen von Unterschieden, sondern die Überwindung von
Benachteiligungen ins Zentrum stellt. Allen Individuen sollen gleiche Chancen
eröffnet und sie sollen dazu befähigt werden, ihr Selbstverständnis in Auseinan-
dersetzung mit vielfältigen kulturellen Kontexten zu entwickeln.
Die Diversity-Perspektive fordert in diesem Kontext dazu auf, sich diffe-
renziert mit den Strukturen und Mechanismen auseinanderzusetzen, die für so-
ziale Verortungen und Positionszuweisungen sowie Identifikationen bedeutsam
sind. Für die pädagogische Praxis zeigt sich, dass eine Unterrichtsgestaltung,
die Erfahrungen der Gleichheit und der Gleichberechtigung ermöglicht, sowie
zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Ideologien befähigt,
wichtig, aber gleichwohl unzureichend ist. Unverzichtbar sind Veränderungen
von Schulen als Organisationen und des Bildungssystems, die darauf zielen,
Einheimischen und Zugewanderten, Mehrheits- und Minderheitsangehörigen,
Mädchen und Jungen etc. gleiche Bildungschancen und Partizipationsmöglich-
keiten zu eröffnen. In der Lehreraus-, fort- und -weiterbildung muss eine dif-
ferenzierte Wahrnehmung und Reflexion sozialer und kultureller Heterogenität
gelernt werden, und zugleich die Fähigkeit der kritischen Auseinandersetzung
mit den Mythen und Stereotypen einer kulturalisierenden Pädagogik. Anzustre-
ben ist deshalb die curriculare Verankerung von Menschenrechtsbildung sowie
von Ansätzen der Antirassistischen, Interkulturellen und Diversity-Pädagogik
als Spezial- und Querschnittsdimension in den Ausbildungsgängen für die päd-
agogischen Berufe.

Fragen und Denkanstöße


1. Warum können pädagogische Konzepte nicht sinnvoll davon ausgehen, dass
Schülerinnen und Schüler unterschiedlichen Kulturen angehören? Nennen
Sie Beispiele für die Stereotype einer kulturalisierenden Pädagogik!
2. Erklären Sie die unter Abschnitt 1.2 benannten ‚Lernherausforderungen‘
und ‚Lernblockaden‘ und finden sie eigene Beispiele dafür!
3. Betrachten Sie die Gestaltungsebene der Schule als Organisation (S. 56):
Welche Konsequenzen kann es haben, dass es an den Schulen in Deutsch-
land kaum Lehrkräfte mit Migrationshintergrund gibt? Welchen Einfluss

57
Ulrike Hormel | Albert Scherr

kann eine Tätigkeit von Lehrkräften mit Migrationshintergrund auf die schu-
lische Bildungspraxis haben?
4. Betrachten Sie die Gestaltungsebene der Interaktions- und Kooperationspro-
zess in Schulklassen (S. 56): Welche Ausprägungen sozialer und kulturel-
ler Heterogenität sind für die Unterrichtspraxis relevant? Welche Chancen
bieten die unterschiedlichen Erfahrungshintergründe der Schülerinnen und
Schüler für eine Gestaltung des Unterrichts?
5. Welche in Schulen verankerte Normalitätserwartungen (z.B. Erwartungen
in Hinblick darauf, was einen idealen Schüler kennzeichnen sollte) tragen in
welcher Weise zu Benachteiligungen und Diskriminierungen bei?

Literaturempfehlungen
DGB-BILDUNGSWERK THÜRINGEN E.V. (Hrsg.): Baustein zur nicht-rassistischen
Bildungsarbeit. Erfurt 2003.
Der „Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit“ ist zwar in erster Linie
für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit konzipiert, enthält aber zahlreiche
Materialien und Anregungen, die auch für den schulischen Unterricht genutzt
werden können. Das Konzept beruht auf einem breit gefassten Rassismusbegriff
und zielt darauf, Rassismus nicht als ein isoliertes Thema in eigens dafür aus-
gerichteten Antirassismus-Seminaren zu behandeln, sondern Ansatzpunkte und
Möglichkeiten aufzuzeigen, wie das Prinzip des ‚Nicht-Rassismus‘ sowie die
vertiefende Auseinandersetzung mit den Themen Rassismus, Antisemitismus,
Nationalismus, Diskriminierung, Migration etc. in der Bildungsarbeit verankert
werden kann.

HORMEL, U./SCHERR, A.: Bildung für die Einwanderungsgesellschaft. Perspek-


tiven der Auseinandersetzung mit struktureller, institutioneller und interaktio-
neller Diskriminierung. Wiesbaden 2004.
Im Rahmen einer international vergleichenden Studie wurde untersucht, in
welcher Weise Bildungspolitik und Bildungspraxis in (klassischen) Einwande-
rungsländern – wie Kanada, Großbritannien und Frankreich – auf die ‚Tatsache
Einwanderungsgesellschaft‘ reagieren. Auf der Grundlage einer systematischen
Verknüpfung von Aspekten der Menschenrechtspädagogik, der antirassistischen
Pädagogik, der interkulturellen Pädagogik und der Diversity-Pädagogik werden
Möglichkeiten und Erfordernisse der Reform von Schulen als Organisationen,
der Curriculumsentwicklung und der Unterrichtsgestaltung sowie der Lehrerbil-
dung aufgezeigt.

58
Bildungskonzepte für die Einwanderungsgesellschaft

LEIPRECHT, R./KERBER, A. (2005) (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesell-


schaft. Schwalbach/Ts.
Der Sammelband gibt einen Überblick über die Fachdiskussion zur Situation
und den Perspektiven von Schulen in einer ‚pluriformen Einwanderungsgesell-
schaft‘. Aufgezeigt werden u.a. Aspekte einer ‚Pädagogik der Vielfalt‘, Mög-
lichkeiten einer ‚Erziehung zur Mehrsprachigkeit‘ und Anforderungen an päda-
gogische Professionalität.

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60
Kapitel 3

Sara Fürstenau

Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen

Da Kinder mit ganz unterschiedlichen Erfahrungen, Interessen und Fähigkeiten


in die Schule kommen, ist jede Lerngruppe heterogen. Franz WEINERT beschreibt
die Unterschiede in den Bildungsvoraussetzungen der Kinder aus einer entwick-
lungspsychologischen Perspektive:

„Differenzierende Erbanlagen, unterschiedliche Sozialisationsbedingungen,


kritische Lebensereignisse, frühkindliche Lernerfahrungen, das bisherige
Schulschicksal und die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen diesen
individuellen Entwicklungsbedingungen bewirken die Genese singulärer
Persönlichkeiten schon im Kindesalter und die Entstehung großer interin-
dividueller Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten und Lernstilen, in
persönlichen Eigenarten, Haltungen und Einstellungen, in Motiven und In-
teressen, in sozialen Verhaltensweisen und individuellen Störbarkeiten, aber
auch in psychologischen Entwicklungs- und pädagogischen Beeinflussungs-
möglichkeiten.“ (WEINERT 1997a, S. 50).

Angesichts der Verschiedenheit und Vielfalt der Bildungsvoraussetzungen wird


häufig gefragt, wie es annähernd gelingen kann, den Bedürfnissen einzelner
Kinder im Schulunterricht mit 20 bis 30 Schülerinnen und Schülern gerecht zu
werden. Im Hinblick auf das Ziel der Bildungsgerechtigkeit erschöpft sich ein
konstruktiver Umgang mit Heterogenität im Unterricht aber nicht im ‚Blick auf
das einzelne Kind‘ und seinen individuellen Entwicklungsstand. Schülerinnen
und Schüler zeichnen sich nicht nur durch singuläre Persönlichkeiten, sondern
auch durch soziale Zugehörigkeiten aus. Unterschiede in den Bildungsvoraus-
setzungen sind immer auch im sozialen Kontext zu verstehen, das heißt, die
sozio-kulturellen Lebenslagen der Kinder und ihrer Familien sind als Bedin-
gungsfaktor zu berücksichtigen. Angesichts der Zuteilung sozialer Partizipati-
onschancen durch die Schule ist der Umstand, dass sich die verschiedenartigen

61
Sara Fürstenau

Erfahrungen, Interessen und Fähigkeiten der Kinder in ihrer sozialen Wertigkeit


unterscheiden, eine grundlegende Ausgangsbedingung für die Gestaltung von
Unterricht in heterogenen Lerngruppen.
Im Kontext von Migration besteht die Herausforderung insbesondere da-
rin, die schulischen Routinen angesichts der Bedürfnisse von Schülerinnen
und Schülern aus zugewanderten Minderheiten zu hinterfragen. Im Unterricht
sind implizite Normen wirksam, die auf verschiedene Schülergruppen ungleich
wirken. Besonders wirksam ist z.B. die traditionell verankerte Erwartung, dass
Schülerinnen und Schüler normalerweise einsprachig mit Deutsch aufwachsen.
Solche Normalitätserwartungen führen dazu, dass die Zugänge der Kinder und
Jugendlichen zu den schulischen Bildungsprozessen und -inhalten unterschied-
lich sind. Sie sind nicht nur unterschiedlich leicht oder schwer, sondern die Un-
terschiede betreffen auch emotionale Voraussetzungen und Motivationen. Die
Kinder können sich in unterschiedlichem Maße mit dem, was sie in der Schule
tun, identifizieren. Wenn sie als Angehörige einer sozialen Minderheit wahrge-
nommen werden, fühlen sie sich womöglich weniger zugehörig und werden in
ihrer Persönlichkeit weniger gestärkt. Diese Problematik hat 1996 in einer Emp-
fehlung der Kultusministerkonferenz zur interkulturellen Erziehung bildungs-
politische Beachtung gefunden:

„Zur interkulturellen Erziehung müssen Lehrerinnen und Lehrer befähigt


werden, damit sie in ihrer pädagogischen Arbeit Raum für unterschiedliche
Sichtweisen und Sichtwechsel geben können. Dies ist umso wichtiger, als
die Unterrichtenden zum größten Teil der Mehrheitsgesellschaft angehören
und aufgrund ihrer Sozialisation und Ausbildung in der Gefahr stehen, ihre
Sichtweisen als die normalen, selbstverständlichen weiterzugeben.“ (KMK
1996, S. 7).

Die Gestaltung von Unterricht in heterogenen Lerngruppen kann einen Beitrag


dazu leisten, dass alle Schülerinnen und Schüler einen Zugang zu den schu-
lischen Inhalten finden. Dazu gehört, dass die Vielfalt der sozio-kulturellen
Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt und für das Lernen
konstruktiv genutzt wird. Dieser Ansatz kann auf der Grundlage sozialkonstruk-
tivistischer Konzepte des Lernens und Lehrens verfolgt werden. Die folgende
Definition von Unterricht verweist auf verschiedene Momente von Unterricht,
mit denen sich dieses Kapitel in drei Schritten auseinandersetzt:

62
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen

Definition: Unterricht
„Mit Unterricht sind im Allgemeinen solche Situationen gemeint, in denen mit
pädagogischer Absicht und in organisierter Weise innerhalb eines bestimmten
institutionellen Rahmens von professionell tätigen Lehrenden Lernprozesse ini-
tiiert, gefördert und erleichtert werden.“ (REINMANN-ROTHMEIER/MANDL 2001, S.
603)
1. Der erste Fokus liegt auf den Lernprozessen im Unterricht. Ausgehend von
(sozial-)konstruktivistischen Lerntheorien geht es um die Frage, wie die so-
ziale Interaktion im Unterricht Lernprozesse in heterogenen Lerngruppen
beeinflusst.
2. Im Unterricht werden Lernprozesse „von professionell tätigen Lehrenden
initiiert“. Es stellt sich die Frage nach der Rolle der Lehrkraft. Wie können
Lehrerinnen und Lehrer Lernprozesse „initiieren“ und „erleichtern“?
3. Unterricht vollzieht sich „in organisierter Weise“. Eine Grundlage für die
Unterrichtsgestaltung sind didaktische Handlungsmodelle. Wie beeinflussen
verschiedene Unterrichtsformen und -methoden das Lernen und das Lehren
in heterogenen Gruppen?

1 Ko-konstruktive Lernprozesse in heterogenen Gruppen

Konstruktivistische Theorien beschreiben Erkenntnis als eine subjektive Inter-


pretation der Welt. Das heißt nicht, dass Erkenntnis als ein beliebiger Prozess
gesehen wird, in dem jede und jeder Einzelne irgendeine Vorstellung von der
Wirklichkeit entwickelt. Im sozio-kulturellen Kontext kann Konstruktion als ein
„vermittelter Vorgang“ betrachtet werden: „Wir sind zwar subjektiv frei, etwas
zu konstruieren, aber zugleich in unserer Lebenswelt, die unsere Perspektiven
formt und unsere Interessen leitet, auch gebunden in dem, was wir tun, beobach-
ten, wofür wir uns einsetzen.“ (REICH 2006, S. 76).
In der Didaktik „konstruktiv vorzugehen“ bedeutet, die Lernenden darin
zu unterstützen, ihr Wissen selbst zu „konstruieren“ (ebd., S. 25). Ein solches
Vorgehen entspricht Ergebnissen der Lernforschung zur aktiven Rolle des In-
dividuums beim Lernen: „Mittlerweile kann als gesichert gelten, dass aktive
Eigenkonstruktion und subjektiv vollzogene Sinngebung die Basis jedes kogni-
tiv-konstruktivistischen Lernens darstellen – dies im Gegensatz zu rein repro-
duktiven und mechanisch-passiven Formen des Lernens.“ (REUSSER 2001, S.
127).

63
Sara Fürstenau

Eine konstruktivistische Didaktik zielt also auf einen aktiven Konstrukti-


onsprozess der Lernenden, denen die Möglichkeit eröffnet werden soll, neues
Wissen selbsttätig in ihre bereits bestehenden kognitiven Strukturen zu integrie-
ren. Der Didaktiker Kersten REICH führt den konstruktivistischen didaktischen
Ansatz auf John DEWEY, Jean PIAGET und Lew S. WYGOTSKI als theoretische Vor-
denker zurück (vgl. ders. 2006, S. 71ff):
John DEWEY (1859-1952), U.S-amerikanischer Philosph und Pädagoge,
verfolgte das Anliegen, die Idee der Demokratie in pädagogischen Prozessen
zu verwirklichen. Eine konstruktivistische Didaktik knüpft an DEWEYs prag-
matischen Ansatz an, der darin besteht, Lernprozesse in Handlungssituationen
anzustoßen. Der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean PIAGET (1896-1980)
hat die kognitive Anpassung von Kindern an ihre Umwelt untersucht und dabei
verschiedene Entwicklungsstufen beschrieben. PIAGET hat erkannt, dass Lernen
ein Konstruktionsprozess ist, in dem die Kinder durch die subjektive Ausein-
andersetzung mit ihrer Umwelt die Lerngegenstände selbst konstruieren. Lern-
prozesse sind daher nach seiner Theorie nur in begrenztem Maße von außen
zu steuern. Diese Erkenntnis ist ein Ausgangspunkt für eine konstruktivistische
Didaktik. Der russische Psychologe Lew S. WYGOTSKI (1896-1934) begründete
in den 1920er Jahren die kulturhistorische Schule der russischen Psychologie.
WYGOTKIs Theorie erfasst die Bedeutung sozialer Interaktion für das Lernen. Der
theoretische Ansatz geht über die Fokussierung der subjektiven Lernprozesse
des einzelnen Kindes hinaus, indem er soziale Lernprozesse berücksichtigt. Da-
durch wird die Aufmerksamkeit auf Zusammenhänge zwischen Kognition und
Sozialisation gerichtet. WYGOTSKI prägt sozialkonstruktivistische Lerntheorien,
die Lernen im sozio-kulturellen Kontext betrachten.
Der Konstruktivismus ist durch vielfältige theoretische Perspektiven geprägt,
die unterschiedliche Einflussfaktoren auf den Erkenntnisprozess in den Vorder-
grund stellen (vgl. REICH 2006, S. 85ff). Für ein Verständnis von Lernprozessen
in heterogenen Lerngruppen sind insbesondere Ansätze weiterführend, die die
Einflüsse historischer Kontexte, kultureller Praktiken und sozialer Interaktionen
auf die Konstruktion von Wissen berücksichtigen und die häufig auf WYGOTSKIs
sozialkonstruktivistische Perspektive zurückgeführt werden.
Ausgehend von der Bedeutung sozialer Interaktion als Anlass für Kons-
truktionsprozesse betont REICH die Beziehungsseite von Lehr-Lern-Prozessen:
„Lernen ist immer eine soziale Situation und ein zwischenmenschliches kom-
munikatives Ereignis“ (ebd., S. 18). Lernprozesse können demnach durch die
gemeinsamen Konstruktion von Bedeutung durch die Gesprächspartner ange-
stoßen werden. YOUNISS (1994) erfasst diesen Prozess mit dem Konzept der „Ko-
Konstruktion“ (vgl. Kasten 1).

64
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen

KASTEN 1 f Ko-Konstruktion nach James YOUNISS

YOUNISS hat das Konzept der Ko-Konstruktion in seinen wissenschaftlichen


Studien über Freundschaftsbeziehungen von Kindern und Jugendlichen entwi-
ckelt. Ausgangspunkt sind Theorien der Philosophen Jürgen HABERMAS, John
MACMURRAY und Paul RICOEUR, die sich mit der Kognition von Subjekten in
kommunikativen Beziehungen befassen. Den Prozess der Ko-Konstruktion
beschreibt YOUNISS folgendermaßen: „Formal gesehen wird Rationalität durch
eine Validierung ersetzt, die über das im Dialog entwickelte Einverständnis er-
reicht wird. Kurz gesagt konstruiert das Subjekt in dieser Theorie zwar auch
eine Realität, aber nicht als ein Subjekt, das sich nur auf die Regeln des Den-
kens und Begründens verlässt. Das in kommunikativen Beziehungen stehende
Subjekt ko-konstruiert seine Konzepte der Wirklichkeit zusammen mit anderen.
Ansprüche auf Gültigkeit des eigenen Standpunktes, der eigenen Person oder
der eigenen Kenntnisse müssen ‚diskursiv eingelöst, also in einem argumentativ
erzielten Konsensus der Beteiligten begründet werden‘ (HABERMAS, 1973, S.
144).“ YOUNISS stellt sein Konzept der Ko-Konstruktion einer Auffassung ge-
genüber, in der „Kognition mit selbstreflexivem Denken gleichgesetzt“ wird. In
den Freundschaftsbeziehungen hat YOUNISS folgende günstige Bedingungen der
Ko-Konstruktion herausgearbeitet: Gleichberechtigung, Respekt und gegensei-
tiges Wohlwollen. (YOUNISS 1994, S. 68-70).

Sozialkonstruktivistischen Lerntheorien zufolge spielt die soziale Interaktion


auch für das Lernen in der Schule eine herausragende Rolle. Auch im Unterricht
lernen Schülerinnen und Schüler demnach durch Aushandlungsprozesse, in de-
nen die Gesprächspartner ausgehend von ihren persönlichen Vorerfahrungen in
konstruktiver Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen gemeinsame Ge-
dankengänge und Vorstellungen entwickeln.
Das lernförderliche Potenzial eines konstruktiven Umgangs mit Unterschie-
den kann genutzt werden, wenn der Unterricht auf die sozialisationsbedingt un-
terschiedlichen Vorkenntnisse, Weltsichten und Interessen der Schülerinnen und
Schüler zurückgreift. Da ko-konstruktive Lernprozesse von der Gegenüberstel-
lung unterschiedlicher Sichtweisen leben, entspricht ihre Initiierung der inzwi-
schen weit verbreiteten Forderung, die Heterogenität der Schülerschaft im Un-
terricht als ‚Ressource‘ zu begreifen (vgl. z.B. LEHBERGER/SANDFUCHS 2008). Ein
Ziel besteht darin, Differenz- und Fremdheitserfahrungen als Ausgangspunkt
für „horizonterweiternde Lernprozesse“ zu nehmen (vgl. SIEBERT 2005).
Dem entspricht der Anspruch Interkultureller Pädagogik, die gesellschaft-
liche Pluralität der Ausdrucks- und Lebensformen im Unterricht zu thematisie-

65
Sara Fürstenau

ren und zu reflektieren. Welche Fähigkeiten die Schülerinnen und Schüler dabei
im Einzelnen erwerben können, hat GOGOLIN (2003) in einem Modell über „Fä-
higkeitsstufen der Interkulturellen Bildung“ ausformuliert (vgl. Kasten 2). Das
Modell beschreibt Kenntnisse und Fähigkeiten, die unabhängig vom Schulfach
und vom Alter der Schülerinnen und Schüler in jedem Unterricht erworben wer-
den können, wenn Perspektivenvielfalt thematisiert wird.

KASTEN 2f Fähigkeitsstufen der Interkulturellen Bildung

Ingrid GOGOLIN beschreibt „übergreifende, aufeinander aufbauende Fähigkeits-


stufen […], die durch interkulturelle Bildung und Erziehung erreicht werden
können“:
„1. Kenntnisse über Phänomene, in denen sich kulturelle, sprachliche oder so-
ziale Verschiedenheit zeigt (z.B.: Kleidung, Nahrung, […] religiöse oder andere
Ideale […]).
2. Kenntnisse über Gründe und Anlässe für Phänomene, in denen sich sprach-
liche oder soziale Verschiedenheit zeigt (z.B.: verhüllende Kleidung als Schutz
vor Hitze oder Kälte, das Entstehen ‚regionaler Küchen‘ als Spiegel der Pro-
dukte der Region und ihrer Armut oder ihres Reichtums […]).
3. Fähigkeit, die Phänomene, die auf kulturelle, sprachliche oder soziale Ver-
schiedenheit weisen oder zu weisen scheinen, in ihrem Wandel zu betrachten
und zu reflektieren (z.B.: […] Kopftuch als Kopfbedeckung ländlicher oder
bäuerlicher Frauen in der ganzen Welt; Kopftuch als religiöses Symbol ver-
schiedener Religionen, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Regionen;
Kopftuch als Objekt der Mode zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Regi-
onen; Kopftuch als Symbol der Selbstbehauptung und des Protests von jungen
Frauen mit Migrationshintergrund in europäischen Metropolen).
4. Fähigkeit, die Phänomene, die auf kulturelle und sprachliche oder soziale
Verschiedenheit weisen oder zu weisen scheinen, aus verschiedenen Perspekti-
ven zu betrachten und zu reflektieren (z.B.: […] Reflexion der Erinnerungen an
Christoph Columbus aus der Sicht der Eroberer oder der Sicht der Eroberten; aus
der Sicht eines Spielfilmregisseurs oder aus der Sicht eines Historikers […]).
5. Fähigkeit zur Durchdringung und Verknüpfung historischer, politischer und
gesellschaftlicher Zusammenhänge, aufgrund derer Phänomene, die auf Ver-
schiedenheit deuten, für das Leben eines Menschen oder einer Gruppe von
Menschen bedeutsam werden (z.B.: die Selbstverortung einer Gruppe als An-
gehörige einer ‚kulturellen Gemeinschaft‘ kann zum Zwecke des Ausdrucks
von Zusammengehörigkeit oder eines gemeinsamen ästhetischen Empfindens
geschehen; sie kann unter bestimmten historisch-politischen Umständen aber

66
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen

auch zum Zwecke der Verteidigung von Privilegien oder der Beseitigung von
Benachteiligung dienen). […]
6. Fähigkeit, die eigenen Wahrnehmungen, Empfindungen und Verhaltensge-
wohnheiten bei der Begegnung mit Fremden oder Fremdem zu erkennen und
zu verstehen, worauf sie jeweils zurückzuführen sind (z.B.: […] durch welche
Merkmale des Aussehens eines Menschen schließe ich gewöhnlich auf seine
Herkunft? […]).
7. Fähigkeit, das eigene Handeln und Verhalten, die eigenen Gewohnheiten
und Werteorientierungen an den moralischen und ethischen Standards einer
modernen, pluralen, weltoffenen, demokratischen Gesellschaft auszurichten.“
(GOGOLIN 2003, S. 1-3)

Die von GOGOLIN beschriebenen Kenntnisse und Fähigkeiten können in einem


Unterricht, der Raum für die Heterogenität der Lerngruppe lässt, zur Anwen-
dung kommen. Wenn auch die Erfahrungen, Sichtweisen und Wahrnehmungen
von Kindern, die von den in der Schule dominanten Normalitätserwartungen
abweichen, zur Kenntnis genommen und für das Lernen genutzt werden, wird
gesellschaftliche Pluralität im Unterricht erfahrbar.
Im Hinblick auf das Ziel der Bildungsgerechtigkeit reicht es allerdings nicht
aus, die Unterschiede innerhalb der Schülerschaft im Unterricht zur Geltung zu
bringen. Damit allen Schülerinnen und Schülern eine erfolgreiche Schullauf-
bahn ermöglicht wird, besteht eine zentrale Aufgabe des Unterrichts darüber
hinaus darin, in der Interaktion auch ein gemeinsames Wissen zu entwickeln.
Es ist eine besondere Herausforderung des konstruktiven Umgangs mit Hetero-
genität, Prozesse der Ko-Konstruktion nicht nur zur Verständigung über unter-
schiedliche Erfahrungen und Vorstellungen, sondern auch zur Entwicklung ge-
meinsamer Grundbegriffe zu nutzen. Das Ziel, allen Schülerinnen und Schülern
einen Zugang zu den Kenntnissen und Fähigkeiten zu eröffnen, die für Schuler-
folg ausschlaggebend sind, darf nicht aus den Augen verloren werden.
Die verschiedenen Zielsetzungen des Unterrichts in heterogenen Lerngrup-
pen können durchaus als Dilemma beschrieben werden. Das Ziel, Unterschiede
innerhalb der Schülerschaft in konstruktiver Weise anzuerkennen kann im
Widerspruch zu dem Ziel stehen, Unterschiede im Hinblick auf Schulerfolgs-
chancen auszugleichen (vgl. HINZ 2002). Eine Auseinandersetzung mit diesem
Dilemma kann Teil des Lernprozesses sein. Soziale und schulische Normen
können im Unterricht thematisiert und die soziale Wertigkeit sozio-kultureller
und sprachlicher Praxis reflektiert werden. So können Schülerinnen und Schüler
ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Ausdrucks-, Verhaltens- und Sichtwei-

67
Sara Fürstenau

sen in Abhängigkeit von sozialen Kontexten und Konstellationen positiv oder


negativ sanktioniert werden. Erst ein solches Bewusstsein befähigt sie, die Be-
deutung unterschiedlicher Ausdrucks- und Lebensformen in historischen, poli-
tischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu durchdringen (vgl. Punkt 5
in Kasten 2).

2 Die Rolle der Lehrkraft bei der sozialen Konstruktion


von Bedeutung im Unterricht

Ergebnisse der empirischen Unterrichtsforschung weisen darauf hin, dass die


Bedeutung der Lehrkraft für den Lernzuwachs von Schülerinnen und Schülern
größer ist, als lange angenommen wurde, und das gilt insbesondere für das Ler-
nen von Kindern mit niedrigen Schulleistungen (vgl. LIPOWSKY 2007, S. 35ff).
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Eigen-
aktivität der Schülerinnen und Schüler und Anleitung durch die Lehrkraft im
Unterricht. Wie kann die Lehrkraft die soziale Konstruktion von Bedeutung im
Unterricht unterstützen und dazu beitragen, dass die Lernenden ihren Erfah-
rungshorizont und ihre Kompetenzen erweitern?
WYGOTSKIs theoretische Überlegungen sind ein grundlegender Beitrag zu
einem Verständnis von Lernen und Lehren im Kontext sozialer Interaktion (vgl.
ders. 1934/1986). Nach WYGOTSKI erwerben Kinder kulturelle Symbolsysteme
durch das wiederholte Eingebundensein in sozial bedeutsame Aktivitäten und
Interaktionen: Sie lernen neue Denk-, Argumentations- und Begründungsmus-
ter in sozialen Austauschprozessen kennen und machen sich diese Muster erst
im Anschluss an die soziale Erfahrung durch fortschreitende Verinnerlichung
zu eigen. In der sozialen Interaktion können Kinder nach WYGOTSKI von ihren
Alltagserfahrungen und „Alltagsbegriffen“ abstrahieren und allgemeingültige
Phänomene bzw. „wissenschaftliche Begriffe“ erfassen (ebd., S. 167ff). Dafür
brauchen Kinder allerdings Unterstützung durch eine instruktive Ausrichtung
der Interaktion. Das instruktive Moment sieht WYGOTSKI im gemeinschaftlichen
Lösen von Aufgaben innerhalb dialogischer Interaktionsmuster zwischen Ler-
nenden und Lehrenden: Der erwachsene Interaktionspartner befähigt das Kind
durch „Hilfsfragen“ dazu, Aufgaben aus dem „Bereich der nächsten Entwick-
lung des Kindes“ zu lösen (ebd., S. 236f). Das heißt, nach WYGOTSKI kann das
Kind durch die instruktive Ausrichtung der Interaktion Aufgaben bewältigen,
die es auf sich alleine gestellt, ohne Unterstützung, noch nicht hätte bewälti-
gen können. In der dialogischen Konstruktion universaler Bedeutungen kann

68
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen

der erwachsene Interaktionspartner demnach die inhaltlichen und sprachlichen


Abstraktionsprozesse der Kinder unterstützen, wenn er sowohl die aktuelle als
auch die kommende Entwicklung des Kindes berücksichtigt.
Aus WYGOTSKIs Konzept der ‚Zone der nächsten Entwicklung‘ lässt sich
der in der Didaktik verbreitete Anspruch ableiten, das Können des Kindes als
Ausgangspunkt für Instruktion zu nehmen. Dieser Anspruch liegt zum Beispiel
einer Konzeption von Förderkonzepten zugrunde, die Mechthild DEHN (1994,
1996) für den Lese- und Schreibunterricht in der Grundschule entwickelt hat:
Für „Lehr- und Lernprozesse“ sei es „zentral,

„vom Können des Kindes auszugehen und von da aus einen Weg zu den schu-
lischen Anforderungen zu suchen: Was kann das Kind schon? Was muß es
noch lernen? Was kann es als nächstes lernen? Zu diesem Blick auf das Kind
gehört neben der Wahrnehmung seiner (frühen) Formen von Schriftlichkeit
auch die Aufmerksamkeit auf sein ‚Selbst-Verständnis‘ – seine Initiative im
Klassenzimmer, sein Umgehen mit der Aufgabenstellung im Unterricht, sei-
ne Reaktion auf Ansprüche, auf Korrekturformen und Arten der Präsentation
der Arbeitsergebnisse (...)“ (DEHN 1996, S. 16).

Auch in der aktuellen Forschung zur Kompetenzentwicklung im Unterricht ist


die theoretische Denktradition WYGOTSKIs einflussreich (vgl. z.B. PAULI 2006,
SCHRADER u.a. 2008, S. 10), und eine unterstützende Haltung der Lehrkraft ist
durch Untersuchungen zur Unterrichtsqualität wiederholt als Merkmal leis-
tungsförderlichen Unterrichts identifiziert worden (vgl. z.B. DITTON 2006 und
die Ergebnisse der SCHOLASTIK-Studie in Kasten 6). Im Sinne WYGOTSKIs
besteht die Hilfestellung nicht in einer Belehrung, sondern darin, die Konstruk-
tions- und Lernprozesse der einzelnen Schülerinnen und Schüler voranzubrin-
gen. Eine solche Form der Unterstützung beschreibt das Konzept des ‚Scaffol-
ding‘ (vgl. Kasten 3).

69
Sara Fürstenau

KASTEN 3f Scaffolding

Der Begriff ‚Scaffolding‘ wurde von David WOOD, Jerome S. BRUNER und Gail
ROSS (1976) eingeführt. Das Forschungsteam hat in einem Experiment mit drei-
bis fünfjährigen Kindern untersucht, wie eine erwachsene Person die Lernpro-
zesse der Kinder bei einer für die Kinder interessanten und herausfordernden
Aufgabe in der sozialen Interaktion optimal unterstützt. Das Experiment be-
stand im Bau einer Pyramide, bei dem Einzelteile in einer bestimmten Art und
Weise zusammengesetzt werden mussten. Die Ergebnisse geben Aufschluss
darüber, wie Lernende in der Interaktion mit einer ‚wissenden‘ bzw. lehrenden
Person dazu befähigt werden können, Problemlösungen zu finden, die sie von
sich aus nicht gefunden hätten. Zentral ist das Ergebnis, dass die Lehrperson
den Lernenden im gelungenen Fall ein temporäres ‚Gerüst‘ (scaffold, englisch
= Baugerüst) als Wegweiser zur Problemlösung zur Verfügung stellt, ohne da-
durch die Eigenaktivität der Lernenden zu behindern.
Ein „Modell des optimalen Scaffolding“ für den Unterricht skizzieren SALONEN
und VAURAS (2006, S. 209): „Der Scaffolding-Prozess enthält im Wesentlichen
eine graduelle Verschiebung von der Fremd- zur Selbstregulation mit dem Ziel,
dem Kind zu helfen, unabhängigeres Lernen zu erreichen. (...) In einem optima-
len Unterricht verändert die Lehrperson mit Scaffolding die Aufgabenschwie-
rigkeit sensibel und flexibel. Sie hilft dem Kind durch sprachliche Anleitung die
entscheidenden Zusammenhänge zu erkennen und zu formulieren, gibt ihm nur
die minimal nötige Unterstützung, damit die Aufgabe herausfordernd bleibt,
dosiert die Hilfe flexibel und lässt sie umso mehr auslaufen, je mehr das Kind
fähig ist, die Aufgabe unabhängig von Unterstützung zu bewältigen.“

Die Unterstützung der Konstruktions- und Lernprozesse durch die Lehrkraft


hängt in hohem Maße von der Qualität der Interaktion ab. Anders als die In-
teraktion der Lernenden untereinander, die mit den von YOUNISS beschriebenen
Prozessen der Ko-Konstruktion in Freundschaftsbeziehungen verglichen wer-
den kann (vgl. Kasten 1), ist die Interaktion zwischen Lehrkraft und Schüle-
rinnen und Schülern durch ein asymmetrisches Machtverhältnis gekennzeichnet
(vgl. PERREZ u.a. 2001, S. 360). Zur Rolle der Lehrkraft gehört es, Gespräche
im Unterricht zu lenken und als ‚wissender‘ Interaktionspartner zu agieren. Die
soziale Konstruktion von Bedeutung hängt aber davon ab, dass auch die Schüle-
rinnen und Schüler ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen in das
Gespräch einbringen können und die Interaktion ihnen Raum für eigene kogni-
tive Aktivität lässt. Das ist der Fall, wenn die Interaktion sich als dynamischer
Prozess gestaltet, in dem sich „Lehrer und Schüler wechselseitig beeinflussen“

70
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen

(ebd., S. 382). REICH (2006) zufolge zeichnen sich Lehrende als „Beziehungs-
didaktiker“ idealerweise durch „ein dialogisches Verhalten in der Kommunika-
tion“ und durch die „Fähigkeit zur Anerkennung und Wertschätzung anderer in
dieser Kommunikation“ aus (S. 21).
Die Unterrichtsforschung hat verschiedene Interaktionsmuster zwischen
Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern beschrieben, die dem Denken und
Sprechen der Lernenden mehr oder weniger Raum lassen. Eine zu starke Ge-
sprächslenkung durch die Lehrkraft kann die aktive Beteiligung der Lernenden
am Konstruktionsprozess verhindern. Die starke Lenkung zeichnet sich häufig
durch kleinteilige Fragen aus, die den Blick auf das Ganze verstellen, weil sie
die Inhalte portionsweise verhandeln.
Bis heute gilt der zuerst von MEHAN (1979) rekonstruierte IRE-Diskurs
(Initiation-Response-Evaluation-Diskurs) als in der Schule verbreitetes Interak-
tionsmuster. In diesem Diskurs stellt die Lehrkraft eine Frage, auf die eine Schü-
lerin oder ein Schüler antwortet, woraufhin die Evaluierung durch die Lehrkraft
folgt. Da der Lehrkraft die ‚richtigen‘ Antworten auf die Fragen meistens vorab
bekannt sind, ist ein eng geführter IRE-Diskurs eher statisch als dynamisch.
Nachgewiesenermaßen beteiligen sich an einer solchen Interaktion im Unter-
richt am ehesten Kinder von bildungserfolgreichen Eltern, denen sowohl das
Interaktionsmuster als auch viele ‚richtige‘ Antworten aus Gesprächen mit ihren
Eltern bereits bekannt sind.
Demgegenüber begünstigen reziproke Interaktionsprozesse, in denen sich
die Gesprächspartner aufeinander beziehen, eine aktive und fragende Lern-
haltung und damit die kognitive Beteiligung der Schülerinnen und Schüler.
Wenn die Lehrkraft den Gesprächsablauf weniger vorherbestimmt und häufiger
‚echte‘ Fragen stellt, ist außerdem die Wahrscheinlichkeit höher, dass Kinder
unterschiedliche Erfahrungen und Sichtweisen einbringen können. In der rezi-
proken Interaktion kann die Lehrkraft den Gedankengängen der Kinder folgen
und ihre individuellen Konstruktionsprozesse unterstützen. Eine Voraussetzung
dafür sind hohe Redeanteile der Schülerinnen und Schüler.

