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Robert Jordan

DROHENDE
SCHATTEN
Das Rad der Zeit

Erster Roman

Ebook by »Menolly«

WILHELM HEYNE VERLAG


MÜNCHEN
ISBN 3-453-06579-4
INHALT

PROLOG: Der Drachenberg ................................ 6


1. KAPITEL: Eine einsame Straße ....................... 18
2. KAPITEL: Fremde ......................................... 46
3. KAPITEL: Der fahrende Händler ..................... 67
4. KAPITEL: Der Gaukler .................................. 89
5. KAPITEL: Winternacht ................................... 113
6. KAPITEL: Der Westwald ................................ 141
7. KAPITEL: Aus dem Wald hinaus ..................... 154
8. KAPITEL: Eine sichere Zuflucht ..................... 176
9. KAPITEL: Was das Rad sagt... ........................ 199
10. KAPITEL: Abschied ..................................... 227
11. KAPITEL: Die Straße nach Taren-Fähre ......... 245
12. KAPITEL: Über den Taren ............................ 259
13. KAPITEL: Entscheidungen ............................ 281
14. KAPITEL: Zum ›Hirsch und Löwen‹ .............. 310
15. KAPITEL: Fremde und Freunde .................... 334
16. KAPITEL: Die Seherin .................................. 369
17. KAPITEL: Beobachter und Jäger .................... 385
18. KAPITEL: Die Straße nach Caemlyn .............. 414
19. KAPITEL: Drohende Schatten ........................ 437
20. KAPITEL: Wie Staub im Wind ...................... 467
21. KAPITEL: Lausche dem Wind ....................... 498
22. KAPITEL: Der eingeschlagene Weg ............... 519
Glossar .............................................................. 528
PROLOG

Der Drachenberg
Der Palast bebte immer noch von Zeit zu Zeit, wenn die
Erde grollte, wenn sie aufstöhnte, als wolle sie ableugnen,
was doch geschehen war. Balken von Sonnenlicht fielen
durch Risse in den Wänden. Staubteilchen, die immer
noch in der Luft hingen, glitzerten darin. Brandflecken
verunstalteten die Wände, die Decke und den Boden.
Breite schwarze Schmierspuren zogen sich über
blasenschlagende Farbe und die Blattgoldauflage einst
strahlend schöner Wandgemälde. Ruß bedeckte den
zerbröckelnden Fries mit den Darstellungen von
Menschen und Tieren. Es schien fast, als hätten diese
fortzulaufen versucht, bevor der Wahnsinn sich wieder
beruhigte. Überall lagen die Toten, Männer, Frauen und
Kinder, auf dem Fluchtversuch von Blitzen erschlagen,
die jeden Korridor durchzuckten, oder von lauernden
Flammen ergriffen, oder in die Steine eingesunken, die
Steine des Palastes, die sich, beinahe lebendig, bewegt
hatten, gesucht hatten, bis die Stille wiederkehrte. In
fremdartig anmutendem Gegensatz dazu standen die
farbigen Wandbehänge und Gemälde – alles Meisterwerke
–, die völlig unbeschädigt dahingen, außer an Stellen, wo
die sich einwölbenden Mauern sie beiseite geschoben
hatten. Kunstvoll geschnitzte Möbel, mit Gold und
Elfenbein eingelegt, standen unberührt, und nur wenige
Möbelstücke waren umgestürzt, als die Böden sich
aufgebäumt hatten. Der Wahnsinn hatte auf das Herz
gezielt und unwichtige Dinge übersehen.
Lews Therin Telamon schritt durch den Palast, und
wenn sich die Erde aufbäumte, hielt er doch das
Gleichgewicht. »Ilyena! Meine Liebste, wo bist du?« Der
Saum seines blaßgrauen Umhangs schleifte durch Blut, als
er über die Leiche einer Frau sprang, deren goldblonde
Schönheit vom Schrecken der letzten Momente ihres
Lebens zerstört worden war. Ihre aufgerissenen Augen
waren in ungläubigem Staunen erstarrt. »Wo bist du,
geliebte Frau? Wo verbergt ihr euch alle?«
Sein Blick erspähte das eigene Abbild in einem Spiegel,
der schief an einer aufgeworfenen Marmorwand
baumelte. Seine Kleidung hatte einst stattlich gewirkt,
grau und golden und purpurfarben, aus feingewebten
Tuchen, die Händler von jenseits des Weltmeeres
mitgebracht hatten; doch nun war sie zerrissen und
schmutzig und genau wie sein Haar und seine Haut von
einer dicken Staubschicht bedeckt. Einen Augenblick lang
fuhren seine Finger das Symbol auf dem Umhang nach,
einen Kreis mit einer weißen und einer schwarzen Hälfte,
die durch eine fließende Linie voneinander getrennt
waren. Es hatte irgendeine Bedeutung, dieses Symbol.
Rasch jedoch schweifte seine Aufmerksamkeit von dem
gestickten Kreis ab. Staunend betrachtete er wieder sein
Spiegelbild. Ein hochgewachsener Mann, der gerade in die
mittleren Jahre gekommen war, einst gutaussehend, doch
nun war sein Haar schon eher weiß als braun zu nennen,
und das Gesicht war von Überanstrengung und Sorgen
zerfurcht. Die dunklen Augen hatten schon viel zu viel
gesehen. Lews Therin begann leise zu lachen, dann warf
er den Kopf zurück, und sein lautes Gelächter kehrte als
Echo aus den unbelebten Hallen zurück.
»Ilyena, meine Liebste! Komm zu mir, mein Weib. Das
mußt du sehen!«
Hinter ihm schimmerte die Luft, floß in Wellen
ineinander und gebar aus diesem Wirbel einen Mann, der
sich umsah und dabei kurz den Mund vor Ekel verzog. E r
war nicht so groß wie Lews Therin und ganz in Schwarz
gekleidet. Nur der schneeweiße Spitzenkragen um den
Hals und der silberne Zierrat an den oben umgeschlagenen
hüfthohen Stiefeln stachen aus dem Schwarz hervor. E r
schritt vorsichtig durch den Saal und hob sorgfältig den
Umhang, damit er die Leichen nicht streifte. Der Boden
erzitterte in Nachbeben, aber seine Aufmerksamkeit galt
dem Mann, der in den Spiegel starrte und lachte. »Herr
des Morgens«, sagte er, »ich bin gekommen, um Euch zu
holen.«
Das Lachen brach ab, als sei es nie gewesen, und Lews
Therin drehte sich – anscheinend keineswegs überrascht –
zu ihm um. »Ach, ein Gast. Habt Ihr eine gute Stimme,
Fremder? Es wird bald Zeit, das Singen zu beginnen, und
hier sind alle willkommen, die daran teilnehmen möchten.
Ilyena, meine Liebste, wir haben einen Gast. Ilyena, wo
bist du?«
Die Augen des schwarzgekleideten Mannes weiteten
sich, sein Blick huschte hinüber zum Körper der
goldblonden Frau und dann zu Lews Therin zurück.
»Shai'tan soll Euch holen! Hat Euch denn der Wahn schon
so stark ergriffen?«
»Dieser Name. Shai...« Lews Therin erschauderte und
hob eine Hand, als wolle er etwas abwehren. »Ihr dürft
diesen Namen nicht erwähnen. Das ist gefährlich.«
»Also erinnert Ihr Euch wenigstens daran. Gefährlich
für Euch, Ihr Narr, nicht für mich! Woran erinnert Ihr
Euch noch? Erinnert Euch, Ihr verblendeter Idiot! Ich
werde dies alles nicht beenden, wenn Ihr von
Ahnungslosigkeit strotzt! Erinnert Euch!«
Einen Augenblick lang betrachtete Lews Therin seine
erhobene Hand, fasziniert von den Mustern im Schmutz.
Dann wischte er die Hand an dem noch schmutzigeren
Umhang ab und wandte seine Aufmerksamkeit wieder
dem anderen Manne zu. »Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?«
Der schwarzgekleidete Mann richtete sich arrogant auf.
»Einst nannte man mich Elan Morin Tedronai, doch
jetzt...«
»Verräter aller Hoffnung!« Es war nur ein Flüstern
von Lews Therin. Erinnerungen regten sich, aber er
wandte den Kopf und scheute ihre Berührung.
»Also erinnert Ihr Euch an einiges. Ja, Verräter aller
Hoffnung. So bin ich von Menschen genannt worden, so
wie sie Euch Drache nannten, aber im Gegensatz zu Euch
gefällt mir dieser Name. Sie gaben mir diesen Namen, um
mich damit zu beschimpfen, doch ich werde sie dazu
bringen, niederzuknien und ihn anzubeten. Was werdet
Ihr mit Eurem Namen anfangen? Nach dem heutigen Tag
werden die Menschen Euch Brudermörder nennen. Wie
findet Ihr das?«
Lews Therin ließ den sorgenvollen Blick durch den
zerstörten Saal schweifen. »Ilyena sollte hier sein, um
einen Gast willkommen zu heißen«, murmelte er
abwesend, und dann erhob er die Stimme. »Ilyena, wo bist
du?« Der Boden bebte, der Körper der goldblonden Frau
veränderte die Lage, als antworte er auf den Ruf. Seine
Augen sahen sie nicht.
Elan Morin verzog das Gesicht. »Schaut Euch nur an«,
sagte er verächtlich. »Einst wart Ihr der erste aller
Diener. Einst habt Ihr den Ring von Tamyrlin getragen
und auf dem Thron gesessen. Einst habt Ihr die Neun
Geißeln der Herrschaft beschworen. Und jetzt? Ein
erbärmliches, zerbrochenes Wrack. Aber das ist nicht
genug. Ihr habt mich in der Halle der Diener gedemütigt.
Ihr habt mich vor den Toren von Paaran Disen besiegt.
Aber jetzt bin ich der Größere. Ich werde Euch nicht
sterben lassen, ohne Euch das bewußt zu machen. Wenn
Ihr sterbt, werden Eure letzten Gedanken das gesamte
Wissen um Eure Niederlage erfassen. Ihr werdet
begreifen, wie vollständig und endgültig sie ist. Falls ich
Euch überhaupt sterben lasse.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, was Ilyena so lange
aufhält. Sie wird böse auf mich sein, falls sie glaubt, ich
habe einen Gast vor ihr verborgen. Ich hoffe, Ihr
unterhaltet Euch gern, denn das liebt sie. Seid gewarnt.
Ilyena wird Euch so viel fragen, daß Ihr am Ende alles
erzählt, was Ihr wißt.«
Elan Morins Hände verkrampften sich. Mit einer
schnellen Bewegung warf er den Mantel zurück. »Wie
schade für Euch«, grübelte er laut, »daß keine Eurer
Schwestern hier ist. Ich war nie sehr geschickt im Heilen,
und nun folge ich einer anderen Macht. Doch selbst eine
von ihnen könnte Euch nur ein paar klare Minuten
bescheren, falls Ihr sie nicht schon vorher zerstört. Was
ich tun kann, wird seinen Zweck auch erfüllen – jedenfalls
meinen Zweck.« Sein plötzliches Lächeln hatte einen
grausamen Zug. »Ich fürchte nur, die Heilung durch
Shai'tan unterscheidet sich von der, die Ihr kennt. Heile,
Lews Therin!« Er streckte die Hände aus, und das Licht
verdunkelte sich, als läge ein Schatten auf der Sonne.
Schmerz flammte in Lews Therin auf, und er schrie.
Der Schrei kam aus den Tiefen seiner Seele, und er konnte
ihn nicht aufhalten. Feuer versengte sein Mark, Säure floß
durch seine Adern. Er fiel nach rückwärts, stürzte auf den
Marmorboden; sein Kopf schlug auf dem Stein auf und
prallte zurück. Sein Herz hämmerte, bemühte sich, aus der
Brust herauszuspringen, und mit jedem Pulsschlag
durchzuckten ihn neue Flammen. Hilflos verkrampfte er
sich, schlug um sich, sein Schädel eine Kugel reinster
Todesqual und am Zerbersten. Seine heiseren Schreie
hallten durch den Palast.
Langsam, unendlich langsam ließ der Schmerz nach.
Das Nachlassen schien tausend Jahre zu dauern, und
schließlich zuckte er noch schwach und saugte gierig die
Luft durch den wunden Hals. Weitere tausend Jahre
schienen zu vergehen, bis er in der Lage war, sich mit
Hilfe nachgiebiger Muskeln herumzuwälzen und dann
zitternd auf Händen und Knien zu ruhen. Er erblickte die
goldhaarige Frau, und der Schrei, den er bei diesem
Anblick ausstieß, stellte alles in den Schatten, was er
vorher von sich gegeben hatte. Er torkelte, dem Fallen
nahe, und kroch schließlich gebrochen über den Boden hin
zu ihr. Er benötigte jedes bißchen Kraft, um sie in die
Arme zu nehmen. Seine Hände zitterten, als er ihr das
Haar aus dem erstarrten Gesicht strich.
»Ilyena! Um des Lichts willen, Ilyena!« Sein Körper
krümmte sich schützend um den ihren. Sein Weinen
endete in den gequälten Schreien eines Mannes, der nichts
mehr besaß, wofür es sich zu leben lohnte. »Ilyena, nein!
Nein!«
»Ihr könnt sie zurückhaben, Brudermörder. Der Große
Herr der Dunkelheit kann sie wieder zum Leben
erwecken, wenn Ihr ihm dafür dient. Wenn Ihr mir
dient.«
Lews Therin hob den Kopf, und der schwarzgekleidete
Mann trat vor seinem Blick unwillkürlich einen Schritt
zurück. »Zehn Jahre, Verräter«, sagte Lews Therin leise.
Es klang so sanft wie das Ziehen einer Stahlklinge. »Zehn
Jahre lang hat Euer verderbter Herr die Welt gepeinigt.
Und nun das. Ich werde...«
»Zehn Jahre! Ihr seid ein bemitleidenswerter Narr!
Dieser Krieg hat keine zehn Jahre gedauert, sondern
währt von Beginn der Zeit. Ihr und ich haben tausend
Schlachten geschlagen, solange sich das Rad dreht, und
wir werden weiterkämpfen, bis selbst die Zeit stirbt und
der Schatten triumphiert!« Er endete schreiend und mit
erhobener Faust, und diesmal war es an Lews Therin,
zurückzutreten und angesichts der glühenden Augen des
Verräters tief durchzuatmen.
Vorsichtig legte Lews Therin Ilyena nieder. Seine
Finger streichelten ihr sanft über das Haar. Tränen ließen
seine Sicht verschwimmen, als er so dastand, aber seine
Stimme klang wie gefrorenes Eisen. »Für das, was Ihr
sonst noch getan habt, Verräter, kann es keine Vergebung
geben, doch für Ilyenas Tod werde ich Euch zerstören, so
daß selbst Euer Herr Euch nicht mehr zum Leben
erwecken kann. Bereitet Euch vor...«
»Erinnert Euch, Ihr Narr! Denkt an Euren
aussichtslosen Angriff auf den Großen Herrn der
Dunkelheit! Denkt an seinen Gegenschlag! Erinnert Euch!
Selbst jetzt noch zerreißen die Hundert Gefährten die
Welt, und jeden Tag schließen sich ihnen hundert weitere
Männer an. Wessen Hand tötete Ilyena Sonnenhaar,
Brudermörder? Nicht meine. Nicht meine. Wessen Hand
streckte jeden nieder, der auch nur einen Tropfen Eures
Blutes in sich trug, jeden, der Euch liebte, jeden, den Ihr
liebtet? Nicht meine Hand, Brudermörder. Nicht meine
Hand. Erinnert Euch und erkennt den Preis, den Ihr zahlt,
weil Ihr Euch gegen Shai'tan stelltet!«
Ein plötzlicher Schweißausbruch hinterließ Rinnen im
Staub und Schmutz auf Lews Therins Gesicht. E r
erinnerte sich, eine verschleierte Erinnerung, als träume
er von einem Traum, doch er wußte, es war die Wahrheit.
Sein Aufheulen prallte gegen die Wände, das Aufheulen
eines Mannes, der entdeckt hatte, daß seine Seele durch
ihn selbst der Verdammnis anheimgestellt wurde, und er
zerkratzte sich das Gesicht, als wolle er den Anblick
dessen herausreißen, was er getan hatte. Wohin er auch
blickte, seine Augen sahen die Toten. Zerfetzt waren sie
oder zerbrochen oder verbrannt oder halb von Stein
verschlungen. Überall leblose Gesichter, die er kannte, die
er liebte. Alte Diener und Freunde aus seiner Kinderzeit,
treue Gefährten in den langen Jahren des Kampfes. Und
seine Kinder. Seine eigenen Söhne und Töchter; wie
zerbrochene Puppen lagen sie verdreht da, ihr Spiel war
für immer beendet. Alle von seiner Hand getötet. Die
Gesichter seiner Kinder klagten ihn an. Die leeren Augen
fragten: Warum? Und seine Tränen waren keine Antwort
darauf. Das Lachen des Verräters geißelte ihn, erstickte
sein Aufheulen. Er konnte die Gesichter nicht ertragen,
nicht den Schmerz. Er konnte nicht länger bleiben.
Verzweifelt griff sein Geist nach der Wahren Quelle, nach
dem vom Bösen gezeichneten Saidin, und er begab sich
fort.
Das Land um ihn herum war flach und leer. In der
Nähe rauschte träge ein Fluß, breit und gerade, aber er
fühlte, daß es auf Hunderte von Meilen keine Menschen
gab. Er war allein, so allein ein Mann nur sein konnte,
während er noch lebte, doch den Erinnerungen konnte er
nicht entkommen. Die Augen verfolgten ihn durch die
endlosen Höhlen seines Geistes. Er konnte sich nicht vor
ihnen verstecken. Die Augen seiner Kinder. Ilyenas
Augen. Tränen glitzerten ihm auf den Wangen, als er das
Gesicht dem Himmel zuwandte.
»Licht, vergib mir!« Er glaubte nicht, daß er
Vergebung erhalten könne. Nicht für das, was er getan
hatte. Doch er schrie es trotzdem in den Himmel hinein,
bettelte um etwas, an dessen Gewährung er nicht glaubte.
»Licht, vergib mir!«
Er stand immer noch mit Saidin in Verbindung, der
männlichen Hälfte der Macht, die das Universum antrieb,
die das Rad der Zeit drehte, und er fühlte den öligen
Schmutz, der ihre Oberfläche befleckte, die Verderbnis,
die der Gegenschlag des Schattens darüber gebracht hatte,
die Verderbnis, die die Welt zum Untergang verurteilte.
Seinetwegen. Weil er in seiner Verblendung geglaubt
hatte, Menschen könnten es dem Schöpfer gleichtun,
könnten zusammenfügen, was der Schöpfer erschaffen und
was sie zerbrochen hatten. Das hatte er in seinem Stolz
geglaubt.
Tief zog er Kraft aus der Wahren Quelle und dann
noch einmal, wie ein Verdurstender. Schnell hatte er mehr
von der Einen Macht in sich aufgesogen, als er ohne Hilfe
handhaben konnte; seine Haut schien zu brennen. Er nahm
alle Kraft zusammen und versuchte, noch mehr
aufzunehmen, versuchte, alles aufzunehmen.
»Licht, vergib mir! Ilyena!«
Die Luft verwandelte sich in Feuer, das Feuer in
verflüssigtes Licht. Der Blitz, der vom Himmel
herabzuckte, hätte jedes Auge versengt und geblendet, das
ihn auch nur einen Moment lang erblickte. Er fuhr aus
dem Himmel hernieder, flammte durch Lews Therin
Telamon hindurch und bohrte sich in die Eingeweide der
Erde. Seine Berührung verwandelte Stein in Dampf. Die
Erde zuckte und erzitterte wie ein lebendes Wesen im
Todeskampf. Der leuchtende Balken vom Himmel
existierte nur einen Herzschlag lang, verband Erde und
Himmel, doch auch nachdem er verschwunden war,
wölbte sich die Erde auf wie ein Meer im Sturm.
Geschmolzener Fels spritzte hundert Spannen hoch in die
Luft, und der stöhnende Boden erhob sich und schob den
brennenden Springbrunnen weiter hoch, immer höher.
Aus dem Norden und. Süden, aus dem Osten und Westen
heulte der Wind heran, brach Bäume wie kleine Äste
entzwei, kreischte und pfiff, als wolle er den wachsenden
Berg himmelwärts drücken. Dem Himmel entgegen.
Schließlich erstarb der Wind, die Erde beruhigte sich
und murmelte nur noch zitternd vor sich hin. Von Lews
Therin Telamon war nichts geblieben. Wo er gestanden
hatte, erhob sich nun, auf Meilen in den Himmel, ein
Berg. Aus dem zerfetzten Gipfel quoll immer noch
dünnflüssige Lava. Der breite gerade Fluß war in einer
Kurve vom Berg weggeschoben worden und teilte sich
unweit davon. In der Mitte war eine lange Insel
entstanden. Der Schatten des Bergs erreichte beinahe die
Insel; er lag dunkel wie die drohende Hand der
Prophezeiung über dem Land. Eine Zeitlang war nur das
dumpfe protestierende Grollen der Erde zu hören.
Auf der Insel schimmerte die Luft und zog sich zu
einem Wirbel zusammen. Der schwarzgekleidete Mann
stand da und betrachtete den feurigen Berg, der sich aus
der Ebene erhob. Sein Gesicht verzog sich vor Wut und
Verachtung. »Du kannst nicht so leicht entkommen,
Drache. Wir sind noch nicht fertig miteinander. Es ist erst
zu Ende, wenn alle Zeiten enden.«
Dann war er weg, und Berg und Insel ruhten einsam.
Warteten.
Und der Schatten fiel über das Land,
und die Welt wurde Stein um Stein zerrissen.
Die Meere flohen, und die Berge wurden verschluckt,
und die Staaten wurden in die acht Ecken
der Welt verstreut. Der Mond war wie Blut, und die
Sonne war wie Asche. Die Meere kochten,
und die Lebenden beneideten die Toten. Alles war
zerschlagen und bis auf die Erinnerung verloren,
und eine Erinnerung stand über allem: an ihn, der den
Schatten gebracht und die Zerstörung der Welt ver-
ursacht hatte. Und ihn nannten sie Drache.
Aus: Aleth nin Taerin alta Camora,
der Zerstörung der Welt
(Autor unbekannt, Viertes Zeitalter)
Und es geschah in jenen Tagen, wie es zuvor
geschehen war und wieder geschehen würde, daß die
Dunkelheit schwer auf dem Land lag und die
Herzen der Menschen beschwerte und die grünen
Dinge verblichen und die Hoffnung starb.
Und die Menschen riefen ihren Schöpfer und sagten:
O Licht des Himmels, Licht der Welt, laßt den
Berg den Verheißenen gebären, wie es die
Prophezeiung sagte, so wie er in vergangenen
Zeitaltern geboren wurde und in späteren geboren.
werden wird. Laßt den Prinz des Morgens
zum Land singen, so daß grüne Dinge wachsen und
die Täler Lämmer hervorbringen. Laßt den Arm
des Herren der Dämmerung uns Schutz vor dem
Dunkel gewähren und das große Schwert der
Gerechtigkeit uns verteidigen. Laßt den Drachen
wieder auf den Winden der Zeit fliegen.
Aus: Charal Drianaan te Calamon,
dem Zyklus des Drachen
(Autor unbekannt, Viertes Zeitalter)
KAPITEL 1

Eine einsame Straße


Das Rad der Zeit dreht sich, Zeitalter kommen und gehen
und hinterlassen Erinnerungen, die zu Legenden werden.
Legenden verblassen zu Mythen, und selbst die sind längst
vergessen, wenn das Zeitalter wiederkehrt, das an ihrem
Ursprung stand. In einem dieser Zeitalter, manche nennen
es das Dritte Zeitalter, das einst kommen wird, das schon
lange vergangen ist, erhob sich ein Wind in den
Verschleierten Bergen. Der Wind stand nicht am Beginn.
Es gibt keinen Beginn und kein Ende, wenn sich das Rad
der Zeit dreht. Doch zumindest setzte der Wind etwas in
Bewegung.
Unter den ewigen Wolkendecken der Gipfel, die dem
Gebirge den Namen gaben, wurde er geboren, und von
dort aus wehte der Wind nach Osten über die Sandhügel
hinaus, die einst am Ufer eines großen Meeres gelegen
hatten, damals, vor der Zerstörung der Welt. Dann stürzte
er sich hinunter ins Land der Zwei Flüsse, in den
verfilzten Forst, den man Westwald nannte, und beutelte
zwei Männer, die neben ihrem Pferdekarren eine steinige
Straße hinunterschritten. Haldenstraße nannte man sie.
Obwohl der Frühling schon seit mehr als einem Monat
fällig war, trug der Wind eine eisige Kälte mit sich, die
eher auf Schnee schließen ließ.
Windstöße klebten Rand al'Thor den klatschnassen
Umhang an den Rücken, peitschten ihm den erdbraunen
Wollstoff gegen die Beine und ließen ihn hinter ihm
herflattern. Er wünschte sich einen schwereren Mantel.
Oder hätte er wenigstens noch ein Hemd übergezogen!
Jedes zweite Mal, wenn er versuchte, den Umhang wieder
um sich zu ziehen, blieb er an dem Köcher hängen, der
ihm an der Hüfte hing. Zu versuchen, den Umhang mit
einer Hand festzuhalten, brachte auch nicht viel; in der
anderen hielt er seinen Bogen, auf dem schußbereit ein
Pfeil lag.
Als eine besonders starke Bö ihm den Saum des
Umhangs aus der Hand riß, blickte er über den Rücken
der zerzausten braunen Stute zu seinem Vater hinüber. E r
kam sich wohl selbst ein wenig kindisch vor, daß er sich
vergewissern wollte, ob Tam noch da war, aber an einem
solchen Tag war ihm eben danach. Der Wind heulte bei
jeder Bö, aber davon abgesehen lag eine schwere Stille
über dem Land. Im Vergleich dazu klang das sanfte
Quietschen der Achse geradezu laut. Kein Vogel sang im
Wald, und auf den Zweigen keckerte kein einziges
Eichhörnchen. Allerdings – bei dieser Art von Frühling
konnte er das auch nicht erwarten.
Nur solche Bäume, die auch im Winter ihre Nadeln
oder Blätter nicht verloren, zeigten jetzt etwas Grün.
Triebe der Brombeeren vom letzten Jahr zogen sich
netzartig über die Felsausläufer unter den Bäumen. Unter
den wenigen Kräutern herrschten die Brennesseln vor; der
Rest gehörte meist zu den Sorten mit scharfen Stacheln
oder spitzen Dornen, oder es war Stinkkraut, das auf den
unachtsamen Stiefeln, die es zertraten, einen fauligen
Gestank hinterließ. Dort, wo dichte Baumgruppen tiefen
Schatten warfen, lagen verstreut noch einzelne weiße
Schneereste. Wo der Sonnenschein durchbrach, hatte er
weder Kraft noch Wärme. Die blasse Sonne hing über den
Bäumen im Osten, doch ihr Licht war von Dunkel
durchsetzt, als habe es sich mit den Schatten vermischt. Es
war ein unangenehmer Morgen, gut geeignet für trübe
Gedanken.
Gedankenverloren berührte er die Kerbe des Pfeils; er
war bereit, ihn in einer fließenden Bewegung an seine
Wange zu ziehen, so wie Tam es ihn gelehrt hatte. Der
Winter hatte die Bauernhöfe schwer genug getroffen,
schlimmer, als selbst die ältesten ihrer Bewohner es
früher schon einmal erlebt hatten, doch in den Bergen
mußte er noch härter zugeschlagen haben, wenn man die
Anzahl der Wölfe in Betracht zog, die es hinunter ins
Gebiet der Zwei Flüsse getrieben hatte. Die Wölfe raubten
Schafe von den Koppeln und nagten sich ihren Weg in
Scheunen und Ställe, um an das Vieh und die Pferde
heranzukommen. Auch Bären waren hinter den Schafen
her, in dieser Gegend, wo man jahrelang keine Bären
mehr gesichtet hatte. Man war nach Einbruch der
Dunkelheit draußen nicht mehr sicher. Menschen waren
genauso oft die Beute wie Schafe, und die Sonne mußte
dazu noch nicht einmal untergegangen sein.
Tam schritt gleichmäßig auf der anderen Seite Belas
dahin, benutzte seinen Speer als Wanderstock und achtete
nicht auf den Wind, obwohl sein brauner Umhang wie
eine Flagge hinter ihm herflatterte. Von Zeit zu Zeit
berührte er ganz leicht die Flanke der Stute, um sie zum
Weitergehen aufzufordern. Mit seinem kräftigen
Oberkörper und dem breiten Gesicht wirkte er an diesem
Morgen wie ein Stützpfeiler der Wirklichkeit, wie ein
Stein inmitten eines fließenden Traums. Es hatten sich
zwar Falten in die sonnenverbrannten Wangen
eingegraben, und in seinem Haar war nur noch
strähnenweise Schwarz unter dem Grau zu erkennen, doch
er wirkte so kraftvoll, als könne eine Flutwelle über ihn
hinweg rauschen, ohne ihm die Füße wegzureißen.
Teilnahmslos stapfte er die Straße entlang. Sein Ausdruck
machte klar: Wölfe und Bären hin oder her, ein Schäfer
mußte natürlich aufpassen, aber es war gesünder für sie,
wenn sie nicht versuchten, Tam al'Thor auf seinem Weg
nach Emondsfeld aufzuhalten.
Ein wenig schuldbewußt angesichts seiner
Unaufmerksamkeit wandte sich Rand wieder der
Straßenseite zu, die er unter Beobachtung halten mußte.
Tams selbstverständlich aufmerksame Art hatte ihn daran
erinnert. Er war einen Kopf größer als sein Vater, größer
auch als jeder andere in der Gegend, und wenig an ihm
erinnerte an Tam – höchstens vielleicht die breiten
Schultern. Graue Augen und ein rötlicher Farbton im
Haar stammten von der Mutter, erklärte Tam. Sie war
Ausländerin gewesen, und Rand konnte sich nur noch
schwach an sie erinnern, abgesehen von ihrem lächelnden
Gesicht. Er legte jedes Jahr Blumen auf ihr Grab: an Bel
Tine im Frühling und am Sonnentag im Sommer.
Zwei kleine Fässer von Tams Apfelschnaps lagen im
dahinholpernden Karren, dazu acht größere Fässer mit
Apfelmost, gerade einen Winter alt. Tam lieferte diese
Sachen jedes Jahr an die Weinquellen-Schenke, um sie zu
Bel Tine auszuschenken, und er hatte erklärt, es brauche
schon mehr als nur Wölfe oder kalten Wind, um ihn in
diesem Frühjahr davon abzuhalten. Sie waren sowieso
schon seit Wochen nicht mehr im Dorf gewesen. Selbst
Tam zog in diesen Zeiten nicht mehr viel durch die
Gegend. Aber er hatte in bezug auf den Schnaps und den
Most sein Wort gegeben, und das hielt er, selbst wenn er
erst am allerletzten Tag vor dem Fest eintreffen sollte. Es
war wichtig für Tam, sein Wort zu halten. Rand war froh,
daß er auf diese Art vom Hof wegkam, und noch mehr
freute er sich auf Bel Tine.
Als Rand seine Straßenseite beobachtete, wuchs in ihm
das Gefühl, beobachtet zu werden. Für eine Weile
bemühte er sich, das Gefühl beiseite zu schieben.
Zwischen den Bäumen bewegte sich nichts, und kein Laut
war zu hören, außer dem Aufheulen des Winds. Aber das
Gefühl blieb nicht nur, es verstärkte sich. Die Haare auf
seinen Armen stellten sich auf; seine Haut prickelte, als
jucke ihre Innenseite.
Verwirrt nahm er den Bogen in die andere Hand, rieb
sich die Arme und sagte sich, er müsse aufhören, sich
Dinge einzubilden. Gar nichts befand sich im Wald auf
dieser Straßenseite, und gäbe es auf der anderen Seite
etwas, dann hätte Tam ihm das gesagt. Er blickte über die
Schulter zurück – und zwinkerte. Nicht weiter als zwanzig
Spannen entfernt die Straße hinunter folgte ihnen eine
verhüllte Figur auf einem Pferd. Pferd und Reiter wirkten
gleich: schwarz, matt, unauffällig.
Mehr oder weniger aus Gewohnheit ging er neben dem
Karren rückwärts weiter, während er beobachtete. Der
Mantel bedeckte den Reiter bis hinunter zu den
Stiefelschäften, und die Kapuze war über das Gesicht
gezogen, so daß kein Teil seines Körpers sichtbar war.
Ganz nebenher fiel Rand auf, daß mit diesem Reiter etwas
nicht stimmte, doch es war vor allem die dunkle Öffnung
der Kapuze, die ihn fesselte. Er konnte nur vage Umrisse
eines Gesichts erkennen, aber er fühlte, daß er dem Reiter
geradewegs in die Augen sah. Und er konnte den Blick
nicht abwenden. Übelkeit stieg ihm vom Magen auf. E r
sah nur den Schatten in der Kapuze, doch er fühlte den
Haß genauso beißend, als ob er in ein verzerrtes Gesicht
blickte, Haß auf alles, was lebte. Und ihm vor allem galt
dieser Haß, ihm mehr als allem anderen auf der Welt.
Plötzlich blieb er mit der Ferse an einem Stein hängen
und stolperte. Naturgemäß verlor er den dunklen Reiter
aus dem Blickfeld. Sein Bogen fiel auf die Straße, und nur
eine schnell ausgestreckte Hand, die Belas Geschirr packte,
bewahrte ihn davor, platt auf den Rücken zu plumpsen.
Mit überraschtem Schnauben blieb die Stute stehen und
drehte den Kopf, um zu sehen, wer sie gefangen hatte.
Tam zog die Augenbrauen hoch und sah über Belas
Rücken zu ihm herüber. »Bist du in Ordnung, Junge?«
»Ein Reiter«, sagte Rand atemlos, während er sich
aufrichtete. »Ein Fremder folgt uns.«
»Wo?« Der ältere Mann hob seinen Speer mit der
breiten Blattspitze und spähte aufmerksam zurück. »Dort,
die Straße hin...« Rands Worte verloren sich, als er sich
umdrehte, um auf den Verfolger zu deuten. Die Straße
hinter ihnen war leer. Ungläubig schweifte sein Blick über
den Wald zu beiden Seiten der Straße. Die Bäume mit
ihren kahlen Ästen boten kein Versteck, und doch konnte
er keine Spur von Pferd oder Reiter erkennen. E r
bemerkte den fragenden Blick seines Vaters. »Er war
dort. Ein Mann mit einem schwarzen Mantel auf einem
schwarzen Pferd.«
»Ich zweifle ja nicht an deinen Worten, Junge, aber wo
ist er jetzt?«
»Ich weiß nicht. Aber er war da.« Er hob schnell
Bogen und Pfeil auf und überprüfte hastig die
Bespannung, bevor er den Pfeil wieder einlegte und den
Bogen zur Probe halb spannte. Dann ließ er die Sehne
zurückschnellen. Es gab kein Ziel, worauf er hätte anlegen
können. »Wirklich.«
Tam schüttelte den ergrauten Kopf. »Wenn du es sagst,
Junge... Dann komm mit. Ein Pferd hinterläßt sogar auf
diesem Boden Hufspuren.« Er bewegte sich auf das
hintere Ende des Karrens zu. Sein Umhang flatterte im
Wind. »Wenn wir die finden, dann wissen wir genau, daß
er hier war. Wenn nicht... Na ja, es gibt schon Tage, an
denen ein Mann seine Einbildungen hat.«
Plötzlich fiel Rand ein, was an dem Reiter nicht
gestimmt hatte, abgesehen von der Tatsache, daß er sich
überhaupt hier befunden hatte. Der Wind, der Tam und
ihn beutelte, hatte nicht einmal eine Falte des schwarzen
Mantels bewegt. Rands Mund war plötzlich wie
ausgetrocknet. Er mußte sich das eingebildet haben. Sein
Vater hatte recht; dieser Morgen war dazu angetan, die
Phantasie eines Mannes zu kitzeln. Und dennoch glaubte er
das nicht. Nur, wie sollte er seinem Vater beibringen, daß
der Mann, der sich offensichtlich in Luft aufgelöst hatte,
einen Mantel trug, den der Wind nicht berührte?
Mit sorgenvoller Miene spähte er in den Wald, der sie
umgab. Er wirkte auf ihn anders als je zuvor. Seit er
laufen konnte, hatte er im Wald gespielt. Da waren die
Teiche und Bäche im Flußwald, jenseits der letzten
Bauernhöfe von Emondsfeld, in denen er schwimmen
gelernt hatte. Er hatte die Sandhügel erforscht – manche
im Gebiet der Zwei Flüsse meinten, das bringe nur
Unglück –, und einmal war er sogar bis zum Fuß der
Verschleierten Berge marschiert, zusammen mit seinen
besten Freunden, Mat Cauthon und Perrin Aybara. Das
war viel weiter, als die meisten Leute aus Emondsfeld
jemals kamen. Für die war eine Reise ins nächste Dorf,
nach Wachhügel hinauf oder hinunter nach Devenritt,
schon ein großes Ereignis. Nirgendwo war er auf einen
Ort gestoßen, der ihm Angst einjagte. Heute jedoch war
der Westwald nicht der gleiche Ort wie jener, an den er
sich erinnerte. Ein Mann, der so plötzlich verschwinden
konnte, mochte ebenso plötzlich wieder auftauchen,
vielleicht sogar direkt neben ihm.
»Nein, Vater, es ist nicht nötig.« Als Tam überrascht
stehenblieb, verbarg Rand sein Erröten, indem er sich die
Kapuze tiefer ins Gesicht zog. »Du hast wahrscheinlich
recht. Es hat keinen Zweck, nach etwas zu suchen, das gar
nicht da ist, erst recht nicht, wenn wir die Zeit nutzen, um
weiter zum Dorf zu gehen und weg von diesem Wind.«
»Ich hätte schon gern eine Pfeife geraucht«, sagte Tam
langsam, »und irgendwo, wo es warm ist, einen Krug Bier
geleert.« Übergangslos grinste er breit. »Und ich schätze,
du willst Egwene gern wiedersehen.«
Rand brachte nur ein schwaches Lächeln zustande. Im
Augenblick stand die Tochter des Bürgermeisters so
ziemlich am Ende seiner Dringlichkeitsliste. Er konnte
nicht noch mehr Verwirrung gebrauchen. Das letzte Jahr
über hatte sie ihn in steigendem Maße nervös gemacht,
immer wenn sie zusammen waren. Was noch schlimmer
war: Sie schien es nicht einmal zu bemerken. Nein, er
wollte ganz bestimmt nicht auch noch an Egwene denken
müssen.
Er hoffte, sein Vater hätte nicht bemerkt, daß er Angst
hatte, als Tam sagte: »Denk an die Flamme, Junge, und an
das Nichts.«
Es war eine eigenartige Übung, die Tam ihn gelehrt
hatte. Konzentriere dich auf eine einzelne Flamme und
leere all deine Leidenschaften dort hinein – Angst, Haß,
Wut –, bis dein Verstand leer ist. Werde eins mit dem
Nichts, riet Tam, und du kannst alles erreichen. Niemand
sonst in Emondsfeld sagte so etwas. Aber Tam gewann
jedes Jahr den Bogenschützenwettbewerb zum Bel Tine
mit seiner Flamme und seinem Nichts. Rand glaubte,
dieses Jahr habe auch er Aussicht auf eine gute Plazierung,
wenn er es fertigbrachte, sich auf das Nichts zu
konzentrieren. Daß Tam das Gespräch ausgerechnet jetzt
darauf brachte, bedeutete, daß er es bemerkt hatte, doch
er sagte nicht mehr dazu.
Tam schnalzte Bela zu, und sie setzte sich wieder in
Bewegung. Sie nahmen ihre Reise wieder auf; der ältere
Mann schritt einher, als sei nichts Ungewöhnliches
geschehen und als drohe ihnen nichts Schlimmes. Rand
hätte es ihm gern gleichgetan. Er bemühte sich, seinen
Verstand zu leeren, aber das Nichts entschlüpfte ihm
immer wieder, und statt dessen erschien ihm das Bild des
schwarzgekleideten Reiters.
Er wollte so gern glauben, Tam habe recht, er habe
sich den Reiter nur eingebildet, doch er erinnerte sich
gerade an das Gefühl des Hasses besonders klar. Da war
jemand gewesen. Und dieser Jemand war ihm böse
gesinnt. Er blieb nicht stehen, um sich umzusehen, bis die
strohgedeckten Häuser von Emondsfeld mit ihren spitzen
Giebeln sie umgaben.
Das Dorf lag nahe am Westwald. Der Wald wurde
immer lichter, und die letzten Bäume standen bereits
zwischen den stabil gebauten Holzhäusern. Der Boden fiel
sanft nach Osten zu ab. Auch dort gab es kleine
Waldstücke. Bauernhöfe, von Hecken eingerahmte Felder
und Weideflächen bedeckten das Land jenseits des Dorfes
bis hin zum Wasserwald und seinem Gewirr von Bächen
und Teichen. Nach Westen zu war das Land genauso
fruchtbar, und in den meisten Jahren wirkten die Weiden
üppig. Doch im Westwald fand man nur eine Handvoll
Bauernhöfe. Und auch diese verschwanden schließlich
bereits Meilen vor den Sandhügeln und noch weiter vor
den Verschleierten Bergen, die sich über den
Baumwipfeln des Westwalds erhoben, fern, doch von
Emondsfeld aus deutlich sichtbar. Manche sagten, das
Land sei zu steinig – als ob es nicht überall in den Zwei
Flüssen Steine gegeben hätte –, und andere behaupteten,
das Land dort bringe Unglück. Ein paar murmelten, es
habe keinen Sinn, näher als nötig zu den Bergen hin zu
ziehen. Aus welchen Gründen auch immer – jedenfalls
unterhielten nur die widerstandsfähigsten Männer im
Westwald Bauernhöfe.
Kleine Kinder und Hunde hüpften in jubelnden Horden
um den Karren herum, sobald er die erste Häuserzeile
hinter sich gebracht hatte. Bela trottete geduldig weiter
und achtete nicht auf die schreienden Kinder, die vor
ihrer Nase herumkugelten, Fangen spielten und Reifen vor
sich her trieben. In den letzten Monaten hatten die Kinder
wenig gespielt oder gelacht. Selbst als das Wetter
freundlich genug geworden war, daß die Kinder draußen
spielen konnten, hatte die Angst vor Wölfen sie im Haus
festgehalten. Es schien, mit dem Näherkommen von Bel
Tine hatten sie auch wieder Spielen gelernt.
Das Fest hatte genauso seine Auswirkungen auf die
Erwachsenen. Die breiten Fensterläden waren geöffnet,
und in fast jedem Haus stand die Hausfrau an einem
Fenster, die Schürze umgebunden und die zu langen
Zöpfen geflochtenen Haare hochgesteckt und in ein Tuch
eingebunden, schüttelte Bettücher aus oder hängte
Matratzen über die Fenstersimse. Ob nun junges Grün auf
den Bäumen wuchs oder nicht, keine Frau würde Bel Tine
erleben, ohne vorher ihren Frühjahrsputz erledigt zu
haben. In jedem Hof hingen Läufer an gespannten Leinen,
und Kinder, die nicht schnell genug gewesen und zum
Spielen auf die Straße gerannt waren, ließen ihren
Verdruß mit Korbklopfern an den Teppichen aus. Auf den
Dächern kletterten die Hausherren herum, überprüften die
Strohbündel auf Winterschäden und überlegten, ob sie den
alten Cenn Buie, den Dachdecker, rufen mußten.
Mehrmals blieb Tam stehen, um sich mit dem einen
oder anderen Mann kurz zu unterhalten. Da er und Rand
die Farm wochenlang nicht mehr verlassen hatten, wollte
jeder von ihnen wissen, wie die Lage da draußen sei. Nur
wenige Männer aus dem Westwald waren ins Dorf
gekommen. Tam erzählte von den Schäden, die die
Winterstürme angerichtet hatten, nach jedem Sturm
schlimmer, und von totgeborenen Lämmern, von braunen
Feldern, wo die Saat aufgehen oder das Weidegras
sprießen sollte, von Rabenschwärmen, wo in früheren
Jahren Singvögel genistet hatten. Bittere Themen, wenn
außenherum die Vorbereitungen für Bel Tine getroffen
wurden, und viele Köpfe wurden geschüttelt. Es war
überall das gleiche.
Die meisten Männer zuckten die Achseln und sagten:
»Tja, wir werden's überleben, so das Licht will.« Einige
grinsten und fügten hinzu: »Und wenn das Licht nicht
will, werden wir trotzdem überleben.«
Das war die Art der meisten Zwei-Flüsse-Leute.
Menschen, die zusehen mußten, wie der Hagel ihre Ernte
vernichtete oder Wölfe ihre Lämmer rissen, und die von
vorn anfangen mußten, gaben nicht so leicht auf, sooft das
Schicksal auch zuschlagen mochte. Die meisten der-
jenigen, die aufgegeben hatten, waren schon lange weg.
Tam hätte wegen Wit Congar nicht angehalten, wenn
der Mann nicht auf die Straße getreten wäre, so daß sie
halten mußten, sonst hätte Bela ihn überfahren. Die
Congars und die Coplins (die beiden Familien hatten so oft
untereinander geheiratet, daß niemand mehr wußte, wo
die eine Familie endete und die andere begann) waren von
Wachhügel bis Devenritt und vielleicht sogar bis hin zur
Taren-Fähre als Nörgler und Unruhestifter bekannt.
»Ich muß das zu Bran al'Vere bringen, Wit«, sagte
Tam und deutete mit einem Kopfnicken auf die Fässer im
Karren, doch der hagere Mann blieb mit saurem
Gesichtsausdruck mitten im Weg stehen. Er hatte auf den
Stufen seiner Vordertreppe gesessen, nicht oben auf dem
Dach, obwohl die Strohbedeckung aussah, als habe sie
einen Besuch von Meister Buie dringend nötig. Er schien
nie darauf vorbereitet zu sein, etwas zu beginnen oder
etwas zu beenden, was er vorher in Angriff genommen
hatte. Die meisten Coplins oder Congars waren so,
jedenfalls diejenigen, die nicht noch schlimmer waren.
»Was machen wir mit Nynaeve, al'Thor?« wollte
Congar wissen. »Wir können doch nicht so eine Seherin in
Emondsfeld zulassen.«
Tam seufzte tief. »Das ist nicht unsere Sache, Wit. Über
die Seherin müssen die Frauen entscheiden.«
»Also, wir sollten besser etwas unternehmen, al'Thor.
Sie sagte, wir bekämen einen milden Winter. Und eine
gute Ernte. Und wenn man sie jetzt fragt, was ihr der
Wind erzählt, dann schneidet sie nur eine Grimasse und
rennt weg.«
»Wenn du sie so angesprochen hast, wie du das
gewöhnlich tust, Wit«, sagte Tam geduldig, »dann hattest
du Glück, daß sie dir nicht den Stock, den sie immer trägt,
über den Schädel gezogen hat. So, und wenn du jetzt
erlaubst, dieser Schnaps...«
»Nynaeve al'Meara ist zu jung für eine Seherin,
al'Thor. Wenn der Frauenzirkel nichts unternimmt, muß
es eben der Gemeinderat tun.«
»Was hast du dich denn um die Seherin zu kümmern,
Wit Congar?« brüllte eine Frauenstimme. Wit zuckte
zusammen, als seine Frau aus dem Haus marschierte.
Daise Congar war doppelt so breit wie Wit; eine Frau mit
hartem Gesicht, an deren Körper keine Unze Fett zu
finden war. Sie starrte ihn böse an, die Hände in die
Hüften gestützt. »Wenn du versuchst, dich in die
Angelegenheiten des Frauenzirkels einzumischen, dann
kannst du sehen, ob es dir gefällt, dir das Essen selbst zu
kochen. Aber nicht in meiner Küche. Und dir selbst die
Kleider zu waschen und das Bett zu machen. Und das nicht
unter meinem Dach!«
»Aber, Daise«, winselte Wit, »ich habe gerade...«
»Entschuldige mich bitte, Daise«, sagte Tam. »Wit.
Möge das Licht Euch beiden leuchten.« Er setzte Bela
wieder in Bewegung und führte sie um den hageren
Burschen herum. Daise konzentrierte sich im Moment auf
ihren Mann, aber jede Minute konnte sie bemerken, mit
wem Wit gesprochen hatte.
Deshalb hatten sie keine der Einladungen zum Essen
oder auf ein heißes Getränk angenommen. Wenn sie Tam
sahen, benahmen sich die Hausfrauen aus Emondsfeld wie
ein Hund auf der heißen Fährte eines Kaninchens. Es gab
keine einzige unter ihnen, die nicht die ideale Frau für
einen Witwer mit einem schönen Hof gewußt hätte, auch
wenn der Hof im Westwald lag.
Rand ging fast genauso schnell wie Tam, vielleicht
sogar noch schneller. Wenn Tam nicht dabei war, wurde
er manchesmal in die Enge getrieben, und es gab keinen
Ausweg, außer grob zu werden. Er wurde auf einen Stuhl
am Küchenherd getrieben, ihm wurden Plätzchen oder
Honigkuchen oder Fleischpasteten eingetrichtert. Und
immer musterten und maßen ihn die Augen der Hausfrau
mindestens ebenso genau wie die Waagen eines Händlers,
während sie ihm erzählte, das, was er da esse, sei nicht
halb so gut wie das Essen ihrer verwitweten Schwester
oder ihrer zweitältesten Kusine. Tam wurde schließlich
auch nicht jünger, sagte sie dann. Es war gut, daß er seine
Frau so geliebt hatte – das versprach viel für die nächste
Frau in seinem Leben –, aber er hatte lang genug
getrauert. Tam brauchte eine gute Frau. Es sei eine klare
Tatsache, sagte sie dann gewöhnlich, daß ein Mann einfach
nicht ohne eine Frau auskam, die für ihn sorgte und ihn
behütete. Die schlimmsten von allen legten dann eine
Gedankenpause ein und fragten anschließend mit
sorgfältig geplanter Gleichgültigkeit, wie alt er denn jetzt
eigentlich sei.
Wie die meisten Leute der Zwei Flüsse hatte Rand eine
ausgesprochen sture Ader. Außenseiter behaupteten
manchmal, das sei überhaupt das hervorstechendste
Merkmal der Leute aus dem Gebiet der Zwei Flüsse, und
sie könnten selbst einem Esel noch Lektionen erteilen und
einen Stein belehren. Die Hausfrauen waren zumeist feine
und freundliche Frauen, aber er haßte es, in irgend etwas
hineingezogen zu werden, und sie lösten in ihm das Gefühl
aus, er werde mit Stöcken traktiert. Also ging er schnell
und wünschte sich, Tam möge Bela etwas mehr antreiben.
Bald weitete sich die Straße zum Grün hin, einer
breiten Fläche in der Mitte des Dorfes. Normalerweise
war sie mit dichtem Gras überzogen, doch diesen Frühling
zeigten sich nur wenige junge Büschel zwischen dem
Gelbbraun des abgestorbenen Grases und dem Schwarz
der blanken Erde. Zwei Handvoll Gänse watschelten
umher. Sie beäugten mit starrem Blick den Boden, fanden
aber nichts, das des Aufpickens wert gewesen wäre. Und
jemand hatte eine Milchkuh dort angebunden, damit sie
den spärlichen Bewuchs fressen konnte.
Nahe beim westlichen Rand des Grüns sprudelte die
Weinquelle aus einem niedrigen Felsausläufer hervor. Der
Quell versiegte nie; die Strömung war stark genug, um
einen Mann zu Fall zu bringen, und das Wasser schmeckte
süß genug, um den Namen zu rechtfertigen. Von der
Quelle aus floß der sich schnell erweiternde
Weinquellenbach flink nach Osten. Weiden wuchsen
verstreut an den Ufern bis zu Meister Thanes Mühle und
noch weiter, und dann teilte er sich in den sumpfigen
Tiefen des Wasserwalds in Dutzende von kleinen Bächen.
Zwei niedrige Fußgängerstege mit Geländer überquerten
den klaren Bach noch auf dem Grün, und daneben gab es
noch eine etwas breitere Brücke, die massiv genug gebaut
war, um Fuhrwerke zu tragen. Die Wagenbrücke
bezeichnete auch die Stelle, an der aus der Nordstraße, die
von Taren-Fähre und Wachhügel her kam, die Alte Straße
nach Devenritt wurde. Fremde fanden es manchmal
kurios, daß die gleiche Straße einen anderen Namen für
den nach Norden führenden Teil hatte als für den
südwärts gerichteten; aber so war es immer schon
gewesen, so weit die Leute von Emondsfeld sich
zurückerinnerten, und so blieb es dann auch. Und dieser
Grund reichte den Leuten von den Zwei Flüssen
vollkommen aus.
Auf der anderen Seite der Brücken wurden bereits die
Holzstöße für die Bel-Tine-Feuer errichtet – drei
sorgfältig aufgeschichtete Stöße von Stämmen, beinahe so
groß wie Häuser. Sie mußten sich natürlich auf blankem
Erdboden befinden und nicht auf dem Grün, auch wenn
der Bewuchs so spärlich war. Der Teil des Festes, der sich
nicht um die Feuer herum abspielte, fand auf dem Grün
statt.
In der Nähe der Weinquelle sang ein Dutzend älterer
Frauen leise Lieder, während sie den Frühlingsbaum
aufrichteten. Man hatte den geraden schlanken Stamm
einer Tanne von den Ästen befreit, und selbst aus dem
Loch, das sie dafür gegraben hatten, ragte er noch fast
zwei Spannen hoch heraus. Einige Mädchen, die zu jung
waren, um ihr Haar wie die erwachsenen Frauen in
Zöpfen um den Kopf zu tragen, saßen mit
übergeschlagenen Beinen daneben und sahen neidvoll zu.
Gelegentlich sangen sie Teile eines Liedes mit, das die
Frauen anstimmten.
Tam schnalzte Bela mit der Zunge zu, als wolle er, daß
sie schneller gehe, doch sie überhörte es einfach. Rand
hielt krampfhaft den Blick von den Frauen abgewandt,
denn am Morgen mußten die Männer ganz überrascht tun,
wenn sie den Baum vorfanden, und um die Mittagszeit
tanzten die unverheirateten Frauen dann um den Baum
und umwickelten ihn mit langen farbigen Bändern,
während die unverheirateten Männer sangen. Keiner
wußte, seit wann und warum man diese Tradition pflegte
– so waren eben die Bräuche seit altersher –, aber sie
lieferte einen guten Vorwand, um zu singen und zu
tanzen, und dazu brauchte man niemanden von den Zwei
Flüssen noch deutlicher aufzufordern.
Den ganzen Tag des Bel Tine über würde man singen
und tanzen und feiern, und dazwischen rannte man um die
Wette und genoß Wettbewerbe aller Art. Nicht nur die
Bogenschützen konnten Preise erringen, sondern auch die
Besten mit der Schleuder und dem Bauernspieß – dem
Schlagstock. Es würde Wettbewerbe im Rätselraten geben
und im Tauziehen, im Gewichtheben und Steinstoßen,
Preise für die besten Sänger, die besten Tänzer und den
besten Fiedler, für den Schnellsten im Schafscheren und
sogar im Kegeln und Pfeilwerfen.
Normalerweise feierte man Bel Tine, wenn der
Frühling voll und ganz im Gang war, wenn die ersten
Lämmer geboren wurden und die Saat aufging. Aber
selbst bei dieser andauernden Kälte war es niemandem in
den Sinn gekommen, das Fest zu verschieben. Ein wenig
Gesang und Tanz würden allen guttun. Und zur Krönung
des Ganzen, falls man den Gerüchten trauen konnte, war
auf dem Grün ein großes Feuerwerk geplant – falls der
erste Händler des Jahres rechtzeitig eintraf, versteht sich.
Das war zum heißesten Thema geworden; das letzte
Feuerwerk hatte vor zehn Jahren stattgefunden, und man
erzählte sich immer noch davon.
Die Weinquellen-Schenke stand am östlichen Rand des
Grüns gleich neben der Wagenbrücke. Das Erdgeschoß
der Schenke war aus Flußfels gebaut. Allerdings bestanden
die Grundmauern aus älterem Gestein, von dem einige
behaupteten, es käme aus den Bergen. Der weißgetünchte
erste Stock, in dem Brandelwyn al'Vere, der Gastwirt und
Bürgermeister der vergangenen zwanzig Jahre, mit Frau
und Töchtern wohnte, ragte rundherum ein Stück über das
Erdgeschoß hinaus. Rote Dachziegel – es war das einzige
Ziegeldach im ganzen Ort – glänzten im blassen
Sonnenschein, und Rauch quoll aus drei der zwölf hohen
Schornsteine der Schenke.
Am Südende der Schenke, auf der dem Bach
abgewandten Seite, erstreckten sich die Reste viel
größerer Grundmauern, die einst ein Teil der Schenke
gewesen waren; zumindest behauptete man das. In deren
Mitte wuchs nun eine riesige Eiche. Ihr Stamm hatte einen
Umfang von fast dreißig Schritten, und die ausladenden
Aste waren so dick wie der Körper eines ausgewachsenen
Mannes. Im Sommer stellte Bran al'Vere Tische und
Bänke unter diese Äste, deren Blätter dann Schatten
spendeten und wo die Leute ein Glas trinken und den
kühlenden Wind genießen konnten, während sie sich
unterhielten oder ein Brettspiel spielten.
»So, da wären wir, mein Junge.« Tam wollte nach
Belas Geschirr fassen, doch sie blieb vor der Schenke
stehen, bevor er das Leder auch nur berührt hatte. »Kennt
den Weg besser als ich«, schmunzelte er.
Als der letzte Quietschton der Achse verflog, erschien
Bran al'Vere in der Tür der Schenke. Wie immer erschien
sein Schritt zu leicht für einen Mann seiner Statur. Er war
immerhin etwa doppelt so stark wie jeder andere Mann im
Dorf. Ein Lächeln überzog sein rundes Gesicht unter dem
spärlichen grauen Haarkranz. Trotz der Kühle war der
Wirt in Hemdsärmeln und hatte eine fleckenlos weiße
Schürze umgebunden. Auf der Brust hing ihm ein
silbernes Medaillon in Form einer Balkenwaage.
Dieses Medaillon, zusammen mit der wirklichen
Waage, mit der die Münzen der Kaufleute gewogen
wurden, die aus Baerlon kamen, um Wolle oder Tabak
einzukaufen, war das Abzeichen der Bürgermeisterwürde.
Bran trug es nur bei Verhandlungen mit den Kaufleuten
und zu Festtagen, Hochzeiten und anderen Feierlichkeiten.
Er trug es einen Tag zu früh, aber heute war Winternacht,
die Nacht vor Bel Tine, wo jeder fast die ganze Nacht lang
Besuche machte, kleine Geschenke tauschte und in jedem
Haus eine Kleinigkeit aß und trank. Nach diesem Winter,
dachte Rand, benutzt er die Winternacht als Ausrede, um
nicht auf morgen warten zu müssen.
»Tam!« rief der Bürgermeister, als er zu ihnen hin
eilte. »Dem Licht sei gedankt; es ist gut, dich endlich zu
sehen! Und dich, Rand. Wie geht es dir, mein Junge?«
»Gut, Meister al'Vere«, sagte Rand. »Und Euch?« Aber
Brans Aufmerksamkeit galt schon wieder Tam. »Ich hatte
fast schon befürchtet, du brächtest dieses Jahr keinen
Schnaps. Du warst noch nie so spät dran.«
»Ich möchte den Hof heutzutage lieber nicht verlassen,
Bran«, antwortete Tam. »Nicht, wenn sich die Wölfe so
verhalten wie jetzt. Und dann das Wetter.«
Bran räusperte sich. »Ich wünschte, jemand würde sich
mal über etwas anderes auslassen als das Wetter. Alle
beklagen sich darüber, und Leute, die es besser wissen
sollten, erwarten, daß ich alles in Ordnung bringe. Ich
habe gerade zwanzig Minuten lang versucht, Frau
al'Donel zu erklären, daß ich nichts machen kann, wenn
die Störche ausbleiben. Was sie wohl von mir
erwartete...?« Er schüttelte den Kopf.
»Ein schlimmes Vorzeichen«, verkündete eine
krächzende Stimme, »wenn zur Bel Tine keine Störche auf
den Dächern nisten.« Cenn Buie, so knorrig und dunkel
wie eine alte Wurzel, kam zu Tam und Bran herüber. E r
stützte sich auf seinen Stock, der beinahe so groß war wie
er und genauso knorrig. Er versuchte, beide Männer
gleichzeitig zu beäugen. »Es wird noch Schlimmeres
kommen, verlaßt euch drauf!«
»Bist du jetzt unter die Wahrsager gegangen und
erklärst uns die Vorzeichen?« fragte Tam trocken. »Oder
lauschst du dem Wind wie eine Seherin? Davon gibt es
sicher genug. Ein bißchen Wind wird wohl auch hier in
unserer Umgebung gemacht.«
»Macht euch nur über mich lustig«, murmelte Cenn,
»aber wenn es nicht bald warm genug wird, daß die Saat
aufgeht, dann wird mancher Bierkeller leer sein, bevor es
wieder eine Ernte gibt. Bis zum nächsten Winter leben bei
den Zwei Flüssen dann vielleicht nur noch Wölfe und
Raben. Wenn es überhaupt einen nächsten Winter gibt.
Vielleicht bleibt es auch einfach bei diesem Winter.«
»Was soll das nun wieder heißen?« sagte Bran mit
scharfer Stimme.
Cenn musterte sie mit verkniffenem Blick. »Ich kann
nicht viel Gutes über Nynaeve al'Meara sagen. Das weißt
du. Zum einen ist sie zu jung, um... Was soll's. Der
Frauenzirkel scheint etwas dagegen zu haben, daß der
Gemeinderat auch nur über ihre Angelegenheiten spricht,
aber sie mischen sich in unsere ein, wann immer sie
wollen, also ständig, jedenfalls scheint es so...«
»Cenn«, unterbrach Tam ihn, »willst du auf etwas
Bestimmtes hinaus?«
»Ich will darauf hinaus, al'Thor, daß die Seherin
immer wegläuft, wenn man sie fragt, wann der Winter zu
Ende sein wird. Vielleicht will sie uns nicht sagen, was
der Wind ihr erzählt. Vielleicht hört sie, daß der Winter
nicht mehr aufhören wird. Vielleicht wird es einfach
Winter bleiben, bis das Rad sich dreht und das Zeitalter
vorbei ist. Darauf will ich hinaus.«
»Und vielleicht fliegen dann auch die Schafe«, schoß
Tam zurück, und Bran hob die Hände ergeben gen
Himmel.
»Das Licht bewahre mich vor Narren. Du sitzt im
Gemeinderat, Cenn, und nun verbreitest du dieses Coplin-
Geschwätz. Hör mir mal gut zu. Wir haben schon genug
Probleme, ohne...«
Ein schnelles Zupfen an Rands Ärmel und eine Stimme
fast im Flüsterton, nur für Rands Ohren bestimmt, lenkten
ihn von dem Gespräch der älteren Männer ab. »Komm
schon, Rand, während sie sich streiten! Bevor sie dich
arbeiten lassen.«
Rand sah hinunter und mußte grinsen. Mat Cauthon
kauerte neben dem Karren, so daß Tam und Bran und
Cenn ihn nicht sehen konnten. Sein drahtiger Körper war
so verdreht wie ein Storch, der versucht, den Hals um sich
herumzuwinden.
Mats braune Augen funkelten schelmisch wie immer.
»Dav und ich haben einen großen alten Dachs gefangen.
Der war ganz mürrisch, als wir ihn aus seiner Höhle
herauszogen. Wir lassen ihn auf dem Grün laufen, und du
sollst mal sehen, wie die Mädchen rennen!«
Rands Lächeln wurde noch breiter. Was Mat wollte,
erschien ihm heute nicht mehr so witzig wie noch vor
einem oder zwei Jahren, aber Mat schien eben nie
erwachsen zu werden. Er sah schnell zu seinem Vater
hinüber – die Männer steckten immer noch die Köpfe
zusammen und redeten alle gleichzeitig – und sagte dann
mit gedämpfter Stimme: »Ich habe versprochen, den Most
abzuladen. Ich kann dich aber später treffen.«
Mat verdrehte die Augen. »Fässer schleppen! O du
mein Licht! Da spiele ich noch lieber mit meiner kleinen
Schwester. Aber ich weiß auch noch Besseres als einen
Dachs. Es sind Fremde in der Gegend der Zwei Flüsse.
Gestern abend...«
Für einen Augenblick stockte Rand der Atem. »Ein
Mann auf einem Pferd?« fragte er eindringlich. »Ein
Mann mit schwarzem Mantel auf einem schwarzen Pferd?
Und sein Mantel weht nicht im Wind?«
Mat vergaß sein Grinsen, und seine Stimme fiel zu
einem heiseren Flüstern ab. »Du hast ihn auch gesehen?
Ich dachte, ich sei der einzige gewesen. Lach nicht, Rand,
aber ich habe Angst vor ihm bekommen.«
»Ich werde mich hüten, zu lachen. Ich habe auch Angst
bekommen. Ich könnte schwören, daß er mich haßt und
daß er mich töten wollte.« Rand überlief es kalt. Bis zu
diesem Tag war ihm nie in den Sinn gekommen, daß
jemand ihn töten wollte, ihn wirklich töten wollte. So
etwas passierte einfach nicht bei den Zwei Flüssen. Eine
Prügelei vielleicht oder ein Ringkampf, aber kein Mord.
»Ich habe nichts von Haß bemerkt, Rand, aber er war
schon zum Fürchten. Er saß nur auf seinem Pferd und sah
mich an, gerade außerhalb des Dorfs, aber ich hatte noch
nie in meinem Leben solche Angst. Na ja, ich habe für
einen Augenblick weggesehen – das war nicht leicht, weißt
du –, und als ich wieder hinsah, war er verschwunden.
Blut und Asche! Vor drei Tagen war das, und ich kann
kaum aufhören, daran zu denken. Ich sehe mich ständig
um!« Mat bemühte sich zu lachen, aber es wurde nur ein
Krächzen daraus. »Schon komisch, wie einen die Angst
packen kann. Man kommt auf die seltsamsten Sachen. Ich
habe wirklich gedacht – nur eine Minute lang, verstehst du
–, es könnte der Dunkle König sein.« Er versuchte wieder
zu lachen, aber diesmal drang aus seinem Mund kein
einziger Laut.
Rand atmete tief ein. Dann zitierte er, auch um sich
darauf zu besinnen: »Der Dunkle König und alle die
Verlorenen sind in Shayol Ghul gebunden, jenseits der
Großen Fäule, vom Schöpfer im Augenblick der
Schöpfung gebunden bis ans Ende der Zeit. Die Hand des
Schöpfers behütet die Welt, und das Licht scheint uns
allen.« Er holte wieder Luft und fuhr fort: »Außerdem,
wenn er frei wäre, wieso würde dann der Schäfer der
Nacht bei den Zwei Flüssen Bauernjungen beobachten?«
»Ich weiß nicht. Aber ich weiß, daß dieser Reiter –
böse war. Lach nicht! Ich könnte es beschwören.
Vielleicht war es der Drache.«
»Deine Gedanken können einen schon aufheitern, nicht
wahr?« murmelte Rand. »Du hörst dich noch schlimmer
als Cenn an.«
»Meine Mutter hat mir immer gesagt, die Verlorenen
würden mich holen, wenn ich mich nicht ändere. Wenn
ich jemals einen gesehen habe, der wie Ishamael oder
Aginor aussah, dann ihn.«
»Jede Mutter jagt einem mit den Verlorenen Angst
ein«, bemerkte Rand trocken, »aber die meisten sind
irgendwann mal zu alt dafür. Wie wär's denn mit dem
Schwarzen Mann, wenn du schon dabei bist?«
Mat funkelte ihn an. »Ich habe nicht mehr solche Angst
gehabt, seit... Nein, ich habe noch nie solche Angst gehabt,
und es macht mir nichts aus, das zuzugeben.«
»Mir auch nicht. Mein Vater glaubt, ich hätte unter den
Bäumen Geister gesehen.«
Mat nickte bedrückt und lehnte sich zurück an das
Wagenrad. »Das denkt mein Paps auch. Ich habe es Dav
erzählt und Elam Dowtry. Sie haben seither wie die
Habichte Ausschau gehalten, aber nichts gesehen. Jetzt
denkt Elam, ich wollte ihn an der Nase herumführen. Dav
glaubt, es sei einer von der Taren-Fähre, irgendein Schaf-
oder Hühnerdieb. Ein Hühnerdieb!« Er verfiel in
beleidigtes Schweigen.
»Vielleicht ist es auch wirklich nur Einbildung«, sagte
Rand schließlich »Er könnte ja echt nur ein Schafdieb
sein.« Er versuchte, sich das vorzustellen, aber das war,
als stelle man sich einen Wolf vor, der an Stelle der Katze
vor dem Mauseloch Platz nimmt.
»Also, mir hat die Art nicht gefallen, wie er mich
angesehen hat. Und dir wohl auch nicht, denn du bist bei
mir ganz schön zusammengefahren, und das läßt tief
blicken. Wir sollten mit jemand darüber sprechen.«
»Das haben wir, Mat, wir beide, und keiner hat uns
geglaubt. Kannst du dir vorstellen, wie wir Meister
al'Vere von der Existenz dieses Burschen überzeugen
sollen, ohne daß er ihn sieht? Er würde uns zu Nynaeve
schicken, als ob wir krank seien.«
»Wir sind immerhin jetzt zu zweit. Keiner kann doch
glauben, daß wir uns beide den Reiter eingebildet haben.«
Rand rieb sich energisch den Kopf und fragte sich, was
er sagen solle. Mat hatte einen ganz netten Ruf im Dorf.
Nur wenige Leute waren bisher seinen Streichen
entkommen. Jetzt wurde sein Name schon zitiert, wenn
nur eine Wäscheleine ihre Ladung in den Schmutz gleiten
ließ oder wenn ein loser Sattelgurt einen Bauern unsanft
auf die Straße beförderte. Mat mußte nicht einmal in der
Nähe gewesen sein. Seine Unterstützung könnte sich als
Pferdefuß herausstellen.
Nach einem Augenblick sagte Rand: »Dein Vater würde
glauben, du hättest das mit mir abgesprochen, und
meiner...« Er blickte über den Karren hinweg dorthin, wo
Tam, Bran und Cenn sich unterhalten hatten, und sah
seinem Vater genau in die Augen. Der Bürgermeister hielt
Cenn immer noch einen Vortrag, und der nahm es in
mürrischem Schweigen hin.
»Guten Morgen, Matrim«, sagte Tam strahlend. Dabei
stellte er eines der Schnapsfässer auf den Rand des
Karrens. »Wie ich sehe, bist du gekommen, um Rand zu
helfen, den Most abzuladen. Guter Junge.«
Mat sprang beim ersten Wort auf die Füße und
bewegte, sich rückwärts. »Auch Ihnen einen guten
Morgen, Meister al'Thor. Und Ihnen, Meister al'Vere.
Meister Buie. Möge das Licht auf Euch scheinen. Mein
Paps schickte mich, um...«
»Das hat er ohne Zweifel getan«, sagte Tam. »Und
zweifellos – denn du bist ja ein junger Mann, der seine
Aufgaben sofort erledigt – hast du das Notwendige schon
erledigt. Tja, je schneller ihr Burschen den Most in
Meister al'Veres Keller befördert, desto schneller könnt
ihr den Gaukler sehen.«
»Gaukler!« rief Mat, wobei er jählings stehenblieb, und
im gleichen Moment fragte Rand: »Wann kommt er
hierher?«
Rand konnte sich in seinem Leben nur an zwei Gaukler
erinnern, die nach Zwei Flüsse gekommen waren, und bei
dem Auftritt des einen war er noch jung genug gewesen,
um von Tams Schultern aus zuzusehen. Einen hier
vorzufinden und auch noch zum Bel Tine, mit seiner
Harfe und seiner Flöte und seinen Geschichten und...
Emondsfeld würde noch in zehn Jahren über dieses Fest
reden, sogar ohne das mögliche Feuerwerk.
»Narren«, grollte Cenn, aber nach einem Blick Brans,
der alle Bedeutung der Bürgermeisterwürde enthielt, hielt
er ab sofort den Mund.
Tam lehnte sich an die Seitenwand des Karrens und
benutzte das Schnapsfaß, um seinen Arm darauf zu
stützen. »Ja, ein Gaukler, und er ist schon hier. Nach dem,
was Meister al'Vere sagt, befindet er sich im Augenblick
in einem Zimmer der Schenke.«
»Mitten in der Nacht ist er angekommen.« Der Wirt
schüttelte mißbilligend den Kopf. »Klopfte an die
Eingangstür, bis er die ganze Familie aufgeweckt hat.
Wenn es nicht des Festes wegen gewesen wäre, hätte ich
ihm gesagt, er solle sein Pferd selbst in den Stall bringen
und daneben schlafen, Gaukler oder nicht. Stellt Euch vor,
so einfach in der Dunkelheit anzukommen.«
Rand blickte gedankenvoll ins Leere. Niemand zog
nachts außerhalb des Dorfes durch die Gegend, nicht in
diesen Zeiten und ganz sicher nicht allein. Der
Dachdecker grollte wieder etwas in seinen Bart hinein.
Diesmal war es allerdings zu leise, als daß Rand mehr als
ein oder zwei Worte hätte verstehen können: ›Verrückter‹
und ›unnatürlich‹.
»Er trägt nicht zufällig einen schwarzen Mantel, oder?«
fragte Mat plötzlich.
Brans Bauch hüpfte bei seinem Lachen. »Schwarz! Sein
Mantel sieht aus wie der eines jeden Gauklers, den ich
jemals gesehen habe. Mehr Flicken als Mantel und mehr
Farben, als du dir ausdenken kannst.«
Rand überraschte sich selbst, indem er laut auflachte,
ein Lachen purer Erleichterung. Der drohende
schwarzgekleidete Reiter als Gaukler, das war ein
lächerlicher Einfall, aber... Er hielt sich die Hand
verlegen vor den Mund.
»Siehst du, Tam«, sagte Bran, »es ist seit Einbruch des
Winters in diesem Dorf nicht gerade oft gelacht worden.
Jetzt bringt sogar der Mantel eines Gauklers einen
Lacherfolg. Das ist ja schon allein die Spesen wert, die
seine Reise von Baerlon hierher kostet.«
»Sagt, was Ihr wollt«, äußerte sich plötzlich Cenn, »ich
behaupte immer noch, es ist eine dumme
Geldverschwendung. Und dieses Feuerwerk, das ihr
unbedingt bestellen wolltet...«
»Also gibt es ein Feuerwerk«, sagte Mat, aber Cenn
sprach weiter. »Das hätte vor einem Monat schon
ankommen sollen mit dem ersten Händler des Jahres, aber
es ist kein Händler gekommen, oder? Wenn er bis morgen
nicht kommt, was machen wir dann damit? Noch ein Fest
veranstalten, damit wir es abbrennen können? Und das
natürlich auch nur, wenn er es überhaupt mitbringt.«
»Cenn«, seufzte Tam, »du hast genausoviel Vertrauen
wie ein Mann aus Taren-Fähre.«
»Wo bleibt er dann? Sag es mir, al'Thor!«
»Warum habt Ihr uns nichts erzählt?« wollte Mat mit
leidender Stimme wissen. »Das Warten hätte dem ganzen
Dorf genausoviel Spaß gemacht wie mit dem Gaukler.
Oder jedenfalls beinahe soviel. Ihr seht doch, was schon
das Gerücht eines Feuerwerks ausmacht.«
»Das kann ich sehen«, konterte Bran mit einem
Seitenblick auf den Dachdecker. »Und wenn ich genau
wüßte, wie das Gerücht entstanden ist... Falls ich zum
Beispiel wüßte, daß jemand sich darüber beklagte, wie
teuer das alles sei... Noch dazu, wenn andere zuhören
konnten, obwohl das Ganze doch geheim bleiben sollte...«
Cenn räusperte sich. »Meine Knochen sind zu alt für
diesen Wind. Falls Ihr nichts dagegen habt, werde ich
schnell mal sehen, ob mir Frau al'Vere vielleicht einen
Glühwein zubereiten kann, um mich etwas aufzuwärmen.
Bürgermeister. Al'Thor.« Noch bevor er ausgeredet hatte,
war er schon auf dem Weg in die Schenke, und als die Tür
sich hinter ihm schloß, seufzte Bran.
»Manchmal glaube ich, Nynaeve hat recht mit... Ach,
das ist jetzt nicht wichtig. Ihr jungen Leute solltet eine
Minute lang nachdenken. Jeder ist ganz aufgeregt wegen
des Feuerwerks, stimmt, und das ist nur ein Gerücht.
Überlegt Euch, wie das wäre, wenn der Händler nicht
rechtzeitig eintrifft, und das nach der ganzen Vorfreude.
Und bei dem Wetter, das wir jetzt haben – wer weiß,
wann er kommen wird? Auf einen Gaukler hätten sie sich
noch fünfzigmal mehr gefreut.«
»Und wären fünfzigmal mehr enttäuscht gewesen, wenn
er nicht gekommen wäre«, sagte Rand langsam. »Selbst
Bel Tine hätte danach die Stimmung kaum noch bessern
können.«
»Du hast ja direkt einen Kopf auf den Schultern, den du
zu benutzen weißt«, sagte Bran. »Eines Tages folgt er dir
in den Gemeinderat, Tam. Denk an meine Worte. Er wäre
auch jetzt wohl kaum schlechter als dieser oder jener,
dessen guten Namen ich nennen könnte.«
»Nichts von alldem hilft mir, den Wagen zu entladen«,
sagte Tam energisch und lud dem Bürgermeister das erste
Schnapsfäßchen auf die Arme. »Ich brauche ein warmes
Feuer, meine Pfeife und einen Krug von deinem guten
Bier.« Er stemmte das zweite Schnapsfäßchen hoch auf die
Schulter. »Ich bin sicher, Rand wird dir für deine Hilfe
dankbar sein, Matrim. Denkt daran, je schneller der Most
im Keller ist...«
Als Tam und Bran in der Schenke verschwanden, sah
Rand seinen Freund an. »Du mußt mir nicht helfen. Dav
kann den Dachs nicht so lang halten.«
»Oh, und warum nicht?« fragte Mat seufzend. »Wie
dein Pa schon sagte, je eher er im Keller ist...« Er nahm
eines der Mostfässer in beide Arme und eilte mit
schnellem Schritt zur Schenke. »Vielleicht ist Egwene da.
Dir zuzusehen, wie du ihr Kuhaugen machst, ist
genausogut wie das mit dem Dachs.«
Rand, der gerade den Bogen und Köcher hinten in den
Karren legen wollte, hielt kurz inne. Er hatte es
tatsächlich fertiggebracht, Egwene für eine Weile zu
vergessen. Das war schon ungewöhnlich. Aber sie würde
sich wahrscheinlich irgendwo in der Schenke aufhalten.
Er hatte kaum eine Möglichkeit, ihr aus dem Weg zu
gehen. Natürlich war es Wochen her, seit er sie zum
letzten Mal gesehen hatte.
»Was ist?« rief Mat ihm vom Eingang der Schenke her
zu. »Ich habe nicht gesagt, daß ich alles allein mache. Du
bist noch nicht im Gemeinderat.«
Aufgeschreckt ergriff Rand ein Faß und folgte Mat.
Vielleicht wäre sie doch nicht zu Hause? Komischerweise
fühlte er sich bei diesem Gedanken auch nicht besser.
KAPITEL 2

