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Full Download Einfuhrung in Die Soziologie Der Behinderung 2te 2Nd Edition Jorg Michael Kastl Online Full Chapter PDF
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Einführung in die Philosophie der Mathematik 2nd
Edition Jörg Neunhäuserer
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Jörg Michael Kastl
Einführung in die
Soziologie der
Behinderung
2. Auflage
Einführung in die Soziologie der
Behinderung
Jörg Michael Kastl
Einführung in die
Soziologie der
Behinderung
2., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage
Jörg Michael Kastl
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
Deutschland
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2010, 2017
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die
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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX
Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
II Soziale Produktionen
IV Soziale Konstruktionen
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
Abbildungsverzeichnis
Dieses Buch möchte in grundlegende Themen und Probleme einer Soziologie der
Behinderung einführen. Eine solche Einführung ist nicht » leicht «. Behinderung
ist ein komplexes Thema, es verknüpft das Intimste und Konkreteste, unseren Kör-
per, mit etwas, was man nicht sehen kann und von dem die ehemalige britische
Premierministerin Margaret Thatcher sogar einmal behauptet hat: » There is no
such thing as society. « Behinderung ist kein geliebtes und beliebtes Thema, nichts,
was man sich wünscht, von dem aber jede/r von uns jederzeit persönlich betroffen
sein kann. Deshalb haben wir im Alltag wie in der Wissenschaft eher die Neigung
zu seiner Verdrängung. Und schließlich: Behinderung ist ein wissenschaftlich und
soziologisch nicht gut erschlossenes Thema. Bereits an der simplen Frage der Zahl
behinderter Menschen scheiden sich die Geister.
Einführen kann man auf verschiedene Weisen und aus verschiedenen Grün-
den. Man kann eine Übersicht über den Stand des Wissens oder der Forschung ge-
ben, versuchen so etwas wie » Grundwissen « zu vermitteln und sich dabei auf das
Gesicherte und Kanonische stützen. Aber so zu tun, als gäbe es einen solchen Ka-
non, wäre eine Vorspiegelung falscher Tatsachen. Man wird auch vergebens nach
dem Lehrbuch für Fortgeschrittene Ausschau halten. Auch deshalb ist dieses Buch
keine Einführung im Sinne einer für » Anfänger « erleichterten Darstellung der
Erkenntnisse einer etablierten Disziplin. Soziologie der Behinderung bezeichnet
nach wie vor allenfalls ein Forschungsinteresse und eine unbestimmte Anzahl ver-
schiedener Forschungsperspektiven einer sehr begrenzten Anzahl von Personen.
Wir sind da nach wie vor alle Anfänger. Ich habe mich deshalb für eine Einfüh-
rung in Form exemplarischer Analysen entschieden und möchte die Leserinnen
und Leser anhand selektiver Materialien, empirischer Befunde und theoretischer
Reflexionen zum gemeinsamen erneuten Nachdenken über die soziale Dimension
von Behinderung einladen.
3
4 Einleitung
Ich kann dabei nicht der Anforderung einer erschöpfenden und gerechten
Darstellung aller bisherigen Diskussionen dieser Art Genüge leisten. Aber ich
habe den Anspruch, dass man nach der Lektüre des Buches einen Einblick in ver-
schiedene Möglichkeiten soziologischer Zugangsweisen zum Phänomen Behin-
derung bekommen hat und auf dieser Basis mit kritisch geschärftem Bewusstsein
weiter lesen und forschen kann. Dazu sollen auch die Impulse dienen, die sich am
Ende jedes Kapitels finden. Sie sind nur Vorschläge – eigentlich kann man von je-
dem Abschnitt dieses Buchs zu eigenen Fragestellungen finden, so groß ist der
Forschungsbedarf.
Jedes Thema und jeder wissenschaftliche Gegenstandsbereich erfordert die
Einübung in eine ihm gemäße theoretische und empirische Perspektive. Darunter
verstehe ich, dass bestimmte Sachverhalte überhaupt in den Blick kommen, sie
beschreiben und analysieren zu können, die Relevanz von Kategorien und Fra-
gestellungen erkennen zu können. Um eine solche Einübung wird es in diesem
Buch gehen. Ich möchte dabei eine Einordnung des Themas Behinderung in den
Zusammenhang einer Soziologie des Körpers vorschlagen. Behinderung hat et-
was mit dem Körper zu tun. Wie andere » körpernahe « Themen der sozialwissen-
schaftlichen Analyse fordert einem das Thema daher eine besondere Balancie-
rungskunst ab – zwischen der wohlfeilen Provokation, der Körper sei entgegen
aller landläufigen Annahmen überhaupt nur eine » soziale Konstruktion « und der
m. E. ebenso irrigen Vorstellung, für Körperphänomene wären allenfalls sozia-
le » Randbedingungen « maßgeblich. Ich hoffe, es gelingt mir zu zeigen, dass Phä-
nomene der Behinderung unserem Verständnis von Gesellschaft und Soziologie
neue Facetten und Dimensionen hinzu fügen können und zugleich, dass Soziolo-
gie das Alltagsverständnis von Behinderung in Bewegung bringen kann.
Ähnlich wie bei der Soziologie der Geschlechter bewegt man sich auch beim
Thema Behinderung in einem Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichen und
politischen Diskursen, von denen jeder seine mehr oder weniger imperialisti-
schen Ansprüche auf das Thema erhebt – Diskurse der Biologie und der Medi-
zin, der (Heil-, Sonder-, Sozial-)Pädagogik, sozialpolitische Diskurse und nicht
zuletzt die Emanzipationsdiskurse behinderter Menschen selbst. Dabei werden
einem mitunter Reduktionismen der unterschiedlichsten Art nahe gelegt. Sozial
wissenschaftliche Diskurse haben sich in diesem Feld ganz unterschiedlich posi-
tioniert: so gibt es Ansätze zu eigenen » imperialen « Ansprüchen, insbesondere
gegenüber Biologie und Medizin (» soziales Modell der Behinderung «; » Behin-
derung als soziale Konstruktion «). Zum Teil identifizieren sich sozialwissen-
schaftliche Diskurse mit rehabilitationspolitischen oder pädagogischen Anliegen
(Selbstbestimmung, Teilhabe für behinderte Menschen) oder mit der Emanzipa-
tionsbewegung der Betroffenen. » Nichts über uns ohne uns « lautet beispielsweise
der Titel eines Sammelbandes (Hermes/Rohrmann 2006).
Einleitung 5
All dies soll hier nicht geschehen. Vielmehr geht es mir um eine realitätsorien
tierte Erschließung eines Themas, das auch, aber durchaus nicht nur behinder-
te, sondern alle Menschen angeht, weil es sich um eine grundlegende Dimension
menschlicher Wirklichkeit handelt. Das schließt eine Sympathie für die Anliegen
der politischen Behindertenbewegung nicht aus. Aber der Akzent des hier vor-
gelegten Buches liegt eindeutig auf der Erkenntnis und nicht der Verbesserung
der Welt. Es geht mir um ein möglichst realistisches Verständnis von Behinde-
rung und darum, die soziokulturelle Tragweite dieser Thematik zu beleuchten.
Wenn das, wie mittelbar auch immer, dann zur Verbesserung der Situation be-
hinderter Menschen beitragen kann, desto besser. Aber es ist nicht primäres Ziel
dieses Buchs. Ausdrücklich möchte ich mich offen halten für Einsichten human-
wissenschaftlicher Nachbardisziplinen wie der Biologie und Medizin, der Psycho-
logie, den Neurowissenschaften, der Philosophie und der Ethnologie bzw. Kultur
anthropologie.
Der auch in Deutschland gebräuchlich gewordenen Bezeichnung » Disability
Studies « möchte ich dieses Buch allenfalls in einem anspruchslosen Sinn zu-
ordnen. Ich persönlich bevorzuge das deutsche Wort » Behinderung «. Mit ihm
kann man systematisch » mehr machen «, zum Beispiel eben ausdrücken, dass ein
Mensch behindert ist und behindert wird. Allein durch die komplexe Syntax, die
das Wort » behindert « im Deutschen nach sich ziehen kann (man ist » durch « et-
was » bei « etwas behindert), kann kommuniziert werden, wie wichtig bei Behin-
derungsphänomenen der Kontext ist. Das deutsche Wort bringt den » relationalen
Charakter « von Behinderung besser zum Ausdruck als das schlichtere und zudem
eher die Person wertende englische » Disability «, das ja nichts anderes bedeutet
als » Unfähigkeit « oder » Unvermögen «. Zudem handelt es sich bei den » Disabili-
ty Studies « durchaus nicht, wie manchmal unterstellt, um einen konzeptuell, em-
pirisch oder gar politisch homogenen » Ansatz « – sieht man von einer mehr oder
weniger ausgeprägten kultursoziologischen Orientierung ab. Eine kultursoziolo-
gische Perspektive auf Behinderung (die auch in diesem Buch eine wichtige Rolle
spielen wird) ist freilich zwingend, aber eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Sie
braucht keinen eigenen disziplinären Namen in einem ohnehin schon durch Frag-
mentierung der Diskurse bestimmten Feld.
Ich möchte weniger an den politischen » Flügel « der Disability Studies anknüp-
fen, als vielmehr an deren pragmatistische und interaktionistische Traditionslinie
(Albrecht 2003) und damit an deren deutsches Pendant, der Soziologie der Behin-
derten, für die Namen wie Christian von Ferber, Walter Thimm, Jürgen Hohmeier
und Günther Cloerkes stehen. Die hier verwendete Bezeichnung » Soziologie der
Behinderung « steht dabei nicht in Widerspruch zu der Bezeichnung » Soziologie
der Behinderten «. Sie zielt vielmehr auf eine Teilfragestellung ab. Es geht nicht, wie
in dem Lehrbuch von Günther Cloerkes um eine Sicht auf die » gesamte Lebens-
6 Einleitung
realität « von Menschen, denen das Attribut » behindert « zugeschrieben wird (vgl.
Cloerkes 2007: 3), sondern um die engere Frage der sozialen Dimension von Be-
hinderung.
