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Universität Potsdam

Sommersemester 2009
Humanwissenschaftliche Fakultät
Institut für Erziehungswissenschaft

Lektüreseminar: Moderne Theorien der Gesellschaft
Leitung: Prof. Dr. Wolfgang Lauterbach

Was bezweckt die Sozialforschung mit 
einer Sozialtheorie?

Eine Analyse von Begriffsverwendungen und der Rolle von Werturteilen seitens untersuch­
ter Akteure und derer Beobachter.

Verfasser: Norbert A. Lichterfeld
Telefon: 030­868­702­7020
Email: www.pm.me tno247 @
Studienfächer: BA1 Erziehungswissenschaft, BA2 Politik und Verwaltung, 2. Studien­ und Fachsemester
Matrikelnummer: 745680

Abgabe: 25.09.2009

Update Wintersemester 2009/10:

Die Note des Professors wurde eine 3.0, unter Berücksichtigung dessen thematischer Perspektive. Die zu Beginn der 
Arbeit aufgeworfene Frage wurde seines Erachtens nicht beantwortet. Nach einem ausgiebigen Gespräch über meine 
Perspektive auf die Arbeit gab der Professor die Empfehlung ab, ich solle mir ein größeres Institut suchen, um meine 
akademischen Fragen zu vertiefen. Es gebe an der gegenwärtigen Fakultät keine Mitarbeiter und vermutlich nur weni­
ge Studenten, die Gefallen an der betreffenden Perspektive finden könnten ­ wenngleich diese wichtig und spannend 
erscheine.
Inhalt
Inhalt
1.Einleitung
2.Gegenstand der Soziologie und erklärtes Ziel
2.1.Historisch bedingte Grundansichten...................................................3
2.2.Die Soziologie ist Natur­ und Geisteswissenschaft zugleich.............4
3.Mängel sozialer Theorie gegenüber der Praxis
3.1.Verwirrung um Begriffsdefinitionen.....................................................8
3.2.Verzerrungen aufgrund vereinfachter Grundannahmen.....................9
3.3.Wertvorstellungen von Beobachter und beobachtetem Subjekt.....12
4.Ausblick
4.1.Motive menschlichen Handelns..........................................................15
4.2.Rationalität oder Rationalisierung......................................................16
4.3.Gleichzeitigkeit, Kommunikation und Verantwortung......................17
5.Schluss
6.Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Die Frage nach dem Zweck einer Theorie macht den Beobachter zum Beobachte­
ten. Sie macht den Forscher zum Gegenstand der Forschung. Ich werde also den
Einfluss der Soziologie auf soziales Handeln betrachten.

Dazu   werfe   ich   in   Kapitel   2   einen   Blick   auf   die   Entstehung   soziologischer   Be­
trachtung und auf die Problematik gegensätzlicher wissenschaftlicher Perspektiven.
Anschließend analysiere ich anhand vorliegender Beispiele drei grundlegende Män­
gel theoretischer Betrachtungen sozialer Begebenheiten. Hierzu orientiere ich mich
hauptsächlich an Paul B. Hills Themenheft zur ,Rational­Choice­Theorie‘. Schließlich
wage ich in Kapitel 4 einen Ausblick auf einige Orientierungsmuster, die mir in einer
Vielzahl   wissenschaftlicher   Schriften   nicht   begegnet   sind,   da   die   jeweiligen   Be­
trachter   offenbar   entscheidende   Faktoren   menschlichen   Handelns   bewusst   oder
nicht wissentlich ausklammern und damit selbst zu Akteuren sozialer Begebenheiten
werden – wie sich im Verlauf aller drei Kapitel zeigt.

2. Gegenstand der Soziologie und erklärtes Ziel
2.1. Historisch bedingte Grundansichten

Die Soziologie sei eine Erfahrungswissenschaft, die zum Gegenstand habe, empiri­
sche Phänomene zu beschreiben und zu erklären (vgl. Hill, P. 2002: 15). Beim Erklä­
ren ginge es hier, wie allgemein bei allen Wissenschaften, um "die Angabe von Ur­
sachen   für   das   Auftreten   von   bestimmten   Phänomenen"   (ebd.).   Gelänge   es   der
Wissenschaft nun, Ursachen zu benennen, so ließen sich Theorien als Grundlage
für die Praxis ableiten (ebd.). Mögliches Ziel, so Hill, wären "die Prognose als auch
die   technische   Manipulation   von   natur­   und   sozialwissenschaftlichen   Ereignissen"
(ebd.).

Dieses Ziel geht vermutlich bereits zurück auf Auguste Comte (1798­1857), dem der
Ausspruch   zugeschrieben   wird:   'Savoir   pour   prévoir,   prévoir   pour   pouvoir',   zu
deutsch 'Wissen, um vorherzusehen, vorherzusehen, um handeln zu können' (vgl.
Wikipedia: Auguste Comte).

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Diese Art der Fragestellung geht auch heute noch immer einher mit Erklärungsmo­
dellen wie beispielsweise dem Positivismus oder dem Determinismus. Ersteres Mo­
dell   reduziert   dabei   wissenschaftliche   Schlussfolgerungen   auf   wiederholtes   Beob­
achten, und damit auf experimentelle Verfahren (vgl. Grabner­Haider 2006: 145 f.).
Zweiteres   beschreibt,   alle   Ereignisse   seien   vorbestimmt   und   somit   auch   jegliche
menschliche Handlung (vgl. Romang: 70).

So hat beispielsweise Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770­1831) formuliert, dass
"in den Begebenheiten der Völker ein letzter Zweck das Herrschende, daß Vernunft
in der Weltgeschichte ist, – nicht die Vernunft eines besonderen Subjekts, sondern
die göttliche, absolute Vernunft, – ist eine Wahrheit, die wir voraussetzen; ihr Beweis
ist die Abhandlung der Weltgeschichte selbst: sie ist das Bild und die Tat der Ver­
nunft. [...]" (aus Hoerster 2006: 247). Hegel beschreibt hier ein Modell der 'Weltge­
schichte', das später aufgegriffen wurde von Karl Marx (1818­1883) und Friedrich
Engels (1820­1895). Deren allgemein lautende Formulierung "Die Geschichte aller
bisheriger Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." (ebd.: 259) hat ver­
mutlich erst zu den Klassenkämpfen geführt, die diese zwei Intellektuellen zu be­
schreiben versuchten. 