Fremde
Als Rand und Mat die ersten Fässer durch den
Schankraum trugen, war Meister al'Vere schon dabei, ein
paar Krüge mit seinem besten Bier zu füllen, aus eigener
Herstellung und einem der Fässer, die in einem Gestell an
der Seitenwand ruhten. Kratzi, die gelbe Katze, die zur
Schenke gehörte, lag mit geschlossenen Augen und um die
Beine geringeltem Schwanz obenauf. Tam stand vor dem
großen offenen Kamin, aus Flußfels gebaut, und stopfte
Tabak aus einem glänzenden Metallbehälter, der immer
auf dem steinernen Kaminsims stand, in eine langstielige
Pfeife. Der Kamin erstreckte sich durch die Hälfte des
großen viereckigen Raums, und die Oberkante befand sich
in Schulterhöhe eines ausgewachsenen Mannes. Die
knackende Glut im Kamin vertrieb die Kälte, die von
draußen eindrang.
Zu dieser Zeit, am arbeitsreichen Vortag des Festes,
erwartete Rand einen bis auf Bran, seinen Vater und die
Katze leeren Schankraum, aber vier weitere Mitglieder
des Gemeinderats, Cenn eingeschlossen, saßen auf den
Stühlen mit den hohen Lehnen vor dem Feuer, Krüge in
der Hand, und um ihre Köpfe kräuselte sich blaugrauer
Pfeifenrauch. Ausnahmsweise wurde einmal kein einziges
Spielbrett benützt, und Brans Bücher standen vollständig
und in Reih und Glied auf dem Regal gegenüber dem
Kamin. Die Männer sprachen kaum miteinander, starrten
nur still in ihr Bier oder kauten ungeduldig auf ihren
Pfeifenstielen herum. Alles wartete auf Tam und Bran.
Sorgen waren für den Gemeinderat nichts
Ungewöhnliches heutzutage, weder in Emondsfeld noch in
Wachhügel oder Devenritt. Vielleicht noch nicht einmal in
Taren-Fähre, obwohl man ja nie wissen konnte, was die
Leute von Taren-Fähre von irgend etwas hielten.
Nur zwei der Männer am Feuer, Haral Luhhan, der
Hufschmied, und Jon Thane, der Müller, sahen auf, als die
Jungen eintraten. Meister Luhhan allerdings sah nicht bloß
auf. Die Arme des Schmieds waren dicker als die Beine
der meisten Männer, mit schweren Muskeln bepackt, und
er trug immer noch seinen langen Lederschurz, als sei er
direkt aus der Schmiede zu diesem Treffen geeilt. Mit
finsterem Blick musterte er beide junge Männer, dann
drehte er sich betont auf seinem Stuhl um und
konzentrierte sich übertrieben darauf, die Pfeife mit dem
dicken Daumen zu stopfen.
Neugierig verlangsamte Rand seinen Schritt – und
konnte gerade noch einen Schmerzensschrei unterdrücken,
als Mat ihm gegen den Knöchel trat. Sein Freund nickte
eindringlich in Richtung auf die Hintertür des
Schankraums und eilte dorthin, ohne auf ihn zu warten.
Leicht humpelnd folgte ihm Rand etwas langsamer.
»Was sollte denn das heißen?« forderte Rand
Aufklärung, sobald sie sich im Flur zur Küche befanden.
»Du hast mir beinahe meinen Knöchel...«
»Es ist wegen des alten Luhhans«, sagte Mat und spähte
dabei über Rands Schulter hinweg zum Schankraum
hinüber. »Ich glaube, er hat mich im Verdacht...« E r
sprach nicht weiter, da Frau al'Vere aus der Küche
hastete. Der Duft nach frisch gebackenem Brot wehte vor
ihr her.
Auf dem Tablett in ihren Händen lagen mehrere Laibe
Krustenbrot, für das sie in ganz Emondsfeld bekannt war,
und dazu Teller mit Gurken und Käsescheiben. Das Essen
erinnerte Rand plötzlich daran, daß er heute nur einen
Kanten Brot gegessen hatte, bevor er diesen Morgen den
Hof verließ. Sein Magen machte sich mit peinlichem
Knurren bemerkbar.
Frau al'Vere, eine schlanke Frau, die ihren dicken
Haarzopf über eine Schulter nach hinten gezogen hatte,
lächelte sie so mütterlich an, daß es beiden das Herz
erwärmte. »Es gibt mehr davon in der Küche, falls ihr
Hunger habt, und ich habe noch keinen Jungen in eurem
Alter gekannt, der nicht ständig Hunger hatte. Na ja,
genau wie alle anderen. Wenn ihr die lieber mögt – ich
backe heute morgen auch Honigkuchen.«
Sie war eine der wenigen verheirateten Frauen in der
Gegend, die nie versuchte, Tam mit irgend jemandem zu
verkuppeln. Ihre Mütterlichkeit Rand gegenüber zeigte sie
mit ihrem herzlichen Lächeln und einem schnellen Imbiß
unter Beweis, sooft er in die Schenke kam. Allerdings war
sie zu den anderen jungen Männern der Gegend genauso
freundlich. Wenn sie ihn gelegentlich ansah, als wolle sie
doch mehr für ihn tun, dann blieb es eben nur bei einem
Blick, und dafür war er äußerst dankbar.
Ohne auf eine Antwort zu warten, fegte sie in den
Schankraum. Sofort hörte man die Geräusche von über
den Boden scharrenden Stuhlbeinen, als die Männer
aufstanden, und Lobrufe auf den Duft des Brotes. Sie war
mit Längen die beste Köchin in Emondsfeld, und es gab
wohl keinen Mann weit und breit, der die Gelegenheit
ungenutzt ließ, seine Füße unter ihren Tisch zu strecken.
»Honigkuchen«, sagte Mat und leckte sich die Lippen.
»Hinterher«, erklärte ihm Rand mit fester Stimme, »oder
wir werden nie fertig.«
Über der Kellertreppe hing eine Lampe, gleich neben
der Küchentür, und eine weitere warf einen weiten
Lichtkreis in den Raum unter der Schenke und verbannte
bis auf einen kleinen düsteren Rest alle Dunkelheit in die
entferntesten Ecken der massiven Steinwände. Holzgestelle
entlang der Wände und quer über den Boden enthielten
kleine Fässer mit Schnaps und Most und größere mit Bier
und Wein. In einigen davon steckten Zapfhähne. Viele der
Weinfässer trugen Kreidevermerke in Bran al'Veres
Handschrift. Da stand, in welchem Jahr der Wein gekauft
worden war und von welchem Händler und in welchem
Ort er gekeltert worden war. Doch das gesamte Bier und
der Schnaps stammten von den Zwei-Flüsse-Bauern oder
von Bran selbst. Händler und Kaufleute brachten
manchmal Schnaps oder Bier von anderswo mit, aber die
Qualität war schlecht, und das Zeug kostete Unsummen.
Außerdem wollte niemand solches Gebräu mehr als
einmal trinken.
»Also«, sagte Rand, als sie ihre Fässer in die Gestelle
legten, »was hast du getan, daß du Meister Luhhan so
meiden mußt?«
Mat zuckte die Achseln. »Eigentlich nichts. Ich habe
Adan al'Caar und einigen seiner hochnäsigen Freunde –
Ewin Finngar und Dag Coplin – erzählt, daß ein paar
Bauern Geisterhunde gesehen haben, die Feuer spuckend
durch den Wald rannten. Sie haben's geschluckt wie süße
Sahne.«
»Und deshalb ist Meister Luhhan böse auf dich?« fragte
Rand zweifelnd.
»Nicht unbedingt.« Mat legte eine Pause ein und
schüttelte den Kopf. »Siehst du, ich habe zweien seiner
Hunde Mehl aufs Fell gestreut, bis sie ganz weiß waren.
Dann habe ich sie in der Nähe von Dags Haus laufen
lassen. Wie konnte ich ahnen, daß sie geradewegs nach
Hause rannten? Das ist wirklich nicht meine Schuld. Wenn
Frau Luhhan nicht die Tür offengelassen hätte, dann
wären sie gar nicht reingekommen. Ich habe ja schließlich
nicht gewollt, daß das ganze Haus voller Mehl war.« E r
lachte kurz auf. »Ich habe gehört, daß sie den alten
Luhhan mitsamt der Hunde mit einem Besen aus dem Haus
gescheucht hat.«
Rand zuckte zusammen, lachte aber gleichzeitig. »Wenn
ich du wäre, würde ich mir mehr Gedanken über Alsbet
Luhhan machen als über den Schmied. Sie ist fast genauso
stark und kann noch wütender werden als er. Aber was
soll's? Wenn du schnell läufst, bemerkt er dich vielleicht
nicht.« Mats Gesichtsausdruck zeigte, daß er Rands
Äußerung keineswegs lustig fand.
Als sie durch den Schankraum zurückgingen, mußte
Mat sich allerdings nicht beeilen. Die sechs Männer hatten
ihre Stühle vor dem Kamin eng zusammengeschoben. Mit
dem Rücken zum Feuer sprach Tam leise, und die anderen
beugten sich vor, um ihn besser zu verstehen. Sie
lauschten seinen Worten so konzentriert, daß sie
vermutlich nicht einmal bemerkt hätten, wenn eine Herde
Schafe durch den Raum getrieben worden wäre. Rand
wollte gern näher treten, um zu hören, worüber sie
sprachen, doch Mat zupfte ihn am Ärmel und warf ihm
einen leidenden Blick zu. Mit einem Seufzer folgte er Mat
hinaus zum Karren.
Bei ihrer Rückkehr in den Flur fanden sie oben auf der
Kellertreppe ein Tablett vor, und der Duft von heißen
Honigkuchen erfüllte den Flur. Auch zwei Krüge standen
dabei und eine Kanne mit heißem gewürzten Süßmost.
Trotz seiner eigenen Ermahnung, bis später zu warten,
legte Rand die letzten beiden Packmärsche zwischen
Karren und Keller mit einem Fäßchen unter einem Arm
und einem Stück Honigkuchen in der Hand zurück.
Er legte das letzte Fäßchen in das Gestell, wischte sich
die Krümel vom Mund, während Mat ablud, und sagte
dann: »Und was nun den Gauk...«
Füße trampelten die Treppe herunter, und Ewin
Finngar stürzte in seiner Erregung beinahe auf den
Kellerboden. Sein feistes Gesicht strahlte vor Eifer. E r
mußte seine Neuigkeiten loswerden. »Es sind Fremde im
Dorf!« Er kam zu Atem und sah Mat schief an.
»Geisterhunde habe ich keine gesehen, aber ich hörte,
jemand habe Meister Luhhans Hunde mit Mehl gepudert.
Ich habe auch gehört, daß Frau Luhhan weiß, wer dafür
verantwortlich sein dürfte.«
Die Jahre, die Mat und Rand von Ewin trennten, der
erst vierzehn war, sorgten normalerweise dafür, daß sie
alles, was er sagte, ziemlich schnell abtaten. Diesmal
jedoch blickten sie sich überrascht an und sprachen beide
gleichzeitig.
»Im Dorf?« fragte Rand. »Nicht im Wald?«
Und Mat fügte im gleichen Moment hinzu: »Hatte er
einen schwarzen Mantel an? Hast du sein Gesicht sehen
können?«
Ewin sah unsicher von einem zum anderen und sagte
dann schnell, als Mat drohend auf ihn zu trat: »Natürlich
habe ich sein Gesicht sehen können. Und sein Mantel ist
grün. Oder vielleicht grau. Er wechselt die Farbe. E r
scheint sich immer dem Hintergrund anzupassen, vor dem
er steht. Manchmal kann man ihn gar nicht sehen, auch
wenn man ihn geradewegs anblickt. Nicht, bis er sich
bewegt. Und ihrer ist blau wie der Himmel und zehnmal
schöner als alle Festkleider, die ich je gesehen habe. Sie ist
auch zehnmal hübscher als alle, die ich je gesehen habe.
Sie ist eine hochgestellte Dame wie in den Geschichten. Sie
muß eine sein.«
»Sie?« fragte Rand. »Von wem redest du?« Er sah Mat
an, der beide Hände auf den Kopf gelegt und die Augen
zugedrückt hatte.
»Von denen wollte ich dir erzählen«, äußerte sich Mat
schließlich, »bevor du mich als Helfer...« Er brach ab und
öffnete die Augen, um Ewin scharf anzusehen. »Sie sind
gestern abend angekommen«, fuhr er nach einem
Augenblick fort, »und haben sich Zimmer hier in der
Schenke genommen. Ich sah, wie sie heranritten. Ihre
Pferde, Rand! Ich habe noch nie so große und schlanke
Pferde gesehen. Sie sehen aus, als könnten sie immer und
ewig weitergaloppieren. Ich glaube, er arbeitet für sie.«
»Er steht in ihren Diensten«, unterbrach ihn Ewin.
»Das nennt man ›in Diensten stehen‹, jedenfalls in den
Geschichten, die ich gehört habe.«
Mat fuhr fort, als habe Ewin gar nicht gesprochen.
»Jedenfalls hört er auf sie, tut, was sie sagt. Aber er
benimmt sich nicht wie ein Knecht. Vielleicht ist er ein
Soldat. Die Art, wie er sein Schwert trägt, als sei es ein
Teil von ihm wie seine Hand oder sein Fuß. Neben ihm
wirken die Begleitsoldaten der Kaufleute wie Köter. Und
sie, Rand! Ich habe mir niemals eine solche Frau auch nur
vorgestellt. Es ist, als stamme sie aus den Geschichten
eines Gauklers. Sie ist, wie... Wie...« Er unterbrach seinen
Redefluß und sah Ewin gekränkt an. »... wie eine
hochgestellte Dame«, endete er mit einem Seufzer.
»Aber wer sind sie?« fragte Rand. Von den Kaufleuten
abgesehen, die einmal im Jahr kamen, um Tabak und
Wolle zu kaufen, und den fahrenden Händlern, kamen
niemals Fremde zu den Zwei Flüssen, jedenfalls so gut wie
nie. Vielleicht kamen sie bis zu Taren Fähre, aber nicht
noch weiter nach Süden. Die meisten Kaufleute und
Händler kamen auch schon seit Jahren und zählten somit
nicht als Fremde. Vielleicht konnte man sie als
Außenstehende bezeichnen. Es war gute fünf Jahre her,
daß zuletzt ein echter ›Fremder‹ in Emondsfeld
erschienen war, und er hatte versucht, sich hier zu
verstecken. Er hatte oben in Baerlon irgendwelche
Schwierigkeiten gehabt, die keiner im Dorf verstand. E r
war nicht lange geblieben. »Was wollen sie?«
»Was sie wollen?« rief Mat. »Es ist mir gleich, was sie
wollen. Fremde, Rand, und Fremde, wie du sie dir nicht
erträumt hast. Denk mal!«
Rand öffnete den Mund und schloß ihn wortlos wieder.
Der schwarzgekleidete Reiter hatte ihn so nervös gemacht
wie eine Katze im Hunderennen. Es schien schon ein mehr
als seltsamer Zufall zu sein, daß sich drei Fremde auf
einmal hier beim Dorf aufhielten. Drei – falls der seine
Farben ändernde Mantel dieses Burschen niemals schwarz
wurde.
»Sie heißt Moiraine«, sagte Ewin in das kurze
Schweigen hinein. »Ich hörte, wie er sie so anredete.
Moiraine nannte er sie. Die Lady Moiraine. Er heißt Lan.
Die Seherin kann sie vielleicht nicht leiden, aber mir
gefällt sie.«
»Wie kommst du darauf, daß Nynaeve sie nicht leiden
kann?« fragte Rand.
»Sie hat heute morgen die Seherin nach dem Weg
gefragt«, sagte Ewin, »und sie mit ›Kind‹ angesprochen.«
Rand und Mat pfiffen leise durch die Zähne, und Ewin
überschlug sich fast vor Eifer. Er erklärte: »Die Lady
Moiraine wußte nicht, daß sie die Seherin ist. Als sie es
erfuhr, hat sie sich entschuldigt. Tatsächlich! Und sie
stellte ihr dann Fragen über Kräuter und über die Leute in
Emondsfeld mit dem gleichen Respekt wie jede Frau hier
im Dorf, oder vielleicht noch mehr. Sie fragt immerzu,
wie alt die Leute sind und wie lange sie schon hier wohnen
und... Ach, ich weiß nicht, was alles. Jedenfalls antwortete
Nynaeve, als habe sie in einen unreifen Apfel gebissen.
Und dann, als die Lady Moiraine wegging, hat ihr
Nynaeve nachgeschaut, wie... Also jedenfalls, freundlich
war der Blick nicht, kann ich euch sagen.«
»Ist das alles?« fragte Rand. »Du kennst ja Nynaeves
Launen. Als Cenn Buie sie letztes Jahr ›Kind‹ nannte,
schlug sie ihm ihren Stock über den Schädel, und dabei ist
er im Gemeinderat, und alt genug, um ihr Großvater zu
sein, ist er außerdem. Sie geht bei jeder Gelegenheit hoch,
und kaum hat sie sich umgedreht, ist der Ärger auch
schon verflogen.«
»Für mich ist das schon zu lang«, murmelte Ewin.
»Mir ist es ganz gleich, wem Nynaeve über den Schädel
schlägt, solange ich's nicht bin«, gluckste Mat vergnügt.
»Das wird das beste Bel Tine, das es jemals gab. Ein
Gaukler, eine Lady – wer kann mehr verlangen? Wer
braucht schon ein Feuerwerk?«
»Ein Gaukler?« fragte Ewin mit überkieksender
Stimme.
»Komm schon, Rand«, fuhr Mat fort, wobei er den
jüngeren überging. »Wir sind doch hier fertig. Du mußt
den Burschen sehen!«
Er sprang die Treppen hoch. Ewin kam hinterher und
rief: »Ist wirklich ein Gaukler da, Mat? Das ist keine
Schwindelei wie die Geisterhunde, nicht wahr? Oder wie
die Frösche?«
Rand blieb lange genug unten, um die Lampe auf ganz
kleine Flamme zu stellen, dann eilte er hinterher.
Im Schankraum hatten sich Rowan Hurn und Samel
Crawe zu den anderen vor dem Feuer gesellt, so daß nun
der gesamte Gemeinderat versammelt war. Jetzt sprach
Bran al'Vere. Seine normalerweise derb-laute Stimme war
so gedämpft, daß jenseits der zusammengerückten Stühle
nur ein dumpfes Murmeln zu hören war. Der
Bürgermeister betonte seine Worte, indem er mit dem
dicken Zeigefinger in die Fläche der anderen Hand klopfte
und einen Mann nach dem anderen anblickte. Alle nickten
ihm ihr Einverständnis zu, was er auch sagen mochte, nur
bei Cenn sah das etwas zurückhaltender aus als bei den
anderen.
Die Art, wie sie alle eng zusammengerückt miteinander
sprachen, sagte mehr als ein Hinweisschild. Worüber
immer sie sprachen, es ging – im Moment jedenfalls – nur
den Gemeinderat etwas an. Sie hätten sicher etwas dagegen
gehabt, daß Rand lauschte. Zögernd riß er sich los. Es gab
ja auch noch den Gaukler. Und diese Fremden.
Draußen waren Bela und der Karren verschwunden. Hu
oder Tad, die Stallburschen der Schenke, hatten sie
weggebracht. Mat und Ewin standen ein paar Schritte vom
Eingang der Schenke entfernt. Ihre Mäntel wurden vom
Wind hin und her gerissen. Sie blickten sich wütend in die
Augen.
»Zum letzten Mal«, fauchte Mat, »ich spiele dir keinen
Streich! Es ist wirklich ein Gaukler da. Jetzt hau ab!
Rand, sag du diesem Wollkopf, daß ich die Wahrheit sage,
damit er mich in Ruhe läßt.«
Rand zog seinen Umhang enger und tat einen Schritt
vorwärts, um Mat zu unterstützen. Doch die Worte erstar-
ben ihm auf den Lippen, als sich ihm die Nackenhaare
sträubten. Er wurde wieder beobachtet. Es war keines-
wegs das Gefühl, das er bei dem verhüllten Reiter emp-
funden hatte, aber es war auch nicht angenehm, besonders
so kurze Zeit nach dem Zusammentreffen im Wald.
Ein kurzer Rundblick über das Grün zeigte ihm nur,
was er auch zuvor dort erblickt hatte: spielende Kinder,
Menschen, die das Fest vorbereiteten, und kaum ein Blick
in seine Richtung. Der Frühlingsbaum stand nun allein da
und wartete. Geschäftigkeit und kindliche Rufe erfüllten
die Gassen. Alles war so, wie es sein sollte. Außer, daß er
beobachtet wurde.
Dann brachte ihn etwas dazu, sich umzudrehen und
aufzuschauen. Am Rand des Ziegeldachs der Schenke saß
ein großer Rabe und schwankte ein wenig im böigen
Wind. Er hielt den Kopf schräg und äugte mit einem
schwarzen Knopfauge – nach ihm, dachte er. Er schluck-
te, und urplötzlich stieg heißer, scharfer Zorn in ihm auf.
»Dreckiger Aasfresser«, murmelte er.
»Ich hab's satt, angestarrt zu werden«, grollte Mat, und
Rand bemerkte, daß sein Freund neben ihn getreten war
und den Raben ebenfalls böse anblickte.
Sie tauschten einen Blick, und dann suchten ihre Hände
gleichzeitig nach Steinen.
Die beiden Steine flogen genau auf ihr Ziel zu... Und
der Rabe hüpfte zur Seite. Die Steine pfiffen über die
Stelle, an der er sich gerade noch befunden hatte. E r
schlug einmal mit den Flügeln, legte den Kopf wieder
schräg, fixierte sie mit einem toten schwarzen Auge, ohne
jede Angst, ohne ein Anzeichen, daß irgend etwas
geschehen war.
Rand sah den Vogel verwirrt an. »Hast du jemals einen
Raben gesehen, der sich so verhielt?« fragte er ruhig.
Mat schüttelte den Kopf, ohne den Raben aus den
Augen zu verlieren. »Nie. Und auch noch keinen anderen
Vogel.«
»Ein übler Vogel«, sagte eine Frauenstimme hinter
ihnen. Trotz des darin mitschwingenden Ekels klang die
Stimme melodiös. »Selbst in guten Zeiten sollte man ihm
mißtrauen.«
Mit einem schrillen Schrei warf sich der Rabe so
kraftvoll in die Luft hinaus, daß zwei schwarze Federn
vom Rand des Daches herunterschwebten.
Überrascht drehten sich Rand und Mat herum und
verfolgten den schnellen Flug des Vogels über das Grün
hinweg in Richtung auf die wolkenverhangenen
Verschleierten Berge zu, die hinter dem Westwald hoch
aufragten, bis er zu einem verschwindend kleinen Fleck
am Westhimmel wurde und dann ganz außer Sicht war.
Rands Blick fiel auf die Frau, die sie angesprochen
hatte. Auch sie hatte den Flug des Raben verfolgt und
wandte sich nun ihnen zu. Ihr Blick traf den seinen. E r
konnte sie nur stumm anstarren. Dies mußte die Lady
Moiraine sein, und sie war alles wert, was Mat und Ewin
über sie gesagt hatten, alles und noch mehr.
Als er gehört hatte, daß sie Nynaeve als Kind
bezeichnet hatte, stellte er sie sich als alte Dame vor, doch
das war sie nicht. Zumindest war er nicht in der Lage, ihr
Alter auch nur zu schätzen. Zuerst dachte er, sie sei
genauso jung wie Nynaeve, aber je länger er sie ansah,
desto mehr war er überzeugt, daß sie doch älter war. Um
ihre großen dunklen Augen herum lag eine Reife, ein
Hauch von Lebenserfahrung, die niemand Junges besitzen
konnte. Einen Moment lang glaubte er, diese Augen seien
tiefe Seen, die ihn gleich verschlingen würden. Es war
klar, warum Mat und Ewin sie als eine Lady aus den
Erzählungen eines Gauklers bezeichnet hatten. Sie besaß
eine Anmut und beherrschte die Szenerie in einem Maße,
daß er sich unbeholfen und plump vorkam. Sie reichte
ihm zwar kaum bis zur Brust, aber ihre Ausstrahlung ließ
ihre Größe genau richtig erscheinen, und er kam sich mit
seiner Länge linkisch vor.
Alles in allem glich sie niemandem, den er je zuvor
gesehen hatte. Die weite Kapuze des Mantels umrahmte
ihr Gesicht und das dunkle Haar, das in weichen Locken
frei hing. Er hatte noch nie eine erwachsene Frau gesehen,
deren Haar nicht zu Zöpfen geflochten war; jedes
Mädchen der Zwei Flüsse wartete ungeduldig darauf, daß
der Frauenzirkel ihres Dorfes feststellte, sie sei alt genug,
um einen Zopf zu tragen. Ihre Kleidung wirkte ebenso
fremdartig. Ihr Umhang war aus himmelblauem Samt mit
viel silbernem Zierrat, Blättern und Ranken und Blumen
am ganzen Saum entlang. Ihr Kleid schimmerte leicht,
wenn sie sich bewegte. Es war von einem dunkleren Blau
als der Mantel und wies einen cremefarbenen Schrägstrei-
fen auf. Um den Hals trug sie ein Halsband aus schweren
Goldringen, während ihr von einer anderen, feineren
Goldkette, die im Haar befestigt war, ein kleiner blau-
glitzernder Edelstein in die Mitte der Stirn herunterhing.
Um die Taille lag ein breiter Gürtel aus gewobenen
Goldfäden, und am Ringfinger der linken Hand steckte ein
Goldring in Form einer Schlange, die sich in den eigenen
Schwanz biß. Er hatte nun wirklich noch nie einen solchen
Ring gesehen, aber er erkannte die Große Schlange, ein
noch älteres Symbol für die Ewigkeit als das Rad der Zeit.
Schöner als alle Festkleider hatte Ewin gesagt, und er
hatte recht gehabt. Niemand bei den Zwei Flüssen kleidete
sich so. Niemals.
»Guten Morgen, Frau... äh... Lady Moiraine«, sagte
Rand. Sein Gesicht wurde ganz heiß, als er sich so
versprach.
»Guten Morgen, Lady Moiraine«, kam das etwas
geschliffenere Echo von Mat, doch ein wenig unsicher
klangen auch seine Worte.
Sie lächelte, und Rand fragte sich, ob er irgend etwas
für sie tun könnte, damit er eine Entschuldigung dafür
hatte, in ihrer Nähe zu verweilen. Er wußte, daß sie alle
anlächelte, doch es schien ihm, als lächle sie nur für ihn
allein. Es war wirklich so, als sei die Erzählung eines
Gauklers zum Leben erwacht. Mats Gesicht zeigte ein
albernes Grinsen.
»Ihr kennt meinen Namen«, sagte sie, und es klang
erfreut. Als ob ihre Gegenwart, und wenn sie von noch so
kurzer Dauer war, nicht das Gesprächsthema Nummer
eins im Dorf für das nächste Jahr wäre! »Aber ihr müßt
mich Moiraine nennen, nicht Lady. Und wie heißt ihr?«
Ewin sprang in die Bresche, noch bevor einer der
beiden anderen den Mund aufbrachte. »Mein Name ist
Ewin Finngar, Lady. Ich habe denen Euren Namen gesagt,
deswegen kannten sie ihn. Ich hörte, wie Lan ihn
erwähnte, aber gelauscht habe ich nicht. Niemand wie Ihr
ist jemals zuvor nach Emondsfeld gekommen. Es ist auch
ein Gaukler hier im Dorf zum Bel Tine. Und heute ist
Winternacht! Kommt Ihr in mein Haus? Meine Mutter hat
Apfelkuchen gebacken.«
»Wir werden ja sehen«, antwortete sie und legte die
Hand auf Ewins Schulter. Ihre Augen glitzerten amüsiert,
doch ansonsten blieb sie ernst. »Ich weiß nicht, inwieweit
ich mit einem Gaukler konkurrieren kann, Ewin. Aber ihr
alle müßt mich wirklich Moiraine nennen.« Sie schaute
Rand und Mat erwartungsvoll an.
»Ich bin Matrim Cauthon, La... äh... Moiraine«, sagte
Mat. Er verbeugte sich steif und ruckartig, und beim
Aufrichten lief er rot an.
Rand hatte sich gefragt, ob er auch so etwas tun sollte,
so wie die Männer in den Erzählungen, aber nachdem er
Mats Beispiel gesehen hatte, nannte er nur seinen Namen.
Zumindest versprach er sich diesmal nicht wieder.
Moiraine sah erst ihn, dann Mat und dann wieder ihn
an. Rand dachte bei sich, ihr Lächeln, das kaum die
Mundwinkel berührte, wirke wie das Egwenes, wenn sie
ein Geheimnis hatte. »Es kann sein, daß ich während
meines Aufenthalts in Emondsfeld von Zeit zu Zeit ein
paar kleine Aufträge habe«, sagte sie. »Vielleicht wärt ihr
gewillt, mir zu helfen?« Sie lachte, als sie sich mit ihrer
Zustimmung beinahe überschlugen. »Hier«, sagte sie und
Rand war überrascht, als sie ihm eine Münze in die Hand
drückte und ihm die Hand mit ihren beiden Händen darum
zudrückte.
»Es ist nicht nötig«, begann er, aber sie wischte seinen
Protest mit einer Handbewegung beiseite und gab Ewin
auch eine Münze; schließlich drückte sie auch Mats Hand
um eine Münze, wie sie es bei Rand getan hatte.
»Natürlich ist es nötig«, sagte sie. »Man kann doch von
euch nicht erwarten, daß ihr umsonst arbeitet. Betrachtet
die Münzen als Andenken und behaltet sie, damit ihr euch
daran erinnert, daß ihr zu mir kommen sollt, wenn ich es
verlange. Die Münzen verbinden uns jetzt miteinander.«
»Ich werde das nie vergessen«, posaunte Ewin heraus.
»Wir werden uns später unterhalten«, sagte sie, »und
ihr müßt mir alles über euch erzählen.«
»Lady... Entsch... Moiraine?« fragte Rand zögernd, als
sie sich abwandte. Sie blieb stehen und blickte über die
Schulter zurück. Er mußte schlucken, bevor er fortfuhr:
»Warum seid Ihr nach Emondsfeld gekommen?« Ihr
Gesichtsausdruck änderte sich nicht, und doch wünschte er
plötzlich, er hätte die Frage nicht gestellt. Er konnte nicht
einmal sagen, warum. Er wollte jedenfalls rasch
klarstellen, warum er gefragt hatte. »Ich wollte nicht
unhöflich sein. Es tut mir leid. Es ist nur so, daß niemand
außer den Kaufleuten und Händlern zu den Zwei Flüssen
kommt, wenn der Schnee nicht allzu tief ist, so daß sie aus
Baerlon herunterkommen können. Fast niemand.
Bestimmt niemand wie Ihr. Die Leibwächter der
Kaufleute sagen manchmal, dies sei der hintere Winkel
der Ewigkeit, und ich schätze, von draußen gesehen mag
es so scheinen. Ich wundere mich nur.«
Ihr Lächeln verschwand nun ganz langsam von ihrem
Gesicht, als habe sie sich an etwas erinnert. Einen
Augenblick lang sah sie ihn nur einfach an. »Ich studiere
die Geschichte«, sagte sie schließlich, »und sammle alte
Erzählungen. Diese Gegend, die ihr heute Zwei Flüsse
nennt, hat mich schon immer angezogen. Manchmal
beschäftige ich mich mit Ereignissen, die vor langer Zeit
hier geschehen sind, hier und anderswo.«
»Ereignisse?« fragte Rand. »Was kann denn in Zwei
Flüsse je geschehen sein, daß es jemanden wie Euch
interessiert – ich meine, was könnte hier schon passiert
sein?«
»Und wie sonst als Zwei Flüsse wollt Ihr dieses Land
nennen?« fügte Mat hinzu. »So hieß es schon immer.«
»Während sich das Rad der Zeit dreht«, sagte Moiraine
halb zu sich selbst und mit einem abwesenden Blick,
»führen Orte viele verschiedene Namen. Auch die
Menschen tragen viele Namen und viele Gesichter.
Unterschiedliche Gesichter, doch immer der gleiche
Mensch. Doch niemand kennt das Große Muster, das vom
Rad gewebt wird; wir kennen nicht einmal das Muster
eines Zeitalters. Wir können nur beobachten und studieren
und hoffen.«
Rand starrte sie an, unfähig, auch nur ein Wort
herauszubringen oder zu fragen, was sie damit meinte. E r
war sich nicht sicher, ob ihre Worte auch für sie bestimmt
gewesen waren. Die anderen beiden schwiegen genau wie
er, stellte er fest. Ewin stand der Mund offen.
Moiraines Blick kehrte zu ihnen zurück, und alle drei
schüttelten sich ein wenig, als erwachten sie. »Wir werden
uns später darüber unterhalten«, sagte sie. Keiner von
ihnen sagte ein Wort. »Später.« Sie ging in Richtung
Wagenbrücke. Es sah mehr wie ein Gleiten aus als ein
Gehen. Ihr Umhang breitete sich nach beiden Seiten aus
wie Flügel.
Als sie ging, verließ ein hochgewachsener Mann, den
Rand vorher gar nicht bemerkt hatte, den Schatten der
Schenke und folgte ihr, die eine Hand am langen Knauf
seines Schwertes. Seine Kleidung war von einer dunklen
graugrünen Farbe, die vor Blättern oder im Schatten fast
verschwand, und sein Umhang wirbelte durch
Schattierungen von Grau und Grün und Braun, wie er so
im Wind flatterte. Je nach dem Hintergrund war dieser
Umhang manchmal beinahe unsichtbar. Er trug das Haar
lang. An den Schläfen zeigte sich Grau. Das Haar wurde
von einem schmalen Lederband zurückgehalten. Das
Gesicht schien aus kantigem Fels gehauen, wettergegerbt,
doch faltenlos und nicht vom Alter gezeichnet, bis auf das
Grau in den Haaren. Seine Bewegungen erinnerten Rand
an einen Wolf.
Als er an ihnen vorbeiging, streifte sein Blick kurz die
drei jungen Männer. Seine Augen waren so kalt und blau
wie der Mittwinterhimmel. Es schien, als wöge er sie in
seinem Geist ab, doch es gab kein Anzeichen dafür, was
ihm die Waage angezeigt hatte. Er beschleunigte seine
Schritte, bis er Moiraine eingeholt hatte. Dann ging er
langsam an ihrer Seite weiter und beugte sich nieder, um
mit ihr zu sprechen. Rand stieß die Luft aus und merkte
erst jetzt, daß er sie angehalten hatte.
»Das war Lan«, sagte Ewin mit kehliger Stimme, als
habe auch er die Luft angehalten. Das war aber auch ein
Blick gewesen, bei dem einem der Atem stocken konnte.
»Ich wette, er ist ein Behüter.«
»Sei kein Narr!« Mat lachte, doch das Lachen klang
zittrig. »Behüter gibt es nur in Geschichten. Und auf jeden
Fall haben sie Schwerter und goldüberzogene Rüstungen
mit Edelsteinen dran, und sie bleiben immer oben im
Norden, in der Großen Fäule, und kämpfen gegen das
Böse und gegen Trollocs und so was.«
»Er könnte ein Behüter sein.« Ewin bestand darauf.
»Hast du bei ihm irgendwo Gold und Edelsteine gesehen?«
schalt Mat. »Haben wir hier bei den Zwei Flüssen etwa
Trollocs? Wir haben Schafe. Ich frage mich wirklich, was
hier jemals geschehen sein kann, daß jemand wie sie sich
dafür interessiert.«
»Es könnte schon sein«, antwortete Rand langsam.
»Man sagt, die Schenke stehe hier schon seit tausend
Jahren oder mehr.«
»Tausend Schafsjahre vielleicht«, meinte Mat.
»Ein silberner Pfennig!« platzte Ewin heraus. »Sie hat
mir einen ganzen Silberpfennig gegeben! Stellt euch vor,
was ich dafür kaufen kann, wenn der Händler kommt.«
Rand öffnete die Faust, um die Münze anzusehen, die
sie ihm gegeben hatte, und beinahe hätte er sie vor
Überraschung fallen gelassen. Zwar war ihm die dicke
Silbermünze mit dem aufgeprägten Bild einer Frau, die in
der erhobenen Hand eine Flamme hielt, nicht geläufig,
aber er hatte Bran öfter beobachtet, wenn er die Münzen
der Kaufleute aus einem Dutzend verschiedener Länder
abgewogen hatte, und er kannte ihren ungefähren Wert.
Soviel Silber reichte, um überall im Gebiet der Zwei
Flüsse ein gutes Pferd zu erwerben, und es bliebe sicher
noch etwas übrig.
Er sah Mat an und erkannte auf seinem Gesicht den
gleichen verblüfften Ausdruck, den auch seine Miene
zeigen mußte. Er hielt die Hand schräg, so daß Mat die
Münze sehen konnte, Ewin aber nicht, und zog fragend
die Augenbrauen hoch. Mat nickte, und eine Minute lang
blickten sich beide staunend an.
»Welche Art von Diensten wird sie uns wohl
auftragen?« fragte Rand schließlich.
»Ich weiß nicht«, sagte Mat mit fester Stimme, »und es
interessiert mich nicht. Ich werde die Münze nicht
ausgeben. Auch dann nicht, wenn der Händler kommt.«
Damit steckte er das Geldstück in die Manteltasche.
Rand nickte und tat es ihm mit langsamen Bewegungen
gleich. Er war sich nicht über den Grund im klaren, aber
was Mat gesagt hatte, schien richtig. Die Münze sollte
nicht ausgegeben werden. Nicht, wenn sie von ihr
stammte. Er konnte sich nicht denken, wofür Silber sonst
noch gut sein sollte, doch...
»Denkt ihr, daß ich meine auch aufheben sollte?«
Quälende Unentschlossenheit prägte Ewins
Gesichtsausdruck.
»Nicht, wenn du nicht willst«, sagte Mat.
»Ich glaube, sie gab sie dir zum Ausgeben«, sagte Rand.
Ewin blickte seine Münze an, schüttelte den Kopf und
stopfte den Silberpfennig in die Tasche. »Ich behalte sie«,
sagte er bedauernd.
»Es gibt ja auch noch den Gaukler«, sagte Rand, und
die Miene des Jungen hellte sich auf.
»Wenn er jemals aufsteht«, fügte Mat hinzu.
»Rand«, fragte Ewin, »ist wirklich ein Gaukler da?«
»Du wirst schon sehen«, antwortete Rand lachend. Es
war klar, daß Ewin es nicht glauben würde, bis er den
Gaukler mit eigenen Augen sah. »Früher oder später muß
er ja wohl runterkommen.«
Rufe waren von jenseits der Wagenbrücke zu hören.
Als Rand sah, was los war, lachte er vor Freude. Eine
durcheinanderwirbelnde Menge von Dorfbewohnern, vom
grauhaarigen Opa bis zu watschelnden Kleinkindern,
begleitete einen hohen Planwagen zur Brücke, einen
riesigen Wagen, der von acht Pferden gezogen wurde.
Außen an der halbrund übergezogenen Plane hingen
Bündel von Waren wie Trauben an einem Strunk. Der
Händler war endlich da. Fremde und ein Gaukler,
Feuerwerk und ein fahrender Händler. Es würde das beste
Bel Tine aller Zeiten werden.
KAPITEL 3

Der fahrende Händler


Zusammengebunden aufgehängte Töpfe klapperten, als
der Wagen des fahrenden Händlers über die schweren
Balken der Wagenbrücke rumpelte. Er wurde immer noch
von einer großen Schar Dorfbewohner und Bauern
umgeben, die zum Fest gekommen waren. Der Händler
brachte seine Pferde vor der Schenke zum Stehen.
Aus jeder Richtung strömte weiteres Volk herbei und
vergrößerte die Zahl derer, die den Wagen umstanden.
Dessen Räder waren höher als die Menschen, die den
Händler auf dem Bock des Wagens über ihnen nicht aus
den Augen ließen.
Der Mann auf dem Wagen war Padan Fain, ein blasser
dünner Bursche mit langen dünnen Armen und einer
großmächtigen Adlernase. Fain, der immer lächelte oder
lachte, als wisse er einen Witz, den keiner sonst kannte,
war mit seinem Wagen und diesem Gespann jeden Früh-
ling in Emondsfeld eingezogen, solange sich Rand zurück-
erinnern konnte. Gerade als das Gespann mit rasselndem
Geschirr zum Stehen kam, flog die Tür der Schenke auf,
und der Gemeinderat erschien, von Meister al'Vere und
Tam angeführt. Sie alle marschierten zielbewußt heraus,
selbst Cenn Buie. Um sie herum riefen die anderen
aufgeregt nach Nadeln und Spitzen und Büchern und
tausend anderen Dingen, die sie brauchten oder zu brau-
chen glaubten. Zögernd machte die Menge Platz für den
Gemeinderat. Als er vorn angelangt war, schlossen sich
dahinter die Reihen wieder dicht, und das Geschrei nach
den Diensten des Händlers schwoll an. Vor allem verlang-
ten die Dorfbewohner nach Neuigkeiten von draußen.
In den Augen der Dorfbewohner machten Nadeln und
Tee und dergleichen nicht mehr als die Hälfte dessen aus,
was der Händler in seinem Wagen mitführte. Genauso
wichtig waren die Neuigkeiten von draußen, Neuigkeiten
aus der Welt jenseits der Zwei Flüsse. Einige Händler
erzählten einfach, was sie wußten, warfen es den
Dorfbewohnern hin wie einen Haufen Abfall, von dem sie
nicht belästigt werden wollten. Anderen mußte man jedes
Wort einzeln aus der Nase ziehen. Sie redeten widerwillig
und ungeschickt. Fain dagegen sprach frei, wenn er die
Dorfbewohner auch öfter neckte, und dehnte das Ganze
aus, machte es zu einer Vorstellung wie einen
Gauklerauftritt. Er genoß es, im Mittelpunkt zu stehen,
herumzustolzieren wie ein zu klein geratener Hahn, wenn
alle Augen auf ihm ruhten. Rand fragte sich, ob es Fain
überhaupt passen mochte, daß er nun einen richtigen
Gaukler in Emondsfeld vorfand.
Der Händler schenkte dem Gemeinderat und den
Dorfbewohnern genau die gleiche Beachtung, während er
umständlich die Zügel zusammenband – nämlich gar keine
Beachtung. Er nickte so nebenher, aber das galt niemand
Bestimmtem. Er lächelte stumm und winkte abwesend
einigen Leuten zu, mit denen er befreundet war, obwohl
er trotz aller Freundschaft immer einen gewissen Abstand
hielt. Man klopfte sich gegenseitig auf die Schulter, ohne
sich dabei näherzukommen. Die Aufforderungen, endlich
zu erzählen, wurden lauter, doch Fain wartete und
beschäftigte sich mit irgendwelchen Kleinigkeiten oben
auf dem Bock, damit die Menschenmenge und die
Erwartungen so groß wurden, wie er das wollte. Nur der
Gemeinderat blieb stumm. Die Herren zeigten jene
Würde, die man von ihrer Stellung erwartete, aber den
anschwellenden Wolken von Pfeifenrauch über ihren
Köpfen war anzumerken, wie schwer es ihnen fiel.
Rand und Mat schoben sich in die Menge, um dem
Wagen so nahe wie möglich zu kommen. Rand hätte ja auf
halbem Weg Halt gemacht, doch Mat wand sich durch das
Gedränge und zog Rand hinter sich her, bis sie genau
hinter dem Gemeinderat standen. »Ich hatte schon
geglaubt, du wolltest das Fest auf dem Hof verbringen!«,
rief Perrin Aybara Rand über den Lärm hinweg zu. E r
war einen halben Kopf kleiner als Rand, aber der
lockenköpfige Schmiedlehrling war so stämmig, daß er
wie eineinhalb Männer wirkte. Seine Arme und Schultern
waren so stark, daß sie schon denen von Meister Luhhan
selbst gleichkamen. Er hätte sich mit Leichtigkeit durch
die Menge drängen können, aber das war nicht seine Art.
Er schob sich rücksichtsvoll hindurch und entschuldigte
sich bei Leuten, die sowieso ihre Aufmerksamkeit
ausschließlich auf den Händler konzentriert hatten und ihn
kaum bemerkten. Trotzdem entschuldigte er sich und
bemühte sich, niemanden anzustoßen, als er sich auf Rand
und Mat zubewegte. »Stellt Euch vor«, sagte er, als er sie
schließlich erreicht hatte, »Bel Tine und ein Händler,
beides gleichzeitig. Ich wette, es gibt wirklich ein
Feuerwerk.«
»Du kennst nicht mal ein Viertel von den Neuigkeiten,
die hier alle geschehen.« Mat lachte.
Perrin beäugte ihn mißtrauisch und blickte Rand dann
fragend an.
»Es stimmt!« rief Rand. Dann zeigte er auf die weiter
anwachsende Menschenmenge, die durcheinanderschrie.
»Später. Ich erkläre es dir später. Später habe ich gesagt!«
In diesem Augenblick stellte sich Padan Fain auf den
Fahrersitz, und es wurde sofort leise in der Menge. Rands
letzte Worte explodierten förmlich in die plötzliche Stille
hinein. Der Händler hatte gerade mit einer dramatischen
Geste den Arm erhoben und den Mund geöffnet. Alles
drehte sich um und starrte Rand an. Der kleine knochige
Mann auf dem Wagen, der erwartet hatte, daß jeder
gespannt seinen ersten Worten lauschen werde, sah Rand
scharf und durchdringend an.
Rand errötete und wünschte sich, er wäre so klein wie
Ewin, damit er sich nicht so von der Menge abhob. Auch
seine Freunde traten unbehaglich von einem Fuß auf den
anderen. Es war erst im letzten Jahr geschehen, daß Fain
endlich von ihnen Notiz genommen und sie als Männer
anerkannt hatte. Fain hatte normalerweise nicht viel Zeit
für junge Leute, die kaum Waren aus seinem Wagen
kaufen konnten. Rand hoffte, daß er in den Augen des
Händlers nun nicht wieder als Kind eingestuft wurde.
Mit einem lauten Räuspern zupfte Fain an seinem
schweren Mantel. »Nein, nicht später«, deklamierte er und
warf eine Hand in grandioser Geste nach oben. »Ich werde
euch jetzt berichten.« Beim Sprechen gestikulierte er breit
und warf seine Worte über die Menge hinweg. »Ihr
glaubt, ihr habt Schwierigkeiten gehabt hier im Gebiet der
Zwei Flüsse, nicht wahr? Nun, die ganze Welt hat
Probleme, von der Großen Fäule nach Süden bis zum
Meer der Stürme, vom Aryth-Meer im Westen bis zur
Aiel-Wüste im Osten. Und sogar darüber hinaus. Der
Winter war härter, als man ihn je erlebt hat, kalt genug,
um euch das Blut gefrieren zu lassen und euch die
Knochen zu brechen? Ahhh! Der Winter war überall hart
und kalt. In den Grenzlanden würden sie euren Winter
einen Frühling nennen. Doch der Frühling kommt nicht,
sagt ihr? Wölfe haben eure Schafe gerissen? Vielleicht
haben die Wölfe auch Menschen angegriffen? Ist es so?
Tja, nun, der Frühling ist überall zu spät dran. Überall
gibt es Wölfe, die nach jedem Stück Fleisch gieren, in das
sie ihre Zähne schlagen können, seien es Schafe oder Kühe
oder Menschen. Aber es gibt Schlimmeres als Wölfe oder
den Winter. Es gibt Leute, die wären froh, wenn sie nur
eure kleinen Sorgen hätten.« Er unterbrach seinen
Redeschwall erwartungsvoll.
»Was könnte denn schlimmer sein als Wölfe, die Schafe
und Menschen töten?« wollte Cenn Buie wissen. Andere
murmelten beifällig.
»Menschen, die Menschen töten.« Die Antwort des
Händlers, in bedeutungsvollem Tonfall gesprochen, wurde
von der Menge mit erschrockenem Gemurmel quittiert,
das noch zunahm, als er weitersprach. »Ich meine damit
Krieg. In Ghealdan herrscht Krieg, Krieg und Wahnsinn.
Der Schnee im Wald von Dhallin ist rot vom Blut
getöteter Männer. Die Luft ist erfüllt von Raben und
ihrem Geschrei. Heere marschieren nach Ghealdan.
Völker, mächtige Königshäuser und große Männer
schicken ihre Soldaten in den Kampf.«
»Krieg?« Meister al'Veres Mund formte das
ungewohnte Wort nur ungeschickt. Niemand im Gebiet
der Zwei Flüsse hatte je mit einem Krieg zu tun gehabt.
»Warum herrscht dort Krieg?«
Fain grinste, und Rand hatte das Gefühl, daß er sich
über die Abgeschiedenheit der Dorfbewohner und ihre
Unwissenheit lustig machte. Der Händler beugte sich vor,
als teile er dem Bürgermeister ein Geheimnis mit, doch
sein Flüstern sollte weithin hörbar sein und war es auch.
»Die Flagge des Drachen wurde gehißt, und Männer
strömen herbei, um sie zu bekämpfen. Und zu
unterstützen.«
Alle schnappten gleichzeitig entsetzt nach Luft, und
Rand erschauerte gegen seinen Willen.
»Der Drache!« stöhnte jemand. »Der Dunkle König ist
in Ghealdan!«
»Nicht der Dunkle König«, grollte Haral Luhhan. »Der
Drache ist nicht der Dunkle König. Und es ist außerdem
ein falscher Drache.«
»Laß uns anhören, was Meister Fain noch zu sagen
hat«, sagte der Bürgermeister, aber niemand ließ sich so
einfach beruhigen. Von allen Seiten riefen die Leute.
Männer und Frauen überschrien sich gegenseitig.
»Genauso schlimm wie der Dunkle König!«
»Der Drache hat die Welt zerstört, oder nicht?«
»Er hat damit angefangen! Er hat die Zeit des Wahns
verursacht!«
»Ihr kennt die Prophezeiung! Wenn der Drache
wiedergeboren wird, werden euch eure schlimmsten
Alpträume wie die schönsten Träume vorkommen!«
»Er ist bloß wieder ein falscher Drache. Das kann nicht
anders sein!«
»Was macht das schon für einen Unterschied? Erinnert
euch an den letzten falschen Drachen. Auch er begann
einen Krieg. Tausende starben damals, oder nicht, Fain?
Er belagerte Illian.«
»Das sind böse Zeiten! Zwanzig Jahre lang hat niemand
behauptet, der Wiedergeborene Drache zu sein, und nun
gleich drei innerhalb der letzten fünf Jahre. Böse Zeiten!
Denkt nur an das Wetter!«
Rand tauschte Blicke mit Mat und Perrin. Mats Augen
glänzten vor Erregung, doch Perrin machte eine
sorgenvolle Miene. Rand konnte sich an jede der
Geschichten erinnern, die von den Männern berichtet
hatten, die sich selbst als den Wiedergeborenen Drachen
bezeichneten. Auch wenn sie sich alle als falsche Drachen
erwiesen hatten, indem sie starben, ohne eine der
Prophezeiungen zu erfüllen, so hatten sie doch genug
Unheil gestiftet. Ganze Nationen wurden vom Krieg
zerrissen, Städte und Dörfer niedergebrannt. Die Toten
fielen wie Blätter im Herbstwind, und Flüchtlinge
verstopften die Straßen wie Schafe in einem Pferch. So
hatten es die fahrenden Händler erzählt, und die Kaufleute
und niemand von den Zwei Flüssen, der seine fünf Sinne
beisammen hatte, zweifelte daran. Die Welt werde
untergehen, sagten einige, wenn der wirkliche Drache
wiedergeboren würde.
»Schluß damit!« schrie der Bürgermeister. »Seid ruhig!
Laßt Euch nicht von eurer eigenen Einbildung
übermannen! Laßt Meister Fain von diesem falschen
Drachen erzählen!« Die Leute begannen sich zu
beruhigen, doch Cenn Buie weigerte sich zu schweigen.
»Ist es wirklich ein falscher Drache?« fragte der
Dachdecker mürrisch.
Meister al'Vere blinzelte überrascht und fauchte ihn an:
»Sei kein alter Narr, Cenn!« Aber Cenn hatte die Menge
wieder angeheizt.
»Er kann doch nicht der Wiedergeborene Drache sein!
Das Licht helfe uns – er kann es doch nicht sein!«
»Du alter Narr, Buie! Du willst das Pech
herausfordern, nicht wahr?«
»Nächstens nennt er noch den Dunklen König beim
Namen! Du bist vom Drachen besessen, Cenn Buie!
Versuchst uns alle ins Unglück zu stürzen!«
Cenn sah sich trotzig um, versuchte, die Ankläger mit
einem Blick zum Schweigen zu bringen, und erhob die
Stimme. »Ich habe nicht gehört, wie Fain sagte, dies sei
ein falscher Drache. Habt ihr das gesagt? Gebraucht eure
Augen! Wo ist die Saat, die jetzt kniehoch oder höher sein
sollte? Warum ist es immer noch Winter, wenn der
Frühling schon vor einem Monat eingekehrt sein sollte?«
Es gab böse Zurufe, Cenn solle den Mund halten. »Ich
werde nicht schweigen! Mir gefällt es auch nicht, so zu
reden, aber ich stecke meinen Kopf nicht unter einen
Korb, bis ein Mann aus Taren-Fähre kommt und mir den
Hals abschneidet. Und ich lasse mich nicht von Fain an der
Nase herumführen. Sagt es uns jetzt, Händler. Was habt
Ihr gehört? Eh? Ist dieser Mann ein falscher Drache?«
Falls Fain durch die Neuigkeiten, die er gebracht, oder
durch den Aufruhr, den er verursacht hatte, beunruhigt
war, zeigte er es jedenfalls nicht. Er zuckte nur die
Achseln und legte einen knochigen Finger an die Nase.
»Was das betrifft – wer weiß schon, wann es zu Ende und
vorbei ist?« Er schwieg und zeigte sein
geheimnisschwangeres Lächeln, während er die Augen
über die Menge schweifen ließ. Er schien ihre Reaktionen
zu beobachten und fand das offensichtlich lustig. »Ich
weiß«, sagte er betont lässig, »daß er die Eine Macht
anwenden kann. Die anderen konnten das nicht. Doch er
kann sie lenken. Der Boden öffnet sich unter den Füßen
seiner Feinde, und dicke Mauern zerbrechen bei seinem
Schrei. Der Blitz kommt, wenn er ihn ruft, und schlägt
dort ein, wo er hinzeigt. Das habe ich gehört, und zwar
von Männern, denen ich glaube.«
Gelähmtes Schweigen breitete sich aus. Rand sah seine
Freunde an. Perrin schien Dinge zu sehen, die ihm nicht
gefielen, aber Mat wirkte immer noch aufgeregt.
Tam, dessen Gesicht fast genauso ruhig wirkte wie
sonst, zog den Bürgermeister zu sich heran, aber bevor er
sprechen konnte, platzte Ewin Finngar heraus.
»Er wird wahnsinnig werden und sterben! In den
Geschichten werden die Männer, die die Eine Macht
lenken, immer wahnsinnig, und dann siechen sie dahin und
sterben. Nur Frauen können sie benutzen. Weiß er das
nicht?« Er duckte sich, um einer Kopfnuß von Meister
Buie zu entgehen.
»Wir haben genug von dir gehört, Junge.« Cenn
schüttelte eine knorrige Faust vor Ewins Gesicht. »Zeig
den nötigen Respekt und überlaß das den Älteren. Hau
ab!«
»Beherrsch dich, Cenn!« grollte Tam. »Der Junge ist
bloß neugierig. Es ist nicht nötig, daß du dich wie ein
Narr benimmst.«
»Benimm dich deinem Alter entsprechend«, fügte Bran
hinzu. »Und denk wenigstens einmal daran, daß du ein
Mitglied des Gemeinderats bist.«
Cenns runzliges Gesicht färbte sich bei jedem Wort
Tams und des Bürgermeisters dunkler, bis es beinahe lila
aussah. »Ihr wißt, von welcher Art Frauen er spricht.
Guck mich nicht so böse an, Luhhan und auch du, Crawe.
Dies ist ein anständiges Dorf mit anständigen Leuten, und
es ist schon schlimm genug, wenn Fain hier ist und von
falschen Drachen erzählt, die die Eine Macht benutzen,
ohne daß solch ein närrischer Junge auch noch die Aes
Sedai ins Spiel bringt. Es gibt Dinge, über die man nicht
reden sollte, und mir ist es gleich, ob ihr diesen dummen
Händler alles erzählen laßt, was er will. Es ist einfach
nicht richtig und anständig.«
»Ich habe niemals etwas gesehen oder gehört oder
gerochen, über das man nicht auch sprechen konnte«,
sagte Tam, aber Fain gab nun keine Ruhe.
»Die Aes Sedai stecken schon in der Sache drin«, sagte
der Händler. »Eine Gruppe von ihnen ist von Tar Valon
aus nach Süden geritten. Da er die Macht anwenden kann,
können nur die Aes Sedai ihn besiegen, auch wenn die
anderen noch so viele Schlachten gegen ihn schlagen oder
ihn gefangenhalten, wenn er besiegt ist. Falls er besiegt
wird.«
Irgend jemand in der Menge stöhnte laut auf, und sogar
Tam und Bran tauschten unsichere Blicke. Die
Dorfbewohner standen in Gruppen beieinander, und
mancher zog den Umhang enger um sich, obwohl der
Wind etwas nachgelassen hatte.
»Natürlich wird er besiegt!« rief jemand.
»Sie werden zum Schluß doch immer geschlagen, die
falschen Drachen.«
»Er muß einfach besiegt werden, nicht wahr?«
»Und wenn es nicht gelingt?«
Tam hatte es endlich fertiggebracht, dem
Bürgermeister etwas ins Ohr zu flüstern, und Bran, der
von Zeit zu Zeit nickte und das Gebrabbel um ihn herum
nicht beachtete, wartete, bis Tam fertig war, erhob dann
die Stimme.
»Hört mal alle zu! Seid still und hört zu!« Das Geschrei
wurde wieder zu einem Gemurmel. »Das sind alles nicht
nur einfach Neuigkeiten von draußen. Der Gemeinderat
muß darüber sprechen. Meister Fain, leistet uns doch in
der Schenke Gesellschaft! Wir wollen Euch einiges
fragen.«
»Ich hätte nichts gegen einen ordentlichen Krug
Glühwein einzuwenden«, antwortete der Händler
schmunzelnd. Er sprang vom Wagen, wischte sich die
Hände am Mantel ab und rückte fröhlich seinen Umhang
zurecht. »Kümmert sich jemand bitte um meine Pferde?«
»Ich will hören, was er zu sagen hat!« Mehr als eine
Stimme erhob sich protestierend.
»Ihr könnt ihn nicht einfach mitnehmen! Meine Frau
hat mich geschickt, damit ich Stecknadeln kaufe!« Das war
Wit Congar. Er zog die Schultern hoch, als wolle er die
Blicke einiger anderer abwehren, hielt aber seine Stellung.
»Wir haben auch ein Recht, Fragen zu stellen!« schrie
jemand weit hinten aus der Menge. »Ich...«
»Ruhe!« brüllte der Bürgermeister und rief damit ein
überraschtes Schweigen hervor. »Wenn der Gemeinderat
seine Fragen gestellt hat, wird Meister Fain
zurückkommen und Euch alle Neuigkeiten mitteilen. Und
seine Töpfe und Stecknadeln verkaufen. Hu! Tad!
Versorgt Meister Fains Pferde!«
Tam und Bran stellten sich jeder an eine Seite des
Händlers, der Rest des Gemeinderats schloß sich an, und
die ganze Gruppe eilte in die Weinquellen-Schenke. Sie
knallten die Tür vor den Nasen derjenigen zu, die sich
hinter ihnen hineindrängen wollten. Als sie an die Tür
pochten, schrie lediglich der Bürgermeister: »Geht heim!«
Viele Leute drückten sich noch vor der Schenke herum,
sprachen leise über den Bericht des Händlers und was er
bedeutete und welche Fragen der Gemeinderat wohl stellte
und warum man ihnen gestatten sollte, daran teilzunehmen
und zuzuhören und eigene Fragen zu stellen. Einige
schauten durch die Vorderfenster der Schenke, und ein
paar fragten sogar Hu und Tad aus, obwohl es ziemlich
unklar blieb, was die beiden wohl wissen sollten. Die
beiden kräftigen Stallburschen gaben nur ein Grunzen zur
Antwort und nahmen den Pferden vorschriftsmäßig das
Geschirr ab. Eins nach dem anderen führten sie Fains
Pferde weg, und als das letzte fort war, kehrten auch sie
nicht wieder.
Rand beachtete die Menge nicht. Er setzte sich auf die
Steine der alten Grundmauern, zog den Umhang enger
zusammen und starrte die Tür der Schenke an. Ghealdan.
Tar Valon. Die Namen allein klangen fremdartig und
erregend. Das waren Orte, die er nur aus Berichten der
Händler und Erzählungen der Leibwächter von Kaufleuten
kannte. Aes Sedai und Kriege und falsche Drachen: Das
klang nach den Geschichten, die man sich spät in der
Nacht vor dem Kamin erzählte, wenn die Kerze
eigenartige Schatten an die Wand warf und der Wind vor
den Fensterläden heulte. Alles in allem dachte er sich,
wären ihm aber Schneestürme und Wölfe lieber. Und
doch mußte es dort draußen ganz anders sein, jenseits der
Zwei Flüsse, als lebe man mitten in der Erzählung eines
Gauklers. Ein Abenteuer. Ein langes Abenteuer. Ein
ganzes Leben lang.
Langsam zerstreuten sich die Dorfbewohner, immer
noch murrend und kopfschüttelnd. Wit Congar blieb
stehen und blickte in den nun verlassenen Wagen, als
könne er darin einen weiteren versteckten Händler finden.
Schließlich waren nur noch ein paar der jüngeren Leute
da. Mat und Perrin schlenderten zu Rand herüber.
»Ich weiß nicht, wie der Gaukler das noch überbieten
will«, sagte Mat aufgeregt. »Ich frage mich, ob wir wohl
diesen falschen Drachen zu Gesicht bekommen.«
Perrin schüttelte den zerzausten Kopf. »Ich will ihn
nicht sehen. Vielleicht irgendwo anders, aber nicht bei den
Zwei Flüssen. Nicht, wenn das gleichzeitig Krieg
bedeutet.«
»Und auch nicht, wenn dann Aes Sedai
hierherkommen«, fügte Rand hinzu. »Oder habt ihr
vergessen, wer die Zerstörung der Welt verursacht hat?
Der Drache hat damit vielleicht angefangen, aber es waren
die Aes Sedai, die die Welt wirklich zerstört haben.«
»Ich habe die Geschichte einmal gehört«, sagte Mat
langsam, »und zwar vom Leibwächter eines
Wollaufkäufers. Er sagte, der Drache werde in der Stunde
der größten Not für die Menschheit wiedergeboren und
uns alle retten.«
»Dann war er ein Narr, falls er das glaubte«, sagte
Perrin bestimmt. »Und du warst ein Narr, auf ihn zu
hören.« Er klang nicht böse – es dauerte lange, ihn
wütend zu machen. Aber manchmal hatte er die Nase voll
von Mats blühender Phantasie, und das klang jetzt ein
wenig in seiner Stimme mit. »Wahrscheinlich hat er auch
noch behauptet, anschließend würden wir in einem neuen
Zeitalter der Legenden leben.«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich es glaube«, protestierte
Mat. »Ich habe es nur gehört. Nynaeve auch, und ich
dachte, sie würde mir und dem Leibwächter die Haut bei
lebendigem Leib abziehen. Er sagte – der Wächter
natürlich –, daß viele Leute daran glauben, nur fürchten
sie sich, es auszusprechen. Sie haben Angst vor den Aes
Sedai oder den Kindern des Lichts. Nachdem Nynaeve so
dazwischenfuhr, sagte er nichts mehr. Sie hat es dem
Kaufmann erzählt, und der sagte, der Wächter habe ihn
das letzte Mal auf einer Reise begleitet.«
»Das war auch gut so«, sagte Perrin. »Der Drache soll
uns retten? Hört sich wie Coplin-Geschwätz an.«
»Wie groß müßte unsere Not wohl sein, daß wir den
Drachen um Hilfe riefen?« überlegte Rand. »Da können
wir genausogut den Dunklen König um Unterstützung
bitten.«
»Er hat es nicht gesagt«, erwiderte Mat unsicher. »Und
er hat auch nichts von einem neuen Zeitalter der Legenden
erwähnt. Er sagte, die Welt werde durch die Ankunft des
Drachen zerrissen.«
»Das würde uns retten«, sagte Perrin trocken. »Eine
neue Zerstörung der Welt.«
»Mach mich nicht verantwortlich«, grollte Mat. »Ich
habe nur wiedergegeben, was der Wächter sagte.«
Perrin schüttelte den Kopf. »Ich hoffe nur; die Aes
Sedai und dieser Drache, ob falsch oder nicht, bleiben, wo
sie sind. Vielleicht werden dann die Zwei Flüsse verschont
bleiben.«
»Glaubst du, sie sind in Wirklichkeit Schattenfreunde?«
Mat runzelte gedankenverloren die Stirn.
»Wer?« fragte Rand.
»Aes Sedai.«
Rand sah Perrin an, der mit den Achseln zuckte. »Die
Geschichten...«, begann er bedächtig, doch Mat schnitt
ihm das Wort ab.
»Nicht alle Geschichten behaupten, daß sie dem
Dunklen König dienen, Rand.«
»Beim Licht, Mat«, sagte Rand. »Sie verursachten die
Zerstörung der Welt. Was brauchst du denn noch?«
»Na, vielleicht.« Mat seufzte, grinste aber im nächsten
Augenblick schon wieder. »Der alte Bili Congar sagt, es
gäbe sie gar nicht. Aes Sedai. Schattenfreunde. Er sagt,
das seien nur Geschichten. Er sagt, daß er auch nicht an
den Dunklen König glaubt.«
Perrin schnaubte. »Coplin-Geschwätz von einem
Congar! Was kannst du sonst erwarten?«
»Der alte Bili hat den Dunklen König genannt. Ich
wette, das hast du nicht gewußt.«
»Licht!« kam ein Stoßseufzer von Rand.
Mats Grinsen wurde breiter. »Das war letztes Frühjahr,
gerade bevor seine Felder vom Schnittwurm befallen
wurden, die der anderen aber nicht. Gerade bevor alle in
seinem Haus Gelbaugenfieber bekamen. Ich habe gehört,
wie er es gesagt hat. Er sagt immer noch, er glaube nicht
dran, aber immer wenn ich ihm sage, er solle doch den
Dunklen König beim Namen nennen, wirft er irgendwas
nach mir.«
»Und du bist dumm genug, um so was zu sagen, wie,
Matrim Cauthon?« Nynaeve al'Meara trat in ihre Mitte,
den dunklen Zopf über die Schulter gehängt und vor Wut
kochend. Rand rappelte sich auf. Sie war schlank und ging
Mat kaum bis zur Schulter, doch in diesem Moment
erschien ihnen die Seherin größer als sie alle, und es
spielte keine Rolle, daß sie jung und hübsch war. »Ich
habe Bili Congar damals gleich so eingeschätzt, aber ich
dachte, du hättest mehr Verstand und würdest nicht noch
versuchen, ihn aufzustacheln. Du bist vielleicht alt genug,
um zu heiraten, Matrim Cauthon, aber in Wirklichkeit
solltest du noch an Mutters Schürzenzipfel hängen! Als
nächstes wirst du wohl auch noch selbst den Dunklen
König nennen.«
»Nein, Seherin«, protestierte Mat. Er sah aus, als
wünsche er sich, irgendwo weit weg zu sein. »Es war
doch der alte Bi... Ich meine, Meister Congar und nicht
ich! Blut und Asche, ich...«
»Hüte deine Zunge, Matrim!«
Rand richtete sich unwillkürlich steif auf, obwohl ihr
zorniger Blick gar nicht ihm galt. Perrin sah genauso
zerknirscht aus. Später würde sich der eine oder andere
von ihnen mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit darüber beklagen, daß sie von einer
Frau heruntergeputzt worden waren, die nicht viel älter
als sie selbst war – das geschah jedesmal, wenn Nynaeve
geschimpft hatte, allerdings außerhalb ihrer Hörweite –,
doch von Angesicht zu Angesicht schien der
Altersunterschied plötzlich groß genug. Besonders, wenn
sie richtig wütend war. Der Stock in ihrer Hand hatte ein
dickes Ende und lief auf der anderen Seite in eine dünne
Rute aus, und man mußte bei ihr damit rechnen, daß sie
jedem damit eins überzog, der sich in ihren Augen wie ein
Narr benahm – auf den Kopf oder die Hände oder Beine –
gleich, wie alt sie waren und welche Stellung sie im Dorf
innehatten.
Rand hatte seine Aufmerksamkeit auf die Seherin
konzentriert und so war es ihm entgangen, daß sie nicht
allein war. Als er seinen Fehler bemerkte, wollte er
fortrennen, gleichgültig, was Nynaeve später sagen oder
tun würde.
Egwene stand ein paar Schritte hinter der Seherin und
beobachtete alles aufmerksam. Sie war genauso groß wie
Nynaeve und hatte denselben dunklen Teint. In diesem
Augenblick schien sie Nynaeves Stimmung
widerzuspiegeln, die Arme unter den Brüsten verschränkt,
den Mund mißbilligend verzogen. Die Kapuze ihres
weichen grauen Umhangs warf einen Schatten über ihr
Gesicht, und in ihren großen braunen Augen fand sich
keine Spur von Lachen.
Es wäre ja nur angemessen, dachte er, daß die zwei
Jahre, die er älter war als sie, ihm einen Vorteil
verschafften, aber das war nicht der Fall. Er war sowieso
nie sehr wortgewandt, wenn er sich mit einem Mädchen
aus dem Dorf unterhielt (im Gegensatz zu Perrin), aber
wenn ihn Egwene eindringlich ansah, die Augen so groß,
als konzentriere sie jeden Funken Aufmerksamkeit auf
ihn, dann stolperte er über jedes Wort. Vielleicht konnte
er sich verdrücken, wenn Nynaeve ausgeredet hatte. Und
doch wußte er, daß er nicht gehen würde; er verstand nur
nicht, warum.
»Wenn du damit fertig bist, mich wie ein Mondkalb
anzustarren, Rand al'Thor«, sagte Nynaeve, »kannst du
mir vielleicht erklären, warum ihr über etwas gesprochen
habt, wovon selbst ihr drei großen Jungstiere die Finger
lassen solltet. Das hätte euch euer Verstand sagen
müssen.«
Rand schrak zusammen und riß den Blick von Egwene
los, deren Gesicht ein beunruhigendes Lächeln zeigte, seit
die Seherin zu sprechen begonnen hatte. Nynaeves Stimme
klang beißend, aber auch auf ihrem Gesicht zeigte sich ein
wissendes Lächeln – bis Mat laut loslachte. Da verschwand
das Lächeln der Seherin, und ihr Blick verwandelte Mats
Lachen in ein abgewürgtes Krächzen.
»Also, Rand?« fragte Nynaeve.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er, daß Egwene
immer noch lächelte. Was findet sie denn so lustig? »Es
war ganz natürlich, daß wir darauf kommen mußten,
Seherin«, sagte er hastig. »Der Händler – Padan Fain...
äh... Meister Fain – erzählte uns von einem falschen
Drachen in Ghealdan und einem Krieg und den Aes Sedai.
Der Gemeinderat hielt es für wichtig genug, um mit ihm
zu sprechen. Worüber hätten wir da sonst wohl reden
sollen?«
Nynaeve schüttelte den Kopf. »Also deshalb steht der
Wagen des Händlers verlassen herum. Ich hörte, wie die
Leute hinauseilten, um ihn zu treffen, aber ich konnte
Frau Ayellin nicht verlassen, bevor ihr Fieber sank. Der
Gemeinderat befragt den Händler über die Ereignisse in
Ghealdan, nicht wahr? Wie ich sie kenne, stellen sie alle
möglichen falschen Fragen und keine richtigen. Da ist
schon der Frauenzirkel nötig, um etwas Nützliches
herauszubringen.« Sie zog den Umhang fest um die
Schultern und verschwand in der Schenke.
Egwene folgte der Seherin nicht. Als sich die Tür zur
Schenke hinter Nynaeve schloß, kam die junge Frau auf
Rand zu und stellte sich vor ihn hin. Die Falten waren von
ihrer Stirn verschwunden, doch ihr unverwandter Blick
machte Rand nervös. Er sah sich nach seinen Freunden
um, aber die gingen und grinsten breit, während sie ihn so
im Stich ließen.
»Du solltest dich nicht in Mats Dummheiten
hineinziehen lassen, Rand«, sagte Egwene genauso ernst
wie die Seherin zuvor, und dann plötzlich kicherte sie.
»Ich habe dich nicht mehr so verdattert dreinblicken
sehen, seit Cenn Buie dich und Mat oben in seinen
Apfelbäumen entdeckt hat, als ihr zehn wart.«
Er trat von einem Fuß auf den anderen und schaute sich
nach seinen Freunden um. Sie standen nicht weit entfernt.
Mat gestikulierte aufgeregt beim Sprechen.
»Tanzt du morgen mit mir?« Das hatte er eigentlich
nicht sagen wollen. Er wollte wohl mit ihr tanzen, aber
gleichzeitig wollte er auch wieder nicht, weil er sich so
unsicher fühlen würde wie immer, wenn er mit ihr
zusammen war. So, wie er sich im Moment auch fühlte.
Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem leichten
Lächeln. »Am Nachmittag«, sagte sie. »Am Vormittag bin
ich beschäftigt.«
Von den anderen hörte er Perrins Ausruf: »Ein
Gaukler!«
Egwene wandte sich ihnen zu, doch Rand legte eine
Hand auf ihren Arm. »Beschäftigt? Womit denn?«
Trotz der Kälte schob sie die Kapuze zurück und zog
das Haar mit beiläufiger Geste über die Schulter nach
vorn. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, waren ihr
dunkle Haarwogen bis auf die Schultern gefallen, von
einem roten Stirnband gehalten; doch nun war das Haar zu
einem langen Zopf geflochten.
Er sah ihren Zopf an, als sei es eine Viper, und warf
einen kurzen Blick hinüber zum Frühlingsbaum, der nun
verlassen auf dem Grün stand, fertig vorbereitet für
morgen. Am Morgen würden unverheiratete Frauen im
heiratsfähigen Alter um den Baum tanzen. Er schluckte
schwer. Irgendwie war ihm nie klar gewesen, daß sie das
heiratsfähige Alter zur gleichen Zeit wie er erreichte.
»Nur weil jemand alt genug zum Heiraten ist«,
murmelte er, »heißt das noch nicht, daß man's auch tun
sollte. Jedenfalls nicht gleich.«
»Natürlich nicht. Oder überhaupt, was das betrifft.«
Rand blinzelte überrascht. »Überhaupt?«
»Eine Seherin heiratet fast nie. Nynaeve bildet mich
aus, weißt du. Sie sagt, ich habe das Talent dazu und
könne lernen, dem Wind zu lauschen. Nynaeve sagt, nicht
alle Seherinnen können das, auch wenn sie es behaupten.«
»Seherin!« rief er spöttisch. Er bemerkte das
gefährliche Glitzern in ihren Augen nicht. »Nynaeve wird
noch mindestens fünfzig Jahre lang hier die Seherin sein,
vielleicht auch länger. Willst du den Rest deines Lebens
als ihr Lehrmädchen verbringen?«
»Es gibt auch andere Dörfer«, antwortete sie hitzig.
»Nynaeve sagt, die Dörfer im Norden des Taren wählen
grundsätzlich eine Seherin von auswärts. Sie glauben, die
werde niemanden aus dem Dorf bevorzugen.«
Sein Spott verging ihm so schnell, wie er gekommen
war. »Außerhalb der Zwei Flüsse? Ich würde dich niemals
wiedersehen!«
»Und das würde dir nicht gefallen? In letzter Zeit hast
du mir kaum gezeigt, daß dir etwas an mir liegt, so oder
so.«
»Niemand verläßt die Zwei Flüsse«, fuhr er fort.
»Vielleicht jemand aus Taren-Fähre, aber die sind alle
sowieso ganz komisch. Nicht wie die anderen Zwei-
Flüsse-Leute.«
Egwene stieß einen hoffnungslosen Seufzer aus. »Na ja,
vielleicht bin ich auch komisch. Vielleicht will ich einige
der Orte sehen, von denen ich in den Geschichten gehört
habe. Hast du jemals daran gedacht?«
»Natürlich habe ich daran gedacht. Ich träume auch
manchmal mit offenen Augen, aber ich kenne den
Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit.«
»Und ich nicht?« fragte sie wütend und wandte ihm
prompt den Rücken zu.
»Das habe ich nicht so gemeint. Ich habe von mir
gesprochen. Egwene?«
Sie zog schnell ihren Mantel ganz eng um sich
zusammen – eine Mauer, um ihn fernzuhalten – und ging
ein paar Schritte weg. Enttäuscht rieb er sich die Stirn.
Wie sollte er das erklären? Es war nicht das erste Mal,
daß sie seinen Worten eine ganz andere Bedeutung gab als
die beabsichtigte. Bei ihrer augenblicklichen Laune würde
ein Fehltritt die Sache nur noch schlimmer machen, und
er war sich ziemlich sicher, daß beinahe alles, was er
sagte, einen Fehltritt darstellen würde.
Dann kamen Mat und Perrin zurück. Egwene übersah
ihr Kommen. Sie sahen sie vorsichtig an und stellten sich
dann dicht neben Rand. »Moiraine gab Perrin auch eine
Münze«, sagte Mat. »So eine wie uns.« Er legte eine Pause
ein, bevor er hinzufügte: »Und er hat den Reiter
gesehen.«
»Wo?« wollte Rand wissen. »Wann? Hat ihn sonst noch
jemand gesehen? Hast du es jemandem erzählt?«
Perrin hob beide Hände, um ihn zu unterbrechen.
»Immer nur eine Frage auf einmal! Ich habe ihn am
Dorfrand gesehen, als er gestern in der Dämmerung die
Schmiede beobachtete. Hat mir einen Schauer über den
Rücken gejagt. Ich habe es Meister Luhhan erzählt, doch
da war niemand, als er hinsah. Er sagte, ich sähe
Gespenster. Aber er trug seinen größten Hammer mit
herum, als wir das Feuer mit Asche belegten und die
Werkzeuge aufhängten. Das hat er noch nie zuvor getan.«
»Also hat er dir geglaubt«, sagte Rand, doch Perrin
zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht. Ich fragte ihn, warum er den Hammer
trage, wenn ich doch nur Gespenster gesehen hätte, und er
sagte etwas über die Wölfe und daß sie frech genug seien,
um bis ins Dorf hinein zu kommen. Vielleicht glaubte er,
ich hätte einen Wolf gesehen, aber er sollte wissen, daß
ich den Unterschied zwischen einem Wolf und einen
Berittenen sogar in der Abenddämmerung kenne. Ich
weiß, was ich gesehen habe, und keiner wird mich von
etwas anderem überzeugen.«
»Ich glaube dir«, sagte Rand. »Vergiß nicht, daß ich
ihn auch gesehen habe.« Perrin gab ein befriedigtes
Grunzen von sich, als sei er sich nicht sicher gewesen.
»Worüber sprecht ihr eigentlich?« wollte Egwene
plötzlich wissen.
Rand wünschte sich plötzlich, er hätte leiser
gesprochen. Das hätte er auch getan, doch er hatte nicht
gemerkt, daß sie lauschte. Mat und Perrin grinsten wie die
Narren und überschlugen sich beinahe, um ihr von ihren
Zusammentreffen mit dem schwarzgekleideten Reiter zu
erzählen. Nur Rand schwieg. Er wußte, was sie sagen
würde, wenn sie fertig waren.
»Nynaeve hatte recht«, verkündete Egwene mit zum
Himmel gerichtetem Blick, als die beiden jungen Männer
endlich schwiegen. »Keiner von euch sollte von Mutters
Schürzenzipfel weggelassen werden. Es gibt Leute, die auf
Pferden reiten, wißt ihr? Deshalb sind sie noch lange
keine Ungeheuer aus den Geschichten eines Gauklers.«
Rand nickte vor sich hin; sie redete genauso, wie er es
erwartet hatte. Dann bekam er sein Fett weg. »Und du
hast diese Märchen verbreitet. Manchmal scheinst du
einfach keinen gesunden Menschenverstand zu haben,
Rand al'Thor. Der Winter war schon furchtbar genug,
ohne daß du herumläufst und Kinder erschreckst.«
Rand schnitt eine saure Grimasse. »Ich habe gar nichts
verbreitet, Egwene. Aber ich habe gesehen, was ich
gesehen habe, und das war kein Bauer, der nach einer
streunenden Kuh suchte.«
Egwene holte tief Luft und öffnete den Mund, aber was
sie auch immer sagen wollte, kam nicht heraus, denn in
diesem Moment öffnete sich die Tür der Schenke, und ein
Mann mit struppigem weißen Haar hetzte heraus, als sei
jemand hinter ihm her.
KAPITEL 4

