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Sommersemester 2009
Humanwissenschaftliche Fakultät
Institut für Erziehungswissenschaft
Lektüreseminar: Moderne Theorien der Gesellschaft
Leitung: Prof. Dr. Wolfgang Lauterbach
Was bezweckt die Sozialforschung mit
einer Sozialtheorie?
Eine Analyse von Begriffsverwendungen und der Rolle von Werturteilen seitens untersuch
ter Akteure und derer Beobachter.
Verfasser: Norbert A. Lichterfeld
Telefon: 0308687027020
Email: www.pm.me tno247 @
Studienfächer: BA1 Erziehungswissenschaft, BA2 Politik und Verwaltung, 2. Studien und Fachsemester
Matrikelnummer: 745680
Abgabe: 25.09.2009
Update Wintersemester 2009/10:
Die Note des Professors wurde eine 3.0, unter Berücksichtigung dessen thematischer Perspektive. Die zu Beginn der
Arbeit aufgeworfene Frage wurde seines Erachtens nicht beantwortet. Nach einem ausgiebigen Gespräch über meine
Perspektive auf die Arbeit gab der Professor die Empfehlung ab, ich solle mir ein größeres Institut suchen, um meine
akademischen Fragen zu vertiefen. Es gebe an der gegenwärtigen Fakultät keine Mitarbeiter und vermutlich nur weni
ge Studenten, die Gefallen an der betreffenden Perspektive finden könnten wenngleich diese wichtig und spannend
erscheine.
Inhalt
Inhalt
1.Einleitung
2.Gegenstand der Soziologie und erklärtes Ziel
2.1.Historisch bedingte Grundansichten...................................................3
2.2.Die Soziologie ist Natur und Geisteswissenschaft zugleich.............4
3.Mängel sozialer Theorie gegenüber der Praxis
3.1.Verwirrung um Begriffsdefinitionen.....................................................8
3.2.Verzerrungen aufgrund vereinfachter Grundannahmen.....................9
3.3.Wertvorstellungen von Beobachter und beobachtetem Subjekt.....12
4.Ausblick
4.1.Motive menschlichen Handelns..........................................................15
4.2.Rationalität oder Rationalisierung......................................................16
4.3.Gleichzeitigkeit, Kommunikation und Verantwortung......................17
5.Schluss
6.Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Die Frage nach dem Zweck einer Theorie macht den Beobachter zum Beobachte
ten. Sie macht den Forscher zum Gegenstand der Forschung. Ich werde also den
Einfluss der Soziologie auf soziales Handeln betrachten.
Dazu werfe ich in Kapitel 2 einen Blick auf die Entstehung soziologischer Be
trachtung und auf die Problematik gegensätzlicher wissenschaftlicher Perspektiven.
Anschließend analysiere ich anhand vorliegender Beispiele drei grundlegende Män
gel theoretischer Betrachtungen sozialer Begebenheiten. Hierzu orientiere ich mich
hauptsächlich an Paul B. Hills Themenheft zur ,RationalChoiceTheorie‘. Schließlich
wage ich in Kapitel 4 einen Ausblick auf einige Orientierungsmuster, die mir in einer
Vielzahl wissenschaftlicher Schriften nicht begegnet sind, da die jeweiligen Be
trachter offenbar entscheidende Faktoren menschlichen Handelns bewusst oder
nicht wissentlich ausklammern und damit selbst zu Akteuren sozialer Begebenheiten
werden – wie sich im Verlauf aller drei Kapitel zeigt.
2. Gegenstand der Soziologie und erklärtes Ziel
2.1. Historisch bedingte Grundansichten
Die Soziologie sei eine Erfahrungswissenschaft, die zum Gegenstand habe, empiri
sche Phänomene zu beschreiben und zu erklären (vgl. Hill, P. 2002: 15). Beim Erklä
ren ginge es hier, wie allgemein bei allen Wissenschaften, um "die Angabe von Ur
sachen für das Auftreten von bestimmten Phänomenen" (ebd.). Gelänge es der
Wissenschaft nun, Ursachen zu benennen, so ließen sich Theorien als Grundlage
für die Praxis ableiten (ebd.). Mögliches Ziel, so Hill, wären "die Prognose als auch
die technische Manipulation von natur und sozialwissenschaftlichen Ereignissen"
(ebd.).
Dieses Ziel geht vermutlich bereits zurück auf Auguste Comte (17981857), dem der
Ausspruch zugeschrieben wird: 'Savoir pour prévoir, prévoir pour pouvoir', zu
deutsch 'Wissen, um vorherzusehen, vorherzusehen, um handeln zu können' (vgl.
Wikipedia: Auguste Comte).
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Diese Art der Fragestellung geht auch heute noch immer einher mit Erklärungsmo
dellen wie beispielsweise dem Positivismus oder dem Determinismus. Ersteres Mo
dell reduziert dabei wissenschaftliche Schlussfolgerungen auf wiederholtes Beob
achten, und damit auf experimentelle Verfahren (vgl. GrabnerHaider 2006: 145 f.).
Zweiteres beschreibt, alle Ereignisse seien vorbestimmt und somit auch jegliche
menschliche Handlung (vgl. Romang: 70).