71
Sara Fürstenau

Beispiel für die soziale Konstruktion von Bedeutung


KASTEN 4f
im Unterricht

Das Beispiel stammt aus einer Untersuchung von Pauline GIBBONS (2006) in
einer Schule in Sydney (Australien). Es handelt sich um Unterricht zum Thema
Magnetismus in einer Schulklasse mit zehnjährigen Kindern, von denen die
Mehrheit aus zugewanderten Familien stammt und Englisch als Zweitsprache
erwirbt:
„Lehrerin: Versuch ihnen zu sagen, was du gelernt hast ... okay. (Zu Hannah)
ja?
Hannah: Ähm äh, ich hab gelernt, dass ähm wenn man einen Magneten ...
(Lachen von Hannah und anderen Kindern, als das Mädchen eine Erklärung
versucht, ohne die Hände zu benutzen) wenn ich [einen Magneten auf einen
Magneten] lege ... wenn man einen Magneten ... oben auf einen Magneten legt
... und der Nordpol Pole sind ... (Pause von 7 Sekunden, Hannah hat deutlich
Probleme auszudrücken, was sie sagen möchte)
Lehrerin: Ja, ja du machst das gut ... man legt einen Magneten oben auf einen
anderen ...
Hannah: Und und die Nordpole sind zusammen äh ähm der Magnet ... stößt den
Magneten äh ... der Magnet und der andere Magnet ... so als ob er in der Luft
schwimmt?
Lehrerin: Ich finde, das ist sehr gut gesagt ... sehr gut ... willst du etwas hinzu-
fügen, Charlene?
(Die Lehrerin fordert zu anderen Beiträgen auf und kehrt dann zu Hannah zu-
rück. Sie bittet Hannah, zuerst das Experiment den anderen Kindern zu zeigen,
und fordert sie anschließend auf, es noch einmal zu erklären.)
(...)
Lehrerin: Hört jetzt zu ... nun, Hannah, erkläre es noch einmal ... in Ordnung,
Hannah ... aufgepasst jetzt (sie stellt die Aufmerksamkeit der Klasse wieder her)
... hört noch einmal auf ihre Erklärung
Hannah: Die zwei Nordpole lehnen zusammen und der Magnet unten stößt den
Magneten oben ab, sodass der Magnet oben so ... in der Luft schwimmt
Lehrerin: Sodass sich diese zwei Magnete gegenseitig abstoßen und ... guck dir
die Kraft dabei an.“
(GIBBONS 2006, S. 279)

72
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen

3 Didaktische Handlungsmodelle

Ausgehend von der Erkenntnis, dass Lernen ein aktiver, konstruktiver und so-
zialer Prozess ist, wurde der normative Begriff ‚neue Lernkultur‘ geprägt (vgl.
HELMKE 2005, S. 66; WEINERT 1997b). Der Begriff wird programmatisch mit
Bezug auf reformpädagogische Ideale und in Abgrenzung von einem lehrer-
zentrierten Unterricht verwendet (vgl. KOLBE u.a. 2008, S. 127). Er beinhal-
tet Vorstellungen eines ‚guten Unterrichts‘, in dem Schülerinnen und Schüler
ihre Lernprozesse so weit wie möglich selbst organisieren, kontrollieren und
in Kontexten gestalten, die an ihre Interessen anschließen (vgl. als Beispiel für
die Aktualität dieser Ideale KOLLAR/FISCHER 2008). Dementsprechend gelten so
genannte progressive Unterrichtsmethoden, wie z.B. Werkstatt- und Projektun-
terricht, Freiarbeit und Kooperatives Lernen (vgl. Kapitel 4 in diesem Buch) als
Teil der neuen Lernkultur. In der Praxis in deutschen Schulen werden solche
Ansätze am ehesten im ‚Offenen Unterricht‘ in der Grundschule umgesetzt (vgl.
GÖTZ u.a. 2005). Individualisierende und differenzierende Handlungsmodelle
sollen dazu beitragen, unterschiedlichen Interessen, Lernvoraussetzungen und
-wegen der Schülerinnen und Schüler im Unterricht mehr Raum zu geben.

Definition „Innere Differenzierung“


„Innere Differenzierung als ein Ansatz, dessen Entstehung bis in die sieb-
ziger Jahre zurückreicht, ist insbesondere darauf ausgerichtet, die Lernum-
gebung an den heterogenen Lernvoraussetzungen und Lernprozessen der
Schülerinnen und Schüler zu orientieren, um auf diese Weise optimale Lern-
möglichkeiten für alle Lernenden zu schaffen. Das aus dem Lateinischen
stammende Wort ‚differenzieren‘ meint in dem Zusammenhang, Lernumge-
bungen ‚ungleich‘, ‚verschieden‘, an die unterschiedlichen Lernvorausset-
zungen ‚passend‘ bzw. ‚anschlussfähig‘ zu gestalten. Innere Differenzierung
bezieht sich folglich auf ein ‚ungleiches‘, ‚verschiedenes‘ Gestalten von
Lernumgebungen innerhalb einer Lerngruppe (...).“ (HANKE 2005, S. 123f).

In der Erziehungswissenschaft besteht heute weitgehend Einigkeit darüber,


dass ein gleichschrittiger, ausschließlich lehrergelenkter Unterricht den Unter-
schieden in den Lernausgangslagen der Schülerinnen und Schüler nicht gerecht
wird und dass Innere Differenzierung in heterogenen Lerngruppen sinnvoll ist.
Allerdings ignorieren allgemein gehaltene programmatische Forderungen nach
Innerer Differenzierung als Lösungsansatz für den Umgang mit Heterogenität,
dass damit – wie im Folgenden deutlich werden soll – durchaus praktische und
theoretische Probleme, Widersprüche und Herausforderungen verbunden sind

73
Sara Fürstenau

(vgl. WISCHER 2007). Im Hinblick auf die Berücksichtigung unterschiedlicher


Lernausgangslagen und auf den Leistungsausgleich in heterogenen Lerngrup-
pen birgt Innere Differenzierung sowohl Chancen als auch Probleme.
Eine Herausforderung ist das „Spannungsfeld (...) zwischen Individuali-
sierung und normierten Anforderungen“ (VON DER GROEBEN 2008, S. 26). Eine
grundsätzliche Frage betrifft die Lernziele der einzelnen Schülerinnen und
Schüler, wenn sie individuelle Aufgaben bearbeiten. In welchem Verhältnis ste-
hen Individual- und Gruppennorm, wenn durch Innere Differenzierung für jede
und jeden Einzelnen optimale Lernbedingungen geschaffen werden sollen? Was
heißt Differenzierung für leistungsschwache Schülerinnen und Schüler? Bear-
beiten sie ‚leichtere‘ oder weniger Aufgaben als leistungsstarke Schülerinnen
und Schüler? Wie wird gewährleistet, dass auch sie einen Zugang zum Wissen
und Können erhalten, das für den Schulerfolg ausschlaggebend ist? Ein Ansatz
im Umgang mit diesem Dilemma ist eine Orientierung an differenziellen Lern-
zielen, basierend auf einer „Unterscheidung zwischen einem Basiscurriculum
mit fundamentalen Lernzielen für alle Schüler und einem differenziellen Auf-
baucurriculum, das Schülern mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen und
verschiedenen Interessensrichtungen möglichst große geistige Entfaltungsmög-
lichkeiten bietet“ (WEINERT 1997a, S. 52).
Ein weiteres Problem der Inneren Differenzierung ist die Zuteilung indi-
vidueller Aufgaben. Wie sollen Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht mit 20
bis 30 Kindern auf individuelle Lernbedürfnisse eingehen? Ist der Anspruch,
das Lernangebot an individuelle Bedürfnisse ‚anzupassen‘, aus lerntheore-
tischer Perspektive überhaupt sinnvoll? Die Vorstellung, die Lehrkraft könne
den unterschiedlichen Lernausgangslagen in einer Schulklasse gerecht werden,
indem sie für alle Schülerinnen und Schüler individuell ‚passende‘ Aufgaben
bereitstellt, birgt nicht nur ein praktisches Komplexitätsproblem, sondern ist
auch lerntheoretisch fragwürdig. BRÜGELMANN (2002) bezeichnet eine „Pas-
sung von Unterricht und individuellem Entwicklungsstand“ durch die Lehrkraft
als „Illusion“. Da „Diagnosen und Prognosen von Leistungen (...) wenig ver-
lässlich“ seien, sei der Anspruch der „Passung“ nicht zu erfüllen (ebd., S. 38).
Wenn die Lehrkraft als binnendifferenzierende Maßnahme die Qualität oder die
Quantität von Aufgaben variiert, besteht unweigerlich die Gefahr, dass sie die
Leistungs(un)fähigkeit einzelner Schülerinnen und Schüler festschreibt. Ein
sinnvolles Gegenmodell zur Differenzierung ‚von oben‘ durch die Lehrkraft ist
deshalb eine Differenzierung ‚von unten‘ durch die Schülerinnen und Schüler
selbst (vgl. BRÜGELMANN 2002, S. 39; HANKE 2005, S. 124). Wenn den Lernenden
bei der Bearbeitung von Aufgaben Entscheidungsfreiräume gelassen werden,
können sie individuelle Zugänge entwickeln. Eine günstige Voraussetzung dafür
sind komplexe Aufgaben- und Problemstellungen, die auf kleinteilige Stufung

74
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen

und Progression verzichten und stattdessen unterschiedliche Formen und Medi-


en der Bearbeitung zulassen (vgl. DEHN 2005, S. 26f). Eine weitere Möglichkeit
der Differenzierung ‚von unten‘ besteht darin, Schülerinnen und Schüler selbst
zwischen verschiedenen Aufgaben wählen zu lassen. Voraussetzung dafür ist
das Vertrauen, dass die Schülerinnen und Schüler sich beim selbstbestimmten
Lernen ‚sinnvoll‘ beschäftigen und nicht ‚zu leichte‘ oder ‚zu schwere‘ Auf-
gaben bearbeiten. Dazu gehört ein konstruktiver Umgang mit Fehlern. „Wenn
wir Fehler als individuelle Differenzierung ‚von unten‘ tolerieren, entgehen wir
dem unerfüllbaren Anspruch einer Differenzierung ‚von oben‘ durch individu-
elle Programme für jedes einzelne Kind“ (BRÜGELMANN/BRINKMANN 1994, S. 9).
Aus sozial-konstruktivistischer Perspektive stellt sich die Frage, inwieweit
ein interaktiver, im oben beschriebenen Sinne horizonterweiternder Umgang
mit Heterogenität im Rahmen Innerer Differenzierung überhaupt möglich ist.
Steht eine Betonung des individuellen Lernens nicht im Widerspruch dazu, un-
terschiedliche Sichtweisen und Erfahrungen in der Schulklasse für das gemein-
same Lernen zu nutzen? Ist es doch für die soziale Konstruktion von Bedeutung
im Unterricht eine Voraussetzung, dass sich alle Schülerinnen und Schüler als
Gruppe mit geteilten Problemen und Fragen auseinandersetzen und diese aus
unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Erst dann kann das „Klassenzimmer
(...) nicht nur als physikalischer, sondern auch als sozio-ökologischer Kontext
des Lernens“ gesehen werden (WEINERT 1997b, S. 19). Es ist demnach sinnvoll,
Phasen der Individualisierung im Unterricht durch Arbeitsformen in Gruppen
und Gespräche im Klassenverband zu ergänzen.

75
Sara Fürstenau

KASTEN 5f „Das soll eine Sonne sein?“

Das folgende Beispiel aus dem Unterricht einer 1. Grundschulklasse hat Mecht-
hild DEHN als „Schlüsselszene zum Schrifterwerb“ identifiziert (DEHN 1994, S.
31):
Protokoll der Lehrerin: „Wir sitzen im Kreis, erzählen vom Wochenende. Sa-
scha sagt: „Ich habe euch etwas mitgebracht.“ Stolz präsentiert er fünf gleich-
große Papierschnipsel und legt sie in die Kreismitte. „Das ist ein Puzzle“, sagt
er mit einer Stimme, die verrät, daß wir das wohl nie rauskriegen. Die Kinder
schauen und bemerken dann, daß auf den einzelnen Papierstücken Buchstaben
stehen. Sandra hockt sich in den Kreis und beginnt, die Schnipsel nebeneinan-
der zu legen. Die Kinder sagen: Da ist ein O. Und ein N. Den kenn‘ ich, den
habe ich vorn. Das S ist auch da. Ja, und noch mal! Und ein E – wie Esel. In der
Kreismitte liegt jetzt ENNOS. Sandra (sie kann schon Wörter/kleine Sätze le-
sen) ruft: „Oh, das ist ja Sonne!“ Schnell legt sie die Buchstaben in die richtige
Reihenfolge: „Ja, das ist Sonne.“ Anwar hält sich die Hand vor den Mund, lacht
versteckt und prustet dann los: „Das soll eine Sonne sein, da lach‘ ich mich ja
kaputt, das ist doch keine Sonne!“ Die Kinder schauen etwas ratlos. Ich gehe an
die Tafel und male eine große Sonne auf die Vorderseite. „Ist das eine Sonne?“
frage ich. Er nickt: „Ja, das ist eine Sonne. So sieht nämlich eine Sonne aus.“ Im
Kreis zeige ich auf die Schnipsel und sehe die Kinder an. Sascha meint: „Ja, und
da steht auch Sonne. Das ist nämlich das Wort für Sonne.“ „Hääh?“ ... Keiner
kann dieses „häh“ so lang ziehen und so ungläubig gucken wie Anwar. „Das
ist auch ‘ne Sonne?“ Murat sagt: „Anwar, das sind die Buchstaben für Sonne,
so wenn man schreibt.“ Sascha erklärt noch, daß er sein Puzzle ja extra schwer
machen wollte, deshalb habe er keine Sonne gemalt. Anwar schaut noch etwas
ungläubig und fragt: „Und da steht jetzt Sonne“?
Klasse 1, 30.8.1993. Gedächtnisprotokoll: Sigrid Andersen“
(DEHN 1994, S. 82)

Eine weitere Herausforderung eines geöffneten, differenzierenden Unterrichts


besteht in dem Verhältnis von Anleitung und Eigenaktivität. In einem Unterricht,
der auf das ‚eigenverantwortliche Lernen‘ der Schülerinnen und Schüler abzielt,
wird die wichtigste Aufgabe der Lehrkraft häufig darin gesehen, die ‚Lernum-
gebung‘ zu gestalten. Diese Sichtweise steht jedoch im Widerspruch zu der
empirischen Erkenntnis, dass eine aktive Unterstützung und Strukturierung der
Lernprozesse durch die Lehrkraft gerade für leistungsschwache Schülerinnen
und Schüler wichtig ist (vgl. Kasten 6 zur SCHOLASTIK-Studie). Vor diesem
Hintergrund kritisiert WEINERT (1997b) eine „Dogmatisierung progressiver Un-

76
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen

terrichtsmethoden“ und sieht eine Gefahr in der „Stigmatisierung des Lehrers


als autoritäre Kontrollinstanz des kindlichen Lernens“ (ebd., S. 26). Wenn wir
davon ausgehen, dass auch das selbstbestimmte Lernen im Unterricht einer Un-
terstützung durch die Lehrkraft bedarf, heißt das, die „Öffnung des Unterrichts
enthebt uns (...) nicht der Aufgabe, die Lernversuche der Kinder sorgfältig zu
beobachten und ihnen gezielt Aufgaben zu stellen.“ (BRÜGELMANN/BRINKMANN
1994, S. 9).
Das Verhältnis von Anleitung und Eigenaktivität im Unterricht beeinflusst
nicht zuletzt den Leistungsausgleich in heterogenen Lerngruppen. Schülerinnen
und Schüler nutzen Freiräume für Eigenaktivität im Unterricht in unterschied-
lichem Maße für die Aneignung schulischer Inhalte, und zwar auch in Abhän-
gigkeit davon, ob ihnen schultypische Aktivitäten wie z.B. das Lesen von Haus
aus vertraut sind oder nicht. Vor diesem Hintergrund warnt Jill BOURNE (2003)
davor, das eigenaktive Lernen im Unterricht zu idealisieren; zur Illustration:

„(...) the child who takes the teacher‘s instruction to ‚choose‘ from a range of
activities at face value, and spends his time on the tricycles [Dreiräder, S.F.]
rather than alongside the teacher in reading activities is seen less ‚ready‘ to
learn, does not receive instruction, and falls further and further behind, par-
ticularly if not at the same time receiving parental instruction in reading at
home.“ (BOURNE 2003, S. 498).

Da Unterschiede im Lernverhalten und in den Lernerfolgen immer auch auf so-


zio-kulturelle Bedingungsfaktoren, und nicht vorschnell auf ‚Begabungen‘ zu-
rückzuführen sind, sollten Kinder beim selbstbestimmten Lernen im Unterricht
nicht sich selbst überlassen bleiben, sondern Unterstützung erfahren.

77
Sara Fürstenau

KASTEN 6f Die Münchner Grundschulstudie SCHOLASTIK

Die Grundschulstudie SCHOLASTIK des Max-Planck-Instituts für psycholo-


gische Forschung München in 51 Schulklassen über die Grundschulzeit ist eine
der umfassendsten schulischen Langzeituntersuchungen (vgl. WEINERT/HELMKE
(Hrsg.) 1997). SCHOLASTIK steht für „Schulorganisierte Lernangebote und
Sozialisation von Talenten, Interessen und Kompetenzen“. Die empirische Stu-
die umfasst Leistungstests, Schüler- und Lehrerbefragungen sowie Unterrichts-
beobachtungen. Das Ziel bestand darin, die Entwicklung schulischer Leistungen
sowie lernbezogener Motive und Orientierungen zu beschreiben und zu erklä-
ren. Für Fragen des Unterrichts in heterogenen Lerngruppen sind insbesondere
folgende Ergebnisse relevant:
1. Schulische Lernerfolge hängen in weitaus höherem Maße vom Vorwissen
der Kinder als von ihrer Intelligenz ab. Es sind also vor allem vorangegangene
Lernprozesse und sozialisationsbedingte Unterschiede in den Vorkenntnissen,
die die Leistungen der Kinder in der Schule beeinflussen. In heterogenen Lern-
gruppen folgt daraus der Anspruch, unterschiedliche Vorkenntnisse im Unter-
richt zu berücksichtigen.
2. Lernerfolge hängen nicht nur von den Voraussetzungen der Kinder, sondern
auch von Merkmalen des Unterrichts ab; darüber geben die Ergebnisse über
Leistungen im Mathematikunterricht Aufschluss. Zwar zeigen die Profile der
sechs erfolgreichsten Schulklassen in der SCHOLASTIK-Studie, dass die Merk-
male eines leistungsförderlichen Unterrichts variieren und unterschiedliche Un-
terrichtsstile effektiv sein können. Es lassen sich aber bestimmte Merkmale der
Unterrichtsgestaltung und der Klassenführung ableiten, die insbesondere für
leistungsschwache Schülerinnen und Schüler lernförderlich zu sein scheinen.
Leistungsförderliche Merkmale der Unterrichtsgestaltung:
• Klarheit: Die Lehrkraft sagt eindeutig, was zu tun ist, die Kinder können
Anweisungen ohne Nachfragen umsetzen.
• Strukturiertheit des Lehrervortrags: Die Lehrkraft drückt sich verständlich
und präzise aus. Inhaltliche Zusammenhänge werden explizit erläutert.
• Individuelle unterstützende Lernbegleitung: In offenen Unterrichtsphasen
achtet die Lehrkraft darauf, dass jedes Kind aktiv arbeitet und gibt einzelnen
Kindern Hilfestellungen.
Leistungsförderliche Merkmale der Klassenführung:
• Regeln und Rituale: Nach kurzen Ansagen wissen die Kinder genau, was zu
tun ist und können sofort auf das nötige Material zurückgreifen.

78
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen

• Zeitnutzung: Die Unterrichtszeit wird optimal für das fachliche Lernen ge-
nutzt.
• Umgang mit Störungen: Mit Störungen wird präventiv umgegangen; wird es
laut, greift die Lehrkraft schnell ein.

In der Unterrichtsforschung ist es Konsens, dass ein ‚guter Unterricht‘ verschie-


dene Methoden in offenen und lehrergelenkten Handlungssituationen verbin-
det und dass eine dichotomisierende Diskussion ‚progressiver‘ und lehrerge-
lenkter Methoden vielen Praxisansätzen nicht gerecht wird (vgl. HELMKE 2005,
S. 69f; LOMPSCHER 2001, S. 396; Schrader u.a. 2008, S. 20f). Auch im ‚Offenen
Unterricht‘ kann die Lehrkraft das Lernen unterstützen und strukturieren (vgl.
HARTINGER 2005). Auch ein lehrergelenkter Unterricht (‚direkte Instruktion‘,
‚fragend-entwickelnder Unterricht‘) kann problemorientiert durchgeführt wer-
den und die Perspektiven der Schülerinnen und Schüler einbeziehen (vgl. PAULI
2006, STERN 2006). Die Ergebnisse der Münsteraner Schulstudie weisen darauf
hin, dass eine Kombination unterschiedlicher Methoden besonders Erfolg ver-
sprechend ist (vgl. Kasten 7).

KASTEN 7f Die Münsteraner Schulstudie

Die Münsteraner Schulstudie wurde im naturwissenschaftlichen Sachunterricht


zum Thema ‚Schwimmen und Sinken‘ im dritten Grundschuljahr durchgeführt
(vgl. MÖLLER u.a. 2006). Die Studie ging der Frage nach, wie ein Unterricht,
der den Aufbau physikalischer Basiskonzepte fördert, gestaltet sein sollte. Die
Ergebnisse geben Aufschluss über die Rolle der Lehrkraft in einem konstrukti-
vistisch orientierten Unterricht. In sechs Schulklassen wurde ein Werkstattun-
terricht zum Thema ‚Schwimmen und Sinken‘ durchgeführt, in dem die Kin-
der vielfältige Möglichkeiten hatten, eigene Erfahrungen mit dem Thema zu
sammeln; so erkundeten sie bei einem Besuch im Schwimmbad die Auftriebs-
kraft des Wassers, und nach der Methode des forschenden Lernens führten sie
zahlreiche Experimente durch. Ein Unterschied im Unterricht der Schulklassen
wurde durch eine quasi-experimentelle Anlage der Studie hergestellt: Der Un-
terricht in drei der sechs Schulklassen zeichnete sich durch eine stärkere Struk-
turierung der Inhalte aus. In diesen drei Klassen bestimmte die Lehrkraft die
Reihenfolge, in der die Kinder die Experimente durchführten, unterstützte den
Erwerb der physikalischen Konzepte durch Teilfragen und ‚Scaffolding‘ in der
Gesprächsführung (vgl. Kasten 3) und stimmte die Aufgabenstellungen auf Teil-
aspekte des Themas ab. Die Ergebnisse der Studie belegen für den Aufbau der

79
Sara Fürstenau

physikalischen Basiskonzepte eine signifikante Überlegenheit des Unterrichts


mit stärkerer Strukturierung. Die Münsteraner Schulstudie bestätigt das Ergeb-
nis der Unterrichtsforschung, dass insbesondere die leistungsschwächeren Kin-
der von der strukturierenden Unterstützung durch die Lehrkraft profitieren.

Eine günstige Bedingung für das Lernen in heterogenen Schulklassen ist ein
„adaptiver Lehrstil“, der unterschiedliche Bedürfnisse der Schülerinnen und
Schüler berücksichtigt (WEINERT 1997a, S. 52). Dazu gehören sowohl Indivi-
dualisierung und Stillarbeitsphasen als auch Instruktion und Lehrervortrag zur
Sicherung von Grundbegriffen als auch gemeinsames Lernen durch ko-kons-
truktive Interaktion.

4 Zusammenfassung
Lernprozesse im Unterricht werden aus sozialkonstruktivistischer Perspektive
durch die interaktive Konstruktion von Bedeutung initiiert. Gemäß den hier zu-
grunde gelegten normativen Prämissen für ‚guten Unterricht‘ in heterogenen
Lerngruppen gehört dazu sowohl ein konstruktiver Umgang mit unterschied-
lichen Sichtweisen und Erfahrungen als auch die interaktive Entwicklung ge-
meinsamer Grundbegriffe schulischer Inhalte. Dem entspricht eine reziproke
Unterrichtsinteraktion, die Raum für das Denken und Sprechen der Lernenden
lässt und in der das Können der Schülerinnen und Schüler ein Ausgangspunkt
für die Anleitung und Unterstützung durch die Lehrkraft ist. Die Variation ver-
schiedener didaktischer Handlungsmodelle und Unterrichtsmethoden in Ab-
hängigkeit von Unterrichtsinhalten und -zielen und in Abhängigkeit von den
Bedürfnissen der Lerngruppe kann dazu beitragen, dass Prozesse der interak-
tiven Konstruktion und der Instruktion durch die Lehrkraft aufeinander bezogen
sind.

Fragen und Denkanstöße


1. Aus sozialkonstruktivistischer Perspektive wird Lernen durch die interaktive
Aushandlung von Bedeutung angestoßen. Illustrieren Sie diesen Prozess an
einem (fiktiven) Beispiel aus dem Unterricht in einer heterogenen Lerngrup-
pe!

80
Lernen und Lehren in heterogenen Gruppen

2. Erläutern Sie den didaktischen Anspruch, das Können des Kindes als Aus-
gangspunkt für Instruktion zu nehmen, mit WYGOTSKIS Begriffen!
3. Analysieren Sie die Interaktion zwischen Lehrerin und Schülerinnen in dem
Beispiel in Kasten 4! Wodurch zeichnet sich das Gesprächsverhalten der Leh-
rerin aus? Wie wirkt es auf die Beiträge der Schülerin Hannah?
4. Klären Sie den Begriff ‚Innere Differenzierung‘ und illustrieren Sie ihn an
einem (fiktiven) Beispiel aus dem Unterricht! Welche Potenziale und welche
Probleme birgt Innere Differenzierung im Unterricht?
5. Analysieren Sie das Unterrichtsbeispiel in Kasten 5 („Das soll eine Sonne
sein?“)! Welche Lernprozesse werden wie initiiert? Welche Rolle spielt die
Lehrerin?

Literaturempfehlungen
REICH, K. (2006): Konstruktivistische Didaktik. Lehr- und Studienbuch mit Me-
thodenpool. Weinheim und Basel.
Kersten REICH, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Köln,
stellt in dem Lehr- und Studienbuch theoretische Grundlagen und praxisbezo-
gene Konzepte einer konstruktivistisch orientierten Didaktik dar. Ausgangs-
punkt ist die Frage, wie wir „alle Lerner (...) noch mehr zu ihrem individuell
erfolgreichen, optimierten, für sie passenden Lernen“ kommen lassen können
(S. 10f). Ein Methodenpool auf CD führt in verschiedene Unterrichtsmethoden
ein und enthält konkrete Beispiele für die Unterrichtsgestaltung.

VON DER GROEBEN, A. (2008): Verschiedenheit nutzen. Besser lernen in hetero-


genen Gruppen. Berlin.
Annemarie VON DER GROEBEN ist Gymnasiallehrerin, war an der Bielefelder
Laborschule tätig und arbeitet in der Lehrerfortbildung. Vor dem Hintergrund
aktueller Forschungsergebnisse und bildungspolitischer Diskussionen bietet ihr
Buch erprobte und anregende Beispiele für die Unterrichtsgestaltung in hetero-
genen Lerngruppen. Die Beispiele zeigen, „wie Individualisierung (verstanden
als Vielfalt der Lernwege, die mit einem gemeinsamen Thema verknüpft wer-
den) konkret aussehen kann“ (S. 9). Schulischer Wandel bzw. ein umfassendes
Konzept von Schulentwicklung ist dabei die übergreifende Perspektive.

81
Sara Fürstenau

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84
Kapitel 4

Petra Hild

Kooperatives Lernen

Lernen geschieht in und durch Interaktion. Dies ist eine der Kernaussagen dieses
Beitrages über Kooperatives Lernen. Als Kooperatives Lernen bezeichnet man
ganz allgemein verschiedene Unterrichtsstrategien, deren Gemeinsamkeit die
Gruppenarbeit ist. Der Ansatz des Kooperativen Lernens soll sichern, dass die
Schülerinnen und Schüler nicht nur zusammenarbeiten, sondern dass sie ge-
meinsam mehr lernen als allein. Kooperatives Lernen nutzt Heterogenität als
Ressource. Es ist eine interaktive und strukturierte Lernform, bei der alle Ler-
nenden sich und ihre Kompetenzen beim Bearbeiten einer komplexen Aufgabe
möglichst eigenverantwortlich und gleichberechtigt einbringen, wobei die Leh-
rerin oder der Lehrer Autorität delegiert. Dadurch entstehen für die Lehrper-
son Räume zur Beobachtung, die im herkömmlichen Unterricht meist fehlen.
Kooperatives Lernen ist vom Grundgedanken her nichts Neues. Bereits Amos
COMENIUS (1592-1670) beklagte, dass das Prinzip ,Wer andere lehrt, bildet sich
selbst‘ in den Schulen zu wenig bekannt sei. Die Zunahme der Beschäftigung
mit kooperativem Lernen innerhalb der letzten Jahre hat stark mit einem ver-
änderten Lehr-Lernverständnis zu tun. Zahlreiche Forschungen bestätigen die
Wirksamkeit von Kooperativen Lernprozessen (vgl. GREEN/GREEN 2007; HUBER
1993; JOHNSON/JOHNSON/HOLUBEC 2002; KONRAD/TRAUB 2001).

1 Kooperatives Lernen?
Gruppenarbeit kennen wir doch ...

Bevor Sie sich gleich eingehender mit Kooperation und Kooperativem Lernen
beschäftigen, nehmen Sie sich bitte 20 Minuten Zeit für die folgenden zwei
Aufgabenstellungen:

85
Petra Hild

1) Beschreiben und begründen Sie den Stellenwert von ‚Lernen in Gruppen‘


für den von Ihnen bereits praktizierten oder zukünftigen schulischen Unter-
richt.
2) Machen Sie sich eine Liste mit Vor- und Nachteilen dieser Lehr- und Lern-
form und vergleichen Sie Ihre Argumente beim Weiterlesen mit denen des
vorliegenden Artikels.

Kooperatives Lernen ist von unterschiedlichen Bedingungen abhängig, damit es


lernwirksam wird. Die folgende Definition gibt erste Anhaltspunkte.

KASTEN 1f Kooperation

Zwei oder mehr (höchstens sechs) Personen arbeiten mit dem Ziel zusammen,
gemeinsam ein Problem zu lösen oder einen Lernauftrag zu erfüllen. Alle ken-
nen das Ziel und wollen es erreichen. Die oder der Einzelne erreicht es, wenn
die Gruppe es erreicht hat. Jedes Gruppenmitglied hat eine Rolle und eine Auf-
gabe, die seinen Fähigkeiten entspricht. Diese Rolle und diese Fähigkeiten sind
notwendig zum Erreichen des Ziels. Das macht die Einzelnen zur Gruppe. Alle
Mitglieder sind somit voneinander abhängig. Sie kooperieren, wenn sie einan-
der ihre Fähigkeiten zur Verfügung stellen. Dazu müssen sie interagieren und
kommunizieren. Sie müssen sich gegenseitig fragen, einander zuhören, eine
Meinung vertreten, Gedanken strukturieren, den Überblick behalten und Ar-
beitsteilung organisieren.

Es gibt unterschiedliche Begründungen für kooperative Lernprozesse. Aus ei-


ner lerntheoretischen Perspektive wird argumentiert, dass beim Lernen durch
Austausch- und Aushandlungsprozesse sowohl Wissen als auch Denkstrukturen
erworben und erweitert werden. Die Pädagogik und Didaktik argumentiert mit
der Mehrdimensionalität von Kooperativem Lernen:

• es wird ein Inhalt gelernt;


• Wissen wird (re)konstruiert und damit gefestigt;
• Fertigkeiten wie Schreiben werden trainiert;
• über den Lernweg werden soziale Ziele verfolgt;
• Lernstrategien werden angewendet und reflektiert;
• Haltungen wie Respekt oder Verantwortungsübernahme können sich entwi-
ckeln und
• weil die Lehrperson die Steuerung zu einem großen Teil abgibt, wachsen
Selbstständigkeit, Disziplin und Eigenverantwortung.

86
Kooperatives Lernen

Kooperatives Lernen wird seit über zwanzig Jahren innerhalb der Interkul-
turellen Pädagogik diskutiert, erforscht und reflektiert. Anfang der neunziger
Jahre hat z.B. Pieter BATELAAN (Niederlande) zur Förderung der Interkulturellen
Pädagogik in Europa SLIM eingeführt. SLIM heißt im Holländischen ,klug‘ und
steht hier für gemeinsames Lernen in multikulturellen Gruppen. Die schwed-
ische Variante ist als CLIP (Cooperative Learning in Intercultural Education
Projects) bekannt. SLIM und CLIP beruhen auf den Ideen der Komplexen In-
struktion, die im Folgenden vorgestellt werden (1.1). Auf zentrale Merkmale
Kooperativen Lernens wird im Anschluss daran eingegangen (1.2).