Der Gaukler
Die Tür der Schenke schlug hinter dem weißhaarigen
Mann zu, und er fuhr herum und funkelte sie an. Er war
mager, und man konnte ihn an sich hochgewachsen
nennen, wäre da nicht die leicht bucklige Haltung
gewesen. Trotzdem – er bewegte sich so frisch, daß man
ihm das Alter nicht anmerkte. Sein Umhang schien aus
einer Unzahl von Flicken zu bestehen, in den
eigenartigsten Formen und Größen, die in jedem
Lufthauch flatterten, Flicken in hundert verschiedenen
Farben. Der Umhang war in Wirklichkeit recht dick, sah
Rand, obwohl Meister al'Vere ja anderes behauptet hatte,
und die Flicken waren lediglich als Dekoration aufgenäht.
»Der Gaukler!« flüsterte Egwene aufgeregt.
Der weißhaarige Mann wirbelte herum, und der
Umhang leuchtete auf.
Sein langer Mantel hatte seltsam aufgebauschte Ärmel
und große Taschen. Ein kräftiger Schnurrbart, genauso
weiß wie das Haar auf dem Kopf, zitterte über dem Mund,
und das Gesicht war knorrig wie ein Baum, der schwere
Zeiten hinter sich hatte. Mit einer langstieligen, mit
Schnitzwerk verzierten Pfeife zeigte er gebieterisch auf
Rand und die anderen. Ein dünner Rauchfaden erhob sich
daraus. Blaue Augen spähten unter buschigen weißen
Augenbrauen hervor und durchbohrten alles, worauf er
blickte.
Rand betrachtete die Augen des Mannes genauso
intensiv wie die ganze Gestalt. Jedermann von den Zwei
Flüssen hatte dunkle Augen, und bei den meisten
Kaufleuten und ihren Wächtern und jedem sonst, den er
bisher gesehen hatte, war das auch der Fall. Die Congars
und die Coplins hatten sich über seine grauen Augen lustig
gemacht, jedenfalls bis zu dem Tag, da er endlich Ewal
Coplin eins auf die Nase gegeben hatte. Die Seherin hatte
ihn deshalb ganz schön ausgeschimpft. Er fragte sich, ob
es einen Ort gab, an dem niemand dunkle Augen hatte.
Vielleicht kommt auch Lan von dort.
»Was für ein Ort ist das hier eigentlich?« fragte der
Gaukler mit tiefer Stimme, die irgendwie gewaltiger
klang als die eines gewöhnlichen Mannes. Selbst draußen
im Freien schien sie einen großen Saal zu füllen und von
den Wänden widerzuhallen. »Die Bauerntrampel in
diesem Dorf auf dem Hügel erzählen mir, ich könne noch
vor Einbruch der Dunkelheit hier ankommen, vergessen
aber, mir zu sagen, daß ich dazu früh am Vormittag
bereits aufbrechen muß. Als ich dann endlich ankomme,
bis auf die Knochen durchgefroren und reif für ein
warmes Bett, meckert euer Wirt, daß es schon so spät sei,
als sei ich ein wandernder Schweinehirt und als hätte mich
nicht euer Gemeinderat gebeten, bei diesem Fest hier
meine Kunst zu zeigen. Und er sagte mir noch nicht
einmal, daß er der Bürgermeister ist!« Er holte erst
einmal Luft, betrachtete alle finster und legte einen
Moment später schon wieder los. »Als ich runterging, um
meine Pfeife vor dem Kamin zu rauchen und einen Krug
Bier zu trinken, sieht mich jedermann im Schankraum an,
als sei ich sein bestgehaßter Schwager und versuche, mir
von ihm Geld zu leihen. Irgendein alter Opa fängt an, mir
Vorträge zu halten, welche Art von Geschichten ich
erzählen soll und welche nicht, und dann schreit mich so
ein kindisches kleines Mädchen an, ich solle abhauen, und
bedroht mich mit einem Knüppel, als ich nicht schnell
genug springe. Wo hat man denn so was schon gehört, daß
man einen Gaukler derart behandelt?«
Es lohnte sich, Egwenes Gesicht zu studieren. Sie war
hin- und hergerissen. Einerseits bestaunte sie den Gaukler
mit großen Augen, und andererseits sah man, daß sie
Nynaeve verteidigen wollte.
»Entschuldigt, Meister Gaukler«, sagte Rand. Er wußte,
daß er dabei selbst idiotisch grinste. »Das war unsere
Seherin, und...«
»Dieses hübsche kleine Ding von einem Mädchen?« rief
der Gaukler. »Eine Dorfseherin? Na, in ihrem Alter sollte
sie lieber mit jungen Männern flirten, als das Wetter
vorherzusagen und Kranke zu heilen.«
Rand fühlte sich nicht gerade wohl in seiner Haut.
Hoffentlich hörte Nynaeve nicht, was der Mann von ihr
hielt. Zumindest nicht, bevor er seine Vorstellung beendet
hatte. Perrin fuhr bei den Worten des Gauklers
zusammen, und Mat pfiff tonlos durch die Zähne, als
gingen den beiden Freunden dieselben Gedanken durch
den Kopf wie ihm.
»Die Männer, das war der Gemeinderat«, fuhr Rand
fort. »Ich bin sicher, sie wollten nicht unhöflich sein. Seht
Ihr, wir haben gerade erfahren, daß in Ghealdan Krieg
ausgebrochen ist, und ein Mann behauptet, der
Wiedergeborene Drache zu sein. Ein falscher Drache. Aes
Sedai reiten aus Tar Valon dorthin. Der Gemeinderat
versucht zu entscheiden, ob wir hier in Gefahr sind.«
»Das hat ja alles schon einen Bart, sogar in Baerlon«,
mäkelte der Gaukler, »und das ist wirklich der letzte Ort
auf der Welt, an dem man etwas Neues erfahren kann.«
Er hielt inne, betrachtete die umliegenden Häuser des
Dorfs und fügte trocken hinzu: »Vielleicht der vorletzte
Ort.« Dann fiel sein Blick auf den Wagen vor der
Schenke, der nun verlassen dastand, die Deichsel am
Boden. »So. Ich dachte, ich hätte Padan Fain dort drinnen
erkannt.« Seine Stimme klang immer noch tief, aber der
Widerhall war nicht mehr zu hören und wurde durch
Verachtung ersetzt. »Fain hat immer schon schlechte
Nachrichten schnell überbracht – je schlechter, desto
schneller. Es hat mehr von einem Raben als von einem
Mann.«
»Meister Fain ist schon oft nach Emondsfeld
gekommen, Meister Gaukler«, sagte Egwene, bei der nun
ein Hauch von Mißbilligung durch die Freude brach. »Er
steckt immer voll von Humor und bringt viel mehr gute
Nachrichten als schlechte.«
Der Gaukler betrachtete sie einen Augenblick lang und
lächelte dann breit. »Also, du bist ja ein süßes Mädel. Du
solltest Rosenknospen im Haar tragen. Unglücklicherweise
kann ich keine Rosen aus der Luft zaubern, nicht dieses
Jahr, aber würde es dir Spaß machen, morgen während
eines Teils meiner Vorstellung neben mir zu stehen und
mir zu assistieren? Du könntest mir eine Flöte reichen,
wenn ich sie brauche, und bestimmte weitere Geräte. Ich
wähle immer das hübscheste Mädchen aus, das ich finden
kann.«
Perrin kicherte, und Mat, der vorher schon gegrinst
hatte, lachte schallend los. Rand machte große Augen vor
Überraschung; Egwene sah ihn böse an, und dabei hatte er
noch nicht einmal gelächelt. Sie richtete sich auf und sagte
mit etwas zu beherrschter Stimme: »Danke schön, Meister
Gaukler. Ich werde mich glücklich schätzen, Euch zu
assistieren.«
»Thom Merrilin«, sagte der Gaukler. Sie sahen ihn
verständnislos an. »Ich heiße Thom Merrilin, nicht
Meister Gaukler.« Er zog den vielfarbigen Umhang
höher, und plötzlich schien seine Stimme wieder in einem
großen Saal zu hallen. »Einst Barde am Hof, habe ich
mich nun hochgearbeitet und den enormen Rang eines
Meistergauklers erreicht, doch mein Name lautet einfach
nur Thom Merrilin, und Gaukler ist der Titel, mit dem
ich mich schmücke.« Und er verbeugte sich mit einem
derart eleganten Schwung seines Umhangs, daß Mat
klatschte und Egwene beifällig murmelte.
»Meister... äh... Meister Merrilin«, sagte Mat, der sich
nicht sicher war, wie er ihn nun anreden sollte, »was
geschieht denn wirklich in Ghealdan? Wißt Ihr irgend
etwas über diesen falschen Drachen? Oder die Aes Sedai?«
»Sehe ich wie ein fahrender Händler aus, Junge?«
brummte der Gaukler, während er seine Pfeife auf dem
Handrücken ausklopfte. Er ließ die Pfeife irgendwo in
seinem Umhang oder seinem Mantel verschwinden; Rand
war sich nicht sicher, wo sie war oder wie sie dahin
gekommen war. »Ich bin Gaukler und kein Dorfbüttel.
Und ich bemühe mich, niemals etwas über die Aes Sedai
zu wissen. Das ist viel sicherer.«
»Aber der Krieg«, begann Mat eifrig, doch Meister
Merrilin schnitt ihm das Wort ab.
»Im Krieg, Junge, töten Narren andere Narren aus
närrischen Gründen. Es genügt, wenn man soviel weiß.
Ich bin meiner Künste wegen hier.« Plötzlich deutete sein
Zeigefinger auf Rand. »Du, Bursche. Du bist
großgewachsen. Noch nicht voll ausgewachsen, aber ich
glaube kaum, daß es in der Region hier noch einen Mann
deiner Größe gibt. Ich schätze auch, daß es im Dorf nicht
viele Leute mit deiner Augenfarbe gibt. Auf jeden Fall
hast du breite Schultern und bist so groß wie ein
Aielmann. Wie heißt du, Bursche?«
Rand sagte zögernd seinen Namen. Er war sich nicht
sicher, ob der Mann sich über ihn lustig machte, aber der
Gaukler widmete seine Aufmerksamkeit bereits Perrin.
»Und du hast schon beinahe die Maße eines Ogiers. Wie
wirst du genannt?«
»Nur wenn ich mich auf die eigenen Schultern stelle«,
lachte Perrin. »Ich fürchte, Rand und ich sind nur ganz
normale Menschen, Meister Merrilin, und keine
erfundenen Wesen aus Euren Geschichten. Ich bin Perrin
Aybara.«
Thom Merrilin zupfte an einem Ende seines
Schnurrbarts. »Na ja. Erfundene Wesen aus meinen
Geschichten. Sind sie das? Es scheint, Ihr jungen Burschen
seid schon weit in der Welt herumgekommen.«
Rand hielt den Mund, denn er war nun sicher, daß sie
Ziel eines Scherzes waren, aber Perrin sagte etwas dazu.
»Wir waren alle schon bis Wachhügel und Devenritt.
Nur wenige Leute aus dieser Gegend sind schon so weit
weg gewesen.« Er gab nicht an; das tat Perrin selten. E r
sagte einfach die Wahrheit.
»Wir haben auch alle den Schlammpfuhl gesehen«,
fügte Mat hinzu, und bei ihm klang es nach Angabe. »Das
ist der Sumpf am hinteren Ende des Wasserwalds. Dort
geht sonst überhaupt niemand hin außer uns – da findet
man Treibsand und Moorlöcher. Und genausowenig geht
jemand bis zu den Verschleierten Bergen, aber wir waren
schon einmal dort. Jedenfalls bis zu ihrem Fuß.«
»Tatsächlich so weit?« murmelte der Gaukler, der sich
nun dauernd über den Schnurrbart strich. Rand glaubte,
er verberge ein Lächeln, und beobachtete, wie Perrin die
Stirn runzelte.
»Es bringt Pech, wenn man sich in die Berge
hineinwagt«, sagte Mat, als müsse er sich verteidigen, weil
er nicht weiter gegangen war. »Das weiß doch jeder.«
»Das ist doch närrisch, Matrim Cauthon«, mischte sich
Egwene ärgerlich ein. »Nynaeve sagt...« Sie sprach nicht
weiter. Ihre Wangen färbten sich rot, und der Blick, mit
dem sie Thom Merrilin musterte, war nicht so freundlich
wie zuvor. »Es ist nicht anständig... Es ist nicht...« Ihr
Gesicht wurde noch roter, und sie schwieg. Mat
zwinkerte, als komme ihm jetzt der Verdacht, daß etwas
nicht stimme.
»Du hast recht, Kind«, sagte der Gaukler reumütig.
»Ich entschuldige mich demütigst. Ich bin hier, um
Menschen zu unterhalten. Äh, meine Zunge hat mich
schon oft in Schwierigkeiten gebracht.«
»Vielleicht sind wir nicht so weit herumgekommen wie
Ihr«, sagte Perrin tonlos, »aber was hat eigentlich Rands
Größe mit all dem zu tun?«
»Nur mein, Junge, ihr sollt später versuchen, mich
hochzuheben, aber Ihr werdet nicht in der Lage sein,
meine Füße auch nur vom Boden wegzubringen. Ihr nicht
und Euer großer Freund nicht – Rand, nicht wahr? – und
auch niemand anders. Was haltet Ihr davon?«
Perrin schnaubte und lachte gleichzeitig. »Ich schätze,
ich kann Euch jetzt gleich hochheben.« Aber als er
vortrat, winkte ihn Thom Merrilin zurück. »Später,
Bursche, später! Wenn mehr Zuschauer da sind. Ein
Künstler braucht sein Publikum.«
Ein paar Leuten hatten sich auf dem Grün versammelt,
seit der Gaukler aus der Schenke gekommen war; von
jungen Männern und Frauen bis zu Kindern, die
schweigend und mit großen Augen hinter den älteren
Zuschauern hervorlugten. Alle wirkten, als erwarteten sie
wahre Wunder von dem Gaukler. Der weißhaarige Mann
betrachtete sie – er schien sie zu zählen –, schüttelte leicht
den Kopf und seufzte.
»Ich denke, ich muß wohl ein kleines Beispiel meiner
Künste zum besten geben, damit Ihr heimlaufen und es
den anderen erzählen könnt. Eh? Nur ein Vorgeschmack
dessen, was Ihr morgen bei Eurem Fest sehen werdet.«
Er trat einen Schritt zurück und sprang plötzlich hoch
in die Luft, drehte sich in einem Schraubensalto und
landete mit dem Gesicht ihnen zugewandt auf der alten
Mauer. Und noch mehr: Drei Bälle – rot, weiß und
schwarz – begannen zwischen seinen Händen zu tanzen,
und zwar bereits in dem Moment, als er auf der Mauer
landete.
Ein leises Stöhnen war von den Zuschauern zu hören;
halb Erstaunen, halb Genugtuung. Sogar Rand vergaß
seine Nervosität. Er grinste Egwene zu und erhielt dafür
ein vergnügtes Lächeln, und dann wandten sich beide wie-
der dem Gaukler zu und sahen ihm mit großen Augen zu.
»Ihr möchtet Geschichten hören?« rief Thom Merrilin.
»Ich habe Geschichten, und ich werde sie Euch erzählen.
Ich werde sie vor Euren Augen zum Leben erwecken.«
Ein blauer Ball von irgendwoher gesellte sich zu den
anderen, dann ein grüner und ein gelber. »Geschichten
über große Kriege und große Helden für die Männer und
die Jungen. Für die Frauen und Mädchen den ganzen
Aptarigine-Zyklus. Geschichten von Artur Falkenflügel,
Artur, dem großen König, der einst alle Länder von der
Aiel-Wüste bis zum Aryth-Meer und noch weiter regierte.
Erstaunliche Geschichten über fremde Völker und fremde
Länder, über den Grünen Mann, über Behüter und
Trollocs, Ogier und Aiel. ›Die tausend Erzählungen
Anlas, der weisen Ratgeberin‹, ›Jaem, der Riesentöter‹,
›Wie Susa Jain Fernstreicher zähmte‹, ›Mara und die drei
törichten Könige‹.«
»Erzählt uns von Lenn!« rief Egwene. »Wie er im
Bauch eines Adlers aus Feuer auf den Mond flog. Erzählt
uns von seiner Tochter Salya, die zwischen den Sternen
einhergeht.«
Rand betrachtete sie aus den Augenwinkeln, doch sie
schien sich nur auf den Gaukler zu konzentrieren. Sie
hatte Geschichten über Abenteuer und lange Reisen noch
nie gemocht. Ihre Lieblingsgeschichten waren immer die
lustigen oder solche über Frauen gewesen, die schlauer
waren als angeblich besonders kluge Leute. Rand war
sicher, daß sie nach den Geschichten von Lenn und Salya
verlange, um ihm eins auszuwischen. Sicher war auch ihr
klar, daß die Welt dort draußen für die Leute von den
Zwei Flüssen kein Thema war. Sich Abenteuergeschichten
anzuhören und vielleicht davon zu träumen, war eine
Sache; aber mittendrin zu stehen und sie selbst zu erleben,
war eine ganz andere. »Das sind alte Geschichten«, sagte
Thom Merrilin, und plötzlich jonglierte er mit jeder Hand
drei farbige Bälle. »Manche behaupten, das seien
Geschichten aus dem Zeitalter vor dem Zeitalter der
Legenden. Oder vielleicht noch älter. Aber, seht ihr, ich
habe alle Geschichten von Zeitaltern, die vergingen und
von solchen, die kommen werden. Zeitalter, in denen die
Menschen Himmel und Sterne beherrschten, und Zeitalter,
da die Menschen den Tieren gleich umherzogen. Zeitalter
zum Staunen und Zeitalter zum Fürchten. Zeitalter, die
damit endeten, daß Feuer vom Himmel fiel, und andere,
deren Ende in Eis und Schnee begraben wurde. Ich kenne
alle Geschichten, und ich werde alle Geschichten erzählen.
Geschichten von Mosk, dem Riesen, mit seiner
Feuerlanze, die er um die ganze Welt werfen konnte, und
von seinen Kriegen mit Alsbet, der All-Königin.
Geschichten von Materese, der Heilerin und Mutter des
Erstaunlichen Ind.«
Die Bälle tanzten nun in zwei ineinandergreifenden
Ringen zwischen Thoms Händen. Seine Stimme klang
beinahe, als singe er, und während er sprach, drehte er
sich langsam, als wolle er seine Wirkung auf die
Zuschauer beobachten. »Ich werde euch vom Ende des
Zeitalters der Legenden berichten, vom Drachen und
seinem Versuch, den Dunklen König zu befreien und in
die Welt der Menschen zu lassen. Ich werde von der Zeit
des Wahns erzählen, als Aes Sedai die Welt zerbrachen;
von den Trolloc-Kriegen, als Menschen gegen Trollocs
um die Herrschaft der Welt kämpften; vom
Hundertjährigen Krieg, als Menschen gegen Menschen
kämpften und die heutigen Staaten gegründet wurden. Ich
werde von den Abenteuern von Männern und Frauen
erzählen, Armen und Reichen, Großen und Kleinen,
Stolzen und Demütigen. ›Die Belagerung der Säulen des
Himmels‹, ›Wie Frau Karil ihren Mann vom Schnarchen
befreite‹, ›König Darith und der Fall des Hauses der...‹«
Mit einem Schlag endeten der Wortschwall und auch
das Jonglieren. Thom schnappte sich lediglich die Bälle
aus der Luft und hörte mit Sprechen auf. Von Rand
unbemerkt, hatte sich Moiraine zu den Zuschauern gesellt.
Lan stand an ihrer Seite. Er mußte allerdings zweimal
hinsehen, um den Mann zu erkennen. Einen Augenblick
lang sah Thom Moiraine von der Seite an. Sein Gesicht
und sein Körper bewegten sich nicht, und doch ließ er die
Bälle in den weiten Manteltaschen verschwinden. Dann
verbeugte er sich vor ihr, wobei er den Umhang weit
ausbreitete. »Entschuldigt, aber Ihr kommt doch sicher
nicht aus dieser Gegend.«
»Lady!« zischte Ewin aufgebracht. »Die Lady
Moiraine.«
Thom blinzelte und verbeugte sich nochmals, diesmal
tiefer. »Entschuldigt noch einmal... äh, Lady. Ich wollte
nicht unhöflich sein.«
Moiraine tat es mit einer leichten Handbewegung ab.
»Es wurde auch nicht so aufgefaßt, Meister Barde. Und
mein Name lautet einfach Moiraine. Ich bin tatsächlich
fremd hier, eine Reisende wie Ihr selbst, fern der Heimat
und allein. Die Welt kann ein gefährlicher Ort sein, wenn
man irgendwo in der Fremde weilt.«
»Die Lady Moiraine sammelt Geschichten«, warf Ewin
ein. »Geschichten über Dinge, die sich bei den Zwei
Flüssen abspielten. Obwohl ich nicht weiß, was hier
Großes geschehen sein kann, daß man eine Geschichte
darüber erzählt.«
»Ich hoffe, Euch werden meine Geschichten genausogut
gefallen... Moiraine.« Thom betrachtete sie mit
offensichtlichem Argwohn. Er sah nicht so aus, als gefalle
ihm ihre Anwesenheit. Plötzlich fragte Rand sich, welche
Art von Unterhaltung einer Dame wie ihr in einer Stadt
wie Baerlon oder Caemlyn wohl geboten wurde. Es
konnte doch kaum Besseres sein, als ein Gaukler zu bieten
hatte.
»Das ist Geschmackssache, Meister Barde«, antwortete
Moiraine. »Einige Geschichten gefallen mir, andere
nicht.«
Thoms Verbeugung war seine bisher tiefste. Sein langer
Körper beugte sich parallel zum Boden. »Ich versichere
Euch, daß Euch keine meiner Geschichten mißfallen
werden. Alle werden gefallen und unterhalten. Und Ihr
laßt mir zuviel Ehre zuteil werden. Ich bin ein einfacher
Gaukler – sonst nichts.«
Moiraine beantwortete seine Verbeugung mit einem
dankbaren Nicken. In diesem Augenblick erschien sie
noch mehr als die Lady, wie sie von Ewin bezeichnet
worden war, die ein Geschenk eines ihrer Untertanen
annahm. Dann ging sie, und Lan folgte ihr – ein Wolf auf
den Spuren eines dahingleitenden Schwans. Thom sah
ihnen nach. Er zupfte sich an den wild wuchernden
Augenbrauen und strich sich mit den Knöcheln über den
langen Schnurrbart, bis sie auf halbem Weg über das
Grün waren. Es gefällt ihm überhaupt nicht, dachte Rand.
»Jongliert Ihr jetzt noch ein wenig?« wollte Ewin
wissen.
»Schluckt Feuer!« rief Mat. »Ich will Euch Feuer
schlucken sehen!«
»Die Harfe!« rief eine Stimme aus der Menge. »Spielt
Harfe!« Jemand anders wollte, daß er Flöte spielte.
In diesem Moment öffnete sich die Tür der Schenke,
und der Gemeinderat schob sich heraus, Nynaeve in der
Mitte. Padan Fain befand sich nicht bei ihnen, bemerkte
Rand. Offensichtlich hatte es der Händler vorgezogen, mit
seinem Glühwein in der warmen Schankstube zu bleiben.
Etwas von einem ›starken Schnaps‹ vor sich
hinmurmelnd, sprang Thom Merrilin plötzlich von der
alten Grundmauer. Er überhörte die Rufe seiner
Zuschauer und drückte sich am Gemeinderat vorbei,
bevor die noch aus der Tür waren.
»Ist er eigentlich Gaukler oder König?« fragte Cenn
Buie in ärgerlichem Tonfall. »Reine Geldverschwendung,
wenn Ihr mich fragt.«
Bran al'Vere drehte sich halb nach dem Gaukler um,
schüttelte dann aber den Kopf. »Dieser Mann macht uns
vielleicht mehr Schwierigkeiten, als er wert ist.«
Nynaeve, die alle Hände voll zu tun hatte, ihren
flatternden Umhang festzuhalten, schnaubte vernehmlich.
»Macht Euch ruhig Kopfzerbrechen des Gauklers wegen,
Brandelwyn al'Vere. Zumindest ist er hier in Emondsfeld,
was man von dem falschen Drachen nicht behaupten kann.
Aber wenn Ihr Euch schon Sorgen machen wollt: Es gibt
andere hier, deren Anwesenheit Euch mehr Ärger
bereiten wird.«
»Seherin«, sagte Bran steif, »überlaßt es
freundlicherweise bitte mir, über wen ich mir den Kopf
zerbreche. Frau Moiraine und Meister Lan sind Gäste
meiner Herberge und, so möchte ich behaupten,
anständige und ehrenwerte Leute. Sie haben mich nicht
vor dem versammelten Gemeinderat als Narren
bezeichnet. Sie haben dem Gemeinderat nicht
vorgeworfen, daß keiner von uns seine fünf Sinne
beisammen habe.«
»Es scheint, als habe ich Euch noch zu gut bewertet«,
schoß Nynaeve zurück. Sie schritt ohne einen Blick zurück
einfach davon. Brans Kinn bewegte sich, als formuliere er
eine passende Antwort.
Egwene sah Rand an, als wolle sie etwas sagen, aber
statt dessen eilte sie der Seherin hinterher. Rand war sich
klar darüber, daß es irgendeinen Weg geben mußte, sie
davon abzuhalten, die Zwei Flüsse zu verlassen, doch der
einzige Weg, der ihm gerade einfiel, war keiner, den er
zur Zeit bereits gehen konnte, selbst wenn sie zustimmte.
Und sie hatte ja mehr oder weniger angedeutet, daß sie
nicht wollte. Das machte alles für ihn noch schlimmer.
»Diese junge Frau braucht einen Mann«, grollte Cenn
Buie, der auf Zehenspitzen umherhüpfte. Sein Gesicht
hatte sich puterrot gefärbt und wurde noch dunkler. »Ihr
fehlt der Respekt. Wie sind der Gemeinderat und keine
kleinen Jungen, die ihr den Hof machen und...«
Der Bürgermeister atmete schwer durch die Nase und
fuhr dann plötzlich den alten Dachdecker an: »Sei ruhig,
Cenn! Hör auf, dich wie ein Aiel mit schwarzem Schleier
aufzuführen!« Der knochige Mann erstarrte vor
Überraschung. Der Bürgermeister verlor sonst nie die
Beherrschung. Bran funkelte ihn an. »Versengen soll mich
das Licht, aber wir haben wirklich Besseres zu tun, als uns
wie Narren zu benehmen. Oder willst du beweisen, daß
Nynaeve recht hat?« Damit stampfte er zurück in die
Schenke und knallte die Tür hinter sich zu.
Die anderen Mitglieder des Gemeinderats sahen Cenn
an und gingen dann jeder in seine Richtung nach Hause.
Alle außer Haral Luhhan, der den Dachdecker begleitete
und leise auf ihn einredete. Cenn Buies Gesicht war wie
versteinert. Der Schmied aber war der einzige, der Cenn
jemals wieder zur Vernunft bringen konnte.
Rand ging zu seinem Vater hinüber, und seine Freunde
kamen hinterher. »Ich habe Meister al'Vere noch nie so
wütend gesehen«, war das erste, was Rand sagte. Das
brachte ihm einen angewiderten Blick Mats ein.
»Der Bürgermeister und die Seherin sind sich selten
einig«, sagte Tam, »und heute noch weniger als sonst. Das
ist alles. Das ist in jedem Dorf dasselbe.«
»Was ist mit dem falschen Drachen?« fragte Mat, und
Perrin murmelte eifrig: »Was ist mit den Aes Sedai?«
Tam schüttelte langsam den Kopf. »Meister Fain wußte
nicht viel mehr, als er bereits sagte. Jedenfalls nicht viel,
was für uns wichtig ist. Gewonnene oder verlorene
Schlachten. Eroberte und rückeroberte Städte. Dank dem
Licht spielt sich das alles in Ghealdan ab. Es hat sich nicht
weiter ausgebreitet, jedenfalls nicht, soweit uns das
Meister Fain berichten konnte.«
»Schlachten interessieren mich«, sagte Mat, und Perrin
fügte hinzu: »Was hat er davon erzählt?«
»Mich interessieren Schlachten nicht, Matrim«, sagte
Tam. »Doch ich bin sicher, er wird sich glücklich
schätzen, dir später alles darüber zu erzählen. Was mich
interessiert, ist die Tatsache, daß wir uns hier nicht den
Kopf darüber zerbrechen müssen, soweit es der
Gemeinderat beurteilen kann. Wir sehen keinen Grund für
die Aes Sedai, auf ihrem Weg nach Süden hier
durchzukommen. Und was die Rückreise betrifft, werden
sie wohl kaum den Wald der Schatten durchqueren und
den Weißen Fluß durchschwimmen.«
Rand und die anderen schmunzelten bei dem Gedanken
daran. Es gab drei Gründe, warum niemand ins Gebiet
der Zwei Flüsse kam, außer eben vom Norden her von
Taren-Fähre. Der erste, das waren natürlich die
Verschleierten Berge, und genauso erfolgreich blockierte
der Schlammpfuhl die Wege aus dem Osten. Im Süden lag
der Weiße Fluß, der seinen Namen der vielen Steine und
Felsen wegen erhalten hatte, die seinen schnellen Strom
aufschäumen ließen. Und jenseits des Weißen lag der Wald
der Schatten. Wenige Leute der Zwei Flüsse hatten jemals
den Weißen überquert, und noch weniger kehrten von
dorther zurück. Man war sich jedoch allgemein darin
einig, daß sich der Wald der Schatten etwa hundert Meilen
oder weiter nach Süden erstreckte. Es gab dort keine
Straße und kein Dorf, wohl aber genügend Wölfe und
Bären.
»Also, das wär's ja dann wohl für uns«, sagte Mat. Es
hörte sich zumindest ein wenig enttäuscht an.
»Nicht ganz«, sagte Tam. »Übermorgen werden wir
Männer nach Devenritt und Wachhügel schicken und auch
nach Taren-Fähre, um gemeinsam Wachtposten
aufzustellen. Berittene Posten am Weißen und am Taren
und dazwischen Patrouillen. Es sollte eigentlich noch
heute geschehen, aber nur der Bürgermeister hat mir
zugestimmt. Der Rest war der Meinung, man könne nicht
verlangen, daß jemand am Bel Tine zwischen den beiden
Flüssen herumreitet.«
»Aber Ihr habt doch gesagt, wir müßten uns keine
Sorgen machen«, murrte Perrin, und Tam schüttelte den
Kopf.
»Ich sagte, wir sollten uns nicht sorgen, Junge, doch das
heißt nicht, daß wir die Augen verschließen. Ich habe
Männer sterben sehen, weil sie sicher waren, daß nichts
geschehen werde, was nicht geschehen durfte. Außerdem
werden die Kämpfe alle möglichen Leute aufscheuchen.
Die meisten werden sich nur ein sicheres Fleckchen
suchen, aber andere werden sich bemühen, aus der
Verwirrung Profit zu schlagen. Den ersteren werden wir
unsere Hilfe anbieten, aber wir müssen darauf vorbereitet
sein, die anderen wieder zu verjagen.«
Unvermittelt äußerte sich Mat. »Können wir daran
teilnehmen? Ich möchte schon! Ihr wißt, daß ich
genausogut reiten kann wie die anderen Männer des
Dorfs.«
»Du möchtest ein paar Wochen Kälte, Langeweile und
Schlafen im Freien genießen?« schmunzelte Tam. »Darauf
wird es wahrscheinlich hinauslaufen. Ich hoffe jedenfalls.
Wir sind weit ab vom Schuß, sogar was Flüchtlinge
betrifft. Aber wenn du dich entschlossen hast, kannst du ja
mit Meister al'Vere sprechen. Rand, es ist Zeit für uns,
zum Hof zurückzukehren.«
Rand riß überrascht die Augen auf. »Ich dachte, wir
bleiben noch zur Winternacht!«
»Es gibt Dinge, die auf dem Hof getan werden müssen,
und ich brauche dich dazu.«
»Trotzdem haben wir noch Stunden Zeit. Und ich
möchte mich auch freiwillig für die Patrouillen melden.«
»Wir gehen jetzt«, antwortete der Vater in einem Ton,
der keinen Widerspruch zuließ. Mit sanfterer Stimme
fügte er hinzu: »Wir kommen morgen zeitig genug
zurück, damit du mit dem Bürgermeister sprechen kannst.
Und früh genug für das Fest. Wir treffen uns in fünf
Minuten im Stall.«
»Wirst du dich mit Rand und mir zusammen für die
Wache melden?« fragte Mat Perrin, als Tam ging. »Ich
wette, so was hat es bei den Zwei Flüssen noch nie
gegeben. Stellt Euch vor, wenn wir zum Taren kommen,
sehen wir vielleicht sogar Soldaten oder wer weiß wen!
Sogar Kesselflicker!«
»Ja, ich denke schon«, sagte Perrin langsam. »Das
heißt, falls Meister Luhhan mich nicht braucht.«
»In Ghealdan ist Krieg, nicht hier!« brauste Rand auf.
Mit Mühe senkte er die Stimme. »Der Krieg ist in
Ghealdan, und die Aes Sedai sind das Licht wer weiß wo,
aber keines davon ist hier. Dafür ist hier der Mann mit
dem schwarzen Mantel, oder habt Ihr ihn schon
vergessen?« Die anderen tauschten verlegene Blicke.
»Tut uns leid, Rand«, stotterte Mat. »Aber es gibt nicht
oft eine Gelegenheit, etwas anderes zu tun, als die Kühe
des Vaters zu melken.« Unter ihren erstaunten Blicken
richtete er sich auf. »Na ja, ich melke sie eben, und das
jeden Tag.«
»Der schwarze Reiter«, erinnerte sie Rand. »Was, wenn
er jemanden verletzt?«
»Vielleicht ist er ein Kriegsflüchtling«, meinte Perrin
zögernd.
»Wer er auch ist«, sagte Mat, »die Wachen werden ihn
finden.«
»Vielleicht«, sagte Rand, »aber er scheint zu
verschwinden, wann immer er will. Es wäre besser, wenn
sie überhaupt wissen, daß sie nach ihm suchen sollen.«
»Wir erzählen es Meister al'Vere, wenn wir uns für die
Patrouillen melden«, sagte Mat, »er wird es dem
Gemeinderat sagen und die wieder der Wache.«
»Der Gemeinderat!« rief Perrin zweifelnd. »Wir haben
Glück, wenn uns der Bürgermeister nicht auslacht!
Meister Luhhan und Rands Vater glauben jetzt schon, daß
wir zwei uns vor Geistern fürchten.«
Rand seufzte. »Wenn wir es erzählen wollen, dann
können wir es genausogut jetzt tun. Er wird heute nicht
lauter lachen als morgen.«
»Vielleicht«, meinte Perrin mit einem Seitenblick auf
Mat, »sollten wir andere fragen, ob sie ihn auch gesehen
haben. Heute abend treffen wir ja fast jeden aus dem
Dorf.« Mats Miene verfinsterte sich noch mehr, aber
immer noch hielt er den Mund. Sie alle wußten, daß
Perrin der Meinung war, man solle zuverlässigere Zeugen
als Mat finden. »Er wird morgen auch nicht lauter
lachen«, fügte Perrin hinzu, als Rand zögerte. »Und mir
wäre es lieber, wir hätten noch jemanden bei uns, wenn
wir zu ihm gehen. Das halbe Dorf wäre mir am liebsten.«
Rand nickte bedächtig. Er konnte schon Meister
al'Veres Lachen hören. Weitere Zeugen wären sicherlich
nicht ungünstig. Und wenn schon sie drei den Burschen
gesehen hatten, dann vielleicht auch andere. »Also dann
morgen. Ihr zwei treibt heute abend weitere Zeugen auf,
und morgen gehen wir zum Bürgermeister. Danach...« Sie
sahen ihn schweigend an. Keiner fragte danach, was wäre,
wenn sie niemanden fänden, der den schwarzgekleideten
Mann gesehen hatte. Die Frage stand deutlich in ihren
Augen, und er konnte sie nicht beantworten. Er seufzte
tief auf. »Ich muß jetzt gehen. Mein Vater glaubt sonst,
ich sei in ein Loch gefallen.«
Von ihren Abschiedsgrüßen gefolgt, schlenderte er
hinüber zum Stallhof, wo der Karren mit den hohen
Rädern stand, durch einige Stützen zusätzlich gehalten.
Der Stall war ein langer enger Bau mit einem
spitzgiebligen strohgedeckten Dach. Boxen mit
strohbedecktem Boden waren an beiden Seiten des
dämmrigen Innenraums untergebracht, der nur von den
geöffneten Doppeltüren an beiden Seiten des Gebäudes
Licht erhielt. Die Gespannpferde des Händlers kauten in
insgesamt acht Boxen Hafer, und Meister al'Veres kräftige
Dhurraner, ein Gespann, das er vermietete, wenn Bauern
mehr zu ziehen hatten, als ihre eigenen Pferde schafften,
füllten sechs weitere Boxen. Von den übrigen Boxen
waren nur drei besetzt. Rand fand, daß die zu den Pferden
passenden Reiter leicht zu bestimmen waren. Der hohe,
kräftige schwarze Hengst, der den Kopf so wild hochwarf,
mußte Lan gehören. Die schlanke weiße Stute mit dem
edel gekrümmten Hals, deren schnelle Schritte so graziös
wirkten wie die eines tanzenden Mädchens, sogar hier im
Stall, konnte nur Moiraine gehören. Und das dritte
unbekannte Pferd, ein dürrer Wallach mit schmutzigen
Flanken, paßte perfekt zu Thom Merrilin.
Tam stand ganz hinten im Stall, hielt Bela an einem
Führseil und sprach ruhig mit Hu und Tad. Bevor Rand
noch zwei Schritte in den Stall hinein tun konnte, nickte
sein Vater schon den Stallburschen zu und führte Bela
hinaus. Wortlos winkte er Rand, mitzukommen.
Schweigend spannten sie die struppige Stute an. Tam
schien so tief in Gedanken versunken, daß Rand den Mund
hielt. Er freute sich nicht gerade darauf, seinen Vater von
der Existenz des schwarzgekleideten Reiters überzeugen
zu müssen, und dann auch noch den Bürgermeister!
Morgen war es früh genug dafür, wenn Mat und Perrin
weitere Zeugen fänden, die den Mann gesehen hatten.
Falls sie sie fanden...
Als der Karren sich ruckartig in Bewegung setzte, hatte
Rand Bogen und Köcher von hinten heraus. Ungeschickt
hängte er den Köcher an den Gürtel, während er
nebenhertrabte. Als sie die letzte Häuserreihe des Dorfs
erreichten, legte er einen Pfeil ein und trug den Bogen
halb erhoben, die Sehne leicht gespannt. Es gab außer den
zumeist kahlen Bäumen nichts zu sehen, doch seine
Schultern spannten sich. Der schwarze Reiter konnte sie
erreichen, bevor sie es überhaupt merkten. Vielleicht
bliebe dann keine Zeit mehr, den Bogen zu spannen; also
tat er es lieber jetzt schon.
Er wußte, daß er die Sehne nicht lange gespannt halten
durfte. Er hatte den Bogen selbst gemacht, und Tam war
außer ihm einer der wenigen in der Gegend, die ihn
überhaupt bis zur Wange spannen konnten. Er sah sich
um, denn er wollte nicht die ganze Zeit über an den
dunklen Reiter denken. Das war allerdings nicht einfach,
so vom Wald umgeben und mit im Wind flatternden
Umhängen. »Vater«, sagte er schließlich, »ich verstehe
nicht, wieso der Gemeinderat Padan Fain verhören
mußte.« Mit Mühe riß er den Blick vom Wald los und sah
Tam über Bela hinweg an. »Mir scheint, euer Entschluß
hätte auch gleich an Ort und Stelle fallen können. Der
Bürgermeister hat allen eine Riesenangst eingejagt, als er
über Aes Sedai und den falschen Drachen im
Zusammenhang mit den Zwei Flüssen sprach.«
»Die Menschen sind merkwürdig, Rand. Sogar die
besten. Nimm Haral Luhhan. Meister Luhhan ist ein
starker Mann, und ein tapferer noch dazu, aber er kann
nicht beim Schlachten zusehen. Er wird dabei weiß wie
ein Bettlaken.«
»Was hat denn das damit zu tun? Jeder weiß, daß
Meister Luhhan kein Blut sehen kann, und keiner außer
den Coplins und den Congars denkt sich etwas dabei.«
»Nur soviel, mein Junge: Leute denken oder benehmen
sich nicht immer so, wie du glaubst. Die Leute im Dorf...
Laß den Hagel ihre Ernte plattschlagen, laß den Wind
jedes Dach in der Gegend wegpusten und die Wölfe die
Hälfte ihres Viehs reißen, und sie krempeln ihre Ärmel
hoch und fangen von vorn an. Sie maulen vielleicht, lassen
sich aber nicht aufhalten. Aber laß sie nur an die Aes
Sedai und einen falschen Drachen in Ghealdan denken,
dann kommen sie bald darauf, daß Ghealdan nicht so weit
vom Rand des Walds der Schatten entfernt ist und daß eine
gerade Linie von Tar Valon nach Ghealdan gar nicht so
weit östlich von uns verlaufen würde. Als ob die Aes
Sedai nicht die Straße über Caemlyn und Lugard nähmen,
anstatt querfeldein zu reiten! Bis morgen früh wäre das
halbe Dorf überzeugt gewesen, daß der Krieg vor unserer
Tür steht. Es hätte Wochen gedauert, das
wiedergutzumachen. Das hätte ein schönes Bel Tine
gegeben! Also sagte Bran es ihnen, bevor sie selbst darauf
kamen.
Sie haben gesehen, daß der Gemeinderat das Problem
diskutiert, und mittlerweile werden sie wissen, wie wir
uns entschieden haben. Sie haben uns in den Gemeinderat
gewählt, weil sie darauf vertrauen, daß wir uns zum
Besten für alle beraten. Sie vertrauen unseren Ansichten.
Sogar der Ansicht von Cenn, was nicht viel über uns
andere aussagt, schätze ich. Jedenfalls werden sie hören,
daß wir uns keine Sorgen machen müssen, und das werden
sie glauben. Nicht, daß sie nicht auch von allein darauf
kommen könnten oder schließlich kommen würden, aber
auf diese Weise ruinieren wir das Fest nicht, und keiner
muß sich wochenlang über etwas Gedanken machen, was
wahrscheinlich sowieso nicht geschieht. Wenn es aber,
entgegen aller Wahrscheinlichkeit, doch geschieht... Nun,
dann werden uns die Patrouillen früh genug warnen,
damit wir Gegenmaßnahmen ergreifen können. Ich glaube
aber wirklich nicht, daß es dazu kommen wird.«
Rand blies die Wangen auf. Offensichtlich war es
komplizierter, als er gedacht hatte, Mitglied im
Gemeinderat zu sein. Der Karren rumpelte weiter die
Haldenstraße entlang.
»Hat noch irgend jemand außer Perrin diesen seltsamen
Reiter gesehen?« fragte Tam.
»Ja, Mat, aber...« Rand blinzelte und blickte über Belas
Rücken hinweg seinen Vater an. »Du glaubst mir? Ich
muß zurückkehren. Ich muß es ihnen erzählen.« Tams Ruf
hielt ihn auf, bevor er zum Dorf zurückrennen konnte.
»Halt, Junge, halt! Hast du gedacht, daß ich ohne Grund
so lange warte, um mit dir darüber zu sprechen?«
Zögernd ging Rand weiter neben dem Wagen her, der
quietschend der geduldigen Bela folgte. »Warum hast du
deine Meinung geändert? Warum soll ich es den anderen
nicht erzählen?«
»Sie werden es früh genug erfahren. Perrin zumindest.
Bei Mat bin ich mir nicht so sicher. Man muß die Bauern
auf ihren Höfen warnen, so gut es geht, aber ansonsten
wird es in einer Stunde in Emondsfeld niemand über
sechzehn geben oder jedenfalls keinen vertrauenswürdigen
Erwachsenen, der nicht weiß, daß sich ein Fremder hier
herumtreibt, und zwar ein Kerl von der Sorte, die man
nicht zum Fest einlädt. Der Winter war ohnehin schon
schlimm genug. Man sollte die Kinder nicht auch noch
ängstigen.«
»Fest?« sagte Rand. »Wenn du ihn gesehen hättest,
würdest du ihn dir mehr als zehn Meilen wegwünschen.
Vielleicht sogar hundert.«
»Ja, vielleicht«, sagte Tam gelassen. »Er kann ja
durchaus vor den Unruhen in Ghealdan geflohen sein,
oder er ist ein Dieb, der denkt, er könne hier leichter als
in Baerlon oder Taren-Fähre Beute machen. Aber
niemand besitzt hier etwas, das er sich so ohne weiteres
stehlen läßt. Falls der Mann versucht, vor dem Krieg
davonzurennen... Na ja, das ist keine Entschuldigung
dafür, Leuten Angst einzujagen. Wenn die Wache einmal
steht, wird sie ihn entweder finden oder gleich verjagen.«
»Ich hoffe, man verjagt ihn. Aber weshalb glaubst du
mir jetzt, während du mir heute morgen nicht geglaubt
hast?«
»Zu der Zeit war ich auf meine eigenen Augen
angewiesen, Junge, und ich sah nichts.« Tam schüttelte den
ergrauten Kopf. »Es scheint, nur junge Männer sehen
diesen Burschen. Als dann aber Haral Luhhan erwähnte,
daß Perrin Geister sehe, da kam alles heraus. Jon Thanes
ältester Sohn sah ihn auch, genau wie Samel Crawes Junge
Bandry. Also, wenn vier von euch behaupten, sie hätten
etwas gesehen – alles ordentliche junge Leute –, dann
glauben wir allmählich, daß jemand da ist, ob wir ihn nun
sehen können oder nicht. Alle außer Cenn natürlich.
Jedenfalls ist das der Grund, weshalb wir nach Hause
zurückkehren. Wenn wir beide abwesend sind, könnte der
Fremde dort alles mögliche anstellen. Wenn es nicht des
Festes wegen wäre, käme ich morgen auch nicht ins Dorf
zurück. Aber wir können uns nicht in den eigenen vier
Wänden einsperren, nur weil so ein Bursche hier
herumlungert.«
»Ich habe das mit Ban und Lem nicht gewußt«, sagte
Rand. »Wir anderen wollten morgen zum Bürgermeister
gehen, aber wir fürchteten, er werde uns nicht glauben.«
»Graue Haare bedeuten nicht, daß unser Hirn
geschrumpft ist«, meinte Tam trocken. »Also halte gut
Ausschau. Vielleicht bekomme ich ihn auch zu Gesicht,
falls er wieder auftaucht.«
Rand beschloß, sich daran zu halten. Zu seiner
Überraschung merkte er, wie sein Schritt leichter wurde.
Die Knoten waren aus seinen Schultern verschwunden. E r
fürchtete sich immer noch, aber es war nicht so schlimm
wie vorher. Tam und er befanden sich genauso allein und
verlassen auf der Haldenstraße wie am Morgen, aber
irgendwie fühlte er sich, als sei das ganze Dorf bei ihnen.
Der Unterschied lag darin, daß nun andere Bescheid
wußten und ihm glaubten. Was immer der schwarze
Reiter anstellen mochte, die Leute von Emondsfeld
würden gemeinsam mit ihm fertig werden.
KAPITEL 5

Winternacht
Als der Karren den Bauernhof erreichte, hatte die Sonne
bereits auf halbem Weg die Mittagshöhe überschritten. Es
war kein großes Gebäude, bei weitem nicht so groß wie
einige der ausgedehnten Anwesen im Osten, Behausungen,
die über die Jahre hinweg gewachsen waren und in denen
große Familien wohnten. In der Gegend der Zwei Flüsse
lebten oftmals drei oder vier Generationen unter einem
Dach, und das schloß Tanten, Onkel, Vetter und Neffen
mit ein. Tam und Rand galten als außergewöhnlich in
zweierlei Hinsicht: Die beiden Männer lebten allein, und
ihr Hof lag im Westwald.
Hier befanden sich die meisten Räume auf ebener Erde.
Das Haus bildete ein sauberes Rechteck ohne Seitenflügel
oder Anbauten. Zwei Schlafzimmer und ein Speicher
fügten sich noch oben unter das steile Strohdach. Obwohl
die weiße Tünche nach den Winterstürmen fast ganz von
den massiven Holzwänden verschwunden war, befand sich
das Haus immer noch in ordentlichem Zustand. Das
Strohdach war wieder dicht, Türen und Fensterläden
waren gut befestigt und paßten genau.
Haus, Scheune und der von einer Steinmauer eingefaßte
Schafpferch bildeten ein Dreieck um den Hof. Dort hatten
sich ein paar Hühner hinausgewagt und scharrten im
kalten Erdreich herum. Gleich neben dem Schafpferch
standen ein offener Schuppen zum Scheren der Schafe und
ein steinerner Brunnentrog. Am Rand der Felder
zwischen dem Hof und den Bäumen ragte der hohe Kegel
eines Trockenraums auf. Nur wenige Bauern der Zwei
Flüsse kamen ohne den Tabakanbau aus, der es ihnen
ermöglichte, den Kaufleuten, wenn sie endlich kamen,
Wolle und Tabak zu verkaufen.
Als Rand in den Steinpferch schaute, blickte der
Leithammel zu ihm auf, die meisten Schafe der
schwarzgesichtigen Herde blieben aber friedlich dort, wo
sie lagen oder standen, die Köpfe im Futtertrog. Ihre
Wolle war dicht und lockig, aber es war noch zu kalt zum
Scheren.
»Ich glaube nicht, daß der Schwarzgekleidete
hierhergekommen ist!« rief Rand seinem Vater zu, der
langsam um das Haus herumging, einen Speer kampfbereit
in der Hand, und den Boden genau betrachtete. »Die
Schafe wären nicht so ruhig, wenn er dagewesen wäre.«
Tam nickte, blieb aber nicht stehen. Als er seine Runde
um das Haus beendet hatte, ging er anschließend genauso
aufmerksam um die Scheune und den Pferch herum,
wobei er immer noch den Boden nach Spuren untersuchte.
Er überprüfte sogar die Räucherkammer und den
Trockenraum. Er zog einen Eimer Wasser aus dem
Brunnen, schöpfte eine Handvoll, roch daran und berührte
das Wasser vorsichtig mit der Zungenspitze. Dann lachte
er plötzlich laut auf und trank es mit einem schnellen
Schluck.
»Ich glaube auch, er war nicht da«, sagte er zu Rand
und wischte sich die Hand am Mantel ab. »Das ganze
Gerede über Männer und Pferde, die ich nicht sehen oder
hören kann, macht mich so nervös, daß ich schon alles
schief anschaue.« Er goß das Brunnenwasser in einen
anderen Eimer und ging auf das Haus zu, in der einen
Hand den Eimer, in der anderen den Speer. »Ich werde
einen Eintopf aufsetzen, damit wir etwas zum Essen
bekommen. Und wenn wir sowieso schon hier sind,
können wir auch mit der Arbeit anfangen.«
Rand schnitt eine Grimasse. Er bedauerte, die
Winternacht nicht in Emondsfeld verbringen zu können.
Aber Tam hatte recht. Auf einem Bauernhof hörte die
Arbeit niemals auf; kaum hatte man eine Sache erledigt,
tauchten schon zwei andere auf, um die man sich
kümmern mußte. Er zögerte, behielt aber dann Bogen und
Köcher doch bei sich. Falls der dunkle Reiter erschien,
wollte er ihm nicht nur mit einer Hacke begegnen.
Zuerst mußte Bela in den Stall gebracht und versorgt
werden. Sobald er sie ausgespannt und in einer Box in der
Scheune gleich neben der Kuh untergebracht hatte, legte
er den Umhang ab und rieb die Stute mit trockenem Stroh
ab. Anschließend striegelte er sie mit zwei Bürsten. E r
kletterte die schmale Leiter zum Heuboden hinauf und
warf Heu für Bela hinunter. Er nahm auch einen Scheffel
Hafer mit, obwohl nicht mehr viel da war und sie
möglicherweise längere Zeit keinen Hafer mehr
bekommen würden – es sei denn, es würde endlich warm.
Die Kuh hatten sie schon im ersten Morgenlicht gemolken.
Sie hatte nur ein Viertel ihrer normalen Menge gegeben;
im Verlauf des langen Winters schien sie auszutrocknen.
Sie hatten den Schafen Futter für zwei Tage dagelassen
– sie hätten eigentlich längst auf der Weide stehen sollen,
doch es gab kaum Gras für sie –, aber er füllte ihren
Wassertrog wieder auf. Auch die mittlerweile gelegten
Eier mußten eingesammelt werden. Es waren nur drei.
Die Hühner wurden anscheinend immer schlauer und
versteckten sie zu gut.
Er ging gerade mit einer Hacke auf der Schulter zum
Gemüsegarten hinter dem Haus, als Tam herauskam und
sich auf eine Bank vor der Scheune setzte, um Belas
Geschirr zu reparieren. Der Speer lehnte an seiner Seite.
Als Rand das sah, empfand er seinen mitgenommenen
Bogen und den Köcher nicht mehr als lächerlich. Beides
lag auf seinem Umhang, einen Schritt von seinem
Arbeitsplatz entfernt.
In den Beeten zeigte sich nur wenig Unkraut, aber
immer noch mehr Unkraut als alles andere. Die
Kohlköpfe waren bloße Stümpfe, es war kaum ein
Bohnen- oder Erbsenschößling zu sehen und keine einzige
Rübe. Sie hatten natürlich nicht alles gepflanzt – nur einen
Teil, in der Hoffnung, die kalte Periode werde rechtzeitig
enden, so daß sie etwas ernten konnten, bevor der Keller
ganz leer war. Er brauchte nicht lange mit seiner Hacke.
In früheren Jahren wäre er darüber froh gewesen, aber
jetzt fragte er sich, was zu tun sei, wenn dieses Jahr nichts
wuchs. Kein angenehmer Gedanke. Und er mußte immer
noch Brennholz spalten.
Es schien Rand schon Jahre zurückzuliegen, daß er
einmal kein Brennholz spalten mußte. Aber Selbstmitleid
würde das Haus nicht wärmen, also holte er die Axt,
stellte Bogen und Köcher neben den Hackklotz und machte
sich an die Arbeit. Kiefer ergab eine flinke, heiße
Flamme, und Eiche brannte dafür länger. Er fühlte sich
bald so warm, daß er den Mantel auszog. Als der Haufen
Holzscheite groß genug war, stapelte er ihn an der
Seitenwand des Hauses neben anderen Stapeln von früher
auf. Die meisten reichten hinauf bis zur Traufe.
Normalerweise waren zu dieser Jahreszeit die
Brennholzstapel klein, und man sah nur wenige; anders in
diesem Jahr. Hack und staple, hack und staple, so verlor er
sich im Rhythmus der Axthiebe und der Bewegungen
beim Aufeinanderlegen der Scheite. Tams Hand auf der
Schulter rief ihn in die Wirklichkeit zurück, und einen
Augenblick lang blinzelte er überrascht.
Graues Zwielicht hatte sich während seiner Arbeit
ausgebreitet, und auch das dämmerte schon der Nacht
entgegen. Der Vollmond stand bereits hoch über den
Baumwipfeln und schimmerte blaß und aufgedunsen, als
wolle er gleich auf ihre Köpfe herunterfallen. Ohne daß
er es bemerkt hatte, war der Wind kälter geworden, und
Wolkenfetzen trieben über den dunklen Himmel.
»Machen wir den Abwasch, Junge, und dann essen wir
zu Abend. Ich habe auch schon Badewasser zum
Heißmachen hineingetragen. Dann können wir vor dem
Schlafen noch ein Bad nehmen.«
»Alles Heiße hört sich für mich gut an«, sagte Rand. E r
hob seinen Umhang auf und warf ihn sich über die
Schultern. Sein Hemd war schweißgetränkt, und der
Wind, den er in der Hitze des Axtschwingens vergessen
hatte, schien sich zu bemühen, das Hemd jetzt, da er mit
Arbeiten aufgehört hatte, zu einem steifen Brett zu
gefrieren. Er unterdrückte ein Gähnen und las unter
Kälteschauern seine übrigen Sachen auf. »Schlaf wäre
auch, davon abgesehen, eine feine Sache. Ich könnte das
ganze Fest über schlafen.«
»Würdest du darauf wetten?« Tam lächelte, und Rand
mußte unwillkürlich zurückgrinsen. Er würde Bel Tine
nicht versäumen, und wenn er eine ganze Woche lang
nicht mehr geschlafen hätte. Das würde allen so gehen.
Tam hatte besonders viele Kerzen aufgestellt, und in
dem großen gemauerten Kamin prasselte ein Feuer, so daß
die Wohnstube Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte.
Außer dem Kamin fiel in dem Raum vor allem ein breiter
Eichenholztisch auf. Der Tisch war lang genug für ein
Dutzend Leute oder mehr, obwohl kaum jemals so viele
dort gesessen hatten, nachdem Rands Mutter gestorben
war. An den Wänden standen ein paar Kommoden und
Truhen, die von Tam kunstvoll angefertigt worden waren.
Um den Tisch standen Stühle mit hohen Lehnen. Der
Polsterstuhl, den Tam seinen ›Lesestuhl‹ nannte, stand
seitlich versetzt vor dem Kamin. Rand zog es vor,
ausgestreckt auf dem Läufer vor dem Feuer liegend zu
lesen. Das Bücherregal neben der Tür war bei weitem
nicht so lang wie das in der Weinquellenschenke, aber
Bücher waren schwer zu bekommen. Wenige Händler
führten mehr als eine Handvoll mit sich, und die mußten
für alle reichen, denen es nach Lektüre verlangte.
Wenn der Raum auch nicht ganz so frisch gescheuert
aussah, wie es bei den meisten Bauersfrauen üblich war
(Tams Pfeifenständer und Die Reisen von Jain
Fernstreicher lagen auf dem Tisch, während ein weiteres
in Holz gebundenes Buch auf dem Polster des Lesestuhls
lag, ein Stück reparaturbedürftiges Pferdegeschirr lag auf
der Bank beim Kamin, und ein paar Hemden, die gestopft
werden mußten, häuften sich auf einem Stuhl), wenn der
Raum also nicht ganz so fleckenlos rein war, wirkte er
doch sehr sauber und ordentlich und so wohnlich, daß es
jedem Besucher das Herz wärmte. Hier war es möglich,
die beißende Kälte jenseits der Wände zu vergessen. Hier
gab es keinen falschen Drachen, keinen Krieg und keine
Aes Sedai. Auch keine Männer in schwarzen Mänteln. Der
Duft des Eintopfs über dem Feuer erfüllte den Raum, und
Rand bekam plötzlich schrecklichen Hunger.
Sein Vater rührte das Essen mit einem langen hölzernen
Kochlöffel um und probierte ein wenig. »Noch ein
bißchen.«
Rand wusch sich schnell Gesicht und Hände. In der
Nähe der Tür standen auf einem Waschgestell ein Krug
und eine Schüssel. Was er brauchte, war ein heißes Bad,
um den Schweiß abzuwaschen und die Kälte zu vertreiben,
aber das mußte warten, bis sie Zeit hatten, den großen
Kessel im Hinterzimmer zu erhitzen.
Tam kramte in einer Kommode herum und fand
schließlich einen Schlüssel, der so lang war wie seine
Hand. Er drehte ihn in dem großen Eisenschloß an der
Tür um. Als Rand ihn fragend anblickte, sagte er: »Besser
ist besser. Vielleicht spinne ich ein wenig, oder das Wetter
drückt meine Stimmung, aber...« Er seufzte und warf den
Schlüssel mit der flachen Hand ein Stückchen hoch. »Ich
sehe mal nach der Hintertür«, sagte er und verschwand im
rückwärtigen Teil des Hauses.
Rand konnte sich nicht daran erinnern, daß eine der
beiden Türen jemals abgeschlossen worden war. Keiner
im Gebiet der Zwei Flüsse verschloß die Türen. Es war
niemals nötig gewesen. Zumindest bisher.
Von oben aus Tams Schlafzimmer erklang ein
schleifendes Geräusch, als werde etwas am Boden entlang-
gezerrt. Rand zog die Augenbrauen hoch. Falls sich Tam
nicht soeben entschlossen hatte, die Möbel umzustellen,
konnte er nur die alte Truhe hervorgezogen haben, die er
unter dem Bett aufbewahrte. Wieder etwas, das noch nie
geschehen war, solange sich Rand erinnern konnte.
Er füllte einen kleinen Kessel mit Teewasser, hängte
ihn an einen Haken über dem Feuer und deckte den Tisch.
Er hatte die Teller und Löffel selbst geschnitzt. Die
vorderen Fensterläden waren noch nicht geschlossen, und
von Zeit zu Zeit spähte er hinaus. Doch die Nacht war
gekommen, und alles, was er sehen konnte, waren
Mondschatten. Der dunkle Reiter konnte sehr wohl dort
draußen sein, aber er versuchte, nicht daran zu denken.
Als Tam zurückkam, machte Rand vor Überraschung
große Augen. Ein breiter Gürtel hing an Tams Hüften,
und am Gürtel hing ein Schwert. Ein bronzener Reiher
war auf der schwarzen Scheide zu sehen und ein weiterer
auf dem langen Knauf. Die einzigen Männer, die Rand
jemals ein Schwert hatte tragen gesehen, waren die
Leibwächter der Kaufleute. Und natürlich Lan. Er wäre
nie darauf gekommen, daß sein Vater überhaupt eines
besaß. Abgesehen von den Reihern sah das Schwert dem
Schwert Lans ziemlich ähnlich.
»Woher hast du das?« fragte er. »Hast du es von einem
Händler gekauft? Was hat es gekostet?«
Langsam zog Tam die Waffe; Feuerschein spiegelte sich
auf der schimmernden Schneide. Das war ganz anders als
bei den einfachen rohen Klingen, die Rand in den Händen
der Leibwächter gesehen hatte. Es war nicht mit Gold
oder Edelsteinen verziert, und doch schien es Rand
irgendwie groß, bedeutend. Die ganz leicht gekrümmte
und nur auf einer Seite geschliffene Schneide trug
ebenfalls den Reiher in den Stahl eingeätzt. Die kurzen
Querstreben am Knauf waren wie Zöpfe gearbeitet.
Verglichen mit den Schwertern der Leibwächter, schien es
fast zerbrechlich. Die meisten dieser plumpen Schwerter
waren auf beiden Seiten geschärft und dick genug, um
einen Baum zu fällen.
»Ich habe es vor langer Zeit erworben«, sagte Tam,
»sehr weit entfernt von hier. Und ich habe viel zuviel
dafür bezahlt; zwei Kupferpfennige sind zuviel für eine
Waffe wie diese. Deine Mutter wollte es nicht, aber sie
war immer schon klüger als ich. Ich war jung damals, und
es schien den Preis wert zu sein. Sie wollte immer, daß ich
es los werden sollte, und mehr als einmal kam mir der
Gedanke, daß sie recht hatte und ich es einfach weggeben
sollte.«
Reflektierter Feuerschein ließ die Klinge aufflammen.
Rand erschrak. Er hatte oft davon geträumt, ein Schwert
zu besitzen. »Es weggeben? Wie könntest du ein Schwert
wie dieses weggeben?«
Tam schnaubte. »Kann man wohl kaum zum
Schafehüten verwenden, oder? Ich kann auch kein Feld
damit umpflügen oder Getreide schneiden.« Eine ewig
währende Minute lang starrte er das Schwert an, als
überlege er, was er mit solch einem Ding anfangen könne.
Schließlich stieß er einen schweren Seufzer aus. »Aber
falls ich nicht einfach nur schwarz sehe, falls uns das
Glück verläßt, kann es sein, daß ich in den nächsten Tagen
noch froh sein werde, es statt dessen in diese alte Truhe
gelegt zu haben.« Er ließ das Schwert sanft in die Scheide
zurückgleiten und wischte sich mit einer Grimasse die
Hand am Hemd ab. »Der Eintopf dürfte fertig sein. Ich
fülle die Schüssel, und du machst derweil den Tee.«
Rand nickte und nahm die Teebüchse, aber er wollte
schon alles genau wissen. Warum hatte Tam wohl ein
Schwert gekauft? Er konnte es sich nicht vorstellen. Und
wo hatte es Tam aufgetrieben? Wie weit entfernt? Keiner
verließ je die Zwei Flüsse, oder höchstens ganz wenige.
Er hatte schon immer vage Vermutungen darüber
angestellt, daß sein Vater draußen gewesen sein mußte –
seine Mutter war Ausländerin gewesen –, aber ein
Schwert...? Er hatte eine Menge Fragen auf dem Herzen,
sobald sie am Tisch saßen.
Das Teewasser kochte, und er mußte ein Tuch um den
Kesselgriff wickeln, um ihn vom Haken zu nehmen. Die
Hitze drang sofort durch.
Als er sich vom Feuer aufrichtete, ließ ein heftiger
Schlag gegen die Tür das Schloß erzittern. Alle Gedanken
an das Schwert oder den heißen Kessel in seiner Hand
verflogen.
»Einer der Nachbarn«, sagte er unsicher. »Vielleicht
will Meister Dautry etwas borgen...« Aber der Hof der
Dautrys, ihrer nächsten Nachbarn, war auch bei
Tageslicht eine Wegstunde entfernt, und auch wenn Oren
Dautry ständig schamlos Sachen auslieh, war es wenig
wahrscheinlich, daß er seinen Hof nach Einbruch der
Dunkelheit verließ.
Tam stellte leise die mit Eintopf gefüllten Teller auf
den Tisch. Langsam bewegte er sich vom Tisch weg.
Beide Hände ruhten auf dem Griff seines Schwerts. »Ich
glaube nicht...«, begann er, und dann barst die Tür
entzwei. Bruchstücke des eisernen Schlosses schlitterten
über den Boden.
Eine Gestalt füllte den Türrahmen, größer als jeder
Mann, den Rand je gesehen hatte, eine Gestalt in
schwarzem Kettenpanzer, der ihr bis zu den Knien
reichte, mit Dornen an Handgelenken, Ellbogen und
Schultern. Eine Hand hielt ein schweres sichelähnliches
Schwert, die andere wurde vor die Augen gehalten, als
solle sie vor dem Licht schützen.
Rand fühlte sich auf seltsame Art erleichtert. Wer das
auch war, es war nicht der schwarzgekleidete Reiter.
Dann bemerkte er die gekrümmten Widderhörner an dem
Kopf, der den oberen Teil des Türrahmens streifte, und
wo sich Mund und Nase befinden sollten, sah er eine
behaarte Schnauze. Er nahm das alles innerhalb eines
einzigen tiefen Atemzugs wahr und stieß einen entsetzten
Schrei aus. Gleichzeitig warf er den heißen Kessel nach
dem halbmenschlichen Kopf.
Die Kreatur brüllte auf. Zum Teil klang es nach einem
Schmerzensschrei, zum Teil nach dem Knurren eines
Tieres. Kochendes Wasser lief ihm über das Gesicht. In
dem Moment, als der Kessel traf, blitzte Tams Schwert
auf. Aus dem Brüllen wurde ein Gurgeln, und die riesige
Gestalt stürzte rückwärts. Bevor sie noch gefallen war,
versuchte eine zweite, sich an der ersten vorbei-
zuschieben. Rand erspähte einen mit dornenähnlichen
Hörnern bewehrten verformten Kopf, bevor Tam erneut
zuschlug. Dann blockierten zwei riesige erschlaffte
Körper den Eingang. Rand merkte, daß sein Vater ihm
etwas zurief.
»Renn weg, Junge! Versteck dich im Wald!« Die
Leichen im Eingang zuckten, als andere von draußen
versuchten, sie wegzuziehen. Tam bückte sich und hob mit
der Schulter unter Stöhnen den schweren Tisch, um ihn
vor die Tür zu schieben. »Es sind zu viele! Das hält nicht!
Renn hinten raus! Los! Schnell! Ich komme nach!«
Noch während Rand sich zur Flucht wandte, schämte er
sich, daß er so schnell gehorchte. Er wollte bleiben und
seinem Vater helfen, obwohl er sich nicht vorstellen
konnte, wie, aber die Angst hatte ihn bei der Gurgel
gepackt, und die Beine bewegten sich ohne sein Zutun. E r
rannte aus dem Raum in den rückwärtigen Teil des
Hauses. So schnell war er noch nie gelaufen. Krachende
Geräusche und Schreie aus der Wohnstube verfolgten ihn.
Er hatte die Hände schon auf dem Querbalken, der die
Hintertür versperrte, als sein Blick auf das Eisenschloß
fiel, das nie verschlossen wurde. Allerdings hatte Tam
genau das heute nacht getan. Er ließ den Balken, wo er
war, und rannte zu einem Seitenfenster. Er schob das
Fenster hoch und öffnete die Fensterläden. Die Nacht hatte
die Dämmerung abgelöst. Der Vollmond und die über den
Himmel treibenden Wolken erzeugten gefleckte Schatten,
und diese jagten sich gegenseitig quer über den Hof.
Schatten, sagte er sich. Nur Schatten. Die Hintertür
knarrte, als jemand – oder etwas – versuchte, sie aufzu-
drücken. Der Mund wurde Tam trocken. Ein Krachen
erschütterte die Tür in ihrem Rahmen und machte ihm
Beine. Er schlüpfte durch das Fenster und kauerte sich
wie ein Hase an die Seitenwand des Hauses. Im Raum
drinnen zersplitterte Holz mit donnerndem Getöse.
Er zwang sich hoch und spähte geduckt durch das
Fenster, nur mit einem Auge, nur an einer Fensterecke.
Im Dunkeln konnte er nicht viel ausmachen, aber immer
noch mehr, als ihm lieb war. Die Reste der Tür hingen
schief in den Angeln, und schattenhafte Gestalten
bewegten sich vorsichtig im Raum. Sie sprachen mit leisen
kehligen Stimmen. Rand verstand die Worte nicht, die
gesagt wurden. Die Sprache klang hart und für
menschliche Zungen ungeeignet. Äxte und Speere und
dornige – Dinge reflektierten matt die wenigen Strahlen
Mondlicht, die sich dort hinein verirrten. Stiefel scharrten
über den Fußboden, und er hörte auch ein rhythmisches
Klappern wie von Hufen.
Er versuchte, Speichel zu sammeln und seinen Mund
wieder zu befeuchten. Dann zog er tief, wenn auch
zitternd, Luft ein und schrie so laut er konnte: »Sie
kommen von hinten!« Die Worte kamen mehr als Kräch-
zen heraus, aber wenigstens waren sie gut hörbar. Er war
sich da nicht sicher gewesen. »Ich bin draußen! Renn,
Vater!« Mit dem letzten Wort rannte er los, weg vom
Haus.
Heisere Schreie in der seltsamen Sprache erklangen aus
dem Hinterzimmer. Glas splitterte, laut und klirrend, und
irgend etwas prallte schwer hinter ihm auf dem Boden
auf. Einer von ihnen hatte wahrscheinlich den Weg durch
das Fenster einem mühevollen Hinauszwängen durch die
Türöffnung vorgezogen, aber er sah nicht nach hinten, um
sich zu vergewissern, ob er recht hatte. Wie ein Fuchs vor
der Meute, so huschte er von einem Mondschatten in den
anderen, als halte er auf den Wald zu, doch dann ließ er
sich auf den Bauch fallen und kroch zurück zur Scheune
und ihrem größeren, tieferen Schatten. Etwas fiel quer
über seine Schultern. Er schlug um sich, nicht sicher, ob
er kämpfen oder entkommen sollte, bis er merkte, daß er
den Stiel der neuen Hacke gepackt hielt, den Tam
bearbeitet hatte.
Idiot! Einen Augenblick lang lag er da und bemühte
sich, seinen Atem wieder zu beruhigen. Coplin-Narr-
Idiot! Schließlich kroch er am hinteren Teil der Scheune
entlang und schleifte den Hackenstiel mit. Es war nicht
viel, aber besser als nichts. Vorsichtig lugte er um die
Ecke über den Hof zum Haus.
Er sah kein Anzeichen der Kreatur, die ihm
nachgesprungen war. Sie konnte überall sein. Sicher jagte
sie ihn. Vielleicht schlich sie sich in diesem Moment
gerade an.
Verängstigtes Blöken kam aus dem Schafpferch zu
seiner Linken; die Herde drängte sich zusammen, als suche
sie nach einem Fluchtweg. Schattenhafte Gestalten
huschten an den beleuchteten Fenstern im vorderen Teil
des Hauses vorbei, und das Klirren von Stahl auf Stahl
klang durch die Dunkelheit. Plötzlich wölbte sich eines
der Fenster nach außen, und in einem Regen von Scherben
und Holz sprang Tam hindurch, das Schwert immer noch
in der Hand. Er landete auf den Füßen, aber statt vom
Haus wegzurennen, eilte er zum hinteren Teil und achtete
nicht auf die monströsen Kreaturen, die hinter ihm aus
dem geborstenen Fenster und der Tür drangen. Rand
starrte ungläubig hinüber. Warum versuchte er nicht zu
entkommen? Dann verstand er. Tam hatte seine Stimme
zuletzt vom hinteren Teil des Hauses her vernommen.
»Vater!« schrie er. »Ich bin hier drüben!«
Tam wirbelte herum, rannte dann aber nicht auf Rand
zu, sondern in einem Winkel von ihm weg. »Renn,
Junge!« schrie er und deutete mit dem Schwert auf etwas
vor ihm. »Versteck dich!« Ein Dutzend riesiger Gestalten
hetzte ihm nach. Grelle Schreie und schrilles Heulen
brachten die Luft zum Erzittern.
Rand zog sich in den Schatten hinter der Scheune
zurück. Er konnte dort vom Haus aus nicht gesehen
werden, falls noch weitere der Kreaturen sich dort
aufhielten. Zumindest im Moment war er sicher. Aber
Tam nicht. Tam, der sich bemühte, diese Monster von ihm
abzulenken. Seine Hände verkrampften sich um den Stiel
der Hacke, und er mußte die Zähne zusammenbeißen, um
ein plötzliches Lachen zu verhindern. Ein Hackenstiel.
Wenn er einer dieser Kreaturen mit dem Stiel einer Hacke
gegenüberstand, ähnelte das nicht mehr seinen
Stabkämpfen mit Perrin. Aber er konnte Tam nicht mit
seinen Verfolgern alleinlassen.
»Wenn ich mich so vorsichtig bewege, als schliche ich
mich an ein Kaninchen an«, flüsterte er in sich hinein,
»dann können sie mich niemals hören oder sehen.« Die
unheimlichen Schreie hallten in der Dunkelheit wider, und
er versuchte zu schlucken. »Klingt eher nach einem Rudel
verhungernder Wölfe.« Lautlos glitt er aus dem Schatten
der Scheune auf den Wald zu. Sein Griff um den Stiel war
so verkrampft, daß die Hände schmerzten. Zuerst fühlte er
sich wohler, als die Bäume ihn umgaben. Sie halfen ihm,
sich vor den Kreaturen zu verstecken. Als er aber weiter
durch den Wald schlich, zerflossen und bewegten sich die
Schatten, die der Mond warf, und mit ihnen schien sich
die Dunkelheit des Waldes zu verändern und ebenfalls zu
bewegen. Bäume ragten bösartig über ihm auf; Äste
schienen nach ihm zu greifen. Aber waren das nur Bäume
und Äste? Er konnte beinahe das knurrende, glucksende
Lachen hören, das sie unterdrückten, während sie auf ihn
warteten. Das Heulen von Tams Verfolgern war nicht
mehr zu hören, doch in der darauffolgenden Stille schrak
er jedesmal zusammen, wenn der Wind einen Zweig gegen
den anderen schlug. Tiefer und tiefer duckte er sich und
schlich immer langsamer. Er traute sich kaum zu atmen,
aus Angst, daß man ihn hören könne.
Plötzlich legte sich eine Hand von hinten über seinen
Mund, und ein eiserner Griff umspannte sein Handgelenk.
Verzweifelt griff er mit der freien Hand über die
Schulter, um den Angreifer irgendwie zu packen.
»Brich mir nicht den Hals, Junge!« kam Tams heiseres
Flüstern.
Erleichterung durchflutete ihn und verwandelte seine
Muskeln in Pudding. Als sein Vater ihn losließ, fiel er auf
Hände und Knie und keuchte, als sei er meilenweit
gerannt. Tam legte sich neben ihn, auf einen Ellenbogen
gestützt.
»Ich hatte ganz vergessen, wie sehr du in den letzten
Jahren gewachsen bist«, sagte Tam leise. Seine Augen
bewegten sich beim Sprechen ständig. Er spähte
angestrengt in die Dunkelheit hinaus. »Aber ich mußte
sichergehen, daß du nicht laut sprichst. Trollocs haben ein
fast ebenso gutes Gehör wie Hunde. Vielleicht sogar ein
besseres.«
»Aber Trollocs sind nur...« Rand beendete den Satz
nicht. Keine Gutenachtgeschichte, seit heute nicht mehr.
Die Monster konnten Trollocs sein oder auch der Dunkle
König selbst. Er hatte keine Ahnung. »Bist du sicher?«
flüsterte er. »Ich meine – Trollocs?«
»Ich bin sicher. Was sie allerdings zu den Zwei Flüssen
geführt hat... Vor dem heutigen Abend habe ich noch nie
einen gesehen, aber ich habe mit Männern gesprochen, die
welche kannten, also weiß ich einiges über sie. Vielleicht
genug, um unser Leben zu retten. Hör genau zu! Ein
Trolloc kann im Dunkeln besser sehen als ein Mensch,
aber helles Licht blendet ihn, jedenfalls für eine Weile.
Das war wohl der einzige Grund, warum wir so vielen
von ihnen entkommen konnten. Sie können Spuren durch
Geruch oder Geräusche verfolgen, aber man sagt, sie
seien faul. Wenn wir ihnen lang genug davonlaufen, geben
sie wahrscheinlich auf.«
Rand fühlte sich nach diesen Erklärungen kaum besser.
»Den Geschichten nach hassen sie Menschen und dienen
dem Dunklen König.«
»Wenn irgend etwas zur Herde des Schäfers der Nacht
gehört, Junge, dann sind es Trollocs. Man hat mir erzählt,
daß sie aus Lust am Töten morden. Aber sonst weiß ich
nichts mehr, außer daß man ihnen nicht trauen kann. Nur
wenn sie Angst vor dir haben, kannst du ihnen ein bißchen
trauen.«
Rand erschauerte. Er wollte nicht unbedingt jemandem
begegnen, vor dem selbst Trollocs Angst hatten. »Glaubst
du, sie suchen immer noch nach uns?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie kommen mir nicht
gerade schlau vor. Sobald wir den Wald erreichten, lockte
ich meine Verfolger in Richtung Gebirge. Es war nicht
sehr schwer.« Tam faßte sich an die rechte Seite und hielt
die Hand nahe vor das Gesicht. »Verhalte dich aber am
besten so, als seien sie klug genug.«
»Du bist verletzt.«
»Sprich nicht so laut. Es ist nur ein Kratzer, und im
Moment kann ich sowieso nichts tun. Wenigstens scheint
das Wetter wärmer zu werden.« Er ließ sich mit einem
schweren Seufzer zurückfallen. »Vielleicht wird die Nacht
im Freien doch nicht so schlimm.«
Rand hatte sich auch gerade wohlig seinen Mantel und
den Umhang vorgestellt. Die Bäume hielten den Wind
zum Teil ab, aber was durchkam, schnitt immer noch wie
ein gefrorenes Messer in ihn hinein. Zögernd berührte er
Tams Gesicht und fuhr zusammen. »Du glühst ja. Ich muß
dich zu Nynaeve bringen.«
»Immer mit der Ruhe, Junge.«
»Wir dürfen keine Zeit verschwenden. Es ist ein langer
Weg in dieser Dunkelheit.« Er kam auf die Füße und
versuchte den Vater hochzuziehen. Er ließ ihn jedoch
schnell zurückgleiten, als Tam ein kaum unterdrücktes
Stöhnen ausstieß.
»Laß mich eine Weile ausruhen, Junge. Ich bin müde.«
Rand schlug sich mit der Faust auf die Hüfte. Hätten sie
sich in der Sicherheit des Hauses befunden, mit einem
Feuer im Kamin, Decken, genug Wasser und
Weidenrinde, dann wäre er vielleicht gewillt gewesen, bis
zum Tagesanbruch zu warten und dann Bela anzuschirren
und Tam ins Dorf zu bringen. Hier gab es kein Feuer,
keine Decken, keinen Karren und auch keine Bela. Das
alles befand sich noch drüben im Haus. Wenn er Tam
nicht hinüber tragen konnte, so konnte er doch zumindest
einiges für Tam herausholen. Falls die Trollocs weg
waren. Früher oder später mußten sie doch gehen.
Er sah den Hackenstiel an und ließ ihn fallen. Statt
dessen zog er Tams Schwert. Die Schneide schimmerte
matt im blassen Mondlicht. Der lange Griff fühlte sich in
seiner Hand so eigenartig an; Gewicht und Balance waren
ungewohnt. Er hieb einige Male in die Luft, bevor er mit
einem Seufzer aufhörte. Es war leicht, das Schwert durch
die Luft sausen zu lassen. Wenn er statt dessen einen
Trolloc vor sich hatte, war die Wahrscheinlichkeit groß,
daß er wegrannte oder vor Schreck erstarrte, so daß er
sich überhaupt nicht bewegen konnte, bis der Trolloc mit
einem dieser alten Schwerter ausholte und... Hör auf!
Wem hilft das schon!
Als er sich erhob, packte Tam ihn am Arm. »Wo willst
du hin?«
»Wir brauchen den Karren«, sagte er sanft. »Und
Decken.« Er erschrak, als er merkte, wie leicht es war,
die Hand seines Vaters vom Ärmel wegzuziehen. »Ruh
dich aus, bis ich zurückkomme.«
»Vorsichtig«, hauchte Tam.
Er konnte Tams Gesicht im Mondlicht nicht erkennen,
aber er fühlte seinen Blick auf sich ruhen. »Bin ich.« So
vorsichtig wie eine Maus, die das Nest eines Falken
inspiziert, dachte er.
Lautlos wie ein Schatten glitt er in die Dunkelheit. E r
dachte daran, wie oft er in seiner Kindheit mit seinen
Freunden im Wald Verstecken gespielt hatte. Sie hatten
sich gegenseitig aufgelauert, sich unhörbar angeschlichen,
bis sie dem anderen die Hand auf die Schulter legen
konnten, um ihn abzuklatschen. Irgendwie brachte er es
nicht fertig, die jetzige Situation mit denselben Augen zu
sehen.
Während er von Baum zu Baum schlich, versuchte er,
sich einen Plan zurechtzulegen, doch als er den Waldrand
erreichte, hatte er schon zehn davon geschmiedet und wie-
der verworfen. Alles hing davon ab, ob die Trollocs noch
da waren. Waren sie weg, dann konnte er einfach zum
Haus gehen und holen, was er brauchte. Wenn sie immer
noch da waren... Dann blieb ihm nichts übrig, als zu Tam
zurückzukehren. Es gefiel ihm nicht, aber er würde Tam
keinen Gefallen tun, wenn er sich umbringen ließe.
Er spähte hinüber zu den Gebäuden des Bauernhofs.
Scheune und Schafpferch waren nur dunkle Umrisse im
Mondlicht. Aus den vorderen Fenstern des Wohnhauses
und der Tür aber drang Licht. Nur die Kerzen, die Vater
angezündet hat, oder warten dort Trollocs?
Er zuckte zusammen, als er den schrillen Schrei eines
Nachtfalken vernahm, und sackte dann zitternd gegen
einen Baumstamm. Das brachte ihn nicht weiter. Er kroch
auf dem Bauch weiter und hielt dabei ungeschickt das
Schwert zum Schutz vor sich. Er behielt das Kinn im
Schmutz, bis er den Schafpferch erreicht hatte.
Eng an die Mauer gedrückt lauschte er. Kein Laut
durchbrach die Stille der Nacht. Vorsichtig richtete er
sich auf, bis er über die Mauer blicken konnte. Im Hof
bewegte sich nichts. In den beleuchteten Fenstern zeigte
sich kein huschender Schatten, ebensowenig im hellen
Rechteck der Tür. Zuerst Bela und den Karren – oder die
Decken und was sonst noch wichtig ist? Das Licht
erleichterte ihm den Entschluß. In der Scheune war es
dunkel. Alles machte dort drinnen auf ihn warten, und er
hätte keine Ahnung, bis es zu spät wäre. Im Haus konnte
er zumindest sehen, was ihn erwartete.
Als er wieder zu Boden gehen wollte, hielt er plötzlich
inne. Er konnte keinen Laut hören. Die meisten Schafe
konnten sich wieder beruhigt haben und schlafen, obwohl
es unwahrscheinlich war, aber ein paar waren zu jeder
Zeit wach, auch mitten in der Nacht, bewegten sich leise
und blökten von Zeit zu Zeit. Er konnte die dunklen
Klumpen der Schafskörper am Boden kaum ausmachen.
Einer lag beinahe direkt unter ihm.
Er bemühte sich, keinen Laut zu machen, und zog sich
auf die Mauer hoch, bis er eine Hand nach dem nur
schwer sichtbaren Körper ausstrecken konnte. Seine
Finger berührten krause Wolle und dann etwas Nasses.
Das Schaf bewegte sich nicht. Er atmete stoßartig aus, als
er sich zurückfallen ließ. Beinahe hätte er das Schwert
fallen gelassen. Sie töten aus Lust am Töten. Bebend
wischte er die Nässe an der Hand am Boden ab.
Gewaltsam trichterte er sich ein, daß sich nichts
geändert hatte. Die Trollocs hatten ihre Schlächterei
beendet und waren weg. Das wiederholte er im Geist, als
er quer über den Hof kroch. Er hielt sich so dicht am
Boden wie möglich, versuchte aber auch, sich ständig nach
allen Richtungen umzusehen. Er hätte nie gedacht, daß er
eines Tages einen Regenwurm beneiden würde.
Schließlich lag er eng an die Vorderwand des Hauses
gepreßt, direkt unter dem geborstenen Fenster, und
lauschte. Das lauteste Geräusch war das dumpfe Pochen
seines Blutes in den Ohren. Langsam richtete er sich auf
und sah hinein.
Der Kochkessel lag umgekippt in der Asche der
Feuerstelle. Überall lagen Bruchstücke von gesplittertem
Holz. Kein einziges Möbelstück war heil geblieben. Sogar
der Tisch stand schief; zwei seiner Beine waren zu bloßen
Stümpfen abgehackt. Jedes Schubfach war herausgezogen
und zerschlagen worden, jeder Schrank und jede
Kommode standen offen, viele Türen hingen gerade noch
an einer Angel. Der Inhalt war über die Trümmer hinweg
verstreut worden, und über allem lag eine weiße
Staubschicht. Nach den aufgeschlitzten Säcken zu urteilen,
die am Kamin lagen, bestand die Schicht aus Mehl und
Salz. Mitten zwischen den Überresten der Möbel lag ein
Gewirr von vier verdrehten Körpern. Trollocs.
Rand erkannte einen davon an den Widderhörnern. Die
anderen sahen ziemlich ähnlich aus, trotz der
Unterschiede: eine abstoßende Mischung menschlicher
Gesichter, die durch Schnauzen, Hörner, Federn und Fell
entstellt waren. Daß ihre Hände beinahe menschlich
aussahen, machte alles nur noch schlimmer. Zwei trugen
Stiefel, die anderen hatten Hufe. Er beobachtete alles,
ohne die Lider zu bewegen, bis ihm die Augen brannten.
Keiner der Trollocs bewegte sich. Sie mußten tot sein.
Und Tam wartete.
Er rannte durch die Vordertür hinein, blieb stehen und
würgte. Dieser Gestank! Das einzige, womit er den
Gestank vergleichen konnte, war ein Stall, den man
monatelang nicht ausgemistet hatte. Mehr fiel ihm nicht
ein. Häßliche Schmierstreifen zogen sich über die Wände.
Er versuchte nur durch den Mund zu atmen und
durchsuchte das Durcheinander am Boden. In einem der
Schränke hatte sich ein Wassersack befunden.
Ein schabendes Geräusch hinter ihm ließ ihm das Blut
in den Adern gefrieren, und er fuhr herum, wobei er
beinahe über die Reste des Tisches fiel. Er fing sich und
stöhnte mit so fest zusammengebissenen Zähnen, daß ihn
das Gebiß schmerzte – sonst hätten die Zähne geklappert.
Einer der Trollocs taumelte hoch. Die Schnauze eines
Wolfs ragte unter eingesunkenen Augen hervor. Flache
gefühllose Augen, und nur zu menschlich im Aussehen.
Spitze haarige Ohren zuckten unaufhörlich. Auf spitzen
Ziegenhufen stieg er über einen seiner toten Begleiter.
Der gleiche schwarze Kettenpanzer wie bei den anderen
schabte an Lederhosen entlang, und an der Seite hing ein
riesiges sichelförmiges Schwert.
Er murmelte etwas in seiner kehligen Stimme, und
dann sagte er: »Andere gehen weg. Narg bleiben. Narg
schlau.« Die Worte klangen verzerrt und waren schwer zu
verstehen. Sie kamen aus einer Kehle, die nicht für die
menschliche Sprache geschaffen war. Der Tonfall soll
beruhigend klingen, dachte Rand, aber er konnte den
Blick nicht von den fleckigen, langen und scharfen Zähnen
wenden, die jedesmal aufblitzten, wenn die Kreatur
sprach. »Narg wissen, manche kommen zurück manchmal.
Narg warten. Du nicht brauchen Schwert. Legen Schwert
hin.«
Bis der Trolloc das gesagt hatte, hatte Rand überhaupt
nicht gemerkt, daß er Tams Schwert schwankend in den
Händen hielt, die Spitze auf das Riesenwesen gerichtet. Es
überragte Rand um ein vielfaches. Brustkorb und Arme
hätten Meister Luhhan vergleichsweise zu einem Zwerg
gemacht.
»Narg nicht verletzen.« Er kam gestikulierend einen
Schritt näher. »Du legen Schwert hin.« Das dunkle Haar
auf den Handrücken war so dicht wie Fell. »Bleib mir
vom Leib«, sagte Rand. Er wünschte, seine Stimme klänge
fester. »Warum habt ihr das getan? Warum?«
»Vlja daeg roghda!« Aus dem Knurren wurde schnell
ein vielzahniges Lächeln. »Leg Schwert hin. Narg nicht
weh tun. Myrddraal wollen sprechen dich.« Kurz blitzte
etwas wie ein Gefühl auf der verzerrten Fratze auf. Angst.
»Andere kommen zurück, du sprechen Myrddraal.« Er tat
wieder einen Schritt vorwärts. Eine große Hand legte sich
um den Schwertgriff. »Du legen Schwert hin.«
Rand befeuchtete sich die Lippen. Myrddraal! Heute
nacht erwachten die schlimmsten Legenden zum Leben.
Wenn ein Blasser kam, dann waren die Trollocs dagegen
harmlos zu nennen. Er mußte entkommen. Aber zog der
Trolloc erst einmal diese massive Klinge, dann hatte er
keine Chance mehr. Er zwang sich zu einem unsicheren
Lächeln. »In Ordnung.« Der Griff um den Schwertknauf
festigte sich. Er ließ die Hände fallen. »Ich werde reden.«
Aus dem Wolfslächeln wurde ein Knurren, und der
Trolloc stürzte sich auf ihn. Rand hatte nicht geglaubt, daß
etwas so Großes sich so schnell bewegen konnte.
Verzweifelt riß er das Schwert hoch. Der monströse
Körper prallte auf seinen und schleuderte ihn gegen die
Wand. Schlagartig blieb Rand die Luft weg. Er schnappte
nach Luft, als sie beide zu Boden fielen, der Trolloc
obenauf. Er versuchte sich verzweifelt von der
erdrückenden Last zu befreien. Er mußte dem Griff der
kräftigen Hände und dem zuschnappenden Gebiß
ausweichen.
Plötzlich verkrampfte sich der Trolloc, und dann lag er
bewegungslos da. Rand, zerschlagen, zerschürft und halb
unter der Last erstickt, die auf ihm ruhte, lag für einen
Moment einfach ungläubig da. Dann kam er schnell
wieder zu Sinnen und wand sich schließlich unter der
Leiche hervor. Es war tatsächlich eine Leiche. Die
blutverschmierte Klinge von Tams Schwert ragte aus der
Mitte des Trollocrückens. Er hatte es rechtzeitig
hochbekommen. Auch Rands Hände waren
blutverschmiert, und das Blut hatte einen schwärzlichen
Fleck auf seinem Hemd hinterlassen. Der Magen drehte
sich ihm um, und er schluckte ein paarmal heftig, um sich
nicht übergeben zu müssen. Er zitterte so sehr wie auf
dem Höhepunkt seiner Angst, aber diesmal vor
Erleichterung, daß er noch am Leben war.
Andere kommen zurück, hatte der Trolloc gesagt. Die
anderen Trollocs würden zum Hof zurückkehren. Und ein
Myrddraal dazu, ein Blasser. Den Geschichten nach waren
die Blassen zwanzig Fuß groß, hatten feurige Augen und
ritten auf Schatten wie auf Pferden. Wenn ein Blasser sich
zur Seite drehte, dann verschwand er. Wände konnten ihn
nicht aufhalten. Er mußte tun, wozu er gekommen war,
und schnell verschwinden.
Er stöhnte vor Anstrengung, als er den Körper des
Trollocs herumwuchtete, um das Schwert herausziehen zu
können. Beinahe wäre er weggerannt, als geöffnete Augen
ihn anstarrten. Er brauchte eine Weile, bis ihm klar
wurde, daß die Augen glasig und tot waren. Er wischte
sich die Hände an einem zerrissenen Lumpen ab –
morgens war er noch eins von Tams Hemden gewesen –
und zog die Klinge heraus. Er reinigte das Schwert und
ließ den Lumpen zögernd fallen. Es fehlt an Zeit,
Ordnung zu halten, dachte er und mußte unwillkürlich
lachen. Schnell biß er die Zähne zusammen. Kein Laut! E r
hatte keine Ahnung, wie sie das Haus jemals wieder so
sauber bekommen sollten, daß sie darin wohnen konnten.
Der schreckliche Gestank hatte sich vielleicht schon in den
Balken festgesetzt. Keine Zeit für Sauberkeit. Vielleicht
auch keine Zeit mehr für irgend etwas...
Er war sicher, daß er vieles vergessen würde, was sie
brauchten, aber Tam wartete und die Trollocs kamen
sicherlich zurück. Er rannte herum und suchte schnell
zusammen, was ihm gerade einfiel. Decken aus dem
Schlafzimmer und saubere Tücher, um Tams Wunde zu
verbinden. Umhänge und Mäntel. Einen Wassersack, den
er sonst immer mitnahm, wenn er die Schafe auf die
Weide trieb. Ein sauberes Hemd. Er wußte nicht, wann er
die Zeit finden würde, sich umzuziehen, aber er wollte bei
der ersten Gelegenheit das blutverschmierte Hemd
ablegen. Die kleinen Beutel mit Weidenrinde und die
anderen Medikamente waren Teil eines dunklen
schlammverschmierten Bündels, das er kaum zu berühren
wagte.
Ein Eimer Wasser, den Tam hereingebracht hatte, stand
immer noch am Kamin, wie durch ein Wunder unversehrt
und voll. Daraus füllte er den Wassersack, und im Rest
wusch er sich hastig die Hände. Noch einmal lief er eine
kurze Runde durchs Haus, um mitzunehmen, was er
übersehen hatte. In den Trümmern fand er seinen Bogen.
Er war am stärksten Punkt sauber auseinandergebrochen
worden. Er schauderte, als er die Bruchstücke fallen ließ.
Was er jetzt hatte, mußte ausreichen. Schnell legte er alles
vor der Tür auf einen Stapel.
Als letztes, bevor er das Haus verließ, zog er aus dem
Durcheinander auf dem Boden eine Sturmlaterne heraus.
Sie enthielt immer noch Öl. Er zündete sie mit einer der
Kerzen an, und eilte, die Laterne in einer Hand und das
Schwert in der anderen, nach draußen. Er wußte nicht,
was er in der Scheune vorfinden würde. Der Schafpferch
ließ nichts Gutes erwarten. Aber er brauchte den Karren,
um Tam nach Emondsfeld zu bringen, und für den Karren
brauchte er Bela. Die Notwendigkeit erweckte ein wenig
Hoffnung in ihm.
Das Scheunentor stand offen. Ein Flügel knarrte in den
Angeln, als der Wind ihn bewegte. Innen sah alles
zunächst aus wie immer. Dann fiel sein Blick auf leere
Boxen. Die Türen waren aus den Angeln gerissen. Bela
und die Kuh waren fort. Schnell lief er in den hinteren
Teil der Scheune. Der Karren lag auf der Seite. Die Hälfte
der Speichen waren aus den Rädern gebrochen. Eine
Achse war nur noch ein Stumpf von einem Fuß Länge.
Die Verzweiflung, die er bis jetzt zurückgehalten hatte,
packte ihn nun mit Gewalt. Er glaubte nicht, daß er Tam
bis zum Dorf tragen konnte, wenn Tam das
Getragenwerden überhaupt aushalten würde. Der Schmerz
brachte ihn vielleicht noch schneller um als das Fieber.
Aber es war die einzig verbleibende Möglichkeit. Hier
hatte er alles getan, was er tun konnte. Als er sich zum
Gehen wandte, fiel sein Blick auf den abgehackten Teil
der Achse, der auf dem Stroh lag. Plötzlich lächelte er.
Hastig stellte er die Laterne auf den strohbedeckten
Boden und legte das Schwert daneben. Im nächsten
Moment plagte er sich mit dem Karren ab, kippte ihn nach
hinten, damit er aufrecht stand, wenn auch weitere
Speichen brachen, und stemmte sich dann mit der Schulter
dagegen, um ihn in die richtige Lage zu bringen. Die
unbeschädigte Achse ragte gerade heraus. Er schnappte
sich das Schwert und hackte auf das gut abgelagerte
Eschenholz ein. Zu seiner Überraschung flogen dicke
Späne unter den Hieben davon, und er konnte es genauso
schnell wie mit einer guten Axt spalten. Als die Achse
befreit war, blickte er die Klinge bewundernd an. Selbst
die schärfste Axt wäre stumpf geworden, hätte man mit
ihr dieses harte alte Holz bearbeitet, aber das Schwert
wirkte genauso strahlend scharf wie vorher. Er berührte
die Schneide mit dem Daumen und steckte ihn dann ganz
schnell in den Mund. Die Klinge war tatsächlich immer
noch so scharf wie ein Rasiermesser.
Aber er hatte keine Zeit zum Staunen. Er blies die
Laterne aus – es war nicht notwendig, daß zu allem
Überfluß auch noch die Scheune abbrannte –, nahm die
beiden Achsen und rannte zum Haus, um die anderen
Sachen zu holen.
Alles zusammen war eine unhandliche Last. Nicht
sonderlich schwer, aber schwer zu halten und zu tragen.
Die Achsen des Karrens schwankten und drehten sich in
seinen Armen, als er über das gepflügte Feld stolperte. Im
Wald wurde es noch schlimmer. Sie verfingen sich in
Bäumen und brachten ihn beinahe zu Fall. Er hätte sie
leichter hinterherschleifen können, aber dann hätte er eine
deutliche Spur hinterlassen. Er hatte vor, damit so lange
wie nur möglich zu warten.
Tam war noch dort, wo er ihn verlassen hatte. E r
schien zu schlafen. Rand hoffte es jedenfalls. In plötzlicher
Angst ließ er seine Lasten fallen und legte eine Hand auf
des Vaters Stirn. Tam atmete noch, doch das Fieber war
schlimmer geworden.
Die Berührung weckte Tam auf, aber er war nicht klar.
»Bist du es, Junge?« hauchte er. »Mach mir Sorgen um
dich. Träume von verflossenen Tagen. Alpträume.« E r
murmelte undeutlich und schlief wieder ein.
»Mach dir keine Sorgen«, murmelte Rand. Er legte
Tam Mantel und Umhang über, um den Wind abzuhalten.
»Ich bringe dich so schnell wie möglich zu Nynaeve.«
Während er weiterredete, ebenso zur eigenen Beruhigung,
wie um Tam zu helfen, schälte er sich aus dem
blutbefleckten Hemd. In seiner Hast, es loszuwerden,
bemerkte er die Kälte kaum. Eilig zog er das saubere
Hemd an. Sein altes Hemd wegzuwerfen, war ein Gefühl,
als habe er gerade ein Bad genommen. »Wir werden im
Nu sicher im Dorf sein, und die Seherin bringt alles in
Ordnung. Du wirst schon sehen. Alles wird wieder gut.«
Der Gedanke wirkte wie ein Leuchtfeuer, als er seinen
Mantel anzog und sich bückte, um Tams Wunde zu
versorgen. Wenn sie einmal das Dorf erreichten, wären
sie sicher, und Nynaeve würde Tam heilen. Er mußte ihn
nur hinbringen.
KAPITEL 6