All diese Modelle sind bis heute Grundlage für nicht enden wollende wissenschaftli­
che und nicht­wissenschaftliche Debatten. In meiner Untersuchung möchte ich mich
jedoch nicht weiter in historischen Untersuchungen verlieren. Es scheint mir aller­
dings, es gibt einen Zeitgeist aus früheren Epochen, der auch heute großen Einfluss
auf Untersuchungen sozialer Zusammenhänge hat. Ich wende mich daher nun der
Gegenwart zu.

2.2. Die Soziologie ist Natur­ und Geisteswissenschaft zugleich

Die   Soziologie   versucht   natur­   und   geisteswissenschaftliche   Erkenntnisse   im   Zu­


sammenhang zu betrachten. Um dies zu ergründen, ist es hilfreich, die beiden Diszi­
plinen vorerst einzeln anzuschauen. Hierzu greife ich auf Uwe Diederichsens 'Ein­
führung in das wissenschaftliche Denken' zurück.

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Die Naturwissenschaften haben die Erscheinungen der Natur zum Gegenstand.
Astronomie, Physik, Geologie und Mineralogie beschäftigen sich mit den anorga­
nischen Stoffen und Körpern, mit Gestirnen und Gesteinen; die Biologie, Zoolo­
gie,   Botanik  und  Anthropologie   befasst   sich  mit  den  organischen  Stoffen  und
Wesen. [...] Mathematik, Astronomie, Physik und Chemie bezeichnen wir als ex­
akte Naturwissenschaften, insofern ihre Erkenntnisse durch Messungen zustan­
de kommen, die jederzeit und von jedermann nachprüfbar sind. Die Sätze der
reinen Naturwissenschaften, wie sie auch genannt werden, beanspruchen objek­
tive   Geltung.   Medizin,   Pharmazie,   Landwirtschaft   und   das   weite   Gebiet   der
Technik, in denen naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse  praktisch  aus­
gewertet   werden,   bezeichnen   wir   als   die  angewandten  Naturwissenschaften
(Diederichsen 1970: 18; Hervorhebungen A.F.).

Hier kommt bereits die zu Beginn von Kapitel 2.1 durch Paul Hill formulierte techni­
sche Manipulation zum Ausdruck.

Mit den Geisteswissenschaften verhält es sich anders. "Die Natur  erklären  wir, in­


dem wir das Einzelgeschehen kausal auf ein Gesetz zurückführen, die Kulturvorgän­
ge verstehen wir, indem wir ihren Sinngehalt erfassen." (ebd.: 21; Hervorhebungen
im Orig.) und im Weiteren: "Seelenvorgänge des Menschen oder des Tiers, histori­
sche Ereignisse oder auch Kunstwerke stellen etwas Einmaliges, Individuelles, dar."
(ebd.: 23f.) Insofern erscheint es unabdingbar – entgegen in Kapitel 2.1 angedeute­
ten   deterministischen   Vorstellungen   –   einzelne   Akteure   in   soziale   Theorien   mit
einzubeziehen. "Zu den Geisteswissenschaften gehören die Philosophie, die Histo­
rik,   die   Kunstgeschichte,   die   Nationalökonomie   und   die   Betriebswirtschaftslehre.
Aber auch die Jurisprudenz ist Geisteswissenschaft, insofern sie in ihrer Dogmatik
das einer bestimmten Rechtsordnung zugrunde liegende Wertgefüge zur Darstellung
bringt." (ebd.: 25). Mit dem Begriff  Wertgefüge  kommt hier der den Geisteswissen­
schaften  ursprünglich englische Sammelbegriff der  moral  sciences  zum Ausdruck
und   beschreibt   damit   wissenschaftliche   Bereiche,   die   sich   um   Erkenntnisse   des
kulturellen Lebens bemühen (vgl. ebd.: 20).

Die Soziologie steht mit ihrem Anspruch, Natur­ und Geisteswissenschaften zu ver­
knüpfen, demnach zweifelsohne vor einer großen Herausforderung. Offensichtlich ist
m. E., dass eine vorschnelle Verknüpfung schnell in die Irre führt, da sich Ursache
und   Wirkung   jeweiliger   Ereignisse   stets   bedingen   –   und   somit   leicht   verwechselt

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werden. So bestimmen natürliche Ereignisse kulturelles Verhalten, doch auch kultu­
relles Verhalten wirkt auf natürliche Gesetzmäßigkeiten zurück.

In der soziologischen Auseinandersetzung wird derweil weiter gestritten. Schon al­
lein das Alter der wissenschaftlichen Disziplin ist dabei offenbar ein Streitfall. Spricht
Paul Hill doch einerseits von einer "vergleichsweise jungen Wissenschaft und zudem
[einer] sehr pluralistischen Disziplin, in der kaum Einigkeit  über die grundlegenden
Definitionen, Theorien und Aufgabenstellungen herrscht" (Hill, P. 2002: 8), so findet
Viktor Vanberg lange zuvor bereits deutlichere Worte: "Nicht nur im Vergleich mit
den Naturwissenschaften, auch im Vergleich mit den übrigen Sozialwissenschaften
wird [der] Theoriestand [der Soziologie] als äußerst unbefriedigend empfunden. Und
es kann kaum überzeugen, wenn manche – angesichts entsprechender Klagen – im­
mer noch entschuldigend auf die vorgebliche 'Jugend' eines Faches verweisen, das
ja nun wahrlich so jung nicht mehr ist." (Vanberg 1975: 1). Und er schließt seine um ­
fassende Arbeit – auch zu oben von mir bereits angedeuteten Betrachtungsweisen –
mit den Worten:

"Gerade weil aus der Perspektive eines individualistischen Ansatzes die grundle­
gende Schwierigkeit der Erklärung sozialen Geschehens unvermeidbar zu Tage
tritt,  muß ein solcher  Ansatz zwangsläufig viele Erwartungen und Hoffnungen
enttäuschen, die traditionellerweise und nicht zuletzt heute an die Soziologie –
etwa   in   der   Frage   ihrer   praktisch­politischen   Anwendung   –   nicht   zuletzt   der
Grund für die größere Attraktivität jener kollektivistischen Konzeptionen, die mit
der Formel von den 'spezifischen sozialen' Gesetzmäßigkeiten den Anspruch an­
melden, die Komplexität des sozialen Verflechtungszusammenhangs individuel­
ler Handlungen gewissermaßen 'theoretisch überspringen' zu können. Daß die­
ser Anspruch nicht eingelöst worden ist und sich nur als Hindernis für die Ent­
wicklung der Soziologie ausgewirkt hat, ist These dieser Arbeit." (ebd.: 264)

Neben der Frage der Entwicklung der Soziologie ergibt sich für mich aus der Be­
trachtung der Methoden jedoch inzwischen eine ganz andere Frage: Wenn sich aus
der theoretischen Beschreibung sozialer Zusammenhänge tatsächlich Möglichkeiten
der Manipulation von natur­ und sozialwissenschaftlichen Ereignissen ergeben, wel­
cher Art könnten diese sein? Mag es sich dabei um Mittel handeln, die mit individuel­
ler Wahlfreiheit in Zusammenhang stehen oder um Mittel der Gewalt oder zumindest
der Täuschung?

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Letzteres erscheint mir zweifelsohne Gegenstand der historischen Entwicklung der
Soziologie zu sein: Die Erwartungen täuschen über die Möglichkeiten hinweg.

Paul Hill setzt sich mit seinem Themenheft zur Rational­Choice­Theorie (2002) deut­
lich für einen individualistischen Theorieansatz ein. Dies mag m. E. allein der Tatsa­
che geschuldet sein, dass kollektive Handlungen zwar durchaus beobachtbar sind,
sich prinzipiell jedoch lediglich dadurch auszeichnen, dass alle beteiligten Individuen
sich gleichartig verhalten. So sind auch Handlungsempfehlungen oder eingreifende
Maßnahmen immer nur in Bezug auf einzelne Akteure durchführbar, wenngleich es
zu gleichförmigem Verhalten in großen und kleinen Gruppen führen wird. An Paul
Hills Arbeit wird beispielhaft deutlich, wie offenbar immer wieder neue Verwirrung um
soziale Zusammenhänge entsteht, die zuvor bereits ausgeräumt schien.

3. Mängel sozialer Theorie gegenüber der Praxis
Alle Theorie ist m. E. anfällig für mindestens drei Mängel. Zum Ersten ist Theorie be­
grenzt auf sprachliche Vermittlung und Analyse. Wo in der Praxis gelebte Erfahrung
zum Verstehen von Zusammenhängen möglich ist, ist die Theorie beschränkt auf
Worte und Begriffe. Solche sind jedoch in ihrer Bedeutung nicht endgültig festlegbar.
Es ist immer nur eine Annäherung möglich – unter Zuhilfenahme von umschriebener
Erfahrung. Zum Zweiten entstehen komplexe Zusammenhänge immer auf Grund­
lage einfacher Gesetzmäßigkeiten. Ein komplexes Konzept hat somit mehrere einfa­
che Konzepte zur Grundlage. Übergeht man nun Teile solcher Grundlagen oder ver­
einfacht   man   Grundannahmen   zu   stark,   entstehen   Verzerrungen,   die   starken
Einfluss auf die Ergebnisse haben. Zum Dritten sind Werturteile immer subjektiv. Ein
Beobachter urteilt subjektiv über ein subjektiv handelndes Objekt. Mit anderen Wor­
ten wird ein beobachtetes Subjekt zum Objekt einer Theorie. Eine Theorie und darin
beschriebene Objekte sind letztlich beeinflusst von den Wertvorstellungen, die die
Theorie oder deren Verfasser selbst zum Ausdruck bringen. Die drei folgenden Bei­
spiele veranschaulichen die Anfälligkeiten.

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3.1. Verwirrung um Begriffsdefinitionen

Paul Hill beschreibt den Unterschied zwischen Handeln im Allgemeinen und Handeln
im sozialen Zusammenhang. Er zitiert hierzu Max Weber (1864­1920), der wie Au­
guste Comte zweifelsohne viel wichtiges zur Soziologie und deren Grundlagen bei­
getragen hat. Hill macht jedoch sogleich einen Fehler, da er versucht, allgemein ver­
wendete Begriffe speziell gegeneinander abzugrenzen.

Weber ist zitiert mit:

„Soziologie [...] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend
verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklä­
ren will. ›Handeln‹ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres
oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als
der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven  Sinn  verbinden. ›Soziales‹
Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder
den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird
und daran in seinem Ablauf orientiert ist“ (Hill, P. 2002: 10; Hervorhebungen bei
P.H.).

Um Webers Argumentation soll es hier nicht gehen. Daher ist die Sekundärquelle
zur Betrachtung ausreichend, denn diese ist Gegenstand von Hills Beschreibung:

Hier wird also zunächst zwischen Verhalten und Handeln unterschieden. >Ver­
halten< ist dabei die umfassende Kategorie, zu der alle motorischen, kognitiven,
verbalen   und   emotionalen   Aktivitäten   eines   Organismus   gehören.   Verhalten
kann mechanisch, routinehaft und unbewusst ablaufen, es schließt auch sponta­
ne Reaktionen mit ein.