1.1 Komplexe Instruktion


Die Komplexe Instruktion ist eine Unterrichtsstrategie, die auf 20jähriger For-
schung basiert und von der Soziologin Elizabeth COHEN an der Stanford Uni-
versity in Kalifornien entwickelt wurde. Im Sinne der Komplexen Instruktion
kreist bei CLIP jede kooperative Lerneinheit um eine zentrale Idee (big idea),
welche sich in einer komplexen Fragestellung spiegelt, wie z.B. Warum wan-
dern Menschen? oder Wie funktioniert Kommunikation? Komplex bedeutet in
diesem Zusammenhang, dass das Problem nicht auf einem einfachen Ursache-
Wirkungs-Zusammenhang beruht. Vielmehr gibt es verschiedene Gründe und
Möglichkeiten des Umgangs mit der gestellten Aufgabe oder dem formulierten
Problem sowie unterschiedliche Vorgehens- und Lösungsvarianten.
Nach einer einführenden, von der Lehrperson gestalteten Aktivität (z.B.
Museumsbesuch) folgt eine kooperative Lernphase, in – durch die Lehrperson
bestimmten – Gruppen. Die speziellen Aufgaben der einzelnen Gruppenmit-
glieder werden bei CLIP durch die Übernahme einer der Aufgabenstruktur an-
gemessenen Rollenübernahme (vgl. HILD/WÜLSER 2000, S. 44) ebenfalls von
der Lehrperson gesteuert. Der schriftlich formulierte Gruppenauftrag ist immer
nach demselben Prinzip aufgebaut:

87
Petra Hild

Aufbau eines Gruppenauftrags im Rahmen


KASTEN 2f
komplexer Instruktion

A Arbeitsauftrag 1
Die erste (und zweite) Aufgabe ist für alle Gruppen gleich. Sie führt ins Thema
ein, holt Vorwissen ab, ermöglicht Austausch und lässt alle zu Wort kommen.
Für diese Phase eignet sich z.B. die Taktik ,Platzdeckchen‘ (s. S. 94).
B Inhaltskarte
In einem zweiten Schritt befasst sich die Gruppe mit einer von der Lehrperson
gestalteten Inhaltskarte. Eine Inhaltskarte stellt auf 1 bis 2 Seiten das Wesent-
liche zum Thema dar und dient der Wissenserweiterung. Ist etwas neu für die
Gruppe? Welche Fragen wirft die Inhaltskarte auf? Diskursiv einigt sich die
Gruppe auf zentrale Inhalte und Aussagen zur gestellten Frage.
C Arbeitsauftrag 2
Im letzten Teil von CLIP soll das bisher erarbeitete Wissen zur Anwendung
kommen, es geht um Transfer von Wissen. Im Gegensatz zu den ersten zwei
Schritten unterscheidet sich die dritte Aufgabenstellung für jede Gruppe, indem
sie unterschiedliche Zugänge ermöglicht. Zum Thema Kinderrechte kann z.B.
von einer Gruppe ein Hörspiel geschrieben oder ein Plakat gestaltet und von
einer anderen ein Interview vorbereitet oder ein Rollenspiel erarbeitet werden.

Materialien sind pro Gruppe nur einmal vorhanden. Es ist wichtig, dass alle
ihr Wissen in die Gruppe einbringen und notwendige Informationen beisteuern.
Jede Gruppe ist als Team für die Präsentation verantwortlich und steht zur Be-
antwortung von Fragen zur Verfügung. Abgerundet wird die komplexe Instrukti-
on jeweils durch eine Reflexionsphase (s. auch unter Reflexion, S. 92).

1.2 Merkmale von Kooperativem Lernen


Im Vergleich zur herkömmlichen Gruppenarbeit lassen sich acht spezifische
Merkmale Kooperativen Lernens beschreiben, die das Potenzial dieses Ansatzes
für heterogene Lerngruppen verdeutlichen (vgl. GREEN/GREEN 2007; HUBER
1993; JOHNSON/JOHNSON/HOLUBEC 2002; KONRAD/TRAUB 2001):

(1) Interventionen zum Abbau von Statusunterschieden in der Schulklasse


Strategien im Umgang mit Vielfalt und Verschiedenheit sind nur erfolgreich,
wenn sie Statusprobleme lösen (vgl. COHEN 1993, S. 51). Der Status einzelner
Schülerinnen und Schüler in der Lerngruppe wird aus der Sicht der Soziologin
Elizabeth Cohen u.a. an Leistungsfähigkeit und Beliebtheit festgemacht. „Auf

88
Kooperatives Lernen

Status begründete Fähigkeitszuschreibungen können zu sich selbst erfüllenden


Prophezeiungen werden“ (COHEN 1993, S. 51). Der Status (dazu gehört auch der
Peerstatus) einzelner Lernender muss von der Lehrperson aufmerksam beobach-
tet werden. Es braucht Interventionen der Lehrperson, um in der Gruppe Fähig-
keiten von Kindern mit niedrigem Status zu erkennen und für den Lernprozess
der Gruppe attraktiv zu machen. Mit diesem Vorgehen wird diesen Schülerinnen
und Schülern zu einem Expertenstatus und Ansehen in der Gruppe verholfen,
was deren Einfluss- und Interaktionsmöglichkeiten erleichtert. Die Veröffentli-
chung dieser Fähigkeiten erhöht den Status.

(2) Sichere Lernumgebung


Die Grundlage für kooperative Lernprozesse bildet eine sichere Lernumgebung.
Lernende müssen sich sicher, wertgeschätzt und respektiert fühlen, um effek-
tiv zu lernen (vgl. GIBBS 1995). „Annäherung an einen Zustand, in dem man
ohne Angst verschieden sein kann“, nennt es Annedore PRENGEL (2004, S. 44)
in Anlehnung an eine klassische Aussage der Kritischen Theorie. Für das Ler-
nen heißt dies z.B. ohne Angst seine Erstsprache in den Unterricht einbringen
und nutzen dürfen, ohne Angst Fragen stellen, Hypothesen bilden sowie Fehler
machen können.

(3) Heterogene Gruppen und Ressourcenorientierung


Heterogene Gruppen haben zum Hauptziel, der Verschiedenheit der Lernenden
gerecht zu werden und sind damit eine Voraussetzung für mehr Chancengerech-
tigkeit im Unterricht. Die Aufgabe der Gruppenarbeit muss so gestellt sein, dass
unterschiedliche Kompetenzen und Fertigkeiten für die Zielerreichung gefragt
sind. Alle stellen ihre besonderen Ressourcen und Fähigkeiten für das Grup-
penergebnis zur Verfügung nach dem Motto ,Jede bzw. jeder kann etwas gut,
niemand ist gut in allem‘. Es ist die Aufgabe der Lehrperson einerseits über
die Gruppenzusammensetzung und andererseits über die Rollenverteilung den
Zugang zu vorhandenen Ressourcen zu regeln. Je nach Fähigkeiten und Stärken
teilt die Lehrperson die einzelnen Lernenden einer Gruppe mit einem bestimm-
ten Endprodukt zu. Die eine Gruppe erstellt vielleicht ein Plakat, die nächste
hat den Auftrag, ein Rollenspiel zu erarbeiten. Ein Schüler, der erst seit ein paar
Monaten auf Deutsch lernt, hat in der Rolle des Materialmanagers bereits die
Möglichkeit Verantwortung zu übernehmen. Die Aufgabenstellung selbst muss
dafür sorgen, dass unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten für die Erar-
beitung von Lösungen gefragt sind. Zumindest ein Gruppenmitglied sollte die
Rolle der Moderation einigermaßen sicher ausfüllen können. Die Gruppe bleibt
so lange zusammen bis sie ein Erfolgserlebnis hat.

89
Petra Hild

(4) Direkte Interaktion


Das Lernen, das Aushandeln, der Austausch stehen im Zentrum, nicht das Leh-
ren. Die Lernsituation muss Möglichkeiten zu vielfältiger Interaktion bieten.
Das Ausmaß an Interaktivität ist hierbei nicht einfach an der Häufigkeit der In-
teraktionssequenzen zu messen, sondern der Beitrag der Einen sollte auch einen
Einfluss auf die folgenden Beiträge der Anderen auslösen. Das, was es zu tun
gibt, muss ein Miteinander und ein voneinander Lernen durch gegenseitiges Ver-
handeln nötig machen. Die Aushandlungsprozesse über die Art und Weise des
Miteinanders im Sinne einer bestimmten Aufgabe wie ,Wie wollen wir vorge-
hen? Lasst uns doch erst einmal unsere Fragen zum Text gegenseitig vorstellen,
und dann diskutieren wir die für uns zentralen Probleme!‘, spiegeln dieses Wir-
kungsanliegen wieder. Durch Austauschen und Aushandeln erreichen Lernende
eine höhere kognitive Ebene. Sie bewerten, analysieren oder führen zusammen.
Sie verstehen etwas und können es in neue Zusammenhänge übertragen. Ler-
nende brauchen Zeit, um ihre eigenen Ideen zu formulieren. Sie müssen ihren
selbst gefundenen Standpunkt verteidigen und sie müssen erklären können. Wie
aus der Kognitions- und Gedächtnisforschung bekannt, hat dieser Vorgang be-
sonders günstige Effekte für die Erklärenden. Mit kooperativem Lernen können
alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse gleichzeitig produktive Gedanken
haben und Gespräche führen. Folgende Maßnahmen wirken unterstützend:

• Die direkte Kommunikation und Interaktion hängt wesentlich von der Auf-
gabenstellung und deren Formulierung ab. Geeignet sind z.B. die folgenden
Aufforderungen: ,vergleicht‘ ..., ,beurteilt gemeinsam‘, ...
• Die Aktivierung des Vorwissens der Lernenden ist eine wichtige Grundlage
für das Erklären relevanter Gedanken oder Konzepte in der Interaktion.
• Das Vorentlasten (vor gelagertes Lehrgespräch, Illustrationen, o.ä.) unge-
wöhnlicher Begriffe und Gedankengänge eines neuen Konzeptes sowie das
Übertragen von Wörtern, Satzgefügen und Textstellen in eine Sprache, die
den Lernenden bekannt und vertraut ist, bieten nötige Grundlagen für nach-
folgende Erklärungs- und Aushandlungsprozesse.
• Ausschlaggebend ist auch die kommunikationsgerechte Anordnung des Mo-
biliars (z.B. Gruppentische).

(5) Gegenseitige positive Abhängigkeit


Gegenseitige positive Abhängigkeit besteht immer dann, wenn verschiedene
Personen gemeinsame Ziele verfolgen und das Ergebnis jedes Einzelnen vom
Handeln der anderen abhängt. Die Lehrperson stellt eine so spannende und
komplexe Aufgabe, dass eine positive Abhängigkeit in der Gruppe entsteht, weil
alle das Ziel erreichen wollen und dabei aufeinander angewiesen sind. Für Schü-

90
Kooperatives Lernen

lerinnen und Schüler sind in der Einführungsphase die Fußballmannschaft, das


Theaterensemble oder das Orchester sehr anschauliche Beispiele, um sich mit
Zusammenarbeit in der Gruppe mit all ihren Vorteilen und Herausforderungen
zu beschäftigen. Gegenseitige positive Abhängigkeit wird hergestellt durch:

• Zielabhängigkeit: Die Gruppe erhält eine klare und komplexe Aufgabe, die
gemeinsam zu erfüllen ist und durch die genau festgelegt ist, was von den
Einzelnen erwartet wird. Den Schülern und Schülerinnen wird klar, dass das
Ziel nur erreicht wird, wenn alle ihren Beitrag leisten können.
• Rollenabhängigkeit: Jedes Gruppenmitglied bekommt eine bestimmte Rol-
le, die es zusätzlich erfüllt (vgl. HILD/WÜLSER 2000, S.44).
• Ressourcenabhängigkeit: Jedes Gruppenmitglied bekommt nur einen Teil
des Materials oder der Information, so dass in direkter Interaktion diskutiert
und ausgehandelt werden muss, um die Aufgabe zu erfüllen.
• Wenn eine Gruppe für eine längere Lerneinheit zusammen bleibt, wie bei-
spielsweise in einer Projektwoche, kann das Zusammengehörigkeitsgefühl
auch durch Identitätssymbole (Entwerfen eines Logos, Namensgebung ...)
oder durch Rituale (Song, Slogan, ...) unterstützt werden.

(6) Verbindlichkeit
Jede oder jeder kann dran kommen, alle müssen ihren Anteil beitragen. Die
Leistungen der Mitglieder sind verschieden. Im Idealfall sind die Gruppen-
mitglieder daran interessiert, dass die Lernresultate jedes einzelnen Mitgliedes
maximiert werden, dass das erarbeitete Produkt funktioniert und gefällt. Jedes
Gruppenmitglied muss den Prozess und das Ergebnis der Gruppe verantworten.
Jedes Gruppenmitglied tut, was seinen Möglichkeiten entspricht. Wenn diese
Haltung entsteht, gibt es kein ‚Trittbrettfahren‘. Folgende Hinweise unterstützen
eine Entwicklung in diese Richtung:

• Für die Präsentation wird zufällig ein Gruppenmitglied ausgewählt. Die


sechs Mitglieder nummerieren sich von 1 bis 6. Dann entscheidet der Würfel
darüber, wer für alle stellvertretend präsentiert. Bei größeren Produkten und
Lerneinheiten gilt, dass alle Teammitglieder für die Präsentation verantwort-
lich sind.
• Das Gruppenergebnis setzt sich aus individuellen Beiträgen zusammen, die
identifizierbar sind, indem z.B. unterschiedliche Farben für die einzelnen
Mitglieder genutzt werden. Dies gilt prinzipiell im kooperativen Lernen: Ich
stehe für meinen Beitrag, meine Überlegungen namentlich ein.
• Durch eine Lernkontrolle am Ende der kooperativen Phase zeigen alle, wie
sie die geforderten Lernziele erreicht haben.

91
Petra Hild

• Aufgrund der Vergabe von Punkten nach individuellem Leistungszuwachs


können individuelle Lernfortschritte Berücksichtigung finden (so ist es z.B.
im Gruppenrallye angelegt, s.u.).

(7) Lernprozessorientierung: Soziale Kompetenz und Metakognition


Kooperationsfähigkeit, Initiative und Verantwortungsbereitschaft im Team sind
wichtige Kompetenzen, die nur in und mit Gruppen gelernt werden können. So-
ziale Fähigkeiten sind vorwiegend dann Teil der Aufgabenstellung, wenn ihnen
im Vorfeld und Rückblick besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Durch
den Lernweg rücken erstens soziale Lernziele in den Vordergrund. Neben kom-
munikativer Kompetenz und Kooperationsfähigkeit geht es zweitens auch um
metastrategisches Können und Wissen. Lehrpersonen können zum Aufbau und
zur Nutzung von metastrategischem Wissen beitragen, indem sie die Aufgaben
so stellen, dass die Anwendung bestimmter Strategien nahe gelegt wird. Me-
tawissen und -können kann sich unabhängig vom Inhaltsgebiet entwickeln. Es
kann aber nur in Kombination mit Inhaltswissen zum vollen Einsatz kommen.
Dieses metastrategische Wissen ist – so zeigt die Lehr-Lernforschung – lernbar,
aber nur in Ausnahmefällen direkt lehrbar.

(8) Die Reflexion


In Varianten und nicht unbedingt chronologisch laufen in jeder Kleingruppe die
fünf grundlegenden Prozesse der Gruppendynamik ab (vgl. STANFORD 1998, S.
14f): Orientierung; die Einführung von Normen; Umgang mit Konflikten; Pro-
duktivität; Auflösung. Die Reflexion, die möglichst nach jedem Gruppenlernen
erfolgt, ist eine zentrale Schaltstelle. Hier wird Bewusstheit für das Wie von
Lernprozessen geschaffen. Durch das Aufzeigen von Stärken und Schwächen
und das Bearbeiten von Problemen wächst die Gewissheit bei Lernenden, selbst
etwas bewirken zu können. Generell sind Lernprozesse erfolgreich, wenn sie auf
selbst erlebten Erfahrungen und deren Reflexion beruhen und nicht auf schu-
lischer Regelbelehrung.

92
Kooperatives Lernen

KASTEN 3f Schritte der Reflexion

1. Der erste Schritt ist die individuelle Reflexion der Qualität des eigenen Bei-
trags am Gruppenergebnis. Dabei kann zwischen individuellen Zielen und
Gruppenzielen unterschieden werden.
2. Jede Gruppe erhält ein Feedback zur Art und Weise ihrer Zusammenarbeit.
Die Lehrpersonen können dafür auf Beobachtungen zurückgreifen, die sie
sich während der Gruppenarbeitsphase notiert hat.
3. Die Gruppenmitglieder besprechen innerhalb der Gruppe, abhängig von der
Zielsetzung und je nach Prozessstand folgende Elemente: Art und Weise der
Zusammenarbeit; Rollenübernahme; Einhalten von Regeln; Kooperations-
und Kommunikationsverhalten; entstandene Unklarheiten oder Fragen zum
Lernstoff; Beurteilung des Endproduktes; falls die Gruppe zusammen bleibt,
erfolgt auch eine möglichst konkrete Planung der Weiterarbeit.
4. Regelmäßig aber nicht immer wird in der Großgruppe über Qualität und Vor-
gehensweise der Teamarbeit berichtet und reflektiert. Diese Reflexionen er-
gänzen das Überdenken in den Arbeitsgruppen.
5. Der letzte Schritt ist jeweils ein Höhepunkt in der Kooperativen Lerneinheit.
Lernerfolge, entstandene Produkte und Fortschritte werden präsentiert und
gewürdigt, und je nach Umfang auch gefeiert.

Lernen kann nur in dem Maße als wirksames kooperatives Lernen bezeichnet
werden, als die acht hier vorgestellten Kriterien erfüllt sind. Grundlegend für die
Qualität von Kooperativem Lernen ist das Bewusstsein vom Beziehungsgeflecht
zwischen Status und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, dem Arbeits-
auftrag, den Prozessen und der Dynamik der Lerngruppen sowie der Lehrerin-
tervention.

2 Strategien und Taktiken Kooperativen Lernens

Beim Kooperativen Lernen kommen Strategien und Methoden zum Einsatz, die
die Interaktion und die Struktur der Gruppenarbeit wesentlich unterstützen. Im
angloamerikanischen Sprachraum wird zwischen Strategien und Taktiken Ko-
operativen Lernens unterschieden. Unterrichtsstrategien können verschiedene
Taktiken umfassen. Im Folgenden werden ausgewählte Beispiele vorgestellt.

93
Petra Hild

2.1 Taktiken Kooperativen Lernens


,Platzdeckchen‘
Die Taktik ,Platzdeckchen‘ (vgl. GREEN/
GREEN 2007, S. 136) ist ein einleuchtendes
Beispiel dafür, Interaktion beim Lernen zu
unterstützen. Durch die vorgegebene Eintei-
lung eines möglichst großen Papierbogens
(Abbildung 1) und Phasen der Bearbeitung
wird die Interaktion strukturiert. Die Taktik
ist einfach und schnell einsetzbar. Das ,Platz-
deckchen‘ eignet sich besonders gut für die Abbildung 1: Platzdeckchen
Sammlung von Ideen und das Zusammen-
tragen von Vorschlägen, Leitgedanken oder Argumentationen. Ertragreich ist es
auch innerhalb des ersten Schrittes einer Lerneinheit, um Vorwissen zu einem
bestimmten Thema abzuholen.

KASTEN 4f Phasen der Taktik ‚Platzdeckchen‘

A Schreiben, Zeichnen, Sammeln


In einer vereinbarten Zeit durchdenken die Lernenden zuerst einmal die Aufga-
benstellung und schreiben ihre Ideen und Vorschläge ins dafür vorgesehene Au-
ßenfeld, ohne miteinander zu sprechen. Ein ,Platzdeckchen‘ hat so viele Außen-
felder wie Gruppenmitglieder und muss jeweils entsprechend eingeteilt werden.
„Nennt fünf gute Argumente, welche für eine Reise nach Brasilien sprechen“, so
könnte eine Aufgabenstellung lauten.
B Einzelarbeit: Lesen und Verstehen
Im nächsten Schritt wird das ,Platzdeckchen‘ gedreht, so dass alle die Vorschlä-
ge voneinander nachlesen. Klärungsfragen sind erwünscht.
C Interaktion: Diskutieren, Aushandeln, Entscheiden
Nach der Klärung von sachlichen Fragen werden die einzelnen Ergebnisse dis-
kutiert. Es wird z.B. ausgehandelt, welches die wichtigsten Argumente für eine
Brasilienreise sind. Diese werden in der gemeinsamen Mitte festgehalten. Rol-
lenerweiterung: Z.B. eine Schülerin agiert als Kundschafterin, bewegt sich un-
gehindert und lautlos durchs Zimmer und erkundet, ob eine andere Gruppe über
neue Argumente für die eigene Gruppe verfügt. Schülerinnen und Schüler, aber
auch Erwachsene lieben diese Rolle, die klar macht, dass Wissen nicht geheim
ist, sondern besser allen zur Verfügung gestellt wird.

94
Kooperatives Lernen

D Präsentation
Während der Präsentation der Ergebnisse können diese dann z.B. an der Tafel
gesammelt werden. Variante: Die einzelnen ,Platzdeckchen‘ wandern von Grup-
pe zu Gruppe und werden gegen gelesen. Mit einem Haken versehen, zeigt die
Gruppe ihr Einverständnis. Ein Minuszeichen bedeutet Ablehnung. Mit einem
Fragezeichen werden Unklarheiten gekennzeichnet.
Die Taktik ,Platzdeckchen‘ kann in verschiedenen Fächern zum Einsatz kom-
men. In der Mathematik steht z.B. in der Mitte eine 4. Die Aufgabe für die
Schülerinnen und Schüler ist es dann, so viele Rechnungen wie möglich zu
finden, die als Resultat 4 ergeben.
(vgl. GREEN/GREEN 2007)

Denken-Austauschen-Vorstellen
Eine der einfachsten Taktiken mit der Bezeichnung Denken-Austauschen-Vor-
stellen strukturiert auf simple Art und Weise die Vernetzung von Wissen und
fördert die Interaktion und Kommunikation. Wenn die Lerngruppe ihre Per-
spektiven austauscht, kann jedes Mitglied ein Problem unter mehreren Aspekten
kennen lernen. Vergleichen, Erklären und Nachfragen sind Voraussetzungen für
Verstehensprozesse, welche durch die Interaktion ermöglicht werden. Dadurch,
dass sich mehr Betrachtungsweisen und Lösungswege ergeben, kann Wissen
langfristiger erhalten bleiben. In ihrer Einfachheit kann diese Taktik als eine Art
universelles Muster für kooperative Lernprozesse gelten.

KASTEN 5f Denken-Austauschen-Vorstellen

A Denken
In einer individuellen Phase machen sich die einzelnen Lernenden allein Ge-
danken zur gestellten Lernaufgabe (z.B. ,Welche sieben Sehenswürdigkeiten
zeigt ihr in Zürich Touristen und Touristinnen?‘) und aktivieren somit ihre Vor-
erfahrungen und ihr Vorwissen. Die Lehrperson gibt dafür genügend Zeit.
B Austauschen
In einer anschließenden kooperativen Phase (zu zweit oder in Kleingruppen)
werden die Einzelbeiträge ausgetauscht. Alle kommen zu Wort. Der Vergleich
von Ergebnissen und die Diskussion abweichender Resultate fördert die Vernet-
zung von Wissen. Gleichzeitig findet in einfacher Form „Lernen durch Lehren“
statt. Die notwendige Diskussion einzelner Zwischenschritte kann zur Erfül-
lung einer komplexeren Aufgabenstellung beitragen.

95
Petra Hild

C Vorstellen
In der letzten Phase werden die Erkenntnisse und Lösungen im Plenum präsen-
tiert. Die erneute Aktivierung des Wissens festigt damit das Gelernte.
(vgl. GREEN/GREEN 2007, S. 130)

Dieses überaus einfache Prinzip ist wirksam, weil es die Lehrperson davor
schützt, diejenigen aufzurufen, die die Antwort bereits parat haben, bevor die
Lehrerfrage ausformuliert ist. So hat zum Beispiel eine Schülerin, welche die
Unterrichtssprache Deutsch noch erlernt, die Gelegenheit, Begriffe, die ihr feh-
len, in Erfahrung zu bringen und gleichzeitig in Phase C durch mehrmaliges
Hören zu festigen. Darüber hinaus werden alle Lernenden aktiviert, nicht nur
diejenigen die aufgerufen werden. Die Beteiligung aller am Unterrichtsgesche-
hen steigt.

2.2 Strategien Kooperativen Lernens


Reziprokes Lernen
Eine sehr erfolgreiche Strategie des Kooperativen Lernens ist die reziproke Leh-
re (vgl. KONRAD/TRAUB 2001, S. 129f.). Die Schülerinnen und Schüler über-
nehmen abwechselnd die Funktion der Lehrerin bzw. des Lehrers, während die
Lehrperson bei der sorgfältigen Einführung als Modell und durchgängig als Un-
terstützende fungiert – bis die Gruppen selbst verantwortet lernen können. Zur
Konkretisierung wird an dieser Stelle das Reziproke Lesen vorgestellt, das auch
von Lehrpersonen in mehrsprachigen Klassen genutzt wird.
Das Reziproke Lesen ist eine Unterrichtsstrategie zur Verbesserung des Text-
verstehens. Die Schülerinnen und Schüler übernehmen dabei abwechselnd die
Lehrerrolle, um in der Gruppe dialogartig Taktiken des Textverstehens durch-
zuspielen. Modellartig macht die Lehrperson den Lernenden vor, mit welchen
Schritten am Textverstehen gearbeitet werden kann und wie man ein Gespräch
über einen Textabschnitt führt. Sie wechselt sich dabei in der Anfangsphase je-
weils mit einem Schüler oder einer Schülerin ab. Ziel ist es, dass die Lehrperson
überflüssig wird und lediglich noch als Beobachtende fungiert. Pro Gruppe wird
eine Moderatorin bzw. ein Moderator bestimmt. Die folgende Anleitung fasst
die didaktischen Schritte zusammen und kann als Vorlage für die Schülerinnen
und Schüler hergestellt werden. Solch eine einfache Strukturierungshilfe unter-
stützt die Interaktion in den einzelnen Gruppen beim selbstständigen Tun vor
allem in der Anfangsphase.

96
Kooperatives Lernen

KASTEN 6f Reziprokes Lesen

A Ein Gruppenmitglied liest einen Abschnitt laut vor.


Das laute Vorlesen im Rahmen kleiner Gruppen fördert das Hörverstehen. Die-
ser Effekt verstärkt sich, wenn das Material nur ein Mal zur Verfügung steht.
B Der Moderator/die Moderatorin stellt Fragen zum gelesenen Text.
Diese Rolle sollte vor allem in der Einführungsphase von einem sicheren Schü-
ler oder einer sicheren Schülerin eingenommen werden.
C Eine Schülerin bzw. ein Schüler umschreibt den Inhalt des gelesenen
Textabschnittes mit eigenen Worten.
Einen Begriff oder einen Text mit eigenen Worten umschreiben zu können, ist
eine wichtige Strategie zur Förderung des Verstehens. Die Schülerinnen und
Schüler müssen sich in dieser Phase Fragen stellen und Hypothesen bilden zum
Gelesenen bzw. Gehörten.
E Unklare Textstellen werden besprochen und Begriffe erklärt.
Erst jetzt werden unklare oder unbekannte Stellen geklärt. Mit diesem Schritt
wird das detaillierte Leseverstehen unterstützt.
D Eine Schülerin bzw. ein Schüler fasst nun den Inhalt des gelesenen Text-
abschnittes zusammen.
Jetzt wird der Text mit einer Auswahl von W-Fragen (Wer, Was, Warum, Wozu,
Wie etc.) zusammengefasst. Sichere Lernende können auf eine Strukturierung
durch W-Fragen verzichten.
F Wie könnte der Text weitergehen?
Durch das Hypothesen-Bilden zum kommenden Textabschnitt wird das soeben
erarbeitete Vorverständnis genutzt. Das Kommende wird vorentlastet und die
Motivation (trifft meine Vorhersage zu?) fürs Weiterlesen gesteigert.

Das Gruppenrallye
Mit der Strategie ,Gruppenrallye‘ (vgl. SLAVIN 1993, S. 154) kann die gegensei-
tige positive Abhängigkeit in der Gruppe unterstützt werden. Die Ablaufstruktur
wird im Folgenden in einer praxisorientierten Beschreibung dargestellt, die in
Zusammenarbeit mit Gabriela Bai, einer Lehrerkollegin, entstand.

97
Petra Hild

KASTEN 7f Beispiel – Gruppenrallye zum Thema ‚Kirchliche Feiertage‘

Im Rahmen des Unterrichtsthemas ,Religionen kennen lernen‘ besprach eine


6. Klasse die vier Weltreligionen. Anhand von Texten und mittels direkter In-
struktion der Lehrperson erfolgte die Einführung ins Thema. Dann hatten die
Schülerinnen und Schüler eine Woche Zeit, um sich mit Hilfe ihres Religions-
heftes auf eine Lernkontrolle vorzubereiten. Der erste Test fand statt, die Lehre-
rin vergab Punkte für richtige Antworten. Dann erklärte sie die Vorgehensweise
des ,Gruppenrallyes‘:
„1. Es gibt nächste Woche eine zweite Lernkontrolle.
2. Ziel ist: Alle verbessern sich von Test 1 zu Test 2.
3. Das Üben und Besprechen der 2. Lernkontrolle findet allein in der Gruppe
statt.
4. Für die Bewertung beim Gruppenrallye zählt der gesamte Lernforschritt
der Gruppe, nicht die einzeln erreichte Punktzahl. X hat beim ersten Test 9
Punkte erreicht und macht in der zweiten Lernkontrolle 12 Punkte. Damit hat
er oder sie 3 Punkte für die Gruppe gewonnen. Mit diesem Vorgehen bewer-
ten wir den Lernfortschritt.
5. Es steht euch frei, wie ihr euch beim Lernen gegenseitig unterstützt, welche
Methoden ihr anwendet und wie ihr euch organisiert.“
Lern- und Memorierungstechniken müssen für den hier beschriebenen Frei-
heitsgrad bereits zur Verfügung stehen. Eine Lerngruppe, die wenig mit selbst-
gesteuertem Lernen vertraut ist, braucht für den dritten und fünften Schritt ent-
sprechend unterstützende Maßnahmen. Die folgenden protokollierten Aussagen
geben Einblicke in den beobachtbaren Teil des Lernverhaltens dieser Kinder:
y Eselsbrücke (Alliteration) entwickeln: „Denk daran, der Karfreitag beginnt
mit K, das Symbol Kreuz ebenfalls.“
y Aufmuntern und Bestärken: „Denk an Iwan, der kann das jetzt auch!“
y Einschätzen können, was verlangt wird: „Wenn dir das Wort ,orthodox‘ nicht
mehr in den Sinn kommt, schreibst du einfach die ,Religion von Mirko‘, das
akzeptiert Frau Bai sicher.“
Gabriela Bai, die Lehrerin, erzählt von ihren Beobachtungen:
„Niemand fragte nach einer Belohnung für die bessere Gruppe. Allein der Wett-
bewerbsgedanke spornte die Kinder an. Sie warfen sich mit unglaublich viel
Elan in die Arbeit, waren konzentriert, opferten teilweise ihre Pause. Alle ver-
besserten ihre Leistung enorm. Sie gingen sehr ,pädagogisch‘ miteinander um.
Sie müssen für die Gruppenleistung ja aus jedem etwas herausholen, da wäre
ein ,heruntermachen‘ oder ,ungeduldig sein‘ fehl am Platz.“

98
Kooperatives Lernen

Aussagen von Schülerinnen und Schülern aus der Reflexionsrunde:


„Es hat großen Spaß gemacht, in der Gruppe zu lernen. Das wäre nie so gut
ausgegangen, wenn wir einfach noch mal einige Tage Zeit bekommen hätten,
allein zu Hause zu lernen.“ Ein Oberschlaumeier bemerkt: „Beim nächsten
Gruppenrallye mach‘ ich beim ersten Mal ganz wenig Punkte, damit mein
Lernfortschritt beim zweiten Mal ganz groß ist.“ Worauf die anderen Kinder
folgenden Vorschlag machen: „Frau Bai darf einfach nicht im Voraus sagen,
dass es eine zweite Lernkontrolle in Gruppenrallye-Form gibt.“

3 Was tun? Wo beginnen?

Damit aus Gruppenarbeit Teamarbeit wird, müssen Lernende nachhaltig und


systematisch qualifiziert werden. Wichtig ist, dass kooperative Strategien und
Taktiken in unterschiedlichen Fächern und Situationen zur Anwendung kom-
men.

KASTEN 8f Anhaltspunkte zur Einführung von Kooperativem Lernen

1. In der Anfangsphase legt die Lehrperson mehr Aufmerksamkeit auf die Ent-
wicklung der Qualität der Zusammenarbeit als auf das Lernprodukt.
2. Funktion und Sinn von Kooperativem Lernen muss den Lernenden einsichtig
werden. Sie verstehen den Mehrwert im Vergleich zum individuellen Lernen.
Die Lehrperson beginnt z.B. damit, die Klasse erst einmal Vorteile von Teams
und erfolgreicher Kooperation durchdenken zu lassen (Orchester, Fußball-
mannschaft). Die Lernenden erfahren und reflektieren, dass eine komplexe
Aufgabe unterschiedliche Fähigkeiten erfordert und erkennen wie wertvoll
das unterschiedliche Können und Wissen jedes Gruppenmitgliedes ist. Ge-
eignete Übungen finden sich z.B. bei STANFORD (1998).
3. In einer nächsten Phase setzen sich die Lernenden mit Merkmalen, Ele-
menten, Taktiken und Strategien auseinander. Die Schülerinnen und Schüler
lernen die Basiselemente des Kooperativen Lernens und Formen der Zusam-
menarbeit kennen. Erste Regeln werden gemeinsam diskutiert, festgehalten
und reflektiert. Auf der Unterstufe beschäftigen sich Lehrpersonen sinnvoller
Weise vertiefter mit Rollen (z.B. Lernanlage ,gemeinsam kochen‘). Jede neu
eingeführte Rolle wird in ihrer Bedeutung, Dimension und Funktion bespro-
chen. Beobachtbarkeit ist für jüngere Lernende zentral.

99
Petra Hild

4. Durch zunehmend anspruchsvollere und länger dauernde kooperative Lern-


einheiten kristallisieren sich notwendige kooperative und kommunikative
Fähigkeiten heraus, die während der Gruppenarbeit fokussiert und damit im
Anschluss reflektiert werden. Nun kann auch mit CLIP gearbeitet werden
(vgl. HILD/WÜLSER 2000).
5. Die Lernenden beginnen ihr Lernergebnis immer häufiger selbst zu reflektie-
ren und die Lehrperson kann dazu übergehen, diese zu bewerten.
6. Bei jeder kooperativen Lerneinheit wird bei der Planung, Durchführung und
Reflexion auf die beschriebenen acht zentralen Elemente für effektive Koo-
peration geachtet.
7. Die Lehrperson befragt sich regelmäßig selbst: Wie gut sind meine Fragestel-
lungen? Welche Art von Rückmeldung gebe ich? Wie überprüfe ich, ob mei-
ne Arbeitsanweisungen verstanden wurden? Wie stelle ich die Lerngruppen
optimal zusammen?

4 Zusammenfassung

Zwar kann jede Lehrperson bereits morgen beginnen, Elemente des Koopera-
tiven Lernens in den eigenen Unterricht aufzunehmen, indem z.B. die Taktik
,Denken-Austauschen-Vorstellen‘ integriert wird. Unterrichtsentwicklung hat
aber vor allem dann eine Chance, wenn Schulteams sich zu diesen Fragen aus-
tauschen und gemeinsam weiterbilden. Nötig ist eine ebenso konsequente wie
systematische Entwicklungsarbeit mit vielfältigen ineinander greifenden Quali-
fizierungs- und Innovationsmaßnahmen in der Einzelschule. Hospitationen und
Feedbackkultur gehören ebenso dazu wie Teamteaching oder jahrgangsüber-
greifendes Arbeiten. Vergegenwärtigen Sie sich, dass auch die Heterogenität im
Schulteam eine Ressource und produktive Kraft ist.

Fragen und Denkanstöße


1. In diesem Beitrag konnte nicht auf die Veränderungen der Rolle als Lehrper-
son eingegangen werden. Haben Sie bereits eigene Erfahrungen und Vorstel-
lungen im Zusammenhang mit der Neugestaltung des Lehrens? Welche neu-
en Aufgaben sehen Sie auf sich zukommen? Worauf würden Sie besonders
achten?

