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Thade Buchborn, Eva-Maria Tralle, Jonas Völker (Hrsg.

)
Interkulturalität – Musik – Pädagogik

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Schriften der Hochschule für Musik Freiburg
Herausgegeben im Auftrag von
Thade Buchborn, Felix Diergarten, Andreas Doerne, Ludwig Holtmeier,
Janina Klassen, Wolfgang Lessing und Joseph Willimann

Band 8

Thade Buchborn, Eva-Maria Tralle, Jonas Völker (Hrsg.)


Interkulturalität – Musik – Pädagogik

Georg Olms Verlag


Hildesheim · Zürich · New York
2020

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Thade Buchborn, Eva-Maria Tralle, Jonas Völker (Hrsg.)

Interkulturalität – Musik – Pädagogik

Georg Olms Verlag


Hildesheim · Zürich · New York
2020

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Das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg
fördert das Projekt „KoMuF – ­Kooperative Musiklehrer/innenbildung Freiburg“
in der Förderlinie „Leuchttürme der Lehrerbildung ausbauen“
des Programms „Lehrerbildung in Baden-Württemberg“.

N° 1a

KoMuF Kooperative Musiklehrer/


-innen bildung Freiburg

Gefördert durch die Gisela und Peter W. Schatt Stiftung

N° 2a
KoMuF Kooperative Musiklehrer/
-innen bildung Freiburg

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen

KoMuF
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
N° 1b Übersetzungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Kooperative Musiklehrer/
-innen bildung Freiburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

N° 2b

© Georg Olms Verlag AG,


KoMuF
1. Auflage 2020 Kooperative Musiklehrer/
-innenHildesheim
bildung Freiburg
2020
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Umschlaggestaltung: Salomon Kraus
Umschlagentwurf: Anna Braungart, Tübingen
Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau
Herstellung: •••••
Printed in •••••
www.olms.de

ISBN 978-3-487-15924-9

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Inhalt

Gutachter*innen und Mitarbeiter*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

Thade Buchborn
Interkulturalität, Migration und Musikunterricht.
Spannungsfelder zwischen Schulpraxis und Theorie und
daraus resultierende Herausforderungen für Musikdidaktik,
Lehrer*innenbildung und Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Theoretische und konzeptionelle Perspektiven

Bernd Clausen
Musik und Kulturalitäten oder: Vom anhaltenden Fremdeln
in der deutschen Musiklehrendenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Alexander J. Cvetko
Interkulturalität aus Sicht der Historischen Musikpädagogik:
Ausgewählte Einblicke in eine Geschichte der Aporien in
drei Jahrhunderten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Tobias Hömberg
Kulturelle Identität(en).
Ein Literaturüberblick zu pädagogischen Sichtweisen und
Perspektivierungen des Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

Dorothee Barth
Von eigenen und fremden Kulturen: Dichotome Strukturen
in der Interkulturellen Musikpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

Olivier Blanchard
Gleichwertigkeit der Kulturen aus westlicher Sicht.
Eurozentrismus in der Interkulturellen Musikpädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

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VI Inhalt

Bernhard Weber
Ein didaktisches Denken im Plural: Differenzen aufdecken
und Verborgenes offenlegen.
Impulse für eine zeitgemäße Interkulturelle Musikpädagogik . . . . . . . . . . . . 105

Peter W. Schatt
Begegnungen zwischen Kulturen: Überlegungen zu einer
Topologie für Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Christopher Wallbaum
Dritte Räume oder Musikpraxen erfahren und vergleichen.
Eine glokal kulturreflexive Prozess-Produkt-Didaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

empirische Perspektiven

Daniel Prantl
Überlagerungen musikkultureller Bruchstücke im Klassenzimmer.
Eine Analyse ausgewählter Sequenzen in zwei videographierten
Klassenmusizierstunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Jonas Völker
„… als ob ein Deutscher sowas hört“.
Kulturelle Repräsentationen und ethnische Projektionen im
interkulturell orientierten Musikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Andrea Welte, Jan Jachmann


Transformationen im Musikimprovisationsunterricht.
Wie Schüler*innen und Lehrer*innen aus kulturellen Differenzen
heraus Musikkultur verändern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Eva-Maria Tralle
„Musik verschiedener Kulturen“.
Wie setzen Berliner Musiklehrkräfte eine Lehrplanvorgabe im
Oberstufenunterricht um? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

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Inhalt VII

Joana Grow
Wege durchgängiger Sprachbildung.
Möglichkeiten und Grenzen von Sprachförderliedern als Gegenstand
des Musikunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Claudia Cvetko
Interkulturalität als Anspruch der Musikpädagogik?
Ausgewählte Motive zu Afrika im Musikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . 235

Ganga Jey Aratnam, Silke Schmid, Irena Müller-Brozovic & Bettina Frei
Polyversale Musikpädagogik im glokalen Musiktopos . . . . . . . . . . . 249

Pra xisberichte

Almuth Süberkrüb, Alexander Riedmüller


„Elementare Musikpraxis International“.
Chancen und Herausforderungen eines Weiterbildungskonzeptes
für zugewanderte Musikpädagog_innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

Nathalie Glinka
Interkulturelles Singtandem: Umfassend singen und musizieren
im Kindergarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Alexander Riedmüller
Kommunikation auf mehreren Ebenen.
Ein praktischer Ansatz für den Gruppenunterricht in der Grundschule
durch Rhythmik (Musik und Bewegung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

Marie-Louise Tralle
Bühne unter Strom.
Musikpädagogische Adaption eines theaterpädagogischen Konzepts
zum Perspektivwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

Bernd Clausen
Historisch-chronologische Synopse:
USA et al. – DR, BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

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Gutachter*innen und Mitarbeiter*innen

Gutachter*innen
Dorothee Barth Camille Savage-Kroll
Olivier Blanchard Peter Schatt
Anne Bubinger Silke Schmid
Thade Buchborn Philip Stade
Bernd Clausen Simon Stich
Alexander Cvetko Elisabeth Theisohn
Tobias Hömberg Eva-Maria Tralle
Anna Immerz Johannes Treß
Valerie Krupp-Schleußner Johannes Voit
Wolfgang Lessing Jonas Völker
Isolde Malmberg Christopher Wallbaum
Daniel Prantl Bernhard Weber
Charlotte Rott-Fournier

Redaktionelle Mitarbeit Lektorat

Viola Grömminger Ulrike Böhmer


Antonia Nolte
Lena Widdermann

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Einleitung
Interkulturalität – Musik – Pädagogik

Interkulturalität – Musik – Pädagogik. Zu diesem Thema fand vom 08. bis


10. November 2018 in Freiburg ein von der Pädagogischen Hochschule Frei-
burg und der Hochschule für Musik Freiburg gemeinsam ausgerichtetes Sym-
posium statt. An drei Tagen wurden aktuelle Fragen der (interkulturellen)
Musikpädagogik aus Theorie, Empirie, Fachdidaktik und Praxis in 18 Vorträ-
gen, acht Workshops, zwei Open Spaces, einer Podiumsdiskussion und zwei
Forschungswerkstätten diskutiert. Die große Zahl an Teilnehmenden aus dem
gesamten deutschsprachigen Raum und unterschiedlichen musikpädagogi-
schen Arbeitsbereichen sowie die thematische Vielfalt der Beiträge verdeutli-
chen die Relevanz und Aktualität interkulturell orientierter Fragestellungen.
Ebendiese Vielfalt an musikpädagogischen Positionen spiegelt sich nun auch
in der vorliegenden Publikation wider, die im Anschluss an die Tagung ent-
standen ist. Ein Sammelband, der bereits in der Entstehungsphase Anlass für
angeregte Diskussionen und Austausch untereinander gegeben hat. Dies ist
unter anderem auf das gewählte offene Peer Review-Verfahren zurückzufüh-
ren. Alle Autorinnen und Autoren sowie weitere in den Diskurs eingearbeitete
Kolleginnen und Kollegen haben im Rahmen von Reviews konstruktiv Rück-
meldungen und Anregungen zu den Texten gegeben (vgl. i. d. B., S. 1).
Bei der Zusammenstellung der Beiträge haben wir uns für einen dreiteiligen
Aufbau des Bandes entschieden, indem wir zwischen theoretischen und kon-
zeptionellen sowie empirischen Perspektiven und Beiträgen aus der Praxis un-
terscheiden. Natürlich sind die Grenzen zwischen den Kapiteln z. T. fließend.
So verbinden einige Autorinnen und Autoren theoretische und empirische Zu-
gänge, während andere ausgehend von theoretischen Positionen fachdidakti-
sche oder schulpraktische Perspektiven entwickeln. Die Zuordnungen haben
wir in diesen Fällen entlang der Schwerpunkte des jeweiligen Beitrages vorge-
nommen. 2006 konstatiert Thomas Ott eine „Fülle an […] theoretisch-konzep­
tionellen Arbeiten“ gegenüber einer „überschaubare[n] Zahl empirischer Stu-
dien“ (ebd., S. 359).1 Die Gewichtung der Kapitel in diesem Sammelband macht

1
Ott, T. (2006). Musikinteressen von Immigrantenkindern in Kölner Schulen und ihre Erfah-
rungen im Musikunterricht. In G. Noll, G. Probst-Effah, C. Burmeister & A. Reimers (Hrsg.),
Musik als Kunst Wissenschaft Lehre. Festschrift für Wilhelm Schepping zum 75. Geburtstag (S. 359–
374). Münster: MV Wissenschaft.

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4 Einleitung

deutlich, dass nach wie vor zahlreiche theoretisch-konzeptionelle Fragestel-


lungen bearbeitet werden, aber ein stetig wachsendes Interesse an damit korre-
spondierenden empirischen Fragestellungen zu verzeichnen ist.
Der den Band eröffnende Beitrag widmet sich Schnittstellen empirischer und
systematischer Forschung. Thade Buchborn stellt Spannungsfelder zwischen
theoretischen Positionen Interkultureller Musikpädagogik und schulischer
­Alltagspraxis heraus, indem er ausgewählte Passagen aus Gruppendiskussio-
nen mit Musiklehrkräften interpretiert. Anknüpfend an seine Befunde disku-
tiert er aktuelle Herausforderungen und Perspektiven für eine interkulturell
orientierte Musikpädagogik auf der Ebene der Forschung, Lehrer*innenbildung
und Schulpraxis.
Den Abschnitt theoretische und konzeptionelle Perspektiven eröffnet
der Beitrag Musik und Kulturalitäten oder: Vom anhaltenden Fremdeln in der deut-
schen Musiklehrendenbildung von Bernd Clausen. Er vergleicht auf Basis (s)ei-
ner literaturanalytischen Synopse (vgl. S. 303–336) die deutschsprachigen
und angloamerikanischen musikpädagogischen Fachdiskussionen zum
Thema Inter-, Multi- und Transkulturalität. Anhand Georg Bollenbecks Inter-
pretationsmodell des Deutungsmusters stellt Clausen einen Widerspruch
zwischen musikdidaktischem und hochschuldidaktischem Handeln dar und
kritisiert obsolete kulturessentialistische Legitimationsfiguren innerhalb der
Musiklehrendenbildung.
Aus der Perspektive der Historischen Musikpädagogik wirft Alexander
Cvetko einen kritischen Blick auf die Geschichte der Interkulturellen Musik-
pädagogik als „eine der ungelösten Aporien“. Ausgehend von Herder skizziert
Cvetko drei Aporien und stellt diese aus Sicht verschiedener Jahrhunderte vor.
Am Beispiel eines Musikbuchkapitels analysiert und reflektiert er daraufhin
die Bedeutung der Aporien für den aktuellen Diskurs der Interkulturellen Mu-
sikpädagogik. Dabei positioniert er sich skeptisch gegenüber den aktuellen
Tendenzen im Diskurs und fordert zu einer diskursiven Betrachtung der Ziele
Interkultureller Musikpädagogik auf.
Im Rahmen eines Literaturüberblicks beleuchtet Tobias Hömberg pädago-
gische Sichtweisen und Perspektivierungen des Begriffs kulturelle Identität.
Anknüpfend an den musikpädagogischen Diskurs über kulturelle Identität
werden Positionen aus der Interkulturellen Pädagogik sowie der Migrationspä-
dagogik dargestellt. Diese bieten wiederum hilfreiche Impulse und Anregun-
gen für die weitere Diskussion im Bereich der interkulturell orientierten Mu-
sikpädagogik.
Dorothee Barth identifiziert in ihrem Beitrag unechte Dichotomien im
IMP-Diskurs, die es im interkulturell orientierten Denken und Handeln zu

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Einleitung 5

überwinden gelte, um machtsichernde Konstruktion des Anderen, die Inkauf-


nahme sachlicher Fehler sowie die Reduktion auf einzelne Merkmale zu ver-
meiden. Nach einer Unterscheidung zwischen unechten und echten Dichoto-
mien führt Barth die Ursachen und Folgen am Beispiel der Begriffspaare Orient/
Okzident, europäisch/außereuropäisch, geflüchtet/nicht geflüchtet aus.
Olivier Blanchard macht in seinem Beitrag Gleichwertigkeit der Kulturen aus
westlicher Sicht auf den Eurozentrismus in der Interkulturellen Musikpädago-
gik aufmerksam. Dabei nimmt der Autor eine kulturwissenschaftlich-hege­
moniekritische Perspektive ein, um den Zusammenhang von Kulturkonsti­
tuierung und Machtausübung zu verdeutlichen. Daraus geht eine Skepsis
gegenüber dem, innerhalb des musikpädagogischen Diskurses vielfach postu-
lierten, Anspruch der Gleichwertigkeit der Kulturen hervor.
Unter Rückgriff auf poststrukturalistische Positionen von Lyotard und Der-
rida entwickelt Bernhard Weber in seinem Beitrag die theoretische Grundlage
für ein Konzept Interkultureller Musikpädagogik, das Heterogenität, Differenz
und Diskriminierung als didaktische Leitkategorien etabliert. Daraufhin er-
schließt der Autor Wege, um die poststrukturalistischen Konzepte der Litera-
turdidaktik, Intertextualität, Dekonstruktion und Diskursanalyse für den
Musikunterricht zu eröffnen.
Peter W. Schatts Beitrag Begegnungen zwischen Kulturen stellt Überlegungen
zu einer Topologie für Musik an. Kultur und speziell Musik als Interpretant
von Kultur werden darin als Anlass für die interaktive und kommunikative
Hervorbringung von Bedeutungen auf der Grundlage von Bedeutsamkeits­
erfahrungen verstanden. Anschließend an die Beobachtung, dass einzelne
Musikstücke entsprechend zum Verständnis sowohl der eigenen als auch an-
derer Kulturen führen können, leitet der Autor Perspektiven für interkulturelle
Begegnungen im Musikunterricht ab.
Christopher Wallbaum setzt mithilfe des Konzeptes des dritten Raumes
das Modell „Musikpraxen erfahren und vergleichen“ (kurz: Mev) in den Kon-
text der Interkulturellen Musikpädagogik. Ausgehend von der Darstellung
theoretischer Grundannahmen auf der Makro-Ebene beschreibt Wallbaum
zentrale Merkmale dritter Räume, die er am Beispiel der Darstellung von Mik-
ropraktiken einer „auditiven Wissensform Jazz“ ausführt, um daraus schließ-
lich Vorschläge für einen „schülbezogenen kulturreflexiven Musikunterricht“
abzuleiten.
An das didaktische Konzept von Wallbaum schließt Daniel Prantl mit der
ersten einer Reihe empirischer Perspektiven des vor­liegenden Bandes an. Er
zeigt anhand seiner empirischen Analyse zweier videographierter Klassen­
musizierstunden Überlagerungen musikkultureller Bruch­stücke im Klassenzimmer.

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6 Einleitung

Hierfür nimmt der Autor eine praxeologische Perspektive auf die Darstellung
und Interpretation interkultureller Situationen im Musikunterricht ein. An-
schließend an den Soziologen Andreas Reckwitz beschreibt er musikkultu-
relle Differenzen in Form von Überlagerungen unterschiedlicher kultureller
Bruchstücke, die in Unterrichtspraktiken verarbeitet werden.
Ebenfalls zwei videographierte Unterrichtssequenzen nimmt Jonas Völker
in seinem Beitrag „… als ob ein Deutscher sowas hört“ in den Blick. In einer kom-
parativen Analyse interpretiert er kulturelle Repräsentationen und ethnische
Projektionen als handlungsleitende Orientierungen der Lernenden. Die rekon-
struierten Vorstellungen werden theoretisch gerahmt und im Hinblick auf die
Zieldimensionen interkulturell orientierten Musikunterrichts musikdidaktisch
diskutiert.
Ausgehend von einem Kooperationsprojekt der Hochschule für Musik,
Theater und Medien Hannover mit drei allgemeinbildenden Schulen in Han-
nover untersuchen Andrea Welte und Jan Jachmann Transformationsprozesse
von Musikimprovisationsunterricht mit neu nach Deutschland zugewander-
ten Schüler*innen und an der HMTMH ausgebildeten Lehrkräften. Mithilfe
ethnografischer Forschungsmethoden machen sie an zwei Unterrichtszenen
das transformativ-interaktionistische Potential von interkulturellen musikpäd-
agogischen Situationen deutlich.
Eva-Maria Tralle widmet sich in ihrem empirischen Beitrag einer verpflich-
tenden Lehrplanvorgabe für den Musikunterricht in der Berliner Oberstufe
und untersucht, wie Musiklehrkräfte diese umsetzen. Ausgehend von thema-
tischen Interviewpassagen mit Berliner Musiklehrkräften rekonstruiert sie
handlungsleitende Orientierungen und normative Anforderungen im The-
menfeld.
Joana Grow untersucht in ihrem Beitrag Wege durchgängiger Sprachbildung
die Eignung von Sprachförderliedern aus Perspektive der Fächer Musik und
Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Ihre Analyse exemplarisch ausgewählter
Sprachförderlieder am Beispiel des grammatikalischen Phänomens Wechsel-
präpositionen offenbart Defizite sowohl in Bezug auf DaZ-didaktische als
auch auf musikdidaktische Anforderungen. Konsequenzen und Potentiale für
den Musikunterricht mit integrierter Sprachförderung werden abschließend
diskutiert.
Claudia Cvetko gewährt mit ihrem Beitrag Interkulturalität als Anspruch der
Musikpädagogik? spannende Einblicke in ihre aktuelle Forschungsarbeit zum
Thema ‚Afrika im Musikunterricht‘. Die Autorin beleuchtet sowohl die Diskre-
panz hinsichtlich der Zieldimensionen innerhalb der Interkulturellen Musik­
pädagogik als auch die historische sowie die systematische Dimension des For-

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Einleitung 7

schungsfeldes. Anhand zweier Motive aus ihrer Schulbuchanalyse präsentiert


Claudia Cvetko exemplarisch einen Ausschnitt ihrer Forschungsergebnisse.
Die Autor*innen Ganga Jey Aratnam, Silke Schmid, Irena Müller-Brozo-
vic und Bettina Frei legen den Fokus auf den Umgang mit Diversität an Mu-
sikhochschulen und stellen in ihrem Beitrag Ergebnisse aus einer inter­
disziplinär angelegten empirischen Studie mit transnational vernetzten inter­
nationalen Musikstudierenden vor. Unter Rückgriff auf Giddens structuration
­theory fokussiert die Studie die Verschränkungen von Akteur*innen und
Strukturebene und diagnostiziert das Phänomen des clouding social capital, wel-
ches daraufhin in dem theoretischen Entwurf einer polyversalen Musikpäda-
gogik diskutiert wird.
Den dritten Teil des Bandes bilden vier Beiträge aus der Praxis Interkultu-
reller Musikpädagogik an der Hochschule, im Kindergarten, an Grundschulen
und am Theater. Der gemeinsame Beitrag von Almuth Süberkrüb und Ale-
xander Riedmüller Elementare Musikpraxis International stellt mit dem gleich-
namigen Konzept ein Weiterbildungsprogramm der Hochschule für Musik
und Theater Hamburg vor, das einerseits auf die erschwerten Berufseinstiegs-
möglichkeiten für zugewanderte Musikpädagog_innen mit einem ersten Ab-
schluss im Nicht-EU-Ausland reagiert und sich andererseits an den Bedarfen
der musikpädagogischen Praxis im Bereich der musikalischen Frühförderung
orientiert.
Natalie Glinka zeichnet in ihrem Praxisbericht die Bedingungen und die
Durchführung des Projektes Interkulturelles Singtandem: Umfassend singen und
musizieren im Kindergarten nach. Das Projekt wurde im akademischen Jahr
2017/2018 ausgehend vom Fachbereich der Elementaren Musikpädagogik der
Hochschule für Musik Freiburg ins Leben gerufen, mit dem Ziel, kultursensi-
ble musikalische Bildung in Kindertageseinrichtungen zu fördern.
In dem Praxisbericht mit dem Titel Kommunikation auf mehreren Ebenen stellt
Alexander Riedmüller auf Grundlage seiner musikpädagogischen Erfahrun-
gen an Berliner Grundschulen die Potentiale der Rhythmik als Methode der
Musik- und Bewegungspädagogik für nonverbale Kommunikationsformen im
Gruppenunterricht für Kinder mit unterschiedlichen Erstsprachen heraus.
Nach einleitenden praxistheoretischen Gedanken zu den Zielsetzungen gibt
Riedmüller an zwei Aufgabenbeispielen Einblick in seine Arbeitsweise an kul-
turell heterogenen Berliner Grundschulen.
In ihrem Beitrag Bühne unter Strom stellt Marie-Louise Tralle ein musik­
didaktisches Konzept vor, das sich Methoden aus der Theaterpädagogik bedient.
Ziel des Konzeptes ist es, einen emotionalen Zugang zu Musiken und Klang-
welten zu schaffen, die den Schülerinnen und Schülern zunächst nicht vertraut

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8 Einleitung

sind. Die Verfasserin hebt entsprechend die besondere Chance des Ansatzes
für die Interkulturelle Musikpädagogik hervor.

Der Überblick über die Themen der Beiträge macht deutlich, wie facettenreich
und zugleich kontrovers der Diskurs um Interkulturalität, Musik und Pädago-
gik nach wie vor ist. Das vorliegende Buch stellt daher gewissermaßen auch
nur einen Zwischenstand in einer Diskussion dar, deren Ende, Stand heute,
also im April 2020, noch lange nicht in Sicht ist. Auch deshalb nicht, weil die
Dinge gesellschaftlich wie institutionell im Wandel begriffen sind. Gesell-
schaftliche Phänomene wie (Alltags-)Rassismus und Rechtsextremismus sind
ebenso Anlass für musikpädagogische Diskussionen wie die wiederkehrende
Frage nach bildungspolitischer Integration der Themen Migration und Flucht.
Unsere Gesellschaften sind vielgestaltig und divers. Deshalb ist es eine wich-
tige gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die Potentiale von Vielfalt zu nutzen
und Strategien für ein konstruktives Miteinander zu entwickeln und zu leben.
Als zentrale Arenen der Gesellschaft sollte in Schule und Musikunterricht eine
Auseinandersetzung mit u. a. kultureller Heterogenität einen festen Platz ha-
ben. Daraus leitet sich ein Anspruch nach gelingendem interkulturell orientier-
ten (Musik-)Lehren und Lernen innerhalb der Institution Schule ab, der im
Rahmen dieses Sammelbandes erörtert wird.
Abschließend sei allen Autorinnen und Autoren, Gutachterinnen und Gut-
achtern und all jenen, die redaktionell an diesem Band mitgearbeitet haben,
sehr herzlich gedankt (vgl. i. d. B., S. 1). Auch bei Susanne Kittel möchten wir
uns für die wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung
des Symposiums herzlich bedanken. Zudem möchten wir uns bei der Hoch-
schule für Musik Freiburg bedanken, die den Band in die Reihe der Schriften
der Hochschule für Musik Freiburg aufgenommen hat. Ein besonderer Dank gilt
der Gisela und Peter W. Schatt Stiftung, die die Herausgabe mit einem groß­
zügigen Druckkostenzuschuss möglich gemacht hat.
Wir erhoffen uns mit diesem Band Impulse für konstruktive Forschungs­
arbeiten und innovative Entwicklungen in der (Schul-)Praxis und der Hoch-
schullehre zu geben und wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!

Freiburg im April 2020


Thade Buchborn, Eva-Maria Tralle und Jonas Völker

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Thade Buchborn

Interkulturalität, Migration und Musikunterricht


Spannungsfelder zwischen Schulpraxis und Theorie und daraus
­resultierende Herausforderungen für Musikdidaktik, Lehrer*innenbildung
und Forschung

Cultural Diversity, Migration and School Music Education


Differences Between School Practice and Theory Reveal Challenges
for Music Education, Teacher Training and Research

Der vorliegende Beitrag zeigt, wie Musiklehrkräfte im Unterrichtsalltag mit Interkul-


turalität und Migration umgehen und an welchen expliziten und impliziten Wissens-
beständen ihr Handeln in der Alltagspraxis orientiert ist. Die Datenbasis bilden aus-
gewählte Passagen aus Gruppendiskussionen mit Musikkollegien von verschiedenen
Gymnasien zum Themenfeld „Interkulturalität, Migration und Musikunterricht“.
Meine Interpretationen verweisen auf eine große Diskrepanz zwischen den von den
Lehrer*innen formulierten normativen Ansprüchen und den Umgangsweisen im
Unterricht. So bildet Interkulturalität einen Nebenschauplatz im Unterricht, bei der
Unterrichtsgestaltung orientieren sich Lehrkräfte an einem normativen, ethnisch-
holistischen und statischen Kulturverständnis, im Zentrum des Unterrichts steht das
Verstehen klassischer Musik. Diese Befunde diskutiere ich im Kontext theoretischer
und konzeptioneller Positionen interkultureller Musikpädagogik. Daran werden
Spannungsfelder zwischen wissenschaftlichem Diskurs und Schulpraxis deutlich, von
denen ich aktuelle Herausforderungen und Perspektiven für eine interkulturell orien-
tierte Musikpädagogik auf der Ebene der Forschung, Lehrer*innenbildung und Schul-
praxis ableite.

This article shows secondary music teachers’ strategies for dealing with cultural diver-
sity and migration; it also discusses shared implicit and explicit knowledge that orientate
teachers in their everyday teaching. Findings arise from data collected in group discus-
sions on cultural diversity, migration and music in school. The study shows a discrep-
ancy between teachers’ explicit norms and actual practice. Cultural diversity sits on the
sidelines of music lessons, teachers refer to a normative, ethnic-holistic and static concept
of culture; understanding classical music is the prior goal of the lessons. These findings
are discussed with regard to theoretical positions in the discourse of cultural diversity in

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10 Thade Buchborn

German music education. Discrepancies between the academic discourse and school
practice are revealed and issues and perspectives concerning cultural diversity in music
education in school, research and teacher training are explored.

Wenngleich es bereits seit vielen Jahren einen intensiven wissenschaftlichen


Diskurs zum Verhältnis von Interkulturalität und (musikalischer) Bildung gibt,
ist das Themenfeld gerade in letzter Zeit wieder verstärkt in den Fokus musik-
pädagogischen Nachdenkens gerückt – nicht zuletzt durch die Debatten
darum, wie Migration und Flucht unsere Gesellschaft und damit auch unser
Bildungswesen herausfordern und verändern. Durch die verstärkte öffentliche
Wahrnehmung von Migration steigt die Sensibilität im Umgang mit Heteroge-
nität und damit auch der Anspruch an die schulische Arbeit. Bildungspoliti-
sche Forderungen richten sich insbesondere an Lehrkräfte und stellen diese
vor neue Herausforderungen.
In einer derzeit laufenden Studie interessiert mich, wie Musik­leh­rer*innen
mit diesen Herausforderungen umgehen und das Themenfeld Interkulturalität,
Migration und Musikunterricht vor dem Hintergrund ihrer Alltags­erfahrungen
diskutieren. Im Rahmen des Forschungsprojektes habe ich Gruppendiskussi-
onen an bislang drei Gymnasien mit sehr unterschiedlichen Schulprofilen er-
hoben. Ziel ist es, auf Grundlage dieser Daten mit Hilfe der dokumentarischen
Methode die handlungsleitenden Wissensbestände herauszuarbeiten, an de-
nen sich Lehrer*innen in der Unterrichtspraxis im Umgang mit Interkulturali-
tät und Migration orientieren.
In diesem Artikel möchte ich unterschiedliche punktuelle Einblicke in mein
Datenmaterial und meine Interpretationen geben. Ich habe Passagen ausge-
wählt, an denen sich Alltagstheorien, unterrichtliche Routinen, aber auch
Herausforderungen im Umgang mit Interkulturalität und Migration in der
Schulpraxis rekonstruieren lassen. Dabei zeigen sich Beziehungen und Span-
nungsfelder zwischen Normen und Routinen aus der schulischen Praxis auf
der einen Seite sowie wissenschaftlichen Positionen aus dem Fachdiskurs der
interkulturellen Musikpädagogik auf der anderen Seite. Daran werden Bezüge
und Differenzen zwischen schulischem Handeln und wissenschaftlichem
Nachdenken deutlich, von denen zukünftige Aufgaben und Perspektiven für
eine interkulturell orientierte Musiklehrer*innenbildung, Forschung und Un-
terrichtspraxis abgeleitet werden können. Viele dieser Herausforderungen
sind nicht neu – man findet sie z. T. bereits tief in den Mottenkisten unseres
Diskurses –, dennoch zeigen die Ergebnisse meiner Studie, dass sie im Unter-
richtsalltag nach wie vor relevant sind.

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Interkulturalität, Migration und Musikunterricht 11

1. Ein Rückblick auf 40 Jahre interkulturelle Musikpädagogik

Als Ausgangspunkt für meine Überlegungen und Bezugspunkt für die anschlie-
ßende Diskussion meiner empirischen Befunde dient ein Rückblick auf den
musikpädagogischen Diskurs. Seit mindestens 40 Jahren1 werden bildungstheo-
retische Grundlagen sowie konkrete Konzepte interkultureller Musikpädagogik
diskutiert: Wichtige Stationen bilden die Arbeiten von Irmgard Merkt (1983),
Reinhard C. Böhle (1996), Wolfgang Martin Stroh (2000), Dorothee Barth (2007),
das Studienbuch Aspekte interkultureller Musikpädagogik, herausgegeben von
Anne Niessen & Andreas Lehmann-Wermser (2012), sowie Beiträge von Thomas
Ott, Bernd Clausen, Peter W. Schatt, Oliver Kautny, Olivier Blanchard und vielen
anderen.2 Zudem sind Unterrichtsmaterialien wie Musik in Schwarzafrika von
Volker Schütz (1992), Vom Umgang mit dem Fremden von Ernst Klaus Schneider
(1996), Interkultureller Musikunterricht von Matthias Kruse (2003), Musik der Welt –
Welten der Musik von Reto Capol (2005), die aktuellen Publikationen von Malte
Sachsse und Peter W. Schatt (2016, 2017) ­u. a. zentrale Wegmarken. Mittlerweile
sind Aspekte interkultureller Musikpädagogik nicht nur in themenspezifischen
Publikationen zu finden, sondern integrativer Bestandteil vieler neuer Schul-
buchpublikationen (vgl. z. B. Brassel, 2012).
Einhergehend mit ihrer wachsenden Bedeutung wurde die interkulturelle
Musikpädagogik zunehmend ausdifferenziert und um neue thematische
­Aspekte erweitert. Dennoch machen mehrere systematisierende Beiträge deut-
lich, dass sich der Diskurs entlang thematisch voneinander abgrenzbarer Li-
nien entwickelt. Bereits im Jahr 2000 arbeitet Dorothee Barth bei der Analyse
von Unterrichtmaterialien und Konzepten „drei Sichtweisen auf Kultur“ her-
aus (Barth, 2000, S. 28):

„1. Interkulturalität als Begegnung von Kulturen: Kultur bezeichnet ein (ethni-
sches) Kollektiv;
2. Interkulturalität als Begegnung mit (fremden) Musiken: Kultur objektiviert
sich in musikalischen Gegenständen;
3. Interkulturalität als individuelle Verortungsmöglichkeit: Kultur bedeutet: ein
Prozeß mit ‚offenen Grenzen‘.“ (Barth, 2000, S. 28–29)

1
Teilthemen des Diskurses sind schon länger Gegenstand des musikpädagogischen Diskurses
(vgl. Clausen, 2011). Allerdings teile ich die Einschätzung von Oliver Kautny, dass sich „die
deutschsprachige IME in den 1980er Jahren überhaupt erst als eigenständige Teildisziplin der
Musikpädagogik herausbildete – eine Phase der IME, die insbesondere mit den Namen Irm-
gard Merkt und Dorit Klebe verbunden ist“ (Kautny, 2010, S. 27).
2
Einen guten Überblick bieten die von Wolfgang Martin Stroh und Thomas Ott zusammenge-
stellten Literaturlisten, die auf der Homepage https://www.interkulturelle-musikerziehung.
de zu finden sind.

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12 Thade Buchborn

Oliver Kautny (2010) unterscheidet zwischen „zwei inhaltlichen Polen“:


„Vereinfacht – aber heuristisch hilfreich – lassen sich die genannten genrebezo-
genen Gegenstände und die damit verbundenen Fachdiskurse zwei inhaltlichen
Polen zuordnen: Zum einen beschäftigt sich die IME mit den musikalischen
Kulturen der Welt, also etwa der Musik aus Afrika oder Asien. Zum anderen
setzt sie sich mit den musikalischen Migrantenkulturen in Deutschland ausein-
ander […].“ (Kautny, 2010, S. 27)

An Bernd Clausens (2011) historischer Darstellung der Auseinandersetzung


mit musikethnologischen Themenfeldern als Aufgaben des Musikunterrichts
wird deutlich, dass diese beiden Dimensionen des Diskurses sich mindestens
seit den späten 1970er- bzw. frühen 1980er-Jahren abzeichnen. In ähnlicher
Weise unterscheidet schließlich auch Thomas Ott zwischen der thematischen
Perspektive des „Migrationsbezugs“ und jener des „musikkulturellen Bezugs“
(Ott, 2012, S. 115):
„Die migrationsbezogene Linie (nennen wir sie Linie 1) beginnt mit dem pädago-
gischen Interesse an Menschen, führt zu deren (musikalischer) Kultur und mün-
det in der Frage, ob und wie diese Kultur eine Rolle in der Pädagogik spielen
könnte. Linie 2 beginnt mit dem Interesse an bestimmten Musikstilen und führt
(vielleicht) zur Frage nach den Menschen, die sie geschaffen haben, und nach
deren Kultur.“ (ebd.)

Einerseits wird im Fachdiskurs der interkulturellen Musikpädagogik demnach


verhandelt, wie im Musikunterricht auf die durch Migration veränderte Situa-
tion in einem sog. „multiethnischen“ (Heintze, Helbig, Jungbluth, Kienast &
Marburger, 1997) Klassenraum eingegangen werden kann. Andererseits geht
es darum, welche Musikkulturen für den Musikunterricht relevant sind und
wie besonders Inhalte aus dem Bereich der Weltmusik unterrichtlich vermittelt
werden können.
Der breite musikpädagogische Diskurs muss darüber hinaus im Kontext der
Diskurse in den Bezugswissenschaften gesehen werden: In Bildungswissen-
schaft, Pädagogik, Soziologie, Cultural Studies, Philosophie und vielen ande-
ren Disziplinen wird ebenfalls seit mehreren Jahrzehnten intensiv über Kultur
und das Verhältnis von Kulturen im Kontext von Lernen, Pädagogik und Bil-
dung nachgedacht (vgl. z. B. in der Erziehungswissenschaft und Pädagogik
Auernheimer, 82015; Holzbrecher, 2004; Krüger-Potratz, 2005; Nieke, 2008).
In meiner Zeit als Berliner Lehrer hat mir hinsichtlich der Fülle an Publika-
tionen zur interkulturellen Bildung und Musikpädagogik oft der Kopf ge-
schwirrt. Je tiefer ich mich in bildungstheoretische Positionen eingearbeitet
habe, umso handlungsunfähiger habe ich mich in der Schule gefühlt. Das lag

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Interkulturalität, Migration und Musikunterricht 13

zum einen an der Komplexität der Sache: Was ist eigentlich Kultur? Was bedeu-
tet Interkulturalität? In welcher Beziehung steht Interkulturalität mit der Hete-
rogenität unserer Gesellschaft und Migration? Zum anderen stehen Lehrkräfte
vor schier unlösbaren Aufgaben, die sich durch die hohen normativen Ansprü-
che ergeben, die den Diskurs rund um das Themenfeld mitunter bestimmen –
von Bildungsgerechtigkeit bis Völkerverständigung in der Weltgesellschaft
(vgl. Kautny, 2018a und 2018b). Seit dieser Zeit interessiere ich mich für das
Verhältnis von Theorie und Schulpraxis interkultureller Bildung und für die
Sichtweisen der Lehrenden auf dieses Themenfeld. Insbesondere in der Musik-
pädagogik fehlen aktuell allerdings detaillierte Studien zu den Überzeugun-
gen, Einstellungen und zur Handlungspraxis von Akteur*innen im interkultu-
rellen Musikunterricht: Der noch überschaubaren Zahl empirischer Arbeiten
steht eine „Tonne Theorie“ (Ott, 2006, S. 5) gegenüber, wie Thomas Ott es bereits
vor knapp 15 Jahren etwas überspitzt formuliert hat.

2. Perspektiven und Umgangsweisen mit Interkulturalität


von (Musik-)Lehrkräften

Während in den Jahren seit Otts Befund einige spannende Arbeiten zu den
Perspektiven von Schüler*innen entstanden sind3, liegen zu den Perspektiven
von Musiklehrkräften auf Interkulturalität – Musik – Pädagogik sowie deren
Umgang mit Aspekten interkultureller Musikpädagogik in der Unterrichts­
praxis bezogen auf den deutschsprachigen Raum bislang wenige Arbeiten vor
(vgl. Knigge, 2012; Ott, 2006).
Susanne Dannhorn (1996) hat im Rahmen ihrer Staatsexamensarbeit Inter-
views mit 20 Musiklehrer*innen an Grundschulen geführt und herausgearbei-
tet, dass interkulturelle Musikpädagogik aus Sicht der Lehrenden in der Aus-
bildung wenig präsent ist, es an Materialien sowie Fortbildungen mangelt und
die Lehrer*innen wenig Motivation verspüren, das Thema verstärkt zu behan-
deln. Isolde Malmberg (2013) hat fünf Projektbeispiele analysiert, in denen
interkulturelle Themen bearbeitet werden, und erhebt Gruppendiskussionen
mit den beteiligten Lehrkräften. Auf dieser Grundlage hat sie Chancen und

3
In den letzten Jahren sind einige spannende Arbeiten zur Perspektive von Schüler*innen und
Jugendlichen entstanden, die in der Hauptsache die Musikpräferenzen insbesondere türki-
scher Migrant*innen fokussieren und sich dabei nicht nur auf den Kontext Schule beziehen
(vgl. z. B. Ott, 2006; Wurm, 2006; Schmidt, 2015; Honnens, 2017). Jonas Völker arbeitet zudem
in seinem derzeit laufenden Dissertationsprojekt heraus, welche impliziten und expliziten
Wissensbestände das Handeln von Lernenden im interkulturell orientierten Musikunterricht
leiten (vgl. Völker, i. d. B.; Buchborn & Völker, 2019).

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Hürden von Projektarbeit und Lehrgangsunterricht in der „Welt-Musik-Päda-


gogik“ (Malmberg, 2013, S. 237) herausgearbeitet. Eva-Maria Tralle arbeitet im
Rahmen des Projektes Kooperative Musiklehrer/innenbildung Freiburg (KoMuF)4
heraus, welche Rolle biographische Erfahrungen von Lehrkräften im Umgang
mit Interkulturalität spielen (vgl. Tralle, i. d. B.), und Anne Bubinger von der
Universität Osnabrück forscht aktuell im Rahmen einer Grounded-Theory-
Studie zu den Perspektiven von Musiklehrer*innen auf einen interkulturellen
Musikunterricht. Dennoch wird deutlich, dass die Forschungslage zur Per-
spektive von Musiklehrenden auf Interkulturalität und Musikunterricht noch
recht lückenhaft ist.
Dagegen liegen bereits einige Studien ohne fachspezifischen Fokus zur Leh-
rendenperspektive auf das Themenfeld Migration, Interkulturalität und Bildung
vor. Helga Marburger, Gisela Helbig und Eckhard Kienast (1997) führten bereits
1993/94 eine Studie zu Sichtweisen und Orientierungen Berliner Grundschullehrerin-
nen und -lehrer zur Multiethnizität der bundesdeutschen Gesellschaft und den Konse-
quenzen für Schule und Unterricht durch und befragten mit Hilfe von Leitfadenin-
terviews 40 Berliner Grundschullehrer*innen. Die Autor*innen stellten fest, dass
sich die Teilnehmer*innen in den Befragungen um einen „politisch korrekten
Sprachgebrauch“ (Marburger, Helbig & Kienast, 1997, S. 57) bemühten und ins-
besondere bei Lehrkräften in Ostberliner Bezirken ein „offensichtliches Bemü-
hen [deutlich geworden sei], trotz Angst, sozialer Verunsicherung, fremden-
feindlicher und -abwehrender Orientierungen mit ihren Aussagen nicht das
Stereotyp des ‚fremdenfeindlichen Ostdeutschen‘ zu bedienen, sondern sich
weltoffen und liberal zu geben bzw. so zu sein“ (ebd., S. 56). Das Themenfeld ruft
gesellschaftlich und insbesondere in pädagogischen Kontexten offensichtlich
große Verunsicherungen hervor. Das Sprechen über Interkulturalität scheint in
der Gesellschaft von hohen normativen Ansprüchen gerahmt zu sein. Vor die-
sem Hintergrund ist auch eine von den Autor*innen herausgearbeitete Diskre-
panz zu interpretieren. Auf der einen Seite wurde in den Interviews der Einbe-
zug von Minderheitenkulturen gefordert. Auf der anderen Seite reduzierten die
befragten Lehrkräfte Minderheitenkulturen (implizit) auf Folkloristisches, Kuli-
narisches und Brauchtum, berichten in den Gesprächen kaum von eigenen Un-
terrichtserfahrungen und orientieren sich an einer von Schüler*innen mit Migra-
tionshintergrund erwarteten An- und Einpassung. Zudem greifen die Befragten
argumentativ auf Legitimationsstrategien zurück, wie etwa im Verweisen auf

4
Das Projekt KoMuF – Kooperative Musiklehrer/-innenbildung Freiburg wird im Rahmen des
Programms „Leuchttürme der Lehrerbildung ausbauen“ vom Land Baden-Württemberg
­
gefördert.

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Interkulturalität, Migration und Musikunterricht 15

die fehlende Verankerung im Rahmenplan und die schulische Dominanz der


Mehrheitskultur (vgl. ebd., S. 57–61).
Ulf Over (2012) befragte in seiner Forschungsarbeit Die interkulturell kompe-
tente Schule 44 Lehrer*innen und zwei Sozialpädagog*innen einer Gesamt-
schule „in einem sogenannten Brennpunktstadtteil in Bremen“ (Over, 2012,
S. 101). Er arbeitete heraus, „[w]elches gemeinsame Konzept […] das Kollegium
bzgl. der idealen interkulturell kompetenten Schule“ (Over, 2012, S. 103) hat
und wie die Kolleg*innen das Entwicklungsziel einer interkulturell kompeten-
ten Schule vor dem Hintergrund ihrer eigenen Alltagspraxis in Schule und
Unterricht beurteilen (vgl. ebd.). In der Analyse seiner Daten identifizierte Over
schließlich drei zentrale Spannungsfelder: In Bezug auf die „Haltung zur kul-
turellen Vielfalt“ positionierten sich die Kolleg*innen zwischen den Polen der
„Abgrenzung“ und „Offenheit“ (Over, 2012, S. 118). Hinsichtlich des „Umgang[s]
mit kultureller Vielfalt in der Schule“ bewegten sich die Themen zwischen den
Polen der „Überlastung“ und dem „aktiven Gestalten“ (ebd.). Schließlich iden-
tifizierte Over als drittes übergeordnetes Diskursthema die „Frage nach der
Verantwortung für Integration“ (ebd.):
„Hier bilden einerseits die Zuschreibung dieser Verantwortung auf die Institu-
tion Schule und andererseits die Zuschreibung auf die Schüler die beiden extre-
men Pole im Diskursfeld.“ (ebd.)

Inka Wischmeier (2012) forschte in einer quantitativ angelegten Studie zu


„Teachers’ Beliefs“: Überzeugungen von (Grundschul-) Lehrkräften über Schüler und
Schülerinnen mit Migrationshintergrund und betont, dass Überzeugungen neben
dem Fachwissen einen bedeutenden Einfluss auf das professionelle Handeln
von Lehrkräften haben. Sie arbeitete u. a. heraus, dass die von ihr befragten
Grundschullehrkräfte Schüler*innen mit Migrationshintergrund „eine gerin-
gere Leistungserwartung entgegenbringen“ und deren Eltern „fehlende schu-
lische Unterstützung […] als auch eine größere Distanz zum deutschen Schul-
system“ (ebd., S. 181) zuschreiben.
Der knappe Literaturbericht zeigt, dass die Perspektiven von (Musik-)Leh-
renden und deren Umgang mit Migration und Interkulturalität im (Musik-)
Unterricht ein problembeladenes und sensibles Themenfeld darstellen, in dem
noch viele Fragen offen sind. Ein Befund, der in mehreren Studien hervorgeho-
ben wird, ist die Ambivalenz zwischen dem Bemühen, der Norm einer offe-
nen, inklusiven Gesellschaft gerecht zu werden, einerseits sowie den stereo­
typen, defizitorientierten Sichtweisen, Überzeugungen und Orientierungen,
der Distanzierung zum Themenfeld sowie der mangelnden Erfahrung von
Lehrkräften andererseits.

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3. Eine dokumentarische Studie zu Orientierungen von Musiklehrkräften


im Umgang mit Migration und Interkulturalität im Musikunterricht

Dieses Spannungsfeld fokussiere ich in der Studie Interkulturalität, Migration


und Musikunterricht, in der ich herausarbeite, wie Musiklehrer*innen unter
dem Handlungsdruck eines vollen Deputats im Unterrichtsalltag mit den viel-
fältigen Facetten von Interkulturalität umgehen. Um diesen Fragen nachzuge-
hen, führe ich5 Gruppendiskussionen mit Kolleg*innen, die an einer Schule
gemeinsam arbeiten und somit einen gemeinsamen Erfahrungsraum teilen.
Ich bitte sie, sich über das Themenfeld Interkulturalität, Migration und Musik­
unterricht vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen aus dem Schulalltag auszu-
tauschen. Durch die Interpretation der Gruppendiskussionen mit Hilfe der
dokumentarischen Methode (Bohnsack, 2014; Bohnsack, Przyborski & Schäfer,
2010) möchte ich die themenbezogenen Orientierungen von Musiklehrer*innen
im Verhältnis zu unterschiedlichen Schulprofilen und -standorten rekonstruie-
ren. Dabei wird in der dokumentarischen Methode zwischen kommunikativen
Wissensbeständen, die den Befragten reflexiv zugänglich sind (Normen, Com-
mon-Sense-Theorien, Überzeugungen etc.), und dem konjunktiven, ‚atheoreti-
schen‘ und impliziten Wissen als handlungsleitende Wissensbestände diffe-
renziert (vgl. Bohnsack, 2017, S. 63–89).
Das Datenmaterial umfasst derzeit drei Gruppendiskussionen von Musik­
lehrer*innenkollegien an Gymnasien mit sehr unterschiedlichen Schulprofilen.
Gruppendiskussion #1 wurde an einem Mädchengymnasium in kirchlicher Trä-
gerschaft in einer deutschen Großstadt (ca. 200.000 Einwohner*innen) geführt.
Zum Erhebungszeitpunkt hatten 7 % der Schüler*innen an dieser Schule Deutsch
nicht als Muttersprache und 2,45 % nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. An der
Diskussion nahmen drei Lehrerinnen und ein Lehrer teil. Gruppendiskussion #2
wurde in einer deutschen Millionenstadt an einem Gymnasium mit Musikprofil
(>2 Millionen Einwohner*innen) erhoben. Durch Kooperationen mit Musikuni-
versitäten und -konservatorien erhalten die Schü­ler*innen neben dem allgemein-
bildenden Unterricht musikalische Bildungsangebote wie Instrumentalunter-
richt, Chor und Orchester, Musiktheorie- und Gehörbildungsunterricht. Dort
hatten 10 % der Schüler*innen nicht Deutsch als Muttersprache und 17,14 % der
Schüler*innen nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. An der Diskussion nahmen
zwei weibliche und zwei männliche Lehrkräfte teil.
Die Musiklehrkräfte der Diskussion #3 arbeiteten an einem Gymnasium mit
einem hohen Anteil an ausländischen Schüler*innen und Schüler*innen mit

5
In der Durchführung der Studie unterstützen mich Verena Bons, Mirjam Hettich und Eva-
Maria Tralle.

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Interkulturalität, Migration und Musikunterricht 17

Migrationshintergrund in einer deutschen Millionenstadt (>2 Millionen Ein-


wohner). Musik kann als Schwerpunktfach gewählt werden und die Schule
bietet Bläser- und Streicherklassen an. Des Weiteren sind für begabte Schü­
ler*in­nen Schnelllernklassen eingerichtet und im Rahmen eines spezifischen
pädagogischen Programms wird z. B. durch freie Lernzeiten das selbstgesteu-
erte Lernen der Schüler*innen gefördert. Zum Zeitpunkt der Erhebung hatten
an dieser Schule 66,5 % der Schüler*innen Deutsch nicht als Muttersprache
und 14,87 % hatten nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. An der Diskussion
nahmen drei Lehrerinnen und ein Lehrer teil.

4. Befunde aus der Schulpraxis im Kontext des Diskurses


zur interkulturellen Musikpädagogik

Im Folgenden zeige ich an ausgewählten Gesprächsauszügen, wie die befrag-


ten Musiklehrkräfte die zentralen Linien des Diskurses Migrationsbezug und
musikkultureller Bezug im Kontext ihrer professionellen Praxis diskutieren, an
welchen Kulturbegriffen sie sich in der Gestaltung des Musikunterrichts orien-
tieren, in welchem Verhältnis die Musikinteressen der Lehrenden und der
Lernenden
229 zueinander
mitbringt. undund zu den
da denk Inhalten
ich gibt’s auchdes Unterrichts
große stehen
Unterschiede; undjetzt
also (.) wie die
Lehrer*innen
230 malim Studium
noch=n aufweiter
bisschen das interkulturelle
weg geht eh TürkeiArbeiten im Musikunterricht
zum Beispiel (.) also eh d-
231
vorbereitet (2) es gibt glaub ich innerhalb der Türkei einfach riesige Unterschiede was
wurden.
232 die Kultur betrifft. (.) eh es gibt in in Istanbul oder so gibt es eh ehm
233 Intellektuelle die die haben ne n völlig die denken völlig europäisch, und es
234 gibt in Ankara wahrscheinlich oder oder in Konya oder so gibt es Leute
4.1
235 Migrationsbezug @die denken@und ganzmusikkultureller
anders; und des isBezug
eigentlich n ganz andere Kultur. (.)
236 ja, also von da her finde ich Nation und Staat und so weiter des is
237 Aufgaben“
„Zwei eigentlich des trifft es nich ganz.
238 Y: mmm
239 Dm: also (.) ehm (.) zwei Gedanken. (.) mmm Interkulturalität das is n
240 pädagogischer Auftrag das heißt Schüler die (.) n Migrationshintergrund
241 haben und sich an deutschen Schulen fremd fühlen, sollen mit unserer
242 Hilfe dazu befähigt werden dass sie sich heimisch fühlen,
243 Bm: mmm
244 Dm: an der Schule. das ( ).
245 Bm: └ mhm ┘
246 Dm: und dann Interkulturalität als (.) Unterrichts- Inhalt, das wär denn sowas was
247 wir machen wenn wir im vierten Semester mit ganz viel auch Reflexion
248 Af: └ vierten Semester ┘
249 Dm: (.) an eine Musik rangehen die aus einem anderen Kulturkreis kommen und
250 von der die Musikethnologen. sagen. gib’s auf? du kommst da sowieso
251 nich ran mit deinem europäischen Musikverständnis. nh? sich da jetzt n
252 Bm: └ mhm ┘
253 Cf: └ (@.@) ┘
254 Weg zu bahnen dass man diesen eh Gegenstand der einem immer fremd
255 bleiben wird sich doch n bisschen annähert um auch sichtbar zu machen
256 wie weit eh sind diese Kulturkreise vonenander entfernt. ne. das is n ganz
257 anderer Auftrag an uns. ne und eh ehm und ich pf eh ich
258 Bm: └ mhm ┘
259 Af: └ und dazu suche
260 ich da aber auch immer Spezialisten auf. also entweder im Museum oder
261 in in ner Botschaft oder so, weil ich dann denke ich kann das gar nich so
262 vermitteln, weil ich eben kein echter Indonesier bin deswegen (.)
263 Cf: └ mhm ┘
264 Af: nehm ich des nutz ich das An- Angebot von der Botschaft. ┘
265 Bm: └ klar ja (.) genau ┘
266- Interkulturalitä
Freiburger Hochschulreihe Bm: genau.
t - Musik - mhm.
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18 Thade Buchborn

Die Ausführungen des befragten Musiklehrers (Dm) weisen aus meiner Sicht
starke Parallelen zu den zwei Linien des Diskurses zur interkulturellen Musik-
pädagogik auf, die Ott (2012) beschrieben hat (s. o.). Dm beschreibt Interkul­
turalität zunächst als „pädagogischen Auftrag“ (#2, 240): „Schüler die (.) n
Mi­grationshintergrund haben und sich an deutschen Schulen fremd fühlen,
sollen mit unserer Hilfe, dazu befähigt, werden, dass sie sich heimisch füh-
len, an der Schule“ (#2, 240–244). Dieser auf die Schüler*innen mit Migrations-
hintergrund bezogene Ansatz findet seine Entsprechung in der von Ott als
„migrationsbezogene Linie“ (Ott, 2012, S. 115) beschriebenen Facette des Dis-
kurses. In Analogie zu Otts „Linie 2“ (ebd.) beschreibt Dm im weiteren Verlauf
des Ausschnittes „Interkulturalität als Unterrichtsinhalt“ (#2, 246) als weitere
Aufgabe des Musikunterrichts und macht deutlich, dass er die Vermittlung der
Musik anderer Kulturen als eine schwere, wenn nicht gar unlösbare Aufgabe
bewertet (vgl. #2, 246–257).
Neben der Nähe zu den von Ott und anderen identifizierten Diskurslinien
lassen sich in den Ausführungen von Dm aber auch noch weitere Aspekte re-
konstruieren. Indem Dm beschreibt, dass Schüler*innen mit Migrationshinter-
grund dabei unterstützt werden sollten, dass sie sich „heimisch fühlen an der
Schule“ (#2, 242–244), wird eine Defizitorientierung im Umgang mit Lernenden
mit Migrationshintergrund und zugleich eine Orientierung an der sogenann-
ten Mehrheitskultur deutlich. Dadurch, dass in der Argumentationsfigur zwi-
schen der „deutschen Schule“ und Schüler*innen mit Migrationshintergrund,
die sich „an deutschen Schulen fremd fühlen“ (#2, 241), differenziert wird,
zeigt sich zudem eine als Othering (vgl. z. B. Mecheril & Thomas-Olalde, 2011)
bezeichnete Distanzierungspraktik. Ein anderer Aspekt, der in diesem Auszug
insbesondere an der Differenzierung zwischen „deutscher Schule“ und
Schüler*innen mit Migrationshintergrund, aber auch durch die starke Hervor-
hebung der Distanz zwischen dem eigenen „europäischen Musikverständnis“
(#2, 251) und der Musik, „die aus anderen Kulturkreisen komm[t]“ (#2, 249),
deutlich wird, ist die implizite Orientierung an einem statischen und ethnisch-
holistisch geprägten Kulturverständnis.
An der Interpretation dieses kurzen Gesprächsauszuges wird meiner An-
sicht nach ein in der interkulturell orientierten Musikpädagogik altbekanntes
Dilemma deutlich: Durch die Fokussierung auf Migration und Weltmusik wird
Differenz hergestellt bzw. hervorgehoben, anstatt diese zu überwinden, wie
es in dem zumeist normativ geprägten Diskurs zur interkulturellen Bildung
vielfach gefordert wird. Dies gilt für beide ‚Linien‘ des Diskurses. Schüler*innen
mit Migrationshintergrund werden durch die Adressierung als vermeintli-
che Expert*innen oder aber durch die Identifikation als Förderbedürftige zu

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‚Anderen‘ gemacht (vgl. z. B. Barth, 2013; Merkt, 2019, S. 172–173; Völker, i. d. B.)
und Weltmusik wird zum Sonderfall in einem sonst eurozentristisch gepräg-
ten Musikunterricht (vgl. z. B. Blanchard, i. d. B.).
Eine Herausforderung für die interkulturelle Musikpädagogik liegt daher
meines Erachtens darin, die enge Perspektivierung auf den Migrationsbezug
der Lernenden und ‚außereuropäische‘ Musik zu überwinden. Musikdidak-
tisch könnte dem dargestellten Dilemma aus meiner Sicht begegnet werden,
indem Otts ‚Linie 1‘ dahingehend erweitert wird, dass der Blick nicht mehr
allein auf die Migrationserfahrung weniger Schüler*innen oder deren (Groß-)
Eltern, sondern vielmehr auf die (musik-)kulturellen Erfahrungen, Interessen
und Verortungen aller Lernenden gerichtet wird. Würden die musikkulturel-
len Verortungen jedes Einzelnen differenziert thematisiert, würden hybride
Überlagerungen und kulturelle Mehrfachverortungen deutlich, die den Nor-
malfall und nicht eine Besonderheit darstellen. Stereotype Zuschreibungen
und Pauschalisierungen, die durch die Überbetonung der ethnischen Herkunft
von Lernenden entstehen, träten in den Hintergrund.
Z. T. finden sich auch in Unterrichtsmaterialien bereits Beispiele für Musi-
kerportraits, die differenziertere Bilder (musik-)kultureller Realität zeichnen.
Im Kapitel Die Kora aus Westafrika im Musikbuch 1 (Brassel, 2012, S. 134–145)
wird der Berliner Musiker Djelifily Sako portraitiert, wodurch einerseits ge-
zeigt wird, dass eine aus Mali stammende Musiktradition auch in Deutschland
lebendig ist, andererseits geht aus dem Portrait hervor, dass Sako neben tradi-
tionellen Kora-Stücken auch Musik von Bach spielt und in Jazzensembles mu-
siziert (vgl. ebd., S. 136) und damit unterschiedlichen Musikkulturen Bedeu-
tungen zuschreibt. Einen ähnlichen Ansatz findet man im von Jonas Völker
entwickelten Unterrichtsmaterial zum arabischen Liebeslied Bint el Shalabiya.
Hier wird der Musiker Samir Mansour portraitiert, der in Damaskus u. a. klas-
sische Tuba im staatlichen Sinfonieorchester gespielt hat und heute als Oud-
Spieler in Stuttgart lebt (vgl. Buchborn & Völker, 2019). Wünschenswert wäre
es, wenn Unterrichtsmaterialien zukünftig noch einen Schritt weitergehen
würden: Warum greift nicht ‚Friederike‘ (s.u.) zur Djembe?
Eine weitere Chance liegt in der Erweiterung der ‚Linie 2‘, dahingehend, den
Musikunterricht grundlegend an der Vielfalt musikkultureller Erscheinungs-
formen zu orientieren, anstatt die sogenannte Weltmusik wie bisher als ‚Son-
derfall‘ zu markieren. Bei allen Musiken wäre dann zu fragen, wie sie musik-
kulturell gegenwärtig und zur Zeit ihrer Entstehung verortet sind und waren.
Weitergehend wäre es aus meiner Sicht lohnend, auch verstärkt die Bezüge
der beiden Linien zueinander in den Blick zu nehmen. Im Musikunterricht
könnten differenzierter die Interessen und musikkulturellen Verortungen der

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Lernenden und Lehrenden (erweiterte Linie 1) den Ausgangspunkt für die


Auseinandersetzung mit Musik und ihrem jeweiligen kulturellen Kontext (er-
weiterte Linie 2) darstellen.6 Der Ansatz des interkulturellen Lernens würde in
der Reflexion des Verhältnisses des individuellen Standpunktes zur Musik, die
im Unterricht thematisiert wird, aufgehen.7 Peter W. Schatt hat 2007 diesbezüg-
lich Folgendes formuliert:

„[I]nterkulturelle Musikerziehung [ist] damit eine Sonderform des Umgangs mit


dem Fremden – jenes Fremden, das dem Freund alter Musik in der neuen begeg-
net oder dem Freund des HipHop in den Kompositionen Mozarts. Die Fragen, die
gestellt und beantwortet werden müssen, sind dieselben Fragen, die sich auch im
Umgang mit dem Neuen, Unbekannten ergeben: Was kann ich tun, damit sich
nicht Abwehr, sondern Neugier einstellt, nicht Abneigung, sondern Interesse an
der Auseinandersetzung?“ (Schatt, 2007, S. 118–119)

Wäre es nicht eine spannende Aufgabe für den Musikunterricht, eine Plattform
für die Reflexion der eigenen Position im Verhältnis zu der von anderen
An­wesenden und Nichtanwesenden zu sein? Welche musikkulturellen Erfah-
rungen und Vorlieben bringen sowohl die Lernenden als auch die Lehrenden
mit in den Unterricht und wie können die zumeist heterogenen musikkulturel-
len Verortungen der Lerngemeinschaft miteinander ins Spiel gebracht werden?
Wie können wir im Musikunterricht musikalische Praxen erlebbar und erfahr-
bar machen? „Prinzipiell interkulturell!“, wie Hans Jünger das 2003 bereits
formuliert hat (vgl. Jünger, 2003).8
Durch die Erweiterung der etablierten Diskurslinien würde die interkultu-
relle Musikpädagogik selbstverständlich ihr spezifisches Profil verlieren. Die
IMP zerrinnt oder alles wäre IMP. Aber vermutlich lassen sich die Ziele der
IMP erst dann erreichen, wenn die Auseinandersetzung mit Migration und
Weltmusik als Spezialaufgaben des Unterrichts und damit die interkulturelle
Musikpädagogik als ‚Sonderform‘ des Umgangs mit dem und den Fremden
überwunden sind. An ihre Stelle würde die Reflexion der musikkulturellen
Verortungen aller Akteure des Musikunterrichts und das Kennenlernen

6
Für einen solchen Ansatz müssten stärker die Lernvoraussetzungen der Schüler*innen beim
Umgang mit für die Lernenden fremden Musikkulturen berücksichtigt werden (vgl. Völker,
i. d. B.).
7
Vgl. dazu auch die Interviewpassage in Abb. 2 „Deutsch-Rap“, #483–490.
8
Christopher Wallbaums Überlegungen zum Kreieren, Erfahren und Vergleichen von „Musik-
praxen“ (vgl. Wallbaum, i. d. B.) bieten aus meiner Sicht spannende konzeptionelle Anknüp-
fungspunkte für einen prinzipiell interkulturell konzipierten bzw. grundsätzlich kultur­
reflexiven und -vergleichenden Musikunterricht. Seine Position wurde im Diskurs der
interkulturellen Musikpädagogik bislang allerdings nicht nachhaltig rezipiert.

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Interkulturalität, Migration und Musikunterricht 21

­ nterschiedlicher Musik in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext als Quer-


u
schnittsaufgabe bzw. ‚Normalfall‘ des Musikunterrichts treten (vgl. auch
Merkt, 2019, S. 173–175).

4.2 An welchen Kulturbegriffen orientieren sich Musiklehrkräfte


bei der Gestaltung ihres Unterrichts?

Während die letzte Passage ein Beispiel dafür war, dass die befragten Lehren-
den sich in der Unterrichtspraxis an einem statischen, ethnisch-holistischen
Kulturverständnis orientieren, verweist folgendes Zitat eher auf eine bedeu­
tungs(zuweisungs-)orientierte Position, um die im musikpädagogischen Dis-
kurs mehrheitlich verwendeten Begrifflichkeiten Dorothee Barths zu verwen-
438 vielleicht auch andere Probleme sind ne, die da ne Rolle
den
439 (vgl.
Cf: Barth, 2008). Ein Musiklehrer
└ eigentlich anja;
ga- (.) einer
ja; Schule,
┘ die die Lehrenden
Af: spielen also sch- die die Möglichkeit sich (.) sprachlichberichtet
selbst als „Hotspot“ für Migration und Interkulturalität bezeichnen,
440
441 auszudrücken; die richtigen Begriffe zu finden
Folgendes
442 Cf: jaüber seine Schüler*innen:
443 Bf: ja
444 Af: (.) ähm ne Syntax die man dann irgendwie so erwarten
„Deutsch-Rap“
445 würde. (#3, 447–490)
sowas halt ne,
446 Bf: Das war einfach auch
447 Dm: └ Was ich noch ähm spannend finde ich (.) ä:hm hab mit ner
448 Neunten jetzt im letzten Jahr äh Hiphop gemacht und mit ner
449 Zehnten hab ich äh so in diesen Jazz-Rock-Pop-Bereich
450 reingekuckt, und da ist natürlich erstmal so interessant ok; was
451 hört ihr was habt ihr da für=n Zugang und (.) die meisten sagen
452 halt ja ich hör Deutsch-Rap. #00:12:31-2#
453 Af: mh:m
454 Bf: └ mhm ┘
455 Cf: └ m-hm ┘
456 Dm: Und (.) da wird mir dann auch nochmal bewusst dass die (2)auch
457 gar nicht unbedingt Zugriff auf (.) des kulturelle Erbe ihrer
458 Ef: └ mhm ┘
459 Dm: Eltern oder sonst sowas haben also die (.)hör=n ja jetzt auch
460 Af: └ mhm ┘
461 Dm: nicht das Volkslied ihrer Großmutter aus Anatolien s- ähm
462 Af: └ mhm ┘
463 Dm: sondern (.) die versuchen sich ja auch da- oder die (.) wachsen
464 ja dann hier auch irgendwie auf und; mit der Musik die (.)
465 hier im Radio kommt oder die in den dann Peergroups dann
466 weitergegeben wird
467 Af: Stimmt (.) mhm.
468 Dm: └ Also des is dann irgendwie nochmal (.) so doppelt (.)
469 Kultur-also naja also wirklich
470 Af: └ Ja es is so wie mit der Sprache eigentlich ne?
471 also sie sind in keiner so richtig zuhause weder in der (.) in
472 Dm: └ ja ┘
473 Bf: └ mhm ┘
474 Dm: └ ja
475 die würden jetzt auch keinen Aufsatz auf Türkisch schreiben
476 können wahrscheinlich(.) ja
477 Af: └ Genau ja genau das meine ich und so ist es mi der
478 Bf: └ mhm ┘
479 Af: Musik aber auch ne also sie sind sozusagen in der eigenen
480 Musikkultur eigentlich nicht mehr so richtig drin aber in der
481 hier auch nicht oder nur in=nem ganz bestimmten (.) Bereich;
482 ne?
483 Dm: Aber da weiß ich jetzt auch nicht ob die Schüler aus Marzahn (.)
484 ob die mit Klassik mehr anfangen können
485 Af: Nee @(.)@
Freiburger Hochschulreihe Dm: Des
486 - Interkulturalitä is -halt
t - Musik (.)
Pädagogik also
#5.indd 21 13.08.20 08:44
466 weitergegeben wird
467 Af: Stimmt (.) mhm.
468 Dm: └ Also des is dann irgendwie nochmal (.) so doppelt (.)
469 Kultur-also naja also wirklich
470 Af: └ Ja es is so wie mit der Sprache eigentlich ne?
471 also sie sind in keiner so richtig zuhause weder in der (.) in
472 Dm: └ ja ┘
473 Bf: └ mhm ┘
474
22 Dm: Thade Buchborn └ ja
475 die würden jetzt auch keinen Aufsatz auf Türkisch schreiben
476 können wahrscheinlich(.) ja
477 Af: └ Genau ja genau das meine ich und so ist es mi der
478 Bf: └ mhm ┘
479 Af: Musik aber auch ne also sie sind sozusagen in der eigenen
480 Musikkultur eigentlich nicht mehr so richtig drin aber in der
481 hier auch nicht oder nur in=nem ganz bestimmten (.) Bereich;
482 ne?
483 Dm: Aber da weiß ich jetzt auch nicht ob die Schüler aus Marzahn (.)
484 ob die mit Klassik mehr anfangen können
485 Af: Nee @(.)@
486 Dm: Des is halt (.) also
487 Af: └ Ja. das muss (.) nich was mit Kul- mit der (.)
488 mit Migrationshintergrund was zu tun haben
489 Bf: └ ne ┘
490 Dm: └ Ja. nicht unbedingt. (.) und
491 Cf: └ Aber welches (.)
492 welches Lied wird denn da abends zum Gute-Nacht-Singen
493 wenn=s- als sie kleiner waren; welches Lied wird denn da
Das
494 Beispiel macht oder
gesungen, deutlich,
wird dass dengar
einfach Reflexionen
kein Liedder hybriden
gesungen und kulturellen
sie
Verortungen der Schüler*innen mit Migrationshintergrund eine Kulturtheorie
zugrunde liegt, die einem bedeutungs(zuweisungs-)orientierten Kulturkon-
zept entspricht. Meine Rekonstruktionen verweisen allerdings darauf, dass
dieses Kulturverständnis in der unterrichtlichen Praxis nicht handlungsleitend
ist, sondern bei der Gestaltung von Unterricht vielfach implizite Bezüge zu
ethnisch-holistischen sowie normativen Kulturkonzepten deutlich werden.
Hier zeigt sich ein Spannungsverhältnis zwischen den normativen Ansprü-
chen der Lehrenden und den impliziten Wissensbeständen, an denen sie sich
in der Handlungspraxis orientieren (vgl. auch Tralle, i. d. B.). Ein „Spannungs-
verhältnis und [eine] notorische Diskrepanz“ (Bohnsack, 2017, S. 54) zwischen
Habitus und Norm gilt in der dokumentarischen Methode als typisch und als
Zeichen dafür, dass „der bisherige Erfahrungsraum und Orientierungsrahmen
einer Transformation unterzogen werden“ (ebd., S. 108), handlungsleitende
Wissensbestände sich also langfristig ändern. Dennoch verweisen die Befunde
darauf, dass es in der schulischen Alltagspraxis schwierig zu sein scheint,
Unterricht auf der Grundlage eines bedeutungs(zuweisungs-)orientierten Kul-
turbegriffs zu gestalten. Das Spannungsverhältnis zwischen Bedeutungsorien-
tierung auf der Ebene des reflexiven Wissens und Orientierung an einem
­normativen und ethnisch-holistischen Kulturverständnis auf der Ebene des
impliziten, handlungsleitenden Wissens zeigt die Differenz zwischen den
eigenen Ansprüchen der Lehrkräfte, sozialer Erwünschtheit bzw. Common-
Sense und den Routinen und Handlungsmustern in der Schulpraxis. In dieser
Diskrepanz liegt m. E. nicht selten ein Grund dafür, dass sich Lehrende nicht
kompetent in Fragen der Interkulturalität fühlen und ein ‚schlechtes Gewissen‘
äußern, wenn es um Interkulturalität und Musikunterricht geht.
In diesem Kontext betrachte ich es auch über zehn Jahre nach Erscheinen
von Dorothee Barths Dissertationsschrift Ethnie, Bildung oder Bedeutung? Zum
Kulturbegriff in der interkulturell orientierten Musikpädagogik (2008) als zentrale

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780 ich nicht ob ich jetzt vorhatte zu japanischem Pop zu
781
Interkulturalität, Migration und Musikunterricht
@gehen oder so@
23
782 Dm: └ @3@ ┘
783 Af: └ mhm ┘
784 Af: Nee nee aber hier das fällt mir jetzt grad tatsächlich ein
785
Aufgaben also mir war das
interkulturell gar nichtMusikpädagogik,
orientierter so klar aber die das ham Verhältnis
dann grad zwischen
786 so kleine Referate auch gemacht? und Tabea? kam jetzt auch
theoretischem
787 Dm: Diskurs und schulischem Alltag genauer zu untersuchen, └ mhm ┘ de-
788 Af: die
taillierter zu kennt ihr ja auch
analysieren, welchealleKulturbegriffe
(.) Tabea Rheinaue sie möchte
Unterrichtspraxen, Unter-
789 irgendwie gerne was zu so=nem Japaner machen Joi Hisaichi
richtsmaterialien
790 oder sowasundheißt
-konzepten,
der, und aber
das isauch Diskursbeiträgen
so ne Mangafilmmusik implizit
ne? oder
791
explizitBf:
zugrunde liegen, └ und
ja? nach
┘ den Ursachen └für
mhm ┘ Diskrepanz zwischen
die
792 Cf: └ mhm ┘
Diskurs
793 Af:und
(.) Alltagspraxis
irgendwie und zu ja fragen. Ich werde
ja es scheint zu einem
irgendwie späteren Zeitpunkt
so=ne.
794 Bf: └ Das is (.) auch bei einigen (.) echt;
z. B. genauer
795
auf den Einfluss der Musiklehrer*innenbildung auf die impliziten
Dm: Aber (.) ich muss auch irgendwie feststellen dass ich
wie
796 expliziten
jetzt Musik-
(2) also undso Kulturkonzepte
die ganz moderne eingehen, die in(2)
Musik da isses der schulischen
797 immer mehr (.) bisschen egal wo die Leute herkommen also
Praxis
798
wirksam werden.
Bf: └ mhm? ┘
799 Dm: wenn=s so Richtung Elektro oder Popmusik geht (.)
800 Af: └ mhm ┘
4.3
801 ZumBf: Verhältnis von Musikinteressen └ der
mhmLehrenden,
┘ der Lernenden
802 Dm: natürlich ist die Sprache halt noch so=n tragendes
803
und Inhalten des Unterrichts
Element? aber musikalisch (2) is geht des ja immer
804 Af: └ mhm ┘
805 Dm: Richtung mehr (.) immer mehr Richtung Globalisierung (.)
„Zuckerbrot
806 Bf:
und└ Peitsche“
mhm ja ┘
(#3, 809–818)
807 würde ich meinen.
808 Af: ja: total. #00:23:26-8#
809 Cf: Ich hab auch damit immer angefangen in meinen siebten Klassen;
810 um sie halt irgendwie zu kriegen und für dieses Fach zu
811 begeistern mit der mus- mit der Musik die sie selber hören, und
812 Af: └ mhm ┘
813 Cf: Rap Hiphop weil (.) die kam- ich hab dann danach hab ich Barock
814 mit ihnen gemacht (.) und da kamen wirklich ich hab eine relativ
815 Vorlaute in der Klasse warum machen wir das denn jetzt
816 Af: └ Zuckerbrot und Peitsche @(1)@ ┘
817 Cf: eigentlich des is doch Geschichte. und dann hats naja aber
818 Af: └ mhm ┘
819 Cf: irgendwie hat sie hab ich gedacht naja des is num. (.) um den
In
820 diesemHintergrund
Ausschnittvon dokumentiert
der Musik zusich einerseits
verstehen und eine Funktionalisierung
wie das aufgebaut ist
821 und die Wurzeln naja die Wurzel wovon. Die Wurzeln von unserer
von
822
Popmusik,
Af: └ mhmandererseits
┘ eine Orientierung an der Vermittlung klassischer
Musik
823 als westlichen
Cf: eigentlicheKunstmusik.
Aufgabe desaber Musikunterrichts, wenngleich
wenn sie dazu überhaupt die Lehrerin
keinen
824 Zugang haben und das ihnen gar nichts sagt (.) dann is halt
im
825 weiteren
Af: Verlauf
└ mhm ┘ dieser Passage nach einer Legitimation für die Zentralstel-
lung
826 klassischer
Dm: Musik im Unterricht ringt. 9 └ mhm ┘
827 Cf: wirklich die Frage warum machen wir denn jetzt eigentlich nicht
Gleichzeitig
828 beschreiben die Lehrkräfte auch an
(.) arabische Musik aus dem sechzehnten Jahrhundert anderen Stellen der Grup-
is irgendwie
pendiskussionen die Distanz der Lernenden zu diesen zentral gesetzten Unter-
829 auch so=ne Frage
830 Af:└ total aber ich glaub halt nicht dass die Schüler das lieber
richtsinhalten
831 Bf: mit drastischen└ Metaphern
mhm ┘ und sprachlichen Bildern wie „böh-
mische
832 Dörfer“
Af: machen(#1, 867), „das
würden; alsoistichalles ganz
finde weit
das is weg“
genau(#1,
das873)
dass oder
du „für
denenmanche
im
833 Prinzip genauso wie du (.) wenn du anfängst mit denen Popsongs
ein
834 ganz ganz anderer (.)oder
zu analysieren also sowas,
wirklich dasein anderer
kommt echt Kontinent
überhaupt sozusagen“
nicht gut an(#3,
299–301;
835 Dm: vgl. auch Abb. 2,└#483–490).
ja:. (.) Des mögen die nich ┘
836 Af: weil du nimmst denen ja damit ja irgendwie so=nen
Einzig das Gymnasium mit Musikprofil stellt hier in gewisser Weise eine
Ausnahme dar, indem auf die von Lehrer*innen und Schüler*innen geteilte

9
Für eine detaillierte Analyse dieser Passage vgl. Buchborn & Bons, i. Dr.

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24 Thade Buchborn

Praxis der Ausübung klassischer Musik unabhängig von Alter und Herkunft
verwiesen wird („die spielen ja auch ihren Brahms“; #2, 185).
Insgesamt konnte ich in Bezug auf die Musikkulturen der Lehrenden und
Lernenden und deren Relevanz im Musikunterricht rekonstruieren, dass die
Musikinteressen der Lernenden „Nebenthemen“ (#2, 122) des Musikunter-
richts darstellen, obwohl die Lehrenden von der hohen Begeisterung, Motiva-
tion und von großem Engagement der Lernenden berichten, wenn es um ihre
Musik geht. Ich konnte weitergehend rekonstruieren, dass die Lehrerinnen
und Lehrer die Musikinteressen der Lernenden inhaltlich-musikalisch ab-
werten und sie sich zudem von den Musikkultur(en) der Lernenden abgren-
zen, aber auch ihre eigenen, privaten Musikinteressen in Abgrenzung von
den Inhalten des Musikunterrichts beschreiben (vgl. Buchborn & Bons, i. Dr.).
Ein komplexes Beziehungsgefüge, welches mich zu der Frage führt, welche
Musikkulturen im Zentrum zukünftigen Musikunterrichts stehen sollten,
welche Ziele mit ihrer Thematisierung verfolgt werden sollten und mit wel-
cher Legitimation: „Das Volkslied der Großmutter aus Anatolien“, „Deutsch-
Rap“ oder nach wie vor die „böhmische[n] Dörfer“ aus dem Stilfeld der
­k lassischen Musik?

4.4 Interkulturalität und Musiklehrer*innenbildung

Nachfolgende Auszüge sind einer Passage der Gruppendiskussion #1 entnom-


men, in der die befragten Musiklehrkräfte diskutieren, wie sie im Hochschul-
studium auf das Themenfeld Interkulturalität vorbereitet worden sind. Die
Gesprächsauszüge kreisen um Angebote zu „außereuropäischer Musik“.

Interkulturalität im Studium (#1, Auszüge aus der Passage 308–405)


Bm: […] ich hab ja Ende der also zweite Hälfte der siebziger Jahre, is meine
Studienzeit gewesen, und es gab an unserer Hochschule bereits eine Pro-
fessorin, die Musikethnologie als Schwerpunkt hatte. eh *Ella Gutemann
war das? (.) und es wurden eh und ich kann mich erinnern dass ich (.) an
der Hochschule n Workshop gemacht habe eine Woche lang, bei=m indischen
Musiker der allerdings n Glücksfall war weil=s n gebürtiger Deutscher
war, (.) aber der war irgendwie mit siebzig eh mit siebzehn nach Indien
gepilgert und hatte wirklich Sitar gelernt bei nem Guru und der hat ( )
uns des alles erzählt wie das wie die Ausbildung war. (.) und ich hab also
da (.) eigentlich ehm zum ersten Mal (.) relativ intensiv mich mit indi-
scher Musik beschäftigt. (.) und das fand ich wie gesagt insgesamt sehr
stark ehm (.) eh als als Ausbildung. ne, und ich hab bin von daher eigent-

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Interkulturalität, Migration und Musikunterricht 25

lich auch schon mit dem Gefühl eh in Unterricht gegangen also ich kann
auch den Schülern selber was erzähln was einigermaßen Hand und Fuß hat.

Cf: Anfang der achtziger Jahre [war] World music […] grad ein großer Begriff
aber in meiner Ausbildung hat das nicht viel stattgefunden. und alles
das was ich dann (.) im neu (.) konstruierten Basiskurs elfte Klasse
damals, außereuropäische Musik gemacht habe habe ich mir dann irgendwie
selbst angeeignet.

Af: ich weiß ob’s des an der (.) *HUG damals gab, (.) also ich hab auf jeden
Fall des nich belegt des war nich verpflichtend. und äh dann hab ich’s
auch nich gemacht.

Dm: bei mir is es (.) eh ganz noch viel extremer als bei dir(.)ich habe des
absolut ignoriert im Studium. weil ich mit dem (.) Vorsatz (.) ehm i-ins
Studium hineingegangen bin ich will die klassische Musik verstehen.

Die Auszüge lassen darauf schließen, dass Seminare, die sich auf die durch
Migration im Wandel begriffene Gesellschaft beziehen, in der „zweite[n]
Hälfte der siebziger Jahre“ (Bm) bzw. „Anfang der achtziger Jahre“ (Cf) an
den beschriebenen Studienstandorten noch nicht angeboten wurden. Dies
könnte daran liegen, dass entsprechende Themen im Fachdiskurs auch erst
seit Anfang der 1980er Jahre prominent verhandelt wurden. Allerdings haben
die Lehrkräfte z. T. durchaus Angebote zu „außereuropäischer Musik“ in
ihren Studienprogrammen wahrgenommen. Es sind aber in der Regel keine
Pflichtangebote, sondern eher, wenn auch als z. T. besonders und faszinie-
rend erlebte, Ausnahmen in einer im Kern als klassisch geprägt wahrgenom-
menen Ausbildung. Die Interpretationen ergänzender Gesprächsauszüge
machen deutlich, dass die Lehrkräfte die Erfahrung teilen, sich in der Haupt-
sache durch berufsbegleitende Fortbildungen oder durch die Kooperation
mit außerschulischen Expert*innen auf das Unterrichten von „Weltmusik“
und „außereuropäische Musik“ vorzubereiten. Sie erleben sich in koopera­
tiven Settings (z. B. Einladen von Expert*innen in die Schule, Museums- und
Workshopbesuche etc.) in der Regel nicht als Expert*innen, was stimmig zu
der von einem Großteil der befragten Lehrer*innen geäußerten Einschätzung
ist, dass sie sich allgemein nicht gut auf das Gestalten eines interkulturell
orientierten Musikunterrichts vorbereitet fühlen. Daran wird deutlich, dass
die Profilierung der Studienprogramme unmittelbare Folgen für den Musik-
unterricht in den Schulen hat.
Es ist aus meiner Sicht erhellend, die dargestellten Befunde in einem größe-
ren Kontext zu betrachten. Die musikkulturelle Engführung der Musik­leh­
rer*in­nenbildung (vgl. Buchborn, 2019) ist eingebettet in ein hegemonial ge-

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26 Thade Buchborn

prägtes Gesamtsystem institutioneller musikalischer Bildung (vgl. z. B. Wright,


2018). Bereits die Eignungsprüfung für das Lehramtsstudium Musik ist so
­gestaltet, dass Studierende, die (zumindest auch) klassisch musikalisch sozia-
lisiert sind, bessere Chancen haben als Studierende aus anderen Musikkultu-
ren. Der europäische Vergleich zeigt, dass unsere Musik­leh­rer*in­nen­bildung
durchaus ein besonderes Profil hat:

„Dass zum Beispiel in Schweden (Malmö) das Klassenmusizieren mit einem


Schwerpunkt auf Pop-Instrumenten und kombiniert mit Schulpraktika ein
zentrales Element des Studiums und des Schulunterrichts darstellt, während
in Deutschland (Sachsen, Leipzig) trotz der Möglichkeit, ein Pop-Instrument
oder auch Gesang als künstlerisches Hauptfach zu studieren, für eine Mehr-
heit der Studierenden die künstlerische Arbeit an einem Klassik-Repertoire im
Vordergrund steht, liegt nicht allein an den Hochschul-Curricula. Die musika-
lische und gesellschaftliche Herkunft vieler schwedischer Schoolmusic-Stu-
dierenden ist eine andere als die vieler deutscher. So hat ein Studienbewerber
an einer deutschen Hochschule kaum eine Chance, wenn er nicht jahrelang
klassischen Privatunterricht genommen hat. Sein Weg zur professionellen
Musik führt über Einzelunterricht am Instrument nach Noten.“ (Wallbaum,
2010, S. 272)

Bereits die Eignungsprüfung hat demnach eine selektierende Funktion hin-


sichtlich der musikalischen und gesellschaftlichen Herkunft der Bewer­ber*in­
nen. Christopher Wallbaum hat weiterführend eine Typologie ausgearbeitet,
die die Profile von Schulmusikstudierenden im europäischen Vergleich ver-
deutlicht. Er charakterisiert die typisch deutsche Musikstudierende „Friede-
rike“ als „semiprofessionelle klassische Musikerin, sie spielt nur nach Noten
und ist an jeglicher Musik interessiert“; Frederick aus Schweden dagegen hat
eine „Nähe zu Pop- und Volksmusik“ (Wallbaum, 2010, S. 275).
Ruth Wright und Brian Davies haben in ähnlicher Weise hegemoniale Struk-
turen der Curricula und Ausbildungsprogramme in England herausgearbeitet.
Ihre Analysen zeigen, dass durch die musikkulturelle Schwerpunktsetzung in
englischen Curricula und Ausbildungsprogrammen die upper und upper-
middleclass systematisch übervorteilt und ein bestimmtes Kulturverständnis
affirmativ repliziert wird.

„The National Curriculum for Music was influenced by the dying throes of the
Thatcher era and an attempt to cling to the vestiges of an education system
governed by twentieth-century, British, upper-middle-class values. Within this
value system, the habitus of the dominant group was largely framed by public-
school education and musically by the western art-music canon.“ (Wright &
Davies, 2010, S. 48)

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Interkulturalität, Migration und Musikunterricht 27

Im baden-württembergischen Bildungsplan von 2016 ist dagegen an promi-


nenter Stelle Folgendes formuliert:

„Das Fach Musik trägt in Zeiten eines unüberschaubaren und allgegenwärtigen


Musikangebots zu kultureller Identitätsbildung bei. Die Einbeziehung der
soziokulturellen Herkunft der Schülerinnen und Schüler ermöglicht individu-
elle und authentische Lernzugänge. Musik kann so wesentlich zur Integration
des Individuums in unsere vielgestaltige Gesellschaft und zum interkulturellen
Dialog beitragen.“ (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württem-
berg, Bildungsplan Musik 2016)

Zumindest auf der Ebene der Bildungspläne sind also erste Anzeichen von
Veränderungen zu verzeichnen, wenn hier ein Musikunterricht skizziert
wird, der ein breites Musikangebot in den Blick nimmt und fordert, dass die
soziokulturelle Herkunft der Lernenden unterrichtlich mit einbezogen wird.
Meine Ausführungen zeigen allerdings, dass diese Forderungen weder in der
Schulpraxis noch in der Musiklehrer*innenbildung zur Selbstverständlichkeit
geworden sind (vgl. dazu auch Schippers, 2010, S. 42–43). In den letzten Jahren
haben allerdings viele Standorte zumindest die Studienmöglichkeiten im
künstlerischen Hauptfach auf die Stilfelder Jazz und Pop erweitert und auch
entsprechende Pflichtstudieninhalte eingeführt: Jazz-Pop-Arrangement, Welt-
musik, Bigband, Rockband usw. In Freiburg haben wir zusätzlich Bağlama,
Ney, Oud und World Percussion als Haupt- und Schwerpunktfächer einge-
führt. Dennoch ergibt sich die ­Ausrichtung des Studiums an den Musikhoch-
schulen unweigerlich aus ihrer Vergangenheit als Konservatorien für
Berufsmusiker*innen im Bereich klassischer Musik. Es bleibt also eine wich-
tige Zukunftsaufgabe, die Musik­leh­rer*innenbildung mit dem Ziel einer stär-
keren musikkulturellen Öffnung weiterzuentwickeln, insbesondere um
Musiker*innen aus allen Praxen musikalischer Gegenwartskultur den Zugang
zum Lehrberuf an der allgemein­bildenden Schule zu ermöglichen.

5. Fazit und Ausblick

Die vorangegangenen Rekonstruktionen zeigen, dass fachlicher Diskurs und


musikpädagogisches Handeln in der Schule an vielen Punkten eng verwoben
sind. Dennoch wird deutlich, dass es bezogen auf die interkulturelle Musikpä-
dagogik eine klare Diskrepanz zwischen fachwissenschaftlichen Theorien
und musikdidaktischen Konzepten einerseits und den Logiken schulischen
Handelns andererseits gibt. Die in der Praxis handlungsleitenden Kulturkon-
zepte sind statisch und ethnisch-holistisch geprägt, während im wissenschaft-

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28 Thade Buchborn

lichen Diskurs schon seit längerer Zeit gefordert wird, dass pädagogisches
Handeln sich an bedeutungszuweisungsorientierten Ansätzen ausrichten
sollte (s. z. B. Barth, i. d. B.). Die Gründe dafür sind aus meiner Sicht zumindest
anteilig im Diskurs selbst zu suchen: Die enge Fokussierung des Diskurses auf
Weltmusik und Migration und deren direkte Übernahme in die Gestaltung
von Unterrichtsmaterialien und -konzepten trägt bis heute zur Steigerung von
Eurozentrismus bei und fördert Prozesse des Othering. Diese Problemstellung
wird bereits seit einigen Jahren wahrgenommen und sowohl empirisch analy-
siert als auch systematisch bearbeitet, was z. B. an verschiedenen Beiträgen im
vorliegenden Band abzulesen ist. Claudia Cvetko rekonstruiert u. a. ein „Evolu-
tionismusmotiv“ (i. d. B.) bei der Darstellung afrikabezogener Themen und
weist damit implizit normative Kulturrelationen in Schulbüchern nach. Olivier
Blanchard verweist aus hegemoniekritischer Perspektive auf den verdeckt
wirksamen Eurozentrismus in der interkulturellen Musikpädagogik und
Bernhard Weber (i. d. B.) entfaltet anknüpfend an diese Kritik Ansätze für ein
am Poststrukturalismus orientiertes didaktisches Modell für den Musikunter-
richt. Jonas Völker (i. d. B.) zeigt gewissermaßen als Ergänzung zu der im vor-
liegenden Beitrag bearbeiteten Lehrendenperspektive, an welchen kulturellen
Repräsentationen und ethnischen Projektionen sich Lernende in der unter-
richtlichen Auseinandersetzung mit arabischer Musik orientieren.
Die starken Diskrepanzen zwischen den Erwartungen und Orientierungen
von Lehrenden und Lernenden in Bezug auf die im Musikunterricht behandel-
ten Musikstile und -kulturen zeigt die Analyse der Passage „Zuckerbrot und
Peitsche“ (vgl. ausführlicher Buchborn & Bons, i. Dr.). Die von mir befragten
Lehrer*innen orientieren sich nach wie vor an einem Musikunterricht, der sich
in der Hauptsache um das ‚kulturelle Erbe‘ der klassischen Musik dreht, auch
wenn sie privat ganz andere Musikvorlieben haben, selbst an dieser ihnen
übertragenen beruflichen Aufgabe zweifeln und zudem von den musikali-
schen Interessen der Schüler*innen sowie deren anders gelagerten Motivation
wissen. Daran wird die starke Wirkung der institutionellen Rahmung des
­professionellen Handelns von Musiklehrkräften deutlich, die sowohl in der
Schule als auch in der Musiklehrer*innenbildung stetig aktualisiert und repro-
duziert wird. In diesem Kontext arbeitet Bernd Clausen (i. d. B.) im vorliegen-
den Band heraus, dass in der Musiklehrer*innenbildung die Einbindung einer
Vielzahl musikbezogener Praxen nach wie vor ausbleibt und damit Verände-
rungsprozesse verhindert werden.
Auch meine Rekonstruktionen zeigen, dass die Musiklehrer*innen nach
ihrem Studium mit dem Gefühl in die Schule gehen, für die Vermittlung
heterogener Erscheinungsformen von Musik und für das vielfältige The-

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Interkulturalität, Migration und Musikunterricht 29

menspektrum interkultureller Musikpädagogik nicht ausreichend vorberei-


tet worden zu sein. Vielmehr bedienen sie sich Alltagstheorien, in denen
unvertraute Musikkulturen als aus europäischer Perspektive unzugänglich
und für ‚immer fremd‘ verortet sind (vgl. die Analyse der Passage „Zwei
Aufgaben“). Argumentative Figuren wie diese verweisen in ähnlicher Weise
auf ein Spannungsverhältnis zwischen Habitus und Norm wie das ‚schlechte
Gewissen‘, das in manchen Diskussionen aus der selbstdiagnostizierten feh-
lenden Expertise resultiert. Dies weist Parallelen zu den Befunden anderer
Studien zur Lehrendenperspektive auf (s. o.) und wird auch in den biogra-
phisch orientierten Rekonstruktionen von Eva-Maria Tralle (i. d. B.) deutlich.
Auch hier zeigen sich die engen Bezüge zwischen fachlichem Diskurs und
schulischem Handeln: Der Rekurs auf in der Schulpraxis nicht einzulösende
ethische Zieldimensionen erhöht den Druck auf Lehrer*innen im Unter-
richtsalltag. Dies führt letztlich zu einem Gefühl der Ohnmacht und damit
zu einem Dilemma in der Praxis: Interkulturalität wird zwar als wichtige,
gesellschaftlich relevante Aufgabe eingestuft, aber im Unterrichtsalltag eher
vermieden als bearbeitet.

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THEORETISCHE UND KONZEPTIONELLE
PERSPEKTIVEN

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Bernd Clausen

Musik und Kulturalitäten oder: Vom anhaltenden Fremdeln


in der deutschen Musiklehrendenbildung

Music and Culturalities, or: About the Ongoing Hemming and


Hawing in German Music Teacher Training

Die facettenreiche Fachdiskussion der letzten 70 Jahre zur Einbindung von so genann-
ter außereuropäischer Musik, Folklore, Welt- oder Migrantenmusik in den Musikun-
terricht und die Berücksichtigung von inter-/multi- oder transkulturellen Haltungen
oder Ansätzen in der Musiklehrendenbildung in der Bundesrepublik Deutschland un-
terscheiden sich vom angloamerikanischen Diskurs in Abhängigkeit der jeweiligen so-
ziokulturellen und bildungspolitischen Agenden, aber auch der Begriffsverwendung.
Vereinzelt lassen sich Schnittmengen erkennen. Dieser Beitrag skizziert auf der Basis
einer literaturanalytischen Synopse zum einen diese Entwicklungen und argumentiert
zum anderen mit Georg Bollenbecks Deutungsmuster, dass in Deutschland nicht nur
ein Widerspruch zwischen musikdidaktischem und hochschuldidaktischem Handeln
auszumachen ist, sondern ältere Legitimationsfiguren in der Musiklehrendenbildung
weiterhin aktiv sind.

The considerable discourse on the integration of Non-European music, folklore, world


music, migration music in school music education and the consideration of inter-, multi-
and transcultural attitudes and viewpoints in German music teacher training since the
1960s, differs from Anglo-American discussions, despite a few similarities, in relation to
sociocultural and political circumstances and wording. On the one hand, this article
depicts the developments of these discourses in the form of a comparative synopsis
between Germany and the UK/US and, on the other hand, argues for a pragmatic change
of perspective in the light of Georg Bollenbecks interpretive patterns (Deutungsmuster)
in order to further a critical review of German music teacher training.

Vorbemerkung

In einem vorangegangenen Beitrag wurde bereits eine kritische Inblicknahme


der bundesrepublikanischen Lehramtsausbildung Musik vor dem Hinter-

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36 Bernd Clausen

grund der für viele Jahre sehr prominenten, mittlerweile doch recht gesättig-
ten Begriffsklärungen im Themenkreis Inter- und Transkulturalität angemahnt
(vgl. Clausen, 2018). Die dort dargelegten Beobachtungen und Thesen waren
als Impulse für eine Auseinandersetzung mit den vielschichtigen Exklusions-
prozessen in der Hochschullehre im Fach Musikpädagogik gedacht.1 Sie lassen
sich, so wurde argumentiert, an unterschiedlichen Symptomen festmachen
(vgl. Clausen, 2018, S. 140–144):

(a) Eine Fülle von Unterrichtsmaterialien, auf die auch in der Lehre zurückge-
griffen wird, demonstriert verschiedene unterrichtliche Visionen, denen
mit Blick auf andere Musiken allesamt kein Regel-, sondern ein Sonderfall
musikunterrichtlichen Handelns vorschwebt.
(b) Die Anforderungen bei der Zulassung zu einem Lehramtsstudiengang
Musik schließen mehrheitlich Diversität in den Musikpraxen aus.2
(c) Lehr-/Lerninhalte von Lehramtsstudiengängen Musik sind nach wie vor
in künstlerischer Praxis, Musiktheorie und Musikwissenschaft hauptsäch-
lich monokulturell ausgerichtet.3

Mit dieser Problematisierung soll bereits Erreichtes gar nicht negiert werden.
Jedoch artikuliert die Behandlung von Inter- oder Transkulturalität als Teilbe-
reich der Musikpädagogik nicht nur in der Diktion Exklusivität an einer Stelle,
die eigentlich, nimmt man die intensiven terminologischen Debatten spätestens
seit den 1970er Jahren dazu ernst, ein kulturessentialistisches Verständnis von
Musik grundsätzlich hinterfragen müsste (vgl. Blanchard, 2018, 2019). Das gilt
insbesondere für die im Mittelpunkt dieses Beitrages stehende Hochschullehre.

1 Deutungsmuster

Hermann Josef Kaisers (2002) Vorschlag, ausgehend von den von ihm identifi-
zierten Bedeutungszuweisungen von Musik eine Begriffsbestimmung musika-
lischer Bildung über den Praxisbegriff zu modellieren, hat in den letzten Jahr-
zehnten zweifellos erheblichen Einfluss auf das musikpädagogisch angeleitete
Nachdenken über Musik, vor allem jedoch auf den Musikunterricht gehabt.

1
Vgl. auch Bradley (2006).
2
Juliet Hess (2017) gebraucht z. B. den Begriff „normative music education“. Siehe auch die
Untersuchung zu den Anforderungen in den bundesrepublikanischen Eignungsprüfungen
(Buchborn, 2019).
3
Zu diesem Befund siehe schon Stroh (2000, S. 146). Zum Verständnis von monokulturell vgl. das
Twelve Continuum Transmission Framework (TCTF) (Schippers, 2010a, b).