So hat beispielsweise Georg Wilhelm Friedrich Hegel (17701831) formuliert, dass
"in den Begebenheiten der Völker ein letzter Zweck das Herrschende, daß Vernunft
in der Weltgeschichte ist, – nicht die Vernunft eines besonderen Subjekts, sondern
die göttliche, absolute Vernunft, – ist eine Wahrheit, die wir voraussetzen; ihr Beweis
ist die Abhandlung der Weltgeschichte selbst: sie ist das Bild und die Tat der Ver
nunft. [...]" (aus Hoerster 2006: 247). Hegel beschreibt hier ein Modell der 'Weltge
schichte', das später aufgegriffen wurde von Karl Marx (18181883) und Friedrich
Engels (18201895). Deren allgemein lautende Formulierung "Die Geschichte aller
bisheriger Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." (ebd.: 259) hat ver
mutlich erst zu den Klassenkämpfen geführt, die diese zwei Intellektuellen zu be
schreiben versuchten.
All diese Modelle sind bis heute Grundlage für nicht enden wollende wissenschaftli
che und nichtwissenschaftliche Debatten. In meiner Untersuchung möchte ich mich
jedoch nicht weiter in historischen Untersuchungen verlieren. Es scheint mir aller
dings, es gibt einen Zeitgeist aus früheren Epochen, der auch heute großen Einfluss
auf Untersuchungen sozialer Zusammenhänge hat. Ich wende mich daher nun der
Gegenwart zu.
2.2. Die Soziologie ist Natur und Geisteswissenschaft zugleich
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Die Naturwissenschaften haben die Erscheinungen der Natur zum Gegenstand.
Astronomie, Physik, Geologie und Mineralogie beschäftigen sich mit den anorga
nischen Stoffen und Körpern, mit Gestirnen und Gesteinen; die Biologie, Zoolo
gie, Botanik und Anthropologie befasst sich mit den organischen Stoffen und
Wesen. [...] Mathematik, Astronomie, Physik und Chemie bezeichnen wir als ex
akte Naturwissenschaften, insofern ihre Erkenntnisse durch Messungen zustan
de kommen, die jederzeit und von jedermann nachprüfbar sind. Die Sätze der
reinen Naturwissenschaften, wie sie auch genannt werden, beanspruchen objek
tive Geltung. Medizin, Pharmazie, Landwirtschaft und das weite Gebiet der
Technik, in denen naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse praktisch aus
gewertet werden, bezeichnen wir als die angewandten Naturwissenschaften
(Diederichsen 1970: 18; Hervorhebungen A.F.).
Hier kommt bereits die zu Beginn von Kapitel 2.1 durch Paul Hill formulierte techni
sche Manipulation zum Ausdruck.
Die Soziologie steht mit ihrem Anspruch, Natur und Geisteswissenschaften zu ver
knüpfen, demnach zweifelsohne vor einer großen Herausforderung. Offensichtlich ist
m. E., dass eine vorschnelle Verknüpfung schnell in die Irre führt, da sich Ursache
und Wirkung jeweiliger Ereignisse stets bedingen – und somit leicht verwechselt
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werden. So bestimmen natürliche Ereignisse kulturelles Verhalten, doch auch kultu
relles Verhalten wirkt auf natürliche Gesetzmäßigkeiten zurück.
In der soziologischen Auseinandersetzung wird derweil weiter gestritten. Schon al
lein das Alter der wissenschaftlichen Disziplin ist dabei offenbar ein Streitfall. Spricht
Paul Hill doch einerseits von einer "vergleichsweise jungen Wissenschaft und zudem
[einer] sehr pluralistischen Disziplin, in der kaum Einigkeit über die grundlegenden
Definitionen, Theorien und Aufgabenstellungen herrscht" (Hill, P. 2002: 8), so findet
Viktor Vanberg lange zuvor bereits deutlichere Worte: "Nicht nur im Vergleich mit
den Naturwissenschaften, auch im Vergleich mit den übrigen Sozialwissenschaften
wird [der] Theoriestand [der Soziologie] als äußerst unbefriedigend empfunden. Und
es kann kaum überzeugen, wenn manche – angesichts entsprechender Klagen – im
mer noch entschuldigend auf die vorgebliche 'Jugend' eines Faches verweisen, das
ja nun wahrlich so jung nicht mehr ist." (Vanberg 1975: 1). Und er schließt seine um
fassende Arbeit – auch zu oben von mir bereits angedeuteten Betrachtungsweisen –
mit den Worten:
"Gerade weil aus der Perspektive eines individualistischen Ansatzes die grundle
gende Schwierigkeit der Erklärung sozialen Geschehens unvermeidbar zu Tage
tritt, muß ein solcher Ansatz zwangsläufig viele Erwartungen und Hoffnungen
enttäuschen, die traditionellerweise und nicht zuletzt heute an die Soziologie –
etwa in der Frage ihrer praktischpolitischen Anwendung – nicht zuletzt der
Grund für die größere Attraktivität jener kollektivistischen Konzeptionen, die mit
der Formel von den 'spezifischen sozialen' Gesetzmäßigkeiten den Anspruch an
melden, die Komplexität des sozialen Verflechtungszusammenhangs individuel
ler Handlungen gewissermaßen 'theoretisch überspringen' zu können. Daß die
ser Anspruch nicht eingelöst worden ist und sich nur als Hindernis für die Ent
wicklung der Soziologie ausgewirkt hat, ist These dieser Arbeit." (ebd.: 264)
Neben der Frage der Entwicklung der Soziologie ergibt sich für mich aus der Be
trachtung der Methoden jedoch inzwischen eine ganz andere Frage: Wenn sich aus
der theoretischen Beschreibung sozialer Zusammenhänge tatsächlich Möglichkeiten
der Manipulation von natur und sozialwissenschaftlichen Ereignissen ergeben, wel
cher Art könnten diese sein? Mag es sich dabei um Mittel handeln, die mit individuel
ler Wahlfreiheit in Zusammenhang stehen oder um Mittel der Gewalt oder zumindest
der Täuschung?