100
Kooperatives Lernen

2. Was haben Sie in diesem Artikel über Heterogenität und Lehr-Lernprozesse


erfahren? Was ist neu für Sie? Formulieren Sie fünf Leitgedanken. Nutzen Sie
die Taktik Denken-Austauschen-Vorstellen.
3. Erarbeiten Sie in einer Gruppe mindestens fünf überzeugende Argumente
weshalb die Einführung von Kooperativem Lernen in einer Schule als Schul-
entwicklungsprojekt angelegt werden sollte. Gehen Sie dabei nach der Taktik
,Platzdeckchen‘ vor.

Literaturempfehlungen
HUBER, G.L. (Hg.) (1993): Neue Perspektiven der Kooperation. Ausgewählte
Beiträge der internationalen Konferenz 1992 über Kooperatives Lernen. Hohen-
gehren.
Diese Publikation gehört m. E. zur Grundlagenliteratur, wenn sich Pädagogen
und Pädagoginnen eingehender mit Kooperativem Lernen befassen wollen. Ne-
ben der historischen Dimension ist dabei die Verknüpfung von Interkulturel-
ler Pädagogik und Kooperativem Lernen (learning to learn, learning to life and
learning to life together) bedeutsam. Außerdem beruhen die hier vorgestellten
und beteiligten europäischen Ansätze auf den Ideen der Komplexen Instrukti-
on (basierend auf 20jähriger Forschung der Soziologin Elizabeth COHEN an der
Stanford University in Kalifornien), die im ersten Kapitel dieses Aufsatzes be-
schrieben werden. Die Publikation ist wohl die einzige im deutschsprachigen
Raum, welche diese Wurzeln berücksichtigt.

JOHNSON, D.W./JOHSON, R.T./HOLUBEC, Johnson E. (2005): Kooperatives Lernen


– Kooperative Schule. Tipps – Praxishilfen – Konzepte. Mülheim an der Ruhr.
Dieses Buch befasst sich vornehmlich mit Kooperativem Lernen unter dem As-
pekt der Effizienz- und Effektivitätssteigerung von Lernprozessen und damit
auch der Leistungssteigerung bei Lernenden. Es werden leicht umzusetzende
Methoden und Strategien vorgestellt, welche die Schüler und Schülerinnen zum
Zusammenarbeiten anleiten. Interessant ist, dass es dabei auch um längerfristige
Zusammenarbeit in sogenannten Langzeitteams geht, die über den Unterricht
hinaus zusammen arbeiten und lernen. Die vorgestellten Bewertungs- und Eva-
luationsmöglichkeiten können Lernenden dabei helfen, ihre Formen der Zusam-
menarbeit zunehmend selbstständiger zu überprüfen.

WEIDNER, M. (2003): Kooperatives Lernen im Unterricht. Das Arbeitsbuch.


Seelze-Velber.
Das Arbeitsbuch führt zunächst in die wesentlichen konzeptionellen Bestim-
mungsstücke des Kooperativen Lernens ein. Indem die Autorin aufzeigt wie so-

101
Petra Hild

ziale, kooperative Lernziele verfolgt und entsprechende Fertigkeiten und Fähig-


keiten sorgfältig und systematisch aufgebaut werden können, schließt sie eine
Lücke der meisten Veröffentlichungen zum Thema. In den nächsten Kapiteln
wird eine konkrete Handreichung zur Implementierung des Modells an der eige-
nen Schule sowie die Planung und Durchführung einer kooperativen Lerneinheit
dargelegt. Wichtige Methoden des kooperativen Lernens sind im vorletzten Ka-
pitel beschrieben, und die Stellung des kooperativen Lernens im Gesamtrahmen
der Schulentwicklung wird am Ende des Buches diskutiert.

Literaturverzeichnis

Batelaan, P. (1993): Interkulturelle Erziehung und kooperatives Lernen. In: Huber, G.L.
(Hrsg.) (1993): Neue Perspektiven der Kooperation. Bd. 6. Hohengehren, S. 29-
32.
Cohen, E. (1993). Bedingungen für produktive Kleingruppen. In: Huber, G.L. (Hrsg.)
(1993): Neue Perspektiven der Kooperation. Bd. 6. Hohengehren, S. 45-53.
Gibbs, J. (1995): Tribes – A New Way of Learning Together. Sausalito.
Green, N./Green, K. (2007). Kooperatives Lernen im Klassenraum und im Kollegium.
Das Trainingsbuch. 3. Aufl., Seelze-Velber.
Huber, G.L. (Hrsg.) (1993): Neue Perspektiven der Kooperation. Band 6. Hohengehren.
Hild, P./Wülser Schoop, G. (2000): Kooperatives Lernen in der Schule. In: Mächler S.
u.a.: Schulerfolg – kein Zufall. Ein Ideenbuch zur Schulentwicklung im multikultu-
rellen Umfeld. Zürich, S. 42-46.
Johnson, D.W./Johson, R.T./Holubec Johnson, E. (2005): Kooperatives Lernen – Koope-
rative Schule. Tipps – Praxishilfen – Konzepte. Mülheim an der Ruhr.
Konrad, K./Traub, S. (2001): Kooperatives Lernen. Theorie und Praxis in Schule, Hoch-
schule und Erwachsenenbildung. Hohengehren.
Prengel, A. (2004): Spannungsfelder, nicht Wahrheiten. Heterogenität in pädagogisch-di-
daktischer Perspektive. In: Heterogenität. Unterschiede nutzen – Gemeinsamkeiten
stärken. Friedrich Jahresheft XXII, 2004, S. 44-46.
Slavin, R.E. (1993): Kooperatives Lernen und Leistung: Eine empirisch fundierte The-
orie. In: Huber, G.L. (Hrsg.) (1993): Neue Perspektiven der Kooperation. Bd. 6.
Hohengehren, S. 151-170.
Stanford, G. (1998): Gruppenentwicklung im Klassenraum und anderswo. 5. Aufl., New
York.

102
Kapitel 5

Therese Halfhide

Teamteaching

1 Einleitung
Teamteaching ist eine Form der Zusammenarbeit von mindestens zwei koope-
rierenden Lehrpersonen, bei der die gemeinsame Verantwortung für das Un-
terrichten und die gemeinsame Unterrichtsentwicklung im Zentrum stehen.
Teamteaching gilt als besonders geeignet für einen inklusiven Unterricht (vgl.
BRÜSEMEISTER 2004; GEILING/HINZ 2005; GRAUMANN 2005; PRENGEL 1993). Dabei
geht es um sehr viel mehr als um die bloße Anwesenheit von zwei Lehrpersonen
im Klassenzimmer. Die Qualität des Unterrichts von im Teamteaching koope-
rierenden Lehrpersonen muss sich daran messen lassen, welche Konsequenzen
für die Schülerinnen und Schüler resultieren (vgl. HELMKE 2003, S. 236). Wenn
heute von Teamteaching in heterogenen Schulklassen die Rede ist, geht es primär
darum, die pädagogische Arbeit im Sinne einer optimalen Förderung eng an den
Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler auszurichten, um den Unter-
richt zugunsten gleicher Lern- und Partizipationschancen für alle Schülerinnen
und Schüler zu optimieren (vgl. BONSEN/VON DER GATHEN 2006). Teamteaching
ist im Rahmen integrativer heilpädagogischer Schulmodelle, in denen eine schu-
lische Heilpädagogin und eine Regellehrperson zusammen arbeiten, etabliert. In
jüngster Zeit steht auch die migrationsbedingte sprachliche und sozio-kulturelle
Heterogenität im Zentrum von Schul- und Unterrichtsinnovationen. Im Zusam-
menhang mit dem Zürcher Schulentwicklungsprojekt „Qualität in multikultu-
rellen Schulen“ (QUIMS) sind seit Mitte der 1990er Jahre etliche Projekte ent-
standen, in denen Teamteaching integraler Bestandteil ist (vgl. www.quims.ch;
TRUNIGER 2005; BILDUNGSDIREKTION ZÜRICH 2006). Teamteaching wird als eine
der Maßnahmen angesehen, um den in der Bildungsforschung nachgewiesenen
ungleichen Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen aus Einwanderer-
familien tieferer sozialer Schichten entgegen zu wirken.

103
Therese Halfhilde

In den folgenden Abschnitten wird aufgezeigt, was mit Teamteaching ge-


meint ist, von welchen Bedingungen der Erfolg dieser Unterrichtsform abhängt
und welche Wirkungen auf Schülerinnen und Schüler, Lehrpersonen und Unter-
richt bekannt sind. Zum Schluss werden im Rückgriff auf Erfahrungen aus dem
Zürcher QUIMS-Projekt in knapper Form Möglichkeiten aufgezeigt, wann und
wie Teamteaching sinnvoll eingesetzt werden kann.

2 Was ist Teamteaching?

Teamteaching ist keineswegs neu. Nach dem Vorbild der Teamarbeit in Wirt-
schaftsbetrieben entstand bereits Mitte der 1950er Jahre in den USA eine Team-
teaching-Bewegung, um Missstände im Schulwesen zu beheben. Dabei ging es
nicht um eine pädagogische Begründung dieser neuen Form, sondern lediglich um
das Festlegen der Aufgabenteilung unterschiedlich ausgebildeter Lehrpersonen.
Kennzeichen des frühen Teamteaching in den USA war eine strenge Hierarchie
unter den beteiligten Lehrpersonen (vgl. HOFFELNER 1995). In den 1960er Jah-
ren wurde Teamarbeit und Teamteaching in Großbritannien zu einem wichtigen
pädagogischen Ansatz erklärt. Im Zentrum standen eine flexible Kommunikati-
on und die Kooperation zwischen Lehrpersonen und Lernenden sowie Evalua-
tionen dieser Maßnahmen. Als man sich während der späten 1960er und 1970er
Jahre auch in Deutschland mit dem Thema befasste, lag der Schwerpunkt v.a.
bei der inneren Differenzierung in einer Klasse, die durch zusammenarbeitende
Lehrerteams gewährleistet werden sollte. In jüngster Zeit gewinnt Teamteaching
in der Diskussion um integrative Schulmodelle zunehmend an Bedeutung, um
zu gewährleisten, dass alle Schülerinnen und Schüler eines Lernverbandes mög-
lichst optimale Lernchancen erhalten. Dabei rücken die Zusammensetzung der
im Team arbeitenden Lehrpersonen und die Formen ihrer Zusammenarbeit ins
Zentrum sowie die Anforderung, einer heterogenen Schülerschaft in einem qua-
litativ guten Unterricht gerecht zu werden.

2.1 Definitionen des Begriffs


Teamteaching wird unterschiedlich definiert und je nach Definition stehen – ne-
ben den gemeinsamen – unterschiedliche Aspekte im Zentrum. So fokussieren
die einen v.a. auf Aspekte der Teamarbeit und andere betonen den Zusammen-
hang von Teamteaching und Unterricht. In der älteren Literatur werden die Be-
griffe Teamteaching, Teamarbeit oder Kooperation oft synonym verwendet. Ge-
meint ist damit im Wesentlichen die Zusammenarbeit von Lehrpersonen.

104
Teamteaching

In den folgenden Definitionen stimmen die Autoren trotz der unterschied-


lichen Akzente darin überein, dass beim Teamteaching die Bereitschaft zur
Kooperation, die Verbindung zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und
Schülern, die Flexibilität der Gruppenbildungen, die gemeinsame Planung, die
Durchführung und Evaluation sowie die gemeinsam getragene Verantwortung
zentral sind.

KASTEN 1f Definitionen von Teamteaching

DECHERT (1972) schlägt folgende Definition des Begriffs von DEAN/WITHER-


SPOON (1962) vor, in der vor allem die Haltung der Lehrpersonen gegenüber ih-
rer Aufgabe hervorgehoben wird: «Der wahre Kern des Teamteaching-Konzepts
liegt nicht im strukturellen und organisatorischen Detail, sondern vielmehr in
der grundsätzlichen Bereitschaft zu kooperativem Planen, konstanter Zusam-
menarbeit, fortwährender Gemeinsamkeit, uneingeschränkter Kommunikation
und ernsthafter Bereitschaft zur Übernahme und Teilhabe an der gemeinsamen
Aufgabe“ (DECHERT 1972, S. 294).
MAYER (1994) stellt die Lehr- und Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler,
die durch kooperierende Lehrpersonen unterrichtet werden, in den Vordergrund:
„Teamteaching meint die Planung, Durchführung und Auswertung kommunika-
tiver Lehr- und Lernprozesse durch kooperative Lehrer in Zusammenarbeit mit
flexiblen Schülergruppen“ (MAYER 1994, S. 24).
WINKEL (1982) fasst das Teamteaching als Methode eines Unterrichts, an dem
Lehrpersonen und flexible Schülergruppierungen gleichermaßen beteiligt sind:
„Teamteaching ist also eine Unterrichtsmethode, bei der mehrere Lehrer in fle-
xiblen Schülergruppierungen zusammenarbeiten, das heisst – im Idealfall – Un-
terricht gemeinsam vorbereiten, durchführen und auswerten“ (WINKEL 1982,
S. 12).

2.2 Teamteaching im heutigen Verständnis


Eine Erweiterung und gleichzeitig eine Differenzierung im Verständnis von
Teamteaching führen DAXBACHER und BERGER (1993) herbei, indem sie Teamte-
aching mit dem ,Integrationsmodell‘ verbinden. Mit Integrationsmodell meinen
sie das gemeinsame Unterrichten von behinderten und nicht behinderten Kin-
dern, wobei der integrative, differenzierende und individualisierende Unterricht
im Mittelpunkt steht. Nach ihrer Definition unterrichten mindestens zwei Lehr-
personen in derselben Klasse. Die Unterrichtsplanung, die -durchführung und

105
Therese Halfhilde

die Auswahl der Unterrichtsinhalte und -methoden erfolgen gemeinsam. Mit der
gemeinsamen Verantwortung ist eine flexible Aufteilung der Aufgaben bzw. der
Zuständigkeiten für einzelne Schülerinnen und Schüler verbunden. Die Lehr-
personen wechseln dabei zwischen initiierenden und unterstützenden Aufgaben
im Unterricht ab. Es gibt ein breit gefächertes Angebot von Lernanlässen, das
eine flexible Differenzierung und Individualisierung ermöglicht (vgl. DAXBA-
CHER/BERGER 1993, S. 243). Dieses Teamteaching-Verständnis kommt demjeni-
gen von heute am nächsten, weil die Aspekte Integration, Differenzierung und
Individualisierung mit einbezogen werden (vgl. FROMMHERZ/HALFHIDE 2003).

KASTEN 2 f Definition von Teamteaching von HALFHIDE u.a. (2001)

HALFHIDE u.a. (2001, S. 7) verstehen Teamteaching als eine Unterrichtsform, bei


der zwei oder mehr Lehrpersonen
y zur gleichen Zeit an derselben Klasse unterrichten;
y g
emeinsam den Unterricht inhaltlich und methodisch planen und ihn zu-
sammen durchführen;
y d
ie Verantwortung gemeinsam tragen, aber flexibel aufteilen, wer für wel-
che Aufgaben oder welche Schülerinnen und Schüler zuständig ist;
y d
en Unterricht in wechselnden Rollen leiten oder unterstützen;
y d
as Lernen der Schülerinnen und Schüler mit einem breit gefächerten Ange-
bot differenzieren und individualisieren;
y d
ie Schülerinnen und Schüler flexibel und den Lernanlässen oder dem Lern-
niveau angepasst in Gruppen einteilen.

Dieses Verständnis von Teamteaching lässt sich ohne weiteres loslösen von der
Kategorisierung der Kinder z.B. in ‚behinderte‘ und ‚nicht behinderte‘ und dem
Gedanken, die eine Gruppe müsse in die andere integriert werden. Es entspricht
der internationalen Ablösung des Begriffs ,Integration‘ durch ,Inklusion‘. Nach
dem Inklusions-Konzept werden alle Aspekte, die im Zusammenhang mit Hete-
rogenität in den Blick genommen werden können, als ,normal‘ angesehen.

2.3 Vom integrativen zum inklusiven Unterricht


Im Umgang mit sprachlich und sozio-kulturell heterogenen Klassen wird unter
dem Leitbegriff ,Integration‘ schwerpunktmäßig der Zugang von vorher teil-
weise separiert unterrichteten Schülergruppen zum allgemeinen Schulunterricht
diskutiert. Beispielsweise soll eine spezifisch definierte Gruppe mit ,sprach-
lichen Defiziten‘ mittels ‚Integration‘ in den Regelklassenunterricht eingebun-

106
Teamteaching

den werden. Durch Teamteaching soll gewährleistet werden, dass die sprach-
liche Förderung trotz unterschiedlichstem Sprachstand der Schülerinnen und
Schüler für alle gewährleistet werden kann. Unter dem Leitbegriff ,Inklusion‘
„weitet sich dieses Verständnis zur positiven Wahrnehmung und Nutzung von
Heterogenität mit all ihren unterschiedlichen Dimensionen in einer Schule für
alle“ (BOBAN/HINZ 2004, S. 39). Inklusion bedeutet, dass eine – als unteilbar ver-
standene – heterogene Lerngruppe unter pädagogischen Gesichtspunkten nicht
mehr trennscharf in zwei oder mehr Teilgruppen unterschieden werden kann.
Alle haben teil an der Gemeinschaft ihrer Schule.
Annedore PRENGEL legte bereits 1995 in ihrem Buch „Pädagogik der Vielfalt“
die Elemente und Merkmale dar, die heute unter dem Begriff ,Inklusion‘ disku-
tiert werden. Sie stellte die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler explizit
in den Mittelpunkt ihrer theoretischen und praktischen Überlegungen. Sie geht
soweit, dass sie eine Aufhebung der homogenen Jahrgangsklasse in der Regel-
schule fordert, da die heterogene Zusammensetzung ohnehin kein gleichschrit-
tiges Lernen zulasse. Auszugehen sei von der Unterschiedlichkeit der Lernziele
in einer Klasse. Dieses Prinzip nennt sie ,zieldifferentes Lernen‘. Sie spricht von
Vielfalt im Sinne einer ,egalitären Differenz‘ (vgl. PRENGEL 2001) und geht von
einem demokratischen Differenzbegriff aus. In diesem Denkzusammenhang ist
Teamteaching als eine Form von kooperierenden Lehrpersonen in einem inklu-
siven Unterricht zu verstehen.

KASTEN 3 f Hauptaspekte einer inklusiven Pädagogik

Vielfalt: Alle Lernenden in der Schule werden in den Blick genommen und in
ihrer Vielfalt wertgeschätzt. Kategorisierungen werden vermieden.
Lernen und Teilhabe: Barrieren für das Lernen und die Teilhabe werden besei-
tigt, denn alle sind in das Recht auf Lernen einbezogen. Dies gilt für Schüle-
rinnen und Schüler wie für Lehrpersonen.
Demokratie: Alle Stimmen kommen zur Geltung und Zusammenarbeit auf al-
len Ebenen ist unentbehrlich.
Die Schule als Ganzes: Die Schule als Ganzes muss sich verändern und Barrie-
ren für das Lernen und die Teilhabe sind nicht primär in einzelnen Lernenden zu
suchen, sondern bei allen Aspekten einer Schule (alle Ebenen des Systems).
Die Gesellschaft als Gesamtes: Inklusion ist kein Status, der erreicht werden
kann, sondern ein kontinuierlicher Prozess, ist politisch und konflikthaft und
bezieht sich auf den Anspruch auf Chancengerechtigkeit in der Gesellschaft.
(vgl. BOBAN/HINZ 2004, S. 40f.)

107
Therese Halfhilde

3 Teamteaching als eine kooperative Form der


Zusammenarbeit

Wie zu Beginn erwähnt, ist Teamteaching weit mehr, als die Anwesenheit von
zwei Lehrpersonen in einem Klassenzimmer. GRÄSEL u.a. (2006, S. 206) halten
fest, dass Schulen Organisationen sind, in denen Lehrpersonen i.d.R. alleine für
eine Klasse verantwortlich sind. Obwohl Zusammenarbeit heute meist vorgese-
hen ist, bedeutet dies nicht, dass automatisch von kooperierenden Teams gespro-
chen werden kann. Die Autorinnen und Autoren werfen die Frage auf, inwieweit
strukturelle Bedingungen der Schule die Kooperation erschweren.
Kooperation ist nach SPIESS (2004, S. 199) gekennzeichnet “durch den Bezug
auf andere, auf gemeinsam zu erreichende Ziele bzw. Aufgaben, sie ist intentio-
nal, kommunikativ und bedarf des Vertrauens. Sie setzt eine gewisse Autonomie
voraus und ist der Norm von Reziprozität verpflichtet“. ROLFF (1980, S. 113)
definiert Lehrerkooperation als Problemlösekompetenz, die sich prozesshaft
entwickelt und im Idealfall zum teamartigen kooperativen Handeln führt. Leh-
rerinnen und Lehrer, die eine solche Handlungskompetenz entwickeln, erfüllen
die Voraussetzungen von ,Professionellen Lerngemeinschaften‘ (PLG), die ge-
kennzeichnet sind durch einen reflektierenden Dialog, eine Bereitschaft, ihre
Unterrichtspraxis schulintern öffentlich zu machen, eine kontinuierliche Zusam-
menarbeit und Kooperation sowie gemeinsamen handlungsleitenden Zielen. Als
Schlüsselwerte in PLGs gelten vor allem eine ,Hilfe-Kultur‘ und ,Fehlertole-
ranz‘ (vgl. ROLFF 2006, S. 238). Die professionelle Praxis in Schulen – insbe-
sondere in sozio-kulturell und sprachlich heterogenen – ist „komplex, ungewiss,
mehrdeutig, einzigartig und von Wert- und Interessekonflikten geprägt“ (ebd. S.
235) und ist längst nicht mehr von einzeln agierenden Lehrpersonen zu bewäl-
tigen. PLGs an Schulen, welche die Qualität des Unterrichts, bezogen auf die
komplexen Anforderungen einer heterogenen Schülerschaft, entwickeln, benöti-
gen eine institutionelle Basis, wenn sie dauerhaft und nachhaltig wirken sollen.
An Schulen sind unterschiedliche PLGs von Lehrpersonen möglich: z.B. Fach-
gruppen unterschiedlicher Lehrpersonen, Jahrgangs- oder Klassenteams sowie
Teamteaching-Tandems.
Teamteaching ist also nur als eine Form von kooperativ handelnden Lehrper-
sonen im Sinne einer PLG an einer Schule zu verstehen. Wie eine Erhebung in
sechs Primarschulklassen in der Stadt Zürich (vgl. FROMMHERZ/HALFHIDE 2003)
gezeigt hat, werden die Chancen des Teamteaching in höherem Maße genutzt,
wenn alle Lehrpersonen einer Schule in die Unterrichtsentwicklung unter dem
Gesichtspunkt der Heterogenität verbindlich einbezogen sind. Dieses Ergebnis
deckt sich mit den Aussagen von HORSTER/ROLFF (2001, S. 58), in denen sie die

108
Teamteaching

Wichtigkeit betonen, dass Lehrpersonen einer Schule sich über ihre Vorstellun-
gen von Unterricht verständigen müssen und die dafür notwendigen Schritte
vereinbaren sowie die Kriterien definieren, anhand derer der Erfolg der gemein-
samen Anstrengungen gemessen werden kann.
Das gemeinsame Unterrichten im Teamteaching verlangt eine anspruchs-
volle Form der Kooperation, die über den Austausch und die Arbeitsteilung hin-
aus geht. GRÄSEL u.a. (2006, S. 211) nennen die am höchsten entwickelte Form
von Kooperation ,Kokonstruktion‘. Kokonstruktion zeichnet sich durch einen
intensiven Austausch zwischen den Partnerinnen und Partnern hinsichtlich ih-
rer Aufgabe aus. Indem die Lehrpersonen ihr individuelles Wissen aufeinander
beziehen, kokonstruieren sie Bedeutungen. Im Unterschied zur arbeitsteiligen
Kooperation wird kontinuierlich an der gemeinsamen Aufgabe gearbeitet. Im
Zentrum stehen sowohl ein gemeinsames Ziel als auch der Arbeitsprozess. Für
eine produktive Kokonstruktion ist Vertrauen besonders wichtig. “Jeder Einzel-
ne muss das Risiko eingehen, Fehler anzusprechen, zu kritisieren und zu hinter-
fragen bzw. selbst unsichere Vorschläge zu machen, die auf Ablehnung stoßen
können. (...) Der Aufwand für gemeinsame Abstimmungen ist relativ hoch und
die Gefahr für sachliche und soziale Konflikte größer als bei anderen Koope-
rationsformen“ (ebd. S. 211). Teamteaching sehen GRÄSEL u.a. als die eindeu-
tigste Form von Kokonstruktion, weil Lehrpersonen gemeinsam unterrichten.
Gemeinsam zu unterrichten bedingt eine gemeinsame Planung, das gemeinsame
Erstellen von Unterrichtsmaterialien und die Reflexion über Unterrichtsepiso-
den.

KASTEN 4 f Voraussetzung für die Kooperation zwischen Lehrkräften

Um gute Kooperationsbedingungen zu schaffen, braucht es


• ein klares Ziel
• verbindliche Abmachungen
• Rollenklarheit
• die Übernahme von Verantwortung durch alle
• Gleichberechtigung
• soziale und fachliche Kompetenz
• die Fähigkeit zur Reflexion
• genügend Zeitressourcen
• geeignete Räumlichkeiten

109
Therese Halfhilde

4 Erfolgsbedingungen von Teamteaching

Die enge Zusammenarbeit von Lehrpersonen im Teamteaching muss erlernt


werden. Damit dieser Lernprozess erfolgreich verläuft, nennt HUBER (2000) ei-
nige Voraussetzungen. Sie betreffen die Persönlichkeit und die Zusammenar-
beit der Lehrpersonen, die Organisation sowie den Unterricht. Kooperierende
Lehrpersonen im Teamteaching fokussieren demnach immer gleichzeitig auf die
Zusammenarbeit und den Unterricht.

4.1 Anforderungen an die Persönlichkeit und Bedingungen der


Zusammenarbeit
Ausgangsbedingung ist eine Grundhaltung der beteiligten Lehrpersonen, dass
Teamteaching grundsätzlich eine Bereicherung für Schülerinnen und Schüler,
Lehrpersonen und Unterricht darstellt. Die Lehrpersonen müssen ihre pädago-
gischen Einstellungen und Haltungen kommunizieren können und sich ihrer
fachlich spezifischen Kompetenzen bewusst sein. Die Bereitschaft zur gleich-
wertigen Zusammenarbeit auf das gemeinsame Ziel hin und eine grundsätzliche
Offenheit und Flexibilität für situativ sinnvolle Anpassungen und Änderungen
des Unterrichtsplans erleichtern die Arbeit. Außerdem benötigen die Lehrper-
sonen die Bereitschaft, ihre Zusammenarbeit und das Unterrichten gemeinsam
zu reflektieren und Rückmeldungen entgegenzunehmen. Übergeordnete Ziele
und der Aufbau einer sozialen Beziehung sind Voraussetzung dafür, dass sich
eine gute Arbeitsbeziehung entwickeln kann.

4.2 Organisatorische Bedingungen


Auch wenn dies nicht immer möglich ist, sind die Chancen für eine positive Ent-
wicklung der Zusammenarbeit besser, wenn die Lehrpersonen ihre jeweiligen
Partnerinnen und Partner selber wählen können. Der Einstieg ins Teamteaching
fällt leichter, wenn sich die Lehrpersonen darauf vorbereiten können. Dies kann
sowohl durch Hospitieren bei erfahrenen Tandems als auch in einer Weiterbil-
dung geschehen. Auf der strukturellen Ebene der Schule müssen die Vorausset-
zungen geschaffen werden. Dazu gehören u.a. geeignete Räumlichkeiten sowie
ein genügend hohes Stundenkontingent für das gemeinsame Unterrichten. In
der Praxis fällt auf, dass die normativ formulierten, durch Teamteaching zu er-
reichenden Unterrichtsziele, die zu einem verbesserten Schulerfolg und somit
zu größerer Chancengerechtigkeit führen sollen, durch zu kleine Stundenkontin-
gente häufig kaum zu erreichen sind.

110
Teamteaching

4.3 Unterrichtsbezogene Bedingungen


Die Lehrpersonen verfügen über das Wissen, was guten Unterricht in – v.a.
sprachlich und sozio-kulturell – heterogenen Klassen ausmacht. Gemeinsam
sind sie aufgrund ihrer spezifischen Fachexpertisen in der Lage, ihren Unterricht
zu planen, gemeinsam durchzuführen und ihn auszuwerten. Die Verantwortlich-
keiten und die sich daraus ergebenden Rollen im Unterricht sind geklärt. Eine
Einigung über pädagogische Vorstellungen und Unterrichtsstile hat stattgefun-
den. Da Teamteaching letztlich immer auf einen wirksamen Unterricht abzielt,
muss überprüft werden, ob die gesteckten Ziele erreicht werden. Die vielfältigen
Möglichkeiten, Unterricht und die Teamarbeit zu evaluieren, können an dieser
Stelle nicht vorgestellt werden (vgl. dazu STERN/DÖBRICH 1999; BILDUNGSDIREK-
TION DES KANTONS ZÜRICH 1999; ALTRICHTER/POSCH 1998).

KASTEN 5 f Weitere Voraussetzungen von Teamteaching

Teamteaching ist eine komplexe Unterrichtsform, die viele Absprachen erfor-


dert:
Wie organisieren wir unsere Zusammenarbeit?
u.a. eingesetzte Zeit für die Planung, Vorbereitung und Reflexion; kollegiale
Unterstützung und Weiterbildung; Vorgehen bei Konflikten; Feiern von Erfol-
gen
Wie gestalten wir den gemeinsamen Unterricht?
u.a. Unterrichtsformen; Unterrichtsstile; Unterrichtsbereiche; situativ sinnvolle
Lerngruppeneinteilungen; Partizipationsformen der Schülerinnen und Schüler;
Formen des Teamteaching und Rollen der Lehrpersonen
Wie kommunizieren wir (Lehrpersonen untereinander und Lehrpersonen
mit Schülerinnen und Schülern)?
u.a. Gesprächsinhalte, Gesprächsstil, Art des Feedbacks

111
Therese Halfhilde

5 Wirkungen von Teamteaching

Bis heute existieren kaum empirische Forschungsresultate bezüglich der Wir-


kung von Teamteaching. Viele Praxiserfahrungen zeigen aber, dass sich diese
Unterrichtsform bei gekonnter Anwendung positiv auf die Schülerinnen und
Schüler und das Lernen, aber auch auf die Lehrpersonen auswirkt (vgl. HUBER
2000; HALFHIDE/FREI/ZINGG 2001; FROMMHERZ/HALFHIDE 2003).

KASTEN 6 Wirkungen von Teamteaching

Wirkungen auf Schülerinnen und Schüler und das Lernen:


Durch Teamteaching
• lässt sich die Konzentration der Schülerinnen und Schüler eher aufrecht er-
halten, was sich auf deren Lernmotivation positiv auswirkt;
• erwerben die Schülerinnen und Schüler kooperative Verhaltensweisen un-
tereinander und mit den Lehrpersonen, da sie am Rollenvorbild der Lehrper-
sonen lernen;
• können die Schülerinnen und Schüler leichter in gewissen Lernformen (z.B.
in Gruppen) und auch an anderen Lernorten (z.B. Bibliothek, Sprachate-
liers) arbeiten;
• erhalten die Schülerinnen und Schüler schneller ein Feedback, was ihre
Lernprozesse fördert und ihre aktive Lernzeit erhöht;
• steht den Schülerinnen und Schülern mehr Zeit zur Verfügung, in der sie
sich beraten lassen oder beim Üben unterstützt werden können;
• können sie zwischen mindestens zwei Bezugspersonen wählen.
Wirkungen auf die Lehrpersonen und das Unterrichten:
Teamteaching
• fördert Innovationen im pädagogischen Alltag, da sich die kooperierenden
Lehrpersonen gegenseitig anregen und ihren Unterricht systematischer re-
flektieren;
• entlastet die Lehrpersonen in ihren Aufgaben und ihrer Verantwortung, so-
bald die Zusammenarbeit einmal eingespielt ist (zu Beginn ist mit einem
zeitlichen Mehraufwand zu rechnen);
• erleichtert den Umgang mit unvorhergesehenen oder belastenden Gescheh-
nissen, da man sich gegenseitig beraten und austauschen kann;
• verhilft zum Bewusstsein persönlicher und fachlicher Stärken und Schwä-
chen und als Folge davon zu einer intensiveren Nutzung gemeinsamer Res-
sourcen;
• durchbricht die Isolation der Lehrpersonen;

112
Teamteaching

• verbessert die Qualität des Unterrichts, da sich die Lehrpersonen häufig er-
gänzen;
• erhöht die Objektivität der Leistungsbeurteilung;
• schafft überhaupt erst die Möglichkeit, in sehr heterogenen Klassen den Un-
terricht genügend zu differenzieren und zu individualisieren;
• ermöglicht eine permanente Unterrichtsentwicklung durch den Aufbau ei-
ner Feedbackkultur.

Die Arbeit im Teamteaching stellt eine Chance dar, die Arbeitsqualität und die
Berufszufriedenheit der Lehrpersonen zu verbessern. Die oben aufgeführten
Wirkungen bleiben jedoch teilweise oder ganz aus, wenn die Lehrpersonen nur
nebeneinander arbeiten und kein Interesse an Unterrichtsentwicklung haben.
Die Chance, dass sich die positiven Wirkungen tatsächlich ergeben, erhöht sich,
wenn Teamteaching im Kontext einer umfassenden Schul- und Unterrichtsent-
wicklung umgesetzt wird.

6 Teamteaching als Ansatz inklusiver Unterrichts- und


Schulentwicklung

Es sind unterschiedliche Schulmodelle denkbar, die versuchen, mit Teamtea-


ching das Lernen aller Schülerinnen und Schüler in einem inklusiven Unterricht
zu unterstützen. Im Folgenden liegt das Hauptgewicht auf Modellen, die mit-
tels Teamteaching explizit den Aspekt der sprachlichen und sozio-kulturellen
Heterogenität ins Zentrum stellen. Wenn wir von sprachlicher Heterogenität
ausgehen, ist jeglicher Unterricht neben dem inhaltlichen Aspekt immer auch
Sprachunterricht. Dies bedeutet, dass mindestens eine der im Teamteaching ar-
beitenden Lehrperson spezialisiert ist auf Deutsch als Zweitsprache-Didaktik
oder einen Erstsprachenbezug einbringen kann. Solche Fachexpertisen sind bei
der Zusammensetzung der Teamteaching-Tandems oder Teams zu berücksich-
tigen.

6.1 Tandem und Teammodell


Schulen in Regionen oder Stadtteilen, in denen der Anteil von Menschen mit
Migrationshintergrund hoch ist, werden in ihrer Arbeit durch sprachlich-kul-
turelle Vielfalt und häufig auch durch instabile Lebenslagen der Familien, z.B.

113
Therese Halfhilde

durch Arbeitslosigkeit, herausgefordert. Dieser Situation begegnet das Schul-


entwicklungsprojekt QUIMS mit speziellen Maßnahmen zur Unterrichts- und
Schulentwicklung. Zwei Modelle sind in diesem Zusammenhang besonders
interessant: das Tandemmodell und das Teammodell (vgl. HALFHIDE u.a. 2001;
WÜLSER SCHOOP 2000).