Danken möchte ich insbesondere meinen Kollegen und Kolleginnen Günther
Cloerkes, Kai Felkendorff, Peter Jauch, Karl Kleinbach, Heidrun Metzler, Marianne
Neuburger-Brosch, Rainer Trost sowie meinem Freund Harald Riedinger für vie-
le Gespräche und insbesondere Kai Felkendorff und Peter Jauch für viele wert-
volle Hinweise auf wichtige Quellen und für kritische Hinweise. Für eine Dis-
kussion des ersten Kapitels im Kolloquium von Tilman Allert an der Universität
Frankfurt am Main und spannende Anregungen möchte ich ihm und allen Kollo
quiumsteilnehmern danken. Dank gilt den Studierenden in Reutlingen, Heidel-
berg und Ludwigsburg, die vieles von dem, was hier in die zumindest handfeste
Ordnungsstruktur zweier Buchdeckel eingebettet ist, in sehr viel ungeordneterem
Zustand entgegen nehmen mussten. Sie sind damit immer konstruktiv-kritisch
umgegangen und haben mir viele inhaltliche Anregungen zukommen lassen. Da-
von habe ich sehr profitiert und ich hoffe auch das Buch. Und last not least bin ich
dem Ulmer Museum und Kurt Wehrberger für die Reproduktionserlaubnis des Fo-
tos eines der ältesten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte, des Ulmer » Löwen-
menschen «, dankbar, das auf beeindruckende Weise einer Erfahrung Ausdruck
verleiht, die auch im Mittelpunkt dieses Buches steht: der Kontingenz des mensch-
lichen Körpers. Wer nach Ulm kommt, möge sich vor Ort davon überzeugen.
Das im Jahr 2010 erstmals erschienene Lehrbuch wurde in dieser 2. Auflage
einer gründlichen und vollständigen Überarbeitung und Erweiterung unterzogen.
Statistische Angaben wurden aktualisiert und Verweise auf neuere Forschungsar-
beiten aufgenommen. Wichtige Konzepte wurden weiterentwickelt, dazu gehört
insbesondere die an Lacan anknüpfende Begriffstriade Imaginäres-Reales-Sym-
bolisches und das Verständnis von Inklusion. Das Verhältnis der für die öffent-
liche Debatte so wichtigen Konzepte » Inklusion «, » Integration « und » Teilhabe «
wurde ausgearbeitet, präzisiert und in einem eigenen Kapitel zum Gegenstand ge-
macht. Das Kapitel » Konstruktion von Behinderung « wurde in drei Unterkapi-
tel aufgeteilt und insbesondere durch Recherchen zur Geschichte der deutschen
» Rassenhygiene « ergänzt.
Insgesamt ist nun eine viersätzige Struktur herausgekommen, die von einer
Einleitung und einem Schlussteil (Koda) umrahmt wird. Die Einleitung führt über
die Einbeziehung der Interpretation einer Fotografie von Robert Knoth direkt ins
Zentrum der Thematik, und lässt bereits einiges von dem anklingen, was dann in
den vier Hauptteilen ausgeführt wird.
■■ Der erste Teil ist der grundlegenden Frage nach dem Verhältnis von sozialen
und medizinischen Sichtweisen auf Behinderung sowie der soziologischen Be-
Einleitung 7
deutung des menschlichen Körpers gewidmet und er stellt den Versuch einer
Definition von Behinderung vor.
■■ Der zweite Teil befasst sich unter dem Titel » Soziale Produktionen « an ausge-
wählten Forschungsbefunden mit der Frage, wie gesellschaftliche Verhältnis-
se menschliche Körper schädigen, auf Gesundheit, Krankheit Einfluss haben
können und insofern auch zur Mitursache von Schädigungen werden können.
■■ Der dritte Teil befasst sich mit der sozialen Praxis des Umgangs mit Behinde-
rungen. Unter dem Obertitel » Soziale Reaktionen « greift er klassische Themen
der Soziologie der Behinderung und behinderten Menschen auf wie Etikettie-
rung, Stigmatisierung und bezieht sie auf die für die aktuellen Emanzipations-
diskurse wichtig gewordenen Kategorien der Inklusion, Integration und Teil-
habe.
■■ Im vierten Teil schließlich geht es unter der Überschrift » Soziale Konstruktio
nen « um den Umstand, dass wie für jedes Phänomen auch für Behinderung
gilt, dass es Gegenstand sozialen Wissens ist, wie Behinderung sozial und kul-
turell gedeutet, interpretiert, » konstruiert « wird und dass das Folgen hat. Nach
einer eher grundsätzlicheren Einleitung wird das an zwei sehr gegensätzlichen
Beispielen entfaltet: der soziokulturellen Praxis der sogenannten » Freakshow «
und der nationalsozialistischen Ideologie.
Überblick
Im Zentrum dieses Kapitels steht eine Fotografie. Sie lenkt unseren Blick auf
zwei behinderte Jugendliche, die ihrerseits uns anblicken. In diesem wechsel-
seitigen Starren erweist sich das Thema der körperlichen Integrität und ihrer
Bedrohung als ein Grundthema sozialer Beziehungen und sozial konstituier-
ter Identität überhaupt. Sowohl das Idealbild körperlicher Unversehrtheit und
Schönheit wie sein Gegenteil: Verletzung, Schädigung, Behinderung sind uns
nur zugänglich in der Erfahrungsstruktur eines konstitutiven Doppelgänger-
tums, das in einem die Frage nach unserem Mensch-Sein und dem der Ande-
ren aufwirft. Es kann dabei um Leben und Tod gehen, um Ausgrenzung und
Stigmatisierung, aber auch um Kommunikation und Einbeziehung.
Der Regisseur Nico von Glasow berichtet von seiner Begegnung mit fremden
Menschen:
» Ich bin ein Filmemacher, der kurze Arme hat, verursacht durch die Droge Conter-
gan. Wer mich zum ersten Mal sieht oder trifft, reagiert darauf, wie ich aussehe. Wenn
sie auch nichts sagen: Sie starren oder sie schauen weg. Sie zeigen, dass sie sich unsi-
cher fühlen in meiner Gegenwart. Ich kann es ihnen kaum verdenken. Ich fühle mich
ja selber sehr unsicher. Ich habe mich mein Leben lang unwohl gefühlt bei dem Gedan-
ken an meine Behinderung und versucht, sie zu ignorieren und mich nicht der Wahr-
heit zu stellen. Vielen Behinderten fällt es schwer, das angeekelte, verwirrte oder mit-
leidige Starren ihrer Mitmenschen in der Öffentlichkeit zu ertragen. Die Gesellschaft
muss sich an unseren Anblick gewöhnen und davon wegkommen, uns wie Wesen von
einem anderen Planeten zu sehen. Natürlich sehen wir anders aus, aber man kann dar
über hinaus schauen. Ich sehe einen Weg, der dahin führen kann. « Nico von Glasow1
Erving Goffman hat die Begegnung von behinderten und nicht behinderten Men-
schen in seinem Buch » Stigma « einmal als eine der » Urszenen « der Soziologie be-
zeichnet (Goffman 1975: 23). Eine solche Formulierung in einem klassischen Text
der Soziologie legt nahe, es könne hierbei um grundsätzliche Fragen sozialer Be-
ziehungen überhaupt gehen.
Dieser Vermutung möchte ich im Folgenden nachgehen. Dabei möchte ich ein
phänomenologisches und hermeneutisches Vorgehen wählen. Im Zentrum steht
zunächst die Beschreibung, Interpretation und Analyse einer Photographie des
niederländischen Fotografen Robert Knoth, auf der zwei behinderte Jugendliche
gezeigt werden. Phänomenologisch vorgehen heißt Erfahrungen zu beschreiben
und zu analysieren. Es ist schwierig, dafür in einem Buch eine gemeinsame Ba-
sis bereit zu stellen. Dass ich es hier in Form einer Fotografie versuche, ist nicht
ohne Hintergedanken geschehen. Eine Fotografie will angeschaut, angeblickt wer-
den. Auch im Zusammenhang der » Urszene «, von der Goffman spricht, spielen
Blicke eine besondere Rolle. Möglicherweise verrät ja vielleicht die Art und Wei-
se, wie wir eine Fotografie betrachten, auf der zwei behinderte Jugendliche gezeigt
werden, etwas Grundsätzliches über unser Verhältnis zu behinderten Menschen
und über uns selbst.
Der besondere Zusammenhang von Blick und Behinderung ist oft festgehal-
ten worden. Behinderte Menschen rechnen mit den aufdringlichen Blicken ihrer
nicht-behinderten Mitmenschen und fürchten sie. Ihre Antizipation kann zu in-
tensiven Schamgefühlen führen und diese wiederum zu einer Vermeidung von
Situationen, in denen man angeblickt werden könnte. Goffman erwähnt den Fall
einer Mrs. Dover, die aufgrund einer Operation einen Teil ihrer Nase eingebüßt
hatte. Die vorher lebenslustige und immer zu Unternehmungen aufgelegte Frau
verließ aus Angst vor den Blicken der Anderen nicht mehr ihr Haus. Dahinter
stand nicht nur die Furcht vor möglicher Herabsetzung, sondern auch die Angst,
dadurch wieder und wieder an das eigene Aussehen erinnert zu werden, das ihr
selbst » schrecklich « vorkam. Dieses Motiv des Angestarrtwerdens taucht immer
wieder in Selbstzeugnissen behinderter Autoren und Autorinnen auf. Es zieht sich
durch die wissenschaftliche Literatur, die sich mit der Diskriminierung behinder-
ter Menschen befasst (zusammenfassend Cloerkes 1980: 441). Auf Seiten nicht-
behinderter Menschen kann der Anblick geschädigter anderer Menschen mit in-
» Solches Verhalten setzt hinreichende visuelle Beachtung des anderen voraus, die be-
weist, dass man seine Anwesenheit, (man gibt offen zu verstehen, man habe ihn gese-
hen), während man im nächsten Moment die Aufmerksamkeit bereits wieder zurück-
nimmt, um zu dokumentieren, er stelle keinesfalls ein Ziel besondere Neugier oder
spezieller Absichten dar. « (Goffman 1971: 85)
Sowohl Starren wie auch bewusstes Wegsehen verfehlen also dieses » delikate
Übereinkommen « der höflichen Gleichgültigkeit. Aber auch der Impuls zum Star-
ren ist von Normen bestimmt. Es bestehen, wie Günther Cloerkes darlegt, näm-
lich sehr früh in der Sozialisation erworbene und sozial formierte Erwartungen
darüber, wie Menschen auszusehen und sich zu präsentieren haben. Die » origi-
näre Reaktion « auf Behinderung erklärt sich so gesehen als Wahrnehmung einer
Abweichung des Gegenübers von diesen elementaren Normen. Andererseits gibt
es Normen, die uns abverlangen, die Würde, Autonomie und damit den Subjekt-
charakter anderer Menschen zu achten und darin jeden unabhängig von seinen
12 Prolog: » Doppelgänger « – eine soziologische Urszene
1.2 Blicke
Kommen wir nun zu der angekündigten Fotografie. Sie wurde im Jahr 2005 aufge-
nommen und zeigt zwei Jugendliche, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Fotos
etwa 16 Jahre alt waren. Sie heißen Wladimir (hinten) und Michail (vorne) Iariga
aus Minsk in Weißrussland. Beide Jungen haben angeborene Schädigungen.