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Vom anhaltenden Fremdeln in der deutschen Musiklehrendenbildung 37

Nicht gefasst wird damit allerdings die spezifische Bedeutung des Bildungs­
begriffs in der Musiklehrendenbildung, obwohl Kaisers Ausführungen prinzi-
piell dazu den Raum öffnen könnten. Denn Kaiser weist u. a. darauf hin, dass
wir in Hinsicht auf den schulischen Musikunterricht immer noch von „Legiti-
mationsfiguren“ vergangener Zeiten leben, die allerdings „nicht länger gelten“
(Kaiser, 2002, S. 6). Daher hätten wir uns von verschiedenen Vorstellungen zu
verabschieden. Für die Lehramtsausbildung ist diese Feststellung angesichts
des Zulassungsszenarios (Eignungsprüfung) und der weitgehend kulturessen-
tialistisch aufgebauten Studienverläufe kaum zutreffend. Denn die von Kaiser
obsolet gewähnten Legitimationsfiguren und Argumentationen für den Mu-
sikunterricht sind in der Musiklehrendenbildung durchaus noch sehr wirk-
sam. Mit dieser Auffassung geht die Ansicht einher, dass für die Hochschul-
lehre eine Trennung zwischen Bildung und Ausbildung nicht hilfreich ist,
sondern vielmehr die Spannungsfelder Wissenschaft (Kunst), Praxis und Per-
son stets neu auszuloten sind (vgl. Huber, 1983).4
Sich musikalischer Bildung als Verbaldefinition, „die einen ganzen Begriff se-
miotisch zusammenfassen will“ (Bollenbeck, 1996, S. 15) zu nähern, muss
scheitern. Um seine Ebenen und ihre Verbindungen zu vergangenen Auffas-
sungen und Überzeugungen zu beschreiben, mithin die kollektiven Einstel-
lungen, die Musiklehrendenbildung beeinflussen, sichtbar zu machen, hilft es,
auf das Interpretationsmodell des Deutungsmusters zurückzugreifen. Bollen-
beck versteht darunter Folgendes:

„Ein Deutungsmuster verfestigt sich kollektiv, ist ein Typus vorangegangener


Erfahrung, dient als Bestimmungsrelation zur gegenwärtigen Zeit und kann mit
seinen programmatischen Überschüssen auf zukünftige Möglichkeiten verwei-
sen.“ (Bollenbeck, 1996, S. 19)

Das Deutungsmuster leitet nicht nur „Wahrnehmungen, interpretiert Erfahre-


nes und motiviert Verhalten“ (Bollenbeck, 1996, S. 19), sondern hilft in analy-
tisch beschreibender Perspektive zugleich Sinnbildungen zu erschließen und
darzustellen. Was Bollenbeck für die beiden Begriffe Bildung und Kultur zeigt,

4
Der Gedanke von Huber macht deutlich, dass in der Musikpädagogik zwar Anlässe zur
Selbstreflexion ihrer Hochschuldidaktik, zuletzt im Umfeld der Studienreform (Bologna-
Prozess), gegeben waren, darüber hinaus gehende Überlegungen aber kaum zu bemerken
sind. Zwar werden Formate (z. B. Forschendes Lernen) in der Musikdidaktik und der musik-
pädagogischen Forschung in den Blick genommen, Versuche über eine (simple) Gegenüber-
stellung von Bildung und Ausbildung mit Blick auf Musiklehrendenbildung sowohl in der
Theoriebildung als auch in der Curriculumentwicklung selbst hinauszugehen, sind dagegen
kaum auszumachen.

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38 Bernd Clausen

muss ja doch in ähnlicher Weise für den hier verhandelten Zusammenhang


gelten können: Eine Lehramtsausbildung Musik, die sich in ihren Lehr-/Lern-
inhalten und der Strukturierung derselben auf ein monokulturelles, in der
Vergangenheit entwickeltes Musikverständnis bezieht, nährt ein kulturessen-
tialistisches Deutungsmuster musikalischer Bildung. Dieses Deutungsmuster
ist in Sprache beobachtbar, in diesem Falle an den unterschiedlichen Vokabeln
im musikpädagogischen Diskurs der vergangenen Jahrzehnte und der Gegen-
wart. Es dient als Bestimmungsrelation für musikpädagogisches Handeln,
etikettiert einerseits davon Abweichendes (z. B. außereuropäisch, fremd) oder
überwölbt andererseits eine „binnendifferenzierte Gesellschaft“ (inter-/trans-
kulturell) und gewinnt damit „eine ideologische Funktion“ (vgl. Bollenbeck,
1996, S. 20–21).5
Trennt man nun für einen Augenblick die Praxisbereiche musikalischer Bil-
dung voneinander in Musikunterricht und Musiklehrendenbildung, so tut sich
jener merkwürdige Querstand auf, bei dem die Lehramts(aus)bildung in der
Ausgestaltung der Lehr-/Lerninhalte von künstlerischer Praxis, Musiktheorie
und (Historischer) Musikwissenschaft – stark vereinfacht – Spuren eines bür-
gerlichen Bildungsverständnisses des 19. Jahrhunderts trägt (vgl. z. B. Bollen-
beck, 1996, S. 214) und in dem noch – ebenfalls stark vereinfacht – Spuren einer
Auffassung von musikalischer Bildung, z. B. im Sinne Arnold Scherings (1911,
S. 7–15), zu finden sind. Demgegenüber ist mit Blick auf Musikunterricht – nicht
nur bei Kaiser – musikalische Bildung durch die Herstellung von Bezügen zu
Philosophie, Kultur- und Erziehungswissenschaften, Soziologie usw. in ihren
Bedeutungshorizonten breiter zugänglich gemacht.
In diesem Zusammenhang stellt sich musikalische Bildung als Deutungs-
muster also zweideutig dar: Zum einen werden Haltungen, Ansätze und Po-
sitionen eines inter-/transkulturellen Musikunterrichts über einen durch
kulturwissenschaftliche und soziologische Bezüge angereicherten Bildungs-
begriff verhandelt, zum anderen ragt eine aus der Vergangenheit, u. a. aus der
Anfangszeit des Schulfaches Musik gespeiste Vorstellung musikalischer Bil-
dung dort hinein, wo es um Musiklehrendenbildung geht. Es entsteht ein
Widerspruch.

5
Eine weitere Ausschärfung der ideologischen Funktion bleibt dieser Beitrag aus Platzgrün-
den schuldig. Angemerkt sei jedoch, dass eine weitere Analyse vermutlich auf Narrative wie
Nation und Identität (vgl. Applegate & Potter, 2002) oder Tradition und Leitkultur (vgl. Ehren-
forth, 2008) stoßen wird, die das Deutungsmuster unterstützen, wenn es sie nicht sogar inkor-
poriert.

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Vom anhaltenden Fremdeln in der deutschen Musiklehrendenbildung 39

2 Ordnungsversuche

Bollenbeck weist darauf hin, dass das Deutungsmuster keine feste Größe sei,
„vielmehr bewährt sich seine Prägekraft in den jeweiligen historischen
Abwandlungen“ (1996, S. 20). Bevor im weiteren Verlauf diese historischen
Dimensionen anhand einer Synopse näher in Augenschein genommen wer-
den, ist es vonnöten, auf die in der deutschsprachigen Fachliteratur zu beob-
achtenden Ordnungsversuche hinzuweisen. Mit ihnen lässt sich die Wirkkraft
des Deutungsmusters beschreiben, weil über die Strukturierungsabsichten
am Vokabular Einstellungen sichtbar werden, die es zugleich kommunikativ
beweglich halten.6

2.1 Ansätze, Haltung und Stadien/Linien

Irmgard Merkt erkennt in den publizierten „Materialien, Vorschlägen und


Überlegungen zum Musikunterricht mit ausländischen und deutschen Kin-
dern“ (1984, S. 288) drei Ansätze. Dabei ist das Ordnungsmerkmal, dass sie sich
sämtlich auf die „Anfangssituation eines gemeinsamen Unterrichts beziehen“
(ebd., S. 288):
– handlungsorientiert assimilatorisch: „musikalische Themen sollen […] in beson-
derem Maße dazu dienen, sprachanregende und handlungsbezogene Situa-
tionen zu schaffen. […] Gemeinsam ist ihnen […], daß die Einführung in
das, was Musik, was Musikunterricht sein kann, auf eine Art und Weise
geschieht, die zwar dem Selbstverständnis der deutschen Schulmusik ent-
spricht, die sich aber nicht an dem Musikbegriff der ausländischen Kinder
orientiert“ (ebd., S. 288). Merkt vermutet, dies führe zu einer Irritation „in
Bezug auf ihre multikulturelle Identität“ (ebd., S. 288).
– ethnologisch: Dieser Ansatz ist determiniert durch die Vorstellung von „,Tole-
ranztraining durch Hörerziehung‘. […] Das hörende Kennenlernen einer
fremden Musikkultur wird als geeignet angesehen, bei deutschen Kindern
Verständnis für die ausländischen Kinder zu erzielen“ (ebd., S. 289).
– integrativ-musikantisch: „Die musikalischen Inhalte werden für alle Schüler
mit der Anwesenheit der ausländischen Kinder begründet; die ausländi-
schen Kinder sollen sich ihren deutschen Mitschülerinnen und Mitschülern
gegenüber als kompetente Vertreter ihrer heimatlichen Musikkultur darstel-
len können und die deutschen Kinder in das Musikmachen mit einbeziehen“
(ebd., S. 289).

6
Vgl. Bollenbeck (1996, S. 20).

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40 Bernd Clausen

Bernd Clausen (2004) unterscheidet eine affirmativ-konservative Haltung, die sich


allein auf die Vermittlung westlicher Kunstmusik konzentriert; eine sozial-
konservative Haltung, aus der heraus punktuell und oftmals eigeninitiativ Wis-
sen und Erfahrungen mit anderen Musiken gesammelt werden, mit dem Ziel,
diese im eigenen Unterricht anzuwenden, sowie eine transkulturelle Haltung,
die durch einen offenen, paritätischen Musikbegriff geprägt ist.7

Dorothee Barth (2008) differenziert in ihrer Analyse zwischen drei Kulturbe-


griffen: normativ, ethnisch-holistisch und bedeutungsorientiert, denen nicht nur ein
deskriptives, sondern auch ein aktives Moment innewohnt. Diese Haltung, als
„eine bestimmte Einstellung zur Unterrichtssituation verstanden, die nicht
geplant und bewusst eingesetzt ist, sondern sich auf das alltägliche und spon-
tane Handeln bezieht“ (Barth, 2008, S. 210), ermögliche Reflexion und Sensibi-
lisierung. Einer Auseinandersetzung mit dem bedeutungsorientierten Kulturbe-
griff wird von ihr die größte Kraft zugestanden, weil das Nachdenken darüber
eher dazu führen könne, „einen zunehmend prinzipiell interkulturellen
Musikunterricht durchzuführen“ (ebd., S. 211).

Thomas Ott (2012) identifiziert mit einem geschichtlichen Blick auf den Dis-
kursverlauf zum einen eine migrationsbezogene Linie, die mit dem pädagogi-
schen Interesse am Menschen beginnt, zu dessen Musikkultur führt und fragt,
„ob und wie diese Kultur im Musikunterricht eine Rolle spielen könnte“ (ebd.,
S. 115). Die musikalischen Interessen und Praxen von „Einwandererkindern“
stehen im Fokus (ebd., S. 115), überdies ist der Umgang ein von außen auferleg-
tes Erfordernis. Zum anderen erkennt er eine musikkulturelle Linie. Sie „beginnt
mit dem Interesse an bestimmten Musikstilen und führt (vielleicht) zur Frage
nach den Menschen, die sie geschaffen haben“ und geht von „der intrinsischen
Motivation der Lehrperson und der Lernenden“ (ebd., S. 115) aus. Diese Linie
sei kulturtheoretisch beeinflusst. Mit diesen Hauptlinien will Ott zum einen
historische Entwicklungsstadien zeigen, diese aber zum anderen durchaus
noch als wirksam verstehen.8

7
Vgl. auch Clausen (2013).
8
Vgl. auch die Unterscheidung bei Dorothee Barths Analyse von Unterrichtsmaterialien zwi-
schen einem Ansatz, der das Verstehen und einem, der das Erfahren in den Mittelpunkt stellt.
Beide werden von der Autorin umgehend problematisiert. Der erste, an ein (altes) Verständnis
von Musikethnologie angelehnte Ansatz bringe das Problem der Darstellung der Komplexität
von Musikkulturen mit sich, der zweite werfe die Frage nach Authentizität auf. So ergeben
sich für Barth Unterrichtsmaterialien, die entweder in einer musikethnologischen oder einer
ausländerpädagogischen „Tradition“ stehen (2000, S. 33–34). Barth übersieht in ihrer Ein-
schätzung freilich Entwicklungen in der Ethnomusikologie, vor allem aber in der anglo-

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Vom anhaltenden Fremdeln in der deutschen Musiklehrendenbildung 41

An diesen vier Ordnungsversuchen werden Strukturierungsabsichten deut-


lich, die durch das oben skizzierte Deutungsmuster motiviert sind. Mit ande-
ren Worten, das Deutungsmuster fungiert als Bestimmungsrelation, um
Ansätze, Haltungen und Stadien/Linien zu vermessen. Dabei werden mit Blick
auf die Gegenwart sowohl die Durchführungs- und die Planungsebene von
Musikunterricht berührt als auch eine reflexive, im Sinne fachhistorischer Sys-
tematik. Eine Berücksichtigung von Musiklehrendenbildung ist vordergrün-
dig allerdings nicht zu bemerken. Bei der Untersuchung der tatsächlichen
Wirkmächtigkeit dieses Deutungsmusters wird im Folgenden der Blick daher
räumlich und zeitlich zu erweitern sein.

3 Analyse

Huib Schippers beschreibt in seinem in Deutschland bisher nur wenig rezi-


pierten Beitrag den Einfluss deutscher Vorstellungen auf die Musikpädagogik
anderer Länder wie folgt:

„Most formal music education can be described as representing a view of music


that is predominantly atomistic, notation-based, and relatively static in its
approach to tradition, authenticity, and context. It can be regarded as still follow-
ing nineteenth-century German ideas and values.“ (Schippers, 2010b, S. 104)

Es ist nicht die einzige Stelle, in der Schippers auf einen deutschen Musikbe-
griff des 19. Jahrhunderts rekurriert, dem er nach wie vor großen Einfluss auf
musikpädagogisches Handeln über die Grenzen seines Entstehungsraumes
hinweg zuschreibt. Hingewiesen sei zumindest auf seinen Beitrag „Blame it on
the Germans“ von 2004, in dem er die Lehrendenbildung an Musikhochschu-
len kritisch in den Blick nimmt. Diese Sichtweise führt vor dem Hintergrund
des bisher Gesagten zur Frage, wie sich das Deutungsmuster bei einer Gegen-
überstellung von deutschem und englischsprachigem Diskurs verhält. Mit
Hilfe einer Synopse, die den Umgang mit dem Themenkreis Inter-/Multi- und
Transkulturalität etc. im Zeitraum von etwa hundert Jahren (1917–2018) und im
Vergleich mit angloamerikanischen Diskursen (vor allem USA) gegenüber-
stellt, werden die begonnenen Erörterungen bei Clausen (2018, S. 127–128) fort-
gesetzt, um einer Antwort auf diese Frage näherzukommen.9

amerikanischen Music Education der letzten Jahrzehnte und die dort präsenten Problemati-
sierungen des Begriffes Authentizität (z. B. Palmer, 1992; Swanwick, 1994; Johnson, 2000; siehe
auch Kallio, Westerlund & Partti, 2014).
9
Vgl. Clausen in diesem Band.

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42 Bernd Clausen

3.1 …im Überblick

In der Zusammenschau der Diskurse entlang einer Zeitleiste werden das zeit-
lich Versetzte sowie Ähnlichkeiten und Unterschiedlichkeiten in den beiden
Diskursen recht schnell deutlich. Sie lassen sich mit fünf Beobachtungen über-
blicksartig beschreiben:

(1) Die Entwicklungen des deutschen musikpädagogischen Diskurses um


Interkulturalität und Migration verliefen auf Grund verschiedener gesell-
schaftlicher und politischer Gegebenheiten in der Gegenüberstellung mit dem
englischsprachigen ungleich, d. h. sowohl in den Themensetzungen zeitlich
versetzt als auch durch Impulse aus verschiedenen Disziplinen beeinflusst.
Dies lässt sich ebenso an den Unterrichtsmaterialien ablesen. Große Unter-
schiede zwischen den dargestellten Diskursen sind beim Umgang mit der Mig-
rationstatsache festzustellen.

(2) Trotz gelegentlicher Kontakte, vorwiegend über die International Society of


Music Education (ISME), und sehr vereinzelter Veröffentlichungen ist interna-
tional gesehen der deutschsprachige Fachdiskurs zu dieser Thematik isoliert.
Eine Durchlässigkeit zum nicht-deutschsprachigen Diskurs ist – nach bisheri-
gem Kenntnisstand – so gut wie gar nicht auszumachen.

(3) In den Vereinigten Staaten wird die Thematik vorwiegend über den natio-
nalen Verband (MENC) in den musikpädagogischen Fachdiskurs eingespeist,
mithin gelenkt.10 Die Wirkung der ISME in Bezug auf die Platzierung solcher
Themen in der deutschen Musikpädagogik kann vorerst als gering einge-
schätzt werden. Die Rollen des VDS (für die letzten Jahre auch des BMU) und
des AfS (1953–2015) sind noch nicht untersucht; der Deutsche Musikrat vertritt
als Dachverband zahlreicher Interessen- und Lobbygruppen eine indifferente
Position, wie an den in den letzten Jahren publizierten Verlautbarungen deut-
lich wird, die den Begriff Vielfalt in den Blick nehmen.11

(4) Mit Blick auf wissenschaftliche Untersuchungen zu dieser Thematik (Präfe-


renz-, Unterrichts- und Hochschulforschung, Feldstudien, Lehrwerks- und

10
Seit 1934 MENC=Music Educators National Conference; 2011 wurde der Name auf National Asso-
ciation for Music Education (NAfME) geändert.
11
Vgl. z. B. Deutscher Musikrat (2006, 2008). Siehe auch das unter diesem Label in Diktion
bedenkliche und inhaltlicher Substanz recht wirre Konglomerat (Deutscher Musikrat, 2016).

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Vom anhaltenden Fremdeln in der deutschen Musiklehrendenbildung 43

Diskursanalyse, Studien zur Selbstwirksamkeit und zu Lernerfolg u. a.) ist


festzustellen, dass diese in den letzten zehn Jahren insgesamt gesehen zwar
leicht zunehmen, allerdings sind für die musikpädagogische Forschung für
einen Großteil dieser Themen in Deutschland z. T. erhebliche Desiderate zu
konstatieren.

(5) Die zahlreichen schulischen Unterrichtsmaterialien spiegeln – selbstre-


dend – die grundsätzlichen, sich aus dem allgemeinen Fachdiskurs speisenden
Haltungen wider. Hochschuldidaktische Handreichungen sind, insbesondere
im deutschen Fachdiskurs, nicht zu finden.

3.2 …in der Abstraktion

Bei getrennter Betrachtung unter einem systematisierenden Blickwinkel erge-


ben sich weitere Details. Abbildung 1 visualisiert die verschiedenen Begriffs-
felder des angloamerikanischen Diskurses. Entlang der Zeitleiste auf der lin-
ken Seite ist das ungefähre Aufkommen von Sammelbezeichnungen dargestellt,
die als Überbegriffe den Diskurs (und damit auch Haltungen und Einstellun-
gen) etikettieren. In der Mitte sind die in den Texten auffindbaren Schlüssel-
worte auf der Gegenstands- bzw. nach 2000 (z. B. „Teaching Music Globally“)
auf der Konzeptionsebene wiedergegeben. Auf der rechten Seite sind Einflüsse
aus Nachbardisziplinen oder affinen Diskursen vermerkt, auf die direkt oder
indirekt zurückgegriffen wird.
Der auf den ersten Blick entstehende Eindruck eines begrifflichen Bruches
von „music“ zu „teaching music“ in der mittleren Spalte liegt in dem Umstand
begründet, dass in den Veröffentlichungen bis zu einem gewissen Zeitpunkt
das Bestreben festzustellen ist, die Musik, der man sich musikdidaktisch zu-
wendet, irgendwie zu bestimmen. Ab circa 2000, vor allem durch die Arbeiten
von Wade und Campbell, rückt diese Absicht in den Hintergrund, weil insbe-
sondere bei „Teaching Music Globally“ eine derartige Systematisierung zu-
gunsten eines nicht ethnisch oder anderweitig signifizierten Musikbegriffs
obsolet wird, auch wenn der äußeren Anmutung nach die Reihe „Global Music
Series“ der beiden Herausgeberinnen zwischen Ländern unterscheidet.12
Anhand der Abbildung lassen sich vorerst zwei Beobachtungen festhalten;
auf Details muss in diesem Rahmen verzichtet werden.

12
Siehe dazu das in allen Einzelbänden dieser Reihe fast wortgleiche Vorwort.

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44 Bernd Clausen

Abbildung 1: Übersicht Begrifflichkeiten im angloamerikanischen Diskurs

(1) Das Wort multicultural ist im englischsprachigen Diskurs recht prominent


vertreten, obgleich David J. Elliot bereits 1990 auf seine Doppeldeutigkeit hin-
wies: Einerseits gebe diese Vokabel in ihrer deskriptiven Verwendung eine
Nähe zu der Bezeichnung culturally diverse einen sozialen Sachverhalt wieder,
andererseits konstruiere sie als wertender Begriff ein soziales Ideal:

”As a descriptive term, ’multicultural‘ refers to the coexistence of unlike groups


in a common social system. In this sense, multicultural means ’culturally diverse‘.
But the term is also used in an evaluative sense: it connotes as social ideal; a policy
of support for exchange among different groups of people to enrich all while
respecting and preserving the integrity of each.“ (Elliot, 1990, S. 151)

(2) Die Diskussionen um anti-racism, auch im Zusammenhang mit social justice,


ragen deutlich in die Diskussion um multicultural music education hinein. Dage-
gen spielt dieser Aspekt im deutschen Fachdiskurs in dieser Diktion so gut wie
keine Rolle, obgleich das Phänomen – wie oben angedeutet – auch in der Bun-
desrepublik höchst virulent ist. Deborah Bradley (2006) stellt z. B. fest:

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Vom anhaltenden Fremdeln in der deutschen Musiklehrendenbildung 45

”Music education has its own history of exclusion, a history that continues to
self-perpetuate in part due to the imposition of colonial value judgments upon
musical genres and practices. Rock musicians, West African drumming masters,
North Indian classical musicians and many other specialists, unless they are also
expert in Western art music, are not likely to find spots in North American
­university music education programs premised on Western classical music.“
(Bradley, 2006, S. 24)

Abbildung 2 zeigt die Verwendung von Begrifflichkeiten im deutschen Dis-


kurs in der gleichen Aufteilung wie oben.

Abbildung 2: Übersicht Begrifflichkeiten im deutschen Diskurs

Das dreimalige Aufblitzen von außereuropäischer Musik hängt einerseits mit ver-
einzelten Beispielen aus der Weimarer Zeit im Umfeld der Musikvermittlungs-
bemühungen der Berliner Musikethnologen und dem Aufkommen der Schall-
platte zusammen, andererseits rückt dieser Begriff kurz nach dem 2. Weltkrieg
und dann über die UNESCO-Kommission besonders in den 1970er Jahren in den

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46 Bernd Clausen

Vordergrund. Die Einflüsse von deutschen Musikethnologen wie Josef Kuckertz


und Kurt Reinhard führen dann zu Unterrichtsmaterialien, die bis in die 1980er
Jahre wirken. Doch war dieser Begriff nicht unumstritten, wie bei Michael Jenne
(1979, S. 612) nachzulesen ist. Die Ablösung von diesem Begriff und die damit
einhergehende Bedeutungszunahme der Migrationstatsache seit Mitte der
1980er Jahre, nicht zuletzt dokumentiert durch einen Aufsatz von Walter Giese-
ler, wurden bereits beschrieben (Clausen, 2011). Nach dieser eher überblicksarti-
gen und in ihren weiteren Dimensionen sicher noch nicht abgeschlossenen Ana-
lyse wird nachfolgend der Fokus auf Musiklehrendenbildung gelenkt.

3.3 …im Fokus


3.3.1 Hochschuldidaktik

Werden aus dem Gesamtkorpus der Synopse (Clausen, i. d. B.) jene Beiträge
­extrahiert, die die Aspekte Musiklehrendenbildung und Hochschuldidaktik
thematisieren, sind im Zeitraum zwischen 1986 und 2018 nach gegenwärtigem
Stand 32 Beiträge auszumachen, die sowohl curriculare Architekturen und
Lehr-/Lernangebote in den Blick nehmen als auch Musiklehrendenbildung in
unterschiedlichen Perspektiven. 26 Aufsätze sind englisch-, sechs deutschspra-
chig: Jens Peter Reiche (1978), der sich auf das Hamburger Modell der 1970er Jahre
(vgl. Rauhe 1971, 1974) bezieht, Ellen Hickmann (1987), Wolfgang Martin Stroh
(2000), Bernd Clausen (2004, 2018) sowie Andreas Kloth (2008). Das in der musik-
pädagogischen Literatur der 1970er Jahre vielfach diskutierte Hamburger Modell
ist nach momentanem Wissenstand das einzige nachweisbare Studienangebot,
das sich musikethnologischen Lehrveranstaltungen geöffnet hat.13 Dabei steht
der Vergleich im Mittelpunkt, wie ihn ja auch Siegmund Helms in seinen Über-
legungen immer wieder hervorhebt.14 Reiche schreibt dazu:

„Bei dem Konzept, das wir für die Einführung des Faches in die Lehrerbildung
an der Hamburger Musikhochschule entwickelt haben, sind wir von der Über­
legung ausgegangen, daß sich wissenschaftspraktisches Know-how (I.) und wis-
senschaftstheoretische Reflexion (IV.) aus der Betrachtung des Gegenstands in

13
Inwieweit die Absichten, die Stroh formuliert, im Oldenburger Studiengang umgesetzt wur-
den, ist bisher nicht untersucht.
14
Es war im Übrigen Ellen Hickmann, die, aus dem Schuldienst kommend, ab 1974 einen Lehr-
auftrag für Musikethnologie an der Hamburger Musikhochschule übernahm, bis sie 1976
nach Hannover berufen wurde. Die hochschuldidaktische Bedeutung der Musikethnologie
bestand – wie auch für Kuckertz und Reinhard – eher in einer abbilddidaktischen Funktion
(vgl. Hickmann, 1987).

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Vom anhaltenden Fremdeln in der deutschen Musiklehrendenbildung 47

Gang setzen lassen. Dieser Gegenstand war von vornherein – bezogen auf die
Unterrichtseinheit – nicht als Einzeldarstellung einer bestimmten Musikkultur,
sondern als interkultureller Vergleich definiert.“ (Reiche, 1978, S. 178)

In diesem Kontext sei ein Vorschlag von Erhard Karkoschka (1969) hervorgeho-
ben, der aus historischem Blickwinkel für diese Zeit recht innovativ ist, aller-
dings folgenlos blieb. Der Autor gibt die Ergebnisse einer Studie zu den musik-
theoretischen Abschlussprüfungen wieder und regt Veränderungen an, zu
denen auch die Berücksichtigung „außereuropäischer Musik“ im Theorie­
unterricht gehört:

„Zweifellos werden relativ wenig Studenten Fächer wie außereuropäische Musik


wählen, aber schon etwas mehr werden diese Übung besuchen, und für alle
anderen ist es wichtig, daß solche Fächer überhaupt angeboten werden. Denn nur
so kann das egozentrisch-primitive, letztlich ganz und gar unhistorische Ver-
ständnis von Musik, wie es der heutige Lehr- und Prüfungsplan eher bestärkt,
überwunden werden.“ (Karkoschka, 1969, S. 374).

Solche Beispiele sind äußerst rar. Dass die Schaffung einer solchen Wahlmög-
lichkeit bis heute kaum Widerhall im hochschuldidaktischen Musiktheorieun-
terricht findet, verstärkt einmal mehr die oben formulierte Frage nach den
Gründen für diese Resistenz.

3.3.2 Musiklehrendenbildung

Untersuchungen zu Musiklehrenden und zur Musiklehrendenbildung sind im


englischsprachigen Diskurs zu multicultural music education und diversity recht
breit vertreten, gefolgt von vereinzelten Analysen zu Hochschulcurricula und
zu Institutionen. Der Fokus auf die Lehrperson findet sich konsequent ab der
Mitte der 1980er Jahre (vgl. Boyer-White, 1988). So nimmt beispielswese Elliot
einen Ordnungsversuch vor, der in Richtung Haltung oder Einstellung zu
interpretieren ist. Er unterscheidet zwischen the assimilationist, the amalgamatio-
nist, open society, insular multiculturalism sowie modified forms und kommt zu
folgendem Schluss:

„In conclusion, music educators (and arts educators in general) require a philoso-
phy of multicultural education that is conservative in its concern for preserving
the integrity of music cultures (dance cultures, etc.) of the American macrocul-
ture, yet liberal insofar as it goes beyond particular cultural preferences to con-
front beliefs systems, processes, and problems, including the shared concerns of
musicians from emerging music cultures.“ (Elliot, 1990, S. 162–163)

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48 Bernd Clausen

Die Forderungen nach einer Veränderung der Musiklehrendenbildung werden


im angloamerikanischen Diskurs durch zahlreiche Untersuchungen flankiert,
die verdeutlichen, dass es eine Notwendigkeit gibt, Musiklehrendenbildung
stärker zu multikulturalisieren (vgl. z. B. Chin, 1996; Emmanuel, 2005). In
Deutschland ist musikpädagogische Forschung in diesen Bereichen dagegen
fast nicht existent.

3.4 Resümee

Abgesehen von dem offensichtlichen Befund, dass der deutsche Diskurs die
Musiklehrendenbildung kaum im Blick hat, zeigt die Analyse der Synopse im
Kontrast zu den angloamerikanischen Debatten noch weitere Perspektiven. Es
bestätigt sich zum einen, was oben am Beispiel Kaisers nur angedeutet wurde:
Das Deutungsmuster musikalische Bildung wird durch begriffliche Differen-
zierungen, die von einer Vielzahl von Bezugnahmen und Entlehnungen aus
anderen Wissenschaftsdisziplinen gespeist sind, an jenen Stellen gedehnt, an
denen es gegenüber seinen historisch aufgeladenen kulturessentialistischen
Vorstellungen von Musik herausgefordert wird. Dies schlägt sich in der musik-
pädagogischen Literaturlandschaft nicht nur in den vielfach vertretenen Bei-
trägen zur Begriffsbestimmung nieder, sondern ist auch in der musikdidakti-
schen Literatur (Lehrmittel) in additiver Form (europäische Musik plus andere
Musik) ablesbar. Zum anderen scheitern die wenigen Beispiele, die diese Ein-
stellung auf die Musiklehrendenbildung zu übertragen versuchen, sowohl in
der Vergangenheit (z. B. Karkoschka, Reiche) als auch in der Gegenwart. Das
Deutungsmuster, genauer gesagt das gedehnte Verständnis von musikalischer
Bildung als inter- oder transkultureller Musikunterricht, wirkt zwar auf die
konzeptionellen Ebenen der Musikdidaktik, zieht sich aber bei Inblicknahme
der Hochschuldidaktik auf einen kulturessentialistischen Kern zusammen.

4 Schlussbemerkungen

In den vorangegangenen Abschnitten konnte gezeigt werden, dass sich in der


deutschen Musikpädagogik in dem hier verhandelten Diskurs ein nicht uner-
heblicher Querstand auftut. Zwar wird über Schülerinnen und Schüler, Unter-
richtsmaterialien und auch Lehrendendispositionen kommuniziert, die Musik-
lehrendenbildung bleibt jedoch außerhalb des Gesichtskreises, obwohl doch
eigentlich hier eine wichtige Stellschraube gegeben wäre, sowohl in Hinsicht
auf Forschung als auch auf Entwicklung grundsätzlich den Diskurs voranzu-
bringen. Daraus lässt sich eine erste Schlussbemerkung ziehen: Musikdidakti-

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Vom anhaltenden Fremdeln in der deutschen Musiklehrendenbildung 49

sche Überlegungen sowie Forschungsbemühungen zur Einbindung diverser musikbezo-


gener Praxen im schulischen Musikunterricht in der Bundesrepublik Deutschland
müssen Musiklehrendenbildung stärker in den Blick nehmen. Dies bedeutet, bisherige
(internationale) Forschungsergebnisse sind zu akkumulieren und zu einem Forschungs-
und Entwicklungsprojekt zusammenzuführen. Konzeptionen wie z. B. von Campbell
und Wade, Elliot, Reiche, Schippers, Stroh u. a. sind sowohl hochschuldidaktisch zu
applizieren als auch in Unterrichtsversuchen zu erproben, um sie auf verschiedenen
Ebenen untersuchbar zu machen.
Mag sich dieses Statement vordergründig als eine weitere Mahnung mit
­vielen anderen einreihen, gar zahnlose Sollensvorstellung sein, ist bei alledem
eine Aufgabe in jedem Falle unumgänglich: Die Suche nach den Gründen, zu-
mindest aber nach Erklärungen für die Resistenz gegenüber solchen Forderungen zu
beginnen. Dies ist die zweite Schlussbemerkung. Denn es gilt zu verstehen und
zu belegen, welche Faktoren so wirkmächtig sind, dass sie Veränderungen in
der Musiklehrendenbildung be- oder verhindern. Daraus ergibt sich schließ-
lich die dritte Schlussbemerkung.
Mit diesem Beitrag wird ein Denkmodell vorgeschlagen, das zwar noch
nicht erschöpfend ausgeleuchtet ist, aber die Reflexion und die weitere Analyse
des Diskurses unterstützt. Denn es ist zu vermuten, dass auch bisher in der
Musikpädagogik kaum ausgesprochene Aspekte, wie z. B. musikkulturelle
Bewahrungsabsichten, institutionssoziologisch erklärbare Einflüsse oder kul-
turessentialistische, gar national aufgeladene Argumentationsfiguren, dieses
Deutungsmuster mittragen.

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52 Bernd Clausen

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Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 52 13.08.20 08:44


Alexander J. Cvetko

Interkulturalität aus Sicht der Historischen Musikpädagogik:


Ausgewählte Einblicke in eine Geschichte der Aporien in drei
Jahrhunderten

Interculturality in Historical Msic Educational Research:


Insights into the History of its Aporias in Three Centuries

Aus Sicht der Historischen Musikpädagogik hat die Interkulturelle Musikpädagogik


inzwischen eine lange Geschichte. Teil dieser sind auch Aporien, von denen drei aus­
gewählte aus Sicht verschiedener Jahrhunderte vorgestellt werden, die zwar unter-
schiedliche Kontexte beinhalten, inhaltlich aber eine gemeinsame Klammer aufweisen.
Schließlich wird vor diesem Hintergrund ein Kapitel aus einem aktuellen Schulbuch
analysiert und reflektiert.

From a historical perspective, interculturality has a relatively long history in music


educational research. Part of this history can be seen as aporias. In this article three of
these contradictions are presented throughout different centuries. Although they are
rooted in different contexts, it seems that they share certain similarities rather than
differences. By reflecting and analyzing a chapter from a current textbook this article
shows that these aporias also have an impact on recent music teaching material.

Ende des 18. Jahrhunderts: Johann Gottfried Herders Volkslieder (1778/79)

Gemeinhin gilt als Beginn neuzeitlicher Musikpädagogik die Schwelle um


1800, in der eine rege musikpädagogische Publikationstätigkeit einsetzte. Vor-
aussetzungen in dieser Zeit sind hierfür die politischen Rahmenbedingungen
im Zuge der Preußischen Reformen, die neuen Erziehungsvorstellungen
(besonders vor dem Hintergrund der allgemeinen Menschenbildung Pestaloz-
zis, des Neuhumanismus Humboldts und der Ästhetischen Erziehung Schil-
lers) sowie die gewandelten musikästhetischen Anschauungen (vgl. Nolte,
1986, S. 80–84). Zu einem vielrezipierten Vordenker gehört auch Johann Gott-
fried Herder (1744 – 1803), der als Dichter, Theologe, Pädagoge und Musiklieb-
haber keinen unerheblichen Anteil am Beginn einer musikpädagogischen

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54 Alexander J. Cvetko

Besinnung und Theoriebildung bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-
derts hatte (vgl. Eggebrecht, 1984, S. 315). Mit ihm beginne gar die Reihe der
klassischen Denker zur Humanisierung der Menschheit durch die Musik (vgl.
Abel-Struth, 1985/2005, S. 29), wobei auch seine Vorstellungen vom Volkston
als Grundlage der Humanität für die sich etablierende neuzeitliche Musik­
pädagogik zentral seien (vgl. Nolte, 1986, S. 83).

Über seine Positionen zur Erziehung durch Musik ist bereits viel geschrieben
worden (vgl. Cvetko, 2006), überdies ist er in der wissenschaftlichen Musikpä-
dagogik vor allem durch Befürworter einer Transkulturellen Musikpädagogik
in negative Schlagzeilen geraten und zahlreich diskutiert worden (zusam-
menfassend und gegen die Kritiker vgl. etwa Cvetko, 2018, S. 18–22). Doch
mag er hier erneut aufgegriffen werden, da es ihn aus dem engen ostpreußi-
schen Mohrungen umtriebig in die weite Welt zog, er sich mit Interkulturali-
tät, Musik und Pädagogik zusammenhängend auseinandersetzte und sich
einige seiner damit in Verbindung stehenden Aporien (wenngleich mit ande-
ren Etikettierungen) wie ein roter Faden bis heute durch die Geschichte der
Interkulturellen Musikpädagogik ziehen. Herders quälende Fragen, die er
nicht lösen konnte, werden etwa am Beispiel der von ihm gesammelten und
herausgegebenen Volkslieder in besonderer Weise evident. Seine Sammlun-
gen von Volksliedern aus aller Welt, die später den Titel „Stimmen der Völker
in Liedern“ tragen sollten, waren durchaus pädagogisch motiviert und sollten
dazu dienen, den Menschen die Vielfalt zu zeigen, sie aber auch vor dem Ver-
gessen zu retten (für die folgenden Ausführungen zu Herder vgl. Cvetko,
2006, S. 243–253, 185–193 und 382–400; Cvetko, 2008, S. 97–149; Cvetko, 2013,
S. 184–189; Cvetko, 2014, S. 301–307; Cvetko, 2018, S. 18–29).

Aporie 1: Schriftlosigkeit vs. Schriftkultur

Herder konnte sich zeitlebens für die Schriftlosigkeit noch nicht zivilisierter
Völker erwärmen, denn deren Gesänge seien das „Archiv des Volkes“ (Her-
der, 1777/ed. 1893, S. 532). Mit Einführung der Schrift sei der größte Teil die-
ses alten ursprünglichen Worts zu Grabe getragen worden. Zu seinen Leb-
zeiten beteiligte er etwa auch Goethe an seinem Projekt, der die Lieder
gerade noch rechtzeitig „aus den Kehlen der ältesten Müttergens“ (Goethe,
1771/ed. 1997, S. 239–240; vgl. auch Braungart, 1996, S. 19–23 und Cvetko,
2006, S. 247, Anm. 1106) aus dem Elsaß mitgebracht haben soll. Gleichwohl
sammelte er die Lieder für die Drucklegung seiner Volkslieder und geriet
damit in eine Aporie, die schon für die Gregorianischen Gesänge galt, deren

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Interkulturalität aus Sicht der Historischen Musikpädagogik 55

Sammlung eine Tilgung regionaler Besonderheiten und eine explizit in Gang


gesetzte Globalisierung eines Standardrepertoires bedeutete (vgl. Schneider,
2000, S. 139).

Aporie 2: Individuum vs. „Volksganzes“

Herder konnte sich für den Menschen als Individuum begeistern, er erscheint
in seinen opulenten Werken geradezu als ein rechter Menschenfreund jedes
einzelnen Individuums. Doch so sehr ihm die Individualität am Herzen lag
und seine Perspektive häufig auf den Einzelmenschen gerichtet war (so beim
Singen als Möglichkeit, sich individuell auszudrücken), lässt sich – das ist
typisch für Herder – janusköpfig auch das gerade Gegenteil konstatieren:

„Im Unterschied zu Rousseau, aber auch zu Humboldt, Goethe und Schiller, die
mehr von einer individualisierten Sicht des Menschen ausgehen, betont Herder
die Verankerung des einzelnen im Volksganzen. Er sieht den Menschen nicht nur
in seiner Individualität, sondern und vor allem in seiner Eigenschaft als Mitglied
seines Volkes, in einer Eingebundenheit in kulturelle, gesellschaftliche und his-
torische Bezüge“ (Nolte, 1982, S. 101–102).

Kein Wunder also, dass Herder Lieder nach Völkern sammelt und damit von-
einander abgrenzende Konturen im Sinne von Kulturgemeinschaften schafft.
Befürworter begrüßen das. So beschreibt etwa der Musikwissenschaftler Dra-
gotin Cvetko, junge Slowenen zu Beginn des 19. Jahrhunderts seien begeistert
gewesen ob der national-kulturellen Würdigung der Slowenen in Herders
„Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (vgl. Cvetko, 1975,
S. 148). Kritiker wie Welsch sehen darin die Fundamentalisierung der Diffe-
renz, eine Abschottung der Kulturen, wie Kugeln, die sich abstoßen (vgl.
Cvetko, 2008, S. 100–109). Welsch und seine Befürworter erkennen die Gefahr
eines hermetischen Kulturbegriffs und üben Kritik an einem möglichen Kul-
turrelativismus. Hingegen warnen Welschs Gegner vor einer gewissen Kon-
turlosigkeit im Hinblick auf den Kulturbegriff und sehen die Gefahr einer
globalen Homogenisierung, die zur Auflösung von Interkulturalität führen
kann (vgl. Assmann, 2001, S. 50–54, Cvetko, 2008, S. 118 sowie Cvetko, 2014,
S. 304). Herder selbst, so glaubt die einschlägige Forschung (vgl. Cvetko, 2006,
S. 395–396), wollte die Völker in der zweibändigen Volksliedsammlung nicht
abgrenzen, sondern das gemeinsame Band der Menschheit in allen Zeiten
dokumentieren und mittels zunehmend kultivierterer Lieder zwischen vier
Buchdeckeln ein Abbild des Humanitätsgedankens schaffen (vgl. z. B. Hey-
bey, 1950/51, S. 55).

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56 Alexander J. Cvetko

Aporie 3: Abbild vs. Bildung

Damit einher geht die dritte Aporie, denn zum einen scheint lediglich das
Abbilden einer humanisierten Gesellschaft bescheiden wenig zu sein, zum
anderen bleibt der Bildungsauftrag bei Herder damit erstaunlich offen. Dabei
schleicht sich zusätzlich ein Grundproblem ein, mit dem sich auch die moderne
Erziehungswissenschaft beschäftigt: Ist der Mensch als universales Wesen
eine anthropologische Konstante oder wird er kulturbedingt gebildet? Die
(ungelöste) Anlage-Umwelt-Diskussion lässt sich damit also in einiger Klarheit
schon im 18. Jahrhundert finden.

Ende des 19. Jahrhunderts: Der Beginn der Musikethnologie

Wenn man so will, setzten sich die Aporien Herders mit anderen Termini und
in anderen Kontexten fort, beschaut man etwa die Entwicklung der Musik­
ethnologie seit den 1880er-Jahren, die sich ursprünglich als Vergleichende Mu-
sikwissenschaft verstand und sich gegenwärtig als Ethnomusikologie bezeichnet.
Protagonisten waren etwa Carl Stumpf, Erich Moritz von Hornbostel und Curt
Sachs. Letzter, ein Student Hermann Kretzschmars, beschreibt die Problema-
tik, Gesänge der Forschungsreisenden aufzuzeichnen. Ein Reisender habe gar
die Melodie eines in Afrika gehörten Liedes Monate hindurch vor sich hinge-
pfiffen, um diese dann später in London in Noten aufzeichnen zu lassen. Über-
haupt habe erst das sog. „Centsystem“ eine Möglichkeit geschaffen, andere
Tonsysteme als das europäische zu transkribieren. Ein Kompromiss lag
schließlich in der Erfindung des Phonographen und der Aufzeichnung auf
Wachswalzen (wie man sie noch heute im Berliner Phonogrammarchiv be-
wundern kann), was die Frage hinsichtlich der Schriftlosigkeit vs. Schriftkul-
tur (Aporie 1) noch immer nicht vollständig löste: „Unbefriedigend bleibt nach
wie vor die Umsetzung der phonographischen Aufnahme in europäische
­Noten“ (Sachs, 1930, S. 3–8). Unlösbar schien zudem die Frage (Aporie 2) nach
der regionalen Eingrenzung der damals so verstandenen Naturvölker, die in
­Theorien der sog. „Kulturkreislehre“ mündeten (vgl. Kohl, 2012, S. 135–137).
Diese Lehre hatte u. a. bei Sachs zur Annahme geführt, bei den Naturvölkern
hätten sich frühmenschliche Zustände getreu gehalten, die man als Vorstufen
der Musikgeschichte auffassen könnte. Schließlich bleiben die Bezüge zur Päd-
agogik nebulös: Auch wenn Sachs seine Vergleichende Musikwissenschaft
(1930) in Leo Kestenbergs Schriftenreihe Musikpädagogische Bibliothek veröffent-
lichte und im Vorwort betont, der Zweck des Buches sei, „daß breiteren musi-
kalischen und pädagogischen Kreisen das Wesen und der erzieherische

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Interkulturalität aus Sicht der Historischen Musikpädagogik 57

­ egenwartswert der vergleichenden Musikwissenschaft erschlossen wird“


G
(Sachs, 1930, Vorwort), bleibt das Bildungsziel für den schulischen Musikunter-
richt offen. Ein ähnlicher Befund ergibt sich aus einer Publikation Egdar
Rabschs aus dem Jahre 1925. Sie versteht sich als unmittelbare Reaktion auf
eine der Kestenberg-Reformen im Jahre 1924. Eine tragende Säule dieser Re-
form ist der Anspruch auf einen fächerübergreifenden Unterricht, der hier in
einem Materialangebot in Form von Literaturverweisen zur Verbindung von
Erdkunde und Musik mündet. Die Auflistung Rabschs erweist sich als er-
staunlich fortschrittlich und zeigt einmal mehr, wie weit die Bemühungen um
eine Interkulturelle Musikpädagogik zurückreichen (vgl. Cvetko, 2013, S. 184–
185). Die sich dort findenden Verweise, beispielsweise auf eine Publikation
Stumpfs zu Liedern der in einem kleinen Fischerdorf lebenden Bellakulaindia-
ner (1886) oder auf Forschungen über die Musik der Japaner, der Inder, Türken
u. v. m. (jeweils 1904), kommen – wie schon Herders Volksliedsammlungen –
jedoch ohne das Abstecken (kleinerer oder größerer) eingegrenzter kultureller
Räume nicht aus. Man fragt sich, wie sonst hätten die frühen Musikethnologen
andere Kulturen beobachten und beschreiben können, ohne sie räumlich ein-
zugrenzen. Überdies versteht sich der umfängliche Verweis auf das bestehen-
de Materialangebot lediglich als ein Abbild aktueller Forschungen, ohne dass
ein Bildungsauftrag offengelegt würde (Aporie 3).

Ende des 20. Jahrhunderts: Das Schwinden der Grenzen

Die Frage nach der Schriftlosigkeit vs. Schriftkultur (Aporie 1) bleibt auch im
20. Jahrhundert virulent (vgl. z. B. Suppan, 1970, S. 119–121). Man fragt sich, ob
ursprüngliche Gesänge in ihrer Authentizität erhalten bleiben, wenn man sie
sammelt und aufzeichnet. Bis heute werden schriftlose Kulturen und in dieser
Weise das uns Fremde gewürdigt; so pointiert Thomas Ott für die afrikanische
Musik der Dritten Welt: „Stirbt ein Greis, brennt eine ganze Bibliothek“ (Ott,
1998, S. 311–312), um das komplementäre Potenzial aus dem Fremderleben mit
anderen Kulturen aufzuzeigen. Zudem fehlt es nicht an der „Warnung vor dem
abendländischen Vorsprung, denn dieser lasse zuweilen die Mikro- und Kom-
matöne der anderen Kultur verschwinden“ (Merkt, 1993, S. 147–148). Ferner ist
ein Themenheft der Diskussion Musikpädagogik (4/1999) dem Thema Oral Culture
gewidmet, um (auch in Bezug auf Afrika) Grenzen und Potenziale für den
aktuellen Musikunterricht, insbesondere für den Umgang mit schriftlich
fixierten Noten, herauszuarbeiten.
Als am virulentesten erweist sich die Auseinandersetzung mit der Frage
nach der Auflösung hermetischer Kulturbegriffe zugunsten der Perspektive

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58 Alexander J. Cvetko

auf das Individuum (Aporie 2). In diesem Zusammenhang hat der Philosoph
Wolfgang Welsch 1994 in der Musikpädagogik geradezu einen Tsunami ausge-
löst und viele Befürworter hinter sich bringen können, die einige Sympathien
dafür haben, Kultur nicht holistisch aufzufassen, sondern den kulturellen
Mischling in einer transkulturell verfassten Gesellschaft zu fokussieren (vgl.
Cvetko 2008, S. 100, Anm. 16 und 101–109 sowie Cvetko 2014, S. 301–307 und
Cvetko 2018, S. 21–24). Nur dieser weise der Kultur Bedeutung zu, nicht aber
oktroyierend die Gesellschaft als Kulturgemeinschaft. Hatte Wolfgang Welsch
zu Unrecht Herder als Symbol eines hermetisch verstandenen Kulturbegriffs
zur Veranschaulichung gewählt, so ist ihm entgangen, dass Herder selbst ein
guter Gewährsmann in seinem akademischen Diskurs gewesen wäre, der in
bestimmten Zusammenhängen dem Transkulturellen gar größere Chancen
einräumt als dem Interkulturellen (dem Dazwischen). Das Schwinden der
Grenzen hat weitreichende Folgen, etwa das notwendige Verschwinden der
Musikethnologie und der Ethnomusikologie, wie Martin Greve das eindrück-
lich beschreibt (vgl. Greve, 2002). Es hat gleichermaßen den intensiven Blick auf
das Individuum als Abkehr von Perspektiven auf kulturelle Einheiten oder auf
Individuen im „Volksganzen“ zur Folge. Und es mag eine logische Verkettung
sein: Die Kritik an hermetischen Kulturbegriffen (auch wegen Gefahren in Be-
zug auf einen Kulturrelativismus) sowie die am Universalismus1 (was in Teilen
auch für Herders Volksliedsammlung gilt) führen letztlich auf nur eine Per-
spektive, nämlich auf das Individuum. Standen noch in Conny Froboess’ Schla-
ger Zwei kleine Italiener (1962) die Italiener als pars pro toto für die (!) Italiener
und unterstrichen die Autoren von Musikbuch – Primarstufe B (1975) Stereotypi-
sierungen mit Fragen „Wie singt man in Spanien? Wie in anderen Ländern?“
(S. 9), finden sich auch damals schon Beispiele, welche das Individuum stärker
in den Vordergrund rücken: So wird in Udo Jürgens‘ Lied Griechischer Wein
(1974) als erzählter Geschichte auf Situationen und Sehnsüchte der Männer mit
braunen Augen und schwarzem Haar sowie auf die eines Einzelnen aufmerk-
sam gemacht („… als man mich sah, stand einer auf und lud mich ein … und
wenn ich dann traurig werde, liegt es daran, dass ich immer träume von da-
heim … denn ich fühl’ die Sehnsucht wieder, in dieser Stadt, werd’ ich immer
nur ein Fremder sein, und allein …“), und auch die Autoren des Schulbuchs
Dudelsack. Unser Musikbuch (1976) erzählen die Herkunftsgeschichte von Ali
und seiner neuen Heimat in Deutschland (S. 42–43) (vgl. Cvetko, 2016, S. 76–79).

1
Die „universelle Sprache der Musik“ gibt es nicht (Baumann, 1996, S. 177), auch sei die Vermi-
schung fremder Kulturen mit dem Sound einer universellen „Worldmusic“ eine Gefahr (vgl.
Gruhn, 1998, S. 8 und 10).

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Interkulturalität aus Sicht der Historischen Musikpädagogik 59

Hinsichtlich der hier vorgestellten Aporie 3 findet sich eine Fortsetzung der
Geschichte: Hatte noch Herder geglaubt, er könne mit seinen Volksliedkompi-
lationen das Abbild einer humanisierten Gesellschaft dokumentieren, ohne
dabei der Formulierung eines Bildungsanspruchs Rechnung zu tragen, skiz-
ziert auch Wolfgang Welsch lediglich das Abbild einer transkulturell verfass-
ten Gesellschaft, ebenso ohne eine pädagogisch motivierte Perspektive daraus
abzuleiten (vgl. die fundierte Kritik an Welsch bei Mendívil, 2012, S. 43–61).
Was schließlich heißt das für die Pädagogik, wenn sie zur Kenntnis nimmt,
dass die herkömmlichen Grenzen schwinden und die Gesellschaft bereits
einen transkulturellen Zuschnitt aufweist? Macht es künftige Pädagoginnen
und Pädagogen im Hinblick auf interkulturelle Themen arbeitslos?

Was bleibt?
Aus der Perspektive der Historischen Musikpädagogik wirken besonders die
Aporien 2 und 3 nach: Der Publikationsoffensive Welschs im Jahr 1994 folgte
1996 unmittelbar eine Tagung mit dem Titel „Tage Transkultureller Musik­
erziehung“ an der Universität Bamberg. Besieht man den Tagungsband Musik
transkulturell erfahren, findet sich nur wenig, was man mit dem Transkulturel-
len verbinden könnte, die Intention bleibt nebulös. Indessen finden sich in einer
viel späteren Publikation, dem Musiklehrwerk MusiX (2011), Gedanken zur
Transkulturellen Musikpädagogik (vgl. auch Cvetko, 2016, S. 81). Im dazugehöri-
gen Lehrerband heißt es:
„Noch ein weiterer Gedanke spielt hierbei eine wichtige Rolle: Individuen sind
nicht mehr in gleichem Maße wie früher nur von den kulturellen Konventionen
und Traditionen ihres eigenen Kulturkreises geprägt, sondern werden von allerlei
Einflüssen disponiert. Der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch nennt das durch
mehrfache kulturelle Anschlüsse geprägte Individuum einer Gesellschaft des-
halb einen ‚kulturellen Mischling‘ …“ (MusiX, 2012, Lehrerband, S. 211, Hervor­
hebung von AJC)

Folgende Aspekte sind mit Blick auf diesen Welsch-Bezug hinsichtlich der
praktischen Umsetzung samt daraus resultierender Konsequenzen in MusiX
auffällig (vgl. MusiX, 2011, Schülerband, Kap. 20, S. 232–243, bes. 232–237):

– Das Fremde und das Eigene werden in allgemeiner, recht abstrakter Weise
thematisiert.
– Es findet insgesamt kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung mit fremden
Kulturen an sich statt. Man gewinnt den Eindruck, holistisch anmutende
Kulturverständnisse sollten vermieden werden.

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60 Alexander J. Cvetko

– Thematisiert werden Heimat und Ferne im Urlaubszusammenhang, nicht


aber mit einer Migrationsperspektive.
– Ein überraschendes Novum ist das Kapitel „Weltmusikforscher – auf der
Suche nach fremden Klängen“ (ebd., S. 236–237), in dem nunmehr die ethno-
musikologische Forschung selbst thematisiert wird (ein altes, vielkritisiertes
und nicht so recht in das Buch passende Spiel ist in diesem Kapitel jenes, bei
dem man hören soll, woher die Musik kommt, wodurch dann doch eine
räumlich-kulturelle Zuordnung stattfindet).
– Bemerkenswert ist auch das komponierte Lied Europa lacht von Markus Det-
terbeck und Gero Schmidt-Oberländer (ebd., S. 233), in der Stereotypisierun-
gen karikiert werden, indem das ICH dem Europa gegenübersteht:

„Ganz Europa lacht wie du, spitz die Ohren, hör mal zu: HO-HO sagt der
Schotte in seinem Schottenrock, in Italien Signorina singt HI-HI in Rimini. Der
Matrose HA-HA lacht in Hamburgs Hafen laut vom Mast. Ja, in Russland hört
man HU-HU fern aus dem Ural, und in Lettland lächeln nette Letten mit
nem HE-HE-HE.“

– Man könnte sagen, die vieldiskutierte Stereotypisierung erfährt eine gewisse


Leichtigkeit und die Absicht, ebensolche mit Humor zu betrachten. Doch
wird hier durchaus eine holistische Sicht auf Kulturen begünstigt, so dass
die Autoren des Schulbuchs ihre eigenen im Vorwort formulierten Ansprü-
che im Hinblick auf Welschs Transkulturalitätsgedanken nicht einlösen.
Diese Art der Stereotypisierung erinnert an Otto Walkes umgetextetes Lied
zu Udo Jürgens‘ Vorlage Griechischer Wein anlässlich seines Albums Mitten
im Leben in einer ZDF-Sendung am 18. Dezember 2014 zu Ehren von Udo
Jürgens, in welchem nun ostfriesische Männer die Rolle der griechischen
Männer einnehmen.
– Summa summarum: Die Gefahr eines holistischen Kulturbegriffs sowie die
hermetischen Abgrenzungen werden auffällig minimiert, aber das Bil-
dungsziel, insbesondere das musikbezogene, verwässert und ist kaum auf-
spürbar. Zwar wird das Dazwischen (das „Inter“) inhaltlich stark fokussiert,
nicht aber mit dem Terminus „Inter“ bezeichnet.

Schlussgedanken

Aus historiographischer Sicht erweist sich die Geschichte der Interkulturellen


Musikpädagogik auch als eine der ungelösten Aporien: Hinsichtlich der ersten
hier aufgezeigten Aporie ist zu konstatieren: Man begeistert sich allenthalben
noch immer für die Schriftlosigkeit im Hinblick auf die Musik, doch führt der

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Interkulturalität aus Sicht der Historischen Musikpädagogik 61

akademische Umgang mit zunächst schriftlosen Kulturgütern in der Regel zu


schriftgebundener Fixierung. Eine besondere Abhilfe leistet hier indessen die
mediale Entwicklung besonders im Zeitalter der Digitalisierung. So ist es etwa
möglich, einen schwer zu verschriftlichenden Rap als Tonaufnahme auf diese
Weise in seiner ursprünglichen Form zu belassen und nicht durch Schriftlich-
keit seiner ästhetischen Authentizität zu berauben.
Die zweite hier aufgeworfene Aporie ist im Fachdiskurs mit unterschied­
lichen Etiketten in höchstem Maße virulent geblieben, nämlich die Frage der
individualisierten Sicht als Abkehr von homogenisierten Projektionen im Sinne
kultureller Gemeinschaften. Dem Befund Wolfgang Martin Strohs wird man
uneingeschränkt zustimmen können, wenn er sagt, das

„… Problemfeld, an dem sich interkulturelle Pädagogik und der Migrationsdis-


kurs tatsächlich noch immer abarbeiten, ist die projektive Homogenisierung.
Insofern ist es stringent, dass Thomas Ott sein Augenmerk primär auf dieses
Problem richtet. Und dieses Problem ist pädagogisch gesehen keineswegs neu,
wenn man daran denkt, dass es für einen Lehrer niemals die Mädchen oder die
Jungens, die Musikalischen und die Unmusikalischen, die Faulen oder die Fleißi-
gen geben sollte. Und dennoch kommt man beim alltäglichen Handeln selten
ohne Kategorien und Systematisierungen aus. Es würde den Lehrer zur absolu-
ten Handlungsunfähigkeit verdammen, wenn er politisch korrekt immer nur
feststellt, dass alle Schüler und alle Menschen anders sind und er keinerlei pro-
jektive Homogenisierung vornehmen darf. Nicht ein Verbot des Projizierens,
sondern eine bewusst gehandhabte, begründete und transparente Projektion ist
zu fordern“ (Stroh, 2012, S. 12).

Auch Oliver Kautny warnt vor der Gefahr einer Orientierungslosigkeit, wenn
man Homogenisierungsperspektiven meiden wollte, indem man nur noch
durch eine Heterogenitätsbrille schaut, denn auch „Identität – und damit die
wechselseitige Anerkennung von Individuen – [ist] zu einem gewissen Grad
auf Kollektivität, auf Homogenisierung und Vereinfachung angewiesen“
(Kautny, 2012, S. 18, vgl. auch Ott, 2012).

Schließlich bleibt die drittgenannte Aporie nicht weniger virulent: Das Abbil-
den einer humanisierten Menschheit (vgl. Herder), das Abbilden von For-
schungsliteratur (vgl. Rabsch) und auch das Abbilden einer transkulturell
verfassten Gesellschaft (vgl. Welsch) liefern noch keineswegs Ziele Interkultu-
reller Musikpädagogik. Vielmehr gibt es über diese im aktuellen Diskurs noch
immer keinen Konsens. Doch das Bewusstmachen weit zurückliegender und
noch immer aktueller Aporien mag hierfür dienlich sein sowie einer mögli-
chen Tendenz zur Inhaltslosigkeit und Karikatur (MusiX mag hier als ein Bei-

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62 Alexander J. Cvetko

spiel dienen) entgegenwirken. Die Forderung nach transkulturellen Perspekti-


ven hat die Ziele Interkultureller Musikpädagogik m. E. aus dem Blick
verloren – diese diskursiv herauszuarbeiten wäre aber eine der wichtigsten
Aufgaben der nächsten Jahre.

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Interkulturalität aus Sicht der Historischen Musikpädagogik 63

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Tobias Hömberg

Kulturelle Identität(en)
Ein Literaturüberblick zu pädagogischen Sichtweisen und
Perspektivierungen des Begriffs

Cultural Identity and Identities


A Review of Literature Concerning Pedagogical Perspectives
on and of the Concept

Der vorliegende Beitrag betrachtet, wie der Begriff kulturelle Identität in der Inter-
kulturellen Pädagogik und der Migrationspädagogik diskutiert, bestimmt und ge-
nutzt wird. Ausgehend von musikpädagogischen Überlegungen zur Begriffsverwen-
dung werden exemplarische Texte daraufhin befragt, welche Auffassungen von und
zu kultureller Identität dort vertreten werden. Dabei zeigen sich Abweichungen in
Hinblick auf das Verhältnis von Individuen und Kollektiven, den Zusammenhang
von Kultur und Ethnizität, die berücksichtigten Perspektiven und die gezogenen
pädagogischen Schlüsse. Sie bieten Anregungen für weitere musikpädagogische Aus-
einandersetzungen.

This literature review examines how the concept of cultural identity is discussed,
defined and used in German-language intercultural and migration pedagogy. Based on
reflections from a music education point of view on the use of the concept, selected texts
are considered in terms of which perceptions of cultural identity they advocate. This
enables differences to become apparent with regard to the relationship of individuals to
groups, the connections between culture and ethnicity, the perspectives taken into con-
sideration and the pedagogical conclusions drawn. By this means, the literature review
seeks to promote further discussion of these issues in the field of music education.

Kulturelle Identität ist ein vielfach gebrauchter Begriff. Dem verbreiteten Ver-
ständnis zufolge bringt er zum Ausdruck, dass die Identitäten von Menschen
maßgeblich über ihre Teilhabe an einer Kultur definiert seien. So erscheint er
in politischen Debatten und Alltagsdiskursen, um kulturelle Zugehörigkeiten
und Zusammengehörigkeiten zu beschreiben, aber auch festzuschreiben –
suggeriert er doch eine unlösbare Verbindung zwischen Menschen und ihrer

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66 Tobias Hömberg

­ ultur. Dabei findet er sich vor allem in Diskursen, in denen Kultur ethnisch
K
oder national konnotiert wird.
Seit seinem Aufkommen in den 1990er-Jahren stehen der Begriff kulturelle
Identität, der Wert und die Gefahren seiner Verwendung international in der
Diskussion. So stellt etwa der britische Soziologe Stuart Hall fest, dass Ethnie
und Nation für die meisten Menschen der Welt zu den wichtigsten Identifika-
tionsquellen gehörten (vgl. Hall, 1994). Andererseits tendiere der Terminus
kulturelle Identität zu Nationalismus und Rassismus: Er diene zur Rechtferti-
gung dafür, Menschen als einer Kultur zugehörig zu vereinnahmen, aber
ebenso Menschen abzuweisen, wenn sie dieser Kultur vermeintlich nicht ange-
hören. Obwohl solche Verstehensweisen von Identität als überholt gelten müss-
ten, hält Hall den Begriff für nützlich, um das Verhältnis von Menschen und
den sie umgebenden Kulturen zu thematisieren (vgl. Hall, 2004).
Im Gegensatz dazu lehnt etwa der französische Philosoph François Jullien
die Bezeichnung kulturelle Identität grundsätzlich ab. Es handle sich um ein
ungeeignetes und gefährliches Konzept, das die Grundlage für interkulturelle
Konflikte schaffe. Dabei hat Jullien vor allem im Sinn, dass Kulturen selbst
sich nicht fixieren und separieren ließen, sondern durch Vielfalt, Mischung
und Veränderung auszeichneten und allen Menschen offenstünden (vgl. Jul-
lien, 2017).
Im deutschsprachigen Raum wiederum vertritt der Philosoph Wolfgang
Welsch die These von der Transkulturalität, wonach Kulturen sich in Zeiten der
Globalisierung und Migration wechselseitig durchdringen würden. Damit
seien auch die Menschen heute von je verschiedenen kulturellen Einflüssen
und Zugehörigkeiten geprägt. Die Vorstellung kultureller Identitäten von Indi-
viduen könne daher nur aufrechterhalten werden, wenn diese Identitäten
transkulturell verstanden würden (vgl. Welsch, 1994, 2017).

Zum musikpädagogischen Diskurs über kulturelle Identität

Aus Sicht einer interkulturell orientierten Musikpädagogik scheint die Dis-


kussion um kulturelle Identität bedeutsam, da sie hineinführt in Fragen, die
sich angesichts vielfältiger kultureller Bezüge und Herkünfte von Menschen
in unserer Gesellschaft, damit auch in Schule und Musikunterricht, stellen:
Mit den zahlreichen Möglichkeiten, sich selbst und andere kulturell zu veror-
ten, steigen die Schwierigkeiten, aber oftmals auch die Bedürfnisse, eindeu-
tige Identitäten zu beziehen sowie anderen zuzuweisen. In der Musikpädago-
gik wird diskutiert, wie der Begriff kulturelle Identität aufgefasst und genutzt
werden sollte, um solche Fragen in der theoretischen Auseinandersetzung

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Kulturelle Identität(en) 67

sowie in der pädagogischen Praxis zu thematisieren und dabei als pädagogi-


sches Ziel die Vielfalt an möglichen kulturellen Zugehörigkeiten zu schützen
und zu stärken.
Dorothee Barth sieht im Terminus kulturelle Identität selbst einen Wider-
spruch angelegt: Die Konzepte einer Identität von Individuen und einer mit
anderen geteilten Kultur stünden in einem Spannungsverhältnis. Es bestehe
die Gefahr einer Gleichsetzung beider, insbesondere dort, wo Kultur ethnisch
bestimmt werde (vgl. Barth, 2012). Sie sucht daher, ein verändertes Verständnis
kultureller Identität zu etablieren, das sich vom engen Bezug auf ethnische
Zugehörigkeiten löst. Dazu empfiehlt sie einen bedeutungsorientierten Kultur­
begriff, der auf jegliche Formen menschlicher Gemeinschaften bezogen wer-
den kann, sofern sie gemeinsame Lebensstile, Gepflogenheiten oder Haltun-
gen teilen und diesen einen ähnlichen Sinn zuweisen. Ein solch verändertes
Konzept von Kultur und damit auch kultureller Identität ermögliche es Men-
schen, sich in verschiedenen Kulturen zugleich zu verorten. Pädagogisch er-
gibt sich demnach die Aufgabe, Kinder und Jugendliche – insbesondere mit
Migrations- oder Fluchtgeschichte – bei der Entwicklung flexibler, auch ambi-
valenter kultureller Identitäten zu unterstützen (vgl. Barth, 2014, 2018).
Hermann Josef Kaiser versteht kulturelle Identität als „Grenzerfahrung“
(Kaiser, 2008). Er betont, dass die Identitäten von Individuen wie Gruppen stets
auf Grenzziehungen basierten, nicht selten auch in Bezug auf die je eigene Mu-
sikkultur. Das pädagogische Interesse richtet sich aus seiner Sicht darauf, wie
durchlässig solche Grenzen jeweils seien.
Im Sinne der Überlegungen Barths und Kaisers erörtert Martina Benz, wie
Individuen ihre eigenen kulturellen Identitäten als durchlässig und hybrid
konstruieren könnten. Den Transkulturalitätsbegriff Wolfgang Welschs auf-
greifend, siedelt sie diese Identitätskonstruktionen in einem transkulturellen
Zwischenraum an, wo verschiedene Menschen einander in Interaktion begeg-
nen würden. Dazu brauche es transkulturelle Kompetenz, die auch im Musik-
unterricht gestärkt werden solle (vgl. Krause-Benz, 2013).
In Hinsicht auf ein weites, bedeutungsorientiertes und konstruktivistisches
Kulturverständnis merkt zuletzt Johann Honnens an, dass wiederum der Stel-
lenwert von ethnischen Kulturen für kulturelle Identitäten nicht aus dem Blick
geraten dürfe. Er bezieht sich dabei vor allem auf die Perspektive von Men-
schen mit Migrationsgeschichte. Ethnien seien zwar ebenso wie andere Kultu-
ren Konstrukte, würden aber über die eigene Sozialisation oft in besonderer
Weise verinnerlicht. Pädagogisch gewendet erfordere dies, ethnisch-kulturelle
Selbstverortungen sowohl anzuerkennen wie auch behutsam zu hinterfragen
(vgl. Honnens, 2018).

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68 Tobias Hömberg

Die musikpädagogischen Auseinandersetzungen mit kultureller Identität


zeigen das Bemühen, den Begriff so zu fassen, dass er einerseits den Empfin-
dungen und Bedürfnissen kultureller Selbstdefinition von Menschen in der
Migrationsgesellschaft gerecht wird, andererseits dem Anliegen einer inter-
kulturell orientierten Musikpädagogik dient, zwischen vielfältigen Kulturen
und Zugehörigkeiten zu vermitteln. Dabei werden unterschiedliche Perspekti-
ven berücksichtigt: Außensichten auf Personen und kulturelle Gruppen, In-
nensichten der Individuen und Gruppen selbst, pädagogisch-normative Ge-
sichtspunkte. Bei der Frage, was kulturelle Identität ist oder sein soll, scheinen
insbesondere das Verhältnis von Individuum und kulturellem Kollektiv sowie
der Zusammenhang von Kultur und Ethnizität brisant.
In besonderem Maße wird diese Diskussion auch in der Interkulturellen
Pädagogik sowie der Migrationspädagogik geführt, die als Bezugsdisziplinen
einer interkulturell orientierten Musikpädagogik gelten können. Im Folgenden
soll daher anhand exemplarischer Texte beleuchtet werden, wie der Begriff
kulturelle Identität in diesen Disziplinen aufgefasst und diskutiert wird. Das
Interesse richtet sich auf folgende Aspekte:
(1) Wie wird der Begriff kulturelle Identität bestimmt, (2) welche Perspekti-
ven werden dabei eingenommen? Und (3) welche pädagogischen Aufgaben
werden formuliert?
Wie zu zeigen sein wird, setzt jede der hier ausgewählten Sichtweisen einen
spezifischen Fokus: Kulturelle Identität gilt als „Orientierungsmuster“ (Nieke,
2007, S. 94), als „Positionierung“ (Auernheimer, 1997, S. 307, 2012, S. 73), als „Pra-
xis des Unterscheidens“ (Mecheril, 2003, S. 13), als „kulturelle Identifizierung“
(Messerschmidt, 2014, S. 118) oder als „Lernproblem“ (Flechsig, 2002).

Interkulturell- und migrationspädagogische Sichtweisen


auf kulturelle Identität
Kulturelle Identität als Orientierungsmuster

Nach Auffassung Wolfgang Niekes ist die Identität eines jeden Menschen aufs
Engste verkoppelt mit den Gruppen, denen er sich zurechnet und zugerechnet
wird. Unter den übergreifenden kollektiven Identitäten schreibt er kulturellen
und ethnischen Identitäten eine gemeinsame Sonderrolle zu, da ihnen eine
herausgehobene Funktion für die Orientierung von Individuen zukomme (vgl.
Nieke, 2007).
Nieke entwirft ein „Ordnungsmodell“ (ebd., S. 86) kollektiver Identitäten, in
dem er sechs elementare „Wir-Identitäten“ ausfindig macht: Geschlecht, Alter,

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Kulturelle Identität(en) 69

Familie, Peer Group, Beruf sowie insbesondere „Lebenswelt, Kultur“ (ebd.,


S. 89). Den Begriff Kultur fasst er als „Ensemble der Deutungsmuster“ einer
sozialen Gemeinschaft, die mit den Begriffen Milieu oder eben Lebenswelt1
bezeichnet werden könne. Die ethnische Identität bilde eine Untergruppe der
kulturell-lebensweltlichen Identität (ebd., S. 89­–90).
Nieke zufolge bezieht das Ich seine eigene Identität wesentlich aus Überein-
stimmungen mit den übergreifenden kollektiven Identitäten. Er begründet
dies mit ihrer mehrfachen Orientierungsfunktion für das Individuum selbst
und für andere. So könne die Zugehörigkeit zu einer kulturellen Gruppe aus
der Innenperspektive eines Menschen persönlichen Sinn vermitteln. Dazu
müssten die eigene Weltsicht und die der Gruppe sich als kompatibel erweisen.

„Diese Prüfprozedur lässt sich als Identifikation mit Wesensmerkmalen einer


Bezugsgruppe fassen, und das positive Ergebnis der Prüfung ist die Identität,
d. h. die Übereinstimmung der Orientierungen eines Individuums mit den tat-
sächlichen oder vermuteten Orientierungen, die in der Bezugsgruppe akzeptiert
oder verbindlich sind.“ (Ebd., S. 85)

Aus der Außenperspektive wiederum sei es möglich, andere Personen den


Gruppen zuzuordnen, denen sie aufgrund ihrer Merkmale angehören könn-
ten – auch wenn es sich um Stereotype handle. Nur wo die Selbstverortungen
eines Menschen den an ihn gerichteten Erwartungen entsprächen, werde ihm
die notwendige soziale Anerkennung2 zuteil (vgl. ebd., S. 87­– 88). Niekes Auf-
fassung zufolge ist die Identifikation mit den eigenen Bezugsgruppen somit
zwar eine Entscheidung des Individuums, aber von dem Bewusstsein geprägt,
dass das Abweichen davon grundsätzlich prekär ist. Die ‚kulturelle und ethni-
sche Identität‘ gilt damit als Gruppenidentität, die zugleich auf das einzelne
Individuum durchschlägt.
Die Verbindung von Kultur und Ethnie macht Nieke an gemeinsamen
Merkmalen dieser Identitäten fest: Beide seien durch Sprache, Religion, Le-
bensform und Weltorientierung bestimmt. Darüber hinaus bezeichne ethni-
sche Identität auch „den gemeinsamen Siedlungsraum und die Rasse (die
wiederum selbst zwar ein kulturelles Konzept ist, aber auf etwas Äußerliches,
Biontisches verweist)“ (ebd., S. 92). Nieke übernimmt damit diejenigen Kenn-
zeichen und Begriffe, die geeignet scheinen, für sich selbst und andere

1
Nieke verweist dabei auf den Lebensweltbegriff des Soziologen Alfred Schütz. Vgl. Schütz,
A. (1932/1993). Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Frankfurt a. Main: Suhrkamp.
2
Nieke bezieht sich hier implizit auf die sozialwissenschaftliche Anerkennungstheorie. Vgl.
etwa Honneth, A. (1992/2003). Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Kon-
flikte. Frankfurt a. Main: Suhrkamp.

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70 Tobias Hömberg

­ emonstrative ethnische Zuordnungen vorzunehmen. Zugleich folgt er der


d
­Kritik an solcher Ethnisierung: Da die Kategorien Ethnie und Rasse als Kon­
struktionen gelten müssten, geschehe sie zumeist aus einer bestimmten, aber
oft verschleierten Motivation heraus. Wo etwa migrantische und einheimi-
sche Gruppen in Konkurrenz um Einfluss oder Ressourcen stünden, diene die
Zuschreibung ethnischer Identitäten dazu, die eigene von anderen Gruppen
abzugrenzen und sich gegenüber diesen zu behaupten. Nieke plädiert daher
dafür, „zwischen den kollektiven Identitäten im Sinne der Orientierungsmus-
ter und Orientierungsrahmen“ sowie „den herrschaftsorientierten Diskursen
über Ethnien und Ethnizität“ (ebd., S. 94) zu differenzieren – wenngleich er
selbst diesen Zusammenhang in seinem Modell fort- und festschreibt. Dies
erklärt sich aus dem hohen Stellenwert, den er dem Bezug auf Ethnizität in
den Selbst- und Fremddefinitionen sowie Abgrenzungen aus der Perspektive
von Individuen und Gruppen beimisst. Der pädagogische Auftrag richtet sich
seines Erachtens darauf, Menschen bei den Prozessen der eigenen Orientie-
rung zu begleiten, die die kulturelle und ethnische Selbstvergewisserung
wesentlich einschließt.

Kulturelle Identität als Positionierung

Anders als Nieke bezieht Georg Auernheimer den Begriff kulturelle Identität
nicht auf Gruppen, sondern auf Individuen. Dabei beurteilt er das Zusammen-
spiel von Kultur und individueller Identität als weit flexibler (vgl. Auernhei-
mer, 1997, 2012).
Im Verständnis Auernheimers ist die eigene Kultur eines Menschen grund-
sätzlich durch seine Herkunft und seine soziokulturelle Zugehörigkeit vorbe-
stimmt, womit der Kulturbegriff auch hier in die Nähe von Ethnizität rückt.
Auernheimer zufolge wird die Frage nach der kulturellen Identität vor allem
dann virulent, wenn Menschen sich in einer Minderheitensituation befinden,
insbesondere als Migrant*innen. Allerdings dürfe kulturelle Identität nicht mit
kultureller Prägung verwechselt werden, wie er sie etwa im Habitusbegriff
Pierre Bourdieus3 angelegt sieht (vgl. Auernheimer, 2012, S. 73). Kulturelle
Identität gründet Auernheimer zufolge vielmehr darin, sich zu den mit der
Sozialisation erworbenen oder auch von außen zugeschriebenen kulturellen
Eigenheiten in eine spezifische Beziehung zu setzen.

3
Vgl. Bourdieu, P. (1982). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt
a. Main: Suhrkamp.

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Kulturelle Identität(en) 71

„Identität meint das Verhältnis zur eigenen Lebensgeschichte und zur Gesell-
schaft, schließt also eine Positionierung ein. Das ist der kaum umstrittene Kern
des Identitätsbegriffs. ‚Kulturelle Identität‘ könnte oder müßte demnach heißen:
mein Verhältnis zu ethnischen Zuordnungen und damit verbundenen sozialen
Erwartungen, mit anderen Worten die Gestaltung meiner ‚kulturellen Rolle‘,
zweitens mein Verhältnis zu meinem ‚Habitus‘, z. B. zu meinen sprachlichen Eigen-
heiten, und damit drittens Art und Ausmaß der Verwendung kulturspezifischer
Symbole für meine Selbstdefinition.“ (Auernheimer, 1997, S. 307)

Kultur und Ethnizität erscheinen im Verständnis Auernheimers somit als


Folie, auf die Menschen sich in ihrem Selbstverständnis beziehen, von der sie
sich aber ebenso abheben können. Kulturelle Merkmale und Ressourcen kön-
nen demnach zur Selbstverortung genutzt, nur selektiv übernommen, umge-
deutet, aber auch verborgen und verneint werden. Das Repertoire an mögli-
chen Umgangsweisen mit Kultur und Ethnizität erweitert sich, wenn mehrfache
kulturelle Bezüge bestehen, insbesondere im Kontext von Migration (vgl.
Auernheimer, 2012, S. 73).
Nach Auernheimers Auffassung entsteht kulturelle Identität insgesamt in
der aktiven Aneignung und der produktiven Verarbeitung von den das eigene
Leben prägenden Kulturen. Das Annehmen ethnischer Merkmale stellt dabei
nur eine unter vielen Möglichkeiten dar. Zwar sieht auch Auernheimer die Ent-
scheidungsoptionen durch die eigenen sowie andere Gruppen beeinflusst. Als
maßgeblich für die Bestimmung von Identität gilt ihm jedoch ausschließlich
die Innenperspektive der jeweiligen Individuen. Gegenüber der Auffassung
Niekes sieht er sie mit dem Vermögen ausgestattet, ihre kulturellen Identitäten
selbst zu gestalten. Dabei scheint zugleich das normative Bestreben der Inter-
kulturellen Pädagogik durch, bestehende kulturelle Erfahrungen, Haltungen
und Zugehörigkeiten zu hinterfragen und zu erweitern. So erkennt Auernhei-
mer Parallelen zwischen Identitätsentwicklung und Bildungsprozessen: Beide
verlangten, sich kritisch mit dem auseinanderzusetzen, „was an mich als kul-
turelle Praxis herangetragen wird“ (ebd., S. 69). Ziel sei ein „reflektiertes oder
bewusstes Verhältnis zu sich selbst und zur Welt“ (ebd., S. 70). Der pädagogi-
sche Auftrag besteht nach Auernheimer dann darin, Bildungsbemühungen
bewusst auf den Bereich aktiver Identitätsentwicklung zu erweitern, um die
vielfältigen Formen kultureller Positionierungen aufzuzeigen.

Kulturelle Identität als Praxis des Unterscheidens

Während Autor*innen wie Nieke und Auernheimer eigene Bestimmungen des


Begriffs kulturelle Identität vornehmen, richtet sich bei anderen der Fokus

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72 Tobias Hömberg

stärker auf dessen Verwendungsweisen. Aus Sicht der Migrationspädagogik


problematisiert Paul Mecheril den Gebrauch von kultureller Identität als äußere
Perspektive auf Migrationsandere, die auch in pädagogischen Ansätzen ver-
breitet sei. Zugleich stellt er ihr wiederum eine legitime Innenperspektive
gegenüber (vgl. Mecheril, 2003, 2004).
Auch Mecheril setzt kulturelle Identität mit ethnischer und nationaler Zuge-
hörigkeit gleich, da diese Begriffe in migrationsbezogenen Diskursen mitein-
ander verbunden seien (vgl. Mecheril, 2004, S. 20­–22). Damit verschiebe sich
auch der individuelle Identitätsbegriff hin zu kollektiver Identität. Somit sei zu
klären, wie und von wem auf „natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten“ (ebd.)
als kollektive kulturelle Identitäten von Menschen insistiert werde.
Mecheril bezeichnet kulturelle Identität als „Instrument des Hinsehens“
(Mecheril, 2003, S. 11), das die Zugehörigkeit von Individuen zu kulturellen
Kollektiven zur Geltung bringe, während andere Identitätsaspekte ausgeblen-
det würden. Der Logik dieses kollektiven Identitätskonzepts folgend, werde
mit dem Einnehmen dieser Perspektive auf andere die Handlungs- und Ent-
wicklungsfähigkeit der einzelnen Menschen weitgehend in Abrede gestellt.
Mecheril sieht solche Einschränkungen in der Unterschlagung der Spielräume,
sich von vorgegebenen Zugehörigkeiten abzusetzen, in der Skepsis gegenüber
Mehrfachzugehörigkeiten sowie im Verkennen der realen Heterogenität und
Dynamik innerhalb kulturell-ethnischer Gruppen.
Kultur und Identität werden nach Mecheril dazu genutzt, Unterschiede im
Auftreten oder Verhalten zwischen eigenen und fremden Gruppen zu erklä-
ren. Der häufig unreflektierte Rückgriff auf diese Kategorien verstelle demnach
die Einsicht, dass kulturelle Identitäten eben darin erst konstruiert und sepa-
riert werden.
„Diese einseitige Richtung der Explanation führt dazu, dass nicht mehr gefragt
wird, aufgrund welcher Bedingungen etwa in der Interaktion zwischen ethni-
schen Minderheitenangehörigen und Mehrheitsangehörigen die Akteure auf
‚ihre kulturelle Identität‘ zurückgreifen. Kulturelle Identität wird in der Regel als
bestehender und selbstverständlich existenter Unterschied verstanden, nicht
aber als eine Praxis des Unterscheidens, als eine Praxis der Interpretation und
Konstruktion, die unter bestimmten Bedingungen attraktiv und für soziale
Akteure sinnvoll ist[.]“ (Ebd., S. 13)

Mecheril erweitert seine Betrachtung damit wiederum um die Perspektive der-


jenigen, die kulturelle Identität für sich selbst und die eigene Gruppe in Anspruch
nehmen: um ethnisch-kulturelle Eigenheiten zu betonen, Sprachen und Traditi-
onen zu pflegen und vor dem eigenen soziokulturellen Hintergrund – im Sinne
Auernheimers – ihr individuelles Selbstverständnis zu gestalten.

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Kulturelle Identität(en) 73

Die Praxis des kulturellen Unterscheidens werde, so Mecheril, schließlich


auch vonseiten der (Interkulturellen) Pädagogik ausgeübt. Mit der pädagogi-
schen Perspektive auf Migrationsandere würden deren kulturelle Identitäten
erzeugt und stabilisiert, dabei je nach Blickweise als rückständig und kompen-
sationsbedürftig oder als gleichwertig und ressourcenhaft betrachtet. Er gibt
somit zu bedenken, dass trotz wohlmeinender Haltung der Anerkennung die
Anderen hierin als Andere produziert und reproduziert würden4 (vgl. Meche-
ril, 2004, S. 100­–102).
Der Gebrauchswert des Begriffes kulturelle Identität und seine pädagogi-
sche Verwendbarkeit bemisst sich nach Mecherils Auffassung daran, inwiefern
er die Innensicht von Individuen auf ihr jeweiliges kulturelles Kollektiv abbil-
det. Als eine wichtige Dimension der Erfahrungen und des Selbstverständnis-
ses von Menschen hält er den Begriff trotz der benannten Gefahren für nicht
verzichtbar (vgl. Mecheril, 2003, S. 13). Im Sinne Auernheimers und in Abwei-
chung von der Argumentation Niekes erachtet er die pädagogische Anerken-
nung von kulturellen Identitäten nur dort als legitim, wo diese zur individuel-
len sozialen Selbstverortung und Selbstentwicklung genutzt werden.

Kulturelle Identität als kulturelle Identifizierung

Astrid Messerschmidt schließt an die Überlegungen Mecherils an, indem sie


jegliche – auch pädagogische – Praxen der Zuschreibung und Unterscheidung
von kulturellen Identitäten aus der Außenperspektive einer radikalen Kritik
unterzieht. Entsprechend der eingenommenen Blickrichtung gilt kulturelle
Identität auch in ihrem Verständnis als rein kollektiv und ethnisch definiert
(vgl. Messerschmidt, 2000, 2014).
Messerschmidt bezeichnet das begriffliche Beziehen von Kultur auf Identi-
tät als Strategie der „Kulturalisierung“ (Messerschmidt, 2000, S. 10­–12). Ana-
log zur Ethnisierung gestatte sie es, migrantische Gruppen als homogen und
geschlossen zu betrachten: „Entgegen gelebter Uneindeutigkeiten im Alltag
an globalisierten Orten“ werde „das Kulturelle […] immer wieder zur Verein-
deutigung von Identitäten und Zugehörigkeiten benutzt“ (Messerschmidt,
2014, S. 109). Messerschmidt zufolge dient Kulturalisierung dazu, soziale, po-
litische und ökonomische Ungleichheiten sowie Konflikte – etwa zwischen
Muslimen und Nicht-Muslimen – auf vermeintlich unveränderliche kulturelle

4
Vgl. dazu auch den Begriff Othering nach Gayatri C. Spivak, etwa Spivak, G. C. (1996). Subal-
tern studies. Deconstructing historiography. In D. Landry & G. MacLean (Hrsg.), The Spivak
Reader. Selected Works of Gayatri Chakravorty Spivak (S. 203­–236). London: Routledge.

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74 Tobias Hömberg

Eigenheiten ethnischer und religiöser Gruppen zurückzuführen. Das Motiv


dafür sei der gewaltsame Kampf um Abgrenzung und Vorherrschaft, wie er
auch als Identitätspolitik beschrieben wird.5
Da Messerschmidt kulturelle Identität primär aus der Außenperspektive fo-
kussiert, begreift sie diese als das Ergebnis „kulturalisierender Identifizierung“
(ebd., S. 112), also des Erkennens von anderen und anderem durch kulturelle
Kategorisierung. Ähnlich wie Mecheril wirft sie auch der Pädagogik einen sol-
chen Hang zu kultureller Vereindeutigung vor. Kultur, Identität und Bildung
seien in der deutschen pädagogischen Tradition eng miteinander verknüpft, in-
dem Kultur und Kulturen zugleich als identifizierende Kategorien wie auch als
bildende Praxen von Wissen und Kunst verstanden und gebraucht würden.

„Vorherrschend ist derzeit das identifizierende Konzept, das sich aber nicht vom
Bildungskonzept trennen lässt, das in sich selbst Identitäten beansprucht und
produziert. Das Kulturelle als Prozess der Wissensbildung und der künstleri-
schen Produktion bleibt verstrickt in Identitätspolitiken und Identifizierungen.
Umgekehrt müssen kulturelle Identifizierungen nicht statisch verharren, son-
dern können in Bildungsprozesse übergehen, bei denen Identitäten wieder in
Frage stehen.“ (Ebd., S. 118)

Für pädagogisches Nachdenken und Handeln bedeutet dies Messerschmidt


zufolge, traditionelle kulturalisierende Zuschreibungen aufzubrechen und ein
Verständnis von Kultur und Identität zu entwickeln, das kulturelle Uneindeu-
tigkeiten erlaubt und fördert. Einen weiten, etwa transkulturellen Kulturbe-
griff hält sie dabei allerdings für ungeeignet. Wichtig sei vielmehr, in einem
kritischen Konzept kultureller Identität das Potenzial kultureller Identifizie-
rung zu Ausgrenzung, Diskriminierung und Unterordnung weiterhin sicht-
und reflektierbar zu lassen (vgl. ebd.). Messerschmidt verschiebt dabei die
Perspektive auf die Erfahrung derjenigen, denen kulturalisierende Zuschrei-
bungen widerfahren, insbesondere Migrant*innen. Für die pädagogischen
Disziplinen bestimmt sie die kritische Selbstreflexion zur Hauptaufgabe, um
deren eigene Involviertheit in kulturelle Kategorisierungen zu überwinden.

Kulturelle Identität als Lernproblem

Die hier versammelten Auffassungen von und zu kultureller Identität bestäti-


gen die Vielzahl unterschiedlicher Aspekte, die bei der Auseinandersetzung

5
Siehe etwa Meyer, T. (2002). Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede. Frankfurt
a. Main: Suhrkamp.

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Kulturelle Identität(en) 75

mit der Bedeutung und Verwendung des Begriffs zu bedenken sind. Karl-
Heinz Flechsig resümiert diese Komplexität als „Lernproblem“ (Flechsig, 2002),
das sich der Gesellschaft im Gesamten, aber eben der Pädagogik im Speziellen
stelle.
Zu lernen sei, so Flechsig, dass die Vieldeutigkeit und Missdeutbarkeit des
Begriffs kulturelle Identität – in seinem Bezug auf Individuen zum einen, auf
Kollektive zum anderen, im Entwurf von Selbstbildern einerseits, in der Pro-
jektion von Fremdbildern andererseits – eine besonders sorgfältige Verständi-
gung über seinen Gebrauch erfordere. Es gelte, zu erkennen, dass kulturelle
Identität in Diskursen zu Globalisierung, Nationalismus oder Minderheiten
stets als ein spezifisches Konstrukt verwendet werde. Ein besonders typisches
sei demnach die Gleichsetzung von kultureller Identität mit Nation und Eth-
nie. Dagegen betont Flechsig, unter Verweis auf Auernheimer, dass Menschen
sich bei ihrer persönlichen Identitätskonstruktion in je eigener Weise auf ver-
schiedene kulturelle Bezugssysteme berufen könnten. Dies sei es, was Päda­
gog­*innen lernen und ihrerseits vermitteln müssten. Im Sinne Mecherils und
Messerschmidts seien sie selbst zu oft in separierenden kulturellen Kategori-
sierungen verfangen (vgl. ebd., S. 64­– 67).
Bei Betrachtung pädagogischer Diskurse über kulturelle Identität stellt
Flechsig zugleich eine durchaus entgegengesetzte Tendenz fest. Identitäten
würden dort traditionell mit Blick auf die Sozialisation und Enkulturation der
einzelnen Personen diskutiert.

„Für die europäische Pädagogik bedeutet dies, dass sie von westlichen Vorstel-
lungen von individueller Persönlichkeit, einem individualistisch verstandenen
‚Selbst‘ […] bestimmt wurde. Und da auch die deutsche Pädagogik in ihrem
Mainstream individualistische Erziehungskonzepte bevorzugte, standen auch
Probleme individueller Identität im Vordergrund, während Fragen nach der
Entwicklung kultureller und kollektiver Identität in den Hintergrund traten.“
(Ebd., S. 67­– 68)

Während Messerschmidt auf die Tradition eines problematischen kollektiven


Kulturbegriffs abhebt, der die Pädagogik präge, kritisiert Flechsig hier einen
tradierten rein individualistischen Identitätsbegriff. Gegenüber einer solchen
pädagogischen Fokussierung auf individuelle kulturelle Identität mahnt er
an, dass die Bedeutsamkeit kollektiver kultureller Orientierungen für Men-
schen nicht vernachlässigt werden dürfe. Er wendet sich damit gegen ein ein-
seitiges Verständnis kultureller Identität und plädiert für eine Auffassung des
Begriffs, die individuelle und kollektive Komponenten menschlicher Identitä-
ten in eine ausgleichende Balance bringt (vgl. ebd., S. 71­–72). Dazu braucht es

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76 Tobias Hömberg

nach Flechsig eine normative Bestimmung kultureller Identität aus pädagogi-


scher Perspektive, die weder kollektivistisch noch individualistisch ausgerich-
tet ist, sondern der Komplexität des Begriffs Rechnung trägt und vielfältige
kulturelle Verortungsweisen einbegreift.

Perspektivierungen kultureller Identitäten – Anregungen für


die Musikpädagogik

Alle zitierten Autor*innen beziehen sich auf ein Verständnis, nach dem Kultur
weitgehend mit soziokultureller und damit insbesondere ethnokultureller Her-
kunft gleichgesetzt ist. Ursächlich dafür mag sein, dass sie sich mit eben den­
jenigen verbreiteten Diskursen auseinandersetzen, in denen ein solches Ver-
ständnis vorherrscht. Das Augenmerk der Interkulturellen Pädagogik und der
Migrationspädagogik gilt dabei den Innenperspektiven von Menschen mit Mig-
rationsgeschichte, aber auch den Außensichten auf migrantische Gruppen. In
beiden Perspektiven fungieren ethnische Zugehörigkeiten, so die Vermutungen,
als wichtigster Bezugsrahmen kultureller Verortungen. Abweichende Auffas-
sungen zeigen sich hinsichtlich der Frage, inwiefern Menschen in der Definition
ihrer kulturellen Identitäten auf diesen Rahmen verwiesen sind, ihn überschrei-
ten oder sich von ihm ablösen können. Dies betrifft zugleich das Verhältnis vom
Individuum gegenüber dem Kollektiv: Während Wolfgang Nieke die individu-
elle Freiheit kultureller Selbstverortungen stark beschränkt sieht, verteidigen
Georg Auernheimer, Paul Mecheril, Astrid Messerschmidt und Karl-Heinz
Flechsig sie gegenüber äußeren sozialen Zwängen durch eigene oder fremde
Gruppen. Aus ihrer pädagogisch-normativen Sicht halten sie den Begriff kultu-
relle Identität für nutzbar, sofern er die Selbstdefinition der Menschen meint.
Mecheril und Messerschmidt bevorzugen dabei ein Konzept, mit dem die von
ihnen problematisierten Praktiken ethnisierender bzw. kulturalisierender
Zuschreibungen weiterhin thematisierbar bleiben. Nieke und Flechsig machen
wiederum geltend, dass kulturelle Gruppen nicht nur Bezugspunkte individuel-
ler Identitäten, sondern Angebote kollektiver Identifikation darstellten, denen
auch von pädagogischer Seite genügend Aufmerksamkeit zuteilwerden müsse.
Für die weitere musikpädagogische Auseinandersetzung mit kulturellen Iden-
titäten bieten die interkulturell- und migrationspädagogischen Auffassungen
hilfreiche Impulse. Der Überblick legt nahe, bei der musikpädagogischen Be-
trachtung und Verwendung des Begriffs kulturelle Identität eine Multiperspekti-
vität anzulegen, die seine verschiedenen Funktionen in Selbst- und Fremdzu-
schreibungen sowie für Individuen und Kollektive sichtbar macht. Dabei ist zu
berücksichtigen, dass ethnisch definierten Kulturen eine Sonderrolle ­zukommt:

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Kulturelle Identität(en) 77

Sie dienen der Ethnisierung und Kulturalisierung von außen, können aber
ebenso das innere Selbstverständnis von Menschen prägen. Das in der Musik­
pädagogik eingeführte weite, bedeutungsorientierte und konstruktivistische
Konzept von Kultur und kultureller Identität vermag diese Perspektiven zu in-
tegrieren. Dazu ist die Frage mitzudenken, wann Menschen in ihren eigenen
Identitätskonstruktionen auf ethnische Zugehörigkeiten zurückgreifen und wie
sich diese Konstruktionen zu den ethnisierenden Fremdbildern verhalten, die
sich andere von ihnen machen. Zu bedenken ist dann etwa, unter welchen Be-
dingungen Kinder und Jugendliche mit bzw. ohne Migrationsgeschichte die
Möglichkeit haben, ihre ethnischen Verortungen transkulturell zu erweitern
und andere selbstempfundene Zugehörigkeiten zur Geltung zu bringen.
Somit regt der Blick in die Nachbardisziplinen dazu an, die musikpädagogi-
schen Auffassungen von kultureller Identität weiter zu diskutieren und zu re-
flektieren. Dazu müssen zum einen die Diskurse über Kulturen und Identitäten
fortgesetzt werden: Welche begrifflichen Konzepte sind geeignet, die vielge-
staltigen Verhältnisse von Individuen zu Kulturen zu erschließen, zu befragen
und in der pädagogischen Arbeit zu entwickeln? Welche Ziele sollen dabei
verfolgt, welche Normen zugrunde gelegt werden? Welche Aspekte werden
damit hervorgehoben, welche bleiben verborgen? Diese Reflexion kann dazu
beitragen, den Begriff so zu perspektivieren, dass er sich zwischen deskripti-
ven Beschreibungen kultureller Verortungen und pädagogisch-normativen
Anliegen einer interkulturell orientierten Musikpädagogik bewegt. Zum ande-
ren sollten selbstreflexiv die bestehenden musikpädagogischen Diskurse un-
tersucht werden, in denen der Begriff kulturelle Identität gebraucht wird: In
welchen Kontexten ist von kultureller Identität die Rede? Welche Konzepte von
Kultur und Identität werden verwendet, auf wen werden sie bezogen? Welche
Wirkung haben diese Konzepte auf musikpädagogisches Denken und Han-
deln, besonders im Umgang mit den bezeichneten Menschen? Solche Fragen
verfolgt der Autor dieses Beitrags in einem diskursanalytischen Forschungs-
vorhaben (siehe auch Hömberg, 2020).

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78 Tobias Hömberg

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Dorothee Barth

Von eigenen und fremden Kulturen: Dichotome Strukturen


in der Interkulturellen Musikpädagogik

Own and Foreign Cultures: Dichotomous Structures


in Intercultural Music Education

Eine interkulturell orientierte Musikpädagogik (IMP) ist angesichts der Möglichkeiten


und Herausforderungen, die sowohl eine globalisierte musikkulturelle Landschaft als
auch die Migrationsgesellschaft an den Musikunterricht der allgemeinbildenden Schule
stellen, nötiger denn je. Dabei liegt eine wesentliche Bedingung, die im Diskurs bisher
noch wenig beachtet wird, aber zur Verfolgung und Erreichung der Ziele der IMP
unhintergehbar scheint, darin, dass so genannte unechte Dichotomien im interkulturell
orientierten Denken und Handeln erkannt und überwunden werden. Denn unechte
Dichotomien verstärken Stereotype, Klischees, Polarisierungen und begründen Othe-
ring; dies soll in vorliegendem Beitrag an drei Beispielen veranschaulicht werden. Ein
Vorschlag zur Überwindung dichotomer Denkmuster besteht in einer konsequenten
Anwendung des bedeutungsorientierten Kulturbegriffs und einem darauf basierenden
Konzept Kultureller Identität.

