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Thomas Altmann, 11/2009:

Manifest
der
Diloggún
Ifá, Awó und Odu

Ifá ist der systematisierte dogmatische Korpus der Yoruba-Religion.1 In ihr ist
menschliche Urwissenschaft festgehalten, ein Entwurf religiöser Kosmologie und
Kosmogonie formuliert. Hier werden Naturphänomene, Naturgesetze und natürliche
Mechanismen beobachtet, beschrieben und interpretiert und Richtlinien zu individu-
ellem Verhalten und sozialer Ordnung abgeleitet. Ifá wird als Behälter (odù) des Wissens
(awó) visualisiert, ikonisiert und symbolisiert. Ifá ist gegliedert in raumzeitliche topoi2,
denen in synchronistischer Weise kosmologische Begebenheiten, Entstehungsmomente
und Entwicklungsstadien zugeordnet werden, die jeweils durch das gemeinsame
Energie-Pattern miteinander verbunden sind, das diesem topos zueigen ist. Die
raumzeitlichen topoi, von denen hier die Rede ist, werden in Ifá ebenfalls odù, also
gewissermaßen „Einzelbehälter“ genannt.

Das Wort odù besitzt in der Yoruba-Sprache keine Pluralform; im Englischen wird
bisweilen odus als Plural konstruiert, im Spanischen wird das Wort im Singular oft oddu
oder oddun geschrieben, im Plural manchmal odduns. Im Deutschen schlage ich vor, das
Wort Odu groß zu schreiben und die Pluralform Odus zu verwenden.

Die Odus sind gleichzeitig außerdem Orakelzeichen, die durch bestimmte Orakel-
verfahren und Orakelmedien angesprochen werden können; durch gleichzeitige rituelle
Verknüpfung des Orakelmediums mit einer bestimmten Sache oder einer bestimmten
Person und dem in Ifá abgebildeten Orun (der metaphysischen Welt) wird eine geistige
Verbindung der betreffenden Sache oder Person mit der raumzeitlichen Konstellation
seiner hiesigen Gegenwart hergestellt. Die Situation der Sache oder Person wird in
synchronistischen Zusammenhang mit den Energien gestellt, die in dem ermittelten und
sich manifestierenden Odu wirken. Die Gegenwartslage der Sache oder Person gilt in
diesem Zusammenhang als direkter, sinngleicher Ausdruck der herrschenden Odu-
Energie.

In einer Befragungssituation oder Konsultation (span.: consulta) des Ifá-Orakels


wird das im Orakelverfahren ermittelte Odu vom babalawo (Orakelpriester) artikuliert
und gedeutet, wobei die persönliche Befindlichkeit der Person, die sich als Klient an Ifá
gewandt hat, so weit wie möglich miteinbezogen wird. Für die Dauer eines Mond-
monats von 28 Tagen, nämlich der ungefähren Wirkungsdauer eines Odu, werden ihm

1 Ifá kann im Sprachgebrauch auch synonym mit odù für ein bestimmtes Orakelzeichen (s.u.), für den
Orisha des Ifá-Orakels Orúnmila (Orunla, Orula) oder für eine magische Arbeit innerhalb eines Odu
verwendet werden. Bisweilen wird auch die Yoruba-Religion im ganzen als Ifá bezeichnet. Es können an
dieser Stelle nicht annähernd alle Aspekte von Ifá behandelt werden.

2 Topos, pl. topoi ist das griechische Wort für Ort, Platz, aber auch Begriff. Ich verwende dieses
Fremdwort, weil ich einen Suchort beschreiben will, der sowohl räumlich als auch zeitlich gemeint ist. Es
handelt sich ebenso um einen geistigen Ort wie Zeitpunkt.

2
Verhaltensregeln aufgegeben. Diese umfassen Gebote (Empfehlungen) und Verbote
(Tabus) sowie Opfervorschriften.

Das Opfer ist eine wesentliche Komponente der religiösen Kultur Ifás. Ohne das
Motiv der Opferbestimmung, die der Babalawo anhand des jeweiligen Orakeltextes
vornimmt, wäre die Konsultation sinnlos. Es liegt in der Natur der Sache, daß eine
Person sich vorwiegend dann ratsuchend an das Orakel wendet, wenn er einen – oft
schmerzhaften – Beweggrund dafür hat. Sinn jeder Konsultation ist es, die Lage des
Klienten in tiefgreifender Weise zu verbessern, indem nicht nur weltliche, materielle
oder physische Symptome mit ebensolchen Gegenmaßnahmen angegangen werden,
sondern vor allem auch die verborgenen metaphysischen Ursachen, die die Gegenwart
der greifbaren und sichtbaren Welt ständig aus dem Orun heraus erzeugen, wirksam
beeinflußt werden. Das probate Mittel hierfür ist, neben Tabus (ewó) und allgemeinen
Handlungsanweisungen, ein komplexes Opferritual, das verschiedene zusammen-
hängende Leistungen umfassen kann und in aller Regel der fachmännischen Aus-
richtung durch den Priester bedarf. Solch ein Opferritual heißt ebo (ebó, ebbó).

Das Ebo

Ein Ebo wirkt auf multiplen Bedeutungsebenen:

I. Ein echtes Opfer ist immer eine Verzichtshandlung, ein Geben von materiellen
oder ideellen Werten oder einer Arbeitsleistung. Eine solche Verzichtshandlung und die
damit verbundene Disziplin kann auf den Klienten eine therapeutische Wirkung haben.

II. Ein Opfer ist eine symbolhafte Geste in Richtung einer Willenskundgebung.

III. Durch die Vernichtung des körperlichen und formhaften Zustandes eines
Gegenstandes, einer Pflanze oder eines Tieres wird geistige Energie freigesetzt, indem
sie der Stofflichkeit entbunden, aus ihrer Bindung an Stoff befreit wird, und dies in
überproportionalem Maße. Diese geistige Energie kann – und muß – sinnvollerweise
auf ein geistiges Ziel gerichtet werden, um Resultate im Orun zu erzielen, die ihrerseits
wieder in der diesseitigen Welt (Ayé) Realitäten bewegen. Ein Opfer ist ein magischer
Akt.

IV. Die mystische Funktion des Opfers in Ifá besteht in der Schaffung eines
ausgeglichenen Zustandes zwischen Orun und Ayé (geistiger und stofflicher Welt),
zwischen Gottheit und dem (opfernden) Menschen, insbesondere der Angleichung und
letztlichen Vereinigung des Menschen mit seinem Wesen, seiner Bestimmung, seiner
Seele (Orí). Orí, der Kopf, ist die individuelle Gottheit jedes einzelnen Menschen.

V. Ein Opfer hat einen religiösen Aspekt, da er Kommunikation, Verbindung und


Austausch mit der göttlichen Sphäre darstellt. Die Gemeinschaft mit der göttlichen
Entität wird durch Kommunion oder Eucharistie bekräftigt, das gemeinsame Mahl mit
Gott.

3
VI. In weiterer Konsequenz ist das Opfer Sacrificium, eine Heiligung oder Weihe
der Opfergabe.

VII. Ein Opfer hat einen sozialen Aspekt. Es erlangt in vielen Fällen erst dann seine
volle Wirksamkeit und Gottgefälligkeit, wenn die Religionsgemeinschaft oder ein
engerer Kreis derselben an der Opfergabe teilhaben oder einen Nutzen aus der
erbrachten Leistung ziehen.

VIII. Ein Opfer hat eine reinigende Wirkung, und zwar sowohl auf die Person, die
das Opfer leistet, als auch auf das Objekt oder die Person, das mit der geopferten
Substanz in Kontakt gebracht wird. Dies gilt insbesondere für Waschungen in dem
Aufguß geopferter Pflanzen (osain, omiero), für Geistreinigungen des Körpers (sarayeye)
oder rituelle Bäder (ebo misi).

IX. Ein Opfer hat nährende Wirkung, etwa indem Speise- und Trinkopfer ihre
lebenserhaltende Energie an eine geistige oder göttliche Wesenheit abgeben. Die bei der
Zubereitung eingesetzte Arbeitsleistung stellt auch eine Form von Energie dar, die bei
dieser Form des Opfers weitergegeben und auf diese Wesenheit übertragen wird.

Einen besonderen – und in urbanen Zonen der westlichen Welt stets Anstoß
erregenden – Typ dieses Opfers stellt das Blutopfer dar, dessen zentrale (aber nicht
einzige) Funktion in der Belebung und Kraftversorgung eines Objektes und der ihm
innewohnenden geistigen oder göttlichen Entität besteht. Das Blut stellt hier den Träger
und Stifter des Lebens dar, dessen spirituelle Essenz spirituellen Wesenheiten und
Gottheiten als Nahrung und Stärkung dient. Typischerweise werden die für den
Menschen genießbaren Teile, also das Fleisch des Tieres von der engeren religiösen
Gemeinschaft verzehrt (sozialer Aspekt des Opfers), und zwar in Kommunion mit der
Gottheit (z. B. der „Repräsentanz“ des Orisha). Nur wenn das betreffende Tier in einer
Geistreinigung eines Menschen dessen negative Energien aufgenommen hat, wird es
nicht mehr gegessen. Manchmal entgeht es in solchen Fällen allerdings auch dem Tod,
indem es mitsamt dieser Energien in die Freiheit entlassen wird.