Wladimir ist von Geburt an gehörlos. Michail weist einen sogenannten Was-
serkopf (Hydrocephalus) und eine Reihe anderer äußerlich sichtbarer Schädigun-
gen auf (Spastik, Trichterbrust, Wirbelsäulenverkrümmung). Die wahrscheinliche
Ursache ist eine Schädigung des Genoms der Eltern durch die bei der Reaktorka-
tastrophe in Chernobyl (1986) freigesetzte radioaktive Strahlung. Beide Elterntei-
le waren direkt betroffen: » The mother lived in Bragin, one of the worst effected
places, their father worked as a liquidator, evacuating people from the area after
the explosion of the Chernobyl plant. His genetic material was diagnosed as badly
damaged after he had fallen ill « (persönliche Mitteilung Robert Knoth, 2009).
Das Foto präsentiert uns ein Porträt der ungezwungen in Shirts und Jeans bzw.
Boxershorts gekleideten Jugendlichen in einem häuslichen Umfeld. Sie sitzen auf
einem gemusterten dunklen Sofa vor einer bieder wirkenden Tapete. Michail ist in
einer leicht gekrümmten Haltung auf den Schoß des Bruders gebettet. Er scheint
sich mit dem rechten Arm an den lässig um ihn gelegten Arm seines Bruders zu
klammern. Beide sehen ernst direkt in die Kamera und damit – imaginär – in das
Auge des Betrachters.
Unser » erster Blick « wird unweigerlich von Michails Gesicht im Vordergrund
gleichsam angezogen. Sein Kopf, wichtigstes Signum seiner Behinderung, wird
in der Bildmitte präsentiert. Die Nasenspitze befindet sich exakt im Kreuzungs-
punkt der Bilddiagonalen, Mund und Augen etwas darüber bzw. darunter. Durch
diese zentrale Situierung wird zugleich die Irregularität der Stirnpartie hervorge-
hoben. Der Richtung der Bilddiagonalen folgen ungefähr die parallel gelagerten
Blicke 13
und abgewinkelten Beine, sowie die sehr schmächtig und zerbrechlich wirken-
den, dünnen Arme Michails mit der in den Gelenken abgewinkelten, gekrümm-
ten Handstellung. Die zentrale Präsentation von Michail lenkt den Blick auf den
Kopf und die ungewöhnliche Gestalt des offensichtlich behinderten Jugendlichen.
Der durch die vermeintlich aufgerissenen Augen und den panischen Gesichtsaus-
druck suggerierte Affekt des Erschreckens spiegelt dem Betrachter seine eigene
unwillkürliche erste Reaktion auf den ungewohnten Anblick des Jungen zurück.
Der Eindruck seiner Schädigungen, des überdimensionierten Kopfes, des Schie-
lens, seiner schmächtigen Körperglieder und seiner verkrümmten Gestalt wird
durch den Kontrast zu der » Wohlgestalt « seines Bruders, auf dessen Schoß er ge-
bettet ist, noch verstärkt.
14 Prolog: » Doppelgänger « – eine soziologische Urszene
Unser » zweiter Blick « könnte den ernsten und starren Blicken der Jungen gel-
ten. Augen haben immer den Charakter eines auffälligen und » attraktiven « (= die
Aufmerksamkeit anziehenden) kommunikativen Signals: » Die Pupille fixiert mich
und fängt meinen Blick ein. «, schreibt Helmuth Plessner (2003: 395). Dies gilt ins-
besondere für die wie aufgerissen erscheinenden Augen Michails, die direkt in
die Kamera und damit das Auge des potentiellen Betrachters schauen. Es wird ein
imaginäres Starren der beiden abgebildeten Jugendlichen auf den Betrachter in-
szeniert. Robert Knoths Fotografie ermöglicht die Aktualisierung eines Phäno-
mens der » Spaltung von Auge und Blick « (Lacan 1980: 73; Plessner 1993: 394). Wir
können nicht einen » Blick « registrieren und zugleich die körperliche Erscheinung
des Anderen » ins Auge fassen «. Das gilt sogar für das Auge des Anderen: versu-
che ich sein Auge zu sehen, zum Beispiel, um dessen Farbe zu bestimmen, ent-
geht mir sein Blick. Wenn wir uns auf den Blick konzentrieren, verlieren wir die
körperliche Erscheinung » aus den Augen «. Im Hinstarren mache ich den Ande-
ren oder ein Detail seiner Erscheinung » zum Objekt «, im wechselseitigen Anbli-
cken begegnen sich zwei Subjekte, es konstituiert sich ein freilich inhaltlich un-
bestimmtes » Wechselverhältnis « (Plessner 2003: 395; Simmel 1958: 484). In einer
realen Begegnung würden die Blicke der Jungen unser Starren entgegnen, uns fra-
gen: » Was guckst du ? Was willst du ? Warum starrst du uns an ? « Im erwiderten
Blick würden wir ihrer als Subjekte gewahr und gerieten unsererseits in die Rolle
eines sichtbaren Objekts. Wir wären in die Position eines ertappten Starrers ver-
setzt. Im Medium der Fotografie ist das natürlich ein selbst imaginäres Geschehen,
setzt unsere Bereitschaft zur » Einbildung « voraus. Die Fotografie bildet die Ambi-
valenz, von der die Soziologen der Behinderung sprechen, mit fotografischen Mit-
teln nach. Sie verführt uns zum Starren, dazu den Körper des behinderten Jungen
» zum Objekt « zu machen. Aber zugleich wird der Angestarrte als Subjekt sichtbar,
das wiederum uns fixiert.
Sichtbar wird aber auch, dass Michails Blick » anders « ist. Die Schielstellung
seines linken Auges entzieht sich der Alternative einen Austausch von Blicken zu
vollziehen oder die äußere Erscheinung des Anderen ins Auge zu fassen. Schielen
hat deshalb etwas latent Unheimliches. Mit dem einen Auge scheint der Schielen-
de meinen Blick zu entgegnen, mich als Subjekt wahrzunehmen, mit dem ande-
ren Auge scheint er zugleich ein Detail meines Körpers mustern zu können, mich
beobachten, zum Objekt degradieren zu können.
Genre 15
1.3 Genre
Weichen wir der Dynamik der Blicke aus und fassen die Totale der beiden ab-
gebildeten Personen ins Auge: sie bestimmen als Zweiergruppe die Vertikale der
Fotografie, während die Linien des Sofas annähernd eine Horizontale dazu bilden.
Insgesamt ergibt sich die Struktur eines leicht geneigten Kreuzes. Die statische
Bildkomposition vermittelt den Eindruck des Inszenierten, so als ob jemand den
beiden gesagt hätte: » Setzt euch mal auf das Sofa, ich mache ein Foto von euch ! «
Dieser Eindruck wird durch die ernst-ausdruckslose Mimik verstärkt, allerdings
hat man wegen des konzentrierten Blickes der beiden genau in die Kamera durch-
aus das Gefühl, dass sie bei der Sache sind.
Wladimirs Körper ist mit einer gewissen Lässigkeit leicht nach links geneigt,
seine Kopfhaltung bleibt senkrecht, die Augen bilden mit der durch die Lehne
des Sofas gebildeten annähernden Horizontalen fast eine Linie. Die Bilddiagonale
führt exakt durch Nasenspitze und sein rechtes Auge. Dagegen ist Michails Kopf
zwar zentriert, aber leicht nach rechts geneigt, so dass sein Gesicht aus der Sym-
metrie der Bildachsen gegenüber dem Bruder leicht heraus gerückt ist. Die Ge-
sichter selbst lassen eine gewisse Ähnlichkeit erkennen, aber Haltung und Gestalt
sind gegensätzlich. Wladimir wirkt als hübscher und gesunder Junge mit symme-
trischen ebenmäßigen Gesichtszügen. Dagegen steht das Deformierte des Kopfes,
der Haltung von Körper und Gliedmaßen Michails. Die Lässigkeit der Handhal-
tung Vladimirs bildet einen Gegensatz zur Gekrümmtheit der Handgelenke (Spas-
tik) bei Michail. Die dürren, wie ausgemergelt wirkenden Gliedmaßen Michails
stehen in Kontrast zu der Wohlgeformtheit der Gestalt und den durch das ärmel-
lose Shirt betonten kräftiger dimensionierten Arme Vladimirs. Er sitzt souverän-
lässig in breitbeiniger Sitzhaltung und hält seinen Bruder mit lockerer Handhal-
tung. Michail klammert sich an seinen rechten Arm und wirkt verkrampft und
gekrümmt.