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Letzteres erscheint mir zweifelsohne Gegenstand der historischen Entwicklung der
Soziologie zu sein: Die Erwartungen täuschen über die Möglichkeiten hinweg.
Paul Hill setzt sich mit seinem Themenheft zur RationalChoiceTheorie (2002) deut
lich für einen individualistischen Theorieansatz ein. Dies mag m. E. allein der Tatsa
che geschuldet sein, dass kollektive Handlungen zwar durchaus beobachtbar sind,
sich prinzipiell jedoch lediglich dadurch auszeichnen, dass alle beteiligten Individuen
sich gleichartig verhalten. So sind auch Handlungsempfehlungen oder eingreifende
Maßnahmen immer nur in Bezug auf einzelne Akteure durchführbar, wenngleich es
zu gleichförmigem Verhalten in großen und kleinen Gruppen führen wird. An Paul
Hills Arbeit wird beispielhaft deutlich, wie offenbar immer wieder neue Verwirrung um
soziale Zusammenhänge entsteht, die zuvor bereits ausgeräumt schien.
3. Mängel sozialer Theorie gegenüber der Praxis
Alle Theorie ist m. E. anfällig für mindestens drei Mängel. Zum Ersten ist Theorie be
grenzt auf sprachliche Vermittlung und Analyse. Wo in der Praxis gelebte Erfahrung
zum Verstehen von Zusammenhängen möglich ist, ist die Theorie beschränkt auf
Worte und Begriffe. Solche sind jedoch in ihrer Bedeutung nicht endgültig festlegbar.
Es ist immer nur eine Annäherung möglich – unter Zuhilfenahme von umschriebener
Erfahrung. Zum Zweiten entstehen komplexe Zusammenhänge immer auf Grund
lage einfacher Gesetzmäßigkeiten. Ein komplexes Konzept hat somit mehrere einfa
che Konzepte zur Grundlage. Übergeht man nun Teile solcher Grundlagen oder ver
einfacht man Grundannahmen zu stark, entstehen Verzerrungen, die starken
Einfluss auf die Ergebnisse haben. Zum Dritten sind Werturteile immer subjektiv. Ein
Beobachter urteilt subjektiv über ein subjektiv handelndes Objekt. Mit anderen Wor
ten wird ein beobachtetes Subjekt zum Objekt einer Theorie. Eine Theorie und darin
beschriebene Objekte sind letztlich beeinflusst von den Wertvorstellungen, die die
Theorie oder deren Verfasser selbst zum Ausdruck bringen. Die drei folgenden Bei
spiele veranschaulichen die Anfälligkeiten.
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3.1. Verwirrung um Begriffsdefinitionen
Paul Hill beschreibt den Unterschied zwischen Handeln im Allgemeinen und Handeln
im sozialen Zusammenhang. Er zitiert hierzu Max Weber (18641920), der wie Au
guste Comte zweifelsohne viel wichtiges zur Soziologie und deren Grundlagen bei
getragen hat. Hill macht jedoch sogleich einen Fehler, da er versucht, allgemein ver
wendete Begriffe speziell gegeneinander abzugrenzen.
Weber ist zitiert mit:
„Soziologie [...] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend
verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklä
ren will. ›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres
oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als
der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ›Soziales‹
Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder
den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird
und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (Hill, P. 2002: 10; Hervorhebungen bei
P.H.).
Um Webers Argumentation soll es hier nicht gehen. Daher ist die Sekundärquelle
zur Betrachtung ausreichend, denn diese ist Gegenstand von Hills Beschreibung:
Hier wird also zunächst zwischen Verhalten und Handeln unterschieden. >Ver
halten< ist dabei die umfassende Kategorie, zu der alle motorischen, kognitiven,
verbalen und emotionalen Aktivitäten eines Organismus gehören. Verhalten
kann mechanisch, routinehaft und unbewusst ablaufen, es schließt auch sponta
ne Reaktionen mit ein.
>Handeln< hat hingegen immer einen Sinn, und zwar einen subjektiv gemeinten
Sinn. Es geht also um die Pläne, Absichten, Reflexionen und Antizipationen, die
ein Handelnder seinem Handeln unterlegt, nicht etwa um einen objektiv >richti
gen< oder methaphysicsh ergründeten >wahren< Sinn (ebd.; Hervorhebungen
P.H.).