Intercultural Music Education (IMP) is more necessary than ever considering the
opportunities and challenges that both a globalised music-cultural landscape and the
migration society pose for music lessons in general schools. An essential condition,
which has so far received little attention in the discourse but which seems to be inescap-
able for the pursuit and achievement of the goals of the IMP, is that false dichotomies in
interculturally-oriented thinking and acting are recognised and overcome. This is
because false dichotomies reinforce stereotypes, clichés, polarisations and the so-­called
othering; the article will illustrate this by three examples. A proposal for overcoming
dichotomous patterns of thought consists in a consistent application of the meaning-
oriented concept of culture and a concept of cultural identity based on it.

1 Entwicklungen der IMP

Seit mehreren Jahrzehnten beschäftigt sich die Interkulturelle Musikpädago-


gik als mittlerweile fester Bestandteil des Musikunterrichts an der allgemein-

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80 Dorothee Barth

bildenden Schule wie auch der wissenschaftlichen Musikpädagogik sowohl


mit der unterrichtlichen Thematisierung von Musiken der Welt als auch mit
musikalisch-kulturellen Situationen in Einwanderungsgesellschaften. Obgleich beide
Themenfelder Schnittmengen aufweisen (zum Beispiel bei eingewanderten
Musiker*innen), unterscheiden sie sich in ihren Zielperspektiven: Bei der
Beschäftigung mit den Musiken der Welt sollen Schüler*innen eine musikalisch-
ästhetische Handlungskompetenz gegenüber unbekannter, fremder oder
befremdlicher Musik entwickeln – auch um die eigene musikalische Praxis
erweitern und bereichern zu können. Geht es aber um die Auseinanderset-
zung mit musikalisch-kulturellen Situationen in Einwanderungsgesellschaften, steht
das Bemühen im Mittelpunkt, die im Klassenraum anwesenden Schüler*innen
über das Medium der Musik darin zu unterstützen, eine persönliche musika-
lisch-kulturelle Identität zu konstruieren, zu reflektieren und Perspektiven zu
einem gelingenden Leben und gesellschaftlicher Teilhabe zu entwickeln. Die
unterrichtlichen Bemühungen richten sich in beiden Fällen prinzipiell an alle
Schüler*innen, doch im zweiten Fall geraten in besonderer Weise diejenigen
mit einem Migrationshintergrund in den Fokus (vgl. z. B. Barth, 2017; Klebe,
2007; Ott, 2006, 2008; vgl. dazu auch Karakaşoğlu & Wojciechowicz, 2012). Die-
ses Vorgehen scheint legitim und wichtig, weil Alltagspraxis wie auch wissen-
schaftliche Studien belegen, dass Kinder und Jugendliche mit einem Migrati-
onshintergrund im deutschen Schulsystem (und nicht nur dort) nach wie vor
benachteiligt sind.1 Wann ein Mensch einen Migrationshintergrund hat, wird
vom Gesetzgeber definiert2 – ursprünglich um diese Angabe für den Mikro-
zensus auszuwerten.
Wenn also Kinder mit einem Migrationshintergrund in Abgrenzung be-
stimmt werden zu Kindern ohne einen Migrationshintergrund und diese Un-
terscheidung auf einer vom Gesetzgeber klar festgelegten Definition beruht,
handelt es sich um eine echte Dichotomie.

1
Einen hervorragenden Überblick über den Zusammenhang von Herkunft und Bildungserfolg
bietet eine Expertise des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Mig-
ration (2016): Doppelt benachteiligt? Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im
deutschen Bildungssystem.
2
„Eine Person hat dann einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein
Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist.“ (Definition des Statistischen
Bundesamtes 2016). Diese Definitionen können übrigens variieren: In Österreich z. B. haben
Personen einen Migrationshintergrund, „deren beide Elternteile im Ausland geboren wur-
den“. Quellen: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/
Migration-Integration/Glossar/migrationshintergrund.html [20.4.2020]; https://www.statis-
tik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bevoelkerung/bevoelkerungsstruk-
tur/bevoelkerung_nach_migrationshintergrund/index.html [20.4.2020].

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Dichotome Strukturen in der Interkulturellen Musikpädagogik 81

Wenn aber aus diesem Migrationshintergrund Folgerungen für den einzel-


nen Menschen abgeleitet werden, die das Faktum der eigenen oder familiären
Einwanderung überschreiten, oder wenn die Migration sogar zum bestim-
menden Persönlichkeitsmerkmal erklärt wird, wird diese Dichotomie zu einer
unechten und in diesem Sinne als kulturalisierend, rassistisch oder als „para-
doxe Anerkennung“ kritisiert (vgl. z. B. Geibel & Lena de Terry, 2019). Denn
natürlich wird die Persönlichkeit eines Menschen durch viel mehr Aspekte
beschrieben als durch eine Migrationserfahrung (vgl. Abschnitt 3 zum bedeu-
tungsorientierten Kulturbegriff).
Mit unechten Dichotomien hat es die IMP seit ihren Anfängen bis heute zu
tun – und zwar sowohl in dem Themenfeld, das sich mit der Musik der Welt
beschäftigt, als auch, wie hier exemplarisch gezeigt, im Themenfeld Musik und
Migration. Unechte Dichotomien verhalten sich – so die These des Textes – so-
wohl als Folge als auch als Ursache kontraproduktiv zu den Zielen der IMP. So
können im vorliegenden Beitrag unechte Dichotomien identifiziert werden, die
einer machtsichernden Konstruktion des Anderen dienen, die sachliche Fehler
in Kauf nehmen oder Menschen zur Abgrenzung auf einzelne Merkmale redu-
zieren. Diese unechten Dichotomien wiederum führen zu Phänomenen wie
z. B. Othering3, paradoxer Anerkennung, Höherwertigkeitsvorstellungen oder
Eurozentrismus. Da eine sinnvolle bzw. zielführende Begegnung und Vermitt-
lung zwischen Kulturen aber nur in Vermeidung dieser Phänomene erfolgen
kann, muss ein auf unechten Dichotomien beruhendes binäres Denken ent-
larvt, reflektiert und verändert werden.
Auf dem Weg dorthin sollen in vorliegendem Text in einer kurzen exempla-
rischen Betrachtung dreier weiterer häufig dichotom verwendeter Begriffs-
paare – Orient/Okzident, europäisch/außereuropäisch, geflüchtet/nicht ge-
flüchtet – die oben genannten Aspekte verdeutlicht werden: die machtsichernde
Konstruktion des Anderen, die Inkaufnahme sachlicher Fehler sowie die Reduktion
auf einzelne Merkmale. Andere dichotome Begriffspaare, auf die hier nicht weiter
eingegangen werden kann, wären zum Beispiel unsere Kultur/andere Kulturen,
wir/die, eigen/fremd. Die drei hier behandelten Aspekte folgen (noch) keiner Sys-
tematisierung und haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Auch wenn sie
an getrennten Beispielen erläutert werden, treten sie nicht separat auf, sondern
bedingen einander. Die gewählte Annäherung an das Thema versteht sich als
Anregung zu einer weiteren Beschäftigung mit dichotomen Mustern in der
Musikpädagogik.

3
Zum Begriff des Otherings vgl. z. B. Do Mar Castro Varela, M. & Mecherill, P. (2016); zum
Othering in der IMP z. B. Barth (2013a, 2013b).

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82 Dorothee Barth

2 Echte und unechte Dichotomien

Dichotomien4 sind per se weder gut noch schlecht. Sie teilen einen Begriff voll-
ständig in zwei einander ausschließende Unterbegriffe – ein drittes ist nicht
möglich (tertium non datur). In der Mathematik und in den Naturwissenschaf-
ten sind sie – zum Beispiel zur Klassifizierung oder in der binären Logik –
selbstverständlich. Sie können empirisch vorfindbar (zwei Seiten einer Münze)
und zur Orientierung und zur Systematisierung sinnvoll und notwendig sein.
Sie können aber auch scheinbar, falsch oder unecht sein, wenn sie vermeintlich
alternativlos einander ausschließende Gegensätze konstruieren, die aber tat-
sächlich ein Drittes (oder Viertes oder Fünftes) zulassen. Konstruktionen
unechter Dichotomien erfolgen auch in der (Musik-)Pädagogik selten in expli-
zit und geplant böser Absicht, doch könnte auch hier ein Zusammenhang zwi-
schen der Konstruktion des Anderen und einer bewerteten Separierung, zwi-
schen Deutungshoheiten und dem darauf beruhenden Machtanspruch
bestehen (vgl. Prieske, 2018). Für die Pädagogik ist zumal interessant, dass das
dichotome Denken (z. B. mit oder ohne Migrationshintergrund) folgenreich sein
kann: Untersuchungen zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen haben
gezeigt, dass die Erwartungen von Lehrenden wiederum das Verhalten der
Schüler*innen und ihre Leistungen beeinflussen (können):

„Research on the self-fulfilling prophecy has demonstrated that teacher expecta-


tions (which may be based on students’ migrant background) can influence stu-
dents’ behavior and their achievement“ (Bohnefeld & Dickhäuser, 2018)

Die Forscher*innen der Universität Mannheim ließen Studierende des Grund-


schullehramts Diktate von Drittklässlern bewerten. Dabei vergaben die ange-
henden Lehrkräfte bei identischen Schülerleistungen (und entsprechend der
gleichen Fehlerzahl) unterschiedliche Zensuren – je nachdem ob sie dachten,
die Arbeit habe ein Kind mit Migrationshintergrund (Name: Murat) oder ohne
(Name: Max) geschrieben.

4
Altgriechisch: διχοτομια: διχη (entzwei) + τομη (Teilung). Das Problem von echten und unech-
ten Dichotomien wird in vielen Wissenschaftsdisziplinen (von der Philosophie über die
Rechts- bis zu den Naturwissenschaften) seit Jahrhunderten diskutiert. Auch in interkulturel-
len Zusammenhängen ist zuweilen von ihnen die Rede, jedoch hat die Verfasserin keine
Kenntnis über einen diesbezüglich ausgearbeiteten theoretischen Rahmen.

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Dichotome Strukturen in der Interkulturellen Musikpädagogik 83

2.1 Orient und Okzident – Machtsichernde Konstruktionen


des Anderen durch Dichotomien
„Ketelbeys wohl erfolgreichste Komposition von den exotisch anmutenden
Ereignissen […] auf einem persischen Markt – gemeint ist die irgendwo die Phan-
tasie betörende Welt von Tausendundeinenacht, ein Stück, das somit in die Nach-
barschaft der unglaublich betörenden Geschichten um den kleinen Muck […], der
unsagbar schönen und verheißungsvoll flüsternden Scheherazade weist – scheint
in den mittleren Klassen (etwa 5–7) richtig am Platze.“ (Schubert, 1997, S. 16)

Die von Edward Said in seinem Hauptwerk Orientalism herausgearbeitete


Unterteilung in einen Orient und einen Okzident5 kann als dichotomisch
beschrieben werden, auch wenn er selbst diesen Begriff nicht in systematisie-
render Absicht verwendet (vgl. Said, 1978/2009). Der Literaturwissenschaftler
entlarvte „westliche Darstellungen von Orient und Islam, die allgemein als
neutral, objektiv und sachlich gelten, als zentrales Element kolonialer und
neokolonialer Herrschaft“ (Biskamp, 2016, S. 102). Mit Bezug auf die macht-
kritische Diskursanalyse Focaults wies er nach, wie dichotome Attribuierun-
gen letztlich die Überlegenheitsgefühle und Autoritätsansprüche des Wes-
tens gegenüber dem Orient rechtfertigen sollten. Einige Beispiele dazu wären:
statisch in Raum und Zeit der Osten – fortschrittlich und sich entwickelnd
der Westen; weiblich und sinnlich der Osten – männlich und rational der
Westen; despotische und grausame Herrscher im Osten – aufgeklärte und
gerechte im Westen (vgl. Said, 1978/2009; Schnepel, 2011). Ausgehend von der
Beobachtung, dass es sich im von Said untersuchten Material bei den unter
der Oberfläche wirksamen Strukturen, die Stereotype, Vorurteile und Kli-
schees verstärken, um dichotome Strukturen handelt und dass diese dichoto-
men Strukturen besonders wirksam sind bei der Gegenüberstellung des
Okzidents und des Orients bzw. der abendländischen und der orientalischen
Musik, wäre es im Anschluss an Said und seiner Rezeption (auch in der
Musikwissenschaft, vgl. z. B. Ismaiel-Wendt, 2014) ein lohnendes Forschungs-
vorhaben, auch in musikpädagogischen Texten die Darstellungen von Orient
und Okzident systematisch zu untersuchen: Welche musikalischen Kulturen
und Stile werden ausgewählt, wie werden die Musiker*innen präsentiert?
Werden auch hier musikalische Bilder des Orients geschaffen, die durch Ver-
allgemeinerungen und Klischees Vorurteile und Stereotype erzeugen? Wird

5
Hier wie auch an anderen vergleichbaren Stellen im Text (z. B. europäisch – außereuropäisch)
werden Begriffe kursiv gesetzt, wenn sie im Diskurs zwar verwendet, aber auf zweifelhaften
Konstruktionen, z. B. unechten Dichotomien, beruhen.

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ein Gegenbild zur westlichen Musik entworfen? Und vor allem: Wie funktio-
niert die Beziehung zwischen diesen im Diskurs erzeugten Bildern und der
Sicht auf z. B. geflüchtete Kinder und Jugendliche, die im deutschen Bildungs-
system ankommen? Werden sie als selbstbestimmte kulturelle Subjekte
wahrgenommen oder ist unser Blick voreingenommen auch durch orientali-
sierende Klischees (vgl. dazu auch Barth, 2018)?

2.2 Europäisch und außereuropäisch – Sachliche Fehler durch Dichotomien


„Einer der wichtigsten Gründe für die Einbeziehung außereuropäischer Musik
in den Unterricht ist die Tatsache, daß man durch den Gegensatz das Wesen uns-
rer eigenen Musik besonders deutlich erkennt. Hierzu müssen wir europäische
und außereuropäische Musik miteinander vergleichen.“ (Helms, 1974, S. 6)

Die begriffliche und inhaltliche Unterteilung in eine europäische und eine


außereuropäische Musik hat eine lange Tradition in der Musikpädagogik und
hat sich trotz zahlreicher Gegenargumente, die an unterschiedlichen Stellen
vorgebracht werden, hartnäckig behauptet. Auch in den Musikwissenschaf-
ten gilt das Begriffspaar einerseits als unechte Dichotomie, die Vorurteile
nährt und Nicht-Vergleichbares vergleicht, andererseits wird sie unhinter-
fragt verwendet. In diesem Kontext wird zum Beispiel die Unterteilung in
eine historische (die sich auf Europa bezieht) und eine ethnologische Musik-
wissenschaft (die sich auf die Gegenden außerhalb Europas bezieht) als über-
holt und sachlich unzutreffend kritisiert (vgl. u. a. Jenne, 1979; Greve, 2002;
Abels, 2016).
Die dichotome Unterscheidung in europäische und außereuropäische Musik
wäre eine echte, wenn sich sämtliche musikalische Praxen und Kulturen in-
nerhalb Europas durch klar beschreibbare Merkmale von allen musikali-
schen Praxen außerhalb Europas unterscheiden ließen. Es müsste zudem
gewährleistet sein, dass diese Dichotomie mit der Tradition von Höherwer-
tigkeitsansprüchen (fortschrittlich, hochdifferenziert, entwickelt) gebrochen
hätte, die das Selbst- und Fremdbild zu Beginn der europäischen Expansion
prägte. Denn auch in den Vergleichenden Musikwissenschaften und der
deutschen Musikethnologie im 19. und 20. Jahrhundert war der Wunsch
nach einer universalen Systematisierung musikalischer Praxen von der evo-
lutionistischen Annahme grundiert, dass die eigene europäische Musik eine
höhere Stufe der musikalischen Entwicklung erreicht und viele außereuro-
päische Musiken diesen Weg noch vor sich hätte(n). Entlarvend für die damit
verbundene Negativitätshypothese ist zudem die Bezeichnung musikali-
scher Praxen als etwas, das sie nicht sind (nämlich nicht europäisch), anstatt

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Dichotome Strukturen in der Interkulturellen Musikpädagogik 85

sie zu spezifizieren als das, was sie sind, allemal. Und auch für Europäer
wäre wohl die Vorstellung, dass europäische Musik als außeraustralische oder
außerasiatische Musik bezeichnet würde, irritierend.6 Die Unterscheidung in
europäische und außereuropäische Musik – besonders auch mit Blick auf die
musikalisch-kulturellen Praxen der Gegenwart – ist sachlich weder gerecht-
fertigt noch hilfreich, sondern nur um den Preis von Auslassungen, Redu-
zierungen und infolgedessen auch sachlicher Fehler und Verzerrungen zu
haben. Dazu fünf Beispiele:

(1) Eine Reduzierung bzw. Auslassung besteht darin, dass mit europäischer
Musik in der Regel die europäische bzw. abendländische Kunstmusik gemeint ist.
Indem Helms von „unsrer eigenen Musik“ spricht, reduziert er diese auf die
abendländische bzw. europäische Kunstmusik und lässt europäische
Volkmusik(en) und Popmusik(en) außen vor. Das ist eine sachliche Verzerrung,
da die Mehrheit der Menschen in Europa (also „wir“) unterschiedliche Stile der
Popmusik eher als ihre Musik betrachten als die abendländische Kunstmusik,
die immer die Musik einer kleinen Elite war und es bis heute ist.
(2) Ob z. B. in Unterrichtsmaterialien unter der Überschrift europäische Musik
tatsächlich die Musik Europas thematisiert oder ob der Fokus nicht eher auf
deutschen und österreichischen Komponisten liegt, wurde an anderer Stelle
bereits hinterfragt (vgl. Karbusicky, 1995; Barth, 2001).
(3) Feste Attribuierungen der europäischen Musik – dass sie zum Beispiel
schriftlich fixiert und auskomponiert ist, dass sie im Wesentlichen auf die Dur-
Moll-Tonalität reduziert und vor allem Darbietungsmusik ist – übersehen
volksmusikalische Traditionen in Europa. Viele von ihnen sind z. B. in ihrer
schriftlosen Überlieferung, im Einsatz improvisatorischer Elemente, in ihrer
ursprünglich funktionalen Verwendung in Alltagssituationen oder im Stimm-
gebrauch anderen musikalischen Praxen außerhalb Europas ähnlicher als der
europäischen Kunstmusik.7

6
Christopher Wallbaum verweist in seinem Beitrag „Der außeraustralische Beethoven. Zwei
Ununterrichtsbarkeitsthesen und ein Lösungsansatz“ auf einen Ausspruch des indischen
Musikers und ehemaligen Präsidenten des internationalen Musikrates Narayana Menon: Ihm
erscheine der Begriff ‚außereuropäische Musik‘ „ebenso absurd wie die Kennzeichnung
Beethovens als außerasiatischen Komponisten“ (Wallbaum, 2008, S. 104; siehe dazu auch Ter-
hag, 1996).
7
Vielleicht begründet dieser Zusammenhang die Tradition, europäische Volksmusik gegen-
über europäischer Kunstmusik abzuwerten. So wirbt der Helbling-Verlag für eine Neuerschei-
nung mit dem Titel „Nationale Schulen“: „Unverbrauchte Werkbeispiele von Mussorgski,
Grieg […] zeigen immer wieder instruktiv die Einflüsse urwüchsiger Folklore auf hochentwi-
ckelte Kunstmusik“. (Broschüre „Musikpädagogik“ Herbst 2019, Neuerscheinungen).

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86 Dorothee Barth

(4) Gleichzeitig haben sich auch Menschen außerhalb von Europa die abend-
ländische Kunstmusik angeeignet und betrachten sie als die ihre – sei es als
Relikt von Missionierung und Kolonisation (wie z. B. in Lateinamerika), sei es
im Zuge eines bewussten Anschlusses an die westliche Moderne (wie z. B. in
Südkorea oder Japan), sei es in kulturell-sozialen Projekten (wie z. B. in Vene-
zuela), sei es weil dem Musizieren im Orchester zugetraut wird, eine neue Art
von Gemeinschaftsempfinden und Verbundenheitsgefühle durch die Musik
hervorzubringen (wie z. B. im West-Eastern Divan Orchestra), oder sei es auf
Grund individueller Entscheidungen. Dem möglichen Einwand wiederum,
dass diese Musik dennoch europäischen Ursprungs ist, kann mit der Frage be-
gegnet werden, ab welchem Zeitraum eine gelebte Praxis den Anspruch eines
Ursprungs überlagern kann. Müssen es 100 Jahre sein oder 200 Jahre? Ab wann
durften Kartoffeln essende Deutsche diese aus Südamerika kommende Pflanze
als die ihrige betrachten? Oder sollten deutsche HipHop-Musiker*innen von
sich sagen, dass sie außereuropäische Musik spielen? Komponierten Charles Ives,
John Cage und George Gershwin außereuropäische Musik?
(5) Schließlich ist eine Trennung in europäische und außereuropäische Musik
angesichts der globalisierten Popkulturen nicht haltbar. Phänomene wie
Cross-Over, Fusion oder andere explizite oder implizite transkulturelle Ver-
schmelzungen prägen das aktuelle Musikleben und treiben wesentliche
Entwicklungen voran. Dass dabei eine globale Musikkultur wie zum Bei-
spiel der HipHop auch lokale Ausprägungen erfährt oder eine lokale Ent-
wicklung wie zum Beispiel der jamaikanische Reggae im globalen Maßstab
aufgegriffen und weiterentwickelt werden kann, ist in der Popkultur eine
Selbstverständlichkeit.

2.3 Geflüchtet oder nicht geflüchtet – Reduzierungen durch Dichotomien

Die Verwendung dieses Begriffspaars in der Musikpädagogik ist neueren


Datums, steht aber in der oben dargestellten Tradition der IMP, in der
Ausländer*innen von Einheimischen oder Menschen mit von Menschen ohne
einen Migrationshintergrund unterschieden werden. Gerade an diesem Bei-
spiel wird besonders deutlich, wie wichtig es ist (auch in der pädagogischen
Arbeit) zu unterscheiden, ob man Menschen in dichotomer Setzung mit der
Eigenschaft geflüchtet/nicht geflüchtet adressiert oder ob man diese Eigenschaft
lediglich als Differenz versteht. Wird die Fluchterfahrung als eine Differenzer-
fahrung verstanden, wird sie als potentiell prägend für die Biographie eines
Menschen gesehen, doch gilt sie nicht als einzige Richtschnur für die Ausrich-
tung der Arbeit. Werden die Attribute aber dichotomisch verwendet, wird die

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Dichotome Strukturen in der Interkulturellen Musikpädagogik 87

Fluchterfahrung zum wesentlichen und alles andere überlagernden Unter-


schied. Den theoretischen Diskurs, wie in dieser Sichtweise hegemoniale
Machtstrukturen und Diskriminierungsverhältnisse erst hergestellt werden
können, hat Kiwi Menrath zusammengefasst (vgl. Kiwi Menrath, 2019). Auch
Prieske verdeutlicht in Anlehnung an Said, wie aus einer kulturellen Differen-
zierung eine bewertende Separierung werden kann, „hinter welcher sich
Machtbeziehungen auftun“ (Prieske, 2018, S. 19); dies könne an vielen gut
gemeinten Projekten auch in der musikalischen Flüchtlingsarbeit nachgewie-
sen werden (vgl. ebd.). Zwar gibt es auf der anderen Seite auch musikpädago-
gische Projekte, die machtsensibel, demokratisch und ethisch bewusst agieren
(vgl. Bartels, 2018; Geibel & Lena de Terry, 2019), doch bedarf es sicher immer
wieder neuer Anstrengungen der Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft – auch
wenn sie sich in der Arbeit mit geflüchteten Menschen engagieren –, diese eben
nicht nur als geflüchtet wahrzunehmen, sondern auch z. B. als Fußballfan, Vege-
tarier, Mutter, Architekt oder Freundin.

3 Der bedeutungsorientierte Kulturbegriff – Ausschluss von Dichotomien

Exemplarisch wurde beim dichotom gebrauchten Sprach- und Denkmuster


Orient – Okzident auf den Aspekt der machtsichernden Konstruktionen des Ande-
ren verwiesen, die Inkaufnahme sachlicher Fehler wurde beim Begriffspaar euro-
päisch – außereuropäisch deutlich gemacht und der Aspekt der Reduzierung auf
einzelne Merkmale in der Gegenüberstellung von geflüchteten und nicht-geflüchte-
ten Menschen.
Bei dichotom verwendeten Begriffen ist folglich stets zu prüfen, ob es sich
um echte Dichotomien handelt oder um unechte – und dies nicht nur bei norma-
tiv orientiertem Denken und Handeln in explizit interkulturellen Lernsituatio-
nen, sondern auch bereits bei deskripitiv gemeinten Beschreibungen musikali-
scher Praxen und Handlungen der Akteur*innen. Denn die Möglichkeit, dass
es sich auch dort um unechte Dichotomien handelt, ist groß. Um daher nun
(auch für den Kontext der interkulturell orientierten Musikpädagogik) einen
Weg zu zeigen, wie das Denken und Handeln auf Basis unechter Dichotomien
überwunden und ersetzt werden kann, soll im abschließenden Teil auf das
Konzept der Kulturellen Identität auf Basis des bedeutungsorientierten Kultur-
begriffs eingegangen werden.
Der bedeutungsorientierte Kulturbegriff versteht Kultur als Ebene der Be-
deutungen, die zugewiesen bzw. konstruiert werden und veränderbar sind.
Unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen, die einen in diesem Sinne de-
skriptiven Kulturbegriff verwenden, setzen unterschiedliche Schwerpunkte;

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es ist die Rede von einem bedeutungs-, wissens- und symbolorientierten, von
einem semiotischen oder konstruktivistischen Kulturbegriff, von Kultur als
Text, als Zeichensystem, als Bedeutungsgewebe, als Orientierungssystem, als
kollektivem Sinnmuster oder als Wissensordnung. In der Musikpädagogik hat
sich der so genannte bedeutungsorientierte bzw. bedeutungszuweisungsorien-
tierte Kulturbegriff etabliert (vgl. Barth, 2013b). Mit einem bedeutungsorien-
tierten Kulturbegriff können sowohl dynamische und globale Phänomene
musikalischer Entwicklungen (s. o. Themenfeld 1) als auch Konstruktionen
musikalisch-kultureller Identitäten in globalisierten Gesellschaften (s. o. The-
menfeld 2) beschrieben und interpretiert werden. Basieren interkulturelles
musikpädagogisches Denken und Handeln auf einem bedeutungsorientier-
ten Kulturbegriff, werden (unechte) dichotome Strukturen sinnlos: Im ersten
Themenfeld – den Musik(en) der Welt – wird dann nämlich stets die Ebene
der Bedeutungszuweisungen bzw. -konstruktionen der Akteur*innen an Mu-
sik in multiperspektivischen (nicht binären) Annäherungen berücksichtigt –
z. B. in einer Feldforschungssituation. Im zweiten Themenfeld sind Dichoto-
mien als bestimmendes Merkmal zur Beschreibung einer Persönlichkeit bzw.
zur Abgrenzung Kultureller Identitäten ausgeschlossen. Was ist damit ge-
meint?
Gemeinschaften von Menschen werden dann als Kulturen bezeichnet,
wenn ihren Zuweisungen und Konstruktionen von Bedeutungen an Aspekte
ihrer Lebensweise, ihrer Haltung, ihren Vorlieben oder Gewohnheiten ähnli-
che Sinnsysteme und symbolische Ordnungen, ein ähnlich geteiltes Wissen –
bewusst oder unbewusst, beabsichtigt oder unbeabsichtigt – zugrunde lie-
gen. Folglich partizipieren Menschen in globalisierten und modernen
Gesellschaften an mehreren Kulturen. Sie entscheiden sich für ihre Zugehö-
rigkeiten (in einem gewissen Rahmen) freiwillig und wechseln zwischen
den kulturellen Bezügen und werden somit zu (weitestgehend) selbstbe-
stimmten Konstrukteur*innen ihrer kulturellen Identität. Auf Basis eines
bedeutungsorientierten Kulturbegriffs lässt sich die Beschreibung der „ver-
schiedenen Kategorien, denen wir angehören“ (Sen, 2010, S. 33) lesen als Be-
schreibung von Kultureller Identität, die eben aus dem Zugehörigkeitsgefühl
zu verschiedenen Kulturen besteht (vgl. auch Barth, 2014). Sen bezeichnet
sich selbst u. a. als „Asiaten, Bürger Indiens, Bengalen mit bangladeschischen
Vorfahren, Einwohner der Vereinigten Staaten oder Englands, Ökonomen,
Dilettanten auf philosophischem Gebiet, Autor, Sanskritisten, entschiedenen
Anhänger des Laizismus und der Demokratie, Mann, Feministen, Heterose-
xuellen, Verfechter der Rechte von Schwulen und Lesben (…)“ (Sen, 2010,
S. 33). Einzelne Parameter dieser Kulturen ließen sich möglicherweise als

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Dichotome Strukturen in der Interkulturellen Musikpädagogik 89

echte Dichotomie auffassen (Bürger Indiens oder kein Bürger Indiens), bei
anderen würde es bereits schwierig (Mann oder Nicht-Mann?). Auf keinen
Fall aber lässt sich zu der Summe der jeweiligen fluiden und veränderbaren
kulturellen Zugehörigkeiten, also der individuellen kulturellen Identität, eine
Dichotomie sinnvoll formulieren.
Inwiefern die konsequente Fundierung von Theorie und Praxis der IMP auf
einem bedeutungsorientierten Kulturbegriff den Gebrauch unechter Dichoto-
mien in den beiden Themenfeldern der IMP ausschließt, kann hier nur ange-
deutet werden. Doch vor dem zweiten Schritt – der Ausarbeitung eines „Lö-
sungsversuches“ – sollte ohnehin zunächst der erste getan werden: eine
gründliche Auseinandersetzung mit echten und unechten Dichotomien in inter-
kulturellen Zusammenhängen. Dazu möchte dieser Text erste Anregungen
geben – vertiefende Forschungen dazu stehen noch aus.

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Olivier Blanchard

Gleichwertigkeit der Kulturen aus westlicher Sicht


Eurozentrismus in der Interkulturellen Musikpädagogik

Equivalence of Cultures from a Western Perspective


Eurocentrism in the Intercultural Music Education

Die in konzeptionellen Texten zum Umgang mit kultureller Diversität im Musikunter-


richt oft angestrebte Gleichwertigkeit der Kulturen steht in einem problematischen
Verhältnis mit der darin ebenso oft vernachlässigten Reflexion des eigenen kulturellen
Standpunktes. Deshalb fokussiert der vorliegende Text auf die musikpädagogische Dis-
kussion zum Umgang mit kultureller Diversität im Musikunterricht als ein kulturelles
System und macht auf den darin anzutreffenden Eurozentrismus aufmerksam. Aus
einer kulturwissenschaftlich-hegemoniekritischen Perspektive wird aufgezeigt, wie ein
Machtmoment die angestrebte kulturelle Gleichwertigkeit subvertiert, wenn kulturell
konstruierte Werte (wie Musik, Rhythmus, Tonhöhe oder Harmonie) universalisiert
werden. Schließlich wird der Anspruch der Gleichwertigkeit der Kulturen grundsätz-
lich in Frage gestellt.

The equivalence of cultures, that intercultural music education strives for, relates in a
problematical way to the often neglected reflection of one’s own cultural standpoint. If
we assume that cultural neutrality cannot be achieved, we have to ask ourselves if it is
possible for involved parties to judge the quality of intercultural equality adequately. For
this reason, the following text focuses on intercultural music education as a cultural
system and points to the underlying Eurocentrism. It argues that, from a cultural stud-
ies perspective, a power-relationship, damaging the aspired cultural equality, is over-
looked because of universalised yet culturally constructed parameters (such as music,
rhythm, pitch or harmony). Furthermore, this paper questions if, from this perspective,
equality of cultures can be achieved at all.

Einleitung

Die Diskussion zum Umgang mit der (musik-)kulturellen Diversität im Musik-


unterricht beschäftigt die Musikpädagogik schon seit geraumer Zeit und ist

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94 Olivier Blanchard

immer noch äußerst aktuell. Gemäß einer kritischen Betrachtung von Vogt
(2004, S. 304) ist diese Diskussion oft mit der normativen Forderung verbun-
den, den Schüler*innen Empathie, Solidarität, Respekt, Offenheit und Toleranz
für kulturelle Vielfalt zu vermitteln (siehe auch Kautny, 2018, S. 31–32, 39;
Schatt, 2008, S. 176). Es finden sich Stimmen, die fordern, dass „alle Kulturen
gleichberechtigt und gleichwertig nebeneinander stehen“ (Barth, 2013, S. 187)
können. Vor diesem Hintergrund problematisiere ich im vorliegenden Text,
der als Beitrag zur wissenschaftlich-theoretischen Debatte verstanden werden
kann, drei Aspekte, mit denen meines Erachtens oftmals zu wenig kritisch
umgegangen wird. Erstens das Verständnis von Kultur, das oft zugunsten der
Frage nach dem Verhältnis zwischen Kulturen vernachlässigt wird und des-
halb – trotz Kritik – immer noch stark holistisch ausfällt. Zweitens ein in
musikpädagogischen Überlegungen zum Umgang mit kultureller Diversität
oft anzutreffendes Konzept von Musik, das gerade vor dem Hintergrund der
festgestellten kulturellen Diversität zu einseitig europäisch geprägt ist. Drit-
tens den Anspruch von Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit generell.
Diesen Problematisierungen geht eine kulturwissenschaftliche Kulturdefini-
tion voraus, die auch meinen epistemologischen Standpunkt explizieren soll.
Natürlich ist die erwähnte musikpädagogische Diskussion zum Umgang
mit kultureller Diversität im Musikunterricht sehr umfangreich, vielstimmig
und mitunter auch kontrovers.1 Es ist nicht möglich, diese Vielstimmigkeit hier
abzubilden.2 Das Ziel dieses Textes ist jedoch auch keine Pauschalkritik an der
Diskussion, sondern eine Sensibilisierung für problematische Kultur- und Mu-
sikbegriffe. In diesem Sinne sollen die hier referierten musikpädagogischen
Schriften lediglich die Notwendigkeit dieses Nachdenkens verdeutlichen.

Theoretischer Standpunkt

Dem Nachdenken über den Umgang mit kultureller Diversität liegt notwendi-
gerweise eine – explizite oder implizite – Konzeption von „Kultur“ zugrunde.
Die nachfolgenden Ausführungen zu einem kulturwissenschaftlichen Kultur-

1
Siehe diesbezüglich die Literaturlisten von Stroh und Ott auf www.interkulturelle-musiker-
ziehung.de [letzter Zugriff 01.10.2019] sowie die (bereits etwas ältere, aber) sehr umfangreiche
Bibliografie von Helms (2003).
Für eine historiografische Rekonstruktion der sogenannten interkulturellen Musikpädagogik
siehe Ott (2012) und für eine Kritik daran Clausen (2013, S. 9–10 Fn.14, 15–16).
2
An anderer Stelle (Blanchard, 2019) habe ich erstens die wissenschaftlich-musikpädagogi-
schen Konzeptionen zum Umgang mit kultureller Diversität im Musikunterricht differen-
zierter dargestellt (ebd., 2019, S. 74–96) und zweitens das konstitutive Moment von Beschrei-
bungen problematisiert (ebd., 2019, S. 147–155).

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Gleichwertigkeit der Kulturen aus westlicher Sicht 95

begriff sollen deshalb nicht nur „Kultur“ und „kulturelle Diversität“ für den
vorliegenden Text definieren, sondern auch meine theoretische und epistemo-
logische Position explizieren.
Laut Reckwitz (2006, S. 16) verstehen Kulturwissenschaften unter „Kultur“
kollektive Wissensordnungen, vor deren Hintergrund die Menschen der sozi-
alen Welt Sinn verleihen und die dadurch Handeln ermöglichen und ein-
schränken. Wissensordnungen sind somit „nicht […] Epiphänomene, sondern
[…] notwendige Bedingung aller sozialen Praxis“ (ebd., S. 16–17, Hervorh. im
Original). Dabei handelt es sich innerhalb des kulturwissenschaftlichen Pro-
gramms durchaus um eine einheitliche theoretische Perspektive (ebd., siehe
auch Moebius, 2009, S. 8–9; Wirth, 2008, S. 18). Diese erfährt jedoch in der Ver-
ortung der Wissensordnungen eine Ausdifferenzierung. Während mentalisti-
sche Theorieoptionen die Wissensordnungen den interpretativen Sinnver­
stehensakten der handelnden Subjekte zurechnen, sehen textualistische
Theorieoptionen Diskurse, Texte, Symbolsequenzen usw. als Träger von Kul-
tur, was weiter unten bei der Problematisierung des Musikbegriffs von Bedeu-
tung sein wird. Laut praxeologischen Theorieoptionen wiederum manifestie-
ren sich Wissensordnungen in den sozialen Praktiken selbst. Soziale Praktiken
sind demnach nur innerhalb einer kollektiven Wissensordnung verständlich
und tragen umgekehrt dazu bei, diese überhaupt erst herzustellen (vgl. Reck-
witz, 2005, S. 97–98). Die kulturwissenschaftlichen Praxistheorien sind Reck-
witz zufolge am vielversprechendsten zur Erklärung kultureller Diversität,
weil sie am wenigsten dazu tendieren, kulturelle Sinngrenzen zu reifzieren
und damit zu essenzialisieren (Reckwitz, 2005, S. 107). Kultur wird hier als
„ein mikrologischer Prozess der ‚bricolage‘, eine alltägliche Bastelarbeit ver-
standen, in dem kulturelle Elemente aus unterschiedlichen räumlichen und
zeitlichen Kontexten zugleich unter dem Druck der Handlungspraxis verar-
beitet, rekombiniert werden“ (ebd.).
Ich nehme deshalb für die nachfolgenden Überlegungen den Standpunkt
der kulturwissenschaftlichen Praxistheorien ein. Vor allem aber fokussiere ich
mit der Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe (2012), die innerhalb der
Kulturwissenschaften als Praxistheorie rezipiert wird (z. B. Reckwitz, 2006,
S. 719–720), auf den epistemologischen Aspekt von Kultur, wie er in der oben-
stehenden Definition bereits durch den Hinweis auf das handlungskonstitutive
Moment von Wissensordnungen angedeutet wurde.3

3
Die Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe kann an dieser Stelle unmöglich in ihrer Kom-
plexität entfaltet werden (siehe dazu Blanchard, 2019, S. 120–143), sie sei jedoch zur Offenle-
gung meines theoretischen Standpunkts genannt.

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96 Olivier Blanchard

Mit dieser Fokussierung ergeben sich folgende Konsequenzen, welche für


die nachfolgenden Überlegungen wichtig sind:
1. Kulturelle Diversität kann nicht als ein (im Idealfall friedliches) Nebenein-
ander verschiedener Wissensordnungen verstanden werden. Vielmehr
braucht es eine gemeinsame Wissensordnung, damit Kulturen miteinander
kommunizieren können. In diesem Fall hat man es aber genau betrachtet
nicht mehr mit verschiedenen Kulturen zu tun, da diese Wissensordnungen
der Ort von Kultur sind. Die situative Herstellung einer gemeinsamen Wis-
sensordnung ist wiederum ein hegemoniales Unternehmen, da sich immer
ein System, oder zumindest Teile davon, über ein anderes setzt (vgl.
Blanchard, 2018, S. 286–287, 2019, S. 17).
2. Kulturelle Diversität ist nicht als eine soziale Tatsache, sondern zunächst als
ein Produkt (musikpädagogischer) Praxis der Kulturalisierung im Sinne
eines „doing culture“ (Hörning & Reuter, 2004, S. 10) zu verstehen. Auch
dies ist ein hegemoniales Unternehmen, weil die Unterscheidung der ver-
schiedenen Kulturen immer vor dem Hintergrund der jeweils eigenen Wis-
sensordnungen mit ihren spezifischen Wahrnehmungslogiken vorgenom-
men wird.

Das Nebeneinander von Kulturen

Diesem eben entfalteten steht in der Musikpädagogik mitunter ein (ethnisch-)


holistisches Kulturverständnis gegenüber, welches von Barth (2013) identifi-
ziert und kritisiert worden ist. Kultur wird zu einem holistischen Konzept, da
sämtliche Lebenspraxen eines Kollektivs sinnvoll aufeinander bezogen werden
können und da umgekehrt jedes einzelne Element (künstlerische, ökonomi-
sche, soziale Handlungen) auf einen Gesamtzusammenhang verweist (ebd.,
S. 89). Dieses Konzept tendiert zum Essenzialismus, was auch Barth problema-
tisiert, wenn auch ohne den Begriff zu nennen. Kultur verweise hier nämlich
auf einen geregelten Gesamtzusammenhang, der überdies alle seine Mitglie-
der determiniere (ebd., S. 109).

Gemäß Laclau und Mouffe (2012) gibt es keine Gesellschaft als eine kulturell geschlossene
und völlig integrierte Entität. Vielmehr wird die soziale Wirklichkeit in Form von Wissens-
ordnungen durch Praktiken diskursiv konstruiert (ebd., S. 131). Da jedes Element des Sozialen
aber überdeterminiert ist, können Wissensordnungen nur als Versuch gesehen werden,
Bedeutung zu fixieren (ebd., S. 148–150). Folglich versucht die Hegemonie einer spezifischen
Wissensordnung, diese temporär zu schließen und dadurch eine spezifische soziale Wirk-
lichkeit zu naturalisieren bzw. nur einen bestimmten Sinn als einzig möglichen zu präsentie-
ren (ebd., S. 175–177).

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Gleichwertigkeit der Kulturen aus westlicher Sicht 97

Dieser Kritik schließe ich mich an, möchte aber die Barth’sche Einklamme-
rung des Zusatzes „ethnisch-“ hervorheben. Meiner Meinung nach wird in der
musikpädagogischen Diskussion der holistische Kulturbegriff zu einseitig mit
Ethnien verbunden, während der Blick auf andere als Kulturen bezeichnete
soziale Gruppen weniger kritisch geprüft wird (vgl. Blanchard, 2018, S. 280–
282, 2019, S. 32–36). Ein holistisches und essenzialistisches Kulturverständnis
ist jedoch primär ein theoretisches, nicht ein inhaltliches Konzept. Wird zum
Beispiel bei einer Untersuchung oder unterrichtlichen Thematisierung einer
Jugendgruppe als Kultur nicht explizit die Konstitution dieser Kultur durch
die Praxis des Untersuchens oder Thematisierens erwähnt, läuft man auch hier
Gefahr dem Kulturessenzialismus zu verfallen. Umgekehrt liegt einer Thema-
tisierung von Ethnien als Kulturen nicht zwingend ein holistisches Kultur­
verständnis zugrunde (vgl. Barth, 2014, S. 4).
Der Kulturessenzialismus zeigt sich potentiell auch in der Vorstellung eines
Nebeneinanders von Kulturen bzw. in „Heterogenisierungstheorien“ (Reck-
witz, 2005, S. 103–104), welche die Relevanz und Allgegenwärtigkeit globaler
kultureller Differenzen betonen (ebd.). In der musikpädagogischen Diskussion
sind diese Heterogenisierungstheorien oft anzutreffen (vgl. Blanchard, 2019,
S. 13, 54). Laut einem Aufsatz von Gaul (2013) befindet sich die „Musik(pädagogik)
im Kaleidoskop der Weltkulturen“. Damit assoziiert ist ein Denken von Kultu-
ren als (sich bestenfalls beeinflussende, aber zunächst) voneinander getrennten
Entitäten. Wird dieses kulturelle Nebeneinander nun nicht, wie oben darge-
stellt, als Konstruktion, sondern als soziale Tatsache verstanden, können sich
die jeweiligen Kulturen nur durch ihnen immanente Eigenschaften, also kul-
turelle Essenzen, voneinander unterscheiden.
Ein Nebeneinander von Kulturen ist ohnehin nur von außerhalb desselben
erkennbar. Akzeptiert man aber die eigene kulturelle Eingebundenheit, ak-
zeptiert man auch, dass man dieses kulturelle Nebeneinander so niemals zu
sehen bekommt. Es sei denn, es handelt sich um ein methodologisches Au-
ßerhalb, wie es in ethnologischen und ethnomusikologischen Zugängen übli-
cherweise eingenommen wird, aber dort auch problematisiert wird.4 Damit
wird die Notwendigkeit der Reflexion der eigenen kulturellen Eingebunden-
heit ersichtlich.

4
Laut Clausen (2018, S. 69) stehen Beobachtung, Beschreibung und Deutung sowie, damit ver-
bunden, die selbstreflexive Aufgabe für die Forschenden im Fokus der modernen Ethnomusi-
kologie. Allerdings habe dieser „interpretive turn“ von einer vom Evolutionismus und Diffu-
sionismus geprägten vergleichenden Musikwissenschaft hin zu einer kultur- und
sozialanthropologisch beeinflussten Ethnomusikologie maßgeblich in den Vereinigten Staa-
ten stattgefunden.

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98 Olivier Blanchard

Zum Musikbegriff

Die unterschiedliche Interpretation der Wahrnehmung von kultureller Diver-


sität hat auch Konsequenzen für deren unterrichtliche Thematisierung. Wird
kulturelle Diversität als Konstrukt verstanden, bietet es sich an, die Konst-
ruktionen selbst zur Thematik des Unterrichts zu machen. Wird kulturelle
Diversität jedoch als soziale Tatsache verstanden, für welche die Schüler*innen
sensibilisiert werden sollen, gilt es, andere Kulturen kennen und verstehen
zu lernen.
In diesem zweiten Ansatz, jenem des Kennenlernens von Kulturen im Mu-
sikunterricht, ist die musikpädagogische Diskussion mitunter von einem
Musikbegriff geprägt, der gerade vor dem Hintergrund des Anspruchs von
Toleranz und Offenheit für sowie Gleichwertigkeit von Kulturen nicht unpro-
blematisch ist: Es findet sich die Vorstellung von Musik, die einem kulturel-
len Kontext entstammt. Dieser kulturelle Kontext zeigt sich in einem spezifi-
schen Umgang mit der Musik. Es wird bisweilen explizit von einer Musik
und einer zusammenhängenden kulturellen Praxis gesprochen (vgl. Krause-
Benz, 2013, S. 73). Diesem Ansatz wohnt jedoch genau betrachtet ein Parado-
xon inne: Einerseits herrscht die Vorstellung eines notwendigen Zusammen-
hangs zwischen einer Musik und einem spezifischen kulturellen Umgang
und andererseits wird dieser Zusammenhang gerade durch die Trennung
zwischen Musik und Umgang untergraben. Mit anderen Worten muss dieser
Konzeption die Möglichkeit einer getrennten Wahrnehmung von Musik und
Umgang mit ihr zugrunde liegen, auch wenn man sie als zusammengehörig
versteht.
Es handelt sich somit um ein textualistisches Verständnis von Musik im
oben erwähnten Sinne. Musik ist hier ein Text – in der musikpädagogischen
Sprache auch ein „Gegenstand“ (Stroh, 2011, S. 66–67), ein „Objekt“ (Schütz,
1997, S. 4) oder eine „Sache“ (ebd.) –, der aus einem kulturellen Kontext
stammt. Sie entsteht und zirkuliert innerhalb dieses kulturellen Kontexts,
indem sie mit unterschiedlichen, kulturspezifischen Umgangsweisen ver-
bunden wird. Aber dennoch vermag sie, losgelöst von diesen Umgangswei-
sen, bis zu einem gewissen Grad, eben im Sinne eines Textes, diese Kultur
allein zu repräsentieren. Es finden sich zwar in der Diskussion auch Forde-
rungen, dass der eigentliche Gegenstand des Unterrichts „nicht die (fremde)
Musik sein [soll], sondern das musikalische Handeln in (fremden) Verwen-
dungs-, Funktions- und Erlebniszusammenhängen“ (Stroh, 2009a, S. 3). Aber
dieser Forderung liegt dieselbe Prämisse zugrunde, nämlich die Möglichkeit
einer Musik, die als Text das (kulturspezifische) Handeln transzendiert.

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Gleichwertigkeit der Kulturen aus westlicher Sicht 99

­ roblematisch am textualistischen Kulturverständnis ist laut Reckwitz (2006,


P
S. 606), dass es zu einer Verselbständigung von Zeichensequenzen tendiert,
wenn Texte als öffentlich und offenbar objektiv analysierbare Materialisie-
rung von Kultur verstanden werden.
Aus dem hier vertretenen kulturwissenschaftlich-praxeologischen Blick-
winkel ist der Umgang mit Musik eine Tautologie, denn Musik ist Umgang. Sie
ist erst, wenn man sie spielt, singt, tanzt, rezipiert oder sie (z. B. im Unterricht)
als Musik analysiert, thematisiert etc. Zwar ist es möglich, bei einer praxeolo-
gisch-kulturwissenschaftlichen Betrachtung eines spezifischen kulturellen
Kontexts festzustellen, dass innerhalb dieses Kontexts Musik wie ein Text her-
gestellt und rezipiert wird. Der soziale Sinn liegt aber aus dieser Perspektive
nicht im Text selbst, sondern in den Praktiken der Herstellung, Rezeption,
Theoretisierung usw. dieses Textes (ebd.) oder, musikpädagogisch ausgedrückt,
eben in den Gebrauchspraxen (Kaiser, 1998). Dies bedeutet nun nicht nur, dass
die Reproduktion und Rezeption eines musikalischen Texts in einem anderen
kulturellen Kontext potentiell anderen Sinn konstituiert, sondern, dass in an-
deren kulturellen Kontexten möglicherweise gar keine Vorstellung von Musik
als Objekt oder Text vorherrscht. Hier liegt das Hauptproblem dieses Musikbe-
griffs. Folgt man z. B. Unseld (2012), Westerlund (1999) oder Walker (1996), ent-
stammt diese Vorstellung von Musik als jegliche Praxis transzendierendes
Objekt aus den musikwissenschaftlichen Beschäftigungen mit abendländi-
scher Kunstmusik und ist somit eurozentristisch.
Vor dem Hintergrund der Frage nach dem Umgang mit kultureller Diversi-
tät spitzt sich die Problematik sogar noch zu, wenn das Objekt „Musik“ als
Kulturen übergreifende Einheit sowie Rhythmus, Tonhöhe und Harmonik als
dessen Essenz verstanden wird. Möglicherweise aufgrund des Anspruchs der
Offenheit und Toleranz gegenüber fremden Kulturen ist in der musikpädago-
gischen Diskussion die Forderung anzutreffen, nicht nur die jeweiligen kultu-
rellen Spezifika, sondern auch das Gemeinsame der verschiedenen Kulturen
zu vermitteln. So ist eine Möglichkeit der Erfahrung des Fremden, dieses „als
Teil einer übergreifenden Einheit“ (Ott, 1998, S. 307) zu sehen. Gerade in den
Konzepten des (erweiterten) Schnittstellenansatzes spielen die Kulturen über-
greifenden Gemeinsamkeiten eine zentrale Rolle. Im erweiterten Schnittstel-
lenansatz wird vorausgesetzt, „dass die Gemeinsamkeiten nicht äußerlich,
zufällig oder scheinbar, sondern essenziell und wesentlich sind, mit anderen
Worten, dass in den Musiken unterschiedlicher Kulturen Archetypisches ent-
halten ist.“ (Stroh, 2009b, S. 190) Und laut Merkt, der Begründerin des Schnitt-
stellenansatzes, sind „Gemeinsamkeiten […] beispielsweise: Gebrauch eines
Tonsystems, einer Liedform, einer Taktart, eines Rhythmus in unterschiedlichen

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100 Olivier Blanchard

Musikkulturen.“ (Merkt, 1993, S. 7, Hervorh. im Original). Diese Ansicht scheint


völlig unproblematisch zu sein, weil sie auf das Kulturen übergreifende Wesen
der Musik verweist:

„Man muss kein Universalist sein, um das Potential eines globalen Repertoires
musikalischer Muster zu sehen […]: der Viervierteltakt und die zusammenge-
setzten Taktarten des Balkans und der Türkei, das Taktteilprinzip (schwer und
leicht) und die fließende afrikanische Rhythmik, proportionale und polymetri-
sche Zeitgestaltung, Diatonik, Chromatik und orientalische Skalen, Drei-
klangsharmonik und Bordun etc.“ (Ott, 2013, S. 148)

Man geht also von „innermusikalischen Eigenschaften der Musik wie Tonhöhen
oder Skalen“ (Niessen & Lehmann-Wermser, 2012, S. 8, Hervorh. O.B.) aus,
wobei die kulturellen Spezifika in deren unterschiedlichen Anwendungen
liegen. Oder, wie Merkt (2013, S. 117) schreibt: „Die Kulturen benutzen alle – es
geht ja gar nicht anders – die Parameter Tonhöhe, Tondauer, Lautstärke und
Klangfarbe, gestalten sie jedoch in großer Vielfalt.“ Es macht allerdings einen
gravierenden Unterschied, ob es „nicht anders geht“, weil die Musik ein spe-
zifisches Wesen hat, mit welchem alle Kulturen arbeiten müssen, oder ob es
„nicht anders geht“, weil „unsere Kultur“ Musik nicht anders denken und
wahrnehmen kann. Auf der Grundlage des oben entfalteten Kulturbegriffs
müsste nämlich, was hier als rein „musikalische“ Angelegenheit verstanden
wird, dringend auch als epistemologische Angelegenheit verhandelt werden.
Wenn es um einen Austausch zwischen Kulturen gehen sollte, müsste die zen-
trale Frage sein, ob die jeweils andere Kultur dieselben „innermusikalischen
Eigenschaften“ bzw. dasselbe „globale Repertoire musikalischer Muster“ oder
„Archetypische“ sieht? Allein wenn man berücksichtigt, dass es Sprachen
gibt, die nicht einmal ein Wort für Musik kennen5 – eine Erkenntnis, die in der
Musikpädagogik nicht neu ist (vgl. Schütz, 1992, S. 17) –, ist dies stark zu
bezweifeln. Es lässt sich daher mit Wallbaum (1998, S. 55 Fn. 7) fragen, woher
„die Gewissheit [kommt], dass es dieses spezifisch oder genuin Musikalische
in der Form gibt, in der es die europäische Musiktheorie beschreibt“.

Fazit

Im Anschluss an die bisherigen Ausführungen ist es nicht unproblematisch,


andere (Musik-)Kulturen durch rhythmische, tonale und harmonische

5
Dies ist ausdrücklich nicht wertend gemeint.

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Gleichwertigkeit der Kulturen aus westlicher Sicht 101

­ nalysen derer Musik verstehen zu wollen oder ein Lied ins Zentrum eines
A
Unterrichts zu stellen, in dem Kulturen miteinander in Dialog treten sollen.
Denn der Zugang zu anderen Kulturen über deren spezifischen Umgang mit
Rhythmus, Tonhöhe und Harmonie, mit dem sie sich in einen jegliche Praxis
transzendierenden Gegenstand „Musik“ einschreiben, ist ein dezidiert euro-
päischer und es gibt keine Garantie, dass damit die jeweils andere Kultur –
was auch immer darunter verstanden wird – in ihrem Selbstverständnis
abgebildet wird. „The fact that western ears can ‘impose’ pitch on most quasi-
periodic sounds does not make them all music by western definition.“
(Walker, 1996, S. 8)
Diese Erkenntnis ist indes nicht neu. Schon vor über 20 Jahren hat Wallbaum
(1998, S. 64) gewarnt, dass, wenn „ein Fach Musikpädagogik einen wesentlich
medial fokussierten Musikbegriff zu seinem Gegenstand macht und sich von
diesem Standort aus den Musiken anderer Kulturen oder Teilkulturen nähert,
[…] das einen eurozentrisch normativen Kern [hat]“. Allerdings zeigen die
obenstehenden, deutlich jüngeren, Zitate auch, dass sich diese Erkenntnis noch
zu wenig in den wissenschaftlich-konzeptionellen Texten zum Umgang mit
kultureller Diversität im Musikunterricht manifestiert hat. Spätestens wenn
gleichzeitig die Gleichwertigkeit aller Kulturen gefordert wird, ist diese Ver-
nachlässigung aber nicht unproblematisch.
Dieser Forderung möchte ich mich abschließend nochmals zuwenden bzw.
sie grundsätzlich in Frage stellen. Eine Gleichberechtigung der unterschied­
lichen Kulturen einzufordern hat nur dann Sinn, wenn sie sich auf Gleiches
beziehen bzw. wenn ihre Diversität auf universelle Konzepte gründet. Dies
wurde allerdings mit dem hier vertretenen, epistemologisch akzentuierten,
Kulturbegriff zurückgewiesen.
Entsprechend stellt sich schließlich nicht länger die Frage, wie eine Gleich-
berechtigung der Kulturen in der Musikpädagogik zu erreichen wäre. Ein
didaktisches Ziel müsste eher in der Reflexion der Unmöglichkeit der kultu-
rellen Gleichberechtigung liegen. Wenn nämlich Musik, Rhythmus, Tonhöhe
und Harmonie kulturell konstruierte Momente sind und keine ontischen
Größen, ist allein der Zuschnitt dessen, was überhaupt als Musik verhandelt
werden kann, hochgradig machtbesetzt. Wenn darüber hinaus berücksich-
tigt wird, dass die Wissensordnungen wahrnehmungskonstitutiv sind, kön-
nen sie von den Subjekten auch nicht einfach hintergangen werden, sodass
dieses Machtmoment jeder interkulturellen Kommunikation inhärent bleibt.
Somit gehörte die Reflexion der kulturellen Konstitution der zur Geltung ge-
brachten Werte und Normen zur dringlichsten Aufgabe einer kultursen­siblen
Musikpädagogik.

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Bernhard Weber

Ein didaktisches Denken im Plural: Differenzen aufdecken


und Verborgenes offenlegen
Impulse für eine zeitgemäße Interkulturelle Musikpädagogik

Thinking in Diversity – Discover Differences and Hidden Things


Reflections on a Contemporary Music Education

Die kritischen Positionen von Blanchard (2018) und Clausen (2013) in Verbindung mit
einem bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriff (vgl. Reckwitz 2006) impli-
zieren eine Weiterentwicklung und Modifikation der Interkulturellen Musikpädagogik.
Auf der Basis ausgewählter Denkfiguren des Poststrukturalismus entwickelt der Bei-
trag die theoretische Grundlage für ein Konzept Interkultureller Musikpädagogik,
innerhalb dessen sich Heterogenität, Differenz und Diskriminierung als didaktische
Leitkategorien etablieren. Über eine Transformierung literaturdidaktischer Konzepte
entstehen neue methodische Handlungsmuster, wie Dekonstruktion, Intertextualität
und Diskursanalyse, welche eine zeitgemäße Interkulturelle Musikpädagogik didaktisch
konkretisieren. Ausgewählte Beispiele verdeutlichen eine mögliche unterrichtsprak-
tische Umsetzung.

The critical positions of Blanchard (2018) and Clausen (2013) in combination with a
“bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriff” (cf. Reckwitz, 2006, S. 84) imply
an advancement and modification of intercultural music education. Based on selected
figures from post-structuralism, the article develops the theoretical basis for a concept of
intercultural music education within which heterogeneity, difference and discrimination
are established as didactic guide-lines. A transformation of literary didactic concepts
creates new methodological perspectives, such as deconstruction, intertextuality and
discourse analysis, which concretise a contemporary didactic intercultural music educa-
tion. Selected examples illustrate a possible implementation in teaching practice.

Die kritischen Positionen von Clausen (2013), aber vor allem von Blanchard
(2018, 2019) diagnostizieren in den verschiedenen didaktischen Konzepten
und Praxen der Interkulturellen Musikpädagogik (IMP) eine Wiederholung
von Argumentationsmustern, eine mangelnde theoretische Verortung und

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106 Bernhard Weber

Reflexion, eine Hegemonie des Musizierens und Naturalisierung der Repro-


duktion sowie eine eurozentrische Perspektive. Darüber hinaus sind die am
Beginn der 1990er Jahre beispielsweise von Nieke formulierten Aufgaben und
Ziele einer „Interkulturellen Erziehung“ (Nieke, 1993, S. 55), wenn überhaupt,
bis heute nur ansatzweise erreicht worden. Mittlerweile hat sich im Main-
stream der Musikpädagogik in Anlehnung an Reckwitz (2006) ein „bedeu-
tungsorientierter und wissensorientierter Kulturbegriff“ (Barth, 2018; Kling-
mann, 2015) etabliert:

„Kultur erscheint vielmehr nun als jener Komplex von Sinnsystemen […] von
‚symbolischen Ordnungen‘, mit denen sich die Handelnden ihre Wirklichkeit als
bedeutungsvoll erschaffen und die in Form von Wissensordnungen ihr Handeln
ermöglichen und einschränken.“ (Reckwitz, 2006, S. 84)

Infolgedessen löst sich der Kulturbegriff aus seiner geographischen, ethni-


schen und ästhetisch-normativen Fixierung.
All dies beinhaltet zahlreiche gewichtige und weiterführende didaktische
Implikationen:
(1) Theorie und Praxis einer Vermittlung diverser Kulturen bedürfen einer
theoretischen Verortung.
(2) Handlungen dürfen nicht auf ein reines Musizieren reduziert werden,
sondern erweitern sich auf jede Form musikalischer und musikbezogener
Umgangsweisen.
(3) Kulturen als Sinnsysteme und symbolische Ordnungen konstituieren
sich über Handlungen und nicht umgekehrt. Folglich stellt auch der
Musikunterricht eine eigene Kultur dar, in der von Schüler*innen über
musikalische und musikbezogene Handlungen eigene Sinnsysteme und
symbolische Ordnungen konfiguriert werden.
(4) Infolge der Loslösung des bedeutungsorientierten Kulturbegriffs aus
seinen bisherigen Verortungen treffen auch im Musikunterricht stets
unterschiedliche Kulturen aufeinander (vgl. Jünger, 2003).1
(5) Kulturen unterscheiden sich nicht normativ oder kategoriell, sondern
über subjektiv wahrgenommene Grade an Vertrautheit oder Fremdheit,
welche sich in unterschiedlichen musikalischen Parametern artikulieren.
Die persönlichen Beziehungen zu Musiken können über einen „Fremd-
artigkeitsindex“ (unfamiliarity index) (Schippers, 2010, S. 29; Clausen,
2013, S. 25) individuell bestimmt werden.

1
Dies manifestiert sich bereits im Aufeinandertreffen von Lehrer*innen- und Schü­ler*in­
nenkulturen.

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Differenzen aufdecken und Verborgenes offenlegen 107

(6) Die Begegnung zweier Kulturen mit unterschiedlichen Symbolsystemen


und Wissensordnungen ist in didaktischen Kontexten in Anlehnung an
Foucault (1993) stets von Machtaspekten geprägt.
(7) Das Phänomen unbekannter Kulturen beschränkt sich nicht (mehr) auf
außereuropäische Regionen. Unsere gesamte Gesellschaft ist von einer
unhintergehbaren kulturellen Heterogenität geprägt.

Die Kritiken von Clausen (2013) und Blanchard (2018, 2019), die bisher nicht
eingelösten Versprechungen einer Interkulturellen Pädagogik und ein modifi-
ziertes Kulturverständnis sowie die damit verbundenen didaktischen Implika-
tionen legen die Schlussfolgerung nahe, dass sich die bisherigen Konzepte
Interkultureller Musikpädagogik als nicht mehr tragfähig erweisen. Eine solch
provokante Aussage generiert gleichzeitig die ebenso dringende wie drän-
gende Frage, mit welcher theoretischen Rahmung und in welcher didaktischen
Gestalt sich eine weitergedachte und zeitgemäße Interkulturelle Musikpädago-
gik (IMP) konstituieren könnte. Im Folgenden versuche ich für ein solches
Projekt erste, aber grundlegende theoretische und praktische Perspektiven zu
entwickeln. Dazu extrahiere ich aus dem Poststrukturalismus relevante Denk-
figuren und übertrage sie in den Diskurs einer IMP. Im Anschluss daran greife
ich zu dessen didaktischer Konkretisierung auf ausgewählte literaturdidakti-
sche Konzepte dieser philosophischen Strömung zurück und übertrage sie in
die Praxis des Musikunterrichts. Ausgesuchte Beispiele verdeutlichen deren
Einsatzmöglichkeiten in der Praxis.

1. Poststrukturalismus als theoretische Referenz

Die von Blanchard (2019) geforderte theoretische Verortung des Diskurses


erfolgt im Poststrukturalismus. Dafür sprechen mehrere Gründe: Ein erster
Grund liegt darin, dass in dieser französischen Denkschule Pluralität und die
damit verbundenen Differenzen und Diskriminierungsformen als epistemo-
logische Grundfiguren in zweifacher Weise eine exponierte Stellung einneh-
men (vgl. Derrida, 1990; Lyotard, 1989). Ein zweiter Grund ist in den Macht­
diskursen verwurzelt, die dieser philosophischen Strömung implizit sind (vgl.
Foucault, 1993).2

2
Obwohl themenrelevant, können sie aus redaktionellen Gründen an dieser Stelle nicht aufge-
arbeitet werden.

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108 Bernhard Weber

1.1 Ein kritisch-reflexives Denken im Plural

Der im Poststrukturalismus verankerte Pluralismus eröffnet sich zunächst aus


einer inneren semiotischen Perspektive als eine Dezentrierung von Bedeutun-
gen und den dadurch verursachten Differenzen, denen Derrida begrifflich
über seinen Neologismus différance Ausdruck verleiht (vgl. Derrida, 1990).

„Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in eine Kette oder in ein System einge-
schrieben, worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen,
auf die anderen Begriffe verweist.“ (Derrida, 1990, S. 88; Hvh. Weber)

Dieser universelle Verweisungszusammenhang repräsentiert sich in Derridas


Denkbild der Spur. Er versteht darunter ein Gewebe von Differenzen, das sich
räumlich und zeitlich entfaltet. Dadurch verändert sich die Bedeutung eines
Begriffs (Signifikat) stetig (vgl. Derrida, 1983). Der Lüneburger Kunstpädagoge
Pierangelo Maset identifiziert in Derridas Begriff der Spur eine bildende Qua-
lität: „Wenn das Subjekt, dem durch die Spur die Andersheit bezeugt wird,
der Spur nachgeht, ihre Bahnungen verfolgt, dann verhält es sich bildend“
(Maset, 2012, S. 140). In didaktischen Kontexten einer zeitgemäßen IMP würde
dies bedeuten, dass über eine unterrichtspraktische Begegnung mit dem
Anderen und dem Fremden musikalische Bildungsprozesse in Gang gesetzt
werden können.
Gegenstand solcher Begegnungen sind Texte, welche für Derrida nicht auf
das Buchstäbliche reduziert sind, vielmehr geht er von einem sehr offenen
Textverständnis aus:

„Das, was ich Text nenne, ist alles, ist praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt
einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur
auf eine andere“ (vgl. Derrida, zitiert in Engelmann, 1990, S. 20–21).

Dadurch werden Theorien, Bildende Künste, aber auch Kulturen zu Texten.


Gleichzeitig wird der dazugehörige Kontext ebenfalls zur sinnkonstituieren-
den Komponente. „Ein Text-Äußeres gibt es nicht“ (Derrida, 1983, S. 274). Die
Ergebnisse musikalischer und musikbezogener Handlungen sind somit Texte
in unterschiedlichen Ausprägungen (buchstäblich, symbolisch, auditiv, visu-
ell …), deren Sinn und Bedeutung sich erst im Zusammenspiel mit den jeweili-
gen, beispielsweise soziokulturellen Kontexten erschließen lassen.3 So ist es ein
gravierender und sinngebender Unterschied, ob ein indonesisches Gamelan-

3
Solche Kontexte lassen sich etwa über Netzwerktheorien der Soziologie (z. B. ANT) erschlie-
ßen (vgl. Weber, 2015a).

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Differenzen aufdecken und Verborgenes offenlegen 109

Ensemble in einem rituellen Zusammenhang oder zur touristischen Unterhal-


tung musiziert.
Eine zweite und äußere philosophisch-theoretische, aber auch empirisch
nachweisbare Pluralität ist Lyotards Konzept der Postmoderne. Es ist durch
drei zentrale Aussagen gekennzeichnet: Ende der großen Erzählungen, radi-
kaler Pluralismus und Widerstreit (vgl. Lyotard, 1989). Im postmodernen Zeit-
alter haben philosophische, soziologische, religiöse sowie politische und im
übertragenen Sinne auch wissenschaftliche, ästhetische und didaktische Meta-
erzählungen ihre „explikative“ und „legitimatorische“ Funktion eingebüßt
(vgl. ebd., S. 12; Kaiser & Kaiser, 2001, S. 86). Plurale Erzählungen stehen auf-
grund ihrer „Inkommensurabilität“ gleichwertig nebeneinander und befinden
sich miteinander in einem Widerstreit (vgl. ebd., S. 215). Dadurch soll die Aus-
formung totalitärer Systeme abgewendet und die ihnen innewohnenden For-
men der Diskriminierung verhindert werden. Mit dem Blick auf interkulturelle
Bildungskontexte impliziert Lyotards Konzept der Postmoderne heterogene
und relationale Kulturen, die keiner hierarchischen Ordnung unterliegen und
somit die an vielen Stellen weiterhin artikulierte Überlegenheit abendländi-
scher Kunstmusik hinterfragen (vgl. Schläbitz, 2016).

1.2 Dekonstruktion – das Verborgene offenlegen

Eine weitere bedeutende und relevante Denkfigur Derridas ist die Dekonst-
ruktion, die in diesem Verwendungszusammenhang hauptsächlich aus einer
musikdidaktischen Perspektive beleuchtet wird. Der Begriff der Dekonstruk-
tion (frz. déconstruction = Auflösung, Auseinandernahme und Zerlegung)
führt auf Derrida zurück. Er repräsentiert ursprünglich ein spezifisches Ver-
fahren im Umgang mit philosophischen und literarischen Texten. Zu einem
späteren Zeitpunkt dient es der Analyse und Interpretation von Architektur,
Literatur und Kunst. Derrida möchte damit die in einem Text enthaltenen Dif-
ferenzen aufdecken, um verborgene Verstehenszugänge offenzulegen. „Der
Eindeutigkeit des [hermeneutischen] Sinns stellt er die Mehrdeutigkeit entge-
gen“ (Münker & Roesler, 2012, S. 141).
In der Zusammenschau wird die Dekonstruktion von Texten durch folgende
allgemeine und zugleich für die Unterrichtspraxis relevante didaktische Prin-
zipien charakterisiert (vgl. ebd., S. 140–152).
• permanenter Perspektivenwechsel
• Aufdecken von Widersprüchen, die eine einheitliche Deutung verhindern
• keine einschränkende, sondern eine ausweitende und vervielfältigende
Interpretation, die subjektive Lesarten zulässt

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110 Bernhard Weber

• keine hierarchische Unterscheidung zwischen Primärtext und Sekundär-


literatur
• statt einheitlicher Deutungen offene Konstruktionsangebote, die Wider-
sprüchliches erlauben, fördern und nicht auflösen
• verborgene und verdeckte Gehalte und Intentionen offenlegen und
• ein Aushalten von interpretatorischen Unterschieden.
Das Verfahren der Dekonstruktion ist jedoch nicht nur musikdidaktisch rele-
vant. Ihre bildungstheoretische Rezeption und Weiterführung bieten zahlrei-
che Impulse, Schüler*innen als „dezentrierte Subjekte“ (Thompson, 2009), die
Rolle der Lehrenden als „Sprachspieler“ (Meder, 2004) und die „Paralogie“ von
(ästhetischen) Regeln (Koller, 1991, 2012) sowie das Konstrukt musikalische Bil-
dung poststrukturalistisch zu wenden.4

2. Poststrukturalistische Literaturkonzepte als didaktischer


„Werkzeugkoffer“5

Blanchard identifiziert in seiner Studie über didaktische Konzepte Interkultu-


reller Musikpädagogik eine Hegemonie des Musizierens und Naturalisierung
der Reproduktion. Diese können unter der Berücksichtigung des offenen Text-
begriffs von Derrida durch literaturdidaktische Textoperationen des Poststruk-
turalismus wie Dekonstruktion, Intertextualität und Diskursanalyse aufgelöst
bzw. kompensiert werden (vgl. Bossinade, 2000, S. 53–87). Bezüglich der Über-
tragung solcher Operationen auf den Musikunterricht muss jedoch in Erinne-
rung gerufen werden, dass Musik als Text im engeren Verständnis keine Spra-
che darstellt.6
Die Frage nach dem Sinn von Texten bildet den Mittelpunkt literaturdidak-
tischer Modellierungen. Er konstituiert sich aus einer poststrukturalistischen
Perspektive über Differenzen (siehe oben) und führt somit zur Auflösung eines
kohärenten und sinnkonsistenten Textes (vgl. Bogdal & Korte, 2002, S. 238).
Die Ansatz- und Ausgangspunkte für dementsprechende didaktische
­Konstellationen bilden die musikalischen und musikbezogenen Praxen der
Schüler*innen, da auch sie bereits plural geprägt sind und zumindest Vorfor-
men gesellschaftlich relevanter Diskurse hervorbringen (vgl. Michel de Cer-
teau, 1988, S. 109–110).

4
Dazu weiterführend Weber, 2015b.
5
Der Begriff „Werkzeugkoffer“ stammt von Bossinade (2000).
6
Semiotisch gedacht, verfügt Musik zwar über eine Syntax und Pragmatik, jedoch nicht über
eine eindeutige Semantik.

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Differenzen aufdecken und Verborgenes offenlegen 111

2.1 Dekonstruktivistische Textoperationen

In seinen methodischen Überlegungen deklariert der Literaturdidaktiker Spin-


ner die nachfolgenden didaktischen Operationen als „Vorschule der Dekonst-
ruktion“ (Spinner, 2004, S. 235), welche bereits in der Primarstufe eingesetzt
werden kann. Seine Verfahren zielen darauf ab, das Aufeinanderwirken einzel-
ner Textelemente zu verdeutlichen (vgl. ebd.). Explorative Veränderungen von
Elementen – weglassen, umstellen, ersetzen und hinzufügen – erzeugen eine
Distanz zum Text und sensibilisieren Schüler*innen für Bedeutungsunter-
schiede und Veränderung von Sinn (vgl. ebd.). Auf den Musikunterricht über-
tragen, können etwa auf einer elementaren Ebene einfache Sinnmodifikationen
durch Betonungsverschiebungen über einem Grundpuls vorgenommen wer-
den. Aus einem 2er-Takt wird ein 3er-Takt (siehe NB 1). In den Musikpraktiken
Jugendlicher, speziell in der elektronischen Tanzmusik (EDM), lassen sich sol-
che Sinnmodifikationen über Veränderungen von Patterns ebenfalls gut ver-
deutlichen. Auch der variable Umgang mit dem Bluesschema – 12-taktiges
Standardschema im Vergleich zu Crossroads von Robert Johnson und Cantaloupe
Island von Herbie Hancock – ist ein geeignetes Beispiel für die Praxis des
Musikunterrichts. Darüber hinaus bieten sich aus der Neuen Musik die ver-
schiedenen Gestaltungsprinzipien (z. B. Phase-Shifting) der repetitiven Musik
(siehe NB 2) oder die dekonstruktivistisch angelegte Komposition passage/pay-
sage (1990) des Freiburger Komponisten Mathias Spahlinger an. Und nicht
zuletzt kann über digitale Schnitttechniken der sinnmodifizierende Umgang
mit Texten erfahrbar gemacht werden.7

4≤ 3 ≤ 5 ≤ 2 ≤
/4œœœœœœœœ4œœœœœœ4œœœœœœœœœœ4œœœœ
Schlagzeug
Notenbeispiel 1: Akzentverschiebung
Schlagzeug
Schlagzeug
Pattern II
Pattern II
Pattern I Pattern II
Pattern
œ œ
Pattern II œ œ œ œ œj ‰
‰ ™™ œ œ ‰ œ œ œ œ œjj ‰ ‰ ™™
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Notenbeispiel 2: Repetitive Musik

7
Die subjektiv erstellte Liste an Musikbeispielen ist keineswegs vollständig, sondern kann
beliebig erweitert werden.

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112 Bernhard Weber

Ein weiteres Verfahren aus der Vorschule der Dekonstruktion ist die Wahrneh-
mung und Reflexion von Varianten, beispielsweise über einen Vergleich hin-
sichtlich
• der Aufführung eines „Textes“ durch unterschiedliche Interpreten
• unterschiedlicher Realisierungen eines Musikstückes – live oder vom
Tonträger und
• unterschiedlicher Deutungsvarianten von „Texten“ aus Musikbüchern
oder Musikkritiken.
Nach dem Verfahren einer „zweiten Lektüre“ (vgl. Förster, 2003, S. 241) erstellt
die Lerngruppe zunächst einen eigenen Sinnentwurf eines (musikalischen)
Textes, vergleicht ihn anschließend mit einem zweiten im Hinblick auf Unter-
schiede. Dazu eigenen sich beispielsweise Texte aus Musikbüchern, Kommen-
tare aus Lehrerhandbüchern, Musikkritiken oder wissenschaftliche Abhand-
lungen.
Weitere didaktische Operationen der Dekonstruktion unter dem Motto
„Meine Ohren gehorchen mir nicht“ oder „das Andere im Selben hören“ orien-
tieren sich an Förster (2000, S. 214, 217). Diese Form der Dekonstruktion kann
sich auf ganz unterschiedlichen Textebenen abspielen.
• Ambiguität von Wörtern bzw. Sounds, Klängen und Akkorden verdeutli-
chen.
• Paradigmatische Ordnung der musikalischen Syntax hinterfragen, durch
einen Austausch (musikalischer) Elemente.
• Unterschiedliche semantische Kodierungen eines Textes miteinander ver-
gleichen (Wortfeldübungen).
• Syntagmatische Beziehungen auflösen, indem beispielsweise Formteile
umgestellt werden.
• Uneindeutigkeit der (musikalischen) Syntax über einen Vergleich zwi-
schen einem auditiven, sprachlichen, figürlichen (grafischen) und symbo-
lischen Text aufzeigen.
Neben dekonstruktivistischen Textoperationen kann Intertextualität eine wei-
tere Chiffre und didaktischen Anschluss für einen unterrichtspraktischen
Umgang mit Fremden, Differenten und Diskriminierten bilden.

2.2 Intertextualität – das Fremde im Vertrauten


„Der Text ist ein Geflecht von Zitaten, die aus tausend Brennpunkten der Kultur
stammen […] Ein Text besteht aus vielfachen, mehreren Kulturen entstammen-
den Schreibweisen, die untereinander in einen Dialog, eine Parodie, ein Gefecht
eintreten.“ (Barthes, 2015, S. 61, 63)

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Differenzen aufdecken und Verborgenes offenlegen 113

Der Terminus Intertextualität (franz. intertextualité) steht für eine Dekonstruk-


tion des Autorensubjektes (vgl. Barthes, 2015) und wurde Ende der 1960er Jahre
von Julia Kristeva eingeführt. Intertextualität (lat. inter für „zwischen“)
beschreibt ursprünglich ein literaturtheoretisches und kulturtheoretisches
Phänomen, demzufolge kein Text bzw. Bedeutungselement innerhalb einer
kulturellen Struktur ohne Bezug zur Gesamtheit anderer Texte möglich ist. In
einem erweiterten Textverständnis als „ein Netzwerk aus Kultur, Kulturtech-
nik und sozialen Systemen“ kann Intertextualität ebenso als ein „Dialog mit
der Kultur“ und ein „Einspielen von Texten der Vergangenheit in einen neuen
textuellen Zusammenhang“ (Bein, 2011, S. 134) verstanden werden. Aus dem
Blickwinkel einer Interkulturellen Musikpädagogik erweitern sich diese
Bezüge auf fremde und unbekannte Kulturen. Denn über eine didaktische
Inszenierung von Intertextualität im Rahmen einer Spurensuche (siehe unten)
können in Lernsituationen interkulturelle Dialoge entstehen, welche den Lernen-
den einen Zugang zum Fremden eröffnen.8
Die Bezugnahmen eines Textes auf andere können unterschiedliche Qualitä-
ten von Relationen einnehmen, wie beispielsweise die direkte Übernahme ei-
nes Zitates, die Verwendung syntaktischer Strukturen oder die Anspielung auf
Textsortenmerkmale. In der Literatur und in der Musik haben sich mittlerweile
spezielle Formen und Gattungen ausgebildet, in denen Intertextualität in Er-
scheinung tritt: Collage, Montage, Parodie, Travestie oder Pastiche. In den mu-
sikalischen Alltagspraktiken der Schüler*innen sind dies Remixe, Mash-Ups
und Sampling-Praktiken oder verschiedene Techniken der Filmmusik (z. B.
Einsatz stilistischer Klischees). Beispiele für Bezugnahmen auf geografisch
entferntere Kulturen zeigen sich etwa plakativ in der Interpretation des Do-
nauwalzers von Johann Strauß durch ein südostasiatisches Anklungorchester,
etwas subtiler in den Zitaten aus Karlheinz Stockhausens Telemusik oder den
abendländischen Schlussformeln neuerer Balinesischer Gamelanmusik (vgl.
Mack, 2004). Auch die historisch-abendländische Kunstmusik ist voll von in-
tertextuellen Verweisen, angefangen von Mozarts Türkischem Marsch, über
Dvořáks Aus der neuen Welt bis hin zu den Fossilien in Camille Saint-Saëns‘
Karneval der Tiere. Die Liste von Musiken mit intertextuellen Verweisen lässt
sich nahezu unendlich fortsetzen.
Ein weiterer großer Bereich, in dem intertextuelle Verweise mehr oder weni-
ger zur alltäglichen Produktionspraxis gehören, ist die populäre Musik. Ein
historisches Beispiel ist die Rekontextualisierung eines Gitarrenriffs aus Sweet

8
Auch Oberhaus (2013) greift im Rahmen „musikpädagogischer Biografik“ auf Derridas
Begriff der Spur zurück.

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114 Bernhard Weber

Little Sixteen von Chuck Berry in Brian Wilsons Hit Surfin U.S.A. In diesem
Zusammenhang können auch postkolonialistische Aspekte – Aneignung
schwarzer Musik durch einen weißen Musiker – in die Praxis des Unterrichts
mit einfließen. Weniger bekannt sind die 500 gesampelten Verweise auf dem
Album Endtroducing (1996) von DJ Shadow. Eine weitere zunehmend an Bedeu-
tung gewinnende Erscheinungsform dieses Phänomens ist das Mikrosampling
von Texten, aktuell zu finden in den Arbeiten des Sounddesigners und Werbe-
komponisten Michael Fakesch. Aus der Neuen Musik bietet sich das Stück
Sinfonia (Third Movement) von Luciano Berio an, mit Zitaten von Mahler,
Brahms, Debussy und anderen. Ein kompositorisch intendiertes Spiel mit audi-
tiven Verweisen, die in Wirklichkeit keine sind, findet sich in der Komposition
Muzak (2016) von Moritz Eggert.

Die konkrete didaktische Umsetzung von Intertextualität kann über vier


Handlungsschritte erfolgen:
• Erster (hörender) Zugang zum Text
• Aufdecken und Identifizierung der musikalischen Verweise, beispiels-
weise über eine Spurensuche
• Erneutes und bewusstes Hören mit dem Fokus auf die Verweise
• Reflexion (welche Sinnmodifikation erfährt das Stück?)
Den Ausgangspunkt einer Spurensuche kann beispielsweise ein Remix von
Steve Reichs Drumming (1970/71) des Dub-Produzenten Kurtis Mantronic bil-
den. Von dort aus können Schüler*innen unter dem Aspekt der Repetition
mediale Recherchen im Sinne eines Rhizoms nach strukturellen Verweisungs-
zusammenhängen betreiben. Eine solche Spurensuche könnte zur Trommel-
musik des Amadinda-Stammes in Uganda führen, könnte aber ebenso bei
Bachs Präludium in C-Dur oder beim 4. Satz (Finale) der 4. Sinfonie von Bruck-
ner enden oder könnte auf repetitive Muster der Kategorie Trance verweisen
(z. B. auf Gouryella [1999] von Ferry Corsten); aber natürlich auch auf weitere
Kompositionen aus der Kategorie repetitiver Musik im engeren Sinne.

2.3 Diskursanalyse

Diskurs ist ein zentraler und wirkmächtiger Leitbegriff der Geistes-, Kultur-
und Sozialwissenschaften. In dem hier erörterten Verwendungszusammen-
hang ist er poststrukturalistisch verortet (vgl. Foucault, 1993, 1994).9 Ebenso

9
Auch die Diskursanalyse lässt sich über eine Traditionslinie bis auf Humboldt zurückführen
(Gardt, 2017, S. 4).

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Differenzen aufdecken und Verborgenes offenlegen 115

wie in den bereits genannten poststrukturalistischen Textoperationen ist der


Anspruch an die unterrichtspraktische Umsetzung ein didaktischer. Insofern
kann auch in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Förster (2000) von einer
Vorschule der Diskursanalyse gesprochen werden. Gleichwohl besteht im Kon-
text einer IMP die Möglichkeit, Schüler*innen für die anfangs genannten didak-
tischen Leitkategorien zu sensibilisieren. Das Analysekorpus setzt sich primär
aus buchstäblichen oder abbildhaften und weniger aus musikalischen Texten
zusammen, obwohl Letzteres auch möglich ist.10 Für den Unterricht eignen sich
beispielsweise rassistische Texte und Abbildungen aus Musikbüchern. Im Rah-
men der Lehrendenbildung bieten sich darüber hinaus didaktische Kommen-
tare (Lehrerhandbücher) oder Bildungspläne als Analysekorpus an. Speziell
musikalische Texte können unter einer beispielsweise exotistisch-kolonialisti-
schen Perspektive Gegenstand einer Diskursanalyse werden. In der konkreten
Unterrichtspraxis strukturiert sich eine kritische Diskursanalyse in Anlehnung an
Jäger (2015, S. 117) und Spitzmüller (2017, S. 47) folgendermaßen:
• Zielsetzungen der Diskursanalyse formulieren (z. B. ethnische Diskrimi-
nierung).
• Gegenstand der Analyse benennen, beschreiben und begründen.
• Kriteriengeleitete Analyse auf unterschiedlichen Ebenen (z. B. transtextu-
elle Ebene: Ideologien, Historizität und Topoi; Akteure: Medialität, Dis-
kurspositionen und Interaktionsrollen; Intratextuelle Analyse: Materiali-
tät, Metaphern, Schlüsselwörter etc.).
• Zusammenfassung der Ergebnisse und Diskussion.

Fazit

Die oben genannten Kritiken, die nicht eingelösten Versprechen einer Interkul-
turellen Pädagogik in Kombination mit einem bedeutungs- und wissensorien-
tierten Kulturbegriff und der unhintergehbaren Heterogenität unserer aktuellen
Gesellschaft fordern eine Neuformierung der IMP. Aus einer poststrukturalis-
tischen Perspektive entwickeln sich Begriffe wie Pluralität, Differenz und
Machtdiskurse zu didaktischen Leitkategorien des Musikunterrichts. Die
Begegnung mit dem Fremden und Pluralen wird so zum permanenten Gegen-

10
Beispielsweise die Stilisierungen indianischer Melodien in Dvořáks Sinfonie Aus der Neuen
Welt im Zusammenhang mit seinem Zitat „Nun, ich stellte fest, daß die Musik der Neger und die
der Indianer praktisch identisch war.“ (Dvořák on his New World. In: New York Herald, 15. Dezem-
ber 1893; abgedruckt in Clapham, J. (1979). Dvořák (S. 201–202). Newton Abbot u. a.: David &
Charles; ein weiteres Beispiel wäre der Text des Volksliedes „Lustig ist das Zigeunerleben“ in
seinen verschiedenen textlichen Abwandlungen, insbesondere im Nationalsozialismus.

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116 Bernhard Weber

stand des Unterrichts. Zur unterrichtspraktischen Realisierung dieser Perspek-


tive bieten sich Verfahren der Dekonstruktion, Intertextualität und Diskurs-
analyse an, welche aus der Literaturdidaktik transformiert werden.
Epistemologisch ist anzuführen, dass es sich bei diesem fragmentarisch vor-
gestellten didaktischen Konzept auch nur um eine eurozentristische Erzäh-
lung unter vielen handelt, die sich in einem Widerstreit mit anderen befindet.
Dies wäre in entsprechenden (didaktischen) Situationen zu erhellen und zu
reflektieren.
Mit dem Blick in Richtung Forschung und unter der Berücksichtigung von
Schlömerkempers (2010) Vorschlag des „Oszillierens“ (ebd., S. 9) zwischen her-
meneutischen und empirischen Paradigmen verlangt diese poststrukturalistisch
inspirierte Erzählung prospektiv nach einer ganz spezifischen Form empirischer
Forschung. Ihr Gegenstand wäre die Analyse von Subjektivierungsprozessen
(Biographieforschung), welche methodologisch vom „Postulat selbstidentischer
Präsenz abrückt“ (Thompson, 2009, S. 217; vgl. auch Koller, 1999, S. 161–267; Kol-
ler, 2012, S. 137–169). Allerdings können zentrale Forschungsfragen und Aufga-
ben einer zukünftigen IMP nur interdisziplinär beantwortet bzw. gelöst werden.
Relevante Impulse und Forschungsansätze sind aus den Bildungswissenschaf-
ten, der Musikethnologie und den Medienwissenschaften zu erwarten.
Was in den bisherigen Überlegungen ausgespart wurde und hier gleichsam
als Coda aufgegriffen wird, sind die diesem Themenkomplex impliziten For-
men der Diskriminierung und ethische Aspekte. Der in der IMP vielfach ver-
wendete Begriff der Toleranz impliziert bereits semantisch ein Machtgefälle
zwischen demjenigen, der Toleranz übt, und demjenigen, dem Toleranz zuteil
wird. Dies wird in der umgangssprachlichen Verwendung des Begriffes noch
verstärkt. Die Alternative bildet ein Postulat von Lévinas (1995; vgl. Oberhaus,
2016) im Sinne einer Aporie: Akzeptanz des Anderen als Anderes.

Literatur
Bark, J. & Förster, J. (Hrsg.) (2004). Schlüsseltexte zur neuen Lesepraxis. Stuttgart: Klett.
Barth, D. (2018). Ethnie, Bildung oder Bedeutung? Zum Kulturbegriff in der interkulturell orientier-
ten Musikpädagogik (3. Aufl.). Augsburg: Wißner.
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Peter W. Schatt

Begegnungen zwischen Kulturen: Überlegungen


zu einer Topologie für Musik

Encounters between Cultures: Considerations Concerning


a Topology for Music

Kultur wird in diesem Beitrag als Ergebnis von kommunikativen und interaktiven
Aushandlungsprozessen verstanden, in denen es um Geltung von Bedeutungen und
Bedeutsamkeit geht, und zugleich als eine Aufgabe für solche Prozesse. Musik wird als
Interpretant von Kultur aufgefasst, sodass einzelne Musikstücke als Ergebnisse von
Wahrnehmung und Deutung von – sowie als Anlässe für – Praktiken gelten können,
deren Realisierung wiederum zum Verständnis sowohl der eigenen als auch anderer
Kulturen führen sollte. Dazu werden für den Musikunterricht Beobachtungen an
Musiken vorgeschlagen, die sich als Ergebnisse interkultureller Begegnung darstellen.

In this essay, culture is considered as a result of, and a challenge for communicative and
interactive processes of negotiation which are about the importance of meaning and
relevance. Music is regarded as an interpretant of culture, so single pieces of composi-
tion can be considered as results of perception and interpretation, but also as initiations
of practices, which may lead to an understanding of one’s own culture as well as that of
others. For this purpose, observations of musical pieces, which present themselves as
results of intercultural encounter, are suggested for music education contexts.

„So schreitet in dem engen Bretterhaus


Den ganzen Kreis der Schöpfung aus […]“
(Johann Wolfgang von Goethe: Faust I,
Vorspiel auf dem Theater. V. 239–240)

Wenn es um Kultur oder Kulturen geht, machen wir es uns gerne mit Meta-
phern bequem: Wir sprechen z. B. – wie auch hier im Titel – von „Begegnungen“
und vergessen dabei leicht, dass nicht Kulturen, sondern nur Menschen sich
begegnen können; wir sprechen von „Inter-“ oder „Transkulturalität“ und blen-
den dabei leicht aus, dass „Inter“ und „Trans“ Raumbegriffe sind – was für den

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120 Peter W. Schatt

Begriff „Kultur“ zumindest im aktuellen Verständnis nicht mehr ohne weiteres


zutrifft. Gleichwohl soll im Folgenden gezeigt werden, dass sich Kulturen ins-
gesamt – wie auch insbesondere Musiken – nicht nur durchaus in realen Räu-
men ereignen, sondern dass darüber hinaus die einschlägige Sinngenerierung
in einem „imaginären Raum“ (Rustemeyer, 2009, S. 231)1 vollzogen wird2, in
dem die Inhalte veränderlich und im Fluss sind, die funktionalen Strukturen
der Beziehungen zwischen Genesis und Geltung der Inhalte aber konstant blei-
ben – und primär diese Beziehungen sind wesentlich für die Zugänglichkeit
von Musiken und Kulturen für den Einzelnen. Die Zugänglichkeit dieses ima-
ginären „Raums Kultur“ über einen imaginären „Raum Musik“ soll im Rah-
men einer Topologie gezeigt werden, die verständlich werden lässt, warum die
Rede von „Begegnungen zwischen Kulturen“ im Zusammenhang mit musika-
lischen Praktiken und deren Resultaten sinnvoll ist und warum solche „Begeg-
nungen“ wünschenswert sind. Dazu wird im Folgenden zunächst ein dyna-
misch-prozessualer Kulturbegriff entfaltet, der „totalitätsorientiert“ (Reckwitz,
2000, S. 64) ansetzt und dann praxeologisch in konstruktivistisch-bedeutungs-
theoretischer Weise dimensioniert wird. In einem zweiten Schritt wird der
Bezug zu Musik hergestellt, die in einem dritten Schritt als „symbolische Form“
ausgewiesen wird, wobei die diesbezüglichen Vorstellungen Ernst Cassirers
konstruktivistisch gewendet werden. Dadurch können diese „Formen“ sowohl
als Ergebnis von als auch als Anlass für kommunikativ und interaktiv im sozi-
alen Kontext verhandelte sinn- und damit kulturgenerative Prozesse gelten. Die
anschließenden Überlegungen zu Möglichkeiten der Förderung solcher Pro-
zesse münden in eine Musikpädagogik, die durch einen konstruktivistisch-
praxeologischen Ansatz zwischen deskriptiven und bedeutungsorientierten
Zugängen zu Kulturen zu vermitteln sucht. Auf sie wird es letztlich ankom-
men, wenn man über musikalische und musikbezogene Bildung aus einer kul-
turwissenschaftlich orientierten Perspektive nachdenken möchte.

Kulturen als „Diagramme“

Veränderungen des realen wie auch des imaginären Raums der Sinnerzeugung
konstatierte schon Michael Alt, als er die „Dislozierung der Musik durch die
technischen Apparaturen“ beklagte (Alt, 1968, S. 16). Diese ist heute zu einer

1
Das „enge Bretterhaus“, von dem im obigen Motto die Rede ist, kann als ein solcher realer
Raum gelten, in dem sich imaginär Anderes ausbreiten kann und soll.
2
Insofern kann das Folgende als – nicht von vornherein beabsichtigter und durchaus anders
fundierter – Versuch einer Antwort auf die Frage gelten, der Olivier Blanchard in seinem
Beitrag in diesem Band nachgeht.

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Begegnungen zwischen Kulturen: Überlegungen zu einer Topologie für Musik 121

Selbstverständlichkeit geworden, die unser Leben begleitet und die noch wei-
ter fortschreiten wird. Insofern sind wir Zeugen eines Vorgangs, den Ernst
Cassirer als den Kern des Menschlichen beschrieben hat (vgl. Cassirer,
1944/1990): Die fortschreitende Arbeit an der Entwicklung der technischen
Medien lässt uns teilhaben an der fortschreitenden Hervorbringung einer Kul-
tur, deren Merkmale zum einen die potenzielle Verfügbarkeit ihrer Inhalte,
zum anderen deren zunehmende Diversität, aber auch ihre Hybridisierung
sind (vgl. Ahner, 2018). In diesen Merkmalen sind „die Spannungen und Rei-
bungen, die starken Kontraste zwischen den verschiedenen Kräften des Men-
schen“, auf die bereits Cassirer hinwies, unübersehbar: „Sie lassen sich nicht
auf einen gemeinsamen Nenner bringen [, aber; PWS] vervollständigen und
ergänzen einander“ (Cassirer, 1944/1990, S. 345–346).
Aus heutiger Sicht ist insbesondere der erste Teil dieser Feststellung zu un-
terstreichen, verweist er doch bereits auf zentrale Gründe dafür, dass die post-
moderne Kultursoziologie in Anbetracht neuerer Entwicklungen kulturellen
Handelns seit Jean-François Lyotards Das postmoderne Wissen versuchte, „Alter-
nativen zu einem linearen Modell der Moderne als strukturelle Steigerung
(Differenzierung, Rationalisierung, Individualisierung etc.) und als Diffusi-
onsprozess“ zu entwickeln (Reckwitz, 2016, S. 31–32). Eine dieser Alternativen
kultursoziologischer Darstellung – und zugleich eine einleuchtende Konse-
quenz aus dem, was Wolfgang Welsch im Rekurs auf Lyotard als Abkehr von
den großen „Meta-Erzählungen“ charakterisiert hat (Welsch, 1997, S. 32) – ist
Dirk Rustemeyers Vorschlag, Cassirers Vorstellungen einer Semiose zu unter-
ziehen (vgl. Rustemeyer, 2009, S. 51–56), als deren Ergebnis sich Kultur nicht in
der Einheit eines großen Ganzen darstelle, sondern als Kumulation erschlosse-
ner und immer wieder neu zu erschließender Elemente von Sinngenerierung,
die sich insgesamt nicht zu einer Summe fügen, sondern lediglich Einzeich-
nungen in einem „Diagramm“ sind, das auf Kultur als unaufhaltsamen Pro-
zess verweist (ebd., S. 30–38).
Nicht nur vor diesem Hintergrund, sondern auch vor dem des von Andreas
Reckwitz vorgeschlagenen Konzepts der „Hybridisierung“ (vgl. Reckwitz, 2016,
S. 41–48) muss das Menschenbild Cassirers ebenso wie seine holistische Vorstel-
lung von Kultur diskutiert werden. Festzustellen ist zunächst, dass der Mensch,
der nach Cassirer in Kultur „als den Prozess der fortschreitenden Selbstbefrei-
ung“ (Cassirer, 1944/1990, S. 345) involviert ist, ein Idealtypus ist, dessen Profil
eher von Hoffnungen als von Tatsachen markiert wird. Im Zusammenhang
damit ist der Kulturbegriff, den Cassirer entfaltet, ein universalistischer Begriff,
der die „Einheit“ von „Sprache, Kunst, Religion und Wissenschaft“ (ebd.) um-
fassen soll. Ferner wird man der teleologischen Fortschrittsvorstellung und

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122 Peter W. Schatt

dem daran gebundenen Gedanken der Emanzipation der Menschheit nicht


mehr ohne weiteres folgen können. Selbst wenn man dies aber infrage stellt,
bleibt festzuhalten, dass die Funktionen der von Cassirer ausgewiesenen kultu-
rellen Bereiche, nämlich die oben angedeutete wechselseitige Vervollständi-
gung und Ergänzung der verschiedenen „Kräfte“ des Menschen zu bewirken,
durchaus wirksam sein können. Sie verwirklichen sich indessen nicht von
selbst, sondern müssen von Menschen realisiert werden, und zwar in zirkelhaf-
ter Wechselbeziehung zwischen Individuum und Kollektiv. Menschen auf diese
Möglichkeit und die Eigenart dieses Prozesses der Bedeutungserzeugung auf-
merksam zu machen und dabei zu unterstützen, diese zu nutzen, gehört zu den
zentralen Aufgaben der wissenschaftlichen und praktischen Disziplin, die
letztlich die Verwirklichung von Kultur im Blick hat: der Pädagogik. Insofern
kann, bezieht man dies auf Musikkultur, die hier umrissene kulturelle Diversi-
tät unseres Lebensalltags nicht zuletzt als eine sozialpsychologische Herausfor-
derung an musikpädagogische Reflexion gelten, sofern diese dazu beitragen
soll, den Menschen zu einem gewinnbringenden, verständigen Umgang mit
den musikalischen Gegebenheiten ihres Lebens zu verhelfen.