Dass eine Person auf den Schoß einer anderen Person sitzt, setzt ein Verhältnis
von Vertrautheit und Intimität voraus (Eltern-Kind, Geschwister, Partnerbezie-
hungen). Zugleich besteht fast immer eine Asymmetrie zwischen den Personen:
die jüngere Person sitzt auf dem Schoß der älteren, die kleinere auf dem der grö-
ßeren, die Frau auf dem des Mannes, die » schwächere « Person auf dem Schoß der
» stärkeren «, die » hilfsbedürftige « auf dem der » helfenden « Person. Das Verhält-
nis der Sitzenden enthält immer eine Dimension von Fürsorge, insofern die eine
Person für die andere Person bestimmte Funktionen (des Haltens, Sitzens, der Sta-
bilisierung) übernimmt.
Ein Extremfall in dieser Hinsicht findet sich in einer heute nicht mehr ge-
bräuchlichen fotografischen Gattung, der sogenannten Post-Mortem-Fotografie.
Sie war im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ganz
16 Prolog: » Doppelgänger « – eine soziologische Urszene
Europa verbreitet und hat unzählige Abbildungen überliefert, bei denen der Leich-
nam eines verstorbenen Sohnes oder einer Tochter in den Schoß eines Elternteils
gebettet und gehalten wird (vgl. zum Beispiel Sykora 2009: 118 f.).2 Sykora weist
selbst auf eine Strukturähnlichkeit mit Darstellungen der Mutter Gottes mit dem
Jesuskind hin und sieht darin eine Anspielung auf die Überwindung des Todes in
der Auferstehung. Da auf diesen Bildern die toten Angehörigen in der Regel mit
den äußeren Insignien des Lebens abgebildet werden und Hinweise auf Hinfällig-
keit eher verbannt werden, könnte man sich an die Darstellungskonvention der
sog. Sedes sapientiae erinnert fühlen – damit werden Darstellungen der Madonna
mit dem Jesuskind auf einem Thron in intimer Umgebung bezeichnet.3
Es liegt aber, da die Kinder ja tot sind, noch eine andere Assoziation nahe.
Eine Fortentwicklung des ikonographischen Motivs der Fürsorge der Mutter Got-
tes stellt die seit dem Mittelalter in Europa verbreitete Darstellung der trauernden
Maria mit dem Leichnam Jesu Christi auf dem Schoß dar. Pietà ist die Kurzform
für das lateinische » imago beatae virginis de pietate « (Bild der seligen Jungfrau
vom Erbarmen) oder » imago pietatis «: gemeinhin mit Bild des Erbarmens (Hawel
1985: 50) übersetzt. Pietà bedeutet im lateinischen: Frömmigkeit, Mitleid, auch:
Liebe, Ergebenheit, Milde (Stowasser). Oft ist Christus hier liegend abgebildet,
nicht selten aber auch sitzend, insbesondere in mittelalterlichen Darstellungen.
Zwei Beispiele zeigt Abbildung 2.
Formale Korrespondenzen zu unserer Fotografie liegen auf der Hand:
2 Diesen Hinweis verdanke ich Claudia Peter im Frankfurter Kolloquium von Tilman Allert.
3 Und nicht, wie Sykora nahe legt, der sogenannten Maestà – bei der Maestà kommt zu der
Zweiergruppe Maria/Jesus noch » Gefolge « in Gestalt von Engeln und Heiligen hinzu.
Genre 17
Abbildung 2 Zwei Beispiele für die Pietà (westfälisch, Ende 14. Jahrhundert/schwäbisch
18. Jahrhundert)
Aber auch die Abweichungen vom Bildgenre der Pietà sind offensichtlich. So be-
findet sich der Kopf Jesu’ meist auf der rechten Seite Mariens, nur selten auf der
linken. Es sind zwei Brüder und nicht Mutter und Sohn. Für die Pietà ist eine
Abschließung der Personen nach außen typisch. Wir werden zum Zeugen einer
in sich versunkenen Trauer und sind unsererseits zu einer Haltung andächtigen
Mitleids aufgerufen. Das hier analysierte Foto bedient sich dagegen eher einer
Konfrontationsstrategie. Wer es aus der Genrelogik der Pietà heraus wahrnimmt,
könnte erschrecken. Die in der Rolle des » Leichnams « Jesu befindliche Person
wirkt wie eben zum Leben erweckt, aufgeschreckt und sieht uns mit ihrem großen
Kopf und den aufgerissenen Augen an. Auch der andere Protagonist fixiert uns,
wie bereits mehrfach erwähnt, auf offensive Weise. » Mitleid « (pietà) ist offenbar
genau nicht die Haltung, die die Fotografie beim Betrachter auslösen will.
Auch die Alltäglichkeit der Umgebung, in der die Dyade präsentiert wird, stellt
einen Bruch mit den Darstellungskonventionen der Pietà dar. Diese löst ihre Prot-
agonisten in der Regel aus jeder konkreten Umwelt heraus, reduziert diese auf die
18 Prolog: » Doppelgänger « – eine soziologische Urszene
beiläufige Andeutung eines Untergrunds, Felsens, Sitzmöbels, auf der die Figuren
gelagert sind. Das gibt ihnen eine mythische Kontextenthobenheit. Hier sind die
Personen trotz der pathetischen Inszenierung eingefügt in eine häusliche Szene –
ein breites, altbackenes Sofa und eine ebenso altmodisch wirkende Tapete, deren
Blumenornamentik aber entfernt an Tafelbilder aus dem Mittelalter oder der Re-
naissance erinnert. Auch die Kleidung der Jugendlichen vermittelt den Eindruck
von Alltäglichkeit: Sport-Shirts mit Emblemen und Aufdrucken, die viel zu gro-
ßen Boxershorts von Michail, die zwar in ihrer Unförmigkeit eine gewisse Ähn-
lichkeit mit dem Lendenschurz Jesu’ aufweisen, aber dazu passen natürlich nicht
die Fred-Feuerstein-Comic-Aufdrucke.
Vorerst möchte ich bei der » dunklen Seite « dieses Bildes bleiben, die sich aus den
Anklängen an die Bildgenres der Post-Mortem-Fotografie und der Pietà ergibt.
Das bringt, durch die schwarz-graue Farbe des Sofas verstärkt, das Motiv des To-
des ins Spiel. Es lässt sich im Aufgreifen kulturanthropologischer und mythologi-
scher Bezüge der Fotografie weiterverfolgen.
Michails angeborene Behinderung hatte im deutschen Sprachraum, seit dem
ausgehenden Mittelalter belegt, einen seltsamen Namen. Kinder wie Michail wur-
den als » Kielkröpfe « bezeichnet und tauchen in verschiedenen Sagen und Ge-
schichten auf. Der Ursprung dieses Wortes ist dem Etymologischen Wörterbuch
von Kluge zufolge unklar.4 Kielkröpfe gelten als sogenannte » Wechselbälger «, also
Kinder, die von bösen Mächten, zum Beispiel sogenannten » Unterirdischen « oder
dem Teufel persönlich den ahnungslosen Eltern an die Stelle der richtigen Kinder
in die Wiege gelegt werden. In Bechsteins Sagenbuch wird ein solcher Kielkropf
mit folgenden Worten beschrieben:
» Er hatte einen Kopf wie eine Metze und spindeldürre Gliedmaaßen. Auch wuchs
nichts an ihm, als nur der Kopf, der wurde größer als beim größten Menschen. Nach
drei Jahren glich der Kopf des Jungen einem Riesenkürbis, und dabei konnte das Kind
4 Statt » Kropf « wird auch » Kopf « verwendet, manchmal gibt es regionale Synonyme wie » Was-
serkind «. Für » Kiel « sind denkbar Ableitungen von frühneuhochdeutsch » kil « = Quelle, von
» kaul « (wie bei Kaulquappe) für » Kugel, klumpen « (als Anspielung auf die Kopfform). Der
Städtenamen » Kiel « geht möglicherweise auf ein gleichlautendes skandinavisches Wort für
eine enge Bucht (Herkunft aus dem Wasser ?) zurück. Auch im Grimmschen Wörterbuch
ist das Wort belegt und auch dort wird eine mutmaßliche Beziehung zu Kaul(quappe) « bzw.
kiel/Quelle hergestellt. Aber alle diese Ableitungen sind wohl hochgradig spekulativ.
Kielkröpfe und Zwillinge 19
nicht stehen noch gehen, noch sprechen, aber quarren und plärren den ganzen Tag, das
konnte es meisterlich. « (Bechstein 1853: 165)
Ohne Zweifel ist hier die Rede von einem Kind, das wie Michail einen Hydroze-
phalus (» Wasserkopf «) hat. Die Eltern beschließen, das Kind zu einem wunder-
tätigen Marienbild zu bringen und dort um Hilfe zu bitten. Auf dem Weg dorthin
kommt der Bauer über eine Brücke, aus dem Wasser hört er plötzlich eine Stim-
me die Worte sprechen: » Kielkropp, wo wullt du hen ? « (» Kielkropf, wo willst du
hin ? «). Das Kind, das bisher kein Wort gesprochen hatte, antwortet überraschen-
derweise mit den Worten » Ik will my laten wegen, dat ik sal gedegen « (» Ich werde
mich wiegen lassen, damit ich gedeihe. «). Die Geschichte endet wie folgt:
» Da war der Bauer vor Verwunderung außer sich, daß sein Balg auf einmal sprach, be-
sann sich aber gar nicht lange, sondern schmiß Kind und Wiege ins Wasser hinab und
schrie hinterdrein: › Kanstu nun spräken, du Undeert, denn ga dorhen, wo du’t hast ge-
leert ! ‹ Da erhob sich unter der Brücke groß Schreiens, als riefen eine Menge Leute;
und die Kielkröpfe tummelten sich lustig im Wasser, der Bauer aber lief, was er laufen
konnte, heim zu seiner Frau. « (Bechstein 1853: 165)
Zunächst fällt an dieser Geschichte auf, dass sie eine Erklärung für die Entstehung
des » Hydrocephalus « nennt: » Kielkröpfe « werden in dem Text mit dem Wirken
sogenannter Unterirdischer in Zusammenhang gebracht. Das fremde Aussehen
und Verhalten des Kielkropfes ist auf seine nicht-menschliche Herkunft zurück-
zuführen. Es handelt sich um ein unterschobenes Kind, gleichsam einen illegiti-
men Doppelgänger des » richtigen « Kindes. Diese in unseren Augen phantastische
» Konstruktion « von Behinderung gewinnt ihre Überzeugungskraft daraus, dass
sie vom Wunsch diktierten Deutungen entgegen kommt. Sie greift auch aus heu-
tigen Zeiten belegte Phantasien von Eltern auf, ihr behindertes Kind sei gar nicht
ihr richtiges Kind.
