Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
DROHENDE
SCHATTEN
Das Rad der Zeit
Erster Roman
Ebook by »Menolly«
Der Drachenberg
Der Palast bebte immer noch von Zeit zu Zeit, wenn die
Erde grollte, wenn sie aufstöhnte, als wolle sie ableugnen,
was doch geschehen war. Balken von Sonnenlicht fielen
durch Risse in den Wänden. Staubteilchen, die immer
noch in der Luft hingen, glitzerten darin. Brandflecken
verunstalteten die Wände, die Decke und den Boden.
Breite schwarze Schmierspuren zogen sich über
blasenschlagende Farbe und die Blattgoldauflage einst
strahlend schöner Wandgemälde. Ruß bedeckte den
zerbröckelnden Fries mit den Darstellungen von
Menschen und Tieren. Es schien fast, als hätten diese
fortzulaufen versucht, bevor der Wahnsinn sich wieder
beruhigte. Überall lagen die Toten, Männer, Frauen und
Kinder, auf dem Fluchtversuch von Blitzen erschlagen,
die jeden Korridor durchzuckten, oder von lauernden
Flammen ergriffen, oder in die Steine eingesunken, die
Steine des Palastes, die sich, beinahe lebendig, bewegt
hatten, gesucht hatten, bis die Stille wiederkehrte. In
fremdartig anmutendem Gegensatz dazu standen die
farbigen Wandbehänge und Gemälde – alles Meisterwerke
–, die völlig unbeschädigt dahingen, außer an Stellen, wo
die sich einwölbenden Mauern sie beiseite geschoben
hatten. Kunstvoll geschnitzte Möbel, mit Gold und
Elfenbein eingelegt, standen unberührt, und nur wenige
Möbelstücke waren umgestürzt, als die Böden sich
aufgebäumt hatten. Der Wahnsinn hatte auf das Herz
gezielt und unwichtige Dinge übersehen.
Lews Therin Telamon schritt durch den Palast, und
wenn sich die Erde aufbäumte, hielt er doch das
Gleichgewicht. »Ilyena! Meine Liebste, wo bist du?« Der
Saum seines blaßgrauen Umhangs schleifte durch Blut, als
er über die Leiche einer Frau sprang, deren goldblonde
Schönheit vom Schrecken der letzten Momente ihres
Lebens zerstört worden war. Ihre aufgerissenen Augen
waren in ungläubigem Staunen erstarrt. »Wo bist du,
geliebte Frau? Wo verbergt ihr euch alle?«
Sein Blick erspähte das eigene Abbild in einem Spiegel,
der schief an einer aufgeworfenen Marmorwand
baumelte. Seine Kleidung hatte einst stattlich gewirkt,
grau und golden und purpurfarben, aus feingewebten
Tuchen, die Händler von jenseits des Weltmeeres
mitgebracht hatten; doch nun war sie zerrissen und
schmutzig und genau wie sein Haar und seine Haut von
einer dicken Staubschicht bedeckt. Einen Augenblick lang
fuhren seine Finger das Symbol auf dem Umhang nach,
einen Kreis mit einer weißen und einer schwarzen Hälfte,
die durch eine fließende Linie voneinander getrennt
waren. Es hatte irgendeine Bedeutung, dieses Symbol.
Rasch jedoch schweifte seine Aufmerksamkeit von dem
gestickten Kreis ab. Staunend betrachtete er wieder sein
Spiegelbild. Ein hochgewachsener Mann, der gerade in die
mittleren Jahre gekommen war, einst gutaussehend, doch
nun war sein Haar schon eher weiß als braun zu nennen,
und das Gesicht war von Überanstrengung und Sorgen
zerfurcht. Die dunklen Augen hatten schon viel zu viel
gesehen. Lews Therin begann leise zu lachen, dann warf
er den Kopf zurück, und sein lautes Gelächter kehrte als
Echo aus den unbelebten Hallen zurück.
»Ilyena, meine Liebste! Komm zu mir, mein Weib. Das
mußt du sehen!«
Hinter ihm schimmerte die Luft, floß in Wellen
ineinander und gebar aus diesem Wirbel einen Mann, der
sich umsah und dabei kurz den Mund vor Ekel verzog. E r
war nicht so groß wie Lews Therin und ganz in Schwarz
gekleidet. Nur der schneeweiße Spitzenkragen um den
Hals und der silberne Zierrat an den oben umgeschlagenen
hüfthohen Stiefeln stachen aus dem Schwarz hervor. E r
schritt vorsichtig durch den Saal und hob sorgfältig den
Umhang, damit er die Leichen nicht streifte. Der Boden
erzitterte in Nachbeben, aber seine Aufmerksamkeit galt
dem Mann, der in den Spiegel starrte und lachte. »Herr
des Morgens«, sagte er, »ich bin gekommen, um Euch zu
holen.«
Das Lachen brach ab, als sei es nie gewesen, und Lews
Therin drehte sich – anscheinend keineswegs überrascht –
zu ihm um. »Ach, ein Gast. Habt Ihr eine gute Stimme,
Fremder? Es wird bald Zeit, das Singen zu beginnen, und
hier sind alle willkommen, die daran teilnehmen möchten.
Ilyena, meine Liebste, wir haben einen Gast. Ilyena, wo
bist du?«
Die Augen des schwarzgekleideten Mannes weiteten
sich, sein Blick huschte hinüber zum Körper der
goldblonden Frau und dann zu Lews Therin zurück.
»Shai'tan soll Euch holen! Hat Euch denn der Wahn schon
so stark ergriffen?«
»Dieser Name. Shai...« Lews Therin erschauderte und
hob eine Hand, als wolle er etwas abwehren. »Ihr dürft
diesen Namen nicht erwähnen. Das ist gefährlich.«
»Also erinnert Ihr Euch wenigstens daran. Gefährlich
für Euch, Ihr Narr, nicht für mich! Woran erinnert Ihr
Euch noch? Erinnert Euch, Ihr verblendeter Idiot! Ich
werde dies alles nicht beenden, wenn Ihr von
Ahnungslosigkeit strotzt! Erinnert Euch!«
Einen Augenblick lang betrachtete Lews Therin seine
erhobene Hand, fasziniert von den Mustern im Schmutz.
Dann wischte er die Hand an dem noch schmutzigeren
Umhang ab und wandte seine Aufmerksamkeit wieder
dem anderen Manne zu. »Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?«
Der schwarzgekleidete Mann richtete sich arrogant auf.
»Einst nannte man mich Elan Morin Tedronai, doch
jetzt...«
»Verräter aller Hoffnung!« Es war nur ein Flüstern
von Lews Therin. Erinnerungen regten sich, aber er
wandte den Kopf und scheute ihre Berührung.
»Also erinnert Ihr Euch an einiges. Ja, Verräter aller
Hoffnung. So bin ich von Menschen genannt worden, so
wie sie Euch Drache nannten, aber im Gegensatz zu Euch
gefällt mir dieser Name. Sie gaben mir diesen Namen, um
mich damit zu beschimpfen, doch ich werde sie dazu
bringen, niederzuknien und ihn anzubeten. Was werdet
Ihr mit Eurem Namen anfangen? Nach dem heutigen Tag
werden die Menschen Euch Brudermörder nennen. Wie
findet Ihr das?«
Lews Therin ließ den sorgenvollen Blick durch den
zerstörten Saal schweifen. »Ilyena sollte hier sein, um
einen Gast willkommen zu heißen«, murmelte er
abwesend, und dann erhob er die Stimme. »Ilyena, wo bist
du?« Der Boden bebte, der Körper der goldblonden Frau
veränderte die Lage, als antworte er auf den Ruf. Seine
Augen sahen sie nicht.
Elan Morin verzog das Gesicht. »Schaut Euch nur an«,
sagte er verächtlich. »Einst wart Ihr der erste aller
Diener. Einst habt Ihr den Ring von Tamyrlin getragen
und auf dem Thron gesessen. Einst habt Ihr die Neun
Geißeln der Herrschaft beschworen. Und jetzt? Ein
erbärmliches, zerbrochenes Wrack. Aber das ist nicht
genug. Ihr habt mich in der Halle der Diener gedemütigt.
Ihr habt mich vor den Toren von Paaran Disen besiegt.
Aber jetzt bin ich der Größere. Ich werde Euch nicht
sterben lassen, ohne Euch das bewußt zu machen. Wenn
Ihr sterbt, werden Eure letzten Gedanken das gesamte
Wissen um Eure Niederlage erfassen. Ihr werdet
begreifen, wie vollständig und endgültig sie ist. Falls ich
Euch überhaupt sterben lasse.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, was Ilyena so lange
aufhält. Sie wird böse auf mich sein, falls sie glaubt, ich
habe einen Gast vor ihr verborgen. Ich hoffe, Ihr
unterhaltet Euch gern, denn das liebt sie. Seid gewarnt.
Ilyena wird Euch so viel fragen, daß Ihr am Ende alles
erzählt, was Ihr wißt.«
Elan Morins Hände verkrampften sich. Mit einer
schnellen Bewegung warf er den Mantel zurück. »Wie
schade für Euch«, grübelte er laut, »daß keine Eurer
Schwestern hier ist. Ich war nie sehr geschickt im Heilen,
und nun folge ich einer anderen Macht. Doch selbst eine
von ihnen könnte Euch nur ein paar klare Minuten
bescheren, falls Ihr sie nicht schon vorher zerstört. Was
ich tun kann, wird seinen Zweck auch erfüllen – jedenfalls
meinen Zweck.« Sein plötzliches Lächeln hatte einen
grausamen Zug. »Ich fürchte nur, die Heilung durch
Shai'tan unterscheidet sich von der, die Ihr kennt. Heile,
Lews Therin!« Er streckte die Hände aus, und das Licht
verdunkelte sich, als läge ein Schatten auf der Sonne.
Schmerz flammte in Lews Therin auf, und er schrie.
Der Schrei kam aus den Tiefen seiner Seele, und er konnte
ihn nicht aufhalten. Feuer versengte sein Mark, Säure floß
durch seine Adern. Er fiel nach rückwärts, stürzte auf den
Marmorboden; sein Kopf schlug auf dem Stein auf und
prallte zurück. Sein Herz hämmerte, bemühte sich, aus der
Brust herauszuspringen, und mit jedem Pulsschlag
durchzuckten ihn neue Flammen. Hilflos verkrampfte er
sich, schlug um sich, sein Schädel eine Kugel reinster
Todesqual und am Zerbersten. Seine heiseren Schreie
hallten durch den Palast.
Langsam, unendlich langsam ließ der Schmerz nach.
Das Nachlassen schien tausend Jahre zu dauern, und
schließlich zuckte er noch schwach und saugte gierig die
Luft durch den wunden Hals. Weitere tausend Jahre
schienen zu vergehen, bis er in der Lage war, sich mit
Hilfe nachgiebiger Muskeln herumzuwälzen und dann
zitternd auf Händen und Knien zu ruhen. Er erblickte die
goldhaarige Frau, und der Schrei, den er bei diesem
Anblick ausstieß, stellte alles in den Schatten, was er
vorher von sich gegeben hatte. Er torkelte, dem Fallen
nahe, und kroch schließlich gebrochen über den Boden hin
zu ihr. Er benötigte jedes bißchen Kraft, um sie in die
Arme zu nehmen. Seine Hände zitterten, als er ihr das
Haar aus dem erstarrten Gesicht strich.
»Ilyena! Um des Lichts willen, Ilyena!« Sein Körper
krümmte sich schützend um den ihren. Sein Weinen
endete in den gequälten Schreien eines Mannes, der nichts
mehr besaß, wofür es sich zu leben lohnte. »Ilyena, nein!
Nein!«
»Ihr könnt sie zurückhaben, Brudermörder. Der Große
Herr der Dunkelheit kann sie wieder zum Leben
erwecken, wenn Ihr ihm dafür dient. Wenn Ihr mir
dient.«
Lews Therin hob den Kopf, und der schwarzgekleidete
Mann trat vor seinem Blick unwillkürlich einen Schritt
zurück. »Zehn Jahre, Verräter«, sagte Lews Therin leise.
Es klang so sanft wie das Ziehen einer Stahlklinge. »Zehn
Jahre lang hat Euer verderbter Herr die Welt gepeinigt.
Und nun das. Ich werde...«
»Zehn Jahre! Ihr seid ein bemitleidenswerter Narr!
Dieser Krieg hat keine zehn Jahre gedauert, sondern
währt von Beginn der Zeit. Ihr und ich haben tausend
Schlachten geschlagen, solange sich das Rad dreht, und
wir werden weiterkämpfen, bis selbst die Zeit stirbt und
der Schatten triumphiert!« Er endete schreiend und mit
erhobener Faust, und diesmal war es an Lews Therin,
zurückzutreten und angesichts der glühenden Augen des
Verräters tief durchzuatmen.
Vorsichtig legte Lews Therin Ilyena nieder. Seine
Finger streichelten ihr sanft über das Haar. Tränen ließen
seine Sicht verschwimmen, als er so dastand, aber seine
Stimme klang wie gefrorenes Eisen. »Für das, was Ihr
sonst noch getan habt, Verräter, kann es keine Vergebung
geben, doch für Ilyenas Tod werde ich Euch zerstören, so
daß selbst Euer Herr Euch nicht mehr zum Leben
erwecken kann. Bereitet Euch vor...«
»Erinnert Euch, Ihr Narr! Denkt an Euren
aussichtslosen Angriff auf den Großen Herrn der
Dunkelheit! Denkt an seinen Gegenschlag! Erinnert Euch!
Selbst jetzt noch zerreißen die Hundert Gefährten die
Welt, und jeden Tag schließen sich ihnen hundert weitere
Männer an. Wessen Hand tötete Ilyena Sonnenhaar,
Brudermörder? Nicht meine. Nicht meine. Wessen Hand
streckte jeden nieder, der auch nur einen Tropfen Eures
Blutes in sich trug, jeden, der Euch liebte, jeden, den Ihr
liebtet? Nicht meine Hand, Brudermörder. Nicht meine
Hand. Erinnert Euch und erkennt den Preis, den Ihr zahlt,
weil Ihr Euch gegen Shai'tan stelltet!«
Ein plötzlicher Schweißausbruch hinterließ Rinnen im
Staub und Schmutz auf Lews Therins Gesicht. E r
erinnerte sich, eine verschleierte Erinnerung, als träume
er von einem Traum, doch er wußte, es war die Wahrheit.
Sein Aufheulen prallte gegen die Wände, das Aufheulen
eines Mannes, der entdeckt hatte, daß seine Seele durch
ihn selbst der Verdammnis anheimgestellt wurde, und er
zerkratzte sich das Gesicht, als wolle er den Anblick
dessen herausreißen, was er getan hatte. Wohin er auch
blickte, seine Augen sahen die Toten. Zerfetzt waren sie
oder zerbrochen oder verbrannt oder halb von Stein
verschlungen. Überall leblose Gesichter, die er kannte, die
er liebte. Alte Diener und Freunde aus seiner Kinderzeit,
treue Gefährten in den langen Jahren des Kampfes. Und
seine Kinder. Seine eigenen Söhne und Töchter; wie
zerbrochene Puppen lagen sie verdreht da, ihr Spiel war
für immer beendet. Alle von seiner Hand getötet. Die
Gesichter seiner Kinder klagten ihn an. Die leeren Augen
fragten: Warum? Und seine Tränen waren keine Antwort
darauf. Das Lachen des Verräters geißelte ihn, erstickte
sein Aufheulen. Er konnte die Gesichter nicht ertragen,
nicht den Schmerz. Er konnte nicht länger bleiben.
Verzweifelt griff sein Geist nach der Wahren Quelle, nach
dem vom Bösen gezeichneten Saidin, und er begab sich
fort.
Das Land um ihn herum war flach und leer. In der
Nähe rauschte träge ein Fluß, breit und gerade, aber er
fühlte, daß es auf Hunderte von Meilen keine Menschen
gab. Er war allein, so allein ein Mann nur sein konnte,
während er noch lebte, doch den Erinnerungen konnte er
nicht entkommen. Die Augen verfolgten ihn durch die
endlosen Höhlen seines Geistes. Er konnte sich nicht vor
ihnen verstecken. Die Augen seiner Kinder. Ilyenas
Augen. Tränen glitzerten ihm auf den Wangen, als er das
Gesicht dem Himmel zuwandte.
»Licht, vergib mir!« Er glaubte nicht, daß er
Vergebung erhalten könne. Nicht für das, was er getan
hatte. Doch er schrie es trotzdem in den Himmel hinein,
bettelte um etwas, an dessen Gewährung er nicht glaubte.
»Licht, vergib mir!«
Er stand immer noch mit Saidin in Verbindung, der
männlichen Hälfte der Macht, die das Universum antrieb,
die das Rad der Zeit drehte, und er fühlte den öligen
Schmutz, der ihre Oberfläche befleckte, die Verderbnis,
die der Gegenschlag des Schattens darüber gebracht hatte,
die Verderbnis, die die Welt zum Untergang verurteilte.
Seinetwegen. Weil er in seiner Verblendung geglaubt
hatte, Menschen könnten es dem Schöpfer gleichtun,
könnten zusammenfügen, was der Schöpfer erschaffen und
was sie zerbrochen hatten. Das hatte er in seinem Stolz
geglaubt.
Tief zog er Kraft aus der Wahren Quelle und dann
noch einmal, wie ein Verdurstender. Schnell hatte er mehr
von der Einen Macht in sich aufgesogen, als er ohne Hilfe
handhaben konnte; seine Haut schien zu brennen. Er nahm
alle Kraft zusammen und versuchte, noch mehr
aufzunehmen, versuchte, alles aufzunehmen.
»Licht, vergib mir! Ilyena!«
Die Luft verwandelte sich in Feuer, das Feuer in
verflüssigtes Licht. Der Blitz, der vom Himmel
herabzuckte, hätte jedes Auge versengt und geblendet, das
ihn auch nur einen Moment lang erblickte. Er fuhr aus
dem Himmel hernieder, flammte durch Lews Therin
Telamon hindurch und bohrte sich in die Eingeweide der
Erde. Seine Berührung verwandelte Stein in Dampf. Die
Erde zuckte und erzitterte wie ein lebendes Wesen im
Todeskampf. Der leuchtende Balken vom Himmel
existierte nur einen Herzschlag lang, verband Erde und
Himmel, doch auch nachdem er verschwunden war,
wölbte sich die Erde auf wie ein Meer im Sturm.
Geschmolzener Fels spritzte hundert Spannen hoch in die
Luft, und der stöhnende Boden erhob sich und schob den
brennenden Springbrunnen weiter hoch, immer höher.
Aus dem Norden und. Süden, aus dem Osten und Westen
heulte der Wind heran, brach Bäume wie kleine Äste
entzwei, kreischte und pfiff, als wolle er den wachsenden
Berg himmelwärts drücken. Dem Himmel entgegen.
Schließlich erstarb der Wind, die Erde beruhigte sich
und murmelte nur noch zitternd vor sich hin. Von Lews
Therin Telamon war nichts geblieben. Wo er gestanden
hatte, erhob sich nun, auf Meilen in den Himmel, ein
Berg. Aus dem zerfetzten Gipfel quoll immer noch
dünnflüssige Lava. Der breite gerade Fluß war in einer
Kurve vom Berg weggeschoben worden und teilte sich
unweit davon. In der Mitte war eine lange Insel
entstanden. Der Schatten des Bergs erreichte beinahe die
Insel; er lag dunkel wie die drohende Hand der
Prophezeiung über dem Land. Eine Zeitlang war nur das
dumpfe protestierende Grollen der Erde zu hören.
Auf der Insel schimmerte die Luft und zog sich zu
einem Wirbel zusammen. Der schwarzgekleidete Mann
stand da und betrachtete den feurigen Berg, der sich aus
der Ebene erhob. Sein Gesicht verzog sich vor Wut und
Verachtung. »Du kannst nicht so leicht entkommen,
Drache. Wir sind noch nicht fertig miteinander. Es ist erst
zu Ende, wenn alle Zeiten enden.«
Dann war er weg, und Berg und Insel ruhten einsam.
Warteten.
Und der Schatten fiel über das Land,
und die Welt wurde Stein um Stein zerrissen.
Die Meere flohen, und die Berge wurden verschluckt,
und die Staaten wurden in die acht Ecken
der Welt verstreut. Der Mond war wie Blut, und die
Sonne war wie Asche. Die Meere kochten,
und die Lebenden beneideten die Toten. Alles war
zerschlagen und bis auf die Erinnerung verloren,
und eine Erinnerung stand über allem: an ihn, der den
Schatten gebracht und die Zerstörung der Welt ver-
ursacht hatte. Und ihn nannten sie Drache.
Aus: Aleth nin Taerin alta Camora,
der Zerstörung der Welt
(Autor unbekannt, Viertes Zeitalter)
Und es geschah in jenen Tagen, wie es zuvor
geschehen war und wieder geschehen würde, daß die
Dunkelheit schwer auf dem Land lag und die
Herzen der Menschen beschwerte und die grünen
Dinge verblichen und die Hoffnung starb.
Und die Menschen riefen ihren Schöpfer und sagten:
O Licht des Himmels, Licht der Welt, laßt den
Berg den Verheißenen gebären, wie es die
Prophezeiung sagte, so wie er in vergangenen
Zeitaltern geboren wurde und in späteren geboren.
werden wird. Laßt den Prinz des Morgens
zum Land singen, so daß grüne Dinge wachsen und
die Täler Lämmer hervorbringen. Laßt den Arm
des Herren der Dämmerung uns Schutz vor dem
Dunkel gewähren und das große Schwert der
Gerechtigkeit uns verteidigen. Laßt den Drachen
wieder auf den Winden der Zeit fliegen.
Aus: Charal Drianaan te Calamon,
dem Zyklus des Drachen
(Autor unbekannt, Viertes Zeitalter)
KAPITEL 1
Fremde
Als Rand und Mat die ersten Fässer durch den
Schankraum trugen, war Meister al'Vere schon dabei, ein
paar Krüge mit seinem besten Bier zu füllen, aus eigener
Herstellung und einem der Fässer, die in einem Gestell an
der Seitenwand ruhten. Kratzi, die gelbe Katze, die zur
Schenke gehörte, lag mit geschlossenen Augen und um die
Beine geringeltem Schwanz obenauf. Tam stand vor dem
großen offenen Kamin, aus Flußfels gebaut, und stopfte
Tabak aus einem glänzenden Metallbehälter, der immer
auf dem steinernen Kaminsims stand, in eine langstielige
Pfeife. Der Kamin erstreckte sich durch die Hälfte des
großen viereckigen Raums, und die Oberkante befand sich
in Schulterhöhe eines ausgewachsenen Mannes. Die
knackende Glut im Kamin vertrieb die Kälte, die von
draußen eindrang.
Zu dieser Zeit, am arbeitsreichen Vortag des Festes,
erwartete Rand einen bis auf Bran, seinen Vater und die
Katze leeren Schankraum, aber vier weitere Mitglieder
des Gemeinderats, Cenn eingeschlossen, saßen auf den
Stühlen mit den hohen Lehnen vor dem Feuer, Krüge in
der Hand, und um ihre Köpfe kräuselte sich blaugrauer
Pfeifenrauch. Ausnahmsweise wurde einmal kein einziges
Spielbrett benützt, und Brans Bücher standen vollständig
und in Reih und Glied auf dem Regal gegenüber dem
Kamin. Die Männer sprachen kaum miteinander, starrten
nur still in ihr Bier oder kauten ungeduldig auf ihren
Pfeifenstielen herum. Alles wartete auf Tam und Bran.
Sorgen waren für den Gemeinderat nichts
Ungewöhnliches heutzutage, weder in Emondsfeld noch in
Wachhügel oder Devenritt. Vielleicht noch nicht einmal in
Taren-Fähre, obwohl man ja nie wissen konnte, was die
Leute von Taren-Fähre von irgend etwas hielten.
Nur zwei der Männer am Feuer, Haral Luhhan, der
Hufschmied, und Jon Thane, der Müller, sahen auf, als die
Jungen eintraten. Meister Luhhan allerdings sah nicht bloß
auf. Die Arme des Schmieds waren dicker als die Beine
der meisten Männer, mit schweren Muskeln bepackt, und
er trug immer noch seinen langen Lederschurz, als sei er
direkt aus der Schmiede zu diesem Treffen geeilt. Mit
finsterem Blick musterte er beide junge Männer, dann
drehte er sich betont auf seinem Stuhl um und
konzentrierte sich übertrieben darauf, die Pfeife mit dem
dicken Daumen zu stopfen.
Neugierig verlangsamte Rand seinen Schritt – und
konnte gerade noch einen Schmerzensschrei unterdrücken,
als Mat ihm gegen den Knöchel trat. Sein Freund nickte
eindringlich in Richtung auf die Hintertür des
Schankraums und eilte dorthin, ohne auf ihn zu warten.
Leicht humpelnd folgte ihm Rand etwas langsamer.
»Was sollte denn das heißen?« forderte Rand
Aufklärung, sobald sie sich im Flur zur Küche befanden.
»Du hast mir beinahe meinen Knöchel...«
»Es ist wegen des alten Luhhans«, sagte Mat und spähte
dabei über Rands Schulter hinweg zum Schankraum
hinüber. »Ich glaube, er hat mich im Verdacht...« E r
sprach nicht weiter, da Frau al'Vere aus der Küche
hastete. Der Duft nach frisch gebackenem Brot wehte vor
ihr her.
Auf dem Tablett in ihren Händen lagen mehrere Laibe
Krustenbrot, für das sie in ganz Emondsfeld bekannt war,
und dazu Teller mit Gurken und Käsescheiben. Das Essen
erinnerte Rand plötzlich daran, daß er heute nur einen
Kanten Brot gegessen hatte, bevor er diesen Morgen den
Hof verließ. Sein Magen machte sich mit peinlichem
Knurren bemerkbar.
Frau al'Vere, eine schlanke Frau, die ihren dicken
Haarzopf über eine Schulter nach hinten gezogen hatte,
lächelte sie so mütterlich an, daß es beiden das Herz
erwärmte. »Es gibt mehr davon in der Küche, falls ihr
Hunger habt, und ich habe noch keinen Jungen in eurem
Alter gekannt, der nicht ständig Hunger hatte. Na ja,
genau wie alle anderen. Wenn ihr die lieber mögt – ich
backe heute morgen auch Honigkuchen.«
Sie war eine der wenigen verheirateten Frauen in der
Gegend, die nie versuchte, Tam mit irgend jemandem zu
verkuppeln. Ihre Mütterlichkeit Rand gegenüber zeigte sie
mit ihrem herzlichen Lächeln und einem schnellen Imbiß
unter Beweis, sooft er in die Schenke kam. Allerdings war
sie zu den anderen jungen Männern der Gegend genauso
freundlich. Wenn sie ihn gelegentlich ansah, als wolle sie
doch mehr für ihn tun, dann blieb es eben nur bei einem
Blick, und dafür war er äußerst dankbar.
Ohne auf eine Antwort zu warten, fegte sie in den
Schankraum. Sofort hörte man die Geräusche von über
den Boden scharrenden Stuhlbeinen, als die Männer
aufstanden, und Lobrufe auf den Duft des Brotes. Sie war
mit Längen die beste Köchin in Emondsfeld, und es gab
wohl keinen Mann weit und breit, der die Gelegenheit
ungenutzt ließ, seine Füße unter ihren Tisch zu strecken.
»Honigkuchen«, sagte Mat und leckte sich die Lippen.
»Hinterher«, erklärte ihm Rand mit fester Stimme, »oder
wir werden nie fertig.«
Über der Kellertreppe hing eine Lampe, gleich neben
der Küchentür, und eine weitere warf einen weiten
Lichtkreis in den Raum unter der Schenke und verbannte
bis auf einen kleinen düsteren Rest alle Dunkelheit in die
entferntesten Ecken der massiven Steinwände. Holzgestelle
entlang der Wände und quer über den Boden enthielten
kleine Fässer mit Schnaps und Most und größere mit Bier
und Wein. In einigen davon steckten Zapfhähne. Viele der
Weinfässer trugen Kreidevermerke in Bran al'Veres
Handschrift. Da stand, in welchem Jahr der Wein gekauft
worden war und von welchem Händler und in welchem
Ort er gekeltert worden war. Doch das gesamte Bier und
der Schnaps stammten von den Zwei-Flüsse-Bauern oder
von Bran selbst. Händler und Kaufleute brachten
manchmal Schnaps oder Bier von anderswo mit, aber die
Qualität war schlecht, und das Zeug kostete Unsummen.
Außerdem wollte niemand solches Gebräu mehr als
einmal trinken.
»Also«, sagte Rand, als sie ihre Fässer in die Gestelle
legten, »was hast du getan, daß du Meister Luhhan so
meiden mußt?«
Mat zuckte die Achseln. »Eigentlich nichts. Ich habe
Adan al'Caar und einigen seiner hochnäsigen Freunde –
Ewin Finngar und Dag Coplin – erzählt, daß ein paar
Bauern Geisterhunde gesehen haben, die Feuer spuckend
durch den Wald rannten. Sie haben's geschluckt wie süße
Sahne.«
»Und deshalb ist Meister Luhhan böse auf dich?« fragte
Rand zweifelnd.
»Nicht unbedingt.« Mat legte eine Pause ein und
schüttelte den Kopf. »Siehst du, ich habe zweien seiner
Hunde Mehl aufs Fell gestreut, bis sie ganz weiß waren.
Dann habe ich sie in der Nähe von Dags Haus laufen
lassen. Wie konnte ich ahnen, daß sie geradewegs nach
Hause rannten? Das ist wirklich nicht meine Schuld. Wenn
Frau Luhhan nicht die Tür offengelassen hätte, dann
wären sie gar nicht reingekommen. Ich habe ja schließlich
nicht gewollt, daß das ganze Haus voller Mehl war.« E r
lachte kurz auf. »Ich habe gehört, daß sie den alten
Luhhan mitsamt der Hunde mit einem Besen aus dem Haus
gescheucht hat.«
Rand zuckte zusammen, lachte aber gleichzeitig. »Wenn
ich du wäre, würde ich mir mehr Gedanken über Alsbet
Luhhan machen als über den Schmied. Sie ist fast genauso
stark und kann noch wütender werden als er. Aber was
soll's? Wenn du schnell läufst, bemerkt er dich vielleicht
nicht.« Mats Gesichtsausdruck zeigte, daß er Rands
Äußerung keineswegs lustig fand.
Als sie durch den Schankraum zurückgingen, mußte
Mat sich allerdings nicht beeilen. Die sechs Männer hatten
ihre Stühle vor dem Kamin eng zusammengeschoben. Mit
dem Rücken zum Feuer sprach Tam leise, und die anderen
beugten sich vor, um ihn besser zu verstehen. Sie
lauschten seinen Worten so konzentriert, daß sie
vermutlich nicht einmal bemerkt hätten, wenn eine Herde
Schafe durch den Raum getrieben worden wäre. Rand
wollte gern näher treten, um zu hören, worüber sie
sprachen, doch Mat zupfte ihn am Ärmel und warf ihm
einen leidenden Blick zu. Mit einem Seufzer folgte er Mat
hinaus zum Karren.
Bei ihrer Rückkehr in den Flur fanden sie oben auf der
Kellertreppe ein Tablett vor, und der Duft von heißen
Honigkuchen erfüllte den Flur. Auch zwei Krüge standen
dabei und eine Kanne mit heißem gewürzten Süßmost.
Trotz seiner eigenen Ermahnung, bis später zu warten,
legte Rand die letzten beiden Packmärsche zwischen
Karren und Keller mit einem Fäßchen unter einem Arm
und einem Stück Honigkuchen in der Hand zurück.
Er legte das letzte Fäßchen in das Gestell, wischte sich
die Krümel vom Mund, während Mat ablud, und sagte
dann: »Und was nun den Gauk...«
Füße trampelten die Treppe herunter, und Ewin
Finngar stürzte in seiner Erregung beinahe auf den
Kellerboden. Sein feistes Gesicht strahlte vor Eifer. E r
mußte seine Neuigkeiten loswerden. »Es sind Fremde im
Dorf!« Er kam zu Atem und sah Mat schief an.
»Geisterhunde habe ich keine gesehen, aber ich hörte,
jemand habe Meister Luhhans Hunde mit Mehl gepudert.
Ich habe auch gehört, daß Frau Luhhan weiß, wer dafür
verantwortlich sein dürfte.«
Die Jahre, die Mat und Rand von Ewin trennten, der
erst vierzehn war, sorgten normalerweise dafür, daß sie
alles, was er sagte, ziemlich schnell abtaten. Diesmal
jedoch blickten sie sich überrascht an und sprachen beide
gleichzeitig.
»Im Dorf?« fragte Rand. »Nicht im Wald?«
Und Mat fügte im gleichen Moment hinzu: »Hatte er
einen schwarzen Mantel an? Hast du sein Gesicht sehen
können?«
Ewin sah unsicher von einem zum anderen und sagte
dann schnell, als Mat drohend auf ihn zu trat: »Natürlich
habe ich sein Gesicht sehen können. Und sein Mantel ist
grün. Oder vielleicht grau. Er wechselt die Farbe. E r
scheint sich immer dem Hintergrund anzupassen, vor dem
er steht. Manchmal kann man ihn gar nicht sehen, auch
wenn man ihn geradewegs anblickt. Nicht, bis er sich
bewegt. Und ihrer ist blau wie der Himmel und zehnmal
schöner als alle Festkleider, die ich je gesehen habe. Sie ist
auch zehnmal hübscher als alle, die ich je gesehen habe.
Sie ist eine hochgestellte Dame wie in den Geschichten. Sie
muß eine sein.«
»Sie?« fragte Rand. »Von wem redest du?« Er sah Mat
an, der beide Hände auf den Kopf gelegt und die Augen
zugedrückt hatte.
»Von denen wollte ich dir erzählen«, äußerte sich Mat
schließlich, »bevor du mich als Helfer...« Er brach ab und
öffnete die Augen, um Ewin scharf anzusehen. »Sie sind
gestern abend angekommen«, fuhr er nach einem
Augenblick fort, »und haben sich Zimmer hier in der
Schenke genommen. Ich sah, wie sie heranritten. Ihre
Pferde, Rand! Ich habe noch nie so große und schlanke
Pferde gesehen. Sie sehen aus, als könnten sie immer und
ewig weitergaloppieren. Ich glaube, er arbeitet für sie.«
»Er steht in ihren Diensten«, unterbrach ihn Ewin.
»Das nennt man ›in Diensten stehen‹, jedenfalls in den
Geschichten, die ich gehört habe.«
Mat fuhr fort, als habe Ewin gar nicht gesprochen.
»Jedenfalls hört er auf sie, tut, was sie sagt. Aber er
benimmt sich nicht wie ein Knecht. Vielleicht ist er ein
Soldat. Die Art, wie er sein Schwert trägt, als sei es ein
Teil von ihm wie seine Hand oder sein Fuß. Neben ihm
wirken die Begleitsoldaten der Kaufleute wie Köter. Und
sie, Rand! Ich habe mir niemals eine solche Frau auch nur
vorgestellt. Es ist, als stamme sie aus den Geschichten
eines Gauklers. Sie ist, wie... Wie...« Er unterbrach seinen
Redefluß und sah Ewin gekränkt an. »... wie eine
hochgestellte Dame«, endete er mit einem Seufzer.
»Aber wer sind sie?« fragte Rand. Von den Kaufleuten
abgesehen, die einmal im Jahr kamen, um Tabak und
Wolle zu kaufen, und den fahrenden Händlern, kamen
niemals Fremde zu den Zwei Flüssen, jedenfalls so gut wie
nie. Vielleicht kamen sie bis zu Taren Fähre, aber nicht
noch weiter nach Süden. Die meisten Kaufleute und
Händler kamen auch schon seit Jahren und zählten somit
nicht als Fremde. Vielleicht konnte man sie als
Außenstehende bezeichnen. Es war gute fünf Jahre her,
daß zuletzt ein echter ›Fremder‹ in Emondsfeld
erschienen war, und er hatte versucht, sich hier zu
verstecken. Er hatte oben in Baerlon irgendwelche
Schwierigkeiten gehabt, die keiner im Dorf verstand. E r
war nicht lange geblieben. »Was wollen sie?«
»Was sie wollen?« rief Mat. »Es ist mir gleich, was sie
wollen. Fremde, Rand, und Fremde, wie du sie dir nicht
erträumt hast. Denk mal!«
Rand öffnete den Mund und schloß ihn wortlos wieder.
Der schwarzgekleidete Reiter hatte ihn so nervös gemacht
wie eine Katze im Hunderennen. Es schien schon ein mehr
als seltsamer Zufall zu sein, daß sich drei Fremde auf
einmal hier beim Dorf aufhielten. Drei – falls der seine
Farben ändernde Mantel dieses Burschen niemals schwarz
wurde.
»Sie heißt Moiraine«, sagte Ewin in das kurze
Schweigen hinein. »Ich hörte, wie er sie so anredete.
Moiraine nannte er sie. Die Lady Moiraine. Er heißt Lan.
Die Seherin kann sie vielleicht nicht leiden, aber mir
gefällt sie.«
»Wie kommst du darauf, daß Nynaeve sie nicht leiden
kann?« fragte Rand.
»Sie hat heute morgen die Seherin nach dem Weg
gefragt«, sagte Ewin, »und sie mit ›Kind‹ angesprochen.«
Rand und Mat pfiffen leise durch die Zähne, und Ewin
überschlug sich fast vor Eifer. Er erklärte: »Die Lady
Moiraine wußte nicht, daß sie die Seherin ist. Als sie es
erfuhr, hat sie sich entschuldigt. Tatsächlich! Und sie
stellte ihr dann Fragen über Kräuter und über die Leute in
Emondsfeld mit dem gleichen Respekt wie jede Frau hier
im Dorf, oder vielleicht noch mehr. Sie fragt immerzu,
wie alt die Leute sind und wie lange sie schon hier wohnen
und... Ach, ich weiß nicht, was alles. Jedenfalls antwortete
Nynaeve, als habe sie in einen unreifen Apfel gebissen.
Und dann, als die Lady Moiraine wegging, hat ihr
Nynaeve nachgeschaut, wie... Also jedenfalls, freundlich
war der Blick nicht, kann ich euch sagen.«
»Ist das alles?« fragte Rand. »Du kennst ja Nynaeves
Launen. Als Cenn Buie sie letztes Jahr ›Kind‹ nannte,
schlug sie ihm ihren Stock über den Schädel, und dabei ist
er im Gemeinderat, und alt genug, um ihr Großvater zu
sein, ist er außerdem. Sie geht bei jeder Gelegenheit hoch,
und kaum hat sie sich umgedreht, ist der Ärger auch
schon verflogen.«
»Für mich ist das schon zu lang«, murmelte Ewin.
»Mir ist es ganz gleich, wem Nynaeve über den Schädel
schlägt, solange ich's nicht bin«, gluckste Mat vergnügt.
»Das wird das beste Bel Tine, das es jemals gab. Ein
Gaukler, eine Lady – wer kann mehr verlangen? Wer
braucht schon ein Feuerwerk?«
»Ein Gaukler?« fragte Ewin mit überkieksender
Stimme.
»Komm schon, Rand«, fuhr Mat fort, wobei er den
jüngeren überging. »Wir sind doch hier fertig. Du mußt
den Burschen sehen!«
Er sprang die Treppen hoch. Ewin kam hinterher und
rief: »Ist wirklich ein Gaukler da, Mat? Das ist keine
Schwindelei wie die Geisterhunde, nicht wahr? Oder wie
die Frösche?«
Rand blieb lange genug unten, um die Lampe auf ganz
kleine Flamme zu stellen, dann eilte er hinterher.
Im Schankraum hatten sich Rowan Hurn und Samel
Crawe zu den anderen vor dem Feuer gesellt, so daß nun
der gesamte Gemeinderat versammelt war. Jetzt sprach
Bran al'Vere. Seine normalerweise derb-laute Stimme war
so gedämpft, daß jenseits der zusammengerückten Stühle
nur ein dumpfes Murmeln zu hören war. Der
Bürgermeister betonte seine Worte, indem er mit dem
dicken Zeigefinger in die Fläche der anderen Hand klopfte
und einen Mann nach dem anderen anblickte. Alle nickten
ihm ihr Einverständnis zu, was er auch sagen mochte, nur
bei Cenn sah das etwas zurückhaltender aus als bei den
anderen.
Die Art, wie sie alle eng zusammengerückt miteinander
sprachen, sagte mehr als ein Hinweisschild. Worüber
immer sie sprachen, es ging – im Moment jedenfalls – nur
den Gemeinderat etwas an. Sie hätten sicher etwas dagegen
gehabt, daß Rand lauschte. Zögernd riß er sich los. Es gab
ja auch noch den Gaukler. Und diese Fremden.
Draußen waren Bela und der Karren verschwunden. Hu
oder Tad, die Stallburschen der Schenke, hatten sie
weggebracht. Mat und Ewin standen ein paar Schritte vom
Eingang der Schenke entfernt. Ihre Mäntel wurden vom
Wind hin und her gerissen. Sie blickten sich wütend in die
Augen.
»Zum letzten Mal«, fauchte Mat, »ich spiele dir keinen
Streich! Es ist wirklich ein Gaukler da. Jetzt hau ab!
Rand, sag du diesem Wollkopf, daß ich die Wahrheit sage,
damit er mich in Ruhe läßt.«
Rand zog seinen Umhang enger und tat einen Schritt
vorwärts, um Mat zu unterstützen. Doch die Worte erstar-
ben ihm auf den Lippen, als sich ihm die Nackenhaare
sträubten. Er wurde wieder beobachtet. Es war keines-
wegs das Gefühl, das er bei dem verhüllten Reiter emp-
funden hatte, aber es war auch nicht angenehm, besonders
so kurze Zeit nach dem Zusammentreffen im Wald.
Ein kurzer Rundblick über das Grün zeigte ihm nur,
was er auch zuvor dort erblickt hatte: spielende Kinder,
Menschen, die das Fest vorbereiteten, und kaum ein Blick
in seine Richtung. Der Frühlingsbaum stand nun allein da
und wartete. Geschäftigkeit und kindliche Rufe erfüllten
die Gassen. Alles war so, wie es sein sollte. Außer, daß er
beobachtet wurde.
Dann brachte ihn etwas dazu, sich umzudrehen und
aufzuschauen. Am Rand des Ziegeldachs der Schenke saß
ein großer Rabe und schwankte ein wenig im böigen
Wind. Er hielt den Kopf schräg und äugte mit einem
schwarzen Knopfauge – nach ihm, dachte er. Er schluck-
te, und urplötzlich stieg heißer, scharfer Zorn in ihm auf.
»Dreckiger Aasfresser«, murmelte er.
»Ich hab's satt, angestarrt zu werden«, grollte Mat, und
Rand bemerkte, daß sein Freund neben ihn getreten war
und den Raben ebenfalls böse anblickte.
Sie tauschten einen Blick, und dann suchten ihre Hände
gleichzeitig nach Steinen.
Die beiden Steine flogen genau auf ihr Ziel zu... Und
der Rabe hüpfte zur Seite. Die Steine pfiffen über die
Stelle, an der er sich gerade noch befunden hatte. E r
schlug einmal mit den Flügeln, legte den Kopf wieder
schräg, fixierte sie mit einem toten schwarzen Auge, ohne
jede Angst, ohne ein Anzeichen, daß irgend etwas
geschehen war.
Rand sah den Vogel verwirrt an. »Hast du jemals einen
Raben gesehen, der sich so verhielt?« fragte er ruhig.
Mat schüttelte den Kopf, ohne den Raben aus den
Augen zu verlieren. »Nie. Und auch noch keinen anderen
Vogel.«
»Ein übler Vogel«, sagte eine Frauenstimme hinter
ihnen. Trotz des darin mitschwingenden Ekels klang die
Stimme melodiös. »Selbst in guten Zeiten sollte man ihm
mißtrauen.«
Mit einem schrillen Schrei warf sich der Rabe so
kraftvoll in die Luft hinaus, daß zwei schwarze Federn
vom Rand des Daches herunterschwebten.
Überrascht drehten sich Rand und Mat herum und
verfolgten den schnellen Flug des Vogels über das Grün
hinweg in Richtung auf die wolkenverhangenen
Verschleierten Berge zu, die hinter dem Westwald hoch
aufragten, bis er zu einem verschwindend kleinen Fleck
am Westhimmel wurde und dann ganz außer Sicht war.
Rands Blick fiel auf die Frau, die sie angesprochen
hatte. Auch sie hatte den Flug des Raben verfolgt und
wandte sich nun ihnen zu. Ihr Blick traf den seinen. E r
konnte sie nur stumm anstarren. Dies mußte die Lady
Moiraine sein, und sie war alles wert, was Mat und Ewin
über sie gesagt hatten, alles und noch mehr.
Als er gehört hatte, daß sie Nynaeve als Kind
bezeichnet hatte, stellte er sie sich als alte Dame vor, doch
das war sie nicht. Zumindest war er nicht in der Lage, ihr
Alter auch nur zu schätzen. Zuerst dachte er, sie sei
genauso jung wie Nynaeve, aber je länger er sie ansah,
desto mehr war er überzeugt, daß sie doch älter war. Um
ihre großen dunklen Augen herum lag eine Reife, ein
Hauch von Lebenserfahrung, die niemand Junges besitzen
konnte. Einen Moment lang glaubte er, diese Augen seien
tiefe Seen, die ihn gleich verschlingen würden. Es war
klar, warum Mat und Ewin sie als eine Lady aus den
Erzählungen eines Gauklers bezeichnet hatten. Sie besaß
eine Anmut und beherrschte die Szenerie in einem Maße,
daß er sich unbeholfen und plump vorkam. Sie reichte
ihm zwar kaum bis zur Brust, aber ihre Ausstrahlung ließ
ihre Größe genau richtig erscheinen, und er kam sich mit
seiner Länge linkisch vor.