Kulturen und Musiken

Vor dem Hintergrund der Überlegungen Cassirers kann man Kulturen im


Rekurs auf Reckwitz als Ensembles von Praktiken auffassen, in deren Rah-
men einerseits dasjenige hervorgebracht wird, was Cassirer als „symbolische
Formen“ (Cassirer, 1921-22/1956) bezeichnete; andererseits beruhen diese
Praktiken zugleich auf eben jenen Formen. Entscheidend für dieses dyna-
misch-prozesshafte, dialektische Verständnis von Kultur ist die Tatsache, dass
„symbolische Form“ für Cassirer keineswegs eine objekthafte Manifestation
war. Vielmehr verstand er darunter eine Aktivität „des Geistes […], durch wel-
che ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen
geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird“ (Cassirer, 1921-
22/1956, S. 175). In den „symbolischen Formen“ nimmt demnach menschliches
Verstehen von Wirklichkeit Gestalt an, verwirklicht sich Weltaneignung – und
genau dadurch ermöglichen sie diese auch Anderen.
Die Praktiken einer solchen Aneignung freilich bestehen nicht nur in geisti-
gen Aktivitäten, sondern umfassen alles, womit der Mensch sich der Welt zu-
wenden kann. Indem „Musiken gemacht, gespielt, gehört oder nachvollzogen,
rezipiert, angeeignet werden, sind sie vorhanden“ (Kaiser, 1998, S. 107) dank
der Tatsache, dass Menschen sich den einschlägigen Praktiken im leiblichen
Vollzug widmen. Die Eigenarten dieses Vollzugs freilich und die Erwartungen

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Begegnungen zwischen Kulturen: Überlegungen zu einer Topologie für Musik 123

an Andere hinterlassen ihre Spuren in den Formen, die daraus hervorgehen,


sodass nicht jedem jede Praktik mit jeder Musik möglich ist.
Insofern ließe sich auch jedes Musikstück gleichviel welcher Provenienz als
Ergebnis einer Positionierung beschreiben und aufgrund seiner spezifischen
Geformtheit und der darauf beziehbaren Symbolfunktion in einem imaginä-
ren Diagramm „Musikkultur“ verorten.
Die Modalitäten der Weltaneignung im Rahmen von Produktion, Reproduk-
tion, Rezeption und Distribution von Musik lassen sich mit den Vorstellungen
einer disziplinären Matrix der Musikpädagogik erfassen, um deren Entfaltung
sich Stefan Orgass seit geraumer Zeit bemüht (vgl. dazu ausführlich Orgass,
2011). Im Zentrum seiner Überlegungen steht die Überzeugung, dass es im-
mer, wenn Menschen sich damit befassen, Wirklichkeit zu deuten, um das
Zusammenwirken von Bedeutung, Bedeutsamkeit, Interaktion und den dar-
auf bezogenen Interpretanten geht – ein Zusammenwirken, durch das einzig
und allein alle Gegebenheiten des Lebens im sozialen Kontext Geltung erlan-
gen können. Man kann demnach Kultur im Ganzen als eine Kumulation von
Entfaltungen des Sozialen auffassen, als ein „Ensemble von Praktiken, Sym-
bolen und Subjektformen“ (Reckwitz, 2016, S. 162), deren „implizite Wissens-
formen“ (ebd., S. 224) im Einzelnen in verschiedensten Artikulationen – eben
dem, was Cassirer „symbolische Formen“ nannte – in Erscheinung treten bzw.
wahrgenommen werden. Musiken wiederum wären solche Formen, in denen
Auffassungen von Kulturen zur Darstellung gelangen. Sie sind „Darstellun-
gen“, nicht „Repräsentationen“ (vgl. Rustemeyer, 2009, S. 9) und können als
Interpretanten von Kultur gelten – als Anlässe fungieren, auf Bedeutung, Be-
deutsamkeit und Kommunikation sowie Interaktion in Kulturen zurückzu-
schließen und deren Grundlagen zu rekonstruieren, indem man in interaktiver
Kommunikation Aussagen über Bedeutung und Bedeutsamkeit von Musik zu
gewinnen sucht. Diese Auffassung entspricht Rustemeyers wegweisendem
Gedanken, die „symbolischen Formen“ der Idee einer „diagrammatischen
Welterzeugung“ zuzuordnen (vgl. Rustemeyer, 2009, S. 46).

Musik als „symbolische Form“ von Bedeutungskonstruktion

Legitim ist eine solche Auffassung von Musik als eine der „symbolischen For-
men“ von Kultur, weil in Musik während ihrer Entstehung im Rahmen einer
komplexen Mimesis all dasjenige einfließt, was ihr bei späterem Gebrauch Gel-
tung verschaffen soll: Wertvorstellungen, Vorstellungen vom Umgang mit
Regeln und Normen nicht nur musikalisch-ästhetischen, sondern auch alltäg-
lich-usuellen Charakters (vgl. Schatt, 2011). Musik ist damit Ergebnis und

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124 Peter W. Schatt

Anlass kulturellen Handelns und somit sozial nicht nur fundiert, sondern
auch auf das Soziale ausgerichtet. Sie kann als „tönender Ort“ gelten, von dem
aus Kultur zugänglich werden kann, wenn dieser „Ort“ mit seinen sinnlich
wahrnehmbaren Eigenarten Ausgangspunkt für Handlungen wird, die das
sinnlich Wahrnehmbare auf seine Ursachen und die damit verbundenen bzw.
verbindbaren Bedeutungen im Rahmen von z. B. Normen, Wertvorstellungen,
Orientierungen für Ordnungen, Weltbildern oder Menschenbildern beziehen.
Diese Bedeutungen schlagen sich in Bedeutsamkeitszusammenhängen nieder,
menschlichen Praxen nämlich nach Maßgabe von oder in Orientierung an die-
sen Bedeutungen, die konstitutiv für Sprache, Recht oder Kunst sind.3 Die
besondere Herausforderung an Orientierung in unserer Zeit besteht fraglos in
der virtuellen Omnipräsenz solcher Bedeutungen und Bedeutsamkeiten sowie
in deren Pluralität und Diversität. Diagrammatische Beschreibungen können
diese zwar darstellen, sind aber keine Hilfen für Entscheidungen, vor die der
Mensch sich in seiner Alltagspraxis unausweichlich gestellt sieht.
Bedeutungen und Bedeutsamkeiten können und müssen durch Anerken-
nung Geltung gewinnen, und zwar in einem bestimmten Raum für bestimmte
Zeit und für bestimmte Menschen. Worin Kultur besteht, konstruieren wir
mithilfe dessen, was wir unterscheidend wahrnehmen und wofür wir uns ent-
scheiden: wie wir essen, wohnen, unsere Gärten anlegen, tanzen, singen, spre-
chen, musizieren, beten usw., und indem wir die Bedeutsamkeit dieser Hand-
lungen zusammenfassend und als Orientierungshilfe unter Oberbegriffen wie
Sitte, Gebräuche, Sprache, Musik, Tanz, Theater, bildende Kunst, Religion so-
wie deren Regeln, Normen und Ritualen verorten. Sofern Bedeutungen an
„konkrete sinnliche Zeichen“ (Cassirer, 1921-22/1956, s. o.) gebunden sind, kann
Kultur quasi punktuell gegenständlichen Charakter annehmen und in Gestalt
von Texten, Bildern, Kompositionen, Ritualen usw. in Erscheinung treten. Inso-
fern sind z. B. Bilder, Musikstücke, Aufführungen, fiktionale und nicht fiktio-
nale sowie wissenschaftliche Texte, Werbung, Filme, Gottesdienste sinnlich
wahrnehmbare Ausgestaltungen – quasi Interpretationen – dessen, was wir
unter diese Oberbegriffe fassen, und sie alle sind wiederum interpretationsbe-
dürftig, wobei die Bedeutungen ihrerseits im Rahmen einer komplexen Semi-
ose durch Kommunikation und Interaktion in Geltung gesetzt und ausgehan-
delt werden (vgl. Rustemeyer, 2009, S. 46). Dieser Prozess muss keineswegs rein

3
Rolf Grossmann weist darauf hin, dass sich erst auf der Ebene der „kulturelle[n] Formung von
Klängen“, die für ihre Identifikation und ihre Sinnkontexte zuständig sei, Musik als „abgrenz-
bares System kommunikativen Handelns oder kulturelles Dispositiv“ finden lässt (Gross-
mann, 2013, S. 63).

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Begegnungen zwischen Kulturen: Überlegungen zu einer Topologie für Musik 125

geistig-intellektuellen Charakters sein, sondern kann auch durch schlichte


Alltagshandlungen vollzogen werden: Anerkennung und Ablehnung können
sich im Besuch von Aufführungen oder im Verzicht darauf darstellen, im Bei-
fall, den man spendet oder nicht, im rhythmischen Mitklatschen zu einem Lied
oder im Mitgehen bei einem Schlagermove, im Erwerb von einschlägigen Do-
kumentationen oder in der Lektüre erläuternder Schriften. Bei all diesen Prak-
tiken ist der Mensch in seiner leiblichen wie in seiner sozial-kulturellen Ver-
fasstheit in die symbolischen Formen ebenso wie in die soziale Wirklichkeit
kommunikativ und interaktiv eingebunden.
Beispiele dafür, dass durch Musik Kultur reflektiert und interpretiert wird,
könnten zahlreich genannt werden. Hier sei an Charles Ives’ Central Park in the
Dark erinnert, eine tönende Reflexion des Großstadtlebens aus der Sicht des
amerikanischen Transzendentalismus; an den indischen Gebrauch der Ragas,
bei dem nicht nur die Zentraltöne, charakteristische melodische Wendungen
und Verzierungen konventionell festgelegt sind, sondern auch Aufführungs-
orte, -zeiten und -anlässe sowie die Empfindungen, die erzeugt werden sollen.
Ferner sei an Musiken erinnert, die als Interpretationen der Möglichkeiten,
Kulturen – sei es hinsichtlich ihrer Ausdrucksformen, ihrer Artikulationswei-
sen oder ihrer moralischen Einstellungen – miteinander zu verbinden, aufge-
_
fasst werden können wie z. B. Hans Zenders Furin no kyo oder Bernd Alois
Zimmermanns Trompetenkonzert über Nobody knows.4
Die auf die „symbolische Form“ Musik gerichteten Praxen bzw. ihre Verge-
genwärtigung und Deutung durch sprachliche, bildnerische oder auch tönende
„Interpretanten“ sind insgesamt deswegen so heterogen, vielschichtig und
komplex, weil Musik als Inbegriff eines nicht-repräsentationalen Zeichens (vgl.
Rustemeyer, 2009, S. 88–89) aufzufassen ist. Als Beispiel für den radikalen Re-
kurs eines Komponisten auf den nicht-repräsentationalen Charakter musika­
lischer Zeichen und die Konstituierung eines imaginären Raums des Sinns sei
hier auf Karlheinz Stockhausens Gruppen verwiesen. In dieser Komposition ist
alles „Identische“ sowohl in musikalischer als auch in musikbezogener Hin-
sicht ausgeblendet, und zwar durch eine streng mathematische, serielle Organi-
sation der Eigenschaften jeden einzelnen Klanges und seiner Konfigurationen.
Was sinnlich wahrnehmbar ist, kann hinsichtlich seiner musikalischen Bedeu-
tung nur als Verweis auf eine solche nicht hörbare Ordnung gelten. Damit aber
wird zugleich eine nicht-musikalische Bedeutsamkeit inszeniert: Das Werk ist
eine Aufforderung bzw. Stimulation zur rein aisthetischen Wahrnehmung,

4
Zahlreiche weitere Beispiele – auch aus dem Jazz und der populären Musik – sind bei Sachsse
& Schatt, 2016 und 2017, zu finden.

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126 Peter W. Schatt

weil die „normalen“ Schemata nicht funktionieren. Indem wir die ­ Er-
scheinungen nicht in Übereinstimmung mit den gewohnten Kategorien
­tradierter Musik wie Motiv, Thema, Dissonanz und Konsonanz oder Harmo-
niefolge, Spannung und Auflösung bringen, sondern nur als z. B. Wandel, Kor-
respondenz oder Diffusion von Strukturen und Texturen einordnen können,
kann das Werk als „Interpretant“, als tönender Beitrag zum damaligen Diskurs
über Gestaltung und Verlauf von Raum und Zeit in der Musik gelten.
Freilich ist dieser „Interpretant“ selbst durchaus interpretationsbedürftig,
denn diese Komposition ist ein Beispiel für einen Teilbereich der Hochkultur,
dem man zwar irgendwie „begegnen“ kann (wenn man sich denn überhaupt
zum Hören entschließt), zu dem es aber nur unter großen Anstrengungen eine
„inter-“ oder „trans-“ Beziehung geben wird, wenn die Identität des Subjekts,
das sich dieser Begegnung aussetzt, nicht darauf gerichtet ist.
Dieses Beispiel zeigt, dass Musik zwar als „sinnliches Zeichen“ i.S. Cassirers
(1921-22/1956, s. o.) „konkret“ im Rahmen der jeweiligen Praxis wahrnehmbar
ist, dass aber weder ihr „geistiger Bedeutungsgehalt“ (Cassirer, ebd.) feststeht
noch klar ist, wer ihn in welcher Weise an sie knüpft. Anders als bei z. B. Ver-
kehrszeichen, deren Bedeutungen in normativer Weise administrativ gesetzt
und kommunikativ verhandelt sowie zur Geltung gebracht wurden, müssen
Bedeutung und Bedeutsamkeit nicht-repräsentationaler Zeichen immer wie-
der aufs Neue in Kommunikation und Interaktion hervorgebracht werden.
Solche Zeichen vergegenwärtigen und veranlassen zunächst ein Denken in
Strukturen und Relationen, in Verhältnissen und Funktionen und erst dann in
Inhalten – sie eröffnen gewissermaßen einen imaginären Raum, der zur Sinn-
generierung einlädt. Deren Beschreibung ist das Anliegen einer Topologie von
Musik, die in einer diagrammatischen Darstellung von exemplarischen Einzel-
fällen zu bestehen hätte, statt – wie Martin Heidegger es in seiner Topologie
des Seins tat – nach einem umfassenden Sinnhorizont zu fragen, der „alles
Seiende und den Menschen selbst in dessen Wesen verstehbar macht“ (Schle-
gel, 1998, Sp. 1291).

Perspektiven für (Musik-)Unterricht als Kultur der Begegnung

Fällt bei der Suche nach Hilfen für den pädagogischen Umgang mit dem kul-
turell Fremden bzw. kultureller Heterogenität im Musikunterricht der Blick
zunächst auf ältere Vorschläge, so findet man Vorstellungen, die im Span-
nungsfeld von Kompensations-, Abbild- und Verweigerungsdidaktik ange-
siedelt waren. Dabei geraten unterschiedliche Bereiche von kultureller Fremd-
heit in den Blick: die Differenzen zwischen Hochkultur und Jugendkultur

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(vgl. z. B. Alt, 1968), zwischen „abendländischer“ und „außereuropäischer“ Kul-


tur (Helms, 1976, S. 3), zwischen „Neuer“ und tradierter Musik (vgl. Zimmer-
schied, 1986), zwischen Schulkultur und Jugendkultur (vgl. Terhag, 1989, 2006).
Heute scheint die Frage zu lauten: Wie kann man Fremdheit eine bedeu-
tungs- und bedeutsamkeitsgenerierende Achtsamkeit widmen, ohne bereits
gewonnene Identität zu beeinträchtigen? Und wie kann man im Musikunter-
richt Schülerinnen und Schüler dazu bewegen bzw. stimulieren, dies zu tun?
Wird nicht notwendigerweise bei allen Begegnungen entweder das Bild des
Fremden vom Eigenen überlagert, mitbestimmt und dadurch verfälscht oder
aber umgekehrt das Bild der eigenen kulturellen Identität verfremdet bzw.
diese sich selbst entfremdet?
Am Beispiel des Aufbaus traditioneller Museen, deren Auftrag ja auf Ver-
wirklichung von Bildung durch Information und Veranschaulichung gerichtet
ist, zeigen sich deutlich die Strukturen der Verfremdung des Fremden, wenn es
für eine Begegnung mit Anderen hergerichtet wird: Durch Isolierung der Ob-
jekte aus ihren Kontexten, durch Transferierung in den Kontext des Museums
und durch die dort vollzogene neue Ordnung erfolgt eine radikale Anpassung
der „symbolischen Formen“ anderer Kulturen an die eigenen Bedürfnisse. Mu-
seen haben daraus Konsequenzen gezogen: Die Umbenennung des „Museums
für Völkerkunde“ in Hamburg in MARKK: „Museum am Rothenbaum Kultu-
ren und Künste der Welt“ ist das Ergebnis einer Besinnung, die durch die De-
signer des Plakats zur Neueröffnung in das Motto gefasst wurde: „Geht ins
MARKK“. Begründet wurde diese Aufforderung, die zugleich eine These ist,
mit der Einsicht: „Wer sich mit Kulturgeschichte beschäftigt, wird unweiger-
lich auf sich selbst zurückgeworfen“ (zitiert nach Hamburger Abendblatt vom
12.09.2018, S. 19).
Ein Gemälde wie Orientalisches von Wassily Kandinsky (1909) lässt eine
­solche wechselseitige Beziehung anschaulich werden: Es wird deutlich, dass
eine Anpassung des Fremden bei der Begegnung mit anderen Kulturen zwar
offenbar unumgänglich ist, jedoch gleichzeitig eine fundamentale Verände-
rung des Eigenen bewirken kann.
Maler*innen wie Kandinsky oder Komponist*innen wie die genannten zei-
gen nicht, dass sie die fremde Kultur, mit deren Hervorbringungen sie sich
befasst haben, im emphatischen Sinne „verstanden“ haben – ein kulturelles
Produkt verstehen heißt ja im konstruktivistischen Sinne, sich so im jeweili-
gen Medium oder aber in anderer Form darüber äußern zu können, dass diese
Äußerung mit den mutmaßlichen Erwartungen eines in die entsprechende
Kultur „Eingeweihten“ übereinstimmt (vgl. Schatt, 2007, S. 45–46). Dies jedoch
ist davon abhängig, in welchem Maße man sich mit den jeweils fremden

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128 Peter W. Schatt

­ edeutungen und Bedeutsamkeiten hat vertraut machen können – sei es


B
durch funktionale Enkulturation oder durch gezieltes Lernen. Die genannten
Beispiele sind vielmehr Zeugnisse dafür, dass Menschen sich überhaupt auf
das Fremde eingelassen haben – Zeugnisse für dasjenige, was Hartmut Rosa
mit dem Begriff „Resonanz“ umriss: eine Form von Korrespondenz zwischen
Menschen bzw. zwischen Mensch und Welt, bei der eine nicht nur intellektu-
ell, nicht nur emotional, sondern umfassend leiblich fundierte Beziehung er-
wirkt wird (vgl. Rosa, 2016).
Ob Menschen im Rahmen ihrer Praktiken in die Resonanz kommen, hängt
von der Weise ab, in der sie sich den Phänomenen der Welt zuwenden, sowie
der Haltung bzw. Einstellung, die sie dabei verwirklichen. Resonanz wird sich
nicht ergeben, wenn diese Zuwendung nicht von Aufmerksamkeit und Acht-
samkeit getragen ist. Letztlich läuft dies immer auf eine ästhetische – nämlich
selbstbezügliche und vollzugsorientierte, nicht instrumentelle und pragma-
tisch-zielorientierte – Zuwendung hinaus (vgl. Seel, 1996). Auch und gerade in
der Resonanz allerdings bleibt der Mensch auf sich bezogen, obwohl er glaubt,
die „Antwort“ des Anderen zu hören. Nicht die Dinge oder die Anderen „ant-
worten“ nämlich in der Resonanz: Was als ihre Antwort erscheint, ist eine
Projektion der subjektiven Konstruktionen auf die Phänomene der „Welt“.
Diesen Vorgang hat Christoph Wulf am Beispiel sozialen Handelns als
­mimetisches Lernen beschrieben:

„Dabei wird eine Beziehung zu anderen Menschen und deren Handeln herge-
stellt. […] Entscheidend ist jedoch nicht die Ähnlichkeit, sondern die Herstellung
einer Beziehung zu einer anderen Welt. […] Trotz des Begehrens, ähnlich zu wer-
den, besteht ein Verlangen nach Unterscheidung und Eigenständigkeit. Aus die-
ser Ambivalenz entsteht soziale Vielfalt“ (Wulf, 2005, S. 8).

Bisweilen beschränkt sich dieses „Begehren“ auf die Brauchbarkeit im eigenen


Kontext. Ein Beispiel dafür ist der Rekurs auf fremde Musiken in Pierre Boulez’
Pli selon pli: Die Klänge der Instrumente fremder Kulturen wurden hier auf
raffinierte und vielfältige Weise amalgamiert, um das Fortbestehen bzw. den
Fortschritt der eigenen Kunst zu gewährleisten. Boulez kommentierte dies mit
dem Worten: „Bestimmte klassische Besetzungen unserer Tradition sind der-
maßen belastet mit ‚Geschichte‘ und ‚Geschichten‘, dass man die Fenster zur
Welt weit aufstoßen muss, um nicht an ihnen zu ersticken“ (Boulez, 1972,
S. 138). Ein an diesen Gedanken von Mimesis und Resonanz orientierter Mu-
sikunterricht müsste von dem Wunsch der Schülerinnen und Schüler getragen
sein, es Anderen gleich zu tun, Ähnlichkeiten mit den Handlungsweisen An-
derer herzustellen. Dieser Wunsch könnte entweder in realer Anwesenheit

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dieser Anderen oder in deren symbolischer Vermittlung, die durch Medien


erwirkt werden kann, geweckt werden. Als Vorbilder können Musiker wie
John McLaughlin gelten, der in der Gruppe Shakti mit indischen Instrumen-
talisten zusammenarbeitete. Zu erinnern wäre auch an die zahlreichen Pop-
und Jazzmusiker*innen, die sich bei ihrer Arbeit auf genuine afrikanische
Musik bezogen – zu nennen wären hier z. B. Damon Albarn oder Herbie
Hancock (vgl. Sachsse & Schatt, 2017). Sie könnten junge Menschen dazu
anregen, u. a. durch Live-Improvisation oder in Kompositionsversuchen sich
entweder direkt mit Menschen anderer Enkulturation in „Resonanz“ zu
bringen oder eine solche Resonanz durch das musikalische Material zu er-
zeugen, mit dem man arbeitet. In dieser Hinsicht wären natürlich Kompo-
nistinnen und Komponisten wegweisend, die sich auf fremde Musik einlie-
ßen, um eine neue eigene zu produzieren (vgl. Sachsse & Schatt, 2016 und
2017). Ihre Kompositionen weisen eine kulturbezogene Intertextualität auf5,
die als Vergegenwärtigung von „Schnittstellen“ (vgl. Merkt, 2010) zwischen
den Bedeutungen von Musiken verschiedener Kulturen gelten kann, die an-
dere bereits gefunden und für ihre künstlerische Arbeit fruchtbar gemacht
haben. Natürlich artikuliert sich auch in solchen Kompositionen eine eige-
ne – hybride – Kultur, die z. B. in Schulklassen ihre Anhänger und Gegner
finden kann. Dies und mögliche Konsequenzen hat Johann Honnens am
Beispiel der arabesk-Musik eindrucksvoll gezeigt (vgl. Honnens, 2017). Die
Ähnlichkeit hybrider Werke mit bekannter Musik wäre jedoch zumindest ein
Anknüpfungspunkt für die eigene „Herstellung einer Beziehung zu einer an-
deren Welt“ (Wulf, s. o.). ­Kulturübergreifende, „crossover“-Kompositionen als
symbolische Formen für eine Kultur der Resonanz würden so zum Anlass
einer dialogischen Begegnung, wenn eine von gegenseitigem Respekt getra-
gene reale musikalische Begegnung zwischen Vertreterinnen und Vertretern
unterschiedlicher Kulturen nicht möglich ist. Dass der Preis für Mimesis und
Resonanz immer in Hingabe von Eigenem und Verfremdung des Anderen
besteht, macht eine solche Beziehung pädagogisch nicht weniger wertvoll:
Wahrscheinlich ist bei der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen der
größte Gewinn für alle Beteiligten aus der Beobachtung und Reflexion solcher
Prozesse zu ziehen. In jedem Falle würde dabei Kultur auch im Unterricht
realisiert als „fortwährende geteilte bedeutungs- und sinnkonstruierende An-
eignung des geteilten bedeutungs- und sinnkonstruierend Angeeigneten von
Welt“ (Barth, 2018). Würde dies auf die Unterrichtsprozesse selbst durchschla-
gen, könnte Unterricht – nicht nur in Musik – zu einer eigenen Kultur der

5
Vgl. dazu den Beitrag von Bernhard Weber in diesem Band.

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130 Peter W. Schatt

­ egegnung mit dem Anderen bzw. den Anderen werden (Krause, 2007; Schatt,
B
2008, S. 222–224) – einer Begegnung, die sich in Praktiken zu bewähren hätte,
die zwischen Auseinander- und In-Eins-Setzung oszillieren.

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Begegnungen zwischen Kulturen: Überlegungen zu einer Topologie für Musik 131

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Christopher Wallbaum

Dritte Räume oder Musikpraxen erfahren und vergleichen


Eine glokal kulturreflexive Prozess-Produkt-Didaktik

‘Third Spaces’ or: Model for Comparative Praxial Music Education

Der Text stellt das Modell „Musikpraxen erfahren und vergleichen“ (kurz: Mev) in den
Kontext der Interkulturellen Musikpädagogik. Dabei spielt das von Homi K. Bhabha
entwickelte Konzept des dritten Raumes in Verbindung mit einem praxeologischen
Kulturbegriff eine Schlüsselrolle zur Beschreibung von kulturell gemischten und offe-
nen Situationen, die das Modell Mev auf verschiedenen Ebenen musikpädagogischer
Praxis generiert. Der Text schreitet von der Darstellung theoretischer Grundannahmen
auf der Makro-Ebene weiter zur Beschreibung zentraler Merkmale dritter Räume bis
zur exemplarischen Darstellung von Mikropraktiken einer ‚auditiven Wissensform,
um schließlich einen Vorschlag für einen ‚schülbezogenen kulturreflexiven Musikun-
terricht‘ abzuleiten.

The text places the model Musikpraxen erfahren und vergleichen (Model for Compara-
tive Praxial Music Education) in the context of intercultural music pedagogy. The
concept of third space developed by Homi K. Bhabha is connected with a praxeological
concept of culture. It plays a key role in the description of culturally mixed and open
situations, which the model generates at various levels of music pedagogical practice.
The text proceeds from the presentation of theoretical basic assumptions at the macro
level to the description of central features of third spaces, to the exemplary presentation
of micro practices of an “auditive Wissenskultur” (technical term of ‘practice theory’ for
a ‘shared implicit knowledge’ what meaningfully connects a complex of practices): to
finally derive a proposal for a ‘pupil-related cultural reflexive music teaching’.

Nachdem in bisherigen Überlegungen zum Modell „Musikpraxen (erfinden,)


erfahren und vergleichen“ (Mev) neben der kulturellen stets auch die ästheti-
sche Dimension von Musikpraxen eine wesentliche Rolle gespielt hat, was
vielfach zu einer ausschließlichen Rezeption des Modells im Kontext ästheti-
scher Bildung geführt zu haben scheint, werden im vorliegenden Text diejeni-
gen Aspekte, die in früheren Darstellungen mit Begriffen ästhetischer Theorie

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134 Christopher Wallbaum

beschrieben wurden, mit dem postkolonial kulturbezogenen Begriff des dritten


Raums nach Homi K. Bhabha dargestellt. Mit dem dritten Raum ist im Prinzip
ein sozialer Raum und damit verknüpft ein Denk- und Erfahrungsraum
gemeint, der entsteht, wenn zwei oder mehr verschiedene Kulturräume einan-
der überlagern bzw. durchdringen, zum Beispiel, weil eine Kolonial- oder
Besatzungsmacht sich zurückzieht, ihren Machtanspruch aufgibt und zunächst
ein Machtvakuum hinterlässt, in dem Praktiken bzw. Kulturtechniken oder
Regeln aus verschiedenen Kulturen gleichzeitig praktiziert werden, ohne dass
irgendjemand sagen könnte, welche gilt.

Abb. 1: Dritte Räume finden sich im Modell „Musikpraxen erfahren und vergleichen“ (Mev)
in den Zonen der Musikpraxis und des Vergleichens sowie in einem abgeleiteten Sinn
in der Fundus- oder Korb-Zone.

Die Idee des Modells Musikpraxen erfahren und vergleichen (Mev, siehe
Abb. 1) besteht darin, dass Schüler*innenwesen (ich nenne sie ab jetzt kurz
Schül, Singular das Schül) in der Schule mit musikalischen und musikbezoge-
nen Praktiken, Artefakten, Narrativen und Verkörperungen aus verwandten
Kulturen musikalisch dritte Räume (Musikpraxen) zusammenstellen, deren
mögliche Qualitäten probieren und erfahren und dass sie dann im Lauf der
Schulzeit verschiedene solcher dritten (Musik-) Räume vergleichen, ohne
dass ein normatives Tertium Comparationis von außen an die Vergleichsge-
genstände herangetragen würde. Die Praxis des Vergleichens verschiedener,
selbst gestalteter Musikpraxen lässt sich erneut als dritter Raum beschreiben.
Durch das Praktizieren gewinnen die Schül Erfahrung mit grundverschie­
denen Möglichkeiten musikalischer Praxis und durch das distanzierende

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Dritte Räume oder Musikpraxen erfahren und vergleichen 135

Vergleichen Orientierungswissen, das ihnen bei der Entscheidung für oder


gegen Musiken in der eigenen Lebensführung sowie bei Begegnungen mit
unbekannten Musikpraxen oder -kulturen außerhalb der Schule nützen kann
(vgl. Wallbaum, 1998a, 2005, 2013; Kaiser, 2010).
In der Diskussion des Modells tun sich viele Fragen auf, von denen ich ein-
zelne etwas ausführlicher beleuchten möchte: (1) Zur Geschichte von Mev (2)
Was ist der Job der Musikdidaktik? (3) Kann man Kulturen aus praxistheoreti-
scher Perspektive benennen, ohne sie für die Zukunft zu fixieren? (4) Merkmale
dritter Räume als kultureller Hybride (5) Musikpraxen – auditive Wissenskul-
turen (6) Probleme der Auswahl für allgemeinbildenden Musikunterricht und
das Herstellen und Vergleichen verschiedener dritter Räume als Lösung für
einen gleichermaßen global, lokal und schülbezogenen kulturreflexiven Mu-
sikunterricht.

1. Zur Geschichte von „Musikpraxen erfahren und vergleichen“

Mev steht seit seinen Anfängen um 1990 (auch) im Kontext Interkultureller


Musikpädagogik, die Musiken ebenso wie Schül als verwoben in soziokultu-
relle Zusammenhänge versteht. Das Modell stellt eine mögliche Lösung für
Probleme dar, die sich in einer zunehmend globalisierten und zugleich lokal
gelebten Welt für Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen ergeben.
Dass die bisherigen Darstellungen des Modells1 kaum als Beiträge zur Interkul-
turellen Musikpädagogik (IMP) rezipiert wurden, könnte verschiedene
Gründe haben. Zum einen war die Diskussion nach Merkt (1983) primär an
Migrant*innenkindern und den musikalisch-kulturellen Hintergründen ihrer
Eltern interessiert – vgl. Ott, 2012: „Linie 1“ –, zum anderen war IMP in „Linie 2“
an den Musiken ferner, anfangs „außereuropäischer“ Länder in Asien und
Afrika interessiert. Im Unterschied dazu sind die Überlegungen zu Mev, nach
einem Studium bei dem international vergleichenden Musikwissenschaftler
Jens Peter Reiche2, von Unterrichtserfahrungen in einem Schul-Modellversuch
zur Profiloberstufe angeregt worden, in dem es konkret um das Fach Musik in
einem Profil „SPUK: Sprachen- und Kulturenvielfalt“ ging (vgl. Wallbaum,
1997). Die Schül dieser gymnasialen Oberstufe an der Max-Brauer-Schule in
Hamburg brachten über 30 verschiedene Migrationshintergründe ein, dazu

1
Vgl. grundlegend Wallbaum, 2007/2013 und im Überblick 2016, kompositionspädagogisch
Wallbaum, 2018c sowie metaphernorientiert Oberschmidt & Wallbaum, 2014 und an zwei
hochschuldidaktischen Fallbeispielen Krämer & Wallbaum, 2014.
2
Zu dessen Rolle zwischen Musikethnologie und Musikpädagogik vgl. Clausen, 2018, S. 71.

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136 Christopher Wallbaum

verschiedene Milieus und Schulbiographien. Der kulturreflexive Blick auf die


diversen wenig und die wenigen vertrauteren Musikpraxen war für diese
Lehr-Lern-Situationen doppelt konstitutiv, nämlich als Bedingung und als
Gegenstand von Unterricht. Thematisiert wurden vorrangig die musikalischen
Kulturen der meisten Schül, also Jugendkulturen und Filmmusik, und
„fremde“ musikalische Kulturen, die ich als deutscher Musikhochschulabsol-
vent einbringen konnte und je nach Situation auch einbrachte: Alte Musik,
Bach/Barock, Klassik-Romantik, Neue Musik und Jazz, dazu Geräuschkunst/
Futurismus/Cage, Samba-Trommeln und populäre Musik, jeweils ebenfalls in
kulturreflexiver Perspektive.3
Der Kulturbegriff von Mev hat sich einerseits aus der linguistischen Sprach-
theorie (vgl. Saussure, 1967; Bühler, 1934; Wittgenstein, 1953; Whorf, 1956; Savi-
gny, 1969; Beutin, 1976; Habermas, 1983 u. a.) und andererseits aus der soziolo-
gischen Erforschung von Jugendkulturen (vgl. Shell-Studien, 1985, 1991, 1993;
als Vertreter der Birmingham School Willis, 1991; Baacke, 1993; Otte, 2007 so-
wie Bourdieu, 1982 und Blaukopf, 1982) abgeleitet. Wenn Vogt (2018) also
schreibt, dass Elliott (1995) „die Vorlage für alle ‚praxialen‘ Ansätze der Folge-
zeit“ gewesen sei, dann stellt Musikpraxen erfahren und vergleichen eine
Ausnahme dar (vgl. Vogt S. 15). Einige dieser Theoriehintergründe wurden
später von Theodore Schatzki, 1996 (fußend auf Wittgenstein) und Andreas
Reckwitz, 2003 (fußend auf Kultursoziologie) zu einer Praxistheorie oder
­Praxeologie entwickelt und sind seit einiger Zeit auch in der Unterrichtsfor-
schung (vgl. Proske & Rabenstein, 2017) und Philosophie des Musikunterrichts
bzw. der Musikpädagogik geläufig (vgl. Barth, 2018). Sie entsprechen ohne
weiteres den Grundlagen von Mev.4

3
Vgl. grundsätzliche Überlegungen von Nettl, 1989 und konkrete (auch) Unterrichtsbeschrei-
bungen in Wallbaum, 1993, 1994, 1997, 1998a, 1998b, 2001, 2003, 2010, 2012, 2013. Das in Wall-
baum, 1998a beschriebene Projekt mit Schül enthält in nuce alle Merkmale von Mev. Die
Unterscheidung von jugendlichen Musikkulturen, deren Konturen im Unterricht von den
Schül selbst für das Projekt konstruiert worden waren, wurde von Klingmann (2010) als Fest-
schreibung gelesen und zurückgewiesen. Aus der Mev-Perspektive war das ein Missver-
ständnis. Ders. erwähnt 2012 auch das Konzept des dritten Raumes.
4
Zentraler Gedanke ist, dass Kulturen das Ergebnis von Praktiken sind, aus deren Kombina-
tion oder Konstellation in der Praxis Sinn bzw. Bedeutung entsteht. Auch Dorothee Barth
(2008) beruft sich bei ihrer Verwendung des bedeutungsorientierten Kulturbegriffs auf Reck-
witz (2000). In Wallbaum, 1993, S. 80–84 findet sich ein Bogen von einem kritischen Wittgen-
stein-Zitat zur Ethnomethodologie von 1937 über verschiedene damalige musikpädagogische
Forschungsergebnisse bis zu einem sozialen Praxisbegriff im Sinne der cultural studies. Die
damit verknüpfte musikdidaktische Empfehlung wäre ohne weiteres mit Mev vereinbar.

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Dritte Räume oder Musikpraxen erfahren und vergleichen 137

2. Der Job der Musikdidaktik (Vom Urknall bis zum Würfel


international vergleichender Musikdidaktik)

Zunächst eine kurze Selbstvergewisserung: Was ist eigentlich der Job der Musik-
didaktik? Mir hilft für die Antwort ein kurzer Blick zurück. Aus dem Urknall
entstand unser Universum, irgendwie auch die Erde, auf der Erde die Atmo-
sphäre und Leben, schließlich Menschen. Die haben anfangs in Horden gelebt
und dabei auch musiziert, also gesungen, getrommelt und mit Klängen gespielt
(vgl. Kaden, 1993 u. 2004; Suppan, 1984; Blaukopf, 1982). Die Kinder haben die
verschiedenen Praktiken durch Mitmachen und Darüber-Reden gelernt. Praxis-
theoretisch mit Schatzki (1996, 2001) gesprochen, durch einen nexus of doings and
sayings. Jede Horde hat im Laufe der Zeit ihren nexus of doings and sayings
praktiziert, nicht selten verknüpft mit Tanz und Drogen und Narrativen von
Ahnen, Göttern und aller Dinge Anfang, sozusagen vom Urknall. Und dann
kam irgendwann die Massengesellschaft, in der es verschiedene Lebensformen
(„Kulturen“ oder auch Teilkulturen, Hochkulturen, Subkulturen, Jugendkultu-
ren usw.) und mit ihnen verknüpfte Musikpraxen („Musikkulturen“) gab und
Menschen, die gleichzeitig an verschiedenen Kulturen partizipierten, und es
wurden Staaten gebildet, die Institutionen wie die allgemeinbildende Schule
einrichteten, und darin sollte und soll Musik unterrichtet werden. In der Musik-
didaktik haben wir es daher mit zwei verschiedenen Praktikenkomplexen zu
tun: einerseits der Institution Schule und ihrem Träger, dem Staat einschließlich
der jeweiligen Regierung und ihren politischen Normen und Curricula, anderer-
seits mit Musik, die wissenschaftlich bestimmt sein soll, das heißt gültig für alle
Musikkulturen, die in der Gesellschaft praktiziert wurden und werden und
werden werden (Siehe Abb. 2: Würfel zu Dimensionen der Musikdidaktik).
Den Job der Musikdidaktik sehe ich darin, das Gefüge aus staatlich-poli-
tisch bedingten Vorgaben und solchen, die sich aus dem Begriff von Musik
ergeben, zu verstehen und dann zu kommunizieren. Zusätzlich zu den Prak-
tiken, die über allgemein pädagogische Methoden und verschiedene Musi-
ken in die Unterrichtspraxis gelangen, gibt es noch einen dritten relevanten
Faktor im Unterrichtsgeschehen, nämlich alles, was die jeweilige konkrete
Situation mit sich bringt: das Einzugsgebiet der Schule, die Einrichtung und
Ausstattung der Räume und – meistens werden sie zuerst genannt – die be-
teiligten Personen.
Der Würfel aus Abb. 2 erwies sich auch bei dem Versuch, die Insider-Be-
schreibungen von gefilmten Musikstunden aus sieben Staaten in Bezug auf
ihre Normen zu vergleichen, als geeignet, um die verschiedenen sozialen
­Felder, mit deren Praktiken Musikunterricht verwoben ist, in den Blick zu neh-

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138 Christopher Wallbaum

Abb. 2: Der Würfel zeigt grundlegende Dimensionen der Musikpädagogik, die sich aus einer
Zusammenschau international vergleichender musikpädagogischer Forschung ergeben
(Wallbaum & Stich, 2018, S. 60). Der kleine dunkle Würfel markiert den Ausgangspunkt des
Vergleichs von neun Unterrichtsvideos aus sieben Ländern (Wallbaum 2018a).

men. Es zeigte sich, dass jede der Beschreibungen, die ihren Ausgangspunkt in
jeweils einer Stunde nahmen (siehe den kleinen dunklen Würfel im großen),
zunehmend allgemeiner werdende Bezüge zu Wissen bzw. Diskurspraktiken
aus anderen sozialen Feldern herstellte. Diese reichten von lokalen Lehrplänen
über Ländergrenzen hinweg bis zu Theorien und Ideologien. Z. B. landet Leh-
mann-Wermser (2018) beim Vergleich von zwei grundverschiedenen Musikun-
terrichtsstunden aus Schottland und Niedersachsen, die beide für sich bean-
spruchen können, guten Musikunterricht darzustellen, beim Neoliberalismus
als Tertium Comparationis, von dem her deren Verschiedenheit, die ansonsten
in sich schlüssig ist, erklärbar wird.

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Dritte Räume oder Musikpraxen erfahren und vergleichen 139

Was wie ein Nacheinander auf dem Weg zur Interpretation einer Stunde
erscheint, das mag an verschiedenen Orten – Schule, Uni, Ministerien – erar-
beitet werden, aber ontologisch liegen alle Erarbeitungspraxen auf derselben
Ebene, wie Schatzki (2016) ausführt. Dementsprechend ist es für uns und un-
sere Kinder heute ganz normal, zwischen der lokal erfahrenden Teil­ neh­
mer*innenperspektive – z. B. beim Singen eines Liedes – und der global verglei-
chenden Perspektive – z. B. beim Anhören einer eigenen Aufnahme oder bei
Gesängen auf YouTube – hin und her zu switchen.

3. Kulturen unterscheiden und doch nicht fixieren

Es gibt zur Zeit starke Vorbehalte gegen jede Form von Benennungen zum Bei-
spiel einer Kultur, weil damit zwei Sorgen verbunden werden: Einerseits wird
die Gefahr gesehen, dass eine Kultur als „selbstidentisches“ unveränderliches
System verstanden werden könnte, andererseits besteht die Sorge, dass an
einer Kultur Teilhabende essentialisierend auf die Merkmale dieser Kultur
reduziert werden können. Beide Gefahren bestehen im vorliegenden, praxeolo-
gisch oder praxistheoretisch grundierten Ansatz nicht, weil es hier ausschließ-
lich um das Verstehen und Beschreiben von Praktiken und Praktikenkonstel-
lationen geht, die sich per se in einem steten, manchmal schnelleren, manchmal
langsameren Wandel befinden.
Der Praxisbegriff wird in der Musikpädagogik entsprechend verschiedener
Wissenschaftsdisziplinen unterschiedlich verwendet (ausführlicher siehe
Wallbaum & Rolle, 2018). Während der Begriff in einer philosophischen, auf
Aristoteles zurückgehenden Tradition mit ethischem Fokus verwendet wird
(z. B. bei Elliott, Regelski, Kaiser und Vogt), wird er im vorliegenden Text aus
einer kultursoziologisch geprägten Praxeologie heraus rein formal verwendet.
Prominent vertreten wird er von Theodore Schatzki (1996 u. a.) und in Deutsch-
land wurde er populär gemacht von Andreas Reckwitz (2003 u. a.). Durch den
rein formalen Begriff können verschiedene Arten von Praxis unterschieden
werden, wie ethisch-moralische, aber auch wissenschaftliche, ästhetische, au-
ditive oder pädagogische Praxisformen. Letztlich ist so alles auf Praxis zurück-
führbar. Auch Theorie wird als eine Art von Praxis begriffen: als eine oder die
Praxis des Theoretisierens.
In der soziologischen Praxeologie sind Praktiken die kleinsten Einheiten.
Hillebrandt nennt sie auch „elementare Ereignisse“ (2014, S. 109), in denen wir
soziale Praxis fassen können. Zum Beispiel wird aus einem In-die-Hände-
Klatschen als bloßer Bewegung von Gliedmaßen erst durch die soziale Einge-
bundenheit eine Praktik wie zum Beispiel das Herbeirufen eines Bediensteten,

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140 Christopher Wallbaum

eine medizinische Bewegungsdiagnose, ein Applaudieren oder eine Musizier-


praktik. Die Konstellation mit weiteren Praktiken lässt dann zunehmend Sinn
oder Bedeutung entstehen.

„Die einzelne Praktik oder ein ganzer ‚Praktikenkomplex‘ – etwa der mitein­
ander verknüpfte Komplex von Techniken, die eine fordistische oder eine post-
fordistische Wirtschaftsorganisation oder die Lebens­form des Bürgertums des
19. Jahrhunderts ausmachen – ist […] über eine implizite, in der Regel nicht ver-
balisierte Wissensordnung struk­ t uriert und tendiert zur Wiederholung. In
der Praxis, d. h. der Serie von temporalen Ereignissen, die eine Aktualisierung
der sozial-kulturellen Praktiken durch einzelne Körper, mit bestimmten Artefak-
ten, in präzisen raum-zeitlichen Situationen betreiben, ergibt sich dabei jedoch
immer wieder ein Potential für überraschende Verschiebungen, Modi­fizierungen
und Eigensinnigkeiten.“ (Reckwitz, 2016, S. 35)

Die praxistheoretische Auffassung der Welt macht den Begriff von Kultur
deutlich, der meinen Überlegungen zugrunde liegt. Eine Kultur ist ein Kom-
plex von Praktiken, deren Konstellation durch Wiederholung – Konvention
oder Tradition – eine gewisse Stabilität gewonnen hat. Man kann in demselben
Sinn auch von Firmen- und Schulkulturen, von Jugend- und Musik- und Erzie-
hungskulturen sprechen. Gemeint sind jeweils Konstellationen von Praktiken
(doings and sayings) sowie durch vorgängige Praktiken geformte Narrative/
Diskurse, Artefakte, Körper und Subjektivierungen.
Es ist selbsterklärend, dass ein solch sozialkonstruktivistischer Begriff von
Kultur diese nicht als starres und unveränderliches Gebilde auffassen kann, son-
dern nur als in lebendiger Veränderung befindlich (vgl. auch Kim, 2018, S. 57).
Ebenso ergibt sich, dass Praktiken aus der einen Kultur mit Praktiken aus einer
anderen neue, hybride Konstellationen eingehen können, die dann Einzelfall
bleiben oder erneut zu Kultur werden können.1 Und wo wir nicht sicher sind, ob
bei einer einzeln sich ereignenden Musikpraxis ein Irrtum oder ein Geniestreich,
eine Mode oder eine kulturspezifische Konstellation von Praktiken vorliegt, da
können wir den Kulturbegriff weglassen und neutral von Musikpraxis sprechen.
Oder wir begrüßen ein ambivalentes Dazwischen als dritten Raum.

4. Dritte Räume

Ein „anglisierte[r] postkolonialer[r] Migrant, der zufällig ein Literaturwissen-


schaftler mit leicht französischem Einfluss ist“ (Bhabha, 2011, Buchrücken) – so

5
Vgl. auch die Beschreibung der Funktion von „ästhetischen Techniken“ alias Praktiken in
Kulturen und schulischen Produktionsprozessen in Wallbaum 2000, S. 258–260.

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Dritte Räume oder Musikpraxen erfahren und vergleichen 141

eine Selbstcharakterisierung des Inders Homi K. Bhabha. Der Begriff des


­dritten Raums zielt nicht auf „identitäre Belange“ (Bhabha, 2016, S. 62) ab. Viel-
mehr gilt Bhabhas Interesse den Entscheidungskriterien oder -prozeduren bei
wirklich tief gehenden Unvereinbarkeiten in den durch Ambivalenz geprägten
dritten Räumen. Dieser Punkt scheint mir auch für die schulischen Räume
relevant, in denen Musikpraxen gestaltet und erfahren werden.

„Die Ambivalenz führt einen performativen Sinn für […] die Aktivitäten der Refle-
xion und des Urteilens, der Wahl und der Entscheidung [ein]. (Bhabha, 2016, S. 43)
Zwar widersprechen die verschiedensten Spielarten des Fundamentalismus, der
Orthodoxie oder der Erweckungsbewegungen häufig den heutigen verfassungs-
mäßigen Rechten, […] und oftmals verletzen sie unseren Sinn für soziale Gleich-
heit […] und die Freiheit des Individuums. Doch wenn wir sie [die verschiedenen
Spielarten, CW] nur als die ‚andere‘ Seite der Moderne, Demokratie oder Aufklä-
rung betrachten, ‚eignen‘ wir sie uns in einer Art Aufhebung an, die versucht, ihre
[der Spielarten] Singularität einer bestimmten ‚dialektischen‘ Denkmethode
unterzuordnen, der kein umfassender Universalismus zugesprochen werden
kann. Die asynchronen Glaubensüberzeugungen und asymmetrischen Bräuche,
die unsere globale Gleichzeitigkeit (contemporaneity) – national, regional oder ter-
ritorial verstreut, im Westen wie im Osten, Norden oder Süden – ausmachen,
müssen deshalb aus der Perspektive einer ‚Gleichheit-in-Differenz‘ begriffen und
kritisiert werden.“ (Bhabha, 2016, S. 27)

Bhabha ist vorgeworfen worden, er nehme hinter den Entscheidungsprozedu-


ren, die er für ambivalente Situationen in dritten Räumen geltend macht, univer-
sale, d. h. kulturunabhängig gültige Werte und Verfahren an und strebe letztlich
eine globale Einheitskultur an (vgl. Müller-Funk, 2016, S. 81 und S. 86.). Das obige
Zitat dürfte solchen Vorwürfen weitgehend widersprechen, allerdings steckt im
kursiven „unsere globale Gleichzeitigkeit“ und in der „Gleichheit-in-Differenz“
ein Rest von Gemeinschaftlichkeit der Menschheit, der wiederum als Grundlage
für einen kulturunabhängigen Wert verstanden werden kann. Unter Berufung
auf Habermas (2004) fordert er eine „Ethik der Tolerierung“, sofern „die öffentli-
che Vernunft Wirkung entfalten soll“ (Bhabha, 2016, S. 44). Über die Tolerierung
hinaus plädiert Bhabha sogar dafür, dass es kul­turelle Unterscheidungen geben
soll (vgl. Bronfen, 2011, S. XIV; Müller-Funk, 2016, S. 81–83, S. 87).6
Die Absicht hier ist es nun, Bhabhas Idee der dritten Räume für die Beschrei-
bung der Ver- und Neumischung von Praktiken aus verschiedenen Musik­
kulturen nutzbar zu machen. Der Raumbegriff umfasst ebenso wie der Praxis­

6
Zum komplementären Problem vorauseilender ‚Veranderung‘ vgl. Rolle, 2018, S. 308 am Bei-
spiel eines internationalen Gesprächs über die Rolle eines Teppichs in einer Musikunter-
richtsstunde aus Estland.

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142 Christopher Wallbaum

begriff sowohl die spatiale als auch die zeitliche Dimension von Tätigkeiten
und deren Spuren. Die zentralen Merkmale dritter Räume sind:
• Raum für Differenz ohne eine übernommene Hierarchie (vgl. Bhabha,
2011, S. 5);
• „eine gewisse Art von Langsamkeit, es gibt ein Festhalten am Moment
des Übergangs“ (Bhabha, 2016, S. 69). Siehe auch oben: Mit Sinn für Perfor-
mativität;
• bei Handlungsbedarf kommt es zu „Figurationen“ bzw. Konstellationen,
in denen anstelle des Konflikts andere Fragen zentral werden. Welche Fra-
gen das sind, bleibt situationsabhängig (ebd., S. 72);
• sie eröffnen „Räume, die zu Veränderungen aller beteiligten AkteurInnen
auf allen Seiten führen können. Im Zuge von Kulturkontakten erfolgen
Transformationen, die ein Dazwischen oder eben einen Dritten Raum
eröffnen“ (Babka & Posselt, 2016, S. 12).
Obwohl oder weil es im vorliegenden Text unter anderem darum geht, das
Modell Musikpraxen erfahren und vergleichen (Mev) aus der Schublade ästhe-
tischer Bildung herauszuholen und den Kulturbezug herauszustellen, sei der
Hinweis erlaubt, dass die Merkmale der hierarchie-entlasteten Symmetrie, der
Vollzugsorientierung (bzw. Performativität) und Offenheit für Differenz auch
grundlegende Merkmale ästhetischer Praxis sind, mit dem einzigen Unterschied
zu „postkolonialen“ gesellschaftlichen Situationen, dass ästhetische Praxis
nicht selten absichtsvoll als solche ermöglicht und aufgesucht wird. Hand-
lungsbedarf (vorletztes Merkmal) entsteht durch die prozess-produkt-didakti-
sche Aufgabe, aus vorliegendem Material eine erfüllende Musikpraxis oder
Situation mit Musik zu gestalten und diese dann so lange probierend zu prak-
tizieren, bis sie als erfüllt erfahren wird.
Mev kann als ein Ansatz beschrieben werden, der unter Berücksichtigung
der Pluralität von sowohl pädagogisch-kulturellen als auch musikkulturellen
Normen einen Musikunterricht modelliert, der einem praxis- und kulturrefle-
xiven Begriff von Musiken und Musikenlernen gerecht wird, ohne einzelne
Musikpraxen einschließlich ihrer Lehr-Lern-Praxen als statische Kulturen er-
scheinen zu lassen.

5. Musikpraxen – Auditive Wissenskulturen

In diesem Abschnitt geht es zunächst darum, den praxeologischen Begriff von


Musik zu differenzieren und die entsprechende Stoßrichtung von Mev im Ver-
gleich mit Campbells Modell „Teaching Music Globally“ (2004) zu verdeutli-
chen. Anschließend wird an einem Beispiel des Jazz eine spezifische Qualität

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Dritte Räume oder Musikpraxen erfahren und vergleichen 143

veranschaulicht, die in erfüllter Jazzpraxis erfahrbar wird bzw. erscheint. Der-


artige Qualitäten halte ich für vielversprechende „Label“ sowohl zur ungefäh-
ren Ausrichtung der Gestaltungs- und Erfahrungsprozesse als auch für die
Unterscheidung von Musikpraxen.
Unstrittig aus praxeologischer Sicht ist, dass Musik kein Ding ist, sondern
eine Praxis, eine Konstellation von Praktiken, Artefakten, Narrativen7, Verkör-
perungen und Subjektivierungen. In jüngeren praxistheoretischen Veröffentli-
chungen zu „auditiven Wissenskulturen“ klingt das so:
„Unterschiedliche soziale Prozesse verknüpfen Schall mit Bedeutungen, machen
ihn zu Lärm, Sprache, Geräusch, Signal oder Musik.“ (Brabec de Mori & Winter,
2018, S. 5)

„Musik ist – in Anlehnung an neuere Theorien der Soziologie der Praxis (Reck-
witz, 2003) – als ein prozessuales Produkt zu betrachten, das aus Interaktionen
von Akteuren mittels bestimmter sozialer Praktiken (Praktikenzusammenhänge
und -elemente) resultiert. Sie ist erst dadurch konstruierbar, dass unterschied­
liche Praktiken zueinander in Beziehung gesetzt und ausgehandelt werden.“
(Kim, 2018, S. 55)

Für das Unterrichten von Musik ergibt sich daraus, dass nicht allein Werke
oder Stücke, sondern mit ihnen ganze Praktikenkonstellationen – Praxen – zu
unterrichten sind, und zwar einschließlich je spezifischer Lehr-Lern-Prakti-
ken.8 Das Singen von Mozarts Königin der Nacht in der Oper artikuliert etwas
anderes als der Gesang bei einem Punkauftritt in der autonomen Wagenburg,
auch wenn in beiden Fällen Wut ausgedrückt wird9, und ein experimentelles
Konzert von Laptop-Spielern stellt wiederum eine andere Konstellation dar,
deren Qualität durch eine bloße Darstellung und Analyse akustischer Parame-
ter wie Zeitgestaltung, Stimmung (Pitch), vertikaler und horizontaler Formen
nicht annähernd fassbar wird.
Mev unterscheidet sich insofern von Campbells Modell Teaching Music Glo-
bally (2004), als Campbell den Musikunterricht am Leitfaden – von Wade (2004)

7
Ich favorisiere hier das Wort Narrativ, weil darin über die praxistheoretischen Wörter Saying
oder Diskurs hinaus auch die Erzählung anklingt, die mir für einen praxialen Musikunter-
richt wichtig scheint. Vgl. z. B. Cvetko 2014 und Oberhaus 2016. Vgl. z. B. Cvetko 2014 und
Oberhaus 2016.
8
Thomas Ott (2017) führt an drei Phasen in der Entwicklung des Musikers Konaté vor, dass
und wie sich verändernde Lehr-Lern-Praktiken auch die Aufführungspraxis verändern. Zu
Interferenzen zwischen pädagogischen und musikalischen Praktikenkonstellationen bzw.
Kulturen siehe Wallbaum & Stich, 2016 und Wallbaum, 2018b.
9
Die Beschreibung Die Do-it-yourself-Kultur im Punk. Subkultur, Counterculture oder alternative
Ökonomie? von Anna Daniel (2018) macht exemplarisch deutlich, was für unterschiedliche
Qualitäten in einer Musikpraxis gefeiert werden können.

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durchaus überzeugend entwickelter – akustischer Strukturen entfaltet, die sie


„music-as-music“ (Campbell, 2004, S. 215) oder auch „pure music“ (ebd., S. 210)
nennt.10 Solche „rein musikalischen“ Muster werden in Campbells Teaching
Music Globally zur Grundlage ihres Modells gemacht und systematisch entfal-
tet. Dagegen werden Bedeutung generierende Praktiken wie Wahrnehmungs-
einstellungen, innere Vorstellungen, körperliche Bewegungsmuster, soziale
Formen und Anlässe, Narrative von der Entstehung der Musik und von dem,
was „in ihr“ erfahren werden kann (etwa der Zustand des Embryos im Mutter-
bauch, die Weltharmonik oder ein Gefühlsdrama) oder was „durch sie hin-
durch“ spricht (z. B. die Ahnen, ein Gott oder Komponisten), zwar als dazuge-
hörend angesprochen, aber wesentlich undifferenzierter und auf deutlich
weniger Lehrbuchseiten. Solche Schwerpunktsetzung auf „rein musikalische“
Muster mag für Musiker plausibel sein, für die Bildung eines Begriffs von Mu-
sik als Praxis und als Kultur in einem Musikunterricht an allgemeinbildenden
Schulen erscheint der Fokus auf „pure music“ (ebd., S. 210) verkürzend.
Auch der Schnittstellenansatz nach Merkt setzte beim Vergleich scheinbar
gleicher Elemente an, die der Idee der Trennung von reiner Musik nach ei-
nem Prinzip von Text und Kontext ähneln. Insofern liegen die Ansätze von
Campbell und Merkt, die Kertz-Welzel (2018, S. 91) einander als inter- und
multikulturell gegenüberstellt, eher nah beieinander. Einen konzeptuell den
Annahmen einer „reinen Musik“ entgegenstehenden Ansatz sehe ich in
Strohs „Eine Welt Musik“-Konzept (vgl. Stroh, 2000), wo er schon im Konzept
der musikalischen Archetypen als kleinsten Elementen eine praxeologie-ar-
tige Verknüpfung von doings and sayings annimmt – wenn auch verknüpft
mit dem unbewiesenen Anspruch, dass solche rhythmischen, melodischen
etc. Archetypen existieren (vgl. Stroh, 1997; kritisch zur Annahme von
„Urphänomenen“ Wallbaum, 2013). Ebenfalls auf die sozial generierte Bedeu-
tungsebene von Musik zielt Strohs Konzept der „Szenischen Interpretation“,
das er in Verbindung mit der Tätigkeitstheorie entfaltet (vgl. Stroh, 2010,
S. 261). Der Musikbegriff dieser „Tätigkeitstheoretische[n] Perspektive“ (ebd.,
S. 261) hat große Ähnlichkeit mit dem von Mev, ist allerdings aus der Mev-
Perspektive problematisch, weil zum einen musikalische Archetypen ange-
nommen werden und zum anderen alle ‚Zutaten‘ für die Inszenierungen von

10
Eine verwandte Unterscheidung zwischen „reiner Musik“ und ästhetischer Bedeutung als
etwas Außermusikalischem findet sich in Deutschland z. B. in der kreativitätsorientierten
Produktionsdidaktik von Nils Hansen (1975; dazu Wallbaum, 2000, S. 67–75). Stefan Orgass
(2007, S. 162) spricht (s)einem entsprechenden Musikbegriff einen biographisch bedingten
„Restdogmatismus“ zu.

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Dritte Räume oder Musikpraxen erfahren und vergleichen 145

Musikpraxen mit dem Tertium Comparationis der Marx-Brille ausgewählt


werden, das sich damit als hidden curriculum in jede Inszenierung flicht.
Zum Schluss dieses Abschnitts ein Beispiel für eine musikalische Sinndi-
mension bzw. Qualität, die erst in „gelungenen Konstellationen“ (Müller, 2018a)
diverser Praktiken entsteht. Christian Müller rekonstruiert in Jazz happens oder:
Interpretation improvisierter Interaktionen die mikrosozialen Prozesse während
Jazzkonzerten anhand von Gruppen- und Einzelinterviews mit Jazzmusikern.
Der entscheidende Affekt der Spannung speist sich also aus dem Prozess der
Bearbeitung der Frage danach, was man eigentlich gerade miteinander tut,
und die „Antwort“ ist in Form der gespielten Musik hörbar.

„Eine weitere Parallele zur Arbeit der Naturwissenschaftler [Physiker des CERN,
C.W.] liegt zudem darin, dass auch in den eher impulsiv ablaufenden Interakti-
onsdynamiken der Jazzmusiker das Subjekt als Träger eines autonomen Hand-
lungsentwurfes verloren geht. Nicht zuletzt besteht das beschriebene Potential
der Überraschung auch aus dem Erleben, dass nicht nur unklar ist, was man
miteinander tut, sondern auch, wer oder was dabei überhaupt handelt. Und so
wie es sich bei den Physikern um eine Forschergruppe im Zusammenwirken mit
der Eigendynamik des Detektors handelt, so lässt sich auch bei den Jazzmusikern
behaupten, dass improvisierte Musik letztlich der Effekt eines Zusammenwir-
kens aus interagierenden Musikern, klingenden Instrumenten und der räumli-
chen und sozialen Kontingenz einer Konzertsituation ist.“ (Müller, 2018b, S. 50)

Über diese Darstellung der Qualität einer erfüllten Jazzpraxis anhand von
Narrativen hinaus beschreibt Müller auch Aufmerksamkeits-, Körper- bzw.
Leib- und Klangpraktiken, die an einer erfüllten Praxis beteiligt sind (vgl. Mül-
ler, 2018a, S. 327–338). Beträchtlicher Aufwand gilt dabei der Beschreibung von
Zuständen, in denen die Musizierenden sich nicht als autonom Handelnde
verstehen, sondern als „synchronisierte“ Teile eines „Passierens“ (ebd., S. 336).
Vergleichbare Beschreibungen finden sich auch zu einer videographierten
Musikstunde (Bavaria-Lesson und dazu Wallbaum in Cooperation with Kino-
shita, 2018), bei der Gruppenimprovisation mit dem Ziel praktiziert wird, eine
sprachferne Atmosphäre namens RED zu erzeugen. Entgegen der Aussage von
Müller zu nicht „pädagogisch vermittelbaren Komponenten“ (Müller 2018b,
S. 49) gelingt es diesem Lehrer, mittels einer Konstellation von Praktiken eine
Atmosphäre als Komponente von dem und ‚Beweis‘ für das Vorliegen einer
erfüllten (nicht nur Erfüllung suchenden) Musikpraxis zu generieren.
Noch zu klären bleibt, inwiefern die in Bezug auf beide Musikpraxen gefun-
dene Erfüllungsqualität (RED) allein für musikalische Improvisation gilt oder
möglicherweise für viele oder gar alle Musikpraxen. Ein direkter Vergleich
­allein dieser beiden Beispiele wirft zum Beispiel die Frage auf, inwiefern das

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146 Christopher Wallbaum

Beherrschen von stiltypischen Skills eine „Bedingung der Möglichkeit“ (Mül-


ler, 2018b, S. 49) erfüllter Jazzimprovisation ist und ob der Ausdruck dieser
Skills in einer Weise in die Jazzqualität eingeht, die Müller in seiner Forschung
lediglich ausgeblendet hat. In diesem Fall könnte die Qualität RED eine Ingre-
dienz beider Improvisationspraxen sein, ohne diese allerdings vollständig zu
bestimmen. Kinoshita zufolge soll RED nicht allein bestimmten Musiken vor-
behalten sein, sondern sogar jenseits musikalischer Praxis erscheinen können.
Andere musikbezogene Erfüllungs- oder Gelingensbedingungen könnte
die von Daniel (2018) beschriebene Punk-Kultur haben, für die das Do-it-your-
self-Prinzip bestimmend sein soll, oder eine klassische Symphonie, die das
Gefühlsdrama eines autonomen Individuums zelebriert. Für solche musikbe-
zogenen Fragen ist hier nicht der Platz. Festzuhalten bleibt lediglich, dass es
bei der Gestaltung von Musikpraxen nicht ausreicht, beliebige Elementprakti-
ken, Artefakte, Narrative und Subjektivierungen bzw. Phänomene „zusam-
menzuklatschen“, sondern dass die Qualität einer Musik – also das, worauf es
in der Praxis letztlich ankommt – erst in einer gelingenden Konstellation von
Praktiken erscheint. Diese wiederum können die Beteiligten, also hier: Schül,
nur durch wiederholtes Probieren prüfen und durch das Ersetzen von Ele-
menten und das Feilen an Details zur Erfüllung hintreiben. Eine gewisse
Langsamkeit dieser dritten Räume ergibt sich von selbst.

6. Das Problem der Auswahl für allgemein bildenden Musikunterricht

Sofern zukünftiger Musikunterricht nicht alles individuelle und wissenschaft-


liche Wissen über Musiken der Welt ausblenden und ausschließlich in eine als
lokal oder national (Bhabha 1990) erzählte Musikkultur enkulturieren soll,
stellt sich die Frage nach dem Wie und Was. Eine grundlegende Antwort auf
die Frage nach dem Wie liegt in der Praxistheorie selbst: Man lernt Praktiken
in der Praxis. Dasselbe gilt dann auch für musikalisch-kulturelle Teilhabe (vgl.
Krupp-Schleußner, 2018, S. 104). Aber wie ermöglichen oder inszenieren wir
eine Musikpraxis im schulischen Rahmen und welche – zudem, ohne eine Kul-
tur festzuschreiben, aber wiederum auch unterscheidbar, um daraus Orientie-
rung in der Vielfalt zu gewinnen? Einen Lösungsvorschlag stellt das vorlie-
gende Modell Mev dar, das in kontrollierter Weise dritte Räume generiert, und
zwar in zwei oder – in einem abgeleiteten Sinne – drei Zonen:
1. Die Zone der Körbe generiert nur in einem abgeleiteten Sinne dritte Räume
aus verwandten Musikkulturen, zusammengestellt von Fachleuten (vgl. die
gestrichelte Linie in Abb. 1). Abgeleitet insofern, als die Körbe selbst eher
mit einem Theaterfundus als einer Bühnenperformance verglichen werden

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Dritte Räume oder Musikpraxen erfahren und vergleichen 147

Abb. 3: Körbe als Fundus für die Inszenierung von Musikpraxen

­ önnen. Ein Raum, in dem diverse Kostüme, Requisiten und im Musikfall


k
Instrumente, Spielanleitungen, Klangbeispiele, Geschichten, gegebenenfalls
Noten etc. herumliegen, ist selbst noch keine Praxis, also kein dritter Raum.
In den Abbildungen 1 und 3 wird das gesamte Material zur Gestaltung von
Praxen nach dem Vorbild von „Fächerkörben“ in der gymnasialen Ober-
stufe in „Körben“ gesammelt. Statt Körben wären auch nebeneinander lie-
gende Materialhaufen denkbar, um die durchlässigen Grenzen zwischen
den verschiedenen Musikfamilien zu veranschaulichen. Jeder Haufen setzt
durch seine Bestückung einen Spiel-Raum. Ein solcher Spiel-Raum könnte
möglicherweise das Label Experimentiergemeinschaft bekommen, andere
Spielräume bzw. Körbe könnten mit Meine Musik – unsere Musik, mit Gefühle
und Gefühlsdramen, Absolute Musik, Groove & Move oder Rauschen gelabelt
werden. Diese Label können auch ganz anders lauten, sie sollen lediglich
Qualitäten für Konstellationen von Praktiken anzeigen und dafür sorgen,
dass die Musikpraxen, die die Schül mit Material aus wechselnden Körben
gestalten, möglichst charakteristisch verschieden sind.
2. Die Zone der Musikpraxis: Dritte Räume, von Schül gestaltet mit einer selbst
getroffenen Auswahl an Praktiken, Narrativen, Artefakten und Subjektivie-
rungen aus einem der Körbe. Der Gestaltungsprozess wird von schulischer
Seite unterstützt durch Räume, Ausstattung für verschiedene „Körbe“ (zum
Beispiel in Form unterschiedlich eingerichteter Musikräume und außerschu-
lischer Kooperationen) und Menschen mit musikalischer und pädagogischer
Expertise. Dieser dritte Raum soll bestimmt sein durch: das probierende
Gestalten und Anstreben einer Erfüllungsqualität entsprechend dem jeweili-
gen Korb mit daraus gewählten Praktiken, Instrumenten, Gestaltungstechni-
ken, Organisationsformen, Klangbeispielen, Noten (sofern das der Praxis
entspricht), Erzählungen, ethischen Idealen, entsprechenden Lehr- und Lern-
formen wie z. B. lehrerzentrierte Instruktion, notenbasiertes Üben oder

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148 Christopher Wallbaum

„autodidaktisches“ Heraushören und Covern usw. Die Gestaltung einer Pra-


xis kann auch im vorbereiteten, rezeptiven oder aktionistischen Aufsuchen
von außerschulischen Erfahrungsräumen bestehen. Letztlich steht das Erfah-
ren einer erfüllten Praxis im Vordergrund, weil ohne diese keine Qualität
von Musik emergiert. Ein Beispiel dafür, dass letztlich die Wahrnehmung
der komponierenden Schülgruppe über die Auswahl der Mittel entscheiden
sollte, wird in Neue SchulMusik: Ästhetische Praxis oder Enkulturation (vgl. Wall-
baum, 2006) anhand einer Gestaltungsaufgabe durchgespielt, in der gege-
bene Stilmittel und Schülwahrnehmung in Konflikt geraten.
3. Die Zone des Vergleichens: Die Summe aller erfahrenen Musikpraxen stellt
erneut einen dritten Raum dar, in dem sich am Ende einer Schulzeit deutlich
mehr als zwei Kulturen befinden. Dieser lokale und globale Musikpraxen
und auditive Wissenskulturen umfassende dritte Raum ist durch das Ver-
gleichen grundverschiedener Musiken geprägt, ohne dass der Wertmaßstab
einer einzelnen Wissenschaftsdisziplin oder Musikkultur bzw. -praxis das
Tertium Comparationis bildet.11

7. Fazit

Der Begriff des dritten Raumes nach Homi K. Bhabha macht sichtbar, dass und
wie das musikdidaktische Modell Musikpraxen erfahren und vergleichen (Mev)
die kulturelle Dimension von Musik und Unterricht reflektiert. Dritte Räume
sind durch eine übergangsmäßige Hybridität, also Vermischung von – praxeo-
logisch gesprochen – Praktiken, Artefakten, Narrativen bzw. Diskursen und
Verkörperungen bzw. Subjektivierungen aus verschiedenen Kulturen bei (ten-
denziell) symmetrischen Machtverhältnissen gekennzeichnet. Sie sind offen
für Entwicklungen oder Deutungen in unterschiedliche Richtungen. Indem
Musikpraxen erfahren und vergleichen solche dritten Räume zum einen in den
Phasen oder Zonen des Gestaltens und Erfahrens und zum anderen in denen
des Vergleichens von Musikpraxen vorsieht, stellt es eine Möglichkeit dar, Kul-
turalität und kulturelle Vielfalt zu thematisieren, ohne dabei bestehende kultu-
relle Unterscheidungen festzuschreiben. Hier können nicht alle Detailüberle-
gungen wiederholt werden, aber ein Vergleich mit anderen Ansätzen interkul-
tureller Musikpädagogik zeigt, dass Mev eine neuartige und kulturbezogen
reflektierte Möglichkeit für Musikunterricht in einer sowohl globale als auch
lokale Kulturen berücksichtigenden Schule der Zukunft darstellt.

11
Eine Einführung in die Praktiken des Vergleichens und den Umgang mit Tertia Comparatio-
nis mit zahlreichen Illustrationen siehe Wallbaum & Stich, 2018, insbesondere Fig. 10 (S. 54).

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EMPIRISCHE PERSPEKTIVEN

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Daniel Prantl

Überlagerungen musikkultureller Bruchstücke


im Klassenzimmer
Eine Analyse ausgewählter Sequenzen in zwei videographierten
­Klassenmusizierstunden

Overlappings of Music-Cultural Pieces in Classrooms


Analyses in Two Music Lessons on Video

In der Diskussion der (interkulturellen) Musikpädagogik scheint sich der bedeutungs-


orientierte Kulturbegriff allmählich durchzusetzen. Bisher wenig beachtet bleibt eine
praxeologische Perspektive auf Kultur, die neben dem oft verwendeten bedeutungszu-
weisungsorientierten Kulturbegriff (vgl. Barth, 2008) ebenfalls eine Variante des
bedeutungsorientierten Kulturbegriffs darstellt und zu einem veränderten Blickwinkel
auf Musikunterricht führt: Kulturelle Differenzen zeigen sich dann weniger in der
Relation zwischen eigenen und fremden Kulturen als vielmehr in Form von Überlage-
rungen unterschiedlicher kultureller ‚Bruchstücke‘, die in Unterrichtspraktiken verar-
beitet werden. In der hier präsentierten Studie werden musikkulturelle Differenzen in
den Blick genommen, die in zwei videographierten Klassenmusizierstunden analysiert
werden. So können einerseits Typen unterschiedlicher musikkultureller Bruchstücke
herausgearbeitet werden, andererseits wird die Bedeutung von Überlagerungen musik-
kultureller Bruchstücke im Kontext der gesamten Stunde beleuchtet.

Discourse in (intercultural) music education recently often refers to a meaning-ori-


ented view of culture, especially to a notion of culture focussing on processes of the
assignment of meanings (Barth, 2008). A praxeological perspective on culture that
also introduces a variation of this meaning-oriented view remains relatively unex-
plored hitherto. This perspective can lead to a shift in the view of music teaching in
classrooms: Cultural differences thus appear less as relations between familiar and
strange cultures but as overlaps of different cultural ‘pieces’ that are processed in
classroom practices in situ. This study shows selected analyses of these types of music-
related cultural differences in two music lessons, captured on video. Hence on the one
hand, different types of music-related cultural pieces can be described. On the other
hand, meanings of overlappings of those pieces in the context of the whole lesson can
be highlighted.

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158 Daniel Prantl

Forschungskontext und Fragestellung1

Die Frage nach dem Umgang mit unterschiedlichen und vor allem unbekann-
ten Kulturen, d. h. mit kulturellen Differenzen, bildet den Dreh- und Angel-
punkt des Nachdenkens über interkulturell orientierten Musikunterricht (vgl.
z. B. den Schnittstellenansatz von Merkt, 1993; den erweiterten Schnittstellen-
ansatz von Stroh, 2011; oder die Überlegungen zu interkulturellen Situationen
von Barth, 2010). Und die Auseinandersetzung mit kulturellen Differenzen im
Klassenzimmer ist deshalb zentral, weil sich die Hoffnung auf wünschens-
werte Bildungsprozesse daran knüpft: etwa die Entwicklung einer Haltung,
die sich durch Offenheit und das „wechselseitige Zuerkennen von Eigensinn“
(Ott, 2012) auszeichnet. In diesem Beitrag beschränken wir uns allerdings auf
die Frage, wie sich kulturelle Differenzen im Klassenzimmer zeigen.
Zugleich ist der Kulturbegriff nicht unumstritten und wird verschieden ver-
wendet. Mit dieser Problematik setzt sich Dorothee Barth in ihrer Arbeit (2008)
auseinander. In Anlehnung an Andreas Reckwitz (2000) grenzt sie den bedeu-
tungsorientierten Kulturbegriff von einem ethnisch-holistischen (und von ei-
nem normativen) Kulturbegriff ab. Für das Nachdenken über Interkulturelle
Musikpädagogik plädiert sie dann für die Verwendung eines bedeutungsori-
entierten Kulturbegriffs, von dem sie eine eigene Variante entwickelt.
Der ethnisch-holistische Kulturbegriff geht davon aus, dass Menschen in
kollektive Wissensordnungen und Sinnsysteme eingebunden sind, vor deren
Hintergrund Welt bedeutsam erscheint, und dass diese Wissensordnungen
zugleich an bestimmte Menschengruppen und territoriale Einheiten gebun-
den sind. Diese Gleichsetzung löst der bedeutungsorientierte Kulturbegriff
auf, was die Möglichkeit nicht ausschließt, dass viele Menschen eines Landes
oder einer Region ein bestimmtes Wissen teilen. Demnach ist es problema-
tisch von ‚der afrikanischen Musik‘ zu reden, was nicht bedeutet, dass viele
Menschen in Teilen Afrikas möglicherweise um bestimmte Hör- oder Musi-
zierweisen wissen, die beispielsweise in Europa so nicht verbreitet sind. Und
das meint nicht, dass diese Hör- und Musizierweisen nun für immer nur in
Musiken aus Teilen Afrikas praktiziert werden. Insofern sind Kulturen zwar
zu verstehen als (mehr oder weniger) dauerhafte, kollektive Wissensordnun-
gen und Sinnsysteme, aber nicht als homogene und nicht als statische Gebilde:
In ihnen durchmischen und überlagern sich differente kulturelle ‚Bruch­

1
Dieser Text und damit zusammenhängende Überlegungen gehen auf einen Vortrag zum
Symposium in Freiburg und ein Seminar an der HMT Leipzig zurück, welche beide gemein-
sam mit Simon Stich geplant und durchgeführt wurden.

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Überlagerungen musikkultureller Bruchstücke im Klassenzimmer 159

stücke‘, die miteinander interagieren, was zu Veränderung und Wandel führt


(vgl. dazu auch Reckwitz, 2005). Diese kulturtheoretischen Annahmen teilt
Barth mit Reckwitz.
Im Unterschied zu Reckwitz entwickelt Barth den bedeutungsorientierten
Kulturbegriff zu einem „bedeutungszuweisungsorientiert[en]“ Kulturbegriff
(Barth, 2008, S. 153–155; Barth, 2018). Den Ausgangspunkt dieser Perspektive
bildet der Subjektbegriff, von dem sich das Verständnis der zentralen kultur-
wissenschaftlichen Analyseeinheiten und das Verständnis kultureller Diffe-
renzen ableiten. Ein Subjekt wird bei Barth als Akteur*in aufgefasst, welche*r
in der Auseinandersetzung mit ihrer*seiner Umwelt Bedeutungen konstruiert.
Und wenn Akteur*innen Gegenständen gleiche Bedeutungen zuweisen, parti-
zipieren sie an derselben Kultur, wobei sie gleichzeitig in viele verschiedene
kulturelle Zusammenhänge eingebunden sind. Die Zugehörigkeit einzelner
Akteur*innen zu unterschiedlichen Kulturen wird dann durch die Unterschei-
dung der ‚eigenen‘ und ‚fremden Kultur(en)‘ angezeigt, wobei das Begriffspaar
relational aufgefasst wird (vgl. z. B. Barth, 2010, S. 203–211): Etwas ist nicht (an
sich) fremd, sondern einer*m Akteur*in erscheint etwas vor dem Hintergrund
von dem, was ihr*ihm vertraut ist, als unvertraut, eben fremd (vgl. dazu auch
Ott, 1998); in diesem Sinne haben kulturelle Differenzen ihren ‚Ort‘ in
ihrer*seiner persönlichen Wahrnehmung.2
Reckwitz entwickelt und verwendet hingegen eine praxeologische Perspek-
tive als Variante des bedeutungsorientierten Kulturbegriffs.3 Im Gegensatz
zum bedeutungszuweisungsorientierten Kulturbegriff von Barth (vgl. den
Absatz oben) bildet den Ausgangspunkt der praxeologischen Perspektive die
zentrale kulturwissenschaftliche Analyseeinheit, von der sich der Subjektbe-
griff und das Verständnis kultureller Differenzen ableiten. Damit wird der
Blickwinkel auf kulturelle Differenzen im Klassenzimmer von den Füßen auf
den Kopf gestellt: Die Leitdifferenz eigener und fremder Kulturen tritt in den
Hintergrund, stattdessen richtet sich das Interesse auf mögliche Überlagerun-

2
Diese theoretischen Überlegungen trägt Barth (2010) an drei videographierte Musikstunden
heran. Sie leitet vom Handeln und Verhalten einzelner Schüler*innen ab, ob ihnen die Musik,
die sie hören und spielen, fremd oder vertraut erscheint. Gleichzeitig problematisiert Barth
den Umstand, dass sich die zugewiesenen Bedeutungen der Schüler*innen nur schwer im
Videomaterial nachvollziehen ließen (und dass auch der zusätzliche Blick in Schü­ler*innen­
interviews, welche sie in einem Fall zurate zog, wenig Aufschluss darüber gab) (vgl. Barth,
2010, S. 207–209). Insofern zeigt sich hier die Schwierigkeit, von ‚äußerlichen‘ Beobachtungen
auf ‚innerliche‘ Prozesse schließen zu wollen.
3
Auch Olivier Blanchard (2018) setzt an dieser Stelle an, um die Diskussion um kulturelle
Diversität in der interkulturellen Musikpädagogik kritisch zu hinterfragen.

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160 Daniel Prantl

gen kultureller Bruchstücke im Klassenzimmer. Die einleitenden Überlegun-


gen münden demnach in der folgenden Forschungsfrage: Wie zeigen sich aus
praxeologischer Perspektive musikkulturelle Differenzen im Klassenzimmer,
wie lassen sie sich beschreiben und systematisieren?4

Ein veränderter Blickwinkel auf (musik-)kulturelle Differenzen


im Klassenzimmer

Aus praxeologischer Perspektive stellen nicht ‚innerliche‘ Prozesse individueller


(oder auch geteilter) Bedeutungszuweisungen, sondern ‚äußerliche‘ beobacht-
bare soziale Praktiken die zentralen Einheiten der kulturwissenschaftlichen
Analyse dar (vgl. z. B. Reckwitz, 2005). Im Anschluss an Theodore Schatzki fasst
Reckwitz diese als ein „nexus of doings and sayings“ auf (Schatzki, 1996, S. 89).
Sie sind zu verstehen als körperliche Aktivitäten und Verhaltensmuster, wobei
der Gebrauch von Artefakten eher eine Voraussetzung für den Vollzug von
Praktiken darstellen kann (z. B. eine Surdo für das Samba-Trommeln) oder auch
nicht (z. B. ein Notenständer für eine Bandprobe). Soziale Praktiken werden von
einem kollektiven und inkorporierten impliziten Wissen zusammengehalten
und reguliert, was die ‚kompetente‘ Teilnahme von Subjekten an bestimmten
Praktiken ermöglicht oder verhindert (vgl. Reckwitz, 2010). Aus praxeologischer
Perspektive weisen demnach nicht Akteur*innen ihrer Umwelt Bedeutungen zu,
sondern durch die Teilnahme an und Eingebundenheit in Praktiken werden
Subjekte geformt und in Bedeutungsgewebe eingesponnen (vgl. Reckwitz, 2010;
in musikpädagogischer Perspektive vgl. Campos, 2019): Schüler*innen werden
beispielsweise in unterrichtlichen Praktiken zu Schüler*innen ‚gemacht‘. Das
gleiche doing (aber auch saying oder Artefakt) wie beispielsweise die blitz-
schnelle Bewegung des Augenlids – das Beispiel wie das Bild des Bedeutungs­
gewebes stammen von Clifford Geertz (1987) – kann dabei in ganz unterschied-
lichen Praktiken und kulturellen Zusammenhängen eingebunden sein. Kulturen
bedeuten dann zusammenhängende Praktiken, die im Vollzug zur Wieder­
holung tendieren, was Veränderung jedoch nicht ausschließt (vgl. Reckwitz,

4
Barth (2010) vertritt die Auffassung, dass sich beinahe in jeder Musikstunde kulturelle Diffe-
renzen bzw. „interkulturelle Momente und Situationen“ zeigen (Barth, 2010, S. 202), was nicht
bedeutet, dass die Lehrperson ihr Handeln an einem Konzept der interkulturellen Musik-
pädagogik ausrichtet. An dieser Stelle schließt auch unser Beitrag an und präsentiert eine
empirische Studie im Themenfeld Musikkulturen im Klassenzimmer (zur Unterscheidung
der Themenfelder Musikkulturen und Migration in der interkulturellen Musikpädagogik vgl.
z. B. Ott, 2012; auf die Leerstelle qualitativer Unterrichtsforschung im Bereich der interkultu-
rellen Musikpädagogik weist Knigge, 2012, S. 52 hin).

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Überlagerungen musikkultureller Bruchstücke im Klassenzimmer 161

2010). Für die Rekonstruktion kultureller Differenzen wird dann weniger die
Relation zwischen ‚fremden‘ und ‚eigenen‘ Kulturen interesseleitend, sondern es
stellt sich vielmehr die Frage, „wie unter ‚anwesenden‘ lokalen und gegenwärti-
gen Bedingungen kulturelle Elemente aus ‚abwesenden‘ lokalen oder histori-
schen Kontexten verarbeitet werden“ (Reckwitz, 2005, S. 109).
Unser Blick richtet sich darauf, wie musikkulturelle Bruchstücke – also mu-
sikkulturelle „Elemente“ (ebd.) in Form von verbundenen sayings, doings und
Artefakten sowie in Form von Praktiken – aus „‚abwesenden‘ (…) Kontexten“
(ebd.) in den „‚anwesenden‘ lokalen und gegenwärtigen Bedingungen“ (ebd.)
des Musikunterrichts verarbeitet werden.5 Auch Christopher Wallbaum und
Christian Rolle (2018) nehmen eine praxeologische Perspektive auf Musikun-
terricht ein, um zu erforschen, wie musikalische und pädagogische Unterricht-
spraktiken im Musikunterricht verknüpft sind und in welcher Beziehung sie
zu Kontexten jenseits des Klassenraumes stehen. Obwohl Unterricht in der
Regel bedeutet, dass Lehrende Zielsetzungen verfolgen, weshalb sie Unterricht
auf eine bestimmte Art und Weise durchführen, wird anhand der Analysen
von Wallbaum und Rolle deutlich, dass die Frage nach den Intentionen der
Beteiligten aus praxeologischer Perspektive eine untergeordnete oder gar keine
Rolle spielt. Aufgrund der damit einhergehenden Verschiebung des Analyse-
fokus auf Aktivitäten und Vollzüge (und nicht auf ‚innerliche‘ Prozesse, vgl.
Fußnote 2), bieten sich Beobachtungsverfahren als leitender methodischer Zu-
griff an (vgl. hierzu auch Herzmann & König (2016, S. 121–122); Hillebrandt
(2014, S. 70–71)).
Die bisher angestellten Überlegungen geben einen ersten Teil der Antwort
auf die eingangs gestellte Forschungsfrage: Musikkulturelle Differenzen im
Klassenzimmer zeigen sich aus praxeologischer Perspektive als Überlagerun-
gen musikkultureller Bruchstücke aus „abwesenden“ Kontexten, die unter den
„anwesenden“ Bedingungen im Klassenraum in pädagogischen (und musika-
lischen) Unterrichtspraktiken verarbeitet werden.6

5
An dieser Stelle zeigt sich, dass die Theorie unterschiedliche Analysefokusse setzt: Einerseits
stellen Praktiken die zentralen und auch kleinsten Analyseeinheiten dar (s. o.), andererseits
sollen für die Rekonstruktion kultureller Differenzen „kulturelle Elemente“ (ebd.) in den
Blick genommen werden. Beide Aussagen gehen insofern zusammen, als dass in der hier
präsentierten Studie u. a. verbundene sayings und doings analysiert werden, die zum Teil
noch keine Praktiken darstellen, was aber dazu beiträgt, die Unterrichtspraktiken, in denen
diese doings und sayings verarbeitet werden, besser zu verstehen.
6
Die Perspektive der Unterscheidung von musikalischen und pädagogischen Unterrichtsprak-
tiken ist als vorläufige forschungsleitende Heuristik, die den Überlegungen bei Wallbaum &
Rolle, 2018 folgt, zu verstehen.

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162 Daniel Prantl

Methodisches Vorgehen

Für die hier präsentierte Untersuchung wurden zwei videographierte Klassen-


musizierstunden zur Sekundäranalyse herangezogen7, wobei wir Klassenmu-
sizieren als Unterrichtssituationen auffassen, in denen im Klassenverband
Musik gemacht wird (vgl. dazu Rolle, 2005). Einerseits ist das Sample also mit
Blick auf zentrale musikalische Praktiken, Klassengröße und Altersstruktur
(13 bis 15 Jahre) vergleichbar, andererseits wurden zwei kontrastierende Vari-
anten von Klassenmusizieren für die Untersuchung ausgewählt.
Den methodischen Gang der Untersuchung gliederten wir in drei Schritte,
die sich in dieser Form auch in der Darstellung der Ergebnisse widerspiegeln
(vgl. den folgenden Abschnitt). In einem ersten Schritt beschreiben wir in An-
lehnung an die Segmentierungsanalyse überblicksartig musikalische und pä-
dagogische Unterrichtspraktiken in den videographierten Klassenmusizier-
stunden (vgl. Dinkelaker & Herrle, 2009, S. 54–64). In einem zweiten Schritt
wurden im Forscherteam (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Sequenzen
ausgewählt, die sich im Stundenverlauf zu musikkulturellen Bruchstücken
verdichten. Diese wurden anschließend genauer analysiert, wobei verschie-
dene Deutungen diskutiert wurden. Gefragt wurde, inwiefern sich Ähnlich-
keiten zwischen den in den Stunden beobachtbaren musikalischen doings,
sayings, Artefakten und Praktiken und abwesenden musikkulturellen Kontex-
ten finden. Im Falle von Ähnlichkeiten kann von musikkulturellen Bruchstü-
cken im Klassenzimmer die Rede sein. Bei der Analyse orientierten wir uns an
einem sequenzanalytischen Verfahren (ebd., S. 75–93). In einem dritten Schritt
werden die rekonstruierten Sequenzen beider Stunden im Vergleich systemati-
siert, zudem wird das Verhältnis der musikkulturellen Bruchstücke zu päda-
gogischen Praktiken in beiden Stunden in den Blick genommen.

Überlagerungen musikkultureller Bruchstücke im Klassenzimmer


Der ‚instrumentale Führerschein‘ – Überblick über die erste Stunde

Nach einer kurzen Anwesenheitskontrolle kündigt der Lehrer für die Stunde
die Arbeit am ‚instrumentalen Führerschein‘ an, woraufhin sich die Schü­ler*in­

7
Die bei Wallbaum (2018) zuerst veröffentlichten Stunden sind zum Nachvollziehen der Ana-
lysen unter https://comparing.video inklusive Begleitmaterial abrufbar. Da die Fälle sehr
umfangreich dokumentiert vorliegen, ergaben sich bei der Bearbeitung unserer Forschungs-
frage keine Einschränkungen. Eine Stunde wurde in Bayern aufgezeichnet, die andere in
Schweden. Die institutionellen Rahmenbedingungen beider Stunden spielen für diese Unter-
suchung jedoch keine Rolle.

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Überlagerungen musikkultureller Bruchstücke im Klassenzimmer 163

Abb. 1: Üben von Pop-Rock-Songs Abb. 2: Üben von Pop-Rock-Songs

Abb. 3: Klassenöffentliches Vorspiel Abb. 4: Bewertung des Ensemblespiels

nen wie gewohnt an verschiedene Instrumente begeben; an E-Bass, Gitarre,


Keyboard/E-Piano, Schlagzeug/E-Drums. Sie üben allein oder in der Gruppe
stilecht vier unterschiedliche Pop-Rock-Songs, wobei jeder der Songs einen
anderen Schwierigkeitsgrad hat. Währenddessen begibt sich der Lehrer von
Schüler*in zu Schüler*in und steht helfend zur Seite. Er spielt vor, klatscht mit
und erklärt die Übeblätter.
Anschließend sammeln sich die Schüler*innen wieder im Stuhlkreis und
der Lehrer fragt, wer heute bereit wäre, vorzuspielen. Einige Schüler*innen
melden sich und sammeln sich an den Instrumenten zum klassenöffentlichen
Vorspiel. „Knockin‘ on Heaven‘s Door“ wird mit Hilfestellung des Lehrers
zwei Mal in unterschiedlichen Besetzungen musiziert. Am Stundenende be-
wertet der Lehrer das Ensemblespiel und vergibt dafür Noten.

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164 Daniel Prantl

Analyse musikkultureller Bruchstücke in der ersten Stunde

In der ersten Stunde finden sich nur wenige unterschiedliche musikkulturelle


Bruchstücke. Musikalische doings, sayings, Artefakte und Praktiken ähneln
doings, sayings, Artefakten und Praktiken, wie sie beim Musizieren in Pop-
Rock-Bands vollzogen werden (die Spielweise der Instrumente, das Songmate-
rial, das Instrumentarium, der Gebrauch der Notation, das Einzählen vor dem
Ensemblespiel etc.). Dennoch finden sich auch Spuren anderer abwesender
musikkultureller Kontexte: zum einen in Form des ungenutzten Instrumenta-
riums, zum anderen beim Dirigieren (ca. 32:10–35:10).
Beim Üben und gemeinsamen Musizieren wird bandtypisches Instrumen-
tarium in einer typischen Rock-Pop-Spielweise gebraucht (vgl. auch Abb. 1 und
2). Im Klassenraum stehen allerdings auch musikalische Artefakte wie Congas
und ein Konzertflügel, die beim Musizieren in dieser Stunde zwar nicht einge-
setzt werden, die aber dennoch für die Schüler*innen sichtbar sind. Sie bergen
das Potential, dass sich (im Stillen) Überlagerungen kultureller Bruchstücke
ereignen, da sie nicht nur in das Pop-Rock-Musizieren integriert werden könn-
ten, sondern auch Gebrauchsweisen anderer musikkultureller Zusammen-
hänge nahelegen.
Zudem fallen miteinander verbundene doings und auch sayings des Lehrers
beim gemeinsamen klassenöffentlichen Vorspiel auf. Gut sichtbar stellt er sich
vor die Schüler*innen, bündelt auf diese Weise deren Aufmerksamkeit und
leitet das gemeinsame Musizieren an. Er klatscht und tritt den Groove des
Schlagzeugs, singt mit und stellt so die musikalische Form der Pop-Rock-Songs
zur Schau (vgl. Abb. 5 und 3). Diese Praktik ähnelt Dirigierpraktiken, wie sie
beispielsweise im klassischen Konzert oder auch bei Big-Band-Konzerten viel-
fältig eingesetzt werden.

Abb. 5: Pop-Rock Dirigierweise bei 34:41

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Überlagerungen musikkultureller Bruchstücke im Klassenzimmer 165

Abb. 6: Stille mit Musik Abb. 7: Stopp-Tanz

Abb. 8: Erinnern der zu vertonenden Abb. 9: Durchläufe der Klanggeschichte


Geschichte

Musikalische Gestaltung einer Geschichte – Überblick über die zweite Stunde

Die Stunde beginnt mit den Aufwärmphasen ‚Stille mit Musik‘ und ‚Stopp-
Tanz‘. Bei der ‚Stille mit Musik‘ spielen einzelne Schüler*innen an Monochord
und Sansula, während die anderen aufmerksam zuhören. Die Phase wird
kurz reflektiert. Beim ‚Stopp-Tanz‘ spielt der Lehrer Klavier, während sich die
Schüler*innen passend zur Musik im Raum bewegen sollen.
Anschließend wird das Thema der Stunde, die musikalische Gestaltung ei-
ner Geschichte, präsentiert. Zunächst wird die Geschichte, die in den beiden
letzten Stunden entwickelt wurde, in einem Unterrichtsgespräch in Erinne-
rung gerufen. Für einen Abschnitt der Geschichte sollen die Schüler*innen
dann aus ihrer Sicht passende Instrumente wählen und ausprobieren, welche
Klänge sie an welcher Stelle dazu produzieren wollen.
Schließlich wird im Plenum, moderiert durch den Lehrer, besprochen, wie
die verschiedenen Klangelemente zusammengefügt werden sollen. Am Ende
der Stunde dirigiert der Lehrer zwei Durchläufe der Klanggeschichte.

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166 Daniel Prantl

Analyse musikkultureller Bruchstücke in der zweiten Stunde

In der zweiten Stunde findet sich eine Vielzahl unterschiedlicher musikkultu-


reller Bruchstücke, die sich überlagern und vermischen. Im Folgenden deuten
wir die Analysen einiger ausgewählter Sequenzen an.

Fußballfanmusik (ca. 30:30–30:50): In der Unterrichtsphase, in der passende


Klänge zur Geschichte ausprobiert, besprochen und zusammengefügt werden,
spielt sich die folgende Szene ab:

00:30:32 S18: Geht auch das da? (S1 spielt einen kurzen synkopierten Rhythmus
auf der großen Trommel)
00:30:38 L: (während L den Rhythmus von S1 gestisch und verbal imitiert,
spricht er in ihr Trommelspiel hinein) Wir sind hier nicht beim Fuß-
ball!
00:30:39: Gelächter einiger Schüler*innen.
00:30:42 L: Sechzig, Sechzig…!
00:30:44 S2: (unverständlich) Is eh a Sechziger Fan!
00:30:45 S3: Sechzig! (langgezogen)
00:30:49 S3: Sechzig ist übelst schlecht.
00:30:51 L: (sich unmittelbar an andere S wendend) Von der S, das finde ich,
passt irgendwie auch gut.

Abb. 10: S1 an großer Trommel bei 30:37

8
Schülerin S1: Abb. 10 hinten links an der großen Trommel; S2: nicht abgebildet; S3: Abb. 9
hinten rechts an der Djembe; Lehrperson L: Abb. 9 vorne links.

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Überlagerungen musikkultureller Bruchstücke im Klassenzimmer 167

Das saying des Lehrers „Wir sind hier nicht beim Fußball“ (30:38), welches
sich auf das Trommeln der Schülerin S1 bezieht, verweist unmittelbar auf
einen musikkulturellen Zusammenhang jenseits des Klassenraums – auf
eine Fußballfanmusik. Neben dem Rhythmus weisen Form und Klang der
von der Schülerin S1 verwendeten Trommel (vgl. Abb. 10) Ähnlichkeiten zu
musikalischen Artefakten – Trommeln – auf, wie sie auch bei Fußball-Fange-
sängen unterstützend eingesetzt werden;9 diese Aspekte könnten das die
Sequenz einleitende saying des Lehrers (30:38) geradezu hervorgerufen
haben. Auch die sich anschließenden doings und sayings des Lehrers passen
in das Bild: Er imitiert das Trommeln der Schülerin S1 (30:38) und ruft kurz
danach „Sechzig, Sechzig“ (30:42), was nicht nur im Wortlaut, sondern auch
in Rhythmisierung und Tongebung Fangesängen des Münchner Fußballver-
eins gleicht.10 Die Sequenz lodert kurz auf (vgl. auch im weiteren Verlauf S2
und S3 im Transkript) und wird durch den Lehrer abrupt abgebrochen, da er
sich nun einem weiteren Gestaltungsvorschlag zur Vertonung der Geschichte
zuwendet (30:51).