So zitiert eine Studie aus den 1980er Jahren über Kinder und Jugendliche mit
Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte Aussagen von Müttern über anfänglichen Reaktio-
nen auf das Neugeborene:
» Das war schrecklich, ganz schrecklich. Wir hatten uns doch ein echtes Kind ge-
wünscht «; » Wenn ich aufgewacht bin, da hat die Schwester gesagt: Schauen Sie her, das
haben sie jetzt. Was, habe ich gesagt, das ist er doch gar nicht. Das ist doch mein Klei-
ner nicht. Und dann war ich fort. «; » Ich hab im ersten Moment zu der Schwester ge-
sagt, ich mag das Kind nicht haben. Da möchte ich nicht Mutter sein. «; » Da hab ich ge-
dacht: Oh Gott, warum hat das Kind nicht sterben können ? « (Uhlemann 1990: 77, vgl.
unten Kapitel 6.1).
20 Prolog: » Doppelgänger « – eine soziologische Urszene
Der angebliche verschwundene Doppelgänger wäre dann nichts anderes als das
Wunschbild eines » körperlich intakten « Kindes. Zugleich – und darin könnte eine
weitere Funktion der Geschichte liegen – werden damit Legitimationen für Re-
aktionen und Umgangsformen mit den solchermaßen als » Kielkröpfen « denun-
zierten Kindern geliefert. Die in der Geschichte berichtete Reaktion des Vaters er-
scheint in einem legitimen Licht. Wenn dieser sein plötzlich sprechendes Kind
wutentbrannt ins Wasser wirft, dann mit der Begründung, dass das Kind da auch
hin gehöre: » Geh dorthin, wo du das Sprechen gelernt hast « heißt: » Geh dort-
hin, wo deinesgleichen sind «. Im gleichen Zug spricht der Vater dem Kind das
Menschsein ab. Dort unten, im Wasser, wird der » Kielkropf « in der Tat in eine
Gemeinschaft von seinesgleichen aufgenommen. Die sich erhebenden Stimmen
und Schreie der anderen Kielkröpfe, das lustige Getümmel im Wasser legen nahe:
» unten zu unten, oben zu oben « (Bechstein 1853: 162). Das klingt wie eine Recht-
fertigung dessen, was wir heute » Segregation « nennen, also die Ausgliederung des
Lebens behinderter Menschen in eigens dafür geschaffene räumliche und institu-
tionelle Zusammenhänge, wo sie in homogenen Gemeinschaften mit anderen be-
hinderten Menschen leben.
Aber die Geschichte lässt eben auch noch eine andere, weniger günstige Deu-
tung zu. Bringt man die mythologischen Elemente einmal in Abzug und unter-
stellt, reale Eltern würden so handeln wie der Vater in der Geschichte, so hätten
wir es mit einer nur wenig verkleideten Rechtfertigung für die Tötung eines be-
hinderten Kindes zu tun. Dafür spricht der Hass des Vaters, sein » Außer-Sich-
Sein «. Seine Handlung am Ende wird unverhüllt als gewalttätig beschrieben. Er
» übergibt « den Unterirdischen nicht etwa sorgsam ihr rechtmäßiges Kind, son-
dern » schmiß Kind und Wiege ins Wasser hinab « und flüchtet dann vom Ort des
Geschehens wie nach einem Verbrechen (» lief was er konnte «).
Für die Mordversion spricht zudem ein prominentes literarisches Zeugnis aus
der mutmaßlichen Entstehungszeit der Geschichte. In den von Zeitgenossen auf-
gezeichneten Tischreden von Martin Luther rät dieser dazu, » den Wechselbalg
oder den Kielkropf zu ersäufen «. Sie seien » nur ein Stück Fleisch, eine Massa car-
nis « ohne Seele « (Luther 1983: 757, Abschnitt 95). Damit rechtfertigt der Reforma-
tor ganz offen die Tötung von Kindern, die er als illegitime Doppelgänger, Trugbil-
der der wirklichen Kinder ansieht. Historisch und kulturvergleichend betrachtet,
ist er mit diesem Plädoyer für ein Infantizid nicht alleine. In sehr vielen Kultu-
ren wurden Kinder, deren Existenz auf eine unnatürliche Geburt zurückgeführt
wurde, getötet. Dazu gehörten insbesondere Kinder mit erheblichen körperlichen
Abweichungen und/oder starken Funktionseinschränkungen (Neubert/Cloerkes
1994: 57; Müller 1996: 48 ff.). Michail wäre wegen seiner sichtbaren Schädigung
dem Tod geweiht gewesen. Der Reformator Martin Luther hätte ihn als Kielkropf
ertränken lassen.
Kielkröpfe und Zwillinge 21
Damit ist die » Todesmotivik « unserer Fotografie aber noch nicht erschöpft.
Michail und Wladimir sind Zwillingsgeschwister. Auch als solche wären sie in vie-
len Gesellschaften und Kulturen in Lebensgefahr. Zur Gruppe potentiell von In-
fantiziden bedrohter Kinder gehörten vielerorts auch Zwillinge, die als gefähr-
liches Ergebnis einer » unnatürlichen « Geburt angesehen wurden. Sehr häufig
besteht die gesellschaftliche Reaktion in der aktiven oder passiven Tötung der
Zwillingskinder oder in deren sozialer Ausstoßung.5
Claude Lévi-Strauss, einer der berühmtesten Ethnologen und Kulturanthro-
pologen, zugleich ein wichtiger Vertreter des französischen Strukturalismus, weist
auf einen mythologischen Zusammenhang zwischen Menschen mit » Hasenschar-
ten « und Zwillingen in amerikanischen Stammeskulturen hin. Die » Hasenscharte «
wird als erster Ansatz einer gewaltsamen und daher irregulären Spaltung gedeutet,
deren letzte Konsequenz zwei getrennte, aber wiederum identische Wesen, eben
Zwillinge, darstellen (Lévi-Strauss 1980: 38 ff.).6 In seinem Buch » Die Luchsge-
schichte « arbeitet Lévi-Strauss das Motiv der Zwillingshaftigkeit als zentrale my-
thologische Tiefenstruktur insbesondere nord- und südamerikanischer Kulturen
heraus (Lévi-Strauss 2004: 136 ff.).
Ein anderer wichtiger Ethnologe, Victor Turner, entfaltet eine auch für die
Deutung von Behinderung wichtig gewordene Ritualtheorie (Murphy u. a. 1988)
am Beispiel des sogenannten Zwillingsrituals der Ndembu in Nordwestsambia.
Auch Turner setzt an dem Umstand an, dass in vielen Stammeskulturen Zwillings-
geburten als eine Form » irregulärer Geburt « behandelt werden. Diese Irregula-
rität wird mit ähnlichen Deutungs- und Handlungsschemata verknüpft wie die
Geburt eines Kindes mit schweren körperlichen Schädigungen (Turner 2005: 52).
Sie wirft Fragen nach Ursachen, Verantwortung, Schuld, nach den Rätseln von
Zeugung, Wachstum, Geburt, nach Regelhaftigkeit und Irregularität, nach den
Gefährdungen, die aus dieser Irregularität entstehen und ihrer Bereinigung auf.
Zwillingsgeburten müssen vielerorts mit aufwändigen Ritualen normalisiert wer-
5 Vgl. insgesamt dazu Lévi-Strauss 2004: 138 f.; Turner 2005: 49 f.; Neubert/Cloerkes 1994: 49.
Belege für Zwillingstötungen finden sich in der Literatur für die Buschmänner der Kalaha-
ri und eine ganze Reihe zentralafrikanischer Stammeskulturen, für Volksgruppen im nord-
östlichen Südamerika (Guyana), im Amazonasgebiet und Mittelamerika, Indianerstämme
im heutigen Kalifornien (North Pomo, Kato, Wailaki, Mohave u. a.), australische Stammes-
kulturen, für die Ureinwohner Japans (ainu). Auch in vereinzelten Überlieferungen der grie-
chischen und römischen Mythologie sowie des mitteleuropäischen Mittelalters werden
Zwillingstötungen berichtet (vgl. insgesamt Neubert/Cloerkes 2001: 90; Turner 2005: 49 ff.;
Rathmayr 24 ff., 28 ff.; Murphy/Murphy 1985: 166; Ingstad/White 1995). Im Südwesten Ma-
dagaskars sind in der Ethnie der Antambahoaka noch heute die Aussetzung, Misshandlung
und Diskriminierung von Zwillingskindern ein erhebliches soziales Problem (vgl. Caille
2008, UNICEF 2010).
6 Dank an Tilman Allert für diesen Hinweis !
22 Prolog: » Doppelgänger « – eine soziologische Urszene
den. Oder sie müssen – um weiteres Unglück zu vermeiden – durch die Entfer-
nung eines oder beider Zwillinge aus der Familie oder sogar der Tötung einer der
Zwillinge oder beider » behoben « werden.
Turner argumentiert, dass die Zwillingsgeburt insbesondere solche Kulturen
quasi » aus dem Tritt « bringt, für die die Stellung in der Geschwisterreihenfolge
eine erhebliche strukturelle Bedeutung für die soziale Positionierung hat. Sie ste-
hen vor dem Problem, dass sich auf einem vorhergesehenen Platz für ein Indivi-
duum nun plötzlich zwei einfinden, die nun als in » mystischer Weise identisch «
angesehen werden, als » strukturell eins «, aber » empirisch zwei « erfahren werden.