X. Ein bedeutendes Opfer besteht in der Selbstdisziplin, die sich in der bewußten
Verhaltensänderung oder Lebensveränderung äußert, welche eine Person in religiöser
Hinwendung vornimmt. Es fällt oftmals schwer, Gebote, die in einer Orakelkonsultation
ausgesprochen wurden, wirklich zu befolgen.

XI. Die religiöse Haltung des Opfernden bei der Opferleistung ist ausschlaggebend.

XII. Spezielle Typen des Opfers sind nach ihren Funktionen das Dankesopfer und
das Opfer zur Sänftigung, Beschwichtigung und Kühlung (ètùtù), das ebenso als Sühne-
oder Versöhnungsopfer bezeichnet werden kann.

4
Die Orakelzeichen von Ifá

Ifá ist die allumfassende Lehre Orúnmilas. Anders gesagt: Orúnmila (Orunla,
Orula) ist der Orisha (die Gottheit) und der Prophet von Ifá. Orúnmila ist damit der
Patron der Babalawos (Ifá-Priester) und auf Cuba der einzige Orisha, der von ihnen
aktiv kultisch verehrt wird. Ifá wird definiert als die Gesamtheit allen Wissens über
alles, was existiert hat, existiert oder existieren wird.3 Ich möchte hinzufügen, daß dieses
Wissen sowohl die Existenz im Ayé (der stofflichen Welt) als auch im Orun (der nicht-
stofflichen Welt) umfaßt. Es dürfte klar sein, daß nie ein einziger Mensch je alles Wissen
erlangen wird, das in Ifá enthalten ist. Ifá enthält alles.

Die Orakelmedien des Ifá-Priesters sind die Palmnüsse oder ikin (ikines), die
Divinationskette 4 opele (ekuele) und die obi (Kolanuß in Afrika, Kokosnuß auf Cuba). Obi
wird freilich nicht nur von den Babalawos verwendet, sondern auch von Orisha-
Priestern (olórisha) und in einigen Fällen auch von Personen, die entweder die Krieger-
gottheiten (span.: guerreros) Eleggua, Ogún und Ochosi erhalten haben oder gar nur mit
den Egun (Totenseelen) kommunizieren.

Der nigerianische Babalawo und Ifá-Sprecher Wande Abimbola zählt zur Ifá-
Divination außerdem noch das Medium der agbigba, der Divinationskette der Ewe und
Fon im Westen Nigerias und die Eérìndínlógún (Mérìndínlógún), die auf Cuba Diloggún
oder auf spanisch caracoles genannt werden: die 16 Kaurimuscheln.5 Die Kauris werden
ausschließlich vom Olórisha verwendet, also weder von Uneingeweihten (aleyo) noch
von Babalawos. Diese Feststellung Abimbolas ist irreführend, wie wir sehen werden;
denn mit den Kaurimuscheln werden nicht die Odu-Ifá, sondern die Odu-Orisha
angesprochen, die von Ifá einzig und allein informiert werden.6

Während der Babalawo mit den Divinationsmedien Ekuele und Ikin Zugriff auf
alle 256 Odus (Orakelzeichen) von Ifá hat, hat der Olórisha mit den Diloggún nur 16
Zeichen zur Verfügung. Diese 16 Zeichen der Diloggún entsprechen den 16 Haupt-,
Grund- oder Kardinalzeichen im Ifá-System, von denen sich dort die restlichen 240
Sekundärzeichen oder „Kombinationen“ ableiten, die dann mit den Hauptzeichen
zusammengezählt die Gesamtanzahl von 256 Orakelzeichen ergeben. Auf welche Weise

3 Nach Yrmino Valdés Garriz in Obi-Dilogun-Ekuele (La sabiduria del Oráculo), DVD Video Lucumi
(Mundo Latino). Yrmino Valdés Garriz ist auch Autor eines maßgeblichen Buches über die Diloggún
(Dilogún [1995], Ediciones Unión, La Habana 1997).

4 Ich verwende den aus dem englischen wie auch spanischen Sprachgebrauch entlehnten Begriff
Divination auch im Deutschen als Bezeichnung für den Akt der Kommunikation und Befragung von
Gottheiten und die Offenbarung deren Aussagen. Dies sind die Aktionen, die im Orakel stattfinden.

5 Wande Abimbola, The Bag of Wisdom in: Murphy/Sanford, Òsun across the Waters [2001:141]

6 Afolabi A. Epega sieht die Merindinlogun als Ifá-Orakel an und stellt fest, daß ihre Odus prinzipiell
dieselben seien, die man mit Opele (Ekuele), Ikin und Obi erhält (Ifa – The Ancient Wisdom [2003:69]).

5
die 16 Kardinalzeichen in Ifá, die sogenannten Olódu (oder ojú-odù) den 16 Diloggún-
Zeichen entsprechen, wird noch genauer erörtert werden. Ob und wie weit diese
Entsprechung so ausgelegt werden kann, daß die 16 Olódu in Ifá tatsächlich mit den 16
Zeichen der Diloggún identisch sind, ist strittig.

Die Kardinalzeichen des Ifá-Systems oder Olódu sind, geordnet in der Rangfolge
oder Reihenfolge ihrer Seniorität:

Cubanischer Name (Lukumí) Afrikanischer Name (Yoruba)

1 Eyiogbe Éjì-Ogbè

2 Oyekún-Meyi Òyèkú-Méjì

3 Iwori-Meyi Ìwòrì-Méjì

4 Odí-Meyi Òdí-Méjì, Ìdí-Méjì

5 Irosun-Meyi (Iroso-Meyi) Ìrosùn-Méjì

6 Ojuani-Meyi Òwónrín-Méjì

7 Obara-Meyi Òbàrà-Méjì

8 Okana-Meyi Òkànràn-Méjì

9 Ogundá-Meyi Ògúndá-Méjì

10 Osá-Meyi Òsá-Méjì

11 Iká-Meyi Ìká-Méjì

12 Otrupon-Meyi Òtúrúpòn-Méjì, Ológbón-Méjì

13 Otura-Meyi Òtúrá-Méjì

14 Irete-Meyi Ìretè-Méjì

15 Oché-Meyi Òsé-Méjì

16 Ofún-Meyi (Orangun) Òfún-Méjì, Òràngún-Méjì

Das Wort meyi (yor. méjì) bedeutet „zweimal“, „zweifach“ oder „doppelt“. Eyi (éjì)
ist eine alternative Bezeichnung zu meyi. Eyiogbe bedeutet demnach „Doppel-Ogbe“,
Oyekún-Meyi „Oyekún zweifach“, Iwori-Meyi „Iwori zweifach“ und so weiter. Die Meyi
oder Doppelzeichen sind die Kardinalzeichen des Ifá-Systems, die einst aus ihren
Primärzeichen entstanden sind. Diese Primärzeichen oder Ursprungszeichen (Stamm-
zeichen) bestehen aus nur einer Zelle und heißen dem entsprechend wie folgt:

6
Cubanischer Name (Lukumí) Afrikanischer Name (Yoruba)

1 Ogbe Ogbè

2 Oyekún Òyèkú

3 Iwori Ìwòrì

4 Odí Òdí (Ìdí)

5 Irosun (Iroso) Ìrosùn

6 Ojuani Òwónrín

7 Obara Òbàrà

8 Okana Òkànràn

9 Ogundá Ògúndá

10 Osá Òsá

11 Iká Ìká

12 Otrupon Òtúrúpòn

13 Otura Òtúrá

14 Irete Ìretè

15 Oché Òsé

16 Ofún Òfún

Nach mythischer Überlieferung waren die Primärzeichen primordiale Gottheiten


(Irúnmòlè) im Orun, der nicht-stofflichen Welt („Himmel“, Jenseits), die im Moment
ihrer Manifestation im Ayé, der stofflichen Welt, ihren Namen zweifach annahmen.7
Dies ist der Schritt von der Ur-Einheit zu der Dualität, Polarität und Geschlechtlichkeit
der uns als real bekannten Welt. Die Doppelexistenz, die sich in dem Doppelnamen
ausdrückt, erinnert zum einen an die Doppelhelix der DNS und die diploiden
Chromosomensätze organischer Lebewesen, legt zum anderen aber auch die Idee von
der Zweifaltigkeit der Existenz als geistiges Wesen und körperlicher Leib nahe.8 Es
scheint, als ob die 16 Irúnmòlè beim Eintritt in die stoffliche Welt neben ihrer rein
geistigen Natur einen zweiten, stofflichen Aspekt ihrer Existenz hinzugewonnen hätten.