Alles in allem glich sie niemandem, den er je zuvor
gesehen hatte. Die weite Kapuze des Mantels umrahmte
ihr Gesicht und das dunkle Haar, das in weichen Locken
frei hing. Er hatte noch nie eine erwachsene Frau gesehen,
deren Haar nicht zu Zöpfen geflochten war; jedes
Mädchen der Zwei Flüsse wartete ungeduldig darauf, daß
der Frauenzirkel ihres Dorfes feststellte, sie sei alt genug,
um einen Zopf zu tragen. Ihre Kleidung wirkte ebenso
fremdartig. Ihr Umhang war aus himmelblauem Samt mit
viel silbernem Zierrat, Blättern und Ranken und Blumen
am ganzen Saum entlang. Ihr Kleid schimmerte leicht,
wenn sie sich bewegte. Es war von einem dunkleren Blau
als der Mantel und wies einen cremefarbenen Schrägstrei-
fen auf. Um den Hals trug sie ein Halsband aus schweren
Goldringen, während ihr von einer anderen, feineren
Goldkette, die im Haar befestigt war, ein kleiner blau-
glitzernder Edelstein in die Mitte der Stirn herunterhing.
Um die Taille lag ein breiter Gürtel aus gewobenen
Goldfäden, und am Ringfinger der linken Hand steckte ein
Goldring in Form einer Schlange, die sich in den eigenen
Schwanz biß. Er hatte nun wirklich noch nie einen solchen
Ring gesehen, aber er erkannte die Große Schlange, ein
noch älteres Symbol für die Ewigkeit als das Rad der Zeit.
Schöner als alle Festkleider hatte Ewin gesagt, und er
hatte recht gehabt. Niemand bei den Zwei Flüssen kleidete
sich so. Niemals.
»Guten Morgen, Frau... äh... Lady Moiraine«, sagte
Rand. Sein Gesicht wurde ganz heiß, als er sich so
versprach.
»Guten Morgen, Lady Moiraine«, kam das etwas
geschliffenere Echo von Mat, doch ein wenig unsicher
klangen auch seine Worte.
Sie lächelte, und Rand fragte sich, ob er irgend etwas
für sie tun könnte, damit er eine Entschuldigung dafür
hatte, in ihrer Nähe zu verweilen. Er wußte, daß sie alle
anlächelte, doch es schien ihm, als lächle sie nur für ihn
allein. Es war wirklich so, als sei die Erzählung eines
Gauklers zum Leben erwacht. Mats Gesicht zeigte ein
albernes Grinsen.
»Ihr kennt meinen Namen«, sagte sie, und es klang
erfreut. Als ob ihre Gegenwart, und wenn sie von noch so
kurzer Dauer war, nicht das Gesprächsthema Nummer
eins im Dorf für das nächste Jahr wäre! »Aber ihr müßt
mich Moiraine nennen, nicht Lady. Und wie heißt ihr?«
Ewin sprang in die Bresche, noch bevor einer der
beiden anderen den Mund aufbrachte. »Mein Name ist
Ewin Finngar, Lady. Ich habe denen Euren Namen gesagt,
deswegen kannten sie ihn. Ich hörte, wie Lan ihn
erwähnte, aber gelauscht habe ich nicht. Niemand wie Ihr
ist jemals zuvor nach Emondsfeld gekommen. Es ist auch
ein Gaukler hier im Dorf zum Bel Tine. Und heute ist
Winternacht! Kommt Ihr in mein Haus? Meine Mutter hat
Apfelkuchen gebacken.«
»Wir werden ja sehen«, antwortete sie und legte die
Hand auf Ewins Schulter. Ihre Augen glitzerten amüsiert,
doch ansonsten blieb sie ernst. »Ich weiß nicht, inwieweit
ich mit einem Gaukler konkurrieren kann, Ewin. Aber ihr
alle müßt mich wirklich Moiraine nennen.« Sie schaute
Rand und Mat erwartungsvoll an.
»Ich bin Matrim Cauthon, La... äh... Moiraine«, sagte
Mat. Er verbeugte sich steif und ruckartig, und beim
Aufrichten lief er rot an.
Rand hatte sich gefragt, ob er auch so etwas tun sollte,
so wie die Männer in den Erzählungen, aber nachdem er
Mats Beispiel gesehen hatte, nannte er nur seinen Namen.
Zumindest versprach er sich diesmal nicht wieder.
Moiraine sah erst ihn, dann Mat und dann wieder ihn
an. Rand dachte bei sich, ihr Lächeln, das kaum die
Mundwinkel berührte, wirke wie das Egwenes, wenn sie
ein Geheimnis hatte. »Es kann sein, daß ich während
meines Aufenthalts in Emondsfeld von Zeit zu Zeit ein
paar kleine Aufträge habe«, sagte sie. »Vielleicht wärt ihr
gewillt, mir zu helfen?« Sie lachte, als sie sich mit ihrer
Zustimmung beinahe überschlugen. »Hier«, sagte sie und
Rand war überrascht, als sie ihm eine Münze in die Hand
drückte und ihm die Hand mit ihren beiden Händen darum
zudrückte.
»Es ist nicht nötig«, begann er, aber sie wischte seinen
Protest mit einer Handbewegung beiseite und gab Ewin
auch eine Münze; schließlich drückte sie auch Mats Hand
um eine Münze, wie sie es bei Rand getan hatte.
»Natürlich ist es nötig«, sagte sie. »Man kann doch von
euch nicht erwarten, daß ihr umsonst arbeitet. Betrachtet
die Münzen als Andenken und behaltet sie, damit ihr euch
daran erinnert, daß ihr zu mir kommen sollt, wenn ich es
verlange. Die Münzen verbinden uns jetzt miteinander.«
»Ich werde das nie vergessen«, posaunte Ewin heraus.
»Wir werden uns später unterhalten«, sagte sie, »und
ihr müßt mir alles über euch erzählen.«
»Lady... Entsch... Moiraine?« fragte Rand zögernd, als
sie sich abwandte. Sie blieb stehen und blickte über die
Schulter zurück. Er mußte schlucken, bevor er fortfuhr:
»Warum seid Ihr nach Emondsfeld gekommen?« Ihr
Gesichtsausdruck änderte sich nicht, und doch wünschte er
plötzlich, er hätte die Frage nicht gestellt. Er konnte nicht
einmal sagen, warum. Er wollte jedenfalls rasch
klarstellen, warum er gefragt hatte. »Ich wollte nicht
unhöflich sein. Es tut mir leid. Es ist nur so, daß niemand
außer den Kaufleuten und Händlern zu den Zwei Flüssen
kommt, wenn der Schnee nicht allzu tief ist, so daß sie aus
Baerlon herunterkommen können. Fast niemand.
Bestimmt niemand wie Ihr. Die Leibwächter der
Kaufleute sagen manchmal, dies sei der hintere Winkel
der Ewigkeit, und ich schätze, von draußen gesehen mag
es so scheinen. Ich wundere mich nur.«
Ihr Lächeln verschwand nun ganz langsam von ihrem
Gesicht, als habe sie sich an etwas erinnert. Einen
Augenblick lang sah sie ihn nur einfach an. »Ich studiere
die Geschichte«, sagte sie schließlich, »und sammle alte
Erzählungen. Diese Gegend, die ihr heute Zwei Flüsse
nennt, hat mich schon immer angezogen. Manchmal
beschäftige ich mich mit Ereignissen, die vor langer Zeit
hier geschehen sind, hier und anderswo.«
»Ereignisse?« fragte Rand. »Was kann denn in Zwei
Flüsse je geschehen sein, daß es jemanden wie Euch
interessiert – ich meine, was könnte hier schon passiert
sein?«
»Und wie sonst als Zwei Flüsse wollt Ihr dieses Land
nennen?« fügte Mat hinzu. »So hieß es schon immer.«
»Während sich das Rad der Zeit dreht«, sagte Moiraine
halb zu sich selbst und mit einem abwesenden Blick,
»führen Orte viele verschiedene Namen. Auch die
Menschen tragen viele Namen und viele Gesichter.
Unterschiedliche Gesichter, doch immer der gleiche
Mensch. Doch niemand kennt das Große Muster, das vom
Rad gewebt wird; wir kennen nicht einmal das Muster
eines Zeitalters. Wir können nur beobachten und studieren
und hoffen.«
Rand starrte sie an, unfähig, auch nur ein Wort
herauszubringen oder zu fragen, was sie damit meinte. E r
war sich nicht sicher, ob ihre Worte auch für sie bestimmt
gewesen waren. Die anderen beiden schwiegen genau wie
er, stellte er fest. Ewin stand der Mund offen.
Moiraines Blick kehrte zu ihnen zurück, und alle drei
schüttelten sich ein wenig, als erwachten sie. »Wir werden
uns später darüber unterhalten«, sagte sie. Keiner von
ihnen sagte ein Wort. »Später.« Sie ging in Richtung
Wagenbrücke. Es sah mehr wie ein Gleiten aus als ein
Gehen. Ihr Umhang breitete sich nach beiden Seiten aus
wie Flügel.
Als sie ging, verließ ein hochgewachsener Mann, den
Rand vorher gar nicht bemerkt hatte, den Schatten der
Schenke und folgte ihr, die eine Hand am langen Knauf
seines Schwertes. Seine Kleidung war von einer dunklen
graugrünen Farbe, die vor Blättern oder im Schatten fast
verschwand, und sein Umhang wirbelte durch
Schattierungen von Grau und Grün und Braun, wie er so
im Wind flatterte. Je nach dem Hintergrund war dieser
Umhang manchmal beinahe unsichtbar. Er trug das Haar
lang. An den Schläfen zeigte sich Grau. Das Haar wurde
von einem schmalen Lederband zurückgehalten. Das
Gesicht schien aus kantigem Fels gehauen, wettergegerbt,
doch faltenlos und nicht vom Alter gezeichnet, bis auf das
Grau in den Haaren. Seine Bewegungen erinnerten Rand
an einen Wolf.
Als er an ihnen vorbeiging, streifte sein Blick kurz die
drei jungen Männer. Seine Augen waren so kalt und blau
wie der Mittwinterhimmel. Es schien, als wöge er sie in
seinem Geist ab, doch es gab kein Anzeichen dafür, was
ihm die Waage angezeigt hatte. Er beschleunigte seine
Schritte, bis er Moiraine eingeholt hatte. Dann ging er
langsam an ihrer Seite weiter und beugte sich nieder, um
mit ihr zu sprechen. Rand stieß die Luft aus und merkte
erst jetzt, daß er sie angehalten hatte.
»Das war Lan«, sagte Ewin mit kehliger Stimme, als
habe auch er die Luft angehalten. Das war aber auch ein
Blick gewesen, bei dem einem der Atem stocken konnte.
»Ich wette, er ist ein Behüter.«
»Sei kein Narr!« Mat lachte, doch das Lachen klang
zittrig. »Behüter gibt es nur in Geschichten. Und auf jeden
Fall haben sie Schwerter und goldüberzogene Rüstungen
mit Edelsteinen dran, und sie bleiben immer oben im
Norden, in der Großen Fäule, und kämpfen gegen das
Böse und gegen Trollocs und so was.«
»Er könnte ein Behüter sein.« Ewin bestand darauf.
»Hast du bei ihm irgendwo Gold und Edelsteine gesehen?«
schalt Mat. »Haben wir hier bei den Zwei Flüssen etwa
Trollocs? Wir haben Schafe. Ich frage mich wirklich, was
hier jemals geschehen sein kann, daß jemand wie sie sich
dafür interessiert.«
»Es könnte schon sein«, antwortete Rand langsam.
»Man sagt, die Schenke stehe hier schon seit tausend
Jahren oder mehr.«
»Tausend Schafsjahre vielleicht«, meinte Mat.
»Ein silberner Pfennig!« platzte Ewin heraus. »Sie hat
mir einen ganzen Silberpfennig gegeben! Stellt euch vor,
was ich dafür kaufen kann, wenn der Händler kommt.«
Rand öffnete die Faust, um die Münze anzusehen, die
sie ihm gegeben hatte, und beinahe hätte er sie vor
Überraschung fallen gelassen. Zwar war ihm die dicke
Silbermünze mit dem aufgeprägten Bild einer Frau, die in
der erhobenen Hand eine Flamme hielt, nicht geläufig,
aber er hatte Bran öfter beobachtet, wenn er die Münzen
der Kaufleute aus einem Dutzend verschiedener Länder
abgewogen hatte, und er kannte ihren ungefähren Wert.
Soviel Silber reichte, um überall im Gebiet der Zwei
Flüsse ein gutes Pferd zu erwerben, und es bliebe sicher
noch etwas übrig.
Er sah Mat an und erkannte auf seinem Gesicht den
gleichen verblüfften Ausdruck, den auch seine Miene
zeigen mußte. Er hielt die Hand schräg, so daß Mat die
Münze sehen konnte, Ewin aber nicht, und zog fragend
die Augenbrauen hoch. Mat nickte, und eine Minute lang
blickten sich beide staunend an.
»Welche Art von Diensten wird sie uns wohl
auftragen?« fragte Rand schließlich.
»Ich weiß nicht«, sagte Mat mit fester Stimme, »und es
interessiert mich nicht. Ich werde die Münze nicht
ausgeben. Auch dann nicht, wenn der Händler kommt.«
Damit steckte er das Geldstück in die Manteltasche.
Rand nickte und tat es ihm mit langsamen Bewegungen
gleich. Er war sich nicht über den Grund im klaren, aber
was Mat gesagt hatte, schien richtig. Die Münze sollte
nicht ausgegeben werden. Nicht, wenn sie von ihr
stammte. Er konnte sich nicht denken, wofür Silber sonst
noch gut sein sollte, doch...
»Denkt ihr, daß ich meine auch aufheben sollte?«
Quälende Unentschlossenheit prägte Ewins
Gesichtsausdruck.
»Nicht, wenn du nicht willst«, sagte Mat.
»Ich glaube, sie gab sie dir zum Ausgeben«, sagte Rand.
Ewin blickte seine Münze an, schüttelte den Kopf und
stopfte den Silberpfennig in die Tasche. »Ich behalte sie«,
sagte er bedauernd.
»Es gibt ja auch noch den Gaukler«, sagte Rand, und
die Miene des Jungen hellte sich auf.
»Wenn er jemals aufsteht«, fügte Mat hinzu.
»Rand«, fragte Ewin, »ist wirklich ein Gaukler da?«
»Du wirst schon sehen«, antwortete Rand lachend. Es
war klar, daß Ewin es nicht glauben würde, bis er den
Gaukler mit eigenen Augen sah. »Früher oder später muß
er ja wohl runterkommen.«
Rufe waren von jenseits der Wagenbrücke zu hören.
Als Rand sah, was los war, lachte er vor Freude. Eine
durcheinanderwirbelnde Menge von Dorfbewohnern, vom
grauhaarigen Opa bis zu watschelnden Kleinkindern,
begleitete einen hohen Planwagen zur Brücke, einen
riesigen Wagen, der von acht Pferden gezogen wurde.
Außen an der halbrund übergezogenen Plane hingen
Bündel von Waren wie Trauben an einem Strunk. Der
Händler war endlich da. Fremde und ein Gaukler,
Feuerwerk und ein fahrender Händler. Es würde das beste
Bel Tine aller Zeiten werden.
KAPITEL 3
Der Gaukler
Die Tür der Schenke schlug hinter dem weißhaarigen
Mann zu, und er fuhr herum und funkelte sie an. Er war
mager, und man konnte ihn an sich hochgewachsen
nennen, wäre da nicht die leicht bucklige Haltung
gewesen. Trotzdem – er bewegte sich so frisch, daß man
ihm das Alter nicht anmerkte. Sein Umhang schien aus
einer Unzahl von Flicken zu bestehen, in den
eigenartigsten Formen und Größen, die in jedem
Lufthauch flatterten, Flicken in hundert verschiedenen
Farben. Der Umhang war in Wirklichkeit recht dick, sah
Rand, obwohl Meister al'Vere ja anderes behauptet hatte,
und die Flicken waren lediglich als Dekoration aufgenäht.
»Der Gaukler!« flüsterte Egwene aufgeregt.
Der weißhaarige Mann wirbelte herum, und der
Umhang leuchtete auf.
Sein langer Mantel hatte seltsam aufgebauschte Ärmel
und große Taschen. Ein kräftiger Schnurrbart, genauso
weiß wie das Haar auf dem Kopf, zitterte über dem Mund,
und das Gesicht war knorrig wie ein Baum, der schwere
Zeiten hinter sich hatte. Mit einer langstieligen, mit
Schnitzwerk verzierten Pfeife zeigte er gebieterisch auf
Rand und die anderen. Ein dünner Rauchfaden erhob sich
daraus. Blaue Augen spähten unter buschigen weißen
Augenbrauen hervor und durchbohrten alles, worauf er
blickte.
Rand betrachtete die Augen des Mannes genauso
intensiv wie die ganze Gestalt. Jedermann von den Zwei
Flüssen hatte dunkle Augen, und bei den meisten
Kaufleuten und ihren Wächtern und jedem sonst, den er
bisher gesehen hatte, war das auch der Fall. Die Congars
und die Coplins hatten sich über seine grauen Augen lustig
gemacht, jedenfalls bis zu dem Tag, da er endlich Ewal
Coplin eins auf die Nase gegeben hatte. Die Seherin hatte
ihn deshalb ganz schön ausgeschimpft. Er fragte sich, ob
es einen Ort gab, an dem niemand dunkle Augen hatte.
Vielleicht kommt auch Lan von dort.
»Was für ein Ort ist das hier eigentlich?« fragte der
Gaukler mit tiefer Stimme, die irgendwie gewaltiger
klang als die eines gewöhnlichen Mannes. Selbst draußen
im Freien schien sie einen großen Saal zu füllen und von
den Wänden widerzuhallen. »Die Bauerntrampel in
diesem Dorf auf dem Hügel erzählen mir, ich könne noch
vor Einbruch der Dunkelheit hier ankommen, vergessen
aber, mir zu sagen, daß ich dazu früh am Vormittag
bereits aufbrechen muß. Als ich dann endlich ankomme,
bis auf die Knochen durchgefroren und reif für ein
warmes Bett, meckert euer Wirt, daß es schon so spät sei,
als sei ich ein wandernder Schweinehirt und als hätte mich
nicht euer Gemeinderat gebeten, bei diesem Fest hier
meine Kunst zu zeigen. Und er sagte mir noch nicht
einmal, daß er der Bürgermeister ist!« Er holte erst
einmal Luft, betrachtete alle finster und legte einen
Moment später schon wieder los. »Als ich runterging, um
meine Pfeife vor dem Kamin zu rauchen und einen Krug
Bier zu trinken, sieht mich jedermann im Schankraum an,
als sei ich sein bestgehaßter Schwager und versuche, mir
von ihm Geld zu leihen. Irgendein alter Opa fängt an, mir
Vorträge zu halten, welche Art von Geschichten ich
erzählen soll und welche nicht, und dann schreit mich so
ein kindisches kleines Mädchen an, ich solle abhauen, und
bedroht mich mit einem Knüppel, als ich nicht schnell
genug springe. Wo hat man denn so was schon gehört, daß
man einen Gaukler derart behandelt?«
Es lohnte sich, Egwenes Gesicht zu studieren. Sie war
hin- und hergerissen. Einerseits bestaunte sie den Gaukler
mit großen Augen, und andererseits sah man, daß sie
Nynaeve verteidigen wollte.
»Entschuldigt, Meister Gaukler«, sagte Rand. Er wußte,
daß er dabei selbst idiotisch grinste. »Das war unsere
Seherin, und...«
»Dieses hübsche kleine Ding von einem Mädchen?« rief
der Gaukler. »Eine Dorfseherin? Na, in ihrem Alter sollte
sie lieber mit jungen Männern flirten, als das Wetter
vorherzusagen und Kranke zu heilen.«
Rand fühlte sich nicht gerade wohl in seiner Haut.
Hoffentlich hörte Nynaeve nicht, was der Mann von ihr
hielt. Zumindest nicht, bevor er seine Vorstellung beendet
hatte. Perrin fuhr bei den Worten des Gauklers
zusammen, und Mat pfiff tonlos durch die Zähne, als
gingen den beiden Freunden dieselben Gedanken durch
den Kopf wie ihm.
»Die Männer, das war der Gemeinderat«, fuhr Rand
fort. »Ich bin sicher, sie wollten nicht unhöflich sein. Seht
Ihr, wir haben gerade erfahren, daß in Ghealdan Krieg
ausgebrochen ist, und ein Mann behauptet, der
Wiedergeborene Drache zu sein. Ein falscher Drache. Aes
Sedai reiten aus Tar Valon dorthin. Der Gemeinderat
versucht zu entscheiden, ob wir hier in Gefahr sind.«
»Das hat ja alles schon einen Bart, sogar in Baerlon«,
mäkelte der Gaukler, »und das ist wirklich der letzte Ort
auf der Welt, an dem man etwas Neues erfahren kann.«
Er hielt inne, betrachtete die umliegenden Häuser des
Dorfs und fügte trocken hinzu: »Vielleicht der vorletzte
Ort.« Dann fiel sein Blick auf den Wagen vor der
Schenke, der nun verlassen dastand, die Deichsel am
Boden. »So. Ich dachte, ich hätte Padan Fain dort drinnen
erkannt.« Seine Stimme klang immer noch tief, aber der
Widerhall war nicht mehr zu hören und wurde durch
Verachtung ersetzt. »Fain hat immer schon schlechte
Nachrichten schnell überbracht – je schlechter, desto
schneller. Es hat mehr von einem Raben als von einem
Mann.«
»Meister Fain ist schon oft nach Emondsfeld
gekommen, Meister Gaukler«, sagte Egwene, bei der nun
ein Hauch von Mißbilligung durch die Freude brach. »Er
steckt immer voll von Humor und bringt viel mehr gute
Nachrichten als schlechte.«
Der Gaukler betrachtete sie einen Augenblick lang und
lächelte dann breit. »Also, du bist ja ein süßes Mädel. Du
solltest Rosenknospen im Haar tragen. Unglücklicherweise
kann ich keine Rosen aus der Luft zaubern, nicht dieses
Jahr, aber würde es dir Spaß machen, morgen während
eines Teils meiner Vorstellung neben mir zu stehen und
mir zu assistieren? Du könntest mir eine Flöte reichen,
wenn ich sie brauche, und bestimmte weitere Geräte. Ich
wähle immer das hübscheste Mädchen aus, das ich finden
kann.«
Perrin kicherte, und Mat, der vorher schon gegrinst
hatte, lachte schallend los. Rand machte große Augen vor
Überraschung; Egwene sah ihn böse an, und dabei hatte er
noch nicht einmal gelächelt. Sie richtete sich auf und sagte
mit etwas zu beherrschter Stimme: »Danke schön, Meister
Gaukler. Ich werde mich glücklich schätzen, Euch zu
assistieren.«
»Thom Merrilin«, sagte der Gaukler. Sie sahen ihn
verständnislos an. »Ich heiße Thom Merrilin, nicht
Meister Gaukler.« Er zog den vielfarbigen Umhang
höher, und plötzlich schien seine Stimme wieder in einem
großen Saal zu hallen. »Einst Barde am Hof, habe ich
mich nun hochgearbeitet und den enormen Rang eines
Meistergauklers erreicht, doch mein Name lautet einfach
nur Thom Merrilin, und Gaukler ist der Titel, mit dem
ich mich schmücke.« Und er verbeugte sich mit einem
derart eleganten Schwung seines Umhangs, daß Mat
klatschte und Egwene beifällig murmelte.
»Meister... äh... Meister Merrilin«, sagte Mat, der sich
nicht sicher war, wie er ihn nun anreden sollte, »was
geschieht denn wirklich in Ghealdan? Wißt Ihr irgend
etwas über diesen falschen Drachen? Oder die Aes Sedai?«
»Sehe ich wie ein fahrender Händler aus, Junge?«
brummte der Gaukler, während er seine Pfeife auf dem
Handrücken ausklopfte. Er ließ die Pfeife irgendwo in
seinem Umhang oder seinem Mantel verschwinden; Rand
war sich nicht sicher, wo sie war oder wie sie dahin
gekommen war. »Ich bin Gaukler und kein Dorfbüttel.
Und ich bemühe mich, niemals etwas über die Aes Sedai
zu wissen. Das ist viel sicherer.«
»Aber der Krieg«, begann Mat eifrig, doch Meister
Merrilin schnitt ihm das Wort ab.
»Im Krieg, Junge, töten Narren andere Narren aus
närrischen Gründen. Es genügt, wenn man soviel weiß.
Ich bin meiner Künste wegen hier.« Plötzlich deutete sein
Zeigefinger auf Rand. »Du, Bursche. Du bist
großgewachsen. Noch nicht voll ausgewachsen, aber ich
glaube kaum, daß es in der Region hier noch einen Mann
deiner Größe gibt. Ich schätze auch, daß es im Dorf nicht
viele Leute mit deiner Augenfarbe gibt. Auf jeden Fall
hast du breite Schultern und bist so groß wie ein
Aielmann. Wie heißt du, Bursche?«
Rand sagte zögernd seinen Namen. Er war sich nicht
sicher, ob der Mann sich über ihn lustig machte, aber der
Gaukler widmete seine Aufmerksamkeit bereits Perrin.
»Und du hast schon beinahe die Maße eines Ogiers. Wie
wirst du genannt?«
»Nur wenn ich mich auf die eigenen Schultern stelle«,
lachte Perrin. »Ich fürchte, Rand und ich sind nur ganz
normale Menschen, Meister Merrilin, und keine
erfundenen Wesen aus Euren Geschichten. Ich bin Perrin
Aybara.«
Thom Merrilin zupfte an einem Ende seines
Schnurrbarts. »Na ja. Erfundene Wesen aus meinen
Geschichten. Sind sie das? Es scheint, Ihr jungen Burschen
seid schon weit in der Welt herumgekommen.«
Rand hielt den Mund, denn er war nun sicher, daß sie
Ziel eines Scherzes waren, aber Perrin sagte etwas dazu.
»Wir waren alle schon bis Wachhügel und Devenritt.
Nur wenige Leute aus dieser Gegend sind schon so weit
weg gewesen.« Er gab nicht an; das tat Perrin selten. E r
sagte einfach die Wahrheit.
»Wir haben auch alle den Schlammpfuhl gesehen«,
fügte Mat hinzu, und bei ihm klang es nach Angabe. »Das
ist der Sumpf am hinteren Ende des Wasserwalds. Dort
geht sonst überhaupt niemand hin außer uns – da findet
man Treibsand und Moorlöcher. Und genausowenig geht
jemand bis zu den Verschleierten Bergen, aber wir waren
schon einmal dort. Jedenfalls bis zu ihrem Fuß.«
»Tatsächlich so weit?« murmelte der Gaukler, der sich
nun dauernd über den Schnurrbart strich. Rand glaubte,
er verberge ein Lächeln, und beobachtete, wie Perrin die
Stirn runzelte.
»Es bringt Pech, wenn man sich in die Berge
hineinwagt«, sagte Mat, als müsse er sich verteidigen, weil
er nicht weiter gegangen war. »Das weiß doch jeder.«
»Das ist doch närrisch, Matrim Cauthon«, mischte sich
Egwene ärgerlich ein. »Nynaeve sagt...« Sie sprach nicht
weiter. Ihre Wangen färbten sich rot, und der Blick, mit
dem sie Thom Merrilin musterte, war nicht so freundlich
wie zuvor. »Es ist nicht anständig... Es ist nicht...« Ihr
Gesicht wurde noch roter, und sie schwieg. Mat
zwinkerte, als komme ihm jetzt der Verdacht, daß etwas
nicht stimme.
»Du hast recht, Kind«, sagte der Gaukler reumütig.
»Ich entschuldige mich demütigst. Ich bin hier, um
Menschen zu unterhalten. Äh, meine Zunge hat mich
schon oft in Schwierigkeiten gebracht.«
»Vielleicht sind wir nicht so weit herumgekommen wie
Ihr«, sagte Perrin tonlos, »aber was hat eigentlich Rands
Größe mit all dem zu tun?«
»Nur mein, Junge, ihr sollt später versuchen, mich
hochzuheben, aber Ihr werdet nicht in der Lage sein,
meine Füße auch nur vom Boden wegzubringen. Ihr nicht
und Euer großer Freund nicht – Rand, nicht wahr? – und
auch niemand anders. Was haltet Ihr davon?«
Perrin schnaubte und lachte gleichzeitig. »Ich schätze,
ich kann Euch jetzt gleich hochheben.« Aber als er
vortrat, winkte ihn Thom Merrilin zurück. »Später,
Bursche, später! Wenn mehr Zuschauer da sind. Ein
Künstler braucht sein Publikum.«
Ein paar Leuten hatten sich auf dem Grün versammelt,
seit der Gaukler aus der Schenke gekommen war; von
jungen Männern und Frauen bis zu Kindern, die
schweigend und mit großen Augen hinter den älteren
Zuschauern hervorlugten. Alle wirkten, als erwarteten sie
wahre Wunder von dem Gaukler. Der weißhaarige Mann
betrachtete sie – er schien sie zu zählen –, schüttelte leicht
den Kopf und seufzte.
»Ich denke, ich muß wohl ein kleines Beispiel meiner
Künste zum besten geben, damit Ihr heimlaufen und es
den anderen erzählen könnt. Eh? Nur ein Vorgeschmack
dessen, was Ihr morgen bei Eurem Fest sehen werdet.«
Er trat einen Schritt zurück und sprang plötzlich hoch
in die Luft, drehte sich in einem Schraubensalto und
landete mit dem Gesicht ihnen zugewandt auf der alten
Mauer. Und noch mehr: Drei Bälle – rot, weiß und
schwarz – begannen zwischen seinen Händen zu tanzen,
und zwar bereits in dem Moment, als er auf der Mauer
landete.
Ein leises Stöhnen war von den Zuschauern zu hören;
halb Erstaunen, halb Genugtuung. Sogar Rand vergaß
seine Nervosität. Er grinste Egwene zu und erhielt dafür
ein vergnügtes Lächeln, und dann wandten sich beide wie-
der dem Gaukler zu und sahen ihm mit großen Augen zu.
»Ihr möchtet Geschichten hören?« rief Thom Merrilin.
»Ich habe Geschichten, und ich werde sie Euch erzählen.
Ich werde sie vor Euren Augen zum Leben erwecken.«
Ein blauer Ball von irgendwoher gesellte sich zu den
anderen, dann ein grüner und ein gelber. »Geschichten
über große Kriege und große Helden für die Männer und
die Jungen. Für die Frauen und Mädchen den ganzen
Aptarigine-Zyklus. Geschichten von Artur Falkenflügel,
Artur, dem großen König, der einst alle Länder von der
Aiel-Wüste bis zum Aryth-Meer und noch weiter regierte.
Erstaunliche Geschichten über fremde Völker und fremde
Länder, über den Grünen Mann, über Behüter und
Trollocs, Ogier und Aiel. ›Die tausend Erzählungen
Anlas, der weisen Ratgeberin‹, ›Jaem, der Riesentöter‹,
›Wie Susa Jain Fernstreicher zähmte‹, ›Mara und die drei
törichten Könige‹.«
»Erzählt uns von Lenn!« rief Egwene. »Wie er im
Bauch eines Adlers aus Feuer auf den Mond flog. Erzählt
uns von seiner Tochter Salya, die zwischen den Sternen
einhergeht.«
Rand betrachtete sie aus den Augenwinkeln, doch sie
schien sich nur auf den Gaukler zu konzentrieren. Sie
hatte Geschichten über Abenteuer und lange Reisen noch
nie gemocht. Ihre Lieblingsgeschichten waren immer die
lustigen oder solche über Frauen gewesen, die schlauer
waren als angeblich besonders kluge Leute. Rand war
sicher, daß sie nach den Geschichten von Lenn und Salya
verlange, um ihm eins auszuwischen. Sicher war auch ihr
klar, daß die Welt dort draußen für die Leute von den
Zwei Flüssen kein Thema war. Sich Abenteuergeschichten
anzuhören und vielleicht davon zu träumen, war eine
Sache; aber mittendrin zu stehen und sie selbst zu erleben,
war eine ganz andere. »Das sind alte Geschichten«, sagte
Thom Merrilin, und plötzlich jonglierte er mit jeder Hand
drei farbige Bälle. »Manche behaupten, das seien
Geschichten aus dem Zeitalter vor dem Zeitalter der
Legenden. Oder vielleicht noch älter. Aber, seht ihr, ich
habe alle Geschichten von Zeitaltern, die vergingen und
von solchen, die kommen werden. Zeitalter, in denen die
Menschen Himmel und Sterne beherrschten, und Zeitalter,
da die Menschen den Tieren gleich umherzogen. Zeitalter
zum Staunen und Zeitalter zum Fürchten. Zeitalter, die
damit endeten, daß Feuer vom Himmel fiel, und andere,
deren Ende in Eis und Schnee begraben wurde. Ich kenne
alle Geschichten, und ich werde alle Geschichten erzählen.
Geschichten von Mosk, dem Riesen, mit seiner
Feuerlanze, die er um die ganze Welt werfen konnte, und
von seinen Kriegen mit Alsbet, der All-Königin.
Geschichten von Materese, der Heilerin und Mutter des
Erstaunlichen Ind.«
Die Bälle tanzten nun in zwei ineinandergreifenden
Ringen zwischen Thoms Händen. Seine Stimme klang
beinahe, als singe er, und während er sprach, drehte er
sich langsam, als wolle er seine Wirkung auf die
Zuschauer beobachten. »Ich werde euch vom Ende des
Zeitalters der Legenden berichten, vom Drachen und
seinem Versuch, den Dunklen König zu befreien und in
die Welt der Menschen zu lassen. Ich werde von der Zeit
des Wahns erzählen, als Aes Sedai die Welt zerbrachen;
von den Trolloc-Kriegen, als Menschen gegen Trollocs
um die Herrschaft der Welt kämpften; vom
Hundertjährigen Krieg, als Menschen gegen Menschen
kämpften und die heutigen Staaten gegründet wurden. Ich
werde von den Abenteuern von Männern und Frauen
erzählen, Armen und Reichen, Großen und Kleinen,
Stolzen und Demütigen. ›Die Belagerung der Säulen des
Himmels‹, ›Wie Frau Karil ihren Mann vom Schnarchen
befreite‹, ›König Darith und der Fall des Hauses der...‹«
Mit einem Schlag endeten der Wortschwall und auch
das Jonglieren. Thom schnappte sich lediglich die Bälle
aus der Luft und hörte mit Sprechen auf. Von Rand
unbemerkt, hatte sich Moiraine zu den Zuschauern gesellt.
Lan stand an ihrer Seite. Er mußte allerdings zweimal
hinsehen, um den Mann zu erkennen. Einen Augenblick
lang sah Thom Moiraine von der Seite an. Sein Gesicht
und sein Körper bewegten sich nicht, und doch ließ er die
Bälle in den weiten Manteltaschen verschwinden. Dann
verbeugte er sich vor ihr, wobei er den Umhang weit
ausbreitete. »Entschuldigt, aber Ihr kommt doch sicher
nicht aus dieser Gegend.«
»Lady!« zischte Ewin aufgebracht. »Die Lady
Moiraine.«
Thom blinzelte und verbeugte sich nochmals, diesmal
tiefer. »Entschuldigt noch einmal... äh, Lady. Ich wollte
nicht unhöflich sein.«
Moiraine tat es mit einer leichten Handbewegung ab.
»Es wurde auch nicht so aufgefaßt, Meister Barde. Und
mein Name lautet einfach Moiraine. Ich bin tatsächlich
fremd hier, eine Reisende wie Ihr selbst, fern der Heimat
und allein. Die Welt kann ein gefährlicher Ort sein, wenn
man irgendwo in der Fremde weilt.«
»Die Lady Moiraine sammelt Geschichten«, warf Ewin
ein. »Geschichten über Dinge, die sich bei den Zwei
Flüssen abspielten. Obwohl ich nicht weiß, was hier
Großes geschehen sein kann, daß man eine Geschichte
darüber erzählt.«
»Ich hoffe, Euch werden meine Geschichten genausogut
gefallen... Moiraine.« Thom betrachtete sie mit
offensichtlichem Argwohn. Er sah nicht so aus, als gefalle
ihm ihre Anwesenheit. Plötzlich fragte Rand sich, welche
Art von Unterhaltung einer Dame wie ihr in einer Stadt
wie Baerlon oder Caemlyn wohl geboten wurde. Es
konnte doch kaum Besseres sein, als ein Gaukler zu bieten
hatte.
»Das ist Geschmackssache, Meister Barde«, antwortete
Moiraine. »Einige Geschichten gefallen mir, andere
nicht.«
Thoms Verbeugung war seine bisher tiefste. Sein langer
Körper beugte sich parallel zum Boden. »Ich versichere
Euch, daß Euch keine meiner Geschichten mißfallen
werden. Alle werden gefallen und unterhalten. Und Ihr
laßt mir zuviel Ehre zuteil werden. Ich bin ein einfacher
Gaukler – sonst nichts.«
Moiraine beantwortete seine Verbeugung mit einem
dankbaren Nicken. In diesem Augenblick erschien sie
noch mehr als die Lady, wie sie von Ewin bezeichnet
worden war, die ein Geschenk eines ihrer Untertanen
annahm. Dann ging sie, und Lan folgte ihr – ein Wolf auf
den Spuren eines dahingleitenden Schwans. Thom sah
ihnen nach. Er zupfte sich an den wild wuchernden
Augenbrauen und strich sich mit den Knöcheln über den
langen Schnurrbart, bis sie auf halbem Weg über das
Grün waren. Es gefällt ihm überhaupt nicht, dachte Rand.
»Jongliert Ihr jetzt noch ein wenig?« wollte Ewin
wissen.
»Schluckt Feuer!« rief Mat. »Ich will Euch Feuer
schlucken sehen!«
»Die Harfe!« rief eine Stimme aus der Menge. »Spielt
Harfe!« Jemand anders wollte, daß er Flöte spielte.
In diesem Moment öffnete sich die Tür der Schenke,
und der Gemeinderat schob sich heraus, Nynaeve in der
Mitte. Padan Fain befand sich nicht bei ihnen, bemerkte
Rand. Offensichtlich hatte es der Händler vorgezogen, mit
seinem Glühwein in der warmen Schankstube zu bleiben.
Etwas von einem ›starken Schnaps‹ vor sich
hinmurmelnd, sprang Thom Merrilin plötzlich von der
alten Grundmauer. Er überhörte die Rufe seiner
Zuschauer und drückte sich am Gemeinderat vorbei,
bevor die noch aus der Tür waren.
»Ist er eigentlich Gaukler oder König?« fragte Cenn
Buie in ärgerlichem Tonfall. »Reine Geldverschwendung,
wenn Ihr mich fragt.«
Bran al'Vere drehte sich halb nach dem Gaukler um,
schüttelte dann aber den Kopf. »Dieser Mann macht uns
vielleicht mehr Schwierigkeiten, als er wert ist.«
Nynaeve, die alle Hände voll zu tun hatte, ihren
flatternden Umhang festzuhalten, schnaubte vernehmlich.
»Macht Euch ruhig Kopfzerbrechen des Gauklers wegen,
Brandelwyn al'Vere. Zumindest ist er hier in Emondsfeld,
was man von dem falschen Drachen nicht behaupten kann.
Aber wenn Ihr Euch schon Sorgen machen wollt: Es gibt
andere hier, deren Anwesenheit Euch mehr Ärger
bereiten wird.«
»Seherin«, sagte Bran steif, »überlaßt es
freundlicherweise bitte mir, über wen ich mir den Kopf
zerbreche. Frau Moiraine und Meister Lan sind Gäste
meiner Herberge und, so möchte ich behaupten,
anständige und ehrenwerte Leute. Sie haben mich nicht
vor dem versammelten Gemeinderat als Narren
bezeichnet. Sie haben dem Gemeinderat nicht
vorgeworfen, daß keiner von uns seine fünf Sinne
beisammen habe.«
»Es scheint, als habe ich Euch noch zu gut bewertet«,
schoß Nynaeve zurück. Sie schritt ohne einen Blick zurück
einfach davon. Brans Kinn bewegte sich, als formuliere er
eine passende Antwort.
Egwene sah Rand an, als wolle sie etwas sagen, aber
statt dessen eilte sie der Seherin hinterher. Rand war sich
klar darüber, daß es irgendeinen Weg geben mußte, sie
davon abzuhalten, die Zwei Flüsse zu verlassen, doch der
einzige Weg, der ihm gerade einfiel, war keiner, den er
zur Zeit bereits gehen konnte, selbst wenn sie zustimmte.
Und sie hatte ja mehr oder weniger angedeutet, daß sie
nicht wollte. Das machte alles für ihn noch schlimmer.
»Diese junge Frau braucht einen Mann«, grollte Cenn
Buie, der auf Zehenspitzen umherhüpfte. Sein Gesicht
hatte sich puterrot gefärbt und wurde noch dunkler. »Ihr
fehlt der Respekt. Wie sind der Gemeinderat und keine
kleinen Jungen, die ihr den Hof machen und...«
Der Bürgermeister atmete schwer durch die Nase und
fuhr dann plötzlich den alten Dachdecker an: »Sei ruhig,
Cenn! Hör auf, dich wie ein Aiel mit schwarzem Schleier
aufzuführen!« Der knochige Mann erstarrte vor
Überraschung. Der Bürgermeister verlor sonst nie die
Beherrschung. Bran funkelte ihn an. »Versengen soll mich
das Licht, aber wir haben wirklich Besseres zu tun, als uns
wie Narren zu benehmen. Oder willst du beweisen, daß
Nynaeve recht hat?« Damit stampfte er zurück in die
Schenke und knallte die Tür hinter sich zu.
Die anderen Mitglieder des Gemeinderats sahen Cenn
an und gingen dann jeder in seine Richtung nach Hause.
Alle außer Haral Luhhan, der den Dachdecker begleitete
und leise auf ihn einredete. Cenn Buies Gesicht war wie
versteinert. Der Schmied aber war der einzige, der Cenn
jemals wieder zur Vernunft bringen konnte.
Rand ging zu seinem Vater hinüber, und seine Freunde
kamen hinterher. »Ich habe Meister al'Vere noch nie so
wütend gesehen«, war das erste, was Rand sagte. Das
brachte ihm einen angewiderten Blick Mats ein.
»Der Bürgermeister und die Seherin sind sich selten
einig«, sagte Tam, »und heute noch weniger als sonst. Das
ist alles. Das ist in jedem Dorf dasselbe.«
»Was ist mit dem falschen Drachen?« fragte Mat, und
Perrin murmelte eifrig: »Was ist mit den Aes Sedai?«
Tam schüttelte langsam den Kopf. »Meister Fain wußte
nicht viel mehr, als er bereits sagte. Jedenfalls nicht viel,
was für uns wichtig ist. Gewonnene oder verlorene
Schlachten. Eroberte und rückeroberte Städte. Dank dem
Licht spielt sich das alles in Ghealdan ab. Es hat sich nicht
weiter ausgebreitet, jedenfalls nicht, soweit uns das
Meister Fain berichten konnte.«
»Schlachten interessieren mich«, sagte Mat, und Perrin
fügte hinzu: »Was hat er davon erzählt?«
»Mich interessieren Schlachten nicht, Matrim«, sagte
Tam. »Doch ich bin sicher, er wird sich glücklich
schätzen, dir später alles darüber zu erzählen. Was mich
interessiert, ist die Tatsache, daß wir uns hier nicht den
Kopf darüber zerbrechen müssen, soweit es der
Gemeinderat beurteilen kann. Wir sehen keinen Grund für
die Aes Sedai, auf ihrem Weg nach Süden hier
durchzukommen. Und was die Rückreise betrifft, werden
sie wohl kaum den Wald der Schatten durchqueren und
den Weißen Fluß durchschwimmen.«
Rand und die anderen schmunzelten bei dem Gedanken
daran. Es gab drei Gründe, warum niemand ins Gebiet
der Zwei Flüsse kam, außer eben vom Norden her von
Taren-Fähre. Der erste, das waren natürlich die
Verschleierten Berge, und genauso erfolgreich blockierte
der Schlammpfuhl die Wege aus dem Osten. Im Süden lag
der Weiße Fluß, der seinen Namen der vielen Steine und
Felsen wegen erhalten hatte, die seinen schnellen Strom
aufschäumen ließen. Und jenseits des Weißen lag der Wald
der Schatten. Wenige Leute der Zwei Flüsse hatten jemals
den Weißen überquert, und noch weniger kehrten von
dorther zurück. Man war sich jedoch allgemein darin
einig, daß sich der Wald der Schatten etwa hundert Meilen
oder weiter nach Süden erstreckte. Es gab dort keine
Straße und kein Dorf, wohl aber genügend Wölfe und
Bären.
»Also, das wär's ja dann wohl für uns«, sagte Mat. Es
hörte sich zumindest ein wenig enttäuscht an.
»Nicht ganz«, sagte Tam. »Übermorgen werden wir
Männer nach Devenritt und Wachhügel schicken und auch
nach Taren-Fähre, um gemeinsam Wachtposten
aufzustellen. Berittene Posten am Weißen und am Taren
und dazwischen Patrouillen. Es sollte eigentlich noch
heute geschehen, aber nur der Bürgermeister hat mir
zugestimmt. Der Rest war der Meinung, man könne nicht
verlangen, daß jemand am Bel Tine zwischen den beiden
Flüssen herumreitet.«
»Aber Ihr habt doch gesagt, wir müßten uns keine
Sorgen machen«, murrte Perrin, und Tam schüttelte den
Kopf.
»Ich sagte, wir sollten uns nicht sorgen, Junge, doch das
heißt nicht, daß wir die Augen verschließen. Ich habe
Männer sterben sehen, weil sie sicher waren, daß nichts
geschehen werde, was nicht geschehen durfte. Außerdem
werden die Kämpfe alle möglichen Leute aufscheuchen.
Die meisten werden sich nur ein sicheres Fleckchen
suchen, aber andere werden sich bemühen, aus der
Verwirrung Profit zu schlagen. Den ersteren werden wir
unsere Hilfe anbieten, aber wir müssen darauf vorbereitet
sein, die anderen wieder zu verjagen.«
Unvermittelt äußerte sich Mat. »Können wir daran
teilnehmen? Ich möchte schon! Ihr wißt, daß ich
genausogut reiten kann wie die anderen Männer des
Dorfs.«
»Du möchtest ein paar Wochen Kälte, Langeweile und
Schlafen im Freien genießen?« schmunzelte Tam. »Darauf
wird es wahrscheinlich hinauslaufen. Ich hoffe jedenfalls.