Instrumentarium (ca. 22:00–50:00): Betrachtet man für einen Moment einige


Instrumente wie Xylophone und Metallophone, Djembe und Cajon, die von
den Schüler*innen ausgewählt und beim gemeinsamen Komponieren und
Musizieren gebraucht werden, wird deutlich, dass diese auch in ganz verschie-
denen abwesenden musikkulturellen Kontexten verwendet werden.

Klassisch-romantischer Kompositionsprozess (ca. 17:50–31:20): Der Prozess, in


dem die Klanggeschichte erarbeitet wird, weist Ähnlichkeiten zu klassisch-
romantischen Kompositionsprozessen auf. Zunächst wurde in einem Unter-
richtsgespräch aus der in der letzten Stunde entwickelten Geschichte eine
Gefühlsabfolge abgeleitet. In der hier untersuchten Sequenz wird nun die
Geschichte und Gefühlsabfolge allmählich an musikalische Gestaltungsvor-
schläge gebunden, wodurch sie zu einer Klanggeschichte verschmelzen. Auf
diese Weise wird das musikalische Produkt arrangiert und instrumentiert (vgl.
Schleuning, 1978, S. 29–31). Das ähnelt der Gestaltung einer Form von Instru-
mentalmusik, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommt und welche die
musikalische Verarbeitung von Gefühlen als zentrales Merkmal aufweist (vgl.
Schleuning, 1978, S. 17). Der Prozess wird im folgenden Abschnitt angedeutet:

9
Vgl. ein Fanvideo des TSV 1860 München https://www.youtube.com/watch?v=f3fTX-7i_8g
bei 1:34, 1:40, 1:47 und 2:34 [12.3.2020].
10
Vgl. das Fanvideo in Fußnote 9 ab 1:33.

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168 Daniel Prantl

00:19:54 S4: Oder die einen spielen so eine Liebesmusik. Und dann kommt einer,
der macht mit der Trommel so: duff, duff.
00:20:00 L: Genau.
00:20:01 S5: Ja und es wird immer lauter.
00:20:02 S6: Und dann bumm.
00:20:04 L: Nee.
00:20:06 S6: Und dann wieder traurig, weil sie wieder traurig ist.
00:20:08 S6: Und fängt an zu weinen und dann…

Dirigieren (z. B. ca. 31:20–35:40): Auch das Dirigat des Lehrers, das sich wäh-
rend der Durchläufe der Klanggeschichte gut beobachten lässt, kann als ein
Bruchstück klassischer Musik gedeutet werden. Zusätzlich zu einigen auch in
der ersten Stunde beschriebenen Dirigier-doings (gut sichtbar platzieren, Auf-
merksamkeit bündeln etc.) ähneln die dargestellten Handbewegungen übli-
chen doings im Konzertsaal wie z. B. dem Halten eines Tones (vgl. Abb. 11)
oder dem Andeuten von Staccato (vgl. Abb. 12). Im Gegensatz zu den oben
herausgearbeiteten Spuren klassisch-romantischer Kompositionsprozesse
wird in dieser Sequenz der kulturelle Kontext durch den Lehrer sprachlich
angedeutet. Er kündigt seine doings und sayings explizit als Dirigat an:

00:31:27 L: Hört mal zu! Wir machen das jetzt ein bisschen so: Ich zeige ein biss-
chen an, welche Instrumente dazu kommen. Das heißt, ich bin sozu-
sagen wie so eine Art Dirigent ein bisschen.

Abb. 11: Dirigierbewegung bei 23:05 Abb. 12: Dirigierbewegung bei 32:08

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Überlagerungen musikkultureller Bruchstücke im Klassenzimmer 169

Systematisierung der Ergebnisse im Vergleich

Die Ergebnisse können auf zwei Weisen interpretiert und systematisiert wer-
den. Im Vergleich lassen sich zunächst unterschiedliche Qualitäten einzelner
musikkultureller Bruchstücke beschreiben. Vier Typen werden erkennbar, die
sich darin unterscheiden, ob die musikkulturellen Bruchstücke sprachlich
angedeutet werden oder latent vorhanden sind und ob sich die Logik der
Unterrichtspraxis ihnen öffnet oder eher verschließt.
• Im Falle des ersten Typs deuten sprachliche Äußerungen einen abwesenden
musikkulturellen Zusammenhang von musikkulturellen Bruchstücken in
der Stunde an, wobei sich die Unterrichtspraxis den Bruchstücken öffnet
(Dirigieren in der zweiten Stunde).
• Auch im Falle des zweiten Typs deuten sprachliche Äußerungen einen
abwesenden musikkulturellen Zusammenhang von musikkulturellen
Bruchstücken in der Stunde an, wobei sich die Unterrichtspraxis den Bruch-
stücken eher verschließt (Fußballfanmusik).
• Der dritte Typ zeichnet sich dadurch aus, dass musikkulturelle Bruchstücke
in der Stunde latent vorhanden sind, d. h., musikkulturelle Bruchstücke in
der Stunde weisen Ähnlichkeiten zu abwesenden musikkulturellen Zusam-
menhängen auf, ohne dass dies in der Stunde sprachlich angedeutet würde.
Zudem öffnet sich die Unterrichtspraxis den Bruchstücken (klassisch-
romantischer Kompositionsprozess; Dirigieren in der ersten Stunde; Instru-
mentarium in der zweiten Stunde).
• Auch der vierte Typ beschreibt musikkulturelle Bruchstücke, die in der
Stunde latent vorhanden sind, wobei sich die Unterrichtspraxis diesen eher
verschließt (Instrumentarium in der ersten Stunde).
Neben der Frage nach Qualitäten einzelner musikkultureller Bruchstücke ist
von Interesse, ob es mit Blick auf die gesamte Stunde zur Überlagerung unter-
schiedlicher musikkultureller Bruchstücke kommt. Zudem können Aussagen
darüber getroffen werden, wie musikkulturelle Bruchstücke mit pädagogi-
schen Unterrichtspraktiken verknüpft sind und welche Bedeutung musikkul-
turellen Differenzen damit im Kontext der gesamten Stunde zukommt.
• In allen Phasen der ersten Stunde ist die Reproduktion von Pop-Rock-Musik
zentral, was dazu führt, dass sich nur wenige Überlagerungen unterschied-
licher musikkultureller Bruchstücke finden. Das heißt, die pädagogischen
Unterrichtspraktiken verhindern, dass sich unterschiedliche musikkultu-
relle Bruchstücke überlagern. Musikkulturelle Differenzen werden dem-
nach weit an den Rand des Unterrichtsgeschehens gedrängt, die Stunde
scheint sich ihnen eher zu verschließen.

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170 Daniel Prantl

• In der zweiten Stunde geht es um die gemeinsame Gestaltung einer Klang-


geschichte. Durch die Erarbeitung des musikalischen Produkts im Klas-
senverband kommt es im Gegensatz zur ersten Stunde an vielen Stellen im
Unterrichtsverlauf zur Kombination und Vermischung unterschiedlicher
musikkultureller Bruchstücke. Das heißt, die pädagogischen Unterrichts-
praktiken ermöglichen, dass sich unterschiedliche musikkulturelle Bruch-
stücke überlagern. Musikkulturelle Differenzen rücken demnach ins Zen-
trum des Unterrichtsgeschehens, die Stunde scheint sich ihnen eher zu
öffnen.

Fazit und Ausblick

Die präsentierte Studie macht eine praxeologische Perspektive auf (musik-)


kulturelle Differenzen im Musikunterricht fruchtbar, die neben dem bedeu-
tungszuweisungsorientierten Kulturbegriff nach Barth (2008) ebenfalls eine
Variante des bedeutungsorientierten Kulturbegriffs darstellt. Damit verschiebt
sich das Interesse weg von der Frage, ob und in welcher Form bestimmte Musi-
ken möglicherweise Befremden bei Schüler*innen hervorrufen, hin zu der
Frage, ob und wie sich Bruchstücke unterschiedlicher Musiken im Klassen-
zimmer überlagern.
An anderer Stelle könnten weitere Stunden zur Analyse herangezogen
werden, um die hier beschriebenen Typen musikkultureller Bruchstücke
weiter auszudifferenzieren. Darauf aufbauend könnten auch Qualitäten von
Überlagerungen musikkultureller Bruchstücke exploriert werden, um dann
das Verhältnis zwischen musikkulturellen Differenzen und pädagogischen
(und auch musikalischen) Unterrichtspraktiken genauer in den Blick nehmen
zu können.
Im Anschluss daran stellt sich zudem die Frage, ob auch die an der Unter-
richtspraxis beteiligten Schüler*innen und die Lehrperson Überlagerungen
unterschiedlicher musikkultureller Bruchstücke als solche (verbal oder non-
verbal) thematisieren. Gegebenenfalls könnte dann von musikbezogenen in-
terkulturellen Situationen die Rede sein. Deren Untersuchung könnte – unter
anderem im Hinblick auf Merkmale von in diesem Zusammenhang wün-
schenswerten Bildungsprozessen (vgl. Einleitung) – ebenfalls Gegenstand
weiterführender Forschung darstellen. Insgesamt ergeben sich damit also
auch neue Denkanstöße für konzeptionelle Überlegungen zur Gestaltung
­eines interkulturell orientierten Musikunterrichts.

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Überlagerungen musikkultureller Bruchstücke im Klassenzimmer 171

Literatur

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tierten Musikpädagogik. Augsburg: Wißner.
Barth, D. (2010). Musik-Kulturen im Klassenzimmer – Musik und Menschen in interkultu-
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stunden im Licht der Theorien (S. 201–220). Hildesheim u. a.: Georg Olms.
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Blanchard, O. (2018). Der bedeutungsorientierte Kulturbegriff revisited – aus einer kultur-
wissenschaftlichen Perspektive. In B. Clausen & S. Dreßler (Hrsg.), Soziale Aspekte des
Musiklernens (S. 277–290). Münster u. a.: Waxmann.
Campos, S. (2019). Praktiken und Subjektivierung im Musikunterricht. Zur musikpädagogischen
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Dinkelaker, J. & Herrle, M. (2009). Erziehungswissenschaftliche Videographie. Eine Einführung.
Wiesbaden: VS.
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Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 172 13.08.20 08:45


Jonas Völker

„… als ob ein Deutscher sowas hört“


Kulturelle Repräsentationen und ethnische Projektionen im
interkulturell orientierten Musikunterricht

„… as if a German would listen to something like that“


Cultural Representations and Ethnic Projections in
Intercultural Music Lessons

Der vorliegende Beitrag schafft einen Einblick in die Vorstellungen und Perspektiven
der Lernenden im interkulturell orientierten Musikunterricht und adressiert damit ein
Forschungsdesiderat innerhalb der deutschsprachigen Fachdiskussion. Anhand zweier
videografierter Unterrichtssequenzen werden handlungsleitende Orientierungen der
Schülerinnen und Schüler mithilfe der dokumentarischen Methode rekonstruiert. Die
Ergebnisse zeigen, dass sich die unterrichtlichen Aushandlungen bezüglich einer als
fremd wahrgenommenen Musik häufig in ethnischen Projektionen manifestieren. Diese
zielen auf die interaktive Konstruktion und Identifikation kollektiver Zugehörigkeiten.
Gerahmt werden die empirischen Erkenntnisse durch aktuelle theoretische Positionen
aus der Erziehungswissenschaft, Musikpädagogik und Soziologie.

The article provides an inside view into the conceptions and practices of students in
intercultural music lessons. Based on video data, student orientations are reconstructed
using the documentary method. The results from this study show that students use
affective and intuitive images to describe ‘unknown’ music and thus tend to identify
collective affiliations. These empirical findings are framed by recent theoretical posi-
tions from educational science, music education and sociology. With a focus on actors’
perspectives, the study addresses a research gap in the German-speaking discourse of
intercultural music education.

Einleitung
Das Themenfeld Interkulturalität und Musikunterricht weist eine große Rele-
vanz und Aktualität innerhalb der deutschsprachigen musikpädagogischen
Diskussion auf. Diese dokumentiert sich sowohl an der Präsenz thematischer
Beiträge im Rahmen von Fachtagungen und -publikationen als auch an „[d]er

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174 Jonas Völker

Fülle an publizierten Unterrichtsmaterialien und theoretisch-konzeptionellen


Arbeiten“ (Ott, 2006, S. 359).1 Zudem wächst kontinuierlich die Anzahl empi-
rischer Beiträge. Zu nennen sind hier insbesondere die Studien von Thomas
Ott (2006), Maria Wurm (2006), Anna Magdalena Schmidt (2015) und Johann
­Honnens (2017). Wenngleich diese Arbeiten mit der thematischen Perspektive
„Migration und Migrantenkinder“ (Ott, 2012, S. 124) und der Erforschung von
Musikpräferenzen vor allem türkischer Migrantinnen und Migranten wichtige
Themen bearbeiten, bleiben weiterhin zentrale Fragen offen. So konstatiert
Bernd Clausen zu Recht, dass „Zielerwartungen an so genannte inter- oder
transkulturell orientierte Musikpädagogik/-didaktik […] weder evidenzbasiert
[sind], noch sind die Erscheinungsformen einer (trans)kulturellen Verfasstheit
im schulischen Musikunterricht ausreichend untersucht“ (Clausen, 2013, S. 9;
vgl. hierzu auch Ott, 2006, S. 359).
Dieser Beitrag widmet sich diesem Desiderat, indem die Perspektive der Ler-
nenden im interkulturell orientierten Musikunterricht (vgl. u. a. Barth, 2013a)
in den Blick genommen und der Frage nachgegangen wird, wie sich vorunter-
richtliche Erfahrungen in unterrichtlichen Begegnungen mit einem interkultu-
rellen Lerngegenstand konkretisieren. Hierfür bieten Forschungen zu Schüler-
vorstellungen sowie allgemeinpädagogische Überlegungen zum interkulturellen
Lernen interdisziplinäre Anknüpfungspunkte. Die empirischen Erkenntnisse
werden mithilfe der Konzepte Kulturelle Repräsentationen und Ethnische Projek-
tionen theoretisch gerahmt.

Fachdidaktische Forschung zu Schülervorstellungen

Unter dem Begriff Schülervorstellungen und den weitgehend synonym verwen-


deten Bezeichnungen Präkonzepte, Alltagsvorstellungen, Lernerperspektiven, Fehl-
vorstellungen, Misconceptions werden innerhalb der fachdidaktischen Lehr-
Lern-Forschung allgemein „die Vorstellungen von Lernenden zu Phänomenen
und Begriffen“ (Häußler, Bünder, Duit, Gräber & Mayer, 1998, S. 176) verstan-
den. Diese gründen auf individuellen, gesellschaftlichen und alltagsweltlichen,
aber auch medial vermittelten Erfahrungen (vgl. Holfelder, 2018, S. 122). Aus
Sicht konstruktivistischer Lerntheorien sind diese Vorstellungen für Lernpro-
zesse wichtig, da davon ausgegangen wird, dass neues Wissen nicht passiv
übernommen wird, sondern aktiv mit vorhandenen Wissensbeständen ver-
knüpft werden muss (vgl. Stork, 1995, S. 15). Damit werden das „Vorwissen

1
Im Rahmen dieses Beitrages wird nicht der Anspruch erhoben, den Diskurs in seiner ganzen
Breite abzubilden.

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„… als ob ein Deutscher sowas hört“ 175

bzw. [die] Vorstellungen der Schüler*innen“ (Holfelder, 2018, S. 401) als


Anknüpfungspunkte für das Lernen im Unterricht betrachtet (vgl. Hammann
& Asshoff, 2015, S. 15). Bestehende Modelle, die vorwiegend im Kontext der
naturwissenschaftsdidaktischen Forschung entwickelt wurden, fokussieren
allerdings zumeist explizierbare Schülervorstellungen bzw. „rein fachliche[s]
Vorwissen“ (Holfelder, 2018, S. 22), „in denen in sich logische Erklärungen
geäußert werden“ (ebd., S. 126). Affektive oder symbolische Dimensionen eines
unterrichtlichen Gegenstandes sind dagegen nicht einbezogen (vgl. ebd.).
Im Gegensatz dazu berücksichtigt der didaktische Ansatz der Alltagsphanta-
sien gerade jene impliziten Aspekte menschlichen Denkens, Bewertens sowie
Handelns und integriert diese in didaktische Überlegungen (vgl. ebd., S. 22). Im
Unterricht werden Vorstellungen, Assoziationen, Gefühle und Werte permanent
aktualisiert, die maßgeblich die Beschäftigung mit einem Thema beeinflussen
(vgl. ebd., S. 120). Diese Aspekte sind selten bewusst und meist in den „intuitiven,
bilderreichen, geschichtenreichen und metaphorischen Fassungen eines Sachver-
haltes“ wirksam (Combe & Gebhard, 2012, S. 9). Anhand von Alltagsphantasien
werden Welt- und Menschenbilder transportiert, die aus individueller Erfahrung,
Sozialisation oder kulturellem Hintergrund stammen (vgl. Gebhard, 2007).
„Der Ansatz Alltagsphantasien fokussiert auf Subjektivierungen, die überwie-
gend in symbolisch aufgeladenen Geschichten sichtbar werden, die Wünsche,
Wertorientierungen, Hoffnungen und Ängste transportieren. Es sind gerade sol-
che Geschichten, Phantasien bzw. Mythen, die soziale Realität für das Indivi-
duum konstruieren.“ (Holfelder, 2018, S. 130)

Demzufolge lassen sich Alltagsphantasien als Vorstellungen beschreiben, die dem


unterrichtlichen Lerngegenstand individuelle, d. h. „hohe subjektive“ Bedeutung
verleihen (Born, 2007, S. 74). Im Unterschied zur herkömmlichen Schülervorstel-
lungsforschung werden über den theoretischen Bezugsrahmen Alltagsphantasien
„subjektivierende Bedeutungen“ explizit in den Blick genommen und „zum
Angelpunkt sinnvollen und effektiven Lehrens und Lernens“ (Born & Gebhard,
2005, S. 259) gemacht. Aus pädagogischer bzw. didaktischer Perspektive wird
angenommen, dass Lernprozesse „dann erfolgreicher und sinnvoller sind, wenn
der alltägliche, subjektivierende, intuitive Zugang zu den Phänomenen im Unter-
richt nicht nur geduldet, sondern zum Gegenstand expliziter Reflexion und des
sozialen Austausches gemacht wird“ (Combe & Gebhard, 2012, S. 112).2

2
Die sich hier abzeichnenden Möglichkeiten einer unterrichtlichen Umsetzung im Sinne eines
didaktischen Prinzips werden im Folgenden nicht vertieft. Stattdessen steht die empirische
Rekonstruktion dieser spezifischen Form von Schülervorstellungen im Fokus der weiteren Aus-
führungen.

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176 Jonas Völker

Schülervorstellungen im Kontext interkulturellen Lernens

Im Kontext des interkulturellen Lernens hat bisher noch keine dezidierte


Auseinandersetzung mit dem Ansatz der Alltagsphantasien stattgefunden.
Allerdings haben Dorothea Bender-Szymanski und Hermann-Günter Hesse
(1993) die Relevanz von Alltagstheorien für das interkulturelle Lernen im Sinne
subjektiver, impliziter, naiver oder alltäglicher Erklärungssysteme herausge-
arbeitet (vgl. ebd., S. 147). Sie fragen, inwieweit sich kulturell gebundene
Bedeutungssysteme als Teil von impliziten Erklärungssystemen im Denken
niederschlagen und handlungsleitend sind. Den „psychologischen Zugang
über Alltagstheorien“ (ebd.) empfinden sie als besonders ergiebig, um
Erkenntnisse über die Art des Wissens sowie über dessen Veränderungen zu
erhalten. Schließlich seien es „die Alltagserklärungssysteme, auf die interkul-
turelles Lernen Einfluss zu nehmen versucht, sowohl bei den Schülern als
auch bei den Lehrern“ (ebd., S. 148).
Wolf Rainer Leenen und Harald Grosch (1998) betonen ebenfalls die sozial-
psychologischen Einflussfaktoren als bestimmend für den interkulturellen
Lernprozess. Als ein Grundproblem des „Kultur-Lernens“ (ebd., S. 36) bezeich-
nen sie, dass die Integration kultureller Muster und Bedeutungsstrukturen
eher die kulturgeprägten Erwartungsstrukturen bestätigt, als dass sie zu einer
Revision bewährter Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster beiträgt (vgl.
ebd.). Entsprechend gilt es kritisch zu beleuchten, inwiefern beim interkultu-
rellen Lernen das ‚Eigene‘ und das ‚Fremde‘ überhaupt erst identifiziert und
damit Differenz konstruiert wird.
Arnd-Michael Nohl zielt in seiner „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“
(Nohl, 2014, S. 134) auf eben diese Dimension von eigen- und fremdkultureller
Zugehörigkeit ab. Darin versteht er Kultur als Repräsentation kollektiver Zuge-
hörigkeiten, die sich dort vollzieht, „wo über die Grenzen von Wir-Gruppen
hinweg […] kommuniziert wird“ (ebd., S. 138).

„Kulturelle Repräsentationen tendieren dazu, kollektive Zugehörigkeiten für


möglichst alle erkennbar zu identifizieren und symbolisch zu verdichten. Denn
kulturelle Zuschreibungen leben von ihrer Prägnanz. Nur wenn auf Anhieb
erkennbar ist, was repräsentiert wird, hat die kulturelle Repräsentation eine
Funktion.“ (ebd., S. 138)

Nohl unterscheidet zwischen kulturellen Selbst- und Fremdrepräsentationen, um


sich selbst oder ‚den Anderen‘ eine kollektive Zugehörigkeit zuzuschreiben.
Dabei ist gerade die Wechselwirkung dieser Repräsentationen von wesentli-
cher Bedeutung, da nur das, was von anderen erkannt wird, der eigenen

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„… als ob ein Deutscher sowas hört“ 177

Selbstrepräsentation dienen kann (vgl. ebd., S. 139). Diese Strategie tritt insbe-
sondere zutage, wenn kollektive Zugehörigkeiten in Bezug auf ein national oder
ethnisch konzipiertes Kulturverständnis konstruiert werden (vgl. ebd.).
Dorothee Barth etabliert in ihrem Aufsatz „In Deutschland wirst du zum Tür-
ken gemacht!“ (Barth, 2013b) das Begriffspaar projektive und symbolisch inszenierte
Ethnizität sinnverwandt zum Phänomen der kulturellen Selbst- und Fremdreprä-
sentationen. Ausschlaggebend hierfür ist die Beobachtung, dass vor allem Men-
schen mit Migrationshintergrund in ihrer Alltagswelt weiterhin durch die Zuge-
hörigkeit zu einer Ethnie, also über ihre Abstammung, definiert werden. Durch
ethnische Projektionen werden Mitgliedern einer Ethnie Gemeinsamkeiten un-
terstellt, die sie von Mitgliedern anderer Ethnien unterscheiden (vgl. ebd., S. 46) –
oder anschließend an Nohl: anhand ethnisch-kultureller Fremdrepräsentatio-
nen werden kollektive Zugehörigkeiten abgeleitet. Zudem beschreibt Barth das
Phänomen des Übergangs von „ursprünglich diskriminierend und beleidigend
gemeinte[n]“ Fremdzuschreibungen zu „positiv konnotierte[n] Selbstbeschrei-
bungen“ (ebd., S. 45) und leitet aus dieser Bedeutungsverlagerung die Strategie
der symbolisch inszenierten Ethnizität ab. Sie betont gleichfalls die Wechselwir-
kungen von Fremd- und Selbstrepräsentationen, indem sie diese Inszenierungen
„als Reaktion auf jahrzehntelange Projektionen von ethnischen Zuschreibungen
seitens der Mehrheitsgesellschaft“ (ebd., S. 46) beschreibt.
Auch die Musikpräferenzstudien von Wurm (2006), Schmidt (2015) und
Honnens (2017) verweisen auf die Tendenz zur Ethnisierung, sei es durch die
„Essenzialisierung einer ‚imaginären Türkei‘“ (Honnens, 2017, S. 144–145), die
Konstruktion einer „imaginären Grenze“ und damit einhergehend einer Di-
chotomie „‚Ich‘ und die ‚Anderen‘“ (Schmidt, 2015, S. 174) oder durch das Beru-
fen auf eine assoziierte (türkische) Herkunft als „hervorragende Projektions­
fläche“ (Wurm, 2006, S. 199).

Fragestellung

Im zurückliegenden Abschnitt wurde aufgezeigt, dass das Wissen um die Vor-


stellungen der Lernenden für den Bereich des interkulturellen Lernens von
großer Bedeutung ist. Vorunterrichtliche Alltagserklärungssysteme sind kons-
titutiv für interkulturelle Lernprozesse und fungieren somit als Lernausgangs-
lagen. Der Ansatz Alltagphantasien berücksichtigt dabei die symbolischen und
affektiven Dimensionen, die ein Lerngegenstand hervorruft und integriert
somit auch die impliziten Vorstellungen der Lernenden. Sie spielen eine wich-
tige Rolle im interkulturell orientierten Musikunterricht, da im Kulturkontakt

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178 Jonas Völker

kulturell gebundene Bedeutungssysteme transportiert werden, die sich im


Denken niederschlagen und handlungsleitend sind. Anschließend an Nohl und
Barth offenbaren sich diese Bedeutungssysteme anhand ethnisch-kultureller
Projektionen bzw. Repräsentationen, die sowohl der Selbst- als auch der Fremd-
beschreibung dienen.
Somit wird deutlich, dass empirisch fundierte Erkenntnisse über die Vor-
stellungen der Lernenden im interkulturell orientierten Musikunterricht von
großer Relevanz für die Gestaltung gelingenden Unterrichts sind. Dieser Bei-
trag geht daher der Frage nach, wie Schülerinnen und Schüler ‚fremden‘ musi-
kalischen Lerngegenständen im Musikunterricht begegnen.

Methodisches Vorgehen

Um der dargestellten Fragestellung nachzugehen, wurde mit der dokumenta-


rischen Methode ein Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung gewählt,
das unlängst für die „dokumentarische Unterrichtsforschung“ (Asbrand &
Martens, 2018) weiterentwickelt wurde. Die Methode verfolgt das Ziel, das der
Alltagspraxis zugrundeliegende implizite, handlungsleitende Wissen der
Beforschten zu rekonstruieren (vgl. Bohnsack, Nentwig-Gesemann & Nohl,
2013, S. 12). Zentral ist hierbei die Frage nach der Sozialität des Wissens und die
konstitutive Differenzierung zwischen dem kommunikativen Wissen, welches
den Befragten explizit und reflexiv zugänglich ist, und dem konjunktiven,
atheoretischen und impliziten Wissen, das auf Basis konjunktiver Erfahrungen
erworben wurde und handlungsleitend ist (vgl. ebd., S. 15).3 Damit eignet sich
die Analyserichtung der dokumentarischen Methode zur Rekonstruktion der
expliziten ebenso wie der intuitiven und impliziten Wissensbestände der Ler-
nenden, die das Konzept der Alltagsphantasien beschreibt.
Die Datenbasis für diesen Beitrag bilden Videografien von unterrichtlichen
Gruppenarbeiten von Lernenden einer 7. Klasse eines baden-württembergi-
schen Gymnasiums.4 Als Einstieg in die Unterrichtseinheit hörten die Schüle-
rinnen und Schüler das Musikstück Bint Elshalabia des Ensembles Arabandi.5
Nachdem die Lernenden zunächst in Einzelarbeit erste Assoziationen zur
Musik gesammelt und niedergeschrieben hatten, diskutierten sie in der daran
anschließenden Gruppenarbeit „Situationen und Erlebnisse, an die [sie] diese

3
Zur detaillierten Darstellung des methodischen Vorgehens vgl. Asbrand & Martens, 2018,
S. 153–236.
4
Die Studie wird im Projekt KoMuF – Kooperative Musiklehrer/innenbildung Freiburg vom
Land Baden-Württemberg im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung gefördert.
5
https://www.youtube.com/watch?v=6YUv56Cl4UE [13.04.2020].

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„… als ob ein Deutscher sowas hört“ 179

Musik erinnert.“6 Im Fokus des folgenden Abschnittes stehen die Sequenzen


Mann auf Kamel (Gruppe B) und „Kanakenmusik“ (Gruppe E). Diese ereigneten
sich annähernd zeitgleich an den Tischgruppen B und E (s. Abb. 1).

Abb. 1: Ausgewähltes Fotogramm zur Visualisierung der Raumorganisation

Sequenz I: Mann auf Kamel


Transkript mit integrierter vor-ikonographischer Beschreibung Fotogramme
149 Sw1: es erinnert mich irgendwie an so=n richtig hässlichen Mann wo
150 dann gerade auf einem Kamel durch die Wüste reitet
151 Sw2: nickend @joa@
152 Sw4: └so=n () arabisch eher
153 Sw3: └Joa auch
154 Sw5: └solche solche ähm diese Typen die dann
155 immer noch so so=n Schlitz so haben, umrandet mit Daumen und Zeigefinger
156 ausgehend von der Nasenwurzel die Augenhöhlen; nimmt in der Folge die zu Fäusten
157 geballten Hände im 90°-Winkel vor den Körper und bewegt Oberkörper und Kopf dabei (Z. 155-156)
158 lachend nach vorne und hinten
159 Sw1: └jaja genau die
160 Sw4: └die so
161 durch die Wüste reiten so, jaja;
162 Sw2: └monströs aussehen @(2)@
163 Sw1: └OK=n Mann reitet
164 (.) blickt zu Sw2 wir schreiben jetzt nicht Monster weil sonst ist
165 irgendwie schon rassistisch
(Z. 156-158)

Abb. 2: Transkript Sequenz I Mann auf Kamel

6
Mit der Aufgabenstellung wurde ein thematischer Fokus gesetzt. Entsprechend sind die fol-
genden Äußerungen vor dem Hintergrund unterrichtlicher Handlungserwartungen (vgl.
Bohnsack, 2017, S. 106) sowie im Hinblick auf die Orientierung der Lernenden an der Auf­
gabenerledigung zu verstehen (vgl. Asbrand & Martens, 2018, S. 20).

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180 Jonas Völker

Interpretation der Sequenz Mann auf Kamel 7

Schülerin 1 (Sw1) initiiert das Thema der Sequenz und stellt der Gruppe ihre
Assoziation eines „richtig hässlichen Mann[es]“ vor, der „auf einem Kamel
durch die Wüste reitet“. Sie überführt damit den musikalischen Stimulus in
eine bildreiche Geschichte, aus der eine geographische Zuordnung abgelei-
tet werden kann. Während das Verb „erinnern“ auf eine vorunterrichtliche
Vorstellung verweist, verbleibt die Schülerin mit dem unbestimmten Artikel
„so=[ei]n“ auf einer sehr allgemeinen Ebene und adressiert somit kein kon-
kretes Gegenüber. Zudem lässt sich der Ausdruck „richtig hässlich“ als
bewusst degradierende Äußerung verstehen. Nach Garfinkel haben soge-
nannte Degradierungszeremonien „die Funktion, sich gemeinsamer (Identi-
täts-) Werte oder (Identitäts-) Normen zu vergewissern“ (Garfinkel, 1967,
S. 207, zitiert nach Bohnsack, 2017, S. 305) und sich gleichzeitig dem oder den
Anderen gegenüber abzugrenzen.
Sw2 bestätigt ihre Mitschülerin lachend und scheint damit der Gruppe zu
signalisieren, dass sie Sw1s Assoziationen und ablehnende Haltung teilt.
Zeitgleich zu Sw2 antwortet auch Sw4 auf das aufgeworfene Thema. Sie dif-
ferenziert jedoch und modifiziert den im Raum stehenden Orientierungsge-
halt („arabisch eher“) und schränkt somit gleichzeitig seine Reichweite ein.
Sw5 spricht in der Folge von „Typen“, die einen „Schlitz“ auf Höhe der
Augenpartie haben. Dies ist ebenso wie die anschließende Gebärde eines
Reitenden an der inkorporierten Performanz der Schülerin abzulesen, die
keiner weiteren verbalen Explikation bedarf. Auffällig ist, dass Sw5 hier erst-
mals in den Plural wechselt und damit offensichtlich ein imaginiertes Kol-
lektiv adressiert. Zudem scheint der „Schlitz“ auf eine typische Kleiderord-
nung zu verweisen, indem die Schülerin durch das Adverb „immer“ die Art
und Beschaffenheit der Kleidung als ausschließlich postuliert. Die Verbin-
dung des verbal Geäußerten und des korporierten Ausdrucks deutet darauf
hin, dass Sw5 die Gestalt eines Beduinen oder eines Targi beschreibt. Die
Schülerin artikuliert also einen Höreindruck in Rückbezug auf ihr Inventar
an kulturellen Bildern. Gleichzeitig markiert ihre assoziative Äußerung
„diese Typen“ als Repräsentanten einer bestimmten Herkunftskultur. Es las-
sen sich hier ethnische Projektionen bzw. kulturelle Fremdrepräsentationen
(vgl. Barth, 2013b; Nohl, 2014) nachweisen, indem Menschen allein über ihre

7
Die „Interpretation der Sequenz“ fasst die Ergebnisse der ausführlichen (formulierenden und
reflektierenden) dokumentarischen Interpretation zusammen. Diese knappe Darstellung
dient dem Überblick und der Veranschaulichung der behandelten Themen der Sequenz.

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„… als ob ein Deutscher sowas hört“ 181

Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe definiert werden. Wie sich in der


Folge zeigt, konstruiert die Schülerin damit für alle erkennbar eine kollek-
tive Zugehörigkeit.
Sowohl Sw1 als auch Sw4 bestätigen die Äußerung von Sw5, wobei Sw4
nochmals auf das Bild des Reiters rekurriert. Sw2 schreibt dem adressierten
Kollektiv anschließend ein monströses Aussehen zu. Dies markiert nun
zum zweiten Mal (vgl. Sw1, Z. 149) eine explizit abwertende Darstellung.
Die Äußerung geht wiederum mit einem Lachen einher. Es wird damit der
Eindruck verstärkt, dass es sich dabei um eine parasprachliche Praktik han-
delt, um einerseits anstößige Aussagen abzuschwächen und ins Lächerliche
zu ziehen und andererseits den bewussten Bruch mit den Normen zu über-
spielen.
Abschließend wechselt Sw1 wieder zurück in den Singular. An der Be-
merkung „wir schreiben jetzt nicht Monster… weil [es] sonst […] irgendwie
schon rassistisch“ sei, spiegelt sich die institutionalisierte normative Rollen-
erwartung der Schülerin (vgl. Bohnsack, 2017, S. 103). Sw1 ist sich ihres
„Schülerjob[s]“ (Breidenstein, 2006, S. 260) bewusst und ebenso der Norm,
dass rassistische Äußerungen im Rahmen des Unterrichts nicht erlaubt
sind. Das Personalpronomen „wir“ lässt vermuten, dass Sw1 ein gemeinsa-
mes und kollektiv geteiltes Ergebnis der Gruppenarbeit anstrebt. „Schrei-
ben“ impliziert im Gegensatz zum flüchtigen und internen Diskurs eine
Verbindlichkeit und Öffentlichkeit, wodurch die unterrichtliche Norm ge-
genwärtig wird. Dies scheint die Schülerin zu veranlassen, die direkte
Übertragung des verbal Ausgehandelten auf das Poster zu hinterfragen.
Durch die Nominalisierung des Adjektivs „monströs“ zum Nomen „Mons-
ter“ vollzieht sich eine Transformation von einer (kulturspezifischen) Ei-
genheit hin zu einer zugeschriebenen Identität (und damit einer Totalisie-
rung der imaginären Identität). Außerdem zeigt sich ein Übergang von der
konkreten Darstellung eines Mannes hin zur Skizzierung einer Phantasie-
gestalt, die für die Schülerinnen keine reale Entsprechung zu haben scheint.
Es dokumentiert sich eine Distanz der Schülerinnen in der Beschreibung
einer Musik, die für sie womöglich so weit entfernt von ihrer aktuellen Le-
benssituation ist, dass sie hierfür ins Reich der Märchen und Fabeln wech-
seln. Das Attribut „monströs“ weist zudem darauf hin, dass die Musik den
Lernenden eine assoziative Welt eröffnet, die mindestens unheimlich, wenn
nicht sogar furchteinflößend ist.

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182 Jonas Völker

Sequenz II: „Kanakenmusik“


Transkript mit integrierter vor-ikonographischer Beschreibung Fotogramme
169 Sw1: wie heißt des es erinnert uns an ähm […]
175 Sw1: └an (enbromaha:) ähm ausländische (.)
176 Sm1: └Filme.
177 Sw1: was soll=n wir orientalische Filme oder ähm (.)Serien
178 sagen
179 Sm2: in Richtung Sm1 └einfach Kanakenmusik führt die
180 rechte Hand mit sich berührenden Daumen und Zeigefinger zum Mund, senkt die
181 Hand, zieht die Backen ein, formt dabei einen Schmollmund, senkt den Kopf und
182 blickt dabei in Richtung Sm1 […] (Z. 179 - 182)
183 Sm2: des schneiden wir raus, hebt die linken Hand und vollführt damit eine
184 Fächerbewegung
185 Sm1: in Richtung Sm2 was hast du grad gesagt?
186 Sm2: in Richtung Sm1 @Kanakenmusik@
187 Sm1: @(4)@ führt die rechte Hand vor die Augen und reibt sich im Anschluss mit Zeige-
188 und Mittelfinger das rechte Auge
[…] (Z. 187-188)
223 Sm1: in Richtung Sw3 als ob en Deutscher sowas hört also Unterarme
224 und Handinnenflächen zeigen ebenfalls in Richtung Sw3
225 Sw2: der scheiß Deutsche.
226 Sm2: └Julian? (.) Julian? zeigt mit angewinkeltem Unterarm
227 und geöffneter flacher Hand in Richtung des Mitschülers am benachbarten
228 Gruppentisch C, der Blick ist zunächst auf Sm1 gerichtet, folgt danach der
229 Zeigerichtung, um im Anschluss wieder Sm1 zu fokussieren der Kerl würd so
230 was hör=n glaub ich (Z. 226-230)
231 Sw3: └du würdest auch nich so was hör=n. […]
233 Sm1: der hört
234 Sm2: └er hört Kinderlieder reckt den Kopf in Richtung Sm1 (singt)
235 warum bin ich so fröhlich so fröhlich so fröhlich
236 Sm1: @(.)@

Abb. 3: Transkript Sequenz II „Kanakenmusik“

Interpretation der Sequenz „Kanakenmusik“

Ebenso wie in der vorhergehenden Sequenz diskutieren die Schülerinnen und


Schüler der Tischgruppe E den Arbeitsauftrag „Nenne Situationen und Erleb-
nisse, an die dich diese Musik erinnert“. Mit den Assoziationen „Filme […]
Serien“ berufen sich sowohl Sw1 als auch Sm1 auf einen Erfahrungsschatz, der
sich aus der Rezeption medial vermittelter Bilder speist. Das Adjektiv „auslän-
disch“ grenzt den Gegenstand gegenüber den als einheimisch empfundenen
Filmen ab und scheint die darauffolgende Aussage von Sm2 „einfach Kanaken-
musik“ zu bedingen. Die daran anschließende Gestik sowie die Äußerung „des
schneiden wir raus“ deuten darauf hin, dass sich der Schüler der im unterricht-
lichen Kontext unangebrachten Vokabel bewusst ist. Ähnlich zur Parallelstelle
aus der ersten Sequenz (Z. 164–165) dokumentiert sich zunächst ein Bewusst-
sein für einen unterrichtlichen Normbruch. Auf die Nachfrage seines Mitschü-
lers Sm1 wiederholt er den Ausdruck „Kanakenmusik“, dieses Mal jedoch
lachend. Auch hier zeigt sich eine Parallele zur vorherigen Sequenz, in dem der
bewusste Bruch der unterrichtlichen Norm von einem Gelächter begleitet wird.
Homolog zur ersten Sequenz scheint sich bis hierhin eine geteilte und abwer-

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„… als ob ein Deutscher sowas hört“ 183

tende Haltung der Schüler (Sm1 & Sm2) gegenüber der Musik zu dokumentie-
ren.
Im Anschluss nimmt Sm1 nochmals rechtfertigend auf den Ausspruch „Ka-
nakenmusik“ Bezug. Mit dem irrealen Vergleichssatz „als ob ein Deutscher
sowas hört“ unterstellt der Schüler den „Deutsche[n]“, dass diese so eine Musik
nicht hören würden. Damit schließt Sm1 sich einerseits der Gruppenmeinung
an, dass es sich um ausländische Musik handeln müsse, andererseits konstru-
iert er eine Distanz zwischen der gehörten Musik und den Musikpräferenzen
der „Deutsche[n]“. Zugleich grenzt er sich mit der pauschalen Ansprache an
den „Deutsche[n]“ selbst vom adressierten Kollektiv ab. Er schafft hier eine
Dichotomie zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Nicht-Deutschen‘, wobei er sich selbst
den ‚Nicht-Deutschen‘ zuordnet. Unklar bleibt zunächst, wie der Schüler selbst
zur Musik steht.
Die Abgrenzung des Schülers gegenüber den „Deutsche[n]“ wird durch die
unmittelbaren Reaktionen seiner Mitschülerinnen und Mitschüler weiter ver-
stärkt. So reagiert Sw2 vermutlich ironisch mit „der scheiß Deutsche“. In die-
sem Fall unterstellt die Schülerin ihrem Mitschüler eine ablehnende Haltung
gegenüber den „Deutsche[n]“. Ebenfalls als direkte Reaktion auf die Aussage
seines Mitschülers Sm1 ist die Aktion von Sm2 zu deuten. Dieser reagiert
­parallel zu Sw2 und deutet mit ausgestreckter Hand auf „Julian“, den Schüler
am Nachbartisch. Damit bezieht er einen externen Stellvertreter für die
„Deutsche[n]“ ein und verortet sich somit implizit gleichfalls als Ausländer.
Setzt man Sw3s Reaktion „Du würdest auch nicht so was hören“ in Verbin-
dung mit „als ob ein Deutscher sowas hört“, wird klar, dass auch sie ihren
Mitschüler Sm1 als ‚Nicht-Deutschen‘ sieht. Gleichzeitig legt Sw3 die Unein-
deutigkeit in der Positionierung ihrer Mitschüler offen, indem sie das tatsäch-
liche Hören eben dieser Musik in Frage stellt. Sm2 unterstellt dem „deutschen”
Mitschüler zudem, er würde Kinderlieder hören.
Die Musik dient hier gleich in mehreren Fällen der ethnischen Distinktion:
Sie evoziert die Explikation einer Dichotomie zwischen ‚Deutschen‘ und
‚Nicht-Deutschen‘ und damit die Selbstrepräsentation der Schüler Sm1 & Sm2
als ‚Nicht-Deutsche‘. Unter Berufung auf die gehörte Musik wird eine distan-
zierte, vielleicht sogar ablehnende Haltung der „Deutsche[n]“ gegenüber der
als ausländisch wahrgenommenen Musik unterstellt sowie das Hören von
Kinderliedern als Antagonismus zum kursierenden Begriff „Kanakenmusik“
etabliert und spöttisch als Musikgeschmack der „Deutsche[n]“ ausgelegt.
Nach Pierre Bourdieu (1982) sind Geschmacksvorlieben als Folge des sozialen
Status anzusehen und dienen der Abgrenzung von Anderen: „Geschmack
klassifiziert – nicht zuletzt den, der die Klassifikationen vornimmt“ (ebd.,

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184 Jonas Völker

S. 25).8 Zwar fällen die Schüler Sm1 und Sm2 keine eigenen Urteile; die unter-
stellten Geschmacksvorlieben der „Deutsche[n]“ dienen jedoch bereits der eth-
nischen Distinktion. Ebenso wie in der vorhergehenden Sequenz lassen sich
hier kulturelle Repräsentationen erkennen, sowohl in Form von Fremd- als
auch von Selbstrepräsentationen.

Synthese und Diskussion

Da die beiden skizzierten Sequenzen in parallel stattfindenden Gruppenarbei-


ten erhoben wurden, ist eine gewisse Vergleichbarkeit u. a. hinsichtlich des
unterrichtlichen Settings und der Aufgabenstellung gegeben. Trotzdem ver-
laufen die Diskussionen in den beiden Gruppen auf vielfache Weise unter-
schiedlich: Während in Gruppe B alle Schülerinnen an der Diskussion beteiligt
sind und eine hohe interaktionale Dichte zu beobachten ist, dokumentiert sich
in Gruppe E eine Trennung zwischen den beiden Schülern Sm1 & Sm2 und
ihren Mitschülerinnen Sw1, Sw2 & Sw3. Die fokussierte Aushandlung findet
hier fast ausschließlich zwischen Sm1 und Sm2 statt. Ein Grund hierfür könn-
ten die gender- und peerbezogenen Unterschiede in der Zusammensetzung
der Gruppen sein. Auch thematisch sind die beiden Sequenzen auf den ersten
Blick nicht vergleichbar: In Tischgruppe B generieren die Schülerinnen Bilder
und Phantasien, die offensichtlich nicht der eigenen Lebenswelt entnommen
sind. Auf der anderen Seite nutzen die Schüler in Gruppe E die Musik, um
‚ihre‘ ethnische Zugehörigkeit zu inszenieren.
Dennoch lassen sich bei genauerer Betrachtung durchaus Gemeinsamkeiten
in den Argumentationsstrukturen der Lernenden beider Gruppen wiederfin-
den: Es dokumentieren sich in beiden Sequenzen degradierende Äußerungen
und Distanzierungsstrategien im Anschluss an das Hören der Musik, die als
ethnisch-kulturelle Projektionen und Repräsentationen interpretiert werden
können. Das Eigene und das Andere wird in den Aushandlungen jeweils prä-
gnant identifiziert, wodurch gleichzeitig kollektive Zugehörigkeiten konstru-
iert werden: In Tischgruppe E sprechen die Schüler über die „Deutsche[n]“ und
markieren damit ihre Zugehörigkeit zu den ‚Nicht-Deutschen‘. Auf der ande-
ren Seite assoziieren die Schülerinnen an Tischgruppe B „Typen“, die „monst-
rös aussehen“ und grenzen sich dadurch vom imaginierten Kollektiv ab.

8
Vgl. hierzu auch Polzer 2008, S. 19: „In der sozialen Interaktion kann Musik als Ressource der
Identifikation oder der Abgrenzung verwendet werden. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen
Gruppe kann mit Musik zum Ausdruck gebracht werden. Gleichzeitig erfolgt eine kulturelle
Abgrenzung von anderen, deren Musikgeschmack man nicht teilt.“

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„… als ob ein Deutscher sowas hört“ 185

Die im Forschungsstand angeführten Konzepte finden sich also in unter-


schiedlicher Ausprägung und unabhängig vom jeweiligen diskursiven Ver-
lauf im empirischen Material wieder. Kulturelle Selbst- und Fremdrepräsen-
tationen sowie ethnische Projektionen offenbaren sich in den Umgangsweisen
der Lernenden mit dem Lerngegenstand und sind demnach ein empirisch
fundiertes, gegenstandsbezogenes Ergebnis der dokumentarischen Inter-
pretation.
In beiden Sequenzen dokumentieren sich emotionale, affektive und symbo-
lische Vorstellungen, die als Alltagsphantasien der untersuchten Schülerinnen
und Schüler gedeutet werden können. Die rekonstruierten Vorstellungen der
Lernenden zeugen von einem ethnisch-holistischen Kulturverständnis, das
durch den Unterricht aktualisiert wurde. Um dieses statische Verständnis hin
zu einem bedeutungszuweisungsorientierten Kulturbegriff (vgl. Barth, 2013a,
S. 143–144) zu überwinden und konzeptionelle fachdidaktische Konsequenzen
davon abzuleiten, bedarf es empirischer Erkenntnisse über die Lernausgangs-
lagen der Schülerinnen und Schüler.

Ausblick

Der Weg von den hier rekonstruierten, von Distanzierung und Degradierung
geprägten Vorstellungen der Lernenden hin zu den formulierten Zielerwar-
tungen an interkulturell orientierten Musikunterricht scheint ein weiter zu
sein. Dies lässt sich exemplarisch an den im baden-württembergischen Bil-
dungsplan für Musik formulierten prozessbezogenen Kompetenzen nachvoll-
ziehen. Dort heißt es:

„Die Schülerinnen und Schüler können


• Qualitäten der Vielfalt musikalischer Erscheinungsformen (Gewohntes und
Fremdes) wahrnehmen
• die Vielschichtigkeit des eigenen kulturellen Umfelds reflektieren
• Akzeptanz und Respekt zeigen“
(Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, 2016, S. 13)

Die Diskrepanz zwischen institutionellen Zielvorstellungen und den empi-


risch rekonstruierten Vorstellungen der Lernenden ist deutlich. Entsprechend
ist das konsequente Hinterfragen vertrauter, überwiegend impliziter Orientie-
rungen der Lernenden wesentlich, um die im Bildungsplan postulierte Hal-
tung zu erzielen. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe für den Musikunterricht.
Um ihr gerecht zu werden und entsprechende Lernprozesse zu initiieren, ist
das Wissen über die Vorstellungen der Lernenden von großer Bedeutung. Nach

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186 Jonas Völker

Reinfried, Mathis und Kattmann (2009) sind „vorunterrichtliche Vorstellungen


[…] zäh und widerständig und lassen sich durch Unterricht, der ohne die
Kenntnis von Schülervorstellungen entwickelt wurde, kaum verändern“ (ebd.,
S. 404). Demnach sei „Unterricht, der die Schülervorstellungen konsequent
berücksichtigt […] erfolgreicher“ (ebd., S. 404). Rekonstruierte Vorstellungen
der Lernenden bilden somit Ausgangspunkt und Grundlage für die „didakti-
sche Strukturierung“ (ebd.) und die (Weiter-)Entwicklung von Lehr-Lern-
Arrangements im interkulturell orientierten Musikunterricht.

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„… als ob ein Deutscher sowas hört“ 187

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Andrea Welte, Jan Jachmann

Transformationen im Musikimprovisationsunterricht
Wie Schüler*innen und Lehrer*innen aus kulturellen Differenzen heraus
Musikkultur verändern

Intercultural Musical Improvisation


How Students and Their Teachers Transform Music Culture

Der Aufsatz nimmt auf Basis ethnographischer Forschung eine transformativ-interak-


tionistische Perspektive auf Interkulturelle Musikpädagogik ein. Aus diesem Blick­
winkel wird erkennbar, dass interkulturelle musikpädagogische Situationen dynami-
sche, ergebnisoffene Prozesse darstellen, in denen Schüler*innen wie Lehrer*innen ihre
musikbezogenen Handlungs- und Sichtweisen verändern und auf diese Weise gemein-
sam Musikkultur verändern. Wir konkretisieren dies anhand zweier Argumente:
(1) Lehrende und Lernende konstituieren erst im Austausch miteinander, wie genau sie
mit Musik umgehen, und verändern dabei ihre Handlungsweisen im Unterricht.
(2) Kulturelle Differenzen, die sich durch unterschiedliche Sozialisation erklären lassen,
können die Akteur*innen dazu bringen, bisher als selbstverständlich wahrgenommene
musikbezogene Handlungs- und Sichtweisen zu hinterfragen und zu verändern.

Based on ethnographic research this article helps to understand intercultural music


lessons as dynamic, open-ended processes in which students and teachers alter their
ways of dealing with music. Thus they contribute to transforming music culture. To
substantiate this observation we argue: (1) that only through their very interaction do
teachers and students constitute how they deal with music. Within this process they
alter their initial ideas about how to do this. (2) And, during their interaction they learn
about their different approaches to music. Thus they start to question ways of making
and perceiving music which they took for granted.

Was geschieht, wenn Musik- und Instrumentallehrer*innen, die an Musik-


schulen und Musikhochschulen vorwiegend „klassisch“ ausgebildet wurden,
Schüler*innen begegnen, die eine andere musikbezogene Sozialisation mit-
bringen? Was passiert, wenn in Europa sozialisierte Lehrende auf Schüler*innen
treffen, die erst vor kurzem aus anderen Regionen der Welt, etwa aus Syrien

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190 Andrea Welte, Jan Jachmann

oder dem Irak, nach Deutschland zugewandert sind? Was ereignet sich, wenn
erwachsene Pädagog*innen mit Schüler*innen im Kindes- oder Jugendalter
zu tun haben? In unserer Forschung zum interkulturellen musikpädagogi-
schen Projekt ImproKultur haben wir festgestellt, dass derartige Differenzen
erhebliche Veränderungen für Schüler*innen wie Lehrer*innen mit sich brin-
gen können.

Theorie und Fragestellung: Unterricht als transformative Interaktion?

Ausgehend von unserer Forschung schlagen wir eine transformative Perspek-


tive auf Musikpädagogik vor. Wir knüpfen damit an einen bedeutungsorientier-
ten Kulturbegriff an (vgl. einführend Reckwitz, 2000), der wesentlich durch
Clifford Geertz (vgl. Geertz, 1973) geprägt wurde und den Dorothee Barth (vgl.
Barth, 2008) für die Musikpädagogik konkretisiert hat. Musikkulturen lassen
sich aus dieser Perspektive als kollektiv geteilte Arten musikbezogener Hand-
lungen und damit verbundener Bedeutungszuweisungen verstehen (vgl.
Geertz, 1973, S. 5–20; Barth, 2018, S. 28–29). Menschen gehen dabei mit musika-
lischen Artefakten um und schaffen ebensolche, die durch ihre Handlungs-
und Sichtweisen geprägt sind (vgl. Barth, 2008, S. 188–195). Verschiedene kultu-
relle Ausformungen des Umgangs mit Musik ergeben sich aus den jeweiligen
Sozialisationen von Menschen1, die fließend ineinander übergehen (vgl. Barth,
2018, S. 29). Interkultureller Musikunterricht beinhaltet aus dieser Sicht ein
Aufeinandertreffen von Personen, die aus ihrer Sozialisation unterschiedliche
musikbezogene Handlungs- und Sichtweisen mitbringen. Im Zuge dieses Auf-
einandertreffens erleben die Personen die Handlungs- und Sichtweisen ihrer
Gegenüber, gehen damit um und können sie sich potenziell aneignen.
Innerhalb dieser Perspektive fokussieren wir einen Aspekt, der in der Sozio-
logie und Kulturwissenschaft seit Mitte des letzten Jahrhunderts verstärkt
thematisiert wird (vgl. Fischer-Lichte, 2012, S. 37–44) und aktuell auch im mu-
sikpädagogischen Diskurs in den Blick rückt: (Musik-)kulturelle Handlungs-
und Sichtweisen transformieren sich im Zuge zwischenmenschlichen Aus-
tauschs zwangsläufig (vgl. Fischer-Lichte, 2012, S. 113–129; Barth, 2018, S. 25;
Krause-Benz, 2018). Da interkultureller Musikunterricht einen solchen Aus-
tausch darstellt, lässt sich annehmen, dass auch er zu kulturellen Transforma­
tionen beiträgt. Damit stellt sich die Frage, wie genau dies passiert.

1
Derartige Differenzen ließen sich ähnlich auch unter anderen Begriffen fassen (Bohnsack,
2009, S. 15–23). Unser Fokus auf Transformation findet sich in diesen Theorien allerdings
weniger.

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Transformationen im Musikimprovisationsunterricht 191

Um den transformativen Effekt von interkulturellem Musikunterricht zu


untersuchen, betrachten wir ihn als Interaktion (vgl. Adler, Adler & Fontana,
1987). Wir nehmen an, dass sich Veränderungen in einem kontinuierlichen,
kleinteiligen Wechselspiel gegenseitiger Bezugnahmen aller Akteur*innen
aufeinander ergeben. In diesem Beitrag geht es uns darum, einen ersten empi-
risch fundierten Einblick in die Muster solch transformativer Interaktion im
interkulturellen Musikunterricht zu geben.

Forschungsfeld: Das Projekt ImproKultur

Das Projekt ImproKultur, aus dem wir unsere Daten generieren, wird seit 2015
von der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (HMTMH)
zusammen mit drei Hannoveraner Schulen durchgeführt. Es ermöglicht neu
nach Deutschland zugewanderten Kindern und Jugendlichen, gemeinsam mit
anderen Schüler*innen allgemeinbildender Schulen und Musikpädagog*innen
wöchentlich kreativ zu musizieren. Die Unterrichtsgruppen haben eine Größe
von maximal 16 Personen. Lehrende sind fortgeschrittene Studierende und
Alumnae*i der HMTMH, die in Dreierteams unterrichten. Das Projekt zielt
zum einen darauf ab, die Schüler*innen musikalisch, sozial und kommunika-
tiv zu fördern, zum anderen geht es um (Weiter-)Bildung der Lehrer*innen vor
allem in den Bereichen Didaktik der Improvisation, Team-Teaching und
Umgang mit Diversität (vgl. Welte, 2016).
Charakteristisch für die Arbeit in ImproKultur ist ein weitgefasster Improvi-
sationsbegriff: Freie Improvisation findet ebenso statt wie gebundene; Ge-
schichten und Bilder werden vertont, Körperbewegung und Musik in explora-
tiven Übungen miteinander verbunden. Auf diese Weise soll ein produktiver
Umgang mit musikalischer Vielfalt und der Heterogenität der Schüler*innen in
Hinblick auf Alter, Sprachen und Bildungsbiografien ermöglicht werden.
Wir haben den ImproKultur-Unterricht aus mehreren Gründen als For-
schungsfeld zu kulturellen Transformationen gewählt: Eine frühere Untersu-
chung (vgl. Jachmann, 2019) hatte gezeigt, dass sich musikbezogene Handlun-
gen und Bedeutungszuschreibungen von Lehrer*innen und Schüler*innen
besonders deutlich veränderten, wenn die kulturelle Differenz groß war –
wenn also deutlich unterschiedliche Handlungs- und Sichtweisen im Unter-
richt aufeinandertrafen. In Hinblick auf die heterogene Schüler*innenschaft
von ImproKultur bestand die Vorannahme, dass solche Differenzen dort relativ
deutlich zu Tage treten würden. Ein zweiter Grund für die Wahl des For-
schungsfeldes war die relativ offene, improvisationsorientierte Struktur im
ImproKultur-Unterricht. Annahme war, dass sich Transformationsprozesse hier

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192 Andrea Welte, Jan Jachmann

deutlicher zeigen würden als in stärker reglementierten Arten von Unterricht


mit vorgegebenem Lehrplan.

Ethnographische Methodik

Unsere Rekonstruktion beruht auf ethnographischer Methodologie (vgl.


Hammersley & Atkinson, 2007; Knoblauch, 2001; Geertz, 1973), da diese beson-
ders dazu geeignet ist, soziale Phänomene, die noch relativ wenig erforscht
sind, grundlegend und in alltäglichem Kontext zu rekonstruieren. Zentrale
Grundlage für unsere Interpretationen bilden Feldnotizen (vgl. Hammersley
& Atkinson, 2007, S. 141–147), die wir im Zuge videogestützter teilnehmender
Beobachtung (vgl. Kellermann & Wulf, 2011, S. 28–29) dreier Unterrichtsgrup-
pen über anderthalb Monate hinweg verfasst haben. Die zweite Datengrund-
lage sind 32 ethnographische Interviews (vgl. Hammersley & Atkinson, 2007,
S. 110), die wir mit Lehrer*innen und Schüler*innen im Projekt sowie mit Pro-
jektverantwortlichen der Hochschule und der kooperierenden Schulen
geführt haben. Die Vorgänge im Feld werden aus performativer Perspektive
interpretiert und dicht beschrieben (vgl. Geertz, 1973). Im Zentrum der Rekon-
struktion stehen zwei videografisch analysierte Unterrichtsszenen (vgl. Kel-
lermann & Wulf, 2011).

Szene I: Eine Unterrichtsidee wird durch Interaktion konkretisiert und verändert

Frau G., Frau L. und Herr C. leiten gemeinsam eine AG an einer Grundschule.
Vor drei Wochen haben sie im Rahmen eines Theaterworkshops eine Übung
kennengelernt, bei der sich zwei Personen auf einem Spielfeld aus neun Fel-
dern improvisierend von Feld zu Feld bewegen und aufeinander reagieren. Es
entstand eine konzentrierte Interaktion: Die Personen auf dem Spielfeld kom-
munizierten pantomimisch miteinander, indem sie sich ostentativ und mit
großem Körperausdruck zu bestimmten Feldern hinbewegten oder dort stehen
blieben, um die Reaktion ihres Gegenübers abzuwarten oder zu provozieren.
Die Lehrenden möchten diese Übung nun in den Kontext ihres Unterrichts
überführen und passen sie dafür an: Auch hier soll es mehrere, verschieden-
farbige Felder auf dem Boden geben. Jedes Feld wird einer Gruppe zugeordnet,
die beginnt, auf Schlagwerk-Instrumenten zu spielen, sobald jemand das Feld
betritt, und ihr Spiel beendet, wenn er das Feld wieder verlässt.
Wie die Lehrer*innen im Interview äußern, haben sie vor der Stunde nur
eine ungefähre Vorstellung davon, was sich ereignen wird. Grundlegend geht
es ihnen darum, die pantomimische Interaktion im Workshop, die sie als ­spannend

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Transformationen im Musikimprovisationsunterricht 193

und atmosphärisch erlebt haben, um eine musikalische Ebene zu ergänzen.


Frau L. sagt: „Und dann haben wir halt gedacht: Naja, aber an sich ist es irgend-
wie cool, so diese Spannung von Feldern und vielleicht auch mehreren Perso-
nen zu haben und dass man das ja auch irgendwie verklanglichen könnte. Und
dann war unsere erste Überlegung, oder erste Variation davon, dass jetzt jedes
Feld eine Farbe, also jede Farbe einen Klang hat.“
Im Unterricht stellen die Lehrenden ihre Spielidee vor: Frau L. und Frau G.
legen zwei farbige Papierblätter in einiger Entfernung zueinander auf den Bo-
den. Herr C. sagt in die Runde: „So, hier wir haben ein kleines Spielbrett.“ Frau
L. ergreift ihre Violine, Frau G. einen Klangblock. Herr C. kündigt an: „Ich
zeige euch was. Zauberer.“ Dann tritt er langsam und mit großer Körperspan-
nung auf eines der Blätter und bleibt in gespannter Haltung stehen. Frau L.
beginnt sofort, einen leisen, schnellen Triller zu spielen. Herr C. verlässt das
Blatt – Frau L. unterbricht ihr Spiel. Herr C. betritt das Blatt erneut, wieder
voller Körperspannung, aber diesmal leicht gebeugt, wie jemand, der vorsich-
tig schleicht. Frau L. beginnt ihren Triller erneut und entwickelt davon ausge-
hend eine sich vorsichtig nach oben tastende Melodielinie. Herr C. springt mit
einem Satz zum zweiten Blatt. Als er dort mit viel Schwung ankommt, reagiert
Frau G., die bisher still auf einem Tisch gesessen hat, simultan mit einem kraft-
vollen Ton auf dem Klangblock. Dieses Spiel setzt sich fort: Herr C. bewegt sich
zwischen beiden Blättern auf unterschiedliche Weise, aber immer mit großem
Körperausdruck. Die beiden Lehrerinnen reagieren mit Klängen und Melo-
dien, die sich an der Art der Bewegungen orientieren. Die Schüler*innen ver-
folgen das Geschehen aufmerksam.
An der Art, in der die Lehrenden das Spiel vorstellen, wird erkennbar, dass
sie trotz ihrer Unsicherheit, wie sich ihre Idee realisieren wird, eine – vermut-
lich unbewusste – Vorstellung davon mitbringen, wie das Spiel ablaufen
könnte: Sie gehen davon aus, dass die Personen, die sich auf den Feldern be­
wegen, ähnlich theatralisch-pantomimische Bewegungen zeigen wie die
Teilnehmer*innen des Theaterworkshops. Dies soll die Personen an den Instru-
menten inspirieren: Wie in der Demonstration der drei Lehrkräfte soll sich
Bewegung in musikalisches Spiel und Körperausdruck in musikalischen Aus-
druck übersetzen.
Die Schüler*innen suchen sich nun Instrumente aus. Es werden mehr Blätter
auf dem Boden des Raumes verteilt, denen Gruppen von Musiker*innen zuge-
ordnet werden. Nacheinander dürfen sich Schüler*innen als „Feldläufer*innen“
ausprobieren – zuerst noch einzeln, dann zu zweit. Von der ersten Schülerin an
verläuft die Kommunikation zwischen Feldläufer*innen und Musiker*innen
allerdings anders, als von den Lehrenden angenommen: Statt mit ostentativen,

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theatralischen Bewegungen von Feld zu Feld zu wechseln, bewegen sich die


Schüler*innen auf dem Spielfeld ohne große Körperspannung direkt zwischen
den Feldern hin und her. Sobald sie eines betreten haben, schauen sie die ent-
sprechenden Musiker*innen erwartungsvoll an und hören ihnen zu, um dann
wieder vom Feld herunterzusteigen und entspannt weiterzugehen. Statt durch
pantomimische Bewegungen bestimmte Musik zu evozieren, verwenden die
Schüler*innen die Felder also eher wie An-Aus-Schalter für Musik, deren
Funktionsweise sie testen.
Der Schüler L., der als dritter an der Reihe ist, knüpft an diese alltagsähnli-
che Verwendungsweise der Klangfelder an und entwickelt die Kommunika-
tion mit den Musiker*innen zugleich weiter: Als ein Schüler nicht rechtzeitig
zu spielen beginnt, ruft L. „Hallo?“ und macht eine auffordernde Geste. Als er
danach zu zwei nahe beieinander liegenden Blättern kommt, stellt er seine
Füße im Spagat auf beide Felder, so dass zwei Musiker*innengruppen zugleich
spielen müssen und eine Art Zweistimmigkeit entsteht. Später übernimmt er
in seinen Bewegungen das Metrum der Lehrerin Frau L., die gerade gespielt
hat, und tänzelt in regelmäßigen Bewegungen zum nächsten Blatt. Damit ste-
hen hier zum ersten Mal Musik und Bewegung klar in Bezug – allerdings in
anderer Richtung, als von den Lehrenden ursprünglich intendiert: Die gehörte
Musik beeinflusst die Bewegungen des Läufers.
Als nächste sind die Schülerin A. und der Schüler C. an der Reihe. Wie L.
zuvor beginnen sie, auf ihrem Weg von Feld zu Feld in einem einheitlichen
Metrum zu tänzeln. Aus dieser Bewegung heraus beginnt C., auf einem der
Felder auf und ab zu hüpfen und seine Arme von sich zu schleudern. Kurz
darauf verändert er das Spiel weiter: Er beginnt, von Feld zu Feld zu rennen, so
dass die Musiker*innen sehr aufmerksam reagieren müssen. Als sie dies ein-
mal nicht tun, fordert er ihre Reaktion wie L. zuvor mit deutlicher Gestik ein
und sagt „komm, komm!“. Einmal täuscht er einen Sprung auf ein Feld an,
springt dann aber darüber hinweg, so dass die Musiker*innen doch nicht spie-
len dürfen. Kurz darauf zieht er ein Blatt tänzelnd mit sich, bis er wie L. zuvor
gleichzeitig ein zweites mit dem anderen Fuß berühren kann. Abschließend
springt er mit voller Wucht auf ein Feld, was die Musiker*innen mit einem
impulsiven Trommelschlag quittieren.
Betrachtet man die beschriebenen Entwicklungen, lässt sich dreierlei fest-
stellen: In der Unterrichtsinteraktion findet erstens eine Konkretisierung statt.
Die vor der Stunde noch ungefähre Idee der Lehrer*innen, dass die sich bewe-
genden und die musizierenden Schüler*innen miteinander kommunizieren,
wird von den Schüler*innen mit Leben gefüllt. Wenn C. abschließend mit
­seinem Sprung die Musiker*innen zu einem lauten Trommelschlag anregt, hat

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Transformationen im Musikimprovisationsunterricht 195

tatsächlich Bewegungsausdruck musikalischen Ausdruck evoziert, wie von


den Lehrenden erhofft.
Allerdings formen sich zweitens bis auf wenige Ausnahmen andere Arten
von Kommunikation aus, als die Lehrer*innen dies angenommen haben. Die
Musizierenden orientieren sich eher nicht an den Feldläufer*innen, sondern
umgekehrt. Auch entwickeln die Feldläufer*innen eine andere Art von Kom-
munikation zu den Musizierenden, als von den Lehrenden geplant: Weniger
theatralisch und dafür direkter, man könnte sagen alltäglicher – zuerst wie
Menschen, die Musik an- und ausschalten, dann wie Personen, die Menschen
auf sich aufmerksam machen wollen. Für die Lehrenden ist das überraschend.
So stellt Frau L. im Interview nach der Stunde fest: „Ja, aber spannend fand ich
dann doch, dass […] die Leute im Feld, die Dirigenten quasi, viel kommuni-
ziert haben mit den Musikern, das hab ich mir eigentlich auch anders vorge-
stellt […] Ich hätte so gleichzeitig mir eher so vorgestellt, dass man da so ist und
es passiert, also man mehr so gleitet. ((Zustimmung der anderen))“
Drittens führen die Schüler*innen ein vollkommen neues Element ins Spiel
ein, das die Lehrer*innen aus ihren Erfahrungen mit der Theaterübung heraus
nicht vorhergesehen oder gar geplant hatten: Wenn L. auf zwei benachbarte
Blätter tritt und später C. sogar zwei voneinander entfernte Blätter zusammen-
zieht, um die dazugehörigen Musiker*innen gemeinsam zu „aktivieren“, füh-
ren die beiden hier eine Art gezielt einsetzbarer Mehrstimmigkeit ein. Damit
wird hier ein erster kleiner Schritt auf dem Wege zu einer sich neu etablieren-
den Spielweise sichtbar. Denn in den folgenden Stunden werden Schüler*innen
wie Lehrer*innen die Idee der Mehrstimmigkeit erneut aufgreifen und als
wesentlichen Teil ihres Spiels etablieren.
Kurz: Es zeigt sich, dass sich erst sukzessive durch Handlungen der Lehren-
den wie der Lernenden herauskristallisiert, wie musikalisch improvisiert wird.
Die gemeinsame Spielweise konstituiert sich als Ergebnis einer kleinteiligen
Zusammenarbeit. Die ursprüngliche Idee der Lehrenden wird dabei verändert.
Inwiefern lassen sich kulturelle Differenzen als Ursache für diese transfor-
mative Realisation der ursprünglichen Spielidee annehmen? Ein prägender
Unterschied zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen liegt darin, wie sie sich
auf dem Spielfeld bewegen und wie sie mit den Musiker*innen kommunizie-
ren. Dies lässt sich mit unterschiedlichen kollektiven Handlungs- und Bedeu-
tungsfeldern erklären, aus denen die Akteur*innen jeweils ihre Spielweise
entwickeln: Die Lehrenden dürften in ihrer Darstellung durch den Theater-
workshop beeinflusst sein. Hierfür spricht, dass ihre Bewegungen stark jenen
im Workshop und auch anderen im Theaterkontext ähneln (vgl. Fischer-Lichte,
2010). Man könnte sagen: Die Lehrer*innen sind in ihrer Spielweise durch eine

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Theaterkultur beeinflusst, deren Teil das ursprüngliche Spiel war. An welchem


kollektiven Handlungs- und Bedeutungsfeld sich die Schüler*innen orientie-
ren, wird weniger klar. Zumindest lässt sich sagen: Die theatralische Darstel-
lungsweise der Lehrer*innen fehlt vollständig. Die Schüler*innen bewegen
sich alltagsähnlich über das Spielfeld, ihre Bewegungen erinnern eher an
Hüpf- bzw. Reaktionsspiele oder an sportliche Wettkämpfe. Unabhängig da-
von, welche Bezüge in den Bewegungen der Schüler*innen eine Rolle spielen,
lässt sich feststellen, dass sie einem anderen Kontext als die theatralischen Pan-
tomimen der Lehrenden entstammen. Diese kulturelle Differenz beeinflusst,
wie die ursprüngliche Unterrichtsidee sich konkretisiert und verändert.

Szene II: Eine Auffassung zu Filmmusik verändert sich

Kulturelle Differenzen können auch einen Einfluss darauf haben, dass


Akteur*innen ihre Auffassungen zu musikbezogenen Handlungsweisen in
Frage stellen und verändern. Dies veranschaulichen wir anhand einer zweiten
Szene.
Herr S. vertont mit Schüler*innen einer Sprachlernklasse, die erst vor kurzem
aus Ländern des Nahen und Mittleren Ostens nach Deutschland migriert sind,
einen Charlie-Chaplin-Film. Die Filmmusik soll nicht fest auskomponiert, son-
dern mit jeder Vorführung neu improvisiert werden. Wie seine Teamkollegin
Frau B. im Interview erzählt, geht es den Lehrenden darum, den Schüler*innen
zu zeigen, dass Filmmusik die Stimmung einer Szene verdeutlichen und dem
Publikum bestimmte Gefühle vermitteln kann. Um dies zu veranschaulichen,
spielt Herr S. auf seinem Laptop eine Szene aus dem Film Rocky vor, in der der
Protagonist durch eine Stadtlandschaft joggt, um für einen Boxkampf zu trai-
nieren (vgl. Movieclips, 2014, ab Zeitmarke 1:45). Der Lehrer präsentiert die
Szene ohne Sound und fragt, ob die Schüler*innen den Film kennen. Sie vernei-
nen. Nach Ende des Videos fragt er: „Und was für Musik passt eigentlich zu
dieser [Szene]?“ Die Schülerin G. antwortet: „So eine langsame Musik.“ Ihr
Mitschüler F. widerspricht: „Nein, schnelle Musik!“
Herr S. kündigt an: „Machen wir eine […] Probe.“ Er spielt die Szene erneut
ab und lässt dazu ein langsames Klavierstück von Gabriel Fauré erklingen. G.
kommentiert sofort: „Nee, das geht nicht.“ Andere stimmen ihr zu. Der Lehrer
bestätigt lächelnd: „Passt nicht.“ Er startet die Szene erneut, nun mit dem ori-
ginalen, pulsierenden 70er-Jahre-Soundtrack, der sich mit seinen Chor-, Or-
chester- und E-Gitarrenklängen an Disco- und Funk-Musik orientiert. Bereits
nach den ersten Klängen ruft G.: „Das passt nicht!“ Der Lehrer reagiert erst
einmal nicht.

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Transformationen im Musikimprovisationsunterricht 197

Nach Ende der Filmszene fragt Herr S. die Schülerin G.: „Warum passt das
nicht?“ Sie antwortet: „Musik [passt] nicht für so ’ne Sache.“ Der Lehrer denkt
länger nach, kratzt sich am Kopf und fragt zögernd: „Was – was für Charakte-
ristika hat diese Musik?“ G. antwortet nicht, sondern versucht zu formulieren,
wie Musik klingen müsste, die zu der Szene passt. Herr S. hilft aus: „Soll es so
schneller oder langsamer?“ Sie sagt: „Schneller. Oder so wie tanzen“, streckt
dazu beide Arme von sich und lässt die Hände auf und ab schwingen. Der
Lehrer sagt zögernd und langsam nickend: „O-K?“
Nach der Stunde erzählt Herr S. im Interview: „ich glaube, es war schon am
Anfang ganz interessant zu merken – ich habe ihnen auch den Schnitt von
Rocky gezeigt, und die Gefühle […] dabei waren schon unterschiedlich, ob-
wohl für uns selbstverständlich ist, [dass] die originale Musik so am besten
passte. Es war dann auch nicht zu hundert Prozent bestimmt: Einige meinten,
die Musik von Fauré ist schon richtig, und eine andere Schülerin meinte […],
die originale Musik passt auch nicht so gut. Und schon da merkt man auch eine
Grundschwierigkeit: Was für uns vielleicht selbstverständlich ist, weil wir den
[…] Original-Movie schon kennen, ist für die [Schüler*innen] gar nicht. Das
kann auch positiv sein, ja? Dass man nicht unbedingt an Stereotypen gebun-
den ist.“ Auf die Nachfrage „Stereotypen – was meinst Du damit?“ erläutert er:
„Dass es […] mehr wie […][ein] Stereotyp eigentlich ist, ja? Dass die kräftige
Musik so mit dem Athleten muss so rhythmisch sein. Vielleicht gibt es auch
andere Wege, das zu zeigen, das ist nicht unbedingt (.) die originale Musik
passt natürlich gut zu dem. Aber es kann auch sein, dass irgendeine andere
Musik gut passt.“
Inwieweit spielt hier kulturelle Differenz eine Rolle? Ein offensichtlicher
Unterschied liegt darin, dass der Lehrer den Film Rocky im Gegensatz zu sei-
nen Schüler*innen kennt. Darüber hinaus lässt sich hinter den unterschied­
lichen Meinungen, ob die Musik zur Szene passe, auch ein größeres kulturelles
Bezugsfeld ausmachen: In zahlreichen in Hollywood produzierten Sportfilmen
finden sich Montagen, in denen Trainings- oder Sportszenen zusammenge-
schnitten und mit Disco-, Rock- oder Popmusik unterlegt werden. Im Alltags-
diskurs werden sie als „Sports Movie Montage“ oder „Sports Training Mon-
tage“ (Haupert, 2014) bezeichnet. Die Szene aus Rocky gilt als Vertreter dieser
Art von Montage (vgl. Movieclips, 2014). Wenn der Lehrer die Disco-Musik zu
den Bildern des trainierenden Sportlers als selbstverständlich wahrnimmt,
dann vermutlich auch deshalb, weil er auch andere Filme mit ähnlichen Kom-
binationen aus Filmbild und -musik kennt. Einige Schüler*innen besitzen diese
Kenntnis offenbar nicht und halten die Kombination aus Filmszene und Musik
daher auch nicht für üblich.

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198 Andrea Welte, Jan Jachmann

Zugleich zeigt sich in der Interviewaussage des Lehrers: Wenn Akteur*innen


aus kulturellen Differenzen heraus miteinander interagieren, kann dies dazu
führen, dass sie ihre Auffassungen, wie bestimmte musikbezogene Handlun-
gen ausgeführt werden sollten, verändern. Herr S. erkennt, dass eine ihm bisher
als selbstverständlich erscheinende Art, bestimmte Filmthemen mit bestimmter
Musik zu verknüpfen, nicht die einzig denkbare ist. Solche durch Differenzen
ausgelöste Reflexionen ließen sich auch in anderen Szenen bei Lehrer*innen wie
bei Schüler*innen beobachten. Potenziell führten die veränderten Sichtweisen
auch zu Veränderungen in musikbezogenen Handlungsweisen. So wird Herr
S. im weiteren Verlauf des Unterrichts seine Auffassung davon, wie der Chap-
lin-Film vertont werden sollte, erweitern: In verbalen Äußerungen und beim
Instrumentalspiel wird er vom Fokus auf Stimmungen abrücken und davon
abweichende Vorschläge seiner Schüler*innen mehr und mehr annehmen.

Resümee und Ausblick

Die zwei Szenen eröffnen einen Blick darauf, dass und wie Lehrende und Ler-
nende im ImproKultur-Unterricht gemeinsam Handlungsweisen aus der Inter-
aktion heraus konstituierten und veränderten. In der zweiten Szene zeigt sich
zudem, dass kulturelle Differenzen dazu führen konnten, dass die Akteur*innen
ihre Auffassungen zu musikbezogenen Handlungsweisen in Frage stellten
und veränderten.
Über das Forschungsfeld ImproKultur hinaus dürften unsere Interpretatio-
nen eine Relevanz für Interkulturelle Musikpädagogik haben. Zwar lassen sie
sich nicht unmittelbar auf andere Situationen übertragen, aber sie machen
doch darauf aufmerksam, dass interkulturelle Interaktion ein Potenzial für
kulturelle Transformation mit sich bringt und dass dabei bereits kleinste Ver-
änderungen im Zusammenspiel große Wirkung entfalten können.
Es lassen sich Fragen für weitere Forschung formulieren, etwa: Wie zeigen
sich kulturelle Transformationen in Unterrichtssettings, die stärker struktu-
riert sind bzw. klarer vorgegebene Unterrichtsinhalte haben? Was sind Voraus-
setzungen dafür, dass kulturelle Differenzen tatsächlich Änderungen ansto-
ßen? Welche unterschiedlichen Umgangsweisen mit Differenzen lassen sich
beobachten?
Unabhängig von solch offenen Fragen lässt sich feststellen: Eine Interkultu-
relle Musikpädagogik, die Unterricht als transformative Interaktion begreift,
müsste Offenheit und Sensibilität der Lehrenden als Kernkompetenz näher
beschreiben und fördern. Lehrer*innen müssten sensibel für jene kleinen Ver-
änderungen sein, die letztlich große Entwicklungen ergeben, und zugleich ihr

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Transformationen im Musikimprovisationsunterricht 199

Bewusstsein dafür schärfen, dass auch ihre eigenen Handlungs- und Sichtwei-
sen nicht naturgegeben, sondern kulturell bedingt und damit wandelbar sind.

Literatur
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Eva-Maria Tralle

„Musik verschiedener Kulturen“


Wie setzen Berliner Musiklehrkräfte eine Lehrplanvorgabe
im Oberstufenunterricht um?

„Music of Different Cultures“


How do Berlin Music Teachers Implement a Curriculum Requirement
in High School Music Lessons?

Ausgangspunkt für den vorliegenden Beitrag ist das im Berliner Lehrplan vorgeschrie-
bene Semesterthema Musik verschiedener Kulturen für den Musikunterricht in der
Oberstufe. Vor dem Hintergrund der Methodologie der praxeologischen Wissenssozio-
logie rekonstruiert der Beitrag auf der Basis von biographisch-narrativen Interviews
mit Berliner Musiklehrkräften sowohl deren handlungsleitenden Orientierungen, als
auch die von ihnen wahrgenommenen normativen Anforderungen. Damit schärft der
Beitrag den Blick auf Lehrkräfte als performative Wissensträger*innen im Kontext einer
Diskussion über Interkulturalität und Musikunterricht.

The starting point for this article is the semester topic “Music of Different Cultures”,
which is prescribed in the Berlin curriculum for high school music lessons. Using the
methodology of the praxeological sociology of knowledge, the article reconstructs, on the
basis of biographical-narrative interviews with Berlin music teachers, both their action-
guiding orientations and normative requirements. In this way, the article foregrounds
the view of teachers as performative carriers of knowledge in the context of a discussion
on interculturality and music teaching.

1. Einleitung

Der folgende Beitrag richtet den Blick auf Musiklehrer*innen als Akteur*innen
in einem Handlungsfeld rund um Interkulturalität, Musik und Pädagogik.
Konkret soll der Frage nachgegangen werden, wie Berliner Musiklehrer*innen
ausgehend von einer Lehrplanvorgabe unterrichten. An Berliner Gymnasien
findet in der Oberstufe Musikunterricht statt, bei dem, laut aktuell gültigem

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202 Eva-Maria Tralle

Lehrplan1, jeweils ein Schulhalbjahr unter dem Thema Musik verschiedener


­Kulturen steht. Folgende Beschreibung dient den Berliner Musiklehrkräften im
Rahmenlehrplan dabei u. a. als Handlungsrichtlinie:

„Die Schülerinnen und Schüler gestalten Lieder, Musikstücke und Tänze ver-
schiedener Kulturen. Sie erfahren, dass Musik unterschiedlich an die Lebens-
form und Arbeitsweise von Menschen, an ihre Sprache und Religion gebunden
ist. Sie erleben, dass die Musik jeder Kultur von einer Differenziertheit und Kom-
plexität ist, die Außenstehenden zunächst verborgen bleibt und sich erst bei
genauer Betrachtung erschließt. Mit Blick auf die Gegenwart untersuchen die
Schülerinnen und Schüler Angleichungs- und Verschmelzungsprozesse zwi-
schen den Kulturen und sensibilisieren ihre Wahrnehmung für Teilkulturen
innerhalb unserer Gesellschaft.“ (Senatsverwaltung für Bildung & Wissenschaft
und Forschung, 2006, S. 16)

Kultur wird in der Handlungsrichtlinie als etwas präsentiert, was sich in der
Gegenwart durch Effekte der Durchlässigkeit und Interaktion auszeichnet.
Implizit wird damit für den Blick auf Kulturen in der Vergangenheit ein holis-
tischer Kulturbegriff suggeriert. Dieser zeichnet sich auch in der Formulierung
der „Außenstehenden“ ab, deren Einsichten in eine bestimmte Kultur begrenzt
sind. Folglich muss es auch Innenstehende von Kultur geben, sodass Kultur hier
begrifflich auf die Vereindeutigung von Zugehörigkeiten und Identitäten zielt
(vgl. Messerschmidt, 2014).
Im Rahmen einer empirischen Untersuchung sollen die handlungsleitenden
Orientierungen von Musiklehrkräften im Zusammenhang mit der Lehrplan-
vorgabe rekonstruiert werden. Des Weiteren interessieren die normativen
­Anforderungen, mit denen sich Musiklehrkräfte bei der themenbezogenen
Unterrichtsgestaltung angesichts der sich stets wandelnden gesellschaftlichen
Debatten in Politik und Gesellschaft, ggf. internen Schulcurricula, professio-
nellem Habitus und vielfältigen Unterrichtsmaterialien konfrontiert sehen. Die
Datenbasis für die Rekonstruktionen bilden biographisch-narrative Interviews
mit Musiklehrkräften, in denen die Befragten unaufgefordert auf die zitierte
Lehrplanvorgabe Bezug nehmen, wenn sie über ihren Umgang mit Interkultu-
ralität im Unterrichtsalltag berichten. Jene Interviewpassagen, in denen die
Lehrkräfte ihren Umgang mit dem verpflichtenden Thema für den Musikun-
terricht in der Berliner Oberstufe beschreiben, bilden daher den Ausgangs-
punkt für den vorliegenden Beitrag. Zunächst werden aber in Form eines
­kurzen Literaturberichts bisherige Forschungserkenntnisse zum einen über

1
Mit Inkrafttreten ab dem Schuljahr 2006/2007.

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„Musik verschiedener Kulturen“ 203

die Lehrplanorientierung von Lehrkräften (2) und zum anderen über die Leh-
rendenperspektive auf Interkulturalität (3) skizziert und das Forschungsinter-
esse formuliert (4). Der Beschreibung des methodischen Vorgehens (5) folgen
dann die Kurzporträts der Biograph*innen (6) sowie die exemplarische Analyse
von Interviewausschnitten zweier Fälle (7 und 8), deren Ergebnisse am Ende in
eine Diskussion münden (9).

2. Lehrplanorientierung von (Musik)Lehrkräften

Die Frage danach, inwiefern „Lehrpläne Einfluss auf die Unterrichtspraxis


nehmen und was Lehrer*innen bei ihrer alltäglichen Unterrichtsarbeit mit den
Vorgaben von Lehrplänen tatsächlich tun“ (Vollstädt, 2003, S. 199), ist bisher
empirisch kaum beantwortet worden. Vollstädt (ebd.) unterscheidet zwei
Funktionszuweisungen staatlicher Lehrpläne: Zum einen präsentieren Lehr-
pläne bildungspolitische Ziele und haben insofern gegenüber der gesellschaft-
lichen Öffentlichkeit als auch gegenüber der Fachwissenschaft eine Legitimati-
onsfunktion. Andererseits besitzen sie eine Orientierungsfunktion, indem sie
den Lehrer*innen einen Rahmen für die zu behandelnden Inhalte setzen. Bei
der Frage nach der tatsächlichen Realisierung der Orientierungsfunktion kom-
men Vollstädt et al. (1999) zu dem Ergebnis, dass Rahmenlehrpläne „hohe offi-
zielle Erwartungen und geringe schulpraktische Bedeutung“ haben (ebd.,
S. 214). In einer aktuelleren Studie im Bereich der Curriculumsforschung fragt
Adolph (2015) nach der Akzeptanz und Wirkung von Lehrplänen an allge-
meinbildenden Schulen mithilfe von Lehrer*innenbefragung und Expert*in­
nen­gesprächen im Bundesland Sachsen. Ein interessanter Befund ist hier die
signifikant höhere Zustimmung zur „systemischen Grundorientierung auf
Lehrpläne“ von in der DDR ausgebildeten Diplom- bzw. Unterstufenlehrer*innen
im Vergleich zu ausgebildeten Mittelschul- und Gymnasiallehrer*innen der
Staatsexamenslehramtsausbildung (ebd., S. 85).
Zu der Orientierung an Lehrplänen von Musiklehrkräften im Speziellen
möchte ich kurz auf die Befunde von Niessen und Blum verweisen, die auch
für die vorliegende Untersuchung anschlussfähig sind. Niessen (2006) stellt in
ihrer qualitativen Untersuchung zu Individualkonzepten von Musiklehrenden
fest, dass Lehrpläne insgesamt als „Gängelung von Unterrichtsplanung“ (ebd.,
S. 237) empfunden werden und Akzeptanz erfahren, sofern die Lehrplanin-
halte das jeweilige Individualkonzept bestätigen (ebd). Darüber hinaus lege ein
vermehrter Rückgriff auf den Lehrplan in vorbereitenden Abiturkursen die
Vermutung nahe, dass eine Beschäftigung damit vor allem legitimatorische
Funktion habe (ebd.). Bestätigt werden diese Befunde im Rahmen einer

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204 Eva-Maria Tralle

­ asterarbeit zu unterrichtsbezogenen Zielvorstellungen von Musiklehrkräften,


M
in der Blum (2016) in einer qualitativen Befragung mit zehn Musiklehrkräften
herausarbeitet, dass „die Rahmenlehrpläne Musik tatsächlich eine untergeord-
nete Rolle für die Zielvorstellungen von Musiklehrkräften spielen. Sie wirken
allenfalls indirekt über schulinterne Fachcurricula sowie auf Lehrerfahrungs-
basis aufbauenden Internalisierungen seiner [sic!] Inhalte“ (ebd., S. 78).

3. (Musik)-Lehrendenperspektive auf Interkulturalität

Zu der Lehrendenperspektive auf interkulturellen Musikunterricht hat für den


deutschsprachigen musikpädagogischen Diskurs erstmals Dannhorn (1996)
geforscht. Im Rahmen einer Studie mit rund zwanzig Musiklehrer*innen an
Grundschulen in NRW erhob sie mithilfe von Leitfadeninterviews deren
Erfahrungen mit einem interkulturell ausgerichteten Musikunterricht. Laut
ihren Ergebnissen werden interkulturelle Inhalte überwiegend in „gesonder-
ten Unterrichtsstunden“ behandelt, aus einer Verpflichtung heraus, „ausländi-
sche Kinder in der Klasse […] nun auch irgendwie einzubeziehen“ (Dannhorn,
1996, S. 146).
In der Forschungsliteratur der Allgemeinen Pädagogik finden sich ab Mitte
der 90er Jahre mehrere Studien, die die Wahrnehmungen und Umgangswei-
sen von Lehrkräften mit migrationsbedingter Vielfalt und interkulturellen
­Situationen im Klassenzimmer untersuchen (vgl. u. a. Bender-Szymanski, 2001;
Marburger et al., 1997; Walter, 1999). Die Ergebnisse der Studien attestieren den
Lehr­k räften „Fixierung auf fremde ‚Mentalitäten‘ oder ‚Sitten‘“, „Differenz-
blindheit“, „barsche Forderung nach Assimilation“, die „Tendenz zur zivilisa-
torischen Mission“ und ein fehlendes „Infragestellen eigener Wahrnehmungs-
und Bewertungsmuster“ und fügen sich damit „zum Bild eines recht stimmi-
gen Habitus zusammen“, wie Auernheimer mit Blick auf die o.g. Studien resü-
miert (Auernheimer, 2005, S. 133). Damit zeichnen die Studien ein überwiegend
eindimensionales Bild der Lehrendenorientierung mit Blick auf migrationsbe-
dingte Heterogenität, indem sie überwiegend auf Probleme und Defizite ver-
weisen. Es fällt auf, dass in der Lehrkräfteforschung zum Themenfeld Interkul-
turalität Forschungsansätze fehlen, die Ressourcen der Lehrkräfte betonen.
Darum fordert Walter, die Komplexität des Lehrer*innenhandelns stärker zu
berücksichtigen:

„Es sollte – weder vorverurteilend noch beschönigend – das interkulturelle Den-


ken von Lehrpersonen in Zusammenhang mit ihren pädagogischen Aufgaben
untersucht werden, um daraus angemessene pädagogische Forderungen ziehen
zu können.“ (Walter, 2005, S. 56)

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„Musik verschiedener Kulturen“ 205

Es gilt demnach, die Perspektive der Akteur*innen einzunehmen, sich an


ihrem Relevanzsystem zu orientieren und ihr Handeln im Spannungsfeld
zwischen theoretischen Ansprüchen und praktischen Herausforderungen zu
beobachten. Die Studie von Edelmann (2007) kann als Berücksichtigung eines
solchen Appells gelesen werden. In einer Befragung mit 40 Schweizer Grund-
schullehrkräften erhebt sie deren Erfahrungen im Umgang mit migrationsbe-
dingter Diversität. Die von der Autorin entwickelte Typologie charakteristi-
scher Denk- und Handlungsmuster eröffnet einen ressourcenorientierten
Blick auf Lehrkräfte im Umgang mit Diversität. In vergleichbarer Weise
rekonstruieren Kollmannsberger et al. (2017) auf der Basis von Gruppendis-
kussionen die Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungsmuster von
Lehrkräften in „besonders bedeutsame[n], kritische[n], konfliktbehaftete[n],
oder auch gelungene[n], interkulturelle[n] Situationen im Schulalltag“ (ebd.,
S. 29). Ihre Ergebnisse machen deutlich, dass interkulturelle Situationen von
Lehrkräften überwiegend als herausfordernd oder gar überfordernd wahrge-
nommen werden (ebd., S. 34), und legen in der Diskussion aus einer domi-
nanzkritischen Perspektive Diskriminierungsphänomene auf einer struktu-
rellen Ebene (ebd., S. 36) offen.

4. Fragestellung

Der vorliegende Beitrag knüpft an die im vorangehenden Literaturbericht ent-


falteten Perspektiven des Umgangs mit Lehrplanvorgaben in Bezug auf Inter-
kulturalität in der Praxis des Musikunterrichts an. Hier ist die von Blum kons-
tatierte indirekte Wirkung von Lehrplänen auf die Unterrichtspraxis relevant
und es soll insbesondere dem Verhältnis von normativen Erwartungen und
impliziten handlungsleitenden Wissensbeständen am Beispiel der Lehrplan-
vorgabe Musik verschiedener Kulturen nachgegangen werden. Dabei sind fol-
gende Fragen forschungsleitend:
• Welche handlungsleitenden Orientierungen lassen sich bei Musiklehr-
kräften im Umgang mit dem Semesterthema Musik verschiedener Kulturen
rekonstruieren?
• Inwieweit orientieren sich die befragten Musiklehrkräfte an von ihnen als
normativ erlebten Anforderungen?
• Welche Bearbeitungsstrategien für diese Anforderungen lassen sich dabei
in der Alltagspraxis erkennen?

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5. Methodisches Vorgehen

Für die vorliegende Fragestellung bietet sich die dokumentarische Methode an,
weil sie nicht nur „einen Zugang […] zum reflexiven oder theoretischen, sondern
auch zum handlungsleitenden Wissen der Akteure und somit zur Handlungs-
praxis“ (Bohnsack et al., 2010, S. 40) eröffnet. Die Unterscheidung zweier Wis-
sensebenen ist zentral für den dokumentarischen Ansatz. Das kommunikative
Wissen umfasst jene Wissensanteile, die den Akteur*innen bewusst und für sie
explizierbar sind. Es äußert sich u. a. als ein „Wissen um Normen und Rollenbe-
ziehungen“ (Bohnsack, 2013, S. 179) und wird als „Orientierungsschema“
bezeichnet. Demgegenüber sind die handlungsleitenden oder konjunktiven Wis-
sensanteile dem Bewusstsein der Akteur*innen nicht zugänglich. Sie werden in
der Methodologie der praxeologischen Wissenssoziologie unter dem Begriff des
„Orientierungsrahmen im engeren Sinne“ gefasst und weitgehend synonym
zum Begriff des Habitus verwendet (vgl. Bohnsack, 2014).
Die dokumentarische Methode wurde ursprünglich für die Interpretation
von Gruppendiskussionen entwickelt. Bei der dokumentarischen Interpreta-
tion der hier zugrundeliegenden biographischen Interviews orientiere ich mich
an dem Vorgehen Nohls (2017). Die Interviewpassagen sind biographisch-nar-
rativen Interviews mit Musiklehrer*innen an Berliner Gymnasien entnommen,
die im Rahmen einer biographieanalytischen Studie zu Musiklehrer*innen
und Interkulturalität im Frühjahr 2018 erhoben wurden. Für vorliegenden Bei-
trag habe ich nach thematisch homologen Textpassagen gesucht und zwei
kontrastierende Fälle gefunden, in denen die curriculare Vorgabe Musik ver-
schiedener Kulturen Thema in der auf den Gesprächsimpuls folgenden Stegreif-
erzählung der Befragten ist. In der dokumentarischen Methode ist der Ver-
gleich mit anderen Fällen konstitutiv, um aufzuzeigen, wie dasselbe Thema
auf je unterschiedliche Art und Weise bearbeitet wird (vgl. Nohl, 2017, S. 8).
Die in der formalen Analyse vorgenommene Textsortenunterscheidung ist
angelehnt an die erzähltheoretischen Überlegungen der Narrationsstruktur-
analyse (vgl. Schütze, 1983). Während Erzählungen und Beschreibungen ein
Involviertsein der Erzählenden mit den Geschehnissen in der Vergangenheit
voraussetzen und damit jenes Wissen bergen, an dem sich die Handlungs­
praxis orientiert, haben Argumentationen und Bewertungen vorwiegend das
Ziel, Motive und Gründe für Handlungs- und Geschehensabläufe gegenüber
den Interviewer*innen zu plausibilisieren (vgl. Nohl, 2017, S. 23). In ihnen wird
jenes gesellschaftlich geteilte Wissen um Normen kommuniziert, das für die
Interviewsituation in der Gegenwart relevant ist. In der folgenden Analyse
werden sowohl narrative als auch argumentative Passagen berücksichtigt, da

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„Musik verschiedener Kulturen“ 207

gerade die Relationierung von impliziten und kommunikativen Wissensbe-


ständen im Fokus steht (Amling & Geimer, 2016). Auf diese Weise sollen mög-
liche Diskrepanzen zwischen Habitus und wahrgenommenen Normen ent-
deckt und rekonstruiert werden.
In der semantischen Analyse wird dann mithilfe der Analyseschritte der
formulierenden und reflektierenden Interpretation der oben genannten Unter-
scheidung der beiden Wissensebenen (kommunikativ und konjunktiv) Rech-
nung getragen. Die Orientierung an der Perspektive und dem Wissen der
Akteur*innen lässt sich von dem Gedanken leiten, „dass [die Akteur*innen]
selbst nicht wissen, was sie da eigentlich alles wissen“ (Bohnsack, Nentwig-
Gesemann & Nohl, 2013, S. 12). Es geht also um die Bergung jenes impliziten
Wissens, das für die Akteur*innen handlungsleitend ist.