>Handeln< hat hingegen immer einen Sinn, und zwar einen subjektiv gemeinten
Sinn. Es geht also um die Pläne, Absichten, Reflexionen und Antizipationen, die
ein Handelnder seinem Handeln unterlegt, nicht etwa um einen objektiv >richti­
gen< oder methaphysicsh ergründeten >wahren< Sinn (ebd.; Hervorhebungen
P.H.).

Hill hat sich in seinen Ausführungen offensichtlich von der Sache entfernt und ist ver­
sucht die Begriffe Handeln und Verhalten voneinander abzugrenzen. Diese Begriffe
lassen im Alltag solche Abgrenzung jedoch schwer zu. Weber jedenfalls war mit sei­
ner Definition vorsichtiger. Hier deutet sich an, wie stark Theorien des Sozialen be­
einflusst sind, von  der sprachlichen  Erfahrungs­ und  Betrachtungsweise einzelner
Autoren.

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3.2. Verzerrungen aufgrund vereinfachter Grundannahmen

Émile Durkheim (1858­1917) formuliert, aus heutiger Perspektive etwa zeitgleich mit
Max Weber (siehe  Kapitel   3.1), ebenfalls soziale  Zusammenhänge.  Paul  Hill  hält
diesbezüglich lediglich fest, „Soziale Phänomene konstituieren [...] einen eigenstän­
digen Realitätsbereich, der nicht auf biologische, psychologische oder ökonomische
Merkmale reduzierbar ist.“ (Hill, P. 2002: 9) Typische Merkmale seien Sitten, Ge­
bräuche,   Moralgebote,   Finanz­   und   Währungssysteme,   Organisationen   und   die
Sprache (vgl. ebd.).

Hier ist erneut allein die Sekundärquelle bereits interessant, da diese eher Rück­
schlüsse auf Werturteile seitens der Beobachter zulässt, als sie dem Verständnis so­
zialer Zusammenhänge dient. Durckheim ist zitiert mit:

In Wahrheit gibt es in jeder Gesellschaft eine fest umgrenzte Gruppe von Er­
scheinungen, die sich deutlich von all denen unterscheidet, welche die übrigen
Naturwissenschaften   erforschen.   Wenn   ich   meine   Pflichten   als   Bruder,   Gatte
oder Bürger erfülle, oder wenn ich übernommene Verbindlichkeiten einlöse, so
gehorche ich damit Pflichten, die außerhalb meiner Person und der Sphäre mei­
nes Willens im Recht und in der Sitte begründet sind. Selbst wenn sie mit mei­
nen persönlichen Gefühlen im Einklang stehen und ich ihre Wirklichkeit im Inner­
sten empfinde, so ist diese doch etwas Objektives. Denn nicht ich habe diese
Pflichten geschaffen, ich habe sie vielmehr im Wege der Erziehung übernom­
men. [...] Ebenso hat der gläubige Mensch die Bräuche und Glaubenssätze einer
Religion bei seiner Geburt fertig vorgefunden. Daß sie vor ihm da waren, setzt
voraus, daß sie außerhalb seiner Person existieren. Das Zeichensystem, dessen
ich mich bediene, um meine Gedanken auszudrücken, das Münzsystem, in dem
ich meine Schulden zahle, die Kreditpapiere, die ich bei meinen geschäftlichen
Beziehungen benütze, die Sitten meines Berufes führen ein von dem Gebrauch,
den ich von ihnen mache, unabhängiges Leben. [...] Wir finden also besondere
Arten des Handelns, Denkens, Fühlens, deren wesentliche Eigentümlichkeit dar­
in besteht, daß sie außerhalb des individuellen Bewußtseins existieren [...]. Die­
se Typen des Verhaltens und des Denkens stehen nicht nur außerhalb des Indi­
viduums, sie sind auch mit einer gebieterischen Macht ausgestattet, kraft deren
sie sich einem jeden aufdrängen, er mag wollen oder nicht. Freilich, wer sich ih­
nen willig und gerne fügt, wird ihren zwingenden Charakter wenig oder gar nicht
empfinden, da Zwang in diesem Falle überflüssig ist (ebd.: 8 f.; Hervorhebungen
P.H.).

Die Ansicht Durckheims beispielsweise über das Münzsystem ist auch heute durch­
aus verbreitet. Sie täuscht jedoch über die Tatsache hinweg, dass auch das heutige
Geldsystem, wie wir es kennen, eine Jahrhunderte lange Entwicklung vollzogen hat:

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Von vielerlei Tauschwährungen aus Muscheln und Knöpfen oder gar Lebensmitteln
und Textilien, über viele Münzwährungen, gefolgt von einigen Papierwährungen –
die einst durch Rücklagen hauptsächlich in Gold existierten – und heutige Buchwäh­
rungen, die nicht mehr in materiellen Werten aufzuwiegen sind.

Mit   einer   solchen   Täuschung   werden   vorhandene   Zusammenhänge   zwangsläufig


verfälscht und führen zu falschen Schlussfolgerungen. Solche Täuschungen können
vielerlei  Ursachen  haben, Ursprung ist jedoch auch hier die Erfahrungs­ und Be­
trachtungsweise des Beobachters. Mit Bezug auf Stephen R. Covey bezeichne ich
dies als beschränktes Paradigma. „Diese Paradigmen sind wie Landkarten. Sie sind
nicht das Land, sie beschreiben das Land. Und wenn die Karte die falsche ist [...] ,
werden wir unser Ziel wohl kaum erreichen. [...] Paradigmen [sind] Landkarten des
Verstandes und Herzens, aus denen Einstellungen und Verhaltensweisen und letzt­
lich auch Lebensbedingungen hervorgehen. [...] Die Art, zu sehen, (unser Paradig­
ma) führt zu dem, was wir tun (unsere Einstellungen und Verhaltensweisen), und
was wir tun wiederum, führt zu dem, was wir in unserem Leben bekommen.“ (1999:
20 ff.). Was wir bekommen, beeinflusst wiederum, was wir sehen (vgl. ebd.).