Wir sind weit ab vom Schuß, sogar was Flüchtlinge
betrifft. Aber wenn du dich entschlossen hast, kannst du ja
mit Meister al'Vere sprechen. Rand, es ist Zeit für uns,
zum Hof zurückzukehren.«
Rand riß überrascht die Augen auf. »Ich dachte, wir
bleiben noch zur Winternacht!«
»Es gibt Dinge, die auf dem Hof getan werden müssen,
und ich brauche dich dazu.«
»Trotzdem haben wir noch Stunden Zeit. Und ich
möchte mich auch freiwillig für die Patrouillen melden.«
»Wir gehen jetzt«, antwortete der Vater in einem Ton,
der keinen Widerspruch zuließ. Mit sanfterer Stimme
fügte er hinzu: »Wir kommen morgen zeitig genug
zurück, damit du mit dem Bürgermeister sprechen kannst.
Und früh genug für das Fest. Wir treffen uns in fünf
Minuten im Stall.«
»Wirst du dich mit Rand und mir zusammen für die
Wache melden?« fragte Mat Perrin, als Tam ging. »Ich
wette, so was hat es bei den Zwei Flüssen noch nie
gegeben. Stellt Euch vor, wenn wir zum Taren kommen,
sehen wir vielleicht sogar Soldaten oder wer weiß wen!
Sogar Kesselflicker!«
»Ja, ich denke schon«, sagte Perrin langsam. »Das
heißt, falls Meister Luhhan mich nicht braucht.«
»In Ghealdan ist Krieg, nicht hier!« brauste Rand auf.
Mit Mühe senkte er die Stimme. »Der Krieg ist in
Ghealdan, und die Aes Sedai sind das Licht wer weiß wo,
aber keines davon ist hier. Dafür ist hier der Mann mit
dem schwarzen Mantel, oder habt Ihr ihn schon
vergessen?« Die anderen tauschten verlegene Blicke.
»Tut uns leid, Rand«, stotterte Mat. »Aber es gibt nicht
oft eine Gelegenheit, etwas anderes zu tun, als die Kühe
des Vaters zu melken.« Unter ihren erstaunten Blicken
richtete er sich auf. »Na ja, ich melke sie eben, und das
jeden Tag.«
»Der schwarze Reiter«, erinnerte sie Rand. »Was, wenn
er jemanden verletzt?«
»Vielleicht ist er ein Kriegsflüchtling«, meinte Perrin
zögernd.
»Wer er auch ist«, sagte Mat, »die Wachen werden ihn
finden.«
»Vielleicht«, sagte Rand, »aber er scheint zu
verschwinden, wann immer er will. Es wäre besser, wenn
sie überhaupt wissen, daß sie nach ihm suchen sollen.«
»Wir erzählen es Meister al'Vere, wenn wir uns für die
Patrouillen melden«, sagte Mat, »er wird es dem
Gemeinderat sagen und die wieder der Wache.«
»Der Gemeinderat!« rief Perrin zweifelnd. »Wir haben
Glück, wenn uns der Bürgermeister nicht auslacht!
Meister Luhhan und Rands Vater glauben jetzt schon, daß
wir zwei uns vor Geistern fürchten.«
Rand seufzte. »Wenn wir es erzählen wollen, dann
können wir es genausogut jetzt tun. Er wird heute nicht
lauter lachen als morgen.«
»Vielleicht«, meinte Perrin mit einem Seitenblick auf
Mat, »sollten wir andere fragen, ob sie ihn auch gesehen
haben. Heute abend treffen wir ja fast jeden aus dem
Dorf.« Mats Miene verfinsterte sich noch mehr, aber
immer noch hielt er den Mund. Sie alle wußten, daß
Perrin der Meinung war, man solle zuverlässigere Zeugen
als Mat finden. »Er wird morgen auch nicht lauter
lachen«, fügte Perrin hinzu, als Rand zögerte. »Und mir
wäre es lieber, wir hätten noch jemanden bei uns, wenn
wir zu ihm gehen. Das halbe Dorf wäre mir am liebsten.«
Rand nickte bedächtig. Er konnte schon Meister
al'Veres Lachen hören. Weitere Zeugen wären sicherlich
nicht ungünstig. Und wenn schon sie drei den Burschen
gesehen hatten, dann vielleicht auch andere. »Also dann
morgen. Ihr zwei treibt heute abend weitere Zeugen auf,
und morgen gehen wir zum Bürgermeister. Danach...« Sie
sahen ihn schweigend an. Keiner fragte danach, was wäre,
wenn sie niemanden fänden, der den schwarzgekleideten
Mann gesehen hatte. Die Frage stand deutlich in ihren
Augen, und er konnte sie nicht beantworten. Er seufzte
tief auf. »Ich muß jetzt gehen. Mein Vater glaubt sonst,
ich sei in ein Loch gefallen.«
Von ihren Abschiedsgrüßen gefolgt, schlenderte er
hinüber zum Stallhof, wo der Karren mit den hohen
Rädern stand, durch einige Stützen zusätzlich gehalten.
Der Stall war ein langer enger Bau mit einem
spitzgiebligen strohgedeckten Dach. Boxen mit
strohbedecktem Boden waren an beiden Seiten des
dämmrigen Innenraums untergebracht, der nur von den
geöffneten Doppeltüren an beiden Seiten des Gebäudes
Licht erhielt. Die Gespannpferde des Händlers kauten in
insgesamt acht Boxen Hafer, und Meister al'Veres kräftige
Dhurraner, ein Gespann, das er vermietete, wenn Bauern
mehr zu ziehen hatten, als ihre eigenen Pferde schafften,
füllten sechs weitere Boxen. Von den übrigen Boxen
waren nur drei besetzt. Rand fand, daß die zu den Pferden
passenden Reiter leicht zu bestimmen waren. Der hohe,
kräftige schwarze Hengst, der den Kopf so wild hochwarf,
mußte Lan gehören. Die schlanke weiße Stute mit dem
edel gekrümmten Hals, deren schnelle Schritte so graziös
wirkten wie die eines tanzenden Mädchens, sogar hier im
Stall, konnte nur Moiraine gehören. Und das dritte
unbekannte Pferd, ein dürrer Wallach mit schmutzigen
Flanken, paßte perfekt zu Thom Merrilin.
Tam stand ganz hinten im Stall, hielt Bela an einem
Führseil und sprach ruhig mit Hu und Tad. Bevor Rand
noch zwei Schritte in den Stall hinein tun konnte, nickte
sein Vater schon den Stallburschen zu und führte Bela
hinaus. Wortlos winkte er Rand, mitzukommen.
Schweigend spannten sie die struppige Stute an. Tam
schien so tief in Gedanken versunken, daß Rand den Mund
hielt. Er freute sich nicht gerade darauf, seinen Vater von
der Existenz des schwarzgekleideten Reiters überzeugen
zu müssen, und dann auch noch den Bürgermeister!
Morgen war es früh genug dafür, wenn Mat und Perrin
weitere Zeugen fänden, die den Mann gesehen hatten.
Falls sie sie fanden...
Als der Karren sich ruckartig in Bewegung setzte, hatte
Rand Bogen und Köcher von hinten heraus. Ungeschickt
hängte er den Köcher an den Gürtel, während er
nebenhertrabte. Als sie die letzte Häuserreihe des Dorfs
erreichten, legte er einen Pfeil ein und trug den Bogen
halb erhoben, die Sehne leicht gespannt. Es gab außer den
zumeist kahlen Bäumen nichts zu sehen, doch seine
Schultern spannten sich. Der schwarze Reiter konnte sie
erreichen, bevor sie es überhaupt merkten. Vielleicht
bliebe dann keine Zeit mehr, den Bogen zu spannen; also
tat er es lieber jetzt schon.
Er wußte, daß er die Sehne nicht lange gespannt halten
durfte. Er hatte den Bogen selbst gemacht, und Tam war
außer ihm einer der wenigen in der Gegend, die ihn
überhaupt bis zur Wange spannen konnten. Er sah sich
um, denn er wollte nicht die ganze Zeit über an den
dunklen Reiter denken. Das war allerdings nicht einfach,
so vom Wald umgeben und mit im Wind flatternden
Umhängen. »Vater«, sagte er schließlich, »ich verstehe
nicht, wieso der Gemeinderat Padan Fain verhören
mußte.« Mit Mühe riß er den Blick vom Wald los und sah
Tam über Bela hinweg an. »Mir scheint, euer Entschluß
hätte auch gleich an Ort und Stelle fallen können. Der
Bürgermeister hat allen eine Riesenangst eingejagt, als er
über Aes Sedai und den falschen Drachen im
Zusammenhang mit den Zwei Flüssen sprach.«
»Die Menschen sind merkwürdig, Rand. Sogar die
besten. Nimm Haral Luhhan. Meister Luhhan ist ein
starker Mann, und ein tapferer noch dazu, aber er kann
nicht beim Schlachten zusehen. Er wird dabei weiß wie
ein Bettlaken.«
»Was hat denn das damit zu tun? Jeder weiß, daß
Meister Luhhan kein Blut sehen kann, und keiner außer
den Coplins und den Congars denkt sich etwas dabei.«
»Nur soviel, mein Junge: Leute denken oder benehmen
sich nicht immer so, wie du glaubst. Die Leute im Dorf...
Laß den Hagel ihre Ernte plattschlagen, laß den Wind
jedes Dach in der Gegend wegpusten und die Wölfe die
Hälfte ihres Viehs reißen, und sie krempeln ihre Ärmel
hoch und fangen von vorn an. Sie maulen vielleicht, lassen
sich aber nicht aufhalten. Aber laß sie nur an die Aes
Sedai und einen falschen Drachen in Ghealdan denken,
dann kommen sie bald darauf, daß Ghealdan nicht so weit
vom Rand des Walds der Schatten entfernt ist und daß eine
gerade Linie von Tar Valon nach Ghealdan gar nicht so
weit östlich von uns verlaufen würde. Als ob die Aes
Sedai nicht die Straße über Caemlyn und Lugard nähmen,
anstatt querfeldein zu reiten! Bis morgen früh wäre das
halbe Dorf überzeugt gewesen, daß der Krieg vor unserer
Tür steht. Es hätte Wochen gedauert, das
wiedergutzumachen. Das hätte ein schönes Bel Tine
gegeben! Also sagte Bran es ihnen, bevor sie selbst darauf
kamen.
Sie haben gesehen, daß der Gemeinderat das Problem
diskutiert, und mittlerweile werden sie wissen, wie wir
uns entschieden haben. Sie haben uns in den Gemeinderat
gewählt, weil sie darauf vertrauen, daß wir uns zum
Besten für alle beraten. Sie vertrauen unseren Ansichten.
Sogar der Ansicht von Cenn, was nicht viel über uns
andere aussagt, schätze ich. Jedenfalls werden sie hören,
daß wir uns keine Sorgen machen müssen, und das werden
sie glauben. Nicht, daß sie nicht auch von allein darauf
kommen könnten oder schließlich kommen würden, aber
auf diese Weise ruinieren wir das Fest nicht, und keiner
muß sich wochenlang über etwas Gedanken machen, was
wahrscheinlich sowieso nicht geschieht. Wenn es aber,
entgegen aller Wahrscheinlichkeit, doch geschieht... Nun,
dann werden uns die Patrouillen früh genug warnen,
damit wir Gegenmaßnahmen ergreifen können. Ich glaube
aber wirklich nicht, daß es dazu kommen wird.«
Rand blies die Wangen auf. Offensichtlich war es
komplizierter, als er gedacht hatte, Mitglied im
Gemeinderat zu sein. Der Karren rumpelte weiter die
Haldenstraße entlang.
»Hat noch irgend jemand außer Perrin diesen seltsamen
Reiter gesehen?« fragte Tam.
»Ja, Mat, aber...« Rand blinzelte und blickte über Belas
Rücken hinweg seinen Vater an. »Du glaubst mir? Ich
muß zurückkehren. Ich muß es ihnen erzählen.« Tams Ruf
hielt ihn auf, bevor er zum Dorf zurückrennen konnte.
»Halt, Junge, halt! Hast du gedacht, daß ich ohne Grund
so lange warte, um mit dir darüber zu sprechen?«
Zögernd ging Rand weiter neben dem Wagen her, der
quietschend der geduldigen Bela folgte. »Warum hast du
deine Meinung geändert? Warum soll ich es den anderen
nicht erzählen?«
»Sie werden es früh genug erfahren. Perrin zumindest.
Bei Mat bin ich mir nicht so sicher. Man muß die Bauern
auf ihren Höfen warnen, so gut es geht, aber ansonsten
wird es in einer Stunde in Emondsfeld niemand über
sechzehn geben oder jedenfalls keinen vertrauenswürdigen
Erwachsenen, der nicht weiß, daß sich ein Fremder hier
herumtreibt, und zwar ein Kerl von der Sorte, die man
nicht zum Fest einlädt. Der Winter war ohnehin schon
schlimm genug. Man sollte die Kinder nicht auch noch
ängstigen.«
»Fest?« sagte Rand. »Wenn du ihn gesehen hättest,
würdest du ihn dir mehr als zehn Meilen wegwünschen.
Vielleicht sogar hundert.«
»Ja, vielleicht«, sagte Tam gelassen. »Er kann ja
durchaus vor den Unruhen in Ghealdan geflohen sein,
oder er ist ein Dieb, der denkt, er könne hier leichter als
in Baerlon oder Taren-Fähre Beute machen. Aber
niemand besitzt hier etwas, das er sich so ohne weiteres
stehlen läßt. Falls der Mann versucht, vor dem Krieg
davonzurennen... Na ja, das ist keine Entschuldigung
dafür, Leuten Angst einzujagen. Wenn die Wache einmal
steht, wird sie ihn entweder finden oder gleich verjagen.«
»Ich hoffe, man verjagt ihn. Aber weshalb glaubst du
mir jetzt, während du mir heute morgen nicht geglaubt
hast?«
»Zu der Zeit war ich auf meine eigenen Augen
angewiesen, Junge, und ich sah nichts.« Tam schüttelte den
ergrauten Kopf. »Es scheint, nur junge Männer sehen
diesen Burschen. Als dann aber Haral Luhhan erwähnte,
daß Perrin Geister sehe, da kam alles heraus. Jon Thanes
ältester Sohn sah ihn auch, genau wie Samel Crawes Junge
Bandry. Also, wenn vier von euch behaupten, sie hätten
etwas gesehen – alles ordentliche junge Leute –, dann
glauben wir allmählich, daß jemand da ist, ob wir ihn nun
sehen können oder nicht. Alle außer Cenn natürlich.
Jedenfalls ist das der Grund, weshalb wir nach Hause
zurückkehren. Wenn wir beide abwesend sind, könnte der
Fremde dort alles mögliche anstellen. Wenn es nicht des
Festes wegen wäre, käme ich morgen auch nicht ins Dorf
zurück. Aber wir können uns nicht in den eigenen vier
Wänden einsperren, nur weil so ein Bursche hier
herumlungert.«
»Ich habe das mit Ban und Lem nicht gewußt«, sagte
Rand. »Wir anderen wollten morgen zum Bürgermeister
gehen, aber wir fürchteten, er werde uns nicht glauben.«
»Graue Haare bedeuten nicht, daß unser Hirn
geschrumpft ist«, meinte Tam trocken. »Also halte gut
Ausschau. Vielleicht bekomme ich ihn auch zu Gesicht,
falls er wieder auftaucht.«
Rand beschloß, sich daran zu halten. Zu seiner
Überraschung merkte er, wie sein Schritt leichter wurde.
Die Knoten waren aus seinen Schultern verschwunden. E r
fürchtete sich immer noch, aber es war nicht so schlimm
wie vorher. Tam und er befanden sich genauso allein und
verlassen auf der Haldenstraße wie am Morgen, aber
irgendwie fühlte er sich, als sei das ganze Dorf bei ihnen.
Der Unterschied lag darin, daß nun andere Bescheid
wußten und ihm glaubten. Was immer der schwarze
Reiter anstellen mochte, die Leute von Emondsfeld
würden gemeinsam mit ihm fertig werden.
KAPITEL 5
Winternacht
Als der Karren den Bauernhof erreichte, hatte die Sonne
bereits auf halbem Weg die Mittagshöhe überschritten. Es
war kein großes Gebäude, bei weitem nicht so groß wie
einige der ausgedehnten Anwesen im Osten, Behausungen,
die über die Jahre hinweg gewachsen waren und in denen
große Familien wohnten. In der Gegend der Zwei Flüsse
lebten oftmals drei oder vier Generationen unter einem
Dach, und das schloß Tanten, Onkel, Vetter und Neffen
mit ein. Tam und Rand galten als außergewöhnlich in
zweierlei Hinsicht: Die beiden Männer lebten allein, und
ihr Hof lag im Westwald.
Hier befanden sich die meisten Räume auf ebener Erde.
Das Haus bildete ein sauberes Rechteck ohne Seitenflügel
oder Anbauten. Zwei Schlafzimmer und ein Speicher
fügten sich noch oben unter das steile Strohdach. Obwohl
die weiße Tünche nach den Winterstürmen fast ganz von
den massiven Holzwänden verschwunden war, befand sich
das Haus immer noch in ordentlichem Zustand. Das
Strohdach war wieder dicht, Türen und Fensterläden
waren gut befestigt und paßten genau.
Haus, Scheune und der von einer Steinmauer eingefaßte
Schafpferch bildeten ein Dreieck um den Hof. Dort hatten
sich ein paar Hühner hinausgewagt und scharrten im
kalten Erdreich herum. Gleich neben dem Schafpferch
standen ein offener Schuppen zum Scheren der Schafe und
ein steinerner Brunnentrog. Am Rand der Felder
zwischen dem Hof und den Bäumen ragte der hohe Kegel
eines Trockenraums auf. Nur wenige Bauern der Zwei
Flüsse kamen ohne den Tabakanbau aus, der es ihnen
ermöglichte, den Kaufleuten, wenn sie endlich kamen,
Wolle und Tabak zu verkaufen.
Als Rand in den Steinpferch schaute, blickte der
Leithammel zu ihm auf, die meisten Schafe der
schwarzgesichtigen Herde blieben aber friedlich dort, wo
sie lagen oder standen, die Köpfe im Futtertrog. Ihre
Wolle war dicht und lockig, aber es war noch zu kalt zum
Scheren.
»Ich glaube nicht, daß der Schwarzgekleidete
hierhergekommen ist!« rief Rand seinem Vater zu, der
langsam um das Haus herumging, einen Speer kampfbereit
in der Hand, und den Boden genau betrachtete. »Die
Schafe wären nicht so ruhig, wenn er dagewesen wäre.«
Tam nickte, blieb aber nicht stehen. Als er seine Runde
um das Haus beendet hatte, ging er anschließend genauso
aufmerksam um die Scheune und den Pferch herum,
wobei er immer noch den Boden nach Spuren untersuchte.
Er überprüfte sogar die Räucherkammer und den
Trockenraum. Er zog einen Eimer Wasser aus dem
Brunnen, schöpfte eine Handvoll, roch daran und berührte
das Wasser vorsichtig mit der Zungenspitze. Dann lachte
er plötzlich laut auf und trank es mit einem schnellen
Schluck.
»Ich glaube auch, er war nicht da«, sagte er zu Rand
und wischte sich die Hand am Mantel ab. »Das ganze
Gerede über Männer und Pferde, die ich nicht sehen oder
hören kann, macht mich so nervös, daß ich schon alles
schief anschaue.« Er goß das Brunnenwasser in einen
anderen Eimer und ging auf das Haus zu, in der einen
Hand den Eimer, in der anderen den Speer. »Ich werde
einen Eintopf aufsetzen, damit wir etwas zum Essen
bekommen. Und wenn wir sowieso schon hier sind,
können wir auch mit der Arbeit anfangen.«
Rand schnitt eine Grimasse. Er bedauerte, die
Winternacht nicht in Emondsfeld verbringen zu können.
Aber Tam hatte recht. Auf einem Bauernhof hörte die
Arbeit niemals auf; kaum hatte man eine Sache erledigt,
tauchten schon zwei andere auf, um die man sich
kümmern mußte. Er zögerte, behielt aber dann Bogen und
Köcher doch bei sich. Falls der dunkle Reiter erschien,
wollte er ihm nicht nur mit einer Hacke begegnen.
Zuerst mußte Bela in den Stall gebracht und versorgt
werden. Sobald er sie ausgespannt und in einer Box in der
Scheune gleich neben der Kuh untergebracht hatte, legte
er den Umhang ab und rieb die Stute mit trockenem Stroh
ab. Anschließend striegelte er sie mit zwei Bürsten. E r
kletterte die schmale Leiter zum Heuboden hinauf und
warf Heu für Bela hinunter. Er nahm auch einen Scheffel
Hafer mit, obwohl nicht mehr viel da war und sie
möglicherweise längere Zeit keinen Hafer mehr
bekommen würden – es sei denn, es würde endlich warm.
Die Kuh hatten sie schon im ersten Morgenlicht gemolken.
Sie hatte nur ein Viertel ihrer normalen Menge gegeben;
im Verlauf des langen Winters schien sie auszutrocknen.
Sie hatten den Schafen Futter für zwei Tage dagelassen
– sie hätten eigentlich längst auf der Weide stehen sollen,
doch es gab kaum Gras für sie –, aber er füllte ihren
Wassertrog wieder auf. Auch die mittlerweile gelegten
Eier mußten eingesammelt werden. Es waren nur drei.
Die Hühner wurden anscheinend immer schlauer und
versteckten sie zu gut.
Er ging gerade mit einer Hacke auf der Schulter zum
Gemüsegarten hinter dem Haus, als Tam herauskam und
sich auf eine Bank vor der Scheune setzte, um Belas
Geschirr zu reparieren. Der Speer lehnte an seiner Seite.
Als Rand das sah, empfand er seinen mitgenommenen
Bogen und den Köcher nicht mehr als lächerlich. Beides
lag auf seinem Umhang, einen Schritt von seinem
Arbeitsplatz entfernt.
In den Beeten zeigte sich nur wenig Unkraut, aber
immer noch mehr Unkraut als alles andere. Die
Kohlköpfe waren bloße Stümpfe, es war kaum ein
Bohnen- oder Erbsenschößling zu sehen und keine einzige
Rübe. Sie hatten natürlich nicht alles gepflanzt – nur einen
Teil, in der Hoffnung, die kalte Periode werde rechtzeitig
enden, so daß sie etwas ernten konnten, bevor der Keller
ganz leer war. Er brauchte nicht lange mit seiner Hacke.
In früheren Jahren wäre er darüber froh gewesen, aber
jetzt fragte er sich, was zu tun sei, wenn dieses Jahr nichts
wuchs. Kein angenehmer Gedanke. Und er mußte immer
noch Brennholz spalten.
Es schien Rand schon Jahre zurückzuliegen, daß er
einmal kein Brennholz spalten mußte. Aber Selbstmitleid
würde das Haus nicht wärmen, also holte er die Axt,
stellte Bogen und Köcher neben den Hackklotz und machte
sich an die Arbeit. Kiefer ergab eine flinke, heiße
Flamme, und Eiche brannte dafür länger. Er fühlte sich
bald so warm, daß er den Mantel auszog. Als der Haufen
Holzscheite groß genug war, stapelte er ihn an der
Seitenwand des Hauses neben anderen Stapeln von früher
auf. Die meisten reichten hinauf bis zur Traufe.
Normalerweise waren zu dieser Jahreszeit die
Brennholzstapel klein, und man sah nur wenige; anders in
diesem Jahr. Hack und staple, hack und staple, so verlor er
sich im Rhythmus der Axthiebe und der Bewegungen
beim Aufeinanderlegen der Scheite. Tams Hand auf der
Schulter rief ihn in die Wirklichkeit zurück, und einen
Augenblick lang blinzelte er überrascht.
Graues Zwielicht hatte sich während seiner Arbeit
ausgebreitet, und auch das dämmerte schon der Nacht
entgegen. Der Vollmond stand bereits hoch über den
Baumwipfeln und schimmerte blaß und aufgedunsen, als
wolle er gleich auf ihre Köpfe herunterfallen. Ohne daß
er es bemerkt hatte, war der Wind kälter geworden, und
Wolkenfetzen trieben über den dunklen Himmel.
»Machen wir den Abwasch, Junge, und dann essen wir
zu Abend. Ich habe auch schon Badewasser zum
Heißmachen hineingetragen. Dann können wir vor dem
Schlafen noch ein Bad nehmen.«
»Alles Heiße hört sich für mich gut an«, sagte Rand. E r
hob seinen Umhang auf und warf ihn sich über die
Schultern. Sein Hemd war schweißgetränkt, und der
Wind, den er in der Hitze des Axtschwingens vergessen
hatte, schien sich zu bemühen, das Hemd jetzt, da er mit
Arbeiten aufgehört hatte, zu einem steifen Brett zu
gefrieren. Er unterdrückte ein Gähnen und las unter
Kälteschauern seine übrigen Sachen auf. »Schlaf wäre
auch, davon abgesehen, eine feine Sache. Ich könnte das
ganze Fest über schlafen.«
»Würdest du darauf wetten?« Tam lächelte, und Rand
mußte unwillkürlich zurückgrinsen. Er würde Bel Tine
nicht versäumen, und wenn er eine ganze Woche lang
nicht mehr geschlafen hätte. Das würde allen so gehen.
Tam hatte besonders viele Kerzen aufgestellt, und in
dem großen gemauerten Kamin prasselte ein Feuer, so daß
die Wohnstube Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte.
Außer dem Kamin fiel in dem Raum vor allem ein breiter
Eichenholztisch auf. Der Tisch war lang genug für ein
Dutzend Leute oder mehr, obwohl kaum jemals so viele
dort gesessen hatten, nachdem Rands Mutter gestorben
war. An den Wänden standen ein paar Kommoden und
Truhen, die von Tam kunstvoll angefertigt worden waren.
Um den Tisch standen Stühle mit hohen Lehnen. Der
Polsterstuhl, den Tam seinen ›Lesestuhl‹ nannte, stand
seitlich versetzt vor dem Kamin. Rand zog es vor,
ausgestreckt auf dem Läufer vor dem Feuer liegend zu
lesen. Das Bücherregal neben der Tür war bei weitem
nicht so lang wie das in der Weinquellenschenke, aber
Bücher waren schwer zu bekommen. Wenige Händler
führten mehr als eine Handvoll mit sich, und die mußten
für alle reichen, denen es nach Lektüre verlangte.
Wenn der Raum auch nicht ganz so frisch gescheuert
aussah, wie es bei den meisten Bauersfrauen üblich war
(Tams Pfeifenständer und Die Reisen von Jain
Fernstreicher lagen auf dem Tisch, während ein weiteres
in Holz gebundenes Buch auf dem Polster des Lesestuhls
lag, ein Stück reparaturbedürftiges Pferdegeschirr lag auf
der Bank beim Kamin, und ein paar Hemden, die gestopft
werden mußten, häuften sich auf einem Stuhl), wenn der
Raum also nicht ganz so fleckenlos rein war, wirkte er
doch sehr sauber und ordentlich und so wohnlich, daß es
jedem Besucher das Herz wärmte. Hier war es möglich,
die beißende Kälte jenseits der Wände zu vergessen. Hier
gab es keinen falschen Drachen, keinen Krieg und keine
Aes Sedai. Auch keine Männer in schwarzen Mänteln. Der
Duft des Eintopfs über dem Feuer erfüllte den Raum, und
Rand bekam plötzlich schrecklichen Hunger.
Sein Vater rührte das Essen mit einem langen hölzernen
Kochlöffel um und probierte ein wenig. »Noch ein
bißchen.«
Rand wusch sich schnell Gesicht und Hände. In der
Nähe der Tür standen auf einem Waschgestell ein Krug
und eine Schüssel. Was er brauchte, war ein heißes Bad,
um den Schweiß abzuwaschen und die Kälte zu vertreiben,
aber das mußte warten, bis sie Zeit hatten, den großen
Kessel im Hinterzimmer zu erhitzen.
Tam kramte in einer Kommode herum und fand
schließlich einen Schlüssel, der so lang war wie seine
Hand. Er drehte ihn in dem großen Eisenschloß an der
Tür um. Als Rand ihn fragend anblickte, sagte er: »Besser
ist besser. Vielleicht spinne ich ein wenig, oder das Wetter
drückt meine Stimmung, aber...« Er seufzte und warf den
Schlüssel mit der flachen Hand ein Stückchen hoch. »Ich
sehe mal nach der Hintertür«, sagte er und verschwand im
rückwärtigen Teil des Hauses.
Rand konnte sich nicht daran erinnern, daß eine der
beiden Türen jemals abgeschlossen worden war. Keiner
im Gebiet der Zwei Flüsse verschloß die Türen. Es war
niemals nötig gewesen. Zumindest bisher.
Von oben aus Tams Schlafzimmer erklang ein
schleifendes Geräusch, als werde etwas am Boden entlang-
gezerrt. Rand zog die Augenbrauen hoch. Falls sich Tam
nicht soeben entschlossen hatte, die Möbel umzustellen,
konnte er nur die alte Truhe hervorgezogen haben, die er
unter dem Bett aufbewahrte. Wieder etwas, das noch nie
geschehen war, solange sich Rand erinnern konnte.
Er füllte einen kleinen Kessel mit Teewasser, hängte
ihn an einen Haken über dem Feuer und deckte den Tisch.
Er hatte die Teller und Löffel selbst geschnitzt. Die
vorderen Fensterläden waren noch nicht geschlossen, und
von Zeit zu Zeit spähte er hinaus. Doch die Nacht war
gekommen, und alles, was er sehen konnte, waren
Mondschatten. Der dunkle Reiter konnte sehr wohl dort
draußen sein, aber er versuchte, nicht daran zu denken.
Als Tam zurückkam, machte Rand vor Überraschung
große Augen. Ein breiter Gürtel hing an Tams Hüften,
und am Gürtel hing ein Schwert. Ein bronzener Reiher
war auf der schwarzen Scheide zu sehen und ein weiterer
auf dem langen Knauf. Die einzigen Männer, die Rand
jemals ein Schwert hatte tragen gesehen, waren die
Leibwächter der Kaufleute. Und natürlich Lan. Er wäre
nie darauf gekommen, daß sein Vater überhaupt eines
besaß. Abgesehen von den Reihern sah das Schwert dem
Schwert Lans ziemlich ähnlich.
»Woher hast du das?« fragte er. »Hast du es von einem
Händler gekauft? Was hat es gekostet?«
Langsam zog Tam die Waffe; Feuerschein spiegelte sich
auf der schimmernden Schneide. Das war ganz anders als
bei den einfachen rohen Klingen, die Rand in den Händen
der Leibwächter gesehen hatte. Es war nicht mit Gold
oder Edelsteinen verziert, und doch schien es Rand
irgendwie groß, bedeutend. Die ganz leicht gekrümmte
und nur auf einer Seite geschliffene Schneide trug
ebenfalls den Reiher in den Stahl eingeätzt. Die kurzen
Querstreben am Knauf waren wie Zöpfe gearbeitet.
Verglichen mit den Schwertern der Leibwächter, schien es
fast zerbrechlich. Die meisten dieser plumpen Schwerter
waren auf beiden Seiten geschärft und dick genug, um
einen Baum zu fällen.
»Ich habe es vor langer Zeit erworben«, sagte Tam,
»sehr weit entfernt von hier. Und ich habe viel zuviel
dafür bezahlt; zwei Kupferpfennige sind zuviel für eine
Waffe wie diese. Deine Mutter wollte es nicht, aber sie
war immer schon klüger als ich. Ich war jung damals, und
es schien den Preis wert zu sein. Sie wollte immer, daß ich
es los werden sollte, und mehr als einmal kam mir der
Gedanke, daß sie recht hatte und ich es einfach weggeben
sollte.«
Reflektierter Feuerschein ließ die Klinge aufflammen.
Rand erschrak. Er hatte oft davon geträumt, ein Schwert
zu besitzen. »Es weggeben? Wie könntest du ein Schwert
wie dieses weggeben?«
Tam schnaubte. »Kann man wohl kaum zum
Schafehüten verwenden, oder? Ich kann auch kein Feld
damit umpflügen oder Getreide schneiden.« Eine ewig
währende Minute lang starrte er das Schwert an, als
überlege er, was er mit solch einem Ding anfangen könne.
Schließlich stieß er einen schweren Seufzer aus. »Aber
falls ich nicht einfach nur schwarz sehe, falls uns das
Glück verläßt, kann es sein, daß ich in den nächsten Tagen
noch froh sein werde, es statt dessen in diese alte Truhe
gelegt zu haben.« Er ließ das Schwert sanft in die Scheide
zurückgleiten und wischte sich mit einer Grimasse die
Hand am Hemd ab. »Der Eintopf dürfte fertig sein. Ich
fülle die Schüssel, und du machst derweil den Tee.«
Rand nickte und nahm die Teebüchse, aber er wollte
schon alles genau wissen. Warum hatte Tam wohl ein
Schwert gekauft? Er konnte es sich nicht vorstellen. Und
wo hatte es Tam aufgetrieben? Wie weit entfernt? Keiner
verließ je die Zwei Flüsse, oder höchstens ganz wenige.
Er hatte schon immer vage Vermutungen darüber
angestellt, daß sein Vater draußen gewesen sein mußte –
seine Mutter war Ausländerin gewesen –, aber ein
Schwert...? Er hatte eine Menge Fragen auf dem Herzen,
sobald sie am Tisch saßen.
Das Teewasser kochte, und er mußte ein Tuch um den
Kesselgriff wickeln, um ihn vom Haken zu nehmen. Die
Hitze drang sofort durch.
Als er sich vom Feuer aufrichtete, ließ ein heftiger
Schlag gegen die Tür das Schloß erzittern. Alle Gedanken
an das Schwert oder den heißen Kessel in seiner Hand
verflogen.
»Einer der Nachbarn«, sagte er unsicher. »Vielleicht
will Meister Dautry etwas borgen...« Aber der Hof der
Dautrys, ihrer nächsten Nachbarn, war auch bei
Tageslicht eine Wegstunde entfernt, und auch wenn Oren
Dautry ständig schamlos Sachen auslieh, war es wenig
wahrscheinlich, daß er seinen Hof nach Einbruch der
Dunkelheit verließ.
Tam stellte leise die mit Eintopf gefüllten Teller auf
den Tisch. Langsam bewegte er sich vom Tisch weg.
Beide Hände ruhten auf dem Griff seines Schwerts. »Ich
glaube nicht...«, begann er, und dann barst die Tür
entzwei. Bruchstücke des eisernen Schlosses schlitterten
über den Boden.
Eine Gestalt füllte den Türrahmen, größer als jeder
Mann, den Rand je gesehen hatte, eine Gestalt in
schwarzem Kettenpanzer, der ihr bis zu den Knien
reichte, mit Dornen an Handgelenken, Ellbogen und
Schultern. Eine Hand hielt ein schweres sichelähnliches
Schwert, die andere wurde vor die Augen gehalten, als
solle sie vor dem Licht schützen.
Rand fühlte sich auf seltsame Art erleichtert. Wer das
auch war, es war nicht der schwarzgekleidete Reiter.
Dann bemerkte er die gekrümmten Widderhörner an dem
Kopf, der den oberen Teil des Türrahmens streifte, und
wo sich Mund und Nase befinden sollten, sah er eine
behaarte Schnauze. Er nahm das alles innerhalb eines
einzigen tiefen Atemzugs wahr und stieß einen entsetzten
Schrei aus. Gleichzeitig warf er den heißen Kessel nach
dem halbmenschlichen Kopf.
Die Kreatur brüllte auf. Zum Teil klang es nach einem
Schmerzensschrei, zum Teil nach dem Knurren eines
Tieres. Kochendes Wasser lief ihm über das Gesicht. In
dem Moment, als der Kessel traf, blitzte Tams Schwert
auf. Aus dem Brüllen wurde ein Gurgeln, und die riesige
Gestalt stürzte rückwärts. Bevor sie noch gefallen war,
versuchte eine zweite, sich an der ersten vorbei-
zuschieben. Rand erspähte einen mit dornenähnlichen
Hörnern bewehrten verformten Kopf, bevor Tam erneut
zuschlug. Dann blockierten zwei riesige erschlaffte
Körper den Eingang. Rand merkte, daß sein Vater ihm
etwas zurief.
»Renn weg, Junge! Versteck dich im Wald!« Die
Leichen im Eingang zuckten, als andere von draußen
versuchten, sie wegzuziehen. Tam bückte sich und hob mit
der Schulter unter Stöhnen den schweren Tisch, um ihn
vor die Tür zu schieben. »Es sind zu viele! Das hält nicht!
Renn hinten raus! Los! Schnell! Ich komme nach!«
Noch während Rand sich zur Flucht wandte, schämte er
sich, daß er so schnell gehorchte. Er wollte bleiben und
seinem Vater helfen, obwohl er sich nicht vorstellen
konnte, wie, aber die Angst hatte ihn bei der Gurgel
gepackt, und die Beine bewegten sich ohne sein Zutun. E r
rannte aus dem Raum in den rückwärtigen Teil des
Hauses. So schnell war er noch nie gelaufen. Krachende
Geräusche und Schreie aus der Wohnstube verfolgten ihn.
Er hatte die Hände schon auf dem Querbalken, der die
Hintertür versperrte, als sein Blick auf das Eisenschloß
fiel, das nie verschlossen wurde. Allerdings hatte Tam
genau das heute nacht getan. Er ließ den Balken, wo er
war, und rannte zu einem Seitenfenster. Er schob das
Fenster hoch und öffnete die Fensterläden. Die Nacht hatte
die Dämmerung abgelöst. Der Vollmond und die über den
Himmel treibenden Wolken erzeugten gefleckte Schatten,
und diese jagten sich gegenseitig quer über den Hof.
Schatten, sagte er sich. Nur Schatten. Die Hintertür
knarrte, als jemand – oder etwas – versuchte, sie aufzu-
drücken. Der Mund wurde Tam trocken. Ein Krachen
erschütterte die Tür in ihrem Rahmen und machte ihm
Beine. Er schlüpfte durch das Fenster und kauerte sich
wie ein Hase an die Seitenwand des Hauses. Im Raum
drinnen zersplitterte Holz mit donnerndem Getöse.
Er zwang sich hoch und spähte geduckt durch das
Fenster, nur mit einem Auge, nur an einer Fensterecke.
Im Dunkeln konnte er nicht viel ausmachen, aber immer
noch mehr, als ihm lieb war. Die Reste der Tür hingen
schief in den Angeln, und schattenhafte Gestalten
bewegten sich vorsichtig im Raum. Sie sprachen mit leisen
kehligen Stimmen. Rand verstand die Worte nicht, die
gesagt wurden. Die Sprache klang hart und für
menschliche Zungen ungeeignet. Äxte und Speere und
dornige – Dinge reflektierten matt die wenigen Strahlen
Mondlicht, die sich dort hinein verirrten. Stiefel scharrten
über den Fußboden, und er hörte auch ein rhythmisches
Klappern wie von Hufen.
Er versuchte, Speichel zu sammeln und seinen Mund
wieder zu befeuchten. Dann zog er tief, wenn auch
zitternd, Luft ein und schrie so laut er konnte: »Sie
kommen von hinten!« Die Worte kamen mehr als Kräch-
zen heraus, aber wenigstens waren sie gut hörbar. Er war
sich da nicht sicher gewesen. »Ich bin draußen! Renn,
Vater!« Mit dem letzten Wort rannte er los, weg vom
Haus.
Heisere Schreie in der seltsamen Sprache erklangen aus
dem Hinterzimmer. Glas splitterte, laut und klirrend, und
irgend etwas prallte schwer hinter ihm auf dem Boden
auf. Einer von ihnen hatte wahrscheinlich den Weg durch
das Fenster einem mühevollen Hinauszwängen durch die
Türöffnung vorgezogen, aber er sah nicht nach hinten, um
sich zu vergewissern, ob er recht hatte. Wie ein Fuchs vor
der Meute, so huschte er von einem Mondschatten in den
anderen, als halte er auf den Wald zu, doch dann ließ er
sich auf den Bauch fallen und kroch zurück zur Scheune
und ihrem größeren, tieferen Schatten. Etwas fiel quer
über seine Schultern. Er schlug um sich, nicht sicher, ob
er kämpfen oder entkommen sollte, bis er merkte, daß er
den Stiel der neuen Hacke gepackt hielt, den Tam
bearbeitet hatte.
Idiot! Einen Augenblick lang lag er da und bemühte
sich, seinen Atem wieder zu beruhigen. Coplin-Narr-
Idiot! Schließlich kroch er am hinteren Teil der Scheune
entlang und schleifte den Hackenstiel mit. Es war nicht
viel, aber besser als nichts. Vorsichtig lugte er um die
Ecke über den Hof zum Haus.
Er sah kein Anzeichen der Kreatur, die ihm
nachgesprungen war. Sie konnte überall sein. Sicher jagte
sie ihn. Vielleicht schlich sie sich in diesem Moment
gerade an.
Verängstigtes Blöken kam aus dem Schafpferch zu
seiner Linken; die Herde drängte sich zusammen, als suche
sie nach einem Fluchtweg. Schattenhafte Gestalten
huschten an den beleuchteten Fenstern im vorderen Teil
des Hauses vorbei, und das Klirren von Stahl auf Stahl
klang durch die Dunkelheit. Plötzlich wölbte sich eines
der Fenster nach außen, und in einem Regen von Scherben
und Holz sprang Tam hindurch, das Schwert immer noch
in der Hand. Er landete auf den Füßen, aber statt vom
Haus wegzurennen, eilte er zum hinteren Teil und achtete
nicht auf die monströsen Kreaturen, die hinter ihm aus
dem geborstenen Fenster und der Tür drangen. Rand
starrte ungläubig hinüber. Warum versuchte er nicht zu
entkommen? Dann verstand er. Tam hatte seine Stimme
zuletzt vom hinteren Teil des Hauses her vernommen.
»Vater!« schrie er. »Ich bin hier drüben!«
Tam wirbelte herum, rannte dann aber nicht auf Rand
zu, sondern in einem Winkel von ihm weg. »Renn,
Junge!« schrie er und deutete mit dem Schwert auf etwas
vor ihm. »Versteck dich!« Ein Dutzend riesiger Gestalten
hetzte ihm nach. Grelle Schreie und schrilles Heulen
brachten die Luft zum Erzittern.
Rand zog sich in den Schatten hinter der Scheune
zurück. Er konnte dort vom Haus aus nicht gesehen
werden, falls noch weitere der Kreaturen sich dort
aufhielten. Zumindest im Moment war er sicher. Aber
Tam nicht. Tam, der sich bemühte, diese Monster von ihm
abzulenken. Seine Hände verkrampften sich um den Stiel
der Hacke, und er mußte die Zähne zusammenbeißen, um
ein plötzliches Lachen zu verhindern. Ein Hackenstiel.
Wenn er einer dieser Kreaturen mit dem Stiel einer Hacke
gegenüberstand, ähnelte das nicht mehr seinen
Stabkämpfen mit Perrin. Aber er konnte Tam nicht mit
seinen Verfolgern alleinlassen.
»Wenn ich mich so vorsichtig bewege, als schliche ich
mich an ein Kaninchen an«, flüsterte er in sich hinein,
»dann können sie mich niemals hören oder sehen.« Die
unheimlichen Schreie hallten in der Dunkelheit wider, und
er versuchte zu schlucken. »Klingt eher nach einem Rudel
verhungernder Wölfe.« Lautlos glitt er aus dem Schatten
der Scheune auf den Wald zu. Sein Griff um den Stiel war
so verkrampft, daß die Hände schmerzten. Zuerst fühlte er
sich wohler, als die Bäume ihn umgaben. Sie halfen ihm,
sich vor den Kreaturen zu verstecken. Als er aber weiter
durch den Wald schlich, zerflossen und bewegten sich die
Schatten, die der Mond warf, und mit ihnen schien sich
die Dunkelheit des Waldes zu verändern und ebenfalls zu
bewegen. Bäume ragten bösartig über ihm auf; Äste
schienen nach ihm zu greifen. Aber waren das nur Bäume
und Äste? Er konnte beinahe das knurrende, glucksende
Lachen hören, das sie unterdrückten, während sie auf ihn
warteten. Das Heulen von Tams Verfolgern war nicht
mehr zu hören, doch in der darauffolgenden Stille schrak
er jedesmal zusammen, wenn der Wind einen Zweig gegen
den anderen schlug. Tiefer und tiefer duckte er sich und
schlich immer langsamer. Er traute sich kaum zu atmen,
aus Angst, daß man ihn hören könne.
Plötzlich legte sich eine Hand von hinten über seinen
Mund, und ein eiserner Griff umspannte sein Handgelenk.
Verzweifelt griff er mit der freien Hand über die
Schulter, um den Angreifer irgendwie zu packen.
»Brich mir nicht den Hals, Junge!« kam Tams heiseres
Flüstern.
Erleichterung durchflutete ihn und verwandelte seine
Muskeln in Pudding. Als sein Vater ihn losließ, fiel er auf
Hände und Knie und keuchte, als sei er meilenweit
gerannt. Tam legte sich neben ihn, auf einen Ellenbogen
gestützt.
»Ich hatte ganz vergessen, wie sehr du in den letzten
Jahren gewachsen bist«, sagte Tam leise. Seine Augen
bewegten sich beim Sprechen ständig. Er spähte
angestrengt in die Dunkelheit hinaus. »Aber ich mußte
sichergehen, daß du nicht laut sprichst. Trollocs haben ein
fast ebenso gutes Gehör wie Hunde. Vielleicht sogar ein
besseres.«
»Aber Trollocs sind nur...« Rand beendete den Satz
nicht. Keine Gutenachtgeschichte, seit heute nicht mehr.
Die Monster konnten Trollocs sein oder auch der Dunkle
König selbst. Er hatte keine Ahnung. »Bist du sicher?«
flüsterte er. »Ich meine – Trollocs?«
»Ich bin sicher. Was sie allerdings zu den Zwei Flüssen
geführt hat... Vor dem heutigen Abend habe ich noch nie
einen gesehen, aber ich habe mit Männern gesprochen, die
welche kannten, also weiß ich einiges über sie. Vielleicht
genug, um unser Leben zu retten. Hör genau zu! Ein
Trolloc kann im Dunkeln besser sehen als ein Mensch,
aber helles Licht blendet ihn, jedenfalls für eine Weile.