6. Kurzportraits der Biograph*innen:

Hf (weiblich, *1956), verbringt Kindheit und Jugend in einer kleinen Gemeinde


in Sachsen-Anhalt. Aufgewachsen in einem christlichen Elternhaus, steht sie
dem politischen System der DDR bereits in Schulzeiten kritisch gegenüber
und erhält ihre musikalische Bildung vorwiegend im kirchlichen Kontext.
Das Gefühl, einer Opposition anzugehören, dominiert die Erzählung der
Lebensgeschichte bis zur Wende und konkretisiert sich im Hören von West-
sendern, Singen von englischsprachigen Songs und Bürgerrechtsbewegungs-
liedern. Nach einer beruflichen Krise, die durch die Umstrukturierungen der
Wendezeit bedingt ist, kommt Hf an ein Berliner Gymnasium, an dem sie
ihre Tätigkeit als Musik- und Deutschlehrerin bis zum Zeitpunkt der Befra-
gung fortsetzt.
Cm (männlich, *1983), geboren und aufgewachsen in West-Berlin, unterrich-
tet Musik und Deutsch an einer Privatschule in kirchlicher Trägerschaft. Ein
Ankerpunkt seiner biographischen Erzählung unter dem thematischen
Schwerpunkt Interkulturalität ist ein Auslandsaufenthalt in Ghana, wo er nach
dem Abitur ein Jahr in einem Straßenkinderprojekt mitarbeitete. Immer wie-
der greift er im Modus der Argumentation auf diese biographische Erfahrung
zurück, die oft eine legitimierende Funktion erfüllt. Insgesamt spielen Aus-
landsaufenthalte, seine Auslandsreisen und seine Fremdsprachen- bzw. non-
verbale Kommunikationskompetenz in seiner Erzählung eine große Rolle.
Aufgrund seines diesbezüglichen Erfahrungsschatzes bezeichnet er sich
„mittlerweile als sehr sehr gewandt“ im Umgang mit „anderen Kulturen“. Mu-
sikbezogene Aspekte kommen vermehrt erst gegen Ende der selbstläufigen
Erzählung zum Tragen, wenn er über seinen Musikunterricht spricht.

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7. Fall Hf: Auf der Suche nach Repräsentation von Vielfalt

Hf nimmt in der Erzählung über ihre berufliche Praxis wiederholt Bezug auf
das im Rahmenlehrplan vorgeschriebene Semesterthema.

Sekundarstufe II, da ist ja ‚Musik anderer Kulturen‘, (2) ja ein


ganzes Semester dann (.) ich (mach) auch afrikanische //mhm// Musik
(2) und (.) irische Musik; die beiden Themen das Semester ist immer
ja total kurz die sind ja jetzt nur n paar Blöcke nur 12 Blöcke
insgesamt, die die Schüler im vierten Semester haben (Hf 363ff).

achso da fällt mir @jetzt auch noch ein@, äh gerade im vierten


Semester immer wenn ich viertes Semester habe, unter dieser Thema-
tik äh Musik anderer Kulturen oder außereuropäischer ähm Musik,
erst hieß es glaub= ich außereuropäisch und jetzt heißt es Musik
anderer Kulturen das hat sich also auch in den letzten Jahren noch-
mal geändert, mh (Hf 425ff).

In der wiederholten expliziten Bezugnahme auf die curriculare Vorgabe zeigt


sich, dass Hf diese im Kontext eines Gespräches über Interkulturaltät und
Musikunterricht als Norm wahrnimmt. Durch die häufige Wiederkehr bildet
diese Norm den Rahmen der Erzählung über ihre berufliche Praxis. Weiterhin
deutet sich mit dem eingeschobenen Verweis auf die begrenzten zeitlichen
Ressourcen direkt zu Beginn der Passage eine Rechtfertigungsfigur an. Auch
die sprachliche Suchbewegung im Zusammenhang mit der wiederholten
Bezugnahme auf das Thema lässt eine Verunsicherung im Umgang mit der
institutionellen Norm erkennen.
Hf verwendet in ihrer Erzählung über Musikunterricht ausschließlich natio-
nale bzw. kontinentale Attribuierungen von Musik bzw. Kultur („irische Mu-
sik“ „afrikanische Musik“ „äthiopische Musik“, „die mongolische Kultur“).
Damit werden Musik(en) bzw. Kultur(en) als Gegenstand des Musikunterrichts
entlang nationaler Kategorien zu klar voneinander abgrenzbaren Entitäten,
was auf eine Orientierung an einem ethnisch-holistischen Kulturbegriff hin-
deutet (Barth, 2008). Interessanterweise reflektiert Hf zwar die Problematik
von Begrifflichkeiten wie „indianische Musik“, die Reflexion bezieht sich dabei
jedoch nicht auf den zugrundeliegenden Kulturbegriff und die mit ihm einher-
gehenden Stereotype, sondern eher auf eine ‚political correctness‘ im Sinne ei-
ner sprachlichen Norm:

was haben wir denn noch gemacht genau wir haben ne ganze Unter-
richtseinheit indianische Musik oder Musik der amerikanischen
Ureinwohner so heißt es ja jetzt muss ich ja auch noch sehen, dass
ich jetzt hier mich @fachlich@ @.@((beide lachen)) dass das auch @

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„Musik verschiedener Kulturen“ 209

naja dass das auch@ jetzt hier @.@ nicht ganz so äh ganz aus dem
hohlen @Bauch@ kommt; (Hf 387ff)

Mit der Reformulierung des Titels der Unterrichtseinheit validiert Hf die


Norm, diskriminierende Sprache zu vermeiden, auf der Ebene des kommuni-
kativen Wissens. Zugleich deutet sich dadurch an, dass die Bezugnahme auf
diese Norm nicht habitualisiert ist und sich in erster Linie an der Interview­
situation in der Gegenwart orientiert. Im Lachen, das die kommunikative
Validierung begleitet, dokumentiert sich dann jedoch eine gewisse Distanzie-
rung von eben jener Norm. Zudem erlebt sie die Norm als zusätzliche Belas-
tung („muss ich ja auch noch sehen“) in einer offenbar ohnehin herausfor-
dernden (Interview-?)Situation. Weder die zusätzliche Belastung noch die
Herausforderungen der Interviewsituation werden jedoch näher expliziert.
Während das Sprechen über verschiedene Musikkulturen mit ethno-natio-
nalen Vorzeichen als Unterrichtsthema für Hf uneingeschränkt möglich ist,
wird dieses Kulturverständnis für die Biographin zu einem Dilemma, sobald
es um die Schüler*innen geht. Die sprachlichen Verzögerungen, Abbrüche und
Füllwörter in der folgenden Passage zeigen eine Schwierigkeit für Hf an.

äh gerade im vierten Semester (…) biete ich den Schülern also weil
wir einfach auch Schüler haben aus ganz unterschiedlichen oder mit
ganz unterschiedlichen Wurzeln; //mhm// (und) die Großeltern äh: aus
(.) mh:: ja: äh: aus anderen Ländern stammen sie hier geboren wurden
aber ich spüre doch: ähm man versucht zu Hause diese Kultur auch
weiterleben zu lassen. (Hf 427ff)

Hf unterbricht den Erzählansatz darüber, was sie den Schüler*innen im vier-


ten Semester im Rahmen des Semesterthemas Musik verschiedener Kulturen
unterrichtlich anbietet, mit einer Argumentation. In dieser wird erstens deut-
lich, dass Hf hier eine Migrationsdimension eröffnet, und zweitens, dass sich
der zugrundliegende ethnisch-holistische Kulturbegriff nicht widerspruchs-
frei auf die Schüler*innen übertragen lässt. In der Gegenüberstellung der
Großeltern, als authentischen Repräsentant*innen „aus anderen Ländern“, mit
den „hier geborenen“ Schüler*innen zeigt sich ein zentrales Problem, dem sich
Hf in ihrer Alltagspraxis gegenübersieht: Eine hybride kulturelle Wirklichkeit
der Schüler*innenschaft scheint nicht recht kompatibel zu sein mit einem Kul-
turbegriff, der bislang für Hf handlungsleitend war. Hf überbrückt die
Schwierigkeit, indem sie die Schüler*innen unter Verweis auf deren familiäre
Einbindung kulturalisiert. Mithilfe eines familiären Kollektivs stellt sie pro-
jektive Homogenität (vgl. Ott, 2012) her und kann die hybride Wirklichkeit der
Schüler*innen ausklammern („aber ich spüre doch, man versucht zu Hause

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diese Kultur auch weiterleben zu lassen“). Daraufhin gelingt es Hf, Kompati-


bilität mit einem Kulturbegriff herzustellen, mit dem sie sich angesichts des
Semesterthemas konfrontiert sieht, und es werden Einblicke in die unterricht-
liche Handlungspraxis gegeben:

ähm also im vierten Semester unter dieser Thematik biete ich den
Schülern immer einen eigenen Vortrag an; //mhm// ähm: sich selbst
eine äh Kultur herauszusuchen, ähm die ihnen in irgendeiner Weise
vielleicht am Herzen liegt weil sie selbst Wurzeln in dieser äh
Richtung haben oder weil=es für sie ähm spannend ist sich damit
auseinanderzusetzen und die halten also Vorträge; dazu und das ist
ähm teilweise teilweise auch so berührend ähm wie tief die Schüler
da auch äh eindringen wie sie dann ihre Familie da auch mit integ-
rieren; (Hf 438ff)

Die empirische Beobachtung, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund


kulturalisiert und als Repräsentant*innen für eine bestimmte (Musik)Kultur im
Musikunterricht adressiert werden, ist nicht neu und soll auch nicht verharmlost
werden. Dennoch verzichte ich an dieser Stelle auf eine Problematisierung und
verweise stattdessen auf Studien von Barth (2013), Prieske (2018) und Honnens
(2017) u. a., die sich diesem Themenfeld ausgiebig widmen. Ausgehend von der
skizzierten Analyse möchte ich den Fokus vielmehr auf den hier zugrundelie-
genden Mechanismus der Kulturalisierung richten. Es lässt sich beobachten,
dass eine Orientierung an Repräsentation von (ethno-national konnotierter)
Vielfalt hier dominanter ist als die kurzzeitig aufscheinende habituelle Verunsi-
cherung („hier geborene Schüler“ vs. „Großeltern aus anderen Ländern“) und
schließlich auch handlungsleitend wirkt. Die Kulturalisierung der Schüler*innen
durch projektive Homogenität erscheint als Folge einer solchen Orientierung an
Repräsentation von (ethno-national konnotierter) Vielfalt. Mithilfe von projekti-
ver Homogenität gelingt es Hf, ihr Handeln an der Repräsentation von Vielfalt
in einer Situation auszurichten, die eigentlich eine Irritation genau dieser Orien-
tierung darstellt. Auf diese Weise bewältigt sie das in der habituellen Verunsi-
cherung kurzzeitig aufscheinende „Spannungsverhältnis zwischen theoreti-
schen Ansprüchen und den Herausforderungen des Schulalltags“ (Ahlrichs,
2015) zugunsten einer Passung von Anforderung und Handlungspraxis.

8. Fall Cm: Reflexive Distanzierung von Repräsentationslogik

Ähnlich wie bei Hf ist auch Cms Erzählung über seine musikunterrichtliche
Praxis gerahmt von einer Bezugnahme auf die institutionelle Norm des Semes-
terthemas Musik verschiedener Kulturen in der Oberstufe:

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„Musik verschiedener Kulturen“ 211

also ich hab jetzt im vierten Semester auch gemerkt wir dann über
(2) viel Zeit war nicht (.) n paar Exkurse gemacht auch nach Afrika
Indien und Gamelan und so weiter und da über viele verschiedene
Musikarten gesprochen (.) ähm aber dann hab ich immer wieder auch
drauf hingewiesen dass es ja durchaus noch nen den Popsektor neben-
her gibt //mhm// den ich teilweise in in Ghana zum Beispiel sehr gut
kenne ich weiß also was da in den Bussen dudelt die ganze Zeit //
mhm// das is eben keine Trommelmusik und auch schon gar kein Regen-
tanz sondern das is halt //@(.)@// Highlife-Musik (Cm 1274ff)

Homolog zu Hf verweist auch Cm auf die knappen zeitlichen Ressourcen


gleich zu Beginn der Passage und stellt die darauffolgende Erzählung somit
unter das Vorzeichen einer gewissen Unzulänglichkeit. Mit der Formulierung
„n paar Exkurse gemacht“, verortet Cm das, was er bei der Aufzählung der
„Exkurse“ nennt, außerhalb einer üblichen Routine. Die tatsächliche Praxis
dieser „Exkurse“ verbleibt gegenüber der Interviewerin im Modus der Schlag-
worthaftigkeit („Afrika Indien und Gamelan und so weiter“). Cm scheint hier
von einem konjunktiven Wissensgehalt auszugehen, den er gegenüber der
Interviewerin (deren Erfahrung als Musiklehrerin im Berliner Schuldienst Cm
bekannt ist) offensichtlich nicht näher explizieren muss. In Homologie zu Hf
zeigt sich, dass die Praxis, die an diesen konjunktiven Wissensgehalt anknüpft,
von einem kontinental bzw. national geprägten Kulturbegriff bestimmt ist und
auf einen Anspruch an Vielfalt reagiert („viele verschiedene Musikarten“).
Indem Cm daraufhin den „Popsektor“ und „Highlife-Musik“ als latent positiv
gefärbten Gegenhorizont anführt, distanziert er sich von der eigenen zuvor
angerissenen Handlungspraxis und übt mithilfe der Verschlagwortung von
„Regentanz“ als negativer Steigerung von „Trommelmusik“ Kritik an konjunk-
tiven Wissensbeständen über das Semesterthema. Legitimiert wird diese
implizite Kritik mit biographischen Erfahrungen eines einjährigen Auslands-
aufenthaltes in Ghana. Die Konsequenzen dieser Kritik für den Musikunter-
richt werden im Modus der Bewertung vorgetragen:
und ähm da mal auch was vorzuspielen und äh auch die Schüler wieder
zu fragen ja was is=n des für Funktionen, wer macht da was wie aus
welchem Grund wer hört zu sind das Profis die da spielen und so sol-
che Parameter die helfen viel besser (.) ähm auch neue Musik die die
man erstmal hört irgendwie einigermaßen einzuordnen und sich diese
Frage zu stellen //mhm// warum wieso weshalb wird Musik gemacht des
is viel spannender als ähm als so pauschal Sachen wie von wegen ja
das gibt es jetzt diesen diesen diesen Regentanz und ähm (.) das is
en Initiationsritus und den machen die halt da so in Mali und des
is irgendwie (.) (Cm 1286ff)

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212 Eva-Maria Tralle

Cm grenzt sich in dieser Passage von einer Unterrichtspraxis ab, die durch
Begriffe wie „pauschal Sachen“, „Regentanz“ und „Initiationsritus“ durch die
Identifizierung von Eindeutigkeiten charakterisiert wird. Als positiven Gegen-
horizont beschreibt er einen Unterricht als „spannender“, der sich dadurch
auszeichnet, dass Musik als Praxis konsequent aus einer Akteur*innen-Pers-
pektive betrachtet wird. Dieser Positiv-Horizont verbleibt jedoch auf der Ebene
einer Meta-Reflexion und somit bei einem theoretischen Handlungsentwurf,
der auf der Ebene des kommunikativen Wissens ein Orientierungsschema dar-
stellt, welches auch normativen Erwartungen gerecht wird. Dies wird daran
deutlich, dass z. B. Erzählungen aus der Unterrichtspraxis fehlen, in denen sich
das konkretisiert, was Cm für eine gelungenere Unterrichtspraxis zum Semes-
terthema hält. Stattdessen gibt Cm dann in einer darauffolgenden Erzählpas-
sage einen Einblick in seine Handlungspraxis im Kontext des Semesterthemas
Musik verschiedener Kulturen. An dieser Beschreibung wird die Diskrepanz
zwischen der von Cm entfalteten Norm und seiner Handlungspraxis deutlich:

also ich find das Thema sehr sehr spannend ähm habs jetzt zum Bei-
spiel geschafft aus der andern Willkommensklasse einen (.) einen
Bangladeschi (.) zu holen der dann mit seiner Tabla gekommen is und
in meinem Grundkurs dann irgendwie die Tabla vorgestellt hat //mhm//
die wir vorher besprochen hatten und da ähm wars auch mit den Schü-
lern ohne weiteres möglich auch differenziert und komplexer diese
Kultur zu besprechen wir wussten natürlich über Ragas und so was
Bescheid, dann ham die Schüler Fragen gestellt ham auch rausgefun-
den dass dieser Junge eigentlich gar keine Ahnung von Ragas und so
was hat //mhm// dann ham wir ihn gebeten mal Noten aufzuschreiben
dann hat er ähm in Bangla Solmisation an die Tafel geschrieben //
mhm// und die Schüler waren wirklich in der Lage das auch äh zu
verstehen einzuordnen und auch irgendwie aus dem kulturellen Kon-
text heraus kritisch zu bewerten. (Cm 1337ff)

Cm beschreibt eine Unterrichtspraxis, die klassische indische Musikkultur


thematisiert. Der „Bangladeshi aus der Willkommensklasse“ als Tabla-spielen-
der Akteur wird dem Oberstufenkurs-Lehrer-Kollektiv („wir“) gegenüber­
gestellt und ist den investigativen Fragen und Aufforderungen der Ober­stufen­
schüler*innen ausgesetzt. Zentral scheinen bei der Befragung vor allem
musiktheoretische Aspekte zu sein (Kenntnisse über Ragas und Notation).
Fragen nach den Funktionen von Musik, die Cm zuvor im theoretischen Hand-
lungsentwurf als positiven Gegenhorizont zur pauschalen Identifizierung von
Musikpraxen eröffnete, spielen in der Erzählung der Unterrichtsszene keine
Rolle. Auch das zuvor geforderte konsequente Einnehmen einer Akteur*in­nen­
perspektive bei der Beschäftigung mit Musikpraxen wird handlungspraktisch

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„Musik verschiedener Kulturen“ 213

nicht eingelöst. Vielmehr scheint das angeeignete Wissen der Schüler*innen


von Bedeutung zu sein, das es ihnen erlaubt, den Tabla-spielenden Akteur als
‚unwissend‘ zu entlarven und es durch ihn bestätigen zu lassen. Es drängt sich
der Eindruck auf, dass die kurze Erzählpassage einen Einblick in eine Praxis
und somit auf konjunktive Wissensbestände eröffnet, die geprägt sind von
einem ‚Sprechen über‘, das mehr auf eine Vereindeutigung von Identitäten und
Zugehörigkeiten hinausläuft denn auf Verständnis und Anerkennung für
Hybridität und Ambivalenzen. Insofern erinnert die Erzählpassage an eine
Praxis, von der sich Cm zu Beginn der Passage über das Semesterthema expli-
zit distanziert und die in Diskrepanz zu seinem Orientierungsschema auf
kommunikativer Ebene steht. Die Relationierung kommunikativer und kon-
junktiver Wissensbestände Cms offenbart ein Spannungsverhältnis: Mit den
nachgeschobenen Bewertungen der Schüler*innenaktivitäten als „differen-
ziert, komplex und kritisch“ validiert Cm die normativen Erwartungen des
Orientierungsschemas zwar kommunikativ, verbleibt handlungspraktisch
jedoch in einer (ethno-national konnotierten) Repräsentationslogik.

9. Zusammenfassung und Diskussion

Im Vergleich der beiden Fälle zeigt sich, dass die curriculare Vorgabe für das
Fach Musik in der Oberstufe mit dem Schulhalbjahresthema Musik verschiede-
ner Kulturen als institutionelle Norm von Musiklehrkräften wahrgenommen
und anerkannt ist, alltagspraktisch jedoch unterschiedlich ausgehandelt
wird. Es konnte rekonstruiert werden, dass der Handlungspraxis beider Fälle
angesichts der curricularen Vorgabe eine Orientierung an der Repräsentation
(ethno-nationaler) Vielfalt zugrunde liegt. Im Falle von Hf steht diese Hand-
lungsorientierung in einem Passungsverhältnis zu den Erwartungen, denen
sich Hf rollenförmig gegenübersieht, nämlich die Lehrplanvorgabe als eine
Aufforderung zu verstehen, ethno-nationale Vielfalt im Musikunterricht zu
repräsentieren. Hf bewältigt mit Hilfe dieser Orientierung eine habituelle
Verunsicherung, in der sich ein kurzfristiges Spannungsverhältnis zwischen
ihrem rollenförmigen Orientierungsschema und der wahrgenommenen hyb-
riden Wirklichkeit der Schüler*innen auftut.2 Sotzek et al. (2017, S. 327) spre-
chen hier von „habitusirritierendem Potenzial“, das sich in der Art und Weise
der Bearbeitung des Spannungsverhältnisses zeigt. Demgegenüber konnte

2
Bohnsack (2017) spricht in diesem Zusammenhang auch von der notorischen Diskrepanz
zwischen Norm und Habitus, die ihrerseits habitualisiert und in ein „Routinewissen“ über-
führt wird (vgl. ebd., S. 57).

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im Falle von Cm ein Spannungsverhältnis zwischen Habitus und Norm


rekonstruiert werden. Dieses zeigt sich umso eklatanter, als Cm seine refle-
xive Haltung zum Themenbereich als eine zum Ausdruck bringt, die bewusst
über herkömmliche Normerwartungen hinausgehen möchte. Immer wieder
distanziert er sich kommunikativ von einer Norm der ‚pauschalen‘ Repräsen-
tation ethno-national konnotierter Vielfalt, handlungspraktisch scheint er
dann aber doch darauf zurückzufallen, was beispielhaft an der Erzählsequenz
über den Oberstufenunterricht nachvollzogen wurde.
Mit Blick auf die eingangs genannte Unterscheidung in Legitimations- und
Orientierungsfunktion von Lehrplänen lässt sich für die beiden empirischen
Beispiele festhalten, dass der Lehrplanbezug hier in erster Linie eine entlas-
tende Funktion hat. Entlastet wird durch die Bezugnahme auf das Semes-
terthema Musik verschiedener Kulturen, jedoch weniger das tatsächliche unter-
richtliche Handeln der Lehrkräfte im Sinne einer „Berufungsgrundlage“
(Adolph, 2015, S. 38). Vielmehr geht es hier um die Entlastung einer Gesprächs-
situation, die einer gewissen potenziellen fachdidaktischen Anfechtung nicht
entbehrt. Als Interviewerin und Hochschulvertreterin transportiere ich mit
meinem Forschungsinteresse an Interkulturalität gegenüber den Expert*innen
der Praxis zwangsläufig ein fachdidaktisches Optimierungsinteresse, das die
Befragten mit einer gefühlten Unzulänglichkeit konfrontieren kann. Indem die
Lehrkräfte in einer derart normativ aufgeladenen Gesprächssituation konse-
quent auf das Semesterthema Musik verschiedener Kulturen Bezug nehmen,
scheint der Lehrplan für sie ein sicherer Rückzugsort zu sein. Insofern besitzt
der Lehrplan ein Rechtfertigungspotenzial, mit dessen Hilfe sich die Lehr-
kräfte von diskursiv anwesenden Anforderungen in einer Gesprächssituation
über Interkulturalität und Musikunterricht entlasten.
Die Analyse hat für beide Fälle eine Orientierung an Repräsentation von
(ethno-nationaler) Vielfalt im Zusammenhang mit der curricularen Vorgabe er-
geben. Zugleich hat sich gezeigt, dass es sich bei dieser Orientierung um eine auf
Lehrerfahrung aufbauende Internalisierung handelt (Blum, 2016, S. 78), die ori-
entierungswirksam für die Handlungspraxis von Musiklehrkräften ist und Teil
eines impliziten Wissens im Umgang mit der Lehrplanvorgabe geworden ist.
Vor dem Hintergrund der rekonstruierten Orientierung an der Repräsenta-
tion von Vielfalt drängt sich die Frage auf, wie es gelingen kann, dass Lehr-
kräfte im Rahmen von Musikunterricht solche Rahmenbedingungen schaffen,
die dazu führen können, dass Schüler*innen angeregt werden, ihre Bedeu-
tungskonstrukte über Musik und die eigene kulturelle Identität immer wieder
zu hinterfragen (vgl. Krause-Benz, 2013). Die Ergebnisse machen deutlich, dass
die Bedeutungskonstrukte der Lehrenden über Kultur und Vielfalt konstitu-

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„Musik verschiedener Kulturen“ 215

tive Rahmenbedingungen für Musikunterricht darstellen. Aus meiner Sicht


sollten diese Konstrukte daher beim Nachdenken über Voraussetzungen und
Bedingungen interkulturell orientierten Musikunterrichts mehr Aufmerksam-
keit erfahren. Aus diesen Überlegungen heraus möchte ich im Sinne eines
Denkanstoßes mit Bezug auf Mecheril (2005) mit folgender Frage schließen:
Welche Rahmenbedingungen müssen in der Aus- und Fortbildung von (Mu-
sik-)Lehrkräften geschaffen werden, damit sie nicht ihren eigenen Orientierun-
gen in die Falle gehen, sondern befähigt werden, eine „interkulturelle Professi-
onalität [zu entwickeln, bei der] die Frage, wer befugt ist, über wen mit welchen
Effekten zu sprechen, kritisch und von der Idee der Veränderung der Verhält-
nisse inspiriert wieder und wieder gestellt wird“ (Mecheril, 2005, S. 316)?

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216 Eva-Maria Tralle

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Joana Grow

Wege durchgängiger Sprachbildung


Möglichkeiten und Grenzen von Sprachförderliedern als Gegenstand
des Musikunterrichts

Educational Songs
Possibilities and Difficulties in Learning German as a Foreign Language
in the Music Classroom.

Ausgangspunkt des Beitrags ist die Frage, ob Sprachförderlieder geeigneter Gegenstand


(einer integrativen Sprachförderung) im Fach Musik sind. Die Lieder werden dazu aus
didaktischer Perspektive der Fächer Deutsch als Zweitsprache (DaZ) und Musik analy-
siert. Exemplarisch wird am grammatikalischen Phänomen Wechselpräpositionen
gezeigt, dass die sprachliche Komplexität des Lerngegenstands im Liedtext nicht abge-
bildet wird. Die Analyse exemplarisch ausgewählter Sprachförderlieder offenbart ver-
schiedene Defizite sowohl aus sprachlicher als auch aus musikdidaktischer und musik-
theoretischer Perspektive. Abschließend wird diskutiert, wie Sprachförderlieder für eine
integrative Sprachförderung im Fach Musik aussehen könnten.

The article deals with the question of whether it is possible to sing songs which are
composed specifically for children who learn German as a foreign language, during
music lessons to enhance their language skills. The songs are analysed linguistically
and musically. Results show the perspectives of linguistic, music didactic and music
theory are essential. The article discusses how songs should be composed so that they
can be learned as part of the music curriculum.

1. Einleitung

Ein Themengebiet der interkulturellen Musikpädagogik ist die Rolle von


Musikunterricht in der Migrationsgesellschaft. Erste Positionen des Diskurses
in den 80er und 90er Jahren (vgl. Merkt, 1993) schließen an die defizitorientierte
Ausländerpädagogik an, die ihren Ursprung bereits in den 1960er Jahren hat.
Neben Vorbereitungsklassen wurde dem Musikunterricht in dieser Zeit eine
Bedeutung als Ort der Integration in Vorbereitung auf den Regelunterricht

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220 Joana Grow

­beigemessen (vgl. Friberg, 1976, S. 187; Merkt, 1993, S. 142 zitiert nach Knigge,
2013, S. 45), da dieser „weniger von der Sprache getragen und beeinflusst“
(Knigge 2013, S. 45) wurde als von konkretem Handeln. Im Gegensatz zu die-
sem defizitorientierten Ansatz zielt die Interkulturelle Musikpädagogik heute
in der Regel darauf ab, alle Schüler*innen zu befähigen, aktiv und selbstbe-
stimmt in der multikulturellen Migrationsgesellschaft einer globalisierten
Welt musikalisch tätig zu werden (vgl. ebd., S.52).

Die Fluchtbewegungen ab etwa 2014 haben in Deutschland erneut dazu


geführt, dass für einen großen Teil der Schüler*innen an allgemeinbildenden
Schulen ein spezifischer Förderbedarf besteht. Aus diesen Gründen wurden
etwa in Niedersachsen Sprachlernklassen eingerichtet. Im Anschluss an deren
in der Regel einjährigen Besuch erhalten die Schüler*innen zusätzlich zum
Regelunterricht Förderunterricht Deutsch als Zweitsprache (additive Sprach-
förderung) (vgl. MK NS, 2014, S. 330; 2019, S. 624). Erneut wird in diesen defizi-
torientierten Förderkonzepten dem Besuch des Musikunterrichts im Übergang
zur Teilnahme am Regelklassenunterricht eine integrierende Funktion zuge-
sprochen (vgl. ebd., 2014, S. 332). Darüber hinaus wird jedoch auch integrative
Sprachförderung gefordert und als Querschnittsaufgabe im Fachunterricht
beschrieben (vgl. ebd., S. 330), ein diesbezüglicher musikpädagogischer Dis-
kurs beginnt erst allmählich (vgl. Bossen, 2017, S. 22), wenngleich Musik in
Sprachlernklassen vielfach als Möglichkeit der Begegnung ohne Sprache ein-
gesetzt wird. Weiter wurden „im musikalischen Bereich viele Konzepte mit
dem expliziten Ziel entwickelt, den Erwerb der deutschen Sprache mit musika-
lischen Mitteln zu unterstützen“ (Barth, 2018, S. 4). So entstanden für den Ein-
satz im Unterricht Deutsch als Zweitsprache insbesondere neue Sprachförder-
lieder (vgl. u. a. Gaul & Nagel, 2016; Kauffeldt et al., 2014).
Es ist davon auszugehen, dass die Lehrkräfte von Sprachlernklassen und des
Unterrichts Deutsch als Zweitsprache nur selten Musiklehrer*innen sind. Ob
und in welchem Maße die vor allem für diesen Unterricht komponierten Sprach-
förderlieder von den Nicht-Musiklehrer*innen eingesetzt werden, verbleibt un-
klar. Studien zeigen jedoch, dass Nicht-Musiklehrer*innen in ihrem Unterricht
insgesamt selten singen, da sie sich dabei eher unwohl und inkompetent fühlen
(vgl. Schellberg, 2005, S. 83, 88). Dies spricht erneut für integrative oder koopera-
tive Ansätze der Sprachförderung etwa durch Kooperationen von fachfremden
Kolleg*innen mit Musiklehrenden. Diese singen die Lieder im Musikunterricht
und machen sie somit zum Gegenstand von Musikunterricht und integrativer
Sprachförderung. Fächerübergreifend wird von der DaZ-Lehrkraft der Lern­
gegenstand im Liedtext weiter betrachtet. Auf den Lerngegenstand Lied wird

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Wege durchgängiger Sprachbildung 221

die Perspektive zweier Fächer gerichtet (vgl. Dethlefs-Forsbach, 2005, S. 162). Der
Musikunterricht widmet sich vorrangig der musikalischen Erarbeitung eines
Liedes. Sprachliche Elemente werden dabei durch Melodie und Rhythmus un-
terstützt eingeschliffen, was als ein Beitrag zur integrativen Sprachförderung
gewertet werden kann, die notwendiger Gegenstand jedes Faches ist. Darüber
hinaus müssen Sprachförderlieder als Gegenstand von Musikunterricht den An-
forderungen an Lieder im Musikunterricht gerecht werden.

Im folgenden Beitrag soll die Eignung von Sprachförderliedern als Gegenstand


von Musikunterricht und somit als Möglichkeit integrativer Sprachförderung
untersucht werden. Die Lieder werden also an Kriterien gemessen, die von den
Autor*innen nicht intendiert waren, da diese die Lieder für den DaZ-Unterricht
geschrieben haben. Es sollen zunächst Anforderungen an Lieder im Musik­
unterricht sowie an Liedtexte aus DaZ-didaktischer Sicht erarbeitet werden,
um diese dann für die Liedanalyse nutzbar zu machen.

In den Sprachförderliedern wird zumeist einer der DaZ-didaktischen Lernbe-


reiche Grammatik, Wortschatz, Aussprache und Phonologische Bewusstheit
fokussiert. Die Anforderungen an den Text unterscheiden sich für die einzel-
nen Lernbereiche und die zugehörigen Lerngegenstände deutlich. In diesem
Artikel wird die Umsetzung von Wechselpräpositionen (Lernbereich Gram-
matik) im Lerngegenstand Lied analysiert. „Von mindestens ebenso großer
Bedeutung ist die methodische Seite des Unterrichts“ (Beidinger, 2015, S. 5), die
hier allerdings außen vor gelassen wird.

2. Forschungsstand: Musik in der Sprachförderung

Der Einsatz von Sprachförderliedern in der additiven Sprachförderung wurde


bereits mit unterschiedlichen Schwerpunkten untersucht: Das Forschungsinte-
resse lag auf der Steigerung der Lernmotivation (vgl. Allmayer, 2009, S. 294),
der Verknüpfung mit Emotionen (vgl. Brand & Markowitsch, 2006, S. 40) und
auf gemeinsamen suprasegmentalen Merkmalen1 von Sprache und Musik als
Ausgangspunkt zur Förderung phonologischer Bewusstheit (vgl. Dieling &
Hirschfeld, 2010, S. 48). Darüber hinaus existieren Studien zur Förderung der
Aussprachefähigkeit von DaZ-Lernenden durch Musik (vgl. Morgret, 2018;
Wild, 2018). Evaluationsstudien im Bereich der Musiktherapie zeigen positive

1
Suprasegmentale Merkmale wie Pausen, Tonhöhe und Intonation oder Akzentsetzungen
gehen über die rein sprachlautliche Ebene hinaus.

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222 Joana Grow

Effekte in der Vermittlung von Sprache durch Musik (vgl. Menebröcker & Jor-
dan, 2014; Pathe, 2008). Empirische Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit
einer Sprachvermittlung durch Lieder finden sich bisher nur zum Schriftspra-
cherwerb (vgl. Röber, 2014; Rautenberg, 2012), in der Fremdsprachendidaktik
(vgl. Israel, 2013; Ludke, 2010) sowie in der Grammatikförderung im Bereich
Deutsch als Fremdsprache (vgl. Allmayer, 2009, S. 296). Weiter sind zwei der
musikalischen Förderkonzepte im Bereich Deutsch als Zweitsprache Gegen-
stand von Evaluation (vgl. Bossen, 2010; Gaul & Nagel, 2016). Allgemeinere
didaktische Arbeiten zur Sprachbildung im Fach Musik liegen noch nicht vor
(vgl. Bossen, 2017), eine Sammlung erster Konzepte, Materialien und Best
Practice-Beispiele findet sich bei Barth (2018).

3. Fragestellung

Forschungsfrage der vorliegenden Studie ist, ob Sprachförderlieder als mögli-


cher Unterrichtsgegenstand für Musikunterricht mit integrierter Sprachförde-
rung geeignet sind. Hieraus ergeben sich folgende Fragen:
1) Erfüllen die vorliegenden Sprachförderlieder DaZ-didaktische Anforderun-
gen an die Vermittlung des Lerngegenstandes?
2) Erfüllen die vorliegenden Sprachförderlieder die Anforderungen an Lieder im
Musikunterricht? Um die Ergebnisse mit der Eignung sonstiger für den Musik-
unterricht ausgewählter Lieder zu vergleichen, werden sie Ergebnissen von
Liedanalysen aus Schulmusikbüchern (vgl. Hosbach, 2014) gegenübergestellt.

4. Anforderungen an (Lied-)Texte im Unterricht Deutsch als Zweitsprache


am Beispiel von Wechselpräpositionen

Exemplarisch sollen hier die Anforderungen an die Arbeit mit Wechselpräpo-


sitionen vorgestellt werden, die Teil des Strukturwortschatzes und ein gram-
matikalisches Phänomen sind, wobei Letzteres Fokus der Analyse ist. Neben
der sprachlichen Umsetzung des Phänomens selbst ist zu beachten, dass im
Text keine Überlagerungen mit grammatikalischen Phänomenen vorhanden
sind, über die die Lernenden noch nicht verfügen (vgl. Kniffka & Siebert-Ott,
2009, S. 69).
Wechselpräpositionen (an, auf, hinter, in, neben, über, unter, vor und zwi-
schen) regieren auf die Frage „wo“ den Dativ (lokative Funktion) und auf die
Frage „wohin“ den Akkusativ (direktive Funktion) (vgl. Rösch, 2001, S. 44).
Ich sitze auf dem Sofa. (wo? – Dativ)
Ich setze mich auf das Sofa. (wohin? – Akkusativ) (Albert, 2008, S. 98).

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Wege durchgängiger Sprachbildung 223

Zur Vermittlung von Wechselpräpositionen bedarf es zur Regelableitung der


Implementation des kompletten Phänomens im Liedtext. Eine Wechselpräposi-
tion soll also in beiden Kasus in ähnlicher Struktur verwendet werden. In
jedem Kasus bedarf es Nomen in allen drei Genera (vgl. ebd., S. 97).
Neben der strukturierten Vermittlung grammatikalischer Phänomene gibt
es auch das Prinzip des Einschleifens, also die Orientierung an einem sich auf-
bauenden grammatikalischen Minimalkatalog (vgl. Rösch, 2001, S. 45). Dieses
bedeutet für die Vermittlung von Wechselpräpositionen, dass zunächst nur ein
Kasus vermittelt würde. Sobald jedoch beide Kasus genutzt werden, ist die
vollständige Darstellung geboten.

5. Anforderungen an Lieder für den Musikunterricht

Singen im Musikunterricht scheint zunächst ein vielfältig beforschter Gegen-


stand zu sein (vgl. u. a. Bojack-Weber, 2012; Hosbach, 2014; Forge & Gembris,
2012). In Bezug auf die Anforderungen an Lieder für den Musikunterricht lie-
gen jedoch Desiderate vor. Musiklehrer*innen wählen Lieder zunächst thema-
tisch aus (vgl. Hosbach, 2014, S. 286). Weitere Kriterien der Liedauswahl sind
der Geschmack von sowohl Lehrer*innen als auch Schüler*innen sowie der
Schwierigkeitsgrad des Stückes. Insbesondere wird bei der Auswahl der Lie-
der für den Musikunterricht auf den Tonumfang, eine einprägsame überschau-
bare Melodie sowie einen ansprechenden Rhythmus geachtet (vgl. Heuer, 2019,
S. 17; Hosbach, 2014, S. 328).
Um musikdidaktische Auswahlkriterien von Liedern für den Musikunter-
richt der Grundschule herauszuarbeiten, wurden in einer vergleichenden In-
haltsanalyse musikdidaktische Veröffentlichungen zum Thema Singen mit
Kindern2 betrachtet (vgl. Grow, 2019a). Es wurden fünf Kategorien herausge-
arbeitet, von denen hier drei genauer betrachtet werden. Die Kategorien Le-
benswelt der Kinder und weitere Gestaltungsmöglichkeiten werden in diesem Arti-
kel nicht fokussiert, da sie über musikbezogene Kriterien der Liedauswahl
hinausgehen.
1) Die Besonderheiten der Kinderstimme: Diskutiert werden die Besonderheiten
der Kinderstimme in Bezug auf die Stimmbandlänge und damit verbunden
die Tonhöhe sowie Konsequenzen des geringeren Atemvolumens für Laut-
stärke und Phrasenlänge. Konsens der untersuchten Veröffentlichungen ist,

2
Münden & Lindemann, in Vorb.; Graefe-Hessler, Jank, & Marke, 2019; Jank, 2017; Fuchs, 2015;
Stubbenvoll, 2013; Jacobsen, 2012; Arnold-Joppich et al. 2011; Reuther, 2011; Ernst, 2008; Kreff-
ter & Arnold, 1999.

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224 Joana Grow

dass der Ambitus der Lieder nicht zu tief sein darf. Es wurde ein Hauptsing-
bereich zwischen f1 und f2 sowie ohne Töne unter c1 (vgl. Ernst, 2008, S. 13;
Fuchs, 2015, S. 121) definiert. Bock & Lugert schließen sich in ihrer Studie
dieser Empfehlung ebenfalls an, wenngleich sie das tiefere Singen im Brust-
register bei Kinderstimmen grundsätzlich als unproblematisch bewerten
(vgl. Bock & Lugert, 2017, S. 14).
2) In acht Publikationen wird ein für die Zielgruppe angemessener Schwierig-
keitsgrad verlangt. Es sollen mögliche Schwierigkeiten in Melodie, Harmonik
und Rhythmus der Lieder betrachtet werden (vgl. u. a. Eisenberg, Schmid &
Tiemann, 2011, S. 167; Ernst, 2008, S. 27; Fuchs, 2015, S. 127). Als herausfor-
dernd beschreiben Eisenberg et al. (2011) im tonalen Bereich u. a. chromati-
sche Elemente oder große Tonsprünge. Im rhythmischen Bereich gelten
Lieder im Dreiertakt als schwieriger zu singen als Lieder im Zweier-/Vierer-
takt, ungerade Taktarten schwieriger als gerade Taktarten. Auch unge-
wohnte Pausen werden als Herausforderungen benannt. Langsame Molllie-
der seien ungewohnter und damit schwerer zu singen. So weisen die
Autor*innen auch darauf hin, dass die Schüler*innen lernen sollten, sich mit
solchen musikalischen Herausforderungen auseinanderzusetzen (vgl. ebd.,
S. 167). Wenn in einem Lied ein musikalisches Phänomen besonders heraus-
gestellt wird, kann es besonders geeignet sein, das musikalische Phänomen
zu lernen (ebd.). Beidinger (vgl. 2015, S. 5) moniert, dass Schulliederbücher in
erster Linie nach textlichen Themen, nicht nach musikalischen Lernmög-
lichkeiten sortiert sind.
3) Die Auswahl der Lieder soll eine musikalische Vielfalt bieten (vgl. Ernst, 2008,
S. 27). Vielfalt bezieht sich dabei auf musikalische Parameter (Tonart, Taktart),
musikalisch-kulturellen Ursprung und musikalische Stile. An dieser Stelle
wird Vielfalt nur auf musikalische Parameter bezogen.

6. Methoden
6.1 Stichprobe

Gegenstand der Untersuchung sind von Sprachdidaktiker*innen und/oder


Musikpädagog*innen für den DaZ-Unterricht komponierte Sprachförderlieder.
Nicht bedacht werden (Kinder-)Lieder, die für die Sprachförderung geeignet
erscheinen, da die beabsichtigte sprachliche wie musikalische Umsetzung
eines Lerngegenstands von Interesse ist. Aus Zeitgründen wurde die Analyse
auf vorhandene Liedersammlungen beschränkt. Da darüber hinaus nur ver-
einzelte Lieder zu finden sind, ist die Analyse durchaus aussagekräftig für

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Wege durchgängiger Sprachbildung 225

Sprachförderlieder. Gegenstand der Analyse sind somit insgesamt 87 Lieder


aus fünf Liedersammlungen (vgl. Belke & Geck, 2016; Bossen, 2012; Gaul &
Nagel, 2016; Kauffeld et al., 2014; Röber & Fuchs, 2014) in Form von Noten mit
Akkordsymbolen und zugehörigen Aufnahmen.

6.2 Auswertungsmethoden

Die Anforderungen, die an (Sprachförder-)Lieder aus musik- wie DaZ-didakti-


scher Perspektive formuliert wurden, waren Ausgangspunkt für ein deduktives
Vorgehen im Rahmen der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2015). Zu
den einzelnen aus der DaZ- und Musikdidaktik gewonnenen Kategorien wur-
den musiktheoretische und sprachwissenschaftliche Items operationalisiert. Für
den DaZ-didaktischen Bereich wird somit die korrekte sowie vollständige
Umsetzung von Wechselpräpositionen ohne grammatikalische Überlagerungen
untersucht. Für die Anforderungen an das Singen werden hier die Analysen mit
den drei aufgezeigten Kategorien Beachtung der Besonderheiten der Kinderstimme,
angemessener Schwierigkeitsgrad und musikalische Vielfalt genauer dargestellt.
Erst die gemeinsame Betrachtung der Ausprägungen mehrerer Items (z. B.
Ambitus, Hauptsingbereich, Phrasenlänge, Tempo, Lautstärke) zeigt dann, in-
wiefern beispielsweise die Besonderheiten der Kinderstimme berücksichtigt wer-
den. Items, die eine fachliche Einschätzung vornehmen (z. B. Grad an Komple-
xität des Rhythmus), wurden von drei Expert*innen3 kodiert und ggf. diskutiert.

7. Ergebnisse
7.1 Die sprachdidaktische Perspektive

Im Folgenden werden exemplarisch Analysen von den Liedern mit dem Lern-
gegenstand Wechselpräpositionen (Grammatik) dargestellt.
Im „Murro-Lied“ wird erst die lokative Funktion und das Genus Neutrum
geübt. In der dritten Strophe findet sich dann die direktive Funktion in masku-
liner Form. Frage- und Antwortstruktur passen hier nicht zusammen.
Das Lied „Wo sind unsere Sachen?“ fokussiert die lokative Funktion, wobei
das Neutrum und die Pluralformen fehlen. Darüber hinaus wird in der dritten
Strophe bei gleicher Ortslogik die direktive Funktion genutzt.
In beiden Liedern wird der Lerngegenstand der Wechselpräpositionen in der
Strophe angelegt. Es werden jeweils mehrere, aber nicht alle Genera genutzt. Die

3
Bei den drei Expert*innen handelt es sich um schulerfahrene Hochschullehrende, sodass die
Einschätzungen einem Expertenrating ähneln.

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226 Joana Grow

zwei Kasus werden nicht gegenübergestellt, ein Kasus wird fokussiert, der an-
dere unvermittelt einmalig genutzt. Die Lerninhalte werden somit nicht in der
jeweils gewünschten sprachlichen Komplexität im Liedtext umgesetzt. Nur
21,8 % der Lieder insgesamt und 27,9 % der Lieder mit einem Lerngegenstand im
Bereich Grammatik weisen die DaZ-didaktisch geforderte Umsetzung auf.

Frage lokativ

lokativ, Dativ

n, Sg einmalig:
direktiv,
Akkusativ
m, Sg

Abb. 1: Wechselpräpositionen im „Murro-Lied“ (Belke & Geck, 2016)


Text hier eingeben

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Strophe

Refrain

m, Sg
lokativ, Dativ

2. Vor dem Kopf oder hinter dem Kopf, neben dem Kopf, über dem Kopf. m, Sg

3. Nah bei der Tafel oder fern von der Tafel, auf die Tafel zu, von der Tafel weg. f, Sg

direktiv, Akkusativ - n fehlt


- Pl fehlt

Abb. 2: Wechselpräpositionen im Lied „Wo sind unsere Sachen“ (Gaul & Nagel, 2016)

7.2 Die musikdidaktische Perspektive


7.2.1 Besonderheiten der Kinderstimme

Der Ambitus der Sprachförderlieder liegt zwischen g und e2, der tiefste Ton
liegt im Median bei d1 vor c1 und h (14 Lieder). Der höchste Ton der Melodie ist
im Median c2 vor d2 und h1. Der tiefste Ton des Hauptsingbereichs, also des
Bereichs, in dem sich die Melodie eines Liedes hauptsächlich befinden sollte
(vgl. Ernst, 2008, S. 13; Mohr, 2013, S. 28), ist d1 vor e1 und c1, der höchste Ton am
häufigsten h1 vor a1 und c2. Die meisten Lieder haben den Ambitus einer
Oktave. Der aus didaktischer Sicht angedachte Hauptsingbereich wird unter-,
aber nicht überschritten. 58 Lieder sind tiefer arrangiert. In 21 Liedern (24 %)
wird der Hauptsingbereich f1–f2 eingehalten, in weiteren 22 Liedern (25 %) um
nur einen Ton unterschritten.

In über 46 % der Lieder aus den Schulmusikbüchern Kolibri (2003) und Duett
(2004) ist der tiefste Ton das c1, 22 % der Lieder weisen einen tieferen Ton auf.

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228 Joana Grow

Der höchste Ton ist zumeist c2 vor d2. 8 % der Lieder weisen höhere Töne auf.
Der Ambitus der meisten Lieder umfasst eine Oktave (vgl. Hosbach, 2014,
S. 227). Die Kompositionen der Sprachförderlieder und der Lieder in Schul­
musikbüchern scheinen mit Blick auf die Eignung für die Kinderstimme ver-
gleichbar, sie sind eher tief arrangiert.

7.2.2 Angemessener Schwierigkeitsgrad

Die am häufigsten verwendeten Intervalle sind Sekunden, Primen und Terzen.


Das größte Intervall eines Liedes ist am häufigsten die Quinte, vor Quarte und
Sexte. Die Melodien bestehen weiter aus kurzen einfachen Motiven, die auf
Tonleiterausschnitten, Tonschritten in Wellenbewegungen (z. B. c, d, c, h, c)
oder Dreiklangsausschnitten beruhen, wiederholt und variiert werden. In 15
Liedern basiert ein Motiv auf einem markanten Intervall, etwa der Quarte. In
vier Liedern basiert das Motiv auf einem prägnanten Rhythmus. Die Hälfte der
Lieder (44 Lieder) nutzt fast ausschließlich zwei verschiedene Notenwerte,
meist Viertel und Achtel, und weisen somit einen schlichten geraden Rhyth-
mus auf. 35 Lieder kennen darüber hinaus weitere Notenwerte sowie Punktie-
rungen. Nur sechs Lieder sind aufgrund von Überbindungen, Verschiebungen
von Betonungen u. ä. rhythmisch komplexer.
Im Vergleich dazu weisen die Lieder der Schulmusikbücher durchschnitt-
lich drei verschiedene Tonwerte auf (vgl. ebd., S. 227). Sie erscheinen rhyth-
misch interessanter, da die Hälfte der Kompositionen Besonderheiten wie
Synkopen oder ternäre Rhythmen nutzt (vgl. ebd., S. 228). Bei Gaul und Nagel
(2016), Kauffeldt et al. (2014) sowie Röber und Fuchs (2014) finden sich verein-
zelt Lieder mit großen Intervallen, Wendungen in Moll, Zweistimmigkeiten
oder komplexen (synkopischen) Rhythmen. Darüber hinaus finden sich in den
Sprachförderliedern kaum musikalische Lerngegenstände.

7.2.3 Musikalische Vielfalt

Die Mehrheit der Sprachförderlieder ist in Dur und im Viervierteltakt kompo-


niert: 77 der Lieder (86 %) sind in einer Dur-Tonart komponiert. 13 Lieder ste-
hen in Moll (14 %), wobei sich neun dieser Lieder in den Sammlungen von Gaul
und Nagel (2016) und Kauffeldt et al. (2014) befinden. Vier Lieder beinhalten
einen Tonartwechsel (vgl. Kauffeldt, 2014; Bossen, 2012). In Bezug auf die
Taktarten wurde zwischen Zweier- und Dreiertakten unterschieden. Es domi-
nieren Lieder in Zweiertakten (75 Lieder, 85 %), oftmals einem Viervierteltakt
(64 Lieder, 72 %). Nur 14 Lieder weisen einen Dreiertakt auf. Zwei Lieder von

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Wege durchgängiger Sprachbildung 229

Kauffeldt et al. (2014) stehen in Moll und im Dreiertakt. Insgesamt fällt diese
Sammlung in puncto Ton- und Taktart als verhältnismäßig vielfältig auf. Die
Sammlung von Gaul und Nagel (2016) kennt ebenfalls einige Lieder in einer
Moll-Tonart, die von Bossen (2012) einige Lieder im Dreiertakt.

29 Lieder vor allem aus der Sammlung Belke und Geck (2016) nutzen drei har-
monische Grundfunktionen. Die meisten Lieder kennen auch die Parallelfunk-
tionen und sind harmonisch eher komplexer. Für die Bücher Kolibri (2003) und
Duett (2004) zeigt Hosbach (vgl. 2014, S. 230), dass 91,8 % bzw. 88,8 % der Lieder
in Dur und 6,3 % bzw. 10,7 % der Lieder in Moll stehen. Die häufigsten ­Ton­arten
sind C-Dur und F-Dur. Dabei nutzen die Lieder in 59 % ein bis drei Harmonien,
in 39 % noch vier bis sechs verschiedene Harmonien. 80 % der Lieder stehen
dabei in einem geraden Takt (2/2 oder 4/4), 3 % in einer komplexeren Taktart
(9/8, 5/4) (vgl. ebd., S. 227). Die Sprachförderlieder sind somit wiederum ver-
gleichbar zu den Liedern der Schulmusikbücher. Bei den Sprachförderliedern
ist der Anteil an Liedern in Moll prozentual gesehen sogar höher.

8. Diskussion

Ob Sprachförderlieder als möglicher Unterrichtsgegenstand für Musikunter-


richt mit integrierter Sprachförderung geeignet sind, soll zunächst in Bezug
auf DaZ-didaktische, dann auf musikdidaktische Anforderungen hin disku-
tiert werden.
Die DaZ-didaktischen Anforderungen legen als eine Möglichkeit der Um-
setzung des Lerngegenstands im Liedtext nahe, ein Genus mit beiden Kasus in
parallelen Konstruktionen in einer Strophe zu platzieren. Um alle Aspekte ab-
zubilden, würde ein Lied dann mehrere Strophen umfassen. Auch wenn in
den untersuchten Liedern Strophen zur Abbildung verschiedener Momente
eines sprachlichen Lerngegenstandes genutzt wurden, konnte für das Phäno-
men Wechselpräpositionen ein solches Vorgehen nicht aufgezeigt werden. Als
besonders schwierig ist die in den analysierten Liedern aufgezeigte mangelnde
Stringenz in der Nutzung nur eines Kasus anzusehen. Ohne inhaltliche Erklä-
rungen wird in beiden dargestellten Liedern einmalig unvermittelt der zweite
Kasus genutzt. Aufgrund dieser mangelnden Stringenz sind die Lieder für ein
„Einschleifen“ des grammatischen Phänomens nicht geeignet.
Um das Phänomen Wechselpräpositionen zum Gegenstand auch integrativer
Sprachförderung zu machen, scheinen die Lieder aufgrund der fehlenden kont-
rastiven Gegenüberstellung sowie der Unvollständigkeiten in der Abbildung der
Genera nicht geeignet. Bei der Vermittlung von komplexeren grammatikalischen

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230 Joana Grow

Phänomenen stoßen sie an Grenzen. Dabei soll nicht ausgeschlossen werden,


dass eine Umsetzung grammatikalischer Phänomene im Liedtext möglich ist.
Für den Bereich Wortschatz – so zeigen die weiteren Analysen – erscheint eine
angemessene Umsetzung in Sprachförderliedern leichter. So wurden die Präpo-
sitionen als Strukturwortschatz in den vorgestellten Liedern gut umgesetzt.
Musikdidaktische Anforderungen wie die Berücksichtigung der Besonder-
heiten der Kinderstimme werden in den Liedern zum Teil bedacht, der Schwie-
rigkeitsgrad der Lieder ist eher gering und die musikalische Vielfalt begrenzt.
Der Vergleich zu den Liedern der Schulmusikbücher (vgl. Kolibri, 2003; Duett,
2004) zeigt, dass diese im rhythmischen Bereich komplexer sind. In Bezug auf
Ambitus, Tonart und Harmonien sind die Sprachförderlieder sogar etwas viel-
fältiger. Als mögliche Gründe dafür führt Hosbach (vgl. 2014, S. 224) an, dass
die Schulmusikbücher aufgrund von Fachlehrer*innenmangel immer laien-
tauglicher sein müssen, um sich kommerziell auf dem Markt zu bewähren.
Insgesamt sind viele Sprachförderlieder wie Lieder aus Schulmusikbüchern
aus musikdidaktischer Sicht nicht als Gegenstand von Musikunterricht geeig-
net. Wichtig wäre, ein musikdidaktisches Bewusstsein unter Lehrkräften für
die Auswahl von Liedern zu etablieren.
Wird weiter gefordert, dass Lieder eine musikalische Herausforderung bein-
halten sollten (vgl. Eisenberg et al., 2011, S. 167), beweisen sich nur wenige der
Sprachförderlieder als Gegenstand der Erarbeitung im Musikunterricht. An-
zunehmen ist, dass dieses auch für die Lieder der Schulmusikbücher gilt. Eine
Möglichkeit, Lieder für Sprach- und Musikunterricht interessant zu gestalten,
wäre die Implementierung eines Sprachförderschwerpunktes und eines musi-
kalischen Lerninhalts an gleicher Stelle des Liedes (vgl. Grow, 2019b). Sprachli-
che Förderschwerpunkte könnten musikalisch herausgehoben werden und
vice versa. In einem Seminarprojekt erwies es sich als möglich, sprachliche
Schwerpunkte über die Implementierung musikalischer Lerninhalte wie bei-
spielsweise über große Intervalle herauszuheben (vgl. Grow, i.E.). Sprachför-
derlieder werden dann der Aufgabe integrativer Sprachförderung gerecht.
Auch für Lernende, die des entsprechenden sprachlichen Inputs aufgrund
­ihres Sprachstandes nicht bedürfen, kann solch ein Lied inhaltlich interessan-
ter und musikalisch bereichernder Unterrichtsgegenstand sein – auch unter
der Prämisse, dass Musikunterricht vorrangig einen musikalisch-ästhetischen
Bildungsanspruch zu erfüllen hat.

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Claudia Cvetko

Interkulturalität als Anspruch der Musikpädagogik?


Ausgewählte Motive zu Afrika im Musikunterricht

Interculturalism as a Demand of Music Education?


A Selection of Motives in Regard to Africa in Music Lessons

Erste Bemühungen, die Musik Afrikas in den Musikunterricht einzubinden, lassen sich
bis in die 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückverfolgen. In den 1990er-
Jahren wurden afrikanische Lieder und Tänze schließlich äußerst beliebt, nachdem
Volker Schütz mit seiner musikdidaktischen Publikation „Musik in Schwarzafrika“
(1992) diesbezüglich einen weitreichenden und nachhaltigen Impuls gesetzt hatte.
Gegenwärtig enthalten nahezu alle Musiklehrwerke für die Sekundarstufen auf Afrika
bezogene didaktische Materialien. Die Frage nach den Zielen, die mit der Einbeziehung
dieser Lerninhalte verfolgt werden, ist indes ungeklärt und daher Gegenstand eines
aktuellen Forschungsvorhabens.1

The first efforts to introduce the music of Africa into German music lessons were made
in the 1920s. During the 1990s, African songs and dances became very popular, start-
ing with Volker Schütz’s seminal publication „Musik in Schwarzafrika“ (1992). Almost
every schoolbook published nowadays contains material with reference to African cul-
tures. However, the educational objectives of these references are still undetermined.

Themenauftakt

Vor zehn Jahren stellte der Musiktheoretiker Clemens Kühn in der Zeitschrift
„Diskussion Musikpädagogik“ die Frage: „Muss ein Schulbuch, das heute als

1
Die Zielfrage zum Themenkomplex Afrika im Musikunterricht erforscht die Autorin in ihrem
Promotionsprojekt, das an der Universität Osnabrück am Institut für Musikwissenschaft und
Musikpädagogik realisiert und von Prof. Dr. Dorothee Barth betreut wird. Neben einer histo-
rischen Aufarbeitung des Diskurses über Afrika in der Musikpädagogik und der Herausarbei-
tung von dort genannten Zielen ist eine umfassende Schulbuchanalyse sowie eine Analyse
weiterer didaktischer Materialien aus musikpädagogischen Fachzeitschriften durchgeführt
worden. Der vorliegende Beitrag gibt anhand von zwei Motiven einen Einblick in eine Aus-
wahl der Ergebnisse.

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236 Claudia Cvetko

didaktisch auf der Höhe gelten will, Pop und Rock sowie außereuropäische
Musik gleichwertig in die Lerninhalte einbeziehen?“ (Kühn, 2009, S. 3). Der
Hintergrund war folgender: Seinem damals jüngst erschienenen musiktheo-
retischen Arbeitsbuch für die Jahrgangsstufen 7 bis 9/10 mit dem Titel „Musik
erforschen“ sei vorgehalten worden, eben diese beiden Bereiche auszusparen.
Ähnlich erging es ihm mit seiner Schrift „Musiktheorie“ in der Reihe „Ober-
stufe Musik“. Für diese habe der Lugert-Verlag angemerkt, sie ließe sich
„natürlich“ um Beispiele aus diesen Bereichen „ergänzen“. Dies waren für
Clemens Kühn schockierende Einlassungen, die er zum Anlass nahm, in
einer Art Glosse Position zu beziehen und mit drei Thesen eine Antwort zu
geben, was Musikunterricht zu leisten und woran er sich auszurichten habe.
Mit dieser eingangs zitierten Entscheidungsfrage zur gleichwertigen Einbe-
ziehung in die Lerninhalte, die Clemens Kühn selbst im Übrigen als „nicht
originell, aber offenbar unverwüstlich“ (Kühn, 2009, S. 3) bezeichnet, stellt er
eine nahezu als Selbstverständlichkeit zu bezeichnende Vorgehensweise
innerhalb der Schulbuchpraxis nach der Jahrtausendwende in Frage, nämlich
die häufig in Schulbüchern zu beobachtende Thematisierung von Musik
anderer Kulturen.2 Die Frage nach den Zielen solcher Lerninhalte scheint also
nicht klar zu sein.
Ebenso ist hinsichtlich des Forschungsfeldes Afrika im Musikunterricht die
Frage nach den Zielen bislang unbeantwortet: Was sollen Schülerinnen und
Schüler lernen, wenn im (deutschen) Musikunterricht afrikanische Musik, af-
rikanische Kulturen, Tänze und Lieder thematisiert werden? Warum/wozu
werden afrikabezogene Inhalte in einem Musikunterricht einbezogen? Welche
Ziele sind damit verbunden?3

2
Dass Musik anderer Kulturen vermehrt in Schulbüchern nach der Jahrtausendwende enthal-
ten ist, lässt sich anhand der im Rahmen meines Dissertationsprojekts durchgeführten Schul-
buchanalyse bestätigen.
3
Der Terminus Ziel erweist sich zur Erforschung dieses Themenfeldes jedoch aus drei Grün-
den als problematisch: Erstens existieren im allgemeinen musikpädagogischen Diskurs eine
Vielzahl an unterschiedlichen Definitionen und Verwendungsweisen des Begriffs Ziel, sodass
Unklarheit darüber besteht, was ein Ziel tatsächlich ausmacht. Zweitens zeigt eine genauere
Betrachtung einer Fülle an afrikabezogenen Materialien in Musiklehrwerken der vergange-
nen Jahrzehnte einen ebensolchen diversen Umgang mit der Benennung von Unterrichtsab-
sichten. Explizit als ein Ziel sind nur wenige ausgewiesen. Drittens nehmen afrikabezogene
Materialien in Musiklehrwerken mitunter Funktionen ein, die anhand der Auflistung von
Intentionen im Lehrerband nicht zu erklären sind, sondern rekonstruiert werden müssen.
Infolgedessen wird nur zur Betrachtung des musikpädagogischen Fachdiskurses, in dem sich
der Terminus etabliert hat, auf den Begriff Ziel zurückgegriffen. In der Darlegung der syste-
matischen Dimension des Forschungsfeldes wird stattdessen der Terminus Motiv – im Sinne
eines Beweggrundes – verwendet.

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Interkulturalität als Anspruch der Musikpädagogik? 237

Den Fokus auf afrikabezogene Lerngegenstände zu legen, ist aufgrund


zweier Beobachtungen sinnvoll: Erstens löste Volker Schütz in den 1990er-Jah-
ren eine Welle der Afrika-Begeisterung aus, nachdem er ein Arbeitsbuch für
den Musikunterricht in den Sekundarstufen mit dem Titel „Musik in Schwarz-
afrika“ (1992) veröffentlichte. Angeregt durch dieses folgten weitere musik­
didaktische Publikationen, darunter „Rhythmen und Lieder aus Guinea“
(1997) von Thomas Ott und Famoudou Konaté. Zweitens zeigt die Recherche
afrikabezogener Materialien in aktuellen Musiklehrwerken die weite Verbrei-
tung ebendieser: Nahezu jedes Lehrwerk enthält afrikabezogene Lerninhalte.

Diskrepanz innerhalb der Interkulturellen Musikpädagogik

Das Forschungsfeld Afrika im Musikunterricht ist Teil der Interkulturellen


Musikpädagogik, unter der Verschiedenes zusammengefasst wird. Vor
nahezu 20 Jahren, im Jahr 2000, erarbeitete Dorothee Barth eine inhaltliche
Systematisierung dessen, was unter dem Terminus Interkulturelle Musikpädago-
gik zusammengefasst wird, und schlug in ihrem damaligen Aufsatz eine
Abgrenzung vor: So stünden Unterrichtsmaterialien entweder in einer „aus-
länderpädagogischen“ oder „musikethnologischen Tradition“ (Barth, 2000,
S. 33). Eine inhaltsähnliche, terminologisch aber differierende Abgrenzung
nimmt Thomas Ott viele Jahre später vor und unterscheidet zwischen der
„migra­tions­bezogene[n]“ und der „musikkulturelle[n]“ Perspektive innerhalb
der Inter­kulturellen Musikpädagogik (vgl. Ott, 2012, S. 115). In einem aktuel-
len Hand­buchartikel über Interkulturelle Musikpädagogik entwickelt Doro-
thee Barth ihre Termini weiter und unterscheidet zwischen einer „Beschäfti-
gung mit musikalisch-kulturellen Situationen in Einwanderungsgesellschaften“
einerseits und der „Auseinandersetzung mit den Musiken der Welt“ (Barth,
2018, S. 545) andererseits. Hintergrund dieser Differenzierung, das betont
Barth schon im Jahr 2000, seien unterschiedliche Zielsetzungen, Methoden
und Herangehensweisen (vgl. Barth, 2000, S. 28 und 33). Trotz dieses Plädo-
yers für eine Differenzierung werden gerade Ziele innerhalb des Diskurses
Interkultureller Musikpädagogik häufig nicht im Hinblick auf die jeweilige
Perspektive separiert betrachtet, sondern generalisiert und als allgemeine
Ziele der Interkulturellen Musikpädagogik herausgestellt. Zur Veranschauli-
chung dieser These soll an dieser Stelle der Lexikonartikel über „Interkultu-
relle Musikpädagogik“ aus dem 2005 erschienenen „Lexikon für Musikpäda-
gogik“ dienen: In diesem unterscheidet der Autor Matthias Kruse zwar
zunächst zwischen einer Beschäftigung mit den Musikkulturen der in
Deutschland lebenden Migrant*innen und deren Nachkommen sowie einer

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238 Claudia Cvetko

Beschäftigung mit Musikkulturen, „die überwiegend durch die modernen


Medien vermittelt werden“ (Kruse, 2005, S. 119). Ziele jedoch werden darauf
folgend für beide Perspektiven zusammengefasst dargestellt, so etwa will ein
interkultureller Musikunterricht laut Kruse zum einen „zu Offenheit, Empa-
thie, zur kognitiven wie affektiven Toleranz und Akzeptanz gegenüber frem-
den Kulturen erziehen“ (Kruse, 2005, S. 120). Zum anderen solle eine Beschäf-
tigung mit anderen Kulturen ebenso „die Reflexion der eigenen Kultur sowie
(ggf.) deren Modifizierung fördern“ (Kruse, 2005, S. 120).
Der Diskurs über Interkulturelle Musikpädagogik weist daher eine Diskre-
panz auf, die viele Fragen offenlässt: Einerseits grenzen einzelne Autor*innen
zwei Perspektiven voneinander ab, da sie von unterschiedlichen Zielsetzungen
ausgehen. Andererseits ist zu erkennen, dass andere Autor*innen ebendiese
Ziele beider Perspektiven zusammenfassen, wobei sich die Frage stellt, auf Ba-
sis welcher Überzeugung sie dieses tun. Ungeklärt ist nicht nur, ob die Ziele
beider Perspektiven tatsächlich identisch sind und sein können, sondern wel-
che Ziele jeweils überhaupt in musikdidaktischen Publikationen verfolgt wer-
den. Die Erforschung des Themenfeldes Afrika im Musikunterricht ist als ein
wichtiger Anfang zu sehen, gesicherte Antworten auf diese Diskrepanz inner-
halb des Fachdiskurses zu geben. Inwiefern Gemeinsamkeiten und Unter-
schiede zwischen den beiden Perspektiven bestehen, kann jedoch erst nach
einer weiteren separierten Erforschung von Zielen beantwortet werden.

Historische Dimension des Forschungsfeldes

Das Forschungsfeld Afrika im Musikunterricht ausschließlich anhand gegen-


wärtiger Schulbuchmaterialien und ohne Rückbindung an seine jahrzehnte-
lange Präsenz zu erforschen, wäre unzulänglich. Häufig im Diskurs uner-
wähnt – wie auch in dem oben aufgezeigten Lexikonartikel – bleibt die
historische Dimension der musikethnologischen Perspektive Interkultureller
Musikpädagogik. Diese Perspektive ist tatsächlich wesentlich älter als die mig-
rationsbezogene und lässt sich bis in die 1920er-Jahre zurückverfolgen, etwa
zu Leo Kestenberg und Edgar Rabsch (vgl. Cvetko, 2013, S. 184–185; s.a. Cvetko,
2018, S. 197), und damit zu einem Zeitraum, in dem die Vermittlung von Musik-
kulturen über moderne Medien noch keine Rolle spielte (s. o.).
Umfangreiche Recherchen zeigten etwa einen Zufallsfund auf, dem als bis-
lang chronologisch frühester Quelle eine hohe Bedeutung zukommt: Hans
Burkhardt und Edgar Rabsch veröffentlichten Ende der 1920er-Jahre ein drei-
bändiges Schulbuch mit dem Titel „Musik“, das im zweiten Band mehrfach
­afrikabezogene Beispiele enthält. Adressiert an die Jahrgangsstufen „Unter-

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Interkulturalität als Anspruch der Musikpädagogik? 239

Tertia bis Unter-Sekunda“ befinden sich beispielsweise innerhalb des IV. Kapi-
tels „Außerdeutsche Volksmusik“ neben Liedern aus Frankreich, Italien, Eng-
land, Island und Schweden auch drei „Lieder aus dem ehemaligen
Deutsch-­Ostafrika“ (Musik Teil II, 1928, S. 231). Ebenso wird in dem darauffol-
genden Abschnitt „Die Anfänge der Musik“ ein Melodiebeispiel des
„Negerstamm[es] der Wadschagga am Kilimandscharo“ angeführt, um die
„unterste Stufe“ der „erste[n] Musikentwicklung der Menschheit“ zu veran-
schaulichen, sowie zur Darstellung der Pentatonik, „als die vielleicht älteste
Bildung einer Tonleiter“, neben anderen auf die „Nachkommen der alten Nu-
bier (Nordafrika)“ (Musik Teil II, 1928, S. 235) verwiesen.
Obwohl weitere Forschungen in der Historischen Musikpädagogik folgen
müssten, die noch ältere Quellen dahingehend untersuchen, lässt sich zum
jetzigen Zeitpunkt festhalten, dass sich die musikethnologische Perspektive,
im Besonderen das Thema Afrika im Musikunterricht, über einen Zeitraum von
rund 100 Jahren erstreckt.

Systematische Dimension des Forschungsfeldes

Die Analyse und Auswertung einer Vielzahl an afrikabezogenen Materialien


in Schulbüchern einerseits und musikpädagogischen Fachzeitschriften ande-
rerseits lässt verschiedene Intentionen erkennen, die in rund einem Dutzend
unterschiedlicher Motive kategorisiert werden können. Auf die induktive Her-
leitung wird im Rahmen dieses Aufsatzes nicht eingegangen. Im Folgenden
werden zwei Motive herausgegriffen und exemplarisch an jeweils einem
Schulbuchbeispiel veranschaulicht. Ein vertiefender Einblick in die Studie
würde darlegen, dass sich in mehreren Schulbuchbeispielen dasselbe Motiv
zeigen ließe. Die hier vorgestellten Motive – das Ethik- und das Evolutionis-
musmotiv – sind aufgrund ihrer Verschiedenheit ausgewählt worden, um das
Spektrum an Motiven deutlich zu machen.

Schulbuchanalyse: Das Ethikmotiv

Mit afrikabezogenen Materialien intendieren einige Autor*innen die Förde-


rung von Offenheit, Toleranz, Akzeptanz, Anerkennung o. ä. Diese Schlag-
worte werden innerhalb der Schulbuchanalyse als Ethikmotiv zusammenge-
fasst. Die terminologische Rückbindung an Ethik ist an eine Begriffs­
verwendung angelehnt, die Oliver Kautny etwa in seinen Aufsätzen
„Anerkennung, Achtung, Toleranz …? Auf der Suche nach ethischen Begrif-
fen für die Interkulturelle Musikpädagogik“ (Kautny, 2018a) und „Ethische

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Dimensionen in Zielen des interkulturellen Musikunterrichts. Eine Annähe-


rung“ (Kautny, 2018b) zugrunde legt.

Abb. 1: Spielpläne Musik 7/8 (1986)

Das Schulbuch „Spielpläne Musik 7/8“ aus dem Jahr 1986 enthält innerhalb
des Kapitels „Begegnungen mit Kulturen“ zwei Doppelseiten mit dem Titel
„Musik in Afrika: Musik der Hamar“ (vgl. Spielpläne Musik 7/8, 1986, S. 138–
141). In dem einleitenden Absatz wird auf die Ethnologen Ivo Strecker und
Jean Lydall verwiesen, die seit 1970 die Kultur der Hamar in Südäthiopien
erforschten. Auf diese Einleitung folgt ein Absatz zur Geschichte der Hamar,
daran anschließend werden zwei Instrumente vorgestellt, die Flöte und die
Leier; die Doppelseite enthält Informationen in Textform, Hörbeispiele und
ergänzend dazu Bilder. Auf der ähnlich gestalteten zweiten Doppelseite ste-
hen Gesänge der Hamar im Vordergrund (vgl. Spielpläne Musik 7/8, 1986,
S. 140–141).
Welches Motiv diesen beiden Doppelseiten primär zugrunde liegt, wird
nur durch den dazugehörigen Lehrerband deutlich. In diesem ist ein Brief
abgedruckt, den Rudolf Nykrin, Mitherausgeber von „Spielpläne Musik 7/8“,

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Interkulturalität als Anspruch der Musikpädagogik? 241

Abb. 2: Spielpläne Musik 7/8 (1986)

an den Ethnologen Ivo Strecker adressiert. Dieser Brief ist hinsichtlich der Mo-
tivfrage besonders aufschlussreich: Zur Beantwortung der Frage, ­warum
überhaupt afrikabezogene Materialien im Musikunterricht aufgegriffen wer-
den, übernimmt der Musikdidaktiker das Begründungsmuster des Ethnolo-
gen – eine davon separierte didaktische Begründung oder Ausschärfung bleibt
aus. Vielmehr erhofft sich Rudolf Nykrin durch die Offenlegung von Streckers
Argumenten für eine Beschäftigung mit afrikanischen Kulturen die Motiva-
tion der Schüler*innen für diesen Unterrichtsinhalt steigern zu k ­ önnen (vgl.
Spielpläne Musik 7/8, Lehrerband, 1992, S. 106). In seinem Brief schreibt Rudolf
Nykrin Folgendes:

„Lieber Herr Strecker,


aufgrund Ihrer genauen Forschungen beim Stamm der Hamar haben wir […] ein
Kapitel über die Musik dieses Volkes gestalten können. Schüler in Deutschland,
Österreich und der Schweiz begegnen jetzt den Bildern aus dem fernen Afrika,
hören etwas von der Geschichte, den Instrumenten, Gesängen und Menschen
dort. Sie selbst haben einen Teil Ihres Lebens der Erforschung jener afrikanischen
Kultur gewidmet …

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242 Claudia Cvetko

Warum haben Sie das getan? Ich stelle Ihnen diese Frage, weil ich meine, daß
Schüler und Lehrer, die etwas über die persönlichen Motive des Autors dieser
Seiten im Schülerbuch wissen, eher bereit sein könnten, sich im Unterricht mit
dem nicht gerade naheliegenden und leichten Thema zu beschäftigen.
Was lernen wir eigentlich bei all dem – ein wenig über das Leben und die Musik
der Hamar, oder geht es um mehr? …“ (Spielpläne Musik 7/8, Lehrerband, 1992,
S. 160)

Ivo Strecker antwortet gleichermaßen in Form eines Briefes auf die Anfrage
von Rudolf Nykrin. Seine Argumente lassen sich dem Ethikmotiv zuordnen,
denn seiner Einschätzung nach ist die aktuelle Aufgabe der Ethnologie und
ganz allgemein der Beschäftigung mit fremden Kulturen darin zu sehen, gegen
rassische, ethnische und kulturelle Diskriminierungen anzukämpfen: „Wir
müssen lernen, Menschen und Dinge zu achten“ (Spielpläne Musik 7/8, Lehrer-
band, 1992, S. 161). Seine Gedanken stützt Ivo Strecker auf das Vorhandensein
multikultureller Gesellschaften, insofern als „[d]ie neuen Nachbarn“ zwar
interessant seien und unser Leben bereicherten, es aber auch zu Konflikten
komme (vgl. Spielpläne Musik 7/8, Lehrerband, 1992, S. 161). Zu der Frage,
warum ein afrikabezogenes Thema sich hierfür besonders eigne, erläutert Ivo
Strecker die Notwendigkeit einer Kontrastierung, bevor er diese Annahme an
einem konkreten Beispiel der Hamar veranschaulicht:

„Ich glaube, man fängt am besten zuerst mit wenigen Beispielen an, wo Men-
schen in einer sehr anderen Umwelt und unter sehr anderen Bedingungen als
wir leben. Gerade wenn die Unterschiede als groß, aber dennoch begründet und
sinnvoll erkannt werden können, fängt der Lernprozeß an“ (Spielpläne ­Musik
7/8, Lehrerband, 1992, S. 161).

Schulbuchanalyse: Das Evolutionismusmotiv

Neben einem Ethikmotiv zeigt die Analyse afrikabezogener Materialien in


Musiklehrwerken ein Evolutionismusmotiv auf, das terminologisch an die Evo-
lutionismustheorie angelehnt ist, von einer Höherentwicklung abendländischer
Kultur ausgeht und sich mittels dreier Charakteristika rekonstruieren lässt:4 Im
Fokus dieser Schulbuchbeispiele steht erstens die Entwicklungsgeschichte eines
„abendländischen Musikinstruments“, wobei afrikanische Musikinstrumente
zur Veranschaulichung von Vorformen herangezogen werden. Zweitens werden
afrikanische Musikinstrumente (u. a. ein burundisches Zitherinstrument, ein

4
Auf eine Skizzierung der Evolutionismustheorie soll in diesem Rahmen verzichtet werden.
Zur Einführung siehe beispielsweise Kohl, 2012, S. 151–163.

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Musikbogen aus Ruanda, eine liberianische Harfe) als Beispiele ausgewählt und
in der Chronologie eben jener Entwicklungsgeschichten weit an den Anfang
gestellt, zuweilen gar in die Vorzeit, wobei die Abbildungen dieser Musikinstru-
mente keine historischen Quellen, sondern zeitnahe Aufnahmen sind. Drittens
werden afrikanische Musikinstrumente als einfache und primitive Ur-Instru-
mente präsentiert, die auf diese Weise einen Gegenpol zur Darstellung scheinbar
hochentwickelter „abendländischer Musikinstrumente“ bilden.

Abb. 3: Sequenzen Musik Sek. I 5/6 (1976)

Auf dem Deckblatt des Schulbuches „Sequenzen Musik Sek. I 5/6“ aus dem
Jahr 1976 ist ein Zitherinstrument aus Burundi abgelichtet, das sich innerhalb
des Schulbuches unter der Kapitelüberschrift „Musik aus dem Lautsprecher –
Musik mit Apparaten“ wiederfindet. Fünf Bilder sollen auf dieser Doppelseite
veranschaulichen, „welche Rolle Zupfinstrumente beim Musizieren in ver-
schiedenen Situationen, Zeiten und Kulturen spielen“ (Sequenzen Musik
Sek. I 5/6, 1976, S. 73). Die Teilüberschrift „Zupfinstrumente früher und heute“
deutet auf eine zeitliche Gegenüberstellung hin. Auf der linken Doppelseite
befindet sich das Zitherinstrument aus Burundi neben einer Darstellung mit

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ägyptischen Musikerinnen aus vorchristlicher Zeit und einem Gemälde aus


dem 16. Jahrhundert, das einen Lautenspieler darstellt. Hingegen sind auf der
rechten Doppelseite eine „Gitarrengruppe in einer heutigen Musikschule“ und
ein E-Gitarrist abgebildet (s. Angaben zu den Bildern, in: Sequenzen Musik
Sek. I 5/6, Lehrerband, 1976, S. 166). Das Zitherinstrument aus Burundi soll –
dies ist den Kommentaren im dazugehörigen Lehrerband zu entnehmen –
kontrastierend dazu beitragen, am Beispiel von Zupfinstrumenten zu zeigen,
„[d]aß die Elektrifizierung den Charakter eines Instruments vollständig verän-
dern kann“ (Sequenzen Musik Sek. I 5/6, Lehrerband, 1976, S. 150). Unterschiede
bestünden demnach zum einen in der Lautstärke: Das burundische Zither­
instrument sei „von Natur aus leise“, wohingegen die moderne elektrische
­Gitarre andere Entfaltungsmöglichkeiten biete und sich mit Hilfe von Verstär-
kern sehr große Lautstärken erreichen ließen (vgl. Sequenzen Musik Sek. I 5/6,
1976, S. 73). Zum anderen werden in den ausführlichen Erläuterungen im
Lehrerband verschiedene Möglichkeiten des solistischen Instrumentenspiels
aufgezeigt und es wird zwischen Intro- und Extravertiertheit unterschieden.
Eine introvertierte Spielhaltung habe der Burundier, während der Gestus des
E-Gitarren-Stars, der ein Massenpublikum ansprechen wolle, extravertiert sei
(vgl. Sequenzen Musik Sek. I 5/6, Lehrerband, 1976, S. 168).
Eine Jahresangabe zu dem Zitherinstrument aus Burundi fehlt, sodass über
die zeitliche Entstehung der Aufnahme letztlich nur spekuliert werden kann.
Da es sich allerdings um ein Farbfoto handelt, ist es zumindest hinsichtlich der
zeitlichen Entstehung im Vergleich zu den zwei weiteren Beispielen auf der
linken Doppelseite deutlich abzugrenzen, von denen eines um 1500 v. Chr. und
das andere im 16. Jahrhundert entstand. Darüber hinaus unterscheidet sich die
Art der Darstellung erheblich, ist das Beispiel des burundischen Zitherinstru-
ments kein Gemälde, sondern ein Farbfoto. Von dieser Beobachtung ausgehend
ist die Teilüberschrift „Zupfinstrumente früher und heute“ irritierend, stellt
sich die Frage, warum das burundische Zitherinstrument nicht den Beispielen
zu heutigen Zupfinstrumenten auf der rechten Schulbuchdoppelseite zugeord-
net wurde. Frappierend ist nicht eine leichte (beispielsweise innerhalb eines
Jahrhunderts), sondern eine eklatante Zeitverschiebung (bis in die Vorzeit).
Das Evolutionismusmotiv ist in Schulbüchern der 1970er-, 1980er- und am
Rande auch der 1990er-Jahre enthalten.5 In aktuelleren Schulbüchern ist es in
dieser Form fast gänzlich verschwunden, bis auf eine Ausnahme: Eine Schul-

5
Auch im oben genannten Schulbuch „Musik Teil II“ (1928) ist ein Evolutionismusmotiv ent-
halten, wenn es um die Darstellung der Anfänge der Musik geht und zur Veranschaulichung
ein afrikabezogenes Beispiel herangezogen wird (s. o.).

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Interkulturalität als Anspruch der Musikpädagogik? 245

buchseite zum Thema „Vielfalt der Musikinstrumente“ in „Musik um uns


2/3“ (2013) ist darauf ausgelegt, „Schüler für die Fragen nach den Anfängen
und Ursprüngen von Musikinstrumenten, ihrer außerordentlichen Vielfalt
und Bedeutung [zu] sensibilisieren und wenigstens in Ansätzen Antworten
[zu] geben“ (Musik um uns 2/3, Lehrerband, 2014, S. 187). Wiederholt wird ein
afrikanisches Musikinstrument einem sehr weit in der Vergangenheit zu-
rückliegenden Zeitfenster zugeordnet, indem beispielsweise einem zeitgenös-
sisch anmutenden Foto eines Afrikaners folgende Bildunterschrift zugeordnet
ist: „Musikbögen sind seit über 15 000 Jahren bekannt; sie haben sich vermut-
lich aus dem Jagdbogen entwickelt“ (Musik um uns 2/3, 2013, S. 320). Informa-
tionen zum geographischen und zeitlichen Hintergrund des Fotos sowie zur
Herkunft des halbnackt abgebildeten Afrikaners, der einen solchen Musikbo-
gen in seinen Händen hält, fehlen. Im Kontext dieser Schulbuchseite wird je-
doch der Eindruck erweckt, als diene dieses Bild zur visuellen Veranschauli-
chung des Ursprungs von Musikinstrumenten – und zugleich des Ursprungs
der Menschheit überhaupt.

Ausblick

Die konkrete Veranschaulichung zweier Motive und ihrer Einbettungen in


verschiedenen Musiklehrwerken zeigt nur einen kleineren Ausschnitt der
Forschungsergebnisse. Nichtsdestoweniger sind drei Aspekte zu betonen:
Erstens ist zurückblickend auf den oben genannten Lexikonartikel von Mat-
thias Kruse festzuhalten: Auch im Zusammenhang mit afrikabezogenen
Materialien sind Schlagworte wie Offenheit, Toleranz und Akzeptanz wieder-
zufinden (Ethikmotiv). Zweitens sind zwar diese Schlagworte im Diskurs
Interkultureller Musikpädagogik allgegenwärtig und werden häufig als pri-
märes Ziel genannt, allerdings existieren viele weitere Motive mit Blick auf
afrikanische Themen im Musikunterricht. Die Motivfrage lässt sich somit
nicht auf das Ethikmotiv reduzieren, vielmehr ist eine Vielfalt an unterschied-
lichen Motiven vorhanden, die sich etwa in einer Gegenüberstellung des
Ethik- und Evolutionismusmotivs andeutet. Drittens ist das wiederholte
­Auftreten eines Evolutionismusmotivs (1920er- / 1970er- bis 1990er- / 2010er-
Jahre) erstaunlich. Während die Evolutionismustheorie seit Jahrzehnten stark
in der Kritik steht und Ethnolog*innen sich längst von ihr abgewendet haben,
ist es irritierend, das Evolutionismusmotiv in einem relativ aktuellen Musik-
lehrwerk wiederzufinden.
Trotz der Grenzen, die eine Schulbuchanalyse mit sich bringt, wird durch
sie eine Reihe an verschiedenen Motiven deutlich. Deren Systematisierung und

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246 Claudia Cvetko

Beschreibung stellt ein Novum dar. Gleichermaßen wesentlich ist es, Kontexte
dieser Motive zu erarbeiten und Zusammenhänge aufzuzeigen, um mit einer
holistischen Perspektive auf Basis verfügbarer Materialien eine Theorie über
die Einbindung der Musik aus Afrika in den Musikunterricht rekonstruieren
zu können. Dass dabei dennoch nie sämtliche Motive erfasst werden können,
soll abschließend mit einem weiteren Zitat von Ivo Strecker aus dem besagten
Brief an Rudolf Nykrin untermauert werden:

„Auch die Frage nach dem Sinn der Beschäftigung mit anderen Kulturen ist
schwierig, weil es auf sie unendlich viele Antworten gibt.“ (Spielpläne Musik 7/8,
Lehrerband, 1992, S. 160)

Literatur
Barth, D. (2000). Zum Kulturbegriff in der Interkulturellen Musikpädagogik. In N. Knolle
(Hrsg.), Kultureller Wandel und Musikpädagogik (S. 27–50). Essen: Die Blaue Eule.
Barth, D. (2018). Musikunterricht. In I. Gogolin, V. B. Georgi, M. Krüger-Potratz, D. Lengyel
& U. Sandfuchs (Hrsg.), Handbuch Interkulturelle Pädagogik (S. 545–549). Bad Heilbrunn:
Klinkhardt.
Cvetko, A. J. (2013). Zeitliche und räumliche Grenzüberschreitungen in der Musikpädago-
gik. In B. Alge & O. Krämer (Hrsg.), Beyond Borders: Welt – Musik – Pädagogik. Musikpäda-
gogik und Ethnomusikologie im Diskurs (S. 183–199). Augsburg: Wißner.
Cvetko, C. M. (2018). Musik anderer Kulturen: Lateinamerika in der Musikdidaktik – weit-
aus mehr, als ein Modetrend? In J.-P. Koch, C. Rora & K. Schilling-Sandvoß (Hrsg.), Mu-
sikkulturen und Lebenswelt. Beiträge zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikpädagogik an
der Universität zu Köln vom 18.–19. März 2016 (S. 196–215). Aachen: Shaker.
Kautny, O. (2018a). Anerkennung, Achtung, Toleranz …? Auf der Suche nach ethischen
Begriffen für die Interkulturelle Musikpädagogik. Zeitschrift für Kritische Musikpädago-
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Kautny, O. (2018b). Ethische Dimensionen in Zielen des interkulturellen Musikunterrichts.
Eine Annäherung. Zeitschrift für Kritische Musikpädagogik, 31–45. Verfügbar unter http://
www.zfkm.org/18-kautny1.pdf [27.5.2019].
Kohl, K.-H. (2012). Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. Eine Einführung
(3. Auflage). München: Beck.
Konaté, F. & Ott, T. (1997). Rhythmen und Lieder aus Guinea. Oldershausen: Institut für Didak-
tik populärer Musik.
Kruse, M. (2005). Art. Interkulturelle Musikpädagogik. In S. Helms, R. Schneider & R. We-
ber (Hrsg.), Lexikon der Musikpädagogik (4. Aufl., S. 119–120). Kassel: Bosse.
Kühn, C. (2009). Musik als Kunst. Unzeitgemäße Thesen zu einem zeitgemäßen Musik­
unterricht? Diskussion Musikpädagogik 41(1), 3–4.
Ott, T. (2012). Konzeptionelle Überlegungen zum Interkulturellen Musikunterricht? In
A. Niessen & A. Lehmann-Wermser (Hrsg.), Aspekte Interkultureller Musikpädagogik. Ein
Studienbuch (S. 111–138). Augsburg: Wißner.

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Interkulturalität als Anspruch der Musikpädagogik? 247

Schütz, V. (1992). Musik in Schwarzafrika. Arbeitsbuch für den Musikunterricht in den Sekundar-
stufen. Oldershausen: Lugert.

Musiklehrwerke
Rabsch, E. & Burkhardt, H. (Hrsg.) (1928). Musik, Teil II. Ein Unterrichtswerk für die Schule,
Unter-Tertia bis Unter-Sekunda. Frankfurt a. M.: Diesterweg.
Sauter, M. & Weber, K. (Hrsg.) (2013). Musik um uns 2/3. Klassen 7 bis 10 (Neubearbeitung).
Braunschweig: Schroedel. (ISBN 978-3-507-03012-1)
Sauter, M. & Weber, K. (Hrsg.) (2014). Musik um uns 2/3, [Materialband für Lehrerinnen und
Lehrer]. Klassen 7 bis 10 (Neubearbeitung). Braunschweig: Schroedel. (ISBN 978-3-507-
03015-2)
Frisius, R., Fuchs, P., Günther, U., Gundlach, W. & Küntzel, G. (Hrsg.) (1976). Sequenzen
­Musik Sek. I 5/6. Arbeitsbuch 5/6 (auch für das 7. Schuljahr) (2. Folge.). Stuttgart: Klett. (ISBN
3-12-087200-8)
Frisius, R., Fuchs, P., Günther, U., Gundlach, W. & Küntzel, G. (Hrsg.) (1976). Sequenzen
­Musik Sek. I 5/6, Lehrerband (2. Folge). Stuttgart: Klett. (ISBN 3-12-088900-8)
Kemmelmeyer, K.-J. & Nykrin, R. (Hrsg.) (1986). Spielpläne Musik 7/8. Für den Musikunterricht
an allgemeinbildenden Schulen. Stuttgart: Klett. (ISBN 3-12-178200-2)
Kemmelmeyer, K.-J. & Nykrin, R. (1992). Spielpläne Musik 7/8, Lehrerband. Stuttgart u. a.:
Klett. (ISBN 3-12-178290-8)

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Ganga Jey Aratnam, Silke Schmid, Irena Müller-Brozovic & Bettina Frei

Polyversale Musikpädagogik im glokalen Musiktopos

Polyversal Music Education Within a Glocal Music Topos

Musikhochschulen sind hochgradig international. Dieses Spezifikum lässt sich am Bei-


spiel Basels als „glokaler“ Musiktopos fassen: ein Ort, an dem sich globale Verflechtun-
gen mit lokalen Verankerungen der Musik-Akteur*innen auf engstem Raum zeigen.
Das Phänomen der spezifischen Struktur- und Prozessbedingungen für die internatio-
nalen Studierenden an Musikhochschulen kann jedoch als relativ unerforscht gelten.
Welche Interaktionen – oder besser Interaktionssphären – zwischen Akteur*innen und
auch institutionellen Strukturen lassen sich beschreiben und welche Implikationen
ergeben sich daraus? Der vorliegende Beitrag beruht auf einer interdisziplinären empi-
rischen Studie im Zusammenspiel von musikpädagogischer, soziologischer und ethno-
logischer Forschung. Gemäß der konstruktivistisch inspirierten Grounded-Theory-
Methodologie (KGTM) nach Charmaz (2006) werden aktuell evolvierende Theorien
vorgestellt: Das Konzept des Clouding Social Capital erweitert soziologische Sozial­
kapitaltheorien und erfasst die Situation der diversen Musiker*innen-Communities,
während die polyversale Musikpädagogik für Ambiguitätstoleranz im Umgang mit
dieser Diversität plädiert. Als Situationsbeschreibung bietet diese Studie zugleich einen
möglichen Rahmen zur Weiterentwicklung von Musikhochschulen.

The field of music in higher education is highly international. This characteristic may be
demonstrated by the example of Basel as a glocal music topos: a place, where global
interconnections intertwined with local embeddings show in a confined space. The phe-
nomenon of the specific conditions for international students in higher music education
has been subject to little research to date. The question is then, which interactions – or
better interaction spheres – among actors and institutional structures can be described,
and which implications do arise thereof? This present contribution incorporates insights
gained from an interdisciplinary empirical analysis, combined with methodological skills
deriving from the fields of music pedagogy, sociology and social anthropology. In line
with Charmaz’s (2006) constructivist Grounded Theory Methodology the paper pres-
ents evolving theories: (a) it broadens sociological theories of social capital to capture the
situation of the highly diverse music communities and (b) introduces the concept of a
Polyversal Music Pedagogy pleading for purposeful ambiguity tolerance when meeting

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250 Ganga Jey Aratnam, Silke Schmid, Irena Müller-Brozovic & Bettina Frei

apparent challenges of diversity. As a situational analysis, this study offers a possible


framework for developing sensitivity for a forward thinking diversity management.

1. Einleitung

Ein charakteristisches Spezifikum von Musikhochschulen ist die auffallend


große Anzahl internationaler Studierender (vgl. Clausen & Geuen, 2017, S. 9, Jey
Aratnam, Schmid & Preite, 2016; Spelsberg, 2013, S. 18). Kein anderer Ausbil-
dungskontext weist einen vergleichbar hohen Anteil dieser sogenannten
„Bildungsausländer*innen“ auf – regional bis zu 70 % (vgl. Schmid, Jey Arat-
nam, Preite & Frei, 2016). Die öffentlichen Trenddiskurse zum Phänomen der
hochqualifizierten Migration blenden die internationalen Musiker*innen jedoch
oft aus, ebenso wie die musikpädagogische Forschung die durch migrantische
Lebenslagen bestimmten Herausforderungen. Doch eine ressourcenorientierte
anstelle einer defizitorientierten Auseinandersetzung mit der Diversität der
Studierendenschaft scheint gewinnbringend (vgl. Spelsberg, 2013, S. 241). So
diagnostizieren die Musikethnologinnen Kiwan und Meinhoff Migration im
Musikkontext als „transnationales Kapital“ (Kiwan & Meinhoff, 2011, S. 8), wäh-
rend die Soziologin Bauloz hinsichtlich hochqualifizierter Migration allgemein
die „Tugend der Mobilität“ explizit als Entwicklungsmotor bezeichnet (Bauloz,
2016, S. 3). Diese normative Einordnung der Migration von Hochqualifizierten
als positiv-dynamische Kraft geht von gesellschaftlichen Verflechtungen aus,
denen die Strukturen von Bildungsinstitutionen bislang möglicherweise nur
bedingt gerecht werden. Vor diesem Hintergrund verschränkt das vom Schwei-
zerischen Nationalfonds geförderte interdisziplinäre Forschungsprojekt Musik
und Migration – Interaktionssphären, Veränderungsprozesse und transkulturelle Ver-
flechtung in der Musikregion Basel (Jey Aratnam et al., 2016), das diesem Beitrag
zugrunde liegt, soziologische und musikpädagogische ­Perspektiven.

2. Von Essenzialismus zu Diversitätssensibilität:


musikpädagogische Diskurslinien

Gemeinhin charakterisiert die Forschung Migrationsphänomene insbeson-


dere für Bildungseinrichtungen als Lernfeld: „Institutionalisierungsformen
pädagogischen Handelns“ (Dirim & Mecheril, 2009, S. 7) würden im Hinblick
auf Handlungsfähigkeit und Legitimität durch Diversität herausgefordert
(Wulf, 2006). Seit den Siebzigerjahren hat hierzu in den musikpädagogischen
Diskurslinien eine wesentliche Entwicklung stattgefunden. Karlsen, Wester-

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Polyversale Musikpädagogik im glokalen Musiktopos 251

lund und Miettinnen (2016) beschreiben den Weg von der ethnologisierenden
multikulturellen „pars pro toto“-Denkfigur hin zu einer ethisch begründeten
Haltung, die zunehmend die Handlungslogik der Akteur*innen in den Blick
nimmt. Die langjährige Tendenz zu essenzialistischen Ansätzen weicht einer
subjekt- und bedeutungsorientierten Akteur*innenzentrierung (z. B. Barth,
2008; Krupp-Schleußner, 2017). Blanchard (2019) entwickelt darüber hinaus
einen dezidiert praxeologischen Zugang, in dem u. a. auch die prägende Rolle
der Musikhochschulen hinsichtlich o.g. essenzialistischer Ansätze thematisiert
wird (vgl. Blanchard, 2019, S. 17). Eine Abkehr von Letzteren bedeutet jedoch
nicht zwangsläufig, dass migrationsbedingte Diversitätsdimensionen keine
Rolle spielen: „Hier in der Musik sind alle gleich“ (Jey Aratnam et al., 2016,
S. 394). Davon auszugehen, dass dieser z. T. explizit formulierte Grundsatz
oder eine durch Eignungsprüfungen vermeintlich hergestellte „exklusive“
Homogenität der Studierenden die Institution Musikhochschule von ihrer Ver-
antwortung hinsichtlich Diversitätssensibilität entbindet, ist aus soziologischer
Sicht zu hinterfragen. In einer komparativen Studie zur Talententwicklung
(vgl. Petersen, 2018) zeigten sich neben Gemeinsamkeiten durchaus Unter-
schiede zwischen schweizerischen und chinesischen Musikstudierenden, die
z. T. gerade auf unterschiedliche Förderstrukturen im jeweiligen Herkunfts-
land zurückzuführen waren. Doch o.g. Subjektorientierung hat bislang – viel-
leicht unvermeidbar – möglicherweise auch eine gewisse Strukturblindheit
mit sich gebracht. Für einen professionellen Umgang mit Diversität an Musik-
hochschulen wären Erkenntnisse über das Zusammenspiel individueller
Handlungsmächtigkeit (Agency) und struktureller Bedingtheiten in diesem
Kontext eine wichtige Grundlage.