Der   Beobachter   hat   also   erheblichen   Einfluss   auf   seine   Interpretation.   Dieser
Einfluss kann bewusst oder unbewusst ausgeübt werden. Die Entscheidung zur In­
terpretation fällt einzig der Beobachter selbst – und zwar jeden Morgen neu, wie
Reinhard K. Sprenger m. E. beispielhaft anhand wirtschaftlicher Unternehmen dar­
stellt: „Das Problem ist in der Tat, daß die meisten Menschen im Unternehmen ver­
gessen haben, daß sie wählen. [...] Sie vergessen einfach, dass sie sich für dieses
Unternehmen täglich neu entscheiden. Daß sie es auch abwählen können, wenn sie
wollen, aber aus Gründen nicht tun,  für die nur sie selbst verantwortlich sind. [...]“
(2000: 44; Hervorhebung im Orig.). Die sprachliche Nähe von Unternehmen und Un­
ternehmung ist dabei keinesfalls zufällig. Sie bringt zum Ausdruck, dass ein erklärtes
oder unerklärtes Ziel vorliegt. Die Unternehmung obliegt einem Zweck.

In Bezug auf Paradigmen gibt Covey einen wichtigen Hinweis auf Grenzen menschli­
cher  Kontrolle: „Den meisten Menschen erscheint es erstrebenswert, ihr Leben zu

10
,kontrollieren‘. Aber Tatsache ist: Nicht wir kontrollieren unser Leben, sondern Prin­
zipien. Wir können unsere Entscheidungen kontrollieren, aber nicht die Konsequen­
zen dieser Entscheidungen. [...]“ (1999: 21; Hervorhebung im Orig.).

Die gleiche Tatsache beschreibt Rick Koerber: „[...] in discussing principles, it's im­
portant to remember that some things are true, weather you believe them or not. [...]
The way you think, the ideas you hold in your mind, are much more powerful then
you've probably been taught to imagine [...]“ (2006: Episode May 23, 01:14). Dies
hier zu vertiefen führt m. E. zu weit.

Koerber grenzt jedoch die folgenden zwei grundlegende Paradigmen voneinander
ab, die für meine Betrachtung von Bedeutung sind. Er beschreibt damit also Land­
karten, die unsere Lebensbedingungen bestimmen: „[Ideas] determine wether or not
you live in the consumer condition or the producer paradigm [...]“ (ebd.). Ersteres
möchte ich übersetzen mit Verbraucherhaltung, zweiteres mit Erzeugerlebensweise.

Die   wichtigste   Eigenart   der   Verbraucherhaltung   ist,   dass   Dinge   oder   Ideen   ver­
braucht,   also   zerstört  werden.   Hierzu   gehört,   dass  ein   Mensch   selbstverständlich
Nahrung zu sich nehmen muss, um zu überleben. Die vorhandenen Handlungsmög­
lichkeiten erscheinen jedoch stark begrenzt.

Die Erzeugerlebensweise ist die genaue Entsprechung. Dinge oder Ideen werden er­
zeugt, gestaltet oder erschaffen. Hierzu ist ebenfalls unabdingbar, dass Dinge oder
gar Ideen zerstört werden müssen. Aus diesen entstehen jedoch neue Dinge oder
auch neue Verhaltensweisen. Handlungsmöglichkeiten sind jedenfalls in großer Fül­
le vorhanden. Mit Neuem entsteht sogleich auch neuer  Wert. Mit Wert ist jedoch
nicht ausschließlich materieller Wert gemeint, sondern derjenige Wert, der allem Le­
ben zugrunde liegt: Lebenswert. Ein Verbraucher nehme somit mehr Lebenswert, als
er zum Leben beisteuert. Ein Erzeuger gebe mehr, als er zum Leben  braucht  (vgl.
ebd.).

In Bezug auf Gedanken und daraus resultierender Konsequenzen bezieht sich Koer­
ber unter anderem auf Ayn Rand. Rand definiert in diesem Zusammenhang, was

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Wert ist – und bezieht den Begriff Tugend mit ein, also einen Begriff für Wert in Be­
zug auf Handlungen: „Value is that which one acts to gain and/or keep – virtue is the
act  by  which  one   gains  and/or keeps  it [...]“  (Rand   1970a:   27;  Hervorhebung   im
Orig.).

Die  geschilderten Betrachtungsweisen eröffnen  m. E. ein  großes Feld  für theore­


tische Untersuchungen, schon allein aufgrund der Kontroverse, die damit einhergeht.
Ich belasse es an dieser Stelle bei einer Feststellung, die auch Koerber in diesem
Zusammenhang zitiert:

„Rationality is man‘s basic virtue, the source of all his other virtues. Man‘s basic
vice, the source of all his evils, is the act of unfocusing his mind, the suspension
of his consciousness, which is not blindness, but the refusal to see, not ignoran­
ce, but the refusal to know [...]“ (ebd.: 27 f.).

Die Soziologie steht m. E. vor einer großen Herausvorderung, wie in Kapitel 2.2 be ­
reits geschildert. Wichtige Grundannahmen dabei zu übergehen – oder gar auszu­
klammern – wird dem  Theoriestand, wie Vanberg beschreibt, nicht förderlich sein
können. Glaubenssätze  außerhalb einer Person, um nochmals auf den oben zitier­
ten Durckheim hinzuweisen, sind jedenfalls nur dann  außerhalb  einer Person vor­
handen, wenn diese innerhalb einer anderen Person vorhanden sind – oder waren.

3.3. Wertvorstellungen von Beobachter und beobachtetem Subjekt

Im Themenheft zur Rational­Choice­Theorie nennt Hill vielerlei Beispiele, die sozia­
les Handeln beschreiben, von denen ich hier zur Veranschaulichung zwei näher be­
trachte. Beim ersten ist ein Verhör zweier Strafverdächtiger Gegenstand einer Situa­
tion. Beim zweiten die Abendgestaltung eines verheirateten Mannes.