Der Westwald
Im Mondlicht konnte Rand wirklich nicht genau sehen,
was er tat, aber Tams Wunde schien nur ein
oberflächlicher Schnitt am Brustkorb zu sein, nicht länger
als seine Handfläche. Er schüttelte ungläubig den Kopf. E r
hatte erlebt, wie sein Vater schlimmere Wunden als diese
abbekam und nicht einmal mit der Arbeit aufhörte,
nachdem er sie ausgewaschen hatte. Hastig suchte er Tams
Körper von Kopf bis Fuß nach einer weiteren Verletzung
ab, die das Fieber hervorgerufen haben konnte, aber
außer dem einen Schnitt fand er nichts.
So klein er war, war diese Verletzung doch ernstzuneh-
men; das Fleisch um die Wunde herum schien zu glühen,
als er es berührte. Es war noch heißer als der übrige Kör-
per Tams, und der war heiß genug, daß Rand die Zähne
zusammenbiß. Wundfieber dieser Art konnte tödlich sein
oder einen Mann zum Wrack machen. Er ließ Wasser aus
dem Sack auf ein Tuch laufen und legte es auf Tams Stirn.
Er bemühte sich, den Schnitt über den Rippen seines
Vaters so sanft wie möglich auszuwaschen und zu
bandagieren, aber trotzdem unterbrach leises Stöhnen das
fieberhafte Gemurmel Tams. Kahle Äste ragten über sie
hinweg und bewegten sich bedrohlich im Wind. Sicher
würden die Trollocs weiterziehen, wenn sie Tam und ihn
nicht finden konnten, wenn sie zum Bauernhaus
zurückkehrten und es immer noch leer vorfanden. E r
versuchte, daran zu glauben, aber die willkürliche
Zerstörungswut, die sich im Haus gezeigt hatte, die völlige
Sinnlosigkeit dieser Handlungsweise, ließen wenig
Spielraum für Hoffnung. Die Annahme, sie würden
aufgeben, bevor sie jeden getötet und alles zerstört hatten,
was sie finden konnten, war gefährlich. Er konnte sich
solchen Leichtsinn nicht leisten.
Trollocs. Licht über uns, Trollocs! Kreaturen aus den
Geschichten eines Gauklers, die aus der Nacht
hervorbrachen und die Tür einschlugen. Und ein Blasser.
Das Licht erleuchte mich – ein Blasser!
Plötzlich merkte er, daß er die losen Enden der Binde
in den bewegungslosen Händen hielt. Erstarrt wie ein
Kaninchen, das den Schatten des Falken gesehen hat,
dachte er verächtlich. Mit ärgerlichem Kopfschütteln
beendete er das Bandagieren von Tams Brustwunde.
Auch wenn er wußte, was zu tun war, und damit auch
vorankam, so bewahrte ihn das doch nicht davor, Angst zu
haben. Wenn die Trollocs wiederkamen, würden sie
bestimmt beginnen, den Wald nach Spuren der
entkommenen Menschen zu durchsuchen. Die Leiche des
Gefährten, den er getötet hatte, würde ihnen zeigen, daß
Menschen nicht weit sein konnten. Und wer wußte schon,
was ein Blasser tun würde oder wozu er imstande war?
Und zu alledem hatte er laut und klar seines Vaters
Kommentar über das Gehör der Trollocs im Gedächtnis.
Er mußte den Impuls unterdrücken, eine Hand auf Tams
Mund zu legen, um sein Stöhnen und Murmeln zu
beenden. Einige können Spuren mit der Nase aufspüren.
Was kann ich dagegen tun? Nichts. Er konnte seine Zeit
nicht damit verschwenden, über Probleme nachzudenken,
die er sowieso nicht lösen konnte.
»Du mußt leise sein«, flüsterte er in seines Vaters Ohr.
»Die Trollocs werden zurückkommen.«
Tam sprach leise und heiser. »Du bist immer noch
schön, Kari. Genauso schön wie als Mädchen.«
Rand zog eine Grimasse. Seine Mutter war schon seit
fünfzehn Jahren tot. Wenn Tam sich einbildete, sie sei
noch am Leben, dann war das Fieber schlimmer, als Rand
gedacht hatte. Wie konnte er ihn vom Sprechen abhalten,
jetzt, da es lebensnotwendig war, leise zu sein? »Mutter
möchte, daß du leise bist«, flüsterte Rand. Er hielt inne
und räusperte sich. Seine Kehle schien wie zugeschnürt.
Sie hatte sanfte Hände gehabt, daran erinnerte er sich
noch. »Kari möchte, daß du ruhig bist. Hier. Trink.«
Tam schluckte gierig aus dem Wassersack, aber schnell
drehte er den Kopf wieder zur Seite und murmelte leise
vor sich hin, zu leise, als daß Rand es verstehen konnte.
Er hoffte, daß jagende Trollocs es ebenfalls nicht hören
konnten.
Schnell fuhr er fort, alles Notwendige zu tun. E r
wickelte drei der mitgenommenen Decken so um die vom
Karren abgetrennten Achsen, daß er eine provisorische
Bahre erhielt. Er würde sie nur an einem Ende tragen
können – das andere mußte am Boden schleifen –, aber es
war nicht anders zu bewerkstelligen. Aus der letzten
Decke schnitt er mit dem Messer einen langen Streifen
heraus. Den band er auf beiden Seiten an den Achsen fest.
So sanft wie möglich hob er Tam auf die Bahre. Jedes
Aufstöhnen seines Vaters drang ihm wie ein Messer durch
die Seele. Er hatte immer so unzerstörbar gewirkt. Nichts
konnte ihn erschüttern; nichts konnte ihn aufhalten oder
hemmen. Daß er sich jetzt in einem solchen Zustand
befand, raubte Rand beinahe allen Mut, den er vorher
noch aufgebracht hatte. Aber er mußte weitermachen. Nur
das bewegte ihn noch. Er mußte.
Als Tam endlich auf der Bahre lag, zögerte Rand, doch
dann nahm er Tam den Schwertgürtel ab. Als er ihn selbst
anlegte, fühlte sich das ganz eigenartig an. Er fühlte sich
so seltsam. Gürtel und Scheide und Schwert zusammen
wogen nur ein paar Pfund, aber als er die Klinge in die
Scheide steckte, schien ihn eine schwere Last
hinunterzuziehen.
Er ärgerte sich über sich selbst. Dies war nicht der
richtige Ort und nicht die richtige Zeit für blödsinnige
Einbildungen. Es war nur ein großes Messer. Wie oft
hatte er davon geträumt, ein Schwert zu tragen und
Abenteuer zu erleben! Wenn er einen Trolloc damit
getötet hatte, konnte er sich auch gegen andere zur Wehr
setzen. Allerdings wußte er nur zu gut, daß ihm bei dem
Kampf im Haus das reine Glück zur Seite gestanden hatte.
Und in seinen erträumten Abenteuern hatten ihm nie die
Zähne geklappert; er war auch nie durch die Nacht um
sein Leben gerannt, und sein Vater war in den Träumen
nie dem Tod nahe gewesen.
Hastig wickelte er die letzte Decke um Tam und legte
den Wassersack und die Tücher neben seinen Vater auf die
Bahre. Er holte tief Luft, kniete zwischen den Enden der
Achsen nieder und zog sich den Deckenstreifen über den
Kopf. Er wickelte ihn sich über die Schultern und unter
die Arme. Als er die Stangen ergriff und sich auf-richtete,
ruhte der größte Teil der Last auf seinen Schul-tern. Es
schien nicht besonders schlimm. Er versuchte,
gleichmäßig auszuschreiten, und so machte er sich auf
nach Emondsfeld. Die Bahre schlitterte hinter ihm her.
Er hatte sich bereits entschlossen, zur Haldenstraße zu
gehen und dieser nach Emondsfeld zu folgen. Die Gefahr
wäre wahrscheinlich an der Straße noch größer, aber
wenn er sich in der Dunkelheit im Wald verlief, würde
Tam erst recht keine Hilfe erhalten.
Bevor er es merkte, war er schon fast auf der
Haldenstraße eingelangt. Als er erkannte, wo er sich
befand, schnürte es ihm die Kehle zu. In hektischer Eile
drehte er die Bahre um und schleppte sie ein Stück zurück
in den Schutz der Bäume. Dort blieb er stehen, um nach
Luft zu schnappen und zu warten, daß sich das Klopfen
seines Herzens beruhigte. Immer noch schweratmend
wandte er sich nach Osten, auf Emondsfeld zu.
Sich zwischen den Bäumen hindurchzuwinden, war
schwieriger, als Tam die Straße hinunterzuschleifen, und
die Dunkelheit der Nacht half ihm auch nicht gerade, aber
die Straße selbst zu benutzen, wäre heller Wahnsinn
gewesen. Sie wollten ja das Dorf erreichen, ohne Trollocs
zu treffen, möglichst auch ohne welche zu sehen, falls ihm
dieser Wunsch erfüllt wurde. Er mußte ja annehmen, daß
die Trollocs ihnen immer noch auf der Fährte waren, und
früher oder später würde ihnen der Gedanke kommen, sie
seien zum Dorf gelaufen. Das war ja der offensichtliche
Weg, und die Haldenstraße bot sich dazu an. Er befand
sich selbst hier zwischen den Bäumen der Straße noch
näher, als ihm lieb war. Die Nacht und die Schatten unter
den Bäumen schienen nur eine dürftige Deckung zu
gewähren, die sie vor den Blicken aller jener schützte, die
sich auf der Straße befanden.
Das zwischen kahlen Ästen hindurchdringende
Mondlicht war nur eine notdürftige Beleuchtung, die
seinen Augen vorgaukelte, er könne erkennen, wie der
Boden vor ihm beschaffen war. Auf Schritt und Tritt
stolperte er über Wurzeln, alte Dornensträucher verfingen
sich an seinen Beinen, und kaum sichtbare Mulden oder
Boden-erhebungen brachten ihn fast zu Fall, wenn der
Fuß auf Luft traf, wo er festen Boden erwartete, oder
wenn die Zehen gegen ein unerwartetes Hindernis stießen.
Tams Gemurmel wurde zu lautem Aufstöhnen, wenn seine
Bahre zu heftig über eine Wurzel oder einen Stein
holperte.
Aus Unsicherheit starrte er so angestrengt in die
Dunkelheit, daß ihm die Augen brannten, und er lauschte,
wie er noch nie gelauscht hatte. Jedes Schaben eines
Zweiges gegen einen anderen, jedes Rascheln ließen ihn
innehalten. Die Ohren schmerzten ihm beinahe vor
Anstrengung, und er traute sich kaum zu atmen, aus
Angst, einen warnenden Laut zu überhören – und aus
Angst, einen solchen zu hören. Erst wenn er sicher war,
daß es nur der Wind war, ging er weiter.
Langsam kroch ihm die Erschöpfung durch Arme und
Beine, unterstützt vom Nachtwind, der durch Umhang und
Mantel drang, als sei kaum ein Schutz vorhanden. Das
Gewicht der Bahre, das am Anfang so gering schien,
drohte ihn jetzt zu Boden zu ziehen. Er stolperte nun nicht
nur des unebenen Bodens wegen. Der ständige Kampf
gegen das Fallen erforderte genausoviel Energie wie das
Ziehen der Bahre. Er war vor dem Morgengrauen
aufgestanden, um die notwendigen Arbeiten auf dem Hof
zu erledigen, und zusammen mit der Fahrt nach
Emondsfeld ergab das nun beinahe einen vollen Tag mit
Arbeit rund um die Uhr. An einem normalen Abend säße
er jetzt vor dem Kamin, um ein Buch aus Tams kleiner
Sammlung zu lesen, bevor er ins Bett ging. Die beißende
Kälte drang ihm bis auf die Knochen, und der Magen
erinnerte ihn daran, daß er seit den Honigkuchen von Frau
al'Vere nichts mehr gegessen hatte.
Er fluchte ärgerlich in sich hinein. Warum hatte er
vom Hof nicht Eßbares mitgenommen? Ein paar Minuten
mehr hätten auch nichts ausgemacht. Die Trollocs wären
doch wohl nicht innerhalb einer solch kurzen Zeitspanne
zurückgekommen! Wenigstens das Brot! Natürlich würde
Frau al'Vere darauf bestehen, ihm ein heißes Abendessen
einzutrichtern, wenn sie die Schenke erreichten. Vielleicht
eine dampfende Platte ihrer dicken Lammkoteletts. Und
etwas von dem Brot, das sie gebacken hatte. Und eine
Menge heißen Tee.
»Sie kamen wie eine Flutwelle über den Drachenwall«,
sagte Tam plötzlich mit kräftiger, wütender Stimme, »und
haben das Land mit Blut überschwemmt. Wie viele
mußten sterben für Lamans Sünde?«
Rand stürzte beinahe, so überrascht war er. Müde legte
er die Bahre nieder und befreite sich von dem Decken-
streifen. Er hatte bereits einen brennenden Striemen quer
über die Schultern hinterlassen. Er rollte die Schultern ein
wenig, um die verknoteten Muskeln zu entspannen. Dann
kniete er neben Tam nieder. Er griff nach dem Wasser-
sack und spähte dabei zwischen den Bäumen hindurch.
Vergebens bemühte er sich, die Straße hinauf und hinun-
ter klar auszumachen. Das Mondlicht war zu trüb, auch
wenn die Straße nur etwa zwanzig Schritt entfernt war.
Nichts außer den Schatten bewegte sich dort. Nichts außer
Schatten.
»Es gibt keine Flut von Trollocs, Vater. Jedenfalls
heute nicht. Wir sind bald in Emondsfeld in Sicherheit.
Trink ein bißchen Wasser!«
Tam schob den Wassersack mit einem Arm zur Seite,
der anscheinend seine ganze Kraft zurückgewonnen hatte.
Er packte Rand beim Kragen und zog ihn so nahe zu sich
heran, daß Rand die Hitze des Fiebers auf der eigenen
Wange spürte. »Sie haben sie als Wilde bezeichnet«, sagte
Tam eindringlich. »Die Narren sagten, man könne sie wie
Abfall aus dem Weg räumen. Wie viele Schlachten mußten
verlorengehen, wie viele Städte brennen, bis sie endlich
der Wahrheit ins Auge sahen? Bis die Nationen endlich
gemeinsam gegen sie kämpften?« Er lockerte den Griff an
Rands Kragen, und Trauer klang in seiner Stimme auf.
»Das Feld von Marath mit einem Teppich von Leichen
bedeckt und kein Laut außer dem Krächzen der Raben und
dem Summen der Fliegen. Die abgedeckten Türme von
Cairhien brannten wie Fackeln in der Nacht. Den ganzen
Weg bis zu den Leuchtenden Wällen brannten und
mordeten sie, bevor sie zurückgeschlagen wurden. Den
ganzen Weg nach...«
Rand legte die Hand auf des Vaters Mund. Ein Laut
wiederholte sich, ein rhythmisches Trampeln, dessen
Richtung man zwischen den Bäumen nicht bestimmen
konnte, erst leiser und dann, als der Wind sich drehte,
wieder lauter. Er runzelte die Stirn und drehte den Kopf
langsam hin und her, um festzustellen, woher der Laut
kam. Aus dem Augenwinkel nahm er eine leichte Bewe-
gung wahr, und einen Moment später beugte er sich tief
über Tam. Er war überrascht, den Griff des Schwertes
fest in seiner Hand zu fühlen, aber der größere Teil seines
Verstands konzentrierte sich auf die Haldenstraße, als sei
die Straße der einzig wirkliche Teil dieser ganzen Welt.
Schwankende Schatten im Osten formten sich langsam
zur Gestalt eines Reiters auf einem Pferd, der gefolgt
wurde von großen massigen Figuren, die rennen mußten,
um mit dem Pferd mitzuhalten. Das blasse Mondlicht
spiegelte sich in glitzernden Speerspitzen und
Axtschneiden. Rand glaubte von vornherein nicht daran,
es könnten Dorfbewohner sein, die ihnen zu Hilfe kamen.
Er wußte, wer sie waren. Er fühlte es, als würden seine
Knochen mit Sand abgeschliffen, noch bevor sie ganz nahe
waren. Dann enthüllte ihm das Mondlicht den
Kapuzenmantel des Reiters, einen Mantel, der vom Wind
unberührt herunterhing. Alle Gestalten erschienen in
dieser Nacht schwarz, und die Hufe des Pferdes
verursachten die gleichen Geräusche wie die jedes anderen
Pferdes, doch Rand erkannte dieses Pferd ganz eindeutig.
Hinter dem dunklen Reiter kamen Alptraumgestalten
mit Hörnern und Schnauzen und Schnäbeln, eine
Doppelreihe von Trollocs, alle im Gleichschritt. Die
Stiefel und Hufe schlugen im gleichen Moment auf dem
Boden auf, als würden sie von einem einzigen Verstand
gesteuert. Rand zählte zwanzig, die da an ihnen
vorbeieilten. Er fragte sich, welche Art von Mensch es
wagte, so vielen Trollocs den Rücken zuzuwenden. Oder
überhaupt einem Trolloc.
Die rennende Truppe verschwand in westlicher
Richtung. Das Stampfen der Füße und Hufe verklang in
der Dunkelheit, aber Rand blieb, wo er war, und bewegte
keinen Muskel. Etwas in ihm sagte ihm, er müsse erst
sicher, absolut sicher sein, daß sie fort waren, bevor er
sich wieder in Bewegung setzen durfte. Nach einer ganzen
Weile atmete er wieder tief ein und wollte sich gerade
aufrichten.
Diesmal gab das Pferd überhaupt keinen Laut von sich.
In unheimlicher Stille kehrte der Reiter zurück. Sein
schattenhaftes Reittier blieb alle paar Schritte in seinem
langsamen Schreiten die Straße hinunter stehen. Windböen
erhoben sich und heulten durch den Wald. Der Mantel des
Reiters hing unbeweglich wie der Tod herunter. Wo
immer das Pferd stehenblieb, bewegte sich der
kapuzenbedeckte Kopf hin und her, als der Reiter den
Wald beobachtete, suchte. Genau gegenüber von Rand
blieb das Pferd wieder stehen. Die düstere Öffnung der
Kapuze zeigte in die Richtung, wo Rand über seinem
Vater kauerte.
Rands Hand verkrampfte sich um den Schwertgriff. E r
fühlte den Blick genau wie am Morgen und erzitterte
wieder vor dem Haß, obwohl er ihn nicht sehen konnte.
Dieser verhüllte Mann haßte jeden und alles, alles, was
lebte. Trotz des kalten Windes rann Schweiß über Rands
Gesicht. Dann bewegte sich das Pferd weiter, ein paar
lautlose Schritte, und blieb erneut stehen. Schließlich
konnte Rand nur noch einen kaum wahrnehmbaren
Schatten in der Nacht erkennen, weit entfernt die Straße
hinunter. Er hatte ihn keinen Augenblick aus den Augen
verloren. Wenn er ihn aus dem Blickfeld verlor, würde er
ihn das nächste Mal vielleicht erst sehen, wenn dieses
lautlose Pferd ihn schon erreicht hatte.
Mit einem Mal huschte der Schatten zurück und flog in
unhörbarem Galopp vorbei. Der Reiter blickte vorwärts,
als er in westlicher Richtung durch die Nacht raste, in
Richtung Verschleierte Berge. Auf den Bauernhof zu.
Rand sackte in sich zusammen, rang nach Luft und
wischte sich den kalten Schweiß mit einem Ärmel von der
Stirn. Es interessierte ihn nicht mehr, warum die Trollocs
gekommen waren. Falls er das niemals herausfand, war es
auch recht, wenn es nur zu Ende war.
Mit einem kurzen Schütteln riß er sich wieder
zusammen und sah erst einmal nach seinem Vater. Tam
murmelte immer noch vor sich hin, aber so leise, daß
Rand die Worte nicht verstand. Er versuchte, ihm etwas
zu Trinken beizubringen, aber das Wasser floß über das
Kinn des Vaters. Tam hustete und erstickte fast an dem
Rinnsal, das tatsächlich den Weg in seinen Mund fand, und
dann schwatzte er leise weiter, als hätte es gar keine
Unterbrechung gegeben.
Rand goß noch ein wenig Wasser auf das Tuch, das auf
Tams Stirn lag, legte den Wassersack zurück auf die
Bahre und begab sich wieder zwischen die beiden Stangen.
Er ging los, als habe er die ganze Nacht geschlafen,
aber die neue Kraft hielt nicht lange vor. Die Angst
vertrieb zunächst die Erschöpfung, doch obwohl die Angst
blieb, kehrte die Erschöpfung schnell zurück. Bald
stolperte er wieder mühsam vorwärts und versuchte,
Hunger und schmerzende Muskeln zu vergessen. E r
konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu
setzen, ohne zu Fall zu kommen. Dabei stellte er sich
Emondsfeld vor, die Fensterläden geöffnet und die Häuser
hell zur Winternacht beleuchtet, Menschen, die sich
lautstark begrüßten, wenn sie sich gegenseitig besuchten,
Fiedeln, die die Straßen mit Melodien wie Jaems Torheit
und Der Reiherflug erfüllten. Haral Luhhan würde einen
Schnaps zuviel trinken und mit der Stimme eines
Ochsenfrosches das Lied Der Wind in der Gerste singen –
das tat er immer –, bis seine Frau es fertigbrachte, ihn
zum Schweigen zu bringen, und Cenn Buie würde sich
entschließen, den anderen zu beweisen, daß er immer noch
ebensogut tanzen konnte wie früher, und Mat würde einen
Streich zu spielen versuchen, der ein wenig danebenging,
und jeder würde wissen, daß er dafür verantwortlich war,
auch wenn es keiner beweisen konnte. Er konnte beinahe
schon wieder lächeln, als er daran dachte, wie es wohl
wieder würde.
Nach einer Weile sprach Tam wieder.
»Avendesora. Man sagt, er erzeuge keinen Samen, aber
sie brachten einen jungen Zweig nach Cairhien, einen
Schößling. Ein königliches Geschenk, um den König zu
erstaunen.« Obgleich er sich zornig anhörte, sprach er
sehr leise. Rand hatte Mühe, ihn zu verstehen. Jeder, der
ihn hören könnte, würde auch das Schleifen der Bahre
über den Boden wahrnehmen. Rand schlurfte weiter und
hörte nur so halb hin. »Sie schließen niemals Frieden.
Niemals. Aber sie brachten einen Schößling als Zeichen
des Friedens. Hundert Jahre lang wuchs er. Hundert Jahre
Friede mit denjenigen, die nie mit Fremden Frieden
schließen. Warum hat er ihn gefällt? Warum? Blut war
der Preis für Avendoraldera. Blut der Preis für Lamans
Stolz.« Er verfiel wieder in leises Murmeln.
Müde fragte sich Rand, welchen Fiebertraum Tam wohl
jetzt träumte. Avendesora. Der Baum des Lebens sollte
alle möglichen wundersamen Eigenschaften besitzen, aber
keine der Geschichten erwähnte irgendeinen Schößling
oder irgendwelche Leute. Es gab nur einen Baum, und der
gehörte dem Grünen Mann.
Heute morgen noch wäre er sich lächerlich
vorgekommen, wenn er ernsthaft über den Grünen Mann
und den Baum des Lebens nachgedacht hätte. Das waren
nur Geschichten. Wirklich? Heute morgen waren auch
Trollocs nur eine Geschichte. Vielleicht waren alle
Geschichten genauso wirklich wie die Nachrichten, die
Händler und Kaufleute brachten – alle Erzählungen der
Gaukler und alle Sagen, abends am Kamin erzählt.
Vielleicht traf er demnächst tatsächlich den Grünen Mann
oder einen Ogier-Riesen oder einen wilden Aielmann mit
schwarzem Schleier.
Er merkte, daß Tam wieder deutlicher sprach,
jedenfalls immer wieder einmal. Von Zeit zu Zeit hörte er
auf, um Luft zu holen, und dann fuhr er fort, als glaube
er, die ganze Zeit durchgehend gesprochen zu haben. »...
Schlachten sind immer heiß, sogar im Schnee.
Schweißhitze. Bluthitze. Nur der Tod ist kühl.
Bergabhang... einzige Ort, der nicht nach Tod stank.
Mußte dem Gestank entfliehen... dem Bild... hörte ein
Kind weinen. Ihre Frauen kämpfen manchmal an der Seite
der Männer, aber warum sie sie mitnahmen, weiß ich
nicht... Hat dort das Kind allein zur Welt gebracht, bevor
sie an ihren Verletzungen starb... das Kind mit ihrem
Umhang bedeckt, doch der Wind... blies den Umhang
fort... das Kind, blau vor Kälte. Hätte auch tot sein
sollen... weinte dort. Weinte im Schnee. Ich konnte ein
Kind nicht liegenlassen... keine eigenen Kinder... immer
gewußt, daß du Kinder wolltest. Ich wußte, du würdest es
als dein eigenes annehmen, Kari. Ja, Mädchen. Rand ist
ein guter Name. Ein guter Name.«
Plötzlich verloren Rands Beine das letzte bißchen Kraft.
Er stolperte und fiel auf die Knie. Tam stöhnte bei dem
plötzlichen Ruck auf, und der Deckenstreifen schnitt Rand
in die Schultern. Doch beides war ihm nicht bewußt.
Wenn in diesem Moment ein Trolloc vor ihm
aufgesprungen wäre – er hätte ihn nur verständnislos
angestarrt. Er blickte über die Schulter zurück auf Tam,
der in wortlose Lippenbewegungen versunken war.
Fieberträume, dachte er dumpf. Durch Fieber bekam man
immer schlimme Träume, und dies war eine Zeit für
Alpträume, selbst wenn man kein Fieber hatte. »Du bist
mein Vater«, sagte er laut und streckte die Hand aus, um
Tam zu berühren, »und ich bin...« Das Fieber war
schlimmer geworden. Viel schlimmer.
Grimmig entschlossen, wenn auch mühsam stand er auf.
Tam murmelte wieder etwas, aber Rand weigerte sich,
zuzuhören. Er stemmte sich mit dem ganzen Gewicht
gegen das improvisierte Geschirr. Er versuchte, sich auf
einen bleiernen Schritt nach dem anderen zu
konzentrieren und darauf, die Sicherheit von Emondsfeld
zu erreichen. Doch er konnte das Echo nicht aus dem
Hinterkopf vertreiben. Er ist mein Vater. Es war nur ein
Fiebertraum. Er ist mein Vater. Es war nur ein
Fiebertraum. Licht, wer bin ich?
KAPITEL 7

Aus dem Wald hinaus


Während Rand immer noch durch den Wald stolperte,
färbte sich der Himmel zur ersten Morgendämmerung.
Zuerst bemerkte er es gar nicht. Als er es schließlich
merkte, blickte er voller Erstaunen zum heller werdenden
Himmel auf. Gleichgültig, was seine Augen ihm nun
zeigten – er konnte kaum glauben, daß er die ganze Nacht
damit verbracht hatte, die Entfernung vom Hof nach
Emondsfeld zurückzulegen. Natürlich konnte man die
Haldenstraße bei Tag, trotz Steinen und Schlaglöchern,
nicht mit dem Wald bei Nacht vergleichen. Andererseits
schien es Tage her zu sein, seit er den schwarzgekleideten
Reiter auf der Straße gesehen hatte, und Wochen, seit Tam
und er sich zum Abendessen hinsetzen wollten. Er fühlte
den Deckenstreifen nicht mehr, der ihm in die Schultern
schnitt, aber er fühlte ja überhaupt nichts mehr außer
einer Taubheit, die bis zu den Füßen vorgedrungen war.
Allerdings betraf das nicht die Körpermitte. Er atmete
schwer und stoßartig, Hals und Lunge brannten, und der
im Magen wühlende Hunger erzeugte ihm
Schwindelgefühle. Ihm war schlecht.
Tam war schon vor einer Weile verstummt. Rand war
sich nicht sicher, wie lange es her war, daß Tams
Fiebergemurmel aufgehört hatte, aber er wagte nicht,
stehenzubleiben und nach Tam zu sehen. Wenn er jetzt
innehielt, wäre er nicht mehr in der Lage, erneut
aufzubrechen. Außerdem konnte er für Tam im Moment
nichts weiter tun, gleichgültig, in welchem Zustand er sich
befand. Die einzige Hoffnung lag vor ihnen: das Dorf. E r
bemühte sich unter Qualen, schneller zu gehen, doch die
Beine staksten hölzern weiter wie bisher. Den Wind und
die Kälte bemerkte er kaum noch.
Der schwache Geruch eines Holzfeuers drang ihm in
die Nase. Also war er fast da, wenn er den Rauch aus den
Schornsteinen des Dorfs riechen konnte. Ein müdes
Lächeln wollte sich gerade auf seinem Gesicht abzeichnen,
als ihm ein Gedanke kam und er die Stirn runzelte. Der
Rauch ballte sich dicht zusammen dort vorn, zu dicht. Bei
diesem kalten Wetter konnte es schon sein, daß jeder
Schornstein im Dorf gleichzeitig rauchte, aber sogar dafür
war die Rauchdecke zu dicht. Das Bild der Trollocs auf
der Straße kam ihm ins Gedächtnis. Trollocs, die von
Osten her kamen, aus der Richtung von Emondsfeld. E r
blickte angestrengt nach vorn und versuchte, die ersten
Häuser zu erkennen. Er war bereit, um Hilfe zu rufen,
sobald er nur irgend jemanden sah, selbst wenn es Cenn
Buie war oder einer der Coplins. Eine leise Stimme in
seinem Innern sagte ihm, er solle froh sein, wenn dort
noch jemand imstande sei, ihm zu helfen. Plötzlich sah er
zwischen den letzten kahlen Bäumen hindurch ein Haus
stehen. Das brachte seine Beine dazu, sich
weiterzubewegen. Doch die Hoffnung wandelte sich zu
tiefer Verzweiflung, als er ins Dorf hineintaumelte.
Die Hälfte der Häuser von Emondsfeld bestand nur
noch aus verkohlten Trümmerhaufen. Rußgeschwärzte
gemauerte Kamine ragten wie schmutzige Finger aus
Haufen angekohlter Balken hervor. Dünne Rauchfäden
kräuselten sich aus den Ruinen. Dorfbewohner mit
schmutzverkrusteten Gesichtern, viele noch in
Nachtgewändern, suchten in der Asche herum, bargen
hier einen Kochtopf oder stocherten dort einsam mit
einem Stock in den Trümmern herum. Die wenigen aus
den Flammen geretteten Besitztümer säumten die Straßen:
Hohe Spiegel und lackierte Kommoden und Schränkchen
standen da im Staub zwischen Stühlen und Tischen, waren
unter Bettwäsche und Kochgeschirr und dürftigen
Kleidungshaufen und persönlicher Habe begraben.
Der Streifen der Zerstörung zog sich planlos durch das
Dorf. Fünf Häuser hintereinander waren unversehrt
geblieben, während anderswo nur ein einziges inmitten
der Ruinen stand.
Jenseits des Weinquellenbaches schlugen die Flammen
der drei riesigen Bel-Tine-Freudenfeuer hoch, von
einigen Männern überwacht. Dicke schwarze Rauchsäulen
beugten sich im Wind nach Norden zu, mit
Funkenschauern durchsetzt. Einer der Dhurranhengste
von Meister al'Vere schleifte etwas, das Rand nicht
erkennen konnte, über den Boden auf die Wagenbrücke
und die Flammen zu. Bevor er noch die Deckung der
Bäume verlassen hatte, eilte Haral Luhhan mit rußigem
Gesicht auf ihn zu, eine Holzfälleraxt in der kräftigen
Faust. Das ascheverkrustete Nachthemd des bulligen
Schmieds hing bis auf seine Stiefel hinunter, und durch
einen Riß erkannte Rand die bösartig-rote Schwellung
einer Brandwunde auf seiner Brust. Er kniete neben der
Bahre nieder. Tams Augen waren geschlossen, seine
Atmung ging flach und röchelnd.
»Trollocs, Junge?« fragte Meister Luhhan mit
rauchheiserer Stimme. »Hier auch. Hier auch. Na ja,
vielleicht hatten wir sogar noch mehr Glück als Verstand
bei der ganzen Sache. Jedenfalls muß Tam zur Seherin.
Wo bei allem Licht steckt sie nur? Egwene!«
Egwene, die gerade mit einer Ladung zu Binden
zerrissener Bettücher vorbeikam, sah sich nach ihnen um,
ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Ihre Augen blickten
in eine unbestimmte Ferne; dunkle Ringe ließen sie noch
größer erscheinen, als sie sowieso schon waren. Dann sah
sie Rand und blieb stehen. Sie atmete zittrig ein.
»O nein, Rand! Dein Vater? Ist er...? Komm, ich
bringe dich zu Nynaeve.«
Rand war zu müde und zu entsetzt, um auch nur ein
Wort herauszubringen. Die ganze Nacht über war
Emondsfeld für ihn ein Zufluchtsort gewesen, wo Tam
und er in Sicherheit sein würden. Und nun brachte er es
lediglich fertig, entsetzt auf ihr vom Rauch fleckiges Kleid
zu starren. Er bemerkte einige Kleinigkeiten am Rande,
die ihm im Moment sehr wichtig erschienen. Die Knöpfe
am Rücken ihres Kleides waren schief zugeknöpft. Und
ihre Hände waren sauber. Er fragte sich, wieso ihre Hände
sauber waren, obwohl ihre Wangen von Ruß verschmiert
waren.
Meister Luhhan schien zu verstehen, was ihn bewegte.
Er legte seine Axt auf die Bahre, nahm ihr hinteres Ende
auf und rückte einmal kurz damit, um ihn aufzufordern,
Egwene zu folgen. Rand stolperte wie ein Schlafwandler
hinter ihr her. Kurz tauchte in ihm die Frage auf, ob
Meister Luhhan wußte, daß die Kreaturen Trollocs waren,
doch der Impuls verflog sofort wieder. Wenn Tam sie
erkannte, gab es keinen Grund, warum Haral Luhhan das
nicht auch tat.
»All die Geschichten sind wahr«, murmelte er.
»Es scheint so, Junge«, sagte der Schmied. »Es scheint
so.«
Rand hörte nur halb hin. Er konzentrierte sich darauf,
Egwenes schlanker Gestalt zu folgen. Er hatte sich so weit
zusammengerissen, daß er wünschte, sie würde sich etwas
beeilen, obwohl sie in Wirklichkeit ja langsam genug ging,
damit ihr die beiden Männer mit ihrer Last folgen
konnten. Sie führte sie über das Grün bis zum Haus der
Calders. Die Kanten des Strohdachs waren verkohlt und
die weißgetünchten Wände rußverschmiert. Von den
Häusern zu beiden Seiten waren nur die Grundmauern und
zwei Haufen mit Asche und verkohlten Balken
übriggeblieben. Eines davon hatte Berin Thane gehört,
einem der Brüder des Müllers. Das andere gehörte Abell
Cauthon, Mats Vater. Sogar die Schornsteine waren
umgestürzt.
»Wartet hier!« bat Egwene und sie sah sie an, als
erwarte sie eine Antwort. Als sie einfach nur
stehenblieben, murmelte sie etwas in sich hinein und eilte
ins Haus.
»Mat«, sagte Rand, »ist er...?«
»Er lebt«, sagte der Schmied. Er setzte sein Ende der
Bahre ab und richtete sich langsam auf. »Ich habe ihn vor
kurzem gesehen. Es ist erstaunlich, daß überhaupt noch
welche von uns leben. So, wie sie mein Haus und die
Schmiede angriffen, hätte man denken können, ich habe
dort Gold und Edelsteine versteckt. Alsbet hat einem mit
einer Bratpfanne den Schädel eingeschlagen. Heute
morgen hat sie einen Blick auf die Asche unseres Hauses
getan, sich dann den größten Hammer aus den Überresten
der Schmiede geschnappt und ist auf die Jagd gegangen,
für den Fall, daß sich einer versteckt hat und nicht mit den
anderen fortgerannt ist. Ich habe fast Mitleid mit so einem
Wesen, falls sie eines findet.« Er nickte in Richtung auf
das Haus der Calders. »Frau Calder und ein paar andere
haben einige der Verletzten aufgenommen, deren Häuser
zerstört worden sind. Wenn die Seherin sich um Tam
gekümmert hat, werden wir ihm ein Bett suchen.
Vielleicht in der Schenke. Der Bürgermeister hat das
schon angeboten, aber Nynaeve meint, die Verwundeten
würden schneller gesund, wenn nicht so viele zusammen
lägen.«
Rand sank auf die Knie. Er schüttelte die Deckengurte
ab und überprüfte erschöpft Tams Decke. Tam bewegte
sich nicht und gab auch keinen Laut von sich, selbst dann,
als Rands Hände ihn zur Seite schoben. Aber wenigstens
atmete er noch. Mein Vater. Das andere war nur
Fiebergeschwätz. »Was wird, wenn sie zurückkommen?«
fragte er schwerfällig. »Das Rad webt, wie das Rad es
wünscht«, sagte Meister Luhhan unsicher. »Falls sie
zurückkommen... Na ja, jetzt sind sie erst mal weg. Also
sammeln wir auf, was übriggeblieben ist, und bauen
wieder neu, was sie niedergerissen haben.« Er seufzte.
Sein Gesicht erschlaffte, als er sich den Nacken rieb Jetzt
erst erkannte Rand, daß dieser schwere Brocken von
Mann genauso erschöpft war wie er, vielleicht sogar noch
mehr. Der Schmied sah sich um und schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht, daß das heute noch ein tolles Bel-Tine-
Fest wird. Aber wir werden durchkommen. Wir haben's
immer geschafft.« Plötzlich hob er seine Axt wieder auf
und machte ein entschlossenes Gesicht. »Auf mich wartet
Arbeit. Mach dir keine Sorgen, Junge. Die Seherin wird
sich um ihn kümmern, und das Licht hilft uns allen. Und
wenn das Licht nicht hilft, dann helfen wir uns eben
selbst. Denk daran, wir sind die Menschen der Zwei
Flüsse!«
Immer noch auf Knien sah Rand das Dorf an, während
der Schmied wegging. Er sah es eigentlich zum erstenmal
richtig an. Meister Luhhan hatte recht, dachte er und war
überrascht, daß er von diesem Anblick nicht überrascht
war. Die Menschen wühlten immer noch in den Ruinen
ihrer Häuser herum, aber sogar nach der kurzen Zeit, die
er hier verbracht hatte, war es ersichtlich, daß sich viele
von ihnen nun zielbewußt bewegten. Er fühlte förmlich
ihre wachsende Entschlossenheit. Aber er fragte sich
eines: Sie hatten Trollocs gesehen, hatten sie aber auch den
schwarzgekleideten Reiter sehen können? Hatten sie seinen
Haß gefühlt?
Nynaeve und Egwene traten aus dem Calder-Haus, und
er sprang auf die Füße. Oder vielmehr: Er versuchte
aufzustehen, aber es glich mehr einem Vorwärtsfallen,
und er landete beinahe mit dem Gesicht im Staub.
Die Seherin kniete sich sofort neben die Bahre, ohne
ihn eines Blickes zu würdigen. Ihr Gesicht und Kleid
waren noch schmutziger als bei Egwene, und um ihre
Augen lagen die gleichen schwarzen Ringe. Doch auch
ihre Hände waren sauber. Sie legte die Hände auf Tams
Gesicht und zog mit den Daumen seine Augenlider hoch.
Mit einem Stirnrunzeln entfernte sie die Decken und schob
die Bandage zur Seite, um die Wunde zu untersuchen.
Bevor Rand erkennen konnte, wie die Verletzung aussah,
hatte sie das zusammengefaltete Tuch schon wieder
darübergezogen. Seufzend zog sie Decke und Umhang bis
zu Tams Kinn hoch und strich sie glatt. Sie war dabei so
sanft, als brächte sie ein Kind zu Bett.
»Ich kann nichts tun«, sagte sie. Sie mußte die Hände
auf die Knie stützen, um sich aufzurichten. »Es tut mir
leid, Rand.«
Einen Moment lang stand er verständnislos da, als sie
sich wieder dem Haus zuwandte, dann jedoch rannte er ihr
nach und riß sie herum, damit sie ihn ansah.
»Er stirbt!« schrie er.
»Ich weiß«, sagte sie einfach, und die
Selbstverständlichkeit in ihrem Tonfall warf ihn um.
»Du mußt etwas tun! Du mußt! Du bist die Seherin!«
Schmerz verzerrte ihr Gesicht, aber nur einen Moment
lang. Dann strahlte sie wieder hohlwangige
Entschlossenheit aus, und ihre Stimme klang fest und
gefühllos. »Ja, das bin ich. Ich weiß, was ich mit meinen
Medikamenten anfangen kann, und ich weiß, wann es zu
spät ist. Glaubst du, ich täte nichts, wenn es noch eine
Möglichkeit gäbe? Aber ich kann nicht. Ich kann nicht,
Rand. Und es gibt noch andere, die mich brauchen.
Menschen, denen ich helfen kann.«
»Ich habe ihn so schnell wie möglich zu dir gebracht«,
murmelte er. Obwohl das Dorf in Ruinen lag, hatte er
immer noch auf die Seherin gehofft. Diese Hoffnung war
nun gestorben, und er fühlte sich ausgebrannt.
»Ich weiß«, sagte sie sanft. Sie berührte seine Wange
mit der Hand. »Du bist nicht schuld daran. Mehr als du
konnte niemand tun. Es tut mir leid, Rand, aber ich muß
mich um andere kümmern. Unsere Schwierigkeiten
beginnen gerade erst, fürchte ich.«
Blicklos starrte er ihr nach, bis sich die Haustür hinter
ihr geschlossen hatte. Er konnte keinen anderen Gedanken
fassen als den, daß sie nicht half.
Plötzlich taumelte er einen Schritt zurück, als sich
Egwene ihm an die Brust warf und ihn umarmte. Sonst
war ihre Umarmung schon fest genug, um ihm ein
gelegentliches Ächzen zu entlocken, diesmal jedoch blickte
er nur still zur Tür hinüber, hinter der seine Hoffnungen
verschwunden waren.
»Es tut mir so leid, Rand«, sagte sie an seiner Brust.
»Licht, ich wollte, ich könnte irgend etwas tun!«
Betäubt schlang er die Arme um sie. »Ich weiß. Ich...
ich muß etwas tun, Egwene. Ich weiß nicht, was, aber ich
kann ihn nicht so...« Seine Stimme brach, und sie
umarmte ihn noch fester.
»Egwene!« Bei Nynaeves Ruf vom Haus her fuhr
Egwene zusammen. »Egwene, ich brauche dich! Und
wasch dir die Hände noch einmal!«
Sie befreite sich aus Rands Umarmung. »Sie braucht
meine Hilfe, Rand.«
»Egwene!«
Er glaubte, ein Schluchzen zu hören, als sie wegrannte.
Dann war sie fort, und er stand allein neben der Bahre. E r
blickte einen Augenblick lang hinunter auf Tam und fühlte
nichts als leere Hilflosigkeit. Plötzlich wurde sein Gesicht
hart. »Der Bürgermeister wird wissen, was zu tun ist«,
sagte er und hob die Bahre erneut an. »Der Bürgermeister
weiß es.« Bran al'Vere wußte immer einen Rat. Mit
müder Hartnäckigkeit machte er sich auf zur
Weinquellenschenke.
Ein Dhurran-Hengst trabte an ihm vorbei. Die Enden
der Zugriemen seinen Geschirrs waren an den Knöcheln
einer großen Gestalt festgemacht, die in eine schmutzige
Decke gehüllt war. Mit steifen Haaren bedeckte Arme
wurden hinter der Decke hergeschleift, und an einer Ecke
der Decke lugte ein Ziegenhorn hervor. Die Zwei Flüsse
waren kein Ort, wo Legenden zu schrecklicher
Wirklichkeit würden. Wenn Trollocs irgendwohin paßten,
dann in die Welt dort draußen, an Orte, wo es Aes Sedai
gab und falsche Drachen, und das Licht allein wußte, was
noch aus den Erzählungen der Gaukler zum Leben
erwachte. Nicht die Zwei Flüsse. Nicht gerade
Emondsfeld.
Als er über das Grün ging, sprachen ihn Leute an,
einige aus den Ruinen ihrer Häuser heraus, und fragten
ihn, ob sie helfen könnten. Er hörte sie nur als
Hintergrundgeräusche, selbst wenn sie ein Stück neben
ihm hergingen, als sie ihn ansprachen. Ohne zu denken,
brachte er Worte hervor, die ihnen mitteilten, er benötige
keine Hilfe, und für alles werde schon gesorgt. Als sie ihn
mit sorgenvollen Blicken verließen und einige noch
versicherten, sie würden Nynaeve Bescheid geben,
bemerkte er auch das kaum. Er gestattete sich nur einen
bewußten Gedanken, und der galt dem Zweck seines
Marsches. Bran al'Vere konnte etwas tun, um Tam zu
helfen. Er bemühte sich, nicht daran zu denken, was das
sein mochte. Aber der Bürgermeister wäre in der Lage,
etwas zu tun, sich etwas einfallen zu lassen.
Die Schenke war fast vollständig von der Zerstörung
des Dorfes unberührt geblieben. An den Wänden konnte
man ein paar Brandspuren erkennen, aber die roten
Dachziegel schimmerten im Sonnenschein so hell wie
immer. Alles, was vom Wagen des Händlers
übriggeblieben war, waren die rußigen eisernen Reifen
um die Räder, die gegen den verkohlten, am Boden
liegenden Kasten gelehnt waren. Die großen Halbringe,
die die Plane getragen hatten, ragten schief, jeder in einem
anderen Winkel, daraus hervor.
Thom Merrilin saß mit übergeschlagenen Beinen auf
den Steinen der alten Grundmauer und schnippelte
sorgfältig mit einer kleinen Schere angesengte Enden von
den Flicken auf seinem Umhang. Als Rand in seine Nähe
kam, legte er Umhang und Schere beiseite. Ohne zu
fragen, ob Rand Hilfe brauche, hüpfte er herunter und
nahm das hintere Ende der Bahre auf.
»Rein? Natürlich, natürlich. Mach dir keine Sorgen,
Junge. Eure Seherin wird sich seiner schon annehmen. Ich
habe sie bei der Arbeit seit letzter Nacht beobachtet, und
sie packt das richtig an und hat einige Fähigkeiten. Es
könnte wirklich viel schlimmer sein. Letzte Nacht sind
einige ums Leben gekommen. Vielleicht nicht viele, aber
jeder ist für mich einer zuviel. Der alte Fain ist einfach
verschwunden, und das ist für mich am schlimmsten. Die
Trollocs essen alles. Du solltest dem Licht danken, daß
dein Vater noch hier ist und lebt und die Seherin ihn
heilen kann.«
Rand blockte die Stimme ab – Er ist mein Vater –, so
daß die Worte zu bedeutungslosen Lauten wurden, die er
genausowenig beachtete wie das Summen einer Fliege. E r
konnte nicht noch mehr Sympathie und keine weiteren
Versuche ertragen, seine Stimmung zu heben. Nicht jetzt.
Nicht, bis Bran al'Vere ihm gesagt hatte, wie man Tam
helfen konnte.
Plötzlich stand er vor der Tür der Schenke, und da war
etwas mit einem angekohlten Stock draufgekritzelt: eine
schwarze Träne, die auf ihrer Spitze stand. So viel war
geschehen, daß es ihn kaum überraschte, die Tür der
Weinquellenschenke mit dem Drachenzahn markiert zu
finden. Warum jemand den Wirt oder seine Familie des
Bösen beschuldigte oder daß sie Unglück brächten,
verstand er nicht, doch die Nacht hatte ihn von einem
überzeugt: Alles war möglich. Wirklich alles.
Als der Gaukler ihn mit der Bahre anstieß, hob er den
Türriegel und trat ein.
Der Schankraum war bis auf Bran al'Vere leer und
kalt, denn niemand hatte Zeit gefunden, Feuer zu machen.
Der Bürgermeister saß an einem der Tische und stippte
seine Schreibfeder mit konzentrierter Miene in ein
Tintenfaß. Sein graumelierter Kopf war über eine
Schriftrolle gebeugt. Sein Nachthemd hatte er nachlässig
in die Hose gesteckt – es beulte sich um die breiten Hüften
kräftig aus –, und er kratzte unbewußt einen nackten Fuß
mit den Zehen des anderen. Seine Füße waren schmutzig,
als sei er mehr als einmal draußen gewesen, ohne sich die
Mühe zu machen, Stiefel anzuziehen, und das trotz des
kalten Wetters. »Was habt Ihr für Probleme?« wollte er
wissen, ohne aufzublicken. »Macht schnell! Ich muß zwei
Dutzend Dinge auf einmal erledigen und noch mehr, was
schon vor einer Stunde hätte erledigt werden sollen. Also
habe ich wenig Zeit und Geduld. Also? Raus damit!«
»Meister al'Vere?« sagte Rand. »Es ist mein Vater.«
Der Kopf des Bürgermeisters fuhr hoch. »Rand?
Tam?« Er warf die Feder auf den Tisch und sprang so
schnell auf, daß er den Stuhl umstieß. »Vielleicht hat uns
das Licht doch nicht ganz verlassen. Ich fürchtete, ihr
wäret beide tot. Bela galoppierte eine Stunde, nachdem die
Trollocs weg waren, ins Dorf, schaumbedeckt und
schnaufend, als sei sie den ganzen Weg vom Hof hierher
so galoppiert, und ich dachte... Keine Zeit jetzt. Wir
bringen ihn hinauf.« Er packte das Ende der Bahre und
schob den Gaukler mit der Schulter zur Seite. »Ihr holt
die Seherin, Meister Merrilin. Und sagt ihr, ich habe Euch
aufgetragen, sie ganz schnell zu holen! Sei beruhigt, Rand.
Du kommst bald in ein gutes, weiches Bett. Geht, Gaukler,
geht schon!«
Thom Merrilin verschwand durch die Tür, bevor Rand
etwas sagen konnte. »Nynaeve hat nichts getan. Sie sagt,
sie könne ihm nicht helfen. Ich wußte... Ich hoffte, Ihr
hättet eine Idee.«
Meister al'Vere sah Rand scharf an und schüttelte dann
den Kopf. »Wir werden sehen, Junge. Wir werden sehen.«
Aber er hörte sich nicht mehr so selbstbewußt an.
»Bringen wir ihn zu Bett. Zumindest kann er dort
angenehmer liegen.«
Rand ließ sich auf die Treppe am Ende des
Schankraums zuschieben. Er bemühte sich sehr, die
Hoffnung zu bewahren, daß Tam wieder gesund würde,
aber er hatte sich damit von Anfang an auf dünnem Eis
bewegt, das erkannte er jetzt, und die plötzlichen Zweifel
in der Stimme des Bürgermeisters erschütterten ihn
vollends.
Im zweiten Stock der Schenke befand sich ein halbes
Dutzend sauberer, gut eingerichteter Zimmer mit Blick
auf das Grün. Sie wurden meist von den Händlern oder
von Leuten aus Wachhügel oder Devenritt benutzt, und
die Kaufleute, die jedes Jahr kamen, waren oft überrascht,
hier solch gemütliche Zimmer vorzufinden. Drei davon
waren belegt, und der Bürgermeister drängte Rand zu
einem der leerstehenden Räume.
Schnell wurden der Bettüberwurf und die Decke auf
dem breiten Bett zurückgezogen, und Tam wurde auf die
dicke Federmatratze gelegt. Ein Gänsedaunenkissen kam
unter seinen Kopf. Er gab keinen Laut von sich, als er
umgebettet wurde, außer seinem heiseren Atmen – nicht
einmal ein Stöhnen –, aber der Bürgermeister tat Rands
Ängste mit einer Handbewegung ab und trug ihm auf,
Feuer zu machen, um die Kälte aus dem Raum zu
vertreiben. Während Rand Holz und Zunder aus der Kiste
neben dem Kamin nahm, zog Bran die Vorhänge zurück
und ließ das Morgenlicht herein. Dann wusch er sanft
Tams Gesicht. Als der Gaukler zurückkehrte, erwärmte
das lodernde Feuer im Kamin bereits den Raum.
»Sie kommt nicht«, verkündete Thom Merrilin, als er
in das Zimmer stolzierte. Er sah Rand böse an. Seine
buschigen weißen Brauen zogen sich zusammen. »Du hast
mir nicht gesagt, daß sie ihn schon gesehen hat. Sie hat
mir fast den Kopf abgerissen.«
»Ich dachte... Ich weiß nicht... Vielleicht konnte der
Bürgermeister etwas ausrichten, ihr möglicherweise
klarmachen...« Die Hände zu zitternden Fäusten geballt,
wandte sich Rand vom Kamin ab und Bran zu. »Meister
al'Vere, was kann ich tun?« Der füllige Mann schüttelte
hilflos den Kopf. Er legte ein frisch befeuchtetes Tuch auf
Tams Stirn und vermied es, Rand in die Augen zu sehen.
»Ich kann nicht einfach zuschauen, wie er stirbt, Meister
al'Vere! Ich muß etwas tun.« Der Gaukler machte eine
Bewegung, als wolle er etwas sagen. Rand ging eifrig
darauf ein. »Habt Ihr eine Idee? Ich versuche alles!«
»Ich habe mich nur gefragt«, sagte Thom und stopfte
die langstielige Pfeife mit seinem Daumen, »ob der
Bürgermeister weiß, wer den Drachenzahn an seine Tür
gekritzelt hat.« Er starrte in den Pfeifenkopf, sah dann
Tam an und steckte die Pfeife zwischen die Zähne, ohne
sie anzuzünden. Er seufzte. »Jemand scheint ihn nicht
mehr leiden zu können. Oder vielleicht kann dieser
Jemand seine Gäste nicht leiden.«
Rand sah ihn enttäuscht an und wandte sich ab, um ins
Feuer zu starren. Seine Gedanken tanzten wie die
Flammen, und wie die Flammen drehten sie sich immer
nur um eines. Er würde nicht aufgeben. Er konnte nicht
einfach nur herumstehen und zuschauen, wie Tam starb.
Mein Vater, dachte er grimmig. Mein Vater. Wenn das
Fieber einmal unterdrückt war, konnte man das auch noch
aufklären. Aber zuerst das Fieber. Nur – wie?
Bran al'Veres Mund verzog sich, als er auf Rands
Rücken blickte, und der Blick, den er dem Gaukler
zuwarf, hätte gereicht, um einen Bären zurückschrecken
zu lassen. Aber Thom sah ihn nur erwartungsvoll an, als
habe er nichts bemerkt.
»Vielleicht hat das einer der Congars getan oder ein
Coplin«, sagte der Bürgermeister schließlich, »nur das
Licht allein weiß, wer. Das ist eine große Brut, und wenn
die jemandem etwas Übles nachsagen können oder auch
nicht, dann tun sie es. Im Gegensatz zu denen redet Cenn
Buie, als hätte er Honig auf der Zunge.«
»Die Wagenkolonne, die kurz vor Sonnenaufgang
ankam«, meinte der Gaukler. »Die hatten noch nicht
einmal einen Trolloc aus der Ferne gerochen und wollten
nur wissen, wann das Fest anfange. Als ob die nicht sehen
konnten, daß das halbe Dorf niedergebrannt war.«
Meister al'Vere nickte erbittert. »Ein Zweig der
Familie. Aber der Rest ist auch nicht viel besser. Dieser
Narr Darl Coplin verbrachte die halbe Nacht damit, von
mir zu verlangen, ich solle Moiraine und Meister Lan aus
dem Dorf weisen, als ob ohne sie überhaupt noch ein Dorf
hier stünde.«
Rand war der Unterhaltung ohne besondere
Aufmerksamkeit gefolgt, aber die letzte Bemerkung reizte
ihn zu einer Frage. »Was haben sie getan?«
»Also, sie hat aus klarem Himmel einen Kugelblitz
herabgerufen«, erwiderte Meister al'Vere. »Hat ihn direkt
in die Trollocs hineinzischen lassen. Der kann Bäume
zerschmettern. Den Trollocs ging es nicht anders.«
»Moiraine?« fragte Rand ungläubig, und der
Bürgermeister nickte.
»Frau Moiraine. Und Meister Lan gebrauchte sein
Schwert wie einen Wirbelwind. Sein Schwert? Der ganze
Mann ist eine Waffe und schien sich an zehn Orten
gleichzeitig aufzuhalten. Versengen soll mich das Licht,
aber ich würde es immer noch nicht glauben, wenn ich
nicht rausgegangen wäre und gesehen hätte...« Er rieb
sich mit der Hand über die kahle Kopfhaut. »Die
Winternachtbesuche fangen gerade an, wir haben die
Hände voll von Geschenken und Honigkuchen und die
Köpfe voll Wein, und dann knurren die Hunde, und
plötzlich rasen die beiden aus der Schenke, rennen durch
das Dorf und schreien etwas von Trollocs. Ich dachte, sie
hätten zuviel getrunken. Schließlich – Trollocs? Und dann,
bevor irgend jemand wußte, was eigentlich geschah,
waren diese – Dinger plötzlich neben uns auf den Straßen,
hieben mit ihren Schwertern nach Menschen, warfen
Fackeln in Häuser und heulten, daß einem das Blut
gefrieren konnte.« Er stieß einen Laut des Ekels aus.
»Wir rannten herum wie Hühner, wenn der Fuchs auf
dem Hühnerhof ist, bis Meister Lan uns dazu brachte, uns
zu wehren.«
»Kein Grund, so hart mit Euch selbst ins Gericht zu
gehen«, sagte Thom. »Ihr habt Euch wacker geschlagen.
Nicht jeder Trolloc, der jetzt dort draußen liegt, ist von
den Händen der beiden gefallen.«
»Mmmm... ja, stimmt schon.« Meister al'Vere nahm
sich sichtlich zusammen. »Ich kann es trotzdem kaum
glauben. Eine Aes Sedai in Emondsfeld. Und Meister Lan
ist ein Behüter.«
»Eine Aes Sedai?« flüsterte Rand. »Das kann nicht sein.
Ich habe mit ihr gesprochen. Sie ist keine... Sie scheint
nicht...«
»Glaubst du, sie tragen Abzeichen?« fragte der
Bürgermeister sarkastisch. »Aes Sedai vielleicht, und zwar
quer über den Rücken gemalt? Und vielleicht noch
›Gefahr. Wegbleiben!‹« Plötzlich klatschte er sich gegen
die Stirn. »Aes Sedai. Ich bin ein alter Narr und
gebrauche meinen Verstand nicht mehr. Es gibt eine
Möglichkeit, Rand, falls du sie wahrnehmen willst. Ich
kann es dir nicht befehlen, und wenn es um mich ginge,
weiß ich nicht, ob ich mich trauen würde.«
»Eine Möglichkeit?« fragte Rand. »Ich werde jede
Möglichkeit nutzen, wenn es hilft.«
»Aes Sedai können heilen, Rand. Versengen soll mich
das Licht, Junge, aber du hast doch die Geschichten auch
gehört. Sie können heilen, wo Medikamente versagen.
Gaukler, Ihr hättet Euch noch eher daran erinnern sollen
als ich. Gauklergeschichten sind voll von Aes Sedai.
Warum habt Ihr nichts gesagt und mich statt dessen
herumrätseln lassen?«
»Ich bin hier fremd«, sagte Thom, wobei er seine
unangezündete Pfeife sehnsuchtsvoll ansah, »und Herr
Coplin ist nicht der einzige, der mit Aes Sedai nichts zu
tun haben will. Ich habe nichts dagegen, daß der
Vorschlag von Euch kommt.«
»Eine Aes Sedai«, murmelte Rand und versuchte, sich
die Frau, die ihn angelächelt hatte, als Figur in einer
dieser Geschichten vorzustellen. Hilfe von einer Aes Sedai
sei manchmal schlimmer als überhaupt keine Hilfe,
erzählten die Geschichten, wie Gift in einer Pastete, und
wie die Köder beim Angeln, so hatten ihre Geschenke
immer einen Haken. Plötzlich erschien ihm die Münze in
seiner Tasche, die ihm Moiraine gegeben hatte, so heiß
wie brennende Kohle. Er konnte sich gerade noch
beherrschen, sie nicht aus seinem Mantel zu reißen und
aus dem Fenster zu werfen.
»Niemand will etwas mit Aes Sedai zu tun haben,
Junge«, sagte der Bürgermeister langsam. »Es ist die
einzige Möglichkeit, die ich sehe, und die Entscheidung ist
nicht leicht. Ich kann sie nicht für dich treffen, aber ich
habe von Frau Moiraine – ich sollte sie wohl besser
Moiraine Sedai nennen, denke ich – bisher nur Gutes
erlebt. Manchmal«, – er sah Tam bedeutungsvoll an –
»muß man ein Risiko eingehen, auch wenn es nur eine
kleine Hoffnung bedeutet.«
»Einige Geschichten sind auf ihre Art ziemlich
übertrieben«, fügte Thom hinzu, als reiße man die Worte
aus ihm heraus. »Jedenfalls manche. Und schließlich,
Junge: Du hast gar keine andere Wahl.«
»Ja«, seufzte Rand. Tam hatte immer noch keinen
Muskel bewegt; seine Augen waren eingesunken, als läge
er bereits die ganze Woche über krank danieder. »Ich...
Ich gehe und suche sie.«
»Auf der anderen Seite der Brücke«, sagte der Gaukler,
»wo sie – die toten Trollocs beseitigen. Aber sei
vorsichtig, Junge! Aes Sedai haben ihre eigenen Gründe,
etwas zu tun, und das sind manchmal ganz andere Gründe,
als wir glauben.«
Das letztere rief er Rand durch die geöffnete Tür nach.
Der mußte den Schwertgriff festhalten, damit ihm die
Scheide nicht zwischen die Beine geriet und ihn beim
Rennen zu Fall brachte, doch er nahm sich nicht die Zeit,
es abzuschnallen. Er polterte die Treppe hinunter und
stürzte aus der Schenke. Seine Erschöpfung war in diesem
Augenblick vergessen. Eine Chance für Tam, wie klein sie
auch sein mochte, war genug, um dafür die Folgen einer
schlaflosen Nacht zu überwinden, wenigstens für eine
Weile. Er wollte nicht daran denken, daß eine Aes Sedai
ihm diese Chance bot und was wohl der Preis dafür sein
würde. Und tatsächlich einer echten Aes Sedai
gegenüberzustehen... Er atmete tief ein und versuchte
noch schneller zu rennen.
Die Bel-Tine-Feuer befanden sich ein gutes Stück
jenseits der letzten Häuser im Norden des Dorfes an der
Westwaldseite der Straße nach Wachhügel. Der Wind
trieb die ölig-schwarzen Qualmsäulen immer noch vom
Dorf weg, aber trotzdem lag ein ekelhaft süßer Gestank in
der Luft, als habe man einen Braten um Stunden zu lange
am Spieß geröstet. Rand würgte, als er es roch, und
schluckte dann schwer, als er die Quelle des Gestanks
erkannte. Ein schöne Bescherung, so etwas mit Bel-Tine-
Feuern anzustellen! Die Männer, die sich um die Feuer
kümmerten, hatten sich Tücher über Nase und Mund
gebunden, aber ihren Grimassen konnte man ansehen, daß
der Essig, in den sie die Tücher getaucht hatten, nicht
ausreichte. Und wenn er auch den Gestank besiegte, so
wußten sie doch, daß er da war und sie wußten auch, was
sie taten.
Zwei Männer schnallten die Beine eines Trollocs von
den Zugleinen eines der großen Dhurrans ab. Lan, der
neben der Leiche kauerte, hatte die Decke weit genug
zurückgezogen, um die Schultern und den
ziegenbockähnlichen Kopf des Trollocs freizulegen. Als
Rand sich näherte, löste der Behüter gerade ein
Metallabzeichen – einen blutrot emaillierten Dreizack –
von einer dornenversehenen Schulter der schwarzen
Trolloc-Rüstung.
»Ko'bal«, verkündete er. Er warf das Abzeichen mit
der Handfläche in die Luft und fing es mit einem Knurren
wieder auf. »Damit sind es jetzt schon sieben Horden.«
Moiraine, die mit übereinandergeschlagenen Beinen am
Boden saß, schüttelte müde den Kopf. Quer über den
Knien lag ihr ein Wanderstock, der von einem Ende zum
anderen mit geschnitzten Ranken und Blumen bedeckt
war, und ihr Kleid sah so zerknittert aus, als habe sie es zu
lange getragen. »Sieben Horden. Sieben! So viele haben
sich seit den Trolloc-Kriegen nicht mehr zusammengetan.
Eine schlechte Nachricht nach der anderen. Ich habe
Angst, Lan. Ich dachte, wir hätten einen Tagesmarsch
aufgeholt, aber vielleicht sind wir noch weiter
zurückgefallen als vorher.«
Rand sah sie an und war nicht in der Lage, ein Wort
herauszubringen. Eine Aes Sedai. Er hatte versucht, sich
selbst zu überzeugen, daß sie nun, da er wußte, wer... was
sie war, auch nicht anders als zuvor aussah, und zu seiner
Überraschung war es auch so. Sie wirkte nicht mehr so
frisch – das Haar war wirr, und über die Nase zog sich ein
dünner Rußstreifen –, aber auch nicht allzu sehr
verändert. Sicher mußte es irgendein Anzeichen geben,
was sie als Aes Sedai kennzeichnete. Andererseits – wenn
das äußere Erscheinungsbild das innere widerspiegelte und
die Geschichten recht hatten, dann sollte sie eher wie ein
Trolloc aussehen als wie eine schöne Frau, die nichts von
ihrer Würde verlor, während sie im Schmutz saß. Und sie
konnte Tam helfen. Was es auch immer kosten sollte, das
war wichtiger als alles andere.
Er holte tief Luft. »Frau Moiraine... Ich meine,
Moiraine Sedai.« Beide drehten sich um und sahen ihn an.
Er erstarrte unter ihren Blicken. Das war nicht der
ruhige, lächelnde Blick, an den er sich vom Grün her
erinnerte. Ihr Gesicht war müde, doch ihre dunklen
Augen gehörten einem Falken. Aes Sedai. Zerstörer der
Welt. Marionettenspieler, die an Fäden zogen und daran
Throne und Völker tanzen ließen – nach welcher Melodie,
das wußten nur die Frauen von Tar Valon.
»Ein wenig Licht in der Dunkelheit«, murmelte die Aes
Sedai. Sie erhob die Stimme. »Wie steht es mit deinen
Träumen, Rand al'Thor?«
Er starrte sie verständnislos an. »Meine Träume?«
»Eine Nacht wie diese kann einem Mann zu Alpträumen
verhelfen, Rand. Wenn du Alpträume hast, mußt du mir
davon erzählen. Manchmal habe ich ein Mittel gegen
schlimme Träume.«
»Es ist alles in Ordnung mit meinen... Es ist mein
Vater. Er ist verletzt. Es ist nicht viel mehr als ein
Kratzer, aber das Fieber verzehrt ihn. Die Seherin hilft
nicht. Sie sagt, sie kann nicht helfen. Aber die
Geschichten...« Sie zog eine Augenbraue hoch, und er
hielt inne und schluckte. Licht, gibt es eigentlich eine
Geschichte über eine Aes Sedai, in der sie nicht die
Bösewichtin ist? Er sah den Behüter an, aber Lan schien
sich mehr für den toten Trolloc zu interessieren als für
Rands Worte. Er stammelte unter ihrem Blick weiter:
»Ich... äh... man sagt; Aes Sedai könnten heilen. Wenn Ihr
ihm helfen könnt... Was Ihr auch für ihn tun könnt... Was
es auch kostet... Ich meine...« Er atmete tief ein und
rasselte den Rest herunter. »Ich bezahle jeden Preis, der in
meiner Macht steht, wenn Ihr ihm helft. Alles.«
»Jeden Preis«, überlegte Moiraine laut und mehr zu
sich selbst. »Über den Preis sprechen wir später, Rand,
wenn überhaupt. Ich kann dir nichts versprechen. Eure
Seherin weiß schon, was sie tut. Ich werde mein
Möglichstes tun, aber meine Macht reicht nicht aus, um
das Rad am Drehen zu hindern.«
»Früher oder später holt der Tod jeden von uns«, sagte
der Behüter ernst, »außer, sie dienen dem Dunklen König,
und nur Narren sind bereit, den Preis dafür zu zahlen.«
Moiraine gab ein Glucksen von sich. »Verbreite keine
solche Weltuntergangsstimmung, Lan! Wir haben Grund
zum Feiern. Einen kleinen wohl nur, aber immerhin.« Sie
nahm den Stock, um auf die Beine zu kommen. »Bring
mich zu deinem Vater, Rand! Ich werde ihm helfen, so
gut ich es vermag. Zu viele hier haben meine Hilfe von
vornherein abgelehnt. Auch sie haben die Geschichten
gehört«, fügte sie trocken hinzu.
»Er ist in der Schenke«, sagte Rand. »Hier entlang. Und
ich danke Euch. Danke!«
Sie folgten, doch sein schneller Schritt holte rasch einen
Vorsprung heraus. Ungeduldig verhielt er, damit sie
aufholen konnten, und lief dann wieder voraus, so daß er
erneut warten mußte.
»Bitte beeilt Euch!« spornte er sie an. Er war so davon
besessen, Tam endlich Hilfe zu bringen, daß er die eigene
Tollkühnheit nicht bemerkte: zu versuchen, eine Aes Sedai
anzutreiben. »Das Fieber verzehrt ihn.«
Lan sah ihn zornig an. »Kannst du nicht sehen, wie
müde sie ist? Selbst mit einem Angreal glich das, was sie
letzte Nacht tat, dem Umherlaufen mit einem Sack voller
Steine auf dem Rücken. Ich weiß nicht, ob du das wert
bist, Schäfer, gleichgültig, was sie sagt.«
Rand schluckte und hielt den Mund.
»Nur ruhig, mein Freund«, sagte Moiraine. Ohne ihren
Schritt zu verlangsamen, hob sie den Arm und klopfte
dem Behüter auf die Schulter. Seine Gestalt ragte
schützend über ihr auf, als könne er ihr durch seine Nähe
allein Kraft verleihen. »Du denkst immer nur an mein
Wohl. Warum sollte er nicht genauso in bezug auf seinen
Vater denken?« Lan blickte finster drein, schwieg aber.
»Ich komme, so schnell ich kann, Rand, das verspreche
ich dir.«
Angesichts der Härte ihrer Augen und der Sanftheit
ihrer Stimme wußte Rand nicht, was er ihr glauben
konnte. Vielleicht paßte beides zusammen. Aes Sedai. Jetzt
hatte er den Kopf in der Schlinge. Er paßte seinen Schritt
dem ihren an und bemühte sich, nicht darüber
nachzudenken, über welchen Preis sie später verhandeln
würden.
KAPITEL 8