Vermeintliche Selbstverständlichkeit der Internationalität


und Forschungsdesiderat

Die mit der hochgradigen Internationalität der Musikhochschulen einherge-


hende spezifische Diversität als Selbstverständlichkeit wahrzunehmen (vgl. Jey
Aratnam et al., 2016, S. 394) und deshalb kaum systematisch im Kontext aktuel-
ler Migrationsforschung und Diversitätsdiskurse zu betrachten, führt zu Leer-
stellen in der musikpädagogischen Forschung und im hochschulpolitischen
Diskurs. Die Frage bspw. „Was wissen wir über die musikalische Sozialisation
der vielen Musikstudierenden aus dem Ausland (…)?“ (Clausen 2009, S. 126)
kann momentan nur mit „verhältnismäßig wenig“ beantwortet werden. Bis auf
Ausnahmen (vgl. Ardila-Mantilla, 2007; Li, 2013; Petersen, 2018; Spelsberg, 2013)
bietet die musikpädagogische Forschung bislang nur marginale Einblicke. Im

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aktuellen Sammelband zu Qualitätsmanagement und Lehrentwicklung an Musik-


hochschulen (vgl. Clausen & Geuen, 2017) scheint Diversität der Studierenden
zwar immer wieder auf (vgl. u. a. Neuß, 2017, S. 76), wird jedoch kaum systema-
tisch expliziert. Gar nicht rezipiert wird die Diversität der Musikstudierenden
im 2011 erschienenen Positionspapier der deutschen Musikhochschulen (vgl.
Heinrichs, 2011). Insgesamt finden sich lediglich wenige Einzelbeiträge zu
einem professionalisierten Umgang mit Diversität an Musikhochschulen: Spels-
berg (2013) arbeitet unter hochschuldidaktischer Perspektive differenziert her-
aus, dass Lehrende an Musikhochschulen die internationale Diversität von
Studierenden als Potenzial wahrnehmen (vgl. Spelsberg 2013, S. 10). Sie fordert
eine Abkehr von „Normalstudierenden“ als einem mentalen Konstrukt, ver-
weist aber gleichzeitig auch darauf, dass Verschiedenheit nicht zu sehr betont
werden soll, um Zuschreibungen und Distinktion nicht zu befördern. Aufgrund
ihres spezifischen Fokus im Kontext E-Learning ist Spelsbergs Perspektive
keine gesellschaftsanalytische, sodass Theorieentwicklung zu einer systemati-
schen Beschreibung der Diversität an Musikhochschulen nicht im Mittelpunkt
steht. Insgesamt kann Diversität an Musikhochschulen also nach wie vor als
relativ unerforschter Bereich gelten (vgl. Jey Aratnam et al., 2016). Zudem fan-
den in der diversitätssensiblen Migrationsforschung akademisch ausgebildete
Musiker*innen bisher kaum Beachtung, sodass sich eine Forschungslücke zwi-
schen den Disziplinen auftut. Daher gilt es, die spezifischen Subjektivierungs-
praktiken als performative Selbstbildungen (vgl. Alkemeyer, Budde & Freist,
2013) empirisch zu untersuchen. Unter Interaktionssphären verstehen wir alle
Interaktionen im o.g. Zusammenspiel von Agency und Struktur, i.e. von Subjek-
tivierungs- und Institutionalisierungsprozessen. Der gewählte Fokus auf trans-
national vernetzte internationale Studierende leitet sich ab vom ressourcenori-
entierten Ansatz. Dieser zeigt Interesse an durch Migrationsbiographien
bedingten Entwicklungsprozessen (vgl. Robertson, 1998). Dabei geht es weder
darum, beispielsweise eine ostasiatische Musiksozialisation zu exotisieren
(doing ethnicity) noch sie aus einer eurozentrischen Perspektive zu vernachläs-
sigen.1 Im vorliegenden Beitrag nehmen wir einerseits eine Analyse der spezifi-
schen Struktur- und Prozessbedingungen vor, mit denen internationale Musik-
studierende interagieren, und fokussieren andererseits auf zwei aufeinander
aufbauende evolvierende Theorien (vgl. Charmaz, 2006).

1
“Erasure of race in classical music discourses is part and parcel of the Western imperialistic
agenda that rendered European high culture universal and all other cultures ethnically
marked” (Yang, 2009, S. 23).

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3. Analytische Heuristik und Mixed-Methods-Forschungsdesign

Um eine systematische Beschreibung leisten zu können, wird zunächst eine


analytische Heuristik formuliert: Die interdisziplinäre Studie möchte die Ver-
schränkungen von Akteur*innen- und Strukturebene besser verstehen. Sie
bezieht sich daher auf Giddens’ Structuration Theory (Giddens, 1984). Hoch-
schulen weisen demzufolge einen Doppelcharakter „als Medium und als
Resultat der Praxis“ (Joas, 1986, S. 240) auf. Vor diesem Hintergrund nähert die
Studie sich dem Feld mit einem vielfältige Einblicke ermöglichenden Mixed-
Methods-Ansatz (vgl. Creswell & Plano Clark, 2010).

Methodologischer und methodischer Zugang

Da die Interaktionssphären konkret im Zusammenspiel zwischen bildungs-


biographischen Reflexionen der Akteur*innen und institutionellen Strukturen
untersucht werden sollen, bietet sich ein Design an, das unterschiedliche
Daten­arten übereinanderlegt. Dabei wird untersucht, wie internationale Stu-
dierende an Musikhochschulen im o. g. glokalen Musiktopos interagieren.
Der Forschungsansatz der konstruktivistisch inspirierten Grounded Theory
Methodologie (KGTM) nach Kathy Charmaz (2006) mündet in neue theoreti-
sche Erkenntnisse, die in einer zirkulär-iterativen Datengenerierung gewon-
nen werden. Er bezieht bewusst (Vor-)Theorien ein und nutzt diese für die aus
der induktiven Analyse der Daten gewonnenen Systematisierungen. Für diese
Forschung wurden sowohl quantitative wie qualitative Methoden verfolgt:
Flankiert von quantitativen Befunden der Sekundärdatenanalyse aus Arbeits-
kräfteerhebungen, Hochschulstatistiken und Absolvent*innenbefragungen2
(vgl. Jey Aratnam et al., 2016) wurden bisher rund 80 halbstrukturierte, biogra-
fisch-narrative Interviews mit internationalen und autochthonen Musikstudie-
renden (s.a. Jey Aratnam, 2012) sowie problemzentrierte Interviews mit Stake-
holdern aus Musikinstitutionen, Politik und Wirtschaft geführt. Das Theoretical
Sampling gemäss KGTM stützt sich auf hochschulische und berufliche Netz-
werke und Praxispartner (z. B. Orchester) und geht zirkulär-iterativ vor: Aus
bisherigen Erkenntnissen werden theoretische Konzepte evolviert, deren Rele-
vanz in Interviews mit weiteren Personen vertieft wird. Hierbei haben sich
soziologische Sozialkapitaltheorien (vgl. Bourdieu, 1983; Portes, 1998; Putnam,

2
Die quantitativen Ergebnisse werden im vorliegenden Beitrag nicht vertieft. Siehe hierzu Jey
Aratnam et al., 2016.

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2000) als adäquate Erklärungsmodelle für die komplexen Interaktionsformen


erwiesen (vgl. Perkins, 2015).

4. Ergebnisse: Die evolvierende Theorie des Clouding Social Capital

Wie lassen sich die o.g. Interaktionssphären der internationalen Studierenden


beschreiben? Abb. 1 führt hierfür die aus den Daten evolvierten Fokus Codes
(vgl. Charmaz, 2006) mit soziologischen Vortheorien zusammen und entwi-
ckelt Letztere weiter (siehe Abb. 1 und folgende Erörterung).

Bonding Social Capital

In einer ersten Phase des Studiums erhalten die Studierenden oft noch von
den Eltern sowie aus der Herkunftscommunity Unterstützung. Dies kann in
Anlehnung an existierende Theorien (Putnam, 2000; Woolcock, 1998) als Bon-
ding Social Capital (siehe Abb. 1) bezeichnet werden. Viele internationale Musik-
studierende haben tendenziell eine Spezialisierung ausschließlich auf Musik
durchlaufen, bereits im Frühbereich wurde ausschließlich auf die Karte Musik
gesetzt. Dieses monofokussierte Exzellenzstreben (Abb. 1) wird zu Beginn des
­Studiums durch die Migrationssituation noch verstärkt – aufgrund weniger
Sozial­kontakte ziehen sie sich für intensives Üben zurück: „mindestens ein
Jahr hab’ ich so wirklich wie ein Zombie Musiker so ein (unv.) dort geübt“
(Alina3). Im neuen Umfeld kommt es oft auch zu persönlichen Krisen:

„Es wird sehr viel von uns erwartet. Und vielleicht habe ich mir diesen Leis-
tungsdruck noch stärker gemacht, auch selber. (…) Das hat mich ein bisschen
kaputt gemacht.“ (Alex)

Strukturelle Gegebenheiten verstärken solche Krisen ggf. noch, etwa wenn


Klavierstudierende aus dem Ausland über kein eigenes Instrument verfügen
und auf Übungsräume an der Hochschule angewiesen sind oder wenn finan-
zielle Unterstützung durch die Eltern eingeschränkt ist. Wie die Daten zeigen,
begegnen viele internationale Studierende nun im Gegensatz zu einer bisheri-
gen streng strukturierten Musikfokussierung einer neuen Freiheit (Freiheit vs.
Struktur; Abb. 1), die sie zwar schätzen, die jedoch auch Schwierigkeiten mit
sich bringt:

3
Hier und im Folgenden werden den Zitaten der interviewten Personen Aliasnamen zuge-
ordnet.

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Abb. 1: Evolvieren des Clouding Social Capital aus Interviewdaten (Fokus Codes)
sowie bestehenden Sozialkapitaltheorien. 4 (Eigene Darstellung)

„Ich persönlich spürte dann Freiheit, dass niemand mich mehr kontrolliert, was
ich mache, ich kann machen, was ich will. Aber andererseits, plötzlich merke ich
dann nachher, dass es niemanden interessiert, einfach“ (Alina).

Bridging Social Capital

Am neuen Ort übernehmen internationale Kommiliton*innen eine Brücken-


funktion (Bridging Social Capital). Diese Notwendigkeit der sozial-musikalischen
Verankerung wird umso dringlicher, wenn sie sich in dieser Phase, wie oben
beschrieben, in einer persönlichen und musikalischen Krise befinden. Die
zunehmend proaktive Vernetzung und Diversifizierung (Abb. 1) wird interessan-
terweise v. a. jenseits des Hauptfachunterrichts gefördert, etwa in Kammermu-
sik, Studierendenprojekten und Wahlfächern. In einem selbstreferenziellen
Prozess findet hier bereits die „Trajektion“ zum außerhochschulischen Kontext
statt, zu einem Self-Management (Abb. 1), wo Studierende innovative Nischen
finden. Das Vernetzen mit Kommiliton*innen hilft nicht nur bei der Suche nach
„Muggen“ oder WG-Zimmern, sondern auch auf musikalischer Ebene. Die

4
Weiterentwicklung von Sozialkapitaltheorien, vgl. Jey Aratnam 2012, S. 93.

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Studierenden vergleichen sich, stehen in Konkurrenz, musizieren und arbeiten


jedoch auch gemeinsam. Solche Formen Kompetitiver Kollaboration (Abb. 1) und
Intervision erfolgen informell:

„(…) ich übe dort und (…) dann stehen Leute, die sagen, ja woher kommst du,
wieso spielst du so geil oder so, wie kannst du das so spielen. Dann plötzlich
kommen sehr viel, (…) ein paar Leute kommen sogar zu mir, kannst du uns ein
paar Tipps geben, wie (…) geht jetzt das und so. Wie würdest du das spielen und
so. Und man kriegt gewisse… (…) Also das Niveau war wirklich stark.“ (Alina)

Die Peer-Group spielt im wahrsten Sinne des Wortes „zwischen Tür und
Angel“ eine Schlüsselrolle: Als Motivationscluster im Sinne eines ambulanten
Musical Peering.

Linking Social Capital

Durch die Vernetzung mit einflussreichen Schlüsselpersonen, aber auch durch


Anbindung an eine Institution mit (Welt-)Ruf oder Auftritte an renommierten
Orten (z. B. Elbphilharmonie oder KKL Luzern) entstehen unvorhergesehene
Verbindungen (Linking Social Capital). Hauptfachlehrpersonen übernehmen hier
mitunter eine Funktion, die weit über Unterricht hinausgeht: Sie konzertieren
gemeinsam mit Studierenden, empfehlen sie weiter und unterstützen bei Woh-
nungs- und Jobsuche. Doch die empirisch erfassten Narrationen erschließen
den Forschenden weitreichende Emanzipationsprozesse: Die Musiker*innen
lösen sich von der jahrelangen Supervision durch Hauptfachdozierende und
erfahren neben einer Intervision durch Peers beim Unterrichten auch eine Invers-
vision (Abb. 1) durch eigene Schüler*innen – ein bottom-up-Approach.

„In der Stunde mit Belinda wollte ich mit ihr eine Übung machen und ihr erklä-
ren, wie wir es machen sollen. Da sagte Belinda: ‚Ich habe eine bessere Idee für
die Übung!‘“ (Abe 2017, S. 20)

In der pädagogischen Praxis sind es also mitunter Instrumentalanfänger*innen,


die die hochqualifizierten Musikstudierenden in einen Aushandlungs- und
Transformationsprozess führen. In diesem multilateralen Lernen (Abb. 1) zeigt
sich ein Charakteristikum der Interaktionssphäre zwischen Hochschule und
Berufspraxis. Im Übergang von Studium und Beruf weisen die empirischen
Daten auf eine Sättigung der eigenen musikalischen Ausbildung hin, was wir
mit Suffizienter Exzellenz bezeichnen (Abb. 1). Die jungen Musiker*innen defi-
nieren ihr „Exzellenzniveau“ selbst und machen sich dadurch zunehmend
unabhängig von der Hauptfachlehrperson. Aus dem (ehemaligen) Musikstu-

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dierenden wird ein „big boy“, wie ein Alumnus es ausgedrückt hat. Dies ist für
internationale Studierende bedeutsam, da die Kontaktabhängigkeit von der
Lehrperson für sie besonders relevant ist (s. o.).

Clouding Social Capital

Beim Clouding Social Capital kommt es nun zu einer Schärfung des Profils der
Musiker*innen in Wechselwirkung mit situativ-persönlichen und strukturel-
len (bspw. rechtlichen oder infrastrukturellen) Gegebenheiten. Wenn in die-
sem Prozess, in dessen Verlauf die befragten Musiker*innen ihr individuelles
Streben nach musikalischen Höhenflügen craze for excellence (vgl. Schmid & Jey
Aratnam, 2017) in einer auf den Basler (Musik-)Kontext abgestimmten Weise
adaptieren, lässt dies überraschende Blickwinkel zu: Über das Habitat Musik-
hochschule hinaus zeigen sich nachhaltige Biotop-Logiken (intra-group related-
ness). Oder wie es eine Alumna ausdrückte, die auf die Frage hin, wie sie sich
denn vernetze, antwortete: „Vernetzen? Ah (…) nein, wir sind doch von der
Schola“. Der Clouding-Prozess macht dann als positive Dynamik Ein-, Ab- und
Entgrenzungsprozesse, Innovation (vgl. Granovetter, 1973, S. 1370–1371), sozi-
ale Mobilität und Erfolg (vgl. Wegener, 1987) erst möglich. Sich gegebenenfalls
abgrenzend vom normativen Qualitätsverständnis der o.g. Exzellenzorientie-
rung entwickeln Musikstudierende sich zu lokal unabhängig agierenden Per-
sönlichkeiten. Gedeihen sie im Linking Social Capital allenfalls noch in einer
‚Biotopie‘, in der die Strukturlogik der Musikhochschule als natürliche Grenze
eines fruchtbaren Biotops empfunden wird, werden sie nun Akteur*innen im
tatsächlich glokalen Musiktopos: Es kommt zu einem immer wieder neuen
selbst-bewussten Download gefühlt grenzenloser ‚globaler‘ Ressourcen in
lokalen Kontexten und dabei erfolgen – um im Bild zu bleiben – laufend
‚Updates‘. Im Mitnahmeeffekt erlaubt Clouding Social Capital auch Entwicklun-
gen über den musikalischen Bereich hinaus, als Verwirklichung persönlicher
Fokussierungen in einem latent (über-)fordernden Musiktopos. Es kann zu
Emanzipierungsprozessen kommen – dann, wenn sich die Monofokussierung
durch eine neue Gewichtung anderer Lebensbereiche weitet. In dieser limbo
zone5 sind krisenhafte Übergänge möglich – bis hin zur Abkehr von der Musik-
szene. Ein alternatives Emanzipationstrajekt besteht im Erwerb eines zusätzli-
chen Masterdiploms in Pädagogik: Dies dient oft dem Ziel der Verlängerung
des Studienaufenthalts und wird im Clouding zum Bestandteil eines neuen,

5
So ein entsprechender Initial Code (Charmaz, 2006).

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vom institutionalisierten Lehr- oder Konzertbetrieb unabhängigeren Selbst-


verständnisses. Im Clouding Social Capital changieren die Musiker*innen fluide
zwischen unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern.

5. Implikationen: Polyversale Musikpädagogik

Bei der Analyse der oben dargestellten, vielfältig verflochtenen Entwicklungs-


wege (siehe Abb. 1) scheint es zunächst verkürzt, auf die (nicht-schweizerische)
Herkunft zu fokussieren. Um nicht in die Alienisierungs- und Otheringfalle
(vgl. Castro Varela, 2010) zu tappen, läge der Rückgriff auf Intersektionalitäts-
theorien (vgl. MacKinnon, 2013) nahe, die zudem den Vorteil böten, dass „Her-
kunft“ mit weiteren Diversitätsdimensionen wie „Klasse“ und „Geschlecht“
interagieren kann und sich überkreuzen lässt – und mit einer ganzen Reihe
von weiteren Fremd- und Selbstzuschreibungen, die der Identitäts(de)konst-
ruktion dienen mögen. Was, wenn der US-amerikanische Musiker aber vor
allem über seine Identifikation mit „europäischen“ Musikauffassungen und
Performancestilen spricht? Die Narrationen verweisen auf widersprüchliche
Fremdzuschreibungen und Prozesse: Ihre Selbstbildungen und Eigendiffun-
dierungen zeigen „Undoing ethnicity“ durch bereitwillige Identifikation mit
normierten Projektionen – z. B. als stereotype Zuschreibungen bzgl. Unter-
richtskulturen im Herkunftsland oder Begabungsmythen im Sinne eines Wun-
derkindparadigmas. Sie spiegeln jedoch ebenso kosmopolitische Transformati-
onen wie bspw. die Benennungen von Musikstudierenden von Offenheit, in
der etwas Neues auch in die Herkunftsländer zurückfließt (vgl. Jey Aratnam et
al., 2016, S. 396), oder bzgl. unerwarteter Entwicklungspotenziale im Sinne
eines Aschenputtelparadigmas.

Polyversale Musikpädagogik

Aufbauend auf dem diagnostizierten Phänomen des Clouding Social Capital


mündeten die empirischen Befunde in eine evolvierende Theorie, die den glo-
kalen Verflechtungen der internationalen Musiker*innen Rechnung trägt: die
Denkfigur der Polyversalität. Die ursprüngliche Dichotomie zwischen einerseits
einem Individuum auf seinem Weg (als Linie, bestehend aus Punkten, die sich
zur Fläche und zum Raum weiterentwickelt) und andererseits einer Struktur
(bei der verschiedene Linien in einem Brennpunkt gebündelt sind und sich
danach wieder strahlenförmig ausbreiten) wird in der Polyversalität zusam-
mengeführt (siehe Abb. 2).

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Polyversale Musikpädagogik im glokalen Musiktopos 259

Abb. 2: Versalen als ambige Entwicklungslinien und Diversität als


polyversale Knotenpunkte. (Eigene Darstellung)

Die Versale als eine vorgestellte, changierende Linie (Abb. 2) betont die viel-
fältigen Nuancen, die sich innerhalb eines identitätskonstitutiven Zuschrei-
bungsmerkmals wie der Herkunft im Prozess von musikbezogener Migration,
Mobilität, Globalisierung und Lokalität ergeben. Die Versalen stehen aber auch
für weitere, auf Strukturen und Handlungen wirkende und diese wiederum
reflektierende Merkmale wie Geschlecht, sozioökonomische Klasse, die Aus-
stattung mit den verschiedenen Sozialkapitalien (vgl. Bourdieu, 1983) bzw. die
Inkorporation milieuspezifischer Habitusformen (vgl. Bourdieu, 2008), die in
unterschiedlicher Ausformung – Versalität – erfahren, zugeschrieben und an-
geeignet (vgl. Farley & Flota, 2012) werden. So erfährt der aus Argentinien
stammende Musikstudierende aufgrund der gesetzlichen Limitierung für el-
terliches Sponsoring eine temporäre Prekarisierung, erwirbt sich aber in dieser
ökonomischen Latenzzeit eine musikalische Potenzialität, die sich anderswo in
einem signifikanten Zugewinn an kulturellem Kapital realisieren lässt. Poly-
versalität entsteht als doppelte Figur einerseits aus dem Zusammentreffen ver-
schiedener Diversitäts- und Ressourcendimensionen einzelner Musiker*innen.
Andererseits verdeutlicht das Bild der Polyversalität ihre strukturbildenen In-
teraktionen und ihre sich glokal ständig aktualisierenden Musiksozialisierun-
gen. Damit macht die Figur der Polyversalität Diversität an Musikhochschulen
bildlich greifbar, indem sie die vielschichtigen Verflechtungen als Vexierbild
mit einer Vielzahl sich kreuzender Versalen abbildet (Abb. 2).
So kann der glokale Musiktopos als multipler Knotenpunkt gedacht wer-
den, in dem die Versalen einzelner Musiker*innen im Sinne individueller Le-
bensentfaltungen und Sozialisationswege und -ziele aufeinandertreffen. Jede
einzelne Versale besteht wiederum aus unendlich vielen Knotenpunkten.

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Diese unendliche Vielfalt erzeugt Spannung. Der ressourcen- anstatt defizito-


rientierte Umgang mit solchen polyversalen Dynamiken setzt dann eine
grundlegende „Ambiguitätstoleranz“ voraus (vgl. Meyer, 2006), die es erlaubt,
die beschriebene Vielschichtigkeit als positiv zu erleben. Dies kann Grundlage
werden für die Strategie einer polyversalen Musikpädagogik, durch welche
bislang informell stattfindende Selbstbildungsprozesse strukturell unterstützt
werden können.

6. Diskussion und Ausblick: Deontologisches Empowerment

Im Sinne einer polyversalen Musikpädagogik ist ein deontologischer Zugang zur


Weiterentwicklung von Musikhochschulen denkbar. Deontologisch bedeutet,
nicht nur ein diffuses Ziel (z. B. „Exzellenz“), sondern auch den Weg dorthin
bewusst zu gewichten: Prozesshafte Verantwortlichkeiten werden systematisch
im Studienverlauf verankert – gerade dort, wo auf Akteur*innenebene man-
ches krisenhaft verläuft (s. o. „limbo zone“). Im Sinne der Institutionalisierung
einer polyversal orientierten Musikpädagogik an Musikhochschulen wäre
entsprechend nach Unterstützungsstrukturen in Autonomiefindungsprozes-
sen (vgl. O’Neill, 2017) mit dem Ziel von Empowerment (vgl. Marsh, 2009) zu
fragen. Die an Hochschulen gängige Praxis der „Meisterlehre“ (Latukefu &
Verenikina, 2013) wäre mit diesem Bild im Hinterkopf entsprechend weiter zu
entwickeln. Denn Gaunt (2008) konnte feststellen, dass Lehrende an Musik-
hochschulen zwar Autonomie und Selbstbewusstsein von Studierenden stär-
ken möchten, jedoch in ihren Beschreibungen von Unterricht auf leh­rer*in­nen­
zentrierte „Übertragung“ musikalisch-technischer „Skills“ fokussiert waren
(Gaunt, 2008). Prozessbezogene Formate von kollaborativem Lernen (s. o.
„Musical Peering“) und partizipative Konzepte (vgl. Gaunt & Westerlund, 2013)
zu institutionalisieren, könnte unumgänglich sein. Die unterschiedlichen For-
men von sozialem Kapital reflektierend, sind an diversitätssensiblen Musik-
hochschulen individuelle und informelle ebenso wie strukturelle und formelle
Formen einer Förderung von Ambiguitätstoleranz6 zu sondieren (vgl. Bradler,
2016; Gaunt & Westerlund 2013; Smilde, 2017).

Das Musikstudium ist grundlegend meritokratisch ausgerichtet – vermeintlich


unabhängig von Herkunft und Sozialisation der Studierenden (vgl. Jey Arat-
nam et al., 2016). Diese vordergründig kosmopolitische Haltung (vgl. McCor-

6
Annedore Prengel spricht im Kontext einer Pädagogik der Vielfalt auch von einer „Aufmerk-
samkeit für innerpsychische Heterogenität“ (Prengel, 2006, S. 189).

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Polyversale Musikpädagogik im glokalen Musiktopos 261

mick, 2014) kann allerdings Utilitarismus und teleologischer Ethik huldigen,


wenn das scheinbar universalisierbare Exzellenz-Ziel Dominanzstrukturen
festigt und auf dem Weg dahin (fast) jedes Mittel zulässt. Werden die Gegeben-
heiten einer polykulturellen Musiksozialisation unter Verweis auf angeblich
egalitäre Selbstverantwortung vernachlässigt, dann kann dies Segregations-
und Verdrängungsprozesse innerhalb eines normativen Selektionsverfahrens
verschärfen. Polyversale Musikpädagogik bedeutet demgegenüber, einen syn-
taktischen Qualitätsbegriff zu etablieren: Nicht eine fiktive absolute Norm,
sondern die Vielfalt musikalischer Anschlussmöglichkeiten ist dann relevant.
Dieses Qualitätsverständnis ermöglicht, Prozessqualitäten der musikalischen
(Aus-)Bildung verstärkt zu fokussieren. Nach der Gidden’schen Logik der Ver-
schränkung von (a) Handlungen und (b) Strukturen befragt polyversale
Musikpädagogik als mögliche Analyseperspektive dann pädagogische Set-
tings hinsichtlich zweier Aspekte:
a) Umgang mit Agency und Connectedness der Studierenden (vgl. O’Neill, 2017):
b) Sind individuelle Handlungslogiken und Subjektivierungspraktiken der
Studierenden im komplexen Geflecht der Versalen eher segmentiert (linear
begrenzt), situiert (vernetzt denkend) oder agentisch (souverän handelnd)
(vgl. O‘Neill, 2017)?
Kultivierung einer Ambiguitätstoleranz gegenüber Vielfalt und Diversität:
Wo manifestiert sich die Kultivierung der notwendigen Ambiguitätstole-
ranz konkret in den institutionellen Strukturen?
Die Handlungen, die nach Giddens Strukturen konstituieren (und vice versa),
könnten neue Konstellationen ermöglichen. Bspw. wird der Ausbildungsweg,
der bisher unter dem Primat einer technischen und künstlerischen Entwick-
lung steht, neu „verschaltet“, (multi-)optionale Hauptfächer werden vorstellbar
(vgl. Bishop, 2018). Damit einhergehend gilt es, Differenzkonstruktionen (vgl.
Riegel, 2016) zu hinterfragen. Gleichzeitig soll Differenzsensibilität durch poly-
versales Empowerment strukturell als Prozessdimension verankert werden:
Nicht Equality (Gleichbehandlung im uniformen Setting), sondern Equity
(Gleichstellung im adaptiven Setting) ist wesentlich, um Differenz – bspw. Mig-
rationsbiographie – weder zu negieren noch einseitig zu konstruieren. Genau
dies meint Ambiguitätstoleranz. Damit mündet eine ressourcenorientierte Hal-
tung (auch) in eine deontologische Handlung. Ein polyversaler Ansatz hieße
perspektivisch auch, z. B. den Container-Begriff Exzellenz (vgl. Bröckling, 2009)
kompetenztheoretisch zu reflektieren, um u. a. Prüfungsformate transparenter
zu machen (vgl. Brunner & Schmid, 2019) und gleichzeitig die institutionelle
Flexibilisierung voranzutreiben. Mit einer Schärfung des Fokus im Sinne einer
Ausdifferenzierung des Curriculums sowie mit einer Weitung im Sinne einer

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multioptionalen Agency führt eine polyversale Musikpädagogik die Mikro-,


Meso- und Makroebene in einem individuellen, multiperspektivischen Prozess
zusammen und unterstützt so die Genese von Clouding Social Capital: Man
kommt nicht nur durch (get by), nicht nur weiter (get further), sondern wird ein
selbstbewusst agierender Teil der transnationalen Cloud und prägt eine neue
Community of Practice (get in) mit (vgl. Kenny, 2016). Abschließend sollen die
Voraussetzungen und Zielperspektiven einer polyversalen Musikpädagogik
noch einmal synoptisch dargestellt werden:

Abb. 3: Polyversale Musikpädagogik.


(Eigene Darstellung)

Literatur
Abe, Reina (2017). Führung ist alles… oder doch nicht?! Ein Vergleich der systemisch-konstrukti-
vistischen „Ermöglichungsdidaktik“ und der traditionellen „Erzeugungsdidaktik“ im Instru-
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Praktiken der Subjektivierung. Berlin: De Gruyter.
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wp_live14/wp-content/uploads/2013/01/nccrotm-WP4-Bauloz-Blurred-Lines.pdf
[16.04.2020].

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Einblick in ein teamorientiertes Lehrentwicklungsprojekt. Poster Jahrestagung Arbeitskreis
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PRAXISBERICHTE

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Almuth Süberkrüb, Alexander Riedmüller

„Elementare Musikpraxis International“


Chancen und Herausforderungen eines Weiterbildungskonzeptes
für zugewanderte Musikpädagog_innen

“Elementary Music-Practice International”


Possibilities and Challenges in a Concept for Teacher Training Designed
for Migrant Music Educators

Der Artikel beschreibt das Konzept „Elementare Musikpraxis International“ (EMI) des
Fachbereichs Elementare Musikpädagogik der Hochschule für Musik und Theater Ham-
burg, das für zugewanderte Musikpädagog_innen mit einem ersten Abschluss im Nicht-
EU-Ausland entwickelt wurde, sodass diese in Deutschland im Bereich der musikalischen
Frühförderung arbeiten können. Nach Schilderung der Bedarfslage im Sektor der Früh-
pädagogik in Bezug auf Fachpersonal mit Migrationshintergrund werden Problematiken
diskutiert, die bei der Anwerbung von Zugewanderten und Personen mit Migrationsge-
schichte im musikpädagogischen Zusammenhang entstehen. Von einigen Fallbeispielen
ausgehend wird dabei die Entwicklung der EMI-Weiterbildung nachgezeichnet.

The article illustrates the program “Elementary Music-Practice International” (EMI),


created by the Department of Elementary Music Education at the Hamburg Academy
of Music and Drama. The program’s goal is to accredit immigrant music educator-
participants who have earned a music degree abroad to work in a certified capacity in
the field of early childhood music education in Germany. After reviewing the circum-
stances surrounding immigrant professionals in this area of occupation, the issues per-
taining to their situation and their recruitment into the field of early childhood music
education were examined. EMI’s training program is designed to address these issues
and to meet the needs of each of its participants.

Einleitung
„Ich freue mich über Bewerbungen von Lehrpersonen aus anderen Kulturen und
Ländern, sie bereichern das Kollegium und das Angebot der Musikschule.“1

1
Persönliches Gespräch geführt am 23.3.2019.

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270 Almuth Süberkrüb, Alexander Riedmüller

Diese Worte aus dem Munde der Leitung einer deutschen Musikschule zeugen
einerseits von einer positiven Grundstimmung beim Thema der Eingliederung
von ausländischen und kulturell als anders wahrgenommenen Kolleg_innen.
Gleichzeitig lassen sie die Erwartungshaltung und Hoffnung erkennen, dass
speziell durch diese Personen und ihr vermeintliches kulturelles Anderssein
eine Bereicherung für die Institution auf gleich mehreren Ebenen entstehen
möge. In der geschilderten Sichtweise wird ‚Kultur‘ als Unterscheidungsmerk-
mal zwischen Migrant_innen und Nicht-Migrant_innen herangezogen (vgl.
Mecheril, 2010, S. 145).2 Wie Gereke und ihre Kolleg_innen der Universität
Oldenburg im Zuge des Forschungsprojekts Pädagogische Fachkräfte mit Migra­
tionshintergrund in Kindertagesstätten: Ressourcen – Potenziale – Bedarfe betonen,
spiegelt diese Haltung auf institutioneller Ebene oft eine zwar ideologisch
deklarierte, jedoch in der Praxis meist nicht umgesetzte Realität wider (vgl.
Gereke, Akbaş, Leiprecht & Brokmann-Nooren, 2014, S. 12). Als Beleg hierfür
nennen sie eine vergleichsweise geringe Präsenz von pädagogischem Personal
bzw. von Erzieher_innen mit Migrationshintergrund in Kitas, die „im Verhält-
nis zu ihrem Bevölkerungsanteil […] nach wie vor nicht ausreichend in den
Kitas vertreten [sind]“ (ebd., S. 12).
Ein wichtiger Grund dafür ist nach unserer Erfahrung der Mangel an geeig-
neten Fachkräften und an Strategien, diese ins Bildungssystem zu integrieren.
Ein dringender Handlungsbedarf, besonders für die Altersgruppe bis zum
Schuleintritt, lässt sich auch an den aktuellen Zahlen des Statistischen Amts
für Hamburg und Schleswig-Holstein3 ablesen, die auf die hohen Prozentsätze
an Kindern mit nichtdeutscher Erst- bzw. Familiensprache in jener Alters-
gruppe verweisen. Der Mangel an in Deutschland lebenden Fachkräften mit
Migrationsgeschichte führt auf dem deutschen Arbeitsmarkt auch dazu, dass
die wenigen in den Kitas arbeitenden Fachkräfte mit Migrationshintergrund
zu Expert_innen für unterschiedliche ‚Kulturen‘ auserkoren werden und da-
mit eine überfrachtete Erwartungshaltung der Person gegenüber entsteht.
Hierdurch ergibt sich oftmals ein undifferenzierter Blick auf verschiedene
Persönlichkeiten mit ihren individuellen Hintergründen. Diese auftretende

2
Hier sei auch auf Mecherils Kritik an der interkulturellen Pädagogik verwiesen, die immer
nur dann zum Tragen komme, „wenn es um ‚Migrant/innen‘ geht“, und in der er außerdem
beschreibt, wie der in diesem Zusammenhang benutzte Begriff ‚Kultur‘ in diesem Sinne ver-
steckte Konstruktionen von Rassedenken beinhalten kann (vgl. Mecheril, 2010, S. 65–66).
3
Am 1. März 2017 hatten laut Website des zitierten Amts im Elementar- und Vorschulbereich
knapp 39 % der in Hamburg lebenden Kinder einen Migrationshintergrund, von denen wie-
derum etwa 66 % zuhause vorrangig kein Deutsch sprachen [Statistisches Amt für Hamburg
und Schleswig-Holstein, www.statistik-nord.de].

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„Elementare Musikpraxis International“ 271

Problematik bestätigt auch die durchgeführte Studie von Gereke et al., die die
Schieflage bei der Erwartungshaltung an pädagogisches Fachpersonal mit und
ohne Migrationshintergrund wie folgt benennen:

„Besondere Aufgaben, für die Fachkräfte mit Migrationshintergrund allein auf-


grund der Tatsache, dass sie einen Migrationshintergrund haben, als allein
zuständig erklärt werden, verfehlen zum einen deren allgemeine fachliche Kom-
petenzen, zum anderen werden die Fachkräfte ohne Migrationshintergrund auf
diese Weise zu allgemeinen Pädagog(inn)en, die nichts mit ‚Kultur‘ oder ‚Spra-
che‘ zu tun haben.“ (Akbaş & Leiprecht, 2015, S. 117)

Diese von Unter- und Überschätzung geprägte Sichtweise auf das Kollegium
kann kein erstrebenswertes Ziel für pädagogisches Handeln sein, da sie sich
nicht an den realen Fähigkeiten der betreffenden Personen orientiert, sondern
vornehmlich an projizierten Fremdzuschreibungen.4 Die genannten Schwie-
rigkeiten bestehen allerdings nicht nur im Bereich der allgemeinen Frühpäda-
gogik, sondern lassen sich auch auf das Feld der musikalischen Bildung über-
tragen, wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen.

Angebote für zugewanderte Musiker_innen und Musikpädagog_innen


in Deutschland

Das Bestreben, auch musikalische Fachkräfte aus dem Ausland zu integrieren,


ist an diversen Weiterbildungsangeboten erkennbar. Organisatorische, formale
und inhaltliche Fragen müssen hierbei Berücksichtigung finden und aufeinan-
der abgestimmt werden. Dadurch wird manchmal der Blick auf das Indivi-
duum verstellt und es können, auch ungewollt, Diskriminierungen entstehen.
Von den aktuell in Deutschland existierenden Weiterbildungsangeboten für
zugewanderte Musiker_innen oder Musikpädagog_innen seien an dieser Stelle
zwei genannt, die in einem zum in diesem Artikel vorgestellten Projekt insti-
tutionell vergleichbaren Rahmen stattfinden:
Der Anpassungslehrgang Zertifikatslehrgang Musikpädagogik – für Musiker_
innen verschiedener Kulturen der Landesmusikakademie NRW in Kooperation
mit der HfMT Köln ist für Instrumentalist_innen mit Fluchthintergrund kon-
zipiert, die ein Instrument spielen, für das es an deutschen Musikhochschu-
len kein Studienangebot gibt. Gleichzeitig werden Musiker_innen von der

4
Vgl. hierzu Barth und ihre Berichte über die auf Jugendliche von der Gesellschaft projizierte
kulturelle Fremdheit und die dadurch ausgelöste Notwendigkeit einer selbst inszenierten
Ethnizität von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Kontext der Musikpädagogik
(Barth, 2013).

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272 Almuth Süberkrüb, Alexander Riedmüller

Maßnahme ausgeschlossen, die zwar als Geflüchtete nach Deutschland ka-


men, jedoch ein europäisch-klassisches Instrument studiert haben. Den für
den Lehrgang ausgewählten Personen wird die wichtige Möglichkeit gegeben,
sich durch eine Zusatzqualifikation in den musikpädagogischen Arbeitsmarkt
einzubringen. Sie werden jedoch bereits durch die Auswahl der zugelassenen
Instrumente als etwas Besonderes deklariert. Diese Andersbehandlung wirft
die Frage auf, ob für die Absolvent_innen jemals feste Stellen an deutschen
Musikschulen zur Verfügung gestellt werden (können). Musikpädagog_innen
mit Fluchthintergrund, die in der europäisch-klassischen Musiktradition be-
heimatet sind und für die eine Festanstellung eine Perspektive auf dem Ar-
beitsmarkt sein könnte, werden von dieser Fördermaßnahme ausgeschlossen.
In beiden Fällen kann man von einer Diskriminierung der zugewanderten
Menschen sprechen.
Daneben sei der Lehrgang Interkulturelle Ensemblepraxis mit der dazugehöri-
gen umfangreichen Seminarreihe welt.kultur.praxis der Bundesakademie der
musischen Jugendbildung Trossingen genannt, der nach den Informationen
auf der entsprechenden Website für „Musiker aller Kulturen“ offen ist. Dieser
Lehrgang wird mit den Instrumenten Baǧlama, Ud, Rahmentrommel und Per-
cussion, Rebab, Ney und Gesang angeboten. Sämtliche dieser Instrumente
können arabischen und türkischen Musiktraditionen zugeordnet werden, was
die Frage entstehen lässt, warum bei der Namensgebung des Lehrgangs nicht
speziell darauf eingegangen wurde. Da im Titel auch explizit die „Welt“ ge-
nannt wird, suggeriert die Beschreibung dieses Lehrgangs, dass es im musika-
lischen Kontext dann „interkulturell“ und weltoffen wird, wenn türkische und
arabische Instrumente darin ihren Platz finden. Spieler_innen dieser Instru-
mente wird damit auch wieder ein besonderer Platz innerhalb der Musikland-
schaft zugewiesen und sie dadurch als ‚anders‘ dargestellt.
Wir unterstellen den Entwickler_innen der genannten Weiterbildungsange-
bote nicht, dass sie auf diese Unterscheidungen abzielen, und halten solche qua-
litativ hochwertigen Lehrgänge für migrierte bzw. an anderer als europäischer
Kunstmusik interessierte Musikpädagogi_innen für außerordentlich wichtig.
Gleichzeitig möchten wir darauf hinweisen, dass sie in der Art der Konzeption
Blanchards These stützen, „dass fremde Kulturen und fremde Musik musikpäd-
agogische Konstrukte sind, also durch das Reden, Schreiben, Unterrichten etc.
erzeugt werden“ (Blanchard, 2019, S. 14). Wenn dem so ist, so sind es also Kon-
zepte wie die, die eine spezielle ‚interkulturelle‘ Musikpädagogik einer ‚norma-
len‘ Musikpädagogik gegenüberstellen, die die genannten Diskriminierungen
erzeugen können bzw. bestehende Stigmatisierungen verstärken. Dies gilt für
den schulischen Unterricht genauso wie für die berufsbildende Lehre.

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„Elementare Musikpraxis International“ 273

Ein Hauptproblem, dem sich auch unsere Weiterbildungsmaßnahme stellen


muss, besteht somit darin, den gewünschten Kreis an Interessierten zu errei-
chen, ohne Menschen zu stigmatisieren. Das sind in unserem Fall Musikpäda-
gog_innen, die einen Abschluss im Nicht-EU-Ausland erworben haben, der
ihnen jedoch in Deutschland in ihrem angestammten Berufsfeld keine Exis-
tenzsicherung ermöglicht, da ihre Abschlüsse den deutschen nicht gleichen
und deshalb oft nicht als gleichwertig anerkannt werden. Um sich nicht der
bereits erwähnten Stereotypisierungen und Unterscheidungsmuster zu bedie-
nen, soll gleichzeitig ein künstliches Bemühen, etwas ‚von außen‘ mit etwas
‚von hier‘ bzw. kulturell einander Fremdes zusammenbringen zu wollen, ver-
mieden werden. Die Kunst besteht wohl darin, die gegebene „kulturelle Diver-
sität“ (ebd.) wahrzunehmen – um den Gedanken Blanchards weiter zu verfol-
gen –, dies jedoch möglichst reflektiert und der Sachlage angemessen zu tun.
Auch wenn es in Einzelfällen aufgrund der individuellen Laufbahn und Aus-
bildung einer Person durchaus berechtigt sein kann, jemanden zur Expertin
bzw. zum Experten eines in Mitteleuropa weniger verbreiteten Musikstils zu
machen, ist die grundsätzliche Erwartungshaltung, etwas Anderes in der Mu-
sik des ausländischen Gegenübers zu finden, problematisch. Die Grundhaltung
gegenüber diesem (attestierten kulturellen) Anderssein kann positiv oder ne-
gativ verstanden werden, in jedem Falle geht damit eine Diskriminierung, in
der Bedeutung von Nicht-Gleichbehandlung, einher.
Um dies zu verdeutlichen, folgt hier ein Beispiel, das an eine uns berichtete
Erfahrung angelehnt ist: Mohamed, ein aus dem Libanon stammender Pianist5,
kommt auf Umwegen über ein Konservatorium in Italien als anerkannter
Flüchtling nach Deutschland. Er wurde primär in der europäisch-klassischen
Musiktradition ausgebildet. Bei einer geschilderten exotisierenden Sichtweise
kann die Gefahr bestehen, dass er voreilig zum Experten für arabische Musik
auserkoren wird, obwohl er sich während seines Studiums intensiv mit Kla-
viersonaten der italienischen Klassik auseinandergesetzt hat und gerade diese
Expertise in einer deutschen Musikschule einbringen möchte. Seine berufli-
chen Chancen steigen jedoch zusehends, wenn er die Expertenrolle für syrisch-
libanesische Musik annimmt, so z. B. Kompositionen über levantinische Volks-
weisen verfasst und bei einer mitteldeutschen Kulturbehörde für dieses Projekt
um Gelder ansucht. Wenn er versucht, sich als gleichberechtigte Lehrkraft des

5
Um die betreffende Person zu schützen, wurde der Name geändert und das Beispiel ange-
passt. Die Einzelfallbeschreibung wurde im Rahmen den realen Begebenheiten nachempfun-
den, Informationen weichen jedoch dort von der Realität ab, wo sie zur Identität der Person
führen könnten.

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274 Almuth Süberkrüb, Alexander Riedmüller

Klavierkollegiums einer Musikschule im selben Bundesland zu etablieren, hat


er es jedoch viel schwerer, weil er seinen Abschluss nicht an einer deutschen
Hochschule erhielt. Geht dieser Musiker den Weg des Experten der anderen
Kultur, so ist er im deutschen Bildungssystem aufgrund fehlender Vergleichs-
möglichkeiten und einer grundsätzlichen Offenheit für ‚das Andere‘ willkom-
men. Es wird, ohne es genauer zu hinterfragen, davon ausgegangen, dass er
eine Expertise für die Musik seiner Heimat aufweisen und darin professionell
agieren kann. Wünscht er dagegen aufgrund seiner klassischen Ausbildung
eine den deutschen Kolleg_innen ebenbürtige Rolle einzunehmen, so wird
erwartet, dass er diese Qualifikation an einer Institution in Deutschland nach-
holt, bevor er in dieser Rolle gleichberechtigt willkommen ist.
Muster positiver oder negativer Diskriminierung erschweren es, die Men-
schen, ihre Kompetenzen und Wünsche hinter den auf sie projizierten Zu-
schreibungen zu erkennen. Als Konzipierende von berufsbildenden Maßnah-
men erreichen wir mit unseren Angeboten Menschen mit ihren individuellen
Geschichten, Fähigkeiten und Zukunftsvorstellungen. Dies sei durch den fol-
genden Kommentar eines aus Syrien stammenden Musikers verdeutlicht:

„Als ich nach Deutschland kam, war es zuerst für mich wichtig, eine feste Arbeit
und eine Wohnung zu finden. Ich habe angefangen die Anpassung als Sozial­
pädagogischer Assistent zu machen und arbeite nun Vollzeit in einer Kita. In
Syrien habe ich am Konservatorium studiert und dann als Musiklehrer in der
Grundschule gearbeitet. Ich mache gerade einen Anpassungslehrgang an der
Hochschule für Musik und Tanz Köln für Instrumentalpädagogik. Momentan
kann ich mir nicht vorstellen, private Schüler anzunehmen. Ich habe einfach zu
viel zu tun.“6

Für einen solchen Musiker käme wohl ein Berufswechsel beispielsweise zum
Instrumentallehrer nur in Frage, wenn eine Existenzsicherung in ähnlicher
Weise gegeben wäre wie in seinem aktuellen Beruf. Mit seinem syrischen
Hauptfachinstrument allein ist dies an deutschen Musikschulen in den sel-
tensten Fällen realistisch.
Aus den beschriebenen Überlegungen versuchten wir Konsequenzen für
die Konzeption der Zertifizierungsweiterbildung Elementare Musikpraxis Inter-
national der Hochschule für Musik und Theater Hamburg zu ziehen, welche im
Folgenden dargestellt wird.

6
Persönliches Gespräch geführt am 20.3.2019.

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„Elementare Musikpraxis International“ 275

Ausgangslage für das Pilotprojekt: International Music Education (IME)

Der Beginn des Pilotprojektes International Music Education (IME) geht in das
Jahr 2014 zurück, als Dörte Inselmann (Intendanz Stiftung Kulturpalast Ham-
burg) und Almuth Süberkrüb (Studiengangsleitung EMP der HfMT Hamburg)
begannen Ideen zu entwickeln, wie dem musikalischen Fachkräftemangel in
Kitas in Stadtteilen Hamburgs, in denen es wenig kulturelle Angebote gibt,
begegnet werden könnte, um dort möglichst vielen Kindern musikalische Bil-
dung zukommen zu lassen. Nach umfangreicher Planungsphase begann als
Kooperationsprojekt zwischen dem Studiengang EMP und der Stiftung Kul-
turpalast Hamburg ein Pilotdurchlauf in zwei Jahrgängen im Zeitraum von
September 2017 bis Juli 2019. Seit Januar 2018 wird das Projektanliegen musika-
lischer Frühförderung im internationalen Kontext auch im Rahmen des Groß-
projektes Stage_2.0 der Innovative Hochschule7 an der HfMT Hamburg gefördert
und in diesem Kontext stetig ausgewertet, geprüft und weiterentwickelt.
Die Kernidee des Projektes war einerseits, die kulturell sehr heterogen ge-
prägten und musikalisch oft unterversorgten Hamburger Kindertagesstätten
von der musikalischen Expertise nichtdeutschsprachiger Musik-Fachkräfte
profitieren lassen zu können. Andererseits sollten Letztere im beruflichen Tan-
dem mit einer Kita-Fachkraft von deren pädagogischem Know-how lernen
und erste Schritte in den deutschen Arbeitsmarkt gehen können. Durch die
Weiterbildung je eines Erziehers/einer Erzieherin der Kitas im Tandem mit den
Musiker_innen erhielten die Erzieher_innen auch für die Zeit nach Beendi-
gung der Weiterbildungsmaßnahme neue musikalische Perspektiven für den
Kita-Alltag.
Das Ziel einer individuellen Zukunftssicherung der geflüchteten Musiker_
innen hier in Deutschland im Bereich der musikalischen Frühförderung – so
viel sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen – konnte mit der Weiterbil-
dung allenfalls angebahnt werden. So diente die Weiterbildung für einige als
Sprungbrett für eine Erzieher_innenausbildung, eine gesicherte Zukunft als
Musikpädagog_in in Deutschland konnte allein durch dieses Zertifikat jedoch
nicht erreicht werden.
Durch eine Förderung des Europäischen Sozialfonds war es den geflüchte-
ten Teilnehmenden möglich, das IME-Projekt im Zuge eines Freiwilligen-
dienstes BFD Welcome zu absolvieren, bei dem sie ein bis zu 18-monatiges
Praktikum in einer Kita durchführten und so das in der Theorie erworbene
Wissen gleich in der Praxis anwenden konnten. Das erste Konzept für eine

7
Eine gemeinsame Initiative des BMBF und der GWK.

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276 Almuth Süberkrüb, Alexander Riedmüller

IME-Weiterbildung konnte auf diese Weise erprobt und mit 36 Personen – ein-
gesetzt in 18 Kitas – erfolgreich auf den Weg gebracht werden. So wurden bis
Juli 2019 bei der IME Musiker_innen, Erzieher_innen und andere Interessierte
mit und ohne Migrations- und Fluchtgeschichte gemeinsam im Bereich der
musikalischen Frühförderung weitergebildet. Dies geschah durch gemein-
same Besuche von Fortbildungstagen und durch die gemeinsame Arbeit der
Erzieher_innen-Musiker_innen-Tandems in den Kitas. Supervisionen dieser
Einsätze durch ein Team erfahrener Fachkräfte seitens der Hochschule beglei-
teten die Praxis-Erfahrungen. Die praktisch-theoretischen Inhalte der Weiter-
bildung waren dabei aktuelle Erkenntnisse aus dem Fach der Elementaren
Musikpädagogik und audiationsbasiertes Musiklernen (Music Learning The-
ory) nach Edwin E. Gordon, dessen Vermittlung der Obhut der Edwin E. Gor-
don Gesellschaft Deutschland e.V. oblag.
Von den Vorteilen der Nutzung des audiationsbasierten Musiklernens nach
Edwin E. Gordon im Projekt seien an dieser Stelle zwei genannt: Gordons An-
satz geht in der musikalischen Bildung vom Hören und Erleben eines mög-
lichst variantenreichen Repertoires aus und bietet damit gute Möglichkeiten,
unterschiedliche Musikstile und Musiktraditionen in diese Arbeit miteinzube-
ziehen. Zwar entwickelte Gordon seine Music Learning Theory ausgehend von
seinem eigenen Erfahrungshintergrund als Musiker bzw. Musikpädagoge mit
klassischer Musik und Jazz, doch bedeutet dies nicht, dass die Anwendung
allein im Sinne eines solchen Musikbegriffs möglich bzw. gewünscht ist. Viel-
mehr äußerte er stets seine Hoffnung, dass eine Öffnung und Erweiterung mit
Blick auf andere musikalische Stile und Musiktraditionen erfolgen möge.
Da die Vermittlungsweisen beim audiationsbasierten Musiklernen mit de-
nen des Erlernens der Muttersprache vergleichbar sind, bieten sich diverse
Möglichkeiten, Musik im Kita-Alltag lebendig werden zu lassen.8

Weiterentwicklung zum EMI-Lehrgang

Um zugewanderten Musiker_innen eine wirkliche berufliche Perspektive zu


eröffnen, entschloss sich der Fachbereich EMP ab August 2019 eine Weiterbil-
dungsschiene für zugewanderte Musiker_innen und Musikpädagog_innen
mit einem ersten professionellen Abschluss in Nicht-EU-Staaten zu öffnen und
dies im Rahmen der Weiterbildung „Elementare Musikpraxis International“
(EMI) umzusetzen.

8
Für weitere theoretische Informationen sei verwiesen auf Gordon, 1990, und in deutscher
Sprache auf Süberkrüb, 2014.

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„Elementare Musikpraxis International“ 277

Die Seminare der EMI finden über ein Jahr verteilt geblockt an fünf Wochen-
enden und in zwei Intensivwochen am Standort der HfMT Hamburg statt.
Hierdurch ist Interessierten aus ganz Deutschland eine Teilnahme möglich.
Die in den betreffenden Ländern erworbenen Abschlüsse oder Ausbildungen
im Bereich der Musik oder Musikpädagogik, welche in den meisten Fällen
nicht deckungsgleich mit deutschen Abschlüssen sind, können bei EMI durch
eine zertifizierte berufliche Spezifikation im Bereich der musikalischen Früh-
förderung ergänzt werden. Damit erreicht EMI eine Zielgruppe, die sonst in
Deutschland eher schwer Anerkennung in ihrem angestammten Berufsfeld
erlangt:
„In Syrien habe ich in Damaskus studiert und auch dort in einer Schule gearbei-
tet. Ich hatte Musik und Literatur an zwei Universitäten studiert. Hier in Deutsch-
land kann ich mit diesen Abschlüssen leider nicht arbeiten. Deshalb ist diese
Weiterbildung für mich eine Chance, um in Deutschland arbeiten zu können.“9

Bei EMI steht im Mittelpunkt, Fachkräfte unabhängig ihrer nationalen oder


musikalischen Herkunft als solche wahrzunehmen und in professionelle
Tandems von Expert_innen für Frühpädagogik (Erzieher_innen) und Expert_
innen für musikalisches Handeln (Musikpädagog_innen bzw. Musiker_
innen) gemeinsam weiterzubilden. Internationalität ist u. a. dadurch gegeben,
dass Zugewanderte und in nicht-europäischen Ländern ausgebildete Profis
hierzulande auf ihrem Gebiet aktiv sind und so den Arbeitsmarkt bereichern.
Um dies zu erreichen, wird es notwendig sein, auch die Erwartungen der
Arbeit­geber_innen zu erfüllen. Exemplarisch für Letztere soll folgende Ver-
balnote der Leitung einer städtischen Musikschule stehen:
„Für mich ist es wichtig, dass unsere Lehrkräfte eine fundierte musikalische sowie
pädagogische Ausbildung abgeschlossen haben und diese mit einem entsprechen-
den Abschlusszeugnis nachweisen können. Auch bei Bewerbungen aus anderen
Ländern ist der Nachweis der Ausbildung wichtig, aus dem die belegten Fächer
und Abschlüsse ersichtlich sind. Auch aus einem Zeugnis eines Anpassungslehr-
gangs in Deutschland sollten die belegten Fächer mit Stundenanzahlen und wenn
möglich Umfang und Ergebnis von Praktika und Prüfungen hervorgehen.“10

Uns ist es ein Anliegen, die verschiedenen Positionen im Blick zu haben sowie
die unterschiedlichen Hoffnungen bzw. Erwartungen zu berücksichtigen und
so zu einem für alle Seiten zufriedenstellenden Ergebnis zu kommen.

9
Kommentar einer Bewerberin während der Aufnahmeprüfung für den ersten EMI-Durchlauf
am 6.6.2019.
10
Persönliches Gespräch geführt am 23.3.2019.

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278 Almuth Süberkrüb, Alexander Riedmüller

Zusammenfassung

Wie die geschilderten Beispiele von Weiterbildungsmaßnahmen für zugewan-


derte Musikpädagog_innen und Musiker_innen zeigen, ist die Konzipierung
von passenden Formaten eine große Herausforderung. Sie sollten es auf der
einen Seite internationalen Interessent_innen ermöglichen, ihre Potenziale in
den deutschen Arbeitsmarkt einzubringen. Gleichzeitig sollten diese jedoch
nicht mit einer von Fremdzuschreibungen geprägten Erwartungshaltung kon-
frontiert, sondern vielmehr mit ihren eigentlichen Fähigkeiten und Potenzialen
wahrgenommen werden.
Im musikpädagogischen Bereich ist die Nachfrage nach solchen Angeboten
sowohl seitens der Bildungseinrichtungen als auch der Musiker_innen gege-
ben. Die Weiterbildung „Elementare Musikpraxis International“ des Fachbe-
reichs EMP der HfMT Hamburg ist dabei ein Versuch, professionellen Musik-
pädagog_innen und Musiker_innen aus dem Ausland die nötige Unterstützung
zu geben, Zusatzqualifikationen zu erwerben, mit denen sie sich gleichberech-
tigt in den deutschen Arbeitsmarkt als die Fachkräfte einbringen können, die
sie sind.

Literatur
Akbaş, B. & Leiprecht, R. (2015). Pädagogische Fachkräfte mit Migrationshintergrund in Kinder-
tagesstätten. Auf der Suche nach Erklärungen für die geringe Repräsentanz im frühpädagogi-
schen Berufsfeld. [Differenzverhältnisse] (Bd. 1). Oldenburg: BIS.
Barth, D. (2013). „In Deutschland wirst du zum Türken gemacht!!“ oder „Die ich rief, die
Geister, die werd ich nun nicht los“, Diskussion Musikpädagogik, 57(1), 45–52.
Blanchard, O. (2019). Hegemonie im Musikunterricht: Die Befremdung der eigenen Kultur als Be-
dingung für den verständigen Umgang mit kultureller Diversität (Perspektiven Musikpädago-
gischer Forschung Bd. 9). Münster: Waxmann.
Gereke, I., Akbaş, B., Leiprecht, R. & Brokmann-Nooren, C. (2014). Abschlussbericht For-
schungsprojekt „Pädagogische Fachkräfte mit Migrationshintergrund in Kindertagesstätten:
Ressourcen – Potenziale – Bedarfe“. Universität Oldenburg. Verfügbar unter https://uol.de/
fileadmin/user_upload/paedagogik/personen/rudolf.leiprecht/01NV1112_Schluss
bericht-uebearb_15.12.14.pdf [15.01.2020].
Gordon, E. (1990). A Music Learning Theory for Newborn and Young Children. Chicago: GIA-
Publications.
Mecheril, P. (2010). Migrationspädagogik. Weinheim und Basel: Beltz.
Süberkrüb, A. (2014). Music Learning Theory: Edwin E. Gordons Theorie des Musiklernens. Zu-
sammenfassung der Kerngedanken in deutscher Sprache. Saarbrücken: Pfau.

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Nathalie Glinka

Interkulturelles Singtandem: Umfassend singen


und musizieren im Kindergarten

Intercultural Singing Tandem: Comprehensively Singing


and Playing Music in Kindergarten

Dieser Praxisbericht aus der Elementaren Musikpädagogik erläutert eine mögliche


Herangehensweise, Kulturen aus verschiedenen Herkunftsländern im Rahmen einer
Musikstunde in einer Kindertageseinrichtung zusammenzuführen und miteinander in
Kontakt zu bringen. Das als „Interkulturelles Singtandem: Umfassend singen und
musizieren im Kindergarten“ beworbene Projekt fand im akademischen Jahr 2017/2018
an der Hochschule für Musik Freiburg statt.

This paper describes a possible approach that brings together and connects different
cultures as part of music lessons in a kindergarten. The project took place in the aca-
demic year 2017/2018 at the University of Music Freiburg and was advertised as
“Intercultural Singing Tandem: comprehensively singing and playing music in kinder-
garten“.

1. Prolog: Szenen aus einer Freiburger Kindertagesstätte

Weiße Tücher werden an alle Kinder verteilt, sie schwingen diese durch die
Lüfte. Gerade eben noch erklang ein deutschsprachiges Winterlied, schon erhe-
ben sie sich, lassen ihre Tücher passend zum Winterthema wie Schneeflocken
durch die Lüfte tanzen und bewegen sich zur Musik. Das Besondere dabei: Die
Musik kommt nicht von einer CD. Jede Woche begleitet ein Oud-Musiker mit
irakisch-kurdischen Wurzeln die gesungenen Lieder und wählt Musikstücke
aus seinem Heimatland aus, die er in die Stunde einfließen lässt.

2. Hintergründe und Argumentationslinien für die Konzeption

Kultursensible (musikalische) Bildung gewann in den letzten Jahren zuneh-


mend an Aufmerksamkeit. Auch im „Orientierungsplan für Bildung und

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280 Nathalie Glinka

Erziehung in baden-württembergischen Kindergärten und weiteren Kinderta-


geseinrichtungen“ kann man diesen Aspekt wiederfinden. Die Wichtigkeit der
Thematik spiegelt sich in einem eigenen Unterkapitel „Unterschiedliche kultu-
relle Erfahrungen“ (KM-BW, 2014, S. 50–52) wider, in dem die AutorInnen „die
Vielfalt der Kulturen als Bereicherung“ und die „Einzigartigkeit jedes Kindes“
beschreiben. Durch pädagogische Unterstützung „erhalten Kinder vielfältige
Anregungen, in Beziehung zur kulturell geprägten Welt zu treten […] und Kul-
tur mitzugestalten.“ (KM-BW, 2014, S. 50).
Moderne Gesellschaften sind von vielen verschiedenen und ineinander ver-
wobenen kulturellen Einflüssen geprägt. Diese nehmen durch Migrations- und
Fluchtbewegungen zu. So hatten in Deutschland bereits im Jahr 2017 39,1 %
aller Kinder unter fünf Jahren einen sogenannten Migrationshintergrund (vgl.
Destatis, 2018, S. 35).
Studien belegen, dass „Umgang mit Musik das Lernverhalten, den Umgang
mit Sprache sowie das mathematische und räumliche Denken“ (Oberhaus,
2018, S. 50) fördert. Gleichzeitig nimmt das Fach Musik in Kitas u. a. aufgrund
fehlender musikdidaktischer Kenntnisse der ErzieherInnen einen geringen
Stellenwert ein (vgl. Oberhaus, 2018, S. 49; Oberhaus & Nonte, 2016, S. 75–77).
Dabei ist gerade die Begegnung mit verschiedenen Musikstilen in den ersten
Lebensjahren besonders wichtig, da Kinder in diesem Alter über eine soge-
nannte Offenohrigkeit verfügen (vgl. Gembris & Hemming, 2005, S. 290–294).
Diese zeigt sich in „größere[r] Offenheit gegenüber unbekannten und unkon-
ventionellen Musikstilen“ (Busch & Lehmann-Wermser, 2018, S. 26).
Es ist zu beobachten, dass in jüngster Zeit bspw. Musikstudierende verschie-
dene Projekte mit geflüchteten Menschen aus dem Nahen Osten initiierten,
dabei aber selten Kooperation mit Kitas stattfand. Untersucht man Elementare
Musikpädagogik-Lehrwerke auf kultursensible musikalische Bildung, findet
man dagegen vergleichsweise viele Lieder, Tänze und Spiele aus dem afrikani-
schen Raum.
An diese Erkenntnisse anknüpfend entwickelte Prof. Camille Savage-Kroll,
Leiterin des Studiengangs „Elementare Musikpädagogik“ (EMP) an der
Hochschule für Musik (HfM) Freiburg, das Konzept des Interkulturellen
Singtandems. Dieses setzte sich entsprechend der Projektausschreibung aus
einer/m orientalischen MusikerIn und einer/m EMP-Studierenden zusam-
men und sollte, betreut durch EMP-Dozierende, 20 Projektstunden in einer
Freiburger Kita gestalten. In diesen Musikstunden sollten die Kinder mit
deutschen und orientalischen Volks- und Kinderliedern vertraut gemacht
werden, um einen interkulturellen Austausch der beteiligten Personen anzu-
regen. Ziel war die gegenseitige Auseinandersetzung und die Wertschätzung

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Interkulturelles Singtandem: Umfassend singen und musizieren im Kindergarten 281

verschiedener Herkunftskulturen und Identitäten. Die Begegnungen mit Mu-


sik und MusikerInnen boten die Möglichkeit, etwas über sich selbst und an-
dere zu erfahren. Die Kinder sollten lernen, ihren eigenen Körper – einschließ-
lich der Stimme – als Instrument wahrzunehmen und vielfältig einzusetzen,
wobei das Singen und der spielerische, kunstvolle Umgang mit Sprache zu-
gleich als Sprachfördermaßnahme deklariert wurde.1

3. Die Konzeption und das Bewerbungsverfahren

Das Projekt wurde sowohl in der HfM Freiburg unter EMP-Studierenden als
auch in Freiburger Kitas ausgeschrieben. Ein Ausschuss aus EMP-Fachkolle-
gInnen der HfM Freiburg bewertete die eingegangenen Bewerbungen und
Motivationsschreiben. An der hohen Anzahl der Bewerbungen auf Seiten der
Kita-Einrichtungen wurde der große Bedarf an musikpädagogischen Angebo-
ten für diese Zielgruppe deutlich. Ausschlaggebend für das Auswahlverfah-
ren einer Kita als Projektpartner war deren Bedarf an musikalischen Angebo-
ten. Die Wahl fiel auf eine Kita, die aufgrund fehlender Fachkräfte seit langer
Zeit kein Musikprojekt mehr anbieten konnte. An der HfM Freiburg wurde
unter EMP-Studierenden ein Lern-Stipendium ausgeschrieben, das eine Stu-
dentin mit großem Interesse an kultursensibler Arbeit gewann.
Die Auswahl einer/s geeigneten Musikers/Musikerin erwies sich als proble-
matisch. Es musste ein/e MusikerIn gefunden werden, die/der einen Bezug zur
nahöstlichen Musikkultur besitzt, an wöchentlichen Musikstunden teilneh-
men kann und über ausreichende Deutsch-Kenntnisse verfügt, um Abspra-
chen und Unterrichtsplanung gemeinsam durchzuführen. Mit Shaffan Solei-
man konnte ein irakisch-kurdischer Oudspieler mit zusätzlich ausgeprägten
Kenntnissen über das Rahmentrommelspiel gefunden werden.
Das Ziel der Konzeption war eine Verstetigung von Musik und Musikstun-
den in der Kindertageseinrichtung. So wurde eine Grundausstattung an Klein-
Perkussionsinstrumenten für die Einrichtung angeschafft. Zudem erhielten
die ErzieherInnen der Einrichtung die Möglichkeit, an zwei Fortbildungen zur
EMP teilzunehmen. Diese ermöglichten Einblicke in die ganzheitliche Arbeit
des Faches, die wiederum in die Kita einfließen konnten und können. Auch
alle Studierenden des Studienganges EMP an der HfM Freiburg erhielten
durch einen Workshop mit Murat Coşkun über Spieltechniken und praktische
Anwendungen der Rahmentrommel wichtige Impulse für ihre eigene Arbeit.

1
Die Jessen Stiftung erklärte sich bereit, das als „Interkulturelles Singtandem – Umfassend
singen und musizieren im Kindergarten“ beworbene Projekt zu finanzieren.

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282 Nathalie Glinka

Die Konzeptionen der einzelnen Musikstunden im Kindergarten waren von


den pädagogischen Prinzipien der EMP geprägt. Diese fasst Dartsch (2010, S. 324)
als spielorientiert, experimentell, kreativ, prozessorientiert, intermedial, körper-
orientiert, beziehungsorientiert und offen zusammen. Die elementare musikpä-
dagogische Arbeit basiert auf einem ganzheitlichen und künstlerischen Grund-
satz, aus dem die eben genannten pädagogischen Prinzipien hervorgehen.
So konnte das Zusammenwirken der Studentin und des kurdischen Musi-
kers die Musik in ihrer Gesamtheit sinnlich erfahrbar und erlebbar machen. Im
Sinne der dargestellten pädagogischen Prinzipien sollten Verbindungen in und
zwischen den Musikstunden geschaffen, musikalisch Erfahrenes mit dem
ganzen Körper ausgedrückt und mit anderen Kunstformen verknüpft werden.
Die musikalische und künstlerische Arbeit war in ihrer Ganzheit prozessori-
entiert ausgerichtet, das bedeutet, dass kein im Voraus bestimmtes Ziel in den
Mittelpunkt gerückt wurde.

4. Die Musikstunden in der Kita

Jede Projektstunde hatte sowohl ein musikalisches als auch ein erlebnisorien-
tiertes Thema. Als Beispiel sei an dieser Stelle auf das Thema des Prologs
„Winter und Schnee“ verwiesen, wobei das Erlebnisthema teilweise auch
mehrere Projektstunden lang bestehen blieb. So konnten sich die Kindergar-
tenkinder in ein Thema hineinfinden, sich darin vertiefen und dadurch selbst-
tätig und kreativ mit musikalischen Impulsen und Parametern umgehen.
Im Projekt wurden verschiedene Rituale geschaffen. Ein deutschsprachiges
Begrüßungslied und ein kurdisches Abschiedslied umrahmten jede Projekt-
stunde.
Die Wiederholungen des Begrüßungs- und Abschiedsliedes und auch ande-
rer passend zum Erlebnisthema gewählter Lieder war für diese Zielgruppe
von besonderer Wichtigkeit, um neu erlernte Lieder zu festigen. Auch Spiel­
formen und Bewegungsgestaltungen wurden wiederholt. Einerseits konnten
die Kinder bereits Versuchtes und Erfahrenes wiederholen und weiterentwi-
ckeln, andererseits wurde somit auch die ganzheitliche Entwicklung der Kin-
der für die pädagogischen Fachkräfte sichtbar und erlebbar.
Das Singen in kindgerechter Stimmlage rief zunächst Befremdung hervor.
Im Kindergarten werde zwar viel gesungen, erzählte die Kita-Leiterin, doch
seien vor Ort viele der ErzieherInnen unsicher mit ihrer eigenen Stimme und
sängen in einer tiefen, für die Kinder ungesunden Lage.2 Erst nach Wochen
trauten sich die ersten Kinder, einige Bruchstücke mitzusingen.
2
Dieses Problem ist leider kein Einzelfall (vgl. Brünger, 2003, S. 116–123).

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Interkulturelles Singtandem: Umfassend singen und musizieren im Kindergarten 283

Um auch Kontakt mit einer anderen Herkunftskultur und deren Sprache zu


ermöglichen, erhielt das kurdische Abschiedslied eine exponierte Stellung.
Schnell identifizierten sich die Kinder mit diesem Lied und lernten einige Text-
teile. Auf vielfältige Art und Weise konnte im Laufe des Projektes spielerisch
und musikalisch mit dem Lied umgegangen werden, indem z. B. die von den
Kindern gespielten Begleitinstrumente und Begleitformen variiert wurden.
Deutlich war von Anfang an die Faszination für Musikinstrumente zu spü-
ren. Ganz vertiefen konnten sich dabei die Kinder in die Exploration. Es fehlte
in der Vergangenheit das nötige Instrumentarium in der Kita, sodass die Kin-
der vor dem Projekt kaum Möglichkeiten hatten, mit Instrumenten zu musizie-
ren. Erste Reaktionen auf Trommeln waren zunächst lautes, kräftiges, aber
auch wahlloses Spielen – der Enthusiasmus der Kinder war deutlich zu hören
und zu sehen. Nachdem diese Phase durchlebt war, konnten die Kinder Im-
pulse des Tandems aufgreifen. Dies führte zu musikalisch differenzierteren
Ergebnissen.

5. Chancen und Herausforderungen – Die Arbeit als Tandem

Die EMP-Studentin und der Oud-Musiker sollten die Musikstunden des Pro-
jektes als Tandem gestalten. Der pädagogische Impuls kam von der Studentin,
die auch die deutschsprachigen Lieder auswählte, der „orientalische“ musika-
lische Impuls vom Oud-Musiker. Trotz der klaren Aufgabenverteilung waren
zahlreiche Stunden der gemeinsamen Vorbereitung und des gegenseitigen
Kennenlernens notwendig, da beide Protagonisten eigene musikalische Vor-
stellungen in das Projekt mitbrachten.
Zudem war die Herangehensweise innerhalb des Tandems verschieden.
Während die Studentin in der Tradition der Verschriftlichung von Musik durch
Notentext steht, ist der Zugang zu Musik für den Oud-Musiker hauptsächlich
durchs Hören geprägt. Auch zeigte sich, dass die Musikwahrnehmung auf-
grund unterschiedlicher kultureller Prägung und musikalischer Vorerfahrun-
gen verschieden war. Beispielsweise wurde ein vom Oud-Musiker als ruhig
empfundenes Musikstück von allen anderen aufgrund der in orientalischer
Musik üblichen Verzierungen als bewegt und unruhig wahrgenommen.
Auch im praktischen Unterrichtsgeschehen musste sich das Tandem zu-
nächst finden. Die Herausforderung bestand darin, sich durch kurze, nonver-
bale Signale abzusprechen, um auf Impulse der Kinder reagieren zu können
und dadurch situative Arbeit zu ermöglichen. Je besser sich das Tandem non-
verbal verständigen konnte, desto einfacher wurde es, ohne eine Störung des
Spielflusses von der im Voraus geplanten Stunde abzuweichen.

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284 Nathalie Glinka

6. Fazit

In der Kita-Arbeit wurde deutlich, dass der Bedarf an musikalischen Projekten


enorm groß ist. So rückte im Laufe des Projektes die Musik an sich in den
Vordergrund, der interkulturelle Austausch war dabei für die Kinder und die
Kita zweitrangig.
Um diesen Aspekt zu verwirklichen, bedarf es nach Ansicht der Projektlei-
tung einer Verstetigung der Musikstunden durch das Tandem. Dies war jedoch
aufgrund zeitlich begrenzter Fördermittel leider nicht möglich.
Zusammenfassend kann man dennoch auf ein erfolgreiches Projekt zurück-
blicken. Es ist gelungen, viele Musikimpulse in die Kita zu tragen. Mit dem neu
angeschafften Instrumentarium wird immer noch regelmäßig musiziert. Die
Kinder erhalten die Möglichkeit, im sogenannten Freispiel mit den Musik­
instrumenten zu musizieren und auch außerhalb der von den ErzieherInnen
weitergeführten Musikstunden ins selbstständige Musizieren zu kommen.

Literatur
Brünger, P. (2003). Singen im Kindergarten. Eine Untersuchung unter bayerischen und niedersäch-
sischen Kindergartenfachkräften. Augsburg: Wißner.
Busch, V. & Lehmann-Wermser, A. (2018). Musikalische Lebenswelten und kulturelle Teil-
habe. In A. C. Lehmann & R. Kopiez (Hrsg.), Handbuch Musikpsychologie (S. 13–40). Bern:
Hogrefe.
Dartsch, M. (2010). Mensch, Musik und Bildung. Grundlagen einer Didaktik der musikalischen
Früherziehung. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel.
Gembris, H. & Hemming, J. (2005). Musikalische Präferenzen. In: T. Stoffer & R. Oerter
(Hrsg.), Spezielle Musikpsychologie (S. 279–342). Göttingen: Hogrefe.
Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (KM-BW) (2014). Orientie-
rungsplan für Bildung und Erziehung in baden-württembergischen Kindergärten und weiteren
Kindertageseinrichtungen. Freiburg: Verlag Herder.
Oberhaus, L. (2018). Künstler*innen in Kitas!? Zur musikalischen Ausbildungs- und Berufs-
situation von ErzieherInnen und transprofessioneller Zusammenarbeit mit Kunst- und
Kulturschaffenden. In T. Krettenauer, H. Schäfer-Lembeck & S. Zöllner-Dressler (Hrsg.),
Musiklehrer*innenbildung: Veränderungen und Kontexte. Beiträge der Kooperativen Tagung
2018 (S. 49–58). München: Allitera.
Oberhaus, L. & Nonte, S. (2016). Inklusion in der frühkindlichen musikalischen Bildung.
Kooperationspotenziale zwischen Erzieherinnen und musikpädagogischen Fachkräften
in der Kita. In J. Knigge & A. Nielsen (Hrsg.), Musikpädagogik und Erziehungswissenschaft
(S. 73–88). Münster: Waxmann.
Statistisches Bundesamt (Destatis) (2018). Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit
Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2017. https://www.destatis.de/DE/
Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Publikationen/
Downloads-Migration/migrationshintergrund-2010220177004.pdf?__blob=publication
File&v=4 [24.04.2019].

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Alexander Riedmüller

Kommunikation auf mehreren Ebenen


Ein praktischer Ansatz für den Gruppenunterricht in der Grundschule
durch Rhythmik (Musik und Bewegung)

Communication in Many Dimensions


A Practical Approach for Group Classes in Primary Schools through
Eurhythmics (Music and Movement)

Der vorliegende Praxisbericht behandelt die Methode der Rhythmik (Musik- und Bewe-
gungspädagogik) in ihrer Eigenschaft als auf einer vielschichtigen Kommunikation
aufbauendes Prinzip für den Gruppenunterricht unter besonderer Berücksichtigung
der Arbeit mit Kindern verschiedener Erstsprachen. Zunächst wird im Überblick auf
die Arbeitsweise eingegangen und ihre generellen Zielsetzungen beschrieben. Nach
einer kurzen Vorstellung verschiedener nonverbaler Aktionsformen werden beispiel-
haft zwei konkrete Aufgabenformate beschrieben, die vom Autor im Rahmen seiner
Arbeit an kulturell heterogenen Berliner Grundschulen erprobt wurden.

This practical experience report deals with the methods of Eurhythmics (Music and
Movement Education) in its quality as principle for the work with groups, that bases on
a way of communication with several layers, focussing especially on groups of non-
German native speakers. First there is given an overview of the method itself and its
general objectives. A short introduction of different non-verbal forms of interaction is
followed by a description of two specific examples of exercises, which have been tried out
in practice by the author himself in the context of his work in cultural heterogeneous
primary schools in Berlin.

Hintergründe

Musik, Bewegung und Sprache können in ihrer Kombination als Schlüssel zur
Verständigung über verschiedene Sprachgrenzen hinweg dienen. Durch den
gekonnten und flexiblen Einsatz dieser Mittel können Pfade der Verständigung
aufgetan und Kommunikationswege auf vielfältigen Ebenen – sowohl verbal-
kognitiv als auch nonverbal-sensorisch – geschaffen werden. In meiner lang-

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286 Alexander Riedmüller

jährigen Tätigkeit als Musik- und Bewegungspädagoge haben mich diese Pfade
immer wieder beschäftigt. Unter anderem waren sie ein wichtiges Thema in
meiner Arbeit an zwei Berliner Grundschulen, die allein durch ihre Lage in
den Stadtteilen Mitte und Wedding von einem kulturell sehr heterogenen
Umfeld geprägt sind. Parallel dazu führte ich als einer von zwei Dozent_innen
das Pilotprojekt „Musikalische Sprachförderung durch Rhythmik“ des Lan-
desmusikrats Berlin durch, welches im Jahr 2017 als Begleitung des Deutsch-
lernprozesses für Kinder unterschiedlicher Erstsprachen eingerichtet wurde.
Diese wurden dort in altersgemischten Sprachlernklassen, den sogenannten
Willkommensklassen, intensiv in Deutsch als Zweitsprache unterrichtet. Beide
Arbeitskontexte hatten gemeinsam, dass es für den Beziehungsaufbau zu den
Kindern für mich unerlässlich war, auf unterschiedliche Kommunikations-
wege zurückzugreifen, da die sprachliche Verständigung aufgrund fehlender
Kenntnisse einer gemeinsamen Sprache oft schnell an ihre Grenzen gelangte.
Dies galt teilweise ebenso für die Beziehungen der Kinder einer Klasse unter-
einander, die oft nur eingeschränkte verbale Möglichkeiten hatten, um sich
untereinander zu verständigen. Es waren also vornehmlich nonverbale Wege
der Kommunikation, die gefunden werden mussten, um überhaupt miteinan-
der in Dialog treten zu können. Dabei griff ich auf die künstlerisch-pädagogi-
sche Arbeitsweise der Rhythmik/Musik und Bewegungspädagogik zurück,
die sich in den beschriebenen Projekten als wirksamer praxisorientierter
Ansatz erwies. Um ein möglichst klares Bild meiner Arbeitsweise zu zeichnen,
werde ich im vorliegenden Bericht zunächst kurz auf verschiedene nonverbale
Interaktionsformen in einer Rhythmikstunde eingehen, danach methodische
Überlegungen zu ausgesuchten Aufgabenstellungen geben und abschließend
kurz über die sich daraus ergebenden Möglichkeiten reflektieren.

Die Gestaltung von nonverbaler Kommunikation im Unterricht


durch Musik und Bewegung

Nonverbale Kommunikation ist eine wichtige Voraussetzung dafür, um mit


anderen Menschen in Beziehung treten zu können. Ihre Entwicklung im Indi-
viduum beginnt bereits vor der Geburt und bestimmt auf verschiedensten
Sinneskanälen geschehend – sei dies taktil, visuell, olfaktorisch oder auditiv –
unsere Beziehung zu Anderen und den Dialog mit ihnen (vgl. Keating, 2016).
Durch die Arbeitsweise der Rhythmik können nonverbale Interaktionsformen
im Gruppenunterricht auf differenzierte Weise eingesetzt werden, um die
erforderlichen Dialogstrukturen zu schaffen, die durch verbale Verständigung
nicht möglich wären.

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 286 13.08.20 08:45


Kommunikation auf mehreren Ebenen 287

Als Methode konzentriert sich die Rhythmik neben der Erweiterung der musi-
kalischen und motorischen Fähigkeiten vor allem auch auf die kognitive, sozio-
affektive, kreative und sensorische Entwicklung des Menschen im Allgemeinen
(vgl. Danuser-Zogg, 2009; Stummer, 2009; Bankl, Mayr & Witoszynskyj, 2009;
Witoszynskyj, Schindler & Schneider, 2006). Um die Entwicklung in den genann-
ten Bereichen zu unterstützen, strebt Rhythmik eine Erweiterung der individuel-
len kommunikativen Möglichkeiten an, wobei der Fokus oft auf nonverbalen
Kommunikationsformen liegt. Zunächst soll durch Wahrnehmungsaufgaben die
Sensibilität der verschiedenen Körpersinne geschult werden, um damit die Ein-
drücke der Umwelt besser aufnehmen und einordnen zu können. Durch gestalte-
rische und improvisatorische Aufgaben sollen gleichzeitig die persönlichen Aus-
drucksmöglichkeiten sowie die Fähigkeit der spontanen Adaption an neue
Gegebenheiten erweitert werden. Die Arbeit in verschiedenen Sozialformen
stärkt dabei sowohl das Gruppengefühl als auch das Vertrauen in die eigenen
Möglichkeiten. Es soll gelernt werden, sich auf andere zu verlassen und Kompro-
misse in der Arbeit mit anderen zu finden, wobei auch die eigenen Leistungen
von anderen anerkannt werden. Bedenkt man, dass das Selbstvertrauen in die
eigenen Fähigkeiten eine wichtige Voraussetzung für die Kommunikation mit
Anderen ist, wird auch dessen Steigerung zu einem wichtigen Ziel. Dieses wird
neben der Erweiterung der kommunikativen Möglichkeiten, der Wahrnehmung
von Anderen sowie der Gesamtsituation und der Erweiterung des körperlichen
Ausdrucksrepertoires auch explizit im Kontext des Sprachhandelns in der
Grundschule eingefordert (vgl. Carls, Jacob & Pieler, 2006, S. 15–17).
Rhythmik bietet für das Erreichen dieser Zielsetzungen eine Fülle nonver-
baler Kommunikationsmöglichkeiten, die in der Kombination von Musik und
Bewegung in der Arbeit mit Gruppen zum Einsatz kommen. Sie unterstützen
die verbale Ebene in komplementärer Weise vor allem dort, wo die sprachliche
Verständigung herausfordernd ist. In diesem Kontext auftretende nonverbale
Interaktionsformen sind u. a.:
• der Einsatz von Gesten, ob mit den Händen oder dem ganzen Körper, und
die musikalische Reaktion der Teilnehmenden oder der Lehrperson dar-
auf;
• musikalische Floskeln mit Bedeutungen und deren Umsetzung in Bewe-
gung1;

1
Zum Beispiel das Spielen einer kurzen Melodie, die den Kindern durch vorige Stunden schon
bekannt ist bzw. erklärt wird und eine Aktion (z. B. „hinsetzen“) bedeutet, die dann nicht
mehr verbalisiert werden muss, sondern nur noch auf einem Instrument gespielt und von der
Gruppe umgesetzt werden kann..

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288 Alexander Riedmüller

• das In-Beziehung-Setzen der eigenen Bewegung zur Musik;


• die musikalische Bewegungsbegleitung mit der Stimme oder auf Instru-
menten;
• das Prinzip „Vormachen – Nachmachen“/ „Vorsingen – Nachsingen“/
„Vorspielen – Nachspielen“ / „Call and Response“;
• das Musizieren nach in der Stunde gestalteten Partituren oder graphi-
scher Notation;
• der Komplex von Aufgabenstellungen, die sich das Prinzip des „Füh-
rens – Sich-Führen-Lassens“ zunutze machen.
Die aufgezählten nonverbalen Interaktionsformen werden dabei außerdem in
verschiedenen Sozial- und Beziehungsformen ausgeführt, z. B. zwischen den
Teilnehmenden und der Lehrperson, zwischen den Teilnehmenden unterein-
ander oder zwischen einem bzw. einer der Teilnehmenden und dem Rest der
Gruppe. So entsteht eine große Vielfalt an Möglichkeiten, wie die verschiede-
nen Akteur_innen der Stunde (jede_r einzelne Teilnehmende und die Lehrper-
son) miteinander in eine dialogische Beziehung treten können. All die genann-
ten Prinzipien sind außerdem gute Beispiele dafür, wie eine Rhythmikstunde
anhand nonverbaler Interaktionsformen so gestaltet werden kann, dass Men-
schen mit unterschiedlichen Kenntnissen der Unterrichtssprache aktiv am
Geschehen teilnehmen und sich einbringen können.

Rhythmik in Berliner Grundschulen

Auf dieser Zielsetzung lag auch das Augenmerk bei meiner Arbeit in den dar-
gestellten Umgebungen an Berliner Schulen. Die einmal in der Woche stattfin-
denden Workshops bzw. Stunden wurden mit einer Gruppe von acht bis 14
Kindern durchgeführt. Bei Willkommensklassen besuchte die ganze Gruppe
die Workshops, bei Regelklassen die Hälfte der Kinder einer normal großen
Klasse der Schuleingangsphase (1. und 2. Klasse). Letztere besuchten zusätz-
lich zum normalen Unterricht meine Rhythmikstunden als Angebot innerhalb
der musikalischen Grundbildung. Diese wurde an den betreffenden Schulen
durch eine Kooperation mit einer öffentlichen Stadtteilmusikschule durch­
geführt. Das Pilotprojekt der „musikalischen Sprachförderung“ wurde von
April bis Juni 2017 realisiert. Die Kooperation mit der Musikschule bestand
über mehrere Schuljahre hinweg, von denen ich am Standort Berlin-Mitte im
Schuljahr 2016/17 und am Standort Berlin-Wedding von September 2016 bis
Februar 2018 arbeitete.
Im Folgenden sollen zwei konkrete Beispiele verdeutlichen, welche non­
verbalen Interaktionsformen ich in meiner Arbeit in Berliner Grundschulen

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Kommunikation auf mehreren Ebenen 289

einsetzte. Die vorgestellten Aufgabenstellungen wurden dabei sowohl im Zuge


des erwähnten Projekts des Landesmusikrats Berlin in altersheterogenen Will-
kommensklassen (sieben bis 13 Jahre) sowie in den ersten beiden Schuljahren
der Regelklassen in weitestgehend altershomogenen Gruppen eingesetzt.

Beispiel 1) Der eigene Name als Body Percussion

Beschreibung: Die Gruppe steht im Kreis. Die Lehrperson (LP) zeigt nonverbal
Möglichkeiten auf, wie der Körper mit Body Percussion zum Klingen gebracht
werden kann, und animiert die Teilnehmenden (TN) zum Mitmachen. Jede
Person soll nun die Anzahl der Silben des eigenen Vornamens in Body Percus-
sion „übersetzen“. Die LP beginnt auf diese Weise mit ihrem Namen und die
TN wiederholen dies geschlossen als Gruppe (unisono). Es soll darauf geachtet
werden, dass alle TN zuerst einmal zuhören und dann gemeinsam als Gruppe
einsetzen: „Eine_r. – Alle.“ Ist das Prinzip verstanden, soll die benachbarte
Person ihren Namen auf die gleiche Weise vertonen. Dies geht nun reihum, bis
alle TN ihren Vornamen in Body Percussion umgesetzt haben. In einer zweiten
Runde sollen die gleichen Perkussionen ohne das Nennen des Namens wieder-
holt werden. Das Prinzip „Eine_r. – Alle.“ bleibt dabei immer bestehen.2
Variationen: a) Es werden keine Namen genannt. Die LP spielt einen kurzen,
selbst erfundenen Rhythmus als Body Percussion vor. Die
Gruppe soll im Prinzip des „Call – Response“ darauf antworten.
Funktioniert dies gut, wird die Leitung an die nächste Person
abgegeben usw.
b) Wie a), jedoch werden nur zwei Klänge ausgewählt, Klatschen
und Stampfen. Die LP gibt einen kurzen Rhythmus vor, den sie
durch einen der Klänge umsetzt (z. B. Klatschen). Die TN sollen
nun mit dem gleichen Rhythmus antworten, jedoch den anderen
Klang nutzen (in diesem Fall: Stampfen).
c) Die nun beschriebene Spielstruktur eignet sich sehr gut, um
damit Begrüßungs-Sprüche oder -Lieder im Rondo zu kombinie-
ren. Der Refrain eines Spruchs/Liedes wird einmal von der gan-
zen Gruppe ausgeführt. Im Anschluss folgen drei bis fünf Teil-
nehmende mit ihren individuellen Perkussions-Floskeln (Namen
oder nicht) und jeweils im „Call – Response“-Prinzip die ganze

2
Hinweis zur Umsetzung: Es kann helfen, die Möglichkeiten für Körperklänge erst einmal
einzuschränken und bspw. nur mit Patschen auf den Oberschenkeln und Fingerschnipsen zu
arbeiten.

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290 Alexander Riedmüller

Gruppe. Danach wird wieder einmal der Refrain gesagt/gesun-


gen usw., solange bis alle einmal mit einer Perkussions-Floskel
an der Reihe waren.
Folgender Spruch kann dabei z. B. als Refrain dienen:

Hallo Leute

Notenbeispiel: „Hallo Leute“

Der Spruch wird im Sprechgesang gesagt und mit einer Body-


Percussion-Begleitung im „We will Rock you“-Stil (z. B. mit
Brustschlag, Brustschlag, Klatschen) begleitet. Nach einem Ref-
rain machen drei bis vier TN ihre Perkussions-Floskeln, die
Gruppe wiederholt im unisono, danach wird wieder der Refrain
durchgeführt usw.

Beispiel 2) Musikalische Bewegungsbegleitung

Beschreibung: Die Gruppe ist im Raum verteilt, die LP ist an einem Instrument
am Rand, z. B. am Klavier. Erklingt Musik, sollen sich die TN bewegen, stoppt
die Musik, soll auch die Bewegung stoppen. Dabei sollte darauf geachtet wer-
den, dass die TN beim Bewegungsstopp ihre Position mit der erforderlichen
Muskelspannung halten, um stabil zu stehen. (Das Vorstellungsbild der „Statue“
kann dabei helfen.) Die LP kann unterschiedliche Bewegungsarten (Laufen,
Gehen, Rückwärts gehen, Hopsa-Lauf, auf einem Bein hüpfen etc.) spielen, wobei
der Rhythmus der Musik immer an die körperlichen und motorischen Voraus-
setzungen der TN angepasst werden sollte. Z. B. haben jüngere Kinder kürzere
Beine und setzen beim Laufen die Füße schneller auf dem Boden auf als ältere/
größere Personen. Manche Bewegungen erklären sich durch Rhythmus und

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Kommunikation auf mehreren Ebenen 291

Melodie des Instrumentalspiels von selbst, andere müssen zwischen der LP und
den TN abgesprochen werden. Dabei können Bewegungen sowohl von der LP
vorbereitet und den TN vorgegeben werden, die LP kann aber auch spontan
Bewegungen der TN aufgreifen und diese am Instrument begleiten.3
Zwei Beispiele als Vorlagen für Improvisationen zum Laufen und Gehen
(vorwärts und rückwärts) für Klavier finden sich im folgenden Notenbeispiel:

Bewegungsbegleitungen

Notenbeispiel: „Bewegungsbegleitung Laufen und Gehen“

3
Hinweise zur Umsetzung: Bewegungen können im Prinzip auf jedem Instrument begleitet
werden. Als LP ist es ratsam, ein Instrument zu wählen, auf dem man sich die entsprechen-
den improvisatorischen Fähigkeiten zutraut, um den TN ein qualitativ angemessenes musi-
kalisches Erlebnis zu ermöglichen. Gleichzeitig ist es wichtig, die Parameter, die die Bewe-
gungen der TN vorgeben, auf dem Instrument so aufgreifen zu können, wie sie von der

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292 Alexander Riedmüller

Variationen:
a) Während des Musikstopps können von der LP Anweisungen
an die Gruppe gegeben werden, z. B.: „Mit der Nase an eine
Wand“, wobei die TN diese Aktionen ausführen sollen. Danach
wird wieder Musik gespielt und die TN bewegen sich weiter.
b) Während eines Stopps kann die LP ein Körperteil nennen,
mit dem sich die Teilnehmenden jeweils zu zweit berühren („zu-
sammenkleben“) sollen. Nun spielt die LP eine neue Begleitung,
die sich vom Charakter her gut von der vorherigen unterschei-
den lässt, zu der sich die Personen nun als „zusammengeklebte“
Paare durch den Raum bewegen sollen. Erklingt wieder die ur-
sprüngliche Begleitung, trennen sich die Paare und alle bewegen
sich allein weiter, bis zum nächsten Stopp und einer erneuten
Fusion mit einem anderen genannten Körperteil usw.
c) Es können Materialien/Objekte (z. B. Reifen oder Tücher) an
die TN verteilt werden, mit denen sie sich durch den Raum be-
wegen und unterschiedliche Möglichkeiten der Handhabung
ausprobieren sollen.4 Wer möchte, stellt seine Bewegung vor, die
LP begleitet diese Bewegungsfolge am Instrument und die ge-
samte Gruppe imitiert die vorgestellte Bewegung.
d) Sind den TN schon einige verschiedene Bewegungsarten
durch Wiederholungen aus vorherigen Stunden bekannt (z. B.
Gehen und Laufen), kann deren Rhythmus auf Instrumente
übertragen werden, die von den TN selbst gespielt werden kön-
nen (z. B. Congas). Nun kann eine Person am Instrument die
ganze Gruppe zur Bewegung und zum Stopp anleiten.

Gruppe in diesem Moment ausgeführt werden. Dabei ist das Prinzip eines Dialogs zwischen
Instrument (LP) und Bewegung (TN) wichtig, indem sich beide Seiten „zuhören“ (vgl. Kinski,
2016). Das Klavier ist dafür genauso geeignet wie Melodieinstrumente (z. B. Klarinette, Geige),
Perkussionsinstrumente (z. B. Handtrommel, Schlagwerk) oder die Stimme (z. B. Sprechge-
sang oder für diesen Zweck komponierte Lieder). Es kommt dabei mehr auf den gekonnten
und reflektierten Einsatz als auf die Art des gewählten Instruments an, wobei sich sowohl
durch dessen Klangfarbe und spieltechnische Möglichkeiten als auch durch die Art der Melo-
die- und/oder Rhythmusgestaltung jeweils andere Qualitäten in der Bewegung aufgreifen
bzw. initiieren lassen.
4
Hinweis zur Umsetzung: Das Material sollte auf pädagogisch sinnvolle Weise ausgewählt
(bewegungsanregend, interessant für die Zielgruppe, zweckdienlich für die geplanten Auf-
gaben) und sinnvoll in die Stunde eingeführt werden (bspw. durch eine Spielstruktur, in der
zunächst ein_e TN ein Objekt hat, danach zwei, danach mehr o.ä.; vgl. dazu Blankl et al.,
2009).

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Kommunikation auf mehreren Ebenen 293

Reflexion und Fazit

Im Vordergrund der oben dargestellten Aktivitäten steht das Erleben und


Gestalten von Musik, Bewegung und Sprache in ihrer Kombination miteinan-
der. Durch das Aufgreifen von Ideen einzelner Teilnehmender im Gruppen­
geschehen, die spontane und momentbezogene Adaption von Aufgabenstel-
lungen an die Bedürfnisse der Teilnehmenden und die Fähigkeiten Einzelner
sowie das Anpassen der gegebenen musikalischen Impulse an die Gruppe
durch die Lehrperson findet zwischen diesen Akteur_innen ein von der Lehr-
person intensionierter, wechselseitiger nonverbaler Dialog statt. Außerdem
werden durch diese Arbeitsweise Strukturen geschaffen, die nonverbale Inter-
aktionsformen zwischen den Teilnehmenden untereinander sowie der Teil-
nehmenden mit der Lehrperson während der Gestaltung dieser Aufgaben
ermöglichen. Die stetige Interaktion der Mittel Musik, Bewegung und Sprache
in Beziehung zueinander ist dabei das entscheidende Moment, das diese
besondere Art der Kommunikation in einer Rhythmikstunde erst möglich
macht.

Literatur
Bankl, I., Mayr, M. & Witoszynskyj, E. (2009). Lebendiges Lernen durch Musik, Bewegung, Spra-
che. Wien: G&G Verlagsgesellschaft.
Carls, G., Jacob, U. & Pieler, M. (2006). Bildung für Berlin. Sprachhandeln. Materialien zum
Sprachlernen. Senatsverwaltung Berlin (Hrsg.), http://www.foermig-berlin.de/materia-
lien/Handreichungen_Sprachhandeln.pdf [15.01.2020].
Danuser-Zogg, E. (2009). Musik und Bewegung. Struktur und Dynamik der Unterrichtsgestaltung
(2. Aufl.). Sankt Augustin: Academia.
Keating, C. F. (2016). The Developmental Arc of Nonverbal Communication: Capacity and
Consequence for Human Social Bonds. In D. Masumoto, H.C. Hwang und M. G. Frank
(Hrsg.), APA Handbook of Nonverbal Communication (S. 103–138). Washington DC: APA.
Kinski, V. (2016). Musik und Bewegung im Dialog. Über die Faszination, Bewegungsbeglei-
tung zu unterrichten. In A. Hauser & E. Witoszynskyj (Hrsg.), Leben ist Bewegung ist
Musik. Entwicklungen und Konzepte der Wiener Rhythmik an der Universität für Musik und
darstellende Kunst Wien (S. 112–122). Wiesbaden: Reichert.
Stummer, B. (2009). Rhythmisch-musikalische Erziehung. Bewegung erklingt – Musik bewegt.
Wien: Manz.
Witoszynskyj, E., Schindler, G. & Schneider, M. (2006). Erziehung durch Musik und Bewe-
gung – Grundlagen und Modelle für Kindergarten, Vorschule und Grundschule (3. Aufl.). Wien:
ÖBV.