Das war wohl der einzige Grund, warum wir so vielen
von ihnen entkommen konnten. Sie können Spuren durch
Geruch oder Geräusche verfolgen, aber man sagt, sie
seien faul. Wenn wir ihnen lang genug davonlaufen, geben
sie wahrscheinlich auf.«
Rand fühlte sich nach diesen Erklärungen kaum besser.
»Den Geschichten nach hassen sie Menschen und dienen
dem Dunklen König.«
»Wenn irgend etwas zur Herde des Schäfers der Nacht
gehört, Junge, dann sind es Trollocs. Man hat mir erzählt,
daß sie aus Lust am Töten morden. Aber sonst weiß ich
nichts mehr, außer daß man ihnen nicht trauen kann. Nur
wenn sie Angst vor dir haben, kannst du ihnen ein bißchen
trauen.«
Rand erschauerte. Er wollte nicht unbedingt jemandem
begegnen, vor dem selbst Trollocs Angst hatten. »Glaubst
du, sie suchen immer noch nach uns?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie kommen mir nicht
gerade schlau vor. Sobald wir den Wald erreichten, lockte
ich meine Verfolger in Richtung Gebirge. Es war nicht
sehr schwer.« Tam faßte sich an die rechte Seite und hielt
die Hand nahe vor das Gesicht. »Verhalte dich aber am
besten so, als seien sie klug genug.«
»Du bist verletzt.«
»Sprich nicht so laut. Es ist nur ein Kratzer, und im
Moment kann ich sowieso nichts tun. Wenigstens scheint
das Wetter wärmer zu werden.« Er ließ sich mit einem
schweren Seufzer zurückfallen. »Vielleicht wird die Nacht
im Freien doch nicht so schlimm.«
Rand hatte sich auch gerade wohlig seinen Mantel und
den Umhang vorgestellt. Die Bäume hielten den Wind
zum Teil ab, aber was durchkam, schnitt immer noch wie
ein gefrorenes Messer in ihn hinein. Zögernd berührte er
Tams Gesicht und fuhr zusammen. »Du glühst ja. Ich muß
dich zu Nynaeve bringen.«
»Immer mit der Ruhe, Junge.«
»Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Es ist ein langer
Weg in dieser Dunkelheit.« Er kam auf die Füße und
versuchte den Vater hochzuziehen. Er ließ ihn jedoch
schnell zurückgleiten, als Tam ein kaum unterdrücktes
Stöhnen ausstieß.
»Laß mich eine Weile ausruhen, Junge. Ich bin müde.«
Rand schlug sich mit der Faust auf die Hüfte. Hätten sie
sich in der Sicherheit des Hauses befunden, mit einem
Feuer im Kamin, Decken, genug Wasser und
Weidenrinde, dann wäre er vielleicht gewillt gewesen, bis
zum Tagesanbruch zu warten und dann Bela anzuschirren
und Tam ins Dorf zu bringen. Hier gab es kein Feuer,
keine Decken, keinen Karren und auch keine Bela. Das
alles befand sich noch drüben im Haus. Wenn er Tam
nicht hinüber tragen konnte, so konnte er doch zumindest
einiges für Tam herausholen. Falls die Trollocs weg
waren. Früher oder später mußten sie doch gehen.
Er sah den Hackenstiel an und ließ ihn fallen. Statt
dessen zog er Tams Schwert. Die Schneide schimmerte
matt im blassen Mondlicht. Der lange Griff fühlte sich in
seiner Hand so eigenartig an; Gewicht und Balance waren
ungewohnt. Er hieb einige Male in die Luft, bevor er mit
einem Seufzer aufhörte. Es war leicht, das Schwert durch
die Luft sausen zu lassen. Wenn er statt dessen einen
Trolloc vor sich hatte, war die Wahrscheinlichkeit groß,
daß er wegrannte oder vor Schreck erstarrte, so daß er
sich überhaupt nicht bewegen konnte, bis der Trolloc mit
einem dieser alten Schwerter ausholte und... Hör auf!
Wem hilft das schon!
Als er sich erhob, packte Tam ihn am Arm. »Wo willst
du hin?«
»Wir brauchen den Karren«, sagte er sanft. »Und
Decken.« Er erschrak, als er merkte, wie leicht es war,
die Hand seines Vaters vom Ärmel wegzuziehen. »Ruh
dich aus, bis ich zurückkomme.«
»Vorsichtig«, hauchte Tam.
Er konnte Tams Gesicht im Mondlicht nicht erkennen,
aber er fühlte seinen Blick auf sich ruhen. »Bin ich.« So
vorsichtig wie eine Maus, die das Nest eines Falken
inspiziert, dachte er.
Lautlos wie ein Schatten glitt er in die Dunkelheit. E r
dachte daran, wie oft er in seiner Kindheit mit seinen
Freunden im Wald Verstecken gespielt hatte. Sie hatten
sich gegenseitig aufgelauert, sich unhörbar angeschlichen,
bis sie dem anderen die Hand auf die Schulter legen
konnten, um ihn abzuklatschen. Irgendwie brachte er es
nicht fertig, die jetzige Situation mit denselben Augen zu
sehen.
Während er von Baum zu Baum schlich, versuchte er,
sich einen Plan zurechtzulegen, doch als er den Waldrand
erreichte, hatte er schon zehn davon geschmiedet und wie-
der verworfen. Alles hing davon ab, ob die Trollocs noch
da waren. Waren sie weg, dann konnte er einfach zum
Haus gehen und holen, was er brauchte. Wenn sie immer
noch da waren... Dann blieb ihm nichts übrig, als zu Tam
zurückzukehren. Es gefiel ihm nicht, aber er würde Tam
keinen Gefallen tun, wenn er sich umbringen ließe.
Er spähte hinüber zu den Gebäuden des Bauernhofs.
Scheune und Schafpferch waren nur dunkle Umrisse im
Mondlicht. Aus den vorderen Fenstern des Wohnhauses
und der Tür aber drang Licht. Nur die Kerzen, die Vater
angezündet hat, oder warten dort Trollocs?
Er zuckte zusammen, als er den schrillen Schrei eines
Nachtfalken vernahm, und sackte dann zitternd gegen
einen Baumstamm. Das brachte ihn nicht weiter. Er kroch
auf dem Bauch weiter und hielt dabei ungeschickt das
Schwert zum Schutz vor sich. Er behielt das Kinn im
Schmutz, bis er den Schafpferch erreicht hatte.
Eng an die Mauer gedrückt lauschte er. Kein Laut
durchbrach die Stille der Nacht. Vorsichtig richtete er
sich auf, bis er über die Mauer blicken konnte. Im Hof
bewegte sich nichts. In den beleuchteten Fenstern zeigte
sich kein huschender Schatten, ebensowenig im hellen
Rechteck der Tür. Zuerst Bela und den Karren – oder die
Decken und was sonst noch wichtig ist? Das Licht
erleichterte ihm den Entschluß. In der Scheune war es
dunkel. Alles machte dort drinnen auf ihn warten, und er
hätte keine Ahnung, bis es zu spät wäre. Im Haus konnte
er zumindest sehen, was ihn erwartete.
Als er wieder zu Boden gehen wollte, hielt er plötzlich
inne. Er konnte keinen Laut hören. Die meisten Schafe
konnten sich wieder beruhigt haben und schlafen, obwohl
es unwahrscheinlich war, aber ein paar waren zu jeder
Zeit wach, auch mitten in der Nacht, bewegten sich leise
und blökten von Zeit zu Zeit. Er konnte die dunklen
Klumpen der Schafskörper am Boden kaum ausmachen.
Einer lag beinahe direkt unter ihm.
Er bemühte sich, keinen Laut zu machen, und zog sich
auf die Mauer hoch, bis er eine Hand nach dem nur
schwer sichtbaren Körper ausstrecken konnte. Seine
Finger berührten krause Wolle und dann etwas Nasses.
Das Schaf bewegte sich nicht. Er atmete stoßartig aus, als
er sich zurückfallen ließ. Beinahe hätte er das Schwert
fallen gelassen. Sie töten aus Lust am Töten. Bebend
wischte er die Nässe an der Hand am Boden ab.
Gewaltsam trichterte er sich ein, daß sich nichts
geändert hatte. Die Trollocs hatten ihre Schlächterei
beendet und waren weg. Das wiederholte er im Geist, als
er quer über den Hof kroch. Er hielt sich so dicht am
Boden wie möglich, versuchte aber auch, sich ständig nach
allen Richtungen umzusehen. Er hätte nie gedacht, daß er
eines Tages einen Regenwurm beneiden würde.
Schließlich lag er eng an die Vorderwand des Hauses
gepreßt, direkt unter dem geborstenen Fenster, und
lauschte. Das lauteste Geräusch war das dumpfe Pochen
seines Blutes in den Ohren. Langsam richtete er sich auf
und sah hinein.
Der Kochkessel lag umgekippt in der Asche der
Feuerstelle. Überall lagen Bruchstücke von gesplittertem
Holz. Kein einziges Möbelstück war heil geblieben. Sogar
der Tisch stand schief; zwei seiner Beine waren zu bloßen
Stümpfen abgehackt. Jedes Schubfach war herausgezogen
und zerschlagen worden, jeder Schrank und jede
Kommode standen offen, viele Türen hingen gerade noch
an einer Angel. Der Inhalt war über die Trümmer hinweg
verstreut worden, und über allem lag eine weiße
Staubschicht. Nach den aufgeschlitzten Säcken zu urteilen,
die am Kamin lagen, bestand die Schicht aus Mehl und
Salz. Mitten zwischen den Überresten der Möbel lag ein
Gewirr von vier verdrehten Körpern. Trollocs.
Rand erkannte einen davon an den Widderhörnern. Die
anderen sahen ziemlich ähnlich aus, trotz der
Unterschiede: eine abstoßende Mischung menschlicher
Gesichter, die durch Schnauzen, Hörner, Federn und Fell
entstellt waren. Daß ihre Hände beinahe menschlich
aussahen, machte alles nur noch schlimmer. Zwei trugen
Stiefel, die anderen hatten Hufe. Er beobachtete alles,
ohne die Lider zu bewegen, bis ihm die Augen brannten.
Keiner der Trollocs bewegte sich. Sie mußten tot sein.
Und Tam wartete.
Er rannte durch die Vordertür hinein, blieb stehen und
würgte. Dieser Gestank! Das einzige, womit er den
Gestank vergleichen konnte, war ein Stall, den man
monatelang nicht ausgemistet hatte. Mehr fiel ihm nicht
ein. Häßliche Schmierstreifen zogen sich über die Wände.
Er versuchte nur durch den Mund zu atmen und
durchsuchte das Durcheinander am Boden. In einem der
Schränke hatte sich ein Wassersack befunden.
Ein schabendes Geräusch hinter ihm ließ ihm das Blut
in den Adern gefrieren, und er fuhr herum, wobei er
beinahe über die Reste des Tisches fiel. Er fing sich und
stöhnte mit so fest zusammengebissenen Zähnen, daß ihn
das Gebiß schmerzte – sonst hätten die Zähne geklappert.
Einer der Trollocs taumelte hoch. Die Schnauze eines
Wolfs ragte unter eingesunkenen Augen hervor. Flache
gefühllose Augen, und nur zu menschlich im Aussehen.
Spitze haarige Ohren zuckten unaufhörlich. Auf spitzen
Ziegenhufen stieg er über einen seiner toten Begleiter.
Der gleiche schwarze Kettenpanzer wie bei den anderen
schabte an Lederhosen entlang, und an der Seite hing ein
riesiges sichelförmiges Schwert.
Er murmelte etwas in seiner kehligen Stimme, und
dann sagte er: »Andere gehen weg. Narg bleiben. Narg
schlau.« Die Worte klangen verzerrt und waren schwer zu
verstehen. Sie kamen aus einer Kehle, die nicht für die
menschliche Sprache geschaffen war. Der Tonfall soll
beruhigend klingen, dachte Rand, aber er konnte den
Blick nicht von den fleckigen, langen und scharfen Zähnen
wenden, die jedesmal aufblitzten, wenn die Kreatur
sprach. »Narg wissen, manche kommen zurück manchmal.
Narg warten. Du nicht brauchen Schwert. Legen Schwert
hin.«
Bis der Trolloc das gesagt hatte, hatte Rand überhaupt
nicht gemerkt, daß er Tams Schwert schwankend in den
Händen hielt, die Spitze auf das Riesenwesen gerichtet. Es
überragte Rand um ein vielfaches. Brustkorb und Arme
hätten Meister Luhhan vergleichsweise zu einem Zwerg
gemacht.
»Narg nicht verletzen.« Er kam gestikulierend einen
Schritt näher. »Du legen Schwert hin.« Das dunkle Haar
auf den Handrücken war so dicht wie Fell. »Bleib mir
vom Leib«, sagte Rand. Er wünschte, seine Stimme klänge
fester. »Warum habt ihr das getan? Warum?«
»Vlja daeg roghda!« Aus dem Knurren wurde schnell
ein vielzahniges Lächeln. »Leg Schwert hin. Narg nicht
weh tun. Myrddraal wollen sprechen dich.« Kurz blitzte
etwas wie ein Gefühl auf der verzerrten Fratze auf. Angst.
»Andere kommen zurück, du sprechen Myrddraal.« Er tat
wieder einen Schritt vorwärts. Eine große Hand legte sich
um den Schwertgriff. »Du legen Schwert hin.«
Rand befeuchtete sich die Lippen. Myrddraal! Heute
nacht erwachten die schlimmsten Legenden zum Leben.
Wenn ein Blasser kam, dann waren die Trollocs dagegen
harmlos zu nennen. Er mußte entkommen. Aber zog der
Trolloc erst einmal diese massive Klinge, dann hatte er
keine Chance mehr. Er zwang sich zu einem unsicheren
Lächeln. »In Ordnung.« Der Griff um den Schwertknauf
festigte sich. Er ließ die Hände fallen. »Ich werde reden.«
Aus dem Wolfslächeln wurde ein Knurren, und der
Trolloc stürzte sich auf ihn. Rand hatte nicht geglaubt, daß
etwas so Großes sich so schnell bewegen konnte.
Verzweifelt riß er das Schwert hoch. Der monströse
Körper prallte auf seinen und schleuderte ihn gegen die
Wand. Schlagartig blieb Rand die Luft weg. Er schnappte
nach Luft, als sie beide zu Boden fielen, der Trolloc
obenauf. Er versuchte sich verzweifelt von der
erdrückenden Last zu befreien. Er mußte dem Griff der
kräftigen Hände und dem zuschnappenden Gebiß
ausweichen.
Plötzlich verkrampfte sich der Trolloc, und dann lag er
bewegungslos da. Rand, zerschlagen, zerschürft und halb
unter der Last erstickt, die auf ihm ruhte, lag für einen
Moment einfach ungläubig da. Dann kam er schnell
wieder zu Sinnen und wand sich schließlich unter der
Leiche hervor. Es war tatsächlich eine Leiche. Die
blutverschmierte Klinge von Tams Schwert ragte aus der
Mitte des Trollocrückens. Er hatte es rechtzeitig
hochbekommen. Auch Rands Hände waren
blutverschmiert, und das Blut hatte einen schwärzlichen
Fleck auf seinem Hemd hinterlassen. Der Magen drehte
sich ihm um, und er schluckte ein paarmal heftig, um sich
nicht übergeben zu müssen. Er zitterte so sehr wie auf
dem Höhepunkt seiner Angst, aber diesmal vor
Erleichterung, daß er noch am Leben war.
Andere kommen zurück, hatte der Trolloc gesagt. Die
anderen Trollocs würden zum Hof zurückkehren. Und ein
Myrddraal dazu, ein Blasser. Den Geschichten nach waren
die Blassen zwanzig Fuß groß, hatten feurige Augen und
ritten auf Schatten wie auf Pferden. Wenn ein Blasser sich
zur Seite drehte, dann verschwand er. Wände konnten ihn
nicht aufhalten. Er mußte tun, wozu er gekommen war,
und schnell verschwinden.
Er stöhnte vor Anstrengung, als er den Körper des
Trollocs herumwuchtete, um das Schwert herausziehen zu
können. Beinahe wäre er weggerannt, als geöffnete Augen
ihn anstarrten. Er brauchte eine Weile, bis ihm klar
wurde, daß die Augen glasig und tot waren. Er wischte
sich die Hände an einem zerrissenen Lumpen ab –
morgens war er noch eins von Tams Hemden gewesen –
und zog die Klinge heraus. Er reinigte das Schwert und
ließ den Lumpen zögernd fallen. Es fehlt an Zeit,
Ordnung zu halten, dachte er und mußte unwillkürlich
lachen. Schnell biß er die Zähne zusammen. Kein Laut! E r
hatte keine Ahnung, wie sie das Haus jemals wieder so
sauber bekommen sollten, daß sie darin wohnen konnten.
Der schreckliche Gestank hatte sich vielleicht schon in den
Balken festgesetzt. Keine Zeit für Sauberkeit. Vielleicht
auch keine Zeit mehr für irgend etwas...
Er war sicher, daß er vieles vergessen würde, was sie
brauchten, aber Tam wartete und die Trollocs kamen
sicherlich zurück. Er rannte herum und suchte schnell
zusammen, was ihm gerade einfiel. Decken aus dem
Schlafzimmer und saubere Tücher, um Tams Wunde zu
verbinden. Umhänge und Mäntel. Einen Wassersack, den
er sonst immer mitnahm, wenn er die Schafe auf die
Weide trieb. Ein sauberes Hemd. Er wußte nicht, wann er
die Zeit finden würde, sich umzuziehen, aber er wollte bei
der ersten Gelegenheit das blutverschmierte Hemd
ablegen. Die kleinen Beutel mit Weidenrinde und die
anderen Medikamente waren Teil eines dunklen
schlammverschmierten Bündels, das er kaum zu berühren
wagte.
Ein Eimer Wasser, den Tam hereingebracht hatte, stand
immer noch am Kamin, wie durch ein Wunder unversehrt
und voll. Daraus füllte er den Wassersack, und im Rest
wusch er sich hastig die Hände. Noch einmal lief er eine
kurze Runde durchs Haus, um mitzunehmen, was er
übersehen hatte. In den Trümmern fand er seinen Bogen.
Er war am stärksten Punkt sauber auseinandergebrochen
worden. Er schauderte, als er die Bruchstücke fallen ließ.
Was er jetzt hatte, mußte ausreichen. Schnell legte er alles
vor der Tür auf einen Stapel.
Als letztes, bevor er das Haus verließ, zog er aus dem
Durcheinander auf dem Boden eine Sturmlaterne heraus.
Sie enthielt immer noch Öl. Er zündete sie mit einer der
Kerzen an, und eilte, die Laterne in einer Hand und das
Schwert in der anderen, nach draußen. Er wußte nicht,
was er in der Scheune vorfinden würde. Der Schafpferch
ließ nichts Gutes erwarten. Aber er brauchte den Karren,
um Tam nach Emondsfeld zu bringen, und für den Karren
brauchte er Bela. Die Notwendigkeit erweckte ein wenig
Hoffnung in ihm.
Das Scheunentor stand offen. Ein Flügel knarrte in den
Angeln, als der Wind ihn bewegte. Innen sah alles
zunächst aus wie immer. Dann fiel sein Blick auf leere
Boxen. Die Türen waren aus den Angeln gerissen. Bela
und die Kuh waren fort. Schnell lief er in den hinteren
Teil der Scheune. Der Karren lag auf der Seite. Die Hälfte
der Speichen waren aus den Rädern gebrochen. Eine
Achse war nur noch ein Stumpf von einem Fuß Länge.
Die Verzweiflung, die er bis jetzt zurückgehalten hatte,
packte ihn nun mit Gewalt. Er glaubte nicht, daß er Tam
bis zum Dorf tragen konnte, wenn Tam das
Getragenwerden überhaupt aushalten würde. Der Schmerz
brachte ihn vielleicht noch schneller um als das Fieber.
Aber es war die einzig verbleibende Möglichkeit. Hier
hatte er alles getan, was er tun konnte. Als er sich zum
Gehen wandte, fiel sein Blick auf den abgehackten Teil
der Achse, der auf dem Stroh lag. Plötzlich lächelte er.
Hastig stellte er die Laterne auf den strohbedeckten
Boden und legte das Schwert daneben. Im nächsten
Moment plagte er sich mit dem Karren ab, kippte ihn nach
hinten, damit er aufrecht stand, wenn auch weitere
Speichen brachen, und stemmte sich dann mit der Schulter
dagegen, um ihn in die richtige Lage zu bringen. Die
unbeschädigte Achse ragte gerade heraus. Er schnappte
sich das Schwert und hackte auf das gut abgelagerte
Eschenholz ein. Zu seiner Überraschung flogen dicke
Späne unter den Hieben davon, und er konnte es genauso
schnell wie mit einer guten Axt spalten. Als die Achse
befreit war, blickte er die Klinge bewundernd an. Selbst
die schärfste Axt wäre stumpf geworden, hätte man mit
ihr dieses harte alte Holz bearbeitet, aber das Schwert
wirkte genauso strahlend scharf wie vorher. Er berührte
die Schneide mit dem Daumen und steckte ihn dann ganz
schnell in den Mund. Die Klinge war tatsächlich immer
noch so scharf wie ein Rasiermesser.
Aber er hatte keine Zeit zum Staunen. Er blies die
Laterne aus – es war nicht notwendig, daß zu allem
Überfluß auch noch die Scheune abbrannte –, nahm die
beiden Achsen und rannte zum Haus, um die anderen
Sachen zu holen.
Alles zusammen war eine unhandliche Last. Nicht
sonderlich schwer, aber schwer zu halten und zu tragen.
Die Achsen des Karrens schwankten und drehten sich in
seinen Armen, als er über das gepflügte Feld stolperte. Im
Wald wurde es noch schlimmer. Sie verfingen sich in
Bäumen und brachten ihn beinahe zu Fall. Er hätte sie
leichter hinterherschleifen können, aber dann hätte er eine
deutliche Spur hinterlassen. Er hatte vor, damit so lange
wie nur möglich zu warten.
Tam war noch dort, wo er ihn verlassen hatte. E r
schien zu schlafen. Rand hoffte es jedenfalls. In plötzlicher
Angst ließ er seine Lasten fallen und legte eine Hand auf
des Vaters Stirn. Tam atmete noch, doch das Fieber war
schlimmer geworden.
Die Berührung weckte Tam auf, aber er war nicht klar.
»Bist du es, Junge?« hauchte er. »Mach mir Sorgen um
dich. Träume von verflossenen Tagen. Alpträume.« E r
murmelte undeutlich und schlief wieder ein.
»Mach dir keine Sorgen«, murmelte Rand. Er legte
Tam Mantel und Umhang über, um den Wind abzuhalten.
»Ich bringe dich so schnell wie möglich zu Nynaeve.«
Während er weiterredete, ebenso zur eigenen Beruhigung,
wie um Tam zu helfen, schälte er sich aus dem
blutbefleckten Hemd. In seiner Hast, es loszuwerden,
bemerkte er die Kälte kaum. Eilig zog er das saubere
Hemd an. Sein altes Hemd wegzuwerfen, war ein Gefühl,
als habe er gerade ein Bad genommen. »Wir werden im
Nu sicher im Dorf sein, und die Seherin bringt alles in
Ordnung. Du wirst schon sehen. Alles wird wieder gut.«
Der Gedanke wirkte wie ein Leuchtfeuer, als er seinen
Mantel anzog und sich bückte, um Tams Wunde zu
versorgen. Wenn sie einmal das Dorf erreichten, wären
sie sicher, und Nynaeve würde Tam heilen. Er mußte ihn
nur hinbringen.
KAPITEL 6
Der Westwald
Im Mondlicht konnte Rand wirklich nicht genau sehen,
was er tat, aber Tams Wunde schien nur ein
oberflächlicher Schnitt am Brustkorb zu sein, nicht länger
als seine Handfläche. Er schüttelte ungläubig den Kopf. E r
hatte erlebt, wie sein Vater schlimmere Wunden als diese
abbekam und nicht einmal mit der Arbeit aufhörte,
nachdem er sie ausgewaschen hatte. Hastig suchte er Tams
Körper von Kopf bis Fuß nach einer weiteren Verletzung
ab, die das Fieber hervorgerufen haben konnte, aber
außer dem einen Schnitt fand er nichts.
So klein er war, war diese Verletzung doch ernstzuneh-
men; das Fleisch um die Wunde herum schien zu glühen,
als er es berührte. Es war noch heißer als der übrige Kör-
per Tams, und der war heiß genug, daß Rand die Zähne
zusammenbiß. Wundfieber dieser Art konnte tödlich sein
oder einen Mann zum Wrack machen. Er ließ Wasser aus
dem Sack auf ein Tuch laufen und legte es auf Tams Stirn.
Er bemühte sich, den Schnitt über den Rippen seines
Vaters so sanft wie möglich auszuwaschen und zu
bandagieren, aber trotzdem unterbrach leises Stöhnen das
fieberhafte Gemurmel Tams. Kahle Äste ragten über sie
hinweg und bewegten sich bedrohlich im Wind. Sicher
würden die Trollocs weiterziehen, wenn sie Tam und ihn
nicht finden konnten, wenn sie zum Bauernhaus
zurückkehrten und es immer noch leer vorfanden. E r
versuchte, daran zu glauben, aber die willkürliche
Zerstörungswut, die sich im Haus gezeigt hatte, die völlige
Sinnlosigkeit dieser Handlungsweise, ließen wenig
Spielraum für Hoffnung. Die Annahme, sie würden
aufgeben, bevor sie jeden getötet und alles zerstört hatten,
was sie finden konnten, war gefährlich. Er konnte sich
solchen Leichtsinn nicht leisten.
Trollocs. Licht über uns, Trollocs! Kreaturen aus den
Geschichten eines Gauklers, die aus der Nacht
hervorbrachen und die Tür einschlugen. Und ein Blasser.
Das Licht erleuchte mich – ein Blasser!
Plötzlich merkte er, daß er die losen Enden der Binde
in den bewegungslosen Händen hielt. Erstarrt wie ein
Kaninchen, das den Schatten des Falken gesehen hat,
dachte er verächtlich. Mit ärgerlichem Kopfschütteln
beendete er das Bandagieren von Tams Brustwunde.
Auch wenn er wußte, was zu tun war, und damit auch
vorankam, so bewahrte ihn das doch nicht davor, Angst zu
haben. Wenn die Trollocs wiederkamen, würden sie
bestimmt beginnen, den Wald nach Spuren der
entkommenen Menschen zu durchsuchen. Die Leiche des
Gefährten, den er getötet hatte, würde ihnen zeigen, daß
Menschen nicht weit sein konnten. Und wer wußte schon,
was ein Blasser tun würde oder wozu er imstande war?
Und zu alledem hatte er laut und klar seines Vaters
Kommentar über das Gehör der Trollocs im Gedächtnis.
Er mußte den Impuls unterdrücken, eine Hand auf Tams
Mund zu legen, um sein Stöhnen und Murmeln zu
beenden. Einige können Spuren mit der Nase aufspüren.
Was kann ich dagegen tun? Nichts. Er konnte seine Zeit
nicht damit verschwenden, über Probleme nachzudenken,
die er sowieso nicht lösen konnte.
»Du mußt leise sein«, flüsterte er in seines Vaters Ohr.
»Die Trollocs werden zurückkommen.«
Tam sprach leise und heiser. »Du bist immer noch
schön, Kari. Genauso schön wie als Mädchen.«
Rand zog eine Grimasse. Seine Mutter war schon seit
fünfzehn Jahren tot. Wenn Tam sich einbildete, sie sei
noch am Leben, dann war das Fieber schlimmer, als Rand
gedacht hatte. Wie konnte er ihn vom Sprechen abhalten,
jetzt, da es lebensnotwendig war, leise zu sein? »Mutter
möchte, daß du leise bist«, flüsterte Rand. Er hielt inne
und räusperte sich. Seine Kehle schien wie zugeschnürt.
Sie hatte sanfte Hände gehabt, daran erinnerte er sich
noch. »Kari möchte, daß du ruhig bist. Hier. Trink.«
Tam schluckte gierig aus dem Wassersack, aber schnell
drehte er den Kopf wieder zur Seite und murmelte leise
vor sich hin, zu leise, als daß Rand es verstehen konnte.
Er hoffte, daß jagende Trollocs es ebenfalls nicht hören
konnten.
Schnell fuhr er fort, alles Notwendige zu tun. E r
wickelte drei der mitgenommenen Decken so um die vom
Karren abgetrennten Achsen, daß er eine provisorische
Bahre erhielt. Er würde sie nur an einem Ende tragen
können – das andere mußte am Boden schleifen –, aber es
war nicht anders zu bewerkstelligen. Aus der letzten
Decke schnitt er mit dem Messer einen langen Streifen
heraus. Den band er auf beiden Seiten an den Achsen fest.
So sanft wie möglich hob er Tam auf die Bahre. Jedes
Aufstöhnen seines Vaters drang ihm wie ein Messer durch
die Seele. Er hatte immer so unzerstörbar gewirkt. Nichts
konnte ihn erschüttern; nichts konnte ihn aufhalten oder
hemmen. Daß er sich jetzt in einem solchen Zustand
befand, raubte Rand beinahe allen Mut, den er vorher
noch aufgebracht hatte. Aber er mußte weitermachen. Nur
das bewegte ihn noch. Er mußte.
Als Tam endlich auf der Bahre lag, zögerte Rand, doch
dann nahm er Tam den Schwertgürtel ab. Als er ihn selbst
anlegte, fühlte sich das ganz eigenartig an. Er fühlte sich
so seltsam. Gürtel und Scheide und Schwert zusammen
wogen nur ein paar Pfund, aber als er die Klinge in die
Scheide steckte, schien ihn eine schwere Last
hinunterzuziehen.
Er ärgerte sich über sich selbst. Dies war nicht der
richtige Ort und nicht die richtige Zeit für blödsinnige
Einbildungen. Es war nur ein großes Messer. Wie oft
hatte er davon geträumt, ein Schwert zu tragen und
Abenteuer zu erleben! Wenn er einen Trolloc damit
getötet hatte, konnte er sich auch gegen andere zur Wehr
setzen. Allerdings wußte er nur zu gut, daß ihm bei dem
Kampf im Haus das reine Glück zur Seite gestanden hatte.
Und in seinen erträumten Abenteuern hatten ihm nie die
Zähne geklappert; er war auch nie durch die Nacht um
sein Leben gerannt, und sein Vater war in den Träumen
nie dem Tod nahe gewesen.
Hastig wickelte er die letzte Decke um Tam und legte
den Wassersack und die Tücher neben seinen Vater auf die
Bahre. Er holte tief Luft, kniete zwischen den Enden der
Achsen nieder und zog sich den Deckenstreifen über den
Kopf. Er wickelte ihn sich über die Schultern und unter
die Arme. Als er die Stangen ergriff und sich auf-richtete,
ruhte der größte Teil der Last auf seinen Schul-tern. Es
schien nicht besonders schlimm. Er versuchte,
gleichmäßig auszuschreiten, und so machte er sich auf
nach Emondsfeld. Die Bahre schlitterte hinter ihm her.
Er hatte sich bereits entschlossen, zur Haldenstraße zu
gehen und dieser nach Emondsfeld zu folgen. Die Gefahr
wäre wahrscheinlich an der Straße noch größer, aber
wenn er sich in der Dunkelheit im Wald verlief, würde
Tam erst recht keine Hilfe erhalten.
Bevor er es merkte, war er schon fast auf der
Haldenstraße eingelangt. Als er erkannte, wo er sich
befand, schnürte es ihm die Kehle zu. In hektischer Eile
drehte er die Bahre um und schleppte sie ein Stück zurück
in den Schutz der Bäume. Dort blieb er stehen, um nach
Luft zu schnappen und zu warten, daß sich das Klopfen
seines Herzens beruhigte. Immer noch schweratmend
wandte er sich nach Osten, auf Emondsfeld zu.
Sich zwischen den Bäumen hindurchzuwinden, war
schwieriger, als Tam die Straße hinunterzuschleifen, und
die Dunkelheit der Nacht half ihm auch nicht gerade, aber
die Straße selbst zu benutzen, wäre heller Wahnsinn
gewesen. Sie wollten ja das Dorf erreichen, ohne Trollocs
zu treffen, möglichst auch ohne welche zu sehen, falls ihm
dieser Wunsch erfüllt wurde. Er mußte ja annehmen, daß
die Trollocs ihnen immer noch auf der Fährte waren, und
früher oder später würde ihnen der Gedanke kommen, sie
seien zum Dorf gelaufen. Das war ja der offensichtliche
Weg, und die Haldenstraße bot sich dazu an. Er befand
sich selbst hier zwischen den Bäumen der Straße noch
näher, als ihm lieb war. Die Nacht und die Schatten unter
den Bäumen schienen nur eine dürftige Deckung zu
gewähren, die sie vor den Blicken aller jener schützte, die
sich auf der Straße befanden.
Das zwischen kahlen Ästen hindurchdringende
Mondlicht war nur eine notdürftige Beleuchtung, die
seinen Augen vorgaukelte, er könne erkennen, wie der
Boden vor ihm beschaffen war. Auf Schritt und Tritt
stolperte er über Wurzeln, alte Dornensträucher verfingen
sich an seinen Beinen, und kaum sichtbare Mulden oder
Boden-erhebungen brachten ihn fast zu Fall, wenn der
Fuß auf Luft traf, wo er festen Boden erwartete, oder
wenn die Zehen gegen ein unerwartetes Hindernis stießen.
Tams Gemurmel wurde zu lautem Aufstöhnen, wenn seine
Bahre zu heftig über eine Wurzel oder einen Stein
holperte.
Aus Unsicherheit starrte er so angestrengt in die
Dunkelheit, daß ihm die Augen brannten, und er lauschte,
wie er noch nie gelauscht hatte. Jedes Schaben eines
Zweiges gegen einen anderen, jedes Rascheln ließen ihn
innehalten. Die Ohren schmerzten ihm beinahe vor
Anstrengung, und er traute sich kaum zu atmen, aus
Angst, einen warnenden Laut zu überhören – und aus
Angst, einen solchen zu hören. Erst wenn er sicher war,
daß es nur der Wind war, ging er weiter.
Langsam kroch ihm die Erschöpfung durch Arme und
Beine, unterstützt vom Nachtwind, der durch Umhang und
Mantel drang, als sei kaum ein Schutz vorhanden. Das
Gewicht der Bahre, das am Anfang so gering schien,
drohte ihn jetzt zu Boden zu ziehen. Er stolperte nun nicht
nur des unebenen Bodens wegen. Der ständige Kampf
gegen das Fallen erforderte genausoviel Energie wie das
Ziehen der Bahre. Er war vor dem Morgengrauen
aufgestanden, um die notwendigen Arbeiten auf dem Hof
zu erledigen, und zusammen mit der Fahrt nach
Emondsfeld ergab das nun beinahe einen vollen Tag mit
Arbeit rund um die Uhr. An einem normalen Abend säße
er jetzt vor dem Kamin, um ein Buch aus Tams kleiner
Sammlung zu lesen, bevor er ins Bett ging. Die beißende
Kälte drang ihm bis auf die Knochen, und der Magen
erinnerte ihn daran, daß er seit den Honigkuchen von Frau
al'Vere nichts mehr gegessen hatte.
Er fluchte ärgerlich in sich hinein. Warum hatte er
vom Hof nicht Eßbares mitgenommen? Ein paar Minuten
mehr hätten auch nichts ausgemacht. Die Trollocs wären
doch wohl nicht innerhalb einer solch kurzen Zeitspanne
zurückgekommen! Wenigstens das Brot! Natürlich würde
Frau al'Vere darauf bestehen, ihm ein heißes Abendessen
einzutrichtern, wenn sie die Schenke erreichten. Vielleicht
eine dampfende Platte ihrer dicken Lammkoteletts. Und
etwas von dem Brot, das sie gebacken hatte. Und eine
Menge heißen Tee.
»Sie kamen wie eine Flutwelle über den Drachenwall«,
sagte Tam plötzlich mit kräftiger, wütender Stimme, »und
haben das Land mit Blut überschwemmt. Wie viele
mußten sterben für Lamans Sünde?«
Rand stürzte beinahe, so überrascht war er. Müde legte
er die Bahre nieder und befreite sich von dem Decken-
streifen. Er hatte bereits einen brennenden Striemen quer
über die Schultern hinterlassen. Er rollte die Schultern ein
wenig, um die verknoteten Muskeln zu entspannen. Dann
kniete er neben Tam nieder. Er griff nach dem Wasser-
sack und spähte dabei zwischen den Bäumen hindurch.
Vergebens bemühte er sich, die Straße hinauf und hinun-
ter klar auszumachen. Das Mondlicht war zu trüb, auch
wenn die Straße nur etwa zwanzig Schritt entfernt war.
Nichts außer den Schatten bewegte sich dort. Nichts außer
Schatten.
»Es gibt keine Flut von Trollocs, Vater. Jedenfalls
heute nicht. Wir sind bald in Emondsfeld in Sicherheit.
Trink ein bißchen Wasser!«
Tam schob den Wassersack mit einem Arm zur Seite,
der anscheinend seine ganze Kraft zurückgewonnen hatte.
Er packte Rand beim Kragen und zog ihn so nahe zu sich
heran, daß Rand die Hitze des Fiebers auf der eigenen
Wange spürte. »Sie haben sie als Wilde bezeichnet«, sagte
Tam eindringlich. »Die Narren sagten, man könne sie wie
Abfall aus dem Weg räumen. Wie viele Schlachten mußten
verlorengehen, wie viele Städte brennen, bis sie endlich
der Wahrheit ins Auge sahen? Bis die Nationen endlich
gemeinsam gegen sie kämpften?« Er lockerte den Griff an
Rands Kragen, und Trauer klang in seiner Stimme auf.
»Das Feld von Marath mit einem Teppich von Leichen
bedeckt und kein Laut außer dem Krächzen der Raben und
dem Summen der Fliegen. Die abgedeckten Türme von
Cairhien brannten wie Fackeln in der Nacht. Den ganzen
Weg bis zu den Leuchtenden Wällen brannten und
mordeten sie, bevor sie zurückgeschlagen wurden. Den
ganzen Weg nach...«
Rand legte die Hand auf des Vaters Mund. Ein Laut
wiederholte sich, ein rhythmisches Trampeln, dessen
Richtung man zwischen den Bäumen nicht bestimmen
konnte, erst leiser und dann, als der Wind sich drehte,
wieder lauter. Er runzelte die Stirn und drehte den Kopf
langsam hin und her, um festzustellen, woher der Laut
kam. Aus dem Augenwinkel nahm er eine leichte Bewe-
gung wahr, und einen Moment später beugte er sich tief
über Tam. Er war überrascht, den Griff des Schwertes
fest in seiner Hand zu fühlen, aber der größere Teil seines
Verstands konzentrierte sich auf die Haldenstraße, als sei
die Straße der einzig wirkliche Teil dieser ganzen Welt.
Schwankende Schatten im Osten formten sich langsam
zur Gestalt eines Reiters auf einem Pferd, der gefolgt
wurde von großen massigen Figuren, die rennen mußten,
um mit dem Pferd mitzuhalten. Das blasse Mondlicht
spiegelte sich in glitzernden Speerspitzen und
Axtschneiden. Rand glaubte von vornherein nicht daran,
es könnten Dorfbewohner sein, die ihnen zu Hilfe kamen.
Er wußte, wer sie waren. Er fühlte es, als würden seine
Knochen mit Sand abgeschliffen, noch bevor sie ganz nahe
waren. Dann enthüllte ihm das Mondlicht den
Kapuzenmantel des Reiters, einen Mantel, der vom Wind
unberührt herunterhing. Alle Gestalten erschienen in
dieser Nacht schwarz, und die Hufe des Pferdes
verursachten die gleichen Geräusche wie die jedes anderen
Pferdes, doch Rand erkannte dieses Pferd ganz eindeutig.
Hinter dem dunklen Reiter kamen Alptraumgestalten
mit Hörnern und Schnauzen und Schnäbeln, eine
Doppelreihe von Trollocs, alle im Gleichschritt. Die
Stiefel und Hufe schlugen im gleichen Moment auf dem
Boden auf, als würden sie von einem einzigen Verstand
gesteuert. Rand zählte zwanzig, die da an ihnen
vorbeieilten. Er fragte sich, welche Art von Mensch es
wagte, so vielen Trollocs den Rücken zuzuwenden. Oder
überhaupt einem Trolloc.
Die rennende Truppe verschwand in westlicher
Richtung. Das Stampfen der Füße und Hufe verklang in
der Dunkelheit, aber Rand blieb, wo er war, und bewegte
keinen Muskel. Etwas in ihm sagte ihm, er müsse erst
sicher, absolut sicher sein, daß sie fort waren, bevor er
sich wieder in Bewegung setzen durfte. Nach einer ganzen
Weile atmete er wieder tief ein und wollte sich gerade
aufrichten.
Diesmal gab das Pferd überhaupt keinen Laut von sich.
In unheimlicher Stille kehrte der Reiter zurück. Sein
schattenhaftes Reittier blieb alle paar Schritte in seinem
langsamen Schreiten die Straße hinunter stehen. Windböen
erhoben sich und heulten durch den Wald. Der Mantel des
Reiters hing unbeweglich wie der Tod herunter. Wo
immer das Pferd stehenblieb, bewegte sich der
kapuzenbedeckte Kopf hin und her, als der Reiter den
Wald beobachtete, suchte. Genau gegenüber von Rand
blieb das Pferd wieder stehen. Die düstere Öffnung der
Kapuze zeigte in die Richtung, wo Rand über seinem
Vater kauerte.
Rands Hand verkrampfte sich um den Schwertgriff. E r
fühlte den Blick genau wie am Morgen und erzitterte
wieder vor dem Haß, obwohl er ihn nicht sehen konnte.
Dieser verhüllte Mann haßte jeden und alles, alles, was
lebte. Trotz des kalten Windes rann Schweiß über Rands
Gesicht. Dann bewegte sich das Pferd weiter, ein paar
lautlose Schritte, und blieb erneut stehen. Schließlich
konnte Rand nur noch einen kaum wahrnehmbaren
Schatten in der Nacht erkennen, weit entfernt die Straße
hinunter. Er hatte ihn keinen Augenblick aus den Augen
verloren. Wenn er ihn aus dem Blickfeld verlor, würde er
ihn das nächste Mal vielleicht erst sehen, wenn dieses
lautlose Pferd ihn schon erreicht hatte.
Mit einem Mal huschte der Schatten zurück und flog in
unhörbarem Galopp vorbei. Der Reiter blickte vorwärts,
als er in westlicher Richtung durch die Nacht raste, in
Richtung Verschleierte Berge. Auf den Bauernhof zu.
Rand sackte in sich zusammen, rang nach Luft und
wischte sich den kalten Schweiß mit einem Ärmel von der
Stirn. Es interessierte ihn nicht mehr, warum die Trollocs
gekommen waren. Falls er das niemals herausfand, war es
auch recht, wenn es nur zu Ende war.
Mit einem kurzen Schütteln riß er sich wieder
zusammen und sah erst einmal nach seinem Vater. Tam
murmelte immer noch vor sich hin, aber so leise, daß
Rand die Worte nicht verstand. Er versuchte, ihm etwas
zu Trinken beizubringen, aber das Wasser floß über das
Kinn des Vaters. Tam hustete und erstickte fast an dem
Rinnsal, das tatsächlich den Weg in seinen Mund fand, und
dann schwatzte er leise weiter, als hätte es gar keine
Unterbrechung gegeben.
Rand goß noch ein wenig Wasser auf das Tuch, das auf
Tams Stirn lag, legte den Wassersack zurück auf die
Bahre und begab sich wieder zwischen die beiden Stangen.
Er ging los, als habe er die ganze Nacht geschlafen,
aber die neue Kraft hielt nicht lange vor. Die Angst
vertrieb zunächst die Erschöpfung, doch obwohl die Angst
blieb, kehrte die Erschöpfung schnell zurück. Bald
stolperte er wieder mühsam vorwärts und versuchte,
Hunger und schmerzende Muskeln zu vergessen. E r
konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu
setzen, ohne zu Fall zu kommen. Dabei stellte er sich
Emondsfeld vor, die Fensterläden geöffnet und die Häuser
hell zur Winternacht beleuchtet, Menschen, die sich
lautstark begrüßten, wenn sie sich gegenseitig besuchten,
Fiedeln, die die Straßen mit Melodien wie Jaems Torheit
und Der Reiherflug erfüllten. Haral Luhhan würde einen
Schnaps zuviel trinken und mit der Stimme eines
Ochsenfrosches das Lied Der Wind in der Gerste singen –
das tat er immer –, bis seine Frau es fertigbrachte, ihn
zum Schweigen zu bringen, und Cenn Buie würde sich
entschließen, den anderen zu beweisen, daß er immer noch
ebensogut tanzen konnte wie früher, und Mat würde einen
Streich zu spielen versuchen, der ein wenig danebenging,
und jeder würde wissen, daß er dafür verantwortlich war,
auch wenn es keiner beweisen konnte. Er konnte beinahe
schon wieder lächeln, als er daran dachte, wie es wohl
wieder würde.
Nach einer Weile sprach Tam wieder.
»Avendesora. Man sagt, er erzeuge keinen Samen, aber
sie brachten einen jungen Zweig nach Cairhien, einen
Schößling. Ein königliches Geschenk, um den König zu
erstaunen.« Obgleich er sich zornig anhörte, sprach er
sehr leise. Rand hatte Mühe, ihn zu verstehen. Jeder, der
ihn hören könnte, würde auch das Schleifen der Bahre
über den Boden wahrnehmen. Rand schlurfte weiter und
hörte nur so halb hin. »Sie schließen niemals Frieden.