Hill hat sich in seinen Ausführungen offensichtlich von der Sache entfernt und ist ver
sucht die Begriffe Handeln und Verhalten voneinander abzugrenzen. Diese Begriffe
lassen im Alltag solche Abgrenzung jedoch schwer zu. Weber jedenfalls war mit sei
ner Definition vorsichtiger. Hier deutet sich an, wie stark Theorien des Sozialen be
einflusst sind, von der sprachlichen Erfahrungs und Betrachtungsweise einzelner
Autoren.
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3.2. Verzerrungen aufgrund vereinfachter Grundannahmen
Émile Durkheim (18581917) formuliert, aus heutiger Perspektive etwa zeitgleich mit
Max Weber (siehe Kapitel 3.1), ebenfalls soziale Zusammenhänge. Paul Hill hält
diesbezüglich lediglich fest, „Soziale Phänomene konstituieren [...] einen eigenstän
digen Realitätsbereich, der nicht auf biologische, psychologische oder ökonomische
Merkmale reduzierbar ist.“ (Hill, P. 2002: 9) Typische Merkmale seien Sitten, Ge
bräuche, Moralgebote, Finanz und Währungssysteme, Organisationen und die
Sprache (vgl. ebd.).
Hier ist erneut allein die Sekundärquelle bereits interessant, da diese eher Rück
schlüsse auf Werturteile seitens der Beobachter zulässt, als sie dem Verständnis so
zialer Zusammenhänge dient. Durckheim ist zitiert mit:
In Wahrheit gibt es in jeder Gesellschaft eine fest umgrenzte Gruppe von Er
scheinungen, die sich deutlich von all denen unterscheidet, welche die übrigen
Naturwissenschaften erforschen. Wenn ich meine Pflichten als Bruder, Gatte
oder Bürger erfülle, oder wenn ich übernommene Verbindlichkeiten einlöse, so
gehorche ich damit Pflichten, die außerhalb meiner Person und der Sphäre mei
nes Willens im Recht und in der Sitte begründet sind. Selbst wenn sie mit mei
nen persönlichen Gefühlen im Einklang stehen und ich ihre Wirklichkeit im Inner
sten empfinde, so ist diese doch etwas Objektives. Denn nicht ich habe diese
Pflichten geschaffen, ich habe sie vielmehr im Wege der Erziehung übernom
men. [...] Ebenso hat der gläubige Mensch die Bräuche und Glaubenssätze einer
Religion bei seiner Geburt fertig vorgefunden. Daß sie vor ihm da waren, setzt
voraus, daß sie außerhalb seiner Person existieren. Das Zeichensystem, dessen
ich mich bediene, um meine Gedanken auszudrücken, das Münzsystem, in dem
ich meine Schulden zahle, die Kreditpapiere, die ich bei meinen geschäftlichen
Beziehungen benütze, die Sitten meines Berufes führen ein von dem Gebrauch,
den ich von ihnen mache, unabhängiges Leben. [...] Wir finden also besondere
Arten des Handelns, Denkens, Fühlens, deren wesentliche Eigentümlichkeit dar
in besteht, daß sie außerhalb des individuellen Bewußtseins existieren [...]. Die
se Typen des Verhaltens und des Denkens stehen nicht nur außerhalb des Indi
viduums, sie sind auch mit einer gebieterischen Macht ausgestattet, kraft deren
sie sich einem jeden aufdrängen, er mag wollen oder nicht. Freilich, wer sich ih
nen willig und gerne fügt, wird ihren zwingenden Charakter wenig oder gar nicht
empfinden, da Zwang in diesem Falle überflüssig ist (ebd.: 8 f.; Hervorhebungen
P.H.).
Die Ansicht Durckheims beispielsweise über das Münzsystem ist auch heute durch
aus verbreitet. Sie täuscht jedoch über die Tatsache hinweg, dass auch das heutige
Geldsystem, wie wir es kennen, eine Jahrhunderte lange Entwicklung vollzogen hat:
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Von vielerlei Tauschwährungen aus Muscheln und Knöpfen oder gar Lebensmitteln
und Textilien, über viele Münzwährungen, gefolgt von einigen Papierwährungen –
die einst durch Rücklagen hauptsächlich in Gold existierten – und heutige Buchwäh
rungen, die nicht mehr in materiellen Werten aufzuwiegen sind.
Der Beobachter hat also erheblichen Einfluss auf seine Interpretation. Dieser
Einfluss kann bewusst oder unbewusst ausgeübt werden. Die Entscheidung zur In
terpretation fällt einzig der Beobachter selbst – und zwar jeden Morgen neu, wie
Reinhard K. Sprenger m. E. beispielhaft anhand wirtschaftlicher Unternehmen dar
stellt: „Das Problem ist in der Tat, daß die meisten Menschen im Unternehmen ver
gessen haben, daß sie wählen. [...] Sie vergessen einfach, dass sie sich für dieses
Unternehmen täglich neu entscheiden. Daß sie es auch abwählen können, wenn sie
wollen, aber aus Gründen nicht tun, für die nur sie selbst verantwortlich sind. [...]“
(2000: 44; Hervorhebung im Orig.). Die sprachliche Nähe von Unternehmen und Un
ternehmung ist dabei keinesfalls zufällig. Sie bringt zum Ausdruck, dass ein erklärtes
oder unerklärtes Ziel vorliegt. Die Unternehmung obliegt einem Zweck.