7 Nach Fagbemi Ajanaku, zitiert von Fela Sowande in Ifa (www.geocities.com/Athens/Aegean/9765/fela.htm)

8 Siehe Karlfried Graf Dürckheim, Vom doppelten Ursprung des Menschen und andere Werke.

7
Eine Legende im Odu Ochetura erzählt, wie 17 Irúnmòlè in die Welt traten, zu
denen einer Überlieferung zufolge die 16 Olódu gehörten, die in diesem Falle alle als
männlich dargestellt werden, während der siebzehnte Irúnmòlè weiblichen Geschlechts
ist und Oshún heißt. Die 16 männlichen Olódu mißachten und übergehen Oshún
(Ochún) bei all ihren Vorhaben, von denen keines gelingen will. Olódumare, der
Schöpfer, klärt sie darüber auf, daß ihre Mißerfolge darin begründet lägen, daß sie den
siebzehnten Irúnmòlè nicht in ihre Aktivitäten einbezögen. Sie bitten daraufhin Oshún
um Vergebung. Diese verzichtet weiterhin auf ihre Mitsprache, kündigt aber an, daß ein
Sohn, den sie gebären würde, an ihrer Stelle vor allen Unternehmungen bedacht werden
müsse. Dieser Sohn heißt in der Ifá-Sphäre Ochetura, in der Sphäre der Orisha jedoch
Echú Odara: „Echú, der Wundervollbringer“.

Ochetura (Oché-Otura) steht zwar weit hinten in der Reihenfolge der Odus, wird
aber in der Seniorität als siebzehntes Odu eingestuft. Ochetura markiert die Geburt von
Echú Odara und legt fest, daß Echú (Eshú) vor allen anderen Orishas zu Beginn einer
Aktivität zu bedenken ist; mit Anrufungen, Bittgebeten und Opfern. Andererseits ist es
aber auch Ochetura, selber Kind von Oché und Otura, das die Olódus dazu ermuntert,
Paarungen mit allen anderen Olódus vorzunehmen. So entsteht aus der Paarung oder
Kombination von Eyiogbe und Oyekún-Meyi Ogbe-Yekún (Ogbe-Oyekún), aus Eyiogbe
und Iwori-Meyi Ogbe-Wori (Ogbe-Iwori), umgekehrt aus Oyekún-Meyi und Eyiogbe
Oyekún-Ogbe, aus Iwori-Meyi und Irosun-Meyi Iwori-Irosun9 und so fort. Aus allen
möglichen Paarungen ergibt sich die Rechnung 16x16 (162), und es resultiert die
Gesamtanzahl von 256 Odus. Die 240 Sekundärzeichen oder Kombinationen heißen in
Afrika àmúlù, àmúlù-málà oder omó-odù.

Beispiel für Diagramme der Odu-Ifá (afrikanische Signatur10):

I II I I II II I II II I
II I II II I I II I I II
II I II II I I II I I II
I II I I II II I II II I

Odí Iwori Odí-Meji Iwori-Meji Iwori-Dí Odí-Wori


(Einzelzeichen) (Einzelzeichen) (Doppelzeichen) (Doppelzeichen) (Kombination) (Kombination)

9 Die Unterdrückung des Anfangsvokals des zweiten Odus hat lediglich linguistische Gründe.
Darüberhinaus haben die Odus in Ifá üblicherweise noch alternative Namen, gewissermaßen Pseudonyme.
So heißt zum Beispiel Ogbe-Iwori auf Cuba noch Ogbe-Weñe, Oyekún-Ogbe Oyekún-Nilobe, Iwori-Iroso
Iwori-Koso u.s.w.

10 Die cubanische Darstellungsweise ersetzt die Doppellinien II durch das Zeichen O.

8
Die Orakelzeichen der Merindinlogun oder Diloggún

Die Orakelzeichen der Mérìndínlógún oder Diloggún sind Einzelzeichen, die in


dieser Beschaffenheit den Primärzeichen in Ifá ähneln und zum überwiegenden Teil
auch namensgleich mit ihnen sind. Nach Fá’Lokun Fatunmbi (David Wilson) besteht in
Nigeria folgende Kongruenz zwischen den Primärzeichen von Ifá und den Orakel-
zeichen der Mérìndínlógún 11:

Odu-Ifá (Yoruba, Nigeria) Mérìndínlógún (Yoruba, Nigeria)

1 Ogbe Eji Ogbe (8)

2 Oyeku Eji Òko (2)

3 Iwori Ejila Sebora (12)

4 Odí Odi (7)

5 Irosun Irosun (4)

6 Owonrin Owonrin (11)

7 Obara Obara (6)

8 Okanran Okanran (1)

9 Ogunda Ogunda (3)

10 Osa Osa (9)

11 Ika Ika (13)

12 Oturupon Oturupon (14)

13 Otura Ofun Kanran (15)

14 Irete Irete (16)

15 Ose Ose (5)

16 Ofún Ofun (10)

17 Opira (0)

11 Fá’Lokun Fatunmbi, Awo. Ifá and the Theology of Orisha Divination [1992:75]

9
Die Ziffern hinter den Namen der Mérìndínlógún-Zeichen geben deren Platz in der
(veränderten) Reihenfolge innerhalb dieses spezifischen Orakelsystems an. Mit der
Seniorität oder dem Rang der Zeichen hat diese Reihenfolge nichts zu tun; vielmehr
ergeben sich die Zahlen aus der Anzahl der bei einem Wurf mit dem „Mund“ nach oben
gefallenen Kaurimuscheln. Opira ist kein eigentliches Odu und kommt in Ifá nicht vor;
es bezeichnet einen Wurf, nach dem keine der Kauris mit dem Mund nach oben liegt.

Diloggún-Wurf: das einfache Odu Oché (5)

Im cubanischen Diloggún-System der Lukumí-Tradition tragen die Zeichen 12-16


lediglich Zahlennamen, und andere Namen werden etwas anders geschrieben. Die
Reihenfolge der Zeichen bleibt von 1-11 gleich; doch dann treten eklatante Ab-
weichungen zum afrikanischen System hervor. Dabei wird deutlich, daß in einigen
Fällen auf Cuba die Zuordnungen oder Entsprechungen der Diloggún-Zeichen zu den
Odu-Ifá andere sind als die der Mérìndínlógún in Afrika: Ab dem 12. Zeichen (Eyila
Chebora) gibt es keine Übereinstimmungen mit dem afrikanischen Modell mehr.

10
Die folgende Tabelle zeigt die Orakelzeichen der Diloggún im cubanischen
Lukumí-System in der ihm eigenen Reihenfolge der gezählten Kauris und ihre
Zuordnungen zu den Doppel-Odus im cubanischen Ifá-System:

Diloggún (Lukumí, Cuba) Odu-Ifá (Lukumí, Cuba)

1 Okana (Okana-Sode) Okana-Meyi

2 Eyioko Oyekún-Meyi

3 Ogundá Ogundá-Meyi

4 Iroso Iroso-Meyi

5 Oché Oché-Meyi

6 Obara Obara-Meyi

7 Odí Odí-Meyi

8 Eyeunle Eyiogbe

9 Osá Osá-Meyi

10 Ofún (Ofun-Mafun) Ofún-Meyi

11 Ojuani (Ojuani-Chober) Ojuani-Meyi

12 Eyila Chebora Otrupon-Meyi

13 Metanla Irete-Meyi

14 Merinla Iká-Meyi

15 Marunla (Manunla) Iwori-Meyi

16 Meridiloggun (Mediloggun) Otura-Meyi

17 Opira Opira

11
Hier noch einmal die Gegenüberstellung der Entsprechungen der Diloggún-
Zeichen von 12 bis 16 im Ifá-System in Nigeria und in Cuba:

Diloggún (Cuba) Odu-Ifá (Cuba) Odu-Ifá (Nigeria)

12 Eyila Chebora Otrupon-Meyi Iwori-Meji

13 Metanla Irete-Meyi Iká-Meji

14 Merinla Iká-Meyi Oturupon-Meji

15 Marunla Iwori-Meyi Otura-Meji

16 Meridiloggun Otura-Meyi Irete-Meji

In Cuba werden die Zeichen von 13 bis 17 nicht vom Olórisha (Orisha-Priester)
gelesen; diese Zeichen verweisen den Klienten automatisch an Ifá, also zu einer
Konsultation mit einem Babalawo. Der Olórisha (Santero, Santera) liest lediglich die
Zeichen von 1 (Okana) bis 12 (Eyila Chebora). Auch in Afrika werden die Orakelverse
der Zeichen 13-16 dem Klienten in der Regel nicht vorgetragen; es heißt in diesen Fällen,
der Orisha sei „alarmiert“.12 Aus William Bascom’s Studie Sixteen Cowries von 1980, bis
heute noch das unübertroffene Standardwerk über das afrikanische Merindilogun-
System, geht dies allerdings nicht hervor.

In Cuba sind zwei religiöse Patakis (Legenden) im Umlauf, die das Verbot an den
Olórisha, über das zwölfte Zeichen hinaus zu lesen, mythologisch-dogmatisch
begründen. Das eine findet sich im Diloggún-Zeichen Metanla (13), also dem ersten
Zeichen nach der für Olórishas noch lesbaren Eyila (12), das von Babalú Ayé beherrscht
wird.13 Dort wird Babalú Ayé, der sich durch seinen Ungehorsam und seine maßlose
Lebensführung Krankheit, Armut und Verstoßung zugezogen hat und nur noch Übel
verkündet, seine Stimme in Ocha entzogen, indem seine dreizehn Diloggún an sein
Zepter, den Ajá genäht werden, sodaß er fortan nur noch in Ifá sprechen konnte.