Eine sichere Zuflucht


Noch während er durch die Tür trat, suchte Rands Blick
seinen Vater – seinen Vater, ganz gleich, was irgend
jemand behauptete. Tam hatte sich keine Handbreit
bewegt. Seine Augen waren immer noch geschlossen, und
sein Atem ging unregelmäßig, stoßweise und röchelnd.
Der weißhaarige Gaukler brach seine Unterhaltung mit
dem Bürgermeister ab, der sich gerade über das Bett
beugte und nach Tam sah, und blickte Moiraine unsicher
an. Die Aes Sedai achtete nicht auf ihn. Sie blickte nur auf
Tam und sah ihn mit gerunzelter Stirn eindringlich an.
Thom steckte sich die kalte Pfeife zwischen die Zähne,
zog sie aber schnell wieder heraus und sah sie böse an.
»Der Mensch kann nicht einmal in Frieden rauchen«,
murmelte er. »Ich werde mich mal vergewissern, ob nicht
irgendein Bauer meinen Umhang stiehlt, um seine Kuh zu
wärmen. Dort draußen kann ich wenigstens meine Pfeife
rauchen.« Damit eilte er aus dem Zimmer.
Lan sah ihm nach, das kantige Gesicht so ausdruckslos
wie ein Fels. »Ich mag diesen Mann nicht. Er hat etwas an
sich, das mich mißtrauisch macht. Letzte Nacht habe ich
ihn nirgends gesehen.«
»Er war da«, sagte Bran, der Moiraine ebenfalls
unsicher beobachtete. »Er muß dagewesen sein. Sein
Umhang ist nicht vom Kaminfeuer versengt worden.«
Rand war es gleich, wenn der Gaukler sich die Nacht
über im Stall versteckt hatte. »Mein Vater?« wandte er
sich bittend an Moiraine.
Bran öffnete den Mund, doch bevor er sprechen
konnte, sagte Moiraine: »Laßt mich mit ihm allein,
Meister al'Vere! Ihr könnt hier nichts tun, außer mir im
Weg zu stehen.«
Bran zögerte ein Weilchen. Er war hin- und
hergerissen zwischen dem Protest, sich in der eigenen
Schenke herumkommandieren zu lassen, und der Angst,
einer Aes Sedai den Gehorsam zu verweigern. Schließlich
richtete er sich auf und schlug Rand auf die Schulter.
»Komm mit, Junge! Lassen wir Moiraine Sedai ihre...
äh... ihre... Du kannst mir unten bei einer Menge Sachen
behilflich sein. Bevor du dich versiehst, ruft Tam nach
seiner Pfeife und einem Krug Bier.«
»Kann ich bleiben?« fragte Rand, obwohl Moiraine nur
Tam zu bemerken schien. Brans Hände verkrampften sich,
doch Rand gab nicht auf. »Bitte! Ich werde Euch nicht im
Weg stehen. Ihr werdet nicht einmal merken, daß ich da
bin. Er ist mein Vater«, fügte er so flehentlich hinzu, daß
es ihn selbst überraschte und sich die Augen des
Bürgermeisters erstaunt weiteten.
»Ja, ja«, sagte Moiraine ungeduldig. Sie hatte ihren
Umhang und Stock nachlässig auf den einzigen Stuhl im
Zimmer geworfen und krempelte gerade die Ärmel ihres
Kleids bis zu den Ellbogen hoch. Auch während sie mit
anderen sprach, galt ihre ganze Aufmerksamkeit Tam.
»Setz dich dort drüben hin. Du auch, Lan.« Sie zeigte
fahrig in Richtung einer langen Bank, die an einer Wand
stand. Sie musterte Tam langsam von Kopf bis Fuß, aber
Rand hatte das eigenartige Gefühl, daß sie auf irgendeine
Art durch ihn hindurchblickte. »Ihr könnt miteinander
sprechen, wenn ihr wollt«, fuhr sie abwesend fort, »aber
bitte leise. Jetzt geht bitte, Meister al'Vere. Dies ist ein
Krankenzimmer und kein Versammlungsraum. Sorgt
dafür, daß ich nicht gestört werde.«
Der Bürgermeister brummte ein wenig, allerdings nicht
sonderlich laut, drückte nochmals Rands Schulter und
schloß dann folgsam, wenn auch zögernd die Tür hinter
sich. Die Aes Sedai murmelte leise vor sich hin, kniete
sich vor das Bett und legte die Hände leicht auf Tams
Brust. Sie schloß die Augen, bewegte sich längere Zeit
nicht und gab auch keinen Laut von sich. In den
Geschichten wurden die Taten der Aes Sedai immer von
Blitzen und Donnerhall begleitet oder von anderen
Anzeichen großer Tatkraft und Macht. Der Macht. Der
Einen Macht aus der Wahren Quelle, die das Rad der Zeit
antrieb. Das war kein Thema, über das Rand gern
nachdachte – Tam im Einfluß der Einen Macht und er im
gleichen Raum, wo sie angewandt wurde. Es war schon
schlimm genug, sich im gleichen Dorf zu befinden. Soweit
er es allerdings beurteilen konnte, konnte Moiraine
durchaus eingeschlafen sein. Und doch glaubte er, daß
Tams Atmung leichter klang. Sie mußte irgend etwas
getan haben. Er konzentrierte sich ganz aufs Beobachten.
Als Lan ihn leise ansprach, fuhr er zusammen. »Das ist
eine schöne Waffe, die du da trägst. Könnte es sein, daß
auf der Klinge ein Reiher zu sehen ist?«
Einen Augenblick lang starrte er den Behüter an und
begriff nicht, wovon der sprach. Er hatte Tams Schwert
in der Aufregung ganz vergessen. Es schien auch nicht
mehr so schwer zu sein. »Ja, stimmt. Was tut sie?«
»Ich hätte nicht geglaubt, an einem Ort wie diesem ein
mit dem Reiher gekennzeichnetes Schwert anzutreffen«,
sagte Lan.
»Es gehört meinem Vater.« Er sah Lans Schwert an.
Der Griff war gerade noch unter dem Umhang sichtbar.
Die beiden Schwerter sahen sich recht ähnlich, auch wenn
auf dem des Behüters kein Reiher sichtbar war. Er blickte
wieder zum Bett hinüber. Tams Atmung klang wirklich
leichter, und das Röcheln war nicht mehr zu hören. Da
war er ganz sicher. »Er hat es vor langer Zeit gekauft.«
»Seltsam, daß ein Schäfer ein solches Schwert kauft.«
Rand erlaubte sich einen Seitenblick auf Lan. Wenn ein
Fremder an einem Schwert solches Interesse zeigte, war
das für ihn Schnüffelei. Wenn es aber ein Behüter war...
Trotzdem fühlte er die Notwendigkeit einer Rechtfer-
tigung. »Soviel ich weiß, hat er es niemals benutzt. E r
sagte, es sei nutzlos. Jedenfalls bis letzte Nacht. Ich wußte
bis dahin nicht einmal, daß er es besaß.«
»So, er nannte es also nutzlos. Er muß nicht immer
dieser Meinung gewesen sein.« Lan berührte die Scheide
an Rands Seite kurz mit einem Finger. »Es gibt Orte, wo
der Reiher als Kennzeichen des herausragenden Schwert-
kämpfers gilt. Diese Klinge muß seltsame Wege gegangen
sein, bis sie bei einem Schäfer von den Zwei Flüssen
landete.«
Rand überhörte die unausgesprochene Frage. Moiraine
hatte sich immer noch nicht bewegt. Tat die Aes Sedai
wirklich etwas? Er schauderte und rieb sich die Arme,
unschlüssig, ob er überhaupt wissen wollte, was sie tat.
Eine Aes Sedai.
Eine Frage kam ihm in den Sinn, die er eigentlich nicht
stellen wollte, doch eine Antwort wollte er schon haben.
»Der Bürgermeister...« Er räusperte sich und atmete tief
ein. »Der Bürgermeister sagte, der einzige Grund, warum
vom Dorf noch etwas übriggeblieben ist, wärt Ihr und
sie.« Er schaffte es, den Behüter anzusehen. »Wenn man
Euch etwas über einen Mann im Wald gesagt hätte... einen
Mann, der den Leuten Angst einjagt, wenn er sie nur
ansieht... hätte Euch das gewarnt? Ein Mann, dessen Pferd
lautlos einhergeht? Und der Wind berührt seinen Mantel
nicht? Hättet Ihr dann gewußt, was geschehen würde?
Hättet Ihr und Moiraine Sedai das Unglück verhindern
können, wenn Ihr von ihm gewußt hättet?«
»Nicht ohne ein halbes Dutzend meiner Schwestern«,
sagte Moiraine, und Rand fuhr hoch. Sie kniete immer
noch am Bett, aber sie hatte die Hände von Tam
genommen und sich halb umgedreht, um die beiden auf
der Bank anzusehen. Ihre Stimme blieb leise, doch ihre
Augen nagelten Rand an die Wand. »Wenn ich bei der
Abreise von Tar Valon gewußt hätte, daß ich hier
Trollocs und einen Myrddraal finden würde, hätte ich ein
halbes Dutzend von ihnen mitgebracht – oder auch ein
Dutzend, und wenn ich sie an den Haaren hätte
herschleifen müssen. Was mich betrifft, hätte auch eine
Warnung einen Monat vorher keinen Unterschied
gemacht. Vielleicht. Ein einzelner Mensch kann eben nur
soviel tun, selbst wenn man die Eine Macht zur Verfügung
hat, und letzte Nacht haben sich in diesem Gebiet vielleicht
mehr als hundert Trollocs herumgetrieben. Eine ganze
Faust.«
»Es wäre trotzdem gut gewesen, es im voraus zu
wissen«, sagte Lan scharf. Die Schärfe in seiner Stimme
galt Rand. »Wo genau hast du ihn gesehen und wann?«
»Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte Moiraine. »Ich
möchte nicht, daß der Junge glaubt, er trage an etwas die
Schuld, wenn das nicht der Fall ist. Es ist genausogut
meine Schuld. Dieser verfluchte Rabe gestern mit seinem
eigenartigen Verhalten hätte mich warnen sollen. Genau
wie du, mein alter Freund.« Sie schnalzte ärgerlich mit
der Zunge. »Ich war überheblich bis zum Hochmut und
sicher, daß der Einfluß des Dunklen Königs nicht so weit
reichen könne. Und auch nicht in diesem Maße. Noch
nicht. So sicher war ich.«
Rand zwinkerte. »Der Rabe? Ich verstehe nicht.«
»Aasfresser.« Lans Mund verzog sich angeekelt. »Die
Lakaien des Dunklen Königs finden oft Spione unter den
Kreaturen, die sich vom Tod ernähren. Raben und Krähen
zu meist. In den Städten sind es manchmal Ratten.«
Ein Schauer lief Rand den Rücken hinunter. Raben und
Krähen als Spione des Dunklen Königs? Überall sah man
zur Zeit Raben und Krähen. Der Einfluß des Dunklen
Königs, hatte Moiraine gesagt. Der Dunkle König war
immer da – das wußte er –, doch wenn man im Licht
ging, sich bemühte, ein gutes Leben zu führen und ihn
nicht beim Namen nannte, dann konnte er einem nichts
tun. Das glaubten jedenfalls alle; jeder sog diese Lehre
schon mit der Muttermilch ein. Aber Moiraine schien
sagen zu wollen...
Sein Blick fiel auf Tam, und alle anderen Gedanken
verschwanden aus seinem Kopf. Das Gesicht seines Vaters
war viel weniger stark gerötet als zuvor, und die Atmung
hörte sich beinahe normal an. Rand wäre aufgesprungen,
hätte ihn Lan nicht am Arm festgehalten. »Ihr habt es
geschafft!«
Moiraine schüttelte den Kopf und seufzte. »Noch nicht.
So hoffe ich zumindest. Die Waffen der Trollocs werden
in einem Tal namens Thakan'dar geschmiedet, am Hang
des Shayol Ghul. Einige Waffen werden vom Bösen dieses
Orts erfaßt; das Metall enthält etwas vom Bösen. Diese
vergifteten Klingen schlagen Wunden, die ohne Hilfe nicht
heilen, oder sie verursachen ein tödliches Fieber,
fremdartige Krankheiten, die unsere Medizin nicht heilen
kann. Ich habe die Schmerzen deines Vaters gestillt, aber
das Gift des Bösen steckt immer noch in ihm. Wenn man
sich nicht mehr um ihn kümmert, wird es schwellen und
ihn verzehren.«
»Aber Ihr verlaßt ihn nicht!« Rands Worte waren halb
Bitte und halb Befehl. Er war erschrocken, als er
erkannte, daß er so zu einer Aes Sedai gesprochen hatte,
doch sie schien seinen Tonfall nicht zu bemerken.
»Nein, das tue ich nicht«, stimmte sie zu. »Ich bin sehr
müde, Rand, und ich hatte seit letzter Nacht keine
Möglichkeit, mich auszuruhen. Normalerweise würde das
keine Rolle spielen, doch bei einer solchen Verletzung...
Dies hier«, – sie nahm ein kleines in weiße Seide gehülltes
Bündel aus ihrer Tasche – »ist ein Angreal.« Sie sah
seinen Gesichtsausdruck. »Du hast schon vom Angreal
gehört. Gut.«
Unbewußt lehnte er sich zurück, weiter weg von ihr
und dem Gegenstand, den sie in der Hand hielt. In ein paar
der Geschichten kam ein Angreal vor, ein Überbleibsel
aus dem Zeitalter der Legenden, das von den Aes Sedai
benutzt wurde, um ihre größten Taten zu vollbringen. E r
war überrascht, als sie eine glatte Elfenbeinfigur
auspackte, vom Alter dunklem Braun verfärbt. Sie war
nicht länger als ihre Hand und stellte eine Frau in
wehenden Gewändern dar, der langes Haar über die
Schultern fiel.
»Wir haben vergessen, wie man sie herstellt«, sagte sie.
»Soviel ist verlorengegangen und wird vielleicht nie
wiedergefunden. Es gibt nur noch so wenige. Beinahe
hätte der Amyrlin-Sitz mir nicht gestattet, dieses Stück
mitzunehmen. Es war gut für Emondsfeld und für deinen
Vater, daß man mir die Erlaubnis gegeben hat. Aber du
darfst dich nicht von deiner Hoffnung beherrschen lassen.
Heute kann ich damit nicht viel mehr erreichen, als ich
gestern noch ohne Angreal erreicht hätte. Der Einfluß des
Dunklen ist stark. Er hat Zeit gehabt, sich zu festigen.«
»Ihr könnt ihm helfen«, sagte Rand leidenschaftlich.
»Ich weiß, daß Ihr es könnt.«
Moiraine lächelte. Nur ihre Lippen verzogen sich dabei
ein wenig. »Wir werden sehen.« Dann wandte sie sich
wieder Tam zu. Sie legte eine Hand auf seine Stirn, und in
der anderen hielt sie die Elfenbeinfigur. Ihre Augen
schlossen sich, und das Gesicht spannte sich in
Konzentration. Sie schien kaum zu atmen.
»Der Reiter, von dem du erzählt hast«, sagte Lan leise,
»der dir Angst eingejagt hat, das war sicher ein
Myrddraal.«
»Ein Myrddraal!« rief Rand. »Aber die Blassen sind
zwanzig Fuß groß und...« Die Worte erstarben unter dem
erbarmungslosen Grinsen des Behüters.
»Manchmal, Schäfer, werden die Dinge in den
Geschichten größer als in der Wirklichkeit. Glaub mir,
die Wahrheit über die Halbmenschen ist groß genug.
Halbmensch, Lurk, Blasser, Schattenmann – der Name
hängt davon ab, in welchem Land man sich befindet, aber
alle bedeuten Myrddraal. Die Blassen sind Abkömmlinge
von Trollocs, die fast wieder wie die ursprünglichen
Menschen wirken, die von den Schattenlords benützt
wurden, um Trollocs zu züchten. Beinahe. Aber wenn
auch die menschlichen Merkmale in ihnen stärker
ausgeprägt sind, so ist es doch der Einfluß des Bösen, der
die Trollocs zu Zerrbildern macht. Halbmenschen haben
gewisse Kräfte, und zwar von der Art, wie sie vom
Dunklen König ausgeht. Nur die schwächsten Aes Sedai
unterlägen einem Blassen im Einzelkampf; doch mancher
gute und treue Mann ist ihnen zum Opfer gefallen. Seit
den Kriegen, die das Zeitalter der Legenden beendeten,
seit die Verlorenen gebunden wurden, sind die
Halbmenschen das Gehirn, das einer Trolloc-Faust sagt,
wo sie zuschlagen soll. In den Tagen der Trolloc-Kriege
haben Halbmenschen die Trollocs in die Schlacht geführt,
unter dem Kommando der Schattenlords.«
»Er hat mir Angst eingejagt«, sagte Rand sehr leise.
»Er hat mich nur angesehen, und...« Ihn schauderte.
»Du mußt dich deshalb nicht schämen, Schäfer. Mir
jagen sie auch Angst ein. Ich habe Männer gesehen, die ihr
ganzes Leben lang als Soldaten kämpften, und wenn sie
einem Halbmensch gegenüberstanden, dann erstarrten sie
wie ein Kaninchen vor der Schlange. Im Norden, im
Grenzgebiet der Großen Fäule, gibt es ein Sprichwort:
›Der Blick der Augenlosen bedeutet Angst.‹«
»Die Augenlosen?« fragte Rand, und Lan nickte.
»Myrddraal sehen wie die Adler, im Dunklen so gut
wie am Tag, aber sie haben keine Augen. Ich kann mir
kaum etwas vorstellen, was noch gefährlicher wäre, als
einem Myrddraal gegenüberzustehen. Moiraine Sedai und
ich versuchten, den Myrddraal, der gestern abend hier
war, zu töten, und wir versagten jedesmal. Halbmenschen
haben das typische Glück, das vom Dunklen König
ausgeht.«
Rand schluckte. »Ein Trolloc sagte, der Myrddraal
wolle mit mir sprechen. Ich wußte nicht, was das
bedeutete.«
Lans Kopf fuhr hoch; seine Augen wirkten wie blaue
Edelsteine. »Du hast mit einem Trolloc gesprochen?«
»Nicht direkt«, stammelte Rand. Der Blick des
Behüters hielt ihn fest wie eine Falle. »Er hat zu mir
gesprochen. Er hat gesagt, er würde mir nicht weh tun,
und der Myrddraal wolle mit mir reden. Dann hat er
versucht, mich zu töten.« Er leckte sich die Lippen und
rieb die Hände am genoppten Leder des Schwertgriffs. In
kurzen abgehackten Sätzen beschrieb er seine Rückkehr
zum Haus. »Statt dessen habe ich ihn getötet«, endete er.
»Mehr durch Zufall. Er ist auf mich losgesprungen, und
ich hatte das Schwert in der Hand.«
Lans Gesichtsausdruck wurde etwas weicher, sofern ein
Felsen überhaupt erweichen konnte. »Trotzdem ist das
etwas Erwähnenswertes, Schäfer. Bis letzte Nacht gab es
wenige Männer südlich der Grenzgebiete, die von sich
behaupten konnten, sie hätten einen Trolloc gesehen,
geschweige denn getötet.«
»Und noch weniger, die einen Trolloc allein und ohne
Hilfe getötet haben«, sagte Moiraine müde. »Es ist
vollbracht, Rand. Lan, hilf mir auf!«
Der Behüter sprang zu ihr hin, aber er war langsamer
als Rand, der zum Bett eilte. Tams Haut fühlte sich kühl
an, obwohl sein Gesicht noch einen fahlen, erschöpften
Eindruck machte, als habe er schon lange keine Sonne
mehr gesehen. Seine Augen waren noch geschlossen, aber
er atmete tief und normal im Schlaf.
»Wird er jetzt wieder ganz gesund?« fragte Rand
besorgt.
»Wenn er viel ruht, dann ja«, sagte Moiraine. »Ein
paar Wochen im Bett, und er ist wieder so gesund wie
vorher.« Sie ging unsicher, obwohl sie sich bei Lan
eingehakt hatte. Er warf ihren Umhang und Stock mit
einer Handbewegung vom Stuhl, so daß sie sich auf das
Kissen setzen konnte. Mit einem Seufzer ließ sie sich
nieder. Dann umwickelte sie langsam und vorsichtig das
Angreal und steckte es wieder in ihre Tasche.
Rands Oberkörper zitterte; er biß sich auf die
Unterlippe, damit er nicht laut loslachte. Gleichzeitig
mußte er sich mit einer Hand Tränen aus den Augen
wischen. »Ich danke Euch.«
»Im Zeitalter der Legenden«, fuhr Moiraine fort,
»konnten einige Aes Sedai ein Leben wiederherstellen,
wenn nur der kleinste Funke davon übrig war. Aber diese
Tage sind lang vorbei – vielleicht für immer. Soviel ist
verlorengegangen; nicht nur das Geheimnis, wie man ein
Angreal anfertigt. So vieles könnte vollbracht werden,
doch wir wagen es nicht einmal, davon zu träumen, falls
wir uns überhaupt daran erinnern. Heute gibt es viel
weniger von uns. Einige Talente sind fast verschwunden
und viele von denen, die es immer noch gibt, scheinen
schwächer ausgeprägt zu sein. Wir benötigen heutzutage
sowohl den Willen als auch die Kraft, von denen der
Körper zehren kann, sonst können auch die stärksten von
uns keine Heilung mehr vollbringen. Es ist ein Glück, daß
dein Vater ein starker Mann ist, körperlich wie geistig. So
verbrauchte er wohl viel Kraft in seinem Kampf ums
Überleben, aber alles, was noch übrig ist, kann er nun zu
seiner Erholung gebrauchen. Das wird einige Zeit dauern,
doch der Einfluß des Bösen ist verschwunden.«
»Ich kann das niemals wiedergutmachen«, sagte er,
ohne die Augen von Tam zu nehmen, »aber ich werde
alles für Euch tun, was in meiner Macht steht. Alles!« E r
dachte an das Gespräch über Preise und an sein Ver-
sprechen. Als er so neben Tam kniete, meinte er es mit
diesem Versprechen sogar noch ernster als zuvor, doch es
fiel ihm immer noch nicht leicht, sie anzusehen. »Alles.
Solang es dem Dorf und meinen Freunden nicht schadet.«
Moiraine tat die Worte mit einer Handbewegung ab.
»Wenn du es für nötig hältst. Ich möchte sowieso mit dir
sprechen. Du wirst zweifellos zur gleichen Zeit wie wir
das Dorf verlassen, und dann können wir uns ausführlich
unterhalten.«
»Verlassen!« rief er und stand schnell auf. »Ist es
wirklich so schlimm? Für mich sahen alle so aus, als
wollten sie gleich mit dem Wiederaufbau beginnen. Wir
sind ziemlich bodenständige Leute hier bei den Zwei
Flüssen. Keiner verläßt jemals das Dorf.«
»Rand...«
»Und wo sollten wir auch hin? Padan Fain sagte, das
Wetter sei anderswo genauso schlecht. Er ist... Er war...
der fahrende Händler. Die Trollocs...« Rand schluckte und
wünschte sich, Thom Merrilin hätte ihm nicht erzählt, was
Trollocs aßen. »Meiner Meinung nach ist es das beste, wir
bleiben hier, wo wir hingehören, zwischen den Zwei
Flüssen, und bauen alles wieder auf. Die Saat ist im
Boden, und bald ist es warm genug für die Schafschur. Ich
weiß nicht, wer damit angefangen hat, daß wir das Dorf
verlassen – ich wette, einer der Coplins –, aber wer es
auch war...«
»Schäfer«, unterbrach ihn Lan, »du redest, während du
zuhören solltest.«
Er sah beide groß an. Er hatte ziemlich dummes Zeug
geredet, das wurde ihm jetzt klar, und einfach
weitergesprochen, als sie versuchte, ihm etwas zu
erklären. Während eine Aes Sedai zu sprechen versuchte.
Er fragte sich, was er sagen sollte, wie er sich
entschuldigen konnte, aber Moiraine lächelte in seine
Gedanken hinein.
»Ich verstehe dich, Rand«, sagte sie und er hatte das
unangenehme Gefühl, daß sie das wirklich tat. »Denk dir
nichts dabei.« Ihr Mund spannte sich, und sie schüttelte
den Kopf. »Ich habe das, wie ich sehe, schlecht angepackt.
Wahrscheinlich hätte ich mich zuerst ausruhen sollen. Du
bist es, der das Dorf verlassen wird, Rand. Du mußt
gehen, um deines Dorfes willen.«
»Ich?« Er räusperte sich und versuchte es nochmals.
»Ich?« Diesmal klang es ein wenig besser. »Warum muß
ich gehen? Ich verstehe das alles nicht. Ich will gar nicht
weg.«
Moiraine blickte Lan an, und der Behüter löste die
verschränkten Arme. Er sah Rand unter seinem ledernen
Stirnband hervor an, und Rand fühlte sich wieder, als
werde er auf einer unsichtbaren Waage gewogen. »Hast du
gewußt«, fragte Lan plötzlich, »daß einige Häuser nicht
angegriffen wurden?«
»Das halbe Dorf liegt in Schutt und Asche«, protestierte
er, aber der Behüter wischte den Einwand mit der Hand
beiseite.
»Einige Häuser wurden nur angezündet, um
Verwirrung zu stiften. Hinterher wurden sie von den
Trollocs übersehen, genau wie die Leute, die daraus
flohen, sofern sie nicht tatsächlich dem eigentlichen
Angriff im Weg standen. Die meisten Leute, die von den
entfernteren Höfen hereinkamen, sahen nicht einmal ein
Trolloc-Haar und wenn, dann auch nur aus einiger
Entfernung. Die meisten wußten nicht einmal, daß etwas
los war, bis sie das Zerstörungswerk sahen.«
»Ich habe etwas über Darl Coplin gehört«, sagte Rand
langsam. »Ich schätze, er hat es einfach nicht begriffen.«
»Zwei Bauernhöfe wurden angegriffen«, fuhr Lan fort.
»Eurer und noch einer. Wegen Bel Tine waren alle, die
auf dem anderen Hof wohnen, schon im Dorf. Viele
Menschen wurden gerettet, weil der Myrddraal die
Bräuche im Gebiet der Zwei Flüsse nicht kannte. Das Fest
und die Winternacht machten es ihm fast unmöglich, seine
Aufgabe zu erfüllen, aber das wußte er nicht.«
Rand sah Moiraine an, die sich in ihren Stuhl
hineinkuschelte, doch sie schwieg und beobachtete ihn nur
und hatte einen Finger an die Lippen gelegt. »Unser Hof
und wessen Hof noch?« fragte er schließlich.
»Der Aybara-Hof«, antwortete Lan. »Hier in
Emondsfeld griffen sie zuerst die Schmiede an, dann das
Haus des Schmieds und dann Meister Cauthons Haus.«
Rands Mund war plötzlich wie ausgetrocknet. »Das ist
doch verrückt«, brachte er gerade noch heraus. Dann fuhr
er zusammen, als Moiraine sich aufrichtete. »Nicht
verrückt, Rand«, sagte sie. »Zielbewußt. Die Trollocs
kamen nicht aus Zufall nach Emondsfeld, und was sie
taten, das taten sie nicht aus Mordlust und Freude am
Niederbrennen, auch wenn sie ihren Spaß daran hatten.
Sie wußten, was – oder besser: wen – sie suchten. Die
Trollocs kamen, um junge Männer eines bestimmten
Alters zu fangen oder zu töten, die in der Nähe von
Emondsfeld wohnen.«
»Mein Alter?« Rands Stimme zitterte, und es kümmerte
ihn nicht einmal. »Licht! Mat. Was ist mit Perrin?«
»Sie leben und sind wohlauf«, versicherte ihm
Moiraine, »wenn auch ein bißchen schmutziger.«
»Ban Crawe und Lem Thane?«
»Waren niemals in Gefahr«, sagte Lan. »Zumindest
nicht mehr als alle anderen.«
»Aber sie haben den Reiter, den Blassen, auch gesehen,
und sie sind im gleichen Alter wie ich.«
»Meister Crawes Haus wurde nicht einmal beschädigt«,
sagte Moiraine, »und der Müller mit seiner Familie
verschlief den Angriff, bis sie von dem Lärm geweckt
wurden. Ban ist zehn Monate älter als du und Lem acht
Monate jünger.« Sie lächelte trocken angesichts seiner
Überraschung. »Ich habe dir gesagt, daß ich Fragen
stellte. Und ich habe auch gesagt, junge Männer eines
bestimmten Alters. Du und deine beiden Freunde, ihr seid
altersmäßig nur ein paar Wochen auseinander. Euch drei
suchte der Myrddraal und niemanden sonst!«
Rand trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Es
war ihm höchst unangenehm, daß sie ihn so ansahen, als
könnten ihre Augen in seinem Hirn lesen und alles
wahrnehmen, was darin verborgen lag. »Was können sie
von uns wollen? Wir sind nur Bauern, Schäfer.«
»Diese Frage kann in der Gegend der Zwei Flüsse nicht
beantwortet werden«, sagte Moiraine ruhig, »doch die
Antwort ist wichtig. Das zeigt uns das Auftauchen von
Trollocs, wo sie zweitausend Jahre lang nicht mehr
gesehen worden waren.«
»Es gibt eine Menge Berichte über Trolloc-Überfälle«,
sagte Rand stur. »Wir hatten eben hier noch nie einen.
Behüter kämpfen die ganze Zeit über gegen Trollocs.«
Lan schnaubte. »Junge, ich rechne damit, am Rand der
Großen Fäule auf Trollocs zu treffen, aber nicht hier, fast
sechshundert Tagesmärsche weiter südlich. Das war ein
Überfall letzte Nacht, wie ich ihn in Shienar erwarte oder
in einem der Grenzlande.«
»In einem von euch«, erklärte Moiraine, »oder in allen
dreien sieht der Dunkle König eine Gefahr.«
»Das... Das ist unmöglich.« Rand stolperte zum Fenster
und blickte hinaus auf das Dorf und auf die Menschen, die
inmitten der Ruinen arbeiteten. »Es ist mir gleich, was
geschehen ist, aber das ist unmöglich.« Etwas auf dem
Grün zog seinen Blick an. Er sah genauer hin und
erkannte dann, daß es der angekohlte Stumpf des
Frühlingsbaums war. Ein schönes Bel Tine mit einem
Krämer, einem Gaukler und Fremden. Er fror bei dem
Gedanken und schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Nein,
ich bin Schäfer. Der Dunkle König kann mich nicht
meinen.«
»Es machte große Mühe«, sagte Lan ernst, »so viele
Trollocs so weit entfernt einzusetzen, ohne von den
Grenzlanden bis Caemlyn und noch weiter Aufsehen zu
erregen. Ich wüßte gern, wie sie das fertiggebracht haben.
Glaubst du wirklich, sie haben das alles angestellt, nur um
ein paar Häuser niederzubrennen?«
»Sie kommen zurück«, fügte Moiraine hinzu.
Rand hatte schon den Mund geöffnet, um Lan zu
widersprechen, aber dieser Satz erstickte seine Worte im
Ansatz. Er fuhr zu ihr herum. »Zurück? Könnt Ihr sie
nicht aufhalten? Ihr habt das doch letzte Nacht auch
geschafft, und dabei wurdet Ihr überrascht. Jetzt wißt Ihr,
daß sie da sind.«
»Vielleicht«, antwortete Moiraine. »Ich könnte Tar
Valon benachrichtigen, um einige meiner Schwestern
anzufordern. Sie könnten möglicherweise hier ankommen,
bevor wir sie brauchen. Auch der Myrddraal weiß, daß
ich hier bin, und wird vielleicht deshalb nicht angreifen,
zumindest nicht offen, solange er keine Verstärkung
bekommt – Myrddraal und Trollocs. Genügend Aes Sedai
und Behüter könnten die Trollocs zurückschlagen, obwohl
ich nicht sagen kann, wie viele Schlachten wir dazu
benötigen würden.«
Eine Vision tanzte ihm durch den Kopf: Emondsfeld
völlig niedergebrannt. Alle Bauernhöfe in Schutt und
Asche. Und Wachhügel und Devenritt und Taren-Fähre
dazu. Nur Asche und Blut. »Nein«, sagte er, und er fühlte,
wie etwas in seinem Innern zerbrach, wie etwas seinem
Zugriff entglitt. »Deshalb muß ich fort, nicht wahr? Die
Trollocs kommen nicht zurück, wenn ich nicht mehr hier
bin.« Eine letzte Spur von Sturheit ließ ihn hinzufügen:
»Wenn sie wirklich hinter mir her sind.«
Moiraines Augenbrauen hoben sich, als sei sie
überrascht, daß er immer noch nicht überzeugt war, aber
Lan sagte: »Möchtest du die Existenz deines Dorfes dafür
riskieren, Schäfer? Der ganzen Zwei Flüsse?«
Rands Sturheit verflog. »Nein«, sagte er wieder und
fühlte diese Leere in seinem Innern erneut. »Perrin und
Mat müssen auch fort, ja?« Die Zwei Flüsse verlassen.
Sein Heim und seinen Vater verlassen. Wenigstens würde
es Tam besser gehen. Wenigstens könnte er sich von ihm
bestätigen lassen, daß alles, was er auf der Haldenstraße
gesagt hatte, Unsinn war. »Wir könnten nach Baerlon
gehen, denke ich, oder vielleicht sogar nach Caemlyn. Ich
habe gehört, daß in Caemlyn mehr Menschen wohnen als
im ganzen Gebiet der Zwei Flüsse. Dort wären wir
sicher.« Er versuchte zu lachen, doch es klang hohl. »Ich
habe früher davon geträumt, Caemlyn zu sehen. Ich hätte
nie geglaubt, daß mein Wunsch auf diese Weise erfüllt
würde.«
Nach langem Schweigen sagte Lan schließlich: »Ich
würde nicht damit rechnen, in Caemlyn wirklich in
Sicherheit zu sein. Wenn die Myrddraal dich unbedingt
fangen wollen, werden sie auch dort eine Möglichkeit
finden. Mauern können einen Halbmenschen nicht lange
aufhalten. Und du wärst ein Narr, begriffest du nicht
endlich, daß sie wirklich unbedingt deiner habhaft werden
wollen.«
Rand hatte geglaubt, die tiefsten Tiefen der
Niedergeschlagenheit bereits erreicht zu haben, doch nun
wurde es noch ein wenig schlimmer.
»Es gibt einen sicheren Ort«, sagte Moiraine sanft, und
Rand spitzte die Ohren. »In Tar Valon wärst du bei den
Aes Sedai und den Behütern geborgen. Selbst während der
Trolloc-Kriege wagten die Mächte des Dunklen Königs
nicht, die Leuchtenden Mauern anzugreifen. Und als sie es
dennoch taten, führte dieser eine Versuch zu ihrer größten
Niederlage überhaupt. In Tar Valon ist alles Wissen
zusammengetragen, das wir Aes Sedai seit der Zeit des
Wahns erwarben. Einige Fragmente gehen sogar auf das
Zeitalter der Legenden zurück. Wenn überhaupt, dann
wirst du in Tar Valon erfahren, warum die Myrddraal
nach dir suchen. Warum der Vater der Lügen nach dir
verlangt. Das kann ich dir versprechen.«
Eine Reise bis zum fernen Tar Valon war fast
unvorstellbar. Eine Reise an einen Ort, an dem er von Aes
Sedai umgeben wäre. Natürlich hatte Moiraine Tam
geheilt – oder es sah wenigstens so aus –, aber es gab ja
noch alle diese Geschichten... Es war schon unangenehm
genug, sich im gleichen Raum mit einer Aes Sedai zu
befinden, aber in einer Stadt voll von ihnen? Und immer
noch hatte sie ihren Preis nicht genannt. Man mußte
immer bezahlen, hieß es in den Geschichten.
»Wie lange wird mein Vater schlafen?« fragte er
schließlich. »Ich... Ich muß es ihm sagen. Er soll nicht
aufwachen und erfahren, daß ich weg bin.« Er glaubte,
von Lan einen Seufzer der Erleichterung zu hören. Er sah
den Behüter neugierig an, doch Lans Gesicht war so
ausdruckslos wie immer.
»Es ist unwahrscheinlich, daß er aufwacht, bevor wir
abreisen«, sagte Moiraine. »Ich will bald nach dem
völligen Einbruch der Dunkelheit aufbrechen. Selbst ein
einziger Tag Aufenthalt könnte sich als tödlich erweisen.
Es ist am besten, du hinterläßt ihm eine Botschaft.«
»In der Nacht?« meinte Rand zweifelnd, und Lan
nickte.
»Der Halbmensch wird früh genug herausfinden, daß
wir weg sind. Wir sollten ihm seine Aufgabe nicht noch
erleichtern.«
Rand machte sich an den Decken seines Vaters zu
schaffen. Der Weg nach Tar Valon war sehr weit. »In
diesem Fall... In diesem Fall werde ich nun besser gehen
und Mat und Perrin suchen.«
»Darum kümmere ich mich.« Moiraine stand energisch
auf und legte sich den Umhang mit plötzlich
wiederhergestellter Lebhaftigkeit um. Sie legte ihm eine
Hand auf die Schulter, und er bemühte sich sehr, nicht
zusammenzuzucken. Sie drückte nicht fest zu, doch es war
ein eiserner Griff, der ihn so sicher hielt wie der
gegabelte Stock die Schlange. »Es ist am besten, wenn wir
all das für uns behalten. Verstehst du? Die gleichen Leute,
die den Drachenzahn auf die Tür der Schenke kritzelten,
könnten uns Schwierigkeiten bereiten, wenn sie Bescheid
wüßten.«
»Ich verstehe.« Er atmete erleichtert auf, als sie ihre
Hand wegnahm. »Ich lasse dir von Frau al'Vere etwas zu
essen bringen«, fuhr sie fort, als habe sie seine Reaktion
gar nicht bemerkt. »Dann mußt du schlafen. Es wird eine
anstrengende Reise heute nacht, selbst wenn du ausgeruht
bist.«
Die Tür schloß sich hinter ihnen, und Rand stand da
und blickte auf seinen Vater hinunter. Er sah ihn an und
sah doch nichts. Bis zu dieser Minute war ihm nie bewußt
gewesen, daß Emondsfeld ebenso ein Teil von ihm war
wie er ein Teil von Emondsfeld. Jetzt wurde es ihm klar,
weil er spürte, daß es dieses Gefühl gewesen war, das
gerade in ihm zerbrochen war. Nun war er irgendwie
vom Dorf getrennt. Der Schäfer der Nacht suchte ihn. Es
war unmöglich – er war nur ein Bauer –, aber die
Trollocs waren gekommen, und Lan hatte in einer
Hinsicht recht: Er durfte nicht die Existenz des Dorfes
gefährden, nur aus dem Gefühl heraus, Moiraine könne
sich irren. Er konnte es nicht einmal jemandem erzählen;
die Coplins würden deswegen bestimmt einen ganz
schönen Wirbel veranstalten. Er mußte einer Aes Sedai
vertrauen.
»Weck ihn jetzt nicht auf!« sagte Frau al'Vere, als der
Bürgermeister die Tür hinter sich und seiner Frau schloß.
Unter dem Tuch, das über dem Tablett in ihren Händen
lag, duftete es köstlich und warm. Sie stellte es auf der
Truhe an der Wand ab und schob Rand energisch vom
Bett weg.
»Frau Moiraine hat mir gesagt, was er braucht«, sagte
sie sanft, »und dazu gehört nicht, daß du ihm vor
Erschöpfung auf den Kopf fällst. Ich habe dir etwas zu
essen mitgebracht. Laß es nicht kalt werden.«
»Ich möchte nicht, daß Ihr sie so nennt«, sagte Bran
verdrießlich. »Moiraine Sedai ist die korrekte Anrede. Sie
könnte böse werden.«
Frau al'Vere tätschelte ihm die Wange. »Überlaß das
ruhig mir. Sie und ich, wir haben uns lange unterhalten.
Und sprich leise. Wenn du Tam aufweckst, werde ich
genauso wild wie Moiraine Sedai.« Sie legte die Betonung
auf Moiraines Titel und zog Brans Beharrlichkeit auf
diese Art ins Lächerliche. »Ihr beiden steht mir bitte nicht
im Weg herum.« Mit einem liebevollen Lächeln in
Richtung ihres Mannes wandte sie sich dem Bett und Tam
zu.
Meister al'Vere sah Rand verdrossen an. »Sie ist eine
Aes Sedai. Die Hälfte der Frauen im Dorf benimmt sich,
als hätte sie einen Sitz im Frauenzirkel, und die andere
Hälfte, als wäre sie ein Trolloc. Keine von ihnen scheint
zu merken, daß man bei einer Aes Sedai vorsichtig sein
muß. Die Männer schauen sie von der Seite her an, aber
wenigstens tun sie nichts, um sie herauszufordern.«
Vorsicht! dachte Rand. Es war nicht zu spät dafür,
vorsichtig zu werden. »Meister al'Vere«, sagte er
langsam, »wißt Ihr, wie viele Bauernhöfe angegriffen
wurden?«
»Ich habe nur von zweien gehört, darunter Eurer.« Der
Bürgermeister hielt inne, zog die Stirn kraus und zuckte
schließlich mit den Achseln. »Wenn man betrachtet, was
hier geschehen ist, dann sind das nicht viele. Es sollte
mich ja froh stimmen, aber... Na ja, vielleicht hören wir
bis heute abend von weiteren.«
Rand seufzte. Nicht nötig, danach zu fragen, welcher
andere Hof es war. »Hier im Dorf, haben sie da... Ich
meine, konnte man an irgendwas erkennen, was sie
eigentlich wollten?«
»Wollten, Junge? Ich weiß nicht, ob sie irgendwas
Bestimmtes wollten es sei denn, uns alle zu töten. Es war
so, wie ich schon sagte. Die Hunde bellten, und Moiraine
Sedai und Lan rannten auf die Straße, und dann schrie
jemand, Meister Luhhans Haus und die Schmiede stünden
in Flammen. Abell Cauthons Haus loderte auf – eigentlich
seltsam, es steht ja in der Dorfmitte. Jedenfalls waren
dann die Trollocs überall. Nein, ich glaube nicht, daß sie
etwas Bestimmtes wollten.« Er lachte kurz und hart, hörte
aber nach einem wachsamen Blick auf seine Frau damit
auf. Sie drehte sich nicht um. »Um die Wahrheit zu
sagen«, fuhr er leiser fort, »schienen sie fast genauso
verwirrt wie wir. Ich bezweifle, daß sie erwartet hatten,
hier eine Aes Sedai oder einen Behüter zu finden.«
»Das nehme ich auch an«, sagte Rand mit einer
Grimasse.
Wenn Moiraine in dieser Hinsicht also die Wahrheit
gesagt hatte, dann stimmte wohl auch der Rest. Ein
Augenblick lang überlegte er, ob er den Bürgermeister
um Rat bitten solle, aber offensichtlich wußte Meister
al'Vere nicht mehr über die Aes Sedai als jeder andere im
Dorf. Außerdem traute er sich nicht einmal dem
Bürgermeister zu erzählen, was sich wirklich abspielte –
was Moiraine behauptete. Er wußte nicht, wovor er sich
mehr fürchtete: ausgelacht zu werden oder daß ihm
geglaubt wurde. Er rieb seinen Daumen am Griff von
Tams Schwert. Sein Vater war draußen in der Welt
gewesen; er mußte mehr über die Aes Sedai wissen als der
Bürgermeister. Aber wenn Tam tatsächlich außerhalb der
Zwei Flüsse gewesen war, konnte dann nicht auch das, was
er im Westwald gesagt hatte... Er strich sich mit beiden
Händen durchs Haar und ließ den Gedankengang
unvollendet.
»Du brauchst Schlaf, Junge«, sagte der Bürgermeister.
»Das stimmt«, fügte Frau al'Vere hinzu. »Du fällst ja
beinahe von den Füßen.«
Rand blinzelte sie erstaunt an. Er hatte nicht einmal
bemerkt, daß sie sich von seinem Vater abgewandt hatte.
Er brauchte wirklich Schlaf; schon der bloße Gedanke ließ
ihn gähnen.
»Du kannst das Bett im Nebenzimmer haben«, sagte der
Bürgermeister. »Das Feuer ist schon angezündet.«
Rand sah seinen Vater an. Tam schlief noch fest. E r
mußte daraufhin wieder gähnen. »Ich bleibe lieber hier
drinnen, wenn es Euch nichts ausmacht. Falls er
aufwacht.«
Was Krankenzimmer betraf, hatte Frau al'Vere das
Sagen, und der Bürgermeister überließ ihr die
Entscheidung. Sie zögerte nur einen Moment, bevor sie
nickte. »Aber laß ihn von allein aufwachen. Wenn du ihn
im Schlaf störst...« Er versuchte, ihr zu sagen, er werde
ihn nicht stören, aber die Worte wurden von einem
erneuten Gähnen erstickt. Sie schüttelte lächelnd den
Kopf. »Du wirst selbst im Nu einschlafen. Wenn du schon
hierbleiben willst, dann roll dich dort am Feuer ein. Und
trink ein wenig von der Rindfleischbrühe, bevor du die
Augen schließt.«
»Werde ich«, sagte Rand. Er hätte alles getan, um in
diesem Zimmer zu bleiben. »Und ich werde ihn nicht
wecken.«
»Das will ich hoffen«, sagte Frau al'Vere fest, aber
nicht unfreundlich. »Ich bringe dir ein Kopfkissen und ein
paar Decken.«
Als sich die Tür endlich hinter ihnen schloß, zog Rand
den einzigen Stuhl des Zimmers hinüber zu Tams Bett und
setzte sich so hin, daß er Tam beobachten konnte. Es war
ja schön und gut, wenn Frau al'Vere von Schlafen sprach
– sein Kiefer knackte, als er ein weiteres Gähnen
unterdrückte –, aber jetzt konnte er noch nicht
einschlafen. Tam wachte vielleicht jeden Moment auf und
würde dann möglicherweise nur ganz kurz wach bleiben.
Wenn das geschah, mußte Rand für ihn da sein.
Er verzog das Gesicht und drehte sich auf dem Stuhl
ein wenig herum. Er drückte den Schwertgriff von den
Rippen weg. Er hatte ein schlechtes Gewissen, unbedingt
jemandem erzählen zu wollen, was Moiraine ihm erzählt
hatte, aber dies war schließlich Tam. Dies war... Ohne es
zu bemerken, schob sich sein Kinn entschlossen vor. Mein
Vater. Ich kann meinem Vater erzählen, was ich will.
Er verdrehte sich noch ein bißchen mehr auf dem Stuhl
und legte den Kopf zurück auf die Lehne. Tam war sein
Vater, und niemand konnte ihm befehlen, was er seinem
Vater zu erzählen oder nicht zu erzählen hatte. Er mußte
nur wach bleiben, bis Tam erwachte. Er mußte nur...
KAPITEL 9

Was das Rad sagt...


Rands Herz raste, weil er so schnell rannte. Voller Grauen
starrte er auf die kahlen Hügel, die ihn umgaben. Dies war
kein Ort, an dem der Frühling nur sehr spät einzog; hier
hatte es nie einen Frühling gegeben, und es würde nie
Frühling werden. Nichts wuchs in der kalten Krume, die
unter seinen Stiefeln knirschte; nicht einmal kleine
Flechten zeigten sich. Er stolperte vorbei an Felsbrocken,
die zweimal so hoch waren wie er. Die Steine waren mit
Staub überzogen, als hätte sie noch nie ein Regentropfen
berührt. Die Sonne war ein angeschwollener blutroter
Feuerball, feuriger noch als am heißesten Sommertag, und
hell genug, um ihm die Augen zu versengen, und sie hob
sich grell vom bleiernen Kessel des Himmels ab, an dem
von Horizont zu Horizont scharf umrissene silberne und
schwarze Wolken einherrollten und kochten. Trotz der
vielen wirbelnden Wolken war jedoch kein Hauch einer
Brise über dem Land zu spüren, und trotz der bösartigen
Sonne brannte die Luft vor Kälte wie im tiefsten Winter.
Rand blickte beim Rennen oft über die Schulter zurück,
doch er konnte seine Verfolger nicht sehen. Nur öde
Hügel und zerklüftete schwarze Berge. Aus vielen dieser
Erhebungen stiegen hohe schwarze Rauchsäulen, die sich
mit den einherschwellenden Wolken vereinten. Zwar
konnte er seine Jäger nicht sehen, doch er hörte sie, wie
sie hinter ihm herheulten. Kehlige Stimmen schrien ihre
Jagdlust heraus, heulten in Vorfreude auf das Blut, das
bald fließen würde. Trollocs. Sie kamen näher, und seine
Kraft war beinahe am Ende.
In verzweifelter Eile kletterte er zur Spitze eines
scharfkantigen Grats hinauf und fiel dort mit einem
Ächzen auf die Knie. Unter ihm befand sich eine steile
Felswand, eine tausend Fuß hohe Klippe, die in eine
riesige Schlucht abstürzte. Dicke Nebelschwaden
bedeckten den Boden der Schlucht. Die dichte graue Masse
rollte in zornigen Wellen, schlug gegen die Klippe unter
ihm und brach sich daran, doch viel langsamer, als sich je
eine Welle im Ozean bewegt hatte. Nebelfetzen glühten
für einen Augenblick rot auf, als flammten unter ihnen
große Feuer, und dann erstarb die Glut wieder. Donner
grollte in den Tiefen der Schlucht, und Blitze zuckten
durch das Grau. Manchmal zuckten die Blitze nach oben
gen Himmel.
Es war nicht die Schlucht selbst, die ihm die Kraft
aussaugte und die verbleibende Leere mit Hilflosigkeit
füllte. Aus dem Mittelpunkt des zornigen Wolkengewühls
erhob sich ein Berg, höher als alle, die er je in den
Verschleierten Bergen gesehen hatte, ein Berg, so schwarz
wie der Verlust aller Hoffnung. Diese düstere Steinspitze,
ein Dolch, der den Himmel erstach, war der Ursprung
seines Verderbens. Er hatte ihn nie zuvor gesehen, aber er
wußte es. Die Erinnerung daran entschlüpfte ihm wie
Quecksilber, als er sie zu fassen versuchte, aber sie war
vorhanden. Er wußte, daß sie da war.
Unsichtbare Finger berührten ihn, zupften an seinen
Armen und Beinen, versuchten, ihn zu dem Berg
hinzuziehen. Sein Körper zuckte, bereit, zu gehorchen.
Arme und Beine versteiften sich ihm, als könne er seine
Finger und Zehen in den Stein eingraben. Geisterfäden
wickelten sich um sein Herz, zogen ihn, riefen ihn hin zu
dem aufragenden Berg.
Tränen rannen ihm über das Gesicht, und er sackte zu
Boden. Er fühlte, wie sein Wille zerrann wie Wasser aus
einem löchrigen Eimer. Nur ein wenig länger, und er
würde gehen, wohin er gerufen wurde. Er würde
gehorchen und tun, was man ihm befahl. Plötzlich
entdeckte er ein weiteres Gefühl: Zorn. Schieb ihn, zieh
ihn – er war doch kein Schaf, das man zum Pferch trieb.
Der Zorn verknotete sich in ihm, und er klammerte sich
daran, wie er sich in der Flut an ein Floß geklammert
hätte.
Diene mir, flüsterte eine Stimme in seinen gelähmten
Verstand hinein. Eine wohlbekannte Stimme. Wenn er
genau genug hinhörte, da war er sicher, würde er sie
erkennen. Diene mir. Er schüttelte den Kopf in dem
Versuch, die Stimme loszuwerden. Diene mir! E r
schwang die Faust in Richtung auf den schwarzen Berg zu.
»Das Licht verschlinge dich, Shai'tan!«
Plötzlich lag der Geruch des Todes in der Luft. Eine
Gestalt ragte über ihm auf mit einem Mantel von der
Farbe getrockneten Blutes, eine Gestalt mit einem
Gesicht... Er wollte das Gesicht nicht sehen, das auf ihn
herunterblickte. Er wollte nicht an dieses Gesicht denken.
Es tat weh, daran zu denken, verbrannte seinen Verstand
zu Asche. Eine Hand streckte sich nach ihm aus. Es war
ihm gleich, ob er über die Kante des Abgrunds fiel. E r
warf sich aus dem Weg dieser Hand. Er mußte weg. Weit
weg. Er fiel, schlug in der Luft um sich, wollte schreien
und hatte den Atem dazu nicht. Er bekam keine Luft
mehr.
Mit einem Mal war er nicht mehr in dem unfruchtbaren
Land und fiel auch nicht mehr. Seine Stiefel trampelten
über winterbraunes Gras, das wie ein Blumenteppich
wirkte. Er lachte beinahe vor Glück, als er vereinzelte
Bäume und Büsche sah, obwohl sie kahl waren; Punkte auf
einer welligen Ebene, die ihn nun umgab. In einiger
Entfernung ragte ein einzelner Berg auf, der Gipfel
zerbrochen und gespalten, doch dieser Berg strahlte weder
Angst noch Verzweiflung aus. Es war einfach ein Berg,
wenn er auch ziemlich fehl am Platz wirkte, da kein
weiterer Berg sichtbar war.
Ein breiter Strom floß vor dem Berg vorbei, und auf
einer Insel in der Mitte dieses Stroms stand eine Stadt wie
aus der Erzählung eines Gauklers, eine Stadt,
eingeschlossen von hohen Mauern, die unter der warmen
Sonne weiß und silbern glänzten. Erleichterung und
Freude erfaßten ihn, als er sich den Mauern näherte. E r
wußte irgendwie, daß er dahinter Ruhe und Geborgenheit
finden würde. Beim Näherkommen entdeckte er
himmelsstürmende Türme, viele von ihnen durch
erstaunliche Stege miteinander verbunden. Hohe Brücken
schwangen sich von beiden Flußufern zu der Inselstadt.
Sogar aus dieser Entfernung erkannte er das kunstvoll
durchbrochene Gemäuer der Pfeiler. Es schien zu
zerbrechlich, um der starken Strömung zu widerstehen,
die unter ihnen hinweg rauschte. Jenseits dieser Brücken
lag die Sicherheit. Zuflucht.
Plötzlich rann ihm ein Schauer durch die Gebeine, seine
Haut wurde eisig klamm und die ihn umgebende Luft
modrig und feucht. Ohne zurückzublicken, rannte er los,
rannte weg vor dem Verfolger, dessen eisige Finger
seinen Rücken streiften und an seinem Umhang zupften,
rannte weg vor der lichtfressenden Gestalt mit dem
Gesicht, das... Er konnte sich an das Gesicht nicht
erinnern, sah es nur als eine Maske des Schreckens. E r
wollte sich nicht an das Gesicht erinnern. Er rannte, und
der Boden glitt unter seinen Füßen davon, wellige Hügel
und flache Ebene... Und er wollte heulen wie ein
übergeschnappter Hund. Die Stadt entfernte sich von ihm.
Je schneller er rannte, desto weiter weg trieben die
leuchtenden weißen Mauern und die Sicherheit. Sie wurde
kleiner und kleiner, bis nur ein blasser Fleck am Horizont
übrig war. Die kalte Hand seines Verfolgers griff nach
seinem Kragen. Er wußte: Berührten ihn diese Finger,
dann würde er dem Wahn verfallen. Oder noch
schlimmer. Viel schlimmer. Und in dem Moment, als ihn
dieses Bewußtsein überfiel, stolperte und stürzte er...
»Neeeiiin!« schrie er...
... und japste, als er auf die Pflastersteine aufschlug,
daß ihm die Luft wegblieb. Erstaunt stand er auf. Er stand
in der Auffahrt zu einer jener wundervollen Brücken, die
er gesehen hatte, wie sie den Strom überspannten.
Lächelnde Menschen gingen auf beiden Seiten an ihm
vorbei, Menschen, die in so viele verschiedene Farben
gekleidet waren, daß er an ein Feld wild wachsender
Blumen erinnert wurde. Einige von ihnen sprachen ihn
an, doch er verstand sie nicht, obwohl die Worte klangen,
als sollte er sie verstehen. Aber die Gesichter waren
freundlich, und die Menschen winkten ihm zu, er solle
weitergehen – über die Brücke mit den kunstvoll
verzierten Steingeländern und weiter zu den leuchtenden,
mit Silber durchsetzten Mauern und den Türmen dahinter.
In die Sicherheit, die auf ihn wartete.
Er schloß sich der Menge an, die über die Brücke und
durch breite Tore und wuchtige hohe Mauern in die Stadt
strömte. Drinnen fand er ein Wunderland, wo das
unscheinbarste Gebäude noch wie ein Palast wirkte. Es
war, als habe man den Erbauern aufgetragen, Stein und
Ziegel und Platte zu ergreifen und damit Schönheit zu
erschaffen, die sterblichen Menschen den Atem raubte.
Kein Gebäude, kein Denkmal, das er nicht mit großen
Augen anstarrte. Musik erfüllte die Straßen, hundert
verschiedene Lieder, und alle vereinten sich mit dem
Lärm der Menge in einer großartigen, freudigen
Harmonie. Die Düfte süßer Parfüme und beißender
Gewürze, wundervoller Speisen und Myriaden von
Blumen trieben durch die Luft, als habe sich jeder
Wohlgeruch der Welt hier versammelt.
Die Straße, über die er die Stadt betreten hatte, breit
und mit glatten grauen Steinen gepflastert, erstreckte sich
kerzengerade vor ihm bis ins Zentrum der Stadt. An
ihrem Ende ragte ein Turm auf, der breiter und höher
war als alle anderen in der Stadt. Er war so weiß wie
frisch gefallener Schnee. In diesem Turm lagen seine
Sicherheit und das Wissen, das er suchte. Aber diese Stadt
war so grandios, wie er es sich nie erträumt hatte.
Bestimmt machte es nichts, wenn er den Gang zum Turm
nur ein wenig hinauszögerte. Er bog in eine engere Straße
ein, wo Jongleure zwischen Ständen mit fremdartigem
Obst ihre Kunst zeigten.
Vor ihm am Ende dieser Straße lag ein schneeweißer
Turm. Derselbe Turm. Ein Weilchen noch, dachte er und
umrundete eine weitere Ecke. Auch am entfernten Ende
dieser Straße lag der weiße Turm. Stur bog er erneut ab
und dann wieder, und jedesmal fiel sein Blick auf den
Alabasterturm. Er drehte sich um, wollte wegrennen –
und hielt inne. Vor ihm – der weiße Turm. Er fürchtete
sich davor, über die Schulter zurückzublicken, weil er
Angst hatte, der Turm werde sich auch dort zeigen. Die
Gesichter um ihn herum waren immer noch freundlich,
doch nun erfüllt von zerschmetterter Hoffnung, Hoffnung,
die er enttäuscht hatte. Immer noch bedeuteten ihm die
Leute, weiterzugehen, gestikulierten bittend. Zum Turm
hin. In ihren Augen stand verzweifelte Not, und nur er
konnte sie lindern, nur er konnte sie retten. Also gut,
dachte er. Schließlich wollte er ja sowieso zu diesem
Turm gehen. Gleich nachdem er den ersten Schritt
vorwärts getan hatte, verschwand die Enttäuschung von
den Gesichtern der Umstehenden und wandelte sich zu
einem Lächeln. Sie gingen mit ihm mit, und kleine Kinder
streuten Blütenblätter vor ihm aus. Er blickte sich
verwirrt um, da er sich fragte, für wen wohl die Blumen
bestimmt seien, doch hinter ihm befanden sich nur weitere
lächelnde Menschen, die ihm bedeuteten, weiterzugehen.
Sie müssen für mich sein, dachte er und staunte darüber,
daß ihm das plötzlich gar nicht mehr eigenartig vorkam.
Das Staunen hielt sich einen Moment und verflog dann;
alles war so, wie es sein sollte.
Zuerst begann einer dieser Menschen zu singen, dann
ein anderer, und schließlich vereinigten sich alle Stimmen
zu einer wunderbaren Hymne. Er konnte die Worte
immer noch nicht verstehen, aber mindestens ein Dutzend
ineinander verwobener Melodien sang von Freude und
Rettung. Musikanten tollten durch die sich
vorwärtsschiebende Menge und ergänzten die Hymne mit
Flöten-, Harfen- und Trommelklängen. Alle die Lieder,
die er vorher gehört hatte, gingen in diese neue Harmonie
über. Mädchen tanzten um ihn herum, legten ihm
Girlanden aus süßduftenden Blumen über und wanden sie
um seinen Hals. Sie lächelten ihn an. Ihre Freude schwoll
mit jedem Schritt, den er tat. Er konnte nicht anders als
zurückzulächeln. Seine Füße wollten sich ihrem Tanz
anschließen, und kaum hatte er daran gedacht, da tanzte er
auch schon, und seine Schritte kamen so sicher, als kenne
er sie bereits seit seiner Geburt. Er warf den Kopf in den
Nacken und lachte; seine Schritte waren beschwingter als
je zuvor, wenn er mit... Er konnte sich an den Namen
nicht erinnern aber es erschien ihm auch nicht wichtig.
Es ist dein Schicksal, flüsterte eine Stimme in seinem
Kopf, und das Flüstern war wie ein Teil des gesamten
Lobgesangs um ihn herum.
Wie ein Zweig, der vom Schaumkamm einer Woge
getragen wird, schwemmte ihn die Menge auf einen
riesigen Platz im Stadtzentrum, und zum ersten Mal sah
er, daß sich der weiße Turm aus einem großen hellen
Marmorpalast erhob, der weniger gebaut als vielmehr von
einem Bildhauer geformt erschien, mit elegant
geschwungenen Wänden, schwellenden Kuppeln und
graziösen Türmchen, die nach dem Himmel griffen. Vor
Ehrfurcht stockte ihm der Atem. Breite Treppen aus
kantig geformtem Stein führten vom Platz aus hoch, und
die Menschen blieben am Fuß dieser Treppen stehen, doch
ihr Lied schwoll immer stärker an. Die andächtigen
Stimmen trugen seine Füße empor. Dein Schicksal,
flüsterte die Stimme eifrig und eindringlich.
Er tanzte nicht mehr, blieb aber keineswegs stehen.
Ohne Zögern schritt er die Treppen hinauf. Er gehörte
hierher.
Die massiven Türflügel am oberen Ende der Treppe
waren mit Runen bedeckt, dermaßen verflochtenen und
feinen Gravierungen, daß er sich keine Klinge vorstellen
konnte, die fein genug wäre, um das fertigzubringen. Das
Tor öffnete sich, und er schritt hinein. Die Türflügel
schlossen sich mit einem Donnerhall hinter ihm.
»Wir haben auf dich gewartet«, zischte der Myrddraal.