Niemals. Aber sie brachten einen Schößling als Zeichen
des Friedens. Hundert Jahre lang wuchs er. Hundert Jahre
Friede mit denjenigen, die nie mit Fremden Frieden
schließen. Warum hat er ihn gefällt? Warum? Blut war
der Preis für Avendoraldera. Blut der Preis für Lamans
Stolz.« Er verfiel wieder in leises Murmeln.
Müde fragte sich Rand, welchen Fiebertraum Tam wohl
jetzt träumte. Avendesora. Der Baum des Lebens sollte
alle möglichen wundersamen Eigenschaften besitzen, aber
keine der Geschichten erwähnte irgendeinen Schößling
oder irgendwelche Leute. Es gab nur einen Baum, und der
gehörte dem Grünen Mann.
Heute morgen noch wäre er sich lächerlich
vorgekommen, wenn er ernsthaft über den Grünen Mann
und den Baum des Lebens nachgedacht hätte. Das waren
nur Geschichten. Wirklich? Heute morgen waren auch
Trollocs nur eine Geschichte. Vielleicht waren alle
Geschichten genauso wirklich wie die Nachrichten, die
Händler und Kaufleute brachten – alle Erzählungen der
Gaukler und alle Sagen, abends am Kamin erzählt.
Vielleicht traf er demnächst tatsächlich den Grünen Mann
oder einen Ogier-Riesen oder einen wilden Aielmann mit
schwarzem Schleier.
Er merkte, daß Tam wieder deutlicher sprach,
jedenfalls immer wieder einmal. Von Zeit zu Zeit hörte er
auf, um Luft zu holen, und dann fuhr er fort, als glaube
er, die ganze Zeit durchgehend gesprochen zu haben. »...
Schlachten sind immer heiß, sogar im Schnee.
Schweißhitze. Bluthitze. Nur der Tod ist kühl.
Bergabhang... einzige Ort, der nicht nach Tod stank.
Mußte dem Gestank entfliehen... dem Bild... hörte ein
Kind weinen. Ihre Frauen kämpfen manchmal an der Seite
der Männer, aber warum sie sie mitnahmen, weiß ich
nicht... Hat dort das Kind allein zur Welt gebracht, bevor
sie an ihren Verletzungen starb... das Kind mit ihrem
Umhang bedeckt, doch der Wind... blies den Umhang
fort... das Kind, blau vor Kälte. Hätte auch tot sein
sollen... weinte dort. Weinte im Schnee. Ich konnte ein
Kind nicht liegenlassen... keine eigenen Kinder... immer
gewußt, daß du Kinder wolltest. Ich wußte, du würdest es
als dein eigenes annehmen, Kari. Ja, Mädchen. Rand ist
ein guter Name. Ein guter Name.«
Plötzlich verloren Rands Beine das letzte bißchen Kraft.
Er stolperte und fiel auf die Knie. Tam stöhnte bei dem
plötzlichen Ruck auf, und der Deckenstreifen schnitt Rand
in die Schultern. Doch beides war ihm nicht bewußt.
Wenn in diesem Moment ein Trolloc vor ihm
aufgesprungen wäre – er hätte ihn nur verständnislos
angestarrt. Er blickte über die Schulter zurück auf Tam,
der in wortlose Lippenbewegungen versunken war.
Fieberträume, dachte er dumpf. Durch Fieber bekam man
immer schlimme Träume, und dies war eine Zeit für
Alpträume, selbst wenn man kein Fieber hatte. »Du bist
mein Vater«, sagte er laut und streckte die Hand aus, um
Tam zu berühren, »und ich bin...« Das Fieber war
schlimmer geworden. Viel schlimmer.
Grimmig entschlossen, wenn auch mühsam stand er auf.
Tam murmelte wieder etwas, aber Rand weigerte sich,
zuzuhören. Er stemmte sich mit dem ganzen Gewicht
gegen das improvisierte Geschirr. Er versuchte, sich auf
einen bleiernen Schritt nach dem anderen zu
konzentrieren und darauf, die Sicherheit von Emondsfeld
zu erreichen. Doch er konnte das Echo nicht aus dem
Hinterkopf vertreiben. Er ist mein Vater. Es war nur ein
Fiebertraum. Er ist mein Vater. Es war nur ein
Fiebertraum. Licht, wer bin ich?
KAPITEL 7
Abschied
Eine einzelne Laterne, die Klappen halb geschlossen, hing
an einem Nagel von einem Stallpfosten und warf ein
trübes Licht über die Szenerie. Die meisten Boxen wurden
von den tiefen Schatten verschluckt. Als Rand gleich
hinter Mat und dem Behüter durch das Tor eintrat, sprang
Perrin unter Strohrascheln von seinem Platz auf. Er hatte
mit dem Rücken an eine Boxentür gelehnt dagesessen. Ein
schwerer Umhang hüllte ihn ein.
Lan blieb nur ganz kurz stehen und wollte wissen:
»Hast du so genau nachgesehen, wie ich es dir gesagt habe,
Schmied?«
»Habe ich«, antwortete Perrin. »Hier ist niemand außer
uns. Warum sollte sich auch jemand verstecken...«
»Vorsicht und ein langes Leben sind gute Partner,
Schmied.« Der Behüter sah sich hastig in dem düsteren
Stall um, warf einen Blick hinauf in den noch dunkleren
Heuboden und schüttelte den Kopf. »Keine Zeit«,
murmelte er in sich hinein. »Beeil dich, hat sie gesagt.«
Um seinen eigenen Worten Folge zu leisten, schritt er
schnell hinüber, wo die fünf Pferde aufgezäumt und
gesattelt im dämmrigen Lichtkreis standen. Zwei davon
waren der schwarze Hengst und die weiße Stute, die Rand
schon zuvor gesehen hatte. Die anderen waren wohl nicht
so groß und geschmeidig, schienen aber zum Besten zu
gehören, was die Zwei Flüsse aufbieten konnten. Schnell,
aber sorgfältig überprüfte Lan die Sattelgurte und die
Lederriemen, die ihre Satteltaschen, Wasserschläuche und
Deckenrollen hinter den Sätteln festhielten.
Rand und seine Freunde lächelten sich unsicher an, und
er bemühte sich sehr, so zu wirken, als könne er den
Aufbruch gar nicht erwarten.
Zum ersten Mal bemerkte Mat das Schwert an Rands
Seite, und er zeigte darauf. »Wirst du jetzt auch ein
Behüter?« Er lachte, hielte aber gleich mit einem
schnellen Seitenblick auf Lan wieder inne. Der Behüter
hatte offensichtlich nichts bemerkt. »Oder zumindest
Leibwächter bei einem Kaufmann?« fuhr Mat mit einem
Grinsen fort, das nur ein ganz klein bißchen gezwungen
wirkte. Er hob seinen Bogen. »Die Waffe eines ehrlichen
Mannes ist nicht gut genug für ihn.«
Rand überlegte, ob er daraufhin sein Schwert
schwenken sollte, aber die Anwesenheit Lans hielt ihn
davon ab. Der Behüter blickte nicht einmal in ihre
Richtung, aber er war sicher, daß er alles aufnahm, was
um ihn herum geschah. Also sagte er übertrieben
nebensächlich: »Es könnte nützlich sein«, als sei das
Tragen eines Schwertes nichts Besonderes.
Perrin bewegte sich und versuchte, etwas unter seinem
Umhang zu verbergen. Rand erhaschte einen Blick auf
einen breiten Ledergürtel um die Taille des
Schmiedlehrlings. Der Stiel einer Axt steckte in einer
Schlaufe am Gürtel.
»Was hast du denn da?« fragte er.
»Noch ein Leibwächter«, johlte Mat.
Der junge Mann mit dem struppigen Haar sah Mat mit
einem Stirnrunzeln an, das darauf hindeutete, daß er schon
mehr als einmal Ziel von Mats Spott gewesen war. Dann
seufzte er tief und öffnete den Umhang weit genug, um
seine Axt zu enthüllen. Es war keine gewöhnliche
Holzfälleraxt. Mit einer breiten halbmondförmigen
Schneide auf einer Seite und einem gekrümmten Haken
auf der anderen wirkte sie genauso fremdartig wie Rands
Schwert. Doch Perrins Hand ruhte mit einer gewissen
Vertrautheit auf dem Stiel.
»Meister Luhhan hat sie vor etwa zwei Jahren für den
Leibwächter eines Wollaufkäufers gemacht. Aber als sie
fertig war, wollte der Bursche den vereinbarten Preis
nicht zahlen, und Meister Luhhan gab sie nicht für
weniger her. Er hat sie mir gegeben, als...« Er räusperte
sich und sah Rand genauso warnend an wie vorher Mat.
»... als er sah, wie ich damit übte. Er sagte, ich könne sie
haben, weil er sowieso nichts Vernünftiges daraus machen
könne.«
»Üben«, spöttelte Mat, bewegte aber die Hände in einer
beruhigenden Geste, als Perrin den Kopf hob. »Wie du
sagst. Es ist gut, wenn einer von uns mit einer richtigen
Waffe umgehen kann.«
»Dieser Bogen ist eine richtige Waffe«, sagte Lan
plötzlich. Er stützte einen Arm auf den Sattel seines
großen Rappen und betrachtete sie ernst. »Auch die
Steinschleudern, mit denen ich euch Dorfjungen gesehen
habe. Es macht keinen Unterschied, daß ihr sie bisher nur
benutzt habt, um Kaninchen zu jagen oder Wölfe von den
Schafen wegzutreiben. Alles kann zu einer Waffe werden,
wenn der Mann oder die Frau den Willen und die Kraft
dazu hat. Von den Trollocs einmal ganz abgesehen solltet
ihr euch daran erinnern, bevor wir die Zwei Flüsse
verlassen, bevor wir Emondsfeld verlassen, wenn ihr Tar
Valon lebendig erreichen wollt.«
Sein Gesicht und seine Stimme, kalt wie der Tod und
hart wie ein roh behauener Grabstein, erstickten ihr
Lächeln und ihre Worte. Perrin verzog das Gesicht und
zog seinen Umhang wieder über die Axt. Mat blickte auf
seine Füße hinunter und schob mit den Zehen Strohhalme
beiseite. Der Behüter brummte und wandte sich wieder
seiner Überprüfung zu. Das Schweigen zog sich in die
Länge.
»Es ist nicht gerade so wie in den Geschichten«, sagte
Mat schließlich.
»Ich weiß nicht«, meinte Perrin mürrisch. »Trollocs,
ein Behüter, eine Aes Sedai. Was wollt ihr denn noch?«
»Aes Sedai«, flüsterte Mat, der sich anhörte, als fröre
er.
»Glaubst du ihr, Rand?« fragte Perrin. »Ich meine, was
können die Trollocs von uns wollen?«
Gleichzeitig sahen sie alle den Behüter an. Lan schien
sich auf den Sattelgurt der weißen Stute zu konzentrieren.
Die drei zogen sich ein Stück von ihm zurück, nach hinten
zur Stalltür. Dort steckten sie die Köpfe zusammen und
sprachen leise miteinander.
Rand schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, aber sie
hatte recht damit, daß nur unsere beiden Höfe angegriffen
wurden. Und sie griffen Meister Luhhans Haus und die
Schmiede zuerst an, als sie hier im Dorf waren. Ich habe
den Bürgermeister gefragt. Es ist genauso leicht möglich,
daß sie hinter uns her sind wie hinter irgend jemand ande-
rem.« Plötzlich bemerkte er, daß beide ihn groß ansahen.
»Du hast den Bürgermeister gefragt?« fragte Mat
ungläubig. »Sie sagte doch, daß wir es niemandem
erzählen dürften.«
»Ich habe ihm nicht erzählt, warum ich es wissen will«,
protestierte Rand. »Wollt ihr mir weismachen, ihr habt
mit niemandem darüber gesprochen? Ihr habt niemandem
erzählt, daß ihr das Dorf verlaßt?«
Perrin zuckte schuldbewußt die Achseln. »Moiraine
sagte ›niemandem‹.«
»Wir haben Zettel geschrieben«, sagte Mat. »Für
unsere Familien. Sie werden sie morgen früh finden.
Rand, meine Mutter glaubt, Tar Valon käme noch vor
Shayol Ghul.« Er lachte ein wenig, um zu zeigen, daß er
ihre Anschauung nicht teilte. Es klang nicht sehr
überzeugend. »Sie würde versuchen, mich im Keller
einzusperren, wenn sie wüßte, daß ich auch nur mit dem
Gedanken spiele, dorthinzugehen.«
»Meister Luhhan ist so stur wie ein Felsblock«, fügte
Perrin hinzu, »und Frau Luhhan ist noch schlimmer.
Wenn ihr gesehen hättet, wie sie in den Trümmern des
Hauses herumgrub und sagte, sie hoffe, die Trollocs
kämen wieder, damit sie sie in die Finger bekäme...«
»Versengen soll mich das Licht, Rand«, sagte Mat. »Ich
weiß, sie ist eine Aes Sedai, aber die Trollocs waren
wirklich hier. Sie sagte, wir sollten es niemandem
erzählen. Wenn schon eine Aes Sedai nicht weiß, was man
dagegen tun kann – wer dann?«
»Keine Ahnung.« Rand rieb sich die Stirn. Sein Kopf
schmerzte, und er konnte diesen Traum nicht loswerden.
»Mein Vater glaubt ihr. Zumindest stimmte er zu, daß wir
gehen müßten.«
Plötzlich stand Moiraine in der Tür. »Du hast mit
deinem Vater über diese Reise gesprochen?« Sie war von
Kopf bis Fuß in dunkles Grau gekleidet, mit einem
Hosenrock zum Reiten, und nun war der Schlangenring
der einzige Gegenstand aus Gold, den sie noch trug.
Rand beäugte ihren Wanderstock. Trotz der Flammen,
die er gesehen hatte, sah er keine verkohlten Stellen und
nicht einmal Ruß. »Ich konnte nicht aufbrechen, ohne es
ihm zu erzählen.«
Sie betrachtete ihn einen Moment lang mit gespitzten
Lippen, bevor sie sich an die anderen wandte. »Und habt
ihr auch beschlossen, daß ein Zettel nicht genügt?« Mat
und Perrin redeten durcheinander und versicherten ihr,
sie hätten lediglich Zettel hinterlassen, so wie sie gesagt
hatte. Sie nickte, brachte sie mit einer Handbewegung zum
Schweigen und blickte Rand scharf an. »Was geschehen
ist, wurde bereits in das Muster eingewebt. Lan?«
»Die Pferde stehen bereit«, sagte der Behüter, »und wir
haben genügend Proviant dabei, um Baerlon zu erreichen,
und noch etwas als Reserve. Wir können jederzeit
aufbrechen. Ich schlage vor: gleich jetzt.«
»Nicht ohne mich.« Egwene schlüpfte in den Stall, im
Arm ein in einen Schal gewickeltes Bündel. Rand stolperte
beinahe über die eigenen Füße.
Lans Schwert war schon halb aus der Scheide gezogen,
doch als er sie erkannte, schob er die Klinge zurück, und
seine Augen wurden ausdruckslos. Perrin und Mat
beteuerten, daß sie Egwene nichts von ihrer Abreise
gesagt hätten. Die Aes Sedai beachtete sie nicht; sie blickte
Egwene an und tippte sich gedankenversunken mit einem
Finger auf die Lippen.
Die Kapuze von Egwenes dunkelbraunem Umhang war
hochgezogen, doch nicht genug, um den trotzigen
Gesichtsausdruck zu verbergen, mit dem sie Moiraine in
die Augen sah. »Ich habe hier alles, was ich brauche,
einschließlich Lebensmittel. Und ich werde nicht
hierbleiben. Ich habe vielleicht nie wieder eine
Möglichkeit, die Welt jenseits der Zwei Flüsse
kennenzulernen.«
»Das wird kein Picknickausflug zum Wasserwald,
Egwene«, grollte Mat. Er trat einen Schritt zurück, als sie
ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen anblickte.
»Danke, Mat. Ohne dich hätte ich das gar nicht
bemerkt. Glaubt ihr, ihr drei wärt die einzigen, die wissen
wollen, wie es draußen aussieht? Ich habe davon
genausolange geträumt wie ihr, und ich habe nicht vor,
diese Gelegenheit zu versäumen.«
»Wie hast du herausgefunden, daß wir abreisen?«
wollte Rand wissen. »Und außerdem kannst du nicht
mitkommen. Wir gehen ja nicht aus purem Vergnügen
weg. Die Trollocs sind hinter uns her.«
Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Er lief rot an
und stand ganz steif vor Entrüstung da.
»Zuerst«, erklärte sie ihm geduldig, »sah ich Mat
herumschleichen und sich bemühen, unbemerkt zu
bleiben. Dann sah ich, wie Perrin diese lächerliche
Riesenaxt unter seinem Umhang verbarg. Ich wußte, daß
Lan ein Pferd gekauft hatte, und plötzlich fragte ich mich,
wozu er ein weiteres Pferd brauchte. Und wenn er eines
kaufte, konnte er auch noch mehr kaufen. All das
zusammen mit der Tatsache, daß Mat und Perrin
herumschlichen wie Kälber, die vorgeben, Füchse zu
sein... Na ja, es gab nur eine Antwort. Ich bin mir nicht
klar darüber, ob ich überrascht bin oder nicht, dich auch
hier zu finden, Rand, nachdem du so oft über deine
Tagträume gesprochen hast. Aber wenn Mat und Perrin in
der Sache drinstecken, sollte ich ja eigentlich wissen, daß
du auch mit von der Partie bist.«
»Ich muß gehen, Egwene«, sagte Rand. »Wir alle
müssen gehen, oder die Trollocs kommen zurück.«
»Die Trollocs!« Egwene lachte ungläubig. »Rand, wenn
du dich entschlossen hast, etwas von der Welt sehen zu
wollen, schön und gut, aber tisch mir nicht so ein
Märchen auf!«
»Es ist wahr«, sagte Perrin gerade, als Mat begann:
»Die Trollocs...«
»Genug«, sagte Moiraine ruhig, doch das Gespräch war
wie mit einem Messer abgeschnitten. »Hat noch jemand
etwas bemerkt?« Ihre Stimme klang sanft, aber Egwene
schluckte und richtete sich auf, bevor sie antwortete.
»Nach der letzten Nacht können sie nur noch an den
Wiederaufbau denken und daran, was zu tun ist, wenn es
wieder geschieht. Sie sähen sonst nichts, es sei denn, man
hält es ihnen direkt unter die Nase. Und ich habe
niemandem von meinem Verdacht erzählt. Niemandem!«
»Sehr gut«, sagte Moiraine nach einer Pause. »Du
kannst mit uns kommen.«
Lans Gesicht zeigte einen Augenblick lang
Überraschung. Dann war sie wieder verflogen, und er
blieb äußerlich ruhig, doch zornig brach es aus ihm
heraus: »Nein, Moiraine!«
»Es ist jetzt ein Teil des Großen Musters, Lan.«
»Das ist lächerlich!« gab er zurück. »Es gibt keinen
Grund, warum sie mitkommen sollte, und alle Gründe
sprechen sogar dagegen.«
»Es gibt einen Grund dafür«, sagte Moiraine gelassen.
»Ein Teil des Musters, Lan.« Das steinerne Gesicht des
Behüters zeigte keine Regung, doch er nickte langsam.
»Aber Egwene«, sagte Rand, »die Trollocs werden uns
jagen. Wir werden nicht in Sicherheit sein, bevor wir Tar
Valon erreichen.«
»Versuch nicht, mir Angst einzujagen«, bat sie. »Ich
komme mit.«
Rand kannte diesen Tonfall. Er hatte ihn nicht mehr
vernommen, seit sie zu der Ansicht gekommen war, daß
nur Kinder auf die höchsten Bäume klettern, aber er
erinnerte sich gut daran. »Wenn du glaubst, es macht
Spaß, von Trollocs gejagt zu werden...«, begann er, aber
Moiraine unterbrach ihn.
»Wir haben keine Zeit mehr für so etwas. Bei
Tagesanbruch müssen wir so weit wie möglich entfernt
sein von hier. Wenn wir sie zurücklassen, Rand, könnte
sie das ganze Dorf in Aufruhr bringen, bevor wir noch
eine Meile weg sind, und das würde ganz sicher den
Myrddraal warnen.«
»Das würde ich nicht tun!« protestierte Egwene.
»Sie kann auf dem Pferd des Gauklers reiten«, sagte
der Behüter. »Ich werde ihm genug Geld dalassen, damit
er ein anderes Pferd kaufen kann.«
»Das ist kaum möglich«, kam Thom Merrilins
widerhallende Stimme vom Heuboden. Diesmal fuhr Lans
Schwert aus der Scheide, und er steckte es nicht zurück,
als er nach dem Gaukler dort oben Ausschau hielt.
Thom warf eine Deckenrolle hinunter, zog sich dann
die Riemen des Flötenkastens und an der Harfe über den
Rücken und schulterte pralle Satteltaschen. »Dieses Dorf
braucht mich nicht, und andererseits habe ich meine
Künste noch nie in Tar Valon gezeigt. Obwohl ich für
gewöhnlich allein reise, habe ich nach der letzten Nacht
nichts mehr gegen das Reisen in Gesellschaft.«
Der Behüter sah Perrin scharf an, und dieser trat
verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Ich habe nicht
daran gedacht, den Heuboden zu untersuchen«, murmelte
er.
Als der staksige Gaukler die Leiter vom Heuboden
herunterkletterte, sagte Lan ganz steif und formell: »Ist
das auch ein Teil des Großen Musters, Moiraine Sedai?«
»Alles ist ein Teil des Musters, mein alter Freund«,
antwortete Moiraine sanft. »Wir können uns das nicht
aussuchen. Aber wir werden ja sehen.«
Thom setzte die Füße auf den Fußboden des Stalles,
drehte sich von der Leiter weg und wischte sich die
Strohhalme von dem Flickenumhang. »Tatsächlich«, sagte
er in normalerem Tonfall, »könnte man sagen, daß ich auf
Gesellschaft beim Reisen bestehe. Ich habe viele Stunden
gebraucht und viele Krüge Bier geleert, um darüber
nachzudenken, wie ich einst wohl meine Tage beschließen
werde. Der Kochtopf eines Trollocs tauchte allerdings
dabei nicht auf.« Er sah mißtrauisch das Schwert des
Behüters an. »Das da ist nicht nötig. Ich bin kein Käse,
den man aufschneidet.«
»Meister Merrilin«, sagte Moiraine, »wir müssen
schnell aufbrechen und befinden uns höchstwahrscheinlich
in großer Gefahr. Die Trollocs sind immer noch da
draußen, und wir reiten bei Nacht. Seid Ihr sicher, daß
Ihr mit uns reisen möchtet?«
Thom betrachtete sie alle mit einem rätselhaften
Lächeln. »Wenn es nicht zu gefährlich für das Mädchen
ist, dann kann es auch für mich nicht zu gefährlich sein.
Außerdem, welcher Gaukler nähme nicht gern ein wenig
Gefahr in Kauf, wenn er dafür seine Kunst in Tar Valon
zeigen kann?«
Moiraine nickte, und Lan schob sein Schwert in die
Scheide zurück. Rand fragte sich plötzlich, was wohl
geschehen wäre, hätte Thom seine Meinung geändert oder
Moiraine nicht genickt. Der Gaukler sattelte sein Pferd,
als wären ihm solche Gedanken nie gekommen, aber Rand
bemerkte, daß er Lans Schwert mehr als einmal ansah.
»Nun aber«, sagte Moiraine, »welches Pferd soll
Egwene benutzen?«
»Die Pferde des Händlers sind genauso schlecht wie die
Dhurran-Hengste«, antwortete der Behüter mürrisch.
»Kräftig, aber sie kommen nur langsam voran.«
»Bela«, sagte Rand. Ein Blick Lans traf ihn, und er
wünschte, er hätte seinen Mund gehalten. Aber er wußte,
daß er Egwene nicht davon abbringen konnte, also blieb
ihm nichts anderes übrig, als zu helfen. »Bela ist vielleicht
nicht so schnell wie die anderen, aber sie ist kräftig. Ich
reite sie manchmal. Sie kann mithalten.«
Lan schaute in Belas Box, wobei er leise vor sich hin
fluchte. »Sie ist vielleicht ein wenig besser als die
anderen«, sagte er schließlich. »Ich glaube nicht, daß wir
eine Wahl haben.«
»Dann muß es sein«, sagte Moiraine. »Rand, such bitte
einen Sattel für Bela. Schnell jetzt! Wir haben uns schon
zu lange aufgehalten.«
Rand suchte rasch einen Sattel und eine Decke im
Sattelraum und holte Bela dann aus ihrer Box. Die Stute
drehte den Kopf nach hinten und sah ihn in
schlaftrunkener Überraschung an, als er ihr den Sattel auf
den Rücken legte. Wenn er sie einmal ritt, dann
gewöhnlich ohne Sattel; sie war nicht daran gewöhnt. E r
sprach beruhigend auf sie ein, während er den Sattelgurt
befestigte, und sie nahm das Außergewöhnliche mit einem
Schütteln der Mähne hin.
Er nahm Egwene ihr Bündel ab und schnallte es hinter
den Sattel. Derweil stieg sie auf und ordnete ihren Rock.
Der war nicht als Hosenrock geteilt, also konnte man ihre
Wollstrümpfe bis zum Knie sehen. Sie trug die gleichen
Schuhe aus weichem Leder wie die anderen Mädchen aus
dem Dorf. Sie waren absolut nicht geeignet für eine Reise
nach Wachhügel, geschweige denn nach Tar Valon.
»Ich bin immer noch der Meinung, daß du nicht
mitkommen solltest«, sagte Rand. »Ich habe das mit den
Trollocs nicht erfunden. Aber ich verspreche dir, daß ich
auf dich aufpassen werde.«
»Vielleicht muß ich auf dich aufpassen«, antwortete sie
leichthin. Als er sie verzweifelt ansah, lächelte sie und
streichelte ihm über das Haar. »Ich weiß, daß du auf mich
aufpassen wirst, Rand. Wir werden beide aufeinander
aufpassen. Aber jetzt mußt du schauen, daß du auf dein
Pferd kommst.«
Er merkte, daß alle anderen bereits aufgesessen waren
und auf ihn warteten. Das einzige Pferd, das noch ohne
Reiter war, war Wolke, ein großer Grauer mit schwarzer
Mähne, der Jon Thane gehörte oder gehört hatte. Rand
kletterte in den Sattel, allerdings nicht ohne
Schwierigkeiten, denn der Graue warf den Kopf hoch und
tänzelte seitwärts, als er den Fuß in den Steigbügel stellte.
Die Scheide verfing sich in seinen langen Beinen. Es war
kein Zufall, daß die Freunde Wolke verschmäht hatten.
Meister Thane hatte mit dem lebhaften Grauen den
Pferden der Kaufleute häufig Rennen geliefert, und Thane
hatte noch keine Niederlage erlebt, aber Wolke hatte es
seinem Reiter noch nie leichtgemacht. Lan mußte einen
hohen Preis bezahlt haben, damit der Müller das Pferd
verkaufte. Als Rand sich im Sattel niederließ, wurde
Wolkes Tänzeln noch heftiger, als freue sich der Graue
darauf, losgaloppieren zu können. Rand griff die Zügel
ganz fest und versuchte sich einzureden, daß es keine
Schwierigkeiten geben werde. Wenn er sich selbst
überzeugen konnte, dann vielleicht auch das Pferd.
Eine Eule schrie durch die Nacht, und die
Dorfbewohner fuhren zusammen, bevor sie erkannten,
daß es nur ein Vogel war. Dann lachten sie nervös und
sahen sich verschämt an.
»Als nächstes werden wir noch vor einer Feldmaus auf
die Bäume klettern«, sagte Egwene mit einem unsicheren
Auflachen. Lan schüttelte den Kopf. »Es wäre besser,
wenn es Wölfe gewesen wären.«
»Wölfe!« rief Perrin, und der Behüter bedachte ihn mit
einem teilnahmslosen Blick.
»Wölfe können Trollocs nicht leiden, Schmied, und
Trollocs mögen keine Wölfe oder Hunde. Wenn ich Wölfe
hören würde, könnte ich sicher sein, daß da draußen keine
Trollocs auf uns warten.« Er schritt mit seinem
hochgewachsenen Schwarzen langsam hinaus in die
mondhelle Nacht.
Moiraine ritt ihm ohne einen Moment des Zögerns
nach, und Egwene hielt sich an der Seite der Aes Sedai.
Rand und der Gaukler kamen zum Schluß, nach Mat und
Perrin.
Die Rückseite der Schenke war dunkel und still, und
der Mond warf Schatten in den Stallhof. Das sanfte
Klappern der Hufe verflog schnell und wurde von der
Nacht verschluckt. In der Dunkelheit machte der Umhang
den Behüter gleichermaßen zum Schatten. Nur die
Notwendigkeit, sich von ihm führen zu lassen, hielt die
anderen davon ab, sich ängstlich um ihn zu scharen. Aus
dem Dorf herauszukommen, ohne gesehen zu werden, war
keine leichte Aufgabe. Das wurde Rand klar, als sie sich
dem Tor näherten. Zumindest sollten sie von den
Dorfbewohnern nicht gesehen werden. Hinter vielen
Fenstern im Dorf glimmten blasse gelbe Lichter, und
obwohl diese Lichter in der Nacht sehr klein wirkten, sah
man häufig Schatten sich bewegen, die Schatten von
Dorfbewohnern, die hinausblickten, um zu sehen, was
diese Nacht mit sich brachte. Keiner wollte nochmals
überrascht werden.
Im tiefsten Schatten neben der Schenke, gerade als sie
den Stallhof verlassen wollten, hielt Lan plötzlich an und
forderte sie mit einer scharfen Geste zum Schweigen auf.
Stiefel polterten über die Wagenbrücke, und hier und
da glitzerte Metall im Mondlicht auf. Die Stiefel verließen
die Brücke – Kies knirschte unter ihren Sohlen – und
kamen auf die Schenke zu. Kein Laut war von den im
Schatten Wartenden zu hören. Rand hatte den Verdacht,
daß zumindest seine Freunde viel zuviel Angst hatten, um
irgendein Geräusch zu machen. Genau wie er.
Die Schritte verstummten vor der Schenke im
Dämmerlicht jenseits der trübe beleuchteten Fenster des
Schankraums. Erst als Jon Thane vortrat, einen Speer
über die kräftige Schulter gelegt, ein altes Lederwams mit
aufgenähten Stahlscheiben um den Oberkörper geschnallt,
erkannte Rand, wer es war: ein Dutzend Männer aus dem
Dorf oder den umliegenden Bauernhöfen, einige mit
Helmen oder Teilen von Rüstungen bewehrt, die
generationenlang auf den Speichern Staub gesammelt
hatten, alle mit einem Speer oder einer Holzfälleraxt oder
einer verrosteten Pike bewaffnet.
Der Müller spähte durch eines der Fenster zum
Schankraum und wandte sich dann mit einem kurzen:
»Sieht so aus, als sei hier alles in Ordnung« wieder ab.
Die anderen formierten sich in zwei unregelmäßigen
Reihen hinter ihm, und die Patrouille marschierte in die
Nacht hinaus, als gehorche sie drei verschiedenen
Trommelwirbeln gleichzeitig.
»Zwei Dha'vol Trollocs würden genügen, um sie alle
zum Frühstück zu verspeisen«, murmelte Lan, als das
Geräusch der Stiefel verklungen war, »aber sie haben
Augen und Ohren.« Er drehte seinen Hengst herum.
»Kommt!«
Langsam und leise führte der Behüter sie zurück durch
den Stallhof, die Uferböschung hinunter, an den Weiden
vorbei und in den Weinquellenbach. Trotz der Nähe zur
Weinquelle war das kalte, schnell fließende Wasser, das
um die Beine der Pferde spülte und im Mondschein
schimmerte, tief genug, um gegen die Sohlen der
Reitstiefel zu plätschern.
Am gegenüberliegenden Ufer kletterten sie hinaus, und
die Pferde suchten sich ihren Weg unter der sicheren
Anleitung des Behüters, wobei sie sich von allen Häusern
des Dorfes fernhielten. Von Zeit zu Zeit hielt Lan an und
bedeutete allen, sich ruhig zu verhalten, obwohl sonst
niemand etwas sah oder hörte. Jedesmal allerdings kam
kurz darauf eine weitere Patrouille von Dorfbewohnern
und Bauern vorbei. Langsam kamen sie dem Nordende
des Dorfes näher.
Rand sah die Häuser mit ihren hohen Giebeln im
Dunklen so genau wie möglich an und versuchte, sie sich
einzuprägen. Ich bin ein toller Abenteurer, dachte er. E r
hatte noch nicht einmal das Dorf verlassen und hatte schon
Heimweh. Aber er betrachtete die Häuser weiterhin.
Sie passierten die letzten Bauernhäuser in den
Außenbezirken des Dorfs und erreichten das unbewohnte
Land. Sie hielten sich parallel zur Nordstraße, die nach
Taren-Fähre führte. Rand fand, daß es sicherlich
nirgendwo anders einen so schönen Nachthimmel gab wie
über den Zwei Flüssen. Das klare Schwarz schien in die
Ewigkeit zu greifen, und Myriaden von Sternen glitzerten
wie Lichtpunkte in einem Kristall. Der Mond, nur eine
dünne Sichelbreite schmaler als im vollen Zustand, schien
greifbar nahe. Wenn er sich streckte und...
Eine schwarze Gestalt flog langsam über den silbernen
Mondball. Rands unwillkürlicher Ruck an den Zügeln
brachte den Grauen zum Stehen. Eine Fledermaus, dachte
er mit weichen Knien, doch er wußte, daß es keine
gewesen war. Fledermäuse waren ein häufiger Anblick an
den Abenden, wenn sie im Zwielicht hinter Fliegen und
Faltern herjagten. Die Flügel, die das unbekannte Wesen
trugen, mochten wohl die gleiche Form haben, aber sie
bewegten sich mit den langsamen, kraftvollen Schlägen
eines Raubvogels. Und es jagte. Die Art, wie es in weiten
Bögen hin- und zurückflog, ließ darüber keinen Zweifel
aufkommen. Am schlimmsten aber war seine Größe.
Wenn eine Fledermaus sich so groß vom Mondball abhob,
dann mußte sie schon die Reichweite von menschlichen
Armen haben. Er versuchte, ungefähr zu berechnen, wie
weit entfernt und wie groß dieses Wesen war. Der Körper
mußte Menschengröße haben und die Flügel... Wieder
durchflog es die Mondsilhouette und kreiste dann plötzlich
nach unten, um von der Nacht verhüllt zu werden.
Er hatte nicht bemerkt, daß Lan zu ihm zurückgeritten
war, bis ihn der Behüter am Arm packte. »Was sitzt du
hier und starrst in die Luft, Junge? Wir müssen weiter.«
Die anderen warteten hinter Lan.
Er rechnete fast damit, daß man ihm sagen würde, er
hätte aus Angst vor den Trollocs die Nerven verloren.
Trotzdem berichtete Rand, was er gesehen hatte. E r
hoffte, Lan werde es als Fledermaus oder als optische
Täuschung abtun.
Lan grollte ein Wort, das klang, als hinterließe es einen
schlechten Geschmack im Mund: »Draghkar.« Egwene
und die anderen von den Zwei Flüssen suchten nervös den
Himmel in allen Richtungen ab, aber der Gaukler stöhnte
leise auf.
»Ja«, sagte Moiraine, »es wäre vermessen, auf etwas
anderes zu hoffen. Und wenn der Myrddraal einen
Draghkar bei seinen Truppen hat, dann wird er bald
wissen, wo wir sind, wenn er es nicht bereits weiß. Wir
müssen noch schneller querfeldein vorwärtskommen. Wir
können vielleicht Taren-Fähre noch vor dem Myrddraal
erreichen, und die Trollocs und er werden den Fluß nicht
so leicht überqueren wie wir.«
»Ein Draghkar?« fragte Egwene. »Was ist das?«
Es war Thom Merrilin, der ihr heiser antwortete. »In
dem Krieg, der das Zeitalter der Legenden beendete,
wurden noch schlimmere Wesen als Trollocs und
Halbmenschen erschaffen.«
Moiraines Kopf schnellte zu ihm herum, als er das
sagte. Nicht einmal die Dunkelheit konnte die Schärfe in
ihrem Blick verbergen.
Bevor jemand den Gaukler bitten konnte, mehr zu
erzählen, begann Lan, Befehle zu erteilen. »Wir benutzen
jetzt die Nordstraße. Um euer Leben willen – folgt meiner
Führung und bleibt dicht zusammen.«
Er riß sein Pferd herum, und die anderen galoppierten
wortlos hinterher.
KAPITEL 11
Entscheidungen
Bevor sie einschliefen, kniete Moiraine neben jedem von
ihnen nieder und legte ihnen die Hände auf den Kopf. Lan
schimpfte, er brauche das nicht, und sie solle ihre Kraft
nicht verschwenden, doch er versuchte nicht ernsthaft, sie
daran zu hindern. Egwene drängte sich beinahe nach
dieser Erfahrung, während Mat und Perrin eindeutig
Angst hatten, sich aber auch davor fürchteten, nein zu
sagen. Thom zuckte unter den Händen der Aes Sedai
zusammen, aber sie ergriff energisch seinen grauen Kopf,
mit einem Blick, der keinen Widerspruch erlaubte. Der
Gaukler machte die ganze Prozedur hindurch ein saures
Gesicht. Sie lächelte spöttisch, als sie die Hände wieder
wegnahm. Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, aber
er sah erfrischt aus. Sie alle wirkten erholt.
Rand hatte sich in eine Nische in der unregelmäßig
verlaufenden Wand zurückgezogen und hoffte, übersehen
zu werden. Seine Augen schlossen sich beinahe von selbst,
als er sich gegen das Gewirr von Stämmen und Gestrüpp
lehnte, doch er zwang sich zum Zuschauen. Er hielt die
Hand vor den Mund und versuchte, das Gähnen zu
unterdrücken. Ein wenig Schlaf, ein oder zwei Stunden,
und er würde sich wieder wohler fühlen. Aber Moiraine
übersah ihn nicht.
Er zuckte ebenfalls ein wenig zusammen, als er ihre
kühlen Finger auf seinem Gesicht fühlte, und sagte: »Ich
glaube nicht...« Seine Augen weiteten sich erstaunt. Die
Müdigkeit rann aus ihm heraus wie Wasser den Berg
hinunter; Schmerzen und Muskelkater wurden zu
schwachen Erinnerungen und verschwanden ganz. Er sah
sie mit offenem Mund an. Sie lächelte nur und zog die
Hände zurück.
»Es ist vollbracht«, sagte sie und stand mit einem
müden Seufzer auf, der ihn daran erinnerte, daß sie für
sich selbst nichts tun konnte. Sie trank nur ein wenig Tee
und lehnte Brot und Käse ab, die Lan ihr aufzudrängen
versuchte, bevor sie sich am Feuer zusammenrollte. Sie
schien im gleichen Moment einzuschlafen, nachdem sie
ihren Umhang um sich gewickelt hatte.
Die anderen, alle außer Lan jedenfalls, schliefen ein,
wo immer sie ein Plätzchen zum Ausstrecken fanden,
obwohl sich Rand nicht vorstellen konnte, warum. E r
fühlte sich, als habe er bereits eine ganze Nacht in einem
guten Bett hinter sich. Doch kaum hatte er sich bequem
gegen die grüne Wand gelehnt, da schlief er auch schon
ein. Als Lan ihn eine Stunde später wachrüttelte, fühlte er
sich, als habe er drei Tage lang geruht.
Der Behüter weckte alle bis auf Moiraine und
unterdrückte auf ernste Art jeden Laut, der ihren Schlaf
stören konnte. Trotzdem gestattete er ihnen nur einen
kurzen Aufenthalt in der gemütlichen Baumhöhle. Kaum
hatte die Sonne sich über dem Horizont erhoben, waren
alle Spuren verwischt, und saßen alle auf ihren Pferden
und waren unterwegs nach Norden, in Richtung Baerlon.
Sie ritten langsam, damit die Pferde ihre Kräfte schonen
konnten. Unter den Augen der Aes Sedai lagen tiefe
Schatten, aber sie saß aufrecht und ruhig im Sattel.
Über dem Fluß lag immer noch dichter Nebel, eine
graue Mauer, die den kraftlosen Sonnenstrahlen
erfolgreich widerstand. Die Zwei Flüsse lagen verborgen
dahinter. Rand blickte beim Reiten öfter über die Schulter
zurück und hoffte auf einen letzten Blick, wenigstens auf
Taren-Fähre, bis schließlich die Nebelbank dem Blick
entschwand.
»Ich hätte nie geglaubt, daß ich mich einmal so weit
weg von zu Hause befände«, sagte er, als die Bäume
schließlich den Nebel wie auch den Fluß verbargen.
»Erinnert ihr euch noch daran, als Wachhügel so weit weg
schien?« Das war vor zwei Tagen. Es erscheint mir wie
eine Ewigkeit.
»In spätestens zwei Monaten sind wir zurück«, sagte
Perrin in angespanntem Tonfall. »Denkt mal, was wir
dann alles zu erzählen haben!«
»Selbst die Trollocs können uns nicht ewig jagen«,
meinte Mat. »Versengen soll mich das Licht, aber das
können sie doch nicht.« Er richtete sich mit einem tiefen
Seufzer im Sattel auf und sackte wieder zusammen, als
glaube er kein Wort von dem Gesagten.
»Männer!« schnaubte Egwene. »Da bekommt ihr
endlich die Abenteuer, über die ihr immer geschwatzt
habt, und schon redet ihr wieder über zu Hause.« Sie hielt
den Kopf hoch erhoben, und doch bemerkte Rand ein
leises Zittern in ihrer Stimme, jetzt, da man nichts mehr
von den Zwei Flüssen sah.
Weder Moiraine noch Lan unternahmen einen Versuch,
sie zu beruhigen. Kein Wort, um ihnen zu sagen, daß sie
zurückkehren würden. Er versuchte, nicht daran zu
denken, was das bedeuten mochte. Sogar in ausgeruhtem
Zustand wurde er von Zweifeln geplagt, so daß er nicht
noch mehr davon gebrauchen konnte. Im Sattel
zusammengesunken flüchtete er sich in einen Tagtraum.
Er hütete neben Tam Schafe auf einer Weide mit dichtem
üppigen Gras. Die Lerchen sangen von einem
Frühlingsmorgen. Und eine Fahrt nach Emondsfeld zum
Bel Tine, so wie es gewesen war. Er tanzte auf dem Grün,
und seine einzige Sorge war, nicht beim nächsten
Tanzschritt zu stolpern. Er brachte es fertig, sich lange
Zeit in diesen Traum zu versenken.
Der Ritt nach Baerlon dauerte fast eine Woche. Lan
beschwerte sich zwar über ihre Bummelei, aber er war es,
der die Geschwindigkeit bestimmte und die anderen
zwang, sie einzuhalten. Mit sich und seinem Hengst
Mandarb – er sagte, das heiße ›Klinge‹ in der Alten
Sprache – ging er nicht so rücksichtsvoll um. Der Behüter
legte die doppelte Strecke der anderen zurück. E r
galoppierte mit im Wind flatterndem Umhang voraus, um
zu sehen, was vor ihnen lag, oder er ließ sich zurückfallen
und suchte den Weg hinter ihnen nach Verfolgern ab.
Jeder andere jedoch, der sich schneller als im Schrittempo
zu bewegen versuchte, wurde ausgescholten, weil er keine
Rücksicht auf die Tiere nahm, und mußte sich ein paar
beißende Sätze anhören, was er wohl zu Fuß unternehmen
würde, wenn die Trollocs erst erschienen. Nicht einmal
Moiraine war vor seiner scharfen Zunge sicher, wenn sie
ihre weiße Stute in Trab setzte. Aldieb war der Name der
Stute; in der Alten Sprache hieß das ›Westwind‹ – der
Wind, der den Frühlingsregen brachte.
Der Spürsinn des Behüters erbrachte kein Zeichen einer
Verfolgung oder eines Hinterhalts. Er erzählte nur
Moiraine, was er sah, und das so leise, daß niemand sonst
es verstehen konnte, und dann berichtete die Aes Sedai den
anderen, was sie für berichtenswert hielt. Anfangs blickte
Rand genauso oft nach hinten wie nach vorn. Er war nicht
der einzige. Perrin griff oft nach seiner Axt, und Mat ritt
mit einem Pfeil auf der Sehne, jedenfalls anfangs. Aber
das Land hinter ihnen blieb leer von Trollocs oder
Gestalten in schwarzen Mänteln, und am Himmel zeigte
sich kein Draghkar. Allmählich glaubte Rand daran, daß
sie wirklich und wahrhaftig entkommen waren.
Selbst die dichtesten Stellen des Waldes boten keine
ausreichende Deckung. Der Winter hielt sich hier,
nördlich des Taren, genauso zäh wie bei den Zwei
Flüssen. Gruppen von Kiefern, Tannen oder
Lederblattbäumen und hier und da ein paar
Gewürzsträucher oder Lorbeerbäumchen hoben sich von
den kahlen grauen Bäumen ab. Nicht einmal beim
Holunder zeigten sich Blätter. Nur vereinzelt sprießten die
grünen Spitzen von neuem Gras aus den braunen, vom
Schnee niedergedrückten Wiesen hervor. Auch hier
wuchsen vor allem Brennesseln, Disteln und Stinkkraut.
Auf dem nackten Waldboden hielten sich letzte
Schneereste, wo schattige Stellen die Sonne abhielten, oder
in kleinen Mulden unter den niedrigen Ästen der Tannen.
Die Gefährten zogen die Umhänge fester um die
Schultern, denn das blasse Sonnenlicht verströmte keine
Wärme, und die nächtliche Kälte war beißend. Genauso
wie bei den Zwei Flüssen flogen auch hier keine Vögel,
nicht einmal Raben umher.