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Marie-Louise Tralle

Bühne unter Strom


Musikpädagogische Adaption eines theaterpädagogischen Konzepts
zum Perspektivwechsel

Stage on Fire
A Concept for Changing Perspective by Method of Theatre Pedagogy
in Music Lessons

Der vorliegende Praxisbeitrag beschreibt und erläutert eine Methode, die mit der Adap-
tion theaterpädagogischer Mittel eine praktisch-kreative Auseinandersetzung mit
Musik bietet und so einen individuellen und emotionalen Zugang zu unbekannten
Klangwelten schafft. Das hier vorgestellte und in einer 9. Klasse einer Oberschule
(Haupt- und Realschule) durchgeführte Konzept soll deshalb für den Einsatz im
interkulturellen Musikunterricht diskutiert werden.

The modern musical lessons in school give teachers a new challenge: How can I create
the contact for pupils with unknown music? This article will explain a method which
gives the possibility to discover unknown music in a creative and practical way. It
describes and exemplifies a method from theatre pedagogy which offers the possibility to
get an individual and emotional approach to unknown sounds. It will also discuss the
method in context of intercultural music education. The article describes a workshop
which was hold in a 9th grade class (14 to 16 years) in a german Oberschule.1

Idee

Das Konzept wird am Beispiel der Ouvertüre zu Ludwig van Beethovens


Oper Fidelio vorgestellt, ist aber ebenso auf weitere Musiken aus verschiede-
nen Epochen, Genres oder Ländern übertragbar. Mithilfe des theaterpäda-
gogischen Ansatzes werden die Schülerinnen und Schüler selbst zur Musik
aktiv und kreativ, indem sie zunächst ihre Höreindrücke visualisieren,

1
The german Oberschule is comparable to High school. The age of pupils is from 10 to 16.

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296 Marie-Louise Tralle

­daraufhin Standbilder bauen und schließlich eine eigene Szene zur Musik
entwerfen. Dabei bildet die Musik den Ausgangspunkt für einen kreativen
Gestaltungsprozess.

Ablauf

Die Einheit beginnt mit einem Warm-Up, das darauf abzielt, die Wahrneh-
mung für sich selbst, die Gruppe und den Raum zu schärfen. Hierfür eignet
sich ein Raumlauf oder verschiedene Impulsübungen im Kreis. Im Anschluss
an die Wahrnehmungsübungen hören die Lernenden nun den Anfang der
Ouvertüre der Oper Fidelio (vgl. Philadelphia orchestra, Ricardo Muti2,
Anfang bis Min 1:02). Der Ausschnitt beinhaltet in kurzer Abfolge vier musi-
kalische Abschnitte, die sich auf Grund ihrer Prägnanz und jeweils unter-
schiedlicher Charakteristika zur szenischen Umsetzung eignen. Daraufhin
notieren die Teilnehmenden zunächst ihre ersten Assoziationen zur Musik in
einer Einzelarbeitsphase, wobei die Art und Weise der Darstellung (z. B.
Malen, Zeichnen, Schreiben) den Lernenden selbst überlassen ist. Da die
Schülerinnen und Schüler der Lerngruppe wenig Vorerfahrung in der Rezep-
tion klassischer Musik haben, wird die Aufgabe hier bewusst sehr offen
gestellt, um einen individuellen Zugang zu ermöglichen. Bisherige Erfahrun-
gen zeigen, dass es hierbei sinnvoll ist, den Ausschnitt mehrere Male abzu-
spielen, um den Teilnehmenden die Möglichkeit zu geben, den zunächst ggf.
ungewohnten Höreindruck zu verarbeiten und produktiv umzusetzen.
Anschließend werden die Ergebnisse für alle gut sichtbar ausgelegt. Die Ler-
nenden arbeiten nun in Partnerarbeit: Jedes Paar wählt eine Mitschrift als
Arbeitsgrundlage für die nun folgende Übung aus. Hierzu entwickeln die
Paare je vier Standbilder (ein Standbild pro musikalischem Abschnitt),
anhand derer die Assoziationen zur Musik deutlich werden sollen. Ob dabei
die Mitschrift als gemeinsame Diskussions- und Ideengrundlage genutzt
wird, bleibt den Schülerinnen und Schülern selbst überlassen. Die anschlie-
ßende Präsentation der Standbilder erfolgt nun zur Musik, wobei die Bilder
mit jedem neuen musikalischen Abschnitt wechseln. Als interessanter Kont-
rast bietet sich hierbei das parallele Präsentieren zweier Gruppen an. Für die
beobachtenden Mitschülerinnen und Mitschüler werden dadurch die jeweils
unterschiedlichen Verständnisse und Interpretationen der Musik sichtbar.
An dieser Stelle schließt eine Reflexionsphase an, um die Lernenden für

2
https://www.youtube.com/watch?v=JC_wGFGYkjs [27.11.2019].

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Bühne unter Strom 297

unterschiedliche Wahrnehmungen und Zugänge auf Basis derselben Musik


zu sensibilisieren. Im nächsten Schritt werden die Standbilder in Bewegun-
gen umgesetzt, also zu einer Szene zusammengefügt. Die Schülerinnen und
Schüler erfinden auf Basis ihrer Standbilder eine kleine Szene zu der gehörten
Musik. Die dabei entstandenen Szenen können entweder ausschließlich zur
Musik präsentiert oder mit sprachlichen Anteilen bereichert werden.
Mithilfe der Standbilder setzen sich die Lernenden ganzheitlich und hand-
lungsorientiert mit einer ihnen unbekannten Musik auseinander. Die praktisch-
kreative Auseinandersetzung ermöglicht individuell-bedeutsame Erfahrungen
mit Fokus auf assoziative Bilder anstelle von ausschließlich verbalen Beschrei-
bungen der Musik. So wird ein individueller, emotionaler Zugang zur Musik
geschaffen, der dabei hilft, einen persönlichen Wahrnehmungsprozess abzubil-
den. Auf dieser Grundlage kann dann in einer anschließenden Unterrichtsein-
heit ein Verstehensprozess durch analytische Aspekte, kulturelle Einordnungen
oder musikwissenschaftliche Reflexionen in Gang gesetzt werden.

Beobachtungen aus der Praxis

Das beschriebene Konzept wurde in einer 9. Klasse einer Oberschule (Haupt-


und Realschule) mit 21 Schülerinnen und Schülern im Alter von 14 bis 16 Jah-
ren durchgeführt und diente der Vorbereitung auf den Besuch einer Fidelio-
Vorstellung in der Oper. Die vorgestellte musiktheaterpädagogische Einheit
fand im Rahmen eines vierstündigen Workshops im schulischen Unterricht
statt und wurde von externen Akteuren durchgeführt (Musiktheater- und
Konzertpädagogin unterstützt durch Bundesfreiwilligendienstler). Regulärer
Musikunterricht ist im Stundenplan der Lerngruppe nicht vorgesehen, so dass
davon auszugehen ist, dass diese über kaum bis wenig Vorerfahrungen mit
Musiktheaterwerken des 18. Jahrhunderts verfügt.
Die Teilnehmenden reagierten zunächst durch Lachen und verbale Äuße-
rungen mit Ablehnung auf die ihnen unbekannte Musik. Jedoch führte die
aktive Einbindung der eigenen Assoziationen sowie die Gestaltungsfreiheit in
der Umsetzung dazu, dass die Lernenden dem musikalischen Gegenstand zu-
nehmend neugierig und explorativ begegneten. Es ist in dieser Lerngruppe
also mit Hilfe der praktischen Methode gelungen, einen Perspektivwechsel der
Teilnehmenden mit Blick auf die mit Vorurteilen behaftete klassische Musik-
welt zu erzielen. Ausgehend von einer zunächst ablehnenden Haltung gegen-
über der Musik entwickelten die Schülerinnen und Schüler eigene szenische
Bilder auf Grundlage dieser, wodurch die Aufmerksamkeit auf die durch die
Musik geweckten Bilder in ihnen gerichtet wird.

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298 Marie-Louise Tralle

Theaterpädagogik als Chance

Im Musikunterricht treffen Lernende und Lehrende mit ihrer musikalischen


Sozialisation und ihren multiplen und teilweise divergenten Vorlieben aufein-
ander, sodass sich eine hochkomplexe Ausgangssituation ergibt. Trotz der
zunehmenden Öffnung der Musiklehrendenausbildung in Richtung der Jazz-
und Popularmusik sind Musiklehrkräfte in der Regel noch immer klassisch
ausgebildet und fühlen sich in erster Linie in der abendländischen Kunstmusik
zu Hause (vgl. Jünger, 2004, S. 2). Diese ist den Schülerinnen und Schülern
heute jedoch mehr denn je fremd und stößt zum Leidwesen der kunstmusik­
affinen Musiklehrkräfte nicht selten auf offene Ablehnung.
An dieser Stelle greift das musikpädagogische Konzept Bühne unter Strom,
das mit Hilfe der Adaption theaterpädagogischer Methoden einen Perspektiv-
wechsel im Musikunterricht ermöglicht und die von der Bildungspolitik ge-
stellten Anforderungen an einen interkulturellen Musikunterricht berück-
sichtigt.3 Die Methoden aus der Theaterpädagogik bieten sich an, um diesen
Perspektivwechsel erfahrbar zu machen, denn die Theaterpädagogik hat „als
kulturvermittelndes Medium gleichermaßen die Aufgabe Menschen die ei-
gene Kultur näher zu bringen und außerdem neue Horizonte für andere Kul-
turen zu öffnen“ (Bauer, 2012, S. 5). Eben durch diesen veränderten Blick auf
die Dinge kann ein Perspektivwechsel, der von Alfred Holzbrecher für den
interkulturellen (Musik-)Unterricht geforderte „wertschätzende Umgang mit
Heterogenität“, eine „Selbstwirksamkeitserfahrung als Basis für den Umgang
mit Fremdheit“ und eine „Gestaltung der Kontaktgrenze zum Fremden und
zum Selbst“ (Ott, 2012, S. 131) gelingen. Außerdem kann der Musikunterricht
durch den Einsatz von (musik-)theaterpädagogischen Methoden zum „Erpro-
bungsfeld für Perspektivübernahme und für das Ausloten der eigenen Identi-
tät“ (Spinner, 2001, S. 5) werden.

3
Vgl. Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule, 2013, S. 4. Siehe Beschluss der Stän-
digen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland zur
Interkulturellen Bildung und Erziehung in der Schule. Laut dieser soll schulische Bildung „eigene
kulturgebundene Prägungen und Deutungsmuster sowie gegenseitige soziale Zuordnungen
und Stereotypisierungen reflektieren, Offenheit gegenüber Anderen und anderen Deutungs-
mustern entwickeln, Widersprüche zu eigenen Deutungsmustern in der Kommunikation mit
Anderen aushalten sowie soziokulturelle Entwicklungsprozesse aus mehreren Perspektiven
betrachten.“

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Bühne unter Strom 299

Ausblick

Die Methode eröffnet durch die Körperlichkeit der Standbilder weitere Lern-
zugänge. Dabei machen sich die Lernenden mit den Ausdrucksmöglichkeiten
ihres Körpers vertraut und erweitern somit ihr Repertoire an Ausdruckswei-
sen und damit einhergehend ihre ästhetische Kompetenz. In einem Standbild
verkörpern die Schülerinnen und Schüler etwas und müssen sich gleichzeitig
dazu verhalten. Dieser kreative Umgang mit der Differenzerfahrung ist eine
wichtige Erfahrung im Umgang mit dem Neuen, dem Fremden. Zudem bietet
die Methode die Möglichkeit, Dinge und Emotionen auszudrücken, die schwie-
rig in Worte zu fassen sind. Entsprechend eignet sich das Konzept ebenso gut
für den Einsatz in Lerngruppen mit Sprachbarrieren oder auch im Fremd­
sprachenunterricht.

Literatur
Bauer, M. (2012). Die Komplexität der Interkulturalität in der Theaterpädagogik. https://www.
theaterwerkstatt-heidelberg.de/wp-content/uploads/2016/09/TP12-1_AA_Bauer_Mir-
jam.pdf. [12.5.2019].
Jünger, H. (2003). Prinzipiell interkulturell!. http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/juenger/
download/juenger-2003-prinzipiell-interkulturell.pdf. [14.5.2019].
Ott, T. (2012). Konzeptionelle Überlegungen zum Interkulturellen Musikunterricht.
A. Niessen & A. Lehmann-Wermser (Hrsg.), Aspekte Interkultureller Musikpädagogik. Ein
Studienbuch (Musikpädagogik im Fokus, Bd. 2, S. 111–138). Augsburg: Wißner.
Spinner, K. (2001). Spielszenen im Deutschunterricht. Praxis Deutsch, 2001(166), 4–9.
Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland
(2013). Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule. https://www.kmk.org/filead-
min/veroeffentlichungen_beschluesse/1996/1996_10_25-Interkulturelle-Bildung.pdf
[16.11.2019].

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SYNOPSE

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Bernd Clausen

Historisch-chronologische Synopse:
USA et al. – DR, BRD
USA et al. multicultural, intercultural music education, diversity;
DR, BRD inter-, multi-, transkulturelle Musikpädagogik, -erziehung etc.

Nachfolgende Synopse ist ein Arbeitsmittel, das versucht, anhand der Publikationslage fachliche Strömun-
gen und Schwerpunkte im musikpädagogischen Fachdiskurs zu Inter-/Multi- und Transkulturalität sichtbar
zu machen. Es befindet sich in einer steten Erweiterung und Ergänzung; diese Version bildet den Stand
vom Oktober 2019 ab. Die hochgestellten Ziffern hinter einigen Referenzen verweisen auf die am Ende an-
gegebenen Untersuchungen, die zusätzlich zur Recherche der Einzelbeiträge für die angloamerikanischen
Debatten konsultiert wurden. Die mittlere Spalte erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern
dokumentiert eine subjektive Auswahl von (welt-)politischen Ereignissen oder zentraler Literatur aus ande-
ren Disziplinen, die etwaige Interdependenzen zur musikpädagogischen Diskussion herstellen könnten. Die
Literaturhinweise sind nicht vollständig angegeben, da diese Synopse versucht, Inhalte und Themen wieder-
zugeben und keine bibliografischen Daten. Lehrwerke werden mit einem [L], empirische Untersuchungen
oder Analysen mit einem [U] zu Beginn der jeweiligen Angabe gekennzeichnet; ausgegraute Textabschnitte
verdeutlichen affine Beiträge oder Ereignisse.

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD

Bayern:
1905

Gründung Verband bayerischer Schul-


musiker

Israel Zangwill:
1909

The melting pot. A drama in four acts

Robert Lachmann:
1910

Musik der außereuropäischen Völker

John Dewey:
1916

Nationalizing Education: “cultural


pluralism”

Satis Coleman: Creative Music USA: Kriegserklärung an das DR


“Coleman based her teaching on the Frans de Hovre: German and English
premise that Children should begin education. A comparative study: “Here,
1917

musical study by learning how diffe- then, we have already the central idea
rent sounds are obtained from various of German education which can be
instruments of the world.”1 formulated as follows: Kultur is the
heart of the German.“

MSNC Ende 1. Weltkrieg


“As early as 1918, the Music Supervi- DR: Weimarer Republik, Allgemeine
sors Journal (MSJ) carried the program Schulpflicht
listing for that year’s annual meeting USA: Woodrow Wilson: Fourteen
of the Music Supervisors National Points
Conference (MSNC), which included a
lecture-recital of folk songs presented
by Walter Bentley and an address by
Elizabeth Burchenal on ‘Folk Dancing’.”2

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304 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD

MSJ Fritz Jöde: Musik und Erziehung Karl Blessinger: Die musikalischen Prob-
[U] John W. Work: The Development of leme der Gegenwart und ihre Lösung: „Ver-
the Music of the Negro from the Folk Song söhnt werden müssen aber auch die
to the Art Song and Art Chorus künstlerischen Gegensätze. Aus der im-
mer schrofferen Herausarbeitung die-
ser Gegensätze sind ja die schwierigs-
ten Probleme entstanden; ihre Versöh-
nung bedingt die Lösung der Proble-
me. Es darf nicht mehr heißen ‚hie ab-
solute Musik, hie angewandte Musik‘,
nicht mehr ‚hie Musiker, hie Laien‘.
Die beiderseits bestehenden Vorurteile
müssen schwinden und gegenseitigem
Vertrauen Platz machen. [...] unsere
1919

herrliche klassische Musik wird vor-


läufig im Rahmen der neuen Organi-
sation nur einen ganz bescheidenen
Platz einnehmen können. Sie soll bei-
leibe nicht verdrängt werden; auf kei-
nen Fall darf sie verlorengehen. Aber
sie darf auch nicht mehr das gesamte
Musikleben allein beherrschen; der Le-
bende muß sein Recht erringen. Shake-
speare, Goethe und Schiller leben auf
unserem Theater weiter, und doch ist
im Spielplane des gesprochenen Dra-
mas der größte Raum den Lebenden
vorbehalten.“

[U] Davis Philip: Immigration and DR: Pflicht einer vierjährigen Grund-
1920

Americanization schule

Leo Frobenius: Paideuma. Umrisse einer I. Reichsschulmusikwoche (Berlin)


Kultur- und Seelenlehre Erich Moritz v. Hornbostel: Musikali-
scher Exotismus: „Noch einmal: Goethes
Diwan heißt und ist west-östlich, Gau-
gin malt Kanakerinnen und tahistische
Landschaft französisch, Mahler singt
über chinesische Gedichte hinweg das
Wiener Lied von der Erde. Aber der
1921

Spießbürger als Mamamouchi mit Fez,


bestickten Schnabelschuhen und Narqi-
leh in seinem echten türkischen Rauch-
zimmer ist nicht weniger lächerlich als
der Negerhäuptling mit Zylinder, Man-
schetten und Monokel.“
Fritz Jöde: Gründung der Musikanten-
gilde

MSNC Conference (Nashville) II. Reichsschulmusikwoche (Köln)


“performances by black musicians Beginn der Kestenberg-Reformen
from Pearl High School in Nashville
and the Fisk Jubilee Singers were inclu-
1922

ded in the program, as was an address


titled ‘Jazz in the Proper Light’ by Carl
Engel, chief of the Music Division of
the Library of Congress.”4

MSNC conference (Cincinnati) USA: Indian Citizienship Act: Nord- III. Reichsschulmusikwoche (Breslau)
“a lecture demonstration on ‘Folk Mu- amerikanische Ureinwohner auf dem
sic in the Philippine Islands’ was deli- Territorium der USA erhalten die
1924

vered.”1 US-amerikanische Staatsbürgerschaft


Carl Orff & Dorothee Günther: Eröff-
nung der Günther-Schule (München)

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 304 13.08.20 08:45


Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 305

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD

Wilhelm Doegen: Unter fremden Völ- IV. Reichsschulmusikwoche


1925

kern. Eine neue Völkerkunde (Hamburg)

V. Reichsschulmusikwoche
(Darmstadt)
Karl H. Rüdel: „Der heutige Stand des
Kretzschmarschen Reformwerkes und
die Schulmusik: Selbst den Jazz ent-
schuldigen leichtsinnige, angeblich ge-
recht sein wollende Beurteiler mit der
rhythmischen Bereicherung, die er un-
serer Kultur bringen könne! Aber sie
übersehen, oder sie wollen es nicht se-
hen, daß es sich bei ihm um Unkraut
handelt, das unsern Kulturboden ret-
tungslos verseuchen wird, wenn man
es weiter wuchern läßt. Nicht rhyth-
mische Bereicherung haben wir von
1926

ihm zu erwarten, sondern Zerstörung


des gesunden, unserer Kulturstufe ent-
sprechenden Verständnisses für die
Schönheit der melodischen Linie. Es gilt
einen Kampf aufzunehmen ‚mit einer
aus exotischen Urwäldern und orienta-
lischen Steppen herübergezerrten musi-
kalischen Unkultur, die den gesunden
der Jugend irreführt und verblendet, ihr
angeborenes oder sorgsam anerzogenes
deutsches Empfinden untergräbt und
unserem Volksbewußtsein immer grö-
ßeren, mit der Zeit unermeßlichen Scha-
den zufügt, wie Prof. Dr. Moissl (Wien)
einmal so treffend sagte.“

Osbourne McConathy: The Music Hour Karl Kiesel, Norddeutscher Lloyd VI. Reichsschulmusikwoche (Dresden)
“…gave increased attention to foreign et al. (Hrsg.): The study of music in Walter Kühn: Die Schallplatte im Dienste
music with songs from China, Fiji, Germany des Musikunterrichts. Bericht über einen
Hawaii, India, Japan, and the Vortrag von Prof. W. Doegen im Verein aka-
Philippines.”1 dem. geb. Musiklehrer Groß-Berlins: „Prof.
Doegen zeigte durch seine völkerkund-
lichen Platten, wie der Musikunterricht
in Querverbindung mit Erdkunde
bezw. Geschichte außerordentlich bele-
bend helfen kann. Für die musikge-
schichtliche Belehrung selbst können
im Sinne der vergleichenden Musikwis-
senschaft den Schülern primitive Stadi-
en musikalischer Entwicklung anschau-
1927

lich vors Gehör gebracht werden, so z.B.


die Heterophonie, der Arbeitsgesang
u.a. Stufen etwas höherer Musikaus-
übung, die aber immer noch als wirk-
liche Volkskunst erscheint, konnte man
an Platten schottischer und russischer
Sänger studieren.“
Südwestdeutsche Schulmusikwoche
in Verbindung mit der Leitung der Inter-
nationalen Ausstellung ‚Musik im Le-
ben der Völker‘ (Frankfurt). Dalcroze
und V. Rebmann waren als Gäste aus
den USA dort. Rebmann stellt das Pro-
gramm ‚Music for Every Child‘ vor.

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 305 13.08.20 08:45


306 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD

Siegfried Günther: Erziehung zur neuen


Musik: Zum Musikunterricht in der
Oberstufe: „Hier rundet sich die Erar-
beitung des gesamten Klangbildes.
Die neuen Elemente unserer heutigen
Kunst werden herausgestellt. Der Be-
griff der ‚Entwicklung‘ erscheint als
mehr formale Umdeutung der immer
gleichbleibenden inneren Grundtriebs-
kräfte. Vergleiche, Perspektiven erge-
1927

ben sich. Parallelen mit der Musik pri-


mitiver Völker, mit frühmittelalterli-
cher Tonkunst, mit Jazzmusik, sprin-
gen heraus. Lautapparat und Schall-
plattensammlung spielen bei solch
einem Unterricht der Oberstufe eine
wichtige Rolle.“
1. Kongress für Schulmusik
Bund deutscher Musikerzieher
(Berlin)

[U] Guy B. Johnson: Musical talent and VII. Reichsschulmusikwoche (Mün-


the Negro: “At any rate, singing has be- chen)
come one of the race‘s strongest points, Paul Mies: Die Schallplatte im Musik-
and this fact has no doubt been largely unterricht: „Eine chinesische Musik-
1928

responsible for the notion that the Neg- platte mit begleiteter Vokalmusik [...]
ro is naturally endowed with a supe- bei Gelegenheit der Besprechung der
rior talent for music.“ griechischen Musik.“
Heinrich Möller: Das ausländische Volks-
lied im deutschen Schulunterricht

International conference (Lausanne) DR: New Yorker Börsencrash (Great VIII. Reichsschulmusikwoche (Han-
“evoked considerable among American Depression) nover)
educators in methods of teaching music Paul Mies: Musikalische Eigentümlich-
1929

in other areas of the world.”1 keiten der Jazzmusik


Edgar Rabsch & Hans Burckhardt: Mu-
sik. Ein Unterrichtswerk für die Schule
(Teil 2)

Curt Sachs: Vergleichende Musikwissen- Regionale Tagungen


schaft in ihren Grundzügen (Königsberg, Saarbrücken)
Curt Sachs: 2000 Jahre Musik auf der
1930

Schallplatte. Mies (1930): „Eine für den


Schulbetrieb unentbehrliche Samm-
lung von 24 Aufnahmen mit Erläute-
rungen.“

Paul Mies: Die Musikerziehung in der


höheren Schule (in Bücken-Handbuch):
„Ebenso wie die Fächer Deutsch,
Geschichte, Kunstbetrachtung einmal
die Anfänge der Dichtkunst und der
bildenden Künste betrachten werden
und die Formen heute noch vorhan-
dener ‚primitiver‘ Kunststufen damit
in Verbindung setzen, wird auch der
Musikunterricht die entsprechenden
1931

musikalischen Erscheinungen bespre-


chen. (...) Ich beginne mit der Lektüre
des Lesestücks ‚Die ersten Anfänge der
Tonkunst‘ [Ambros, Geschichte der
Musik] (…) Dann wähle ich eine Reihe
primitiver Musikstücke aus. Ihrer ein-
fachen Struktur wegen eignen sie sich
gut als Musikdiktat.“

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 306 13.08.20 08:45


Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 307

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD

MSNC conference (Cleveland) (auch deutsche Musikpädagogen sind auf


1932

der MSNS nachweisbar)

DR: Hitler wird Reichskanzler


1933

Karl W. Gehrkens: Music in the Grade


Schools
1934

“encouraged teachers to sing songs


from other countries of the world.”1

Lilla Belle Pitts: Music Integration in DR: Ausschluss von Juden aus
the JHS Bildungsinstitutionen
“outlined detailed units for studying DR: Jazz-Verbot im deutschen
1935

the music of the American Indian, the Rundfunk


Arabs, and Asian peoples.”1 DR: Verabschiedung der
Nürnberger Rassengesetze

Osbourne McConathy: Music Highways Walter Diekermann: Musikpflege in der


and Byways völkischen Schule: „Der deutsche Erzie-
“contained sixteen units on music from her soll sich der heiligen Verpflichtung
different countries.”1 bewusst bleiben, Hüter eines rassischen
Erbes zu sein, das eingeschlossen ruht
in unserem Volks- und Kinderlied wie
Goldgeäder im Muttergestein.“
Wilhelm Tolle: Musik und Heimat: „Vom
Lied aus führt der Weg zur Würdigung
der durch Individualleistungen verkör-
perten Meisterwerke über die Beach-
tung ihrer rassischen, landschaftlichen
1936

und ständischen Bindungen.“


Peter Raabe: Kulturwille im deutschen
Musikleben. Kulturpolitische Reden und
Aufsätze: „Wer sich ernsthaft beschäftigt
mit dem, was der Führer lehrt, was er
verwirklicht sehen will, der findet in
seinen Reden auf Schritt und Tritt Aus-
sprüche, in denen auf das Eindring-
lichste gefordert wird, daß die Deut-
schen das zu pflegen haben, was sie
aneinander bindet und daß sie zu tilgen
haben, was sie trennt.“

Pillsbury Project DR: Westdeutsche Schulmusiktagung


(HfM Köln)
1937–

DR: Reichstagung für Musikerzieher an


Schulen und Lehrerhochschulen (Berlin)

Karl Landgrebe: Welche Anforderungen


stellen wir an den Musikunterricht der völ-
kischen Schule?: „Wir wollen in der Schu-
le keine andere Musik als die, die drau-
ßen in den politischen Organisationen
bei Festen und Feiern lebendig ist: Mu-
sik unseres Volkes, unseres Bekennens,
1938

unseres Glaubens, Volksmusik und die


Musik der großen Meister unseres Vol-
kes, auch die anderer Völker, wenn sie
von besonderer volkhafter Bindung ist;
denn wir werten die Musik heute nach
der musikkulturellen Struktur seines
Volkes.“

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 307 13.08.20 08:45


308 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


USA: State Department Div. of
1939

Cultural Relations & MENC


Beginn 2. Weltkrieg

Charles Seeger: ethnomusicology


“One of the immediate demands to de-
velop from the new interest in foreign
1940

cultures was for representative exam-


ples of music suitable for use in elemen-
tary and secondary school.”1

Inter-American Music Day Hermann Gericke: Vom Volkstumerleb-


MENC nis in Musik und Lied: „Über die Stel-
Music for Uniting the Americas lung, die wir als Aufnehmende zur
fremdvölkischen Musik einnehmen, gilt
im Grunde, was oben über die werk-
gerechte Wiedergabe gesagt wurde. Wer
sich fremdvölkischer Musik dauernd
hingibt, ohne zuvor eine Grundlage
durch die Musik unseres Volkes zu
schaffen, gefährdet eine naturbedingte
Formung seines Innern und erzeugt
1941

Kunstsnobismus. Grundlage einer welt-


umspannenden Musikbildung ist in
jedem Falle die Musik des eigenen
Volkes. Sie ist klingendes Volkstum.
Sie wäre nicht so, wie sie ist, wenn das
deutsche Volk nicht wäre, wie es ist und
war. Das muß besonders der fremd-
völkischen Welt, die deutsche Musik
hört, gesagt werden. Man kann nicht
Beethoven, Mozart, Wagner lieben und
das deutsche Volk, dessen Ausdruck sie
sind, hassen.“

[U] Mary E. Allen: A Comparative Study USA: Executive order 9066: In den
of Negro and White Children on Melodic USA lebende Japaner werden in
and Harmonic Sensitivity: “These conclu- Lagern interniert.
sions conform fairly consistently with
those reached by other experimenters
1942

who have tested Negroes and whites


with measures of musical talent. In the
greater number of studies, the whites
are found to rank superior to the Neg-
roes.“

DR: Jüdische Kinder dürfen Schulen


1943

nicht besuchen

MENC US Office of Education (Ambrose


American Songs for American Children Caliver): Education of Teachers for Im-
1944

proving Majority-Minority Relationships:


Course Offerings for Teachers to Learn
about Racial and National Minority Groups

Ende 2. Weltkrieg
1945

MENCS (Cleveland)
Mit Pan American Union: Gründung des
1946

Advisory Council on Music Education in


the Latin American Republics4

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 308 13.08.20 08:45


Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 309

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


“attention was directed to the contri- USA: McCarthy-Ära (bis 1956)
bution that musicology might make in BRD: Gründung VDS
providing teachers with information
on musics in other areas of the world.”1

Vanett Lawler (Pan American Union):


“We have observed that intercultural
relations may occur within a nation.
Here, for instance, in the United States,
in our great cities and in our large
1947

industrial areas are solid blocks of


minority groups, some of them from
the middle east, from eastern Europe,
from the Orient, etc. – groups which
have guarded their own traditions
and customs. Exchange between these
groups is intercultural.“4
Frank L. D’Andrea: World Education
and UNESCO.

BRD: Gründung der KMK


USA: Marshall-Plan
1948

Helen Liddell: Education in Occupied


Germany: A Field Study

International Music Council Gründung BRD, DDR; u.a. Festschrei-


“had the responsibility for keeping UN- bung des Asylrechts
1949

ESCO informed of the activities in the


field of music.” 1

UN: Verabschiedung der Genfer Flücht-


1951

lingskonvention

USA: Immigration and Nationality Act


1952

MENC: Music and International Under- auch deutsche Teilnehmer/-innen


standing
R. Hayes Strider: The Negro’s Contri-
bution to Music Education: “The Negro
has made a distinct contribution to the
many phases of the field of music in
1953

America. [...] It is because this type of


student is entering college that we see
– music education in Negro’s school be-
comes of age. It is possible now to see a
continuous program in music education
from the elementary school on through
the secondary grades and into college.“

ISME-Konferenzen: BRD: Gründung AfS; DMR auch deutsche Teilnehmer/-innen


Brüssel (1953), Salzburg (1953), Lindau,
Zürich (1955), Kopenhagen (1958)
“Some of the papers delivered […]
called attention to need for including
music from all areas of the world in bal-
anced school music programs.”1

“In the period from 1953 to 1969 the


1953–

principles that had guided pre-ISME


efforts, such as music as an internation-
al language, or the idealism of world
peace, unity, and friendship through
music, were gradually replaced by a
more universal view of music and more
precise guidelines for implementing
that view in music classrooms around
the world.”3

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 309 13.08.20 08:45


310 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


USA: Aufhebung der Rassentrennung
1954

in Schulen

ISME-Konferenz Lindau, Zürich USA: Beginn der Bürgerrechts-


1955

bewegung(en)
BRD: Anwerbeabkommen mit Italien

ISME-Konferenz (Kopenhagen)
“At several of these conferences,
1958

music from other areas of the world


was performed.” 1

Curt Sachs: Vergleichende Musikwissen-


schaft. Musik der Fremdkulturen (2.Aufl.)
Walter Wiora: Die geschichtliche Sonder-
stellung der abendländischen Musik: „Das
Geschichtsbild im üblichen Musik-
unterricht entspricht nicht mehr dem
Horizont der Gegenwart und bedarf der
Reform. Sowenig die deutsche Musik-
geschichte ohne europäischen Horizont
1959

verstanden werden kann, so wenig die


abendländische Musikgeschichte ohne
universalen Horizont. Ein entsprechen-
des Lehrbuch ist erforderlich. [...]. Mu-
sikerziehung ist Erziehung zur Musik,
nicht Anleitung zum Konsum möglichst
vieler Musiken. Mut zum Wenigen, aber
Wesentlichen ist eines der obersten Ge-
bote der Erziehung.“

BRD: Anwerbeabkommen mit Spanien, [L] Ilse Obrig: Bunt und froh ist unsere
1960

Griechenland Welt. Kinderspiele, Rätsel, Märchen und


Lieder aus ganz Europa

MENC Western Div. Meeting BRD: Anwerbeabkommen mit [L] Ilse Obrig: Überall ist Kinderland.
Intercultural communication Through der Türkei Kinderspiele aus aller Welt mit Alltag und
Music in the Pacific Areas Festen, Liedern und Geschichten
Gerald Abraham (ISME): Music in the
World of Today
“We occidentals recognize now that it
1961

was a comically narrow and provincial


view that our music was the only music
that mattered; today we at least realize
the validity and wealth of [other music
cultures].”3

ISME-Konferenz Wien

Trevor Joones: The Ethnomusicologist’s [L] Janheinz Jahn: Negro Spirituals


Role in Music Education: “That there are
serious disadvantages to overexposure
to Western culture alone cannot be
doubted in an age acutely aware, after
1962

two world wars, of the menace of na-


tional and racial prejudices and eagerly
utilizing the unprecedented benefits of
world-wide travel and communcation to
break down the ignorance and intoler-
ance such prejudices breed upon.“

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 310 13.08.20 08:45


Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 311

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


ISME-Konferenz (Tokyo) BRD: Anwerbeabkommen mit
“The climax of the East-West theme in Südkorea, Marokko
music education came in ISME’s 6th
International Conference in Toyko.
[…] Developed around the theme ‘The
Orient and the Occident in the world
of Music and Music Education’, papers
ranged from descriptions of Asian and
Pacific music to their inclusion in the
curriculum, and the role of music in
promoting mutual understanding of
1963

Western and Eastern music.”3


Egon Kraus: “The world of music be-
comes a reality when the musics of the
world are truly communicated and un-
derstood and appreciated by the world’s
people […] There is every evidence that
introduction of musics of the world can
be and should be encouraged in music
education programmes in school.”
Yale-Seminar

MENC (Philadelphia) USA: Civil Rights Act of 1964 [L] Janheinz Jahn: Blues und Work Songs.
Mantle Hood: Music Cultures of the BRD: Hamburger Abkommen Herausgegeben, übertragen und mit einem
World in the American Classroom (lec- BRD: Anwerbeabkommen mit Vorwort von Janheinz Jahn. Mit Melodie-
ture) Portugal orientierungen und einem Essay von Alfons
Claude V. Palisca: Music in Our Schools. Michael Dauer
A Search for Improvement. Report of the
Yale Seminar on Music Education: “It
would be a mistake to shy away from
1964

music that at first exposure seems ex-


otic. Experimental evidence has been
accumulated showing that, for example,
American elementary school pupils can
be taught Javanese and Balinese music
on imported native instruments with
ease and to the delight of the partici-
pants.“

Juillard Repertory Project


1964-

DDR: Gesetz über das einheitliche


sozialistische Bildungssystem
1965

USA: Immigration and Naturalization


Services Act
BRD: Anwerbeabkommen mit Tunesien

ISME-Konferenz (Interlochen US-MI)


The Contribution of Music Education to the
Understanding of Foreign Cultures Past
and Present
“In that speech, [Egon] Kraus argued
that a one-sided view of music from
either East or West was no longer appro-
priate, and that an open mind leads
1966

to a better understanding and know-


ledge. […] Kraus’s speech was a sign of
the changes in music education at the
end of the 1960s. Music educators had
begun to see with a multicultural per-
spective.”2

Paul Larson & William Anderson:


Sources for Teaching Non-Western Music

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312 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


Tanglewood Symposion UNESCO Kommission: Der Zugang Ju-
“music of all periods, styles, forms, and gendlicher zu den Zeugnissen außereuro-
cultures belong in the curriculum” päischer Kulturen
“In 1967, Egon Kraus challenged music - Siegfried Borris: „Das Fehlen eines
education to become multicultural in its solchen ‚musikpädagogischen Mat-
perspective. He left music educators erials’ aus dem orientalischen Klangbe-
with the goals of developing multicul- reich ist einer der Hauptgründe dafür,
tural attitudes and classroom methodo- warum die Einbeziehung in die all-
logies, integrating multicultural appro-
1967

gemeine Musikerziehung im heutigen


aches in other music courses, viewing Stadium noch fundamentale Schwierig-
textbooks and study materials for multi- keiten bereitet.“
cultural perspectives, providing source
materials, holding international semi- Peter Koch: Pädagogische Möglichkei-
nars, cooperating with UNESCO, and ten der Arbeit mit außereuropäischer
sharing multicultural music education und moderner europäischer Musik in
concerns with other countries. How der höheren Schule
far has the music education profession
come in meeting these goals?”2

Donald Berger: Ethnomusicology Past USA: Bilingual Education Act Kurt Reinhard: Einführung in die Musik-
and Present USA: Ermordung von Martin Luther ethnologie (Reihe: Beiträge zur Schul-
King musik)
1968

ISME-Konferenz (Dijon)
USA: Civil Rights Act
Elizabeth May & Mantle Hood: BRD: Anwerbeabkommen mit
Javanese Music for American Children Jugoslawien

MENC Western Div. Meeting


“Sessions were presented on the musics
of Oceania and Asia and their place in
school curricula.” 1
1969

John M. Eddins: Two Trends in Teaching


Music: The Comprehensive and the
Cross-Cultural

1st ISME International Seminar Paulo Freire: Pedagogy of the Oppressed: Siegfried Vogelsänger (1970): „Es müs-
(Stockholm) Demokratisierung und Humanisierung sen also zur Erhellung der musikali-
(sponsered by UNESCO) von Erziehung schen Umwelt neben exemplarischen
A World-Wide View on Music Education; Hans-Georg Noack: Rolltreppe abwärts Werken aus dem Bereich der ‚Kunst-
Music as a social process3 musik’ verschiedener Epochen und
ISME-Konferenz (Moskau) Stile in einem ‚aufsammelnden’ [...] und
“motion was passed by the General ‚orientierendem Unterricht’ [...] auch die
Assembly that ISME edit a Folk-Song Formen der ‚Umgangs- und Gesell-
Encyclopedia consisting of the best ori- schaftsmusik’ und die ‚Musik der
ginal, national folk-songs published Fremdkulturen’ Platz finden.
with a scientific commentary and with a Heinz Antholz: „Der dynamisch offe-
suggestion for performance eleborated ne Kulturbegriff greift aus in Zeit und
[sic] by outstanding composers” 3 Raum. Seine Toleranzspanne schließt
‚Fremdkulturen‘ nicht aus. Mit Musik-
kultur der Gegenwart – die Genitivbe-
1970

stimmung in unserer Zielformel steht


noch aus – wird also nicht ein punktu-
elles Heute und Hier eingegrenzt. Kul-
tur in ihrer Kontinuität und Offenheit
umschließt Tradition, Erneuerung und
Neuland.“ (125)
Alain Daniélou: Kultureller Völkermord
Rudolf Heinemann: Außereuropäische
Musik im Unterricht: „In diesem Be-
reich kann es sich angesichts der derzei-
tigen Verhältnisse zunächst nur darum
handeln, das bestehende Interesse der
Jugend an außereuropäischer Musik in
eine günstige Richtung zu orientieren,
das heißt: den Geschmack und das Ur-
teilsvermögen zu schulen.“

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Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 313

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


2nd ISME International Seminar Internationales Institut für verglei-
(Buenos Aires) chende Musikstudien (Berlin): Woche
(sponsered by UNESCO) außereuropäische Musik
Frank Callaway: “said that since ISME’s Manfred Junius: Raga und Tala
beginning in 1953, ’we have heard and (MuBi 10)
1971

studied the music of our different


countries ... and none of these activities
has ever been allowed to conflict with
our desire to see the distinctive cultural
heritage of different peoples preserved
authentically’”3

Charles Seeger: World Musics in Ameri- Intergovernmental Conference on Marius Schneider: Außereuropäische
can Schools: A Challenge to be Met Cultural Policies in Europe (UNESCO) Folklore und Kunstmusik. (Eine Beispiel-
ISME-Konferenz (Tunis) ISME Yearbook: “it is generally recog- sammlung zur Musikgeschichte)
Music and Society: Music Education in nized that culture is neither a luxury [L] Margarete Jehn & Wolfgang John:
Its Aesthetic and Social Context article nor a decoration, neither an eva- 48 Kinderlieder aus aller Welt
1972

Statement of musical diversity: “ISME sion nor an alibi, but an essential factor
recognizes all musical cultures, the Ori- of life. The right of everyone to have
ental as well as the Occidental, folk mu- access to culture implies duties on the
sics as well as art musics’” 3 part of States.”
Doris Diamant: Ausländische Arbeiter-
kinder in der deutschen Schule

John Blacking: How Musical is Man? 18. u. 19. Bundestagung des AK


Schulmusik
Siegmund Helms: Außereuropäische Mu-
sik im Unterricht: „Die wechselseitige Er-
hellung von außereuropäischer und mo-
1973

derner europäischer Musik kann den


Zugang zu beiden erleichtern.“
Internationales Institut für verglei-
chende Musikstudien (Berlin):
Woche außereuropäische Musik

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314 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


MENC (Anaheim) Asa G. Hilliard: Restructuring Teacher Bundesschulmusikwoche (München)
“This conference featured sessions Education for Multicultural Imperatives - Kurt-Erich Eicke: „Wer die These ak-
ranging from a demonstration by an Marvin Harris: Cows, Pigs, Wars & Wit- zeptiert, der Gegenstand des Musik-
African drum ensemble, to choral and ches: “I see no reason why the further unterrichts sei die volle Pluralität der
instrumental performance practices in indulgence of involuted, ethnocentric, Klangerscheinungen in ihrer Struktur, in
various parts of the world, to the impli- irrational, and subjective modes of con- ihrer Wirkung und in ihrer Gebundenheit
cation for music education dealing with sciousness should result in anything an Gesetzmäßigkeiten und Interdependen-
the ‘culturally different students’.”2 markedly different from what we have zen des Sozialfeldes Musikleben, der wird
always had: witches and messiahs.“ auch der außereuropäischen Musik
einen Platz in der Schule einzuräumen
bereit sein; denn in der Arbeit an Musik
fremder Kulturen erweitert der Jugend-
liche sein Perzeptionsvermögen und
entgeht der Gefahr der Vereinseitigung
seines musikalischen Urteils durch Fi-
xierung auf musikalische Stilphänome-
ne von historisch, soziologisch und geo-
graphisch begrenzter Relevanz. Er sollte
in der Beschäftigung mit außereuropäi-
scher Musik erfahren, daß Urteile über
Musik auf Konventionen beruhen, die
in den gesellschaftlichen Anlässsen der
Musikausübung begründet sind. Diese
1974

Erfahrung darf nicht nur verbal vermit-


telt sein. Sie muß vielmehr am klingen-
den Material selbst gewonnen werden.“
- Siegmund Helms: Stilmerkmale japa-
nischer Musik
- Kurt Suttner: Musik aus Madagaskar
[L] Ministerium für Volksbildung der
DDR: Aus unserer Heimat. Lesestoffe für
die Klassen 3 und 4 der zehnklassigen allge-
meinbildenden polytechnischen Oberschulen
im zweisprachigen Gebiet. Zur Geschich-
te, Kultur und Musik der Sorben.
[L] Siegmund Helms: Außereuropäische
Musik
„Nur 4 von 28 Universitäten und Tech-
nischen Hochschulen in der Bundes-
republik und in West-Berlin boten im
Wintersemester 1971/72 Vorlesungen
und Übungen über außereuropäische
Musik an. Das gleichzeitige Studium
der Schulmusik und Musikethnologie
ist nur in Berlin und Köln möglich.“

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 314 13.08.20 08:45


Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 315

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


USA: Indian Self Determination Act [U] Siegmund Helms: Über die Beurtei-
lung außereuropäischer Musik – Zwischen-
ergebnisse einer Schülerbefragung: „Aus
der Tatsache, daß das Interesse an au-
ßereuropäischer Musik breit gestreut ist
und weder die eifrigen noch die weniger
eifrigen Musikhörer, weder die Instru-
mentalisten und guten Musik-Schüler
noch Kinder einer bestimmten Schicht
einen Vorsprung bezüglich des Interes-
ses und ihrer Kenntnisse zeigen, folgere
ich, daß diese Musik in allen Schulen
die Chance hat, zu einer wesentlichen
1975

Bereicherung des Unterrichtsangebotes


beizutragen.“
[L] Siegmund Helms: Stilmerkmale ja-
panischer Musik. Unterrichtseinheit für die
Sekundarstufe I
[L] Reinhold Weyer: Außereuropäische
Musik im Musikunterricht der Primarstu-
fe: Grundsätzliche Überlegungen, aber
auch Unterrichtsbeispiele.
Eduard Pütz & Hugo Wolfram
Schmidt (Hrsg.): Musik international.
Informationen über Jazz, Pop, außereuro-
päische Musik

MENC (Atlanta) Carl Dahlhaus et al.: Memorandum über Siegmund Helms: Musikpädagogik und
“offered ways to incorporate African die Lage der Musikwissenschaft in der Bun- außereuropäische Musik
and Native Alaskan musics in the ele- desrepublik Deutschland: „Die Musikwis-
mentary classroom. Discussions of the senschaft stellt einen Teil der Inhalte und
problems and perspectives of multicul- Materialien bereit, die durch die Musik-
tural music education in higher educa- pädagogik – als eigene Forschungsdiszi-
tion were also part of the program.” 2 plin wie als Ausbildungsfach für Musik-
lehrer – vermittelt werden, und sie hat
1976

mit der Musikpädagogik methodische


Gemeinsamkeiten überall dort, wo bei-
de Fächer an anderen Disziplinen – An-
thropologie. Psychologie, Soziologie
– teilhaben. Nur zum eigenen Schaden
können Musikwissenschaft und Musik-
pädagogik ohne Kooperation auskom-
men.“

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316 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


Tagung der BFG Musikpädagogik
(Gießen)
- Kurt Reinhard: „Hier genügt es, die
von den Vergleichenden Musikwissen-
schaften erarbeiteten Ergebnisse zur
Kenntnis zu nehmen, sinnvoll für den
Musikunterricht aufzubereiten und er-
folgreich den Schülern zu vermitteln.“
- Josef Kuckertz: „Generell kann man
davon ausgehen, daß die Beschäftigung
mit der Musik außerhalb unseres eige-
nen Kulturkreises unsere Erfahrung wei-
tet [...] oder auch ein tieferes Verständ-
nis für die Eigenart unserer Traditionen
1977

[...] herbeiführen.“
- Jens Peter Reiche: Hamburger Modell
(Mp.+Mw.)
[U] Klaus Finkel: Untersuchungen zur
Rezeption europäischer und arabischer Mu-
sik im Rahmen der Betreuung jugendlicher
Ausländer
Rudolf Stephan: Musik fremder Kultu-
ren. 5 einführende Studien
[L] Wolfgang Schmidt-Köngernheim:
Musikzauber. Außereuropäische Musik als
Grundlage eines kulturanthropologischen
Zugangs zur Musik im Unterricht der Se-
kundarstufe I

MENC (Chicago) Kurt Reinhard: Zur Frage der Umsetzung


“It [Minority Concerns Commission] von musikethnologischen Kenntnissen in
changed to the Minority Awareness die Schulpraxis
Commission.” 2 Jens Peter Reiche: Vergleichende Musik-
1978

wissenschaft in der Musiklehrerausbildung


[L] Jürgen Libbert: Rund um den Globus.
Lieder und Tänze aus aller Welt für ein oder
zwei Gitarren für Unterricht und Vortrag

MENC Rudolf Schmitt: Kinder und Ausländer. [U] Klaus Finkel: Musik als Hilfe zur
“It [Minority Awareness Commission] Einstellungsänderung durch Rollenspiel – Kommunikation jugendlicher ausländischer
became the Multi-Cultural Commission eine empirische Untersuchung Arbeitnehmer mit gleichaltrigen Deutschen
[…] to reflect both the many musics Marius Schneider: Außereuropäische Klaus Finkel: Musik als Mittel zur Inte-
1979

found in the United States and around Folklore und Kunstmusik (a.d. Reihe Das gration im Primarbereich mit hohem Aus-
the world, and the committee’s role in Musikwerk. Eine Beispielsammlung länderanteil
the MENC.” 2 zur Musikgeschichte; 1959 ff.) Michael Jenne: Außereuropäische Musik
– Musikkulturen der Welt

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 316 13.08.20 08:45


Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 317

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


William M. Anderson: “Because of the US: Beginn des Projekts World Studies Beginn eines Modellversuchs (Probst
ethnic diversity in our country, schools 8–13 (Hicks 1990; Harwood 1995) bis 1991; Merkt 2013) bis 1983, in dem das
need to ensure that representative ex- 1989: “to help young people to develop the erste größere Konzept einer interkultu-
amples of a variety of music are in the knowledge and skills they need to live in an rellen Musikerziehung entwickelt wurde
curriculum. […] There are a number interdependent world.”
of highly sophisticated musics in the
world, and Western art music is just Rüdiger Schumacher & Josef Kuckertz:
one.” 2 Außereuropäische Musik in Einzeldarstel-
lungen
William Anderson et al.: Multicultural
Awareness: Teaching Musics of the World,
a Renewed Commitment
MENC Report Graduate Music Teacher
Education
1980

“The MENC recommendations for mi-


nimal requirements for a Master’s de-
gree now also included ‘Basic know-
ledge of musical literature, including
jazz, popular, ethnic, and non-Western
music; An acquaintance with instruc-
tional materials for multicultural needs;
Techniques for motivating and relating
to students of diverse cultures’.”2

ISME-Konferenz (Warschau)

National Culture – An Inspiration in


Music Education

NEA: Education in the 80s: Multiethnic NMZ (Februar/März)


Education:
Walter Gieseler: „Warum kann Musik-
“This book will help teachers in multi- ethnologie nicht einmal anders werden:
ethnic communities respondmore effec- nicht als Vorführung exotischer Musik
tively to the ethnic diversity within their in der Schule (wobei ‚exotisch’ das im-
classrooms and schools.” mer fremd Bleibende meint), sondern
als eine Möglichkeit, die Menschen, die
[U] Beverly Holmes Gartin: Intercultu- uns in der Bundesrepublik und zu gro-
ral Perspectives in Music Appreciation: A ßen Prozentsätzen in der Schule selbst
1981

Survey of Five-College Textbooks begegnen, besser kennenzulernen? Also


vor allem Türken, Griechen, Spanier
und Portugiesen, Ägypter und Tunesi-
er. Die Erkenntnis der Musikethnologie
hier einzusetzen, wäre lebendig, didak-
tisch sofort fruchtbar und zwanglos
machbar.“

[L] Josef Kuckertz: Musik aktuell, Musik


in Asien I, Indien und der vordere Orient

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 317 13.08.20 08:45


318 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


ISME-Konferenz (Bristol) Bodo Scheron: Integration von Gastarbei-
terkindern. Theoretische Grundlagen für ei-
Tradition and Change in Music and Music ne Neuorientierung von Schulorganisation
Education und Pädagogenausbildung für den (Deu-
Paul Channon (UK Minister of Arts): tsch-) Unterricht und für die außerschuli-
“The theme of tradition and change sche pädagogische Arbeit mit Gastarbeiter-
kindern
therefore is in part the balance between
allowing young people to develop an
international outlook, with access to the
world’s many varieties of music, while
preserving and strengthening their own
national or regional contribution to this
1982

variety.”

“For the first time in an ISME forum,


the term ’multicultural’ was used for-
mally in several papers and ’music edu-
cation in a multicultural society’ served
as a theme for special study sessions
that examined various multicultural so-
cieties, s o m e where differing cultural
traditions had long existed side by side
but with limited contact, and others
resulting from new immigrant popula-
tions.”3

Ricardo Trimillos: The sound of a bell: Jenne, Michael: Foreign Music in


Aesthetics and world music Education (IJME)

“For many years the institute [Vergl.


Mw., HUB] has sponsored an increas-
ing number of introductory lecture de-
monstrations and workshops with visit-
ing artists or ensembles in connection
with their public appearance […] These
demonstrations or workshops are most-
ly organized in high-schools, or for
high-school students, grades 8 to 12,
occasionally even for lower grades;
sometimes they have also been offered
publicly in youth or cultural centres.”

[U] Irmgard Merkt: Deutsch-türkische


Musikpädagogik in der Bundesrepublik
1983

Deutschland. Ein Situationsbericht.

„Die türkische Musik trägt als Teil der


Musikkultur des Vorderen Orients für
deutsche Kinder in besonderem Maße
den Charakter des Fremden und Un-
gewohnten. Die Musikpädagogik muß
sich deshalb der Frage von Gemein-
samkeiten und auch Unterschieden der
deutschen und türkischen Musikkultur
in besonderem Maße widmen.“

[L] Irmgard Merkt: Deutsche-türkische


Kinder, türkische-deutsche Lieder (Schall-
platte)

[L] Dorit Klebe: Türkische Volksmusik.


Informationen, Beispiele, Anregungen

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 318 13.08.20 08:45


Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 319

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


ISME-Konferenz (Oregon) [U] M. L. Schulten: Integration ausländi-
scher Kinder durch Musik: Eine Fragebo-
Music for a Small Planet gen-Studie Zu Präferenzen und Haltun-
Konferenz-Vorwort: “By honoring the gen von Schüler_innen und Lehrer_in-
nen an Musikschulen
1984

unique nature of local, regional and na-


tional differences, we can enrich life with Irmgard Merkt: Musik mit ausländischen
a truly global understanding of musi- Kindern: identifiziert drei Ansätze, (1)
cal culture for the 21st century’.”3 handlungsorientiert-assimilatorisch, (2)
ethnologisch, (3) integrativ-musikantisch

John Blacking: A False trail for the Arts? Günther Kleinen et al.: Musikunterricht
Multicultural Music Education and the Sekundarstufen. Folklore. „Die einzelnen
Denial of the Individual Creativity Regionen werden anhand der jeweili-
gen Funktionen der Musikfolklore für
die sie tragenden ethnischen und sozia-
len Gruppen, der Musiziergewohnhei-
ten, der Instrumente, einzelner Lied-
texte und Melodien, musikalischer Stil-
merkmale, der Interaktionen zwischen
Musikausführenden und Zuhörern usw.
beschrieben.“

- Irmgard Merkt: Musikunterricht mit


ausländischen Kindern
1985

- Günther Kleinen: Überblick über die


Musikfolklore ausgewählter Regionen mit
Musiziervorschlägen.

[U] Martin Geck: Musik im Ruhrgebiet.


Arbeitshefte für den Musikunterricht

Max Peter Baumann: Musik der Türken


in Deutschland

[L] Peter Ausländer & Eva Scholtes:


Klassischer Tanz aus Sri Lanka

[L] Helmut Schaffrath: Musik aktuell,


Musik in Asien II, Südost- und Ostasien

ISME-Konferenz (Innsbruck) [U] Hans-Ulrich Treichel & Ahmet


Kaya: Das Eigene und das Fremde. Türki-
- Wolfgang Roscher: Intercultural sche Musikkulturen in Berlin-Kreuzberg
Aspects of Polyaesthetic Education
[L] Volker Schütz: Rock meets Africa:
[U] Judith Becker: Is Western Art Music Jasper van’t Hof
1986

Superior?: “Western art music is neither


superior nor inferior to other musical
traditions. Musical systems are simply
incommensurable.“

Gert Hofstede: Cultural Differences in


Teaching and Learning

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320 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


Jack Dobbs (Hrsg.): International Music UN: 1987–1997. World Decade for Volker Schütz: Das Afrikanische in der
Education. ISME Yearbook Cultural Development Popmusik

- Erik Post: Saami Music and Music in UNESCO: “The Plan’s four objectives [L] Rolf Stoll: Musik in China
School: New Tasks for Indigenous People are: acknowledgment of the cultural di-
mensions of development, affirmation [L] Peter Zacher: Sing a song. Lieder der
and enrichment of cultural identities, Völker Nordamerikas. Eine Liedsammlung
broadening participation in culture, and für die Sekundarstufe
the promotion of international cultural
Ellen Hickmann: Musikethnologie in
co-operation.”3
der Schul- und Hochschulunterweisung:
1987

„Auch der Dozent wird sich, bezieht er


die Ausführungen auf sich, die Tatsache
bewußt machen, daß seinen Bemühun-
gen um Vermittlung des musikalischen
Fremdphänomens sehr enge Grenzen
gesetzt sind. Ob hier die Entwicklung
didaktischer Modelle im Sinne von Ver-
mittlungshilfen allein weiterhilft, ist
nach aller Erfahrung zu bezweifeln.“
(286)

ISME-Konferenz (Canberra)

A World View on Music Education

Satzungsänderung: “The world-wide


homogenization of music is leading to
a loss of identity, especially among mi-
norities. The duty of ISME as a world or-
ganization is to encourage all nations to
appreciate their own national heritage,
which would serve as a filter for over-
whelming influences from outside.”

- Paul R. Lehman: A Music Education


View of the World

- June B. Tillman: Some Reflections on the


Collection and Use of Intercultural Material
for British Education

- Tsuneo Nakajima: Acceptance of Wes-


tern Music in Japan: Contents of Teaching
1988

in the Music Education in Schools

- Pieter Roos: Traditional Namibian Songs


for School: A Research Project

- Ricardo D. Trimillos: Halau, Hochschu-


le, Maystro and Ryu. Cultural Approaches
to Music Learning

Patricia Shehan: World Musics: Windows


to Cross-Cultural Understanding

René Boyer-White: Reflecting Cultural


in the Music: “For too long music ed-
ucators in university programs have
ignored ethnic differences: They have
treated such differences as negative
characteristics and thereby have unin-
tentionally promoted bigotry and racial
stereotypes. Unfortunately, few music
education programs have recognized
either the commonalities or differences
in American society that are positive.“

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 320 13.08.20 08:45


Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 321

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


MENC [L] Karl Adamek et al. (Hrsg.):
Rüzgargülü – Windrose. Deutsch-
Multicultural Perspectives in Music türkisches Liederbuch
Education

David J. Elliot: Key Concepts in Multi-


cultural Music Education

David G. Klocko: Multicultural Music


in the College Curriculum: “Some people
recommend adding required courses or
electives to current music curricula to
1989

accommodate these expanded areas of


study. […] If we consider the extensive
requirements for music degrees and the
limited number of credit hours available
for history and literature courses, it be-
comes apparent that adding required
courses would not be feasible. Nor
should the additional areas of study be
covered only in elective courses; often
students only have time to take what is
required.“

ISME-Konferenz (Helsinki) BRD+DDR: Wiedervereinigung [U] Wolfgang Meyberg: Afrikanisches


Trommeln. Aspekte einer körperorientier-
Music Education: Facing the Future ten Musikpädagogik
David J. Elliot: Music as Culture: Toward Andreas Lüderwald: ‚Laszive Lieder‘,
a Multicultural Concept of Arts Education: ‚Kunst des Kontrapunkts‘ und ‚Negermu-
“As a descriptive term, ‚multicultural‘ sik‘. Vom Umgang mit fremder Musik
refers to the coexistence of unlike groups
1990

in a common social system. In this sense,


multicultural means ‚culturally diverse‘.
But the term is also used in an evalua-
tive sense: it connotes as social ideal; a
policy of support for exchange among
different groups of people to enrich all
while respecting and preserving the in-
tegry of each.“

William Anderson: Teaching music with [L] Ulla Schnellen & Irmgard Merkt:
a multicultural approach Die Welt dreht sich. Ein interkulturelles
Liederbuch (Neuauflage 2001)
Patricia S. Campbell: Lessons from the
world. A cross-cultural guide to music
1991

teaching and learning

[U] Terese Volk: Attitudes of Instrumen-


tal Music Teachers Toward Multicultural
Music in the Instrumental Program

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 321 13.08.20 08:45


322 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


ISME-Konferenz (Seoul) [U] Rainer Eckhardt: Bella Bella Bimba.
Ausländische Lieder in westdeutschen Un-
Sharing Musics of the World terrichtswerken für den Musikunterricht
der Orientierungsstufe: „Die Untersu-
Heath Lees (Hrsg.): Music education: chung der Repräsentation und Präsen-
sharing musics of the world. Proceedings tation ausländischer Lieder erbringt,
of the 20th World Conference of the Interna- daß den Herkunftskulturen der in der
tional Society for Music Education held in Bundesrepublik lebenden Ausländerin-
Seoul, Korea: Peter Dunbar-Hall: Towards nen und Ausländer nur wenig Rech-
a definition of multiculturalism in music nung getragen wird. Bekanntes wird
education Unbekanntem vorgezogen, die Aus-
wahlkriterien werden weder mitgeteilt,
Anthony Palmer: World Music in Music noch lassen sie sich aus den die Lieder
Education: The Matter of Authenticity: begleitenden Informationen erschließen.
“We err educationally and psycholog-
1992

Denkbar ist, daß die persönlichen Vor-


ically when we utilize methodologies lieben der Schulbuchautoren die Refle-
that include gross simplifications of xion der Liedauswahl und die Rück-
music for pedagogical reasons and sichtnahme auf die demographische
leave that ultimate fulfilment for some- Realität überlagert haben.“
one else to complete at a later time. Us-
ing the returned Orff instruments as an Hans Bäßler: Ausländerfeindlichkeit und
example, it cannot simply be our hope Asyl. Modelle für den Musikunterricht
that one day our students may encoun-
ter Gamelan.” [L] Volker Schütz: Musik in Schwarz-
afrika
Dale A. Olsen: World music and ethno-
musicology—understanding the differences

Bruno Nettl: Ethnomusicology and the


Teaching of World Music

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 322 13.08.20 08:45


Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 323

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


Rosita M. Sands: Multicultural Music Das World Wide Web wird freigege- [L] Freia Hoffmann: Interkultureller Mu-
Teacher Education: “I believe that music ben. sikunterricht, Musik und Unterricht, 22
education cannot be truly multicultural
unless the musics of various cultures are BRD: Neuregelung des Asylrechts Staatsinstitut für Schulpädagogik und
included in all the courses that make up durch Grundgesetzänderung Bildungsforschung (München): Musik
the core or basic structure of the music als Weg zum Unbewussten, außereuropäi-
curriculum.“ sche Musik

Patricia S. Campbell: Music Instruction:


Marked and Molded by Multiculturalism

Carrol Gonzo: Multicultural Issues in


Music Education: “The ambitious claims
for multicultural education are, at best,
a utopian dream deserving all the imag-
ination and creative powers necessary
for finding realistic solutions. As this
movement evolves, music educators
(as with all educational movements)
should seriously question any attempts
to replace or diminish the role and defi-
1993

nition of music as a subject in the curric-


ulum. Similary, they should move with
caution when attempting to translate
multicultural rhetoric into curricular
reality and action.“

Bennett Reimer: Music Education in


Our Multimusical Culture: “The term
‘multimusical culture’ describes what
actually exists in modern America more
accurately than the more common term
‘multicultural music‘. The term multi-
cultural music‚ glosses over the fact that
there exists an identifiable American
culture, rooted in Western traditions yet
enhanced by all the many world tradi-
tions that give the particular flavor and
distinctiveness to this nation. We are
a culture – a very special culture with
identifiable characteristics. We have
many musics within our culture – we
are a multimusical culture.“

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 323 13.08.20 08:45


324 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


ISME-Konferenz (Tampa) BRD: Gesetz zur Ausgestaltung der Rechte [U] Irmgard Sollinger: „Da lass’ dich
der Sorben (Wenden) im Land Brandenburg nicht ruhig nieder!”. Rassismus und Euro-
Musical Connections: Tradition and zentrismus in Musikbüchern der Sekundar-
Change Wolfgang Welsch: Transkulturalität stufe I
Declaration of Beliefs for Worldwide
Promotion of Music Education: “that all
learners should have the opportunity to G. Kleinen: Die Er-hu und andere chine-
study and participate in the music(s) of sische Erfahrungen: Ein „Reisebericht“,
their own culture(s) and the other cul- in dem Kleinen aber auch über die his-
tures of their own nations, and of the torische Gliederung der deutschen Mu-
world […] sikpädagogik (im Rahmen seiner Lehr-
tätigkeit in China) ebenso reflektiert wie
[…] in the validity of all musics of the über das Eigene und das Fremde und
world, and respects the value given to die interkulturelle Situation als solcher.
each particular music by the communi- Er schließt mit drei Hypothesen.
ty that owns it. The Society believes that
the richness and diversity of the musics
of the world is a cause for celebration,
and an opportunity for intercultural
learning for the improvement of inter-
national understanding, cooperation
and peace.“

Anthony Palmer: On Cross-Cultural Mu-


sic Education: “As music teacher educa-
tors, we can help our students and our-
selves to develop the following qualities:

• empathy for a wide variety of


ethnic values
• open-mindedness toward other
1994

musical systems
• musical inquisitiveness
• a macro view of humanity
• the willingness to become at
least bimusical
• the willingness to become at
least bicultural“

Hookey: Culturally Responsive Music


Education

Patricia S. Campbell: Multiculturalism


and the Raising of Music Teachers for the
Twenty-First Century

[U] Victor C. Fung: Undergraduate Non-


music Majors’ World Music Preference
and Multicultural Attitudes: “The signifi-
cant correlation between world music
preference and multicultural attitudes
supports the view that social/cultural
attitudes play a role in world music pref-
erence. […] World music preference,
however, had no significant correlation
with the style identification score or the
subject’s age. This suggests that the pref-
erence for and identification of world
musical styles may be rather discrete.”

Patricia S. Campbell: Musica Exotica,


Multiculturalism, and School Music

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 324 13.08.20 08:45


Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 325

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD

Andrea Rose: A Place for Indigenous Mu- Hella Brock: Edvard Grieg im Musikunter-
sic in Formal Music Education: “Under- richt. Betrachtungen unter interkulturellen
standing that music education is part of und polyästhetischen Aspekten
a complex social and cultural world is Ernst Klaus Schneider: Vom Umgang
a starting point in viewing it as a vital mit dem Fremden. Treffpunkte außereuro-
force in the reproduction and produc- päischer und europäischer Musik.
tion of our individual and collective
1995

histories and cultures.” [U] Irmgard Sollinger: Der Neger trifft


auf die europäische Musikkultur. Afrikani-
[L] Nick Page: Sing and Shine On! The sche Menschen und ihre Musik in Musik-
Teacher’s Guide to Multicultural Song lehrbüchern der Sekundarstufe 1 und 2
Leading

[U] Victor Fung: Rationales for Teaching


World Musics

Julia Eklund Koza: Multicultural ap- Volker Schütz: Schwierigkeiten bei der
proaches to music education Verständigung über Musik in Zeiten der
Transkulturalität; Über das außergewöhn-
[U] Ruth Klinger: From Glockenspiel to liche Interesse von Musikpädagogen an
Mbira: An Ethnography of Multicultural schwarzafrikanischer Musikkultur
Practice in Music Education (1996)
Reinhard Böhle: Aspekte und Formen
Patricia S. Campbell: Music in Cultural Interkultureller Musikerziehung
Context. Eight Views on World Music Edu-
cation Karin Pilnitz: Zwischen Tradition und
Integration. Die Musikwelt ausländischer
[U] Victor C. Fung: Musicians’ and non- Schüler
musicians’ preferences for world musics: Re-
lation to musical characteristics and famil- [L] Johannes Holzmeister & Georg
iarity Holzmeister (Hrsg.): Weit übers Land. Eine
Fundgrube europäischer, außereuropäischer
[U] Li Chen Chin: Multicultural Music in und neuer Kinder-, Spaß-, Tier-, Tages- und
Higher Education: A Description of Course Jahreszeiten-, Tanz- und Liebeslieder in 140
Offerings Übertragungen und 88 Originaltexten.
Robert Walker: Music education freed
from colonialism: A new praxis: “Can we
justify teaching western music as an au-
1996

tonomous sonic object (the 19th century


belief associated with the German Aes-
thetic) removed from its socio-cultural
context, yet at the same time teaching
differently, as socio-cultural phenome-
na, the activities we think are nearest to
our western concept of music found in
other cultures? No! I would answer. We
should recognize them all as socio-cul-
tural acoustic phenomena even if it
means placing 19th century beliefs into
the pluralists’ bag, despite the historical
belief in universal properties.“ (siehe
Swanwick, 1996 und Walkers Antwort)

Jonathan P.J. Stock: Concepts of world mu-


sic and their integration within western se-
condary music education. International Jour-
nal of Music Education

[U] Kay L. Edwards: Multicultural Music


Instruction in the Elementary School: What
Can Be Achieved?

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 325 13.08.20 08:45


326 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


[U] Marie McCarthy: The role of ISME in BRD: KMK beschließt länderübergrei- Volker Schütz: Interkulturelle Musik-
the promotion of multicultural music educa- fende Bildungsstandards erziehung. Vom Umgang mit dem Fremden
tion, 1953–96: “From the foregoing expo- als Weg zum Eigenen
sition, it is clear that issues of multicul- Das Mobiltelefon wird populär.
tural and world music education have Musik und Bildung: Von fremden Län-
dominated discourse within ISME since dern und Menschen (Heft 5/1997)
its establishment in 1953. The particular [L] Ernst Schneider: Vom Umgang mit
focus and direction of that discourse dem Fremden. Treffpunkte außereuropäi-
were determined in large part by UN- scher und europäischer Musik
ESCO’s goals and ideals, from its effort
to improve East-West relations in the [L] Famoudou Konaté & Thomas Ott:
1950s and 60s, to its emphasis on nation- Rhythmen und Lieder aus Guinea
al and traditional cultures in the 1970s,
and its World Decade of Cultural De-
velopment starting in 1987. These var-
ious directions were themselves influ-
enced by the increasing ethnic diver-
sity of populations due to large scale
1997

immigration, post-colonialism, the de-


mocratization of culture, the dominance
of mass media, and the need for educa-
tion in world citizenship as well as in
national citizenship. Each phase of de-
velopment is characterized by its own
themes; yet there are many ideas and is-
sues that were developed and reiterated
in ISME forums throughout the entire
period. Thus their developed state now
in 1996, as evident in the recent Policy
Statement, signifies the role of ISME in
promoting multicultural music educa-
tion.“

[U] Judith Teicher: Effect of Multicultur-


al Music Experience on Preservice Elemen-
tary Teachers‘ Attitudes

Terese Volk: Music, education, and mul- BRD: Fall Mehmet: Die Thematik Aus- Volker Schütz: Transkulturelle Musik-
ticulturalism. Foundations and principles länderkriminalität taucht zum ersten erziehung
Mal prominent auf; Wirkungen bis
Barbara R. Lundquist et al.: Musics heute spürbar, auch im Fall Mehmet. Wilfried Gruhn: Musik anderer Kulturen
of the world’s cultures. A source book for
music educators [L] Bernd Clausen: Der ferne Ruf der
Hirsche
[U] Kay L. Edwards: Multicultural Mu-
sic Instruction in the Elementary School: [L] Musik und Unterricht: Musik ande-
What Can Be Achieved? rer Kulturen (Heft 50)
1998

Christopher Wallbaum: Musik, Musik,


ISME-Konferenz (Pretoria) Musik, Schwierigkeiten mit der Integration
einiger Beschreibungen von musikalischer
Ubuntu – music education for a humane Erfahrung: bezieht sich in seinen Ausfüh-
society. Proceedings of the 23rd world con- rungen u.a. auf Schütz und Kulturver-
ference of the International Society for ständnis.
Music Education
Thomas Ott: Unsere fremde Musik. Zur
Erfahrung des „Anderen“ im Musikunter-
richt

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 326 13.08.20 08:45


Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 327

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


Börje Stalhammar: Music Is More: A EU: Studienreform (Bologna-Prozess) Tagung GMP (Köln)
Broader Concept of Music From A Swedish
Perspective. Unterscheidet zwischen kul- BRD: Gesetz über die Rechte der Sorben Musikpädagogik zwischen Regionalisie-
tureller Konsonanz und Dissonanz. im Freistaat Sachsen (Sächsisches Sorben- rung, Europäisierung und Globalisierung
gesetz – SächsSorbG)
Heidi Westerlund: Universalism Against [U] Susanne Schedtler: Das Eigene in
der Fremde. Einwanderer-Musikkulturen
1999

Contextual Thinking in Multicultural Mu-


sic Education – Western Colonialism or plu- in Hamburg
ralism? [L] Bernd Clausen: weinen – einstürzen
[U] Katherine Norman: Music Faculty – lange Mauer. Außereuropäische Musik in
Perceptions of Multicultural Music Edu- der Schule – zwei Beispiele
cation

Peter Dunbar-Hall: Concept or context? World Education Forum (Dakar) Wolfgang Martin Stroh: eine-welt-mu-
Teaching and learning Balinese gamelan sik lehre
and the universalist-pluralist debate (UNESCO)
„Fazit: Die Musik unserer ‚ausländi-
The Dakar Framework for Action schen MitbürgerInnen‘ ist im herrschen-
den Musikbetrieb zwar vorhanden, aber
Goal 1: Expand early childhood care vollkommen ghettoisiert. Die traditio-
and education nellen Institutionen wie Musikschulen
Goal 2: Provide free and compulsory oder Hochschulen sind weit davon ent-
primary education for all fernt, einen Beitrag zum Leitbild einer
multikulturellen musikalischen Identi-
Goal 3: Promote learning and life skills
tät zu leisten.“
for young people and adults
2000

Goal 4: Increase adult literacy Rainer Schmitt: Interkultureller Musik-


by 50 percent unterricht – eine Schimäre?
Goal 5: Achieve gender parity by 2005,
gender equality by 2015 Reinhard Schneider: Musikpädagogik
zwischen Globalisierung und Regionali-
Goal 6: Improve the quality of education sierung
(Entwicklung d. Eduation for all Devel- [L] Hartmut E. Höfele: In 80 Tagen um
opment Index) die Welt. Kinderlieder und Tänze aus aller
Welt
BRD: Änderung des Staatsangehörig-
keitsgesetzes (Optionsmodell)

BRD: Pisa-Schock Irmgard Merkt: Musikerziehung inter-


kulturell. Zu Zielen, Prinzipien, Inhalten
BRD: Zuwanderung gestalten – Integra- und Projekten des interkulturellen Musik-
tion fördern; Bericht der Zuwanderungs- unterrichts
kommission; Rita Süßmuth
[L] Irmgard Merkt: Die Welt dreht sich.
USA: No-Child-Left-Behind-Act Ein interkulturelles Liederbuch (2. Auflage)
USA: Terroranschlag Word Trade Wolfgang Martin Stroh: Ein schlechtes
Center (9/11) Gewissen macht noch keinen guten Musik-
2001

unterricht – Über die Motivation, multi-


kulturell Musik zu unterrichten

Gregor Pongratz & Christoph Khittl


(Hrsg.): Ästhetische Bildung, Musik und
bildende Kunst, außereuropäische Musik
im Unterricht.

[U] Dorothee Barth: Zum Kulturbegriff


in der Interkulturellen Musikpädagogik

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 327 13.08.20 08:45


328 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


Bennett Reimer: World musics and music USA: Gründung v. Global Partnership Dieter Mack: Musik der Welt
education. Facing the issues for Education
AfS-Kongress
[U] Yannis C. Miralis: Multicultural-
World Music Education at the Big Ten Musikkulturen – fremd und vertraut
Schools: A Description of Course Offerings:
“It is imperative that the music edu-
cation profession takes a more active
stance in the implementation of mul-
ticultural-world music perspectives in
2002

higher education, whether it is through


the infusion of those perspectives in
existing courses or through the devel-
opment and inclusion of new courses
on world music in music education
curricula.

[U] Randall Moore: Influence of Multi-


cultural Singing Games on Primary School
Children‘s Attentiveness and Song Prefe-
rences in Music Classes

Patricia S. Campbell: Ethnomusicology BRD: Deutscher Musikrat: Musik be- [U] Martin Greve: Die Musik der imagi-
and Music Education: Crossroads for kno- wegt. 1. Berliner Appell zur Musikalischen nären Türkei. Musik und Musikleben im
wing music, education, and culture Bildung in Deutschland Kontext der Migration aus der Türkei in
Deutschland
[U] Donna T. Emmanuel: An Immersion
Field Experience. An Undergraduate Music Bernd Clausen: Das Fremde als Grenze.
2003

Education Course in Intercultural Compe- Fremde Musik im Diskurs des 18. Jahr-
tence hunderts und der gegenwärtigen Musik-
pädagogik
[U] Roy M. Legette: Multicultural Music
Education Attitudes, Values, and Practices
of Public School Music Teachers

[L] Patricia S. Campbell: Teaching Mu- Meinhard Ansohn & Jürgen Terhag
sic Globally. Experiencing Music, Expres- (Hrsg.): Musikkulturen – fremd und
sing Culture vertraut

[L] Bonnie C. Wade: Thinking musically. Institut für Neue Musik und Musik-
Experiencing music, expressing culture erziehung Darmstadt: Welt@Musik,
Musik interkulturell. Schlaglichter, Auf-
Steven N. Kelly & Kimberly v. Weel- bruch-Umbruch, Zeiten-Räume, Modelle,
den: Connecting Meaningful Music and Nähe-Ferne
Experiences in a Multicultural, Multimu-
2004

sical Classroom [L] Claudia Breitfeld et. al: von Oi bis


Türkü. Musik zwischen den Kulturen. Ar-
Hub Schippers: Blame it On the Germans! beitsheft für den Musikunterricht in der
A Cross-Cultural Invitation to Revisit Sekundarstufe 1 an allgemein bildenden
the Foundations of Training Professional Schulen
Musicians
Bernd Clausen: Transkulturelle Musik-
Bob L. Johnson: A Sound Education pädagogik. Entwurf einer Musik(en)päd-
for All: Multicultural Issues in Music agogik
Education

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 328 13.08.20 08:45


Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 329

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


NASM: Handbook 2005–2006: prospec- UNESCO: Übereinkommen über den [L] Reto Capol: Musik der Welt, Welten
tive music teachers should “be prepared Schutz und die Förderung der Vielfalt der Musik. Ein Lehrmittel für den interkul-
to relate their understanding of musical kultureller Ausdrucksformen turellen Musikunterricht ab der 5. Klasse
styles, the literature of diverse cultural
sources, and the music of various histor- Matthias Kruse: Interkulturelle Musikpä-
ical periods.“ dagogik (Lexikon der Musikpädagogik)

Patricia S. Campbell, John Drummond


et al. (Hrsg.): Cultural diversity in music
education. Directions and challenges for the
21st century

C.K. Szego: Praxial foundation of multi-


cultural music education

[U] Susanna Facci: Ethnomusicology and


2005

Musical Education: Global or Local Per-


spective?

[U] Donna T. Emmanuel: The effects of a


music education immersion internship in
a culturally diverse setting on the beliefs
and attitudes of pre-service music teachers:
“The results of this study have shown
that immersion experiences combined
with coursework with opportunities
for guided reflection would likely have
dramatic effects on the attitudes and be-
liefs of pre-service music teachers.“

Peter Dunbar-Hall: Colliding Perspec-


tives? Music Curriculum as Cultural
Studies

[U] Carlos Abril: Learning outcomes of BRD: Kooperationsverbot Thomas Ott: Musikinteressen von Immi-
two approaches to multicultural music edu- grantenkindern in Kölner Schulen und ihre
cation BRD: Deutscher Musikrat: 2. Berliner Erfahrungen im Musikunterricht
Appell. Wer das je Eigene nicht kennt,
[U] Yiannis C. Miralis: Clarifying the kann das je Andere nicht erkennen. 12 The- NRW-Kultursekretariat: ‚Weltmusik‘
Terms “Multicultural,” “Multiethnic,” sen zum interkulturellen Dialog – ein Missverständnis? Eine Tagungsdo-
and “World Music Education” through a kumentation
Review of Literature Richard Letts: The protection and promo-
tion of musical diversity. A Study carried [L] Maria Wurm: Musik in der Migra-
Deborah Bradley: Music Education, Mul- out for UNESCO tion. Beobachtungen zur kulturellen Arti-
ticulturalism, and Anti-Racism – Can We kulation türkischer Jugendlicher in
Talk? Deutschland

Mary Jane Belz: Opening the Doors to


2006

Diverse Traditions of Music Making:


Multicultural Music Education at the
University Level

[U] Deborah Bradley: Global Song, Global


Citizens? Multicultural Choral Music Edu-
cation and the Community Youth Choir:
Constituting the Multicultural Human
Subject

Frits Evelein: Pop and world music in


Dutch music education. Two cases of
authentic learning in music teacher edu-
cation and secondary music education

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 329 13.08.20 08:45


330 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


BRD: Deutscher Kulturrat: Interkultu- Norbert Schläbitz (Hrsg.): Interkultur-
relle Bildung – eine Chance für unsere alität als Gegenstand der Musikpädagogik
Gesellschaft
- Irmgard Merkt: Populäre Musik und
„Interkulturelle Bildung setzt die Kennt- interkultureller Musikunterricht
nis der je eigenen Kultur voraus und
fördert den Zugang zu anderen kultu-
2007

rellen Welten. Wesentlich ist dabei, von


einer Defizit- zu einer Potentialperspek-
tive zu kommen.“

Gajendra K. Verma (Eds.): International


perspectives on educational diversity and in-
clusion. Studies from America, Europe and
India

[U] Eva Sæther: When minorities are the DMR: Eine Ausgabe des Musikforum [U] Dorothee Barth: Ethnie, Bildung oder
majority. Voices from a teacher researcher widmet sich unter der Überschrift „Kul- Bedeutung? Zum Kulturbegriff in der Inter-
project in a multicultural school in Sweden turelle Vielfalt“ dem Themenkreis Mul- kulturellen Musikerziehung
tikulturalität und Diversität.
Andreas Kloth: Die institutionelle Integ-
ration der deutschen Türken in das Musik-
erziehungssystem deutscher Musikschulen,
Musikhochschulen und Universitäten.

Thomas Ott: Musikunterricht mit Immi-


granten – wie mögen Musikpädagogik und
-didaktik damit fertig werden?
2008

Bernd Clausen: Vielfalt? Was heißt hier


Vielfalt?

Bundesschulmusikwoche Stuttgart:
Begegnungen – Musik, Regionen,
Kulturen

Alexander Cvetko: Musik als Weg zur


Humanisierung durch kulturelle Grenz-
überschreitung – zwischen Musik, Kultur
und Identität: Kritik am Herder-Bezug
bei Welsch u.a.

William M. Anderson & Patricia S. BRD: die 2007 unterzeichnete UN-Be- [U] Dorit Klebe: Music in the Immigrant
Campbell: Multicultural Perspectives, hindertenkonvention tritt in Kraft: Ver- Communities from Turkey in Germany. As-
Volume II pflichtung zu Inklusion pects of Formal and Informal Transmission

Minette Mans: Living in worlds of music. EU: Vertrag von Lissabon tritt in Kraft Grundschule: Musik aus anderen Län-
A view of education and values. dern (Heft 9)

[U] Jui-Ching Wang & Humphreys, Wolfgang Martin Stroh: Musik der einen
2009

Jere T.: Multicultural and popular music Welt im Unterricht (in W. Jank, Musik-
content in an American music teacher edu- Didaktik)
cation program

[U] Isaura Pulido: “Music fit for us minori-


ties”: Latinas/os’ Use of Hip Hop as Peda-
gogy and Interpretive Framework to Nego-
tiate and Challenge Racism

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 330 13.08.20 08:45


Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 331

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


Huib Schippers: Facing the Music KMK: Ländergemeinsame(n) inhaltliche(n)
Anforderungen für die Fachwissenschaften
[U] Sidsel Karlsen & Heidi Westerlund: und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung:
Immigrant students’ development of musi- „musikpraktische Erfahrung mit der
cal agency – exploring democracy in music Musik verschiedener Kulturen; Musik
education verschiedener Epochen und Kulturen
unter historischen, soziologischen, äs-
[U] Huib Schippers: Teaching World Mu-
thetischen und kulturwissenschaftli-
sic in the Netherlands: towards a model for
chen Fragestellungen“
cultural diversity in music education
2010

DMR: Eine Ausgabe des Musikforum


Eva Soether: Music Education and the
widmet sich unter der Überschrift „Über
Other
Grenzen hinaus“ dem Thema Transkul-
[U] Jane Southcott & Dawn Joseph: turalität
Engaging, Exploring, and Experiencing
EU: Beginn der Euro-Krise
Multicultural Music in Australian Mu-
sic Teacher Education: The Changing
Landscape of Multicultural Music Edu-
cation

William M. Anderson & Patricia S. Hamid Reza Yousefi & Ina Braun: In- Tagung (Rostock)
Campbell: Multicultural Perspectives, terkulturalität. Eine interdisziplinäre Ein-
Volume III führung: plädiert für Interkulturalität Beyond Borders. Welt – Musik – Pädago-
als akademische Lehrdisziplin, Name gik. Musikpädagogik und Ethnomusiko-
[U] Sarah J. Bartolome: Beyond guided einer Theorie und Praxis, „die sich mit logie im Diskurs
listening: Exploring world musics with dem historischen und gegenwärtigen
classroom instruments Thomas Ott: Verstrickt in selbst gespon-
Verhältnis aller Kulturen und der Men-
2011

nene Bedeutungsgewebe. Überlegungen


schen als deren Träger auf der Grund- zum „Interkulturellen” in der Musik-
[L] Elisa Macedo Dekaney & Deborah
lage ihrer völligen Gleichwertigkeit be- pädagogik
Alane Cunningham: Travel On and On.
schäftigt.“
Interdisciplinary Lessons on the Music of
World Cultures Jürgen Terhag: Wie interkulturell ist die
Musik(pädagogik)? Launige und spitze
Bemerkungen zu einer ungeklärten Selbst-
verständlichkeit

Kate Fitzpatrick: Cultural Diversity and BRD: Deutscher Kulturrat: Kulturelle Anne Niessen & Andreas Leh-
the Formation of Identity: “How can we Vielfalt leben: Chancen und Herausforde- mann-Wermser (Hrsg.): Aspekte
better foster such conditions within our rungen interkultureller Bildung Interkultureller Musikpädagogik. Ein
music classrooms? First, we can pay Studienbuch
more attention to the social interactions
of our students and develop projects Karin Rankl: Transkulturation und
that allow for positive peer interactions Musikpädagogik. Zwischen Globalisierung
to develop, paying special attention to und Regionalisierung
the cultural background of our students Tiago de Olivera Pinto & Eva-Maria
when grouping them for projects and von Adam-Schmidtmeier: Transkultu-
assignments.“ relle Musikpädagogik: ein Dialog mit den
[U] Rohan Nethsinge: Finding balance in Transcultural Studies: Definition die Be-
a mix of culture: Appreciation of diversity grifflichkeiten; ‚multikulturell‘ bedeu-
through multicultural music education tet, mehrere Kulturen co-existieren ne-
beneinander; ‚interkulturell‘ bedeutet,
2012

unterschiedliche Kulturen begegnen


sich, stellen gewissermaßen einen Dia-
log her; ‚transkulturell‘ bedeutet, Kul-
turen durchdringen und bedingen sich
gegenseitig, diesen Dialog intensivie-
rend oder auch die Co-Existenz nut-
zend.

Katrin Reiners: Interkulturelle Musik-


pädagogik: Zur musikpädagogischen
Ambivalenz eines trans- bzw. interkultu-
rell angelegten Musikunterrichtes in der
Grundschule

Diskussion Musikpädagogik: Interkul-


turelle Musikpädagogik

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 331 13.08.20 08:45


332 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


[U] Sidsel Karlsen: Immigrant students BRD: Gründung der europaskepti- Bernd Clausen: Responses to Diversity.
and the “homeland music”. Meanings, schen und migrationsfeindlichen AfD Musikunterricht und -vermittlung im
negotiations and implications Spannungsfeld globaler und lokaler Ver-
änderungen
[U]: Carlos R. Abril: Toward more a cul-
turally responsive general music classroom „Zum einen ist Diversität nicht mehr
als Sonderfall einer inter- oder trans-
[U] Juliet Hess: Performing Tolerance kulturellen Musikdidaktik zu diskutie-
and Curriculum: The Politics of Self-Cong- ren. Zum anderen ist die Fokussierung
ratulation, Identity Formation, and Peda- auf Migration nur als eines, jedoch
gogy in World Music Education nicht den Fachdiskurs entscheidendes
Element dabei. Das bedeutet, verstärkt
einen Blick in die Ethnomusikologie zu
werfen und sich weiterhin, mit kriti-
scher Haltung, zu internationalisieren.“

Dorothee Barth: Hör ich verschieden


oder hören wir gleich? Zur Bedeutung der
Begriffe ‚Diversität‘ und ‚Identität‘ in der
Interkulturellen Musikpädagogik

Raimund Vogels: Identität und Diversi-


tät in der Musikethnologie; eine Erwide-
rung auf Barths Beitrag

Irmgard Merkt: Authentizität und Adap-


2013

tion. Aspekte interkultureller Musikerzie-


hung: Rückblick und Ausblick: „Bislang
wird die interkulturelle Musikerziehung
bzw. das Thema ‚Musik der einen Welt‘
als ‚Teilaufgabe des Musikunterrichts‘
verstanden. Dahinter steht eine offenkun-
dige Pragmatik: Der interkulturelle Un-
terricht wird – wenn überhaupt – nach
Bedarf erteilt, und der Bedarf entsteht,
wenn Kinder und Jugendliche mit Mig-
rationshintergrund in den Klassen sind.
Diese Sichtweise genügt auf Dauer
nicht. Mit derzeit 6,5 Millionen Men-
schen nicht-deutscher Herkunft wird
sich Deutschland weiter internationali-
sieren.“

Giacomo Bottà: Migration im Zusam-


menhang mit musikalischer Sozialisation
im Jugendalter

Barbara Alge & Oliver Krämer: Beyond


Borders: Welt – Musik – Pädagogik. Musik-
pädagogik und Ethnomusikologie im Dis-
kurs (Tagungsband)

BRD: Aufhebung des Kooperationsver-


2014

bots bei Hochschulentwicklung

[U] Jacqueline Kelly-McHale: Demo- BRD: Anstieg des Zustroms von Schutz- [U] Anna M. Schmidt: Die imaginäre
cracy, Canon and Culturally Responsive suchenden (nach GFK) vor allem aus Grenze. Eine Untersuchung zur Bedeu-
Teaching. Blurring the Edges in the Music den Kriegsgebieten Somalia, Syrien tung von Musik für Jugendliche türkischer
Classroom und Afghanistan; Einrichtung von Will- Herkunft in Deutschland und ihre Veror-
kommensklassen tung im Diskurs der interkulturell orien-
2015

tierten Musikpädagogik
[U] Marja Heimonen & Maria West- USA: Every Student Succeeds Act
vall: Multicultural music education from
the perspective of Swedish-speaking tea-
chers and state authorities in Finland

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 332 13.08.20 08:45


Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 333

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


Jacqueline Kelly-McHale: Why Mu- Tagung der Gesellschaft für Musikpä- Annette Meisner: Singen mit Händen
sic Education needs to incorporate more dagogik und des Instituts für europäi- und Füßen. Singkreis im Flüchtlings-
diversity sche Musikethnologie der Universität Erstaufnahmelager
zu Köln: Musikkulturen und Lebenswelt
[L] Vicki Lind & Constance McKoy:
2016

Culturally Responsive Teaching in Music David Cameron initiiert das EU-Aus-


Education: From Understanding to Ap- trittsreferendum des Vereinigten
plication Königreichs

Patricia S. Campbell: World Music


Pedagogy

Freiburger Hochschulreihe - Interkulturalität - Musik - Pädagogik #5.indd 333 13.08.20 08:45


334 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


[U] Reneé Crawford: Creating unity DMR: Die 4. Ausgabe des Musikforum Einrichtung UNESCO-Lehrstuhl (Wei-
through celebrating diversity: A case study titelt „Musik und ‚Deutsch‘. Verlust mar) Transkulturelle Musikforschung
that explores the impact of music education oder Perspektive?“ und stellt im Tea-
on refugee background students ser zur Ausgabe fest: „[...] Die Idee der Hans Neuhoff: Weltmusik studieren –
deutschen Kulturnation prägt seit jeher unterrichten – vermitteln: „Im Verhältnis
Juliett Hess: Equity and Music Educa- das Selbstverständnis und das Zusam- zu europäischer Kunstmusik und auch
tion: Euphemisms, Terminal Naivety, and mengehörigkeitsgefühl der Deutschen. zu Jazz-Rock-Pop muss Weltmusik an
Whiteness Das Musikforum macht sich auf die den künstlerischen Fakultäten der deut-
Suche nach verschiedenen Ansätzen des schen Musikhochschulen allerdings als
Patricia C. Campbell: Music, Education, praktisch nicht-existent bezeichnet wer-
‚Deutsch‘-Seins in der Geschichte und
and Diversity: Bridging Cultures and den. Sie hat keinen Status und keine
in der Gegenwart.“
Communities Lobby, jeder Zugangsversuch zerreibt
Donald J. Trump wird 45. Präsident sich an der Disparatheit der zugehöri-
Sidsel Karlsen: Policy and the Political
der USA und vertritt eine Politik des gen Stile, und in internen Diskussionen
Life of Music Education
Isolationismus und Protektionismus wird sie mit dem Argument abgewehrt,
Joyce Jordan: Multicultural Music Edu- sie sei keine Musik ‚von hier‘ und ‚wir‘
cation in a Pluralistic Society hätten auch nicht die Kompetenz, sie zu
unterrichten.“ (224)
David G. Hebert: Ethnicity and Music
Education: Sociological Dimensions
[U] Johann Honnens: Sozioästhetische
Anerkennung. Eine qualitativ-empirische
Untersuchung der arabesk-Rezeption von
Jugendlichen als Basis für die Entwicklung
einer situativen Perspektive auf Musik-
unterricht

Oliver Kautny: Offenohrigkeit und inter-


kulturelle Kompetenz. Reflexionen über
ethische und ästhetische Aspekte in der Er-
fahrung von musikalischer Fremdartigkeit

[L] Malte Sachsse & Peter W. Schatt:


2017

Begegnungen mit außereuropäischer Musik


1 u. 2

[U] Jens Knigge et al.: Der Einfluss von Al-


ter und Migrationshintergrund auf die Of-
fenohrigkeit von Schülerinnen und Schü-
lern der Klassenstufen 5–7: „Der Einfluss
des Migrationshintergrundes unserer
Stichprobe zeigte entgegen der bisheri-
gen Ergebnisse in der präferenzbasier-
ten Forschung (Lontke, 2006 zit. in Gem-
bris et al., 2014; Sakai, 2011, 2012) keinen
statistisch und inhaltlich bedeutsamen
Einfluss.“

Dorothee Barth & Nele Bicker: Musik


mit geflüchteten Jugendlichen. Unterstüt-
zung bei der Bildung einer (neuen) kultu-
rellen Identität

[U] Frederik Linn: Überzeugungen von


Musiklehrenden zum Umgang mit Hetero-
genität im Musikunterricht

[L] Julia Erche & Alexander Jansen:


Ich habe meine Musik mitgebracht. Lieder,
Spiele und Geschichten von Flüchtlings-
kindern

[L] Christian Hüter & Tanja Mensler:


Integration durch Musik. Mit Kindern
Kulturen verbinden durch Musik, Spiel
und Bewegung [KiTa]

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Historisch-chronologische Synopse: USA et al. – DR, BRD 335

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


Patricia S. Campbell: Music, Education Jan Peter Koch et al.: Musikkulturen und
and Diversity. Bridging Cultures and Lebenswelt (Tagungsbericht)
Communities
[U] Bernd Clausen: Inter-, Transkultur-
[U] Jan-Erikk Mansikka, Maria West- alität, Diversität. Beobachtungen und
vall & Marja Heimonen: Critical aspects Impulse für Veränderungen in der Musik-
of cultural diversity in music education: lehrendenbildung
examining the established practices and cul-
tural forms in minority language schools in Dorothee Barth: Kulturbegriffe (Hand-
Finland: By creating a transnational ap- buch Musikpädagogik)
proach in our wider project, this study Claudia M. Cvetko: Musik anderer Kul-
enabled PSTs to learn about traditional turen: Lateinamerika in der Musikdidaktik
music and culture from a local ‘culture – weitaus mehr, als ein Modetrend?
bearer’, and it also opened up a new
space for us as tertiary music educators’ Oliver Kautny: Anerkennung, Achtung,
to explore collaborative approaches to Toleranz …? Auf der Suche nach ethischen
teaching music from different lands Begriffen für die Interkulturelle Musik-
when using a blended approach.“ pädagogik
[U] Alena V. Holmes & Sharri Van Oliver Kautny: Ethische Dimensionen in
Alstine: Music Education Majors vs. Ele- Zielen des interkulturellen Musikunter-
mentary Education Majors: The Relation- richts
ship Between World Music Preferences and
International Mindedness: “Therefore, if
teacher educators seek to impact inter-
Symposium
national-minded through the use of
world musics, it seems listeners need to Interkulturalität – Musik – Pädagogik
develop a greater liking for the music (Freiburg)
in order for it to have an impact upon
the development of their internation-
al-mindedness.“

[U] Melissa Cain & Jennifer Walden:


Musical diversity in the classroom: Inge-
nuity and integrity in sound exploration:
2018

Die komparative Studie zeigt anhand


von Lehrer*innenbeispielen, wie unter-
schiedliche, z.T. individualisierte An-
sätze den Unterricht prägen können.

Karen Howard: Expressing Culture:


Teaching and Learning Music of Ghana,
West Africa

[U] Jennifer M. Mellizo: Applications of


the Developmental Model of Intercultural
Sensitivity (DMIS) in Music Education

[U] Katherine Stand & Bridget Rine-


himer: Into the mystic: lived experiences of
world music pedagogy programmes

[U] Melehat Gezer: An analysis of


correlations between prospective teachers’
philosophy of education and their attitudes
towards multicultural education

[U] Joseph Dawn et al.: Creating Mul-


ticultural Music Opportunities in Teacher
Education: Sharing Diversity through
Songs

Jennifer S. Walter: Global Perspectives:


Making the Shift from Multiculturalism to
Culturally Responsive Teaching.

[L] Sevan Nart: Multicultural Education


in Elementary Music Education Textbooks
(Grade 1–4)

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336 Bernd Clausen

USA et al. (Welt-)Politik, Literatur DR, BRD


Koji Matsunobu: Intercultural Unders- [U] Olivier Blanchard: Hegemonie im
tanding of Music for Kyosei Living Musikunterricht. Die Befremdung der eige-
nen Kultur als Bedingung für den verstän-
Melissa Cain & Jennifer Walden: Mu- digen Umgang mit kultureller Diversität.
sical diversity in the classroom: Ingenuity
and integrity in sound exploration

Jennifer M. Mellizo: Music Education


as Global Education: A Developmental
2019

Approach

[U] Zeki Arsal: Critical multicultural


education and preservice teachers’ multi-
cultural attitudes

Heidi Westerlund, Sidsel Karsten,


Heidi Partti: Visions for Intercultural
Music Teacher Education

1
Anderson, W. M. (1974). World Music in American Education, 1916–1970. Contributions to Music Education, 3, 23–42.
2
Volk, T. M. (1993). The history and development of multicultural music education as evidenced in the Music Educators Journal, 1967–1992.
Journal of Research in Music Education, 41(2), 137–155.
3
McCarthy, M. (1997). The role of ISME in the promotion of multicultural music education, 1953–96. International Journal of Music Education, 1,
81–93.
4
Heller, G.N. (1983). Retrospective of multicultural music education in the United States. MEJ 69(9), 35–36.

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