Das andere Pataki ist keinem Odu zuzuordnen und handelt von Yemayá, die in
Abwesenheit und Vertretung ihres Gatten Orúnmila dessen Beratungsgeschäfte über-
nimmt und ihm in kurzer Zeit zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz wird. Daraufhin
verfügt Orúnmila, daß ihm die Ekuele, die Ikin und die Ifá-Tafel vorbehalten blieben,
Yemayá hingegen die Diloggún überlassen würden, die sie allerdings nur bis zum
zwölften Zeichen lesen dürfe.

12 Siehe Ayo Salami, The Worship [2008:141]; Afolabi A. Epega bezeichnet die Zeichen 12-16 als
“dreadful” (Ifa – The Ancient Wisdom [2003:72])

13 Pataki unter Metanla im Anhang des Textes (S. 27).

12
In anderen Texten insbesondere afrikanischen Ursprungs ist Ochún die Urheberin
des Diloggún-Orakels. David O. Ogungbile gibt folgende Version wieder:

Orúnmila unternahm eine Divinationsreise in eine andere Stadt. Bevor er ging, hatte er Oshún, seine
wißbegierige und kenntnisreiche Frau, in die Kunst der Divination eingeführt. Er gab ihr sechzehn Kauri-
muscheln und belehrte sie, daß diese Muscheln, gleich wie sie sie auch handhabte, Wunder bewirken
würden, selbst wenn sie von seiner eigenen Anordnung und Interpretation der Odu abweichen sollten.
Die Reise Orúnmilas, die eigentlich auf sechzehn Tage veranschlagt war, dauerte am Schluß sechzehn
Jahre. Seine lange Abwesenheit stürzte Scharen seiner Klienten in Ratlosigkeit. Sie überredeten Oshún,
ihnen wenigstens eine Art „Erster Hilfe“ zu leisten. So begann sie also, zur Divination die Eérìndínlógún für
sie zu werfen.
Als Orúnmila wiederkehrte, wurde er sofort mit der Nachricht von den großen Divinationserfolgen seiner
Frau Oshún begrüßt. Davon war er freudig überrascht; denn Oshún hatte in seiner Abwesenheit eine
Menge Geld und andere Materialien verdient, während seine eigene Reise mehr Verlust als Gewinn
erbracht hatte. Somit erkannte Orúnmila den Gebrauch der Eérìndínlógún durch Oshún an und ermächtigte
14
sie ausdrücklich hierzu.

Nach Ifáyemi Elébuibon gab Oshún das Kauri-Orakel sodann an ihren Freund
Obatala weiter, bis letztendlich alle Orishas es verwendeten.15

Das Diloggún-Orakel erscheint hier als eine Art von Provisorium für die traditio-
nellen Methoden in Ifá. Orúnmila konzediert, daß Kodex und Aussage der Diloggún
zwar von Ifá abweichen können, die Diloggún aber dennoch effektiv ihre Funktion
erfüllen würden.

Wande Abimbola vertritt gar die Ansicht, das Eérìndínlógún-System sei möglicher-
weise der historische Vorläufer des Ifá-Systems gewesen. Er stützt seine Theorie auf die
Tatsache, daß die Eérìndínlógún die Einzelzeichen oder einfachen Odus ansprechen,
während Ifá Doppelzeichen (Méjì) vorsieht; Doppelzeichen hätten aber logischerweise
die vorherige Existenz von Einzelzeichen zur Voraussetzung.16 Doch auch Obi (die
Kolanuß) liefert ein Orakel, mit welchem Einzelzeichen erzeugt werden können. Ich
tendiere zu der Auffassung, daß das Obi-Orakel von allen Ifá-Divinationsformen das
älteste sein dürfte.17 Beschaffung, Präparation und Divinationstechnik des Obi-Orakels
sind primitiver und einfacher als bei Mérìndínlógún oder Ikin.

Abimbola behauptet ferner, Oshún sei vor Orúnmila im Besitz des „Sacks der
Weisheit“ (i.e. Odu-Ifá) gewesen, den Olódùmarè zur Suche aussetzte. Abimbola zitiert
hierzu eine Geschichte aus dem Odu-Ifá Okanransode (Okana-Sodde, Okana-Ogbe)18, in

14 David O. Ogungbile, Eérìndínlógún in Òsun across the Waters von Murphy & Sanford [2001:190]

15 Zitiert in: Ogungbile, Eérìndínlógún in Òsun across the Waters von Murphy & Sanford [2001:191]; vom
Tratado secreto de oddun de Ifá (Cuba) verlautet dagegen, Changó sei der Erste gewesen, der die Caracoles
geworfen hätte, als Oshún krank war (Oché-Meyi).

16 Wande Abimbola, The Bag of Wisdom in Òsun across the Waters von Murphy & Sanford [2001:150]

17 Siehe auch Afolabi A. Epega, Obi Divination [2003:1]; Baba Osundiya, Awo Obi [2001:103]

18 Abimbola, The Bag of Wisdom in Òsun across the Waters von Murphy & Sanford [2001:146-149]

13
der Oshún zwar diesen Schatz findet, ihn aber aus ihrer Brusttasche verliert, weil sie ihr
Ebó nicht geleistet und eine Ratte ihr dafür ein Loch in die Tasche gefressen hatte. Am
Ende ist es doch Orúnmila, der den Bag of Wisdom vom Boden aufliest.

Auch dieser Vers betont die Unterlegenheit des Diloggún-Systems: „Er lehrte sie
ein kleines Bißchen von seiner Weisheit.“ … „Orúnmila nahm ein kleines bißchen von
seiner Weisheit und gab es Oshún.“

Eine andere Geschichte in Ogbèsá (Ogbe-Osá) illustriert das Wesen der Aussagen
im Diloggún-Orakel, wie sie im Unterschied zu den Inhalten in Ifá getroffen werden.
Nach diesem Odu übertrug Orúnmila seiner Partnerin Oshún die sechzehn Kauris und
aus Dankbarkeit. Es heißt dort unter anderem: „Von all den verscheidenen Formen der
Divination ist das Eérìndínlógún-System das rangzweite System nach Ifá.“ Die
Geschichte erzählt, wie Olodumare die Orakelpriester der Erde einer Prüfung zu
unterziehen pflegte 19:

Olodumare bat <Oshún>dann , ihm zu weissagen. Sie traf genau all die Dinge, die er im Sinn hatte. Aber
sie sagte sie nicht voll und ganz. Sie nannte zwar alles Wesentliche (the gist), aber sprach nicht von den
Wurzeln, dem Kern der Sache (root of the matter), wie Ifá es tut. Olodumare fragte Orúnmila, was das sei,
und Orúnmila legte ihm dar, daß er Oshún die sechzehn Kauris als Lohn gegeben hätte. Olodumare sagte,
das sei in Ordnung, und obwohl sie nicht in Einzelheiten gegangen sei, würde er, Olodumare, der Sache
seine Zustimmung geben. Er setzte hinzu, daß jeder, der nicht an die Eérìndínlógún glauben würde, die
Folgen sofort zu spüren bekäme, selbst wenn deren Aussagen nicht sonderlich detailliert wären; man
bräuchte nicht einmal bis zum nächsten Tag zu warten.
Darum treten die Voraussagen der Eérìndínlógún sehr schnell ein, auch wenn <ihre> Geschichten nicht
besonders eindrucksvoll sein sollten. So erhielten die Eérìndínlógún ihr Ashé direkt von Olodumare.

Davon, daß die Geschichten des afrikanischen Eérìndínlógún-Systems nicht beson-


ders eindrucksvoll sind, kann man sich unschwer in Bascom’s Werk Sixteen Cowries
überzeugen. Der Umstand, daß die Diloggún nur einen unvollständigen, oberfläch-
lichen Ausschnitt aus den Inhalten der Odu-Ifá wiedergeben, entspricht der Auskunft
meines Paten in Ifá, Pablo Sánchez Sánchez (Ogbe-Tuá ni Alara) in Havanna. Die
Zeichen der Diloggún treffen nur relativ wenige Aussagen über kosmologische
Konstellationen. Sie beschränken sich vielmehr im wesentlichen auf eine praktische
Situationsanalyse des Klienten und auf Handlungsanweisungen, also Vorsichtsmaß-
regeln, Empfehlungen und Ratschläge, wozu auch Opfervorschriften und Tabus
gehören. In der Tat ähneln Orakeltexte der Diloggún bisweilen den Konsultationshilfen
in Ifá, wie sie in Pedro Arango’s Basiswerk Dice Ifá für die einzelnen Odus wieder-
gegeben werden.20

In welchem inhaltlichen Verhältnis die Odu-Ifá zu den Odu der Diloggún stehen,
kann durch den Status-Unterschied erläutert werden, der im Odu-Ifá Irete-Kutan (Irete-

19 Abimbola, The Bag of Wisdom in Òsun across the Waters von Murphy & Sanford [2001:142-143]

20 Besonders deutliche Übereinstimmungen der Diloggún-Zeichen mit Dice Ifá finden sich in dem
Buch Secretos del Oriate de la Religion Yoruba von Enrique Cortez von 1980.