Modelle von Teamteaching im Rahmen


KASTEN 7 f
des Zürcher Projekts QUIMS

Tandemmodell in mehrsprachigen Klassen:


In sprachlich heterogenen Schulklassen oder Kindergärten unterrichtet eine
zweite Lehrperson mit einer Zusatzqualifikation in Deutsch als Zweitsprache-
Didaktik für mindestens drei bis vier Stunden pro Woche im Teamteaching mit
der Klassenlehrperson zusammen.
Teammodell für Klassen mit direkter Einschulung von Neuimmigrierten:
Damit in solchen Klassen alle Schülerinnen und Schüler die gleichen Lernchan-
cen haben, unterrichten während der Hälfte der Wochenstunden zwei Lehrper-
sonen die Klasse gemeinsam. Auch in diesem Modell bringt mindestens eine
Lehrperson eine Zusatzqualifikation in Deutsch als Zweitsprache-Didaktik mit.
Das Modell wurde von 1995 bis 1998 auf der Unterstufe (1. bis 3. Klasse) ent-
wickelt und erprobt und wurde nach positiven Evaluationsergebnissen auf die
Mittelstufe (4. Bis 6. Klasse) ausgedehnt.

Beiden Modellen gemeinsam ist die Vernetzung über die Einzelschule hinaus
und eine kontinuierliche Unterrichtsentwicklung über mehrere Jahre, wobei
Teamteaching ein integratives Element darstellt. Mindestens eine der beteiligen
Lehrpersonen eines Tandems, das im Teamteaching unterrichtet, verfügt über
spezifische Fachkenntnisse in Deutsch als Zweitsprache-Didaktik. Die einzel-
nen Tandems entwickelten innerhalb der vorgegebenen Rahmenbedingungen
geeignete Teamteachingformen, um die sprachliche Bildung im Unterricht zu
optimieren. An den regelmäßigen Treffen der Tandems reflektierten alle ihre
Erfahrungen und planten nach Bedarf Begleit- oder Weiterbildungsmaßnahmen.
Gegenseitige Hospitationen bilden dabei ein wesentliches Element, um den
Teamteachingunterricht zu optimieren. Beide Projekte wurden nach einer Er-
probungsphase evaluiert (vgl. HALFHIDE u.a. 2001, S. 14ff.).

114
Teamteaching

6.2 Zweisprachiges Teamteachingmodell


Ein Schulmodell mit Pioniercharakter ist der integrierte Unterricht in ,Heimat-
licher Sprache und Kultur‘ (HSK) (vgl. HALFHIDE u.a. 2001, S. 20f.). In die-
sem Modell ,Integrierter HSK plus‘ unterrichten in Schulen des Schulkreises
Limmattal in der Stadt Zürich Lehrpersonen der Regelklassen oder des Kin-
dergartens gemeinsam mit Lehrpersonen für HSK zusammen. Die HSK-Lehr-
personen unterrichten während einzelner Wochenstunden im Teamteaching in
verschiedenen Schulklassen und Kindergärten. Außerdem beteiligen sie sich an
Schulhausaktivitäten wie z.B. in der Zusammenarbeit mit Eltern, bei der sie als
,Kulturvermittlerinnen‘ und ,Kulturvermittler‘ agieren sowie in Projektwochen.
Die Erfahrungen aus diesem Modell bildet eine wertvolle Grundlage für die
Entwicklung von sprachlich gemischten Teamteachingformen an QUIMS-Schu-
len.

6.3 Unterrichtsorganisation
Ein wichtiges Merkmal von inklusivem Unterricht ist die Überwindung der Vor-
stellung von immer gleichen Lerngruppen nach dem Muster ,mit/ohne‘ Förder-
bedarf. Die Lerngruppen werden je nach Unterrichtsgegenstand oder gewählter
Lernform immer wieder neu zusammengesetzt. Teamteaching ermöglicht eine
Vielfalt an Unterrichtsformen und Methoden. Je nachdem variieren die Rol-
len der Lehrpersonen. Die im Folgenden aufgeführten Beispiele stammen aus
der Praxis von Lehrpersonen, die im Teamteaching unterrichten. Sie wurden
an Weiterbildungsveranstaltungen der Autorin zusammen getragen. Wichtig ist,
dass die aktive Lernzeit der Schülerinnen und Schüler möglichst hoch sein soll.
Zudem achten die Lehrpersonen darauf, dass sie während des Teamteaching-Un-
terrichts immer eine klar definierte Aufgabe wahrnehmen. Eine solche Aufgabe
kann auch die gegenseitige Hospitation sein sowie gezieltes Beobachten einzel-
ner Schülerinnen und Schüler im Zusammenhang mit der Förderdiagnostik.

115
Therese Halfhilde

Form Rollen der Lehrpersonen


Niveau-/Interessengruppen oder Jede Lehrperson betreut je eine bis zwei
Halbklassen Niveau- oder Interessengruppen oder ist
zuständig für je eine Halbklasse (z.B. jede
Lehrperson arbeitet nach ihrem eigenen
Programm, anschließend wechseln sie die
Halbklasse).
Klassenunterricht und wechselnde Eine Lehrperson leitet und betreut die
kleine Fördergruppen Klassenaktivitäten, die andere Lehrperson
holt abwechselnd kleine Gruppen zu sich
(z.B. für intensives Üben, Deutsch als Zweit-
sprache innerhalb des Unterrichtsthemas,
Nachhilfe).
Selbständiges Arbeiten in offenen Die Schüler/innen arbeiten z.B. in einer
Lernformen und Förderdiagnostik/ Werkstatt oder am Wochenplan. Eine
Einzelförderung Lehrperson ist Ansprechperson bei Fragen,
die andere arbeitet gezielt mit einzelnen
Kindern nach deren Förderplan.
Lernstationen oder Werkstattunter- Die Lehrpersonen sind Ansprechpersonen
richt für bestimmte Lernstationen.
Klassenunterricht gemeinsam Beide Lehrpersonen sind gegenseitig und
mit der Klasse im Dialog (z.B. Klassenrat,
Einführen in ein neues Thema).
Klassenunterricht und Lernen am Eine Lehrperson leitet den Klassenunter-
Modell richt, die andere sitzt in der Klasse und
beteiligt sich wie ein/e Schüler/in am
Unterricht.
Themenbezogenes Klassen- Die Schüler/innen arbeiten mit der einen
gespräch/Protokoll führen Lehrperson mündlich zu einem Thema und
die zweite Lehrperson hält die Ergebnisse in
einem Protokoll am Computer für die ganze
Klasse fest.

116
Teamteaching

7 Zusammenfassung

Teamteaching bietet im Zusammenhang von Schul- und Unterrichtsentwick-


lung viele Vorteile. In Schulen, die sich durch sprachliche und sozio-kulturelle
Heterogenität der Schülerinnen und Schüler auszeichnen, ist primär von einem
inklusiven Ansatz auszugehen. Dies bedeutet, dass auch selbstverständliche und
etablierte Formen von Schule, die den Schulalltag und den Unterricht strukturell
regulieren, kritisch zu betrachten sind. Zu den Regulativen, die unter Umständen
einer Anpassung und Veränderung bedürfen, zählen u.a. die Zeit- und Raum-
aufteilungen, der Stundentakt und die Jahrgangsklassen, die Art und Weise wie
Schülerinnen und Schüler klassifiziert und eingeteilt werden, wie Lehrpersonen
aufgefordert sind zu arbeiten und wie Schülerinnen und Schüler Aufgaben er-
halten und wie sie beurteilt oder geprüft werden (vgl. ROLFF 2006, S. 222f.).
Ist Teamteaching lediglich eine Form von Zusammenarbeit von Lehrper-
sonen an einer sich entwickelnden Schule, ist die Chance höher, dass sich die
Tandems als professionelle Lerngemeinschaften verstehen, die gemeinsam in
einem Prozess der Kokonstruktion ihren Unterricht entwickeln, durchführen
und reflektieren. Ihre Arbeit wird erleichtert und unterstützt, wenn sich alle
Lehrpersonen der Schule auf verbindliche Qualitätsziele bezüglich Unterricht
geeinigt haben.
In Lehrerteams an sprachlich heterogenen Schulen müssen Lehrpersonen
sein, die Expertinnen oder Experten für Deutsch als Zweitsprache sind und sol-
che, die Fachlehrpersonen der am häufigsten gesprochenen Erstsprachen der
Schülerinnen und Schüler sind. Einem Teamteaching-Tandem gehört mindes-
tens eine Lehrperson mit einer oder beider dieser Fachkompetenzen an.
Zur Sicherung der Nachhaltigkeit und Qualität ist es notwendig, dass Team-
teaching-Tandems schulinterne oder externe Unterstützung in ihrem Unterricht-
sentwicklungsprozess erhalten.
Zum Abschluss sei noch erwähnt, dass Lehrpersonen, die in feste Team-
formen eingebunden sind, auch in konkreten eigenen pädagogischen Formen ein
intensiveres Kooperationsverhalten zeigen als solche, die nicht in Teams einge-
bunden sind. „Wo feste Teambildungen bestehen und wo intensiv mit den Kol-
leg/innen kooperiert wird, finden wir auch eine differenziertere Lernkultur mit
variablen Lernarrangements im Unterricht vor.“ (vgl. HOLTAPPELS/VOSS 2006, S.
255).

117
Therese Halfhilde

Fragen und Denkanstöße


1. Welches sind wesentliche Merkmale des Teamteaching?
2. Welche Faktoren erhöhen die Chance, dass Lehrpersonen Teamteaching als
kooperative Form des Unterrichtens wirklich nutzen?
3. Was meint inklusiver Unterricht und was heisst dies für das Unterrichten im
Teamteaching?
4. Welche Chancen ergeben sich für die Lehrpersonen, die im Teamteaching
zusammenarbeiten?
5. Welche Chancen bestehen für Schülerinnen und Schüler in sprachlich und
sozio-kulturell heterogenen Klassen, wenn mindestens zwei Lehrpersonen im
Teamteaching unterrichten?

Literaturempfehlungen
HALFHIDE, T./FREI, M./ZINGG, C.: Teamteaching. Wege zum guten Unterricht.
Zürich 2001.
Eine Broschüre, die sich vor allem auf praktische Erfahrungen aus dem Kanto-
nalzürcher Projekt ‚Qualität in multikulturellen Schulen‘ (QUIMS) stützt. Sie
enthält Ideen und Modellbeschreibungen, die die Einrichtung von Teamteaching
erleichtern.

HORSTER, L./ROLFF, H-G.: Unterrichtsentwicklung. Grundlagen, Praxis, Steue-


rungsprozesse. Weinheim 2001.
Unterricht steht im Zentrum schulischer Arbeit. Unterrichtsentwicklung ist der
Königsweg der Schulentwicklung. Die systematische Darstellung von Unter-
richtsentwicklung wird ergänzt mit vielen Beispielen und Arbeitsblättern für die
praktische Arbeit.

BOBAN, I./HINZ, A.: Der Index für Inklusion – ein Katalysator für demokratische
Entwicklung in der „Schule für alle“. In: Heinzel, F./Geiling, U. (Hrsg.): Demo-
kratische Perspektiven in der Pädagogik. Wiesbaden 2004, S. 37-48.
Mit dem Index für Inklusion stellen die Autoren ein Material der Selbstevalua-
tion von Schulen vor, das die Funktion einer demokratischen Entwicklung einer
‚Schule für alle‘ haben kann.

118
Teamteaching

Literaturverzeichnis
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die Methoden der Aktionsforschung. 3. durchgesehene und erweiterte Auflage. Bad
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folg: kein Zufall. Ein Ideenbuch zur Schulentwicklung im multikulturellen Umfeld.
Zürich: Lehrmittelverlag, S. 37-41.

120
Kapitel 6

Agi Schründer-Lenzen

Sprachlich-kulturelle Heterogenität als


Unterrichtsbedingung

1 Sprachliche Heterogenität

Sprachlich-kulturelle Heterogenität in Bildungseinrichtungen ist seit mehr als


drei Jahrzehnten eine Realität, die erst in den letzten Jahren als eine fast durch-
gängige Rahmenbedingung von Schule und Unterricht zur Kenntnis genom-
men wird. Bereits 30 % der Kinder zwischen sechs und zehn Jahren verfügen
deutschlandweit über einen „Migrationshintergrund“ (Konsortium Bildungsbe-
richterstattung 2006, S. 143). Die größte Aufmerksamkeit erfährt seitdem die
frühe Sprachförderung, da in der sprachsensiblen Phase, die bis ungefähr zum
6. Lebensjahr reicht, Kinder praktisch mühelos mit mehr als einer Sprache auf-
wachsen können (TRACY 2007). Dieser simultane Erwerb zweier Sprachen im
Kleinkindalter (Bilingualismus) ist von dem sukzessiven Erwerb einer zweiten
Sprache, die erst im Vorschulalter beginnt, zu unterscheiden. Dieser relativ späte
Erwerb von ‚Deutsch als Zweitsprache‘ (DaZ), ist gerade für jene Kinder ty-
pisch, deren beide Eltern im Ausland geboren wurden und die, statistisch gese-
hen, den geringsten Bildungserfolg haben.
Sukzessiver Spracherwerb ist zwar im Kontext schulischer Sprachvermitt-
lung insbesondere dann, wenn es um das Erlernen einer Fremdsprache (DaF =
Deutsch als Fremdsprache) geht, relativ gut erforscht (vgl. HELBIG u.a. 2001),
aber dieses didaktische Setting unterscheidet sich grundsätzlich von der Lernsi-
tuation von Migrantenkindern: Ihre weitgehend ungesteuerte Sprachaneignung
in vielfach bildungsfernen Elternhäusern unterliegt anderen Entwicklungsver-
läufen als das weitgehend gesteuerte Sprachlernen im Fremdsprachenunterricht.
Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund verfügen häufig über eine
relativ gut ausgebildete umgangssprachliche Kompetenz, die über gramma-
tische Fehler, lexikalische Ungenauigkeiten und erfahrungsbezogene Wissens-
lücken hinwegtäuscht. Sichtbar werden diese Probleme häufig erst im Verlauf

121
Agi Schründer-Lenzen

der Grundschule, wenn die Anforderungen an das Sprachverstehen und die


Textproduktion stark zunehmen. Die geschriebene Sprache lässt sich auch als
„Sprache der Distanz“ verstehen, denn ihre Produktion ist durch Situationsent-
bindung gekennzeichnet, die dazu zwingt, alles das zu verschriftlichen, was in
der mündlichen Sprache, der „Sprache der Nähe“, durch außersprachliche Mit-
tel (Mimik, Gestik) oder auch parasprachlich (Intonation, Artikulation) kommu-
niziert werden kann (vgl. KOCH/OESTERREICHER 1985). Es ist nicht der Erwerb
einer kommunikativen Kompetenz, der im Fokus des Fremdsprachenunterrichts
steht, sondern die Teilhabe an der ‚schulischen Bildungssprache‘, die die zen-
trale didaktische Herausforderung in der Unterrichtung sprachlich-kulturell he-
terogener Schülergruppen bedeutet.
Die Komplexität dieser Lernaufgabe wäre aber nicht richtig verstanden,
würde man hierunter nur die vier Grundfertigkeiten des Zweitspracherwerbs
verstehen: Hörverständnis, Sprechen, Lesen und Schreiben. Das Erlernen der
schulischen Bildungssprache ist weitaus anspruchsvoller und setzt im Verlauf
der Bildungskarriere zunehmend den Erwerb von Fachsprache, das damit ver-
bundene Begriffslernen, das Verständnis spezifischer Textsorten und ein konzep-
tuell verankertes Fachwissen voraus. Diese Zielperspektive und die damit gege-
bene Notwendigkeit eines sprachbewussten Unterrichts in allen Fächern und auf
allen Schulstufen ist zwar aus wissenschaftlicher Perspektive Konsens, aber es
existieren bisher nur wenige Ansätze einer didaktischen Konkretisierung.
In der neuen Generation der Rahmenlehrpläne und ministeriellen Handrei-
chungen wird Sprachförderung nicht mehr nur als unterrichtsergänzende För-
dermaßnahme beschrieben, sondern explizit als Unterrichtsprinzip für den Re-
gelunterricht gefordert: So sind bereits 1999 in NRW die „Empfehlungen zur
Förderung der deutschen Sprache als Aufgabe des Unterrichts in allen Fächern“
erschienen und auch die Berliner „Handreichung Deutsch als Zweitsprache“
(2001) versucht, Grundlagenwissen für einen „integrativen Sprachunterricht“
zu vermitteln. Der sächsische Rahmenplan (2000) zeigt Möglichkeiten der
Integration von DaZ-Unterricht und Fachunterricht auf. Auch der Hamburger
Grundschullehrplan Deutsch (2004) weist in diese Richtung, indem DaZ als
Querschnittaufgabe aller Fächer gesehen wird und explizit mit dem Ziel „Mehr-
sprachigkeit“ verbunden wird.
Der Blick in Rahmenlehrpläne und ministerielle Empfehlungen ermöglicht
aber auch Hinweise auf unterschiedliche didaktische Schwerpunktsetzungen der
Sprachförderung: So orientiert sich der bayerische Rahmenlehrplan, der 2002
von Berlin und Niedersachsen übernommen wurde, an einem kommunikativ-
pragmatischen Sprachförderkonzept, das von Themen der kindlichen Lebens-
welt wie „Ich und Du“ oder „Miteinander leben“ ausgeht. Diese Orientierung
des Sprachlernens an authentischen, erfahrungsbezogenen, thematisch struktu-

122
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht

rierten Lernsituationen (HÖLSCHER u.a. 2006) lässt sich von dem sprachsystema-
tischen Konzept der Berliner DaZ-Handreichung unterscheiden, das besonderes
Gewicht auf den Erwerb bestimmter grammatischer Strukturen legt (vgl. RÖSCH
2005).

2 Guter Unterricht in der sprachlich-kulturell


heterogenen Klasse

Die empirische Unterrichtsforschung hat im Hinblick auf schulart- und fach-


unabhängige Qualitätsmerkmale von Unterricht eine Reihe von Indikatoren he-
rausgearbeitet, die auch für das Unterrichtsgeschehen in der sprachlich-kulturell
heterogenen Klasse Gültigkeit beanspruchen können (vgl. HELMKE 2003, vgl.
auch Kapitel 3):

1. effiziente Klassenführung und Zeitnutzung


2. lernförderliches Unterrichtsklima
3. vielfältige Motivierung
4. Strukturiertheit, Klarheit, Verständlichkeit
5. Wirkungsorientierung, Kompetenz- und Lernzielorientierung
6. Schülerorientierung und -zentrierung
7. Förderung aktiven, selbständigen Lernens
8. angemessene Variation von Methoden und Sozialformen
9. Konsolidierung, Übung, Transfer
10. Nutzung vielfachen Feedbacks

Diese Auflistung von Indikatoren der Unterrichtsqualität birgt allerdings Ge-


fahren, da sie suggeriert, ‚den‘ guten Unterricht beschrieben zu haben. Unter-
richtsprozesse werden aber vielfältig ‚moderiert‘, es kommt zu Wechselwir-
kungen zwischen Schülermerkmalen und Unterrichtsmethoden. CRONBACH und
SNOW (1977) bezeichneten diese Wechselwirkungen als „Aptitude-Treatment-
Interactions (ATI)“. Effektives Unterrichten erfordert dementsprechend ein an
die jeweiligen Lernvoraussetzungen angepasstes Vorgehen, ein adaptives Lern-
angebot. Aus der Fülle möglicher methodischer Zugriffsweisen, Inhalte und
Organisationsformen sind diejenigen auszuwählen, die der je aktuellen Unter-
richtssituation, der konkreten Klasse und dem individuellen Schüler am besten
entsprechen. Diese ‚Passung‘ des Lernangebots ist dann gegeben, wenn es in der
‚Zone der nächsten Entwicklung‘ liegt, also etwas anspruchsvoller ist, als das,
was die Schülerin bzw. der Schüler bereits kann:

123
Agi Schründer-Lenzen

“It is the distance between the actual developmental level as determined by


independent problem solving and the level of potential development as de-
termined through problem solving under adult guidance or in collaboration
with more capable peers” (VYGOTSKY 1978, S. 86).

Was bedeuten diese Überlegungen für die sprachlich-kulturell heterogene Klas-


se und wie lassen sie sich in didaktische Strategien umsetzen? Zwei Elemente
einer didaktischen Expertise sollen im Folgenden skizziert werden: die diagnos-
tische Basisorientierung und Strategien einer integrativen Sprachförderung.

2.1 Diagnostische Basisorientierung


Eine individuelle Sprachstandsanalyse gehört zu den notwendigen Grundla-
gen einer professionellen didaktischen Konzeption für die sprachlich-kulturelle
Klasse. Nur durch die kontinuierliche Beobachtung der individuellen Entwick-
lung der Lernersprache bei gleichzeitiger Berücksichtigung der heterogenen
Sprachvoraussetzungen kann eine Lernsituation geschaffen werden, die sprach-
liches und fachliches Lernen ermöglicht. Lehrkräfte stehen mit dieser Forderung
aber vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe, denn das Angebot an Instrumenten
und Verfahren für eine Einschätzung des sprachlichen Entwicklungsstandes ist
für die Vorschulphase und den Schuleintritt sehr groß und für die weitere Schul-
zeit, insbesondere die Sekundarstufe, so gut wie nicht vorhanden. Es fehlen In-
strumente, um den fachsprachlichen Entwicklungsstand einzuschätzen, so dass
die Gefahr sehr groß ist, Lernschwierigkeiten irrtümlich als fachliche Defizite
zu interpretieren, obwohl sie eigentlich auf einem sprachlichen Nicht-Verstehen
beruhen.
Mit diesen Hinweisen wird auch deutlich, dass mit der Analyse des sprach-
lichen Entwicklungsstandes ganz unterschiedliche Interessen verbunden sein
können: Sprachstandsanalyse wird häufig als Statusdiagnostik verstanden, um
z.B. einen Förderbedarf zu identifizieren. Gerade für das Kindergartenalter gibt
es hierzu eine Fülle von Instrumenten (vgl. Kasten 1), die von den Verfahren zu
unterscheiden sind, die auf eine Prozessdiagnostik orientiert sind. Beispiel hier-
für wären Sprachenportfolios zur Dokumentation von Fremd- bzw. Zweitspra-
cherwerb, für die unterschiedliche Muster auf den Internetseiten der Ministerien
abrufbar sind (vgl. hier Abb. 1: Auszug aus dem Thüringer Sprachenportfolio).

124
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht

KASTEN 1 f

Die sprachdiagnostischen Instrumente für die Altersphase der 4- bis 6-Jährigen


haben unterschiedliche Zielstellungen:
• Identifizierung von Sprachentwicklungsstörungen (z.B. KISTE ),
• Feststellung von Sprachförderbedarf (z.B. Deutsch plus, Fit in Deutsch,
Delphin, LiSe DaZ = Linguistische Sprachstandserhebung – Deutsch als
Zweitsprache),
• Unterstützung einer gezielten und systematischen Beobachtung und Do-
kumentation der ‚normalen‘ kindlichen Sprachentwicklung (z.B. SISMIK,
Bayern-Hessen-Screening),
• Instrumente zur Erfassung der Mehrsprachigkeit (HAVAS, CITO).

In der Praxis ist die Vernetzung der vorschulisch erhobenen Informationen über
die Sprachentwicklung mit dem Anfangsunterricht ein gravierendes Problem,
das zumeist durch punktuelle Verständigung zwischen Kindergärtnerin und
Grundschullehrerin ‚gelöst‘ wird. Ansatzpunkte für eine institutionenübergrei-
fende diagnostische Orientierung lassen sich z.B. in dem Berliner Konzept des
Sprachlerntagebuches für den Elementarbereich und der sich anschließenden
„Lerndokumentation Sprache“ finden. Hier werden einerseits die diagnosti-
schen Kategorien der Vorschulphase wieder aufgegriffen und andererseits er-
weitert, indem neben den üblichen Beobachtungsdaten für den Schriftsprach-
erwerb (phonologische Bewusstheit, Schreibmotorik, Lesen, Rechtschreiben,
Textproduktion) auch Kategorien für das mündliche Sprachhandeln, die mor-
pho-syntaktische Entwicklung, die Sprachlernmotivation und das Sprachwissen
berücksichtigt werden.
Damit wird an Erkenntnisse aus der Spracherwerbsforschung angeknüpft,
die – unabhängig von der jeweiligen Herkunftssprache – im Bereich der Syntax
einen idealtypischen Erwerbsverlauf des Deutschen als Zweitsprache gezeigt
haben.
Besonders markant ist die sprachliche Progression im Bereich der Wortstel-
lung, die sich in Anlehnung an GRIESSHABER (2005) in folgenden Stufen be-
schreiben lässt:

0. Bruchstückhafte Äußerungen, unvollständige Sätze


1. Einfache Sätze mit linearer Abfolge von Aktor, Aktion (Prädikat) und Objekt
der Aktion
2. Einfache Sätze mit der für das Deutsche sehr charakteristischen Trennung
von finitem Verb und infiniten Verbteilen

125
Agi Schründer-Lenzen

3. Inversion: Nach vorangestellten Adverbien werden Verb und Subjekt ver-


tauscht
4. Nebensätze mit finitem Verb in Endstellung

Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Tatsache, dass die syntaktischen
Strukturen von Deutsch als Zweitsprache in bestimmten Sequenzen erworben
werden? Lässt sich durch Unterricht die Reihenfolge dieser Erwerbssequenzen
beschleunigen bzw. verändern? Diese Fragen sind von hoher didaktischer Rele-
vanz und konnten bereits in den 1980er Jahren von PIENEMANN beantwortet und
von DIEHL u.a. (2000) erneut bestätigt werden: Der Erwerb von grammatischen
Strukturen, die eine Stufe über dem bereits erreichten Sprachstand liegen, kann
durch Unterricht positiv beeinflusst werden.

Teachability-Hypothese:
Sprachentwicklung ist durch Instruktion beeinflussbar!

Wenn jedoch das Lernangebot Sprachstrukturen enthält, die mehr als eine Stufe
über dem jeweils aktuellen Sprachstand liegen, dann ist der Unterricht besten-
falls wirkungslos, wenn er nicht sogar zu einer Beeinträchtigung der weiteren
Sprachentwicklung führt. Diese Aussage bezieht sich aber nur auf das didak-
tische Lernmaterial, nicht auf die Lehrersprache. Gerade die Vorbildfunktion
einer variantenreichen aber verständlichen Lehrersprache ist wichtig für impli-
zite Spracherwerbsprozesse, die zumindest im Grundschulalter noch erwartet
werden können (DEKEYSER 2003, N.C. ELLIS 2002, OERTER 2000). Allerdings
sind diese Erwerbsprozesse auch in spezifischer Weise fragil: Anders als der so-
zusagen robuste Erstspracherwerb unterliegt der Zweitspracherwerb ‚Fossilie-
rungstendenzen‘, d.h. es besteht die Gefahr, dass die Lernersprache auf einem
Sprachentwicklungsniveau stehen bleibt. Gerade diese Stagnationen sind ohne
eine kontinuierliche Beobachtung nicht bemerkbar und nur durch gezielten
sprachsystematischen Input aufzubrechen (vgl. DOUGTHY 2003, R. ELLIS 2002).

2.1.1 Am Können der Lernenden ansetzen


Die Einsicht in den progressiven Verlauf des Spracherwerbs hat zu einer wei-
teren Konsequenz geführt: der ‚Könnens-Diagnostik‘. Es gibt sozusagen un-
terschiedliche Brillen für den diagnostischen Blick: Die Defizit-Diagnostik
sucht nach Abweichungen von der monolingualen Sprachentwicklung, die als
implizite Norm gilt, die Könnens-Diagnostik orientiert sich an der Kompetenz-
progression in der Zweitsprache und beschreibt den jeweils erreichten Kompe-

126
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht

tenzstand in den einzelnen sprachlichen Dimensionen. Diese diagnostische Ba-


sisorientierung entspricht dem Europäischen Referenzrahmen für Sprachen, in
dem die Erwerbsreihenfolge in sechs Stufen (A 1–C 2) für die Bereiche Hören,
Sprechen, Lesen und Schreiben beschrieben wird. Dieser Beschreibungsmodus
hat insbesondere Eingang in die Sprachenportfolios der Sek. I gefunden (z.B.
Sprachenportfolio Thüringen), die den Schülerinnen und Schülern eine Selbst-
einschätzung ihres sprachlichen Lernprozesses ermöglichen sollen (Abb. 1).

A1 Ich kann vertrauliche alltägliche Wendungen – z.B. Begrü-


ßen, Vorstellen, Verabschieden – wieder erkennen und
weiß, was sie bedeuten, vorausgesetzt, es wird langsam
und deutlich gesprochen
Ich kann einfache Arbeitsanweisungen verstehen und
darauf reagieren.
Ich kann Fragen – z.B. nach der Uhrzeit, Namen oder Wohn-
ort – verstehen und darauf reagieren.
A2 Ich kann klare und häufig gebrauchte Hinweise im alltäg-
lichen Leben verstehen und darauf reagieren
Ich kann häufig gebrauchte Ausdrücke und einfache Sätze
verstehen, wenn es sich um bekannte Themen handelt
– z.B. zur Person, Familie oder zur näheren Umgebung
– sofern langsam und deutlich gesprochen wird.
Ich kann kurzen, klaren Mitteilungen und Durchsagen das
Wesentliche entnehmen.
Abb. 1: Auszug aus dem Thüringer Sprachenportfolio für die Sekundarstufe I, Kompe-
tenzstufung des Hörverständnisses

2.1.2 Curricular basierte Sprachprofildiagnostik


Das didaktisch interessanteste Gesamtkonzept für eine durchgängige Sprach-
diagnostik bieten aktuell die Baseler Sprachprofildeskriptoren, die die bil-
dungssprachlichen Kompetenzen beschreiben, die vom Kindergarten bis zum
Abschluss der Sek. I an den Übergangsstellen des Bildungssystems jeweils er-
wartet werden. Mit diesen Sprachprofilen werden für alle Fächer die sprach-
lichen Handlungen benannt, die – den curricularen Vorgaben im Kanton Basel
entsprechend – benötigt werden. Es handelt sich also um ein Instrument, das auf
der Analyse der Rahmenlehrpläne und Fachlehrpläne basiert und so ‚schulische
Bildungssprache‘ zum expliziten Lerngegenstand macht. Es ist Produkt einer
Teamarbeit von Lehrpersonen, die sich aus den jeweils angrenzenden Bildungs-

127
Agi Schründer-Lenzen

institutionen über den Erwartungshorizont an Sprachkompetenz am Ende der


abgebenden bzw. am Anfang der aufnehmenden Stufe verständigt haben.
Diese Standards für Unterrichtsinhalte (Content- oder Curriculumstandards)
dürfen nicht mit den Leistungsstandards verwechselt werden, die – wie im Eu-
ropäischen Referenzrahmen – bestimmte Kompetenzniveaus beschreiben. Sie
dienen nicht der Leistungsbeurteilung, sondern wollen über die lehrplannahe
Operationalisierung sprachlicher Teilkompetenzen eine Zielorientierung für den
Unterricht bieten.

2.2 Strategien einer integrativen Sprachförderung


Sprachförderung in der sprachlich-kulturell heterogenen Klasse ist in mehr-
facher Hinsicht als ‚integrativ‘ zu verstehen:

• Sie bezieht sich auf den gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und
Schülern unterschiedlicher Erstsprachen und ethnischer Zugehörigkeit.
• Sie bedeutet die Verbindung aller Bereiche der Spracherwerbsaufgabe.
• Sie meint die Verzahnung von Sprach- und Fachlernen.

Für den Umgang mit Heterogenität gibt es eine Reihe praxiserprobter Unter-
richtsmethoden wie z.B. Projektarbeit, Lernen an Stationen, Wochenplanarbeit,
Lernen durch Lehren, die die drei klassischen Prinzipien des Umgangs mit He-
terogenität umsetzen: Differenzierung, Individualisierung und soziale Koopera-
tion (vgl. auch Kapitel 3 und 5). Dabei lassen sich aus didaktischer Perspektive
zwei Pole der unterrichtlichen Umsetzung unterscheiden:

• Bei einer kognitivistisch orientierten Auffassung von Unterricht wird der


Lernprozess durch einen didactic leader weitgehend vorstrukturiert und ge-
steuert.
• Konstruktivistische Vorstellungen von Lehren und Lernen führen demge-
genüber dazu, die Bereitstellung von authentischen, problemhaltigen Lern-
umgebungen einzufordern, in denen Lernende gemeinsam nach Lösungen
suchen und dabei Wissen und Kompetenzen erwerben.

Lernen in institutionalisierten Kontexten, insbesondere im Grundschulalter,


scheint auf die Verbindung beider Perspektiven angewiesen zu sein: Ziel des
Unterrichts ist nicht nur der Aufbau von Problemlösekompetenz, Interesse und
Teamfähigkeit, sondern auch die Entwicklung von Basiskompetenzen, einer an-
schlussfähigen Wissensbasis und der Aufbau eines Verständnisses von komple-
xen Zusammenhängen (vgl. hierzu Hinweise auf eine „integrative Didaktik“ bei

128
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht

KIPER/MISCHKE 2004). Was aber bedeuten diese Überlegungen für eine didak-
tische Perspektive auf sprachlich-kulturelle Heterogenität?
Aus empirischer Sicht gibt es dazu bisher erst wenige Befunde: In der Berli-
ner Längsschnittstudie zur Lesekompetenzentwicklung von Kindern mit Migra-
tionshintergrund (BeLesen vgl. SCHRÜNDER-LENZEN/MERKENS 2006) zeigte sich,
dass sich die Effekte unterschiedlicher fachdidaktischer Strukturierungen des
Anfangsunterrichts zumindest bis zum Ende der Primarstufe verlieren, d.h. die
anderen Effekte der Unterrichtssituation und auch der individuellen Lernvor-
aussetzungen sind bedeutsamer für den Lernerfolg als die Unterrichtsmethode:
Am Ende von Klasse 4 hatten die Kinder besonders viel dazugelernt, die in einer
Klasse lernen konnten, in der der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund
geringer als in anderen war und das allgemeine kognitive Leistungsniveau der
Klasse besonders hoch lag (vgl. MÜCKE 2007). Welche Relevanz haben dann
noch unterrichtsmethodische Entscheidungen? Kann es überhaupt eine didak-
tische Antwort geben, die über den üblichen Umgang mit Heterogenität wie z.B.
Individualisierung von Unterricht hinausgeht?
Eine Antwort auf diese Fragen hängt auch von der didaktischen Grund-
orientierung ab, unter der die migrationsbedingte Heterogenität gesehen wird:
Wird die soziokulturelle und sprachliche Distanz der Kinder und Jugendlichen
zur schulischen Bildungssprache als ein Problem gesehen, dann muss ein kom-
pensatorisches Konzept entwickelt werden, mit dem Sprachförderung und kul-
turelle Integration als ein notwendiges Additum angeboten werden. Diese Sicht
wird teilweise durch eine Einschätzung überlagert, die die sprachlich-kulturelle
Heterogenität in der deutschen Schule als ‚normale‘ Erscheinung einer ‚multi-
kulturellen Gesellschaft‘ bzw. als Chance für die Erweiterung einer nationalen
Kultur betrachtet. Schülerinnen und Schüler aus anderen Kulturen mit anderen
Sprachen werden als Bereichung für die Klasse gesehen. Aufgabenstellungen
und Materialien sollen daher unterschiedliche Kulturen und Sprachen einbe-
ziehen, Weltoffenheit vermitteln und Differenzen transparent machen. Das
wechselseitige Lernen, eine Kultur der Anerkennung sind das Ziel. Für die
heterogene Klasse wird damit die Aufgabe gesehen, eine Atmosphäre der Ge-
meinsamkeit und des Miteinander zu kultivieren. Es kann aber nicht nur darum
gehen, Toleranz und Wertschätzung gegenüber Anderen und fremden Kulturen
zu vermitteln, sondern auch Grenzen der Toleranz innerhalb einer freiheitlich
demokratischen Gesellschaft bewusst zu machen (ATES 2007, TIBI 2002). Dieser
Komplex von Unterrichtszielen und -inhalten berührt im Kern die Frage der nor-
mativen Setzungen, die sich mit dem Konzept eines „interkulturellen Lernens“
verbinden (vgl. GOGOLIN/KRÜGER-POTRATZ 2006 und Kapitel 2).