(Turner 2005: 49). Das ist unheimlich. Auch wenn sie nicht getötet, sondern auf-
gezogen werden, haben Zwillinge wie auch Menschen mit schweren körperlichen
Schädigungen sehr oft einen Status der » Liminalität « inne, bleiben lebenslang
» Schwellenwesen «, die der Gesellschaft » nicht geheuer « sind. Solche Schwellen-
wesen sind – in einer berühmten Formulierung Turners – » betwixt und between «,
d. h. sie fallen aus herkömmlichen gesellschaftlichen Klassifikationen heraus, sind
Außenseiter und Grenzgänger, die jenseits der gesellschaftlichen Klassifikations-
systeme stehen. Bei den Punan Bah, einem Volksstamm in Malaysia, finden sich
sowohl Zwillinge wie Kinder mit Behinderungen in dieser Rolle (Nicolaisen 1995).
1.5 Doppelgänger
Anderen, der doch wiederum kein Fremder ist, sondern mit dem wahrnehmen-
den Ich offenbar in einer engen Beziehung steht und zugleich dessen Integrität
massiv bedroht.
Dieser Erfahrungskomplex lässt sich schon an einer der ältesten Realisierun-
gen des Doppelgängermotivs zeigen, dem Mythos von Narziss, jenem schönen
griechischen Jüngling, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte (Stiker 2005:
221). Eine Variante erzählt, dieser habe sich so sehr in seiner unerfüllbaren Liebe
zu sich selbst verzehrt, dass er daran gestorben sei. Eine andere Version berich-
tet, er habe sich mit seinem Spiegelbild im Wasser vereinigen wollen und sei er-
trunken. Eine dritte Version behauptet, ein ins Wasser fallendes Blatt habe durch
einen Wellenschlag sein Spiegelbild getrübt und er sei vor Gram über seine ver-
meintliche Hässlichkeit gestorben. Ob nun der Doppelgänger seinem Ego als Bild
der (vermeintlichen) vollkommenen Schönheit oder des hässlichen Makels ent-
gegentritt – die Erfahrung bleibt so oder so verhängnisvoll. Die Verknüpfung des
Doppelgänger- mit einem Todesmotiv findet sich in einer ganzen Reihe literari-
scher Zeugnisse. Vielfach tritt der Doppelgänger als unheimlicher Verfolger auf.
Die Angst und der Hass ihm gegenüber führen dazu ihn zu töten. Aber der Mord
stellt sich als Selbstmord heraus: » Man entledigt sich seines Doppelgängers nur,
indem man sich selbst umbringt, denn das Ich und der Andere sind am Ende un-
zertrennlich « (Stiker 2005: 221; Übersetzung: jmk).
Auch behinderte Menschen können, so lautet die These Stikers, im Rahmen
einer solchen Doppelgängerstruktur wahrgenommen werden:
Das Argument Stikers lebt dabei von der Voraussetzung einer Identifizierung von
Protagonist und Doppelgänger: es gibt einen Mord- oder zumindest einen ag-
gressiven Impuls, aber zugleich die Einsicht, dass man sich damit auch gegen sich
selbst richtet. Die sozial angebotene Lösung sieht Stiker in der Verdrängung be-
hinderter Menschen in einen Status der » Liminalität «, eine Form der Marginali-
sierung, die den affektiven Konflikt entschärft.
Stikers Argumentation lässt sich präzisieren, wenn man den Verweisen auf
Sigmund Freuds Konzept des Unheimlichen nochmals nachgeht. Die Verdoppe
lung des Ichs hat, so führt Freud in Anknüpfung an Otto Ranks Doppelgängerstu-
die aus, in der Entwicklung des kindlichen Ichs eine wichtige psychische Funktion:
als » Versicherung gegen den Untergang des Ichs, eine › energische Dementierung
der Macht des Todes ‹ (Otto Rank) «. Freud spricht dabei von » primärem Narziss-
24 Prolog: » Doppelgänger « – eine soziologische Urszene
vermittelte Ganzheitserfahrung ist beides zugleich. Das reale Spiegelbild ist nur
ein optischer Effekt. Aber auch die Imago des (idealisierten) Körpers der Anderen
(zum Beispiel der Bezugspersonen) blendet dessen Selbstwahrnehmung aus. Die-
se ist ebenfalls auf ein » äußeres Bild « angewiesen, um den eigenen Körper als un-
versehrte, » integrierte « Ganzheit erfahren zu können.
Lacans Theorie des Imaginären stellt insgesamt die eminente Bedeutung von
» Menschenbildern « in wörtlichem Sinne für die psychosoziale Entwicklung, psy-
chische Strukturierung und Positionierung in sozialen Beziehungen heraus. Men-
schen werden vom Anblick von Menschen fasziniert, angezogen (Attraktion) und
abgestoßen (Repulsion). Diese Bilder sind Gedächtnisstrukturen, idealisierende
Schemata und prägen unsere Vorstellungen, Affekte, Leidenschaften und sozialen
Bindungen: Liebe, Verliebtheit und Selbstverliebtheit, die Bestrickung und Attrak-
tion, die vom vermeintlich Schönen ausgeht. Aber sie beinhalten als Negativfolie
zugleich die Angst, das Grauen, das Erschrecken vor der immer möglichen Desinte-
gration, Fragmentierung, Hinfälligkeit des menschlichen Körpers, die Indifferenz
oder sogar das Abgestoßensein gegenüber dem Hässlichen. Diese » Menschen-Bil-
der « gehören zum festen Bestand der kulturellen Objektivationen jeder mensch-
lichen Gesellschaft. Gerade in der modernen Gesellschaft ist diese soziokulturelle
Bedeutung der (Ideal-)Bilder des menschlichen Körpers in der Kunst, den Massen-
medien, in den ästhetischen Alltagsproduktionen, im Sport offensichtlich.
Für Lacan ist die Dimension des Imaginären mit einer grundlegenden Zwie-
spältigkeit verknüpft, die sich ihrer Genese verdankt. Die Konstitution der Erfah-
rung der Einheit des Ichs bleibt konstitutiv auf etwas außerhalb des Individuums
verwiesen: das Spiegelbild, den Anblick des Anderen. Das führt eine Art ursprüng-
liche Rivalität, Entfremdung und Aggression in das Selbstverhältnis und das Ver-
hältnis zu anderen ein. Die Körpererfahrung bleibt in sich selbst konstitutiv gefan-
gen im Oszillieren zwischen Identifikation mit einer idealisierten Ganzheit und
Gestalt und der Erfahrung (der Möglichkeit) von Fragmentierung und Hinfällig-
keit. Der ideale Doppelgänger des integrierten Körpers taucht in der Entwicklung
des Menschenkindes genau dann auf, wenn die faktische Erfahrung der eigenen
Körperlichkeit von Desintegration und Fragmentierung bestimmt ist. Glaubt man
sich der Integrität des eigenen Körpers dann für eine meist begrenzte Lebenspha-
se versichert, kann uns das » Spiegelbild « des verletzten und behinderten Kör-
pers als ein unheimlicher Doppelgänger unserer selbst stets eines Besseren beleh-
ren. Erfüllte der Doppelgänger in der kindlichen Entwicklung eine wichtige und
progressive Funktion, kann sich, wie Freud schreibt, später das Vorzeichen ver-
ändern: » Aus einer Versicherung des Fortlebens wird er zum unheimlichen Vor-
boten des Todes. « (Freud 1970: 259). Genau daraus rührt für Freud der Charakter
des » Unheimlichen « des späteren Doppelgängers. Er ist » eine den überwundenen
seelischen Urzeiten angehörige Bildung […], die damals allerdings einen freundli-
26 Prolog: » Doppelgänger « – eine soziologische Urszene
cheren Sinn hatte. Der Doppelgänger ist zum Schreckbild geworden, wie die Göt-
ter nach dem Sturz ihrer Religion zu Dämonen werden. « (Freud 1970: 259).
Lacans Theorie hat für viele den Ruch des Esoterischen und Spekulativen.
Übersehen wird dabei, dass er sich gerade bei seiner Konzeption des Imaginären
von Anfang an auf empirische, ja naturwissenschaftliche Erkenntnisse bezogen
hatte. Die Kinderpsychologie belegt ebenso wie die Verhaltensforschung die Aus-
wirkung von » Bildern « auf das Verhalten und auf ontogenetische Entwicklungs-
prozesse (z. B. bei Prägung, Balzverhalten u. a., vgl. insgesamt Lacan 1994: 167 ff.).
Aber auch Erkenntnisse der Neuropsychologie, der Attraktionsforschung, der
Kulturanthropologie oder der Philosophischen Anthropologie könnten zu einer
Entmystifizierung der Kategorie des Imaginären beitragen.
» Indem die Durchlässigkeit des erblickten Blicks mein Blicken an seine Augen (des
Anderen, jmk) fixiert, ist mir zugleich die Symmetrieebene gesichert, um die mein mir
selbst nicht sichtbares Gesicht sich ordnet. Am › Leitfaden ‹ des begegnenden Blicks
kann daher die Entdeckung der Reziprozität des Körperschemas erfolgen, dessen
Ausbildung mit der Ausbildung und Beherrschung der Motorik vermutlich gleichen
Schritt hält. Gerade weil meine Augen, › mit ‹ denen ich blicke, mir selbst unsichtbar
bleiben, treten seine Augen als Blicksender und Blickfänger zu ihnen ins Wechselver-
hältnis. Damit ist die Abbildung seines Gesichts und schließlich seiner ganzen Gestalt
auf mein Bewegungsschema möglich geworden. […] Sein Gesicht ist das meine in Um-
kehrung, sein Leib: Kopf, Schulter, Arme, Beine Gegenbild meiner Bewegungsfelder. «
(Plessner 2003: 395).