Rand schnellte hoch, schnappte nach Luft und zitterte, die


Augen weit aufgerissen. Tam schlief noch in seinem Bett.
Langsam beruhigte sich Rands Atem. Halbverglühte
Holzscheite loderten im Kamin. Um sie herum war ein
schöner Ring aus Kohle aufgehäuft; jemand mußte das
getan haben, während er schlief. Zu seinen Füßen lag eine
Decke, die ihm beim Hochschnellen heruntergefallen war.
Auch die provisorische Bahre war verschwunden, und die
Umhänge waren ordentlich an der Tür aufgehängt
worden. Mit einer immer noch zitternden Hand wischte er
sich kalten Schweiß von der Stirn. Er fragte sich, ob es
den Dunklen König auch dann auf ihn aufmerksam
machen könne, wenn er ihn im Schlaf nannte und nicht im
wachen Zustand.
Draußen dämmerte es, der Mond stand rund und fett
hoch am Himmel, und über den Verschleierten Bergen
glitzerten die Abendsterne. Er hatte den Tag verschlafen.
Er rieb sich über einen schmerzenden Fleck an der Seite.
Offensichtlich war er eingeschlafen, obwohl ihn der
Schwertgriff in die Rippen drückte. Das und ein leerer
Magen und die ereignisreiche Nacht zuvor: kein Wunder,
wenn er Alpträume hatte.
Sein Magen knurrte, und so stand er steif auf und trat
zum Tisch, auf dem Frau al'Vere das Tablett abgestellt
hatte. Er zog das weiße Tuch beiseite. Obwohl er einige
Zeit geschlafen hatte, war die Rindfleischbrühe noch
warm, genau wie das Brot mit seiner knusprigen Rinde.
Es wurde ihm schnell klar, was Frau al'Vere getan hatte:
Das Tablett war ausgetauscht worden. Wenn sie einmal
beschlossen hatte, daß jemand eine warme Mahlzeit
brauchte, dann gab sie nicht auf, bis man sie gegessen
hatte.
Er trank ein wenig Brühe, legte rasch Fleisch und Käse
zwischen zwei Scheiben Brot und stopfte sich alles in den
Mund. Zwischen den ersten großen Bissen ging er zum
Bett zurück. Frau al'Vere hatte sich offensichtlich auch
um Tam gekümmert. Er war ausgezogen worden. Seine
Kleider lagen nun sauber und zusammengelegt auf dem
Nachttisch, und eine Decke war ihm bis unter das Kinn
hochgezogen worden. Als Rand die Stirn seines Vaters
berührte, öffnete Tam die Augen. »Da bist du ja, Junge.
Marin hat mir gesagt, daß du hier bist, aber ich war noch
nicht einmal in der Lage, mich aufzusetzen, um nach dir
zu sehen. Sie sagte, du seist zu müde, und sie könne dich
nicht wecken, nur damit ich dich sehe. Selbst Bran kann
da nichts ausrichten, wenn sie sich etwas in den Kopf
gesetzt hat.«
Tams Stimme klang schwach, doch sein Blick war klar
und ruhig. Die Aes Sedai hatte recht, dachte Rand.
Genügend ausgeruht wird er auch wieder ganz gesund.
»Kann ich dir etwas zu essen holen? Frau al'Vere hat ein
Tablett dagelassen.«
»Sie hat mich bereits gefüttert... Falls man das so
nennen kann. Gab mir nur ein wenig Brühe. Wie kann ein
Mann Alpträume meiden, wenn er nichts als Brühe im...«
Tam befreite eine Hand aus der Decke und berührte das
Schwert an Rands Hüfte. »Dann war es kein Traum. Als
Marin mir sagte, ich sei krank, dachte ich, ich sei... Aber
du bist in Ordnung. Das ist die Hauptsache. Was ist mit
dem Hof?«
Rand holte tief Luft. »Die Trollocs haben die Schafe
getötet. Ich glaube, auch die Kuh, na ja, und das Haus muß
gesäubert werden.« Er brachte ein schwaches Lächeln
zustande. »Wir hatten mehr Glück als andere. Sie haben
das halbe Dorf niedergebrannt.«
Er erzählte Tam alles, was geschehen war – oder
zumindest das meiste. Tam hörte genau zu und schoß
manche Frage auf ihn ab. So mußte er ihm wohl oder übel
erzählen, daß er aus dem Wald nochmals zum Haus
zurückgekehrt war, und das brachte ihr Gespräch auf den
Trolloc, den er getötet hatte. Er mußte ihm erzählen, daß
Nynaeve behauptet hatte, er werde sterben, um zu
erklären, warum die Aes Sedai ihn behandelt hatte statt
der Seherin. Tam machte große Augen, als er das hörte:
eine Aes Sedai in Emondsfeld. Aber Rand fand es nicht
notwendig, jeden Schritt ihrer Flucht vom Hof zu
erklären, seine Ängste zu schildern oder den Myrddraal
auf der Straße zu erwähnen. Und ganz bestimmt nicht
seine Alpträume, als er neben dem Bett schlief. Er sah
insbesondere auch keinen Grund, Tams Fiebergestammel
zu wiederholen. Noch nicht. Aber Moiraines Geschichte
zu erzählen, ließ sich natürlich nicht vermeiden.
»Das ist nun eine Geschichte, auf die selbst ein Gaukler
stolz sein könnte«, murmelte Tam, als Rand fertig war.
»Was wollen die Trollocs mit euch Jungen anfangen?
Oder – das Licht helfe uns – der Dunkle König?«
»Glaubst du, sie lügt? Meister al'Vere sagt, sie habe die
Wahrheit gesagt, daß nur zwei Bauernhöfe überfallen
wurden. Und was sie über Meister Luhhans und Meister
Cauthons Haus sagte.«
Einen Augenblick lang lag Tam schweigend da, bevor
er bat: »Erzähl mir genau, was sie gesagt hat. Ihre eigenen
Worte, bitte, so wie sie es ausgedrückt hat!«
Rand rang nach Worten. Wer erinnert sich schon
jemals an die genauen Worte, die er gehört hatte? E r
kaute auf der Lippe herum und kratzte sich am Kopf und
brachte es schließlich Stückchen für Stückchen heraus, so
gut er sich eben erinnern konnte. »An mehr kann ich mich
nicht erinnern«, schloß er. »Bei einigem bin ich nicht
ganz sicher, ob sie es wirklich genau so ausgedrückt hat,
aber zumindest entspricht es ihren Worten.«
»Ist schon in Ordnung. Siehst du, Junge, die Aes Sedai
haben viele Tricks auf Lager. Sie lügen nicht, jedenfalls
nicht direkt, aber was dir eine Aes Sedai als Wahrheit
erzählt, ist nicht immer das, was du glaubst. Du mußt
vorsichtig sein.«
»Ich habe die Geschichten auch gehört«, gab Rand
zurück. »Ich bin doch kein Kind.«
»Nein, bist du nicht.« Tam seufzte tief und zuckte dann
die Achseln. »Trotzdem sollte ich mitkommen. Die Welt
außerhalb der Zwei Flüsse ist ganz anders als
Emondsfeld.«
Das war nun eine Gelegenheit, Tam zu fragen, ob er
wirklich schon draußen gewesen sei und was Rand sonst
noch auf der Seele brannte, doch er nahm sie nicht wahr.
Statt dessen brachte er den Mund vor Staunen nicht zu.
»Einfach so? Ich dachte, du würdest versuchen, mir das
auszureden. Ich dachte, du würdest mir hundert Gründe
nennen, warum ich nicht gehen soll.« Ihm wurde klar, daß
er gehofft hatte, Tam werde hundert gute Gründe dafür
nennen.
»Vielleicht keine hundert«, sagte Tam schnaubend,
»aber ein paar sind mir schon eingefallen. Nur spielen die
keine große Rolle. Wenn Trollocs hinter dir her sind, bist
du in Tar Valon sicherer, als du es hier je sein könntest.
Denk nur daran, mißtrauisch zu bleiben. Aes Sedai tun
manches aus Gründen, die nicht immer dasselbe bedeuten,
was du glaubst.«
»Das hat der Gaukler auch gesagt«, sagte Rand
langsam.
»Dann weiß er, wovon er spricht. Du hörst genau zu,
denkst gut nach und hältst deine Zunge im Zaum. Das ist
ein guter Rat in bezug auf alles, was du außerhalb der
Zwei Flüsse antriffst und ganz speziell, was die Aes Sedai
betrifft. Und die Behüter. Erzähl Lan etwas, und du hast
es auch Moiraine erzählt. Wenn er ein Behüter ist, dann
ist er ihr so sicher zugeschworen, wie die Sonne heute
morgen aufging, und er wird nicht viel, wenn überhaupt
etwas vor ihr geheimhalten.«
Rand wußte wenig über das Zuschwören eines Behüters
mit einer Aes Sedai, obwohl es eine wichtige Rolle in
jeder Geschichte über die Behüter spielte. Es hatte etwas
mit der Macht zu tun, so etwas wie ein Geschenk an den
Behüter oder vielleicht auch irgendein Austausch. Den
Geschichten nach hatten die Behüter jede Menge Vorteile
davon. Ihre Wunden heilten schneller als bei anderen
Menschen, und sie konnten länger ohne Essen oder Wasser
oder Schlaf auskommen. Man nahm auch an, sie könnten
Trollocs spüren, wenn sie nahe genug waren, oder auch
andere Kreaturen des Dunklen Königs, und das erklärte
auch, warum Lan und Moiraine versucht hatten, das Dorf
vor dem Angriff zu warnen. Was die Aes Sedai davon
hatten, darüber schwiegen die Geschichten, aber er konnte
nicht glauben, daß sie keinen Vorteil aus dieser
Verbindung zogen.
»Ich werde aufpassen«, sagte Rand. »Doch wüßte ich
gern, warum. Es ergibt alles keinen Sinn. Warum ich?
Warum wir?«
»Ich möchte es auch gern wissen, Junge. Blut und
Asche, ich möchte es wirklich wissen!« Tam seufzte tief.
»Na ja, man kann ein ausgeschlagenes Ei nicht wieder in
die Schale zurückstecken. Wie bald mußt du weg? Ich bin
in ein oder zwei Tagen wieder auf den Beinen...«
»Moiraine... Die Aes Sedai sagt, daß du im Bett bleiben
mußt. Wochenlang, meinte sie.« Tam öffnete den Mund,
doch Rand fuhr fort. »Und sie hat mit Frau al'Vere
darüber gesprochen.«
»Oh? Na ja, vielleicht kann ich Marin doch
kleinkriegen.« Allerdings klang Tams Stimme nicht sehr
hoffnungsvoll. Er sah Rand scharf an. »Die Art, wie du
eine klare Antwort vermieden hast, bedeutet
wahrscheinlich, daß du bald weg mußt. Morgen? Oder
heute nacht?«
»Heute nacht«, sagte Rand leise, und Tam nickte
traurig.
»Ja. Also, wenn es schon sein muß, dann darfst du dich
nicht aufhalten. Aber in bezug auf die ›Wochen‹ ist noch
nicht das letzte Wort gesprochen.« Er zupfte eher ratlos
als kraftvoll an seiner Decke herum. »Vielleicht komme
ich sowieso in ein paar Tagen nach. Hole dich unterwegs
ein. Wir werden ja sehen, ob mich Marin im Bett
festhalten kann, wenn ich aufstehen will.«
Jemand klopfte an die Tür, und Lan steckte den Kopf
herein. »Sag schnell auf Wiedersehen, Schäfer, und
komm! Es könnte Schwierigkeiten geben.«
»Schwierigkeiten?« fragte Rand, und der Behüter
knurrte ihn ungeduldig an. »Mach schnell!«
Hastig schnappte Rand sich seinen Umhang. Er wollte
das Schwert abschnallen, doch Tam erhob Einspruch.
»Behalt es! Du wirst es vielleicht nötiger brauchen als
ich, obwohl, so das Licht es will, vielleicht keiner von uns
so etwas braucht. Paß auf dich auf, Junge! Verstanden?«
Rand überhörte Lans fortgesetztes Knurren und beugte
sich über Tam. Sie nahmen sich in die Arme. »Ich komme
zurück. Das verspreche ich dir.«
»Natürlich kommst du wieder.« Tam lachte. E r
erwiderte die Umarmung schwach und klopfte Rand
schließlich auf den Rücken. »Das weiß ich. Und wenn du
zurückkehrst, werde ich doppelt so viele Schafe haben, die
du dann hüten mußt. Jetzt geh aber, bevor dieser Bursche
durchdreht.«
Rand rang nach Worten, um die Frage zu formulieren,
die er eigentlich nicht hatte stellen wollen, aber Lan kam
ins Zimmer, packte ihn am Arm und zog ihn hinaus in den
Flur. Der Behüter hatte sich ein mit Metallschuppen
bedecktes graugrünes Wams übergezogen. Seine Stimme
klang rauh vor Ärger.
»Wir müssen uns beeilen! Verstehst du das Wort
Schwierigkeiten nicht?«
Draußen wartete Mat. Er hatte Mantel und Umhang an
und trug seinen Bogen. An seiner Hüfte hing ein Köcher.
Er trippelte ängstlich hin und her und sah immer wieder
zur Treppe hinüber. Sein Blick schien eine Mischung aus
Ungeduld und Angst auszudrücken. »Das ist nicht ganz so
wie in den Geschichten, Rand, oder?« fragte er heiser.
»Welche Schwierigkeiten denn?« wollte Rand wissen,
aber statt zu antworten, rannte der Behüter voraus und
nahm immer zwei Stufen auf einmal. Mat hetzte ihm
hinterher, nachdem er Rand mit einer schnellen Bewegung
bedeutet hatte, ihnen zu folgen.
Er rannte los, wobei er sich auch noch den Umhang
über den Kopf zog. Unten holte er sie ein. Der
Schankraum war nur schwach beleuchtet; die Hälfte der
Kerzen war ausgebrannt, und die andere Hälfte flackerte
nur noch. Der Raum war leer. Mat stand neben einem
Fenster und spähte hinaus, als wolle er von draußen nicht
gesehen werden. Lan öffnete die Tür einen Spalt und
blickte in den Hof hinaus.
Er fragte sich, wonach sie Ausschau hielten, und
gesellte sich zu ihnen. Der Behüter raunte ihm zu, er solle
vorsichtig sein, aber er öffnete die Tür ein wenig weiter,
damit Rand auch hinaussehen konnte.
Zuerst war er sich nicht sicher, was da draußen
wirklich geschah. Männer aus dem Dorf, drei Dutzend
etwa, hatten sich neben dem ausgebrannten Gestell des
Krämerwagens versammelt. Die Fackeln, die sie trugen,
verdrängten die Nacht. Moiraine stand ihnen gegenüber,
der Schenke den Rücken zugekehrt, und stützte sich
scheinbar unbeteiligt auf ihren Wanderstock. Hari Coplin
stand mit seinem Bruder Darl und Bili Congar etwas den
anderen entfernt. Auch Cenn Buie war da. Er blickte
ziemlich unglücklich drein. Rand war überrascht, als er
sah, wie Hari Moiraine mit der Faust bedrohte.
»Verlaßt Emondsfeld!« rief der Bauer mit dem
mürrischen Gesicht. Ein paar Stimmen aus der Menge
unterstützten ihn, aber nur zögernd, und niemand drängte
sich vor. Sie hatten den Mut, sich innerhalb einer
Menschenmenge einer Aes Sedai zu stellen, aber keiner
wollte ihr allein gegenüberstehen. Keiner Aes Sedai, die
auch noch Grund hatte, sich angegriffen zu fühlen.
»Ihr habt diese Ungeheuer hergebracht!« brüllte Darl.
Er schwenkte eine Fackel über dem Kopf, und man hörte
Rufe wie: »Ihr habt sie hergebracht!« und »Es ist Eure
Schuld!« Der lauteste Schreier war sein Vetter Bili.
Hari stieß Cenn Buie mit dem Ellbogen, und der alte
Dachdecker spitzte die Lippen, wobei er ihn von der Seite
her böse ansah. »Diese Dinger... diese Trollocs sind erst
aufgetaucht, nachdem Ihr hierher kamt«, murmelte Cenn,
gerade laut genug, um noch hörbar zu sein. Er drehte den
Kopf mürrisch von Seite zu Seite, als wünsche er sich
irgendwo anders hin und suche nach einem Weg, dorthin
zu kommen. »Ihr seid eine Aes Sedai. Wir wollen keine
von Euch hier bei den Zwei Flüssen. Aes Sedai bringen
Unglück mit sich. Wenn Ihr bleibt, wird es nur noch
schlimmer.«
Seine Rede rief keine Reaktion in den Reihen der
versammelten Dorfbewohner hervor, und so blickte Hari
enttäuscht und grimmig drein. Plötzlich riß er Darl die
Fackel aus der Hand und schwenkte sie in ihre Richtung.
»Geht fort!« schrie er. »Oder wir brennen Euch hinaus!«
Eisiges Schweigen folgte. Nur das Schlurfen von Füßen
war hörbar, als sich die Männer zurückzogen. Die Leute
von den Zwei Flüssen konnten sich zur Wehr setzen, wenn
man sie angriff, aber Gewaltanwendung war nicht üblich,
und es lag ihnen fern, Menschen zu bedrohen. Höchstens
daß einer mal die Faust schwenkte. Cenn Buie, Bili
Congar und die Coplins standen ganz allein vor den
anderen. Bili machte den Eindruck, als wollte er sich auch
am liebsten zurückziehen.
Hari schreckte leicht zusammen, als er merkte, wie
wenig Unterstützung er bekam, aber er erholte sich
schnell. »Geht fort!« schrie er wieder. Darl tat es ihm
nach und schließlich, etwas leiser, auch Bili. Hari sah die
anderen böse an. Die meisten in der Menge mieden seinen
Blick.
Plötzlich traten Bran al'Vere und Haral Luhhan aus
dem Schatten und blieben stehen, ein Stück von der
Menge, aber auch von der Aes Sedai entfernt. In einer
Hand trug der Bürgermeister wie zufällig den großen
Holzhammer, den er benutzte, um Zapfhähne in die Fässer
zu treiben. »Hat jemand vorgeschlagen, meine Schenke
anzuzünden?« fragte er sanft.
Die beiden Coplins traten einen Schritt zurück, und
Cenn Buie setzte sich von ihnen ab. Bili Congar schob sich
in die Menge hinein. »Das nicht«, sagte Darl schnell. »Das
haben wir nie gesagt, Bran... äh, Bürgermeister.«
Bran nickte. »Dann habe ich vielleicht gehört, wie ihr
Gäste meiner Schenke bedroht habt?«
»Sie ist eine Aes Sedai«, begann Hari wütend, aber
seine Worte brachen ab, als Haral Luhhan sich bewegte.
Der Schmied streckte sich einfach nur, erhob die dicken
Arme über den Kopf, ballte die kräftigen Fäuste, bis die
Gelenke knackten, doch Hari sah den bulligen Mann an,
als hätte er ihm diese Fäuste unter die Nase gehalten.
Haral verschränkte die Arme wieder vor der Brust.
»Verzeihung, Hari. Ich wollte dich nicht unterbrechen.
Was hattest du gesagt?«
Aber Hari zog die Schultern ein, als wolle er in sich
selbst hineinkriechen und verschwinden, und schien nichts
mehr zu sagen zu haben.
»Ich bin über euch Leute überrascht«, grollte Bran.
»Paet al'Caar, deinem Jungen wurde letzte Nacht das Bein
gebrochen, aber ich habe ihn heute wieder herumlaufen
sehen – und das hat er ihr zu verdanken. Eward Candwin,
du hast auf dem Bauch gelegen – mit einem Schnitt im
Rücken wie ein Fisch, den man ausnehmen will, bis sie die
Hände auf dich gelegt hat. Jetzt sieht es aus, als sei es vor
einem Monat passiert, und wenn ich mich nicht irre, wird
kaum eine Narbe bleiben. Und du, Cenn...« Der
Dachdecker schob sich ein Stück rückwärts auf die Menge
zu, blieb aber dann stehen, von Brans Blick festgehalten.
»Ich wäre schon bestürzt genug, hier einen Mann aus dem
Gemeinderat anzutreffen, aber am meisten, wenn es
ausgerechnet du bist, Cenn. Wenn sie nicht gewesen wäre,
hinge dein Arm immer noch schlaff an deiner Seite herab,
mit unzähligen Verbrennungen und Abschürfungen. Wenn
du schon keine Dankbarkeit kennst, schämst du dich dann
nicht wenigstens?«
Cenn hob die rechte Hand ein Stück, blickte dann aber
ärgerlich zur Seite. »Ich leugne nicht, was sie getan hat«,
murmelte er, und es hörte sich tatsächlich an, als schäme
er sich. »Sie hat mir und anderen geholfen«, fuhr er in
einem beinahe bittenden Tonfall fort, »aber sie ist eine
Aes Sedai, Bran. Wenn diese Trollocs nicht ihretwegen
gekommen sind, warum dann? Wir wollen keine Aes
Sedai bei den Zwei Flüssen. Sie sollen ihre Zwistigkeiten
von uns fernhalten!«
Ein paar Männer, sicher in der Menge verborgen,
riefen nun: »Wir wollen keinen Ärger mit den Aes
Sedai!« »Schickt sie weg!« »Treibt sie davon!« »Warum
sind sie gekommen, wenn nicht ihretwegen?«
Brans Gesicht verfinsterte sich zusehends, aber bevor
er etwas sagen konnte, wirbelte Moiraine plötzlich ihren
mit Ranken beschnitzten Stock hoch über dem Kopf durch
die Luft. Sie drehte ihn mit beiden Händen. Rand
schnappte genau wie die Dorfbewohner nach Luft, denn
aus jedem Ende des Stocks fuhr zischend eine weiße
Flamme. Trotz der wirbelnden Bewegung des Stocks
stachen die Flammen gleichmäßig wie Speerspitzen
heraus. Sogar Bran und Haral zogen sich zurück. Sie ließ
die Arme fallen und hielt sie gerade ausgestreckt, den
Stock parallel zum Boden. Aber das blasse Feuer zischte
immer noch daraus hervor, heller als die Fackeln. Die
Männer scheuten zurück, hielten die Hände vors Gesicht,
um die Augen vor dem Schmerz zu bewahren, den das
Strahlen verursachte.
»Ist Aemons Blut in euch so dünn geworden?« Die
Stimme der Aes Sedai war nicht laut, doch sie übertönte
jedes andere Geräusch. »Kleine Leute, die sich um das
Recht zanken, sich wie die Kaninchen zu verstecken? Ihr
habt vergessen, wer Ihr wart, vergessen, was Ihr wart,
aber ich hatte gehofft, es sei noch ein wenig davon
übriggeblieben, ein schwacher Abklatsch in Eurem Blut
und Euren Knochen. Irgendein Überbleibsel, um Euch auf
die lange Nacht vorzubereiten, die gerade anbricht.«
Keiner sagte ein Wort. Die beiden Coplins sahen aus,
als wollten sie nie wieder den Mund öffnen.
Bran sagte: »Vergessen, wer wir waren? Wir sind, wer
wir immer waren. Ehrliche Bauern und Schäfer und
Handwerker. Die Leute der Zwei Flüsse.«
»Im Süden«, sagte Moiraine, »liegt der Fluß, den ihr
den Weißen Fluß nennt, doch weit weg im Osten nennen
ihn die Menschen immer noch bei seinem rechtmäßigen
Namen: Manetherendrelle. In der Alten Sprache: Die
Wasser der Bergheimat. Schimmernde Wasser, die einst
durch ein Land der Schönheit und Tapferkeit flossen. Vor
zweitausend Jahren floß der Manetherendrelle an den
Mauern einer Bergstadt vorbei, die so schön anzusehen
war, daß sogar Steinwerker der Ogier kamen, um sie
staunend zu betrachten. Ackerland und Dörfer bedeckten
diese Gegend und das Gebiet, das Ihr den Wald der
Schatten nennt, und noch mehr. Aber diese Menschen
betrachteten sich als die Leute der Bergheimat, die
Einwohner von Manetheren.
Ihr König war Aemon al Caar al Thorin, Aemon, der
Sohn des Caar, Sohn des Thorin, und Eldrene ay Carlan
war seine Königin. Aemon war ein so furchtloser Mann,
daß das größte Kompliment, das man jemandem für seinen
Mut machen konnte, sogar unter seinen Feinden damals
hieß: Der Mann hat Aemons Herz. Eldrene war so schön,
daß man sich erzählte, die Blumen blühten nur, um sie
zum Lächeln zu bringen. Mut und Schönheit und Weisheit
und eine Liebe, die auch der Tod nicht zerbrechen konnte.
Weint, wenn ihr noch ein Herz im Leib habt, weil sie
verloren sind, weil sogar die Erinnerung an sie
verlorenging. Weint, denn auch ihr Blut scheint
verloren.«
Sie schwieg, und niemand sprach. Rand war wie die
anderen in ihrem Bann gefangen. Als sie wieder begann,
lauschte er begierig ihren Worten, genau wie die anderen.
»Beinahe zwei Jahrhunderte lang hatten die Trolloc-
Kriege die Welt der Länge und der Breite nach verwüstet,
und wo immer Schlachten tobten, da war das Banner von
Manetheren mit seinem Roten Adler in der vordersten
Linie zu finden. Die Männer von Manetheren waren ein
Dorn im Fuß des Dunklen Königs und ein Stachel in
seiner Hand. Singt von Manetheren, das nie sein Knie dem
Schatten beugte. Singt von Manetheren, dem Schwert, das
nicht zerbrochen werden konnte.
Sie waren weit weg, die Männer von Manetheren, auf
dem Feld von Bekkar, das man auch das Feld des Blutes
nennt, als sich die Nachricht verbreitete, daß eine Trolloc-
Armee gegen ihre Heimat marschierte. Zu weit entfernt,
um etwas anderes zu tun, als darauf zu warten, vom Tod
ihres Landes zu hören, denn der Dunkle König wollte
ihnen ein Ende bereiten. Töte die mächtige Eiche, indem
du ihre Wurzeln abhackst. Zu weit weg, um etwas anderes
zu tun, als zu trauern. Aber sie waren die Männer der
Bergheimat.
Ohne zu zögern, ohne an die Entfernung zu denken, die
sie zurücklegen mußten, marschierten sie direkt vom
ruhmreichen Schlachtfeld los, immer noch mit Staub und
Blut und Schweiß bedeckt. Tag und Nacht marschierten
sie, denn sie hatten die Schrecken erlebt, die eine Armee
von Trollocs hinter sich zurückläßt, und keiner von ihnen
konnte ruhig schlafen, während eine solche Gefahr
Manetheren bedrohte. Sie marschierten, als hätten sie
Schwingen an den Füßen, weiter und schneller, als ihre
Freunde hofften und ihre Feinde fürchteten. Zu jeder
anderen Zeit hätte allein dieser Marsch schon Dichter und
Sänger inspiriert. Als die Armeen des Dunklen Königs
über die Ländereien von Manetheren herfallen wollten,
standen die Mannen der Bergheimat bereits vor ihnen mit
dem Rücken zum Tarendrelle.«
Irgendein Dorfbewohner brachte seinen Beifall zum
Ausdruck, doch Moiraine fuhr fort, als habe sie es nicht
gehört. »Die Heerschar, der sich die Mannen von
Manetheren gegenübersahen, war gewaltig genug, um
auch das tapferste Herz zum Zittern zu bringen. Raben
verdunkelten den Himmel, Trollocs verdunkelten das
Land. Trollocs und ihre menschlichen Verbündeten.
Zehntausende und Aberzehntausende von Trollocs und
Schattenfreunden, von Schattenlords geführt. In der Nacht
sah man mehr Lagerfeuer als Sterne am Himmel, und in
der Morgendämmerung sah man das Banner von
Ba'alzamon an ihrer Spitze. Ba'alzamon, das Herz der
Dunkelheit. Ein uralter Name für den Vater der Lügen.
Der Dunkle König konnte noch nicht aus seinem
Gefängnis am Shayol Ghul befreit sein, denn wäre das der
Fall gewesen, hätte keine menschliche Macht ausgereicht,
um ihm zu widerstehen, und doch war viel Macht hier
versammelt. Schattenlords und so viel Böses, daß das
lichtzerstörende Banner durchaus angebracht schien und
die Seelen der Männer, die ihm gegenüberstanden,
erzittern ließ.
Und doch wußten sie, was sie zu tun hatten. Ihre Heimat
lag gleich jenseits des Flusses. Sie mußten diese Heerschar
und die sie begleitenden Mächte von der Bergheimat
fernhalten. Aemon hatte Boten ausgesandt. Hilfe wurde
ihnen versprochen, wenn sie sich nur drei Tage lang am
Tarendrelle halten konnten. Drei Tage lang aushalten
gegen eine Übermacht, die sie schon während der ersten
Stunde überwältigen würde. Und doch ertrugen sie den
blutigen Angriff in verzweifelter Gegenwehr, hielten eine
Stunde lang stand, eine zweite Stunde und eine dritte. Drei
Tage lang kämpften sie, und obwohl das Land einem
Schlachthof glich, gestatteten sie dem Feind keinen
Übergang über den Tarendrelle. Als die dritte Nacht sich
neigte, war immer noch keine Hilfe gekommen und auch
kein Kurier. Sie kämpften allein weiter. Sechs Tage lang.
Neun Tage. Und am zehnten Tag schmeckte Aemon den
bitteren Geschmack des Verrats. Es kam keine Hilfe, und
sie konnten die Flußübergänge nicht länger halten.«
»Was machten sie dann?« wollte Hari wissen. Fackeln
flackerten im kalten Nachtwind, aber niemand bewegte
sich, um einen Umhang enger um sich zu wickeln.
»Aemon überquerte den Tarendrelle«, sagte ihnen
Moiraine, »und zerstörte die Brücken hinter ihnen. Und
er sandte Boten durch das Land, um den Menschen zu
sagen, sie sollten fliehen, denn es war ihm klar, daß die
Mächte, die das Trolloc-Heer begleiteten, einen Weg
finden würden, es über den Fluß zu schaffen. Und noch
während die Boten forteilten, begannen die Trollocs, den
Fluß zu überqueren, und die Soldaten von Manetheren
stellten sich ihnen erneut, um ihren Landsleuten Zeit zur
Flucht zu erkaufen. Von der Stadt Manetheren aus führte
Eldrene die Flüchtlinge in die tiefsten Wälder und in die
Schlupfwinkel der Berge.
Doch manche flohen auch nicht. Zuerst nur wenige,
dann immer mehr, und schließlich strömten Männer nicht
in Richtung Sicherheit, sondern zu der Armee, die für ihr
Land kämpfte. Schäfer mit dem Bogen und Bauern mit
der Mistgabel und Waldarbeiter mit der Axt. Auch Frauen
kamen mit, schulterten an Waffen, was sie finden konnten,
und marschierten an der Seite ihrer Männer in den
Kampf. Keiner, der nicht wußte, daß er nie mehr
zurückkehren würde. Aber es war ihr Land. Es war das
Land ihrer Väter gewesen, und es würde ihren Kindern
gehören, und sie waren bereit, den Preis dafür zu
bezahlen. Kein Fußbreit Boden wurde preisgegeben,
bevor er nicht mit Blut getränkt war, doch am Ende
wurde die Armee von Manetheren zurückgedrängt,
hierher, an diesen Ort, den ihr nun Emondsfeld nennt.
Und hier wurden sie von den Trolloc-Horden
eingeschlossen.«
In ihrer Stimme schwangen kalte Tränen mit. »Tote
Trollocs und die Leichen von Abtrünnigen lagen zu
Hügeln aufgetürmt, doch immer mehr krochen über die
Gebeinhaufen in endlosen Wellen des Todes. Es konnte
nur einen Ausgang geben. Kein Mann und keine Frau, die
zu Beginn dieses Tages unter dem Banner des Roten
Adlers gestanden hatten, erlebte noch den Anbruch der
Nacht. Das Schwert, das nicht zerbrochen werden konnte,
zersplitterte.
In den Verschleierten Bergen, allein in der leeren Stadt
Manetheren, fühlte Eldrene, wie Aemon starb, und ihr
Herz starb mit ihm. Und wo ihr Herz gewesen war, da
blieb nur noch ein Wunsch nach Rache übrig, Rache für
ihre Liebe, Rache für ihre Untertanen und für ihr Land.
Von Schmerz getrieben, verband sie sich mit der Wahren
Quelle und lenkte die Eine Macht auf die Trolloc-Armee.
Und die Schattenlords starben, wo sie gerade standen,
gleichgültig, ob in einer geheimen Beratung oder bei der
Inspektion ihrer Soldaten. Innerhalb eines Atemzugs
brachen die Schattenlords und die Generale des Dunklen
Königs in Flammen aus. Feuer verschlang ihre Körper,
und Angst überwältigte ihre gerade noch siegreiche
Armee.
Jetzt rannten sie wie die Tiere, die vor einem
Waldbrand flüchteten, und dachten an nichts anderes als
an Flucht. Nach Norden und Süden flohen sie. Tausende
ertranken, als sie versuchten, ohne die Hilfe der
Schattenlords den Tarendrelle zu überqueren, und am
Manetherendrelle rissen sie die Brücken ein aus Angst vor
den Verfolgern. Wo immer sie auf Menschen stießen, da
mordeten und verbrannten sie, aber sie wurden von dem
Gedanken an Flucht beherrscht. Bis schließlich keiner
mehr im Lande Manetheren zurückblieb. Sie wurden
verstreut wie Staub von einem Wirbelwind. Die
endgültige Rache erfolgte langsamer, aber sie holte sie
ein, als sie nämlich von anderen Völkern gejagt wurden,
von den Heeren anderer Länder. Keiner von denen, die
am Aemonsfeld gemordet hatten, blieb am Leben. Aber
Manetheren zahlte einen hohen Preis. Eldrene hatte mehr
Macht in sich vereint, als ein Mensch je ohne Hilfe
beherrschen kann. Als die Generale des Feindes starben,
starb auch sie, und das Feuer, das sie verschlang,
verschlang auch die leere Stadt Manetheren, selbst die
Steine bis hinunter auf den Grundfels des Gebirges. Und
doch waren die Menschen gerettet.
Von ihren Bauernhöfen, ihren Dörfern oder ihrer
großartigen Stadt war nichts übriggeblieben. Einige
meinten, es sei überhaupt nichts mehr übrig für sie, und
sie müßten in andere Länder fliehen, um dort neu zu
beginnen. Sie sagten es aber nicht. Sie hatten einen solch
hohen Preis an Blut und Hoffnung für ihr Land bezahlt,
wie es noch nie zuvor geschehen war, und nun waren sie
durch Bande, stärker als Stahl, an diese Erde gebunden.
Sie wurden in späteren Jahren mit anderen Kriegen
überzogen, bis schließlich ihre Ecke der Welt vergessen
wurde und bis sie die Kriege und ihre Folgen vergessen
hatten. Manetheren erhob sich niemals mehr. Ihre
schwebenden Türme und plätschernden Brunnen wurden
zu Teilen eines Traums, der langsam in der Erinnerung
der Menschen verblaßte. Doch sie und ihre Kinder und
Kindeskinder hielten dieses Land, das ihnen gehörte. Sie
hielten es, auch wenn die langen Jahrhunderte das Warum
aus ihren Gedächtnissen wuschen. Sie hielten es bis heute,
bis zu euch. Weint um Manetheren. Weint um das, was für
immer verloren ist.«
Die Flammen aus Moiraines Stock erloschen, und sie
senkte ihn, als wöge er hundert Pfund. Lange Augenblicke
war das Heulen des Windes der einzige Laut. Dann schob
sich Paet al'Caar vor die Coplins.
»Ich weiß nichts von Eurer Geschichte«, sagte der
Bauer mit dem langen Kinn. »Ich bin kein Dorn im Fuß
des Dunklen Königs und werde es wahrscheinlich auch nie
sein. Aber mein Wil kann dank Eurer Hilfe wieder laufen,
und deshalb schäme ich mich, hier zu sein. Ich weiß nicht,
ob Ihr mir vergeben könnt, aber ob Ihr könnt oder nicht,
ich gehe jetzt. Und was mich betrifft, könnt Ihr so lange
in Emondsfeld bleiben, wie es Euch beliebt.«
Mit einem geschwinden Kopfnicken, beinahe schon
einer Verbeugung schob er sich in die Menge zurück. Nun
murmelten auch andere, taten verschämt Buße, bevor sie
ebenfalls davon schlichen. Die Coplins, mit finsterer
Miene und heruntergezogenen Mundwinkeln, sahen die
Gesichter der Menschen und verschwanden ohne ein Wort
in der Nacht. Bili Congar hatte sich noch vor seinen
Vettern verdrückt.
Lan zog Rand zurück und schloß die Tür. »Gehen wir,
Junge!« Der Behüter trat in den hinteren Teil der
Schenke. »Kommt mit, ihr beiden! Schnell!«
Rand zögerte und tauschte einen fragenden Blick mit
Mat. Während Moiraine die Geschichte erzählt hatte,
hätten ihn selbst Meister al'Veres Dhurran-Hengste nicht
fortschleifen können, doch nun hemmte etwas anderes
seine Schritte. Dies war der endgültige Moment, die
Schenke zu verlassen und dem Behüter in die Nacht zu
folgen... Er schüttelte sich und bemühte sich um
Entschlossenheit. Er hatte keine andere Wahl, aber er
würde nach Emondsfeld zurückkehren, wie weit ihn auch
seine Reise führen mochte.
»Worauf wartet ihr?« fragte Lan an der Tür. Mat
zuckte zusammen und eilte zu ihm.
Rand versuchte, sich selbst zu überzeugen, daß er am
Beginn eines großen Abenteuers stand, und folgte ihnen
durch die dunkle Küche in den Stallhof.
KAPITEL 10

Abschied
Eine einzelne Laterne, die Klappen halb geschlossen, hing
an einem Nagel von einem Stallpfosten und warf ein
trübes Licht über die Szenerie. Die meisten Boxen wurden
von den tiefen Schatten verschluckt. Als Rand gleich
hinter Mat und dem Behüter durch das Tor eintrat, sprang
Perrin unter Strohrascheln von seinem Platz auf. Er hatte
mit dem Rücken an eine Boxentür gelehnt dagesessen. Ein
schwerer Umhang hüllte ihn ein.
Lan blieb nur ganz kurz stehen und wollte wissen:
»Hast du so genau nachgesehen, wie ich es dir gesagt habe,
Schmied?«
»Habe ich«, antwortete Perrin. »Hier ist niemand außer
uns. Warum sollte sich auch jemand verstecken...«
»Vorsicht und ein langes Leben sind gute Partner,
Schmied.« Der Behüter sah sich hastig in dem düsteren
Stall um, warf einen Blick hinauf in den noch dunkleren
Heuboden und schüttelte den Kopf. »Keine Zeit«,
murmelte er in sich hinein. »Beeil dich, hat sie gesagt.«
Um seinen eigenen Worten Folge zu leisten, schritt er
schnell hinüber, wo die fünf Pferde aufgezäumt und
gesattelt im dämmrigen Lichtkreis standen. Zwei davon
waren der schwarze Hengst und die weiße Stute, die Rand
schon zuvor gesehen hatte. Die anderen waren wohl nicht
so groß und geschmeidig, schienen aber zum Besten zu
gehören, was die Zwei Flüsse aufbieten konnten. Schnell,
aber sorgfältig überprüfte Lan die Sattelgurte und die
Lederriemen, die ihre Satteltaschen, Wasserschläuche und
Deckenrollen hinter den Sätteln festhielten.
Rand und seine Freunde lächelten sich unsicher an, und
er bemühte sich sehr, so zu wirken, als könne er den
Aufbruch gar nicht erwarten.
Zum ersten Mal bemerkte Mat das Schwert an Rands
Seite, und er zeigte darauf. »Wirst du jetzt auch ein
Behüter?« Er lachte, hielte aber gleich mit einem
schnellen Seitenblick auf Lan wieder inne. Der Behüter
hatte offensichtlich nichts bemerkt. »Oder zumindest
Leibwächter bei einem Kaufmann?« fuhr Mat mit einem
Grinsen fort, das nur ein ganz klein bißchen gezwungen
wirkte. Er hob seinen Bogen. »Die Waffe eines ehrlichen
Mannes ist nicht gut genug für ihn.«
Rand überlegte, ob er daraufhin sein Schwert
schwenken sollte, aber die Anwesenheit Lans hielt ihn
davon ab. Der Behüter blickte nicht einmal in ihre
Richtung, aber er war sicher, daß er alles aufnahm, was
um ihn herum geschah. Also sagte er übertrieben
nebensächlich: »Es könnte nützlich sein«, als sei das
Tragen eines Schwertes nichts Besonderes.
Perrin bewegte sich und versuchte, etwas unter seinem
Umhang zu verbergen. Rand erhaschte einen Blick auf
einen breiten Ledergürtel um die Taille des
Schmiedlehrlings. Der Stiel einer Axt steckte in einer
Schlaufe am Gürtel.
»Was hast du denn da?« fragte er.
»Noch ein Leibwächter«, johlte Mat.
Der junge Mann mit dem struppigen Haar sah Mat mit
einem Stirnrunzeln an, das darauf hindeutete, daß er schon
mehr als einmal Ziel von Mats Spott gewesen war. Dann
seufzte er tief und öffnete den Umhang weit genug, um
seine Axt zu enthüllen. Es war keine gewöhnliche
Holzfälleraxt. Mit einer breiten halbmondförmigen
Schneide auf einer Seite und einem gekrümmten Haken
auf der anderen wirkte sie genauso fremdartig wie Rands
Schwert. Doch Perrins Hand ruhte mit einer gewissen
Vertrautheit auf dem Stiel.
»Meister Luhhan hat sie vor etwa zwei Jahren für den
Leibwächter eines Wollaufkäufers gemacht. Aber als sie
fertig war, wollte der Bursche den vereinbarten Preis
nicht zahlen, und Meister Luhhan gab sie nicht für
weniger her. Er hat sie mir gegeben, als...« Er räusperte
sich und sah Rand genauso warnend an wie vorher Mat.
»... als er sah, wie ich damit übte. Er sagte, ich könne sie
haben, weil er sowieso nichts Vernünftiges daraus machen
könne.«
»Üben«, spöttelte Mat, bewegte aber die Hände in einer
beruhigenden Geste, als Perrin den Kopf hob. »Wie du
sagst. Es ist gut, wenn einer von uns mit einer richtigen
Waffe umgehen kann.«
»Dieser Bogen ist eine richtige Waffe«, sagte Lan
plötzlich. Er stützte einen Arm auf den Sattel seines
großen Rappen und betrachtete sie ernst. »Auch die
Steinschleudern, mit denen ich euch Dorfjungen gesehen
habe. Es macht keinen Unterschied, daß ihr sie bisher nur
benutzt habt, um Kaninchen zu jagen oder Wölfe von den
Schafen wegzutreiben. Alles kann zu einer Waffe werden,
wenn der Mann oder die Frau den Willen und die Kraft
dazu hat. Von den Trollocs einmal ganz abgesehen solltet
ihr euch daran erinnern, bevor wir die Zwei Flüsse
verlassen, bevor wir Emondsfeld verlassen, wenn ihr Tar
Valon lebendig erreichen wollt.«
Sein Gesicht und seine Stimme, kalt wie der Tod und
hart wie ein roh behauener Grabstein, erstickten ihr
Lächeln und ihre Worte. Perrin verzog das Gesicht und
zog seinen Umhang wieder über die Axt. Mat blickte auf
seine Füße hinunter und schob mit den Zehen Strohhalme
beiseite. Der Behüter brummte und wandte sich wieder
seiner Überprüfung zu. Das Schweigen zog sich in die
Länge.
»Es ist nicht gerade so wie in den Geschichten«, sagte
Mat schließlich.
»Ich weiß nicht«, meinte Perrin mürrisch. »Trollocs,
ein Behüter, eine Aes Sedai. Was wollt ihr denn noch?«
»Aes Sedai«, flüsterte Mat, der sich anhörte, als fröre
er.
»Glaubst du ihr, Rand?« fragte Perrin. »Ich meine, was
können die Trollocs von uns wollen?«
Gleichzeitig sahen sie alle den Behüter an. Lan schien
sich auf den Sattelgurt der weißen Stute zu konzentrieren.
Die drei zogen sich ein Stück von ihm zurück, nach hinten
zur Stalltür. Dort steckten sie die Köpfe zusammen und
sprachen leise miteinander.
Rand schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, aber sie
hatte recht damit, daß nur unsere beiden Höfe angegriffen
wurden. Und sie griffen Meister Luhhans Haus und die
Schmiede zuerst an, als sie hier im Dorf waren. Ich habe
den Bürgermeister gefragt. Es ist genauso leicht möglich,
daß sie hinter uns her sind wie hinter irgend jemand ande-
rem.« Plötzlich bemerkte er, daß beide ihn groß ansahen.
»Du hast den Bürgermeister gefragt?« fragte Mat
ungläubig. »Sie sagte doch, daß wir es niemandem
erzählen dürften.«
»Ich habe ihm nicht erzählt, warum ich es wissen will«,
protestierte Rand. »Wollt ihr mir weismachen, ihr habt
mit niemandem darüber gesprochen? Ihr habt niemandem
erzählt, daß ihr das Dorf verlaßt?«
Perrin zuckte schuldbewußt die Achseln. »Moiraine
sagte ›niemandem‹.«
»Wir haben Zettel geschrieben«, sagte Mat. »Für
unsere Familien. Sie werden sie morgen früh finden.
Rand, meine Mutter glaubt, Tar Valon käme noch vor
Shayol Ghul.« Er lachte ein wenig, um zu zeigen, daß er
ihre Anschauung nicht teilte. Es klang nicht sehr
überzeugend. »Sie würde versuchen, mich im Keller
einzusperren, wenn sie wüßte, daß ich auch nur mit dem
Gedanken spiele, dorthinzugehen.«
»Meister Luhhan ist so stur wie ein Felsblock«, fügte
Perrin hinzu, »und Frau Luhhan ist noch schlimmer.
Wenn ihr gesehen hättet, wie sie in den Trümmern des
Hauses herumgrub und sagte, sie hoffe, die Trollocs
kämen wieder, damit sie sie in die Finger bekäme...«
»Versengen soll mich das Licht, Rand«, sagte Mat. »Ich
weiß, sie ist eine Aes Sedai, aber die Trollocs waren
wirklich hier. Sie sagte, wir sollten es niemandem
erzählen. Wenn schon eine Aes Sedai nicht weiß, was man
dagegen tun kann – wer dann?«
»Keine Ahnung.« Rand rieb sich die Stirn. Sein Kopf
schmerzte, und er konnte diesen Traum nicht loswerden.
»Mein Vater glaubt ihr. Zumindest stimmte er zu, daß wir
gehen müßten.«
Plötzlich stand Moiraine in der Tür. »Du hast mit
deinem Vater über diese Reise gesprochen?« Sie war von
Kopf bis Fuß in dunkles Grau gekleidet, mit einem
Hosenrock zum Reiten, und nun war der Schlangenring
der einzige Gegenstand aus Gold, den sie noch trug.
Rand beäugte ihren Wanderstock. Trotz der Flammen,
die er gesehen hatte, sah er keine verkohlten Stellen und
nicht einmal Ruß. »Ich konnte nicht aufbrechen, ohne es
ihm zu erzählen.«
Sie betrachtete ihn einen Moment lang mit gespitzten
Lippen, bevor sie sich an die anderen wandte. »Und habt
ihr auch beschlossen, daß ein Zettel nicht genügt?« Mat
und Perrin redeten durcheinander und versicherten ihr,
sie hätten lediglich Zettel hinterlassen, so wie sie gesagt
hatte. Sie nickte, brachte sie mit einer Handbewegung zum
Schweigen und blickte Rand scharf an. »Was geschehen
ist, wurde bereits in das Muster eingewebt. Lan?«
»Die Pferde stehen bereit«, sagte der Behüter, »und wir
haben genügend Proviant dabei, um Baerlon zu erreichen,
und noch etwas als Reserve. Wir können jederzeit
aufbrechen. Ich schlage vor: gleich jetzt.«
»Nicht ohne mich.« Egwene schlüpfte in den Stall, im
Arm ein in einen Schal gewickeltes Bündel. Rand stolperte
beinahe über die eigenen Füße.
Lans Schwert war schon halb aus der Scheide gezogen,
doch als er sie erkannte, schob er die Klinge zurück, und
seine Augen wurden ausdruckslos. Perrin und Mat
beteuerten, daß sie Egwene nichts von ihrer Abreise
gesagt hätten. Die Aes Sedai beachtete sie nicht; sie blickte
Egwene an und tippte sich gedankenversunken mit einem
Finger auf die Lippen.
Die Kapuze von Egwenes dunkelbraunem Umhang war
hochgezogen, doch nicht genug, um den trotzigen
Gesichtsausdruck zu verbergen, mit dem sie Moiraine in
die Augen sah. »Ich habe hier alles, was ich brauche,
einschließlich Lebensmittel. Und ich werde nicht
hierbleiben. Ich habe vielleicht nie wieder eine
Möglichkeit, die Welt jenseits der Zwei Flüsse
kennenzulernen.«
»Das wird kein Picknickausflug zum Wasserwald,
Egwene«, grollte Mat. Er trat einen Schritt zurück, als sie
ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen anblickte.
»Danke, Mat. Ohne dich hätte ich das gar nicht
bemerkt. Glaubt ihr, ihr drei wärt die einzigen, die wissen
wollen, wie es draußen aussieht? Ich habe davon
genausolange geträumt wie ihr, und ich habe nicht vor,
diese Gelegenheit zu versäumen.«
»Wie hast du herausgefunden, daß wir abreisen?«
wollte Rand wissen. »Und außerdem kannst du nicht
mitkommen. Wir gehen ja nicht aus purem Vergnügen
weg. Die Trollocs sind hinter uns her.«
Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu. Er lief rot an
und stand ganz steif vor Entrüstung da.
»Zuerst«, erklärte sie ihm geduldig, »sah ich Mat
herumschleichen und sich bemühen, unbemerkt zu
bleiben. Dann sah ich, wie Perrin diese lächerliche
Riesenaxt unter seinem Umhang verbarg. Ich wußte, daß
Lan ein Pferd gekauft hatte, und plötzlich fragte ich mich,
wozu er ein weiteres Pferd brauchte. Und wenn er eines
kaufte, konnte er auch noch mehr kaufen. All das
zusammen mit der Tatsache, daß Mat und Perrin
herumschlichen wie Kälber, die vorgeben, Füchse zu
sein... Na ja, es gab nur eine Antwort. Ich bin mir nicht
klar darüber, ob ich überrascht bin oder nicht, dich auch
hier zu finden, Rand, nachdem du so oft über deine
Tagträume gesprochen hast. Aber wenn Mat und Perrin in
der Sache drinstecken, sollte ich ja eigentlich wissen, daß
du auch mit von der Partie bist.«
»Ich muß gehen, Egwene«, sagte Rand. »Wir alle
müssen gehen, oder die Trollocs kommen zurück.«
»Die Trollocs!« Egwene lachte ungläubig. »Rand, wenn
du dich entschlossen hast, etwas von der Welt sehen zu
wollen, schön und gut, aber tisch mir nicht so ein
Märchen auf!«
»Es ist wahr«, sagte Perrin gerade, als Mat begann:
»Die Trollocs...«
»Genug«, sagte Moiraine ruhig, doch das Gespräch war
wie mit einem Messer abgeschnitten. »Hat noch jemand
etwas bemerkt?« Ihre Stimme klang sanft, aber Egwene
schluckte und richtete sich auf, bevor sie antwortete.
»Nach der letzten Nacht können sie nur noch an den
Wiederaufbau denken und daran, was zu tun ist, wenn es
wieder geschieht. Sie sähen sonst nichts, es sei denn, man
hält es ihnen direkt unter die Nase. Und ich habe
niemandem von meinem Verdacht erzählt. Niemandem!«
»Sehr gut«, sagte Moiraine nach einer Pause. »Du
kannst mit uns kommen.«
Lans Gesicht zeigte einen Augenblick lang
Überraschung. Dann war sie wieder verflogen, und er
blieb äußerlich ruhig, doch zornig brach es aus ihm
heraus: »Nein, Moiraine!«
»Es ist jetzt ein Teil des Großen Musters, Lan.«
»Das ist lächerlich!« gab er zurück. »Es gibt keinen
Grund, warum sie mitkommen sollte, und alle Gründe
sprechen sogar dagegen.«
»Es gibt einen Grund dafür«, sagte Moiraine gelassen.
»Ein Teil des Musters, Lan.« Das steinerne Gesicht des
Behüters zeigte keine Regung, doch er nickte langsam.
»Aber Egwene«, sagte Rand, »die Trollocs werden uns
jagen. Wir werden nicht in Sicherheit sein, bevor wir Tar
Valon erreichen.«
»Versuch nicht, mir Angst einzujagen«, bat sie. »Ich
komme mit.«
Rand kannte diesen Tonfall. Er hatte ihn nicht mehr
vernommen, seit sie zu der Ansicht gekommen war, daß
nur Kinder auf die höchsten Bäume klettern, aber er
erinnerte sich gut daran. »Wenn du glaubst, es macht
Spaß, von Trollocs gejagt zu werden...«, begann er, aber
Moiraine unterbrach ihn.
»Wir haben keine Zeit mehr für so etwas. Bei
Tagesanbruch müssen wir so weit wie möglich entfernt
sein von hier. Wenn wir sie zurücklassen, Rand, könnte
sie das ganze Dorf in Aufruhr bringen, bevor wir noch
eine Meile weg sind, und das würde ganz sicher den
Myrddraal warnen.«
»Das würde ich nicht tun!« protestierte Egwene.
»Sie kann auf dem Pferd des Gauklers reiten«, sagte
der Behüter. »Ich werde ihm genug Geld dalassen, damit
er ein anderes Pferd kaufen kann.«
»Das ist kaum möglich«, kam Thom Merrilins
widerhallende Stimme vom Heuboden. Diesmal fuhr Lans
Schwert aus der Scheide, und er steckte es nicht zurück,
als er nach dem Gaukler dort oben Ausschau hielt.
Thom warf eine Deckenrolle hinunter, zog sich dann
die Riemen des Flötenkastens und an der Harfe über den
Rücken und schulterte pralle Satteltaschen. »Dieses Dorf
braucht mich nicht, und andererseits habe ich meine
Künste noch nie in Tar Valon gezeigt. Obwohl ich für
gewöhnlich allein reise, habe ich nach der letzten Nacht
nichts mehr gegen das Reisen in Gesellschaft.«
Der Behüter sah Perrin scharf an, und dieser trat
verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Ich habe nicht
daran gedacht, den Heuboden zu untersuchen«, murmelte
er.
Als der staksige Gaukler die Leiter vom Heuboden
herunterkletterte, sagte Lan ganz steif und formell: »Ist
das auch ein Teil des Großen Musters, Moiraine Sedai?«
»Alles ist ein Teil des Musters, mein alter Freund«,
antwortete Moiraine sanft. »Wir können uns das nicht
aussuchen. Aber wir werden ja sehen.«
Thom setzte die Füße auf den Fußboden des Stalles,
drehte sich von der Leiter weg und wischte sich die
Strohhalme von dem Flickenumhang. »Tatsächlich«, sagte
er in normalerem Tonfall, »könnte man sagen, daß ich auf
Gesellschaft beim Reisen bestehe. Ich habe viele Stunden
gebraucht und viele Krüge Bier geleert, um darüber
nachzudenken, wie ich einst wohl meine Tage beschließen
werde. Der Kochtopf eines Trollocs tauchte allerdings
dabei nicht auf.« Er sah mißtrauisch das Schwert des
Behüters an. »Das da ist nicht nötig. Ich bin kein Käse,
den man aufschneidet.«
»Meister Merrilin«, sagte Moiraine, »wir müssen
schnell aufbrechen und befinden uns höchstwahrscheinlich
in großer Gefahr. Die Trollocs sind immer noch da
draußen, und wir reiten bei Nacht. Seid Ihr sicher, daß
Ihr mit uns reisen möchtet?«
Thom betrachtete sie alle mit einem rätselhaften
Lächeln. »Wenn es nicht zu gefährlich für das Mädchen
ist, dann kann es auch für mich nicht zu gefährlich sein.
Außerdem, welcher Gaukler nähme nicht gern ein wenig
Gefahr in Kauf, wenn er dafür seine Kunst in Tar Valon
zeigen kann?«
Moiraine nickte, und Lan schob sein Schwert in die
Scheide zurück. Rand fragte sich plötzlich, was wohl
geschehen wäre, hätte Thom seine Meinung geändert oder
Moiraine nicht genickt. Der Gaukler sattelte sein Pferd,
als wären ihm solche Gedanken nie gekommen, aber Rand
bemerkte, daß er Lans Schwert mehr als einmal ansah.
»Nun aber«, sagte Moiraine, »welches Pferd soll
Egwene benutzen?«
»Die Pferde des Händlers sind genauso schlecht wie die
Dhurran-Hengste«, antwortete der Behüter mürrisch.
»Kräftig, aber sie kommen nur langsam voran.«
»Bela«, sagte Rand. Ein Blick Lans traf ihn, und er
wünschte, er hätte seinen Mund gehalten. Aber er wußte,
daß er Egwene nicht davon abbringen konnte, also blieb
ihm nichts anderes übrig, als zu helfen. »Bela ist vielleicht
nicht so schnell wie die anderen, aber sie ist kräftig. Ich
reite sie manchmal. Sie kann mithalten.«
Lan schaute in Belas Box, wobei er leise vor sich hin
fluchte. »Sie ist vielleicht ein wenig besser als die
anderen«, sagte er schließlich. »Ich glaube nicht, daß wir
eine Wahl haben.«
»Dann muß es sein«, sagte Moiraine. »Rand, such bitte
einen Sattel für Bela. Schnell jetzt! Wir haben uns schon
zu lange aufgehalten.«
Rand suchte rasch einen Sattel und eine Decke im
Sattelraum und holte Bela dann aus ihrer Box. Die Stute
drehte den Kopf nach hinten und sah ihn in
schlaftrunkener Überraschung an, als er ihr den Sattel auf
den Rücken legte. Wenn er sie einmal ritt, dann
gewöhnlich ohne Sattel; sie war nicht daran gewöhnt. E r
sprach beruhigend auf sie ein, während er den Sattelgurt
befestigte, und sie nahm das Außergewöhnliche mit einem
Schütteln der Mähne hin.
Er nahm Egwene ihr Bündel ab und schnallte es hinter
den Sattel. Derweil stieg sie auf und ordnete ihren Rock.
Der war nicht als Hosenrock geteilt, also konnte man ihre
Wollstrümpfe bis zum Knie sehen. Sie trug die gleichen
Schuhe aus weichem Leder wie die anderen Mädchen aus
dem Dorf. Sie waren absolut nicht geeignet für eine Reise
nach Wachhügel, geschweige denn nach Tar Valon.
»Ich bin immer noch der Meinung, daß du nicht
mitkommen solltest«, sagte Rand. »Ich habe das mit den
Trollocs nicht erfunden. Aber ich verspreche dir, daß ich
auf dich aufpassen werde.«
»Vielleicht muß ich auf dich aufpassen«, antwortete sie
leichthin. Als er sie verzweifelt ansah, lächelte sie und
streichelte ihm über das Haar. »Ich weiß, daß du auf mich
aufpassen wirst, Rand. Wir werden beide aufeinander
aufpassen. Aber jetzt mußt du schauen, daß du auf dein
Pferd kommst.«
Er merkte, daß alle anderen bereits aufgesessen waren
und auf ihn warteten. Das einzige Pferd, das noch ohne
Reiter war, war Wolke, ein großer Grauer mit schwarzer
Mähne, der Jon Thane gehörte oder gehört hatte. Rand
kletterte in den Sattel, allerdings nicht ohne
Schwierigkeiten, denn der Graue warf den Kopf hoch und
tänzelte seitwärts, als er den Fuß in den Steigbügel stellte.
Die Scheide verfing sich in seinen langen Beinen. Es war
kein Zufall, daß die Freunde Wolke verschmäht hatten.
Meister Thane hatte mit dem lebhaften Grauen den
Pferden der Kaufleute häufig Rennen geliefert, und Thane
hatte noch keine Niederlage erlebt, aber Wolke hatte es
seinem Reiter noch nie leichtgemacht. Lan mußte einen
hohen Preis bezahlt haben, damit der Müller das Pferd
verkaufte. Als Rand sich im Sattel niederließ, wurde
Wolkes Tänzeln noch heftiger, als freue sich der Graue
darauf, losgaloppieren zu können. Rand griff die Zügel
ganz fest und versuchte sich einzureden, daß es keine
Schwierigkeiten geben werde. Wenn er sich selbst
überzeugen konnte, dann vielleicht auch das Pferd.
Eine Eule schrie durch die Nacht, und die
Dorfbewohner fuhren zusammen, bevor sie erkannten,
daß es nur ein Vogel war. Dann lachten sie nervös und
sahen sich verschämt an.
»Als nächstes werden wir noch vor einer Feldmaus auf
die Bäume klettern«, sagte Egwene mit einem unsicheren
Auflachen. Lan schüttelte den Kopf. »Es wäre besser,
wenn es Wölfe gewesen wären.«
»Wölfe!« rief Perrin, und der Behüter bedachte ihn mit
einem teilnahmslosen Blick.
»Wölfe können Trollocs nicht leiden, Schmied, und
Trollocs mögen keine Wölfe oder Hunde. Wenn ich Wölfe
hören würde, könnte ich sicher sein, daß da draußen keine
Trollocs auf uns warten.« Er schritt mit seinem
hochgewachsenen Schwarzen langsam hinaus in die
mondhelle Nacht.
Moiraine ritt ihm ohne einen Moment des Zögerns
nach, und Egwene hielt sich an der Seite der Aes Sedai.
Rand und der Gaukler kamen zum Schluß, nach Mat und
Perrin.
Die Rückseite der Schenke war dunkel und still, und
der Mond warf Schatten in den Stallhof. Das sanfte
Klappern der Hufe verflog schnell und wurde von der
Nacht verschluckt. In der Dunkelheit machte der Umhang
den Behüter gleichermaßen zum Schatten. Nur die
Notwendigkeit, sich von ihm führen zu lassen, hielt die
anderen davon ab, sich ängstlich um ihn zu scharen. Aus
dem Dorf herauszukommen, ohne gesehen zu werden, war
keine leichte Aufgabe. Das wurde Rand klar, als sie sich
dem Tor näherten. Zumindest sollten sie von den
Dorfbewohnern nicht gesehen werden. Hinter vielen
Fenstern im Dorf glimmten blasse gelbe Lichter, und
obwohl diese Lichter in der Nacht sehr klein wirkten, sah
man häufig Schatten sich bewegen, die Schatten von
Dorfbewohnern, die hinausblickten, um zu sehen, was
diese Nacht mit sich brachte. Keiner wollte nochmals
überrascht werden.
Im tiefsten Schatten neben der Schenke, gerade als sie
den Stallhof verlassen wollten, hielt Lan plötzlich an und
forderte sie mit einer scharfen Geste zum Schweigen auf.
Stiefel polterten über die Wagenbrücke, und hier und
da glitzerte Metall im Mondlicht auf. Die Stiefel verließen
die Brücke – Kies knirschte unter ihren Sohlen – und
kamen auf die Schenke zu. Kein Laut war von den im
Schatten Wartenden zu hören. Rand hatte den Verdacht,
daß zumindest seine Freunde viel zuviel Angst hatten, um
irgendein Geräusch zu machen. Genau wie er.
Die Schritte verstummten vor der Schenke im
Dämmerlicht jenseits der trübe beleuchteten Fenster des
Schankraums. Erst als Jon Thane vortrat, einen Speer
über die kräftige Schulter gelegt, ein altes Lederwams mit
aufgenähten Stahlscheiben um den Oberkörper geschnallt,
erkannte Rand, wer es war: ein Dutzend Männer aus dem
Dorf oder den umliegenden Bauernhöfen, einige mit
Helmen oder Teilen von Rüstungen bewehrt, die
generationenlang auf den Speichern Staub gesammelt
hatten, alle mit einem Speer oder einer Holzfälleraxt oder
einer verrosteten Pike bewaffnet.
Der Müller spähte durch eines der Fenster zum
Schankraum und wandte sich dann mit einem kurzen:
»Sieht so aus, als sei hier alles in Ordnung« wieder ab.
Die anderen formierten sich in zwei unregelmäßigen
Reihen hinter ihm, und die Patrouille marschierte in die
Nacht hinaus, als gehorche sie drei verschiedenen
Trommelwirbeln gleichzeitig.
»Zwei Dha'vol Trollocs würden genügen, um sie alle
zum Frühstück zu verspeisen«, murmelte Lan, als das
Geräusch der Stiefel verklungen war, »aber sie haben
Augen und Ohren.« Er drehte seinen Hengst herum.
»Kommt!«
Langsam und leise führte der Behüter sie zurück durch
den Stallhof, die Uferböschung hinunter, an den Weiden
vorbei und in den Weinquellenbach. Trotz der Nähe zur
Weinquelle war das kalte, schnell fließende Wasser, das
um die Beine der Pferde spülte und im Mondschein
schimmerte, tief genug, um gegen die Sohlen der
Reitstiefel zu plätschern.
Am gegenüberliegenden Ufer kletterten sie hinaus, und
die Pferde suchten sich ihren Weg unter der sicheren
Anleitung des Behüters, wobei sie sich von allen Häusern
des Dorfes fernhielten. Von Zeit zu Zeit hielt Lan an und
bedeutete allen, sich ruhig zu verhalten, obwohl sonst
niemand etwas sah oder hörte. Jedesmal allerdings kam
kurz darauf eine weitere Patrouille von Dorfbewohnern
und Bauern vorbei. Langsam kamen sie dem Nordende
des Dorfes näher.
Rand sah die Häuser mit ihren hohen Giebeln im
Dunklen so genau wie möglich an und versuchte, sie sich
einzuprägen. Ich bin ein toller Abenteurer, dachte er. E r
hatte noch nicht einmal das Dorf verlassen und hatte schon
Heimweh. Aber er betrachtete die Häuser weiterhin.
Sie passierten die letzten Bauernhäuser in den
Außenbezirken des Dorfs und erreichten das unbewohnte
Land. Sie hielten sich parallel zur Nordstraße, die nach
Taren-Fähre führte. Rand fand, daß es sicherlich
nirgendwo anders einen so schönen Nachthimmel gab wie
über den Zwei Flüssen. Das klare Schwarz schien in die
Ewigkeit zu greifen, und Myriaden von Sternen glitzerten
wie Lichtpunkte in einem Kristall. Der Mond, nur eine
dünne Sichelbreite schmaler als im vollen Zustand, schien
greifbar nahe. Wenn er sich streckte und...
Eine schwarze Gestalt flog langsam über den silbernen
Mondball. Rands unwillkürlicher Ruck an den Zügeln
brachte den Grauen zum Stehen. Eine Fledermaus, dachte
er mit weichen Knien, doch er wußte, daß es keine
gewesen war. Fledermäuse waren ein häufiger Anblick an
den Abenden, wenn sie im Zwielicht hinter Fliegen und
Faltern herjagten. Die Flügel, die das unbekannte Wesen
trugen, mochten wohl die gleiche Form haben, aber sie
bewegten sich mit den langsamen, kraftvollen Schlägen
eines Raubvogels. Und es jagte. Die Art, wie es in weiten
Bögen hin- und zurückflog, ließ darüber keinen Zweifel
aufkommen. Am schlimmsten aber war seine Größe.
Wenn eine Fledermaus sich so groß vom Mondball abhob,
dann mußte sie schon die Reichweite von menschlichen
Armen haben. Er versuchte, ungefähr zu berechnen, wie
weit entfernt und wie groß dieses Wesen war. Der Körper
mußte Menschengröße haben und die Flügel... Wieder
durchflog es die Mondsilhouette und kreiste dann plötzlich
nach unten, um von der Nacht verhüllt zu werden.
Er hatte nicht bemerkt, daß Lan zu ihm zurückgeritten
war, bis ihn der Behüter am Arm packte. »Was sitzt du
hier und starrst in die Luft, Junge? Wir müssen weiter.«
Die anderen warteten hinter Lan.
Er rechnete fast damit, daß man ihm sagen würde, er
hätte aus Angst vor den Trollocs die Nerven verloren.
Trotzdem berichtete Rand, was er gesehen hatte. E r
hoffte, Lan werde es als Fledermaus oder als optische
Täuschung abtun.
Lan grollte ein Wort, das klang, als hinterließe es einen
schlechten Geschmack im Mund: »Draghkar.« Egwene
und die anderen von den Zwei Flüssen suchten nervös den
Himmel in allen Richtungen ab, aber der Gaukler stöhnte
leise auf.
»Ja«, sagte Moiraine, »es wäre vermessen, auf etwas
anderes zu hoffen. Und wenn der Myrddraal einen
Draghkar bei seinen Truppen hat, dann wird er bald
wissen, wo wir sind, wenn er es nicht bereits weiß. Wir
müssen noch schneller querfeldein vorwärtskommen. Wir
können vielleicht Taren-Fähre noch vor dem Myrddraal
erreichen, und die Trollocs und er werden den Fluß nicht
so leicht überqueren wie wir.«
»Ein Draghkar?« fragte Egwene. »Was ist das?«
Es war Thom Merrilin, der ihr heiser antwortete. »In
dem Krieg, der das Zeitalter der Legenden beendete,
wurden noch schlimmere Wesen als Trollocs und
Halbmenschen erschaffen.«
Moiraines Kopf schnellte zu ihm herum, als er das
sagte. Nicht einmal die Dunkelheit konnte die Schärfe in
ihrem Blick verbergen.
Bevor jemand den Gaukler bitten konnte, mehr zu
erzählen, begann Lan, Befehle zu erteilen. »Wir benutzen
jetzt die Nordstraße. Um euer Leben willen – folgt meiner
Führung und bleibt dicht zusammen.«
Er riß sein Pferd herum, und die anderen galoppierten
wortlos hinterher.
KAPITEL 11

Die Straße nach Taren-Fähre


Auf der ausgetretenen Lehmdecke der Nordstraße gaben
sie den Pferden die Zügel frei. Mähnen und Schweife
flatterten im Mondlicht, als sie nach Norden galoppierten.
Die Hufe trommelten einen stetigen Rhythmus. Lan führte
sie an. Der Rappe mit dem in Schatten gehüllten Reiter
war in der kalten Nacht fast nicht zu sehen. Moiraines
weiße Stute hielt mit. Wie ein blasser Pfeil huschte sie
durch die Dunkelheit. Die anderen folgten in einer Linie,
als hätte man sie alle an einem Seil befestigt, dessen Ende
in den Händen des Behüters lag. Rand ritt als letzter in
dieser Reihe. Thom Merrilin war vor ihm, und die
Gefährten davor konnte er schon nicht mehr so klar
erkennen. Der Gaukler drehte sich nicht um. Er sah nur
nach vorn in die Richtung, in die sie flohen, und nicht
nach hinten, um zu sehen, wovor sie flohen. Falls hinter
ihnen Trollocs, der Blasse auf seinem lautlosen Pferd oder
dieses fliegende Geschöpf, der Draghkar, auftauchten,
wäre es Rands Aufgabe, die anderen zu alarmieren.
Alle paar Minuten verdrehte er sich den Hals, um nach
hinten zu spähen, während er sich an den Zügeln und
Wolkes Mähne festhielt. Der Draghkar... Schlimmer als
Trollocs und Blasse, hatte Thom gesagt. Aber der Himmel
blieb leer, und am Boden entdeckte sein Blick nur
Dunkelheit und Schatten. Schatten, in denen sich eine
ganze Armee verbergen konnte.
Jetzt, da der Graue endlich rennen durfte, huschte er
wie ein Geist durch die Nacht und hielt leicht mit Lans
Hengst mit. Und Wolke wollte noch schneller galoppieren.
Er wollte den Schwarzen erreichen und strengte sich
mächtig an. Rand mußte die Zügel straff halten, um ihn zu
bremsen. Wolke stemmte sich gegen seine Hand, als hielte
er dies für ein Rennen. Mit jedem Schritt kämpfte er
gegen ihn an. Rand klammerte sich mit verkrampften
Muskeln an Sattel und Zügel. Er hoffte inständig, daß sein
Reittier nicht merkte, wie unsicher er da oben saß. Falls
Wolke das erkannte, hatte Rand jeden Einfluß verloren,
und sei er noch so gering.
Er beugte sich tief über Wolkes Hals und warf immer
wieder ein wachsames Auge auf Bela und ihre Reiterin.
Als er behauptet hatte, die zottige Stute könne mit den
anderen mithalten, hatte er nicht vom vollen Galopp
gesprochen. Sie hielt sich im Augenblick noch in der
Gruppe, weil sie schneller galoppierte, als er gedacht
hatte. Lan hatte nicht gewollt, daß Egwene mitkam.
Würde er das Tempo drosseln, wenn Bela zurückblieb?
Oder würde er versuchen, sie auf diese Art
zurückzulassen? Die Aes Sedai und der Behüter hielten
Rand und seine Freunde irgendwie für wichtig, doch trotz
Moiraines Erwähnung des Großen Musters glaubte er
nicht, daß diese Wichtigkeit auch Egwene betraf.
Wenn Bela zurückblieb, würde er auch zurückbleiben,
gleichgültig, was Moiraine und Lan dazu sagten. Zurück
dorthin, wo der Blasse und die Trollocs waren. Zurück zu
dem Draghkar. Voller Verzweiflung im Herzen rief er
lautlos Bela zu, sie solle rennen wie der Wind. Ohne
Worte versuchte er, Kraft auf sie zu übertragen. Renn!
Seine Haut prickelte, und seine Knochen schienen zu Eis
zu erstarren und beinahe zu zersplittern. Licht, hilf!
Renn! Und Bela rannte.
Weiter und weiter stürmten sie nach Norden in die
Nacht hinein. Die Zeit verschwamm zu einem
undeutlichen Flirren. Von Zeit zu Zeit kamen die Lichter
von Bauernhäusern in Sicht, und dann verschwanden sie
wieder im Nu. Das scharfe Bellen von Wachhunden
verklang rasch hinter ihnen oder brach mit einem Schlag
ab, wenn die Hunde zu dem Schluß kamen, daß man sie in
die Flucht geschlagen hatte. Sie flogen durch eine
Dunkelheit, die nur vom wäßrig-blassen Mondlicht erhellt
wurde, eine Dunkelheit, in der Bäume plötzlich am
Straßenrand aufragten und schon wieder unsichtbar
zurückblieben. Ansonsten war alles düster in ihrer
Umgebung, und nur der Schrei eines Nachtvogels, einsam
und traurig, mischte sich in das stetige Trommeln der
Hufe.
Plötzlich wurde Lan langsamer und ließ die Pferde
anhalten. Rand war sich nicht sicher, wie lange sie geritten
waren, aber seine Beine schmerzten bereits, weil er sich
so verkrampft festgehalten hatte. Vor ihnen glitzerten
Lichter in der Nacht, als hätte sich ein großer Schwarm
Glühwürmchen zwischen den Bäumen niedergelassen.
Rand betrachtete verblüfft die Lichter und keuchte
plötzlich vor Überraschung. Die Glühwürmchen waren
Fenster, Fenster von Häusern, die an den Hängen und der
Höhe eines Hügels standen. Das war Wachhügel. E r
konnte kaum glauben, daß sie bereits so weit gekommen
waren. Sie hatten die Entfernung vielleicht schneller
zurückgelegt als jemals ein Reiter zuvor. Lans Beispiel
folgend, stiegen Rand und Thom Merrilin ab. Wolke stand
mit gesenktem Kopf und bebenden Flanken da. Schaum,
der sich kaum von dem nebelgrauen Körper des Pferds
abhob, lag auf Hals und Schultern des Grauen. Rand
dachte, Wolke werde diese Nacht wohl kaum noch einen
Reiter weitertragen können. »So gern ich diese Dörfer
hinter mich brächte«, kündigte Thom an, »wären ein paar
Stunden Schlaf nicht übel. Sicher haben wir genügend
Vorsprung, um uns das leisten zu können.«
Rand streckte sich und rieb sich den Nacken. »Wenn
wir den Rest der Nacht hier Rast machen, können wir
genausogut hinaufreiten.«
Ein einzelner Windstoß trug Bruchstücke von Gesang
aus dem Dorf und den Geruch von Essen herüber. Das
Wasser lief ihm im Mund zusammen. In Wachhügel
feierten sie immer noch. Ihr Bel Tine war nicht von
Trollocs gestört worden. Er sah sich nach Egwene um. Sie
lehnte sich, vor Erschöpfung zusammengefallen, gegen
Bela. Die anderen stiegen auch ab. Mancher Seufzer
wurde hörbar, und man streckte die schmerzenden
Glieder. Nur der Behüter und die Aes Sedai zeigten kein
Anzeichen von Erschöpfung.
»Mir stünde auch der Sinn nach Singen«, warf Mat
müde ein. »Und vielleicht ein heißes Hammelragout im
›Weißen Keiler‹.« Er holte Luft und fügte hinzu: »Ich bin
niemals weiter als nach Wachhügel gewesen. Der ›Weiße
Keiler‹ ist nicht annähernd so gut wie die
Weinquellenschenke.«
»Der ›Weiße Keiler‹ ist nicht so schlecht«, sagte
Perrin. »Für mich bitte auch ein Hammelragout. Und viel
heißen Tee, um die Kälte aus den Knochen zu vertreiben.«
»Wir können nicht rasten, bevor wir über den Taren
sind«, fuhr Lan in scharfem Ton dazwischen. »Nicht mehr
als ein paar Minuten.«
»Aber die Pferde!« protestierte Rand. »Wir schinden
sie zu Tode, wenn wir versuchen, heute nacht noch
weiterzureiten. Moiraine Sedai, Ihr...«
Er hatte am Rande bemerkt, daß sie zwischen den
Pferden umherging, hatte aber nicht weiter darauf
geachtet, was sie tat. Jetzt streifte sie an ihm vorbei und
legte die Hände auf Wolkes Hals. Rand schwieg. Plötzlich
warf das Pferd den Kopf mit leisem Wiehern hoch und
zog Rand beinahe die Zügel aus der Hand. Der Graue
tänzelte einen Schritt zur Seite und schien so ausgeruht, als
habe er eine Woche im Stall verbracht. Wortlos ging
Moiraine weiter zu Bela.
»Ich wußte nicht, daß sie das kann«, sagte Rand leise zu
Lan. Rands Wangen waren gerötet. »Von allen Leuten
solltest gerade du das eigentlich geahnt haben«, antwortete
der Behüter. »Du hast beobachtet, was sie mit deinem
Vater getan hat. Sie wäscht die ganze Erschöpfung aus
ihnen heraus. Zuerst sind die Pferde dran und dann ihr
alle.«
»Nur wir? Ihr nicht?«
»Ich nicht, Schäfer. Ich brauche das nicht, noch nicht
jedenfalls. Und sie auch nicht. Was sie für andere tun
kann, kann sie für sich nicht selbst tun. Sie allein muß
müde weiterreiten. Hoffentlich ist sie nicht zu erschöpft,
bis wir Tar Valon erreichen.«
»Zu erschöpft – wofür?« fragte Rand den Behüter.
»Du hattest recht mit Bela, Rand«, sagte Moiraine, die
neben der Stute stand. »Sie hat ein gutes Herz und
genausoviel Sturheit und Durchhaltevermögen wie ihr
Zwei-Flüsse-Leute. So seltsam es klingen mag, aber sie ist
von allen am wenigsten erschöpft.«
Ein Schrei zerriß die Dunkelheit. Es klang, als würde
ein Mensch mit scharfen Messern zerschnitten. Schwingen
fegten in niedriger Höhe über die Gruppe hinweg. Der
über sie hinweggleitende Schatten machte die Nacht noch
dunkler. Unter angsterfülltem Schreien bäumten sich die
Pferde wild auf.
Der Luftzug von den Schwingen des Draghkars traf
Rand und löste in ihm das Gefühl aus, mit Schleim
beschmiert zu werden. Er bewegte sich durch die feuchte
Düsternis eines Alptraums, hatte aber keine Zeit, Angst zu
spüren, denn Wolke schrie laut auf und wand sich
verzweifelt, als versuche er, etwas abzuschütteln, was an
ihm festhing. Rand, der die Zügel nicht losließ, wurde von
den Füßen gerissen und über den Boden geschleift. Wolke
schrie, als fühle er große graue Wölfe, die sich in seine
Fesseln verbissen.
Irgendwie behielt Rand die Zügel in der Hand. E r
benutzte die freie Hand zusammen mit den Beinen, um
wieder auf die Füße zu kommen. Seine taumelnden
Schritte wurden zu kurzen Sprüngen, damit er nicht
wieder zu Boden gerissen wurde. Er atmete stoßartig und
voller Verzweiflung. Er konnte Wolke nicht fortrennen
lassen. Mit seiner freien Hand griff er zitternd zu und
erwischte gerade noch den Zügel. Wolke bäumte sich auf
und hob ihn mit sich hoch. Rand klammerte sich hilflos
fest. Er hoffte gegen besseres Wissen, daß sich das Pferd
beruhigen werde.
Rand schlug mit einem solchen Ruck auf dem Boden
auf, daß es ihn bis zu den Zähnen durchschüttelte; doch
plötzlich stand der Graue still, mit geblähten Nüstern und
rollenden Augen, steifbeinig und zitternd. Rand zitterte
auch und hing beinahe nur noch an dem Zügel. Der Ruck
muß das närrische Tier auch erschüttert haben, dachte er.
Er atmete ein paarmal unregelmäßig aus und ein. Dann
war er in der Lage, sich nach den anderen umzusehen.
In der Gruppe war das blanke Chaos ausgebrochen. Sie
klammerten sich an die Zügel, die von ruckartigen
Bewegungen der Pferdeköpfe hin und her gerissen
wurden, und versuchten mit wenig Erfolg, die sich
aufbäumenden Pferde zu beruhigen, von denen sie in
diesem Durcheinander herumgezerrt wurden. Nur zwei
von ihnen hatten offensichtlich keine Schwierigkeiten mit
ihren Reittieren. Moiraine saß aufgerichtet im Sattel. Die
weiße Stute trat einen Schritt zurück, um dem
Durcheinander zu entgehen, als sei nichts
Außergewöhnliches geschehen. Lan stand am Boden und
beobachtete den Himmel. In der einen Hand hielt er sein
Schwert, in der anderen die Zügel. Der schlanke schwarze
Hengst stand ruhig neben ihm.
Aus Wachhügel hörte man keinen Laut mehr. Die
Dorfbewohner mußten den Schrei auch gehört haben.
Rand wußte, sie würden eine Weile lauschen und vielleicht
Ausschau halten, was ihn verursacht hatte, sich dann aber
wieder ihrer Feier zuwenden. Bald würden sie den
Vorfall vergessen. Die Erinnerung würde in Liedern,
Essen, Tanz und Unterhaltung untergehen. Vielleicht
würden sich einige wieder daran erinnern, wenn sie davon
hörten, was in Emondsfeld geschehen war. Eine Fiedel
begann mit ihrem Spiel, und einen Augenblick später fiel
eine Flöte mit ein. Das Dorf setzte die Feier fort.
»Sitzt auf!« kommandierte Lan knapp. Er schob sein
Schwert in die Scheide und sprang mit einem Satz auf den
Hengst. »Der Draghkar hätte sich nicht gezeigt, wenn er
nicht zuvor dem Myrddraal berichtet hätte, wo wir uns
befinden.« Ein weiterer schriller Schrei drang zu ihnen
herunter, schwächer, doch genauso furchteinflößend. Die
Musik in Wachhügel verstummte mit einem Mißton. »Er
folgt uns nun in der Luft und zeigt dem Halbmenschen,
wo wir sind. Er wird nicht weit weg sein.«
Die Pferde, die nun ausgeruht, aber verängstigt waren,
tänzelten und scheuten vor denen Reitern, die sie zu
besteigen versuchten. Der fluchende Thom Merrilin war
der erste im Sattel, aber dann saßen auch die anderen bald
auf. Alle bis auf einen.
»Mach schnell, Rand!« rief Egwene. Der Draghkar
schrie erneut schrill auf, und Bela wollte weggaloppieren,
bevor sie sie mit straffem Zügel unter Kontrolle bekam.
»Beeil dich!«
Aufgeschreckt merkte Rand, daß er, anstatt auf Wolke
aufzusitzen, die ganze Zeit dagestanden und in den
Himmel gestarrt hatte in einem vergeblichen Versuch, die
Quelle dieser bösartigen Schreie auszumachen. Und noch
mehr: Unbewußt hatte er Tams Schwert gezogen, als
wolle er mit der fliegenden Kreatur kämpfen.
Sein Gesicht rötete sich. Er war froh, daß die Nacht es
verbarg. Ungeschickt – eine Hand war ja mit dem Zügel
beschäftigt – steckte er die Klinge in die Scheide zurück,
während er sich hastig nach den anderen umsah. Moiraine,
Lan und Egwene sahen ihn an, aber er war nicht sicher,
was sie im Mondlicht erkennen konnten. Die anderen
schienen zu sehr damit beschäftigt, ihre Pferde unter
Kontrolle zu halten, um groß auf ihn zuachten. Er faßte
das Sattelhorn mit einer Hand und sprang mit einem Satz
in den Sattel, als habe er sein ganzes Leben lang nichts
anderes getan. Falls einer seiner Freunde das mit dem
Schwert bemerkt hatte, würde er sicherlich später noch
etwas zu hören bekommen. Zeit genug, um sich dann
Gedanken darüber zu machen.
Sobald er im Sattel saß, ging es im Galopp weiter die
Straße hinauf und an dem kuppelförmigen Hügel vorbei.
Hunde bellten im Dorf – ihr Vorbeireiten war nicht ganz
unbemerkt geblieben. Vielleicht haben die Hunde auch
Trollocs gerochen, dachte Rand. Sowohl das Bellen als
auch die Lichter des Dorfes verschwanden schnell hinter
ihnen.
Sie ritten in einer losen Gruppe. Die Pferde berührten
sich beinahe. Lan befahl ihnen zwar, wieder in einer
Reihe zu reiten, doch keiner wollte in der Nacht allein
sein. Von hoch droben ertönte ein Schrei. Der Behüter
gab auf und ließ sie nebeneinander weiterreiten.
Rand ritt dicht hinter Moiraine und Lan. Der Graue
strengte sich an, sich zwischen den Schwarzen Lans und
die schlanke Stute der Aes Sedai zu drängen. Egwene und
der Gaukler galoppierten jeder an einer Seite Rands,
während seine Freunde von hinten nachdrängten. Wolke,
der von den Schreien des Draghkars zu schnellerem Lauf
angespornt wurde, rannte so, daß Rand nicht in der Lage
war, ihn zurückzuhalten, selbst wenn er gewollt hätte.
Und doch konnte der Graue keinen einzigen Schritt den
beiden anderen Pferden gegenüber aufholen.
Der Schrei des Draghkars forderte die Nacht heraus.
Die kräftige Bela rannte mit gestrecktem Hals. Schweif
und Mähne flatterten im Wind. So hielt sie sich Schritt für
Schritt neben den größeren Pferden. Die Aes Sedai muß
mehr getan haben, als sie nur von ihrer Müdigkeit zu
befreien.
Egwenes Gesicht zeigte im Mondlicht eine erregt-
glückliche Miene. Ihr Zopf flog hinter ihr her wie die
Mähne der Pferde, und das Glitzern in ihren Augen rührte
nicht nur vom Mond her, da war sich Rand sicher. Sein
Mund stand vor Überraschung offen, bis ein verschlucktes
Insekt einen Hustenanfall auslöste.
Lan mußte etwas gefragt haben, denn Moiraine
überschrie plötzlich den Wind und das Donnern der Hufe:
»Ich kann nicht! Vor allem nicht vom Rücken eines
galoppierenden Pferdes aus. Man kann sie nicht so leicht
töten, selbst wenn man sie sieht. Wir müssen fliehen und
hoffen!«
Sie stürmten durch eine Nebelschwade. Sie war dünn
und reichte den Pferden nur bis an die Knie. Wolke war
in zwei Sätzen hindurch, und Rand blinzelte überrascht.
Hatte er sich den Nebel nur eingebildet? Sicher war diese
Nacht viel zu kalt für Nebel. Ein weiterer Fleck
zerfledderten Graus flog an seiner Seite vorbei, größer als
der erste. Er war gewachsen, als quölle der Nebel aus dem
Boden. Über ihnen schrie der Draghkar wütend auf.
Nebel hüllte die Reiter für einen kurzen Moment ein und
war verschwunden, kam wieder und verschwand hinter
ihnen. Der eiskalte Dunst hinterließ kalte Feuchtigkeit auf
Rands Gesicht und Händen. Dann ragte eine Wand aus
blassem Grau vor ihnen auf, und plötzlich waren sie ganz
von Nebel umgeben. Er war so dicht, daß der Hufschlag
der Pferde gedämpft wurde, und die Schreie von oben
schienen durch eine Wand zu dringen. Rand erkannte
gerade noch die Umrisse von Egwene und Thom Merrilin
an seiner Seite.
Lan ließ sie nicht langsamer reiten. »Es gibt nach wie
vor nur eine Richtung, in die wir reiten können!« rief er.
Seine Stimme klang hohl, und es war kaum festzustellen,
aus welcher Richtung sie kam. »Der Myrddraal ist
schlau«, antwortete Moiraine. »Ich werde seine eigene
Schläue gegen ihn wenden.« Sie galoppierten schweigend
weiter. Schiefergrauer Nebel verbarg Himmel und Erde,
so daß die Reiter, die selbst nur noch wie Schatten
wirkten, durch Nachtwolken zu treiben schienen. Sogar
die Beine der Pferde schienen verschwunden zu sein.
Rand rutschte im Sattel hin und her. Er schreckte vor
dem eisigen Nebel zurück. Zu wissen, daß Moiraine so
manches vollbringen konnte, und sie dabei zu beobachten,
war eine Sache. Als Folge eine nasse Haut davonzutragen,
war eine ganz andere. Ihm wurde bewußt, daß er die Luft
anhielt, und er kam sich wie ein Narr vor. Er konnte nicht
den ganzen Weg bis nach Taren-Fähre reiten, ohne zu
atmen. Sie hatte die Eine Macht bei Tam angewandt, und
er schien ganz in Ordnung zu sein. Dennoch mußte er sich
zwingen, auszuatmen und wieder Luft zu holen. Die Luft
war schwer, unterschied sich jedoch nicht von der jeder
anderen nebligen Nacht. Das sagte er sich jedenfalls, aber
er war nicht so sicher, daß er auch daran glaubte.
Lan ermahnte sie jetzt dazu, nahe beieinander zu
bleiben, so daß jeder jeden anderen in dieser feuchten,
frostig-grauen Luft sehen konnte. Nur der Behüter
verhielt seinen Hengst kein bißchen. Seite an Seite leiteten
Lan und Moiraine die Gruppe durch den Nebel, als
vermochten sie klar zu sehen, was vor ihnen lag. Die
anderen konnten ihnen nur vertrauen und folgen. Und
hoffen.
Die schrillen Schreie, die sie verfolgt hatten,
verklangen und waren schließlich verschwunden, doch das
beruhigte sie nicht sonderlich. Wald und Bauernhäuser,
Mond und Straße waren verschleiert und verborgen.
Immer noch bellten Hunde, hohl und fern in dem grauen
Dunst, wenn sie an Bauernhöfen vorbeikamen, aber sonst
war außer dem Dröhnen der Pferdehufe kein Laut zu
hören. Nichts veränderte sich in diesem formlosen,
aschfahlen Nebel. Nichts wies darauf hin, daß Zeit
vergangen war – höchstens die wachsenden Schmerzen in
der Hüfte und im Rücken.
Rand war sicher, daß Stunden vergangen waren. Seine
Hände hielten die Zügel umkrampft, bis er sie kaum noch
lösen konnte, und er fragte sich, ob er je wieder normal
würde laufen können. Er sah sich nur einmal um. Im
Nebel hinter ihm bewegten sich Schatten, aber er konnte
sie nicht einmal mehr zählen. Oder sicher sein, daß es
wirklich seine Freunde waren. Kälte und Feuchtigkeit
drangen durch Umhang, Mantel, Hemd und schienen sogar
in die Knochen zu sickern. Nur die Zugluft im Gesicht
und die Bewegung des Pferdekörpers unter ihm zeigten
ihm, daß er sich überhaupt vorwärtsbewegte. Es mußten
Stunden vergangen sein.
»Langsam!« rief Lan plötzlich. »Haltet an!«
Rand war so überrascht, daß Wolke sich zwischen Lan
und Moiraine drängte und ihnen im Nu ein halbes Dutzend
Schritte voraus war, bevor er den großen Grauen anhalten
und sich umsehen konnte.
Von allen Seiten ragten Häuser im Nebel auf, Häuser,
die Rand seltsam hoch vorkamen. Er hatte diesen Ort noch
nie zuvor gesehen, aber er hatte öfter Beschreibungen
darüber gehört. Die Höhe rührte von den hohen
Sandsteinfundamenten her, die notwendig waren, wenn
der Taren während der Frühlingsschmelze in den
Verschleierten Bergen Hochwasser führte. Sie hatten
Taren-Fähre erreicht.
Lan ließ das große Kampfroß an ihm vorbeischreiten.
»Sei nicht übereifrig, Schäfer!«
Verlegen ließ sich Rand zurückfallen, ohne den Grund
zu erklären, als die Gruppe weiter ins Dorf hinein ritt.
Sein Gesicht fühlte sich heiß an, und in diesem Augenblick
war ihm der Nebel willkommen. Ein einsamer Hund, den
sie im kalten Nebel nicht sehen konnten, bellte sie wütend
an und rannte weg. Hier und dort erschien Licht in einem
Fenster, wenn sich ein Frühaufsteher regte. Abgesehen
von dem Hund und dem gedämpften Klappern der Hufe
störte kein Laut die Ruhe in dieser letzten Nachtstunde.
Rand hatte noch nicht viele Leute aus Taren-Fähre
kennengelernt. Er versuchte, sich daran zu erinnern, was
er von ihnen wußte. Sie kamen selten hinunter in die – wie
sie sagten – ›unteren Dörfer‹, und wenn, dann trugen sie
die Nasen hoch, als röchen sie etwas Schlechtes. Die
wenigen, die er bisher getroffen hatte, trugen eigenartige
Namen wie Hügelspitze und Steinboot. Insgesamt standen
die Bewohner von Taren-Fähre in dem Ruf, schlau und
hinterhältig zu sein. Wenn man einem Mann aus Taren-
Fähre die Hand gab, so sagte man, solle man hinterher die
Finger zählen. Lan und Moiraine hielten vor einem
großen dunklen Haus an. Nebel wirbelte wie Rauch um
den Behüter auf, als er aus dem Sattel sprang und die
Treppen zur Vordertür hinaufging. Sie lag in Kopfhöhe
über ihnen. Oben angelangt, hämmerte Lan mit der Faust
gegen die Tür.
»Ich dachte, wir sollten leise sein«, murmelte Mat.
Lan hielt mit dem Klopfen inne. Ein Licht erschien im
Fenster des Nachbarhauses, und jemand schrie ärgerlich,
aber der Behüter fuhr mit seiner Trommelei fort.
Plötzlich wurde die Tür von einem Mann im
Nachthemd aufgerissen, das ihm um die nackten Beine
flatterte. Eine Öllampe in einer Hand beleuchtete ein
schmales Gesicht mit ausgeprägten Zügen. Der Mann
öffnete zornig den Mund und erstarrte, als er den Nebel
bemerkte. Seine Augen weiteten sich. »Was ist los?«
fragte er. »Was soll das?« Kalte graue Nebelfühler glitten
durch die geöffnete Tür, und er trat hastig einen Schritt
zurück.
»Meister Hochturm«, sagte Lan. »Genau der Mann, den
ich brauche. Wir wollen auf Eurer Fähre übersetzen.«
Der Mann mit den scharfen Gesichtszügen hob die
Lampe höher und blickte mißtrauisch auf die Fremdlinge
herab.
Nach einer Minute sagte Meister Hochturm schließlich
mürrisch: »Die Fähre setzt nur im Tageslicht über. Nicht
in der Nacht. Niemals. Und auch nicht bei diesem Nebel.
Kommt zurück, wenn die Sonne aufgegangen und der
Nebel verschwunden ist.«
Er wollte sich schon abwenden, da packte Lan ihn am
Handgelenk. Der Fährmann öffnete wütend den Mund.
Gold glitzerte im Schein der Lampe, als der Behüter ihm
einige Münzen in die Hand legte. Hochturm leckte sich die
Lippen, als die Münzen klimperten, und sein Kopf
bewegte sich auf die Hand zu, als könne er nicht glauben,
was er da sah.
»Und noch einmal soviel«, sagte Lan, »wenn wir sicher
auf der anderen Seite sind. Aber wir brechen sofort auf.«
»Jetzt gleich?« Der Fährmann kaute auf der Unterlippe,
trat von einem Fuß auf den anderen und spähte in die
nebelerfüllte Nacht hinaus. Dann nickte er plötzlich. »Also
dann! Aber laßt mein Handgelenk los! Ich muß meine
Helfer aufwecken. Oder glaubt Ihr, ich ziehe die Fähre
selbst hinüber?«
»Ich werde an der Fähre warten«, sagte Lan ohne jede
Gefühlsregung. »Aber nicht lange.« Er gab den Arm des
Fährmanns frei.
Meister Hochturm drückte eine Handvoll Münzen an
seine Brust und schob eilig mit der Hüfte die Tür zu,
nachdem er bestätigend genickt hatte.
KAPITEL 12