In Bezug auf Paradigmen gibt Covey einen wichtigen Hinweis auf Grenzen menschli
cher Kontrolle: „Den meisten Menschen erscheint es erstrebenswert, ihr Leben zu
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,kontrollieren‘. Aber Tatsache ist: Nicht wir kontrollieren unser Leben, sondern Prin
zipien. Wir können unsere Entscheidungen kontrollieren, aber nicht die Konsequen
zen dieser Entscheidungen. [...]“ (1999: 21; Hervorhebung im Orig.).
Die gleiche Tatsache beschreibt Rick Koerber: „[...] in discussing principles, it's im
portant to remember that some things are true, weather you believe them or not. [...]
The way you think, the ideas you hold in your mind, are much more powerful then
you've probably been taught to imagine [...]“ (2006: Episode May 23, 01:14). Dies
hier zu vertiefen führt m. E. zu weit.
Koerber grenzt jedoch die folgenden zwei grundlegende Paradigmen voneinander
ab, die für meine Betrachtung von Bedeutung sind. Er beschreibt damit also Land
karten, die unsere Lebensbedingungen bestimmen: „[Ideas] determine wether or not
you live in the consumer condition or the producer paradigm [...]“ (ebd.). Ersteres
möchte ich übersetzen mit Verbraucherhaltung, zweiteres mit Erzeugerlebensweise.
Die wichtigste Eigenart der Verbraucherhaltung ist, dass Dinge oder Ideen ver
braucht, also zerstört werden. Hierzu gehört, dass ein Mensch selbstverständlich
Nahrung zu sich nehmen muss, um zu überleben. Die vorhandenen Handlungsmög
lichkeiten erscheinen jedoch stark begrenzt.
Die Erzeugerlebensweise ist die genaue Entsprechung. Dinge oder Ideen werden er
zeugt, gestaltet oder erschaffen. Hierzu ist ebenfalls unabdingbar, dass Dinge oder
gar Ideen zerstört werden müssen. Aus diesen entstehen jedoch neue Dinge oder
auch neue Verhaltensweisen. Handlungsmöglichkeiten sind jedenfalls in großer Fül
le vorhanden. Mit Neuem entsteht sogleich auch neuer Wert. Mit Wert ist jedoch
nicht ausschließlich materieller Wert gemeint, sondern derjenige Wert, der allem Le
ben zugrunde liegt: Lebenswert. Ein Verbraucher nehme somit mehr Lebenswert, als
er zum Leben beisteuert. Ein Erzeuger gebe mehr, als er zum Leben braucht (vgl.
ebd.).
In Bezug auf Gedanken und daraus resultierender Konsequenzen bezieht sich Koer
ber unter anderem auf Ayn Rand. Rand definiert in diesem Zusammenhang, was
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Wert ist – und bezieht den Begriff Tugend mit ein, also einen Begriff für Wert in Be
zug auf Handlungen: „Value is that which one acts to gain and/or keep – virtue is the
act by which one gains and/or keeps it [...]“ (Rand 1970a: 27; Hervorhebung im
Orig.).
„Rationality is man‘s basic virtue, the source of all his other virtues. Man‘s basic
vice, the source of all his evils, is the act of unfocusing his mind, the suspension
of his consciousness, which is not blindness, but the refusal to see, not ignoran
ce, but the refusal to know [...]“ (ebd.: 27 f.).
Die Soziologie steht m. E. vor einer großen Herausvorderung, wie in Kapitel 2.2 be
reits geschildert. Wichtige Grundannahmen dabei zu übergehen – oder gar auszu
klammern – wird dem Theoriestand, wie Vanberg beschreibt, nicht förderlich sein
können. Glaubenssätze außerhalb einer Person, um nochmals auf den oben zitier
ten Durckheim hinzuweisen, sind jedenfalls nur dann außerhalb einer Person vor
handen, wenn diese innerhalb einer anderen Person vorhanden sind – oder waren.
3.3. Wertvorstellungen von Beobachter und beobachtetem Subjekt
Im Themenheft zur RationalChoiceTheorie nennt Hill vielerlei Beispiele, die sozia
les Handeln beschreiben, von denen ich hier zur Veranschaulichung zwei näher be
trachte. Beim ersten ist ein Verhör zweier Strafverdächtiger Gegenstand einer Situa
tion. Beim zweiten die Abendgestaltung eines verheirateten Mannes.
Wie schon in Kapitel 3.1 geht es mir hier nicht um die für das erste Beispiel genann
te Primärquelle, hier von Robert Axelrod, sondern um die Frage der Beobachterrolle,
exemplarisch an Hills Ausführungen.