Die für Lacans und Plessners Überlegungen wichtige Verknüpfung von optischen
und motorischen Schemata hat in den letzten Jahrzehnten einen zusätzlichen As-
pekt durch neuropsychologische Befunde erhalten. Ich meine die Entdeckung der
sogenannten » Spiegelneuronen «. Darunter versteht man zunächst an Affen ent-
deckte Neuronenverbände in motorischen Arealen des Cortex, die sowohl aktiv
Das Imaginäre 27
sind, wenn Bewegungen Anderer beobachtet werden wie bei der Durchführung
derselben Bewegung. Sie sind offenbar auf neuronaler Ebene beteiligt an der Ver-
knüpfung von Sensorik (Wahrnehmen der Bewegung bei einem Anderen) und
Motorik (eigenes Ausführen der Bewegung).7
Relevant sind in diesem Zusammenhang auch Befunde der Attraktivitätsfor
schung. Für die Wahrnehmung von Gesichtern oder auch Körpern als » schön «
spielen Kriterien wie Symmetrie, Durchschnittlichkeit und Prototypizität eine
wichtige Rolle. Bilder von Gesichtern und Körpern, die diesen Kriterien besser
entsprechen, werden als » schöner « beurteilt, auch wenn sie technisch erzeugt wur-
den und in Wirklichkeit gar nicht existieren (Langlois/Roggman 1990; Baumgart-
ner 2006; Whittington 2006; Winkielman u. a. 2006; Gründl 2011). Eine mögliche
Erklärung liegt auch hier in dem Umstand, dass wir die Maßstäbe für Körpernor-
men der Wahrnehmung der Anderen entnehmen, aber eben nicht (nur) einzelner
Anderer, sondern vieler Anderer. Unsere Wahrnehmung vollzieht stets eine unbe-
wusste Generalisierung, ist der Ausgangspunkt für die Bildung von » Proto- « und
» Idealtypen «, die zu einer Gedächtnis- und damit Erwartungsstrukturen werden
können (Whittington 2006: 5; Squire/Knowlton 1995). Auch die kulturanthro-
pologische bzw. ethnographische Forschung bezeugt eine universelle Bedeutung
von Symmetrie und Assymetrie bei der Körperwahrnehmung. Menschliche Ge-
sellschaften praktizieren eine nahezu universelle Ideologie der » Maßgestalt « und
Symmetrie: » Schönheit erwächst aus Idealisierung, die Störendes forttilgt und den
Erscheinungen Ebenmaß verleiht « (Müller 1996: 104 ff.). Darstellungen des Bösen,
Unheimlichen, Bedrohlichen, Monströsen dagegen bedienen sich des Symmetrie-
bruchs, des Asymmetrischen, des Nicht-Zusammengehörigen und sind oft genug
in Bilder gekleidet, die Elemente von Behinderung aufgreifen. Der Teufel hat ein
Bocksbein und er hinkt, das Gesicht der Hexe ist von Warzen entstellt, der böse
Geselle hat einen Buckel.
Unsere positive oder indifferente Reaktion gegenüber der Gestalt Wladimirs wie
auch das wie immer unmerkliche Erschrecken über das Aussehen von Michail hät-
te demnach mit dem Umstand zu tun, dass in jede reale oder imaginäre Begegnung
7 Vgl. Rizzolatti/Sinigaglia 2008; Mukamel u. a. 2010; Hickok 2015. Letzterer kritisiert zu Recht
die von einigen Neurowissenschaftlern, nicht zuletzt den Entdeckern selbst, vertretenen Hy-
postasierungen der Spiegelneuronen als Grundlage menschlicher Empathie oder gar Soziali-
tät schlechthin. Hickock zeigt aber überzeugend, dass die Spiegelneuronen gleichwohl wich-
tige Funktionen insbesondere bei Imitationshandlungen haben.
28 Prolog: » Doppelgänger « – eine soziologische Urszene
8 » One oft the pecular qualities of the stigmatization of the disabled is that they so often in-
spire fear and revulsion, despite the patent harmlessness of most «, schreiben Murphy u. a.
(1988: 236)
9 – aber auch durch die Erfahrung extremer » Schönheit «, die uns auf andere Weise sozusagen
in eine » Krise « bringen kann und in der durch sie bewirkten » Hingerissenheit « ein Moment
der Selbstentfremdung beinhaltet.
Das Imaginäre 29
ginäre Kohärenz des Bilds der Anderen rettete. Jetzt sehe ich mich (wie immer
passager) auf der anderen Seite und mir begegnet im Anderen die Möglichkeit der
Schädigung, der körperlichen Desintegration.
Aber sobald die imaginäre Identifizierung in der Geschichte eines Individu-
ums einmal vollzogen ist, was vermutlich nicht vermeidbar ist, lässt sich die Ver-
einnahmung durch den Anderen und meine Verstrickung in sein Bild nicht mehr
abschütteln. Ich bin im Anblick des Anderen so oder so konfrontiert mit ihm und
mit mir. Die Positionen oszillieren. Weder entgehe ich der Attraktion, wenn der
Körper des Anderen zu vollkommen erscheint, noch dem Gefühl der Bedrohung,
wenn die Integrität des Körpers des Anderen allzu fraglich wird.
Das Imaginär-Irreale dieses Geschehens hat nicht bloß eine » innerliche « psy-
chologische Dimension. Es handelt sich um eine intersubjektive Konstellation.
Deswegen spricht Goffman von einer » soziologischen Urszene «, obwohl es doch
scheinbar nur um einen Austausch von Blicken geht. Wir entnehmen unser Kör-
perbild dem Anblick der Anderen, zunächst der konkreten Anderen, mit denen
wir es zu tun haben und dann zunehmend – in der optischen Generalisierung
und Idealisierung – aller Anderen. Hinzu kommen alle Formen des soziokultu-
rellen Imaginären, jene Bilderflut schöner und hässlicher Körper, die die Gesell-
schaft unentwegt produziert und prozessiert und die sich unseren Selbstbildern
und Erwartungen über das Aussehen von Menschen » aus Fleisch und Blut « amal-
gamieren.
Selbst die innere Vorstellung unseres eigenen Gesichtes ist – jeder kann sich
durch eine kleine phänomenologische Reflexion davon überzeugen – keineswegs
ein genaues Abbild unseres wirklichen Aussehens, sondern auf eigentümliche
Weise abstrakt, idealisiert, auf wenige typische Züge begrenzt und ebenfalls an
eine diffuse Prototypik eines Gesichtes angenähert. Diese Typisierung legt sich
sogar über die reale Betrachtung unserer selbst im Spiegel. Wir sehen uns meist
» idealer «, als wir sind. Maurice Merleau-Ponty schreibt in seiner Phänomenolo-
gie der Wahrnehmung, dass ich für mich selbst in gewissem Sinne nicht bucklig
sei (1965: 493) – selbst wenn ich es bin und es auf einer reflexiven Ebene auch weiß.
Der Umstand, dass Körperbilder an den Anderen abgelesen werden (und damit
hängt zusammen, dass wir uns selbst nicht oder nur eingeschränkt sehen), kann
uns vor einer Fixierung auf ein » Konzept « unserer selbst als abstoßend, hässlich,
fett, geschädigt » bewahren «. Man braucht einen ungewohnten Blickwinkel, eine
bestimmte exzeptionelle Form von Aufmerksamkeit, eine mediale Verfremdung
o. ä., um das idealisierende Element des Imaginären zu durchbrechen. Dann kann
man auch vor sich selbst erschrecken und sich fragen: bin ich das ? Auch ein ent-
stellter Mensch kann so vor sich und seinem unerwartet in einem Schaufenster
oder unbemerkten Spiegel auftauchenden Anblick erschrecken. Auch seine inne-
re Imago seines Aussehens ist im Normalfall nicht auf die Züge der Entstellung re-
30 Prolog: » Doppelgänger « – eine soziologische Urszene
duziert, auch bei ihm gehen Idealisierungen ein, die sich aus der Generalisierung
des Anblicks und zugleich des Blicks der Anderen ergeben. Er antizipiert meine
Zurückweisung, mein Erschrecken, meine Aggression (Goffman 1971: 23 f.).
Das alles sind Elemente dessen, was Goffman eine » soziologische Urszene «
nennt. In ihr stellen sich die immer gleichen, universellen Fragen: Ist dieser Ande-
re da ein Mensch wie ich und bin ich ein Mensch wie er ? Wie könnten wir dahin
kommen, uns wechselseitig so zu behandeln ? Wollen wir das ? Wie ist unser wech-
selseitiger Standort, von wo aus sehen wir uns ?
Die Fotografie Robert Knoths liefert eine dichte und beziehungsreiche fotografi-
sche Inszenierung dieser von Goffman so genannten soziologischen Urszene. Sie
enthält schon qua Medium eine Anforderung zum Anschauen, sie verführt uns
zusätzlich durch die Wahl ihrer Präsentationsmittel dazu, auf Michail zu starren
und ruft den Affekt eines Erschreckens auf. Sie konfrontiert uns zugleich damit,
dass die beiden Jugendlichen (imaginär) unseren Blick zu erwidern scheinen. Sie
wirft die Frage auf, warum wir nicht in der Lage sind, Michails Wasserkopf ohne
jeden affektiven Beiklang hinzunehmen oder zu schätzen wie die attraktive Er-
scheinung des scheinbar ungeschädigten Bruders, den wir zunächst als einen der
uns Gleichen ansehen.
Wir haben das nun in einer ganzen Sequenz mythologischer und wissenschaft-
licher Bezugnahmen mit einer konstitutiven Doppelgängerstruktur menschlicher
Körpererfahrung in Verbindung gebracht. Die Fotografie greift sie auf mehreren
Ebenen auf:
Impulse:
1. Lesen Sie Jacques Lacans kurzen Aufsatz » Das Spiegelstadium als Bild-
ner der Ich-Funktion « (Lacan 1986: 61 – 70) und versuchen Sie mit eigenen
Überlegungen Querverbindungen zum Thema » Erfahrung von Behinde-
rung « herzustellen.
32 Prolog: » Doppelgänger « – eine soziologische Urszene
Überblick
Wir haben im Alltag in aller Regel ein sicheres Verständnis darüber, wer eine
Behinderung hat und wer nicht. Menschen mit einem » Wasserkopf « oder Ge-
hörlosigkeit sowie Rollstuhlfahrer gehören definitiv dazu, Zwillinge selbstver-
ständlich nicht. Aber wir haben bereits gesehen, dass dieses Verständnis trüge-
risch sein kann. Im folgenden Kapitel möchte ich nochmals auf andere Weise
an unser Alltagsverständnis anknüpfen und die Frage stellen: Woher kommt
eigentlich das Wort Behinderung und was bedeutet es ? Was zählt bei uns als
Behinderung ? Und in welchem Verhältnis stehen die sozialen (bzw. soziologi-
schen) und die medizinischen Aspekte ?