Über den Taren


Lan kam die Treppe herunter und befahl den Gefährten,
sie sollten absteigen und die Pferde hinter ihm durch den
Nebel führen. Wieder mußten sie darauf vertrauen, daß
der Behüter wußte, wo er hintrat. Der Nebel wirbelte ihm
um die Knie und verbarg seine Füße und alles, was sich
mehr als einen Schritt entfernt befand. Der Nebel war
hier nicht so dicht wie außerhalb des Ortes, aber trotzdem
konnte Rand seine Gefährten kaum erkennen.
Immer noch rührte sich kein Mensch außer ihnen in
dieser Nacht. Es zeigten sich Lichter in ein paar Häusern,
aber der Nebel machte sie zu verschwommenen
Lichtflecken. Andere Häuser schienen auf einem
Wolkenmeer zu schwimmen oder ragten unvermittelt aus
dem Nebel heraus, als stünden sie ganz allein in der
einsamen Landschaft.
Rand war steif vor Schmerzen von diesem langen Ritt
und fragte sich, ob er nicht den Rest des Weges nach Tar
Valon zu Fuß zurücklegen sollte. Laufen war zwar nicht
besser als Reiten, aber seine Füße waren so ziemlich der
einzige Körperteil, der nicht schmerzte. Und er war das
Laufen ja gewöhnt.
Nur einmal sagte jemand etwas so laut, daß Rand es
klar hören konnte. »Du mußt dich darum kümmern«,
sagte Moiraine, als antworte sie auf etwas, das Lan – für
Rand unhörbar – gesagt hatte. »Er wird sich sowieso an
viel zuviel erinnern, ohne daß wir es ändern können.
Wenn er sich besonders deutlich an mich erinnert...«
Rand bewegte die Schultern unter dem mittlerweile
durchnäßten Umhang, aber es half nichts. Er hielt sich
nahe bei den anderen. Mat und Perrin murrten vor sich
hin, murmelten Flüche und verbissen sich manchen
Aufschrei, wenn sie mit den Zehen an etwas Unsichtbarem
anstießen. Auch Thom Merrilin brummelte vor sich hin.
Wortfetzen wie ›heiße Mahlzeit‹ und ›Feuer‹ und
›Glühwein‹ drangen an Rands Ohren, aber weder der
Behüter noch die Aes Sedai achteten darauf. Egwene
marschierte wortlos mit, den Rücken gerade aufgerichtet
und den Kopf hoch erhoben. Ihr Schritt wirkte allerdings
auch schmerzhaft zögernd, denn sie war genausowenig an
das Reiten gewöhnt wie die anderen.
Sie bekommt ihr Abenteuer, dachte er grimmig, aber
so wie es schien, bemerkte sie Kleinigkeiten wie Nebel,
Feuchtigkeit und Kälte überhaupt nicht. Es mußte da einen
Unterschied in der Sichtweise geben, der davon abhing, ob
man das Abenteuer suchte oder ob es einem aufgezwungen
wurde. In den Geschichten wirkte es zweifellos spannend,
wenn einer durch kalten Nebel ritt, einen Draghkar oder
Schlimmeres auf den Fersen. Egwene empfand vielleicht
einen Nervenkitzel dabei; er dagegen spürte nur Kälte und
Feuchtigkeit und war froh, sich wieder in einem Dorf zu
befinden, selbst wenn es nur Taren-Fähre war.
Plötzlich prallte er in der Dunkelheit gegen etwas
Großes und Warmes: Lans Hengst. Der Behüter und
Moiraine waren stehengeblieben, und der Rest der Gruppe
tat es ihnen nach. Sie tätschelten ihre Reittiere, um sich
ebenso zu beruhigen wie die Tiere. Hier war der Nebel
ein wenig dünner.
Vorsichtig führte Rand Wolke ein Stückchen vorwärts
und war überrascht, als er hörte, daß seine Stiefel über
Holzplanken scharrten. Der Landesteg der Fähre! E r
bewegte sich behutsam rückwärts und zog den Grauen mit
sich. Er hatte gehört, wie der Landesteg der Taren-Fähre
aussah: eine Brücke ins Nichts, an deren Ende nur die
Fähre lag. Der Taren war angeblich breit und tief und
hatte eine trügerische Strömung, die auch den stärksten
Schwimmer unter Wasser ziehen konnte. Viel breiter als
der Weinquellenbach, dachte er bei sich. Dazu noch der
Nebel... Er war erleichtert, als er wieder Erdboden unter
den Füßen fühlte.
Ein zorniges ›Hsst!‹ von Lan, beißend wie der Nebel.
Der Behüter gestikulierte und eilte an Perrins Seite. E r
zog den Umhang des kräftigen Burschen weg, bis die
große Axt zu sehen war. Gehorsam, auch wenn er nicht
verstand, warum, warf Rand den eigenen Umhang über
die Schulter zurück, um sein Schwert zu zeigen. Als Lan
schnell zu seinem Pferd zurücklief, erschienen im Nebel
schwankende Lichter, und gedämpfte Schritte näherten
sich.
Sechs Männer in grober Kleidung folgten Meister
Hochturm mit unbewegten Gesichtern. Die Fackeln, die
sie trugen, vertrieben den Nebel in einem engen Umkreis.
Als sie stehenblieben, konnten sie die ganze Gesellschaft
aus Emondsfeld klar erkennen. Sie waren von einer
grauen Mauer umgeben, die durch den reflektierten
Fackelschein noch undurchdringlicher wirkte. Der
Fährmann betrachtete sie. Den schmalen Kopf hielt er
schief, und seine Nase zuckte wie bei einem Wiesel, das
die Luft prüft, ob eine Falle droht.
Lan lehnte sich scheinbar unbeteiligt an seinen Sattel,
doch eine Hand ruhte drohend auf dem langen Knauf
seines Schwertes. Er wirkte wie eine zusammengepreßte
Metallfeder.
Rand ahmte rasch die Haltung des Behüters nach, indem
er eine Hand auf sein Schwert legte. Doch er glaubte
nicht, daß er diesen tödlich wirkenden Eindruck erwecken
konnte. Vielleicht lachen sie, wenn ich es versuche.
Perrin lockerte seine Axt in der Lederschlaufe und
stellte sich absichtlich breitbeinig hin. Mat legte eine Hand
auf den Köcher. Rand fragte sich, in welchem Zustand
sich Mats Bogensehne befand, nachdem sie dieser
Feuchtigkeit ausgesetzt gewesen war. Thom Merrilin trat
großspurig vor und hielt eine leere Hand hoch, die er
langsam drehte. Plötzlich machte er eine schwungvolle
Bewegung, und ein Dolch wirbelte zwischen seinen
Fingern hindurch. Der Griff klatschte ihm in die
Handfläche, und er reinigte sich ganz lässig die
Fingernägel damit. Ein leises Lachen trieb von Moiraine
herüber. Egwene klatschte, als beobachte sie eine
Vorführung beim Fest, hielt dann inne und blickte
beschämt drein. Ihr Mund zuckte trotzdem im Anflug
eines Lächelns.
Hochturm wirkte überhaupt nicht erheitert. Er starrte
Thom an und räusperte sich laut. »Es ist mehr Gold für
die Überfahrt im Gespräch gewesen.« Er sah wieder mit
einem mürrischen und gleichzeitig verschlagenen Blick
einen nach dem anderen an. »Was Ihr mir zuvor gegeben
habt, ist jetzt an einem sicheren Ort verwahrt, klar? Da
kommt Ihr nicht mehr dran.«
»Der Rest des Goldes«, sagte Lan zu ihm, »ist in Eurer
Hand, wenn wir auf der anderen Seite sind.« Der
Lederbeutel an seinem Gürtel klimperte, als er ihn ein
wenig schüttelte.
Einen Augenblick lang huschte der Blick des
Fährmanns zu dem Beutel hinüber, doch schließlich nickte
er. »Fangen wir also an«, murmelte er und schritt hinaus
auf den Steg, von seinen sechs Helfern gefolgt. Der Nebel
wich vor den Fackeln zurück. Hinter ihnen schlossen sich
graue Fühler und füllten den Raum, in dem sie sich
befunden hatten. Rand eilte hinterher.
Die Fähre selbst war eine breite Holzbarke mit
hochgezogenen Seiten. Man erreichte sie über eine Rampe,
die hochgezogen werden konnte und so das eine Ende
abschloß. Auf beiden Seiten verliefen Seile, stark wie das
Handgelenk eines Mannes. Die Seile waren an massiven
Pfosten am Ende des Stegs befestigt und verschwanden auf
der anderen Seite in der Nacht über dem Fluß. Die Helfer
des Fährmanns steckten ihre Fackeln in Eisenklammern an
den Bordwänden der Fähre, warteten, bis alle ihre Pferde
an Bord geführt hatten, und zogen dann die Rampe hoch.
Das Deck knarrte unter Hufen und scharrenden Füßen,
und die Fähre schwankte unter ihrem Gewicht.
Hochturm fluchte vor sich hin und knurrte sie an, sie
sollten ihre Pferde festhalten und in der Mitte bleiben,
damit sie den Helfern nicht im Weg standen. Er schrie
seine Helfer an und hetzte sie herum, als sie die Fähre auf
die Überquerung vorbereiteten, aber was er auch sagte:
Die Männer bewegten sich mit den gleichen zögernden
Bewegungen. Auch er war nicht mit ganzem Herzen
dabei, brach oft mitten im Schreien ab, hielt seine Fackel
hoch und spähte in den Nebel hinaus. Schließlich hörte er
mit dem Schreien ganz auf und ging zum Bug, wo er stand
und in den Nebel starrte, der den Fluß bedeckte. E r
bewegte sich nicht, bis einer der Helfer ihn am Arm
berührte; dann fuhr er zusammen und sah ihn böse an.
»Was? Oh. Du? Fertig? Wurde auch Zeit. Also, Mann,
worauf wartest du?« Er wedelte mit den Armen. »Legt
ab! Mach Platz! Beweg dich!« Der Mann schlurfte
gehorsam weg, und Hochturm spähte wieder in den Nebel
hinaus.
Die Fähre schwankte stark, als die Taue gelöst wurden
und die heftige Strömung sie erfaßte, und dann gab es
nochmals einen Ruck, als sie von den Führseilen
abgefangen wurde. Die Helfer, auf jeder Seite drei,
packten die Seile am vorderen Ende der Fähre und
schritten mühsam damit nach hinten. Sie unterhielten sich
leise, und die Fähre glitt auf den grauverhüllten Fluß
hinaus.
Der Landesteg verschwand. Nebel hüllte sie ein. Zarte
Nebelfinger griffen zwischen den flackernden Fackeln
hindurch über die Fähre hinweg. Die Barke schaukelte
langsam in der Strömung. Nirgends zeigte sich eine
Bewegung bis auf den gleichmäßig schweren Schritt der
Helfer, wenn sie vorwärtsgingen, um die Seile zu packen
und sie dann nach hinten zu ziehen. Rands Gruppe hielt
sich möglichst dicht beieinander in der Mitte der Fähre.
Rand hatte gehört, daß der Taren viel breiter war als die
Flüsse, die er kannte; der Nebel machte ihn nun noch
unendlich viel breiter.
Nach einer Weile bewegte sich Rand näher zu Lan hin.
Flüsse, die ein Mann nicht durchwaten oder
durchschwimmen konnte, ja, deren anderes Ufer er noch
nicht einmal sah, machten ihn, der nie etwas Breiteres
oder Tieferes als einen Wasserwald-Teich gesehen hatte,
schon recht unruhig. »Hätten sie wirklich versucht, uns
auszurauben?« fragte er leise. »Er hat sich eher so
benommen, als habe er Angst, wir würden ihn
ausrauben.«
Der Behüter betrachtete den Fährmann und seine Helfer
– keiner schien zu lauschen –, bevor er ebensoleise
antwortete: »Wenn der Nebel sie verbirgt... Also, wenn
das verborgen bleibt, was sie tun, handeln Menschen
manchmal anderen gegenüber anders, als es der Fall wäre,
wenn man sie beobachten kann. Und diejenigen, die am
schnellsten bereit sind, einem Fremden etwas anzutun,
glauben auch am ehesten, ein Fremder wolle ihnen
Schaden zufügen. Dieser Bursche... Ich denke, er würde
seine Mutter als Festtagsbraten an die Trollocs verkaufen,
wenn der Preis stimmt. Ich bin etwas überrascht, daß du
fragst. Ich hörte, wie die Leute in Emondsfeld über die
Einwohner von Taren-Fähre reden.«
»Ja, aber... Na ja, jeder sagt, daß sie... Aber ich habe
nicht geglaubt, daß sie wirklich...« Rand entschloß sich,
den Glauben daran aufzugeben, er wisse irgend etwas über
die Menschen außerhalb seines eigenen Dorfes. »Er
erzählt vielleicht dem Blassen, daß wir auf der Fähre
übergesetzt haben«, sagte er schließlich. »Vielleicht bringt
er die Trollocs anschließend auch hinüber.«
Lan lachte trocken. »Einen Fremden ausrauben ist eine
Sache, mit einem Halbmenschen zu tun haben, eine andere.
Kannst du dir wirklich vorstellen, daß er Trollocs
übersetzt, besonders in diesem Nebel, ganz gleich, wieviel
Gold man ihm bietet? Oder daß er auch nur mit einem
Myrddraal spricht, wenn er es vermeiden kann? Allein
der Gedanke daran brächte ihn dazu, wegzurennen, so
weit er nur könnte. Ich glaube nicht, daß wir uns über
Schattenfreunde in Taren-Fähre viele Gedanken machen
müssen. Nicht hier. Wir sind sicher.... Wenigstens für
eine Weile. Vor diesen Burschen jedenfalls. Paß auf!«
Hochturm hatte sich umgedreht. Das spitze Gesicht
vorgestreckt die Fackel erhoben, betrachtete er Lan und
Rand, als sehe er sie nun zum erstenmal klar und deutlich.
Planken knarrten unter dem Schritt der Helfer, und
gelegentlich hörte man das Stampfen eines Pferdehufs.
Plötzlich zuckte der Fährmann zusammen, denn er
bemerkte, daß sie ihn beim Beobachten selbst
beobachteten. Behende wandte er sich um und spähte nach
dem anderen Ufer aus oder was er sonst im Nebel suchen
mochte.
»Sag nichts mehr«, sagte Lan so leise, daß Rand ihn
kaum verstehen konnte. »Dies sind schlechte Tage, um
von Trollocs oder Schattenfreunden oder dem Vater der
Lügen zu sprechen. Fremde Ohren lauschen. Solche
Gespräche können sich noch mehr rächen als ein
Drachenzahn an deiner Tür.«
Rand verging die Lust zum Weiterfragen. Mehr als
zuvor packte ihn eine Weltuntergangsstimmung.
Schattenfreunde! Als ob Blasse und Trollocs und ein
Draghkar nicht schon genug waren. Wenigstens konnte
man einen Trolloc erkennen, wenn man ihn sah.
Plötzlich ragten schattenhafte Pfähle aus dem Nebel auf.
Die Fähre prallte sanft auf dem Steg am anderen Ufer auf.
Dann rannten die Helfer und machten die Fähre fest und
ließen die Rampe am vorderen Ende mit einem dumpfen
Schlag herunter, während Mat und Perrin großspurig
erklärten, der Taren sei nicht halb so breit, wie sie
erwartet hatten. Lan führte seinen Hengst die Rampe
hinunter, von Moiraine und den anderen gefolgt. Als
Rand, der letzte in der Reihe, Wolke hinter Bela auf den
Steg führte, rief ihnen Meister Hochturm zornig zu: »Was
ist jetzt? He! Wo ist mein Gold?«
»Es wird bezahlt werden.« Moiraines Stimme kam von
irgendwoher im Nebel. Rands Stiefel polterten über die
Planken des Landestegs. »Und eine Silbermark für jeden
Eurer Männer«, fügte die Aes Sedai hinzu, »als Dank für
die schnelle Überfahrt.«
Der Fährmann zögerte, das Gesicht vorgeschoben, als
wittere er Gefahr, aber als sie das Silber erwähnte,
erhoben sich die Helfer. Ein paar holten sich erst einmal
eine Fackel, doch alle polterten die Rampe hinunter, bevor
Hochturm den Mund öffnen konnte. Mit mürrisch
verzogenem Gesicht folgte der Fährmann seiner
Besatzung.
Wolkes Hufschläge klangen hohl durch den Nebel, als
Rand vorsichtig den Steg entlangging. Der graue Nebel
war hier so dicht wie über dem Fluß. Am Fuß des Stegs
teilte der Behüter Münzen aus. Er war umgeben von den
Fackeln Hochturms und seiner Leute. Alle außer Moiraine
warteten ein wenig weiter entfernt. Sie standen ängstlich
eng beieinander. Die Aes Sedai stand allein da und blickte
auf den Fluß hinaus. Rand verstand nicht, was sie da wohl
sehen mochte. Schaudernd zog er den Umhang enger um
die Schultern, obwohl er ganz durchnäßt war. Jetzt befand
er sich wirklich außerhalb der Zwei Flüsse, und seine
Heimat schien ihm viel ferner als nur eine Flußbreite.
»Hier«, sagte Lan, der Hochturm eine letzte Münze in
die Hand drückte. »Wie abgemacht.« Er steckte seine
Börse noch nicht weg, und der Mann mit dem
Frettchengesicht betrachtete sie gierig.
Unter lautem Quietschen erzitterte der Landesteg.
Hochturm fuhr hoch. Sein Kopf wandte sich der von
Nebel eingehüllten Fähre zu. Die an Bord
zurückgebliebenen Fackeln waren ein paar
verschwommene trübe Lichtflecken. Der Steg ächzte, und
mit dem donnernden Krachen von zerberstendem Holz
schwankten die beiden Lichter und entfernten sich.
Egwene stieß einen wortlosen Schrei aus, und Thom
fluchte.
»Sie treibt weg!« schrie Hochturm. Er packte seine
Helfer und schob sie auf das Ende des Stegs zu. »Die
Fähre hat sich losgerissen, ihr Dummköpfe! Packt zu!
Holt sie zurück!«
Die Helfer stolperten unter seinen Stößen ein paar
Schritte vorwärts, blieben dann aber stehen. Die trüben
Lichter an Bord der Fähre drehten sich plötzlich und dann
immer schneller. Der Nebel darüber drehte sich ebenfalls,
wurde zu einer Spirale. Der Landesteg bebte. Das
Krachen und Splittern von Holz erfüllte die Luft, als die
Fähre zerbrach.
»Ein Strudel«, murmelte einer der Helfer mit
ehrfurchtsvoller Stimme.
»Es gibt keine Strudel im Taren.« Hochturm hörte sich
irgendwie leer an. »Da war noch nie ein Strudel...«
»Ein unglückliches Vorkommnis.« Moiraines Stimme
klang hohl durch den Nebel, der aus ihr einen Schatten
machte, der sich vom Fluß abwandte.
»Unglücklich«, stimmte Lan mit gepreßter Stimme zu.
»Es scheint, daß Ihr für eine Weile niemanden mehr über
den Fluß bringen werdet. Eine unangenehme Sache, Euer
Floß in unseren Diensten zu verlieren.« Er griff erneut in
den Beutel, der sich noch in seiner Hand befand. »Dies
sollte Euch entschädigen.«
Für einen Augenblick starrte Hochturm auf das Gold,
das in Lans Hand schimmerte, dann zog er die Schultern
ein, und sein Blick wanderte zu den anderen hinüber, die
er über den Fluß gebracht hatte. Die Leute aus
Emondsfeld standen undeutlich und schweigend im Nebel.
Mit einem verängstigten Aufschrei schnappte sich der
Fährmann die Münzen aus Lans Hand, drehte sich um und
rannte in den Nebel hinein. Seine Helfer waren nur einen
halben Schritt hinter ihm. Der Schein ihrer Fackeln
verschwand schnell flußaufwärts.
»Es gibt hier nichts mehr, das uns halten könnte«, sagte
die Aes Sedai, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen.
Sie führte ihre weiße Stute weg vom Landesteg und die
Uferböschung hinauf.
Rand stand noch da und starrte auf den verborgenen
Fluß. Es könnte ein Zufall gewesen sein. Er sagte wohl:
Keine Strudel... Aber es... Plötzlich wurde ihm klar, daß
alle anderen weg waren. Hastig stieg auch er die sanft
ansteigende Böschung hinauf.
Drei Schritte später verflog der dichte Nebel, und
nichts blieb davon übrig. Er blickte zurück. Entlang der
Uferlinie hing auf einer Seite dichtes Grau, während sich
auf der anderen ein klarer Nachthimmel zeigte, noch
dunkel, obwohl die scharfen Umrisse des Mondes darauf
hinwiesen, daß die Dämmerung nicht mehr fern war.
Der Behüter und die Aes Sedai standen neben ihren
Pferden und berieten. Die anderen drückten sich ein Stück
entfernt aneinander; sogar im Mondlicht war ihr
Unbehagen greifbar zu spüren. Alle sahen Lan und
Moiraine an, und alle außer Egwene hatten sich nach
hinten gelehnt, innerlich unentschlossen, denn sie wollten
das Paar nicht aus den Augen verlieren und ihm
andererseits nicht zu nahe kommen. Rand lief an Egwenes
Seite, Wolke im Schlepptau, und sie lächelte ihn an. E r
glaubte nicht, daß das Leuchten in ihren Augen nur vom
Mondschein herrührte.
»Er verläuft so gerade am Flußufer entlang, als sei er
mit der Feder gezogen«, sagte Moiraine in befriedigtem
Tonfall. »Es gibt keine zehn Frauen in Tar Valon, die das
ohne Hilfe fertiggebracht hätten. Ganz zu schweigen
davon, daß es vom Rücken eines galoppierenden Pferdes
aus geschah.«
»Ich will mich ja nicht beklagen, Moiraine Sedai«, sagte
Thom mit ungewohnter Schüchternheit, »aber wäre es
nicht besser gewesen, uns weiterhin Deckung zu
gewähren? Vielleicht bis Baerlon? Wenn der Draghkar
auf diese Seite des Flusses schaut, dann verlieren wir alles,
was wir gewonnen haben.«
»Die Draghkar sind nicht besonders schlau, Meister
Merrilin«, sagte die Aes Sedai trocken. »Furchterregend
und von tödlicher Gefahr und mit guten Augen
ausgestattet, doch mit wenig Intelligenz. Er wird dem
Myrddraal berichten, daß es auf dieser Seite des Flusses
klar sei, doch der Fluß selbst sei meilenweit in beiden
Richtungen in Nebel gehüllt. Der Myrddraal wird wissen,
welche Anstrengung das für mich bedeutete. Er wird in
Betracht ziehen, daß wir vielleicht den Fluß hinunter zu
entkommen versuchen, und das wird ihn aufhalten. E r
muß seine Bemühungen verdoppeln. Der Nebel sollte sich
lange genug halten, damit er nie sicher ist, ob wir nicht
doch zumindest ein Stück mit einem Boot gefahren sind.
Ich hätte den Nebel statt dessen auch mehr in Richtung
Baerlon ausdehnen können, doch dann könnte der
Draghkar den Fluß innerhalb weniger Stunden absuchen,
und der Myrddraal wüßte genau, in welche Richtung wir
reisen.«
Thom pustete und schüttelte den Kopf. »Ich
entschuldige mich, Aes Sedai. Ich hoffe, Ihr seid mir nicht
böse.«
»Ah, Moi... ach ja, Aes Sedai.« Mat stockte und
schluckte hörbar. »Die Fähre... äh... habt Ihr... ich
meine... ich verstehe nicht, wieso...« Er verstummte
schüchtern, und die nachfolgende Stille war so tief, daß
der einzige Laut, den Rand vernahm, der eigene Atem
war. Schließlich sprach Moiraine, und ihre Stimme
erfüllte die leere Stille mit Schärfe. »Ihr sucht alle nach
Erklärungen, aber wenn ich jede meiner Handlungen erst
erklären wollte, dann hätte ich keine Zeit mehr für
anderes.« Im Mondlicht erschien ihnen die Aes Sedai
größer, sie ragte beinahe über ihnen auf. »Wisset also: Ich
beabsichtige, Euch sicher nach Tar Valon zu bringen. Das
ist das einzige, was Ihr wissen müßt.«
»Wenn wir weiter hier herumstehen«, warf Lan ein,
»muß der Draghkar den Fluß nicht erst absuchen. Falls
mich mein Gedächtnis nicht täuscht...« Er führte sein
Pferd weiter die Böschung hoch.
Als habe die Bewegung des Behüters etwas in seiner
Brust befreit, holte Rand tief Luft. Er hörte die anderen
dasselbe tun, sogar Thom, und erinnerte sich an eine alte
Redensart: Besser dem Wolf auf die Nase spucken als eine
Aes Sedai erzürnen. Aber die Anspannung war gewichen.
Moiraine ragte über niemanden auf; sie reichte ihm kaum
bis zur Brust.
»Können wir uns wenigstens ein bißchen ausruhen?«
fragte Perrin hoffnungsvoll und gähnte. Egwene, die sich
träge an Bela lehnte, seufzte erschöpft.
Das war der erste verzagte Laut, den Rand von ihr
vernahm. Vielleicht merkt sie endlich, daß dies kein tolles
Abenteuer ist. Dann erinnerte er sich schuldbewußt daran,
daß sie nicht wie er den halben Tag verschlafen hatte.
»Wir brauchen ein wenig Ruhe, Moiraine Sedai«, sagte er.
»Schließlich sind wir die ganze Nacht hindurch geritten.«
»Dann schlage ich vor, wir sehen nach, was Lan mit
uns im Sinn hat«, sagte Moiraine. »Kommt!«
Sie führte sie die Böschung vollends hinauf und in den
Wald hinein. Kahle Äste verstärkten die Schatten, und sie
erreichten eine dunkle Erhebung neben einer Lichtung.
Hier hatte vor langer Zeit eine Überschwemmung einen
ganzen Hain von Lederblattbäumen unterspült und
umgestürzt. Die Bäume waren zu einem großen Gewirr
aus Stämmen und Ästen und Wurzeln zusammengesackt.
Moiraine blieb stehen, und plötzlich erschien in
Bodennähe ein Licht. Der Schein drang aus dem Gestrüpp
hervor, und Lan kroch dort unten heraus. Er schob
vorsichtig den Stummel einer Fackel vor sich her. »Keine
ungebetenen Besucher«, sagte er zu Moiraine. »Und das
Holz, das ich gesammelt hatte, ist immer noch trocken. Ich
habe ein kleines Feuer gemacht. Wir können uns in der
Wärme ausruhen.«
»Hattet Ihr damit gerechnet, daß wir hier eine Rast
einlegen?« fragte Egwene überrascht.
»Das schien ein geeigneter Ort«, antwortete Lan. »Ich
bin immer gern auf alles vorbereitet. Man kann ja nie
wissen.«
Moiraine nahm ihm die Fackel ab. »Kümmerst du dich
um die Pferde? Wenn du fertig bist, werde ich mein
möglichstes tun, um allen die Müdigkeit zu vertreiben.
Jetzt gerade möchte ich mich mit Egwene unterhalten.
Egwene?«
Rand beobachtete, wie sich die beiden Frauen bückten
und unter dem Gewirr aus Baumstämmen verschwanden.
Es gab da eine niedrige Öffnung, kaum groß genug, um
hineinzukriechen. Der Schein der Fackel verschwand.
Lan hatte bei den Reisevorbereitungen auch an
Futtersäcke und einen kleinen Hafervorrat gedacht, doch
die Pferde sollten die Sättel nicht ablegen. Statt dessen
holte er die ebenfalls mitgebrachten Fußfesseln heraus.
»Sie könnten sich ohne Sättel natürlich besser ausruhen,
aber falls wir schnell weitermüssen, haben wir vielleicht
keine Zeit mehr, sie wieder zu satteln.«
»Für mich sehen sie nicht so aus, als müßten sie sich
ausruhen«, sagte Perrin beim Versuch, einen Futtersack
über den Kopf seines Reittieres zu hängen. Das Pferd warf
den Kopf hoch, bevor es ihm gestattete, die Riemen
anzubringen. Rand hatte auch seine Schwierigkeiten mit
Wolke. Er benötigte drei Versuche, bis er den
Segeltuchbeutel über die Nase des Grauen gezogen hatte.
»Sie brauchen Ruhe«, sagte Lan. Er richtete sich auf,
nachdem er seinen Hengst festgemacht hatte. »Ja, sie
können immer noch rennen. Wenn wir nicht aufpassen,
dann rennen sie, bis sie vor Erschöpfung tot umfallen.
Mir wäre es lieber gewesen, Moiraine Sedai hätte das
nicht tun müssen, aber es war nicht anders möglich.« E r
tätschelte den Hals des Hengstes, und das Pferd hob und
senkte den Kopf, als genieße es die Berührung des
Behüters. »Wir müssen in den nächsten Tagen langsamer
tun, damit sie sich erholen. Langsamer, als mir lieb ist.
Aber mit etwas Glück wird es reichen.«
»Ist das...?« Mat schluckte hörbar. »Meinte sie das? Mit
unserer Erschöpfung?«
Rand klatschte mit der Hand auf Wolkes Hals und
starrte ins Leere. Obwohl sie seinem Vater so
wirkungsvoll geholfen hatte, hatte er nicht das Bedürfnis,
die Macht der Aes Sedai auch an sich selbst erproben zu
lassen. Licht, sie hat ja so gut wie zugegeben, daß sie die
Fähre versenkte.
»Ja, so ungefähr.« Lan lachte sarkastisch. »Aber ihr
müßt euch keine Gedanken machen, daß ihr euch zu Tode
rennen werdet – solange die Lage nicht sehr viel
schlimmer wird als jetzt. Nehmt es einfach als eine
zusätzliche Nacht zum Schlafen.«
Von weit droben über dem nebelbedeckten Fluß ertönte
plötzlich der Schrei des Draghkars. Sogar die Pferde
erstarrten. Wieder erklang er, diesmal näher, und noch
einmal. Wie Nadeln drang es in Rands Schädel. Dann
wurden die Schreie schwächer, bis sie ganz fern
verklangen. »Glück«, hauchte Lan. »Es sucht den Fluß
nach uns ab.« Er zuckte kurz mit den Achseln und klang
plötzlich wieder ganz selbstsicher. »Gehen wir hinein. Ich
könnte heißen Tee gebrauchen und etwas zum
Magenfüllen.«
Rand war der erste, der auf Händen und Knien durch
die Öffnung im Gestrüpp und einen kurzen Tunnel
hinunterkroch. Am Ende hielt er an, immer noch auf
Knien. Vor ihm lag ein unregelmäßig geformter Raum,
eine Waldhöhle, die bei weitem groß genug für alle war.
Die Decke aus Baumstämmen und Ästen war allerdings so
niedrig, daß nur die Frauen aufrecht stehen konnten.
Rauch stieg von einem kleinen Feuer auf einem
Fundament aus Flußsteinen auf und trieb davon. Der
Luftzug reichte aus, um den Raum vom Rauch zu
befreien, und das verwobene Gestrüpp war so dicht, daß
kein Feuerschein nach außen drang. Moiraine und Egwene
hatten ihre Umhänge zur Seite gelegt und saßen sich im
Schneidersitz am Feuer gegenüber. »Die Eine Macht«,
sagte Moiraine gerade, »kommt aus der Wahren Quelle,
der treibenden Kraft der Schöpfung, der Kraft, die der
Schöpfer erschuf, um das Rad der Zeit zu drehen.« Sie
legte die Handflächen aneinander und preßte sie
gegeneinander. »Saidin, die männliche Hälfte der Wahren
Quelle, und Saidar, die weibliche Hälfte, arbeiten
gleichzeitig gegeneinander und miteinander, um die Macht
zu erzeugen. Saidin« – sie erhob eine Hand und ließ sie
wieder fallen – »wurde durch die Berührung des Dunklen
Königs verdorben, wie Wasser, auf dessen Oberfläche ein
dünner Film ranzigen Öls schwimmt. Das Wasser ist
immer noch rein, doch man kann es nicht berühren, ohne
gleichzeitig die Verunreinigung zu berühren. Nur Saidar
kann noch gefahrlos benutzt werden.« Egwene wandte
Rand den Rücken zu. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen,
doch sie beugte sich begierig lauschend vor.
Mat stieß Rand von hinten an und murmelte etwas, und
so kroch Rand nach vorn in die Baumhöhle hinein.
Moiraine und Egwene nahmen sein Eintreten nicht wahr.
Die anderen drängten sich hinter ihm hinein, warfen die
klammen Umhänge zur Seite, setzten sich ans Feuer und
hielten die Hände darüber, um sie zu wärmen. Lan, der
letzte, der eintrat, zog Wasserbeutel und Ledersäcke aus
einer Nische in der Baumwand, holte einen Kessel hervor
und bereitete Tee zu. Er achtete nicht darauf, was die
Frauen sagten, aber Rands Freunde hörten auf, sich die
Hände zu rösten, und lauschten ganz unverhohlen. Thom
gab vor, seine ganze Aufmerksamkeit dem Stopfen seiner
wunderschön geschnitzten Pfeife zu widmen, aber die Art,
wie er sich zu den Frauen hinüberbeugte, verriet ihn.
Moiraine und Egwene benahmen sich, als seien sie allein.
»Nein«, antwortete Moiraine auf eine Frage, die Rand
nicht gehört hatte, »die Wahre Quelle kann nicht
aufgebraucht werden, genausowenig wie ein Fluß durch
das Mühlrad aufgebraucht wird. Die Quelle ist der Fluß,
die Aes Sedai sind das Mühlrad.«
»Und Ihr glaubt wirklich, daß ich das lernen kann?«
fragte Egwene. Ihr Gesicht glühte vor Eifer. Rand hatte
sie noch nie so schön gesehen und gleichzeitig so weit von
ihm entfernt. »Ich kann eine Aes Sedai werden?«
Rand sprang auf und stieß mit dem Kopf gegen einen
Baumstamm an der niedrigen Decke. Thom Merrilin
packte ihn am Arm und zog ihn hinunter.
»Sei kein Narr!« zischte der Gaukler. Er betrachtete
die Frauen – keine schien etwas bemerkt zu haben – und
blickte Rand voller Sympathie an. »Darauf hast du keinen
Einfluß mehr, Junge.«
»Kind«, sagte Moiraine sanft, »nur wenige lernen, die
Wahre Quelle zu berühren und die Eine Macht
anzuwenden. Einige von denen lernen es besser, andere
schlechter. Du gehörst zu der Handvoll Menschen, die es
nicht erst lernen müssen. Zumindest wirst du von selbst
wissen, wie man die Wahre Quelle berührt, ob du es willst
oder nicht. Ohne das Wissen, das du in Tar Valon
erwerben kannst, wirst du allerdings nie lernen, die Macht
ganz zu beherrschen, und es könnte sein, daß du nicht
überlebst. Männer, denen die Fähigkeit angeboren ist,
Saidin zu berühren, sterben natürlich, falls die Roten Ajah
sie nicht finden und dämpfen...«
Thom grollte tief in seiner Kehle, und Rand rutschte
nervös hin und her. Männer wie jene, von denen die Aes
Sedai sprach, waren selten – er hatte in seinem ganzen
Leben nur von dreien gehört, und die lebten, dem Licht
sei Dank, nicht bei den Zwei Flüssen –, aber der Schaden,
den sie anrichteten, bevor sie von den Aes Sedai gefunden
wurden, war immer schlimm genug, um Futter für die
Nachrichten zu liefern, genauso wie die Kriege oder
Erdbeben, die ganze Städte zerstörten. Er hatte niemals
richtig verstanden, was die Ajah taten. Den Geschichten
nach bildeten sie Gesellschaften innerhalb der Aes Sedai,
die mehr als alles andere untereinander stritten und
intrigierten, doch in einem Punkt waren sich die
Geschichten einig. Die Roten Ajah hatten es sich zur
obersten Pflicht gemacht, die Welt vor einer neuen
Zerstörung zu bewahren, und diese Aufgabe erfüllten sie,
indem sie jeden Mann jagten, der davon träumte, die Eine
Macht anzuwenden. Mat und Perrin sahen aus, als
wünschten sie sich plötzlich, zu Hause in ihren Betten zu
liegen.
»... aber auch einige der Frauen sterben. Es ist schwer
ohne Führung zu erlernen. Die Frauen, die wir nicht
finden und die überleben, werden oft zu... Nun ja, in
diesem Teil der Welt werden sie vielleicht Seherinnen in
ihren Dörfern.« Die Aes Sedai schwieg nachdenklich.
»Das alte Blut ist stark in Emondsfeld, und dieses alte Blut
singt. Ich wußte, wer du warst, vom ersten Augenblick an,
als ich dich sah. Jede Aes Sedai, die sich in Gegenwart
einer Frau befindet, die die Eine Macht lenken kann oder
deren Erwachen bevorsteht, fühlt dies.« Sie kramte in
einem Beutel an ihrem Gürtel und holte einen kleinen
blauen Edelstein an einer Goldkette hervor, den sie vorher
im Haar getragen hatte. »Du bist deinem Erwachen sehr
nahe, deiner ersten Berührung der Wahren Quelle. Es ist
besser, wenn ich dich durch diese Zeit geleite. Dann
kannst du die unangenehmen Auswirkungen vermeiden,
die denen bevorstehen, die den Weg selbst finden
müssen.«
Egwenes Augen wurden groß, als sie den Stein
betrachtete, und sie leckte sich die Lippen zum
wiederholten Mal. »Ist... Hat der die Macht?«
»Natürlich nicht!« fuhr Moiraine sie an. »Dinge haben
keine Macht, Kind. Selbst ein Angreal ist nur ein
Werkzeug. Das hier ist nur ein hübscher blauer Stein.
Aber er kann Licht erzeugen. Sieh her!«
Egwenes Hände zitterten, als Moiraine den Stein auf
ihre Fingerspitzen legte. Sie wollte die Hände
zurückziehen, aber die Aes Sedai nahm ihre beiden Hände
in eine der ihren, und mit der anderen berührte sie
Egwenes Schläfe. »Schau den Stein an«, sagte die Aes
Sedai leise. »Es ist besser so, als allein herumzutasten.
Befreie deinen Geist von allem bis auf den Stein. Befreie
deinen Geist und laß dich treiben. Es gibt nur noch den
Stein und die Leere. Ich werde beginnen. Treibe und laß
mich dich führen. Keine Gedanken. Treibe.«
Rands Finger bohrten sich in seine Knie; die
Kinnbacken verkrampften sich, bis sie schmerzten. Sie
muß versagen. Sie muß.
Licht erblühte im Stein, ein einziges blaues Aufblitzen,
dann war es verschwunden; nicht heller als ein
Glühwürmchen, doch er zuckte zusammen, als habe es ihn
geblendet. Egwene und Moiraine starrten mit
ausdruckslosen Gesichtern in den Stein hinein. Ein
weiteres Aufblitzen, dann noch einmal, bis das azurblaue
Licht wie in einem Herzschlag pulsierte. Es ist die Aes
Sedai, dachte er verzweifelt. Moiraine tut das. Nicht
Egwene.
Ein letztes schwaches Aufflackern, und dann war der
Stein erneut nichts als ein Anhänger. Rand hielt die Luft
an.
Für einen Moment starrte Egwene noch weiter in den
Stein hinein, doch dann blickte sie zu Moiraine auf. »Ich...
ich dachte, ich fühle... etwas, aber... Vielleicht habt Ihr
doch nicht recht in bezug auf mich. Es tut mir leid, daß
Ihr Eure Zeit verschwendet habt.«
»Ich habe nichts verschwendet, Kind.« Um Moiraines
Lippen spielte ein schwaches, zufriedenes Lächeln. »Das
letzte Licht war allein deines.«
»Tatsächlich?« rief Egwene und verfiel danach sofort
in Trübsinn. »Aber es war ja kaum vorhanden.«
»Jetzt benimmst du dich wie ein närrisches
Dorfmädchen. Die meisten, die nach Tar Valon kommen,
müssen monatelang üben, um das fertigzubringen, was du
gerade geschafft hast. Du könntest es weit bringen.
Vielleicht sogar eines Tages bis zum Amyrlin-Sitz, wenn
du fleißig lernst und arbeitest.«
»Ihr meint...?« Mit einem Freudenschrei umarmte
Egwene die Aes Sedai. »O danke! Rand, hast du gehört?
Ich werde eine Aes Sedai!«
KAPITEL 13

Entscheidungen
Bevor sie einschliefen, kniete Moiraine neben jedem von
ihnen nieder und legte ihnen die Hände auf den Kopf. Lan
schimpfte, er brauche das nicht, und sie solle ihre Kraft
nicht verschwenden, doch er versuchte nicht ernsthaft, sie
daran zu hindern. Egwene drängte sich beinahe nach
dieser Erfahrung, während Mat und Perrin eindeutig
Angst hatten, sich aber auch davor fürchteten, nein zu
sagen. Thom zuckte unter den Händen der Aes Sedai
zusammen, aber sie ergriff energisch seinen grauen Kopf,
mit einem Blick, der keinen Widerspruch erlaubte. Der
Gaukler machte die ganze Prozedur hindurch ein saures
Gesicht. Sie lächelte spöttisch, als sie die Hände wieder
wegnahm. Seine Miene verfinsterte sich noch mehr, aber
er sah erfrischt aus. Sie alle wirkten erholt.
Rand hatte sich in eine Nische in der unregelmäßig
verlaufenden Wand zurückgezogen und hoffte, übersehen
zu werden. Seine Augen schlossen sich beinahe von selbst,
als er sich gegen das Gewirr von Stämmen und Gestrüpp
lehnte, doch er zwang sich zum Zuschauen. Er hielt die
Hand vor den Mund und versuchte, das Gähnen zu
unterdrücken. Ein wenig Schlaf, ein oder zwei Stunden,
und er würde sich wieder wohler fühlen. Aber Moiraine
übersah ihn nicht.
Er zuckte ebenfalls ein wenig zusammen, als er ihre
kühlen Finger auf seinem Gesicht fühlte, und sagte: »Ich
glaube nicht...« Seine Augen weiteten sich erstaunt. Die
Müdigkeit rann aus ihm heraus wie Wasser den Berg
hinunter; Schmerzen und Muskelkater wurden zu
schwachen Erinnerungen und verschwanden ganz. Er sah
sie mit offenem Mund an. Sie lächelte nur und zog die
Hände zurück.
»Es ist vollbracht«, sagte sie und stand mit einem
müden Seufzer auf, der ihn daran erinnerte, daß sie für
sich selbst nichts tun konnte. Sie trank nur ein wenig Tee
und lehnte Brot und Käse ab, die Lan ihr aufzudrängen
versuchte, bevor sie sich am Feuer zusammenrollte. Sie
schien im gleichen Moment einzuschlafen, nachdem sie
ihren Umhang um sich gewickelt hatte.
Die anderen, alle außer Lan jedenfalls, schliefen ein,
wo immer sie ein Plätzchen zum Ausstrecken fanden,
obwohl sich Rand nicht vorstellen konnte, warum. E r
fühlte sich, als habe er bereits eine ganze Nacht in einem
guten Bett hinter sich. Doch kaum hatte er sich bequem
gegen die grüne Wand gelehnt, da schlief er auch schon
ein. Als Lan ihn eine Stunde später wachrüttelte, fühlte er
sich, als habe er drei Tage lang geruht.
Der Behüter weckte alle bis auf Moiraine und
unterdrückte auf ernste Art jeden Laut, der ihren Schlaf
stören konnte. Trotzdem gestattete er ihnen nur einen
kurzen Aufenthalt in der gemütlichen Baumhöhle. Kaum
hatte die Sonne sich über dem Horizont erhoben, waren
alle Spuren verwischt, und saßen alle auf ihren Pferden
und waren unterwegs nach Norden, in Richtung Baerlon.
Sie ritten langsam, damit die Pferde ihre Kräfte schonen
konnten. Unter den Augen der Aes Sedai lagen tiefe
Schatten, aber sie saß aufrecht und ruhig im Sattel.
Über dem Fluß lag immer noch dichter Nebel, eine
graue Mauer, die den kraftlosen Sonnenstrahlen
erfolgreich widerstand. Die Zwei Flüsse lagen verborgen
dahinter. Rand blickte beim Reiten öfter über die Schulter
zurück und hoffte auf einen letzten Blick, wenigstens auf
Taren-Fähre, bis schließlich die Nebelbank dem Blick
entschwand.
»Ich hätte nie geglaubt, daß ich mich einmal so weit
weg von zu Hause befände«, sagte er, als die Bäume
schließlich den Nebel wie auch den Fluß verbargen.
»Erinnert ihr euch noch daran, als Wachhügel so weit weg
schien?« Das war vor zwei Tagen. Es erscheint mir wie
eine Ewigkeit.
»In spätestens zwei Monaten sind wir zurück«, sagte
Perrin in angespanntem Tonfall. »Denkt mal, was wir
dann alles zu erzählen haben!«
»Selbst die Trollocs können uns nicht ewig jagen«,
meinte Mat. »Versengen soll mich das Licht, aber das
können sie doch nicht.« Er richtete sich mit einem tiefen
Seufzer im Sattel auf und sackte wieder zusammen, als
glaube er kein Wort von dem Gesagten.
»Männer!« schnaubte Egwene. »Da bekommt ihr
endlich die Abenteuer, über die ihr immer geschwatzt
habt, und schon redet ihr wieder über zu Hause.« Sie hielt
den Kopf hoch erhoben, und doch bemerkte Rand ein
leises Zittern in ihrer Stimme, jetzt, da man nichts mehr
von den Zwei Flüssen sah.
Weder Moiraine noch Lan unternahmen einen Versuch,
sie zu beruhigen. Kein Wort, um ihnen zu sagen, daß sie
zurückkehren würden. Er versuchte, nicht daran zu
denken, was das bedeuten mochte. Sogar in ausgeruhtem
Zustand wurde er von Zweifeln geplagt, so daß er nicht
noch mehr davon gebrauchen konnte. Im Sattel
zusammengesunken flüchtete er sich in einen Tagtraum.
Er hütete neben Tam Schafe auf einer Weide mit dichtem
üppigen Gras. Die Lerchen sangen von einem
Frühlingsmorgen. Und eine Fahrt nach Emondsfeld zum
Bel Tine, so wie es gewesen war. Er tanzte auf dem Grün,
und seine einzige Sorge war, nicht beim nächsten
Tanzschritt zu stolpern. Er brachte es fertig, sich lange
Zeit in diesen Traum zu versenken.
Der Ritt nach Baerlon dauerte fast eine Woche. Lan
beschwerte sich zwar über ihre Bummelei, aber er war es,
der die Geschwindigkeit bestimmte und die anderen
zwang, sie einzuhalten. Mit sich und seinem Hengst
Mandarb – er sagte, das heiße ›Klinge‹ in der Alten
Sprache – ging er nicht so rücksichtsvoll um. Der Behüter
legte die doppelte Strecke der anderen zurück. E r
galoppierte mit im Wind flatterndem Umhang voraus, um
zu sehen, was vor ihnen lag, oder er ließ sich zurückfallen
und suchte den Weg hinter ihnen nach Verfolgern ab.
Jeder andere jedoch, der sich schneller als im Schrittempo
zu bewegen versuchte, wurde ausgescholten, weil er keine
Rücksicht auf die Tiere nahm, und mußte sich ein paar
beißende Sätze anhören, was er wohl zu Fuß unternehmen
würde, wenn die Trollocs erst erschienen. Nicht einmal
Moiraine war vor seiner scharfen Zunge sicher, wenn sie
ihre weiße Stute in Trab setzte. Aldieb war der Name der
Stute; in der Alten Sprache hieß das ›Westwind‹ – der
Wind, der den Frühlingsregen brachte.
Der Spürsinn des Behüters erbrachte kein Zeichen einer
Verfolgung oder eines Hinterhalts. Er erzählte nur
Moiraine, was er sah, und das so leise, daß niemand sonst
es verstehen konnte, und dann berichtete die Aes Sedai den
anderen, was sie für berichtenswert hielt. Anfangs blickte
Rand genauso oft nach hinten wie nach vorn. Er war nicht
der einzige. Perrin griff oft nach seiner Axt, und Mat ritt
mit einem Pfeil auf der Sehne, jedenfalls anfangs. Aber
das Land hinter ihnen blieb leer von Trollocs oder
Gestalten in schwarzen Mänteln, und am Himmel zeigte
sich kein Draghkar. Allmählich glaubte Rand daran, daß
sie wirklich und wahrhaftig entkommen waren.
Selbst die dichtesten Stellen des Waldes boten keine
ausreichende Deckung. Der Winter hielt sich hier,
nördlich des Taren, genauso zäh wie bei den Zwei
Flüssen. Gruppen von Kiefern, Tannen oder
Lederblattbäumen und hier und da ein paar
Gewürzsträucher oder Lorbeerbäumchen hoben sich von
den kahlen grauen Bäumen ab. Nicht einmal beim
Holunder zeigten sich Blätter. Nur vereinzelt sprießten die
grünen Spitzen von neuem Gras aus den braunen, vom
Schnee niedergedrückten Wiesen hervor. Auch hier
wuchsen vor allem Brennesseln, Disteln und Stinkkraut.
Auf dem nackten Waldboden hielten sich letzte
Schneereste, wo schattige Stellen die Sonne abhielten, oder
in kleinen Mulden unter den niedrigen Ästen der Tannen.
Die Gefährten zogen die Umhänge fester um die
Schultern, denn das blasse Sonnenlicht verströmte keine
Wärme, und die nächtliche Kälte war beißend. Genauso
wie bei den Zwei Flüssen flogen auch hier keine Vögel,
nicht einmal Raben umher.
Wenn sie sich auch langsam vorwärtsbewegten, so
konnten sie sich doch keineswegs entspannen. Die
Nordstraße – Rand nannte sie immer noch so, obwohl er
vermutete, daß sie hier, nördlich des Taren, einen anderen
Namen hatte – verlief noch immer fast direkt Richtung
Norden, aber Lan bestand darauf, daß ihr Weg so oft wie
möglich in dieser oder jener Richtung abwich und durch
den Wald führte, fast genauso oft, wie sie der festen
Lehmspur der Straße folgten. Ein Dorf, ein Bauernhof
oder irgendein Anzeichen von Menschen oder von
menschlicher Besiedelung veranlaßte sie zu meilenweiten
Umwegen. Sie begegneten aber nicht vielen solcher
Spuren. Den ganzen ersten Tag über sah Rand, abgesehen
von der Straße, überhaupt kein Anzeichen dafür, daß sich
Menschen je in diesem Wald aufgehalten hatten. Ein
Gedanke kam ihm, daß er selbst zu jener Zeit, als er zum
Fuß der Verschleierten Berge gewandert war,
menschlichen Siedlungen näher gewesen war als heute.
Der erste Bauernhof, den er sah – ein großes Holzhaus
mit einer hohen Scheune und spitzen strohgedeckten
Giebeldächern (aus einem gemauerten Schornstein drang
eine Rauchwolke) –, erschreckte ihn deshalb
einigermaßen.
»Es ist nicht anders als zu Hause«, sagte Perrin, der
finster zu den fernen Gebäuden hinüberblickte. Menschen
bewegten sich im Hof. Sie hatten die Reisenden noch nicht
entdeckt.
»Natürlich ist es anders«, sagte Mat. »Wir sind einfach
noch nicht nahe genug.«
»Ich sage euch, es ist nicht anders«, beharrte Perrin.
»Doch! Wir sind schließlich nördlich des Taren.«
»Ruhig, ihr beiden!« grollte Lan. »Wir wollen nicht
gesehen werden, ja? Hier entlang!« Er wandte sich
Richtung Westen, um den Hof durch die Bäume herum zu
umgehen.
Beim Zurückschauen dachte Rand, daß er Perrin recht
geben mußte. Der Hof sah ziemlich gleich aus wie alle in
der Gegend um Emondsfeld. Da war ein kleiner Junge,
der Wasser aus dem Brunnen schöpfte, und ältere Jungen
hüteten Schafe hinter einem Lattenzaun. Es gab sogar
einen Trockenschuppen für Tabak. Aber Mat hatte auch
recht. Wir befinden uns nördlich des Taren. Es muß
einfach anders sein.
Sie machten immer Rast, wenn es noch hell war, um
einen Platz auszusuchen, der einen leichten Abhang
aufwies, damit das Wasser abfließen konnte, und sie vor
dem Wind schützte, der nur selten ganz einschlief. Meist
änderte er lediglich die Richtung. Ihr Lagerfeuer war
immer klein und so geschickt versteckt, daß man es auf
wenige Schritte Entfernung nicht mehr sehen konnte.
Sobald der Tee gekocht war, wurden die Flammen
gelöscht und die Kohlen vergraben.
Beim ersten Halt, bevor die Sonne sank, begann Lan
damit, die Jungen im Umgang mit ihren Waffen zu
unterweisen. Er nahm als erstes den Bogen. Nachdem er
beobachtet hatte, wie Mat drei Pfeile in einem
männerkopfgroßen Ziel auf dem gespaltenen Stumpf eines
toten Lederblattbaums landete – auf hundert Schritt
Entfernung –, nahm er die anderen an die Reihe. Perrin
wiederholte Mats Leistung, und Rand, der die Flamme
und das Nichts in sich beschwor und damit die leere Ruhe,
die den Bogen zu einem Teil seiner selbst werden ließ,
brachte seine drei Pfeile so eng nebeneinander ins Ziel,
daß sich die Spitzen beinahe berührten. Mat schlug ihm
gratulierend auf die Schulter.
»Wenn ihr jetzt alle einen Bogen hättet«, sagte der
Behüter trocken, als er ihr Grinsen sah, »und wenn die
Trollocs so nett wären, euch so weit vom Leib zu bleiben,
daß ihr den Pfeil abschießen könntet...« Das Grinsen
verging den Freunden sogleich. »Wir werden sehen, was
ich euch beibringen kann, falls sie einmal zu nahe
kommen.«
Er zeigte Perrin den Gebrauch einer Streitaxt mit
großer Schneide; wenn man eine Axt gegen jemanden
erhob, der selbst bewaffnet war, war das nicht mit
Holzhacken oder einem probeweisen Axtschwingen zu
vergleichen. Er ließ den großen Schmiedlehrling eine
Reihe von Übungen durchführen – blockieren, parieren
und zuschlagen –, und dann wiederholte er diese Prozedur
mit Rand und seinem Schwert. Nicht das wilde
Herumspringen und Zuschlagen, das Rand im Sinn hatte,
wenn er über den Gebrauch der Waffe nachdachte,
sondern flüssige Bewegung, bei der eine in die andere
überging wie bei einem Tanz.
»Es genügt nicht, die Klinge zu bewegen«, erklärte
Lan, »auch wenn einige das glauben. Der Verstand ist ein
Teil des Ganzen, ein wesentlicher Teil. Leere deinen
Verstand, Schafhirte, leere ihn von Haß oder Angst, von
allem. Brenne alles weg. Ihr anderen, hört mir auch zu.
Ihr könnt das genauso mit der Axt oder dem Bogen, mit
einem Speer oder Stock oder sogar mit euren leeren
Händen anwenden.«
Rand starrte ihn an. »Die Flamme und das Nichts«,
sagte er erstaunt. »Das meint Ihr doch, nicht wahr? Mein
Vater hat mich das gelehrt.«
Der Behüter blickte ihn undurchdringlich an. »Halte
das Schwert, wie ich es dir gezeigt habe, Schafhirte. Ich
kann in einer Stunde aus einem plattfüßigen
Dorfbewohner keinen Schwertmeister machen, aber
vielleicht kann ich dich davor bewahren, dir den eigenen
Fuß abzuschneiden.«
Rand seufzte und hielt das Schwert aufrecht mit beiden
Händen vor sich. Moiraine beobachtete alles ohne äußere
Gefühlsregung, aber am nächsten Abend bat sie Lan, er
solle den Unterricht fortsetzen.
Zum Abendbrot gab es stets das gleiche wie am Mittag
oder zum Frühstück: Fladenbrot, Käse und
Trockenfleisch, nur daß sie am Abend heißen Tee statt
Wasser tranken, um das Essen hinunterzuspülen. Am
Abend unterhielt Thom die Gesellschaft. Lan verbot dem
Gaukler zwar nicht Harfe oder Flöte zu spielen – nicht
nötig, das ganze Land aufzuwecken, meinte er –, aber
Thom jonglierte und erzählte Geschichten. ›Mara und die
drei närrischen Könige‹ oder eine der vielen hundert
Erzählungen über Anla, die weise Ratgeberin, oder mit
Ruhm und Abenteuern erfüllte Geschichten wie ›Die
Wilde Jagd nach dem Horn‹, doch immer mit einem
glücklichen Ausgang und einer freudigen Heimkehr.
Wenn das Land um sie herum auch friedlich war, keine
Trollocs zwischen den Bäumen erschienen, kein Draghkar
unter den Wolken, so brachten sie es doch fertig, ihre
Angst immer dann wieder zu schüren, wenn sie gerade am
Erlöschen war.
Da war beispielsweise jener Morgen, an dem Egwene
aufwachte und anfing, ihren Zopf zu lösen. Rand
beobachtete sie aus den Augenwinkeln, während er seine
Decken einrollte. Jeden Abend, wenn das Feuer gelöscht
wurde, zogen sich alle in ihre Decken zurück, bis auf
Egwene und die Aes Sedai. Immer setzten sich die beiden
Frauen abseits von den anderen hin und unterhielten sich
ein oder zwei Stunden lang. Sie legten sich hin, wenn die
anderen längst schliefen. Egwene kämmte ihr Haar aus –
hundertmal zog sie den Kamm durch, zählte Rand –,
während er Wolke sattelte und seine Satteltaschen und
Bettrolle hinter dem Sattel festschnallte. Dann steckte sie
den Kamm weg, schob ihr loses Haar über die Schulter
nach hinten und zog die Kapuze des Umhangs darüber.
Überrascht fragte er: »Was tust du da?« Sie blickte ihn
von der Seite an, ohne zu antworten. Ihm wurde klar, daß
er sie zum ersten Mal seit zwei Tagen angesprochen hatte,
seit dem Abend in der Baumhöhle am Ufer des Taren,
aber er ließ sich davon nicht aufhalten. »Dein ganzes
Leben lang hast du darauf gewartet, dein Haar endlich als
Zopf tragen zu dürfen, und jetzt gibst du ihn auf?
Warum? Weil sie auch keinen Zopf trägt?«
»Aes Sedai tragen ihr Haar nicht als Zopf«, sagte sie
einfach. »Jedenfalls nicht, solange sie das nicht wollen.«
»Du bist keine Aes Sedai. Du bist Egwene al'Vere aus
Emondsfeld, und die Frauen dort bekäme jetzt einen
Anfall, wenn sie dich so sähen.«
»Der Frauenzirkel geht dich nichts an, Rand al'Thor.
Und ich werde eine Aes Sedai, sobald wir Tar Valon
erreichen.«
Er schnaubte. »Sobald wir Tar Valon erreichen.
Warum? Licht, sag mir warum! Du bist doch keine
Schattenfreundin.«
»Denkst du, daß Moiraine zu den Schattenfreunden
gehört? Glaubst du das wirklich?« Sie drehte sich mit
geballten Fäusten zu ihm um, und es sah so aus, als wolle
sie ihn schlagen. »Nachdem sie das Dorf gerettet hat?
Nachdem sie deinen Vater gerettet hat?«
»Ich weiß nicht, wie sie ist, aber wie auch immer – das
sagt nichts über die anderen Aes Sedai aus. Die
Geschichten...«
»Werde erwachsen, Rand! Vergiß die Geschichten, und
gebrauch deine Augen!«
»Mit meinen Augen habe ich gesehen, wie sie die Fähre
versenkte. Oder willst du das leugnen? Wenn du erst mal
Flausen im Kopf hast, gibst du nicht mehr nach, selbst
wenn dir jemand beweist, daß du auf dem Wasser zu
gehen versuchst. Wenn du keine so vom Licht geblendete
Närrin wärst, würdest du bemerken...!«
»Versucht ihr zwei, alle Leute innerhalb von zehn
Meilen aufzuwecken?« fragte der Behüter.
Rand stand mit offenem Mund da und wollte noch etwas
hinzuzufügen, da fiel ihm auf, daß er geschrien hatte. Sie
hatten beide geschrien.
Egwenes Gesicht lief bis zu den Augenbrauen
scharlachrot an. Sie drehte sich mit einem halblauten
»Männer!« ab, das sowohl dem Behüter wie auch ihm zu
gelten schien. Ahnungsvoll sah sich Rand im Lager um.
Alle sahen ihn an, nicht nur der Behüter. Mat und Perrin
waren ganz blaß. Thom wirkte so angespannt, als wolle er
gleich wegrennen oder kämpfen. Moiraine. Das Gesicht
der Aes Sedai war ausdruckslos, doch ihr Blick schien sich
in seinen Kopf zu bohren. Verzweifelt versuchte er, sich
daran zu erinnern, was er über Aes Sedai und
Schattenfreunde gesagt hatte.
»Es ist Zeit zum Aufbruch«, sagte Moiraine. Sie wandte
sich Aldieb zu, und Rand schauderte erleichtert, als sei er
einer Falle entkommen. Er fragte sich, ob er wirklich
entkommen war.
Zwei Nächte später, als das Feuer schon verglimmte,
leckte sich Mat die letzten Krümel Käse von den Fingern
und sagte:
»Wißt ihr, ich glaube, wir haben sie endgültig
abgeschüttelt.« Lan war in die Nacht hinausgegangen, um
sich ein letztes Mal umzusehen. Moiraine und Egwene
hatten sich zu einer ihrer Unterhaltungen zurückgezogen.
Thom döste mit der Pfeife im Mund vor sich hin, und die
jungen Männer hatten das Feuer ganz für sich allein.
Perrin stocherte gelangweilt mit einem Stock in der
Glut herum und antwortete: »Wenn wir sie los sind,
warum sucht Lan dann immer noch die Gegend ab?« Rand
fielen schon fast die Augen zu. Er lag am Boden und
drehte sich um, den Rücken dem Feuer zugewandt. »Wir
haben sie an der Taren-Fähre abgehängt.« Mat legte sich
zurück, verschränkte die Finger hinter dem Kopf und
blickte zum monderhellten Himmel auf. »Falls sie
wirklich uns gesucht haben.«
»Glaubst du, der Draghkar hat uns gejagt, weil wir ihm
gefielen?« fragte Perrin.
»Wenn ihr mich fragt, hört auf, euch über Trollocs und
ähnliches Gelichter Gedanken zu machen«, fuhr Mat fort,
als habe Perrin nichts gesagt, »und fangt an, euch darauf
zu freuen, die Welt sehen zu können. Wir sind jetzt dort
draußen, wo die Geschichten herkommen. Was glaubt ihr
– wie sieht eine richtige Stadt aus?«
»Wir reiten nach Baerlon«, sagte Rand schläfrig, aber
Mat schnaubte nur.
»Baerlon ist schön und gut, aber ich habe die alte Karte
von Meister al'Vere gesehen. Wenn wir Caemlyn
erreichen und uns dann nach Süden wenden, führt uns die
Straße nach Illian und noch weiter.«
»Was ist so besonders an Illian?« fragte Perrin
gähnend.
»Zum einen«, antwortete Mat, »ist Illian nicht voll von
Aes Se...«
Er schwieg, und Rand war plötzlich hellwach. Moiraine
war zu früh zurückgekehrt. Egwene war bei ihr, aber alle
Aufmerksamkeit galt der Aes Sedai, die am Rande des
Feuerscheins zu sehen war. Mat lag auf dem Rücken, den
Mund noch geöffnet, und glotzte sie an. Moiraines Augen
spiegelten das Licht wie zwei dunkle glattpolierte Steine
wider. Plötzlich fragte sich Rand, wie lange sie wohl
schon dagestanden hatte.
»Die Jungen haben gerade...«, begann Thom, doch
Moiraine fiel ihm ins Wort.
»Ein paar Tage Pause, und ihr seid bereit aufzugeben.«
Ihre ruhige, gleichmäßige Stimme stand im scharfen
Widerspruch zu ihren Augen. »Ein, zwei Tage Ruhe, und
schon habt ihr die Winternacht vergessen.«
»Wir haben sie nicht vergessen«, sagte Perrin. »Es ist
nur...« Sie erhob die Stimme immer noch nicht, verfuhr
mit ihm aber wie mit dem Gaukler.
»Seid ihr alle dieser Meinung? Ihr wollt alle am
liebsten nach Illian rennen und die Trollocs,
Halbmenschen und Draghkar vergessen?« Sie musterte sie
– dieser Steinglanz ihrer Augen und dazu der alltägliche
Tonfall ihrer Stimme machten Rand nervös –, aber sie gab
niemandem eine Gelegenheit, sich zu äußern. »Der Dunkle
König ist hinter euch dreien her, hinter einem oder allen,
und wenn ich euch wegrennen lasse, wie ihr wollt, dann
bekommt er euch. Was auch immer der Dunkle König
will, dem leiste ich Widerstand. Also hört mich an und
erkennt die Wahrheit. Bevor ich euch dem Dunklen König
überlasse, töte ich euch lieber.«
Es war ihre so beiläufig klingende Stimme, die Rand
überzeugte. Die Aes Sedai würde genau das tun, was sie
sagte, falls es sich als notwendig erwiese. Diese Nacht
hatte er Schwierigkeiten, überhaupt zu schlafen, und er
war nicht der einzige. Selbst der Gaukler begann erst zu
schnarchen, als die letzten Kohlen schon lange verglüht
waren. Ausnahmsweise bot ihnen Moiraine keine Hilfe an.
Diese abendlichen Gespräche Egwenes mit der Aes
Sedai waren Rand ein Dorn im Auge. Immer wenn sie in
der Dunkelheit verschwanden, sich von den anderen
wegbegaben, um Ruhe vor ihnen zu haben, fragte er sich,
worüber sie wohl sprachen und was sie taten. Was tat die
Aes Sedai Egwene an?
Eines Nachts wartete er, bis sich die anderen alle zur
Ruhe begeben hatten. Thom schnarchte, als wolle er eine
Eiche fällen. Dann schlüpfte Rand davon, die Decke um
sich gewickelt. Er wandte alle seine Erfahrungen im
Auflauern von Kaninchen an. Er bewegte sich mit den
Mondschatten, bis er am Fuß eines großen
Lederblattbaums kauerte, der viele zähe, breite Blätter
aufwies. Er war nah genug, um Moiraine und Egwene zu
verstehen, die mit einer kleinen Laterne auf einem
umgestürzten Baumstamm saßen.
»Frag«, sagte Moiraine gerade, »und wenn ich dir
darauf antworten kann, werde ich es tun. Begreif aber,
daß vieles für dich noch zu früh kommt, Dinge, die du
nicht lernen kannst, bevor du nicht andere Dinge gelernt
hast, die wiederum weitere Vorkenntnisse erfordern.
Aber frag, was du willst.«
»Die Fünf Mächte«, sagte Egwene langsam, »Erde,
Wind, Feuer, Wasser und Geist. Es scheint mir nicht
gerecht, daß Männer Erde und Feuer am besten
beherrschten. Warum sollten gerade sie die stärksten der
Mächte für sich haben?«
Moiraine lachte. »Glaubst du das, Kind? Gibt es einen
Felsen, der so hart ist, daß Wind und Wasser ihn nicht
abtragen können, ein so starkes Feuer, daß es nicht mit
Wasser gelöscht oder vom Wind ausgeblasen werden
kann?«
Egwene schwieg eine Weile und bohrte mit dem Zeh im
Waldboden. »Sie... sie waren diejenigen, welche... die
versuchten, den Dunklen König und die Verlorenen zu
befreien, nicht wahr? Die männlichen Aes Sedai?« Sie
holte tief Luft und sprach schneller. »Die Frauen hatten
nichts damit zu tun. Die Männer wurden wahnsinnig und
zerstörten die Welt.«
»Du hast Angst«, sagte Moiraine ernst. »Wenn du in
Emondsfeld geblieben wärst, wärst du nach einer Weile
Seherin. Das war Nynaeves Plan, nicht wahr? Oder du
hättest im Frauenzirkel gesessen und die Geschicke von
Emondsfeld gelenkt, während der Gemeinderat dächte, er
leite das Ganze. Und doch hast du das Unglaubliche getan.
Du hast Emondsfeld und die Zwei Flüsse verlassen auf der
Suche nach Abenteuern. Du wolltest es, und gleichzeitig
hast du Angst davor. Und du weigerst dich ganz
entschieden, deiner Angst nachzugeben. Sonst hättest du
mich nicht gefragt, wie eine Frau eine Aes Sedai werden
kann. Du hättest eure Sitten und Gebräuche sonst nicht
über Bord geworfen.«
»Nein«, protestierte Egwene, »ich habe keine Angst.
Ich will eine Aes Sedai werden.«
»Besser für dich, wenn du Angst hättest, aber ich hoffe,
du bleibst bei deiner Überzeugung. Wenige Frauen nur
haben heutzutage die Fähigkeiten, Geweihte zu werden,
und noch viel weniger wollen es.« Moiraines Stimme
klang, als führe sie ein gedankenverlorenes
Selbstgespräch. »Sicher waren es noch nie zuvor gleich
zwei in einem Dorf. Das alte Blut fließt tatsächlich noch
sehr stark im Land der Zwei Flüsse.«
Rand verlagerte sein Gewicht im Schatten, wo er
kauerte. Ein Ästchen zerbrach unter seinem Fuß. E r
erstarrte und hielt die Luft an. Er schwitzte, doch keine
der beiden Frauen sah sich um.
»Zwei?« rief Egwene. »Wer denn noch? Ist es Kari?
Kari Thane? Lara Ayellan?«
Moiraine schnalzte verärgert mit der Zunge und sagte
dann ernst: »Du mußt vergessen, daß ich das gesagt habe.
Ich fürchte, ihre Straße verläuft in einer anderen
Richtung. Konzentrier dich auf deine eigenen
Angelegenheiten. Es ist kein leichter Weg, den du erwählt
hast.«
»Ich werde nicht umkehren«, sagte Egwene.
»Wie du meinst. Aber du suchst immer noch
Rückendeckung, und die kann ich dir nicht geben,
jedenfalls nicht so, wie du es willst.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Du willst darin bestärkt werden, daß die Aes Sedai gut
und rein sind und daß es diese gemeinen Männer aus den
Legenden waren, die die Zerstörung der Welt
verursachten, und nicht die Frauen. Nun, es waren zwar
die Männer, doch sie waren keineswegs schlimmer als alle
anderen Männer. Sie waren wahnsinnig, nicht böse. Die
Aes Sedai, die du in Tar Valon antreffen wirst, sind
menschlich und unterscheiden sich nicht von anderen
Frauen, außer eben durch die Fähigkeiten, die uns von
ihnen trennen. Sie sind tapfer und feige, stark und
schwach, freundlich und grausam, warmherzig und kalt.
Wenn du eine Aes Sedai wirst, dann bleibst du trotzdem
diejenige, die du immer warst.«
Egwene atmete schwer. »Ich glaube, gerade davor hatte
ich Angst: daß die Macht mich verändern würde. Das und
die Trollocs. Und der Blasse. Und... Moiraine Sedai, im
Namen des Lichts: Warum kamen die Trollocs nach
Emondsfeld?«
Der Kopf der Aes Sedai drehte sich, und sie blickte in
die Richtung von Rands Versteck. Die Luft blieb ihm weg.
Ihre Augen waren genauso hart wie zu der Zeit, als sie sie
bedroht hatte, und er hatte das Gefühl, ihr Blick könne die
starken Äste des Lederblatts durchdringen. Licht, was
wird sie tun, wenn sie mich hier als Lauscher findet?
Er bemühte sich, mit den tieferen Schatten hinter sich
zu verschmelzen. Seine Augen waren auf die Frauen
gerichtet, und so blieb er mit dem Fuß an einer Wurzel
hängen. Er fing sich gerade noch, sonst wäre er in totes
Unterholz getaumelt, und das hätte ihn mit einem
Feuerwerk zerbrechender Zweige sofort verraten. Nach
Luft schnappend kroch er auf allen vieren davon. Wie
immer war es vor allem Glück, das es ihm ermöglichte,
sich lautlos zu bewegen. Sein Herz schlug so stark, daß er
fürchtete, es könne ihn verraten. Narr! Eine Aes Sedai
belauschen!
Als er wieder dort war, wo die anderen schliefen,
schlich er leise an seinen Platz zurück. Lan bewegte sich,
als er sich auf den Boden legte. Der Behüter riß die Decke
hoch, ließ sich dann aber mit einem Seufzer wieder
zurückfallen. Er hatte sich im Schlaf nur umgedreht. Rand
stieß einen Stoßseufzer aus.
Einen Augenblick später tauchte Moiraine aus der
Nacht auf. Sie blieb stehen, als sie die schlummernden
Gestalten sah. Das Mondlicht webte einen Strahlenkranz
um sie. Rand schloß die Augen und atmete ganz
gleichmäßig, während er angestrengt lauschte, ob sich
Schritte näherten. Er hörte nichts. Als er die Augen
wieder öffnete, war sie weg.
Als der Schlaf endlich kam, schwitzte er und hatte
Träume, in denen alle Männer von Emondsfeld
behaupteten, sie seien der Wiedergeborene Drache, und
alle Frauen trugen blaue Edelsteine im Haar, die so
aussahen wie der von Moiraine. Er versuchte danach nie
mehr, Moiraine und Egwene zu belauschen.
Der sechste Tag ihrer quälend langsamen Reise brach
an. Die blasse, kalte Sonne glitt auf die Baumwipfel zu,
während eine Handvoll dünner Wolken hoch droben in
Richtung Norden trieb. Der Wind erhob sich zu einer Bö,
und Rand zog den Umhang wieder einmal leise
schimpfend über die Schultern. Er fragte sich, ob sie wohl
jemals Baerlon erreichen würden. Die Entfernung, die sie
seit ihrer Flußüberquerung zurückgelegt hatten, war
größer als von Taren-Fähre bis zum Weißen Fluß, doch
Lan behauptete stets, es sei eine kurze Reise, kaum wert,
eine solche genannt zu werden. Er fühlte sich verloren.
Lan erschien im Wald vor ihnen. Er kehrte von einem
seiner Erkundungsritte zurück. Er straffte die Zügel und
ließ sein Pferd langsam neben Moiraines Pferd
herschreiten, während er den Kopf zu Moiraine
hinüberneigte.
Rand schnitt eine Grimasse, aber er stellte keine Frage.
Lan weigerte sich gewöhnlich, Fragen, die man ihm
stellte, zu beantworten.
Von den anderen schien nur Egwene Lans Rückkehr
bemerkt zu haben, und sie hielt sich mit Fragen ebenfalls
zurück. Die Aes Sedai verhielt sich Egwene gegenüber
vielleicht so, als sei das Mädchen für die Emondsfelder
verantwortlich, doch wenn der Behüter seine Berichte
ablieferte, hatte Egwene nichts zu sagen. Perrin trug Mats
Bogen. Auch ihn umgab dieses gedankenschwere
Schweigen, das sie alle mehr und mehr packte, je weiter
sie sich von den Zwei Flüssen entfernten. Die langsame
Gangart der Pferde gestattete es Mat, vor den kritischen
Augen Thom Merrilins mit drei kleinen Steinen zu
jonglieren. Denn der Gaukler hatte sie jeden Abend
unterrichtet, genau wie Lan.
Lan beendete seinen Bericht, und Moiraine drehte sich
im Sattel um und sah die hinter ihr Reitenden an. Rand
bemühte sich, sich nicht zu verkrampfen, als ihr Blick
über ihn glitt. Sah sie ihn einen Moment länger an als die
anderen? Er wurde das unangenehme Gefühl nicht los,
daß sie wußte, wer sie in der Dunkelheit jener Nacht
belauscht hatte.
»He, Rand!« rief Mat. »Ich kann mit vieren
jonglieren!« Rand winkte ihm zur Antwort zu, ohne sich
umzudrehen. »Ich habe dir gesagt, daß ich noch vor dir
vier schaffe. Ich – schau!«
Sie hatten die Spitze eines niedrigen Hügels erreicht,
und unter ihnen, kaum eine Meile weit entfernt, hinter
kahlen Bäumen und länger werdenden Schatten, lag
Baerlon. Rand schnappte nach Luft, als er versuchte, zur
gleichen Zeit zu lächeln und mit offenem Mund zu
starren.
Eine Palisadenwand, beinahe drei Spannen hoch, umgab
die Stadt. Hölzerne Wachtürme waren entlang der Palisade
verteilt. Drinnen glitzerten mit Ziegeln und Platten
gedeckte Dächer im Licht der sinkenden Sonne, und aus
den Schornsteinen trieben federleichte Rauchwölkchen
empor. Es waren Hunderte von Schornsteinen. Kein
strohgedecktes Dach war zu sehen. Eine breite Straße
führte nach Osten aus der Stadt hinaus und eine zweite
nach Westen. Auf jeder waren zumindest ein Dutzend
Wagen und doppelt so viele Ochsenkarren zu sehen, die
auf die Palisade zu rollten. Um die Stadt herum verstreut
lagen Bauernhöfe; die meisten im Norden, während nur
wenige im Süden den Wald unterbrachen. Es ist größer als
Emondsfeld und Wachhügel und Devenritt zusammen!
Und vielleicht auch noch Taren-Fähre dazu.
»Das ist also eine Stadt«, hauchte Mat und beugte sich
über den Hals seines Pferdes nach vorn, um genauer
hinsehen zu können.
Perrin konnte nur den Kopf schütteln. »Wie können so
viele Leute in einem Ort wohnen?«
Egwene blickte stumm hinüber. Thom Merrilin sah Mat
an, rollte mit den Augen und pustete seine
Schnurrbartenden hoch. »Stadt!« schnaubte er.
»Und du, Rand?« fragte Moiraine. »Was hältst du auf
den ersten Blick von Baerlon?«
»Ich glaube, es ist ziemlich weit von zu Hause
entfernt«, sagte er langsam, was ihm ein hartes Lachen
von Mat einbrachte.
»Ihr müßt noch viel weiter gehen«, sagte Moiraine.
»Viel weiter. Aber ihr habt keine andere Wahl, außer ihr
wollt wegrennen und euch verstecken und wieder
wegrennen, und das für den Rest eures Lebens. Und es
würde ein kurzes Leben sein. Daran müßt ihr euch
erinnern, wenn die Reise beschwerlich wird. Ihr habt
keine andere Wahl.«
Rand, Mat und Perrin sahen sich an. Den Gesichtern
der anderen nach zu schließen, dachten sie dasselbe wie
Rand. Wie konnte sie so tun, als hätten sie je eine Wahl
gehabt, nach allem, was sie vorher schon gesagt hatte? Die
Aes Sedai hatte für sie entschieden.
Moiraine fuhr fort, als sei ihr nicht klar, was sie
dachten. »Die Gefahr beginnt hier erneut. Seid vorsichtig,
was ihr innerhalb dieser Mauern sagt. Und was am
wichtigsten ist: Erwähnt keine Trollocs oder
Halbmenschen und ähnliches. Ihr dürft nicht einmal an
den Dunklen König denken. Einige Leute in Baerlon
mögen die Aes Sedai noch weniger als die Emondsfelder,
und es könnte dort sogar Schattenfreunde geben.« Egwene
schnappte nach Luft, und Perrin fluchte vor sich hin. Mats
Gesicht wurde blaß, doch Moiraine fuhr ganz ruhig fort.
»Wir dürfen so wenig Aufmerksamkeit wie möglich
erregen.« Lan tauschte seinen zwischen Grau und
Grüntönen wechselnden Umhang gegen einen normalen
braunen aus, der allerdings ebenfalls sehr fein geschnitten
und gewebt war. Sein farbverändernder Umhang
verursachte eine dicke Beule in eine seiner Satteltaschen.
»Hier verwenden wir unsere eigenen Namen nicht«,
eröffnete ihnen Moiraine. »Man kennt mich hier als Alys,
und Lan ist Andra. Merkt euch das. Gut. Wir sollten uns
noch vor Anbruch der Nacht zwischen diesen Mauern
befinden. Die Tore von Baerlon werden von
Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang geschlossen.«
Lan führte sie den Hügel hinunter und durch den Wald
auf die Palisaden zu. Die Straße führte an einem halben
Dutzend Bauernhöfen vorbei – keiner sehr nahe, und die
Menschen, die dort ihre letzten Arbeiten verrichteten,
schienen die Reisenden nicht zu bemerken – und endete an
einem schweren Holztor, das mit breiten schwarzen
Eisenriegeln verschlossen war, fest verschlossen, obwohl
die Sonne noch nicht untergegangen war.
Lan ritt ganz nahe an die Palisade heran und zog an
dem ausgefransten Seil, das neben dem Tor herunterhing.
Auf der anderen Seite erklang eine Glocke. Unmittelbar
darauf blickte ein verschrumpeltes Gesicht unter einer
zerknautschten Stoffmütze mißtrauisch von oben auf sie
herab. Es befand sich zwischen den abgesägten Enden
zweier Pfähle, gute drei Spannen über ihren Köpfen.
»Was soll das heißen, eh? Es ist zu spät am Tag, um
dieses Tor zu öffnen. Zu spät, sage ich. Reitet zum
Weißbrückentor, wenn ihr...«
Moiraines Stute schritt ein Stück vor, so daß der Mann
auf der Mauer sie klar erkennen konnte. Plötzlich
verzogen sich seine Runzeln zu einem zahnlosen Lächeln,
und er schien zwischen seiner Pflicht und dem, was er
sagen wollte, zu schwanken. »Ich wußte nicht, daß Ihr es
seid, Herrin. Wartet. Ich komme sofort hinunter. Ich
komme, ich komme!«
Der Kopf verschwand nach unten, und Rand hörte
gedämpfte Rufe, sie sollten bleiben, wo sie seien, er käme
ja schon. Mit schrillem Quietschen, der vom geringen
Gebrauch zeugte, schwang der rechte Torflügel langsam
auf. Er verhielt in seiner Lage, als die Lücke gerade groß
genug war, um ein Pferd durchzulassen, und dann steckte
der Torwächter seinen Kopf durch, lächelte sie wieder
zahnlos an und sprang flink aus dem Weg. Moiraine folgte
Lan durch das Tor. Egwene kam gleich dahinter.
Rand ließ Wolke hinter Bela hertraben und fand sich in
einer engen Straße wieder, die von hohen Holzzäunen und
großen fensterlosen Lagerhäusern eingerahmt wurde,
deren breite Türen schon zur Nacht geschlossen waren.
Moiraine und Lan standen bereits bei dem Torwächter mit
dem runzligen Gesicht und unterhielten sich mit ihm. Also
stieg Rand auch ab.
Der kleine Mann, der einen oftmals geflickten Umhang
und Mantel trug, hielt seine Stoffmütze zerknüllt in einer
Hand und verbeugte sich jedesmal, wenn er sprach. E r
betrachtete die anderen, die hinter Moiraine und Lan von
den Pferden stiegen, und schüttelte den Kopf.
»Landpomeranzen.« Er grinste. »Aber, Frau Alys,
sammelt Ihr jetzt Landpomeranzen mit Heu im Haar?«
Dann erfaßte sein Blick Thom Merrilin. »Ihr seid kein
Schafzüchter. Ich erinnere mich, daß ich Euch vor ein
paar Tagen durchgelassen habe, tatsächlich. Haben denen
da unten Eure Kunststückchen nicht gefallen, Gaukler?«
»Ich hoffe, Ihr erinnert Euch daran, daß Ihr vergessen
sollt, uns jemals durchgelassen zu haben, Meister Avin«,
sagte Lan und drückte dem Mann eine Münze in die freie
Hand. »Und auch daß ihr uns wieder hereingelassen habt.«
»Das ist nicht nötig, Meister Andra. Nicht nötig. Ihr
habt mir genug gegeben, als Ihr weggeritten seid. Genug.«
Trotzdem ließ Avin die Münze so schnell verschwinden,
als sei er auch ein Gaukler. »Ich hab niemanden nix
erzählt und werd's auch nicht tun. Ganz besonders nicht
den Weißmänteln«, endete er mit finsterem Blick. E r
spitzte die Lippen, um auszuspucken, doch nach einem
Blick auf Moiraine schluckte er statt dessen.
Rand riß die Augen auf, behielt aber den Mund
geschlossen. Die anderen brachten das auch fertig, obwohl
es Mat sehr schwer zu fallen schien. Kinder des Lichts,
dachte Rand staunend. Die Geschichten, die Händler und
Kaufleute und ihre Leibwächter über die Kinder
erzählten, wechselten im Ausdruck von Bewunderung bis
zum Haß, aber alle waren sich einig, daß die Kinder die
Aes Sedai genauso haßten wie Schattenfreunde. Er fragte
sich, ob dies bereits weitere Schwierigkeiten bedeutete.
»Die Kinder sind in Baerlon?« wollte Lan wissen.
»Aber sicher.« Der Torwächter nickte. »Kamen am
gleichen Tag, als Ihr weggeritten seid, wenn ich mich
richtig erinnere. Ist keiner hier, der sie leiden kann. Die
meisten zeigen's natürlich nicht.«
»Haben sie gesagt, warum sie hier sind?« fragte
Moiraine eindringlich.
»Warum sie hier sind?« Avin war so verblüfft, daß er
seine Verbeugung diesmal vergaß. »Klar haben sie gesagt,
warum... Oh, ich hab's vergessen. Ihr wart ja auf dem
Land. Habt wahrscheinlich nur Schafgeblöke gehört. Sie
sagen, sie sind wegen der Vorgänge in Ghealdan hier. Der
Drache, wißt Ihr... Also, der halt, der sich Drache nennt.
Sie sagen, der Bursche löst eine Menge Böses aus –
schätze, das stimmt auch –, und sie sind hier, um das
Feuer auszutreten, bloß daß er ja in Ghealdan ist und nicht
hier. Bloß 'ne Ausrede, um sich in anderer Leute Sachen
einzumischen, denke ich. Man hat schon den Drachenzahn
auf ein paar Türen gesehen.« Diesmal spuckte er aus.
»Haben sie Euch viele Schwierigkeiten bereitet?« fragte
Lan, und Avin schüttelte lebhaft den Kopf.
»Nicht, daß sie's nicht wollen, schätze ich, aber der
Statthalter traut denen genausowenig wie ich. Er läßt nicht
mehr als zehn oder so gleichzeitig in die Stadt, und sie
sind mächtig sauer deswegen. Der Rest hat ein Lager ein
Stück nördlich, hab ich gehört Wette, daß sich die Bauern
dort umgucken müssen. Die paar, die reinkommen,
stolzieren nur in diesen weißen Mänteln rum und gucken
auf die ehrlichen Leute runter. Geh im Licht, sagen sie,
und das ist ein Befehl. Hätte fast schon Schlägereien
gegeben mit den Wagenfahrern und den Bergleuten und
den Schmelzern und so, ja, und sogar mit der Wache, aber
der Statthalter will Frieden, und deshalb ist nix passiert.
Wenn sie das Böse jagen, meine ich, warum sind sie dann
nicht oben in Saldaea? Ich hab gehört, daß dort oben was
los ist. Oder unten in Ghealdan? Es hat drunten eine große
Schlacht gegeben, sagt man. Eine richtig große.«
Moiraine atmete leise und betont ein. »Ich hatte gehört,
daß Aes Sedai nach Ghealdan gingen.«
»Ja, sind sie.« Avin nickte wieder heftig. »Sie sind
wirklich nach Ghealdan gegangen, und das hat die
Schlacht ausgelöst, hab ich gehört. Man sagt, einige der
Aes Sedai sind tot. Vielleicht auch alle. Ich weiß, daß
manche Leute die Aes Sedai nicht mögen, aber ich frag
Euch, wer sonst soll 'nen falschen Drachen aufhalten, eh?
Und die verdammten Narren, die glauben, sie wären
männliche Aes Sedai oder so was. Was ist mit denen? Klar
sagen ein paar – aber nicht die Weißmäntel und ich auch
nicht, aber eben manche Leute –, daß dieser Bursche
wirklich der Wiedergeborene Drache ist. Ich hab gehört,
daß er ein paar Sachen kann. Die Eine Macht benutzen.
Tausende folgen ihm schon.«
»Sei kein Narr!« fauchte Lan, und Avins Gesicht nahm
einen verletzten Ausdruck an.
»Ich sag nur, was ich gehört hab, oder? Nur was ich
gehört hab, Meister Andra. Sie sagen – ein paar halt –,
daß er mit seiner Armee nach Osten und Süden
marschiert, auf Tear zu.« Seine Stimme klang
bedeutungsschwanger. »Man sagt, er nennt sie das
Drachenvolk.«
»Namen bedeuten wenig«, sagte Moiraine ruhig. Falls
sie das Gehörte beunruhigte, ließ sie es sich nach außen
hin nicht anmerken. »Du könntest deinen Maulesel
Drachenvolk nennen, wenn es dir Spaß macht.«
»Unwahrscheinlich, Herrin.« Avin schmunzelte.
»Nicht, wenn die Weißmäntel in der Gegend sind,
sicherheitshalber. Ich glaube auch nicht, daß irgend
jemand sonst den Namen gern hören würde. Ich weiß
schon, was Ihr meint, aber... O nein, Herrin, nicht meinen
Maulesel!«
»Zweifellos eine weise Entscheidung«, kommentierte
Moiraine. »Jetzt müssen wir weiter.«
»Und macht Euch keine Sorgen, Herrin«, sagte Avin
mit einer tiefen Verbeugung. »Ich hab niemanden
gesehn.« Er lief zum Tor und schloß es mit schnellen
ruckartigen Bewegungen. »Hab niemanden und nichts
gesehn.« Das Tor schlug zu, und mit einem Seil zog er
den Riegel herunter. »In Wirklichkeit, Herrin, ist dieses
Tor schon tagelang nicht mehr geöffnet worden.«
»Das Licht leuchte dir, Avin«, sagte Moiraine.
Dann führte sie sie vom Tor weg. Rand sah sich einmal
um, und da stand Avin immer noch vor dem Torflügel.
Er schien mit einem Zipfel seines Umhangs eine Münze zu
polieren und dabei vor sich hin zu lachen.
Der Weg führte sie durch ungepflasterte Straßen, die
kaum zwei Wagenstärken breit waren, eingerahmt von
Lagerhäusern und hohen Holzzäunen. Rand ging eine
Weile neben dem Gaukler her. »Thom, was bedeutet das
ganze Gerede über Tear und das Drachenvolk? Tear ist
doch eine Stadt ganz unten am Meer der Stürme, nicht
wahr?«
»Der Karaethon-Zyklus«, erwiderte Thom
kurzangebunden.
Rands Augen weiteten sich. Die Prophezeiungen des
Drachen. »Keiner erzählt die... solche Geschichten im
Gebiet der Zwei Flüsse. Jedenfalls nicht in Emondsfeld.
Die Seherin zöge ihnen die Haut bei lebendigem Leib ab,
wenn sie es täten.«
»Ja, ich glaube, das täte sie«, sagte Thom trocken. E r
sah nach Moiraine, die vorn neben Lan einherschritt, sah,
daß sie nichts hören konnte, und fuhr fort. »Tear ist der
größte Hafen am Meer der Stürme, und der Stein von
Tear ist die Festung, die ihn bewacht. Man sagt, der Stein
sei die erste Festung, die nach der Zerstörung der Welt
gebaut wurde, und in dieser langen Zeit ist sie niemals
gefallen, obwohl mehr als eine Armee sie angegriffen hat.
Eine der Prophezeiungen behauptet, der Stein von Tear
werde niemals fallen, bis das Drachenvolk kommt. In
einer anderen Weissagung wird behauptet, der Stein
werde nicht fallen, bis der Drache das Schwert, das-nicht-
berührt-werden-kann, in seiner Hand führt.« Thom
verzog das Gesicht. »Der Fall des Steins wird einer der
wichtigsten Beweise dafür sein, daß der Drache
wiedergeboren wurde. Möge der Stein stehen, bis ich zu
Staub geworden bin.«
»Das Schwert, das-nicht-berührt-werden-kann?«
»So heißt es. Ich weiß nicht, ob es wirklich ein Schwert
ist. Was auch immer: Es liegt im Herzen des Steins, der
inneren Zitadelle dieser Festung. Keiner außer den
Großherren von Tear kann diesen Teil betreten, und sie
verraten nicht, was dort drinnen liegt. Zumindest verraten
sie es den Gauklern nicht.«
Rand runzelte die Stirn. »Der Stein kann nicht fallen,
bis der Drache das Schwert führt, aber wie kann er das,
ohne daß die Festung bereits gefallen ist? Erwartet man,
daß der Drache ein Großherr von Tear ist?«
»Kaum zu erwarten«, sagte der Gaukler trocken. »In
Tear haßt man alles, was mit der Macht zu tun hat, sogar
noch mehr als in Amador, und Amador ist die Hochburg
der Kinder des Lichts.«
»Wie kann dann die Prophezeiung erfüllt werden?«
fragte Rand. »Mir wäre es ja auch recht, wenn der Drache
niemals wiedergeboren würde, aber eine Prophezeiung,
die nicht erfüllt werden kann, ergibt nicht viel Sinn. Es
klingt nach einer Geschichte, die man den Leuten erzählt,
damit sie glauben, daß der Drache niemals wiedergeboren
wird. Stimmt das?«
»Junge, du stellst eine Unmenge von Fragen«, sagte
Thom. »Eine Prophezeiung, die ganz leicht erfüllt werden
kann, wäre doch nicht viel wert, oder?« Plötzlich wurde
seine Stimme fröhlicher. »Jetzt sind wir da.«
Lan war an einem kopfhohen Holzzaun stehengeblieben.
Er steckte die Klinge seines Dolchs zwischen zwei der
Bretter. Plötzlich brummte er zufrieden, zog, und eine
Tür im Zaun schwang wie ein Tor auf. Es war tatsächlich
ein Tor, das so gebaut war, daß man es eigentlich nur von
der anderen Seite öffnen konnte. Moiraine trat sogleich
ein und zog Aldieb hinter sich her. Lan bedeutete den
anderen, daß sie folgen sollten, und machte dann den
Abschluß, wobei er das Tor hinter sich schloß.
Auf der anderen Seite des Zauns befand sich Rand im
Stallhof einer Schenke. Aus der Küche erklang lautes
Treiben und Klappern. Was ihn verblüffte, war die Größe
der Schenke: Sie bedeckte eine Fläche, mehr als doppelt so
groß wie die Weinquellenschenke, und war vier
Stockwerke hoch. Weit mehr als die Hälfte der Fenster
war in der zunehmenden Dämmerung bereits erleuchtet.
Er staunte über diese Stadt und daß sie so viele Fremde
beherbergte.
Kaum befanden sie sich mitten in dem Stallhof, da
erschienen auch schon drei Männer mit schmutzigen
Segeltuchschürzen unter dem breiten Torbogen des
riesigen Stalls. Einer, ein drahtiger Bursche und der
einzige, der eine Mistgabel bei sich hatte, kam mit
fuchtelnden Armen auf sie zu.
»Hier! Hier! Ihr könnt nicht von dort hereinkommen!
Ihr müßt nach vorn gehen!«
Lans Hand bewegte sich wieder auf seinen Geldbeutel
zu, aber in diesem Augenblick kam ein weiterer Mann,
genauso dick wie Meister al'Vere, aus der Schenke geeilt.
Haarbüschel standen hinter seinen Ohren hervor, und
seine blendend weiße Schürze wies ihn als den Wirt dieser
Schenke aus. »Ist schon gut, Mutch«, sagte der
Neuankömmling. »Es ist in Ordnung. Diese Leute sind
Gäste, die ich erwartet habe. Kümmere dich nur um ihre
Pferde. Pfleg sie gut!«.
Mutch fuhr sich mürrisch über die Stirn und bedeutete
seinen zwei Begleitern, ihm zu Hilfe zu kommen. Rand
und die anderen holten hastig ihre Satteltaschen und
Bettrollen herunter, während sich der Wirt Moiraine
zuwandte. Er verbeugte sich tief vor ihr und sprach mit
ehrlich erfreutem Lächeln: »Willkommen, Frau Alys,
willkommen! Es ist gut, Euch und Meister Andra
wiederzusehen. Sehr gut sogar. Ich habe die feinen
Gespräche mit Euch vermißt. Ja, wirklich. Ich muß sagen,
ich habe mir Sorgen gemacht, weil Ihr dort draußen auf
dem Lande wart. Ich meine, in einer solchen Zeit, da das
Wetter verrückt spielt und die Wölfe in der Nacht schon
vor der Mauer heulen.« Plötzlich klatschte er sich mit
beiden Händen auf den Bauch und schüttelte den Kopf.
»Hier stehe ich und quatsche, statt Euch hineinzubringen.
Kommt! Kommt! Eine heiße Mahlzeit und ein warmes
Bett, das braucht Ihr jetzt. Und Ihr findet in Baerlon
nichts Besseres. Nichts Besseres!«
»Und auch ein heißes Bad, darf ich hoffen, Meister
Fitch?« fragte Moiraine.
»Aber natürlich – nur das beste und heißeste in ganz
Baerlon!« sagte der Wirt. »Kommt. Willkommen im
›Hirsch und Löwen‹. Willkommen in Baerlon!«
KAPITEL 14