129
Agi Schründer-Lenzen

An dieser Stelle soll der Prämisse des Nationalen Integrationsplans gefolgt


werden, der auf eine „Integration durch Sprache“ setzt und dem Erwerb des
Deutschen Priorität einräumt.

2.2.1 Integration aller Bereiche des Sprachlernens


Der Erwerb schulischer Bildungssprache setzt die Förderung aller Bereiche
der Sprachkompetenz voraus – also rezeptive und produktive Fähigkeiten und
Sprachbewusstheit: Die unterschiedlichen Dimensionen sprachlicher Kompe-
tenz sind eng miteinander verbunden und beruhen auf komplexen kognitiven
Prozessen. So ist z.B. das Lesen keine nur rezeptive Fähigkeit, sondern setzt
auch sprachkonstruktive Fähigkeiten voraus. Rechtschreiben ist zwar zunächst
eine produktive Fähigkeit, ist aber sehr stark aufmerksamkeitsgesteuert und
setzt Sprachbewusstheit voraus. Im Unterricht sind alle sprachlichen Bereiche
integriert zu fördern, wobei in „didaktischen Schleifen“ Schwerpunktsetzungen
sinnvoll sind (zu dem Konzept eines „integrativen Sprachunterrichts“ vgl. auch
RÖSCH 2005). Wie diese Forderungen in der sprachlich-kulturell heterogenen
Klasse umgesetzt werden können, soll anhand eines Beispiels für den Leseun-
terricht in Grundschulklassen vorgestellt werden, das im Kontext der BeLe-
sen-Studie erprobt werden konnte (zu den Ergebnissen vgl. SCHRÜNDER-LENZEN
2008) (vgl. Abb. 2). :

130
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht

Orientierung der Kinder Didaktische Orientierung


Vor dem Lesen: Vorentlastung – kognitive Aktivierung – advanced organizer
Was wollen wir lesen? Leseinteresse wecken: authentische,
lebensweltbezogene insbes. auch infor-
mierende (Sach-)Texte wählen, Einbezie-
hen der Kulturen aller Kinder der Klasse,
Ritualisierung der Vorlesesituation
Wovon könnte die Geschichte handeln? Aktivierung des Vorwissens, Erfahrungs-
austausch, Klärung zentraler Begriffe,
Schlüsselwörter besprechen, ggf.
notieren
Beachte Überschrift und ggf. Bilder, Hypothesenbildung – Sammeln von
Graphiken, Tabellen! sachbezogenen Vorkenntnissen
Arbeit am Text
Lies den Text erst einmal insgesamt Globalverständnis
durch!
Was hast du verstanden? „Inseln des Verstehens“ bauen –
Lesen heißt nicht übersetzen! Oft kann selektives/partielles Verstehen
man einen Satz verstehen, ohne jedes
Wort zu kennen!
Kläre die Wörter, die du nicht verstan- Detailverstehen: Den Kindern Zeit ge-
den hast. Lies sie noch einmal! Was ben für die eigenständige Erarbeitung
kennst du an dem Wort? Lies den Text- von Wortbedeutungen!
abschnitt noch einmal! Versuche, die Verstehensstrategien erarbeiten:
Bedeutung aus dem Zusammenhang hypothesentestende Worterschließung,
zu erschließen! Denk’ noch einmal über Nachschlagetechniken üben,
das Wort nach! Wie könnte es heißen? themenorientierte Wörterkartei anle-
Probiere aus, ob es stimmen könnte! gen, Wortfeldarbeit
Du kannst auch Andere fragen oder im
Wörterbuch oder in deiner Lernwörter-
kartei nachsehen!
Unterstreiche wichtige Wörter! Schreibe Schlüsselwörter – roter Faden
sie an den Rand oder auf eine Liste! Mind Map-Techniken vorbereiten
Hilfestellungen für ein präzises, sinnkonstruierendes Lesen
Teile den Text in Abschnitte! Num- Textbearbeitungsstrategien erarbeiten
meriere die Abschnitte! Überlege ein
Stichwort (Überschrift), das gut zu dem
Abschnitt passt.

131
Agi Schründer-Lenzen

Stelle nach einem Abschnitt die Wer – Wann – Wo – Warum?


W-Fragen!

Schreibe Zusammenfassungen zu Zusammenfassungen ggf. erst münd-


Textabschnitten! lich erarbeiten, ggf. Schlüsselwörter,
Satzanschlüsse oder Satzteile schriftlich
vorgeben.
Beantworte Fragen zum Text! Finde Textfragen auf unterschiedlichen
selbst Fragen zum Text und lasse sie von sprachlichen und fachlichen Niveau-
einem Partner beantworten. stufen vorbereiten.
Vertiefung/Reflexion des Gelesenen bei expositorischen Texten
Erzähle die Geschichte noch einmal! Handlungstabelle für Personen, Ort,
Ggf. male ein Vorstellungsbild! Zeitpunkte etc. vorbereiten.

Wie könnte der Text weitergehen? Formale Gestaltungselemente des


Könnte die Geschichte auch anders Textes bewusst machen, ggf. als Vorlage
enden? für die Einübung grammatischer Struk-
turen nutzen
Lies die Geschichte vor. Wie fandest Dialogisches Lesen, Partnerlesen, Lese-
du die Geschichte – diskutiere mit den konferenz,
anderen darüber!
Schreibe die Geschichte mit eigenen Texte präsentieren lassen
Worten auf!

Abb. 2: Basisorientierung für Vorlesen und Lesen in der sprachlich-kulturell hetero-


genen Grundschulklasse

Insbesondere das tägliche Vorlesen durch die Lehrperson kann ein sprachlich
gutes, Wissen vermittelndes und emotional anschlussfähiges Lernangebot
sein. Die Prozesse des Hör- und Leseverstehens gleichen sich zu einem großen
Teil, allerdings mit einigen zentralen Unterschieden: Die Entschlüsselung des
sprachlichen Inputs muss sehr schnell erfolgen und ist häufig nur unvollständig
bzw. mit Verstehenslücken möglich. Eine gut artikulierte und ausdrucksvolle
Lehrersprache, wechselnde Sprecher beim Vorlesen, der Einsatz von Hörkasset-
ten (Globalverstehen), Höraufgaben, in denen das Zuhören auf einzelne Schlüs-
selwörter (selektives Hören) oder inhaltliche Aspekte (Detailverstehen) gelenkt
wird, können hier unterstützend wirken. Über ein interaktives, ‚dialogisches‘
Vorlesen kann eine Lesehaltung demonstriert werden, die die Kinder beim
selbstständigen Lesen zunehmend allein übernehmen können. So werden sie zu

132
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht

Leserinnen und Lesern, die einen Text nicht ‚rezipieren‘, sondern befragen und
solange ‚kneten‘ bis sie ihn verstanden haben.
Für die Unterstützung eines expliziten Sprachlernens ist die Vermittlung
von Lernstrategien wichtig, durch die die Lernenden in die Lage versetzt wer-
den, ihren Sprachlernprozess selbständig zu steuern (kognitive Strategien), zu
überwachen (metakognitive Strategien) und aufrechtzuerhalten (sozial-affek-
tive Strategien) (zu der Strategietypologie eines good language learners vgl.
O’MALLEY/CHAMOT 1990, S. 137ff.). Lernstrategien müssen domänenspezifisch
erworben werden, also z.B. für das Abschreiben, für das Lösen des Dreisatzes
oder die Erarbeitung von Texten. In dem o. g. Beispiel (Abb. 2) finden sich
bereits alle drei Lernstrategien: die kognitiven Strategien durch das Textstellen
markieren, Erstellen von mind maps etc., die metakognitiven Strategien durch
die bewusste Steuerung der Aufmerksamkeit auf Schlüsselwörter, hypothesen-
testendes Lesen etc. und die sozial-affektiven Strategien durch die Lesekonfe-
renz, durch die Orientierung auf das Verstandene, die ‚Inseln des Verstehens‘.

2.2.2 Integration von Sprachlernen und Fachlernen


Für das Lesen von Fachtexten im Sekundarstufenbereich, für den Aufbau einer
Fachsprache in Biologie, Chemie, Physik, Mathematik und Geschichte gibt das
Methoden-Handbuch „Deutschsprachiger Fachunterricht“ (LEISEN 2003) sehr
gute Anregungen (vgl. auch Kapitel 7 von TAJMEL in diesem Lehrbuch). Grund-
prinzip ist die variantenreiche Visualisierung von Aufgabenformaten, die zu-
sätzlich durch lexikalische und morpho-syntaktische Hilfestellungen sprachlich
entlastet, aber auch bewusst für Sprachlernen gestaltet sind (vgl. Abb. 3).
Diese Form der Verbindung von Sprachlernen und Fachlernen bietet ‚Lern-
gerüste‘ für ein Sprachlernen, das parallel zum Fachlernen verlaufen soll. Durch
das sprachliche Scaffolding der Aufgabenformate wird aber auch der Gefahr
der kognitiven Unterforderung von Zweitsprachlernenden begegnet, die ohne
eine derartige Unterstützung des Sprachverständnisses nur fachlich einfachere
Aufgaben bearbeiten könnten. Differenzierung in der sprachlich-kulturell hete-
rogenen Klasse bedeutet damit neben der fachlichen Differenzierung auch un-
terschiedliche Niveaustufen des Schwierigkeitsgrades auf sprachlicher Ebene
bereitzustellen bzw. jene Sprachstrukturen anzubieten, die nachhaltig schwierig
sind, wie z.B. die Pluralbildung, die Kasusmorphologie, Nominalisierungen,
Passivkonstruktionen.

133
Agi Schründer-Lenzen

3 Zusammenfassung:
Zentrale didaktische Grundsätze für den Umgang mit
sprachlich-kultureller Heterogenität
Zusammenfassend lassen sich einige Aspekte pointieren, die für den Umgang
mit migrationsbedingter Heterogenität bedeutsam sind:
Ausgangspunkt von Unterricht in der sprachlich-kulturell heterogenen Klas-
se sollten individuelle Sprachstandsanalysen sein, die nicht nur die linguistisch
markierten sprachlichen Basisqualifikationen umfassen, sondern das Kind als
Ganzes in den Blick nehmen, mit allen seinen Ressourcen, von denen die Mehr-
sprachigkeit nur eine ist. Sprachstandsdiagnostik ist dabei notwendig prozessbe-
gleitend zu gestalten, und zwar über die gesamte Schulzeit.
Die Vielfalt der Klasse sollte – so weit möglich – für die Bildung sprachlich
heterogener Lerngruppen genutzt werden, damit implizite Sprachlernprozesse
begünstigt werden. Gleichwohl werden explizite Sprachlernprozesse notwendig
bleiben, um eine Stagnation des Erwerbsprozesses zu verhindern. Bewusstma-
chen und Üben der sprachsystematischen Strukturen der Zielsprache, d.h. nicht
formaler Grammatikunterricht, sondern eine an der sprachlichen Progression
des Zweitspracherwerbs ausgerichtete, fachlich integrierte Vermittlung sprach-
systematischer Strukturen erscheint günstig. Anders als Monolinguale können
Zweitsprachlernende nicht in gleichem Maße auf sprachkonstruktive Leistungen
aufbauen, so dass ihr Lernen auf ein Mehr an sachstruktureller Vorentlastung
(advance organizer, mind map) und an Unterstützung, ein Scaffolding, angewie-
sen ist. Für viele Schülerinnen und Schüler in der sprachlich-kulturell hetero-
genen Klasse ist aber auch die Bereitstellung von kulturgebundenem Weltwissen
und sozialen Erfahrungen notwendig, die eine ‚Integration durch Sprache‘ erst
ermöglichen.

134
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht

Wie wird ein mikroskopisches Präparat herge-


stellt? Schreibe im Passsiv und verwende die
Verben:
abziehen, auftropfen, einritzen, herunter-
klappen, abnehmen

Beispiel:
1. Auf der Innenseite einer Zwiebelschuppe
wird mit einem Messer ein kleines Viereck
eingeritzt.

2. Mit einer Pinzette wird ...

3. Anschließend ...

4. Danach ...

5. Am Schluss...

Abb. 3: Beispiel für die Integration von Sprachlernen in den Fachunterricht der
Sekundarstufe (LEISEN 2003)

Fragen und Denkanstöße


1. Erläutern Sie den Unterschied zwischen einer Statusdiagnostik und einer
Prozessdiagnostik.
2. Konstruieren Sie Beispiele kindlicher Äußerungen, die den sprachlichen Ni-
veaustufen von GRIESSHABER entsprechen.
3. Finden Sie heraus, welche Sprachenportfolios auf den Internetseiten der Bil-
dungsministerien sich an DaZ- bzw. an DaF-Lernende richten.
4. Versuchen Sie – in Analogie zu den Baseler Sprachprofildeskriptoren – eine
Beschreibung der sprachlichen Kompetenz, die Sie in Ihrem Unterrichtsfach
an einer der Übergangsstellen des Bildungssystems erwarten.
5. Gestalten Sie ‚sprachliche Lerngerüste‘ für Aufgabenformate in Anlehnung
an das Konzept von LEISEN für den Fachunterricht.

135
Agi Schründer-Lenzen

Literaturempfehlungen
SCHRÜNDER-LENZEN, A. (Hrsg.) (2006): Risikofaktoren kindlicher Entwicklung.
Wiesbaden
Im Zentrum des Bandes steht die Schulleistungsentwicklung von Kindern mit
Migrationshintergrund. Von besonderem Interesse ist dabei die schriftsprach-
liche Kompetenzentwicklung in sprachlich-kulturell heterogenen Klassen,
wobei auch die emotionalen und persönlichkeitsbezogenen Aspekte der Kom-
petenzentwicklung einbezogen werden. Der Übergang von der Grundschule
in die Sekundarstufe 1 wird thematisiert, wobei gerade auch unterschiedliche
Verarbeitunsstrategien, personale und soziale Ressourcen von Kindern mit und
ohne Migrationshintergrund aufgezeigt werden. Alle Beiträge des Bandes bieten
jeweils einen empirisch fundierten Einblick in die Thematik und präsentieren
Forschungsergebnisse, die für die weitere wissenschaftliche Auseinanderset-
zung mit der schulischen Lernsituation von Kindern mit Migrationshintergrund
bedeutsam sind.

RÖSCH, H. (Hrsg.) (2003): Deutsch als Zweitsprache. Grundlagen, Übungsideen,


Kopiervorlagen zur Sprachförderung, Unterrichtspraxis Grundschule. Hanno-
ver.
RÖSCH, H. (2005): Deutsch als Zweitsprache. Sprachförderung in der Sekundar-
stufe I. Hannover
In beiden Bänden wird das Thema „Deutsch als Zweitsprache“ sehr praxisnah
und jeweils schulstufenbezogen in seinen Grundzügen vorgestellt. In beiden
Bänden geht es um die Entwicklungsstufen des Zweitspracherwerbs, Prinzipien
der DaZ-Förderung und integrativen Sprachunterricht und auch um Probleme
der Leistungsbeurteilung. Die zahlreichen Kopiervorlagen haben einen gram-
matischen Schwerpunkt, beziehen aber auch die Wortschatzarbeit und für den
Sekundarstufenbereich auch das Sprachlernen im Fachunterricht mit ein.

Literaturverzeichnis

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Doughty, C.J./Long, M.H. (Hrsg.): The handbook of second language acquisition,
Malden MA, S. 256-310.

136
Sprachlich-kulturelle Heterogenität als Rahmenbedingung von Schule und Unterricht

Ehlich, K./Bredel, U./Garme, B./Komor, A./Krumm, H.-J./McNamara, T./Reich, H. H./


Schnieders, G./ten Thije, J. D./van den Bergh, H. (2005): Anforderungen an Verfah-
ren der regelmäßigen Sprachstandsfeststellung als Grundlage für die frühe und indi-
viduelle Förderung von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund, Bonn/Berlin:
Bundesministerium für Bildung und Forschung. Im Internet verfügbar unter: www.
bmbf.de/pub/bildungsreform_band_elf.pdf
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fort he theories of implicit and explicit language acquisition. In: Studies in Second
Language Acquisition 24, 2, S. 143-188.
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ledge? A review of research. In: Studies in Second Language Acquisition 24, 2, S.
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Hölscher, P. (2004): Lernszenarien. Hrsg. v. Staatsinstitut für Schulqualität und Bil-
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szenarien. Kernfragen zum Spracherwerb. Oberursel. Abrufbar unter: www.finken.
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Leisen, J. (2003): Handlungsorientierter Unterricht mit Lernszenarien, Kernfragen zum
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richtswissenschaft 28, 3, S. 239-256.
O’Malley, J. M./Chamot, A. U. (1990): Learning strategies in second language acquisi-
tion, Cambridge.
Rösch, H. (2005): Integrativer Sprachunterricht. In: Rösch, H. (Hrsg.): Deutsch als Zweit-
sprache. Sprachförderung in der Sekundarstufe I. Grundlagen – Übungsideen –
Kopiervorlagen, Braunschweig.
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onshintergrund. In: Bartnitzky, H./Speck-Hamdan, A. (Hrsg.): Deutsch als Zweit-
sprache lernen, Grundschulverband – Arbeitskreis Grundschule e.V., Frankfurt a.M.,
S. 20-32.

137
Agi Schründer-Lenzen

Schründer-Lenzen, A. (2008): Optimierung von Sprachlernprozessen im unterrichtser-


gänzenden Kleingruppenunterricht für Grundschüler mit Migrationshintergrund.
In: Lehrberger, R./Sandfuchs, U. (Hrsg.) (2008): Schüler fallen auf. Heterogene
Lerngruppen in Schule und Unterricht.
Schründer-Lenzen, A./Merkens, H. (2006): Differenzen schriftsprachlicher Kompetenz-
entwicklung bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. In: Schründer-Len-
zen, A. (Hrsg.): Risikofaktoren kindlicher Entwicklung. Wiesbaden, S. 15-44.
Konsortium Bildungsberichterstattung (2006): Bildung in Deutschland. Ein indikatoren-
gestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration, Bielefeld. Abrufbar
unter: http://www.bildungsbericht.de/daten/gesamtbericht.pdf
Tibi, B. (2002): Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit. München.
Tracy, R. (2007): Wie Kinder Sprachen lernen und wie wir sie dabei unterstützen können,
Tübingen.
Vygotsky, L. S. (1978): Mind in society: The development of higher psychological pro-
cesses. Cambridge, MA.

Links:
www.foermig-brandenburg.de
Berliner „Lerndokumentation Sprache” unter
http://www.bildung-brandenburg.de/transkigs/materialberlin.html

Baseler Sprachprofile unter


http://www.edubs.ch/die_schulen/schulen_bs/sprachunterricht/sprachprofile.pt

138
Kapitel 7

Tanja Tajmel

Ein Beispiel: Physikunterricht

Die sprachliche und kulturelle Diversität der Gesellschaft stellt eine neue He-
rausforderung für jede Fachdidaktik und für die Unterrichtsgestaltung in allen
Fächern dar. In diesem Kapitel soll am Beispiel des Physikunterrichts gezeigt
werden, auf welche Weise dieser Herausforderung nachgegangen werden kann.
Zunächst wird ein Überblick über jene Faktoren des Physikunterrichts gegeben,
welche Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund den Zugang zu
naturwissenschaftlicher Bildung erschweren. Die Entwicklung in Richtung eines
barrierefreien Zugangs zu naturwissenschaftlicher Bildung wird als Prozess dar-
gestellt. Auf einer Problemanalyse basierend werden Ziele und Lösungsansätze
formuliert. Konkret wird auf Maßnahmen zur Sprachförderung im Physikunter-
richt durch Planung und Entwicklung von so genannten sprachlernfördernden
Unterrichtsmaterialien eingegangen.

1 Chancengleichheit als Qualitätsmerkmal von


Physikunterricht

1.1 Das Recht auf Bildung

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist das Recht eines jeden Men-
schen auf Bildung und Ausbildung ohne Rücksicht auf Herkunft, wirtschaftliche
Lage oder Geschlecht festgeschrieben. Aufgabe der Schule sowie Kennzeichen
eines guten Unterrichts ist es somit, Benachteiligungen aufgrund der Herkunft
auszugleichen, d.h. folglich differenzierende Maßnahmen zu setzen, um Bil-
dungschancengleichheit zu gewährleisten. Mit dem Beschluss der Lissabon
Ziele (EUROPÄISCHER RAT 2000) wurde die wissenschaftliche Kapazität Europas
im naturwissenschaftlichen Bereich ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.

139
Tanja Tajmel

Es wurde festgestellt, dass nicht genügend naturwissenschaftliche Fachkräfte,


Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Verfügung stehen, um diese Ziele
zu erreichen. Dies lenkte die Aufmerksamkeit seitens politischer und wirtschaft-
licher Entscheidungsträger auf die vorhandenen, aber ungenutzten Humanres-
sourcen, die so genannten Bildungsreserven.

KASTEN 1 f

Unter Bildungsreserven sind Gruppen zu verstehen, welche in den einzelnen


(naturwissenschaftlichen und anderen) Berufsfeldern als unterrepräsentiert
(s.u.) zu bezeichnen sind. Im Bereich der Naturwissenschaften sind dies Frau-
en, Migrantinnen und Migranten (vgl. GENDER-DATENREPORT 2005, 25f, EUMC
2004).
Unterrepräsentiert bedeutet, dass der prozentuale Anteil einer gesellschaft-
lichen Gruppe in einem bestimmten Bereich geringer ist, als der prozentuale
Anteil dieser Gruppe in der Gesamtbevölkerung. Solange dieser nicht auf allen
Bildungs- und Berufsebenen angeglichen ist, kann davon ausgegangen werden,
dass die unterschiedlichen Gruppen nicht die gleichen Chancen in Bildung und
Berufswahl haben. In diversen Formen erfährt die unterrepräsentierte Gruppe
also Benachteiligung.

Es ist zu vermuten, dass die Unterrepräsentanz dieser Gruppen zum Teil auf
unzureichende Differenzierungsmaßnahmen im naturwissenschaftlichen Unter-
richt zurückzuführen ist. Die Tatsache der Existenz von Bildungsreserven lässt
daher bereits einen Zustand der Benachteiligung einzelner Gruppen im Bil-
dungssystem vermuten.
Der erste Schritt ist es, die benachteiligenden Faktoren zu identifizieren, um
in weiterer Folge gezielte Maßnahmen zur Herstellung der Chancengleichheit
und zur Verbesserung der Unterrichtsqualität entwickeln zu können.

1.2 Differenzierung nach Geschlecht


Im Laufe der letzten 30 Jahre wurde eine Fülle an empirischen Daten zu Ge-
schlechterunterschieden in den Naturwissenschaften erhoben. In den 1970er und
-80er Jahren begann die Diskussion um die Berücksichtigung von Geschlech-
terunterschieden im Physikunterricht. Auslöser waren Studien, welche deutliche
Unterschiede in der Schulleistung in naturwissenschaftlichen Fächern, allen
voran in Physik und Mathematik, zwischen Mädchen und Jungen aufzeigten
(ORMEROD u.a. 1979, SPENDER 1985, ENDERS-DRAGÄSSER/FUCHS 1989). Auf der
Suche nach den dafür verantwortlichen Faktoren verdichteten sich die Hinwei-

140
Ein Beispiel: Physikunterricht

se, dass die Defizite nicht auf Seiten der Mädchen sondern auf Seiten des Phy-
sikunterrichts angesiedelt sind (MUCKENFUSS 1995, HÄUSSLER/HOFFMANN 1995).
Es wurde festgestellt, dass die gewählten Beispiele im Physikunterricht viel
stärker den Lebensbereich und die Interessensgebiete von Jungen widerspie-
geln als jene von Mädchen. Man gelangte zur Erkenntnis, dass der Unterricht
nur dann erfolgreich sein kann, wenn er derart gestaltet wird, dass er für bei-
de Geschlechter verständlich ist und dass auf unterschiedliche Vorerfahrungen
der Geschlechter Rücksicht genommen wird (HERZOG 1996). In der Schwei-
zer Koedukationsstudie (HERZOG/LABUDDE u.a.1997) wurde eine Checkliste
für mädchengerechtes Lehrerverhalten entwickelt. Weitere Studien zeigten: Je
mehr Kriterien eines mädchengerechten Unterrichts erfüllt waren, desto zufrie-
dener waren die Schüler und Schülerinnen mit dem Unterricht. Zudem wurde
beobachtet, dass die Motivation sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen stieg.
(HOFFMANN/HÄUSSLER/LEHRKE 1998, HÄUSSLER/HOFFMANN 1998). Daraus kann
geschlossen werden, dass ein mädchengerechter Unterricht alle Schüler und
Schülerinnen stärker anspricht und somit ,besserer Unterricht‘ ist.

2 Aktuelle Problemfelder des Physikunterrichts

Während es zur Gestaltung von geschlechtergerechtem Physikunterricht bereits


eine Vielzahl an Vorschlägen gibt (HERZOG/LABUDDE U.A. 1997, WODZINSKI 2002),
welche allerdings noch nicht in ausreichendem Maße umgesetzt werden, ist das
Problembewusstsein für einen ,migrantengerechten‘ Physikunterricht erst im
Entstehen. Im Folgenden sollen aktuelle Problemfelder des Physikunterrichts
identifiziert werden, welche Migranten und Migrantinnen den Zugang zu natur-
wissenschaftlicher Bildung erschweren und somit eine neue Herausforderung
für die Gestaltung von Physikunterricht darstellen.

2.1 Problemanalyse
Für die Identifikation der benachteiligenden Faktoren, welche Migrantinnen und
Migranten den Zugang zu naturwissenschaftlicher Bildung erschweren, wird
hier die Methode des Logischen Rahmens zur Problemanalyse und Zielformu-
lierung (AUSTRALIEN GOVERNMENT 2005) verwendet. Ausgehend von einem un-
erwünschten Faktum wird eine hypothetische Ursache formuliert. Daraus wer-
den Folgen abgeleitet, die wiederum Ursachen für weitere Folgen darstellen,
bis schließlich aus diesem logischen Ursachen-Wirkungs-Zusammenhang das
unerwünschte Faktum hervorgeht. In Abbildung 1 ist die Ableitung des nega-

141
Tanja Tajmel

tiven Faktums aus einer hypothetischen Ursache über mehrere Teilursachen dar-
gestellt. Negatives Faktum ist in diesem Fall, dass Migrantinnen und Migranten
schlechtere Leistung in naturwissenschaftlichen Fächern erzielen und in natur-
wissenschaftlichen Berufsfeldern unterrepräsentiert sind. Als hypothetische Ur-
sache wird die mangelnde Berücksichtigung der sprachlichen und kulturellen
Diversität im naturwissenschaftlichen Unterricht angenommen. Auf Basis die-
ser Problemanalyse können drei Bereiche von Barrieren identifiziert werden,
welche Zugang zu Bildung behindern: A) Sprachliche Barrieren, B) kulturelle
Barrieren und C) institutionelle Barrieren. Der hier gewählte defizitorientierte
Ansatz identifiziert nicht Defizite seitens der Migrantinnen und Migranten (wie
etwa mangelhafte Deutschkenntnisse). Wenn in der Problemanalyse von Defizi-
ten und Mängeln die Rede ist, so sind stets Defizite des naturwissenschaftlichen
Unterrichts gemeint.

Negatives Faktum:
Schüler/innen mit Migrationshintergrund zeigen schlechte Leistungen in naturwissenschaft-
lichen Fächern und sind unterrepräsentiert in naturwissenschaftlichen Berufsfeldern.

A B C

Die Vermittlung von Die Vermittlung von


Schüler/innen fühlen sich im Unterricht
Fachinhalten ist nicht Fachinhalten ist nicht
nicht angesprochen.
möglich. möglich.

Mangelnde Identifikationsmöglich- Unsicherheit, Inkom-


Sprachliche
keiten für Schüler/innen nicht deutscher petenz, Misserfolgs-
Verständnisprobleme
Herkunft erlebnis

Mangelnde
Mangelnde Mangelnde
Berücksichtigung
Berücksichtigung Präsenz diverser Mangelnde Ausbildung
geschlechts-
des Sprachstands der Kulturen im der Lehrer/innen
spezifischer
Schüler/innen Unterricht
Unterschiede

Hypothetische Ursache:
Die sprachliche und kulturelle Diversität der Schüler/innen wird
im naturwissenschaftlichen Unterricht nicht berücksichtigt.
Abbildung 1

142
Ein Beispiel: Physikunterricht

A) Sprachliche Barrieren
Schülerinnen und Schüler nicht deutscher Herkunftssprache sind im deutschen
Unterricht prinzipiell dadurch benachteiligt, dass sie in einer Sprache kommuni-
zieren müssen, welche nicht ihre erste bzw. beste Sprache ist. Schülerinnen und
Schüler deutscher Herkunftssprache sind hier im Vorteil. Der Sprachstand der
Schülerinnen und Schüler wird im naturwissenschaftlichen Unterricht bis dato
nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. Es muss daher davon ausgegangen
werden, dass nicht in ausreichendem Maße dafür Sorge getragen wird, dass die
Schülerinnen und Schüler den Unterricht sprachlich verstehen.

KASTEN 2 f Gedankenexperiment

Versetzen Sie sich bitte in eine Standardsituation des Unterrichts, der Vorfüh-
rung eines Demonstrationsexperiments zum Auftrieb. Ein Stein hängt an einem
Federkraftmesser. Nun wird der Stein in Wasser getaucht. Was passiert? Bitte
versetzen Sie sich in die Rolle einer Schülerin oder eines Schülers. Sie werden
aufgefordert, Ihre Beobachtung so detailliert wie möglich den anderen mitzutei-
len - jedoch nicht in Ihrer besten, sondern in Ihrer zweitbesten Sprache. Wären
Sie in einer Prüfungssituation und könnten die Sprache wählen, dann würden Sie
vermutlich Ihre beste Sprache wählen, weil Sie sich darin am sichersten fühlten.
Hätten Sie diese Wahlmöglichkeit nicht, würden Sie vermutlich dankbar für
kleine Hilfestellungen, z.B. in Form von Vokabeln sein. Ihre Aufmerksamkeit
könnte dann in viel stärkerem Ausmaß der Beobachtung gelten und würde nicht
vordergründig davon beansprucht, die richtigen Worte zu finden. Vermutlich
wären Sie der Meinung, dass all jene, deren Erstsprache die Unterrichtssprache
ist, gegenüber Ihnen im Vorteil wären, weil sie präziser und schneller antworten
könnten. Der Rückschluss, dass all jene, die sich schneller melden, auch schnel-
ler den Inhalt begriffen hätten, und daher besser in Physik seien, würde Ihnen
ungerecht und unrichtig erscheinen. Denn Sie müssten in einer Fremdsprache
antworten und hätten daher schlechtere Ausgangsbedingungen.

B) Kulturelle Barrieren
Der Unterricht an deutschen Schulen ist monokulturell und monolingual aus-
gerichtet (vgl. GOGOLIN 1994). Dies zeigt sich in der kulturellen Herkunft der
Lehrerinnen und Lehrer ebenso wie bei der Darstellung von fachlichen Inhal-
ten in Schulbüchern. Auch die Darstellung von Personen und von Artefakten
in Schulbüchern oder Textaufgaben spiegelt nicht die kulturelle Diversität der
Gesellschaft wider. Bewusstseinsbildung und Bereitschaft zur Veränderung ist
in diesem Bereich besonders schwierig, da die verbreitete Annahme besteht,
Naturwissenschaften seien objektiv und wertneutral. Studien zeigen, dass Na-

143
Tanja Tajmel

turwissenschaft und insbesondere Physik nicht nur als ,männlich‘, sondern auch
als ,westlich-weiß‘ konnotiert sind. (vgl. AIKENHEAD/JEGEDE 1999). Die Vermu-
tung liegt nahe, dass ähnliche Unterrichtsdefizite – wie aus der Geschlechter-
forschung bekannt – für die schlechteren Leistungen von Migranten und Mig-
rantinnen verantwortlich sind: Mangelnde Identifikationsmöglichkeiten sowie
mangelnde Anknüpfung an Lebensbereiche und Interessensgebiete. Kulturelle
Barrieren sind hier – ebenso wie Sprachbarrieren – also nicht als Defizite seitens
der Migrantinnen und Migranten zu verstehen, sondern als Defizite des Unter-
richts in Form von mangelnder Differenzierung und mangelhafter Berücksichti-
gung der Lebensbereiche von Migranten und Migrantinnen.

C) Institutionelle Barrieren
Als institutionelle Barrieren werden Hindernisse verstanden, welche im Schul-
system und in der Bildungspolitik begründet liegen. Hierzu zählt, dass Lehre-
rinnen und Lehrer für die neuen Anforderungen, welche eine sprachlich und
kulturell heterogene Gesellschaft mit sich bringt, nicht entsprechend ausgebildet
werden. Die mangelhafte Berücksichtigung der Diversität von Schülerinnen und
Schülern in der Lehrerausbildung führt etwa dazu, dass die Lehrerinnen und
Lehrer weder über die notwendigen Kompetenzen verfügen noch es als ihre
Aufgabe wahrnehmen, Sprachförderung in den Fachunterricht zu integrieren.
Weitere institutionelle Barrieren finden sich in Lehrplänen und in der Festlegung
der Klassengröße, also in Bereichen, auf welche die einzelne Lehrkraft keinen
Einfluss hat.

2.2 Zielformulierungen
Als Lösungsansatz für die Überwindung der aus der Problemanalyse resultie-
renden drei Barrierenbereiche werden, mit der hypothetischen Ursache begin-
nend, alle Aussagen sukzessive in das positive Gegenteil umformuliert. Das
Ergebnis sind die Maßnahmen, aus denen wiederum erwünschte Wirkungen fol-
gen, welche letztlich zum erwünschten Ziel führen. In Abbildung 2 sind die Um-
kehrungen der negativen Aussagen aus Abbildung 1 in ihr positives Gegenteil
dargestellt; die notwendigen Maßnahmen sind durch den dunkleren Kasten her-
vorgehoben. Es sind dies: (i) Sprachförderung im naturwissenschaftlichen Un-
terricht, (ii) Einbeziehung der Kulturen und Lebensbereiche aller Schülerinnen
und Schüler, (iii) Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede, und
(iv) entsprechende Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte.

144
Ein Beispiel: Physikunterricht

Ziel:
Schüler/innen mit Migrationshintergrund zeigen gute Leistungen in
naturwissenschaftlichen Fächern und wählen naturwissenschaftliche Berufe.

A B C

Fachinhalte werden Steigerung der Motivation und des Beachtung aller


vermittelt und Interesses am naturwissenschaftlichen Schüler/innen
diskutiert. Unterricht. gleichermaßen

Die Schüler/innen Lehrkompetenz,


Schüler/innen identifizieren sich mit dem
partizipieren an der positives Selbstwirk-
Unterricht.
Kommunikation. samkeitsgefühl

Einbeziehung der Berücksichtigung Ausbildung der


Sprachförderung im
Kulturen und geschlechts- Lehrkräfte für
naturwissenschaft-
Lebensbereiche spezifischer sprachfördernden
lichen Unterricht
aller Schüler/innen Unterschiede Unterricht

Lösungsansatz:
Die sprachliche und kulturelle Diversität der Schüler/innen wird im
naturwissenschaftlichen Unterricht berücksichtigt.