„Dabei stehen sich zwei [...] Akteure gegenüber, die jeweils zwei Handlungsalter
nativen haben: Sie können kooperieren oder defektieren, also den eigenen Nut
zen maximieren und dadurch den anderen schädigen. Wenn z. B. zwei Perso
nen von der Polizei eines Verbrechens beschuldigt werden, wobei die Akteure
ihr Handeln nicht absprechen können, dann ergeben sich folgende Möglichkei
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ten: Wenn Person A als Kronzeuge Person B beschuldigt und diese leugnet,
wird A nur für drei Monate inhaftiert, und B muss für zehn Jahre ins Gefängnis.
Dasselbe gilt umgekehrt. Wenn beide nicht gestehen, dann kommen sie mit je
weils einem Jahr davon. Gestehen beide, muss jeder für acht Jahre ins Gefäng
nis. Aus der Sicht eines Akteurs ist es also am günstigsten, wenn er defektiert,
und der andere zugleich auf Kooperation setzt: Dann kommt er mit drei Monaten
davon und der andere für 10 Jahre in Haft. Wenn nun A leugnet, dann ist es für
B besser zu gestehen. Wenn A gesteht, ist es auch für B besser zu gestehen.
Für B ist ein Geständnis also immer die bessere Handlungswahl [...]. Äquivalente
Überlegungen gelten für A. Beide Akteure wären also besser gestellt, wenn sie
beide leugnen würden. Doch dazu wird es unter den gegebenen Umständen
nicht kommen. In Situationen wie dieser gibt es zwischen egoistischen Akteuren
keine Kooperation [...]“ (Hill, P. 2002: 42).
Hill betrachtet die Situation unter dem Aspekt des Egoismus. Dies ist ein Thema,
dass ich hier nicht eröffnen werde. Zur Vertiefung sei erwähnt, dass Egoismus fest
verbunden ist mit dem Glauben oder Hoffen eines Menschen, was wieder bei Kapitel
3.2 anschließt. Koerber sagt hierzu „Faith begins with selfinterest“ (vgl. Koerber
2006; 2007). Mit anderen Worten: Alles verantwortliche Handeln geschieht aus Ei
geninteresse (vgl. Branden 1970b).
Das eigentliche Problem der geschilderten Situation ist m. E. nicht die Entscheidung
der Akteure A oder B, sondern deren Motive. „Der RationalChoiceTheorie zufolge
handeln Akteure, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre Lebenssituation zu
verbessern [...]“ (Hill, P. 2002: 44). Doch auf die Frage nach Motiven antwortet die
Theorie nicht, zumindest laut Hill: „Welche Bedürfnisse im Einzelnen befriedigt wer
den bzw. welcher Nutzen realisiert wird, ist nicht Gegenstand der Theorie der ratio
nalen Wahl. Die Präferenzen der Akteure werden nicht erklärt, sondern als gegeben
(bzw. konstant) betrachtet. [...]“ (ebd.).
Paul Hill übersieht darum bei diesem Beispiel, dass die Akteure mehr als zwei Optio
nen haben. Eine weitere schildert er sogar, erkennt sie jedoch offenbar nicht als
nutzbringende Option an: Kooperation sei hier solche zwischen Akteur A und B. Ko
operation ist jedoch auch in Hinblick auf die Gläubiger möglich – und m. E. das Nütz
lichste, für das sich A und B entscheiden könnten, egal, ob sie tatsächlich schuldig
sind oder nicht! Hier sind die Wertvorstellungen des Beobachters jedoch dominanter,
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als die der Akteure. Die Motive aller Beteiligter, auch des Beobachters, bestimmen
die Analyse mehr, als von den Motiven losgelöste empirische Beobachtungen.
Sind die beiden Akteure tatsächlich schuldig, so ist ihr Handeln bestimmt durch ein
Gemisch aus den Konsequenzen ihres vorherigen Handelns und damit verbundener
Schuldvorstellungen, allein deshalb, da sie genötigt sind, sich mit den Konsequen
zen zu befassen. Ist die Schuldfrage jedoch offen, ändert sich das Bild erheblich. In
jedem Fall handeln sie nicht frei und reflektiert, sondern befinden sich in einer Aus
nahmesituation Alle Theorie bleibt gegenstandslose Spekulation, wenn nicht die
Wertvorstellungen der Akteure mit berücksichtigt werden.