Wenn sie sich auch langsam vorwärtsbewegten, so
konnten sie sich doch keineswegs entspannen. Die
Nordstraße – Rand nannte sie immer noch so, obwohl er
vermutete, daß sie hier, nördlich des Taren, einen anderen
Namen hatte – verlief noch immer fast direkt Richtung
Norden, aber Lan bestand darauf, daß ihr Weg so oft wie
möglich in dieser oder jener Richtung abwich und durch
den Wald führte, fast genauso oft, wie sie der festen
Lehmspur der Straße folgten. Ein Dorf, ein Bauernhof
oder irgendein Anzeichen von Menschen oder von
menschlicher Besiedelung veranlaßte sie zu meilenweiten
Umwegen. Sie begegneten aber nicht vielen solcher
Spuren. Den ganzen ersten Tag über sah Rand, abgesehen
von der Straße, überhaupt kein Anzeichen dafür, daß sich
Menschen je in diesem Wald aufgehalten hatten. Ein
Gedanke kam ihm, daß er selbst zu jener Zeit, als er zum
Fuß der Verschleierten Berge gewandert war,
menschlichen Siedlungen näher gewesen war als heute.
Der erste Bauernhof, den er sah – ein großes Holzhaus
mit einer hohen Scheune und spitzen strohgedeckten
Giebeldächern (aus einem gemauerten Schornstein drang
eine Rauchwolke) –, erschreckte ihn deshalb
einigermaßen.
»Es ist nicht anders als zu Hause«, sagte Perrin, der
finster zu den fernen Gebäuden hinüberblickte. Menschen
bewegten sich im Hof. Sie hatten die Reisenden noch nicht
entdeckt.
»Natürlich ist es anders«, sagte Mat. »Wir sind einfach
noch nicht nahe genug.«
»Ich sage euch, es ist nicht anders«, beharrte Perrin.
»Doch! Wir sind schließlich nördlich des Taren.«
»Ruhig, ihr beiden!« grollte Lan. »Wir wollen nicht
gesehen werden, ja? Hier entlang!« Er wandte sich
Richtung Westen, um den Hof durch die Bäume herum zu
umgehen.
Beim Zurückschauen dachte Rand, daß er Perrin recht
geben mußte. Der Hof sah ziemlich gleich aus wie alle in
der Gegend um Emondsfeld. Da war ein kleiner Junge,
der Wasser aus dem Brunnen schöpfte, und ältere Jungen
hüteten Schafe hinter einem Lattenzaun. Es gab sogar
einen Trockenschuppen für Tabak. Aber Mat hatte auch
recht. Wir befinden uns nördlich des Taren. Es muß
einfach anders sein.
Sie machten immer Rast, wenn es noch hell war, um
einen Platz auszusuchen, der einen leichten Abhang
aufwies, damit das Wasser abfließen konnte, und sie vor
dem Wind schützte, der nur selten ganz einschlief. Meist
änderte er lediglich die Richtung. Ihr Lagerfeuer war
immer klein und so geschickt versteckt, daß man es auf
wenige Schritte Entfernung nicht mehr sehen konnte.
Sobald der Tee gekocht war, wurden die Flammen
gelöscht und die Kohlen vergraben.
Beim ersten Halt, bevor die Sonne sank, begann Lan
damit, die Jungen im Umgang mit ihren Waffen zu
unterweisen. Er nahm als erstes den Bogen. Nachdem er
beobachtet hatte, wie Mat drei Pfeile in einem
männerkopfgroßen Ziel auf dem gespaltenen Stumpf eines
toten Lederblattbaums landete – auf hundert Schritt
Entfernung –, nahm er die anderen an die Reihe. Perrin
wiederholte Mats Leistung, und Rand, der die Flamme
und das Nichts in sich beschwor und damit die leere Ruhe,
die den Bogen zu einem Teil seiner selbst werden ließ,
brachte seine drei Pfeile so eng nebeneinander ins Ziel,
daß sich die Spitzen beinahe berührten. Mat schlug ihm
gratulierend auf die Schulter.
»Wenn ihr jetzt alle einen Bogen hättet«, sagte der
Behüter trocken, als er ihr Grinsen sah, »und wenn die
Trollocs so nett wären, euch so weit vom Leib zu bleiben,
daß ihr den Pfeil abschießen könntet...« Das Grinsen
verging den Freunden sogleich. »Wir werden sehen, was
ich euch beibringen kann, falls sie einmal zu nahe
kommen.«
Er zeigte Perrin den Gebrauch einer Streitaxt mit
großer Schneide; wenn man eine Axt gegen jemanden
erhob, der selbst bewaffnet war, war das nicht mit
Holzhacken oder einem probeweisen Axtschwingen zu
vergleichen. Er ließ den großen Schmiedlehrling eine
Reihe von Übungen durchführen – blockieren, parieren
und zuschlagen –, und dann wiederholte er diese Prozedur
mit Rand und seinem Schwert. Nicht das wilde
Herumspringen und Zuschlagen, das Rand im Sinn hatte,
wenn er über den Gebrauch der Waffe nachdachte,
sondern flüssige Bewegung, bei der eine in die andere
überging wie bei einem Tanz.
»Es genügt nicht, die Klinge zu bewegen«, erklärte
Lan, »auch wenn einige das glauben. Der Verstand ist ein
Teil des Ganzen, ein wesentlicher Teil. Leere deinen
Verstand, Schafhirte, leere ihn von Haß oder Angst, von
allem. Brenne alles weg. Ihr anderen, hört mir auch zu.
Ihr könnt das genauso mit der Axt oder dem Bogen, mit
einem Speer oder Stock oder sogar mit euren leeren
Händen anwenden.«
Rand starrte ihn an. »Die Flamme und das Nichts«,
sagte er erstaunt. »Das meint Ihr doch, nicht wahr? Mein
Vater hat mich das gelehrt.«
Der Behüter blickte ihn undurchdringlich an. »Halte
das Schwert, wie ich es dir gezeigt habe, Schafhirte. Ich
kann in einer Stunde aus einem plattfüßigen
Dorfbewohner keinen Schwertmeister machen, aber
vielleicht kann ich dich davor bewahren, dir den eigenen
Fuß abzuschneiden.«
Rand seufzte und hielt das Schwert aufrecht mit beiden
Händen vor sich. Moiraine beobachtete alles ohne äußere
Gefühlsregung, aber am nächsten Abend bat sie Lan, er
solle den Unterricht fortsetzen.
Zum Abendbrot gab es stets das gleiche wie am Mittag
oder zum Frühstück: Fladenbrot, Käse und
Trockenfleisch, nur daß sie am Abend heißen Tee statt
Wasser tranken, um das Essen hinunterzuspülen. Am
Abend unterhielt Thom die Gesellschaft. Lan verbot dem
Gaukler zwar nicht Harfe oder Flöte zu spielen – nicht
nötig, das ganze Land aufzuwecken, meinte er –, aber
Thom jonglierte und erzählte Geschichten. ›Mara und die
drei närrischen Könige‹ oder eine der vielen hundert
Erzählungen über Anla, die weise Ratgeberin, oder mit
Ruhm und Abenteuern erfüllte Geschichten wie ›Die
Wilde Jagd nach dem Horn‹, doch immer mit einem
glücklichen Ausgang und einer freudigen Heimkehr.
Wenn das Land um sie herum auch friedlich war, keine
Trollocs zwischen den Bäumen erschienen, kein Draghkar
unter den Wolken, so brachten sie es doch fertig, ihre
Angst immer dann wieder zu schüren, wenn sie gerade am
Erlöschen war.
Da war beispielsweise jener Morgen, an dem Egwene
aufwachte und anfing, ihren Zopf zu lösen. Rand
beobachtete sie aus den Augenwinkeln, während er seine
Decken einrollte. Jeden Abend, wenn das Feuer gelöscht
wurde, zogen sich alle in ihre Decken zurück, bis auf
Egwene und die Aes Sedai. Immer setzten sich die beiden
Frauen abseits von den anderen hin und unterhielten sich
ein oder zwei Stunden lang. Sie legten sich hin, wenn die
anderen längst schliefen. Egwene kämmte ihr Haar aus –
hundertmal zog sie den Kamm durch, zählte Rand –,
während er Wolke sattelte und seine Satteltaschen und
Bettrolle hinter dem Sattel festschnallte. Dann steckte sie
den Kamm weg, schob ihr loses Haar über die Schulter
nach hinten und zog die Kapuze des Umhangs darüber.
Überrascht fragte er: »Was tust du da?« Sie blickte ihn
von der Seite an, ohne zu antworten. Ihm wurde klar, daß
er sie zum ersten Mal seit zwei Tagen angesprochen hatte,
seit dem Abend in der Baumhöhle am Ufer des Taren,
aber er ließ sich davon nicht aufhalten. »Dein ganzes
Leben lang hast du darauf gewartet, dein Haar endlich als
Zopf tragen zu dürfen, und jetzt gibst du ihn auf?
Warum? Weil sie auch keinen Zopf trägt?«
»Aes Sedai tragen ihr Haar nicht als Zopf«, sagte sie
einfach. »Jedenfalls nicht, solange sie das nicht wollen.«
»Du bist keine Aes Sedai. Du bist Egwene al'Vere aus
Emondsfeld, und die Frauen dort bekäme jetzt einen
Anfall, wenn sie dich so sähen.«
»Der Frauenzirkel geht dich nichts an, Rand al'Thor.
Und ich werde eine Aes Sedai, sobald wir Tar Valon
erreichen.«
Er schnaubte. »Sobald wir Tar Valon erreichen.
Warum? Licht, sag mir warum! Du bist doch keine
Schattenfreundin.«
»Denkst du, daß Moiraine zu den Schattenfreunden
gehört? Glaubst du das wirklich?« Sie drehte sich mit
geballten Fäusten zu ihm um, und es sah so aus, als wolle
sie ihn schlagen. »Nachdem sie das Dorf gerettet hat?
Nachdem sie deinen Vater gerettet hat?«
»Ich weiß nicht, wie sie ist, aber wie auch immer – das
sagt nichts über die anderen Aes Sedai aus. Die
Geschichten...«
»Werde erwachsen, Rand! Vergiß die Geschichten, und
gebrauch deine Augen!«
»Mit meinen Augen habe ich gesehen, wie sie die Fähre
versenkte. Oder willst du das leugnen? Wenn du erst mal
Flausen im Kopf hast, gibst du nicht mehr nach, selbst
wenn dir jemand beweist, daß du auf dem Wasser zu
gehen versuchst. Wenn du keine so vom Licht geblendete
Närrin wärst, würdest du bemerken...!«
»Versucht ihr zwei, alle Leute innerhalb von zehn
Meilen aufzuwecken?« fragte der Behüter.
Rand stand mit offenem Mund da und wollte noch etwas
hinzuzufügen, da fiel ihm auf, daß er geschrien hatte. Sie
hatten beide geschrien.
Egwenes Gesicht lief bis zu den Augenbrauen
scharlachrot an. Sie drehte sich mit einem halblauten
»Männer!« ab, das sowohl dem Behüter wie auch ihm zu
gelten schien. Ahnungsvoll sah sich Rand im Lager um.
Alle sahen ihn an, nicht nur der Behüter. Mat und Perrin
waren ganz blaß. Thom wirkte so angespannt, als wolle er
gleich wegrennen oder kämpfen. Moiraine. Das Gesicht
der Aes Sedai war ausdruckslos, doch ihr Blick schien sich
in seinen Kopf zu bohren. Verzweifelt versuchte er, sich
daran zu erinnern, was er über Aes Sedai und
Schattenfreunde gesagt hatte.
»Es ist Zeit zum Aufbruch«, sagte Moiraine. Sie wandte
sich Aldieb zu, und Rand schauderte erleichtert, als sei er
einer Falle entkommen. Er fragte sich, ob er wirklich
entkommen war.
Zwei Nächte später, als das Feuer schon verglimmte,
leckte sich Mat die letzten Krümel Käse von den Fingern
und sagte:
»Wißt ihr, ich glaube, wir haben sie endgültig
abgeschüttelt.« Lan war in die Nacht hinausgegangen, um
sich ein letztes Mal umzusehen. Moiraine und Egwene
hatten sich zu einer ihrer Unterhaltungen zurückgezogen.
Thom döste mit der Pfeife im Mund vor sich hin, und die
jungen Männer hatten das Feuer ganz für sich allein.
Perrin stocherte gelangweilt mit einem Stock in der
Glut herum und antwortete: »Wenn wir sie los sind,
warum sucht Lan dann immer noch die Gegend ab?« Rand
fielen schon fast die Augen zu. Er lag am Boden und
drehte sich um, den Rücken dem Feuer zugewandt. »Wir
haben sie an der Taren-Fähre abgehängt.« Mat legte sich
zurück, verschränkte die Finger hinter dem Kopf und
blickte zum monderhellten Himmel auf. »Falls sie
wirklich uns gesucht haben.«
»Glaubst du, der Draghkar hat uns gejagt, weil wir ihm
gefielen?« fragte Perrin.
»Wenn ihr mich fragt, hört auf, euch über Trollocs und
ähnliches Gelichter Gedanken zu machen«, fuhr Mat fort,
als habe Perrin nichts gesagt, »und fangt an, euch darauf
zu freuen, die Welt sehen zu können. Wir sind jetzt dort
draußen, wo die Geschichten herkommen. Was glaubt ihr
– wie sieht eine richtige Stadt aus?«
»Wir reiten nach Baerlon«, sagte Rand schläfrig, aber
Mat schnaubte nur.
»Baerlon ist schön und gut, aber ich habe die alte Karte
von Meister al'Vere gesehen. Wenn wir Caemlyn
erreichen und uns dann nach Süden wenden, führt uns die
Straße nach Illian und noch weiter.«
»Was ist so besonders an Illian?« fragte Perrin
gähnend.
»Zum einen«, antwortete Mat, »ist Illian nicht voll von
Aes Se...«
Er schwieg, und Rand war plötzlich hellwach. Moiraine
war zu früh zurückgekehrt. Egwene war bei ihr, aber alle
Aufmerksamkeit galt der Aes Sedai, die am Rande des
Feuerscheins zu sehen war. Mat lag auf dem Rücken, den
Mund noch geöffnet, und glotzte sie an. Moiraines Augen
spiegelten das Licht wie zwei dunkle glattpolierte Steine
wider. Plötzlich fragte sich Rand, wie lange sie wohl
schon dagestanden hatte.
»Die Jungen haben gerade...«, begann Thom, doch
Moiraine fiel ihm ins Wort.
»Ein paar Tage Pause, und ihr seid bereit aufzugeben.«
Ihre ruhige, gleichmäßige Stimme stand im scharfen
Widerspruch zu ihren Augen. »Ein, zwei Tage Ruhe, und
schon habt ihr die Winternacht vergessen.«
»Wir haben sie nicht vergessen«, sagte Perrin. »Es ist
nur...« Sie erhob die Stimme immer noch nicht, verfuhr
mit ihm aber wie mit dem Gaukler.
»Seid ihr alle dieser Meinung? Ihr wollt alle am
liebsten nach Illian rennen und die Trollocs,
Halbmenschen und Draghkar vergessen?« Sie musterte sie
– dieser Steinglanz ihrer Augen und dazu der alltägliche
Tonfall ihrer Stimme machten Rand nervös –, aber sie gab
niemandem eine Gelegenheit, sich zu äußern. »Der Dunkle
König ist hinter euch dreien her, hinter einem oder allen,
und wenn ich euch wegrennen lasse, wie ihr wollt, dann
bekommt er euch. Was auch immer der Dunkle König
will, dem leiste ich Widerstand. Also hört mich an und
erkennt die Wahrheit. Bevor ich euch dem Dunklen König
überlasse, töte ich euch lieber.«
Es war ihre so beiläufig klingende Stimme, die Rand
überzeugte. Die Aes Sedai würde genau das tun, was sie
sagte, falls es sich als notwendig erwiese. Diese Nacht
hatte er Schwierigkeiten, überhaupt zu schlafen, und er
war nicht der einzige. Selbst der Gaukler begann erst zu
schnarchen, als die letzten Kohlen schon lange verglüht
waren. Ausnahmsweise bot ihnen Moiraine keine Hilfe an.
Diese abendlichen Gespräche Egwenes mit der Aes
Sedai waren Rand ein Dorn im Auge. Immer wenn sie in
der Dunkelheit verschwanden, sich von den anderen
wegbegaben, um Ruhe vor ihnen zu haben, fragte er sich,
worüber sie wohl sprachen und was sie taten. Was tat die
Aes Sedai Egwene an?
Eines Nachts wartete er, bis sich die anderen alle zur
Ruhe begeben hatten. Thom schnarchte, als wolle er eine
Eiche fällen. Dann schlüpfte Rand davon, die Decke um
sich gewickelt. Er wandte alle seine Erfahrungen im
Auflauern von Kaninchen an. Er bewegte sich mit den
Mondschatten, bis er am Fuß eines großen
Lederblattbaums kauerte, der viele zähe, breite Blätter
aufwies. Er war nah genug, um Moiraine und Egwene zu
verstehen, die mit einer kleinen Laterne auf einem
umgestürzten Baumstamm saßen.
»Frag«, sagte Moiraine gerade, »und wenn ich dir
darauf antworten kann, werde ich es tun. Begreif aber,
daß vieles für dich noch zu früh kommt, Dinge, die du
nicht lernen kannst, bevor du nicht andere Dinge gelernt
hast, die wiederum weitere Vorkenntnisse erfordern.
Aber frag, was du willst.«
»Die Fünf Mächte«, sagte Egwene langsam, »Erde,
Wind, Feuer, Wasser und Geist. Es scheint mir nicht
gerecht, daß Männer Erde und Feuer am besten
beherrschten. Warum sollten gerade sie die stärksten der
Mächte für sich haben?«
Moiraine lachte. »Glaubst du das, Kind? Gibt es einen
Felsen, der so hart ist, daß Wind und Wasser ihn nicht
abtragen können, ein so starkes Feuer, daß es nicht mit
Wasser gelöscht oder vom Wind ausgeblasen werden
kann?«
Egwene schwieg eine Weile und bohrte mit dem Zeh im
Waldboden. »Sie... sie waren diejenigen, welche... die
versuchten, den Dunklen König und die Verlorenen zu
befreien, nicht wahr? Die männlichen Aes Sedai?« Sie
holte tief Luft und sprach schneller. »Die Frauen hatten
nichts damit zu tun. Die Männer wurden wahnsinnig und
zerstörten die Welt.«
»Du hast Angst«, sagte Moiraine ernst. »Wenn du in
Emondsfeld geblieben wärst, wärst du nach einer Weile
Seherin. Das war Nynaeves Plan, nicht wahr? Oder du
hättest im Frauenzirkel gesessen und die Geschicke von
Emondsfeld gelenkt, während der Gemeinderat dächte, er
leite das Ganze. Und doch hast du das Unglaubliche getan.
Du hast Emondsfeld und die Zwei Flüsse verlassen auf der
Suche nach Abenteuern. Du wolltest es, und gleichzeitig
hast du Angst davor. Und du weigerst dich ganz
entschieden, deiner Angst nachzugeben. Sonst hättest du
mich nicht gefragt, wie eine Frau eine Aes Sedai werden
kann. Du hättest eure Sitten und Gebräuche sonst nicht
über Bord geworfen.«
»Nein«, protestierte Egwene, »ich habe keine Angst.
Ich will eine Aes Sedai werden.«
»Besser für dich, wenn du Angst hättest, aber ich hoffe,
du bleibst bei deiner Überzeugung. Wenige Frauen nur
haben heutzutage die Fähigkeiten, Geweihte zu werden,
und noch viel weniger wollen es.« Moiraines Stimme
klang, als führe sie ein gedankenverlorenes
Selbstgespräch. »Sicher waren es noch nie zuvor gleich
zwei in einem Dorf. Das alte Blut fließt tatsächlich noch
sehr stark im Land der Zwei Flüsse.«
Rand verlagerte sein Gewicht im Schatten, wo er
kauerte. Ein Ästchen zerbrach unter seinem Fuß. E r
erstarrte und hielt die Luft an. Er schwitzte, doch keine
der beiden Frauen sah sich um.
»Zwei?« rief Egwene. »Wer denn noch? Ist es Kari?
Kari Thane? Lara Ayellan?«
Moiraine schnalzte verärgert mit der Zunge und sagte
dann ernst: »Du mußt vergessen, daß ich das gesagt habe.
Ich fürchte, ihre Straße verläuft in einer anderen
Richtung. Konzentrier dich auf deine eigenen
Angelegenheiten. Es ist kein leichter Weg, den du erwählt
hast.«
»Ich werde nicht umkehren«, sagte Egwene.
»Wie du meinst. Aber du suchst immer noch
Rückendeckung, und die kann ich dir nicht geben,
jedenfalls nicht so, wie du es willst.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Du willst darin bestärkt werden, daß die Aes Sedai gut
und rein sind und daß es diese gemeinen Männer aus den
Legenden waren, die die Zerstörung der Welt
verursachten, und nicht die Frauen. Nun, es waren zwar
die Männer, doch sie waren keineswegs schlimmer als alle
anderen Männer. Sie waren wahnsinnig, nicht böse. Die
Aes Sedai, die du in Tar Valon antreffen wirst, sind
menschlich und unterscheiden sich nicht von anderen
Frauen, außer eben durch die Fähigkeiten, die uns von
ihnen trennen. Sie sind tapfer und feige, stark und
schwach, freundlich und grausam, warmherzig und kalt.
Wenn du eine Aes Sedai wirst, dann bleibst du trotzdem
diejenige, die du immer warst.«
Egwene atmete schwer. »Ich glaube, gerade davor hatte
ich Angst: daß die Macht mich verändern würde. Das und
die Trollocs. Und der Blasse. Und... Moiraine Sedai, im
Namen des Lichts: Warum kamen die Trollocs nach
Emondsfeld?«
Der Kopf der Aes Sedai drehte sich, und sie blickte in
die Richtung von Rands Versteck. Die Luft blieb ihm weg.
Ihre Augen waren genauso hart wie zu der Zeit, als sie sie
bedroht hatte, und er hatte das Gefühl, ihr Blick könne die
starken Äste des Lederblatts durchdringen. Licht, was
wird sie tun, wenn sie mich hier als Lauscher findet?
Er bemühte sich, mit den tieferen Schatten hinter sich
zu verschmelzen. Seine Augen waren auf die Frauen
gerichtet, und so blieb er mit dem Fuß an einer Wurzel
hängen. Er fing sich gerade noch, sonst wäre er in totes
Unterholz getaumelt, und das hätte ihn mit einem
Feuerwerk zerbrechender Zweige sofort verraten. Nach
Luft schnappend kroch er auf allen vieren davon. Wie
immer war es vor allem Glück, das es ihm ermöglichte,
sich lautlos zu bewegen. Sein Herz schlug so stark, daß er
fürchtete, es könne ihn verraten. Narr! Eine Aes Sedai
belauschen!
Als er wieder dort war, wo die anderen schliefen,
schlich er leise an seinen Platz zurück. Lan bewegte sich,
als er sich auf den Boden legte. Der Behüter riß die Decke
hoch, ließ sich dann aber mit einem Seufzer wieder
zurückfallen. Er hatte sich im Schlaf nur umgedreht. Rand
stieß einen Stoßseufzer aus.
Einen Augenblick später tauchte Moiraine aus der
Nacht auf. Sie blieb stehen, als sie die schlummernden
Gestalten sah. Das Mondlicht webte einen Strahlenkranz
um sie. Rand schloß die Augen und atmete ganz
gleichmäßig, während er angestrengt lauschte, ob sich
Schritte näherten. Er hörte nichts. Als er die Augen
wieder öffnete, war sie weg.
Als der Schlaf endlich kam, schwitzte er und hatte
Träume, in denen alle Männer von Emondsfeld
behaupteten, sie seien der Wiedergeborene Drache, und
alle Frauen trugen blaue Edelsteine im Haar, die so
aussahen wie der von Moiraine. Er versuchte danach nie
mehr, Moiraine und Egwene zu belauschen.
Der sechste Tag ihrer quälend langsamen Reise brach
an. Die blasse, kalte Sonne glitt auf die Baumwipfel zu,
während eine Handvoll dünner Wolken hoch droben in
Richtung Norden trieb. Der Wind erhob sich zu einer Bö,
und Rand zog den Umhang wieder einmal leise
schimpfend über die Schultern. Er fragte sich, ob sie wohl
jemals Baerlon erreichen würden. Die Entfernung, die sie
seit ihrer Flußüberquerung zurückgelegt hatten, war
größer als von Taren-Fähre bis zum Weißen Fluß, doch
Lan behauptete stets, es sei eine kurze Reise, kaum wert,
eine solche genannt zu werden. Er fühlte sich verloren.
Lan erschien im Wald vor ihnen. Er kehrte von einem
seiner Erkundungsritte zurück. Er straffte die Zügel und
ließ sein Pferd langsam neben Moiraines Pferd
herschreiten, während er den Kopf zu Moiraine
hinüberneigte.
Rand schnitt eine Grimasse, aber er stellte keine Frage.
Lan weigerte sich gewöhnlich, Fragen, die man ihm
stellte, zu beantworten.
Von den anderen schien nur Egwene Lans Rückkehr
bemerkt zu haben, und sie hielt sich mit Fragen ebenfalls
zurück. Die Aes Sedai verhielt sich Egwene gegenüber
vielleicht so, als sei das Mädchen für die Emondsfelder
verantwortlich, doch wenn der Behüter seine Berichte
ablieferte, hatte Egwene nichts zu sagen. Perrin trug Mats
Bogen. Auch ihn umgab dieses gedankenschwere
Schweigen, das sie alle mehr und mehr packte, je weiter
sie sich von den Zwei Flüssen entfernten. Die langsame
Gangart der Pferde gestattete es Mat, vor den kritischen
Augen Thom Merrilins mit drei kleinen Steinen zu
jonglieren. Denn der Gaukler hatte sie jeden Abend
unterrichtet, genau wie Lan.
Lan beendete seinen Bericht, und Moiraine drehte sich
im Sattel um und sah die hinter ihr Reitenden an. Rand
bemühte sich, sich nicht zu verkrampfen, als ihr Blick
über ihn glitt. Sah sie ihn einen Moment länger an als die
anderen? Er wurde das unangenehme Gefühl nicht los,
daß sie wußte, wer sie in der Dunkelheit jener Nacht
belauscht hatte.
»He, Rand!« rief Mat. »Ich kann mit vieren
jonglieren!« Rand winkte ihm zur Antwort zu, ohne sich
umzudrehen. »Ich habe dir gesagt, daß ich noch vor dir
vier schaffe. Ich – schau!«
Sie hatten die Spitze eines niedrigen Hügels erreicht,
und unter ihnen, kaum eine Meile weit entfernt, hinter
kahlen Bäumen und länger werdenden Schatten, lag
Baerlon. Rand schnappte nach Luft, als er versuchte, zur
gleichen Zeit zu lächeln und mit offenem Mund zu
starren.
Eine Palisadenwand, beinahe drei Spannen hoch, umgab
die Stadt. Hölzerne Wachtürme waren entlang der Palisade
verteilt. Drinnen glitzerten mit Ziegeln und Platten
gedeckte Dächer im Licht der sinkenden Sonne, und aus
den Schornsteinen trieben federleichte Rauchwölkchen
empor. Es waren Hunderte von Schornsteinen. Kein
strohgedecktes Dach war zu sehen. Eine breite Straße
führte nach Osten aus der Stadt hinaus und eine zweite
nach Westen. Auf jeder waren zumindest ein Dutzend
Wagen und doppelt so viele Ochsenkarren zu sehen, die
auf die Palisade zu rollten. Um die Stadt herum verstreut
lagen Bauernhöfe; die meisten im Norden, während nur
wenige im Süden den Wald unterbrachen. Es ist größer als
Emondsfeld und Wachhügel und Devenritt zusammen!
Und vielleicht auch noch Taren-Fähre dazu.
»Das ist also eine Stadt«, hauchte Mat und beugte sich
über den Hals seines Pferdes nach vorn, um genauer
hinsehen zu können.
Perrin konnte nur den Kopf schütteln. »Wie können so
viele Leute in einem Ort wohnen?«
Egwene blickte stumm hinüber. Thom Merrilin sah Mat
an, rollte mit den Augen und pustete seine
Schnurrbartenden hoch. »Stadt!« schnaubte er.
»Und du, Rand?« fragte Moiraine. »Was hältst du auf
den ersten Blick von Baerlon?«
»Ich glaube, es ist ziemlich weit von zu Hause
entfernt«, sagte er langsam, was ihm ein hartes Lachen
von Mat einbrachte.
»Ihr müßt noch viel weiter gehen«, sagte Moiraine.
»Viel weiter. Aber ihr habt keine andere Wahl, außer ihr
wollt wegrennen und euch verstecken und wieder
wegrennen, und das für den Rest eures Lebens. Und es
würde ein kurzes Leben sein. Daran müßt ihr euch
erinnern, wenn die Reise beschwerlich wird. Ihr habt
keine andere Wahl.«
Rand, Mat und Perrin sahen sich an. Den Gesichtern
der anderen nach zu schließen, dachten sie dasselbe wie
Rand. Wie konnte sie so tun, als hätten sie je eine Wahl
gehabt, nach allem, was sie vorher schon gesagt hatte? Die
Aes Sedai hatte für sie entschieden.
Moiraine fuhr fort, als sei ihr nicht klar, was sie
dachten. »Die Gefahr beginnt hier erneut. Seid vorsichtig,
was ihr innerhalb dieser Mauern sagt. Und was am
wichtigsten ist: Erwähnt keine Trollocs oder
Halbmenschen und ähnliches. Ihr dürft nicht einmal an
den Dunklen König denken. Einige Leute in Baerlon
mögen die Aes Sedai noch weniger als die Emondsfelder,
und es könnte dort sogar Schattenfreunde geben.« Egwene
schnappte nach Luft, und Perrin fluchte vor sich hin. Mats
Gesicht wurde blaß, doch Moiraine fuhr ganz ruhig fort.
»Wir dürfen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich
erregen.« Lan tauschte seinen zwischen Grau und
Grüntönen wechselnden Umhang gegen einen normalen
braunen aus, der allerdings ebenfalls sehr fein geschnitten
und gewebt war. Sein farbverändernder Umhang
verursachte eine dicke Beule in eine seiner Satteltaschen.
»Hier verwenden wir unsere eigenen Namen nicht«,
eröffnete ihnen Moiraine. »Man kennt mich hier als Alys,
und Lan ist Andra. Merkt euch das. Gut. Wir sollten uns
noch vor Anbruch der Nacht zwischen diesen Mauern
befinden. Die Tore von Baerlon werden von
Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang geschlossen.«
Lan führte sie den Hügel hinunter und durch den Wald
auf die Palisaden zu. Die Straße führte an einem halben
Dutzend Bauernhöfen vorbei – keiner sehr nahe, und die
Menschen, die dort ihre letzten Arbeiten verrichteten,
schienen die Reisenden nicht zu bemerken – und endete an
einem schweren Holztor, das mit breiten schwarzen
Eisenriegeln verschlossen war, fest verschlossen, obwohl
die Sonne noch nicht untergegangen war.
Lan ritt ganz nahe an die Palisade heran und zog an
dem ausgefransten Seil, das neben dem Tor herunterhing.
Auf der anderen Seite erklang eine Glocke. Unmittelbar
darauf blickte ein verschrumpeltes Gesicht unter einer
zerknautschten Stoffmütze mißtrauisch von oben auf sie
herab. Es befand sich zwischen den abgesägten Enden
zweier Pfähle, gute drei Spannen über ihren Köpfen.
»Was soll das heißen, eh? Es ist zu spät am Tag, um
dieses Tor zu öffnen. Zu spät, sage ich. Reitet zum
Weißbrückentor, wenn ihr...«
Moiraines Stute schritt ein Stück vor, so daß der Mann
auf der Mauer sie klar erkennen konnte. Plötzlich
verzogen sich seine Runzeln zu einem zahnlosen Lächeln,
und er schien zwischen seiner Pflicht und dem, was er
sagen wollte, zu schwanken. »Ich wußte nicht, daß Ihr es
seid, Herrin. Wartet. Ich komme sofort hinunter. Ich
komme, ich komme!«
Der Kopf verschwand nach unten, und Rand hörte
gedämpfte Rufe, sie sollten bleiben, wo sie seien, er käme
ja schon. Mit schrillem Quietschen, der vom geringen
Gebrauch zeugte, schwang der rechte Torflügel langsam
auf. Er verhielt in seiner Lage, als die Lücke gerade groß
genug war, um ein Pferd durchzulassen, und dann steckte
der Torwächter seinen Kopf durch, lächelte sie wieder
zahnlos an und sprang flink aus dem Weg. Moiraine folgte
Lan durch das Tor. Egwene kam gleich dahinter.
Rand ließ Wolke hinter Bela hertraben und fand sich in
einer engen Straße wieder, die von hohen Holzzäunen und
großen fensterlosen Lagerhäusern eingerahmt wurde,
deren breite Türen schon zur Nacht geschlossen waren.
Moiraine und Lan standen bereits bei dem Torwächter mit
dem runzligen Gesicht und unterhielten sich mit ihm. Also
stieg Rand auch ab.
Der kleine Mann, der einen oftmals geflickten Umhang
und Mantel trug, hielt seine Stoffmütze zerknüllt in einer
Hand und verbeugte sich jedesmal, wenn er sprach. E r
betrachtete die anderen, die hinter Moiraine und Lan von
den Pferden stiegen, und schüttelte den Kopf.
»Landpomeranzen.« Er grinste. »Aber, Frau Alys,
sammelt Ihr jetzt Landpomeranzen mit Heu im Haar?«
Dann erfaßte sein Blick Thom Merrilin. »Ihr seid kein
Schafzüchter. Ich erinnere mich, daß ich Euch vor ein
paar Tagen durchgelassen habe, tatsächlich. Haben denen
da unten Eure Kunststückchen nicht gefallen, Gaukler?«
»Ich hoffe, Ihr erinnert Euch daran, daß Ihr vergessen
sollt, uns jemals durchgelassen zu haben, Meister Avin«,
sagte Lan und drückte dem Mann eine Münze in die freie
Hand. »Und auch daß ihr uns wieder hereingelassen habt.«
»Das ist nicht nötig, Meister Andra. Nicht nötig. Ihr
habt mir genug gegeben, als Ihr weggeritten seid. Genug.«
Trotzdem ließ Avin die Münze so schnell verschwinden,
als sei er auch ein Gaukler. »Ich hab niemanden nix
erzählt und werd's auch nicht tun. Ganz besonders nicht
den Weißmänteln«, endete er mit finsterem Blick. E r
spitzte die Lippen, um auszuspucken, doch nach einem
Blick auf Moiraine schluckte er statt dessen.
Rand riß die Augen auf, behielt aber den Mund
geschlossen. Die anderen brachten das auch fertig, obwohl
es Mat sehr schwer zu fallen schien. Kinder des Lichts,
dachte Rand staunend. Die Geschichten, die Händler und
Kaufleute und ihre Leibwächter über die Kinder
erzählten, wechselten im Ausdruck von Bewunderung bis
zum Haß, aber alle waren sich einig, daß die Kinder die
Aes Sedai genauso haßten wie Schattenfreunde. Er fragte
sich, ob dies bereits weitere Schwierigkeiten bedeutete.
»Die Kinder sind in Baerlon?« wollte Lan wissen.
»Aber sicher.« Der Torwächter nickte. »Kamen am
gleichen Tag, als Ihr weggeritten seid, wenn ich mich
richtig erinnere. Ist keiner hier, der sie leiden kann. Die
meisten zeigen's natürlich nicht.«
»Haben sie gesagt, warum sie hier sind?« fragte
Moiraine eindringlich.
»Warum sie hier sind?« Avin war so verblüfft, daß er
seine Verbeugung diesmal vergaß. »Klar haben sie gesagt,
warum... Oh, ich hab's vergessen. Ihr wart ja auf dem
Land. Habt wahrscheinlich nur Schafgeblöke gehört. Sie
sagen, sie sind wegen der Vorgänge in Ghealdan hier. Der
Drache, wißt Ihr... Also, der halt, der sich Drache nennt.
Sie sagen, der Bursche löst eine Menge Böses aus –
schätze, das stimmt auch –, und sie sind hier, um das
Feuer auszutreten, bloß daß er ja in Ghealdan ist und nicht
hier. Bloß 'ne Ausrede, um sich in anderer Leute Sachen
einzumischen, denke ich. Man hat schon den Drachenzahn
auf ein paar Türen gesehen.« Diesmal spuckte er aus.
»Haben sie Euch viele Schwierigkeiten bereitet?« fragte
Lan, und Avin schüttelte lebhaft den Kopf.
»Nicht, daß sie's nicht wollen, schätze ich, aber der
Statthalter traut denen genausowenig wie ich. Er läßt nicht
mehr als zehn oder so gleichzeitig in die Stadt, und sie
sind mächtig sauer deswegen. Der Rest hat ein Lager ein
Stück nördlich, hab ich gehört Wette, daß sich die Bauern
dort umgucken müssen. Die paar, die reinkommen,
stolzieren nur in diesen weißen Mänteln rum und gucken
auf die ehrlichen Leute runter. Geh im Licht, sagen sie,
und das ist ein Befehl. Hätte fast schon Schlägereien
gegeben mit den Wagenfahrern und den Bergleuten und
den Schmelzern und so, ja, und sogar mit der Wache, aber
der Statthalter will Frieden, und deshalb ist nix passiert.
Wenn sie das Böse jagen, meine ich, warum sind sie dann
nicht oben in Saldaea? Ich hab gehört, daß dort oben was
los ist. Oder unten in Ghealdan? Es hat drunten eine große
Schlacht gegeben, sagt man. Eine richtig große.«
Moiraine atmete leise und betont ein. »Ich hatte gehört,
daß Aes Sedai nach Ghealdan gingen.«
»Ja, sind sie.« Avin nickte wieder heftig. »Sie sind
wirklich nach Ghealdan gegangen, und das hat die
Schlacht ausgelöst, hab ich gehört. Man sagt, einige der
Aes Sedai sind tot. Vielleicht auch alle. Ich weiß, daß
manche Leute die Aes Sedai nicht mögen, aber ich frag
Euch, wer sonst soll 'nen falschen Drachen aufhalten, eh?
Und die verdammten Narren, die glauben, sie wären
männliche Aes Sedai oder so was. Was ist mit denen? Klar
sagen ein paar – aber nicht die Weißmäntel und ich auch
nicht, aber eben manche Leute –, daß dieser Bursche
wirklich der Wiedergeborene Drache ist. Ich hab gehört,
daß er ein paar Sachen kann. Die Eine Macht benutzen.
Tausende folgen ihm schon.«
»Sei kein Narr!« fauchte Lan, und Avins Gesicht nahm
einen verletzten Ausdruck an.
»Ich sag nur, was ich gehört hab, oder? Nur was ich
gehört hab, Meister Andra. Sie sagen – ein paar halt –,
daß er mit seiner Armee nach Osten und Süden
marschiert, auf Tear zu.« Seine Stimme klang
bedeutungsschwanger. »Man sagt, er nennt sie das
Drachenvolk.«
»Namen bedeuten wenig«, sagte Moiraine ruhig. Falls
sie das Gehörte beunruhigte, ließ sie es sich nach außen
hin nicht anmerken. »Du könntest deinen Maulesel
Drachenvolk nennen, wenn es dir Spaß macht.«
»Unwahrscheinlich, Herrin.« Avin schmunzelte.
»Nicht, wenn die Weißmäntel in der Gegend sind,
sicherheitshalber. Ich glaube auch nicht, daß irgend
jemand sonst den Namen gern hören würde. Ich weiß
schon, was Ihr meint, aber... O nein, Herrin, nicht meinen
Maulesel!«
»Zweifellos eine weise Entscheidung«, kommentierte
Moiraine. »Jetzt müssen wir weiter.«
»Und macht Euch keine Sorgen, Herrin«, sagte Avin
mit einer tiefen Verbeugung. »Ich hab niemanden
gesehn.« Er lief zum Tor und schloß es mit schnellen
ruckartigen Bewegungen. »Hab niemanden und nichts
gesehn.« Das Tor schlug zu, und mit einem Seil zog er
den Riegel herunter. »In Wirklichkeit, Herrin, ist dieses
Tor schon tagelang nicht mehr geöffnet worden.«
»Das Licht leuchte dir, Avin«, sagte Moiraine.
Dann führte sie sie vom Tor weg. Rand sah sich einmal
um, und da stand Avin immer noch vor dem Torflügel.
Er schien mit einem Zipfel seines Umhangs eine Münze zu
polieren und dabei vor sich hin zu lachen.
Der Weg führte sie durch ungepflasterte Straßen, die
kaum zwei Wagenstärken breit waren, eingerahmt von
Lagerhäusern und hohen Holzzäunen. Rand ging eine
Weile neben dem Gaukler her. »Thom, was bedeutet das
ganze Gerede über Tear und das Drachenvolk? Tear ist
doch eine Stadt ganz unten am Meer der Stürme, nicht
wahr?«
»Der Karaethon-Zyklus«, erwiderte Thom
kurzangebunden.
Rands Augen weiteten sich. Die Prophezeiungen des
Drachen. »Keiner erzählt die... solche Geschichten im
Gebiet der Zwei Flüsse. Jedenfalls nicht in Emondsfeld.
Die Seherin zöge ihnen die Haut bei lebendigem Leib ab,
wenn sie es täten.«
»Ja, ich glaube, das täte sie«, sagte Thom trocken. E r
sah nach Moiraine, die vorn neben Lan einherschritt, sah,
daß sie nichts hören konnte, und fuhr fort. »Tear ist der
größte Hafen am Meer der Stürme, und der Stein von
Tear ist die Festung, die ihn bewacht. Man sagt, der Stein
sei die erste Festung, die nach der Zerstörung der Welt
gebaut wurde, und in dieser langen Zeit ist sie niemals
gefallen, obwohl mehr als eine Armee sie angegriffen hat.
Eine der Prophezeiungen behauptet, der Stein von Tear
werde niemals fallen, bis das Drachenvolk kommt. In
einer anderen Weissagung wird behauptet, der Stein
werde nicht fallen, bis der Drache das Schwert, das-nicht-
berührt-werden-kann, in seiner Hand führt.« Thom
verzog das Gesicht. »Der Fall des Steins wird einer der
wichtigsten Beweise dafür sein, daß der Drache
wiedergeboren wurde. Möge der Stein stehen, bis ich zu
Staub geworden bin.«
»Das Schwert, das-nicht-berührt-werden-kann?«
»So heißt es. Ich weiß nicht, ob es wirklich ein Schwert
ist. Was auch immer: Es liegt im Herzen des Steins, der
inneren Zitadelle dieser Festung. Keiner außer den
Großherren von Tear kann diesen Teil betreten, und sie
verraten nicht, was dort drinnen liegt. Zumindest verraten
sie es den Gauklern nicht.«
Rand runzelte die Stirn. »Der Stein kann nicht fallen,
bis der Drache das Schwert führt, aber wie kann er das,
ohne daß die Festung bereits gefallen ist? Erwartet man,
daß der Drache ein Großherr von Tear ist?«
»Kaum zu erwarten«, sagte der Gaukler trocken. »In
Tear haßt man alles, was mit der Macht zu tun hat, sogar
noch mehr als in Amador, und Amador ist die Hochburg
der Kinder des Lichts.«
»Wie kann dann die Prophezeiung erfüllt werden?«
fragte Rand. »Mir wäre es ja auch recht, wenn der Drache
niemals wiedergeboren würde, aber eine Prophezeiung,
die nicht erfüllt werden kann, ergibt nicht viel Sinn. Es
klingt nach einer Geschichte, die man den Leuten erzählt,
damit sie glauben, daß der Drache niemals wiedergeboren
wird. Stimmt das?«
»Junge, du stellst eine Unmenge von Fragen«, sagte
Thom. »Eine Prophezeiung, die ganz leicht erfüllt werden
kann, wäre doch nicht viel wert, oder?« Plötzlich wurde
seine Stimme fröhlicher. »Jetzt sind wir da.«
Lan war an einem kopfhohen Holzzaun stehengeblieben.
Er steckte die Klinge seines Dolchs zwischen zwei der
Bretter. Plötzlich brummte er zufrieden, zog, und eine
Tür im Zaun schwang wie ein Tor auf. Es war tatsächlich
ein Tor, das so gebaut war, daß man es eigentlich nur von
der anderen Seite öffnen konnte. Moiraine trat sogleich
ein und zog Aldieb hinter sich her. Lan bedeutete den
anderen, daß sie folgen sollten, und machte dann den
Abschluß, wobei er das Tor hinter sich schloß.
Auf der anderen Seite des Zauns befand sich Rand im
Stallhof einer Schenke. Aus der Küche erklang lautes
Treiben und Klappern. Was ihn verblüffte, war die Größe
der Schenke: Sie bedeckte eine Fläche, mehr als doppelt so
groß wie die Weinquellenschenke, und war vier
Stockwerke hoch. Weit mehr als die Hälfte der Fenster
war in der zunehmenden Dämmerung bereits erleuchtet.
Er staunte über diese Stadt und daß sie so viele Fremde
beherbergte.
Kaum befanden sie sich mitten in dem Stallhof, da
erschienen auch schon drei Männer mit schmutzigen
Segeltuchschürzen unter dem breiten Torbogen des
riesigen Stalls. Einer, ein drahtiger Bursche und der
einzige, der eine Mistgabel bei sich hatte, kam mit
fuchtelnden Armen auf sie zu.
»Hier! Hier! Ihr könnt nicht von dort hereinkommen!
Ihr müßt nach vorn gehen!«
Lans Hand bewegte sich wieder auf seinen Geldbeutel
zu, aber in diesem Augenblick kam ein weiterer Mann,
genauso dick wie Meister al'Vere, aus der Schenke geeilt.
Haarbüschel standen hinter seinen Ohren hervor, und
seine blendend weiße Schürze wies ihn als den Wirt dieser
Schenke aus. »Ist schon gut, Mutch«, sagte der
Neuankömmling. »Es ist in Ordnung. Diese Leute sind
Gäste, die ich erwartet habe. Kümmere dich nur um ihre
Pferde. Pfleg sie gut!«.