Wie schon in Kapitel 3.1 geht es mir hier nicht um die für das erste Beispiel genann­
te Primärquelle, hier von Robert Axelrod, sondern um die Frage der Beobachterrolle,
exemplarisch an Hills Ausführungen.

„Dabei stehen sich zwei [...] Akteure gegenüber, die jeweils zwei Handlungsalter­
nativen haben: Sie können kooperieren oder defektieren, also den eigenen Nut­
zen maximieren und dadurch den anderen schädigen. Wenn z. B. zwei Perso­
nen von der Polizei eines Verbrechens beschuldigt werden, wobei die Akteure
ihr Handeln nicht absprechen können, dann ergeben sich folgende Möglichkei­

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ten: Wenn Person A als Kronzeuge  Person B  beschuldigt und diese leugnet,
wird A nur für drei Monate inhaftiert, und B muss für zehn Jahre ins Gefängnis.
Dasselbe gilt umgekehrt. Wenn beide nicht gestehen, dann kommen sie mit je­
weils einem Jahr davon. Gestehen beide, muss jeder für acht Jahre ins Gefäng­
nis. Aus der Sicht eines Akteurs ist es also am günstigsten, wenn er defektiert,
und der andere zugleich auf Kooperation setzt: Dann kommt er mit drei Monaten
davon und der andere für 10 Jahre in Haft. Wenn nun A leugnet, dann ist es für
B besser zu gestehen. Wenn A gesteht, ist es auch für B besser zu gestehen.
Für B ist ein Geständnis also immer die bessere Handlungswahl [...]. Äquivalente
Überlegungen gelten für A. Beide Akteure wären also besser gestellt, wenn sie
beide   leugnen  würden.   Doch   dazu  wird  es  unter   den   gegebenen  Umständen
nicht kommen. In Situationen wie dieser gibt es zwischen egoistischen Akteuren
keine Kooperation [...]“ (Hill, P. 2002: 42).

Hill betrachtet die Situation unter dem Aspekt des Egoismus. Dies ist ein Thema,
dass ich hier nicht eröffnen werde. Zur Vertiefung sei erwähnt, dass Egoismus fest
verbunden ist mit dem Glauben oder Hoffen eines Menschen, was wieder bei Kapitel
3.2   anschließt.   Koerber   sagt   hierzu   „Faith   begins   with   self­interest“   (vgl.   Koerber
2006; 2007). Mit anderen Worten: Alles  verantwortliche  Handeln geschieht aus Ei­
geninteresse (vgl. Branden 1970b).

Das eigentliche Problem der geschilderten Situation ist m. E. nicht die Entscheidung
der Akteure A oder B, sondern deren Motive. „Der Rational­Choice­Theorie zufolge
handeln Akteure, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen und ihre Lebenssituation zu
verbessern [...]“ (Hill, P. 2002: 44). Doch auf die Frage nach Motiven antwortet die
Theorie nicht, zumindest laut Hill: „Welche Bedürfnisse im Einzelnen befriedigt wer­
den bzw. welcher Nutzen realisiert wird, ist nicht Gegenstand der Theorie der ratio­
nalen Wahl. Die Präferenzen der Akteure werden nicht erklärt, sondern als gegeben
(bzw. konstant) betrachtet. [...]“ (ebd.).

Paul Hill übersieht darum bei diesem Beispiel, dass die Akteure mehr als zwei Optio­
nen haben. Eine  weitere schildert er sogar, erkennt sie  jedoch  offenbar nicht als
nutzbringende Option an: Kooperation sei hier solche zwischen Akteur A und B. Ko­
operation ist jedoch auch in Hinblick auf die Gläubiger möglich – und m. E. das Nütz­
lichste, für das sich A und B entscheiden könnten, egal, ob sie tatsächlich schuldig
sind oder nicht! Hier sind die Wertvorstellungen des Beobachters jedoch dominanter,

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als die der Akteure. Die Motive  aller  Beteiligter, auch des Beobachters, bestimmen
die Analyse mehr, als von den Motiven losgelöste empirische Beobachtungen.

Sind die beiden Akteure tatsächlich schuldig, so ist ihr Handeln bestimmt durch ein
Gemisch aus den Konsequenzen ihres vorherigen Handelns und damit verbundener
Schuldvorstellungen, allein deshalb, da sie  genötigt  sind, sich mit den Konsequen­
zen zu befassen. Ist die Schuldfrage jedoch offen, ändert sich das Bild erheblich. In
jedem Fall handeln sie nicht frei und reflektiert, sondern befinden sich in einer Aus­
nahmesituation   Alle   Theorie   bleibt   gegenstandslose   Spekulation,   wenn   nicht   die
Wertvorstellungen der Akteure mit berücksichtigt werden.

Beim zweiten Beispiel handelt es sich nicht um eine Ausnahmesituation:

Ein   Akteur   hat   an  einem   Samstagabend   aus  seiner   persönlichen   Perspektive
drei verschiedene Handlungsoptionen: Die erste betrifft seine Fußballbegeiste­
rung, der er gemütlich mit Chips und einer Flasche Bier vor dem Fernseher frö­
nen kann (A1). Zweitens möchte seine Frau, dass er mit ihr endlich wieder ein­
mal die Schwiegereltern besucht und das überfällige Geburtstagsgeschenk vor­
beibringt (A2). Und drittens ist er zu einer Parteiversammlung im Ortsverein ein­
geladen (A3). Nach der Rational­Choice­Theorie wägt er zunächst die verschie­
denen Kosten und Nutzen ab. A1 bereitet ihm großes Vergnügen, bringt also den
höchsten Nutzen; als Kosten fallen die unter Umständen massive Kritik seiner
Frau und deren unkooperatives Verhalten in den nächsten Tagen sowie der Ver­
zicht auf die Realisation der anderen Alternativen an. Denn wenn er sich für die­
se Alternative und ihren (intrinsischen Konsum­)Nutzen entscheidet, dann liegt
die Wahrscheinlichkeit, mit dieser Handlung zugleich den Nutzen zu realisieren,
der mit den anderen beiden Alternativen verbunden ist, bei null. Diese Opportu­
nitätskosten und die Sanktionen seiner Frau wiegen deutlich schwerer als der
Nutzen, und somit wird der Nettonutzen negativ. Zugleich ist aber sicher, dass
die Dinge so verlaufen würden, d.h. der negative Nettonutzen wird mit Sicherheit
(p=1) eintreten. Wenn er mit seiner Frau die Schwiegereltern besucht (A 2) und
mit Bedauern auf A1  und A3  verzichtet, dann bereitet ihm dieser Besuch keine
Freude, sondern mäßigen Verdruss, aber seine Frau und die Schwiegereltern
würden sich sehr freuen, ihm viel Lob und Anerkennung zollen und wären in der
nächsten   Zeit   besonders   zuvorkommend;   beides   in   Rechnung   gestellt,   ergibt
sich ein mittlerer positiver Nettonutzen. Und da seiner Erfahrung nach alle Betei­
ligten  so  reagieren  werden,  gewichtet   er   diese  Alternative  mit   der   maximalen
Eintrittswahrscheinlichkeit von eins. Für die noch verbleibende Alternative (A 3)
ergibt sich folgende Einschätzung: Er könnte endlich für den zweiten Vorsitz kan­
didieren, was er schon länger vorhatte. Die Wahl wäre eine große Ehre und Be­
friedigung für ihn. Seine Frau wäre zwar auch über den Besuch der Parteiveran­
staltung nicht sonderlich erfreut, würde ihn jedoch eher als den Bier­und­Chips­
Abend vor dem Fernseher akzeptieren, da sie sein Parteiengagement grundsätz­
lich befürwortet. Somit ergibt diese Alternative (auch unter Berücksichtigung der
Opportunitätskosten für A1  und A2) den eindeutig höchsten positiven Nettonut­

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zen. Aber der Mann weiß, dass seine Chance, gewählt zu werden, sehr gering
ist; er schätzt sie auf circa 10 Prozent (also p=0,10). Gewichtet man den hohen
Nettonutzen mit diesem Faktor, dann liegt der SEU­Wert [subjektiv erwarteter
Nutzen] unter dem für die Alternative >Schwiegerelternbesuch<.

Die hier vorgenommene Schilderung erscheint komplex, doch sie ist unterlegt mit
vielerlei Grundannahmen. Diese sind m. E. weder dem Akteur noch dem Beobachter
zweifelsfrei   zuzuordnen.   Deutlich   wird   die   in   Kapitel   3.2   angesprochene   Ver­
braucherhaltung: Mangel an Möglichkeiten. Im Anschluss an eine anstrengende Ar­
beitswoche mag dies der launenhaften Gestaltung eines Samstagabends durchaus
entsprechen – doch nur in Abhängigkeit der übergeordneten Motive und damit ver­
bundener Wertvorstellungen.

4. Ausblick
4.1. Motive menschlichen Handelns

Napoleon Hill (1883­1970) fasst in „Die Philosophie des Erfolgs“ zusammen, woran
es m. E. der Soziologie mangelt: der Konzentration auf ein klar formuliertes Ziel.

Es ist eine beeindruckende Erkenntnis, daß alle führenden Köpfe in allen Berei­
chen des Lebens und zu allen Zeiten der Geschichte ihre leitenden Positionen
dadurch erreicht haben, daß sie ihre Fähigkeiten in den Dienst eines klar defi­
nierten Hauptziels gestellt haben.

Umgekehrt ist zu beobachten, daß diejenigen, die als Versager eingestuft wer­
den, ein solches Ziel nicht haben. Diese Menschen bewegen sich wie ein Schiff
ohne Steuermann ständig im Kreis und kehren immer wieder mit leeren Händen
zu ihrem Ausgangspunkt zurück (Hill, N. 1993: 32).

Er weist sogleich auf neun Grundmotive menschlichen Handelns hin:

Alle Menschen gleichen sich im Grunde darin, daß sie sich aus einem Stamm
entwickelt haben, und daß sich jedes menschliche Handeln auf eines oder meh­
rere von neun Grundmotiven zurückführen läßt:

• das Gefühl der Liebe
• den Geschlechtstrieb
• den Wunsch nach materiellem Gewinn
• den Selbsterhaltungstrieb
• den Wunsch nach geistiger und körperlicher Freiheit
• den Wunsch nach Selbstverwirklichung
• den Wunsch nach einem Leben nach dem Tode
• das Gefühl des Zorns
• das Gefühl der Angst

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Ein Mensch, der andere verstehen will, muß allerdings zuerst sich selbst verste­
hen [...] (ebd.: 21).

Diese Liste mag vielleicht nicht vollständig sein. Doch sie gibt Hinweise sowohl auf
mögliche   Motive   betrachteter   Akteure   sozialen   Handelns   –   als   auch   derer   Beob­
achter, die m. E. damit ebenfalls beeinflussende Akteure sozialen Handelns sind.

4.2. Rationalität oder Rationalisierung

Die Verwirrung um Begriffsdefinitionen (Kapitel 3.1) gipfelt bei Betrachtung der Ra ­
tional­Choice­Theorie in der beachtenswerten Frage, was Rationalität eigentlich ist –
und was diese nicht ist.

Hierauf gibt Nathaniel Branden eine bemerkenswerte Antwort:

Reason is at once a faculty and a process of identifying and integrating the data
present or given in awareness. Reason means integration in accordance with the
law of noncontradiction. If you think of it in these terms—as a process of noncon­
tradictory integration—it’s difficult to imagine how anyone could be opposed to it.

Here is the problem: There is a difference between reason as a process and
what any person or any group of people, at any time in history, may regard as
“the reasonable.” This is a distinction that very few people are able to keep clear.
We all exist in history, not just in some timeless vacuum, and probably none of
us can entirely escape contemporary notions of “the reasonable.” It’s always im­
portant to remember that reason or rationality, on the one hand, and what people
may regard as “the reasonable,” on the other hand, don’t mean the same thing
(Branden 1984).