14
Ogundá) dargestellt wird: „Die Olódu (Odu Meyi) haben die Odu der Diloggún gelehrt,
mit den Orishas zu sprechen.“ Die als Propheten, Söhne oder Schüler Orúnmilas
personifizierten Odu Meyi fungieren als Paten für die Odu der Diloggún. Bedenkt man,
in welchem Verhältnis in Cuba etwa ein Ahijado zu seinem Padrino steht, so erhält man
Aufschluß über den Unterschied zwischen den Einzelzeichen der Diloggún und den
Kardinalzeichen oder Odu Meyi in Ifá: Die Odu Meyi informieren die einfachen Odu
der Diloggun aus dem Ifá-Korpus heraus.

Eduardo Conde, Oluwo Ogboni Ifabilawo, in Miami/Florida (USA), dessen Web-


Veröffentlichungen ich diese Information verdanke, erzählt folgende Legende in Irete-
Kutan:

Als der Vater der sechzehn Kauris starb, besaßen seine Söhne, die noch klein waren, zwar die Macht ihres
Vaters, nicht aber das nötige Wissen, um die ihnen auferlegte Mission zu erfüllen, welche darin bestand,
das Werk ihres Vaters fortzusetzen <und mit den Orishas zu sprechen>. Aus diesem Grunde verstanden
die Orishas nicht, was sie sagten. Sie gingen zu Orúnmila, um sich beraten zu lassen und um herauszube-
kommen, was sie tun sollten, um mit den Orishas sprechen zu können.
Orúnmila beschloß darauf, jedem einzelnen von ihnen eine igba iwa anzufertigen, die sie immer bei sich
führen sollten, um so das notwendige Wissen zu erlangen. Danach wurde ein Opfer entrichtet und Orúnmila
führte ein Ritual durch. Sodann kamen die sechzehn Söhne Orúnmilas (Meyis de Ifá) in das Haus ihres
Vaters, und wie sie eintrafen, nahm einer nach dem anderen je eines der Waisenkinder auf, um sie als Pate
an der Eltern statt großzuziehen. Und so entstand für sie eine Reihenfolge, die verschieden von der
21
bekannten Ifá-Ordnung war…

Die Diloggún lernen von Ifá in einer Weise, daß sie im Idealfalle inhaltsgleich mit
ihnen werden. Tatsächlich vertritt David G. Wilson (Awó Fá’Lokun Fatunmbi) die
These, die Einzelzeichen der Mérìndínlógún sagten dasselbe aus wie die Odu Meyi in
Ifá.22 Im seinem Web-Projekt Awo Study Center konstatiert Fatunmbi: „Die Odu, die im
Mérìndínlógún-System verwendet werden, sind die 16 Prinzipalzeichen, von denen der
gesamte Ifá-Korpus herstammt.“23

Folgen wir jedoch der Allegorie von Pate und Zögling, oder Meister und Schüler, so
stellen wir fest, daß der Schüler, solange er sich auf dem Weg zu Reife und Erkenntnis
befindet, aus Respekt seinem Lehrer nachfolgt und ihm zuarbeitet, bis er selber einen
unabhängigen, ebenbürtigen Status erreicht und in diesem Verlauf durchaus eigene
Züge, eigene Auffassungen und eigene Methoden angenommen hat. Der Respekt zum
Meister bleibt jedoch zeitlebens bestehen. Die Diloggún treffen also Aussagen, welche
weitgehend von den Odu Meyi in Ifá geprägt sind und gemessen an Ifá zwar unvoll-
kommen bleiben, dafür aber eigene Inhalte hinzufügen und eigene Richtungen ein-
schlagen.

21 URL: http://ogbonifa.tripod.com/dilogun.html

22 Fá’Lokun Fatunmbi, Awo. Ifá and the Theology of Orisha Divination [1992:75, 93]

23 2009 zu finden unter: http://www.scribd.com/doc/7135315/MERINDILOGUN-1

15
Pablo Sánchez Sánchez betont, daß in jedes Einzelzeichen der Diloggún nicht nur
die die Inhalte und Aussagen der jeweiligen Odu Meyi, sondern auch die ihrer
Abkömmlinge, der Omó-Odu einfließen; also jener Kombinationen, an deren erster,
dominanter Position das einfache Zeichen der Diloggún beziehungsweise jede beliebige
Seite des betreffenden Doppelzeichens in Ifá steht.

Eine ähnliche Feststellung trifft Ayo Salami:

„Eine Sache, die sehr schwer verständlich ist, ist die Beziehung der Verse <der Eérìndínlógún> zu denen
der Ifá-Divination. Ein Vers, der unter Ogundá-Odí in Ifá erscheint, kann in der Kauri-Divination unter
Ogundá-Meji gesungen werden, und ein Opfer in Okanran-Osá hat sonst einen Fall unter Okanran-Meji
gelöst. Für jemanden, der gerade Ifá und Kauri-Orakel studiert, würde das verwirrend klingen; aber eine
sorgfältige Untersuchung würde aufdecken, daß dies angemessen ist. Wenn das Opfer verschrieben ist und
24
der Klient geneigt ist, es zu entrichten, wird sein Problem gelöst.“

Bemerkenswerterweise spricht Salami hier von zweizelligen Zeichenkombina-


tionen bei den afrikanischen Eérìndínlógún.

Einzelzeichen oder Doppelzeichen

Bemerkenswert an dieser Tatsache ist der Umstand, daß die Odus oder Zeichen der
Eérìndínlógún traditionell einzellig sind: Der Obatala-Priester Salako in Bascom’s Studie
Sixteen Cowries arbeitet (im Jahre 1951) mit Einzelzeichen. Fá’Lokun Fatunmbi beschreibt
in seinen bereits zitierten Texten Awo – Ifá and the Theology of Orisha Divination und
Mérìndínlógún nur die Einzelzeichen. George Olúsolá Ajíbádé erwähnt in seinem Kapitel
Sàngó’s Eérìndínlógún Divinatory System ausschließlich die Interpretation von Einzel-
zeichen.25 All diese Texte beziehen sich auf die afrikanische Tradition (Yoruba, Nigeria).

In fünf verschiedenen Libretas de Santo aus Cuba, von denen eines El arte de tirar los
caracoles e interpretar los cocos betitelt ist, ein anderes mit De iyawó a „yllalocha o babalocha“
„ache“ und ein drittes sich als die Libreta de Santería de Jesús Torregosa ausweist, während
die übrigen beiden weder Titel noch Autor verraten, werden vor allem die Einzel-
zeichen vorgestellt und anschließend eine mehr oder weniger willkürliche Auswahl
doppelzelliger Kombinationen (oddun compuestos) aufgeführt, zu denen auch einige Meyi
gehören. Diese sind weitaus sparsamer beschrieben als die Einzelzeichen. Andere
Quellen liefern zu den zusammengesetzten Zeichen nur die zu ihnen gehörenden
Sprichworte; Migene González-Wippler trifft in ihrer Introduction to Seashell Divination
nur eine Auswahl von Kombinationen, für die sie Sprüche angibt.

Bart Stuart Myers alias Òcha’ni Lele berichtet davon, wie zu Beginn der Deporta-
tion der Yoruba keine Ifá-Priester (Babalawos) nach Cuba gelangten und Ocha-Priester

24 Ayo Salami, The Worship [2008:141-142]

25 In Tishken, Fálolá & Akínyemí: Sàngó in Africa and the African Diaspora [2009:63-77]

16
(Olórishas, Santeros oder Santeras) als Oba fungierten. Sie nannten sich Orí-Até. Ein
solcher Priester war Octavio Sama, Obadimeyi genannt. Er war der erste Olórisha, der
über eine ausgeprägte Kenntnis der Odu-Ifá verfügte, obschon er kein Babalawo war.
Sama war der erste Oba, der die zusammengesetzten Zeichen (zweizellige Kombina-
tionen) des Ifá-Korpus mithilfe der Diloggún ansprach, indem er einfach zwei auf-
einanderfolgende Würfe ausführte.26 Seitdem haben Oriates mindestens 144 Zeichen,
zuzüglich dem „Un-Zeichen“ Opira zu beherrschen, wenn nicht gar bis zu 256 Zeichen,
die in Ifá existieren. Stuart Myers schreibt:

„Wer die Werke von William Bascom Sixteen Cowries und Ifá Divination gelesen hat, der weiß, daß die
Orisha-Priester und –Priesterinnen in Afrika vor 1900 keine zusammengesetzten Odus gelesen haben, wie
sie es heute in der Neuen Welt tun. Stattdessen wandten sie ein einfaches System an, das auf den sech-
zehn Stamm-Odus (Einzelzeichen) basierte. ... Diese afrikanischen Priester erzeugten zusammengesetzte
Zeichen lediglich, um den Grad von Iré oder Osogbo zum Zeitpunkt der jeweiligen Sitzung zu ermitteln; sie
verwendeten nur das Stammzeichen, um das Los des Klienten zu bestimmen. Kombinationen blieben im
27
alleinigen Besitz der Babalawos.“

Doch in einer Fußnote zitiert Stuart Myers die im Jahre 2000 verstorbene Soziologin
und Autorin (Making the Gods in New York) Dr. Mary Cuthrell Curry:

„In Lagos, Nigeria, ist es jetzt die Gepflogenheit vieler Kauri-Orakelpriester, wie in Ifá zusammengesetzte
Odus zu lesen. Während Einige meinen, der Lucumí-Einfluß habe diese Entwicklung bewirkt (Dr. Curry’s
eigener Padrino war vor knapp zwanzig Jahren aus geschäftlichen Gründen nach Lagos gezogen und hatte
dort begonnen, nach Lucumí-Stil zu arbeiten), sagten Andere aus, die unaufhaltsame Fortentwicklung der
Orisha-Religion habe dies mit sich gebracht.“

Stuart Myers erfuhr gar von Dr. Curry, ihr Padrino habe bei seiner Ankunft in Lagos
das doppelzellige Orakelsystem bereits in Gebrauch vorgefunden, und es hätte vielmehr
ein Austausch zwischen ihm und den ansässigen Priestern gegeben.28

Ausführlichere Erörterungen von Diloggún-Doppelzeichen finden sich bei Tomás


Pérez Medina (La santería cubana, 1998). Vollständige Diloggún-Texte, die sämtliche
Kombinationszeichen beinhalten, sind das Manual de Orihate von Nicolás Valentin
Angarica und das bereits erwähnte Secretos del Oriate von Enrique Cortez, die inhaltlich
beide erheblich voneinander abweichen.