Beim zweiten Beispiel handelt es sich nicht um eine Ausnahmesituation:
Ein Akteur hat an einem Samstagabend aus seiner persönlichen Perspektive
drei verschiedene Handlungsoptionen: Die erste betrifft seine Fußballbegeiste
rung, der er gemütlich mit Chips und einer Flasche Bier vor dem Fernseher frö
nen kann (A1). Zweitens möchte seine Frau, dass er mit ihr endlich wieder ein
mal die Schwiegereltern besucht und das überfällige Geburtstagsgeschenk vor
beibringt (A2). Und drittens ist er zu einer Parteiversammlung im Ortsverein ein
geladen (A3). Nach der RationalChoiceTheorie wägt er zunächst die verschie
denen Kosten und Nutzen ab. A1 bereitet ihm großes Vergnügen, bringt also den
höchsten Nutzen; als Kosten fallen die unter Umständen massive Kritik seiner
Frau und deren unkooperatives Verhalten in den nächsten Tagen sowie der Ver
zicht auf die Realisation der anderen Alternativen an. Denn wenn er sich für die
se Alternative und ihren (intrinsischen Konsum)Nutzen entscheidet, dann liegt
die Wahrscheinlichkeit, mit dieser Handlung zugleich den Nutzen zu realisieren,
der mit den anderen beiden Alternativen verbunden ist, bei null. Diese Opportu
nitätskosten und die Sanktionen seiner Frau wiegen deutlich schwerer als der
Nutzen, und somit wird der Nettonutzen negativ. Zugleich ist aber sicher, dass
die Dinge so verlaufen würden, d.h. der negative Nettonutzen wird mit Sicherheit
(p=1) eintreten. Wenn er mit seiner Frau die Schwiegereltern besucht (A 2) und
mit Bedauern auf A1 und A3 verzichtet, dann bereitet ihm dieser Besuch keine
Freude, sondern mäßigen Verdruss, aber seine Frau und die Schwiegereltern
würden sich sehr freuen, ihm viel Lob und Anerkennung zollen und wären in der
nächsten Zeit besonders zuvorkommend; beides in Rechnung gestellt, ergibt
sich ein mittlerer positiver Nettonutzen. Und da seiner Erfahrung nach alle Betei
ligten so reagieren werden, gewichtet er diese Alternative mit der maximalen
Eintrittswahrscheinlichkeit von eins. Für die noch verbleibende Alternative (A 3)
ergibt sich folgende Einschätzung: Er könnte endlich für den zweiten Vorsitz kan
didieren, was er schon länger vorhatte. Die Wahl wäre eine große Ehre und Be
friedigung für ihn. Seine Frau wäre zwar auch über den Besuch der Parteiveran
staltung nicht sonderlich erfreut, würde ihn jedoch eher als den BierundChips
Abend vor dem Fernseher akzeptieren, da sie sein Parteiengagement grundsätz
lich befürwortet. Somit ergibt diese Alternative (auch unter Berücksichtigung der
Opportunitätskosten für A1 und A2) den eindeutig höchsten positiven Nettonut
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zen. Aber der Mann weiß, dass seine Chance, gewählt zu werden, sehr gering
ist; er schätzt sie auf circa 10 Prozent (also p=0,10). Gewichtet man den hohen
Nettonutzen mit diesem Faktor, dann liegt der SEUWert [subjektiv erwarteter
Nutzen] unter dem für die Alternative >Schwiegerelternbesuch<.
Die hier vorgenommene Schilderung erscheint komplex, doch sie ist unterlegt mit
vielerlei Grundannahmen. Diese sind m. E. weder dem Akteur noch dem Beobachter
zweifelsfrei zuzuordnen. Deutlich wird die in Kapitel 3.2 angesprochene Ver
braucherhaltung: Mangel an Möglichkeiten. Im Anschluss an eine anstrengende Ar
beitswoche mag dies der launenhaften Gestaltung eines Samstagabends durchaus
entsprechen – doch nur in Abhängigkeit der übergeordneten Motive und damit ver
bundener Wertvorstellungen.
4. Ausblick
4.1. Motive menschlichen Handelns
Napoleon Hill (18831970) fasst in „Die Philosophie des Erfolgs“ zusammen, woran
es m. E. der Soziologie mangelt: der Konzentration auf ein klar formuliertes Ziel.
Es ist eine beeindruckende Erkenntnis, daß alle führenden Köpfe in allen Berei
chen des Lebens und zu allen Zeiten der Geschichte ihre leitenden Positionen
dadurch erreicht haben, daß sie ihre Fähigkeiten in den Dienst eines klar defi
nierten Hauptziels gestellt haben.
Umgekehrt ist zu beobachten, daß diejenigen, die als Versager eingestuft wer
den, ein solches Ziel nicht haben. Diese Menschen bewegen sich wie ein Schiff
ohne Steuermann ständig im Kreis und kehren immer wieder mit leeren Händen
zu ihrem Ausgangspunkt zurück (Hill, N. 1993: 32).
Er weist sogleich auf neun Grundmotive menschlichen Handelns hin:
Alle Menschen gleichen sich im Grunde darin, daß sie sich aus einem Stamm
entwickelt haben, und daß sich jedes menschliche Handeln auf eines oder meh
rere von neun Grundmotiven zurückführen läßt:
• das Gefühl der Liebe
• den Geschlechtstrieb
• den Wunsch nach materiellem Gewinn
• den Selbsterhaltungstrieb
• den Wunsch nach geistiger und körperlicher Freiheit
• den Wunsch nach Selbstverwirklichung
• den Wunsch nach einem Leben nach dem Tode
• das Gefühl des Zorns
• das Gefühl der Angst
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Ein Mensch, der andere verstehen will, muß allerdings zuerst sich selbst verste
hen [...] (ebd.: 21).
Diese Liste mag vielleicht nicht vollständig sein. Doch sie gibt Hinweise sowohl auf
mögliche Motive betrachteter Akteure sozialen Handelns – als auch derer Beob
achter, die m. E. damit ebenfalls beeinflussende Akteure sozialen Handelns sind.