Mutch fuhr sich mürrisch über die Stirn und bedeutete
seinen zwei Begleitern, ihm zu Hilfe zu kommen. Rand
und die anderen holten hastig ihre Satteltaschen und
Bettrollen herunter, während sich der Wirt Moiraine
zuwandte. Er verbeugte sich tief vor ihr und sprach mit
ehrlich erfreutem Lächeln: »Willkommen, Frau Alys,
willkommen! Es ist gut, Euch und Meister Andra
wiederzusehen. Sehr gut sogar. Ich habe die feinen
Gespräche mit Euch vermißt. Ja, wirklich. Ich muß sagen,
ich habe mir Sorgen gemacht, weil Ihr dort draußen auf
dem Lande wart. Ich meine, in einer solchen Zeit, da das
Wetter verrückt spielt und die Wölfe in der Nacht schon
vor der Mauer heulen.« Plötzlich klatschte er sich mit
beiden Händen auf den Bauch und schüttelte den Kopf.
»Hier stehe ich und quatsche, statt Euch hineinzubringen.
Kommt! Kommt! Eine heiße Mahlzeit und ein warmes
Bett, das braucht Ihr jetzt. Und Ihr findet in Baerlon
nichts Besseres. Nichts Besseres!«
»Und auch ein heißes Bad, darf ich hoffen, Meister
Fitch?« fragte Moiraine.
»Aber natürlich – nur das beste und heißeste in ganz
Baerlon!« sagte der Wirt. »Kommt. Willkommen im
›Hirsch und Löwen‹. Willkommen in Baerlon!«
KAPITEL 14
Die Seherin
Perrin führte sie in die Tiefe der Schenke hinein. Rand
konzentrierte sich so sehr darauf, was er Nynaeve sagen
wollte, daß er Min nicht sah, bis sie ihn am Arm packte
und zur Seite zog. Die anderen gingen noch ein paar
Schritte weiter den Flur entlang, bevor sie bemerkten, daß
er stehengeblieben war. Dann blieben auch sie stehen,
einerseits ungeduldig, andererseits zögernd.
»Dafür haben wir keine Zeit, Junge«, sagte Thom
barsch. Min sah den weißhaarigen Gaukler scharf an.
»Geh und vollführe irgendwelche Kunststückchen«, fuhr
sie ihn an und zog Rand noch weiter von den anderen
weg. »Ich habe wirklich keine Zeit«, sagte Rand zu ihr.
»Und ganz bestimmt nicht für närrisches Geschwätz über
Entkommen und so was.« Er versuchte, seinen Arm
loszureißen, aber jedesmal, wenn er ihn befreit hatte,
packte sie ihn erneut.
»Und ich habe auch keine Zeit für irgendwelchen
Blödsinn. Halte also bitte den Mund!«
Sie betrachtete kurz die anderen, dann näherte sie sich
ihm und sagte mit gedämpfter Stimme: »Vor kurzem ist
eine Frau angekommen – kleiner als ich, jung, mit
dunklen Augen und sie trägt das dunkle Haar in einem
Zopf, der ihr bis an die Taille reicht. Sie ist ein Teil des
Ganzen, genauso wie der Rest von euch.«
Rand starrte sie eine Minute lang an. Nynaeve? Was
kann sie damit zu tun haben? Licht, wieso bin ich
eigentlich darin verwickelt? »Das ist... unmöglich.«
»Du kennst sie?« flüsterte Min.
»Ja, und sie kann nicht in... in was auch immer das alles
bedeutet... verwickelt sein.«
»Die Funken, Rand. Sie hat Frau Alys getroffen, als sie
hereinkam, und es gab Funken, obwohl nur sie beide
zusammenstanden. Gestern konnte ich keine Funken
wahrnehmen, wenn nicht wenigstens drei oder vier von
euch zusammenkamen, aber heute ist alles klarer und
heftiger.« Sie sah Rands Freunde an, die ungeduldig
warteten, und sie schauderte, bevor sie sich wieder zu ihm
umdrehte. »Es ist beinahe ein Wunder, daß die Schenke
nicht Feuer fängt. Ihr seid alle in größerer Gefahr als
gestern. Seit sie ankam.«
Rand blickte zu seinen Freunden hinüber. Thom, dessen
Brauen sich zu einem buschigen V verzogen hatten, beugte
sich vor, offensichtlich bereit, etwas zu unternehmen,
damit Rand schneller folgen konnte. »Sie wird nichts
unternehmen, was uns verletzen könnte«, sagte er zu Min.
»Ich muß jetzt gehen.« Diesmal gelang es ihm, seinen
Arm zu befreien.
Er mißachtete ihr empörtes Quieken und begab sich zu
den anderen. Sie gingen weiter den Korridor hinunter.
Rand sah einmal zurück. Min schüttelte die Faust in seine
Richtung und stampfte mit dem Fuß auf.
»Was hatte sie zu sagen?« fragte Mat.
»Nynaeve ist ein Teil davon«, sagte Rand ohne
nachzudenken. Dann sah er Mat scharf an und erwischte
ihn gerade noch mit bereits geöffnetem Mund. Die
Erleuchtung breitete sich langsam auf Mats Gesicht aus.
»Teil wovon?« sagte Thom leise. »Weiß dieses Mädchen
etwas?«
Während Rand noch überlegte, was er sagen sollte,
sprach Mat bereits: »Natürlich gehört sie dazu«, sagte er
ärgerlich. »Sie ist ein Teil des Pechs, das wir seit der
Winternacht hatten. Vielleicht ist es für euch keine große
Sache, die Seherin hier vorzufinden, aber ich sähe beinahe
noch lieber die Weißmäntel hier als sie.«
»Sie sah, wie Nynaeve ankam«, sagte Rand. »Sah auch,
daß sie sich mit Frau Alys unterhielt, und dachte, sie
könne etwas mit uns zu tun haben.« Thom sah ihn von der
Seite her an, und sein Schnauben brachte seine
Schnurrbarthaare durcheinander, aber die anderen
schienen Rands Erklärung zu akzeptieren. Er hatte nicht
gern Geheimnisse vor seinen Freunden, aber Mins
Geheimnis konnte für sie selbst genauso gefährlich werden
wie für ihre ganze Gruppe.
Perrin blieb plötzlich vor einer Tür stehen, und trotz
seiner Größe schien er ängstlich zu zögern. Er atmete tief
ein, sah seine Begleiter an, atmete noch einmal durch,
öffnete dann langsam die Tür und ging hinein. Einer nach
dem anderen folgte ihm. Rand war der letzte, und er
schloß die Tür mit äußerstem Widerstreben hinter sich.
Es war der Raum, in dem sie am Abend zuvor gegessen
hatten. Im Kamin prasselte ein Feuer. In der Mitte des
Tisches stand ein glänzendes Silbertablett mit einer
Silberkanne und Bechern. Moiraine und Nynaeve saßen an
den gegenüberliegenden Tischenden. Keine wandte den
Blick von der anderen. Moiraines Hände ruhten auf dem
Tisch, genauso bewegungslos wie ihr Gesicht. Nynaeves
Zopf war über ihre Schulter nach vorn geschlungen, und
das Ende lag in ihrer Faust verborgen. Sie zupfte immer
wieder ein wenig daran, so wie sie es zu tun pflegte, wenn
sie dem Gemeinderat noch sturer als üblicherweise
gegenüberstand. Perrin hatte recht. Trotz des Feuers war
die Atmosphäre eisig kalt, und die Kälte ging von den
beiden Frauen am Tisch aus.
Lan lehnte am Kaminsims, starrte in die Flammen und
rieb seine Hände, um sie zu wärmen. Egwene lehnte mit
dem Rücken an der Wand. Sie hatte ihren Umhang um
und die Kapuze über den Kopf gezogen. Thom, Mat und
Perrin blieben unsicher an der Tür stehen.
Rand fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut.
Doch er zuckte die Achseln und ging zum Tisch.
Manchmal muß man den Wolf bei den Ohren packen,
machte er sich selbst Mut. Allerdings erinnerte er sich
auch an ein anderes Sprichwort: Wenn du einen Wolf an
den Ohren hältst, ist es genauso schwer, loszulassen, wie
sich festzuhalten. Er fühlte Moiraines Blick und den von
Nynaeve, und sein Gesicht begann zu brennen, aber er
nahm trotzdem genau zwischen den beiden Platz.
Eine Minute lang bewegte sich absolut nichts im Raum.
Dann traten Egwene und Perrin und schließlich auch Mat
vor, gingen zögernd zum Tisch und setzten sich neben
Rand in die Mitte. Egwene zog ihre Kapuze noch weiter
vor, genug, ihr Gesicht halb zu verbergen, und sie alle
vermieden es, irgend jemanden anzusehen.
»Also«, schnaubte Thom von seinem Standort neben
der Tür her, »soviel wäre nun geschafft.«
»Da nun alle hier sind«, sagte Lan, verließ den Kamin
und füllte einen der silbernen Becher mit Wein, »werdet
Ihr dies vielleicht endlich von mir annehmen.« Er bot
Nynaeve den Becher an. Sie betrachtete ihn mißtrauisch.
»Keine Angst«, sagte er geduldig. »Ihr habt gesehen, wie
der Wirt den Wein brachte, und keiner von uns hatte
Gelegenheit, etwas hineinzutun. Er ist ganz rein.«
Der Mund der Seherin verzog sich bei dem Wort Angst
zornig, doch sie nahm den Becher und murmelte:
»Danke.«
»Ich möchte gern wissen«, sagte er, »wie Ihr uns
gefunden habt.«
»Ich auch.« Moiraine beugte sich gespannt vor.
»Vielleicht seid Ihr jetzt gewillt zu sprechen, nachdem
Egwene und die Jungen zu Euch gebracht wurden?«
Nynaeve nippte an dem Wein, bevor sie der Aes Sedai
antwortete. »Ihr konntet nirgendwo anders als nach
Baerlon hingehen. Um sicher zu gehen, folgte ich dann
aber eurer Spur. Ihr seid ja ganz schön im Zickzack
geritten. Aber ich schätze, ihr hattet kein Interesse daran,
anständigen Leuten über den Weg zu laufen.«
»Ihr... seid unserer Spur gefolgt?« sagte Lan, der zum
ersten Mal, seit Rand ihn kannte, wirklich überrascht
wirkte. »Ich muß wohl leichtsinnig geworden sein.«
»Ihr habt nicht viele Spuren hinterlassen, aber ich kann
mindestens ebensogut Spuren lesen wie jeder Mann in den
Zwei Flüssen, vielleicht mit Ausnahme von Tam al'Thor.«
Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Bis mein Vater starb,
nahm er mich immer mit auf die Jagd und lehrte mich,
was er sonst den Söhnen beigebracht hätte, die er nie
hatte.« Sie sah Lan herausfordernd an, aber er nickte nur
beifällig.
»Wenn Ihr einer Spur folgen könnt, die ich zu
verbergen versucht habe, dann hat er Euch gut
unterrichtet. Nur wenige schaffen das, selbst in den
Grenzlanden.«
Plötzlich verbarg Nynaeve das Gesicht in ihrem
Becher. Rands Augen weiteten sich. Sie errötete. Nynaeve
zeigte sich niemals auch nur im geringsten verwirrt.
Zornig, ja, oftmals auch wütend, aber niemals aus der
Fassung gebracht. Doch nun waren ihre Wangen deutlich
gerötet, und sie bemühte sich, das durch den Becher zu
verdecken.
»Vielleicht«, sagte Moiraine ruhig, »werdet Ihr nun
einige meiner Fragen beantworten. Ich habe Eure ehrlich
genug beantwortet.«
»Mit einem Haufen Gaukler-Märchen«, schoß Nynaeve
zurück. »Die einzige Tatsache, die ich feststellen kann, ist,
daß vier junge Leute aus einem unerfindlichen Grund von
einer Aes Sedai entführt wurden.«
»Man hat Euch gesagt, daß das hier niemand weiß«,
sagte Lan scharf. »Ihr müßt lernen, Eure Zunge zu
hüten.«
»Warum sollte ich?« wollte Nynaeve wissen. »Warum
sollte ich Euch helfen, Euch oder das, was Ihr seid, zu
verbergen? Ich bin gekommen, um Egwene und die
Jungen nach Emondsfeld zurückzubringen, und nicht, um
Euch zu helfen, sie wegzulocken.«
Thom mischte sich mit Verachtung in der Stimme ein:
»Wenn Ihr wollt, daß sie ihr Dorf wiedersehen – und Ihr
selbst auch –, dann solltet Ihr vorsichtiger sein. Es gibt in
Bearlon solche, die sie« – er machte eine schnelle
Kopfbewegung auf Moiraine zu – »töten würden für das,
was sie darstellt. Ihn auch!« Er zeigte auf Lan, und dann
trat er plötzlich vor und stemmte die Fäuste auf den Tisch.
Er ragte über Nynaeve auf, und sein langer Schnurrbart
und die dichten Augenbrauen wirkten mit einemmal
bedrohlich.
Ihre Augen weiteten sich und sie wollte sich schon von
ihm wegdrehen, doch dann versteifte sie trotzig den
Rücken. Thom schien es gar nicht zu bemerken; er fuhr
mit unheilverheißend sanfter Stimme fort: »Nur ein
Gerücht, ein Flüstern in ein falsches Ohr, würde genügen,
und sie würden diese Schenke wie ein Schwarm vor
Kriegerameisen überschwemmen. Ihr Haß ist so stark, ihr
Wunsch, jeden von der Sorte dieser beiden
gefangenzunehmen oder zu töten. Und das Mädchen? Die
Jungen? Ihr? Ihr hängt alle mit ihnen zusammen.
Jedenfalls wäre es genug für die Weißmäntel. Es würde
Euch nicht gefallen, wie sie ihre Fragen stellen, besonders
wenn es irgendwie um den Weißen Turm geht. Die
Folterknechte der Weißmäntel nehmen von vornherein an,
daß Ihr schuldig seid, und für diese Art von Schuld gibt es
nur ein Urteil. Sie haben kein Interesse daran, die
Wahrheit herauszufinden; sie glauben, diese ohnehin
bereits zu kennen. Alles, was sie mit ihren Brandeisen und
Zangen erreichen wollen, ist ein Geständnis. Also erinnert
Euch besser daran, daß manche Geheimnisse zu gefährlich
sind, sie laut auszusprechen, selbst wenn Ihr glaubt zu
wissen, wer zuhört.« Er richtete sich auf und murmelte
noch: »Wie es scheint, muß ich das in letzter Zeit viel zu
oft sagen.«
»Das war gut gesprochen, Gaukler«, sagte Lan. Der
Behüter blickte wieder abwägend drein. »Ich bin
überrascht, daß Ihr so besorgt seid.«
Thom zuckte die Achseln. »Es ist auch bekannt, daß ich
mit Euch gekommen bin. Ich lege keinen Wert darauf,
daß mir ein Folterknecht mit einem Brandeisen sagt, ich
solle meinen Sünden bereuen und im Licht wandeln.«
»Das«, warf Nynaeve mit beißender Stimme ein, »ist
noch ein Grund mehr, warum sie morgen mit mir
heimkehren sollten. Oder schon heute nachmittag. Je eher
wir weg sind von Euch und auf dem Rückweg nach
Emondsfeld, desto besser.«
»Das können wir nicht«, sagte Rand und war froh, daß
seine Freunde alle zur gleichen Zeit protestierten.
Nynaeves böser Blick mußte nun wenigstens allen
gleichermaßen gelten, und sie bekamen ihn auch prompt
zu spüren. Doch da er zuerst gesprochen hatte, schwiegen
alle anderen und sahen ihn an. Selbst Moiraine lehnte sich
auf ihrem Stuhl zurück und sah ihn über die
verschränkten Finger hinweg an. Es kostete ihn einige
Mühe, der Seherin ins Auge zu blicken. »Wenn wir nach
Emondsfeld zurückgehen, dann kommen auch die Trollocs
zurück. Sie... sie jagen uns. Ich weiß nicht, warum, aber
es stimmt. Vielleicht werden wir in Tar Valon
herausfinden, warum. Vielleicht finden wir auch heraus,
wie wir das beenden können. Es ist der einzige Weg.«
Nynaeve hob verzweifelt die Hände. »Du hörst dich
genau wie Tam an. Er ließ sich in die Dorfversammlung
tragen und versuchte, alle zu überzeugen. Zuvor hatte er
das schon beim Gemeinderat probiert. Das Licht weiß,
wie eure... Frau Alys« – ihre Stimme schüttete eine
Wagenladung Verachtung über den Namen aus – »es
geschafft hat, ihn zu überzeugen. Normalerweise verfügt
er über gesunden Menschenverstand, mehr als die meisten
anderen Männer. Jedenfalls besteht der Gemeinderat auch
sonst aus einem Haufen alter Narren. Aber dafür waren
selbst sie nicht närrisch genug, und die anderen auch
nicht. Sie stimmten zu, daß man euch suchen müsse. Dann
wollte Tam derjenige sein, der euch folgt, dabei konnte er
sich noch nicht einmal auf den Beinen halten. Eure
Familie muß aus lauter Narren bestehen.«
Mat räusperte sich und nuschelte dann: »Wie steht's mit
meinem Pa? Was hat er gesagt?«
»Er hat Angst, daß du deine Streiche an Ausländern
versuchst und dafür eins über den Kopf kriegst. Er schien
davor mehr Angst zu haben, als vor... Frau Alys hier.
Aber er war noch nie viel schlauer als du.«
Mat schien sich nicht sicher zu sein, wie er das
verstehen sollte oder was er antworten sollte oder ob
überhaupt eine Antwort fällig war.
»Ich erwarte«, begann Perrin zögernd, »ich meine, ich
denke, Meister Luhhan war auch nicht gerade glücklich
über meine Abreise.«
»Hast du erwartet, daß er sich freut?« Nynaeve
schüttelte angewidert den Kopf und sah Egwene an. »Ich
sollte mich eigentlich bei diesen drei nicht über solche
idiotischen Einfälle wundern, aber ich dachte, andere
hätten etwas mehr Urteilsvermögen.«
Egwene lehnte sich zurück, damit sie von Perrin
verdeckt wurde. »Ich habe eine Nachricht hinterlassen«,
sagte sie schwach. Sie zupfte an ihrer Kapuze herum, als
habe sie Angst, ihr loses Haar könne sich zeigen. »Ich
habe alles erklärt.« Nynaeves Gesicht lief dunkel an.
Rand seufzte. Die Seherin war drauf und dran, einen
ihrer Wutanfälle zu bekommen und es sah nach einem
ganz hochkarätigen aus. Wenn sie sich in ihrem Zorn auf
etwas versteifte – wenn sie zum Beispiel sagte, sie werde
sie nach Emondsfeld zurückschicken, ganz gleich, was
irgend jemand behauptete –, dann wäre es fast unmöglich,
sich dem zu entziehen. Er öffnete den Mund.
»Eine Nachricht!« begann Nynaeve, gerade als
Moiraine sagte: »Ihr und ich, wir müssen uns immer noch
unterhalten, Seherin.«
Hätte Rand sich selbst noch am Sprechen hindern
können, dann wäre es in diesem Augenblick angebracht
gewesen, doch seine Worte strömten heraus, als habe er
statt seines Mundes ein Wehr geöffnet. »Alles schön und
gut, aber es ändert nichts an der Lage. Wir können nicht
zurück. Wir müssen weiter.« Das letztere sagte er etwas
langsamer, und seine Stimme sank zu einem Flüstern ab.
Die Seherin und die Aes Sedai sahen ihn an. Es war die
Art von Blick, wie er ihn kannte, wenn er auf Frauen traf,
die über Angelegenheiten des Frauenzirkels sprachen – die
Art, die ihm sagte, er solle seine Nase nicht in die
Angelegenheiten anderer stecken. Er lehnte sich zurück
und wünschte sich, er sei irgendwo anders.
»Seherin«, sagte Moiraine, »Ihr müßt mir glauben, daß
sie bei mir sicherer sind als in den Zwei Flüssen.«
»Sicherer!« Nynaeve schüttelte verächtlich den Kopf.
»Ihr seid diejenige, die sie hierher gebracht hat, wo sich
die Weißmäntel aufhalten. Dieselben Weißmäntel, wenn
der Gaukler die Wahrheit gesagt hat, die ihnen
Euretwegen etwas antun könnten. Sagt mir, wieso sie hier
sicherer sind, Aes Sedai!«
»Es gibt viele Gefahren, vor denen ich sie nicht
beschützen kann«, stimmte Moiraine zu, »genauso wie Ihr
sie nicht vor dem Blitz beschützen könnt, wenn Ihr mit
ihnen zurückkehrt. Aber es ist nicht der Blitz, vor dem sie
sich fürchten müssen, und es sind auch nicht die
Weißmäntel. Es sind der Dunkle König und seine
Abgesandten. Und vor denen kann ich sie beschützen. Ich
kann die Wahre Quelle berühren, kann Saidar benützen,
und das gibt mir so wie jeder Aes Sedai die Macht, die zu
ihrem Schutz notwendig ist.« Nynaeves Mund verzog sich
zweifelnd. Auch Moiraines Lippen verzogen sich, aber
vor Ärger, und doch fuhr sie fort, wenn auch ihre Stimme
klang, als sei sie mit ihrer Geduld am Ende. »Selbst jene
armen Männer, die für kurze Zeit über die Macht
verfügen, genießen diesen Schutz. Obwohl Saidin nicht
nur beschützt, denn gelegentlich werden sie durch das
Verderben, das daran klebt, auch erst richtig verwundbar.
Aber ich kann, wie jede andere Aes Sedai, meinen Schutz
auf die ausdehnen, die sich in meiner Nähe befinden. Kein
Blasser kann ihnen etwas antun, solange sie sich – so wie
jetzt – dicht bei mir aufhalten. Kein Trolloc kann sich auf
mehr als eine Viertelmeile nähern, ohne daß Lan es
merkt, denn er fühlt das Böse an ihnen. Könnt Ihr ihnen
halb soviel bieten, wenn sie mit Euch nach Emondsfeld
zurückkehren?«
»Ihr traut Euch reichlich viel zu«, sagte Nynaeve. »Wir
haben ein Sprichwort in den Zwei Flüssen, das heißt: ›Es
ist gleich, wer gewinnt, der Wolf oder der Bär – das
Kaninchen ist immer der Verlierer.‹ Tragt Euren Streit
irgendwo anders aus, und laßt die Leute aus Emondsfeld
in Frieden.«
»Egwene«, sagte Moiraine nach einem Moment des
Schweigens, »geh mit den anderen weg, und laß die
Seherin eine Weile mit mir allein.« Ihr Gesicht sagte
nichts aus; Nynaeve machte sich am Tisch breit, als sei sie
bereit, einen Ringkampf zu beginnen.
Egwene sprang auf die Beine. Ihr Wunsch, sich
würdevoll zu bewegen, stand offenbar mit ihrem Wunsch
auf dem Kriegsfuß, eine Auseinandersetzung mit der
Seherin wegen ihres offen getragenen Haares zu
vermeiden. Sie hatte keinerlei Schwierigkeiten; durch
einen Blick die anderen um sich zu versammeln. Mat und
Perrin schoben ihre Stühle hastig nach hinten, murmelten
irgendwelche Höflichkeitsfloskeln und bemühten sich,
nicht gleich hinauszurennen. Selbst Lan ging auf ein
Zeichen Moiraines zur Tür und zog Thom mit sich.
Rand folgte, und der Behüter schloß die Tür hinter
ihnen. Dann stand er auf der anderen Seite des Flurs
Wache. Unter Lans argwöhnischen Blicken gingen die
anderen ein kleines Stück weiter den Korridor hinunter.
Es durfte auch nicht die geringste Gelegenheit für
jemanden geben, sie zu belauschen. Als sie gerade weit
genug entfernt waren, daß es ihm paßte, lehnte sich der
Behüter entspannt gegen die Wand. Auch ohne seinen
farbverändernden Umhang wirkte er so bewegungslos,
daß er nur schwer zu bemerken war, außer man stand
direkt vor ihm.
Der Gaukler äußerte, daß er Besseres zu tun habe, und
verließ sie mit einem ernsten: »Erinnert Euch daran, was
ich gesagt habe!« über seine Schulter hinweg. Kein
anderer schien das Bedürfnis zu haben, sich wegzustehlen.
»Was hat er gemeint?« fragte Egwene abwesend. Ihre
Augen waren auf die Tür gerichtet, hinter der Moiraine
und Nynaeve miteinander sprachen. Sie spielte an ihren
Haaren herum, als sei sie innerlich gespalten: Sollte sie
weiterhin die Tatsache verbergen, daß sie die Haare offen
trug oder die Kapuze einfach zurückschlagen?
»Er hat uns einige Ratschläge erteilt«, sagte Mat.
Perrin sah ihn warnend an. »Er sagte, wir sollten den
Mund nicht aufmachen, bevor wir sicher seien, was wir
eigentlich sagen wollten.«
»Das klingt nach einem guten Ratschlag«, sagte
Egwene, doch sie wirkte dabei ganz eindeutig
desinteressiert. Rand stand in Gedanken versunken da.
Wie konnte denn Nynaeve Teil dieses Ganzen sein? Wie
konnte irgendeiner von ihnen überhaupt mit Trollocs und
Blassen und einem in den Träumen erscheinenden
Ba'alzamon zu tun haben? Es war verrückt. Er fragte
sich, ob Min Moiraine von Nynaeve berichtet hatte. Was
sagen sie dort drinnen?
Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort gestanden
hatte, als sich die Tür endlich öffnete. Nynaeve trat heraus
und erschrak, als sie Lan bemerkte. Der Behüter sagte ihr
leise etwas, was sie ihren Kopf ärgerlich in den Nacken
werfen ließ, und dann schlüpfte er an ihr vorbei durch die
Tür.
Sie wandte sich Rand zu, und nun wurde ihm erst
bewußt, daß die anderen alle heimlich verschwunden
waren. Er wollte der Seherin nicht allein
gegenüberstehen, doch jetzt, da sie ihn erblickt hatte, gab
es kein Entrinnen mehr. Ein forschender Blick, dachte er
erstaunt. Was haben sie nur gesprochen? Er richtete sich
auf, als sie sich ihm näherte.
Sie zeigte auf Tams Schwert. »Das scheint heutzutage
zu dir zu passen, obwohl es mir lieber wäre, das wäre
nicht der Fall. Du bist gewachsen, Rand.«
»In einer Woche?« Er lachte, doch es klang gezwungen
und sie schüttelte den Kopf, als verstehe sie nicht. »Hat sie
dich überzeugt?« fragte er. »Es ist wirklich die einzige
Möglichkeit.« Er unterbrach sich und dachte an Mins
Funken. »Kommst du mit uns?«
Nynaeve machte große Augen. »Mit euch kommen?
Warum sollte ich? Mavra Mallen ist von Devenritt
herübergekommen, um mich zu vertreten, bis ich
zurückkehre, aber sie wird zurückkehren wollen, sobald
sie nur kann. Ich hoffe immer noch, daß ich euch zum
Einlenken bringe und ihr mit mir heimkommt.«
»Das können wir nicht.« Er glaubte, an der immer
noch geöffneten Tür eine Bewegung zu sehen, aber sie
waren allein im Flur.
»Das hast du mir schon einmal gesagt, und sie auch.«
Nynaeve zog die Stirn in Falten. »Wenn sie nicht darin
verwickelt wäre... Aes Sedai kann man nicht trauen,
Rand.«
»Du hörst dich an, als ob du uns in Wirklichkeit
glaubst«, sagte er bedächtig. »Was ist bei der
Dorfversammlung geschehen?«
Nynaeve blickte zur Tür zurück, bevor sie antwortete.
Dort bewegte sich jetzt nichts. »Es war ein totales
Durcheinander, aber sie muß nicht unbedingt wissen, daß
wir unsere eigenen Angelegenheiten nicht besser regeln
können. Und ich glaube nur eine Sache: Ihr seid alle in
Gefahr, solange ihr euch bei ihr befindet.«
»Es ist etwas geschehen«, beharrte er. »Warum willst
du, daß wir zurückkommen, wenn du glaubst, es bestünde
eine Möglichkeit, daß wir doch recht haben? Und warum
überhaupt du? Man könnte dann genausogut den
Bürgermeister schicken wie die Seherin.«
»Du bist gewachsen.« Sie lächelte, und das ließ ihn
einen Augenblick lang unruhig von einem Fuß auf den
anderen treten. »Ich kann mich an eine Zeit erinnern, da
hättest du nicht in Frage gestellt, wohin ich zu gehen
beschließe oder was ich tun will, gleich, worum es ging.
Das ist gerade eine Woche her.«
Er räusperte sich und fragte stur weiter. »Es ergibt
sonst keinen Sinn. Warum bist du wirklich hier?«
Sie sah so halb zu der leeren Türöffnung hinüber und
nahm dann seinen Arm. »Laufen wir ein Stück weiter,
während wir sprechen.« Er ließ sich von ihr wegführen,
und als sie sich weit genug von der Tür entfernt hatten,
um nicht mehr belauscht zu werden, begann sie wieder.
»Wie ich schon sagte: Die Versammlung war ein einziges
Durcheinander. Alle waren sich einig, daß euch jemand
nachgeschickt werden mußte, aber das Dorf war in zwei
Gruppen gespalten. Die einen wollten, daß ihr gerettet
werdet, obwohl es kräftigen Streit darüber gab, wie das
bewerkstelligt werden könne, wenn man bedenkt, daß ihr
bei einer... bei einer von diesen seid.«
Er war froh, daß sie bei der Wahl ihrer Worte sehr
vorsichtig war. »Die anderen glaubten Tam?« fragte er.
»Nicht unbedingt, aber sie dachten, ihr solltet euch
nicht bei Fremden aufhalten, besonders nicht bei einer wie
ihr. Was auch immer – beinahe jeder Mann wollte bei der
Suchaktion dabei sein. Tam und Bran al'Vere mit den
Waagschalen seines Amtes um den Hals, und Haral
Luhhan, bis Alsbet es fertigbrachte, daß er sich wieder
hinsetzte. Sogar Cenn Buie! Das Licht bewahre mich vor
Männern, die mit dem Haar auf ihrer Brust zu denken
versuchen! Obwohl ich nicht weiß, ob es überhaupt andere
gibt.« Sie schniefte kräftig und blickte anklagend zu ihm
auf. »Jedenfalls wurde mir klar, daß es noch einen
geschlagenen Tag dauern würde, bis sie zu einer
Entscheidung kämen, und irgendwie... irgendwie war ich
sicher, daß wir nicht so lange warten durften. Also berief
ich den Frauenzirkel ein und sagte ihnen, was geschehen
müsse. Ich kann nicht behaupten, daß es ihnen gefiel, aber
sie sahen ein: Ich hatte recht. Und deshalb bin ich hier.
Die Männer aus Emondsfeld sind sture Wollköpfe. Sie
streiten sich vermutlich immer noch darüber, wen sie
schicken sollen, obwohl ich hinterließ, daß ich mich
darum kümmern werde.«
Nynaeves Geschichte erklärte ihre Anwesenheit, aber
sie konnte ihn nicht beruhigen. Sie war immer noch
entschlossen, mit ihnen zusammen nach Hause zu gehen.
»Was hat sie dir da drinnen gesagt?« fragte er.
Moiraine hätte doch sicherlich jedes Argument benützt,
aber sollte sie etwas vergessen haben, dann konnte er das
ja nachholen.
»Praktisch das gleiche«, erwiderte Nynaeve. »Und sie
wollte mehr über euch Jungen wissen. Um
herauszufinden, warum ihr... diese Art von
Aufmerksamkeit erregt habt... sagte sie jedenfalls.« Sie
legte eine Pause ein und beobachtete ihn aus den
Augenwinkeln. »Sie versuchte, es zu verschleiern, aber
vor allem wollte sie herausfinden, ob einer von euch
außerhalb der Zwei Flüsse geboren wurde.«
Sein Gesichtshaut spannte sich plötzlich wie ein
Trommelfell. Er brachte es fertig, heiser zu lachen. »Sie
hat aber eigenartige Ideen. Ich hoffe, du hast ihr
versichert, daß wir alle in Emondsfeld geboren wurden.«
»Natürlich«, antwortete sie. Sie hatte nur einen
Herzschlag lang gezögert, bevor sie sprach, so kurz, daß
er es gar nicht bemerkt hätte, wenn er nicht darauf
gewartet hätte.
Er versuchte krampfhaft, sich etwas einfallen zu lassen,
was er sagen konnte, aber seine Zunge fühlte sich an wie
ein Stück Leder. Sie weiß es. Sie war schließlich die
Seherin, und von einer Seherin nahm man an, daß sie alles
über jeden wußte. Wenn sie davon weiß, dann war es kein
Fiebertraum. O Licht hilf mir, Vater!
»Ist alles in Ordnung?« fragte Nynaeve.
»Er sagte... sagte, daß ich... nicht sein Sohn sei. Als er
im Delirium war... wegen des Fiebers. Er sagte, er habe
mich gefunden. Ich dachte, es sei nur...« Seine Kehle
begann zu brennen, und er mußte aufhören zu sprechen.
»O Rand!« Sie hielt inne und nahm sein Gesicht in ihre
beiden Hände. Sie mußte ihre Hände dazu nach oben
strecken. »Die Menschen sagen im Fieber die seltsamsten
Sachen. Verdrehte Sachen. Sachen, die nicht wahr und
wirklich sind. Hör auf mich! Tam al'Thor ist
weggelaufen, um Abenteuer zu suchen, als er ein Junge
war und nicht älter als du. Ich kann mich gerade noch
daran erinnern, wie er zurück nach Emondsfeld kam; ein
erwachsener Mann mit einer rothaarigen ausländischen
Frau und einem Baby in Windeln. Ich erinnere mich
daran, daß Kari al'Thor dieses Kind mit so viel Liebe und
Freude in den Armen hielt, wie ich es nur jemals bei einer
Mutter erlebt habe. Ihr Kind, Rand. Du. Nun reiß dich
zusammen und höre auf mit solchen Verrücktheiten.«
»Natürlich«, sagte er. Ich wurde außerhalb der Zwei
Flüsse geboren. »Natürlich.« Vielleicht hatte Tam einen
Fiebertraum gehabt, und vielleicht hatte er nach einer
Schlacht ein Baby gefunden. »Warum hast du es ihr nicht
gesagt?«
»Das geht keinen Ausländer etwas an.«
»Sind auch noch andere außerhalb geboren?« Sobald er
die Frage gestellt hatte, schüttelte er auch schon den Kopf.
»Nein, antworte nicht. Es geht mich auch nichts an.« Aber
es wäre gut, zu wissen, ob Moiraine an ihm ein besonderes
Interesse hatte, das über das Interesse an ihnen als Gruppe
hinausging. Wäre das wirklich gut?
»Nein, es geht dich nichts an«, stimmte Nynaeve zu.
»Es braucht auch nichts zu bedeuten. Es kann sein, daß sie
einfach blind nach einem Grund sucht, irgendeinem
Grund, warum diese Wesen hinter dir her sind. Hinter
euch allen.«
Rand brachte ein schwaches Grinsen fertig. »Dann
glaubst du also schon, daß sie uns jagen.«
Nynaeve schüttelte ungerührt den Kopf. »Du hast
ziemlich gut gelernt, einem das Wort im Mund zu
verdrehen, seit du sie kennengelernt hast.«
»Was wirst du tun?« fragte er.
Sie betrachtete ihn. Er sah ihr standhaft in die Augen.
»Heute werde ich ein Bad nehmen. Was das andere angeht,
werden wir ja sehen.«
KAPITEL 17
Drohende Schatten
Auseinandergebrochene Pflastersteine knirschten unter
den Hufen der Pferde, als Lan sie in die Stadt führte. Die
gesamte Stadt lag in Ruinen, jedenfalls soweit Rand
blicken konnte, und war so verlassen, wie Perrin es gleich
behauptet hatte. Nicht einmal eine Taube flog auf, und in
den Rissen der Mauern und Straßen wucherte Unkraut,
das nach diesem Winter aber auch schon alt und
abgestorben war. Bei mehr als der Hälfte aller Gebäude
war das Dach eingefallen. Aus zusammengebrochenen
Mauern waren Ziegel und Bausteine in die Straßen
gestürzt. Türme ragten mit zerfransten Spitzen wie
abgebrochene Zahnstummel in den Himmel.
Unregelmäßig geformte Schutthaufen, an deren Hängen
ein paar verkrüppelte Bäume wuchsen, konnten wohl die
Überreste von Palästen oder vollständigen Wohnblocks
darstellen.
Doch das, was noch stand, war genug, um Rand den
Atem zu rauben. Auch das größte Gebäude Baerlons
würde im Schatten beinahe jeden Gebäudes hier
verschwinden. Blasse Marmorpaläste mit riesigen Kuppeln
obenauf waren überall zu sehen. Jedes Gebäude schien
zumindest eine Kuppel zu haben; manche hatten vier oder
fünf, und jede hatte eine andere Form. Lange Säulengänge
zogen sich Hunderte von Schritten bis zu Türmen hin, die
in den Himmel zu greifen schienen. An jeder Kreuzung
stand ein Bronzebrunnen oder die Alabastersäule eines
Denkmals oder eine Statue auf einem Sockel. Obwohl die
Brunnen ausgetrocknet, die meisten Denkmäler
umgestürzt und viele der Statuen abgebröckelt waren,
waren die Überreste noch immer so großartig, daß Rand
nur staunen konnte.
Und ich habe Baerlon für eine Stadt gehalten!
Versengen soll mich das Licht, aber Thom muß sich ganz
schön über uns amüsiert haben. Moiraine und Lan
natürlich auch.
Er war so in seine Betrachtungen versunken, daß es ihn
überraschte, als Lan plötzlich vor einem weißen
Steingebäude anhielt, das einst doppelt so groß wie der
Hirsch und Löwe gewesen war. Man konnte nicht mehr
sagen, was es einst dargestellt hatte, als die Stadt bewohnt
und groß gewesen war – vielleicht sogar eine Schenke.
Von den oberen Stockwerken existierte nur noch ein
hohles Gerüst. Durch die leeren Fensterlöcher – Holz und
Glas waren lange schon verschwunden – konnte man den
Nachmittagshimmel sehen, doch das Erdgeschoß schien
stabil genug. Wie alt mag das alles sein? dachte Rand.
Moiraine, die ihre Hände immer noch auf dem
Sattelhorn liegen hatte, betrachtete das Gebäude
eingehend, bevor sie nickte. »Das wird gehen.«
Lan sprang aus dem Sattel und hob die Aes Sedai von
ihrem Pferd herunter. »Bringt die Pferde hinein«,
kommandierte er. »Sucht Euch einen Raum weiter hinten
als Stall heraus. Los, Bauernjungen. Das ist nicht der
Dorfplatz zu Hause!« Er verschwand mit der Aes Sedai
auf den Armen nach drinnen. Nynaeve kletterte herunter
und lief ihm nach. Sie hielt ihren Beutel mit Kräutern und
Salben fest in der Hand. Egwene kam ihr sogleich nach.
Sie ließen ihre Reittiere einfach stehen.
»Bringt die Pferde hinein«, äffte Thom spöttisch nach
und pustete die Enden seines Schnurrbarts von seinen
Lippen. Er kletterte steif und langsam herab, rieb sich den
Rücken und seufzte lang. Dann nahm er Aldiebs Zügel.
»Na?« sagte er und zog eine Augenbraue hoch, wobei er
Rand und seine Freunde auffordernd anblickte.
Sie beeilten sich beim Absteigen und trieben die
restlichen Pferde zusammen. Der Torbogen, an dem kein
Rest einer früheren Tür mehr hing, war mehr als groß
genug, um die Tiere hindurchzubringen, sogar immer
zwei nebeneinander.
Drinnen fanden sie einen riesigen Saal, so breit wie das
ganze Gebäude, mit einem schmutzigen, geplättelten
Fußboden und ein paar zerfetzten Wandbehängen, zu
einem stumpfen, gleichmäßigen Braun verblaßt, die
aussahen, als würden sie bei einer Berührung gleich
zerfallen. Sonst nichts. Lan hatte in der nächstgelegenen
Ecke für sich und Moiraine einen Lagerplatz mit ihren
Umhängen als Unterlagen gerichtet. Nynaeve schimpfte
über den Staub, kniete neben der Aes Sedai nieder und
kramte in ihrem Beutel herum, den ihr Egwene aufhielt.
»Ich kann sie vielleicht nicht leiden, das mag schon
stimmen«, sagte Nynaeve zu dem Behüter, als Rand, der
Bela und Wolke führte, hinter Thom eintrat, »aber ich
helfe jedem, der meine Hilfe braucht, ob ich ihn mag oder
nicht.«
»Ich habe mich nicht beklagt, Seherin. Ich habe nur
gesagt, Ihr sollt mit Euren Kräutern vorsichtig umgehen.«
Sie sah ihn aus den Augenwinkeln an. »Es ist nun mal
so, daß sie meine Kräuter braucht, und Ihr ebenfalls.« Zu
Beginn klang ihre Stimme bitter, doch dann nahm sie
einen eher beißenden Tonfall an. »Es ist nun mal so, daß
sie eben auch nur soviel und nicht mehr tun kann, selbst
mit Ihrer Einen Macht, und sie hat schon soviel getan, wie
sie nur konnte, ohne zusammenzubrechen. Es ist nun mal
so, Herr der Sieben Türme, daß Euer Schwert ihr jetzt
nicht helfen kann, wohl aber meine Kräuter.«
Moiraine legte eine Hand auf Lans Arm. »Entspanne
dich, Lan. Sie meint es nicht böse. Sie weiß es einfach
nicht besser.« Der Behüter schnaubte verächtlich.
Nynaeve hörte mit dem Herumkramen in ihrem Beutel auf
und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann
aber sprach sie Moiraine an. »Es gibt viele Dinge, die ich
nicht weiß. Worum geht es hier?«
»Zum einen«, antwortete Moiraine, »brauche ich
wirklich nur etwas Ruhe. Zum anderen stimme ich Euch
zu. Eure Fähigkeiten und Euer Wissen werden uns mehr
nützen, als ich dachte. Wenn Ihr nun noch etwas habt, was
mich eine Stunde lang schlafen läßt, ohne daß ich einen
schweren Kopf bekomme...?«
»Ein schwacher Tee aus Fuchsschwanzgras, Marisin
und...«
Rand versäumte den Rest, als er Thom in einen zweiten
Raum folgte, der genauso groß und noch leerer war als
der erste. Hier gab es nur Staub, dicht und unberührt, bis
sie kamen. Nicht einmal die Spuren von Vögeln oder
Kleintieren waren auf dem Fußboden zu sehen.
Rand nahm Bela und Wolke die Sättel ab, Thom sattelte
Aldieb und seinen Wallach ab und Perrin sein Pferd und
Mandarb. Alle außer Mat. Er ließ seine Zügel mitten im
Raum einfach fallen. Es gab außer der Tür, durch die sie
eingetreten waren, noch zwei Ausgänge. »Eine Straße«,
verkündete Mat, nachdem er den Kopf zum ersten
hinausgestreckt hatte. Das konnten sie alle von ihren
Standpunkten aus sehen. Die zweite Tür war nur ein
schwarzes Rechteck in der hinteren Wand. Mat ging
langsam durch und kam viel schneller wieder zurück,
wobei er sich lebhaft alte Spinnweben vom Haar streifte.
»Da ist nichts drin«, sagte er und beäugte wieder die
Gasse.
»Wirst du dich vielleicht mal um dein Pferd
kümmern?« fragte Perrin. Er war bereits mit seinem
fertig und hob gerade Mandarbs Sattel ab. Es war seltsam,
aber der Hengst mit den wilden Augen machte bei ihm
überhaupt keine Schwierigkeiten, obwohl er Perrin genau
beobachtete. »Keiner wird das für dich erledigen.«
Mat blickte noch einmal zu der Gasse hinüber und
wandte sich dann seufzend seinem Pferd zu. Als Rand
Belas Sattel auf den Boden legte, bemerkte er, daß Mat
nur trübsinnig in die Luft stierte. Seine Augen schienen
tausend Meilen weit weg, und er bewegte sich nur ganz
mechanisch.
»Bist du in Ordnung, Mat?« sagte Rand. Mat hob den
Sattel von seinem Pferd und stand gedankenverloren da.
»Mat? Mat!«
Mat erschrak und ließ beinahe den Sattel fallen. »Was?
Oh! Ich... Ich habe nur nachgedacht.«
»Nachgedacht?« höhnte Perrin von drüben her, wo er
gerade Mandarbs Geschirr abschnallte. »Du hast
geschlafen!«
Mat machte ein finsteres Gesicht. »Ich habe darüber
nachgedacht, was... was da hinten geschehen ist. Über
diese Worte, die ich...« Alle wandten sich ihm zu, nicht
nur Rand, und er trat unsicher von einem Fuß auf den
anderen. »Also, ihr habt ja gehört, was Moiraine sagte. Es
ist, als habe irgendein toter Mann mit meiner Zunge
gesprochen. Es gefällt mir nicht.« Seine Miene
verfinsterte sich noch mehr, als Perrin lachte.
»Aemons Schlachtruf, sagte sie – richtig? Vielleicht ist
in dir Aemon wiedergeboren. So wie du immer über
Emondsfeld herziehst, wie langweilig es dort ist, denke
ich, das würde dir gefallen – ein König und wiederge-
borener Held zu sein.«
»Sagt so etwas nicht!« Thom holte tief Luft. Jetzt sah
jeder ihn an. »Das ist gefährliches, dummes Gerede! Die
Toten können wiedergeboren werden oder einen lebenden
Körper übernehmen, und das ist nichts, worüber man so
leichthin sprechen darf.« Er holte noch mal tief Luft, um
sich zu beruhigen, bevor er fortfuhr: »Das alte Blut, hat
sie gesagt. Das Blut und kein toter Mann. Ich habe gehört,
daß so was manchmal geschehen kann. Gehört, wie gesagt,
aber ich dachte niemals im Ernst daran... Es waren deine
Wurzeln, Junge. Das geht zurück über deinen Vater zu
deinem Großvater und geradewegs zu Manetheren und
vielleicht noch weiter. Na ja, jetzt weißt du, daß deine
Familie alt ist. Damit solltest du es bewenden lassen und
einfach froh sein. Die meisten Leute wissen nicht viel
mehr, als daß sie einen Vater hatten.«
Manche von uns können nicht einmal da sicher sein,
dachte Rand bitter. Vielleicht hatte die Seherin recht.
Licht, ich hoffe, sie hatte recht.