Das Wort Behinderung geht uns heute selbstverständlich von den Lippen. Hans-
Walter Schmuhl zeigt aber in seiner kleinen Geschichte dieses Begriffs, dass sei-
ne Verwendung in der deutschen Sprache durchaus jüngeren Datums ist. Bis ins
20. Jahrhundert hinein wurden eine Vielzahl abwertender Bezeichnungen wie
zum Beispiel » Krüppel «, » Invalide «, » Irre «, » Idioten «, » Schwach «- oder » Blöd-
sinnige « verwendet. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es verschiedene Bestrebun-
gen vor allem für körperbehinderte Menschen weniger diskriminierende Begriffe
zu finden. So forderte der » Allgemeine Deutsche Sprachverein « in einer Umfrage
1906 seine Mitglieder auf Vorschläge für Alternativen einzureichen. Dabei kam es
zu so seltsamen Wortbildungen wie » Hilfling « oder gar » Brestling «. Letzteres ist
von einem heute nicht mehr verwendeten Wort » bresthaft « = » mit Gebrechen be-
haftet « abgeleitet (Schmuhl 2010: 21 ff.).
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2017 35
J. Kastl, Einführung in die Soziologie der Behinderung,
DOI 10.1007/978-3-658-04053-6_2
36 Die Soziologie und das soziale Modell der Behinderung
Von » Körperbehinderten « wurde dann erstmals in der Zeit der Weimarer Re-
publik gesprochen. Eine erste Hochkonjunktur erfuhr der Begriff ausgerechnet
im Dritten Reich, wo er die Funktion der Abgrenzung zwischen im Sinne der na-
tionalsozialistischen Ideologie » legitimen « Körperbehinderten (» Kriegsversehr-
ten «, Unfallopfern u. a.) und den » illegitimen « Behinderten (» Minderwertigen «,
» Erbkranken «) zu übernehmen hatte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem
Ende der nationalsozialistischen Diktatur setzte sich der Begriff für alle Menschen
mit Körperbehinderungen durch. » Der Begriff der geistigen Behinderung ist bis
in die zweite Hälfte der 1950 er Jahre hinein nur selten nachweisbar «, schreibt
Schmuhl (2010: 86). Erstmals Eingang in ein Gesetz fand das heutige Spektrum
» körperlicher «, » geistiger « und » seelischer Behinderung « am 30. Juni 1961 in das
Bundessozialhilfegesetz (Schmuhl 2010: 87). Gesellschaftlich wirksam wurde die-
ser Sprachgebrauch vermutlich aber frühestens in den 1980er Jahren. Vielen dürf-
te die Redeweise von » seelischer « Behinderung bis heute fremd sein.
Die Durchsetzung des Behinderungsbegriff war von Anfang an Ergebnis einer
gezielten, auch von Behindertenverbänden getragenen Sprachpolitik im Sinne
einer wachsenden Sensibilität für » political correctness « (Schmuhl 2010: 53 f., 92).
Wie alle Versuche dieser Art, so ist auch dieser von Bedeutungsverschiebungen
und Umwertungen bedroht: in der Jugendsprache ist » behindert « mittlerweile
längst wieder zu einem abfällig gemeinten Ausdruck geworden (Schmuhl 2010:
93). Dennoch lässt Semantik und Valenz insbesondere des deutschen Verbes » be-
hindern « ungleich mehr Spielraum für eine differenzierte Begriffsverwendung als
die korrespondierenden Ausdrücke anderer europäischer Sprachen. Das wird im
Vergleich mit Alternativen wie z. B. englisch » disability «, spanisch » discapacidad «
(eigentlich » Nicht «- oder » Unfähigkeit «) oder französisch » invalide « (eigentlich:
» unwert « !) besonders deutlich. Das deutsche Wort » behindern « hat im Gegensatz
zu diesen Ausdrücken eine komplexe syntaktische Valenz. Man kann im Deut-
schen sagen, dass » jemand durch etwas bei etwas behindert wird « oder » behin-
dert ist «. Das ermöglicht eigentlich eine sehr differenzierte und kontextsensible
sprachliche Bezugnahme. Man kann dann zum Ausdruck bringen, ob man durch
den eigenen Körper, durch äußere Umstände oder durch andere Menschen behin-
dert wird. Man kann darauf verweisen, dass man sich nicht grundsätzlich, son-
dern nur bei bestimmten Aktivitäten behindert fühlt. Es ist eine aktivische und
passivische Verwendung möglich. » Behinderung « kann als ein » Sein «, als » Passi-
vum « oder als ein » Haben « formuliert werden.
Was zählt als Behinderung ? 37
In der modernen Gesellschaft leistet Statistik einen wichtigen Beitrag zur Fest-
legung dessen, was normal und unnormal, erwartbar und weniger erwartbar ist.
Das könnte zur Frage Anlass geben » was zählt eigentlich als Behinderung und wie
viele Menschen sind behindert ? «. Statistiker müssen schließlich wissen, was sie
zählen – sollte man meinen.
Leider ist auch das nicht so einfach, wie man denken könnte. Selbst bei der
einfachen Angabe eines Prozentanteils behinderter Menschen an der Gesamtbe-
völkerung stellen sich ungeahnte Schwierigkeiten. Das kann zunächst ein Blick in
die ältere internationale Statistik zeigen. Die Statistikabteilung der Vereinten Na-
tionen (UN) hatte in den 1990-er Jahren die Ergebnisse nationaler Erhebungen
gesammelt und zusammen gestellt: die dort genannten Anteile behinderter Men-
schen an der Gesamtbevölkerung bewegen sich zwischen 0,8 % in Syrien (1993)
und 33 % (Stadt) bzw. 39 % (Land) in Norwegen (1991). Diese absurden Unterschie-
de hängen eindeutig mit der Fragestellung bei der jeweiligen Erhebung zusam-
men (vgl. insgesamt United Nations 2007). So wurde in Syrien im Rahmen einer
repräsentativen Haushaltsbefragung sehr pauschal nach längerfristigen Gesund-
heitsproblemen gefragt. In Norwegen dagegen wurden eine Fülle funktionaler Be-
einträchtigungen (zum Beispiel beim Treppensteigen, bei der Mobilität und an-
deres mehr) abgefragt und in Form eines Indexes aufaddiert. Das zeigt, dass es
sehr darauf ankommt, wie Behinderung statistisch operationalisiert wird. Im Gro-
ßen und Ganzen erzielt man mit pauschalen Einzelfragen nach » Disability «, » Be-
hinderung «, » Handicap « eher geringe Anteile, mit differenzierten Fragebatterien
zu konkreten Beeinträchtigungen eher hohe Anteile. Wenn, was selten geschieht,
nicht einheitliche Befragungsinstrumente zugrunde gelegt werden, sind Statisti-
ken über Behinderung also nicht miteinander vergleichbar.
Um diesem Problem zu begegnen, gab es seitens der Weltgesundheitsorganisa-
tion (WHO) immer wieder Versuche der Vereinheitlichung der Erfassung. Auf der
Basis von auf dieser Grundlage fortgeschriebenen Erhebungen und Schätzungen
ging die WHO im Dezember 2015 von über einer Milliarde behinderter Menschen
weltweit aus (WHO 2015). Das entspricht ungefähr einem bereits früher ermittel-
ten Anteil von rund 15 % an der Weltbevölkerung. In Deutschland bietet die alle
zwei Jahre aktualisierte Statistik schwerbehinderter Menschen den besten Einblick.
Tabelle 1 zeigt die leicht bearbeiteten Daten mit Stand vom 31. 12. 2013.
An der Verteilung der Prozentwerte fällt zunächst auf, dass die Anteile bei
Kategorien, die wir im Alltagssprachgebrauch als geradezu » klassische Behin-
derungen « wie etwa Verlust von Gliedmaßen, Blindheit, Gehörlosigkeit, Quer-
schnittslähmung, geistige Behinderungen ansehen, verhältnismäßig gering sind
(zwischen 0,2 und 4,7 %).
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Maa elon-kaitsija, Maa manan-loitsija,
hengen-haltioitsija,
tule meille turvaksi työssä ja taistossa!
Kun korpi kohisee, syystuuli tohisee,
yön siipi suhisee,
vieri kesävirtenä veressä ja vaistossa!
2.
Meren virsi.
3.
Ilman virsi.
Kirkonkupuun kirjaeltu
kaikk' on tähdet taivaan,
kiertämähän, kaartamahan
kuolevaisen vaivaan.
Alttariksi asetettu
vain on pilven parras,
siitä puhuu ukkonen
ja haastaa liekki harras.
Eikä opinkappaleita
siellä kukaan muista,
mutta sama soipi virsi
myrjaadeista suista.
Siellä eri-uskolaista
valtio ei vainoo,
luonnon laajan lakikirja
esivalta ainoo.
Tulen virsi.
Epilogi.
Sähkön sävel.
Tähtitarha
Pyhä Martti.
Legenda.
1909
Kuolemattomuuden toivo.
Kantaatti.
Kaupunki nukkuu,
paukkaa pakkasen harmaja henki
Yön äänet hukkuu,
turtuvat tuskat jo ihmisienki.
Kuu kumma valvoo,
leimuavat tähtien tulikirjat yössä.
Tähtiä palvoo
mies yksinäinen, mi istuvi työssä.
Huojuvi heinä,
kuiskivi kukka,
virkkavi viita:
"Saapuvi syys,
heilimme jälleen,
heili ei koskaan,
henkesi nuori,
halla min hyys'."
"Voita ei kenkään
valtoja kuolon,
nuoret ja vanhat
viikate lyö,
kaikki ma voitan,
kaikki ma korjaan,
kaikki ma peitän
kuin pyhä yö."
Minkä luonnonvastaiseksi
luuli mies valon-väkevä,
luonnonmyötäista olikin.
Suurimmassa, pienimmässä:
elää itsensä ylitse,
suojata oman-sukuista.
1910.
Pikku Helka.
1911.
Vanha Täti.
Hapses jo harmeni, vanha Täti,
etkö jo levätä voisi?
1911.
Tähtitarha.
1912.
Titanic.