4.2. Rationalität oder Rationalisierung
Die Verwirrung um Begriffsdefinitionen (Kapitel 3.1) gipfelt bei Betrachtung der Ra
tionalChoiceTheorie in der beachtenswerten Frage, was Rationalität eigentlich ist –
und was diese nicht ist.
Hierauf gibt Nathaniel Branden eine bemerkenswerte Antwort:
Reason is at once a faculty and a process of identifying and integrating the data
present or given in awareness. Reason means integration in accordance with the
law of noncontradiction. If you think of it in these terms—as a process of noncon
tradictory integration—it’s difficult to imagine how anyone could be opposed to it.
Here is the problem: There is a difference between reason as a process and
what any person or any group of people, at any time in history, may regard as
“the reasonable.” This is a distinction that very few people are able to keep clear.
We all exist in history, not just in some timeless vacuum, and probably none of
us can entirely escape contemporary notions of “the reasonable.” It’s always im
portant to remember that reason or rationality, on the one hand, and what people
may regard as “the reasonable,” on the other hand, don’t mean the same thing
(Branden 1984).
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4.3. Gleichzeitigkeit, Kommunikation und Verantwortung
Weitestgehend unbeachtet in der untersuchten Theorie ist der Umstand, dass sozia
les Handeln immer mehrere Perspektiven bietet. Jeder einzelne Akteur trifft eigene
Entscheidungen, wenngleich die Konsequenzen mehrere Akteure betreffen. Das
Handeln der einzelnen bedingt einander. Das bedeutet jedoch auch, dass es aus
schließlich individuell beeinflussbar ist. Ein Beispiel:
Auf einer abendlichen Heimfahrt begegnete ich kürzlich zwei jungen Männern und
einer jungen Frau, die gemeinsam in der SBahn unterwegs waren. Als sie sich
einen Sitzplatz ausgesucht hatten, fragte der eine den anderen, ob er einen Vier
kantschlüssel dabei hätte. Dieser verneinte und fügte hinzu, das ginge auch ohne.
Während sich ersterer anschließend mithilfe mehrerer an einem Schlüsselbund be
findlicher Schlüssel an einer bodennahen Serviceklappe zu schaffen machte, sagte
ein nahebei stehender, einzelner Passant: „Ich darf Sie bitten, das zu unterlassen!
Darf ich doch, oder?“ Woraufhin der junge Mann sein Vorhaben verwarf, sich wieder
zu den anderen gesellte und während dessen kleinlaut antwortete: „Ja, dürfen Sie.“
Selbiger hatte die Sache anschließend vergessen – oder dem Passanten den Ein
wand zumindest verziehen –, während der andere junge Mann den zuvor rückwärtig
anwesenden Passanten beim Aussteigen mit einem bösen, skeptischen Blick mus
terte.
Die verschiedenen Motive haben im geschilderten Beispiel zweifelsohne erheblichen
Einfluss. Der erste junge Mann verspürte vermutlich Langeweile, aus der Neugierde
entstand, der zweite fühlte sich vermutlich in seinem Ehrgefühl gekränkt, die junge
Frau verhielt sich offenbar passiv und der Passant nahm sich kurzentschlossen der
Verantwortung an, die Neugierde des ersten zu bremsen.
Der tatsächliche Zweck der Akteure ist jedoch im Nachhinein nicht zweifelsfrei be
stimmbar. Dies lenkt meinen Blick erneut auf die Rolle der Sozialforschung im Gan
zen. Karl Jaspers schreibt hierzu: „Forschungsgeist und zweckhafter Erfindungsgeist
sind wesensverschieden. [...] so kann Wissenschaft aufmerksam machen auf Zu
sammenhänge und Widersprüche, doch sie kann selbst keine Antworten geben auf
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Sinnfragen; sie kann den Sinn menschlichen Handelns herleiten – vermag solchen
gar beeinflussen – doch zu bestimmen vermag sie ihn nicht“ (1961: 46).
5. Schluss
Nach meiner Betrachtung weiß ich die Frage nach dem Zweck einer Sozialtheorie
nur so individuell zu beantworten, wie jede andere zweckgebundene Frage auch.
Daraus ergibt sich gleichfalls für jede Sozialtheorie die gleiche Einschränkung, wie
für die Sozialforschung im Ganzen: Wenngleich viele Menschen mit ihrem Handeln
den gleichen Zweck verfolgen, so entscheidet sich letztlich jeder Mensch allein, die
sen Zweck zu verfolgen. Den Zweck dabei aus den Augen zu verlieren – oder einen
solchen nicht sehen zu wollen – lässt m. E. dabei jede Tätigkeit zum Selbstzweck
werden. Kollektive Handlungsempfehlungen stiften unter diesen Vorzeichen jedoch
mehr Verwirrung, als sie allen Betrachtern Nutzen bringen können. Damit erwecken
sie letztlich jedoch eher den Eindruck, nichtintellektuelle müssten das Denken ande
ren überlassen. Und so möchte ich schließen mit den Worten von Severn Cullis
Suzuki, die 1992 zu einer UNKonferenz zum Thema Umweltschäden sprach, und
mich damit gleichlautend bezüglich gesellschaftlicher Begebenheiten an Sozialtheo
retiker und Intellektuelle wenden: „If you don't know how to fix it, please stop brea
king it.“
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