Mat nickte zu den Worten des Gauklers. »Ja, das denke
ich auch. Nur... glaubt Ihr, daß es etwas mit dem zu tun
hat, was mit uns geschehen ist? Die Trollocs und alles? Ich
meine... ach, ich weiß gar nicht, was ich meine.«
»Ich glaube, du solltest es vergessen und dich darauf
konzentrieren, heil aus allem rauszukommen.« Thom zog
seine langstielige Pfeife aus einer Innentasche seines
Umhangs. »Und ich glaube, ich werde ein wenig
rauchen.« Er winkte mit der Pfeife in ihre Richtung und
verschwand im vorderen Saal.
»Wir stecken alle gemeinsam in dieser Sache, und nicht
einzeln«, sagte Rand zu Mat.
Mat schüttelte sich und lachte kurz und hart auf.
»Richtig. Also, wenn wir schon von gemeinsamen Dingen
reden: Jetzt sind wir ja mit den Pferden fertig, warum
sollten wir dann nicht herumlaufen und ein bißchen mehr
von dieser Stadt sehen? Eine richtige Stadt und keine
Menschenmengen, wo man ständig angerempelt und
getreten wird. Keiner, der uns von oben herab anschaut.
Das Tageslicht wird sich noch eine, vielleicht auch zwei
Stunden lang halten.«
»Vergißt du nicht die Trollocs?« fragte Perrin.
Mat schüttelte verächtlich den Kopf. »Lan sagte, sie
kämen nicht hierher; erinnerst du dich nicht mehr? Du
mußt auf das hören, was die Leute sagen.«
»Ich erinnere mich«, sagte Perrin. »Und ich pflege
zuzuhören. Diese Stadt – Aridhol? – war ein Verbündeter
von Manetheren. Siehst du? Ich höre zu.«
»Aridhol muß wohl während der Trolloc-Kriege die
größte Stadt gewesen sein«, sagte Rand, »wenn die
Trollocs sie immer noch fürchten. Sie hatten keine Angst,
die Zwei Flüsse zu betreten, und Moiraine sagte, daß
Manetheren – wie hat sie das ausgedrückt? – ein Dorn im
Fuße des Dunklen Königs war.«
Perrin hob die Hände. »Erwähne bitte den Schäfer der
Nacht nicht. Bitte!«
»Was meint ihr?« lachte Mat. »Gehen wir!«
»Wir sollten Moiraine erst fragen«, sagte Perrin, und
Mat hob nun die Hände in einem Anfall von
Verzweiflung. »Moiraine fragen? Denkst du, sie wird uns
aus ihrer Sichtweite lassen? Und wie steht's mit Nynaeve?
Blut und Asche, Perrin, warum willst du nicht auch noch
Frau Luhhan fragen, wenn du schon dabei bist?«
Perrin nickte zögernd, und Mat wandte sich grinsend an
Rand. »Wie steht's mit dir? Eine richtige Stadt? Mit
Palästen!« Er lachte hinterhältig. »Und keine Weißmäntel,
die uns anstarren.«
Rand warf ihm einen spöttischen Blick zu, zögerte aber
nur kurz. Diese Paläste hätten aus einer Gauklergeschichte
stammen können. »Geht klar!«
Sie bewegten sich ganz leise, damit man sie in dem
vorderen Saal nicht hören konnte, und verließen das
Gebäude über die Gasse. Sie folgten ihr von der
Vorderfront des Gebäudes bis zu einer Straße auf der
anderen Seite. Sie gingen schnell, und als sie sich einen
Häuserblock weit von dem weißen Steingebäude entfernt
hatten, begann Mat plötzlich zu hüpfen und zu tanzen.
»Frei.« Er lachte. »Frei!« Er ging langsamer, bis er
schließlich einen Kreis beschrieb und dabei alles um sich
herum betrachtete und immer weiter lachte. Die
Nachmittagsschatten erstreckten sich lang und gezackt,
und die sinkende Sonne färbte die in Ruinen liegende Stadt
golden. »Habt ihr euch je einen solchen Ort erträumt?
Habt ihr das?«
Perrin lachte auch, aber Rand zuckte nur unangenehm
berührt die Achseln. Das glich in nichts der Stadt aus
seinem ersten Traum, doch trotzdem... »Wenn wir noch
etwas sehen wollen«, sagte er, »dann sollten wir
losmarschieren. Es wird nicht mehr lange Tag sein.«
Mat wollte einfach alles sehen, so schien es jedenfalls,
und er riß mit seiner Begeisterung die anderen mit. Sie
kletterten über verstaubte Brunnen, deren Wasserbecken
groß genug waren, um alle Emondsfelder auf einmal
unterzubringen, liefen in Gebäude hinein und wieder
heraus, die sie ohne irgendein System per Zufall
auswählten, aber es waren immer die größten, die sie
finden konnten. Einiges verstanden sie, anderes nicht. Ein
Palast war immer noch ein Palast, aber was konnte man
mit einem Gebäude anfangen, das nur aus einer runden,
weißen Kuppel bestand, außen so groß wie ein ganzer
Hügel und mit einem riesenhaften Saal im Inneren? Und
was sollte dieser von Mauern begrenzte Platz ohne Dach,
groß genug, um ganz Emondsfeld darin unterzubringen,
mit Reihe auf Reihe auf Reihe von Steinbänken
außenherum?
Mat wurde ungeduldig, als sie nichts außer Staub,
Schutt und farblosen Wandbehängen fanden, die bei der
leisesten Berührung zerfielen. Einmal waren Holzstühle an
einer Mauer aufgestapelt, doch als Perrin versuchte, einen
davon aufzuheben, zerfielen sie alle.
Die Paläste mit ihren riesigen leeren Sälen – in einigen
davon hätte man gut die Weinquellenschenke unterbringen
können, und es wäre auf allen Seiten und nach oben hin
noch genug Platz geblieben – ließen Rand oft an die
Menschen denken, die sie einst bewohnt hatten. E r
glaubte, daß alle Einwohner der Zwei Flüsse unter dieser
runden Kuppel Platz gefunden hätten, und was den Ort
mit den Steinbänken betraf... Er konnte sich beinahe
plastisch vorstellen, die Menschen in den Schatten zu
erkennen, wie sie mißbilligend den drei Eindringlingen
zusahen, die ihre Ruhe störten.
Schließlich wurde selbst Mat müde, auch wenn die
Gebäude noch so beeindruckend waren, und er erinnerte
sich daran, daß er in der Nacht zuvor nur eine Stunde lang
geschlafen hatte. Alle begannen, sich daran zu erinnern.
Gähnend saßen sie auf den Stufen vor einem hohen
Gebäude, an dessen Vorderseite viele Reihen hoher
Steinsäulen aufgestellt waren, und stritten sich darüber,
was sie als nächstes machen sollten.
»Zurückgehen«, sagte Rand, »und etwas schlafen.« E r
hielt sich den Handrücken vor den Mund. Als er wieder zu
sprechen in der Lage war, sagte er: »Schlafen. Das ist
alles, was ich will.«
»Du kannst doch immer schlafen«, sagte Mat
zielbewußt. »Schau mal, wo wir uns hier befinden. Eine
Ruinenstadt. Schätze.«
»Schätze?« Perrins Kiefer knackten. »Hier gibt es
keinen Schatz. Es gibt nichts als Staub.«
Rand hob die Hand an die Stirn, damit er nicht von der
Sonne geblendet wurde, die wie ein roter Ball über den
Dächern hing. »Es wird spät, Mat. Bald ist es dunkel.«
»Es könnte Schätze geben«, beharrte Mat tapfer. »Auf
jeden Fall möchte ich auf einen der Türme steigen. Schaut
mal den dort drüben an. Er ist unversehrt geblieben. Ich
wette, von dort droben kann man meilenweit sehen. Was
meint ihr?«
»Die Türme sind nicht sicher«, sagte eine
Männerstimme hinter ihnen.
Rand sprang auf die Füße und wirbelte herum, wobei
er sein Schwert am Griff packte. Die anderen waren
genauso schnell. Ein Mann stand im Schatten unter den
Säulen oben an der Treppe. Er trat einen halben Schritt
vor, hob die Hand, um seine Augen zu schützen, und trat
wieder zurück. »Vergebt mir«, sagte er weich. »Ich bin
eine ganze Zeit drinnen im Dunkeln gewesen. Meine
Augen sind noch nicht an das Licht gewöhnt.«
»Wer seid Ihr?« Rand hielt den Akzent des Mannes für
eigenartig, sogar nach dem, was sie in Baerlon gehört
hatten; er betonte einige Worte so seltsam, daß Rand sie
kaum verstehen konnte. »Was macht Ihr hier? Wir
dachten, die Stadt sei leer.«
»Ich heiße Mordeth.« Er legte eine Pause ein, als
erwarte er, daß sie den Namen erkannten. Als keiner von
ihnen ein Anzeichen dafür zeigte, murmelte er etwas vor
sich hin und fuhr fort: »Ich könnte Euch dasselbe fragen.
Es ist schon lange niemand mehr in Aridhol gewesen.
Lange, lange Zeit. Ich hätte nicht gedacht, daß ich auf der
Straße drei junge Männer finde.«
»Wir sind auf dem Weg nach Caemlyn«, sagte Rand.
»Wir sind hier geblieben, um uns ein Nachtquartier zu
suchen.«
»Caemlyn«, sagte Mordeth langsam und rollte den
Namen um seine Zunge herum. Dann schüttelte er den
Kopf. »Ein Nachtquartier, sagt Ihr? Vielleicht schließt Ihr
Euch mir an?«
»Ihr habt noch immer nicht gesagt, was Ihr hier
macht«, sagte Perrin.
»Also, ich bin natürlich Schatzsucher.«
»Habt Ihr einen gefunden?« wollte Mat aufgeregt
wissen.
Rand glaubte, Mordeth lächeln zu sehen, aber er konnte
im Schatten nicht sicher sein. »Habe ich«, sagte der Mann.
»Mehr als ich erwartete. Viel mehr. Mehr als ich
wegtragen kann. Ich habe nicht erwartet, drei kräftige,
gesunde junge Männer zu finden. Wenn Ihr mir helft, das,
was ich wegtragen kann, zu meinen Pferden zu schleppen,
könnt Ihr alle einen Teil des Rests bekommen. Soviel Ihr
tragen könnt. Was ich auch zurücklasse, wird schnell weg
sein, von einem anderen Schatzsucher weggeschleppt,
bevor ich zurückkommen und es holen kann.«
»Ich habe euch gesagt, daß es an einem solchen Ort
Schätze geben muß«, rief Mat. Er schoß die Treppe hoch.
»Wir werden Euch helfen, ihn zu tragen. Bringt uns nur
dorthin.« Er und Mordeth gingen tiefer in die Schatten
unter den Säulen hinein. Rand sah Perrin an. »Wir können
ihn nicht allein lassen.« Perrin sah hinüber zu der
sinkenden Sonne und nickte.
Sie gingen mißtrauisch die Treppe hoch. Perrin
lockerte die Axt in seiner Gürtelschlaufe. Rand spannte
die Hand um den Griff seines Schwertes. Mat und
Mordeth warteten zwischen den Säulen. Mordeth hatte die
Arme vor der Brust verschränkt, während Mat
ungeduldig nach innen spähte.
»Kommt«, sagte Mordeth. »Ich zeige Euch den Schatz.«
Er schlüpfte hinein, und Mat folgte ihm. Den anderen
blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls nachzukommen.
In dem Saal drinnen herrschte Düsternis, aber Mordeth
wandte sich sofort zur Seite und betrat eine enge Treppe,
die sich in vielen Windungen durch immer tiefere
Dunkelheit nach unten zog. Schließlich ertasteten sie sich
den Weg durch pechschwarze Nacht. Rand tastete mit
einer Hand an der Wand entlang und war sich nie sicher,
ob eine weitere Stufe kommen würde, bis sein Fuß sie
schließlich fand. Selbst Mat fühlte sich nicht mehr wohl in
seiner Haut. Man hörte es seiner Stimme an, als er sagte:
»Es ist schrecklich dunkel hier unten.«
»Ja, ja«, antwortete Mordeth. Der Mann schien in der
Dunkelheit überhaupt keine Probleme zu haben. »Unten
gibt es Lichter. Kommt.«
Tatsächlich mündete die Wendeltreppe plötzlich in
einen Korridor, der durch verstreute, qualmende Fackeln
in Eisenhaltern an den Wänden trübe beleuchtet wurde.
Im Licht der flackernden Fackeln hatte Rand erstmals
Gelegenheit, Mordeth, der ohne Unterbrechung
weiterhastete, genauer zu betrachten. Er winkte ihnen zu,
ihm zu folgen.
Er hatte etwas Eigenartiges an sich, dachte Rand, aber
er konnte nicht genau sagen, was es war. Mordeth war ein
gepflegter, etwas molliger Mann. Seine Augenlider waren
halb geschlossen, und so schien es, als verstecke er sich
hinter irgend etwas und blicke dahinter hervor. Er war
klein und hatte eine vollständige Glatze, doch er ging
einher, als sei er größer als sie alle. Seine Kleidung sah
ganz sicher anders aus als jede, die Rand zuvor gesehen
hatte. Enge schwarze Kniebundhosen und weiche rote
Stiefel, deren Stulpen an den Knöcheln heruntergeschlagen
waren. Eine lange, rote, mit Gold reich bestickte Weste
und ein schneeweißes Hemd mit weiten Ärmeln. Die
Enden seiner Manschetten hingen beinahe in Kniehöhe.
Ganz bestimmt keine Kleidung, in der man eine
Ruinenstadt nach Schätzen durchsucht. Aber das war es
noch nicht einmal, was ihn so fremdartig wirken ließ.
Dann mündete der Korridor in einen gekachelten Raum,
und er vergaß alles Eigenartige, was er an Mordeth
entdeckt hatte. Sein Keuchen glich dem seiner Freunde.
Auch hier stammte das Licht von einigen Fackeln, die die
Decke des Zimmers mit Ruß schwärzten und von jedem
mehr als einen Schatten erzeugten, aber dieses Licht
wurde tausendmal reflektiert von den Edelsteinen und
dem Gold, die am Boden aufgehäuft lagen: Hügel von
Münzen und Schmuck, Pokale und Teller und Platten,
vergoldete, mit Edelsteinen verzierte Schwerter und
Dolche, alles unachtsam hüfthoch aufgehäuft. Mit einem
Aufschrei rannte Mat vor und fiel vor einem der Stapel
auf die Knie nieder. »Säcke«, sagte er atemlos und steckte
die Hände in all das Gold. »Wir werden Säcke brauchen,
um all das zu tragen.«
»Wir können nicht alles tragen«, sagte Rand. Er blickte
sich hilflos um; alle Schmuckhändler, die während eines
Jahres nach Emondsfeld kamen, hätten nicht ein
Tausendstel auch nur eines dieser Stapel zusammenbringen
können. »Nicht jetzt. Es ist fast dunkel.«
Perrin zog eine Axt heraus und warf nichtachtend die
Goldketten zurück, die sich darum verwickelt hatten.
Juwelen glitzerten an ihrem glänzend-schwarzen Griff,
und die Doppelschneide war mit feinen Goldgravuren
verziert. »Also morgen«, sagte er und schwang grinsend
die Axt. »Moiraine und Lan werden uns verstehen, wenn
wir ihnen das zeigen.«
»Ihr seid nicht allein?« fragte Mordeth. Er hatte sie an
sich vorbeigelassen, als sie in die Schatzkammer stürzten,
doch nun folgte er ihnen. »Wer ist noch bei Euch?«
Mat, dessen Arme tief in den Reichtümern vor ihm
steckten, antwortete abwesend: »Moiraine und Lan. Und
dann noch Nynaeve und Egwene und Thom. Er ist
Gaukler. Wir reiten nach Tar Valon.«
Rand hielt die Luft an. Dann ließ ihn Mordeths
Schweigen den Mann anblicken. Wut und Angst
verzerrten Mordeths Gesicht. Seine Lippen öffneten sich
und gaben die Zähne frei. »Tar Valon!« Er schüttelte
geballte Fäuste nach ihnen. »Tar Valon! Ihr habt gesagt,
Ihr wolltet nach diesem... diesem... Caemlyn reiten! Ihr
habt mich angelogen!«
»Wenn Ihr immer noch wollt«, sagte Perrin zu
Mordeth, »dann kommen wir morgen zurück und helfen
Euch.« Vorsichtig legte er die Axt auf den Stapel
juwelengeschmückter Schalen und Ringe und Ketten
zurück. »Wenn Ihr wollt.«
»Nein. Das heißt...« Schwer atmend schüttelte Mordeth
den Kopf, als könne er sich nicht entscheiden. »Nehmt,
was Ihr wollt. Außer... außer...«
Plötzlich war Rand klar, was ihn die ganze Zeit an dem
Mann gestört hatte. Die verstreuten Fackeln in dem
Korridor hatten jedem von ihnen einen Ring von Schatten
verliehen, genau wie die Fackeln in der Schatzkammer.
Nur... Er war so entsetzt, daß er es laut aussprach: »Ihr
habt keinen Schatten!«
Ein Pokal fiel mit lautem Krach aus Mats Hand.
Mordeth nickte, und zum erstenmal öffneten sich seine
fleischigen Augenlider ganz. Sein schmales Gesicht
erschien auf einmal eingefallen und hungrig. »Also.« E r
richtete sich auf. Er schien nun größer als zuvor. »Die
Entscheidung ist gefallen.« Plötzlich war aller Schein
verschwunden. Mordeth schwoll wie ein Ballon an,
verzerrte sich, der Kopf stieß an die Decke, die Schultern
wurden von den Wänden aufgehalten, und so füllte er das
eine Ende des Raums und schnitt ihnen den Fluchtweg ab.
Mit eingefallenen Wangen und in einem starren Fauchen
gebleckten Zähnen streckte er Hände nach ihnen aus, die
groß genug waren, um den Kopf eines Mannes in ihnen zu
halten.
Mit einem Schrei sprang Rand zurück. Seine Füße ver-
fingen sich in einer Goldkette, und er stürzte zu Boden.
Die Luft blieb ihm weg. Er versuchte, wieder zu Atem zu
kommen, und gleichzeitig griff er nach seinem Schwert,
wobei er seinen Umhang wegreißen mußte, der sich um
die Scheide gewickelt hatte. Die Schreie seiner Freunde
erfüllten den Raum, und dazu ertönte das Klappern von
Goldtellern und Pokalen, die über den Fußboden rollten.
Plötzlich gellte ein Schmerzensschrei in Rands Ohren.
Fast schon schluchzend brachte er es endlich fertig, tief
Luft zu holen, gerade in dem Augenblick, als er auch das
Schwert aus der Scheide gezogen hatte. Vorsichtig stand
er auf und fragte sich, von welchem seiner Freunde der
Schrei hergerührt hatte. Perrin sah ihn mit weit
aufgerissenen Augen von der anderen Seite des Raums her
an, wo er mit der Axt in seiner Hand kauerte, als wolle er
einen Baum fällen. Mat blickte hinter der Seite eines
Schatzhaufens hervor, und seine Hand umklammerte einen
Dolch, den er aus dem Schatz herausgezogen hatte.
Etwas bewegte sich dort, wo der Schatten, den die
Fackeln übriggelassen hatten, am tiefsten war. Sie fuhren
alle herum. Es war Mordeth, der seine Knie an die Brust
gezogen hatte und sich so weit wie möglich in die
entfernteste Ecke drückte.
»Er hat uns betrogen«, keuchte Mat. »Es war alles eine
Falle.«
Mordeth warf den Kopf zurück und schrie jammernd
auf. Die Wände zitterten, und Staub rieselte herunter. »Ihr
seid alle tot!« rief er. »Alle tot!« Und er sprang auf und
hechtete durch den Raum.
Rands Unterkiefer klappte herab, und beinahe hätte er
das Schwert fallen lassen. Als Mordeth durch die Luft
schoß, streckte und verdünnte sich sein Körper wie eine
Rauchfahne. So dünn wie ein Finger traf er auf einen
Spalt zwischen den Kacheln an der Wand und verschwand
darin. Ein letzter Schrei wehte noch durch den Raum, als
er verschwand, und wurde langsam immer leiser,
nachdem er weg war.
»Ihr seid alle tot!«
»Wir müssen hier raus«, sagte Perrin schwach. E r
festigte seinen Griff um den Axtstiel und bemühte sich,
gleichzeitig in alle Richtungen zu sehen. Goldzierat und
Edelsteine knirschten unbeachtet unter seinen Füßen.
»Aber der Schatz«, protestierte Mat. »Wir können ihn
nicht einfach so liegen lassen.«
»Ich will nichts davon«, sagte Perrin, der sich immer
noch von einer Seite zur anderen drehte. Er erhob die
Stimme und schrie die Wände an:
»Es ist Euer Schatz, hört Ihr mich? Wir nehmen nichts
davon mit!«
Rand sah Mat zornig an. »Willst du, daß er uns
nachkommt? Oder willst du hier warten und dir die
Taschen vollstopfen, bis er mit zehn anderen von seiner
Sorte zurückkommt?«
Mat deutete auf all das Gold und die Edelsteine. Bevor
er jedoch etwas sagen konnte, packte Rand einen seiner
Arme und Perrin den anderen. Sie zerrten ihn aus dem
Raum. Mat wehrte sich und rief etwas über den Schatz.
Bevor sie auch nur zehn Schritte den Gang hinunter
getan hatten, erlosch das sowieso trübe Licht hinter ihnen
allmählich. Die Fackeln in der Schatzkammer gingen aus.
Mat hörte auf zu schreien. Sie beschleunigten ihre
Schritte. Die erste Fackel außerhalb der Schatzkammer
ging aus, dann die nächste. Als sie die Wendeltreppe
erreicht hatten, mußten sie Mat nicht mehr zerren. Sie
rannten alle, und hinter ihnen schloß sich die Dunkelheit.
Sogar die pechschwarze Dunkelheit an der Treppe ließ sie
keinen Moment zögern. Dann rannten sie hoch und
schrien mit aller Kraft. Sie schrien, um alles
wegzuscheuchen, was dort auf sie warten mochte, und um
sich selbst daran zu erinnern, daß sie noch immer lebten.
Sie rannten in den Saal oben, rutschten und stürzten auf
dem staubigen Marmorboden, krabbelten zwischen den
Säulen hindurch nach draußen und landeten in einem
aufgeschürften Gewirr auf der Straße. Rand befreite sich
und hob Tams Schwert vom Pflaster auf, wobei er sich
mißtrauisch umblickte. Weniger als die halbe Sonnen-
scheibe zeigte sich noch über den Dächern. Schatten
griffen wie dunkle Hände nach ihnen, erschienen im noch
vorhandenen Licht noch dunkler. Sie füllten die Straße.
Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Die Schatten sahen
wie Mordeth aus, als griffe er nach ihnen. »Wenigstens
sind wir draußen.« Mat stand auf und klopfte sich in einer
zittrigen Imitation seiner üblichen Geste den Staub aus der
Kleidung. »Und zumindest ich...«
»Tatsächlich?« fragte Perrin.
Rand wußte, daß es diesmal nicht seine Einbildung war.
Sein Nacken prickelte. Irgend etwas beobachtete sie aus
dem Schatten der Säulen heraus. Er fuhr herum und
betrachtete die Gebäude auf der anderen Straßenseite.
Auch von dort her konnte er Blicke auf sich ruhen fühlen.
Sein Griff um den Schwertknauf festigte sich, obwohl er
sich fragte, was das wohl bringen würde. Von überall her
schienen sie beobachtet zu werden. Die anderen sahen sich
mißtrauisch um; er wußte, daß auch sie dasselbe fühlten.
»Wir bleiben in der Straßenmitte«, sagte er heiser. Sie
suchten seinen Blick und sahen dabei genauso verängstigt
aus, wie er sich fühlte. Er schluckte schwer. »Wir bleiben
in der Straßenmitte, halten uns soweit wie möglich von
den Schatten fern und gehen schnell.«
»Gehen sehr schnell«, stimmte ihm Mat leidenschaftlich
zu.
Die Beobachter folgten ihnen. Oder aber es gab große
Mengen an Beobachtern, denn aus beinahe jedem Gebäude
wurden sie von vielen Augen angestarrt. Rand konnte
beim besten Willen keine Bewegung entdecken, aber er
fühlte die Augen, gierige, hungrige Augen. Er wußte
nicht, was schlimmer war: Tausende von Augen oder nur
wenige, die ihnen folgten.
An offenen Stellen, wo der Sonnenschein sie noch
erreichte, gingen sie etwas langsamer, allerdings nur ein
wenig, und blinzelten nervös in die Dunkelheit, die
fortwährend vor ihnen lag. Keiner von ihnen hatte es
eilig, in die Schatten zu treten; keiner war sich ganz
sicher, ob nicht doch etwas dort auf sie lauerte. Wann
immer Schatten die ganze Straße bedeckten und ihren Weg
versperrten, war die Vorfreude der Beobachter beinahe
greifbar zu spüren. Sie rannten schreiend über diese
dunklen Stellen. Rand bildete sich ein, trockenes,
raschelndes Lachen zu hören.
Endlich – die Dämmerung neigte sich schon ihrem
Ende zu – kam das weiße Steingebäude in Sicht, das sie
scheinbar vor Tagen verlassen hatten. Plötzlich waren die
Augen der Beobachter weg. Von einem Schritt auf den
anderen verschwanden sie in einem Wimpernschlag.
Wortlos begann Rand zu laufen, von seinen Freunden
gefolgt, und dann rannten sie aus Leibeskräften, bis sie
durch die Tür hetzten und schnaufend zusammensanken.
Mitten auf dem geplättelten Fußboden brannte ein
kleines Feuer. Der Rauch verschwand durch ein Loch in
der Decke, und zwar auf solche Weise, daß es Rand
unangenehm an Mordeth erinnerte. Alle außer Lan waren
da und um das Feuer herum versammelt. Ihre Reaktionen
unterschieden sich allerdings erheblich. Egwene, die sich
die Hände am Feuer wärmte, erschrak, als die drei in den
Raum platzten. Sie umklammerte erschrocken ihren Hals,
aber als sie sah, wer es war, verdarb ein Seufzer der
Erleichterung ihren Versuch eines tödlich wirkenden
Blickes. Thom murmelte nur etwas mit der Pfeife im
Mund, doch Rand konnte das Wort ›Narren‹ heraushören,
bevor der Gaukler wieder dazu zurückkehrte, mit einem
Stock in den Flammen herumzustochern.
»Ihr wollköpfigen Nichtsnutze!« schimpfte die Seherin.
Sie schien von Kopf bis Fuß Funken zu sprühen, ihre
Augen glitzerten, und auf ihren Wangen glühten dicke
rote Flecken. »Warum, zum Licht noch mal, seid ihr so
davongerannt? Stimmt's bei euch noch da oben? Habt ihr
überhaupt kein Hirn mehr? Lan sucht jetzt nach euch, und
ihr habt mehr Glück, als ihr verdient, wenn er euch bei
seiner Rückkehr nicht die Vernunft in eure dicken Schädel
prügelt!«
Das Gesicht der Aes Sedai verriet überhaupt keine
Erregung, aber bei ihrem Anblick hatten sich die in ihr
Kleid verkrampften Hände gelöst. Was Nynaeve ihr auch
gegeben haben mochte, hatte geholfen, denn sie war
wieder auf den Beinen. »Das hättet ihr nicht tun sollen«,
sagte sie mit einer Stimme, die so klar und ruhig klang
wie Oberfläche eines Sees im Wasserwald. »Wir werden
später darüber sprechen. Dort draußen muß etwas
geschehen sein, denn sonst würdet ihr nicht so über die
eigenen Füße stolpern. Was war los?«
»Ihr habt gesagt, wir seien in Sicherheit«, beklagte sich
Mat, wobei er sich wieder hochrappelte. »Ihr sagtet,
Aridhol war ein Verbündeter von Manetheren und die
Trollocs würden nicht in die Stadt kommen und...«
Moiraine trat so unvermittelt einen Schritt vor, daß Mat
seinen Redefluß mit offenem Mund abbrach und Rand und
Perrin mitten in der Bewegung des Aufstehens
innehielten, der eine noch gebückt und der andere auf den
Knien. »Trollocs? Habt ihr Trollocs innerhalb der Mauern
gesehen?«
Rand schluckte. »Keine Trollocs«, sagte er, und dann
begannen alle drei auf einmal, aufgeregt
durcheinanderzusprechen.
Jeder begann an einem anderen Punkt. Mat erzählte
zuerst davon, wie sie den Schatz gefunden hatten, und es
klang fast so, als sei es allein sein Verdienst gewesen.
Perrin erklärte zuerst, warum sie sich anfangs
davongestohlen hatten, ohne jemandem Bescheid zu sagen.
Rand kam gleich zu dem Punkt, der ihm wichtig erschien.
Er berichtete von ihrem Treffen mit dem Fremden unter
den Säulen. Aber sie waren alle derart erregt, daß keiner
die richtige Reihenfolge einhielt. Wann immer einem von
ihnen etwas einfiel, sprudelte er es heraus, ohne darauf zu
achten, was davor oder danach kam oder wer was sagte.
Die Beobachter. Sie stammelten alle etwas von
Beobachtern.
Die ganze Erzählung wirkte ziemlich
zusammenhanglos, aber ihre Furcht wurde trotzdem
deutlich. Egwene begann, unsicher zu den leeren Fenstern
an der Straßenseite hinüberzublicken. Dort draußen
verblaßten die letzten Reste der Dämmerung; das Feuer
erschien ihnen nun sehr klein und düster. Thom nahm die
Pfeife aus dem Mund und lauschte mit düsterer Miene und
geneigtem Kopf. Moiraines Augen sahen besorgt drein,
aber nicht zu sehr. Bis...
Plötzlich zischte die Aes Sedai und packte Rands
Ellenbogen ganz fest. »Mordeth! Bist du sicher, daß er so
hieß? Ihr müßt euch alle jetzt ganz sicher sein. Mordeth?«
Sie murmelten im Chor ihr ›Ja‹, durch die Erregung
der Aes Sedai erschreckt.
»Hat er euch berührt?« fragte sie. »Hat er euch irgend
etwas gegeben, oder habt ihr etwas für ihn getan? Ich muß
das wissen!«
»Nein«, sagte Rand. »Niemand. Nichts von alledem.«
Perrin nickte zustimmend und fügte hinzu: »Alles, was
er versuchte, war, uns umzubringen. Ist das nicht genug?
Er schwoll an, bis er den halben Raum ausfüllte, schrie,
wir seien alle tote Männer, und verschwand dann.« E r
zeigte es mit einer Handbewegung an. »Wie Rauch.«
Egwene kreischte auf. Mat drehte sich gereizt ab. »Sicher,
habt Ihr gesagt! All das Gerede, die Trollocs kämen nicht
hierher. Was sollten wir denn sonst denken?«
»Offensichtlich habt ihr überhaupt nicht gedacht«, sagte
sie wieder ganz kühl und beherrscht. »Jeder mit ein
bißchen Verstand würde sich an einem Ort vorsehen, den
selbst Trollocs aus Angst nicht zu betreten wagen.«
»Mats Verdienst«, sagte Nynaeve mit Sicherheit in der
Stimme. »Er überredet sie immer zu irgendwelchem
Blödsinn, und die anderen schalten das bißchen Verstand,
das sie haben, ab, wenn sie bei ihm sind.«
Moiraine nickte kurz, doch ihre Augen ruhten weiter
auf Rand und seinen beiden Freunden. »Gegen Ende der
Trolloc-Kriege lagerte eine Armee in diesen Ruinen –
Trollocs, Schattenfreunde, Myrddraal, Schattenlords, viele
Tausende. Als sie nicht mehr herauskamen, schickte man
Kundschafter hinter die Mauern. Die Kundschafter fanden
Waffen, Teile von Rüstungen und überall Blutspritzer.
Und Botschaften in der Trolloc-Sprache, die in die Wände
gekratzt waren, Gebete an den Dunklen König, er möge
ihnen in ihrer letzten Stunde helfen. Männer, die später
dorthin kamen, fanden keine Spur mehr von Blut oder
von den Botschaften. Alles war entfernt worden.
Halbmenschen und Trollocs denken noch immer daran.
Das hält sie von diesem Ort fern.«
»Und den habt Ihr erwählt, um uns zu verstecken?«
fragte Rand ungläubig. »Wir wären sicherer dort draußen
bei dem Versuch, ihnen davonzulaufen.«
»Wenn ihr nicht davongerannt wärt«, sagte Moiraine
geduldig, »hättet ihr erfahren, daß ich um dieses Gebäude
herum Amulette plaziert habe. Ein Myrddraal würde noch
nicht einmal wissen, daß sich diese Amulette hier
befinden, denn sie sollen eine andere Form des Bösen
aufhalten, aber was sich hier in Shadar Logoth befindet,
wird sie nicht überschreiten oder ihnen auch nur nahe
kommen. Am Morgen wird es sicher genug sein, daß wir
gehen können – diese Dinge können das Sonnenlicht nicht
ertragen. Sie werden sich tief in der Erde verstecken.«
»Shadar Logoth?« sagte Egwene unsicher. »Ich glaubte,
Ihr hättet gesagt, diese Stadt hieße Aridhol.«
»Einst wurde sie Aridhol genannt«, antwortete
Moiraine, »und war eine der Zehn Nationen, der Länder
des Zweiten Paktes, der Länder, die sich von den ersten
Tagen nach der Zerstörung der Welt an gegen den
Dunklen König stellten. In den Tagen, da Thorin al Toren
al Ban König von Manetheren war, war Balwen Mayel,
Balwen Eisenhand, König von Aridhol. Im Aufdämmern
der Verzweiflung während der Trolloc-Kriege schien es,
daß der Vater der Lügen sicher gewinnen würde, und in
jener Zeit kam ein Mann namens Mordeth an Balwens
Hof.«
»Derselbe Mann?« rief Rand, und Mat sagte: »Das kann
nicht sein!« Ein Blick Moiraines brachte sie zum
Schweigen. Stille erfüllte den Raum, und die Stimme der
Aes Sedai erklang wieder. »Mordeth war noch nicht lange
in der Stadt, da lieh ihm der König sein Ohr, und bald
war er der zweite Mann im Staat nach Balwen. Mordeths
Stimme war wie Gift für Balwen, und Aridhol veränderte
sich allmählich. Aridhol zog sich in sich selbst zurück und
verhärtete. Man sagte, viele sähen noch lieber Trollocs
kommen als die Männer aus Aridhol. Der Sieg des Lichts
ist alles, was zählt. Das war der Schlachtruf, den Mordeth
ihnen mitgab, und die Männer von Aridhol schrien ihn
hinaus, während ihre Taten dem Licht Hohn sprachen.
Die Geschichte ist zu lang, um sie ganz zu erzählen, und
auch zu grausig. Nur Bruchstücke davon sind bekannt,
sogar in Tar Valon. Wie Thorins Sohn Caar kam, um
Aridhol wieder für den Zweiten Pakt zurückzugewinnen,
und wie Balwen auf seinem Thron saß, eine ausgelaugte
Hülle mit dem Licht des Wahnsinns, das aus den Augen
leuchtete, wie er lachte und Mordeth an seiner Seite
lächelte und den Tod Caars und der Abgesandten als
Freunde der Dunkelheit befahl. Wie Prinz Caar den
Namen Caar Einhand erhielt. Wie er aus den Verließen
von Aridhol entkam und allein in die Grenzlande flüchtete
mit Mordeths unnatürlichen Mördern auf den Fersen. Wie
er dort Rhea traf, die nicht wußte, wer er war, und sie
heiratete und damit den Faden in das Muster verwebte,
der zu seinem Tod durch ihre Hand und zu ihrem eigenen
durch ihre Tat vor seiner Gruft führte, und zum Fall von
Alethloriel. Wie die Armee von Manetheren anrückte, um
Caar zu rächen, und die Tore von Aridhol niedergerissen
fand, kein Leben mehr in seinen Mauern, aber dafür
etwas, das schlimmer war als der Tod. Kein Feind war
nach Aridhol gekommen, Aridhol hatte sich selbst
zerstört. Aus Mißtrauen und Haß war etwas geboren
worden, das die verzehrte, die es erschaffen hatten, und
das im Muttergestein unter der Stadt lebte. Mashadar
wartet immer noch dort und ist hungrig. Die Menschen
sprachen nicht mehr von Aridhol. Sie nannten es Shadar
Logoth, den Ort An-Dem-Der-Schatten-Wartet, oder
einfacher: Wartende Schatten.
Nur Mordeth wurde nicht von Mashadar verzehrt, doch
er wurde von ihm in die Falle gelockt, und so hat auch er
in diesen Mauern jahrhundertelang gewartet. Andere
haben ihn gesehen. Einige hat er durch Geschenke
beeinflußt, die den Verstand verdrehen und den Geist
verderben. Diese Verderbnis nimmt zu und scheint wieder
zu verschwinden, wieder und wieder, bis sie herrscht...
oder tötet. Wenn er jemanden dazu bringt, ihn zu den
Mauern zu begleiten, zur Grenze von Mashadars
Machtbereich, ist er in der Lage, die Seele dieser Person
zu verzehren. Mordeth kann dann die Stadt im Körper
dessen verlassen, den er nicht nur einfach getötet hat, um
wieder Unheil in der Welt anzurichten.«
»Der Schatz«, stammelte Perrin, als sie schwieg. »Er
wollte, daß wir ihm helfen, den Schatz zu seinen Pferden
zu tragen.« Sein Gesicht trug einen gequälten Ausdruck.
»Ich wette, sie sollten irgendwo außerhalb der Stadt
angeblich auf ihn warten.« Rand lief es kalt den Rücken
hinunter. »Aber jetzt sind wir sicher, nicht wahr?« fragte
Mat. »Er hat uns nichts gegeben und uns auch nicht
berührt. Wir sind durch die Amulette, die Ihr hinterlassen
habt, in Sicherheit, ja?«
»Wir sind sicher«, stimmte Moiraine zu. »Er kann die
Abwehrlinie nicht überschreiten, genau wie die anderen
Bewohner dieses Orts. Und sie müssen sich vor dem
Sonnenlicht hüten, so daß wir hier gefahrlos weg können,
sobald es Tag ist. Versucht jetzt zu schlafen. Die Amulette
werden uns beschützen, bis Lan zurückkehrt.«
»Er ist aber schon lange weg.« Nynaeve blickte besorgt
in die Nacht hinaus. Es war jetzt vollkommen dunkel –
pechschwarz.
»Lan geht es gut«, sagte Moiraine beruhigend und
breitete ihre Decken beim Sprechen neben dem Feuer aus.
»Für ihn wurde ein Gelübde abgelegt, daß er gegen den
Dunklen König kämpfen müsse, noch bevor er die Wiege
verließ. Ein Schwert wurde in seine Kinderhände gelegt.
Außerdem wüßte ich es im selben Augenblick, wenn er
stirbt, und auch, wie er ums Leben kommt. Genauso
wüßte er es von mir. Ruhe dich jetzt aus, Nynaeve. Alles
wird gut.« Doch als sie sich in die Decken rollte, hielt sie
einen Moment lang inne und blickte auf die Straße hinaus,
als hätte auch sie gern gewußt, was den Behüter so lange
aufhielt.
Rands Arme und Beine waren bleischwer, und seine
Augen wollten sich immer wieder von allein schließen,
und doch dauerte es eine Weile, bis er einschlief, und als
es soweit war, träumte er, redete im Schlaf und strampelte
seine Decken weg. Er erwachte dann ganz unvermittelt
und sah sich einen Augenblick lang um, bevor er sich
daran erinnerte, wo er sich befand. Der Mond stand am
Himmel. Es war die letzte dünne Sichel vor dem
Neumond. Die Nacht besiegte seinen schwachen Schein.
Alle anderen schliefen noch, wenn auch manche recht
unruhig. Egwene und seine beiden Freunde wälzten sich
herum und murmelten kaum hörbar im Schlaf. Thoms
Schnarchen, ausnahmsweise einmal leise, wurde von Zeit
zu Zeit durch halbgeformte Worte unterbrochen. Es war
immer noch keine Spur von Lan zu sehen.
Plötzlich hatte er ein Gefühl, als seien die Amulette
überhaupt kein Schutz. Alles konnte sich dort draußen in
der Dunkelheit herumtreiben. Er sagte sich, das sei
närrisch, und legte frisches Holz auf die letzten Kohlen
des Feuers. Es war zu klein, um viel Wärme abzugeben,
aber es erzeugte mehr Licht.
Er hatte keine Ahnung, was ihn aus seinem
unangenehmen Traum gerissen hatte. Er war wieder ein
kleiner Junge gewesen, der Tams Schwert trug und dem
man eine Wiege auf den Rücken geschnallt hatte, und er
rannte durch leere Straßen, von Mordeth verfolgt, und
der schrie, er wolle nur seine Hand. Und dann war da
noch ein alter Mann gewesen, der hatte sie beobachtet und
die ganze Zeit wie ein Verrückter gelacht.
Er zog seine Decken zurecht, legte sich wieder hin und
blickte die Decke an. Er hätte so gerne geschlafen, selbst
auf die Gefahr hin, noch mehr solche Träume wie den
letzten zu erleben, doch er konnte einfach die Augen nicht
schließen.
Plötzlich trat der Behüter leise aus der Dunkelheit in
den Saal. Moiraine erwachte und setzte sich auf, als habe
er eine Glocke geläutet. Lan öffnete die Hand; drei kleine
Gegenstände fielen vor ihr auf die Fußbodenplatten. Das
Klicken ihres Aufpralls hörte sich nach Eisen an. Es
waren drei blutrote Abzeichen in Form gehörnter
Schädel.
»Es sind Trollocs innerhalb der Stadtmauern«, sagte
Lan. »Sie werden in wenig mehr als einer Stunde hier
sein. Und die Dha'vol sind die schlimmsten unter ihnen.«
Er weckte die anderen auf.
Moiraine fing ungerührt an, ihre Decken
zusammenzufalten. »Wie viele? Wissen sie, daß wir hier
sind?« Sie klang, als habe sie es gar nicht eilig.
»Ich glaube nicht«, antwortete Lan. »Es sind gut
hundert, und sie haben solche Angst, daß sie alles töten
würden, was sich bewegt, einschließlich anderer Trollocs.
Die Halbmenschen müssen sie mühsam vorwärts treiben –
vier, um nur eine Handvoll zu befehligen –, und selbst die
Myrddraal scheinen sich nichts sehnlicher zu wünschen,
als die Stadt so schnell wie möglich zu durchqueren und
dann wieder zu verlassen. Sie weichen nicht von ihrem
eingeschlagenen Weg ab, um nach uns zu suchen, und sie
sind so nachlässig! Wenn sie nicht geradewegs auf uns
zumarschierten, würde ich sagen, wir müßten uns
keinerlei Sorgen machen.« Er zögerte.
»Gibt es noch etwas?«
»Nur soviel«, sagte Lan bedächtig. »Die Myrddraal
zwangen die Trollocs in die Stadt hinein. Was hat die
Myrddraal gezwungen?«
Alle hatten schweigend gelauscht. Jetzt fluchte Thom
leise vor sich hin, und Egwene hauchte eine Frage: »Der
Dunkle König?«
»Sei kein Narr, Mädchen«, fauchte Nynaeve. »Der
Dunkle König liegt in Shayol Ghul in Ketten, wo ihn der
Schöpfer gefangennahm.«
»Im Augenblick jedenfalls«, stimmte Moiraine zu.
»Nein, der Vater der Lügen ist nicht dort draußen, aber
wir müssen in jedem Fall fort.«
Nynaeve blickte sie scharf an. »Den Schutz der
Amulette verlassen und Shadar Logoth bei Nacht
durchqueren.«
»Oder hier bleiben und uns den Trollocs stellen«, sagte
Moiraine. »Sie von hier fernzuhalten, das könnte nur mit
Hilfe der Einen Macht geschehen. Das würde die Amulette
zerstören und genau das anlocken, wogegen sie uns
schützen sollen. Außerdem könnten wir dann gleich auf
einem der Türme ein Leuchtfeuer entzünden, das jeder
Halbmensch auf zwanzig Meilen Umkreis sieht. Ich renne
nicht gern weg, doch wir sind die Hasen, und die Hunde
bestimmen die Jagd.«
»Was ist, wenn außerhalb der Mauern noch mehr
warten?« fragte Mat. »Was machen wir dann?«
»Wir werden uns an meinen ursprünglichen Plan
halten«, sagte Moiraine. Lan sah sie an. Sie hob eine Hand
und fügte hinzu: »Ich war nur zu müde, um mich vorher
schon daran zu halten. Aber nun bin ich dank der Seherin
ausgeruht. Wir machen uns auf den Weg zum Fluß. Dort
wird uns das Wasser den Rücken decken, und ich kann ein
kleineres Amulett anfertigen, das die Trollocs und
Halbmenschen abhält, bis wir Flöße gebaut und den Fluß
überquert haben. Oder was noch besser wäre: Vielleicht
können wir uns einem Händlerboot bemerkbar machen,
das von Saldaea herunterkommt, und mitfahren.«
Die Gesichter der Emondsfelder drückten
Unverständnis aus. Lan bemerkte das.
»Trollocs und Myrddraal verabscheuen tiefes Wasser.
Trollocs haben schreckliche Angst davor. Keiner von
ihnen allen kann schwimmen. Ein Halbmensch watet
höchstens durch hüfthohes Wasser, vor allem, falls eine
Strömung herrscht. Trollocs machen noch nicht einmal
das, wenn sie es vermeiden können.«
»Also sind wir in Sicherheit, sobald wir über den Fluß
kommen«, sagte Rand, und der Behüter nickte.
»Die Myrddraal werden beinahe genauso große
Schwierigkeiten damit haben, die Trollocs Flöße bauen zu
lassen, wie damit, sie nach Shadar Logoth
hineinzubringen, und wenn sie trotzdem versuchen, sie auf
diesem Weg über den Arinelle zu bringen, dann läuft
ihnen die Hälfte weg, und der Rest wird vermutlich
ertrinken.«
»Auf die Pferde«, sagte Moiraine. »Wir sind noch nicht
über den Fluß.«
KAPITEL 20