Abbildung 2

3 Lösungsansätze am Beispiel des Projekts PROMISE


Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene wurden in den letzten
Jahren Projekte ins Leben gerufen, deren Ziel es ist, Migranten und Migran-
tinnen zu fördern. Eines dieser Projekte soll hier exemplarisch vorgestellt wer-
den.
Im Projekt PROMISE – Promotion of Migrants in Science Education (TAJ-
MEL/STARL 2005) – kooperierten erstmals Lehrerinnen und Lehrer und Wissen-
schaftler/innen aus Deutschland, der Türkei, Österreich und Bosnien-Herzegowi-
na, um Vorschläge für Physikunterricht, Lehrerausbildung und Bildungspolitik

145
Tanja Tajmel

zu erarbeiten (TAJMEL/STARL 2009). Die Wissenschaftler/innen stammten aus


den Bereichen Physikdidaktik, Sprachdidaktik, Erziehungswissenschaften und
Sozialwissenschaften. Wesentliche Merkmale des Projekts waren die interdis-
ziplinäre Zusammenarbeit sowie die fachliche Einbindung der Migrations-Her-
kunftsländer Türkei und Bosnien-Herzegowina.

3.1 Förderung von Mädchen mit Migrationshintergrund


Eine besondere Maßnahme wurde zur Förderung von Mädchen mit Migrations-
hintergrund gesetzt, da diese in den Naturwissenschaften, speziell in Physik, am
stärksten unterrepräsentiert sind. In allen Partnerländern wurden so genannte
Clubs Lise (benannt nach Lise Meitner) gegründet. Im Rahmen des Club Lise
trafen sich naturwissenschaftlich interessierte Migrantinnen der 10.-13. Klasse
und wurden von Studentinnen und Doktorandinnen betreut. Der Club Lise hat das
konkrete Ziel, die Anzahl an Migrantinnen, welche ein naturwissenschaftliches
Studium belegen oder einen naturwissenschaftlich-technischen Beruf wählen,
zu erhöhen. Einerseits sollen dadurch positive Rollenbilder von bildungser-
folgreichen Migrantinnen geschaffen werden und andererseits Schülerinnen in
der Übergangsphase Schule-Universität bei der Realisierung ihrer persönlichen
Studieninteressen individuell unterstützt werden. Jährlich fanden internationale
Treffen aller Clubs Lise statt. Hier hatten die Schülerinnen Gelegenheit, inter-
kulturelle und internationale Kontakte mit gleichermaßen naturwissenschaftlich
interessierten Mädchen zu knüpfen und somit bereits auf voruniversitärer Ebe-
ne naturwissenschaftliche Interessensnetzwerke zu bilden, die auf universitärer
Ebene in den einzelnen Fachbereichen zum wissenschaftlichen Alltag gehören.

3.2 Interdisziplinäre Lehrerteamarbeit


Als indirekte Fördermaßnahme wurde in jedem Partnerland ein so genanntes
PROMISE-Team, bestehend aus Lehrer/innen und Fachdidaktiker/innen, ge-
gründet. Die Teams nahmen in ihren Ländern Unterrichtsanalyen vor, dokumen-
tierten aktuelle Probleme und entwickelten konkrete Lösungsansätze. Das PRO-
MISE-Team der Humboldt-Universität zu Berlin widmet sich der Entwicklung
von sprachlernfördernden Unterrichtseinheiten für die Sekundarstufe 1. Die
Ziele der Unterrichtsentwicklung wurden auf Basis einer differenzierten Analy-
se der gesamten Situation von Schulen mit hohem Migrantenanteil definiert. Zu
den berücksichtigten Faktoren zählen (i) die Dringlichkeit zur Ergreifung von
Maßnahmen, (ii) die Bereitschaft der Lehrerinnen und Lehrer zur Veränderung
ihres Unterrichts und (iii) die Ausstattung der Schule. Lehrerinnen und Lehrer,
welche sich am Thema interessiert zeigten und für die Arbeit im PROMISE-

146
Ein Beispiel: Physikunterricht

Team gewonnen werden konnten, wurden zu den genannten Faktoren befragt


und gebeten, diese zu bewerten. Die Dringlichkeit der Maßnahmen wurde ein-
stimmig als sehr hoch eingestuft. Auf die Frage der Bereitschaft, den eigenen
Unterricht zu verändern, neues Unterrichtsmaterial zu verwenden bzw. eine ent-
sprechende Fortbildungsveranstaltung zu besuchen, gaben die Lehrerinnen und
Lehrer mehrheitlich an, dass sie wenig Zeit hätten, sich mit neuem Unterricht zu
beschäftigen, da sie ohnehin durch die Unterrichtssituation stark belastet wären.
Zur Ausstattung der Schule gaben die befragten Lehrerinnen und Lehrer an, dass
Schulen mit hohem Migrantenanteil nicht ihrer besonderen Situation entspre-
chend ausgestattet sind.
Diese Situationsanalyse war grundlegend für die Definition der Kriterien,
welchen der PROMISE-Unterricht genügen sollte: (i) Die Berücksichtigung
der Diversität durch Sprach-, Kultur- und Geschlechtssensibilität als durchgän-
giges Prinzip, um der Chancenungleichheit zu begegnen. (ii) Die vollständi-
ge Ausarbeitung von einzelnen Unterrichtsmodulen zu einem Themenbereich,
welche sowohl als Ergänzung zum Unterricht eingesetzt werden können, als
auch in Summe einen vollständigen Unterricht darstellen und ersetzen können
(TAJMEL et al. 2009). Somit bleibt der Lehrkraft die höchstmögliche Flexibilität.
Die Mehrbelastung ist durch die vollständige Ausarbeitung gering. (iii) Die in
den Modulen beinhalteten Experimente sind dem Low-cost Bereich zuzurech-
nen, wodurch auch schlecht ausgestattete Schulen den Unterricht durchführen
können. All jene Faktoren, die eine Lehrerin oder einen Lehrer daran hindern,
einen neuen Unterricht durchzuführen, wie der erhöhte Zeitaufwand einer neu-
en Vorbereitung, mangelndes Experimentiermaterial oder unpassendes Niveau,
wurden somit minimiert, um so schnell wie möglich der problematischen Aus-
gangssituation zu begegnen.

4 Sprachförderung im Physikunterricht
Im Folgenden werden Möglichkeiten präsentiert, wie Sprachförderung in den
Physikunterricht integriert werden kann. Dabei wird das Konzept Language
across the curriculum (LAC) verfolgt, wonach jede Form von Unterricht auch
als Sprachunterricht zu verstehen ist (vgl. ACT DEPT FOR EDUCATION AND TRAINING
1997). In ähnlicher Weise werden bereits seit Jahren im bilingualen Unterricht
und im Unterricht zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ) bzw. Deutsch als Fremd-
sprache (DaF) Fach- und Sprachlernen miteinander verwoben. Im Englischen
wird dieser Ansatz als Content and language integrated learning (CLIL) be-
zeichnet (MOHAN 1986, GIBBONS 1993). Im Gegensatz zum reinen Sprachunter-

147
Tanja Tajmel

richt wird dabei ein funktionaler Sprachansatz verfolgt, wonach nicht die gram-
matikalische Richtigkeit im Vordergrund steht, sondern die Kommunikation der
Inhalte (MOHAN 1986). Sprachfördernde Modifikationen sind beispielsweise
Textvereinfachungen, die Verwendung kürzerer Sätze und die Angabe von Vo-
kabeln.

4.1 Sprachstand
Um gezielte Sprachförderung im Unterricht planen zu können, müssen die be-
reits bestehenden sprachlichen Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler be-
kannt sein. Neben den standardisierten Sprachstandstests kann jede Lehrerin
und jeder Lehrer zum aktuellen Unterrichtthema passende kleinere Sprachtests
selbst durchführen. Beispielsweise kann abgefragt werden, ob ausgewählte Be-
griffe, welche im Kontext eines bestimmten Unterrichtsthemas vorkommen, be-
kannt sind oder nicht. Dabei geht es nicht um Fachtermini, die erst durch den
Unterricht eingeführt werden, sondern um alltägliche Begriffe. Auf diese Weise
kann bereits ein erstes Bild gewonnen werden, ob Begriffe, welche für den Leh-
rer oder die Lehrerin zum Alltagswortschatz gehören, auch im Wortschatz der
Schülerinnen und Schüler vorkommen. Die im Folgenden angeführten Beispiele
entstammen einer explorativen Untersuchung, welche im Juli 2007 an zwei
Schulen in Berlin in zwei siebten und zwei achten Klassen durchgeführt wurde.
Eine der beiden Schulen ist eine Haupt- und Realschule in Berlin-Kreuzberg
mit 100% Schülerinnen und Schülern nicht deutschsprachiger Herkunft. In Ab-
bildung 3 ist das Ergebnis der Befragung in zwei achten Klassen dieser Schule
dargestellt. Die Schülerinnen und Schüler sollten angeben, ob sie glauben, dass
die genannten Gegenstände schwimmen oder sinken oder ob sie den Gegenstand
nicht kennen. Etwa ein Sechstel der Schülerinnen und Schüler wusste nicht, was
ein Korken ist. Die Balken in Abb. 3 geben den Prozentanteil jener SchülerInnen
an, die den Begriff nicht kannten. Der Lehrer oder die Lehrerin kann auf Basis
dieser kurzen Umfrage bereits gezielt auf einige zentrale und im Unterrichtskon-
text stehende Begriffe näher eingehen. Die Umfrage kann wahlweise dadurch
erweitert werden, dass die Schülerinnen und Schüler aufgefordert werden anzu-
geben, was sie hinter dem jeweiligen Begriff vermuten. Auf diese Weise können
Fehlvorstellungen festgestellt und gezielt angesprochen werden. Ein Beispiel
hierfür aus derselben Umfrage: Auf die Frage, ob der Begriff Volumen schon
einmal gehört worden wäre, und ob man wisse, was dieser bedeute, antworteten
einige Schülerinnen und Schüler, Volumen hinge mit ‚Lauter Drehen der Musik’
zusammen. Eine andere Schülerin meinte: „Volumen ist das bei den Haaren“.

148
Ein Beispiel: Physikunterricht

Abbildung 3

Neben der Evaluation der Bekanntheit von Begriffen kann die Fähigkeit zur
Formulierung von Begründungen und Argumenten getestet werden. Das Ver-
ständnis von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen ist grundlegend für den phy-
sikalischen Erkenntnisgewinn. Entsprechend sollen die Schülerinnen und Schü-
ler explizit darin geschult werden, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge korrekt
auszudrücken. Als Test dieser Ausdrucksfähigkeit können Fragen folgender Art
gestellt werden: „Schwimmt eine Metallplatte oder geht sie unter? Kreuze an
und begründe deine Entscheidung!“ Diese Frage wurde der untersuchten Klasse
mit dem Bild einer Metallplatte vorgelegt, bevor der Begriff Dichte durchge-
nommen wurde. Eine Schülerin der achten Klasse schrieb als Antwort: Eine
Metallplatte geht unter, weil … „der platte aus Metall entschteht und der Metall
ist immer schwer egal ob es leicht oder schwer ist wen es ein Metall ist dan geht
es unter!“ Die Schülerin versteht, dass es vom Stoff eines Körpers abhängt, ob er
schwimmt oder nicht. Dies ist eine sehr gute Voraussetzung für die Bearbeitung
des Themas Dichte. Die Antwort ist also fachlich ihrem Wissensstand entspre-
chend korrekt, bildungssprachlich jedoch nicht. Die Schülerin hat Probleme,

149
Tanja Tajmel

die korrekten Artikel zu wählen. Zudem kann sie nicht korrekt ausdrücken, dass
Metall - unabhängig von der Größe des Körpers - immer untergeht. Hier könnte
die Lehrkraft gezielt im Unterricht nachfragen, was die Schülerin meint, wenn
sie sagt: „Metall ist schwer, egal ob es leicht oder schwer ist.“ Es könnte ge-
meinsam nach einer bildungssprachlich korrekten Formulierung gesucht wer-
den, die dann als Erkenntnis und Lernziel festgehalten wird. Den Schülerinnen
und Schülern soll nicht nur vermittelt werden, dass sie einen Lernerfolg erzielt
haben, wenn sie zu physikalisch richtigen Ergebnissen gelangen, sondern zu-
sätzlich, wenn sie sprachlich richtige Formulierungen dafür finden.

4.2 Unterrichtsplanung
Damit Sprache und Sprachförderung ein inhärenter Teil des naturwissenschaft-
lichen Unterrichts werden, muss Sprache bereits in der Unterrichtsplanung mit
berücksichtigt werden. Im Folgenden wird die deutsche Adaption eines Pla-
nungsrahmens vorgestellt, welcher von Pauline GIBBONS entwickelt und bereits
in englischsprachigen Schulen erfolgreich eingesetzt wurde (SOMANI/MOBBS
1997). Der Planungsrahmen stellt auf sehr übersichtliche und gut nachvoll-
ziehbare Art und Weise dar, wie Sprache in die fachliche Unterrichtsplanung
integriert werden kann. Ein weiteres positives Merkmal des Planungsrahmens
ist, dass er auch von Laien der Sprachdidaktik ohne größere Schwierigkeiten
verwendet werden kann. Dies ist hier insofern von Bedeutung, als Lehrerinnen
und Lehrer naturwissenschaftlicher Fächer in den meisten Fällen nicht Sprache
als Zweitfach unterrichten und daher selten über eine Ausbildung in Sprachen-
didaktik verfügen.
Der Planungsrahmen besteht aus den fünf Bereichen Thema, Aktivitäten,
Sprachfunktionen, Sprachstrukturen und Vokabular. Geplant wird nach den fol-
genden Leitfragen:

• Welches Thema wird behandelt?


• Welche Aktivitäten sollen die Schülerinnen und Schüler zeigen?
• Welche Sprachfunktionen erfordern diese Aktivitäten?
• Welche Sprachstrukturen sind dafür notwendig?
• Welches Vokabular wird für den gewählten Themenbereich benötigt?

Als Beispiel ist in Abbildung 4 der Planungsrahmen für die Unterrichtseinheit


zum Thema ,Volumen von Körpern‘ dargestellt.

150
Ein Beispiel: Physikunterricht

Thema Aktivitäten Sprachfunk- Sprach- Vokabular


tionen strukturen
Volumen Befüllen der Berichten Ich lese den Das Volumen
eines Körpers Messgeräte Messwert ab.
Vergleichen der Messwert, -e
Beobachten Der Messwert 1
Erklären ist kleiner als schätzen,
Abschätzen der Messwert 2. ich schätze,
Ergebnisse schätzte,
Ablesen formulieren Das Volumen hat geschätzt
beträgt 50 ml.
Subtrahieren ablesen,
Ich schätze das ich lese ab,
Volumen des las ab,
Körpers auf hat abgelesen
100 cm3.
betragen, der
Messwert
beträgt, betrug,
hat betragen

Dieses ... beinhaltet Diese Akti- ... nach dieser .... unter
Thema diese vitäten ver- Struktur ... Verwendung
Aktivitäten langen diese dieses
Sprachfunk- Vokabulars
tionen ...
Abbildung 4

4.3 Unterrichtsmaterialien
Entsprechend der Einbeziehung von Sprache in die Unterrichtsplanung finden
sich explizit ausgewiesene Elemente des Sprachlernens auch in den Unterrichts-
materialien wieder. Als Unterrichtsmaterialien sollen hier Arbeitsblätter, Unter-
richtstexte, Experimentieranleitungen, Versuchsbeschreibungen, Schulbücher
und auch Tafelbilder verstanden werden. Leider kann (noch) nicht davon aus-
gegangen werden, dass deutsche Physikschulbücher sprachlernfördernde Ele-
mente beinhalten bzw. solche explizit ausweisen. Es ist jedoch für den Lehrer
oder die Lehrerin bis zu einem gewissen Grad möglich, diese fehlenden Ele-
mente in die Schulbucharbeit mit einzubringen. Eine mögliche Gestaltung eines
sprachlernfördernden Arbeitsblattes ist in Abbildung 5 dargestellt: Der Sprache

151
Tanja Tajmel

steht eine eigene Spalte zur Verfügung (TAJMEL et al. 2009). Die Elemente zu
Sprachfunktion, Sprachstruktur und Vokabular aus dem Planungsrahmen finden
sich hier wieder. Die Schülerinnen und Schüler sollen lernen, wie man richtig
von Volumen spricht. Die Antworten sind als Lückentexte vorgegeben, wobei
sich die Lücken von Beispiel zu Beispiel vergrößern und die sprachstrukturelle
Hilfestellung damit abnimmt. Das Arbeitsblatt soll den Schülerinnen und Schü-
lern deutlich machen, dass sie Sprache lernen und dass die sprachlich korrekte
Antwort ein Lernziel darstellt.

Physik Sprache
Schätze wie groß das Volumen der die Schätzung, -en
abgebildeten Gegenstände ist. Gib schätzen, ich schätze/schätzte/hat
deine Schätzung in Milliliter (ml) und geschätzt
Kubikzentimeter (cm3) an. Das Volumen beträgt
(Das Volumen ist …)
Der Körper hat ein Volumen von ….
Ein ml ist ein cm3.
Zwei ml sind zwei cm3.
Antwort:
Das Teeglas hat ein Volumen von
ungefähr _________ ml.
Man kann auch sagen:
Das Volumen des Teeglases __________
das Teeglas __________ cm3.

Das Volumen der Parfümflasche


____________ ________ ml.
Die Parfümflasche _______ ein Volumen
_____ ________ cm3.
die Parfümflasche

Das Volumen der Wasserflasche …


_______________________________
_______________________________
Das Glas ...
_______________________________
die Wasserflasche _______________________________
das Glas
Abbildung 5
Demonstrationsexperimente oder die Vorstellung von Experimentiergegenstän-
den können sprachfördernd begleitet werden, indem die einzelnen Teile des Ex-
152
Ein Beispiel: Physikunterricht

periments auf einem eigenen Arbeitsblatt beschriftet werden. Zusätzlich kann


Vokabular angegeben werden, das die Schülerinnen und Schüler verwenden sol-
len, wenn sie ihre Beobachtung beschreiben.

5 Zusammenfassung

Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund treffen im deutschen Phy-


sikunterricht auf unterschiedliche Barrieren, welche diesen den Zugang zu Bil-
dung erschweren und diese somit mit schlechteren Bildungschancen konfrontie-
ren. Dies sind im Wesentlichen sprachliche Barrieren, kulturelle Barrieren und
institutionelle Barrieren. Ein möglicher Ansatz zur Überwindung der Barrieren
ist die Ergreifung von Differenzierungsmaßnahmen im Physikunterricht durch
den Lehrer oder die Lehrerin. Dazu zählen etwa die geschlechtsgerechte An-
knüpfung des Unterrichts an die unterschiedlichen Lebensbereiche von Schülern
und Schülerinnen unterschiedlicher kultureller Herkunft sowie die Einbindung
von Sprachlernmethoden in den Fachunterricht.

Fragen und Denkanstöße


1. Erläutern Sie den Begriff ,Chancengleichheit‘ in Hinblick auf naturwissen-
schaftliche Bildung.
2. Erproben Sie an einem Beispiel aus Ihrem eigenen Unterrichtsfach die Pla-
nung von sprachlernförderndem Unterricht nach dem Planungsrahmen von
Pauline GIBBONS.
3. Diskutieren Sie die Frage, ob unterschiedliche Klausuraufgaben für Schüle-
rinnen und Schüler deutscher und nicht-deutscher Herkunftssprache zulässig
sind!

Literaturempfehlungen
AHRENHOLZ, B. (2009): Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache: Tübingen
Dieses Buch stellt eine Sammlung an Aufsätzen zum Thema Sprache und Fach-
unterricht aus der Perspektive der jeweiligen Fächer dar. Dabei werden Mathe-
matik-, Physik- und Biologieunterricht ebenso betrachtet wie Literaturunterricht,
Englischunterricht und bilingualer Sachfachunterricht. Es geht um Schreiben
und Textkompetenz, CLIL (content and language integrated learning) und DaZ
(Deutsch als Zweitsprache), Sprachdiagnose und Sprachförderung.

153
Tanja Tajmel

GIBBONS, P. (2002): Scaffolding Language, Scaffolding Learning. Teaching


Second Language Learners in the Mainstream Classroom. Portsmouth
Pauline GIBBONS ist Associate Professor an der University of Technology in
Sidney, Australien. Zu ihren Foschungsschwerpunkten zählen sprachliche
Diskurse im Fachunterricht. Das Buch bietet eine detaillierte Darstellung von
sprachlernförderndem Lehrverhalten in Unterrichtsdiskursen sowie Anregungen
zur sprachsensiblen Unterrichtsplanung.

LABUDDE, P. Hrsg. (1996): Naturwissenschaften im Unterricht – Physik, Heft 49


„Mädchen, Jungen im Physikunterricht“. Seelze
Das von Peter LABUDDE herausgegebene Heft zeigt Aspekte von geschlechterge-
rechtem Unterricht auf und beinhaltet Anregungen und didaktische Vorschläge
zur Realisierung.

Literaturverzeichnis

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for understanding across the curriculum. Strategies Handbook. http://www.det.act.
gov.au/schools/pdf/LUAChandbook.pdf
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Enders-Dragässer, U./Fuchs, C. (1989): Interaktionen der Geschlechter. Weinheim
EUMC (2004): The European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia: Migrants,
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Jungen orientiert. Unterrichtswissenschaft, 23, S. 107-126
Häußler, P./Hoffmann, K. (1998): Chancengleichheit für Mädchen im Physikunterricht
– Ergebnisse eines erweiterten BLK Modellversuch. Zeitschrift für Didaktik der
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155
Kapitel 8

Sabine Mannitz

Politische Sozialisation im Unterricht:


ein europäischer Vergleich

1 Die Herausforderung der migrationsbedingten


Heterogenität für politische Bildung in der Schule

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr zu übersehen, dass die in vorhe-
rigen Jahrzehnten gewohnten, vielfach für selbstverständlich gehaltenen Rah-
menbedingungen, Voraussetzungen und Zielvorstellungen politischer Bildungs-
arbeit einen grundlegenden Wandel erfahren haben. Der pädagogische Impetus
der politischen Bildung in der modernen Demokratie gilt der Entwicklung eines
Bürgerverständnisses der gemeinsamen Verantwortung. So einfach und ein-
leuchtend dieser Zusammenhang klingen mag, ist er doch voraussetzungsvoll:
Die mündigen Bürgerinnen und Bürger sollen in der Lage sein, die Angelegen-
heiten ihres Gemeinwesens im kollektiven Interesse zu regeln. Wie das Credo
der Aufklärung es pointiert, sollen sie den Mut haben, sich auch in politischen
Belangen ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Dazu braucht es Wissen über
die demokratische Herrschaftsform, politische Urteilsfähigkeit, das Bewusst-
sein der eigenen Interessen und die Kenntnis der Mittel, mit denen diese verfolgt
werden können, nicht zuletzt aber auch das Wissen um die Grenzverläufe von
partikularen zu kollektiven Interessen, von legitimen zu illegitimen Mitteln der
Einflussnahme.
Politische Bildung beinhaltet neben Zielen, die sich auf eine Stabilisierung
des Gemeinwesens richten, auch die emanzipativen Kompetenzen zum selbst-
gesteuerten Lernen. Das schnelle Veralten einmal erworbener Wissensbestände
und die digital verfügbaren Informationen aus aller Welt forcieren in den spät-
modernen Gesellschaften ein Bildungskonzept, das die Einzelnen zu Eigeniniti-
ative und Partizipation qualifizieren will, indem es Medienkompetenz und ganz
allgemein die individuelle biographische „Gestaltungskompetenz“ ins Zentrum
rückt (vgl. DE HAAN 2004, S. 41). Dem entspricht, dass von der einstigen Be-

157
Sabine Mannitz

lehrungskultur der Wissensvermittlung mehr und mehr abgerückt wurde: In der


Bundesrepublik Deutschland bildete sich im Zuge der Akademisierung der Leh-
rerausbildung sowie der Bildungsreformen in den 1960er und -70er Jahren ein
didaktischer Konsens zur politischen Bildung in der Schule aus, der sich insbe-
sondere in der Sekundarstufe 2 an wissenschaftlichen Qualitätskriterien orien-
tierte (vgl. SANDER 2002). Die seither gültige Politikdidaktik läuft darauf hinaus,
dass Heranwachsende zwar mit politisch kontroversen Positionen vertraut ge-
macht werden und auch im Klassenzimmer Kontroversen zugelassen werden
sollten, die Schülerinnen und Schüler aber in ihrer Meinungsbildung nicht ma-
nipuliert werden dürfen. Trotz dieser allgemeinen Verpflichtung auf eine gesin-
nungsneutrale Unterrichtung zur demokratischen Teilhabe umfasst schulische
politische Bildung mehr als die Instruktion über den Aufbau von Staat und Ge-
sellschaft, ist das Ziel doch die Ausbildung der Einzelnen zu Mündigkeit und
Kritikfähigkeit in der pluralistischen Demokratie. Als Fach, das jungen Leu-
ten Orientierung und handlungsrelevante Werte mit auf den Weg geben soll, ist
politische Bildung durch gesellschaftlichen Wandel inhaltlich und methodisch
grundsätzlich herausgefordert.
Neben das Problem, die Ziele und Inhalte schulischer Bildung im Zeital-
ter von Globalisierung und digitaler Informationsgesellschaft neu gewichten zu
müssen, tritt heute die Herausforderung, eine sehr viel heterogenere Schüler-
schaft auf das politische Leben vorbereiten zu müssen, als es noch vor wenigen
Jahrzehnten der Fall war. Schulische politische Bildung hatte traditionell stets
die Bürgerschaft des Nationalstaats als Zielgruppe im Visier und wollte mit den
Spielregeln des konkreten, nationalstaatlich organisierten politischen Gefüges
vertraut machen. Dabei wurde zugleich die Nation als eine Art natürliche Ge-
meinschaft betrachtet, in der historische, sprachliche und kulturelle Traditionen
die kollektive Identität eines „Wir“ stiften (vgl. ANDERSON 1991). Dieses Kon-
zept von Staat und Nation wird durch neuere Prozesse der Transnationalisie-
rung, z.B. in Gestalt der Europäisierung von politischen Entscheidungsgremien,
und der wirtschaftlichen Globalisierung sowohl ‚von außen‘ als auch durch die
gewachsene Diversität der Bevölkerungen ‚von innen‘ relativiert.
Im Kontext der genannten Dynamik ist die Einwanderung zwar nur ein Fak-
tor unter vielen. In der Wirkung auf die vorgestellte quasi-natürliche Gemein-
schaft der Nation ist sie aber besonders prägnant: Die gestiegene internatio-
nale Mobilität und freiwillige wie erzwungene Wanderungsprozesse haben die
europäischen Gesellschaften in Herkunft, Nationalität und Religion ihrer Mit-
glieder stärker diversifiziert. Damit erweisen sich „Wir-Imaginationen“, die das
Bild einer mehrheitlich homogenen Bürgerschaft zur Normalität erklären (vgl.
MECHERIL 2007, S. 4; SENGHAAS 2002), als unangemessen für die Beschreibung
der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Auch die Rahmenumstände der politischen

158
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften

Bildung in den Schulen sind damit komplexer geworden: Die soziale Differen-
zierung ist insgesamt weit fortgeschritten. In den individualisierungsbetonten
Gesellschaften der Gegenwart haben sich die sozial akzeptierten Formen der
Lebensführung so vervielfacht, dass „jede Kultur in sich selbst ‚multikultu-
rell‘ ist“, wie Jean-Luc NANCY zugespitzt hat (1993, S. 6). Hinzu kommt, dass
eine Reihe von politischen Beteiligungsmöglichkeiten auch unabhängig vom
formellen Status der nationalen Staatsangehörigkeit bestehen, also auch von
Ausländerinnen und Ausländern in Anspruch genommen werden können. (vgl.
SOYSAL 1994).
Kurz, die Schwierigkeit schulischer politischer Bildung lautet gegenwärtig,
die bestehenden Werte und Normen des politischen Systems zu repräsentieren,
ohne es beliebig erscheinen zu lassen, und zugleich die gewachsene Unüber-
sichtlichkeit der Grenzen von Staaten und Zugehörigkeiten in Europa zu be-
rücksichtigen, die eine Grundbedingung des sozialen und politischen Handelns
geworden ist.

2 Der Umgang mit migrationsbedingtem Wandel in


nationalen Lernkulturen der politischen Bildung

Für die Konzeption von normativen Bildungszielen werfen die gesellschaft-


lichen Folgen von Einwanderung eine Reihe an Fragen auf: Wer sind ‚Wir‘,
und wer sind noch ‚die Anderen‘ angesichts von vielfältigen, quer zur Staats-
angehörigkeit liegenden und überdies widersprüchlichen Gemeinsamkeiten und
Bindungen? Was zeichnet ‚das Eigene‘ aus, wenn weder Klassenlage noch Na-
tionalität oder andere Großkollektive mehr zur umstandslosen Ableitung einer
kollektiven Identifikation taugen? Ehemals ‚Fremdes‘ ist auf vielfache Weise
ein Teil des ‚Eigenen‘ geworden, durch die Ansiedlung ehemaliger Auslände-
rinnen und Ausländer und die Auswanderung ehemals Einheimischer, durch den
internationalen Tourismus, die globale Popkultur, die politische Europäisierung,
die ökonomische, mediale und digitale Globalisierung. Dessen ungeachtet ist
Auftrag der schulischen politischen Bildung weiterhin, Heranwachsenden eine
Vorstellung vom Gemeinwesen und seinem politischen Leben zu vermitteln, die
nicht austauschbar ist. Heranwachsende sollen das Land, in dem sie leben, als
‚ihre‘ Solidargemeinschaft betrachten. Nicht zuletzt sollen sie die geltenden so-
zialen und politischen Normen erlernen, um zum Funktionieren des politischen
Systems bewusst und begründet beitragen zu können. Die schulische Aufgabe,
Schülerinnen und Schüler auf ihre Teilhabe am öffentlichen Leben vorzuberei-

159
Sabine Mannitz

ten, umfasst damit notwendigerweise die Unterscheidung von anderen Staaten


und Nationen. Zugleich befinden sich die Nationalstaaten heute in Prozessen
der Entgrenzung, zumal in Europa, wo die Schaffung einer übergeordneten Bür-
gergemeinschaft erklärtes Politikziel ist. Prägende Alltagserfahrungen machen
wir in unseren nach wie vor nationalstaatlich verfassten Gesellschaften; sie sind
jedoch zugleich in einen größer gewordenen Horizont eingebettet. Dem muss
politische Bildung Rechnung tragen (vgl. PINGEL 1995).
Ein weiterer Anpassungsdruck, dem die schulische Konzeption politischer
Bildung sich zu stellen hat, ergibt sich ganz unmittelbar aus der Einwanderung
und betrifft die schulische Integrationsaufgabe: Generell sollen der kommenden
Generation in der Schule die erwünschten Formen der Partizipation nahege-
bracht werden, mit denen sie als Erwachsene möglichst umfassend am zivilge-
sellschaftlichen Austausch, am politischen und ökonomischen Leben teilhaben
können. Diese Funktion der Schule hat mit Blick auf Immigrantinnen und Im-
migranten bzw. ihre Kinder jedoch eine besondere Bedeutung. Einwanderer (der
so genannten ersten Generation) haben in ihren Herkunftsgesellschaften mög-
licherweise andere Vorstellungen davon entwickelt, worauf es im gesellschaft-
lichen und politischen Austausch ankommt, welche Mittel und Wege zur Verfü-
gung stehen und was beim Verfolgen eigener Interessen zu beachten ist: Selbst
wenn die Herkunftsländer ebenfalls Demokratien sind, ob europäische oder au-
ßereuropäische, unterscheiden sich die Strukturen der staatlichen Institutionen
und die politischen Kulturen der Länder. Einige Migrantinnen und Migranten
kommen zudem aus Ländern, die nicht in dem Maße konsolidierte Demokra-
tien sind wie die westeuropäischen Einwanderungsländer. Migrantenfamilien
bringen daher nicht unbedingt das mit, was in Deutschland an Vorwissen zur
schulischen politischen Bildung als selbstverständlich unterstellt wird, sondern
halten teilweise andere Konzepte für maßgeblich (vgl. REITER/WOLF 2007).
Überdies stellen auch die Zielländer der Einwanderung unterschiedliche In-
tegrationsanforderungen. Erlaubt beispielsweise Großbritannien seinen diversen
Bevölkerungsgruppen ein sehr weitgehendes Praktizieren kultureller Eigenarten
auch in öffentlichen Institutionen und Ämtern, sollen Symbole der kulturellen
Herkunft in Frankreich weitestgehend im Privaten bleiben: Ein Polizist mit dem
Turban des Sikh ist in Großbritannien Normalität, in Frankreich wäre das un-
denkbar. Um solche unterschiedlichen Erwartungen und Grenzen dessen zu ver-
mitteln, was als angemessen gilt, gewinnt die Schule als öffentliche Sozialisati-
onsagentur für Kinder und Jugendliche an Bedeutung, deren Eltern in anderen
Kontexten, politischen Kulturen und staatlichen Systemen sozialisiert wurden.
Die spezifischen Erfordernisse hiesiger Verfahren können sie ihren Nachkom-
men nicht vermitteln, wenn sie sie selbst nicht kennen. Kindergarten und Schule
können solche Benachteiligungen wettmachen.

160
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften

Mit dieser Situation wird in den verschiedenen europäischen Einwande-


rungsländern sehr unterschiedlich umgegangen. Obwohl alle westeuropäischen
Länder den Prinzipien von aufgeklärter Demokratie, Marktökonomie und zi-
vilgesellschaftlicher Freiheit verpflichtet sind, unterscheiden sie sich in ihrer
politischen Geschichte, Kultur und konkreten Praxis. Das bedeutet, dass auch
die Kompetenzen, die Gegenstand von politischer Bildung sind, von Land zu
Land variieren (SCHIFFAUER 1993).
Zu der Varianz von schulischen Sozialisationszielen und ihren Wirkungen
auf Heranwachsende migrantischer Herkunft habe ich gemeinsam mit Kolle-
ginnen und Kollegen in einem dreijährigen internationalen Forschungsprojekt
eine komparative Studie erarbeitet. Im Vergleich von vier europäischen Einwan-
derungsländern haben wir die Schule in ihrer alltäglichen Praxis und deren Wir-
kungen auf Schülerinnen und Schüler aus Migrantenfamilien untersucht (siehe
Kasten zu „Staat – Schule – Ethnizität“).