Ernesto Pichardo, Oba-Oriate und Gründer der Church of Lukumi Babalu Aye (CLBA)
in Hialeah, Florida, vertritt die Überzeugung, daß das Diloggún-System den gleichen
Zugriff auf den Ifá-Korpus hätte wie die Techniken der Babalawos (Ikín und Ekuele). Er
behauptet, Diloggún und Ifá seien in allen Situationen gegeneinander austauschbar; nur
vereinzelte Unterschiede bestünden in Reihenfolge, Seniorität und Nomenklatur der
Orakelzeichen. Und der cubanische Babalawo Roberto Villanueva kommentiert, daß die

26 Ócha’ni Lele, The Secrets of Afro-Cuban Divination [2000:9-10]; The Diloggún [2003:10]

27 Ócha’ni Lele, The Diloggún [2003:537-538]

28 ibid.

17
doppelten Diloggún-Zeichen einst als Kombinationen galten, denen Sprichwörter
zugeordnet wurden, welche in der Konsultation vom Priester interpretiert wurden,
während sie heute zu eigenständigen Permutationen geworden sind, die Patakis aus
den korrespondierenden Odu-Ifá in sich aufgenommen haben. „Diloggún ist jetzt Ifá“,
sagt Villanueva unumwunden und schätzt gemeinsam mit seinen Kollegen Hermes
Valera Ramírez und Antonio de Armas, daß derlei Veränderungen erst nach 1950
eingesetzt hätten, obwohl sie eigentlich auf Obadimeyi zurückgehen.29

Selbst wenn die heutige Divinationspraxis auf Cuba (und vereinzelt in Afrika) die
Ermittlung von zweizelligen Zeichen vorsieht: Im Odu-Ifá Irete-Kutan ist wortgetreu
nur die Rede von sechzehn Einzelzeichen der Diloggún, die von den Odu Meyi
informiert und somit von Ifá unterstützt werden.

Für jeden Olórisha, der kein Oriaté ist, bilden die zwölf Einzelzeichen von Okana
bis Eyila die Grundlage ihrer Divinationskunst, während die schrittweise Aneignung
der zusammengesetzten Zeichen optional ist und mit dem Auswendiglernen der
Sprüche beginnt.

Ich stelle dennoch die Annahme in Frage, daß mit zwei Muschelwürfen tatsächlich
ein Zeichen produziert wird, das mit dem Odu compuesto in Ifá identisch ist. In der
cubanischen Ifá-Tradition werden zwar in speziellen Fällen auch mit zwei Obi-Sets (je
vier Kokosnußscheiben) zusammengesetzte Odu-Ifá erzeugt; aber dennoch stellt sich
die Frage, ob mit jedem beliebigen hergesuchten Medium, das acht digitale Positionen
darstellen kann (etwa Chamalongos aus der Palo-Religion), wirklich Ifá angesprochen
wird.

Dies ist ein theologisches Problem. Die Schöpfung der Ekuele, heute ein etabliertes
Orakelmedium, würde dafür sprechen; ebenso die Tatsache, daß der Babalawo Ño
Carlos (Adé Bí) auf Cuba am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine solche Ekuele
aus Orangenschalen improvisierte.30 Doch in jedem der genannten Beispiele ist offen-
sichtlich, daß diese Medien ihre Aussagekraft, ihr Aché, durch die Hand des Babalawos
erhalten. Ein Orakelmedium, das die Odu-Ifá ansprechen soll, muß vom Ifá-Priester
geweiht und bedient werden. Die Bestimmung und Interpretation des ermittelten Odu-
Ifá obliegt ebenfalls dem Babalawo.

Die Diloggún werden vom Babalawo nicht benutzt, weil dieses Medium nicht mit
Ifá kommuniziert, sondern mit den Orishas, und ein Babalawo pflegt zu keinem Orisha
(außer Orúnmila) eine kultische Bindung mehr, um sich dafür ganz und gar Ifá zu
widmen. Er hat es auch nicht nötig, da ihm Ekuele und Ikin zur Verfügung stehen. Mit
den Diloggún werden nicht die Odu-Ifá, sondern die Odu-Orisha angesprochen 31, die
ihrerseits jedoch von den Olódu-Ifá (den Odu Meyi in Ifá) informiert sind (Irete-Kutan).

29 David H. Brown, Santería Enthroned [2003:155-156; 348]

30 David H. Brown, Santería Enthroned [2003:78] ; siehe auch Ayo Salami, The Worship [2008:266-269]

31 siehe Ayo Salami, The Worship [2008:140]

18
Der Zugriff auf die doppelzelligen Odu-Ifá mittels der Diloggún wird den Orisha-
Priestern von Babalawos oft als Respektlosigkeit ausgelegt. Eduardo Conde schreibt:

„Daß die Einweihungszeremonien für Obateros (Oba Oriate) nicht konsequent umgesetzt werden, hat unter
anderem einer dringenden Notwendigkeit Raum gegeben, mit der sich die Oriates <auf Cuba> seit langem
konfrontiert sahen, nämlich aus den Ähnlichkeiten mit dem Orakel Orúnmilas (Ifá) Nutzen ziehen zu
müssen, um eine Konversation aufrecht zu erhalten. Schon ist beispielsweise Obara tonti Obara zugunsten
von Obara-Meyi verschwunden, und Oché tonti Ofún ist Ochenifun gewichen. Mit anderen Worten, die
Oriates reden schon so, als wären die Odus der Orishas die zusammengesetzten Zeichen <von Ifá> und
nicht die <voneinander> unabhängigen einfachen Zeichen, die sie sind und deren Dualität dazu da ist, zu
ermitteln, worin sich beide Zeichen gleichen; damit entzieht sich dem Berater und letztlich auch dem Rat-
32
suchenden die wahre Funktionalität des Orisha-Wortes.“

Conde erinnert also daran, daß, sofern ein dualer Wurf der Diloggún ausgeführt
wird, beide Einzelzeichen als solche unabhängig voneinander bestehen bleiben, ohne
die Kombination eines Odu compuesto einzugehen, wie dies in Ifá der Fall ist. Zwischen
beiden Einzelzeichen sollen Ähnlichkeiten ermittelt werden. Es ließe sich spekulieren,
daß dadurch die Aussage des Orakels eingegrenzt, angenähert oder spezifiziert werden
soll.

Doch dies ist nicht die einzige Verfahrensweise bei Diloggún-Doppelwürfen. Stuart
Myers (und Andere mit ihm) ist der verbreiteten Auffassung, der zweite Wurf der
Diloggún modifiziere den ersten 33, obwohl er in seinen Büchern The Secrets of Afro-
Cuban Divination und The Diloggún durchweg mit der Terminologie der composite odu
umgeht. Eine Modifikation beinhaltet eine leichte Abänderung in Form einer Korrektur,
Ergänzung oder Einschränkung zum Zwecke der Anpassung oder Annäherung. Myers
gleicht nicht das erste mit dem zweiten Zeichen ab, sondern das erste Zeichen, das er
parent odu (Stammzeichen) nennt, mit dem composite odu (zusammengesetztes Odu). Das
composite odu verhilft ihm in seinem ersten Buch aber fast nur zu Aussagen über die zu
treffenden Opfermaßnahmen (Ebos).

Auch in Ifá existiert die Vorstellung, das zweite (linke) Einzelzeichen modifiziere
oder ergänze das erste (rechte) Zeichen, obwohl jedes zusammengesetzte Odu für sich
genommen eine individuelle Entität, einen raumzeitlichen Topos und ein spezifisches
Energie-Pattern repräsentiert. Das erste (rechte) gilt als das starke, das männliche
Zeichen; in ihm drückt sich Orúnmila aus. Das zweite (linke) Zeichen ist demgegenüber
schwach oder weiblich; es repräsentiert Eshú.34 Fá’Lokun Fatunmbi hat die Erfahrung
gemacht, daß das rechte Zeichen das sichtbare Äußerliche darstellt, was sich bereits in
der Welt manifestiert hat, während das linke Zeichen Hinweise auf etwas unsichtbares

32 siehe bei http://ogbonifa.tripod.com/dilogun.html

33 siehe Ócha’ni Lele, The Diloggún [2003:13]

34 Judith Gleason, A Recitation of Ifá [1973:11]; Epega & Neimark, The Sacred Ifa Oracle [1995:xvi]; Ayo
Salami, Ifá – A Complete Divination [2002:xiii]

19
Inneres gibt, was als latente Möglichkeit im Verborgenen schlummert.35 Wieweit diese
Ideen als Zusatzinformationen für das Diloggún-System Bedeutung finden können,
möge offen bleiben.