Vernünftiges  Handeln mag uns also durchaus  angemessen  erscheinen. Es ist je­


doch nur dann vernünftig, im Sinne von verantwortlich oder gewissenhaft, wenn es
frei ist von Widersprüchen. Einziger Maßstab kann hier die Wirklichkeit sein, also die
naturgegebenen Prinzipien (siehe Kapitel 3.2) – die Naturgesetze, die sich in Form
von Konsequenzen zeigen. Solche anzuerkennen ist eine Frage von Wertschätzung;
von Moral. Hier kann die Sozialforschung m. E. viel beisteuern. Jedoch nur, wenn
die beteiligten Akteure gewillt sind, Widersprüche aufzulösen, Falsches zu verwerfen
und dies plausibel zu bewerten – auch und grade in Hinblick auf Handlungsempfeh­
lungen.

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4.3. Gleichzeitigkeit, Kommunikation und Verantwortung

Weitestgehend unbeachtet in der untersuchten Theorie ist der Umstand, dass sozia­
les Handeln immer mehrere Perspektiven bietet. Jeder einzelne Akteur trifft eigene
Entscheidungen,   wenngleich   die   Konsequenzen   mehrere   Akteure   betreffen.   Das
Handeln der einzelnen bedingt einander. Das bedeutet jedoch auch, dass es aus­
schließlich individuell beeinflussbar ist. Ein Beispiel:

Auf einer abendlichen Heimfahrt begegnete ich kürzlich zwei jungen Männern und
einer   jungen   Frau,   die   gemeinsam  in   der   S­Bahn   unterwegs  waren.   Als  sie   sich
einen Sitzplatz ausgesucht hatten, fragte der eine den anderen, ob er einen Vier­
kantschlüssel dabei hätte. Dieser verneinte und fügte hinzu,  das  ginge auch ohne.
Während sich ersterer anschließend mithilfe mehrerer an einem Schlüsselbund be­
findlicher Schlüssel an einer bodennahen Serviceklappe zu schaffen machte, sagte
ein nahebei stehender, einzelner Passant: „Ich darf Sie bitten, das zu unterlassen!
Darf ich doch, oder?“ Woraufhin der junge Mann sein Vorhaben verwarf, sich wieder
zu den anderen gesellte und während dessen kleinlaut antwortete: „Ja, dürfen Sie.“
Selbiger hatte die Sache anschließend vergessen – oder dem Passanten den Ein­
wand zumindest verziehen –, während der andere junge Mann den zuvor rückwärtig
anwesenden Passanten beim Aussteigen mit einem bösen, skeptischen Blick mus­
terte.

Die verschiedenen Motive haben im geschilderten Beispiel zweifelsohne erheblichen
Einfluss. Der erste junge Mann verspürte vermutlich Langeweile, aus der Neugierde
entstand, der zweite fühlte sich vermutlich in seinem Ehrgefühl gekränkt, die junge
Frau verhielt sich offenbar passiv und der Passant nahm sich kurzentschlossen der
Verantwortung an, die Neugierde des ersten zu bremsen.

Der tatsächliche Zweck der Akteure ist jedoch im Nachhinein nicht zweifelsfrei be­
stimmbar. Dies lenkt meinen Blick erneut auf die Rolle der Sozialforschung im Gan­
zen. Karl Jaspers schreibt hierzu: „Forschungsgeist und zweckhafter Erfindungsgeist
sind wesensverschieden. [...] so kann Wissenschaft aufmerksam machen auf Zu­
sammenhänge und Widersprüche, doch sie kann selbst keine Antworten geben auf

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Sinnfragen; sie kann den Sinn menschlichen Handelns herleiten – vermag solchen
gar beeinflussen – doch zu bestimmen vermag sie ihn nicht“ (1961: 46).

5. Schluss
Nach meiner Betrachtung weiß ich die Frage nach dem Zweck einer Sozialtheorie
nur so individuell zu beantworten, wie jede andere zweckgebundene Frage auch.
Daraus ergibt sich gleichfalls für jede Sozialtheorie die gleiche Einschränkung, wie
für die Sozialforschung im Ganzen: Wenngleich viele Menschen mit ihrem Handeln
den gleichen Zweck verfolgen, so entscheidet sich letztlich jeder Mensch allein, die ­
sen Zweck zu verfolgen. Den Zweck dabei aus den Augen zu verlieren – oder einen
solchen nicht sehen zu wollen – lässt m. E.  dabei  jede Tätigkeit zum Selbstzweck
werden. Kollektive Handlungsempfehlungen stiften unter diesen Vorzeichen jedoch
mehr Verwirrung, als sie allen Betrachtern Nutzen bringen können. Damit erwecken
sie letztlich jedoch eher den Eindruck, nicht­intellektuelle müssten das Denken ande­
ren überlassen. Und so möchte ich schließen mit den Worten von  Severn Cullis­
Suzuki, die 1992 zu einer UN­Konferenz zum Thema  Umweltschäden  sprach, und
mich damit gleichlautend bezüglich gesellschaftlicher Begebenheiten an Sozialtheo­
retiker und Intellektuelle wenden: „If you don't know how to fix it, please stop brea­
king it.“

6. Quellenverzeichnis
Axelrod, Robert (1987): Die Evolution der Kooperation. Oldenbourg, München.
Branden, Nathaniel (1970a): Mental Health versus Mysticism and Self­Sacrifice In: Rand, Ayn: The 
virtue of selfishness. A New Concept of Egoism. Signet, New York, S. 40­48.
Branden, Nathaniel (1970b): Isn‘t Everyone Selfish? In: Rand, Ayn: The virtue of selfishness. A New 
Concept of Egoism. Signet, New York, S. 66­70.
Branden, Nathaniel (1984): The Benefits and Hazards of the Philosophy of Ayn Rand. A Personal 
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