„Staat – Schule – Ethnizität“:


KASTEN 1 f Ein internationales Forschungsprojekt zur politischen
Sozialisation von Immigrantenkindern

In der vergleichenden Untersuchung von vier europäischen Einwanderungs-


ländern wurde die Schule als Institution zur Herstellung der gesellschaftlichen
Integrationsfähigkeit beleuchtet. Unter der Befähigung zur Integration ver-
standen wir die Vermittlung der Kompetenzen, die es zur Partizipation an den
spezifischen Prozeduren von Zivilgesellschaft und Gemeinwesen braucht. Als
Forschungsteam von vier Feldforscher/innen und vier Supervisor/innen haben
meine Kolleg/innen und ich ein Schuljahr lang ethnologische Feldforschungen
an Schulen der Sekundarstufe in Frankreich, England, den Niederlanden und
Deutschland durchgeführt. Aufgrund ihrer multinationalen Schülerschaften
waren die Schulen geeignete Untersuchungsfelder für das Erkenntnisinteres-
se, wie Heranwachsende aus Einwandererfamilien die schulischen Aktivitäten
zur politischen Bildung und Sozialisation erfahren. Dazu wurden eine Reihe an
Untersuchungsmethoden kombiniert: Analysen von Curricula, Inhaltsanalysen
von Schulbüchern, ethnographische Untersuchungen der Unterrichtskulturen,
Diskursanalysen der Unterrichtsgespräche, Experteninterviews usw. Neben der
Erstellung von Profilen zur Beschreibung der jeweiligen Charakteristika für
jede Fallstudie fokussierte eine weitere Untersuchungsebene die Schüler/innen
aus Einwandererfamilien und ihre Reaktionen auf die dargebotene ‚Angebots-
struktur‘ zur sozialen Identifikation und Integration.
Ich habe in Berlin-Neukölln Interviews mit Lehrkräften, Schüler/innen und
Expert/innen aus Bezirk und Schulverwaltung geführt, vor allem aber die

161
Sabine Mannitz

Gruppendiskussionen, Interaktionen und Unterrichtsgespräche vor Ort proto-


kolliert und analysiert. Meine Kolleg/innen waren in Schulen mit vergleichbar
heterogenen Populationen in Rotterdam, der Banlieue von Paris und London tä-
tig. Die Schulkulturen im Umgang mit Diversität und insbesondere die Anspra-
che, die eingewanderte Minderheiten jeweils erfuhren, haben wir systematisch
miteinander verglichen. Das Projekt wurde von der VolkswagenStiftung finan-
ziert, die Gesamtkoordination lag beim Lehrstuhl für Vergleichende Kultur- und
Sozialanthropologie der Europa-Universität Viadrina.
Als Hauptergebnis der Studie lässt sich resümieren, dass Einwandererkinder in
jedem der untersuchten Länder auf eigene Weise als Minderheiten sozialisiert
werden. Auch wenn es (jeweils verschieden gestaltete) Möglichkeiten gibt, sich
im Einwanderungsland politisch einzubringen und auch einbürgern zu lassen,
machen Migrantinnen und Migranten und ihre Kinder soziale und kulturelle
Diskriminierungserfahrungen, die das erklärte Integrationsziel vielfach als
Lippenbekenntnis erscheinen lassen und die Identifikation mit dem Einwande-
rungsland behindern.
Eine ausführliche Darstellung des Projekts und seiner Ergebnisse findet sich in:
SCHIFFAUER/BAUMANN/KASTORYANO/VERTOVEC 2002.

Im Folgenden will ich die verschiedenen Ansätze der im Projekt „Staat – Schu-
le – Ethnizität“ untersuchten vier Fallstudien kurz erläutern. Freilich kann aus
Platzgründen hier nur schlaglichtartig illustriert werden, was die jeweilige Be-
sonderheit ausmacht.

3 Entwürfe von (Staats-)Bürgertugenden in der Schule

An den öffentlichen Schulen jedes Landes werden spezifische Ideale, Stile und
Verfahrensweisen vermittelt, die die heranwachsende Generation zur politischen
Partizipation in der Bürgergesellschaft befähigen soll. Daneben werden die
Spielregeln zum richtigen Verhalten im öffentlichen Leben auf verschiedenen
Ebenen des Schulalltags auch praktisch eingeübt. Das explizite Curriculum
der politischen Bildung – der normative Diskurs in Schulbüchern, Lehrplänen
etc. – macht insofern immer nur einen Teil dessen aus, was Schulen zu wich-
tigen Orten der politischen Sozialisation macht. In den expliziten Curricula und
Schulbüchern für Geschichte und Sozialkunde werden normative Kernaussa-
gen über die „Wir-Imaginationen“ (s.o.; MECHERIL 2007) jedoch am fassbarsten.

162
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften

Zwar repräsentieren Schulbuchtexte lediglich schematische Entwürfe dessen,


was die Schülerinnen und Schüler über die politische Kultur ihres Landes und
ihren eigenen Ort und Beitrag darin lernen sollen. Die teilweise vereinfachenden
Reduktionen komplexer Sachverhalte auf Schulbuchformat beziehen aber ge-
rade aus der Verkürzung eine beachtliche Wirkung darauf, unter welchen Pers-
pektiven Heranwachsende bestimmte Themen wahrnehmen. Dass dies der Fall
ist, ist ein Ergebnis unserer empirischen Vergleichsstudie und wurde auch in an-
deren Arbeiten gezeigt (vgl. HÖHNE 2000: 29; HÖHNE/KUNZ/RADTKE 2000). Die
folgenden Kurzporträts formulieren in ähnlicher Verkürzung die Quintessenz
dessen, was wir in den untersuchten vier Schulen als das jeweils Charakteristi-
sche fanden.

3.1 London: Citizenship als Dienst an der Community


Das Bild der Bürgergesellschaft, das Heranwachsenden in der Londoner Schule
unserer Untersuchung vermittelt wurde, war stark von einem Diskurs über die
Rechte der Bürgerinnen und Bürger und verschiedener Bevölkerungsgruppen
geprägt. Es herrschte eine Atmosphäre der affirmativen Bejahung von Heteroge-
nität: Die Schulleitung legte großen Wert darauf, dass Schülerinnen und Schüler
ein positives Gefühl für die eigene kulturelle Identität entwickelten. Wissen um
die Besonderheiten der eigenen Herkunft und des kollektiven Erbes, das daraus
resultiere und in der Gemeinschaft zu pflegen sei, erfuhren demonstrative An-
erkennung; einerseits als Quelle gesellschaftlichen Reichtums und andererseits
als Quelle individuellen Selbstbewusstseins. Die Berücksichtigung von religiös
oder kulturell begründeten Bedürfnissen, z.B. im Hinblick auf das Schulspei-
sen-Angebot oder die Modifikation der Schuluniform, war eine Selbstverständ-
lichkeit. Auch in Schulbüchern findet sich ausdrücklich der Verweis darauf, dass
Großbritannien multikulturell, multiethnisch und multireligiös sei, und es Rück-
sichtnahme auf spezielle Bedürfnisse bräuchte, um diese Vielfalt produktiv sein
zu lassen.
Es war Routine, dass bei Aufnahme in die Londoner Schule die künftigen
Schülerinnen und Schüler nach ihrer ethnischen, religiösen und sprachlichen
Zugehörigkeit befragt wurden. Die enorme Bandbreite der Sprachen, Religi-
onen und Herkunftskulturen, die sich dabei zeigte, wurde in der Selbstbeschrei-
bung der Schule als positiver Ausdruck eines multikulturellen Großbritanniens
artikuliert. Zugleich wurden die Angaben zu Herkunft und Sprache für eine
pragmatische Integrationsarbeit der Schule genutzt: Familien erhielten in ihrer
Sprache Informationen dazu, was die Schule von ihnen und ihren Kindern ver-
lange. Darunter wurde ausdrücklich auch der Respekt vor religiösen und kul-
turellen Besonderheiten als zentraler Wert herausgestellt. Die Schule bekannte

163
Sabine Mannitz

sich demonstrativ dazu, alle in ihrer Eigenart respektieren zu wollen und diesen
Respekt gegenüber Anderen zugleich allen Schüler/innen abzuverlangen. Es
gelte, allen gleiche Entwicklungschancen einzuräumen, und ein nicht-diskrimi-
nierendes soziales Klima sei dafür wesentliche Voraussetzung.
Jungen Leuten sollte in London also weder ein Staatsbürgerkonzept an-
getragen werden, das für die Diversität der Bürger/innen blind ist, noch eine
gleichförmige, vereinheitlichende nationale Identität. Vielmehr wurde das Ziel
in den Vordergrund gerückt, das Bewusstsein von den vielfältigen Wurzeln der
britischen Gegenwartsgesellschaft zu stärken um die Schülerinnen und Schüler
in Anerkennung dieser Tatsache Toleranz und Respekt für sich selbst und vor-
einander entwickeln zu lassen. Um junge Menschen auf ihre aktive Rolle im Ge-
meinwesen ganz praktisch vorzubereiten, wurde die ideale Ausübung der Staats-
bürgerschaft sehr alltagsnah als Dienst an der Partnerschaft von Bürgerinnen
und Bürgern verstanden, der lokales Engagement und Hilfsbereitschaft für das
soziale Leben an der Schule oder im Stadtteil bedeute. Die Schule betrieb ak-
tiv ein Belobigungssystem für vorbildliches Verhalten. Wer sich als besonders
hilfsbereit zeigte, konnte seitens der Schule eine Auszeichnung in citizenship
erhalten. Bürgersinn wurde so auf die Ebene des für alle Machbaren herunter-
gebrochen.

3.2 Rotterdam: Demokratie bietet Partizipationschancen


Aktive Teilhabe an demokratischen Prozessen machte den wesentlichen Cha-
rakter der Schulkultur aus, die wir in Rotterdam antrafen. Auch hier wurde das
eigene Land mit großer Selbstverständlichkeit als ein multikulturelles entwor-
fen, jedoch mit weniger Enthusiasmus als im britischen Fall. Wie in London
sprachen sowohl die Schulbücher als auch die Lehrkräfte von der multikultu-
rellen Gesellschaft der Niederlande als einer Grundbedingung, der man sich
heute gegenübersähe und die nicht in Frage stehe. Die in Folge der Einwande-
rung gewachsene Diversität der niederländischen Gesellschaft wurde bei aller
grundsätzlichen Anerkennung der faktischen Situation aber weniger affirmativ
propagiert. Wurden die Eingewanderten Unterrichtsthema, dann weniger im
Kontext von kulturellem Reichtum oder zu respektierenden Spezialinteressen,
sondern stärker zur Thematisierung von Partizipationshindernissen auf Seiten
der Immigrantenbevölkerung.
Zwar wurde auch an der niederländischen Schule als konkretes Ideal prak-
tizierten Bürgersinns die Beteiligung an Aktivitäten verstanden, die auf der
kleinsten sozialräumlichen Ebene der eigenen Schule oder Nachbarschaft an-
gesiedelt sein könnten. Dabei wurde jedoch deutlicher Wert auf Dinge gelegt,
die alle Schülerinnen und Schüler quer zu Herkunft, Religion oder kultureller

164
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften

Zuordnung verbinden: Die Teilnahme an möglichst vielen Gemeinschaftsakti-


vitäten, die die Schule anbot, von Klassenfahrten bis hin zu Theaterbesuchen,
Sport- und Musik-Arbeitsgruppen, wurde als wichtiges Zeichen der Bereitschaft
gefordert, sich aktiv einzubringen. Wenn Schüler/innen dagegen eine spezielle,
z.B. herkunftskulturelle Gruppenzugehörigkeit pflegen wollten, wurde das zwar
nicht direkt unterbunden oder sanktioniert, aber als potenziell spaltend kom-
mentiert und wenig befürwortet. Das Motto der Schule war, es gebe zwar kul-
turelle, religiöse und alle möglichen anderen Differenzen; sie sollten aber nicht
das Handeln bestimmen, weil das eher störe als nütze und zu gefährlichen Ab-
schottungen führen könne.
Die Schulbroschüre betonte hierzu, dass eine Schule aus x Individuen be-
stehe, während man in London darauf hinwies, dass so und so viele Gruppen
der Bevölkerung in der Schule vertreten seien. Auch im Unterricht wurden in
Rotterdam Argumentationen, die auf Konsensfindung und individuelle Kom-
promisse setzten, positiv verstärkt, während Schülerinnen und Schüler, die z.B.
kulturalistisch für die Einführung von Sonderregelungen für Kollektive wie ‚die
Muslime‘ plädierten, gebeten wurden, sich dessen Polarisierungspotenzial be-
wusst zu machen. Der Deutungsrahmen war hier weniger von den Rechten auf
Differenz denn vom wünschbaren Ergebnis gesellschaftlicher Kooperation her
bestimmt: Während der Diskurs vom multikulturellen Zusammenleben in Lon-
don als einer der gleichen Rechte auf Eigenarten und deren Anerkennung ausge-
staltet war, wurden in Rotterdam die spalterischen Risiken eines kompromiss-
losen Beibehaltens von Eigenarten in den Vordergrund gerückt. Die Bereitschaft
zur Beteiligung am Ganzen war hier stärker gefordert als das Bewusstsein des
spezifisch Eigenen.

3.3 Paris: Staatsbürgerschaft als rationale Angelegenheit


Während der britische Ansatz von citizenship problemorientiert und alltagsnah
wirkte, galt das französische Anliegen dem umfassenden Bild der Prinzipien,
welche die historische Entwicklung und den Fortschritt im Sinne der Entfal-
tung von Rationalität vorantreiben: Politische Bildung hieß in der Pariser Schule
in erster Linie die Vermittlung von Kenntnissen über den Aufbau der Republik
und von der Bedeutung der französischen Geschichtsentwicklung im Prozess
der Zivilisation. Ein auf die unmittelbaren Lebensräume der Schülerinnen und
Schüler heruntergebrochenes Verständnis vorbildlichen Bürgersinns wurde eben-
so wenig gepflegt wie es eine Hinwendung zu ihren partikularen Alltagserfah-
rungen oder spezifischen kulturellen Orientierungen gegeben hätte. Die Idee der
Bürgerschaft war dadurch stärker als in den anderen untersuchten Fällen als
instrumentelle Staatsbürgerschaft konzipiert, weniger als etwas, das im eigenen

165
Sabine Mannitz

Alltag ‚gelebt‘ werden könnte. Der Bürgersinn, um den es in diesem Rahmen


geht, verlangt vor allem die Abstraktion von den eigenen Lebensumständen, um
den Blick auf das größere Ganze zu gewinnen.
Konkret bedeutete dies, dass Verweise auf die spezifischen Lebensumstän-
de der einzelnen Schülerinnen und Schüler in der schulischen Sphäre nicht
erwünscht waren. Das Beispiel des muslimischen Kopftuchs als Symbol ei-
ner Partikularität in der Gesellschaft ist so bekannt wie charakteristisch: Die
Sichtbarmachung der bestehenden Differenzen gilt in Frankreichs öffentlichen
Institutionen als unpassend. In einem Rundschreiben forderte das staatliche Bil-
dungsministerium die französischen Schulen 1994 auf, das Tragen von „osten-
tativen“ religiösen oder weltanschaulichen Symbolen, die missionierend oder
diskriminierend wirkten, in ihren Räumen zu unterbinden. Die untersuchte
Schule in der Pariser Banlieue versuchte, Kopftuch tragende Schülerinnen im
Gespräch dazu zu bringen, ihre Kopfbedeckungen am Schultor abzulegen. Mäd-
chen, die sich weigerten, wurden der Schule verwiesen (vgl. MANNITZ 2002a
und b, S. 183-185 und 198-200). Während die Kopftücher also in London als
Zeichen kollektiver Identität respektiert und als mögliche Teile der Schuluni-
form integriert wurden, tolerierte die Schule in Rotterdam sie als Element des
individuellen Ausdrucks, vergleichbar einer jugendkulturellen Mode oder Punk-
frisur. In Frankreich herrschte ein sehr viel politischeres Verständnis von Klei-
dung und Symbolen als möglichen Medien weltanschaulicher Aussagen. Mit
dieser Betonung und der klaren Ausgrenzung der privaten Partikularität aus dem
schulischen Leben wirkten ‚andere‘ Lebensweisen, insbesondere alles, was ge-
meinhin als traditionell firmiert oder mit kultureller Differenz begründet wird,
als illegitim. Die Schule in Paris fungierte somit weniger als ein Ort der Gesell-
schaft denn als eine Institution des Staates.

3.4 Berlin: Das Gemeinwesen als Verantwortungsgemeinschaft


Die deutsche Geschichte bringt es mit sich, dass ein stolzes Narrativ wie das
der Franzosen vom Triumph der Vernunft in Gestalt der eigenen Republik sich
verbietet. Dass die Demokratie sich hier nicht einer grandiosen Erhebung des
Volkes verdankt, sondern dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland, schlug
sich im Unterricht der Berliner Schule so nieder, dass als das Spezifische der
Demokratie ihre Anfälligkeit für destruktive Einflüsse betont wurde. Es wurde
an einen Bürgersinn appelliert, der sich aus kollektiver Verantwortung für ein
Gemeinwesen ableitet, das verteidigt werden muss. Dieses Bild der Verantwor-
tungsgemeinschaft begründet die ‚Wir-Imagination‘ im Verbund mit einer nati-
onalen Vergangenheit, die nicht eben zur Identifikation einlädt. Die gewachsene
Diversität der Bevölkerung stellt für dieses Verständnis der Bürgerschaft als ei-

166
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften

ner historisch geprägten Schicksalsgemeinschaft ein Problem dar. Integrieren


lässt sich die Pluralisierung durch Einwanderung hier weniger unkompliziert als
etwa in das Selbstbild von Großbritannien als eines von jeher multinationalen
Empires.
Anders als in London oder Rotterdam waren der Schulbuch- und vielfach
auch der Unterrichtsdiskurs in Berlin mitnichten davon geprägt, dass die Ein-
wanderung eine soziale Tatsache sei, die soziale Strategien erfordert, um allen
die weitestgehende Teilhabe zu ermöglichen. Migration war vielmehr ein Kon-
flikttopos. Positive Deutungen der migrationsbedingten Heterogenität bezogen
sich in Berlin höchstens auf die kulinarische Horizonterweiterung der Deut-
schen, nicht z.B. auf wechselseitige Lernchancen, wie mit Diversität konstruktiv
umzugehen sei. Stattdessen bestimmte die These der kulturellen Fremdheit der
„Ausländer/innen“ das Klima. Sie – als ‚die Anderen‘ – müssten sich anpas-
sen, hieß es teils explizit in Unterrichtsdiskussionen. Gelegentlich forderten die
Lehrpersonen Jugendliche aus Migrantenfamilien auf, etwas über „ihr Land“ zu
erklären oder als Repräsentanten „des Islam“ zu bestimmten Themen Stellung
zu nehmen. Auch in Berlin geborene Schülerinnen und Schüler aus eingewan-
derten Familien wurden so noch als ‚ausländisch‘ und als Fremde konstruiert.
Die Chance, im Unterricht auf die Unterschiede der Ebenen von staatsbür-
gerlicher Mitgliedschaft, sozialen, kulturellen, nationalen oder religiösen Zuord-
nungen hinzuweisen und deren Relationen oder auch alltägliche Widersprüche
auszuloten, wurde im Schulalltag kaum genutzt. Das Interesse, die eingewan-
derten Familien auf Augenhöhe einzubeziehen, schien hier wenig ausgeprägt.
Wo die Londoner Schulleitung Übersetzer/innen engagierte, um Eltern am schu-
lischen Leben und möglichst am Erfolg ihrer Kinder mitwirken zu lassen, zuck-
ten die Berliner Kolleginnen und Kollegen vielfach mit den Achseln angesichts
der Schwierigkeiten, bildungsferne Kreise für die Schule zu interessieren. Poli-
tische Teilhabe „der Ausländer“ firmierte im Diskurs der Schulleitung weniger
als erstrebenswertes Ziel der eigenen Arbeit denn als Quelle eines Unbehagens,
das mit Sorge um die Qualität der freiheitlichen Demokratie argumentierte und
‚den Anderen‘ starke Partikularinteressen und mangelnde Toleranz unterstellte.

4 Politische Bildung zwischen nationaler Integration und


Entgrenzung

Politische Bildung in der Schule hat Mitglieder einer heterogenen Bevölkerung


für die Mitgestaltung von Gesellschaften zu qualifizieren, die sich so rapide ver-

167
Sabine Mannitz

ändern, dass die Einzelnen sich umso leichter als ohnmächtig erfahren können.
Dem im inhaltlichen Zuschnitt, Konzeption und Didaktik entgegenzuwirken,
wird immer schwieriger. Die Etikettierungen der gesellschaftlichen Transforma-
tionsprozesse als internationaler, postnationaler oder globaler Trends verdeut-
lichen das: Die Transnationalisierung des politischen Raumes in Europa, die
voranschreitende Globalisierung von Kommunikation, Finanz- und Warenfluss,
kulturellen Ausdrucksformen, Wissenszusammenhängen und nicht zuletzt auch
Konflikt- und Bedrohungsfaktoren muss wachsende Berücksichtigung erfahren,
ohne dass konkrete Zukunftsszenarien absehbar wären. Praktisch sollten Her-
anwachsende also stärker mit der Gewissheit von Ungewissheiten vertraut ge-
macht werden als mit definitiven Zustandsbeschreibungen. Mit Widersprüchen
und Ungleichzeitigkeiten umgehen zu können, muss lernen, wer angesichts der
Komplexität von ‚Wissensgesellschaft‘ und globaler digitaler Revolution nicht
bloß überwältigt sein soll.
Um in dem von Entgrenzung, Heterogenität, Vermischung und strukturel-
ler Fremdheit geprägten demokratischen Gemeinwesen der Gegenwart Mün-
digkeit und Gestaltungskompetenz zu erlangen, ist eine Orientierung an den
idealtypischen Nationalstaats-Gemeinschaften der Vergangenheit nicht mehr
zielführend; nationalstaatliche politische Traditionen wirken aber fort. Selbst im
Kontext der vorangeschrittenen EU-Europäisierung sind die nationalen Öffent-
lichkeiten wichtige Foren der politischen Auseinandersetzung und Gestaltung
geblieben. Um die Handlungsfähigkeit und politische Urteilskraft der heran-
wachsenden Generation wäre es gleichwohl schlecht bestellt, wenn ihr nicht
auch eine „Bildung im Horizont der Weltgesellschaft“ (SEITZ 2002, S. 49) an-
geboten würde. Schon jetzt liegen bedeutsame Handlungsfelder der mündigen
Bürgerinnen und Bürger außerhalb der Landesgrenzen sowie mehr und mehr im
virtuellen Raum. Zudem ergibt sich aus der heutigen Normalität von nicht nur
internationalen Verflechtungen, sondern auch multinationalen, multireligiösen
und multiethnischen Bevölkerungen in den nationalstaatlichen Gesellschaften
ein wachsender Bedarf, auch im eigenen Lebensalltag mit Ungewohntem, Unsi-
cherheit und Uneindeutigkeit umgehen zu können. Für die schulische politische
Bildung bedeutet das Einwanderungsgeschehen daher nicht nur Komplikationen,
sondern vor allem eine Chance: Durch Migration gewachsene innergesellschaft-
liche Heterogenität bietet wichtige Lernfelder für den Umgang mit Situationen,
die Gewohntes in Frage stellen und für Verunsicherung sorgen.
Es ist für die Entwicklung von Ambiguitätstoleranz hilfreich, wenn Heran-
wachsende mit den Anerkennungskonflikten der multikulturellen Realität im
schulischen Rahmen in strukturierter Weise vertraut gemacht werden; das haben
die vertiefenden Untersuchungen der zitierten Vergleichsstudie bekräftigt. In den
Ländern, die sich grundsätzlich zum Charakter der Einwanderungsgesellschaft

168
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften

bekennen, fanden wir auch in den Schulen explizite Strategien dazu, welche
Verhaltensnormen für einen konstruktiven Umgang der diversen Bevölkerungs-
gruppen miteinander wünschenswert oder notwendig seien. Dagegen herrschten
in der Berliner Schule Ratlosigkeit, Unbehagen und eine inkonsistente Praxis,
die das Fehlen einer staatlichen Integrationskonzeption auf schulischer Ebene
wiederholte, statt einen Ausgleich zu suchen. Wer jungen Leuten unterschied-
licher Herkunft konkrete Identifikations- und Gestaltungsangebote machen will,
kann die alltägliche Normalität der gesellschaftlichen Multinationalität, Mul-
tireligiosität und lebensweltlichen Vielfalt nutzen: Statt Teenagern zuzumuten,
sich als ‚Türkin‘ oder als ‚Muslim‘ zu diesem oder jenem äußern zu sollen, kann
z.B. die Unangemessenheit von national-kulturellen Zuschreibungen oder des
Schwarz-Weiß-Vokabulars von ‚Ausländern‘ versus ‚Deutschen‘ im Unterricht
thematisiert werden. Nachholbedarf besteht hier in beide Richtungen: Lehrern
und Lehrerinnen sollte bewusst sein, dass auch ihrer Staatsangehörigkeit nach
‚ausländische‘ Schülerinnen und Schüler für eine möglichst weitgehende Teil-
habe am öffentlichen Leben auszubilden sind. Heranwachsenden gilt es klar zu
machen, dass politische Teilhabe in der Bürgergesellschaft auch diejenigen for-
dert und einschließen kann, die Schwierigkeiten haben, das Attribut des Deut-
schen für sich anzunehmen.

5 Zusammenfassung

Das Kapitel beleuchtet aktuelle Herausforderungen, die schulische politische


Bildung im Kontext der europäischen Einwanderungsgesellschaften gewärtigt.
Das Spannungsfeld von verdichteten internationalen Informationsflüssen und
globalen Verflechtungen, vorangeschrittener sozialer Differenzierung und der
auch durch das Einwanderungsgeschehen vielfältiger gewordenen Lebensstile
stellt traditionelle Auffassungen von staatsbürgerlicher Bildung in der Schule
teilweise in Frage. Zwar gilt weiterhin, dass Heranwachsende mit den Struk-
turen des Gemeinwesens und den Prozessen demokratischer Mitbestimmung
vertraut zu machen sind. Die notwendigen Kompetenzen der Teilhabe sind aber
einerseits weniger als in der Vergangenheit aus dem Instrumentarium des Na-
tionalstaats abgeleitet; zum anderen sind sie auch weniger eng an die formale
Staatsbürgerschaft gebunden als früher. Hinzu kommt, dass die Aufgabe der In-
tegration von Eingewanderten ein weiter gefasstes Verständnis von politischer
Bildung und Partizipation erforderlich macht.

169
Sabine Mannitz

Zur Illustration der konkreten Möglichkeiten heutiger politischer Bildung


in der Schule beleuchtet das Kapitel kurz die Ergebnisse einer internationalen
Vergleichsstudie zu dem Thema. Dabei wird deutlich, dass es in Ländern, die
eine positive oder zumindest akzeptierende Grundhaltung zum Einwanderungs-
geschehen entwickelt haben, besser gelingt, die gesellschaftlichen Konflikte
um Anerkennung und Mitsprache auch im Bereich der schulischen politischen
Bildung so zu thematisieren, dass den Schülerinnen und Schülern daraus Lern-
chancen erwachsen.

Fragen und Denkanstöße


1. Was kann und soll politische Bildung unter den sich rapide wandelnden ge-
sellschaftlichen und globalen Rahmenbedingungen leisten, was nicht?
2. Diskutieren Sie die Implikationen der national unterschiedlich akzentuierten
Bürgerschafts-Konzepte für den Einbezug von Immigrantinnen und Immig-
ranten.
3. Lässt sich die Forderung nach einer nationalen ‚Leitkultur‘ sachlich begrün-
den? Welche Kompetenzen braucht es Ihrer Ansicht nach vor allem, um in
Deutschland als Bürger/in integriert zu sein?
4. Staatsbürger, Weltbürger, Cyberspacebürger: Wie können die unterschied-
lichen Anforderungsprofile aktueller Handlungsräume sich wechselseitig
nutzen?

Literaturempfehlungen:
BENHABIB, S. (1999): Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit. Poli-
tische Partizipation im Zeitalter der Globalisierung. Horkheimer Vorlesungen.
Frankfurt am Main.
Der Band führt in kurzen Einzelbeiträgen in die Grundzüge der politischen The-
orie zu Fragen des Umgangs mit Differenz ein. Da es sich um die „Horkheimer
Vorlesungen“ handelt, die Seyla BENHABIB 1997 in Frankfurt am Main gehalten
hat, haben die einzelnen Beiträge gut verdauliche Länge. BENHABIB verknüpft
die theoretische Kost überdies mit anschaulichen Beispielen aus der gesell-
schaftlichen Praxis.

BUTTERWEGGE, C./HENTGES, G. (Hrsg.) (2002): Politische Bildung und Globali-


sierung. Opladen.
In 16 pointierten Einzelbeiträgen werden Probleme beleuchtet, vor denen poli-
tische Bildung angesichts der diversen ‚postnationalen‘ Entgrenzungsprozesse
von Internationalisierung, Digitalisierung, Globalisierung steht.

170
Schulische politische Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften

HÖHNE, T. (2000): Fremde im Schulbuch: Didaktische Vorstrukturierung und


Unterrichtseffekte durch Schulbuchwissen am Beispiel der Migrantendarstel-
lung, iks – QuerFormat, Nr. 3.
Die beispielhafte Analyse von Schulbuchinhalten zur Darstellung von (migrati-
onsbedingter) Differenz führt vor Augen, wie die Zuschreibung von Fremdheit
als eine unhinterfragte Deutungsroutine erfolgt. Angehenden Lehrerinnen und
Lehrern ist das Heftchen daher besonders zu empfehlen, weil es den eigenen
Blick auf das schärft, was häufig als selbstverständlich ‚anders‘ gilt und im Un-
terricht umso dringender einer kritischen Befragung bedarf.

ROMMELSPACHER, B. (2002): Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als


multikulturelle Gesellschaft. Frankfurt am Main.
Birgit ROMMELSPACHER schlägt den Bogen von deutschen Selbstbeschreibungen,
die eine fiktive kulturelle Homogenität beschwören, zur Analyse real existie-
render Konflikte und Interessendifferenzen in der multikulturellen Gesellschaft,
z.B. um Symbole wie das Kopftuch. Nach praxisnahen Beispielen folgt ein
Blick auf internationale Konzepte dazu, wie Egalitätsversprechen und Pluralität
in der Demokratie ausbalanciert werden können.

Literaturverzeichnis
Anderson, B. (1991): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of
Nationalism. London.
de Haan, G. (2004): Politische Bildung für Nachhaltigkeit. In: Aus Politik und Zeitge-
schichte, B 7-8, S. 39-46.
Höhne, T. (2000): Fremde im Schulbuch: Didaktische Vorstrukturierung und Unterrichts-
effekte durch Schulbuchwissen am Beispiel der Migrantendarstellung, iks – Quer-
Format, Nr. 3.
Höhne, T./Kunz, T./Radtke, F.-O. (2000): ,wir‘ und ,sie‘. Bilder von Fremden im Schul-
buch. In: Forschung Frankfurt, Nr. 2, S. 16-25.
Mannitz, S. (2002) a: Religion in vier politischen Kulturen. In: Schiffauer, W./Baumann,
G./Kastoryano, R./Vertovec, S. (Hrsg.) (2002): Staat – Schule – Ethnizität. Poli-
tische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen Ländern. Müns-
ter, S. 101-138.
Mannitz, S. (2002) b: Disziplinarische Ordnungskonzepte und zivile Umgangsformen
in Berlin und Paris. In: Schiffauer, W./Baumann, G./Kastoryano, R./Vertovec, S.
(Hrsg.) (2002): Staat – Schule – Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigran-
tenkindern in vier europäischen Ländern. Münster, S. 161-219.
Mecheril, P. (2007): Die Normalität des Rassismus. In: Überblick. Vierteljahres-Zeit-
schrift von IDA-NRW, 13. Jg., Nr. 2, S. 3-9.

171
Sabine Mannitz

Nancy, J.-L. (1993): Lob der Vermischung. In: Lettre International, Nr. 21, S. 5-7.
Pingel, F. (1995) (Hrsg.): Macht Europa Schule?. Frankfurt am Main.
Reiter, S./Wolf, R. (2007): Politische Bildung für Migrantinnen und Migranten. In: Aus
Politik und Zeitgeschichte 32-33, S. 15-20.
Richter , D. (2007): Das politische Wissen von Grundschülerinnen und -schülern. In: Aus
Politik und Zeitgeschichte 32-33, S. 21-26.
Sander, W. (2002): Von der Volksbelehrung zur modernen Profession. Zur Geschichte
der politischen Bildung zwischen Ideologie und Wissenschaft. In: Butterwegge,
C./Hentges, G. (Hrsg.) (2002): Politische Bildung und Globalisierung. Opladen,
S. 11-24.
Schiffauer, W. (1993): Die civil society und der Fremde. In: Balke, F./Habermas, R./
Nanz, P./Sillem, P. (Hrsg.): Schwierige Fremdheit. Über Integration und Ausgren-
zung in Einwanderungsländern. Frankfurt am Main, S. 185-199 .
Schiffauer, W./Baumann, G./Kastoryano, R./Vertovec, S. (Hrsg.) (2002): Staat – Schule
– Ethnizität. Politische Sozialisation von Immigrantenkindern in vier europäischen
Ländern. Münster.
Seitz, K. (2002): Lernen für ein globales Zeitalter. In: Butterwegge, C./Hentges, G.
(Hrsg.) (2002): Politische Bildung und Globalisierung. Opladen, S. 45-57.
Senghaas, D. (2002): Kulturelle Globalisierung – ihre Kontexte, ihre Varianten. In: Aus
Politik und Zeitgeschichte 12, S. 6-9.
Soysal, Y. (1994): Limits of Citizenship. Migrants and Postnational Membership in Eu-
rope, Chicago: University Press.

172
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Sara FÜRSTENAU, Dr. phil., Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem


Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Univer-
sität Münster (ab August 2009), Arbeitsschwerpunkte: Mehrsprachigkeit und
sprachliche Bildung; Interkulturelle Bildung; Bildungslaufbahnen im Kontext
transnationaler Migration; Migration und schulischer Wandel.

Mechtild GOMOLLA, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Westfä-


lischen Wilhelms-Universität Münster, z.Zt. Vertretung einer Professur an der
Goethe-Universität Frankfurt a.M., Arbeitsschwerpunkte: Bildungsprozesse
unter Bedingungen von Migration; Bildungsungleichheit; Rassismus- und Dis-
kriminierungsforschung; Unterrichts- und Schulentwicklung im heterogenen
Umfeld; Bildung und Demokratie; Schule als öffentlicher Bildungsraum.

Therese HALFHIDE, lic. phil. Ethnologin, Dozentin an der Pädagogischen Hoch-


schule Zürich, Arbeitsschwerpunkte: Migration und Schule; Kindheit und Jugend
aus ethnologischer Perspektive; Teamteaching; in eigener Praxis als Trainerin
für kollegiales Coaching, Supervisorin und Coach in Organisationen tätig.

Petra HILD, lic. phil. I, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich,


Arbeitsschwerpunkte: Sozialisation und Differenz; Weiterbildung von Lehrper-
sonen des Kantons Zürich und im deutschsprachigen Raum der Schweiz; Lei-
terin des Zertifikatslehrgangs ‚Migration und Schulerfolg‘, der aktuell weiter
entwickelt wird.

Ulrike HORMEL, Dr. phil., Akademische Mitarbeiterin an der Pädagogischen


Hochschule Freiburg, Institut für Sozialwissenschaften, Arbeitsschwerpunkte:
Bildungssoziologie; Ungleichheits- und Diskriminierungsforschung; Migrati-
onssoziologie, interkulturelle und antirassistische Pädagogik.

Sabine MANNITZ, Dr. phil, Projektleiterin und Vorstandsmitglied der Hessischen


Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main, Ar-
beitsschwerpunkte: Migration und Integrationspolitik; soziale Identität und Al-
teritätskonstruktion; Sozialisation durch Institutionen und deren Wandel.

173
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Albert SCHERR, Dr. phil., Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hoch-
schule Freiburg, Institut für Sozialwissenschaften; Arbeitsschwerpunkte: Bil-
dungsforschung, Jugendforschung, Migration und Diskriminierung.

Agi SCHRÜNDER-LENZEN, Dr. phil., Professorin für Allgemeine Grundschulpäda-


gogik und -didaktik an der Universität Potsdam, Department für Erziehungswis-
senschaft, Arbeitsschwerpunkte: Empirische Schul- und Unterrichtsforschung;
Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund; Ganz-
tagsorganisation im Grundschulbereich; methodisch-didaktische Konzepte des
Schriftspracherwerbs; Analyse schriftsprachlicher Kompetenzen.

Tanja TAJMEL, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin für Deutsch


als Zweitsprache an der Humboldt-Universität zu Berlin, Arbeitsschwerpunkte:
naturwissenschaftlicher Unterricht in sprachlich-kulturell heterogenen Klassen;
Sprache im naturwissenschaftlichen Fachunterricht; Entwicklung von sprach-
lernfördernden Unterrichtsmaterialien; Fortbildung von Lehrerinnen und Leh-
rern naturwissenschaftlicher Fächer.

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