Einen gänzlich anderen Aspekt der Diloggún-Divination findet man bei Yrmino
Valdés Garriz (Dilogún, 1995/1997). Valdés Garriz spricht von Orakel-Persönlichkeiten
(personajes oraculares), die sich aus einer positiven ersten Seite und einer negativen
zweiten Seite zusammensetzen. Er konstruiert eine Typologie, die sich mithilfe des
Diloggún-Orakels entschlüsseln läßt, sodaß dieses vornehmlich eine Charakter-
beschreibung des Klienten liefert. Jedem Einzelzeichen sind positive wie negative
Eigenschaften zugeordnet. Das zuerst gefallene Zeichen gibt Aufschluß über positive
Wesensmerkmale und Befindlichkeiten des Klienten, während das zweite Zeichen
dessen negative Seite aufdeckt. Zusätzlich liefert er zu jeder Orakelpersönlichkeit (die
als Gegenüberstellung der Einzelzeichen Odu tonti Odu aufgeführt wird) jeweils eine
ganze Liste von Sprichwörtern, die die personajes oraculares mit verschlüsselten
Hinweisen ausstatten. Obwohl ich die Ansätze und Informationen von Yrmino Valdés
Garriz sehr schätze, ist mir persönlich diese Persönlichkeitsanalyse per Muschelwurf
doch ein wenig zu halsbrecherisch.

In einem Gespräch mit zwei Babalawos in Havanna im Januar 2009 kamen die
Vorzüge der Ekuele zur Sprache, die der Babalawo immer bei sich hat und die er in
jeder Situation bequem und schnell in Gebrauch nehmen kann. Im Vergleich mit der
Ekuele seien die Diloggún des Olórisha unpraktisch; doch wurde der grundlegende
Unterschied zwischen Odu-Orisha und Odu-Ifá nicht einmal erwähnt. Der Nachteil der
Diloggún, so hieß es lediglich, sei, daß man die Diloggún zweimal werfen müsse, die
Ekuele nur einmal.

Die Praxis und die Gewohnheit haben die Dogmatik und die Orthodoxie überholt.
Dies ist eine Tatsache, die geschaffen wurde, und die ein Jeder auf seine Weise werten
möge.

Zusammenfassung und Schlußbemerkungen

Maria José, eine brasilianische Orisha-Priesterin oder „Mutter der Götter“ (Mae de
Santo) verriet dem Schriftsteller Serge Bramly Anfang der siebziger Jahre über das
Kauri-Orakel in Brasilien (die búzios):

„Die Babalaos bedienten sich nicht der Muscheln, sie benutzten die Opele (Ekuele), die Kette der Ifa. Es
kann vorkommen, daß die Muscheln lügen; denn sie gehören zu Exú (Eshú), und Exú ist ein Possenspieler.
Die Opele irrt sich jedoch nie.
Meines Wissens gibt es keine Babalaos mehr in Brasilien. Die Last, die auf den Babalaos lag, war zu groß.
Außerdem kann sich kein Mensch heute mehr einer einzigen Aufgabe widmen.

35 Fatunmbi: Awo Training VI (Awo Study Center); Awo – Ifá and the Theology of Orisha Divination [1992:5]

20
Deshalb bitten wir Mütter der Götter Exú, den Mittler zwischen den Göttern und den Menschen, uns mit den
Göttern in Verbindung zu bringen …“ 36

Auch auf Cuba gilt das Diloggún-Orakel als den Orakelformen des Babalawos
unterlegen und weniger zuverlässig. Die ursprünglichen Odu der Diloggún oder Odu-
Orisha waren Einzelzeichen, die ihre Namen überwiegend von den Odu-Ifá über-
nahmen und sich inhaltlich mehr oder weniger stark an den Odu Meyi in Ifá
orientieren. Die Erweiterung der Orakelzeichen von den ursprünglich 16+1 (bzw. 12)
einfachen Odus auf 256+137 (bzw. 144) war auf Cuba eine notwendige Maßnahme
angesichts der Abwesenheit von Babalawos.

Die originäre Lesart von zweifachen Muschelwürfen besteht in einem dualen


Zeichen nach dem Muster Odu-tonti-Odu, bei welchem das zuerst ermittelte Einzel-
zeichen von einem zweiten unabhängigen Zeichen begleitet, eingeengt und modifiziert
wird. Dieses duale Zeichen gilt als Aussage eines oder mehrerer Orishas, das von den
zusammengesetzten Zeichen (Kombinationen) in Ifá deutlich abzusetzen ist.

Die gewohnheitsmäßige Praxis innerhalb Olórisha-dominierter Traditionslinien


(ramas) führte jedoch zur Aufweichung dieser orthodoxen Dogmatik, sodaß sich parallel
zur traditionellen Auffassung ein alternatives Verständnis der dualen Diloggún-Zeichen
als doppelzelliges Odu-Ifá verbreitete. Dies betrifft insbesondere das sogenannte Itá de
Santo, das Lebensorakel bei der Orisha-Initiation durch einen Oba Oriaté.

Bei Erstkonsultationen mittels der Diloggún treffen einige Priester anhand des
gefallenen Odu Voraussagen über den dominierenden Orisha (Kopf-Orisha) ihres
Klienten beziehungsweise ihrer Klientin. Es kann sich hierbei aber nur um Voraussagen,
letztlich also um Spekulation handeln. Die einzige Möglichkeit, zu erfahren, welcher
Orisha den Kopf einer Person regiert, besteht in einem sogenannten plante, der bajada de
Orula, also der Herabrufung von Orúnmila, wie sie bei der Zeremonie des Awofaka (bei
Männern) oder Ikofá (bei Frauen) stattfindet. Diese Zeremonie ist auch als Verleihung
der (einen) Hand von Orula (Mano de Orula) bekannt. Sie ist so wichtig, daß nicht einmal
die Ekuele als Orakelmedium zulässig ist, sondern ausschließlich die Ikin als offizielle
Statthalter Orúnmilas (gemäß dem Odu-Ifá Eyiogbe). Die Fehlbestimmung eines Kopf-
Orisha gilt als äußerst gefährlich und ist zu vermeiden. Aus diesem Grunde ist das
Vertrauen in die Diloggún zu riskant. Der einzige Orisha, der zuverlässige Aussagen
über den Kopf-Orisha einer Person machen kann, ist Orúnmila (Orula, Orunla). Er gilt
zum einen als unvoreingenommen, da er selber keine eigenen Kinder haben kann und
sich daher ohne eigene Absichten äußert (laut Osá-Roso); zum anderen ist er bei der

36 Serge Bramly, Macumba – die magische Religion Brasiliens [1978:75]

37 Der Zusatz +1 bezieht sich auf Opira (0 Kauris mit dem Mund nach oben), das Zeichen, das in Ifá
nicht existiert.

21
Schöpfung der Welt anwesend38 und wird daher Zeuge des Schicksals (elérí-ìpín)
genannt. So weiß er auch, welchem Orisha ein Mensch „gehört“.

Von den sechzehn (+1) einfachen Odu-Orisha, die der Olórisha mit den Diloggún
erzeugen kann, ist er nur autorisiert, die ersten zwölf Zeichen zu interpretieren. Das
wird mythologisch so begründet, daß Orúnmila die Orakelbefugnisse von Ochún (bzw.
Yemayá) auf diesen Bereich eingeschränkt hatte. Außerdem repräsentiert das dreizehnte
Zeichen (Metanla) den Orisha Babalú Ayé, der nicht durch die Diloggún, sondern nur in
Ifá spricht.

Ungeachtet dessen wird wenigstens vom Oriaté gefordert, daß er eine Kenntnis
über die Zeichen von 13 bis 17 besitzt,39 und in einigen Quellen finden sich Beschrei-
bungen dieser Odus.40

Das eigentliche Problem dieser letzten Zeichen, und dies gilt eigentlich schon für
das zwölfte Odu der Diloggún (Eyila Chebora), liegt meiner Ansicht nach in der
Tatsache begründet, daß die Zuordnungen zu den entsprechenden Odu Meyi in Ifá
unklar sind. Die cubanische Nomenklatur dieser Zeichen setzt für die Ifá-Namen bloße
Zahlwörter ein (eyila=12, metanla=13, merinla=14, marunla=15, merindinlogun=16). In
der cubanischen Tradition trifft das Odu-Ifá Irete-Kutan nach Eduardo Conde eine ganz
andere Zuordnung der Odu-Orisha (Diloggún) zu den Odu-Ifá als die, die Bascom,
Fatunmbi und Andere in Afrika aufgestellt haben.41 Und die Grenze scheint nicht
zwischen Afrika und Cuba zu verlaufen; denn allein im Zeichen Eyila Chebora, das
nach cubanischer Überlieferung eindeutig dem Odu-Ifá Otrupon-Meyi entspricht, findet
sich eine Originalerzählung aus dem cubanischen Odu-Ifá Iwori-Meyi, dem Odu also,
welchem in der afrikanischen Tradition das Mérìndínlógún-Zeichen Èjilá Asébora
zugeordnet wird. Hier könnte ein Überlieferungsfehler vorliegen, der dafür verant-
wortlich ist, daß die letzten Zeichen schwierig zu behandeln sind und sich nicht so leicht
schließen lassen. Dies wird auch von Eyila Chebora (12) berichtet, dem Zeichen, das
gerade noch im Kompetenzbereich des Olórisha verbleibt.42 Es steht dem weniger
erfahrenen Priester frei, schon die Eröffnung dieses Zeichens abzulehnen;43 tatsächlich

38 Mit Schöpfung ist hier nicht eine einmalige Schöpfung der Welt im Anbeginn der Zeit gemeint,
sondern die fortgesetzte Generierung der sichtbaren, stofflichen Welt aus dem Orun heraus, die in jedem
Augenblick stattfindet. Auch die Erschaffung des Menschen gehört dazu.

39 Siehe Yrmino Valdés Garriz, Dilogún [1997:17]

40 So in den Büchern Secretos de santería afrocubana (Andrés Quesada Suárez), The Diloggún und The
Secrets of Afro-Cuban Divination von Ócha’ni Lele.

41 Siehe S. 12 in diesem Text

42 Ócha’ni Lele, The Secrets of Afro-Cuban Divination [2000:315-316]

43 ibid.

22
hat mein Padrino Pablo Sánchez Sánchez mir ohne nähere Erklärung die Obergrenze
meiner Orakelarbeit schon nach Ojuani gesetzt, also Eyila bereits ausgeklammert.

Babalawos beklagen immer wieder die lästige Verwirrung, die das Diloggún-
Orakel stiftet, wenn man es aus Ifá-Sicht betrachtet. Zu dem Umstand, daß die
Zuordnung der letzten fünf Zeichen uneinheitlich ist, kommt noch die bereits erwähnte
Tatsache, daß sich Einzelheiten der oddun compuestos aus Ifá in den Stammzeichen der
Diloggún wiederfinden, weil sie zur Familie des entsprechenden Odu Meyi gehören
und gewissermaßen dessen Ableger sind. Ferner ist die Reihenfolge der Diloggún-
Zeichen eine andere als die der Odu-Ifá (s. S. 6-11).

Außerdem gibt es weitere irritierende Namensverwechslungen. So ist der im


Diloggún-System geläufige Alternativname Okana-Sode für das Zeichen Okana im
cubanischen Ifá-System wiederum ein Pseudonym für Okana-Ogbe. Ojuani-Chober
(Ojuani-Chogbe) ist bei den Diloggún Ojuani und in Ifá eine Alternativbezeichnung für
Ojuani-Ogbe. Eyioko kann im afrikanischen Ifá-System gleichbedeutend mit Ogundá-
Meji sein.44 Es stellt sich die noch zu untersuchende Frage, ob hinter diesen Namens-
übertragungen vielleicht auch noch inhaltliche Gemeinsamkeiten stecken.

In Anbetracht der bestehenden Unklarheiten gewährleisten nur die Einzelzeichen


der Diloggún bis Ojuani (11), eventuell unter Begleitung eines zweiten Wurfes, eine
relative Zuverlässigkeit und Legitimität des cubanischen Diloggún-Orakelsystems.
Doch das muß kein Mangel sein: Das Aché des Orakelpriesters liegt nicht – und hier
zitiere ich sinngemäß meinen Padrino – in einer möglichst umfangreichen Ansammlung
vorgefertigten Wissens, sondern in der Entwicklung, Entfaltung, Ausarbeitung oder
spezifischen Interpretation eines einmal gefallenen Zeichens in der individuellen
Orakelsituation, im Angesicht des Klienten. Hierzu ist alle Lebenserfahrung, Weitsicht
und Menschenkenntnis des Priesters gefordert. Dies trifft ebenso auf die Verordnung
des Ebó zu, insbesondere in einem Kulturkreis, in dem traditionelle Ebó-Vorschläge
nicht praktikabel sind. Und ein Priester, dem wenige Orakelzeichen und Spezifikationen
an die Hand gegeben sind, und der trotzdem eine treffende Divination stellt und
wirkungsvolle Opfer verschreibt, der verdient im eigentlichen Sinne die Auszeichnung
Orí-Até: „Kopf der Matte“, wobei die „Matte“ die physische Unterlage und den
metaphysischen Modellkosmos des Orakelgeschehens bezeichnet.

44 Cromwell Osamaro Ibie, Ifism. The Complete Work of Orunmila Vol. 1 [1986:166]

23
Literaturverzeichnis

Abimbola, Wande Ifá Will Mend Our Broken World. Aim Books, Roxbury MA (1997) 2003
Thoughts on Yoruba Religion and
Culture in Africa and the Diaspora

The Bag of Wisdom (s. Murphy & Sanford: Òsun across the
Waters)

Ajíbádé, George Olúsolá Sàngó’s Eérìndínlógún Divinatory (s. Tishken, Fálolá & Akínyemí: Sàngó
System in Africa and the African Diaspora)

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Anhang

Pataki (Legende) im Odu Metanla (13):

Im Anbeginn der Welt lebte im Yorubaland Chakuana, auch bekannt als Babalú Ayé. Babalú Ayé wollte kein
geordnetes und gesundes Leben führen, sondern hatte sich Vergnügungen aller Art verschrieben. So zog er
sich die schlimmsten Krankheiten zu, die auf der Erde umgingen, weil er den guten Rat der Orishas und der
Weisen mißachtete. Es regnete Beschwerden über sein Betragen, und Menschen wie Orishas nahmen sich
vor, ihn ihre Verachtung spüren zu lassen. So begann Babalú Ayé zudem noch zu verarmen; Lepra und
Geschlechtskrankheiten hatten ihn zu einem Ausgestoßenen der Gesellschaft gemacht. Sogar seine
eigenen Kinder verweigerten ihm ihre Hilfe. Nur der sich oft als so menschlich erweisende Eleggua betrach-
tete ihn mit dem Blick des Mitleids.
Die Weisen und die Orishas faßten den gemeinsamen Beschluß, Babalús Diloggún als sein Sprachorgan zu
sperren, indem sie seine dreizehn Muscheln an seinem Ajá festnähten; so könnte er nicht länger von
Seuchen und Erniedrigungen sprechen. All diese Schlechtigkeiten steckten sie in einen irdenen Tiegel und
verschlossen ihn mit einem Deckel, dessen Oberseite nach unten gekehrt war. So gedachten sie Kontrolle
über das Schlechte zu gewinnen und sich das alleinige Zugangsrecht zu den Mysterien der Krankheiten und
Epidemien zu sichern. Nach diesen Maßnahmen verbannten sie Babalú Ayé aus dem Yorubaland,
schütteten Wasser hinter ihm her und schrien ihm nach: „Unló burukú!“ – Fort mit dem Übel!
Doch der stets wachsame Echú Alaguana hielt Babalú Ayé auf seinem Wege auf und brachte ihn nach Ile-
Ife zu Orúnmila. Orúnmila zürnte Echú: „Immer bringst du mir nur das Allerärgste, die schwierigsten Fälle;
aber schön. Ich werde mal sehen, was Ifá über ihn sagt.“
Bei der Befragung erschien ein Zeichen, das besagte, daß er wegen seines Ungehorsams zum Schweigen
gebracht worden sei und stumm bleiben sollte, aber in einem anderen Lande große Verehrung, Liebe und
Achtung erfahren würde. Er müsse aber ein Ebó entrichten, das in einem Eintopfgericht mit Hülsenfrüchten
(miniestra) bestehen sollte. Außerdem solle er sich sein Leben lang stets von zwei Hunden begleiten
lassen.
Babalú Ayé bedankte sich bei Echú und Orúnmila und ging davon, begleitet von den zwei Hunden, die Echú
von Ogún erbeten und für Babalú bekommen hatte. Durch Wind und Wetter durchwanderte er Flüsse und
Lagunen und gelangte schließlich nach Dahomey, das Land der Arará. Dort regierte ein äußerst grausamer
König, der Untergebene ohne jeden Grund kaltblütig zu ermorden pflegte.
Eines Tages erblickte der König der Arará eine Gestalt, die sich ihm näherte und mit einem Lichtschein
umgeben war. Dies war kein anderer als Babalú Ayé, und der König warf sich ehrfürchtig vor ihm nieder und
bat um Vergebung für die Untaten, die er begangen hatte. Das sah Olófin und schickte auf Geheiß von
Orúnmila einen gewaltigen Platzregen. Vor den Füßen des grausamen Königs tat sich eine große Erdspalte
auf und verschlang all das Böse, das der Regen von ihm gewaschen hatte.
Darum wird Babalú Ayé im Arará-Land so verehrt und geliebt. Echú ist sein Führer und Pförtner. Babalú
Ayé spricht nicht durch die Muscheln, sondern mit großer Klarheit in Ifá, wo Orúnmila all seine Mysterien
kennt. Maferefún Babalú Ayé!

(Mit leichten Änderungen nach Natalia Bolívar Aróstegui, Opolopo Owo)

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