Zum ›Hirsch und Löwen‹


Im Innern war die Schenke mindestens so belebt, wie es
die Geräusche von draußen schon angedeutet hatten. Die
Gesellschaft aus Emondsfeld folgte Meister Fitch durch
den Hintereingang und mußte sich bald neben und
zwischen einem Strom von Männern und Frauen in langen
Schürzen hindurchwinden, die ihre Tabletts mit Essen und
Getränken hoch über die Köpfe hielten. Die Träger
murmelten hastige Entschuldigungen, wenn sie jemandem
im Weg waren, aber sie mäßigten ihre Schritte
keineswegs. Einer der Männer erhielt eilige Anweisungen
von Meister Fitch und verschwand im Trab.
»Ich fürchte, die Schenke ist beinahe voll«, sagte der
Wirt zu Moiraine. »Fast bis zum Dach. Jede Schenke in
der Stadt ist überfüllt. Bei dem Winter, den wir hinter uns
haben... Na ja, sobald das Wetter so gut war, daß man aus
den Bergen herunterkommen konnte, wurden wir
regelrecht überschwemmt – ja, das ist das richtige Wort –,
überschwemmt von Bergleuten und Schmelzern, die alle
die schlimmsten Geschichten erzählten. Wölfe und noch
Schlimmeres. Eben die Sachen, die Männer erzählen,
wenn sie den ganzen Winter über miteinander eingesperrt
waren. Ich kann nicht glauben, daß dort oben noch irgend
jemand lebt, so viele haben wir hier. Aber keine Angst. Es
mag ein wenig eng zugehen, aber ich werde mein Bestes
für Euch und Meister Andra tun. Und natürlich auch für
Eure Freunde.« Er sah Rand und die anderen ein- oder
zweimal neugierig an; außer in Thoms Fall wies die
Kleidung sie als Landvolk aus, und Thoms
Gauklerumhang machte ihn für ›Frau Alys‹ und ›Meister
Andra‹ zu einem höchst eigenartigen Reisebegleiter. »Ich
werde mein Bestes tun, da könnt Ihr sicher sein.«
Rand beobachtete das Treiben rundum und bemühte
sich zu vermeiden, daß jemand ihn über den Haufen
rannte, obwohl die Helfer eigentlich nicht den Eindruck
machten. Er mußte daran denken, wie Meister al'Vere und
seine Frau die Weinquellenschenke lediglich mit
gelegentlicher Hilfe ihrer Töchter geführt hatten.
Mat und Perrin verdrehten sich die Hälse in Richtung
auf den Schankraum, aus dem jedesmal eine Welle von
Gelächter, Gesang und freundschaftlichem Geschrei
erklang, wenn die breite Tür am Ende des Flurs sich
öffnete. Nachdem er etwas wie ›Neuigkeiten erfahren‹
gemurmelt hatte, verschwand der Behüter mit ernster
Miene durch diese Schwingtür und wurde von einer Welle
der Fröhlichkeit verschluckt.
Rand wäre ihm gern gefolgt, doch noch mehr sehnte er
sich nach einem heißen Bad. Leute und Gelächter wären
ihm wohl gerade recht gewesen, doch die Gäste im
Schankraum würden seine Gegenwart in sauberem
Zustand noch mehr begrüßen. Mat und Perrin wurden
offensichtlich von denselben Gedanken bewegt; Mat
kratzte sich verstohlen.
»Meister Fitch«, sagte Moiraine, »ich habe gehört, daß
sich Kinder des Lichts in Baerlon aufhalten. Könnte es
Schwierigkeiten geben?«
»Oh, macht Euch keine Sorgen deswegen, Frau Alys.
Sie machen viel Aufhebens, wie üblich. Behaupten, daß
eine Aes Sedai in der Stadt sei.« Moiraine hob eine
Augenbraue, und der Wirt breitete die fetten Hände aus.
»Sorgt Euch nicht. Sie haben das auch früher schon
behauptet. Es gibt keine Aes Sedai in Baerlon, und der
Statthalter weiß das. Die Weißmäntel glauben, wenn sie
eine Aes Sedai vorweisen oder eine Frau, von der sie das
behaupten, dann wird man sie in unsere Mauern
hereinlassen. Na ja, ich schätze, einige täten das gern.
Einige schon. Aber die meisten Leute wissen, was die
Weißmäntel vorhaben, und sie unterstützen den
Statthalter. Keiner will, daß irgendeine harmlose alte Frau
verletzt wird, damit die Kinder eine Ausrede dafür haben,
die Leute aufzuhetzen.«
»Das freut mich zu hören«, sagte Moiraine trocken. Sie
legte eine Hand auf den Arm des Wirts. »Ist Min noch da?
Wenn ja, möchte ich gern mit ihr sprechen.«
Rand konnte Meister Fitchs Antwort nicht verstehen, da
in diesem Moment Bedienstete ankamen, die sie ins Bad
führen sollten. Moiraine und Egwene verschwanden im
Schlepptau einer molligen Frau mit offenem Lächeln und
einer Ladung Handtücher auf dem Arm. Der Gaukler,
Rand und seine Freunde wurden von einem schlanken
dunkelhaarigen Burschen namens Ara geleitet. Rand
versuchte, Ara über Baerlon auszufragen, doch der Mann
war ziemlich einsilbig. Er erwähnte nur, daß Rand einen
eigenartigen Akzent habe, und dann vertrieb der erste
Anblick des Baderaums alle Gedanken an ein Gespräch aus
Rands Kopf. Ein Dutzend hoher Kupferbadewannen stand
im Kreis auf dem mit Platten belegten Fußboden, der sich
leicht zu einem Abfluß in der Mitte des großen Raums mit
hohen Steinwänden neigte. Auf einem Hocker hinter jeder
Wanne lagen ein dickes Handtuch und ein großes Stück
gelber Seife, und an einer Wand standen große schwarze
Eisenkessel voll Wasser auf geöffneten Herdplatten. An
der Wand gegenüber flammten Holzscheite in einem tiefen
offenen Kamin, der noch zu der Wärme im Raum beitrug.
»Fast so gut wie die Weinquellenschenke zu Hause«,
sagte Perrin gönnerhaft, wenn auch nicht gerade
besonders wahrheitsgemäß. Thom lachte schallend, und
Mat spöttelte: »Es klingt, als hätten wir einen Coplin
mitgebracht, ohne es zu merken.«
Rand legte seinen Umhang ab und zog sich aus,
während Ara vier der Kupferbadewannen füllte. Auch die
anderen zögerten nicht und taten es Rand nach, der als
erster seine Wanne auswählte. Sobald die Kleider auf den
Hockern aufgestapelt lagen, brachte Ara jedem einen
großen Eimer heißen Wassers und eine Schöpfkelle.
Danach setzte er sich auf einen Hocker neben der Tür,
lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand und
blieb so in Gedanken versunken sitzen.
Während sie den Schmutz einer Woche wegschrubbten
und mit Kellen voll heißen Wassers wegspülten, kam
kaum ein Gespräch auf. Dann setzten sie sich hinein in die
Wannen, um sich darin lange Zeit zu aalen. Ara hatte das
Wasser so erhitzt, daß es unter Seufzern des
Wohlbefindens eine Weile dauerte, bis sie endlich drin
lagen. Die sowieso schon warme Luft im Raum wurde
langsam feucht und heiß. Lange Zeit hörte man überhaupt
nichts, bis auf ein gelegentliches langes Ausatmen, wenn
sich verspannte Muskeln lösten und das Frösteln, das sie
schon für gegeben erachtet hatten, aus ihren Knochen
verschwand.
»Braucht ihr noch was?« fragte Ara plötzlich. Er hatte
keinen Anlaß, sich über die Akzente anderer auszulassen,
denn er und Meister Fitch klangen, als hätten sie den
Mund voll Brei. »Mehr Handtücher? Noch heißes
Wasser?«
»Nichts«, sagte Thom in seiner volltönenden Stimme.
Die Augen geschlossen, wedelte er großzügig mit der
Hand. »Geht und genießt den Abend. Später werde ich
dafür sorgen, daß Ihr für Eure Dienste mehr als
großzügig entlohnt werdet.« Er rutschte tiefer in die
Wanne hinein, bis er bis auf Augen- und Nasenhöhe von
Wasser bedeckt war.
Ara betrachtete die Hocker hinter den Wannen, auf
denen Kleider und sonstigen Besitztümer aufgestapelt
lagen. Er sah den Bogen an, doch am längsten verweilte
sein Blick auf Rands Schwert und Perrins Axt. »Gibt es da
unten, wo ihr herkommt, auch Unruhen?« fragte er
plötzlich. »In den Flüssen oder wie ihr es nennt?«
»Die Zwei Flüsse«, sagte Mat, wobei er jedes Wort
betonte. »Es heißt: die Zwei Flüsse. Was Unruhen betrifft,
warum...«
»Was meinst du mit ›auch‹?« fragte Rand. »Gibt es hier
irgendwelche Unruhen?«
Perrin, der das Liegen in der Wanne sichtlich genoß,
murmelte: »Gut! Gut!« Thom richtete sich ein wenig auf
und öffnete die Augen.
»Hier?« schnaubte Ara. »Unruhen? Bergleute, die sich
in der Morgendämmerung auf der Straße prügeln,
bedeuten noch keine Unruhen. Oder...« Er schwieg und
blickte sie einen Moment lang an. »Ich meinte die Art von
Unruhen wie in Ghealdan«, erklärte er schließlich. »Nein,
bei euch wahrscheinlich nicht. Nichts als Schafe da unten,
wie? Nicht böse gemeint... Ich meinte einfach, daß es bei
euch wahrscheinlich ruhig ist. Aber es war schon ein
eigenartiger Winter. Seltsame Geschichten in den Bergen.
Neulich hörte ich, daß oben in Saldaea Trollocs
aufgetaucht sind. Aber das ist natürlich eines der
Grenzlande, nicht wahr?« Er redete nicht weiter, ließ den
Mund zunächst offen und klappte ihn dann zu, als sei er
selbst überrascht, soviel geredet zu haben.
Rand hatte sich bei dem Wort Trollocs verkrampft,
aber er bemühte sich, es zu verbergen, indem er seinen
Waschlappen über dem Kopf auswand. Als der Bursche
weitersprach, entspannte er sich wieder. Aber nicht alle
hielten den Mund.
»Trollocs?« gluckste Mat. Rand spritzte mit Wasser
nach ihm, doch Mat wischte es sich nur grinsend aus dem
Gesicht. »Laß mich erstmal von Trollocs erzählen!«
Zum ersten Mal, seit er in die Wanne geklettert war,
sprach Thom. »Warum kannst du das nicht lassen? Ich bin
es allmählich leid, meine eigenen Geschichten von dir
wieder zu hören.«
»Er ist ein Gaukler«, sagte Perrin, worauf Ara ihm
einen verächtlichen Blick zuwarf.
»Ich habe den Mantel gesehen. Werdet Ihr Eure Kunst
hier zeigen?«
»Augenblick mal!« protestierte Mat. »Was soll das
heißen, daß ich Thoms Geschichten erzähle? Seid ihr
alle...«
»Du erzählst sie eben nicht so gut wie Thom«, schnitt
ihm Rand hastig das Wort ab, und Perrin hieb in dieselbe
Kerbe. »Du fügst immer Sachen hinzu, um die
Geschichten zu verbessern, aber das schaffst du nicht.«
»Und dann bringst du auch noch alles durcheinander«,
fügte Rand hinzu. »Überlaß das am besten Thom.«
Sie sprachen alle so schnell, daß Ara sie mit offenem
Mund anstarrte. Mat blickte ganz verwirrt drein, als seien
alle anderen plötzlich verrückt geworden. Rand fragte
sich, wie man ihn wohl zum Schweigen bringen könne,
ohne sich mit ihm zu streiten.
Die Tür schlug auf, und Lan trat ein, den braunen
Mantel über die Schulter geworfen. Mit ihm kam ein
Schwall kühler Luft, der für einen Augenblick den Dampf
im Raum etwas lichtete. »Also«, sagte der Behüter und
rieb sich die Hände, »genau darauf habe ich gewartet.«
Ara ergriff einen Eimer, doch Lan winkte ihm zu, er solle
es lassen. »Nein, ich werde mich selbst darum kümmern.«
Er ließ seinen Umhang auf einen der Hocker fallen,
beförderte den Bediensteten trotz seines Protestes aus dem
Raum und schloß die Tür fest hinter ihm zu. Er wartete
ein paar Augenblicke an der Tür, den Kopf zum Lauschen
geneigt, und als er sich dann wieder den anderen
zuwandte, war seine Stimme kalt, und seine Augen
funkelten Mat an. »Es ist gut, daß ich gerade in diesem
Augenblick zurückgekommen bin, Bauernjunge. Hörst du
nie auf das, was man dir sagt?«
»Ich habe doch nichts getan«, protestierte Mat. »Ich
wollte ihm bloß gerade von den Trollocs erzählen und
nicht von...« Er hielt inne und lehnte sich unter dem Blick
des Behüters gegen die Rückseite der Wanne.
»Sag nichts über Trollocs!« befahl Lan ernst. »Denk
nicht einmal an Trollocs.« Mit ärgerlichem Schnauben
begann er, eine Wanne für sich zu füllen »Blut und Asche,
ihr solltet euch besser daran erinnern, daß der Dunkle
König Augen und Ohren hat, wo man sie am wenigsten
erwartet. Und wenn die Kinder des Lichts hören, daß
hinter dir die Trollocs her sind, dann brennen sie darauf,
dich in die Finger zu bekommen. Für sie würde es im
Grunde dasselbe bedeuten, als würde man dich
Schattenfreund nennen. Auch wenn es euch schwerfällt –
bis wir unser Ziel erreicht haben, traut niemandem, außer
Frau Alys oder ich sagen euch etwas anderes.« Mat zuckte
zusammen, als er den Namen betonte, den Moiraine hier
benutzte.
»Das war etwas, das uns dieser Bursche nicht sagen
wollte«, erklärte Rand. »Etwas, das er als Unruhen
bezeichnete, aber er wollte nicht sagen, was es war.«
»Vielleicht die Kinder«, sagte Lan und goß heißes
Wasser in die Wanne. »Die meisten Leute betrachten sie
als Unruhestifter. Ein paar allerdings nicht, und er kannte
euch nicht lange genug, um etwas zu riskieren. Was wußte
er schon? Ihr hättet ja gleich zu den Weißmänteln rennen
können.«
Rand schüttelte den Kopf. Dieser Ort schien bereits
jetzt schlimmer zu sein, als Taren-Fähre jemals werden
konnte. »Er sagte, es seien Trollocs in... in Saldaea, nicht
wahr?« sagte Perrin. Lan warf den leeren Eimer zu
Boden, daß es krachte. »Ihr müßt wohl einfach darüber
reden, was? In den Grenzlanden gibt es immer Trollocs,
Schmied. Und jetzt begreift endlich, daß wir nicht mehr
Aufmerksamkeit erregen wollen als eine Maus auf dem
Acker. Vergeßt das nicht. Moiraine will euch alle lebend
nach Tar Valon bringen und ich natürlich auch, wenn
irgend möglich, aber falls ihr Moiraine Schwierigkeiten
macht...«
Der Rest ihres Badevergnügens spielte sich schweigend
ab, genau wie nachher das Anziehen.
Als sie den Baderaum verließen, stand Moiraine mit
einem schlanken Mädchen, kaum größer als sie selbst, am
Ende des Flurs. Zumindest hielt Rand sie für ein
Mädchens obwohl das schwarze Haar kurzgeschnitten war
und sie ein Männerhemd und Männerhosen trug. Moiraine
sagte etwas, das Mädchen betrachtete die Männer einen
Moment lang genau, nickte Moiraine zu und eilte davon.
»Na also«, sagte Moiraine, als sie näher kamen, »ich
bin sicher, das Bad hat euch allen Appetit gemacht.
Meister Fitch hat ein eigenes Eßzimmer für uns
vorbereitet.« Sie unterhielt sich weiter über belanglose
Dinge mit ihnen, während sie ihnen den Weg zeigte: über
ihre Zimmer und die vielen Leute im Ort und daß der
Wirt hoffe, Thom werde im Schankraum musizieren und
ein, zwei Geschichten zum besten geben. Sie erwähnte das
Mädchen nicht, falls es überhaupt ein Mädchen gewesen
war. Der private Speisesaal wies einen großen glänzenden
Eichentisch auf, um den ein Dutzend Stühle stand. Auf
dem Boden lag ein dicker Teppich. Als sie eintraten,
drehte sich eine frischgewaschene Egwene mit glänzen-
dem, feuchtem, glatt ausgekämmtem Haar nach ihnen um.
Sie hatte sich die Hände an dem im Herd prasselnden
Feuer gewärmt. Rand hatte während der langen Stille im
Baderaum viel Zeit zum Nachdenken gehabt.
Lans ständige Mahnungen, niemandem zu trauen, und
besonders die Tatsache, daß Ara davor zurückscheute,
ihnen zu vertrauen, hatten ihm klargemacht, wie einsam
sie nun wirklich waren. Es schien, als könnten sie wirklich
niemandem außer sich selbst trauen, und er war sich
immer noch nicht sicher, inwieweit sie Moiraine oder Lan
vertrauen konnten. Nur auf sich allein gestellt. Und
Egwene war immer noch Egwene. Moiraine behauptete,
es sei so oder so geschehen, daß sie die Wahre Quelle
berühren würde. Sie konnte das nicht bestimmen, und das
hieß: Es war nicht ihre Schuld. Und sie war immer noch
dieselbe Egwene wie vorher.
Er öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, doch
Egwene versteifte sich und wandte ihm den Rücken zu,
bevor er ein Wort herausbringen konnte. Er blickte
mürrisch ihren Rücken an und schluckte hinunter, was er
hatte sagen wollen. Auch gut. Wenn sie es so will, dann
kann ich nichts daran ändern.
Meister Fitch schlüpfte herein. Vier Frauen in weißen
Schürzen folgten ihm. Sie trugen ein Tablett mit drei
Brathähnchen, Silberbestecken, verdeckten Schüsseln und
Steinguttellern. Die Frauen begannen sofort mit dem
Tischdecken. Derweil verbeugte sich der Wirt vor
Moiraine.
»Entschuldigt vielmals, Frau Alys, daß ich Euch so
warten ließ, aber bei so vielen Gästen in meiner Schenke
wundere ich mich manchmal, daß überhaupt jemand
bedient wird. Ich fürchte, das Essen ist auch nicht das, was
Euch gebührte. Nur die Hähnchen, ein paar Rüben und
Erbsen und hinterher ein wenig Käse. Nein, es ist wirklich
nicht das, was es sein sollte. Ich möchte mich ehrlich
entschuldigen.«
»Ein Festessen.« Moiraine lächelte. »In diesen schweren
Zeiten ist das aber wirklich ein Festessen, Meister Fitch.«
Der Wirt verbeugte sich wieder. Sein büscheliges Haar,
das nach allen Seiten abstand, als fahre er ständig mit den
Händen hindurch, machte die Verbeugung eher komisch,
doch sein Grinsen war so sympathisch, daß jeder, der
lachte, mit ihm und nicht über ihn lachte. »Vielen Dank,
Frau Alys, vielen Dank!« Als er sich aufrichtete, runzelte
er die Stirn und wischte mit einem Schürzenzipfel ein
eingebildetes Staubkorn vom Tisch. »Natürlich ist es nicht
das, was ich Euch noch vor einem Jahr auf den Tisch
gestellt hätte. Nicht annähernd. Der Winter. Ja, der
Winter. Meine Keller sind fast leer, und auf dem Markt
gibt es kaum etwas zu kaufen. Aber wer kann es den
Bauern übel nehmen? Wer? Niemand kann vorhersagen,
wann sie wieder eine Ernte einfahren können. Niemand
weiß es. Und die Wölfe bekommen das Hammelfleisch
oder Rindfleisch, das eigentlich auf den Tischen der
Menschen landen sollte, und...«
Plötzlich schien ihm bewußt zu werden, daß dies wohl
kaum das richtige Thema war, um seine Gäste zu einem
angenehmen Mahl zu laden. »Ich lasse mich wieder einmal
hinreißen. Ein alter Windbeutel bin ich. Mari, Cinda, laßt
diese guten Leute in Ruhe speisen.« Gestenreich scheuchte
er die Frauen aus dem Raum, und als sie hinauseilten,
wandte er sich erneut Moiraine zu und verbeugte sich.
»Ich hoffe, Ihr genießt das Mahl, Frau Alys. Falls Ihr
irgend etwas anderes braucht, dann sagt es nur, und ich
werde es besorgen. Sagt nur, was Ihr braucht. Es ist ein
Vergnügen, Euch und Meister Andra zu bedienen. Ein
Vergnügen.« Er verbeugte sich noch einmal tief und war
weg. Sanft schloß sich die Tür hinter ihm.
Lan hatte sich währenddessen an die Wand gelehnt, als
schliefe er schon beinahe. Nun sprang er auf und war mit
zwei langen Schritten an der Tür. Er drückte ein Ohr
gegen ein Stück der Türverkleidung, lauschte angespannt,
bis er langsam auf dreißig gezählt hatte; dann riß er die
Tür auf und steckte den Kopf in den Flur. »Sie sind weg«,
sagte er schließlich und schloß die Tür wieder. »Wir
können frei sprechen.«
»Ich weiß, daß Ihr sagt, wir könnten keinem trauen«,
sagte Egwene, »aber wenn Ihr dem Wirt mißtraut, warum
bleiben wir dann hier?«
»Ich mißtraue ihm nicht mehr als jedem anderen«,
erwiderte Lan. »Aber wie auch immer, bis wir Tar Valon
erreichen, muß ich eben jedem mißtrauen. Dort dann nur
noch jedem zweiten.«
Rand lächelte, da er glaubte, der Behüter wolle einen
Scherz machen. Dann erkannte er, daß Lans Gesicht keine
Spur von Humor zeigte. Er würde wohl tatsächlich selbst
Menschen in Tar Valon mißtrauen. Gab es überhaupt
einen sicheren Ort?
»Er übertreibt«, sagte ihnen Moiraine zur Beruhigung.
»Meister Fitch ist ein guter Mann, ehrlich und
vertrauenswürdig. Aber er redet gern, und auch bei den
besten Absichten kann es geschehen, daß ihm etwas
entschlüpft und in falsche Ohren gerät. Und ich habe mich
noch nie in einer Schenke aufgehalten, in der nicht die
Hälfte aller Stubenmädchen an den Türen lauschten und
mehr Zeit damit verbrachten, miteinander zu klatschen,
als Betten zu machen. Kommt, setzen wir uns, bevor das
Essen kalt wird.«
Sie nahmen am Tisch Platz. Moiraine saß an einem
Ende, Lan am anderen. Eine Zeitlang war jeder zu sehr
damit beschäftigt, seinen Teller zu füllen, als daß eine
Unterhaltung aufkam. Es war vielleicht kein wirkliches
Festessen, aber nach fast einer Woche Fladenbrot und
Trockenfleisch schmeckte alles köstlich.
Nach einer Weile fragte Moiraine: »Was hast du im
Schankraum erfahren?« Messer und Gabeln verhielten
mitten in der Luft in der Bewegung, und alle Augen
wandten sich dem Behüter zu.
»Wenig Gutes«, antwortete Lan. »Avin hatte recht,
jedenfalls bezüglich dessen, was die Leute so erzählen. Es
gab eine Schlacht in Ghealdan, und Logain war der
Sieger. Es sind ein Dutzend verschiedener Geschichten
darüber im Umlauf, aber in diesem Punkt waren sie sich
alle einig.«
Logain? Das mußte der falsche Drache sein. Es war das
erste Mal, daß Rand den Namen des Mannes hörte. Es
klang bei Lan beinahe so, als kenne er ihn persönlich.
»Die Aes Sedai?« fragte Moiraine leise, und Lan schüttelte
den Kopf.
»Ich weiß nichts. Einige behaupten, sie seien alle getötet
worden, andere sagen, keine einzige sei umgekommen.«
Er schnaubte. »Es gibt sogar welche, die behaupten, sie
seien zu Logain übergelaufen. Es gibt keine zuverlässigen
Informationen, und ich wollte auch nicht zuviel Interesse
zeigen.«
»Ja«, sagte Moiraine, »wenig Gutes also.« Sie atmete
tief ein und war wieder hellwach. »Und was gibt es in
bezug auf uns selbst?«
»Da habe ich bessere Neuigkeiten. Keine unerklärlichen
Vorkommnisse, keine Fremden in der Gegend, die
vielleicht Myrddraal sein könnten, und ganz gewiß keine
Trollocs. Und die Weißmäntel sind damit beschäftigt, dem
Statthalter Adan Schwierigkeiten zu bereiten, weil er nicht
mit ihnen zusammenarbeiten will. Sie werden uns nicht
bemerken, wenn wir sie nicht selbst auf uns aufmerksam
machen.«
»Gut«, sagte Moiraine. »Das stimmt mit dem überein,
was das Bademädchen erzählt hat. Klatsch hat auch seine
Vorzüge. Nun«, sprach sie die gesamte Gesellschaft an,
»wir haben immer noch eine lange Reise vor uns, aber die
letzte Woche war wirklich nicht ganz einfach. So schlage
ich vor, wir bleiben heute und morgen hier und reiten
früh am folgenden Morgen wieder los.« Die jüngeren
unter ihnen grinsten erfreut – zum ersten Mal in einer
Stadt! Moiraine lächelte. Trotzdem fragte sie: »Was hält
Meister Andra davon?«
Lan sah die grinsenden Gesichter nüchtern an. »In
Ordnung, falls sie sich ausnahmsweise einmal daran
erinnern, was ich ihnen gesagt habe.«
Thom schnaubte durch seinen Schnurrbart. »Diese
Landpomeranzen in eine... eine Stadt loslassen.« E r
schnaubte nochmals und schüttelte seinen Kopf.
Da die Schenke so überfüllt war, standen für sie nur
drei Zimmer zur Verfügung, eines für Moiraine und
Egwene und zwei für die Männer. Rand teilte sich das
Zimmer mit Lan und Thom. Es war hinten im vierten
Stock, direkt unter dem überhängenden Dach, und aus
dem kleinen Fenster blickte man auf den Stallhof hinab.
Die Nacht hatte sich nun über die Stadt gesenkt, und das
Licht aus der Schenke beleuchtete einen Teil des Hofs. Es
war sowieso schon ein kleines Zimmer, und das Zusatzbett
für Thom, das man hineingestellt hatte, schränkte den
Raum noch mehr ein, auch wenn die Betten alle schmal
waren. Und hart. Das fand Rand heraus, als er sich darauf
warf. Ganz bestimmt nicht das beste Zimmer.
Thom blieb nur so lange, wie er brauchte, um Flöte
und Harfe auszupacken, dann ging er, wobei er bereits
einige grandiose Gesten ausprobierte. Lan begleitete ihn.
Seltsam, dachte Rand als er sich auf dem unbequemen
Bett herumwälzte. Noch vor einer Woche wäre er wie der
Blitz unten gewesen, um sich die Gelegenheit nicht
entgehen zu lassen, einem Gaukler bei der Arbeit
zuzusehen. Aber nachdem er Thoms Geschichten eine
Woche lang gelauscht hatte, waren sie einfach nicht mehr
so interessant. Thom würde außerdem auch morgen da
sein und am nächsten Abend, na Ja, und das heiße Bad
hatte seine Muskeln entspannt, und die erste warme
Mahlzeit seit einer Woche machte ihn auch nicht gerade
munterer. Schläfrig fragte er sich, ob Lan den falschen
Drachen, Logain, wirklich kannte. Von unten hörte er
einen gedämpften Aufschrei. Der Schankraum begrüßte
Thoms Ankunft, doch Rand war bereits eingeschlafen.

Der Flur zwischen den Steinwänden war düster und von


Schatten erfüllt und – bis auf Rand – leer. Er konnte nicht
sagen, woher das Licht kam, das bißchen Helligkeit, das
ihn überhaupt sehen ließ; an den grauen Wänden befanden
sich keine Kerzen oder Lampen, nichts, das den
schwachen Lichtschimmer verursachte, der einfach da
war. Die Luft roch abgestanden und modrig, und
irgendwo in einiger Entfernung tropfte Wasser mit einem
stetigen hohlen Plonk auf den Boden. Wo auch immer er
sich befand, es war nicht in der Schenke. Er runzelte die
Stirn und rieb sich mit der Hand darüber. Schenke? Sein
Kopf schmerzte, und es fiel ihm schwer, die Gedanken
festzuhalten. Da war etwas mit einer... einer Schenke
gewesen! Der Gedanke war weg, wie fortgeblasen.
Er leckte sich die Lippen und wünschte sich etwas zum
Trinken herbei. Er war schrecklich durstig, richtig
ausgetrocknet. Das ständige Tropfen machte ihm die
Entscheidung leicht. Da er keinen anderen Impuls hatte als
seinen Durst, hielt er auf das Plonk-Plonk-Plonk zu. Der
Flur zog sich hin, ohne von einem anderen Korridor
unterbrochen zu werden und ohne jede Veränderung im
Aussehen. Die einzigen Merkmale waren die groben
Türen, die paarweise in regelmäßigen Abständen
auftauchten, auf jeder Seite eine, das Holz aufgesplittert
und trotz der feuchten Luft ganz trocken. Die Schatten
zogen sich vor ihm zurück, blieben immer gleich, und das
Tropfen wollte nicht näher kommen. Nach langer Zeit
entschloß er sich, eine der Türen zu öffnen. Sie öffnete
sich ganz leicht, und er betrat ein düsteres Zimmer mit
rohen Steinwänden.
Eine Wand öffnete sich in einer Reihe von Bögen zu
einem grauen Steinbalkon und dahinter erkannte er einen
Himmel, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Zu Streifen
zerfledderte Wolken in Schwarz- und Grautönen, in Rot
und Orange, strömten vorbei wie vom Sturmwind getrie-
ben. Sie trennten sich, verbanden sich wieder miteinander
und lösten sich erneut. Niemand konnte jemals einen
solchen Himmel gesehen haben, weil er nicht existierte.
Er riß seinen Blick von dem Balkon los, aber der Rest
des Zimmers war auch nicht besser. Eigenartige
Krümmungen und seltsame Winkel, als habe man das
Zimmer beinahe planlos aus dem Fels herausgeschmolzen,
und dazu Säulen, die aus dem grauen Fußboden
herauszuwachsen schienen. Im Kamin prasselten Flammen
wie das Feuer in einer Schmiede, wenn der Blasebalg mit
voller Kraft bedient würde, aber sie gaben keine Wärme
ab. Dieser Kamin war aus seltsamen ovalen Steinen
gemauert. Wenn er sie von vorn ansah, wirkten sie wie
Steine, feucht und schlüpfrig trotz des Feuers, doch aus
den Augenwinkeln betrachtet schienen sie Gesichter zu
bilden, die Gesichter von Männern und Frauen, die sich
vor Schmerz wanden und lautlos schrien. Die
hochlehnigen Stühle und der mattglänzende Tisch in der
Mitte des Raums waren wieder ganz normal, aber gerade
das betonte die Fremdartigkeit der Umgebung. An der
Wand hing ein einzelner Spiegel, und der war nun
überhaupt nicht gewöhnlich. Als er hinein blickte, sah er
nur einen verschwommenen Schimmer, wo eigentlich sein
Spiegelbild sein sollte. Alles andere im Raum wurde
scharf umrissen reflektiert, doch er nicht.
Ein Mann stand vor dem Kamin. Als er hereinkam,
hatte er den Mann nicht bemerkt. Wenn er nicht genau
gewußt hatte, daß das unmöglich war, hätte er behauptet,
es sei niemand dagewesen, bis er ihn direkt ansah. Er war
dunkel angezogen – die Kleidung von hoher Qualität –
und schien sich im besten Mannesalter zu befinden. Rand
stellte sich vor, daß Frauen den Mann bestimmt als
gutaussehend betrachtet hätten. »Wieder einmal stehen wir
uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber«, sagte der
Mann, und einen Augenblick lang wurden seine Augen
und sein Mund zu Toren in endlose Flammenhöhlen. Mit
einem Schrei warf sich Rand rückwärts aus dem Zimmer,
so heftig, daß er über den Flur taumelte, gegen die Tür
auf der anderen Seite prallte und diese aufstieß. Er drehte
sich um und griff nach der Klinke, um sich vor einem
Sturz auf den Fußboden zu bewahren – und starrte mit
weitaufgerissenen Augen in einen Raum mit Steinwänden,
Torbögen, die auf einen Balkon führten, einen
unmöglichen Himmel dahinter und einen Kamin...
»So leicht kannst du mir nicht entkommen«, sagte der
Mann.
Rand drehte sich um, taumelte aus dem Zimmer und
versuchte sich auf den Beinen zu halten, ohne langsamer
zu werden. Diesmal erreichte er keinen Korridor. E r
erstarrte verkrümmt unweit des glänzend-polierten
Tisches und sah den Mann am Kamin an. Das war besser,
als die Steine des Kamins anzusehen oder diesen Himmel.
»Das ist ein Traum«, sagte er beim Aufrichten. Hinter
sich hörte er das Klicken der sich schließenden Tür. »Es
ist eine Art Alptraum.« Er schloß die Augen und dachte
angespannt an das Erwachen. Als er noch ein Kind
gewesen war, hatte ihm die Seherin gesagt, wenn er das in
einem Alptraum fertigbringe, werde der Traum
verschwinden. Die... Seherin? Was? Wenn ihm nur die
Gedanken nicht so schnell entglitten wären! Wenn nur sein
Kopf aufgehört hätte zu schmerzen, dann könnte er
wieder klar denken.
Wieder öffnete er die Augen. Der Raum war derselbe
wie vorher mit dem Balkon und dem Himmel und dem
Mann am Kamin. »Ist es ein Traum?« fragte der Mann.
»Spielt es eine Rolle?« Wieder wurden seine Augen und
sein Mund einen Augenblick lang zu Gucklöchern in
einem Brennofen, der sich in die Ewigkeit erstreckte.
Seine Stimme änderte sich nicht; er schien es gar nicht zu
bemerken.
Rand fuhr diesmal ein wenig zusammen, aber er
beherrschte sich rechtzeitig, um nicht aufzuschreien. Das
ist ein Traum. Es muß so sein. Trotzdem ging er ein paar
Schritte rückwärts zur Tür, ohne den Blick von dem
Mann am Feuer abzuwenden, dann drückte er die Klinke
hinunter. Die Tür bewegte sich nicht; sie war
verschlossen.
»Du scheinst Durst zu haben«, sagte der Mann am
Kamin. »Trink!«
Auf dem Tisch stand ein Pokal aus glänzendem Gold,
mit Rubinen und Amethysten verziert. Er hatte sich schon
vorher dort befunden. Wenn er nur nicht jedesmal so
zusammengefahren wäre!. Es war doch nur ein Traum. In
seinem Mund schien sich nur Staub zu befinden.
»Ich bin tatsächlich ein wenig durstig«, sagte er und
nahm den Pokal. Der Mann beugte sich gespannt vor, eine
Hand auf der Lehne eines Stuhls, und beobachtete ihn. Der
Geruch nach Glühwein machte Rand erst richtig bewußt,
wie durstig er war, als hätte er seit Tagen nichts mehr zu
trinken bekommen. Stimmt das?
Der Pokal befand sich schon auf halbem Weg zu seinem
Mund, da hielt er inne. Kleine Rauchwölkchen erhoben
sich von der Stuhllehne, wo die Finger des Mannes lagen.
Und diese Augen beobachteten ihn so genau und wechsel-
ten schnell zwischen richtigen Augen und Flammen. Rand
leckte sich die Lippen und stellte den Wein wieder zurück
auf den Tisch. »Ich habe nicht so viel Durst, wie ich
glaubte.« Der Mann richtete sich brüsk auf. Sein Gesicht
zeigte keine Regung. Seine Enttäuschung hätte nicht
deutlicher sein können, wenn er geflucht hätte. Rand
fragte sich, was der Wein wohl enthielt. Aber das war
natürlich eine dumme Frage. Dies war ja alles ein Traum.
Warum endet er dann nicht? »Was willst du?« fragte er
scharf. »Wer bist du?«
Flammen erhoben sich aus Augen und Mund des
Mannes. Rand glaubte sie prasseln zu hören. »Einige
nennen mich Ba'alzamon.«
Rand stand an der Tür und rüttelte verzweifelt an der
Klinke. Alle Gedanken an Träume waren verschwunden.
Der Dunkle König. Die Klinke gab nicht nach, aber er
hörte nicht auf mit dem Rütteln. »Bist du der, den ich
erwarte?« fragte Ba'alzamon plötzlich. »Du kannst es
nicht vor mir verbergen. Du kannst dich nicht vor mir
verstecken, nicht auf dem höchsten Berg oder in der
tiefsten Höhle. Ich kenne dich bis zum kleinsten Haar.«
Rand drehte sich um und sah dem Mann – Ba'alzamon –
in die Augen. Er schluckte schwer. Ein Alptraum. E r
griff hinter sich, um noch einmal die Klinke zu drücken,
dann richtete er sich gerade auf.
»Erwartest du Ruhm?« fragte Ba'alzamon. »Macht?
Haben sie dir gesagt, das Auge der Welt werde dir dienen?
Welchen Ruhm oder welche Macht hat denn eine
Marionette? Die Fäden, an denen du hängst, sind über
Jahrhunderte hinweg gewebt worden. Dein Vater wurde
im Weißen Turm auserwählt wie ein Hengst, den man
einfängt und seiner Pflicht zuführt. Deine Mutter war
nicht mehr als eine Zuchtstute zur Verwirklichung ihrer
Pläne. Und diese Pläne führen zu deinem Tod.«
Rands Hände ballten sich zu Fäusten. »Mein Vater ist
ein guter Mann, und meine Mutter war eine gute Frau.
Sprich nicht so über sie.«
Die Flammen lachten. »Also steckt doch noch
Widerstandsgeist in dir. Vielleicht bist du wirklich
derjenige. Es wird dir nicht viel helfen. Der Amyrlin-Sitz
wird dich benutzen, bis du verbraucht bist, so wie Davian
und Yurian Steinbogen und Guaire Amalasan und Raolin
Dunkelbann benutzt wurden. So wie sie Logain benutzen.
Benutzt, bis nichts mehr von dir übrig ist.«
»Ich weiß nicht...« Rand drehte den Kopf hin und her.
Dieser eine Moment klaren Denkens, aus dem Zorn
geboren, war verflogen. Als er ihn wieder zu erlangen
suchte, wußte er nicht mehr, wie er dazu gekommen war.
Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Er ergriff einen
davon wie ein Floß in einem Mahlstrom. Er zwang Worte
aus sich heraus. Seine Stimme wurde kräftiger, je mehr er
sprach. »Du... bist gebunden... in Shayol Ghul. Du und
mit dir alle Verlorenen... gebunden durch den Schöpfer
bis ans Ende der Zeit.«
»Das Ende der Zeit?« spöttelte Ba'alzamon. »Du lebst
wie ein Käfer unter einem Felsbrocken und glaubst, dein
Schleim sei das Universum. Der Tod der Zeit wird mir
solche Macht verleihen, wie du sie dir nicht einmal
erträumen kannst, Wurm.«
»Du bist gebunden...«
»Narr, ich bin niemals gebunden worden!« Die
Flammen loderten so heiß, daß Rand zurücktrat und das
Gesicht mit vorgehaltenen Händen schützte. Der Schweiß
der Handflächen trocknete in der Hitze. »Ich stand an
Lews Therin Brudermörders Schulter, als er tat, was ihm
seinen Namen einbrachte. Ich war es, der ihm sagte, er
solle seine Frau, seine Kinder und alle von seinem Blut
und jede lebende Person töten, die ihn liebte oder die er
liebte. Ich war es, der ihm einen Moment der Klarheit
verschaffte, so daß er erkannte, was er getan hatte.
Hast du jemals einen Mann seine Seele ausschreien
hören, Wurm? Er hätte mich in dem Augenblick schlagen
können. Er hätte nicht gewonnen, doch er hätte es
versuchen können. Statt dessen rief er seine geliebte Eine
Macht auf sich selbst herab, und dies so heftig, daß die
Erde sich auftat und den Drachenberg ausspie, um sein
Grabstein zu werden.
Tausend Jahre später sandte ich die Trollocs nach
Süden, und drei Jahrhunderte lang brandschatzten sie die
Welt. Diese blinden Narren in Tar Valon behaupteten, ich
sei am Ende geschlagen worden, aber der Zweite Pakt,
der Pakt der Zehn Nationen, war unwiderruflich
zerschlagen, und wer war dann noch übrig, mir zu
widerstehen? Ich flüsterte in Artur Falkenflügels Ohr, und
landauf, landab starben die Aes Sedai. Ich flüsterte
wieder, und der Hochkönig sandte seine Armeen über das
Aryth-Meer, über das Weltmeer, und besiegelte zwei
Schicksale damit. Sein Traum von einem Land und einem
Volk starb mit ihm, und dann noch ein zukünftiger
Traum. Ich stand an seinem Totenbett, als seine Berater
ihm sagten, nur eine Aes Sedai könne sein Leben retten.
Ich sprach, und er befahl, seine Berater hinzurichten. Ich
sprach, und die letzten Worte, die der Hochkönig ausrief,
waren der Befehl, Tar Valon zu zerstören.
Wenn schon Männer wie diese mir nicht widerstehen
konnten, was willst du dann ausrichten – eine Kröte, die
neben einer Pfütze im Wald kauert? Du wirst mir dienen,
oder du wirst nach der Pfeife der Aes Sedai tanzen, bis du
stirbst. Und dann wirst du mir gehören. Die Toten
gehören mir!«
»Nein«, murmelte Rand, »das ist ein Traum. Es ist ein
Traum.«
»Glaubst du, in deinen Träumen seist du sicher vor
mir? Schau!« Ba'alzamon streckte befehlend die Hand aus,
und Rands Kopf drehte sich in die Richtung, in die er
zeigte, obwohl er ihn nicht bewegen wollte; er wollte sich
nicht umdrehen.
Der Pokal war vom Tisch verschwunden. Wo er sich
befunden hatte, duckte sich nun eine große Ratte,
zwinkerte in das grelle Licht und prüfte vorsichtig die
Luft. Ba'alzamon machte den Finger krumm, und mit
einem Quietschen krümmte die Ratte den Rücken, hob die
Vorderpfoten in die Luft und stand unsicher auf den
Hinterbeinen. Der Finger krümmte sich noch mehr, und
die Ratte fiel um, strampelte verzweifelt, krallte sich ins
Nichts, quietschte schrill, während sich ihr Rücken immer
mehr durchbog. Mit einem scharfen Knacken wie beim
Zerbrechen eines Zweigs zitterte die Ratte noch einmal
heftig und lag still, völlig verkrümmt.
Rand schluckte. »In einem Traum kann alles
geschehen«, murmelte er. Ohne sich umzusehen, schwang
er erneut die Faust und traf das Tor. Seine Hand
schmerzte, doch er wachte immer noch nicht auf.
»Dann geh doch zu den Aes Sedai. Geh zum Weißen
Turm und erzähl ihnen alles. Erzähl dem Amyrlin-Sitz
von diesem... Traum.« Der Mann lachte, und Rand fühlte
die Hitze der Flammen im Gesicht. »Das ist eine
Möglichkeit, um ihnen zu entkommen. Sie werden dich
dann nicht benutzen wollen. Nein, nicht wenn sie wissen,
daß ich alles weiß. Aber werden sie dich am Leben lassen,
um zu berichten, was sie tun? Bist du ein solcher Narr,
daß du glaubst, sie würden dich am Leben lassen? Die
Asche von vielen anderen, die so waren wie du, liegt
überall verstreut auf den Hängen des Drachenbergs.«
»Das ist ein Traum«, keuchte Rand. »Es ist ein Traum,
und ich werde erwachen.«
»Tatsächlich?« Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich
der Finger des Mannes bewegte und auf ihn deutete.
»Wirst du tatsächlich erwachen?« Der Finger krümmte
sich, und Rand schrie auf, als sein Körper sich rückwärts
bog. Jeder Muskel zwang ihn weiter nach hinten. »Wirst
du jemals wieder erwachen?«
Verkrampft zuckte Rand in der Dunkelheit hoch. Seine
Hände krallten sich in Stoff. Eine Decke. Bleiches
Mondlicht schien durch das einzige Fenster. Die
schattenhaften Umrisse auf den anderen beiden Betten.
Von einem erklang ein Schnarchen, als ob Segeltuch
zerrisse: Thom Merrilin. Ein paar Kohlen glimmten in
der Asche im Kamin. Es war also ein Traum gewesen, wie
der Alptraum in der Weinquellenschenke an Bel Tine –
alles, was er gehört oder getan hatte, vermischt mit alten
Geschichten und blankem Unsinn. Er zog sich die Decke
über die Schultern, aber die Kälte war es nicht, die ihn
zittern ließ. Auch sein Kopf schmerzte. Vielleicht konnte
Moiraine etwas gegen diese Träume tun. Sie sagte, sie
könne gegen Alpträume etwas unternehmen.
Mit einem Schnauben legte er den Kopf wieder hin.
Waren die Träume wirklich so schlimm, daß er eine Aes
Sedai um Hilfe bitten mußte? Andererseits, konnte ihn
irgend etwas, was er jetzt tat, noch tiefer in die Sache
verwickeln? Er hatte die Zwei Flüsse verlassen und war
mit einer Aes Sedai hierhergekommen. Aber er hatte
natürlich keine andere Wahl gehabt. Hatte er nun eine
andere Wahl, als ihr zu vertrauen? Einer Aes Sedai?
Darüber nachzusinnen, war genauso schlecht wie die
Träume. Er kuschelte sich unter seine Decke und
versuchte im Nichts Ruhe zu finden, so wie Tam es ihn
gelehrt hatte. Doch es dauerte lange, bis er wieder
einschlief.
KAPITEL 15

Fremde und Freunde


Sonnenschein auf seinem schmalen Bett weckte Rand
schließlich aus tiefem, aber unruhigem Schlaf auf. Er zog
sich ein Kissen über den Kopf, doch es konnte das Licht
nicht abhalten, und er wollte eigentlich auch nicht mehr
einschlafen. Nach dem ersten Traum waren noch mehr
Träume gekommen. Er konnte sich nur noch an den
ersten erinnern, aber er wußte, daß er kein Bedürfnis
hatte, noch weitere zu erleben.
Mit einem Seufzer warf er das Kissen weg und setzte
sich auf. Beim Strecken verzog er schmerzgeplagt das
Gesicht. Alle Schmerzen, die er vermeintlich in der
Badewanne losgeworden war, meldeten sich wieder. Und
auch sein Kopf tat immer noch weh. Es überraschte ihn
nicht. Ein Traum wie jener in dieser Nacht war dazu
angetan, jedem Kopfschmerzen zu bereiten. Die anderen
Träume waren schon verflogen, doch jener eine nicht.
Die anderen Betten waren leer. Der Sonnenschein kam
bereits in einem steilen Winkel durch das Fenster. Zu
Hause auf dem Hof hätte er zu dieser Zeit bereits etwas
zum Essen bereitet und mit seinen täglichen Arbeiten
begonnen. Er stieg aus dem Bett, wobei er ärgerlich in
sich hineinbrummte. Eine Stadt, die man sich ansehen
sollte, und sie hatten ihn nicht einmal geweckt. Zumindest
aber hatte jemand dafür gesorgt, daß in der Kanne Wasser
war, warmes Wasser sogar.
Er wusch sich rasch und zog sich hastig an. Bei Tams
Schwert zögerte er für einen Augenblick. Lan und Thom
hatten ihre Satteltaschen und Bettrollen hinten im Zimmer
abgestellt, ganz klar, aber das Schwert des Behüters war
nirgends zu finden. Lan hatte sein Schwert auch in
Emondsfeld getragen, lange bevor es irgendein Anzeichen
für Schwierigkeiten gab. Er wollte dem Vorbild des
älteren Mannes folgen und redete sich ein, es habe nichts
damit zu tun, daß er sich oft vorgestellt hatte, mit einem
Schwert an der Hüfte durch die Straßen einer richtigen
Stadt zu spazieren. So schnallte er es sich um und warf
seinen Umhang wie einen Sack über die Schulter.
Er nahm zwei Treppenstufen mit einem Schritt und
eilte hinunter zur Küche. Das war sicher der Ort, an dem
er am schnellsten etwas zu essen bekam, und an seinem
einzigen Tag in Baerlon wollte er nicht noch mehr Zeit
verschwenden, als sowieso schon vertan war. Blut und
Asche, sie hätten mich wirklich wecken können.
Meister Fitch stand in der Küche und schimpfte mit
einer molligen Frau, deren Arme bis zu den Ellbogen mit
Mehl bedeckt waren – offensichtlich der Köchin. Doch
nein, sie schimpfte mit ihm und hielt ihm den Finger
drohend unter die Nase. Kellnerinnen und Küchenjungen,
Schankkellner und Putzer arbeiteten um sie herum und
kümmerten sich nicht darum, was da vor ihnen geschah.
»... mein Cirri ist ein guter Kater«, sagte sie gerade in
scharfem Ton zu Meister Fitch, »und ich will keine
Widerrede hören, verstanden? Ihr beklagt Euch darüber,
daß er seine Aufgaben zu gut erfüllt, jawohl, wenn Ihr
mich fragt!«
»Es sind Klagen gekommen«, warf Meister Fitch mit
Mühe ein. »Beschwerden, meine Liebe. Die Hälfte der
Gäste...«
»Ich will nichts davon hören. Ich will einfach nichts
davon hören! Wenn sie sich über meine Katze beschweren
wollen, dann sollen sie doch kochen! Meine arme alte
Katze, die nur ihre Aufgaben erfüllt, und ich, wir werden
woandershin gehen, wo man uns mehr schätzt, paßt nur
auf!« Sie band ihre Schürze los und wollte sie über den
Kopf streifen.
»Nein!« jammerte Meister Fitch und sprang vor, um sie
aufzuhalten. Sie tanzten im Kreis herum. Die Köchin
versuchte, die Schürze auszuziehen, und der Wirt
versuchte, sie ihr wieder anzuziehen. »Nein, Sara!«
schnaufte er. »Das ist nicht nötig. Nicht nötig, sage ich!
Was fange ich ohne dich an? Cirri ist eine gute Katze.
Eine ausgezeichnete Katze. Die beste Katze in Baerlon.
Wenn sich noch mal jemand beschwert, werde ich ihm
sagen, er soll dankbar sein, daß die Katze ihre Aufgaben
erfüllt. Ja, dankbar! Du darfst nicht gehen! Sara? Sara!«
Die Köchin hörte mit der Herumlauferei auf und
brachte es fertig, ihm ihre Schürze zu entreißen. »In
Ordnung. Ist schon gut.« Sie hielt ihre Schürze in beiden
Händen, band sie sich aber immer noch nicht um. »Aber
wenn Ihr wollt, daß bis zum Mittag das Essen fertig ist,
dann verschwindet jetzt aus der Küche und laßt mich
arbeiten. Es ist vielleicht Eure Schenke, aber dies ist
meine Küche. Es sei denn, Ihr wollt selbst kochen...« Sie
tat so, als wolle sie ihm die Schürze reichen.
Meister Fitch trat mit weit gespreizten Armen zurück.
Er öffnete den Mund, hielt inne und sah sich zum ersten
Mal um. Die Küchenhilfen übersahen noch immer – sehr
betont – Köchin und Wirt, während Rand intensiv in
seinen Manteltaschen zu suchen begann, obwohl außer
Moiraines Münze nichts darin war als ein paar
Kupferstücke und eine Handvoll Krimskrams. Sein
Taschenmesser und der Wetzstein. Zwei Reserve-
Bogensehnen und ein Stück Schnur, das er für alle Fälle
immer dabei hatte.
»Ich bin sicher, Sara«, sagte Meister Fitch vorsichtig,
»daß alles so vorzüglich wie immer bei dir schmecken
wird.« Damit blickte er zum letzten Mal die Küchenhilfen
mißtrauisch an und verließ den Raum mit aller Würde, die
er aufbringen konnte.
Sara wartete, bis er draußen war, und band sich
entschlossen die Schürze wieder um, bevor sie Rand
anblickte. »Ich schätze, du möchtest etwas zum Essen
haben, wie? Also dann komm rein.« Sie lächelte ihn
verschmitzt an. »Ich beiße nicht, wirklich nicht,
gleichgültig, was du vielleicht gesehen haben magst, auch
wenn es nicht für deine Augen bestimmt war. Ciel, hol
Brot, Käse und Milch für den Jungen! Das ist alles, was
im Augenblick da ist. Setz dich, Junge. Deine Freunde
sind alle ausgegangen, außer einem, der sich nicht wohl
fühlte, wie man mir sagte, und ich denke, du wirst auch
weg wollen.«
Eine der Kellnerinnen brachte ein Tablett, während
sich Rand auf einen Hocker am Tisch setzte. Er aß, und
die Köchin knetete weiter ihren Brotteig. Ihr Wortschwall
war aber keineswegs beendet.
»Du mußt das nicht so ernstnehmen, was du gesehen
hast. Meister Fitch ist durchaus ein guter Mann. Die
Beschwerden der Leute machen ihn nervös, und worüber
beschweren sie sich? Möchten sie lieber lebendige Ratten
finden als tote? Auch wenn nicht zu Cirri paßt, seine
Beute einfach zurückzulassen. Und mehr als ein Dutzend?
Cirri würde niemals so viele in die Schenke hereinlassen,
er nicht! Dies ist außerdem ein sauberes Haus und wird
von Ratten nicht so heimgesucht. Und alle mit
gebrochenem Rückgrat.« Sie schüttelte den Kopf über so
viele Ungereimtheiten.
Brot und Käse verwandelten sich in Rands Mund zu
Asche. »Ihr Rückgrat war gebrochen?«
Die Köchin wedelte mit mehliger Hand. »Denk einfach
an schönere Dinge, das ist meine Meinung. Es ist ein
Gaukler da, weißt du. Im Augenblick ist er im
Schankraum. Aber ach, du bist ja mit ihm zusammen
gekommen, nicht wahr? Du bist einer von denen, die
gestern abend mit Frau Alys angekommen sind, ja? Das
habe ich mir gedacht. Ich werde nicht viel Gelegenheit
haben, dem Gaukler zuzusehen, fürchte ich, nicht bei
einer so überfüllten Schenke, und die meisten Gäste noch
dazu dieses Pack aus den Bergwerken.« Sie klatschte
besonders heftig auf einen Klumpen Teig. »Nicht die
Sorte, die wir sonst gern hereinlassen, nur daß der ganze
Ort voll von ihnen ist. Aber ich denke, so schlimm sind
sie auch wieder nicht. Sag mal, ich habe tatsächlich seit
der Zeit vor dem Winteranbruch keinen Gaukler mehr
gesehen, und...«
Rand aß mechanisch. Er schmeckte nichts und hörte der
Köchin nicht zu. Tote Ratten mit gebrochenem Rückgrat.
Er beendete hastig sein Frühstück, stammelte einen Dank
und eilte hinaus. Er mußte mit jemandem sprechen.
Der Schankraum im ›Hirsch und Löwen‹ hatte außer
dem Zweck wenig mit dem der Weinquellenschenke
gemein. Er war zweimal so breit und dreimal so lang, und
auf die Wände waren farbenfrohe Bilder von
geschmückten Gebäuden mit Gärten voller hoher Bäume
und leuchtender Blumen aufgemalt. Statt eines großen
Kamins gab es hier an jeder Wand einen, und Dutzende
von Tischen füllten den Raum. Fast jeder Stuhl, jeder
Hocker und jede Bank waren besetzt.
Die Pfeife im Mund und den Krug in der Faust,
beugten sich die Gäste vor und richteten die
Aufmerksamkeit auf dieselbe Gestalt. Thom stand auf
einem Tisch in der Mitte des Raums. Den vielfarbigen
Umhang hatte er über einen Stuhl geworfen. Selbst
Meister Fitch hielt einen silbernen Krug und ein
Poliertuch in erstarrten Händen.
»... tänzelnd, silberne Hufe und stolz gekrümmte
Hälse«, deklamierte Thom und schien dabei irgendwie
nicht nur auf einem Pferd zu reiten, sondern sich auch
noch in einer langen Prozession von Reitern zu befinden.
»Seidenfeine Mähnen flattern, wenn die Köpfe hochge-
worfen werden. Tausend flatternde Banner weben
Regenbogen in den endlosen Himmel. Hundert messingtö-
nende Trompeten lassen die Luft erzittern und Trommeln
rasseln wie Donner. Hurrarufe erheben sich Welle um
Welle von Tausenden von Zuschauern, ergießen sich über
die Dächer und Türme von Illian, brechen und prallen
ungehört auf die tausend Ohren von Reitern, deren Augen
und Herzen von ihrer heiligen Aufgabe beseelt glänzen.
Die Wilde Jagd nach dem Horn reitet hinaus, reitet, um
das Horn von Valere zu suchen, das die Helden
vergangener Zeitalter aus den Gräbern zurückholt, um für
das Licht zu kämpfen...«
Es war die Darbietung, die der Gaukler das Einfache
Lied genannt hatte, als er ihnen in den Nächten neben dem
Feuer auf ihrem Weg nach Norden von seiner Arbeit
erzählt hatte. Geschichten, hatte er gesagt, wurden in drei
Formen erzählt: das Hohe Lied, das Einfache Lied und das
Volkslied, das einfach so erzählt wurde, als berichte man
einem Nachbarn über die Ernteaussichten. Thom erzählte
manchmal Geschichten in der Volksliedform, und es
kümmerte ihn nicht, daß in seiner Stimme Verachtung
mitschwang.
Rand schloß die Tür, ohne einzutreten, und ließ sich
gegen die Wand sacken. Von Thom konnte er keinen Rat
erwarten. Moiraine – was würde sie tun, wenn sie es
wüßte?
Er bemerkte, daß ihn die Leute im Vorübergehen
anstarrten und daß er Selbstgespräche führte. Er strich
seinen Mantel glatt und richtete sich auf. Er mußte mit
jemandem sprechen. Die Köchin hatte gesagt, einer der
anderen sei nicht mit ausgegangen. Es kostete ihn Mühe,
nicht zu rennen.
Als er an die Tür des Zimmers klopfte, wo die anderen
Jungen geschlafen hatten, und schließlich den Kopf
hineinsteckte, war nur Perrin da, der noch unangezogen
im Bett lag. Er verdrehte den Kopf auf dem Kissen, um
Rand anzusehen, und schloß die Augen wieder. Mats
Bogen und Köcher standen in einer Ecke.
»Ich hörte, daß du dich nicht wohl fühlst«, sagte Rand.
Er trat ein und setzte sich auf das danebenstehende Bett.
»Ich wollte nur reden. Ich...« Er wußte nicht, wie er
anfangen sollte. »Wenn dir schlecht ist«, sagte er halb im
Aufstehen, »solltest du vielleicht besser schlafen. Ich kann
ja gehen.«
»Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder schlafen werde«,
seufzte Perrin. »Ich hatte einen schlimmen Traum, wenn
du es schon wissen willst, und ich konnte danach nicht
mehr einschlafen. Mat wird es dir bestimmt auch
erzählen. Er lachte heute morgen, als ich den anderen
erzählte, warum ich zu müde war, um mit ihnen
auszugehen, aber er hat auch geträumt. Ich habe ihm einen
großen Teil der Nacht zugehört, denn er wälzte sich im
Bett hin und her und sprach im Schlaf, und keiner kann
mir weismachen, daß er gut geschlafen hat.« Er hielt sich
einen starken Arm vor die Augen. »Licht, bin ich
vielleicht müde! Wenn ich ein oder zwei Stunden
hierbleibe, fühle ich mich vielleicht wohler und kann
aufstehen. Mat wird es mir nie verzeihen, wenn ich
Baerlon wegen eines Traums nicht anschaue.«
Rand leckte sich die Lippen und fragte: »Hat er eine
Ratte getötet?«
Perrin senkte den Arm und blickte ihn an. »Du auch?«
fragte er schließlich. Als Rand nickte, fügte er hinzu: »Ich
wünschte, ich wäre wieder zu Hause. Er erzählte mir... E r
sagte... Was sollen wir tun? Hast du es Moiraine erzählt?«
»Nein. Noch nicht. Vielleicht lasse ich es auch bleiben.
Ich weiß nicht. Wie steht's mit dir?«
»Er sagte... Blut und Asche, Rand, ich weiß es nicht.«
Perrin stützte sich auf den Ellbogen. »Glaubst du, daß Mat
den gleichen Traum hatte? Er lachte, aber es klang
gezwungen, und er schaute mich so komisch an, als ich
erzählte, ich hätte wegen eines Traums nicht mehr
geschlafen.«
»Vielleicht träumte er das gleiche«, sagte Rand. E r
hatte ein schlechtes Gewissen, daß er sich so erleichtert
fühlte, nicht der einzige mit Alpträumen zu sein. »Ich
wollte Thom um Rat fragen. Er hat viel von der Welt
gesehen. Du... du denkst wohl auch, wir sollten es
Moiraine nicht erzählen, oder?«
Perrin ließ sich in die Kissen zurückfallen. »Du hast
gehört, was man sich über die Aes Sedai erzählt. Glaubst
du, wir können Thom vertrauen? Wenn wir überhaupt
jemandem vertrauen können. Rand, wenn wir lebend aus
dieser Sache herauskommen, wenn wir jemals
heimkommen und du hörst mich sagen, ich wolle
Emondsfeld wieder verlassen – auch wenn es nur für eine
Reise nach Wachhügel ist –, dann gib mir einen Tritt.
Klar?«
»So solltest du nicht sprechen«, sagte Rand. Er verzog
das Gesicht zu einem Lächeln, so gutgelaunt, wie er es
gerade fertigbrachte. »Natürlich kehren wir wieder heim.
Komm, steh auf! Wir sind in einer Stadt und haben einen
ganzen Tag Zeit, sie anzusehen. Wo sind deine Kleider?«
»Geh du nur. Ich will nur eine Weile hier
liegenbleiben.« Perrin legte den Arm wieder über die
Augen. »Geh du nur vor. Ich komme in ein oder zwei
Stunden nach.«
»Du bist der Leidtragende«, sagte Rand beim
Aufstehen. »Denk mal daran, was du alles versäumst.« E r
blieb an der Tür noch einmal stehen. »Baerlon. Wie oft
haben wir darüber gesprochen, daß wir eines Tages
Baerlon sehen wollten!« Perrin lag mit bedeckten Augen
da und sagte kein Wort. Kurz darauf verließ Rand das
Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
Im Flur lehnte er sich an die Wand. Sein Lächeln
verflog. Sein Kopf schmerzte nach wie vor, und zwar
schlimmer als zuvor. Er konnte nicht mehr viel
Begeisterung für Baerlon empfinden. Er konnte überhaupt
keine Begeisterung für irgend etwas aufbringen.
Ein Zimmermädchen kam mit einem Arm voller
Bettlaken an ihm vorbei und sah ihn besorgt an. Bevor sie
etwas sagen konnte, eilte er den Flur entlang und schlüpfte
in seinen Umhang. Thom würde noch stundenlang im
Schankraum beschäftigt sein. Er konnte sich also
genausogut die Stadt anschauen. Vielleicht würde er Mat
aufspüren und herausfinden, ob Ba'alzamon auch durch
seine Träume gegeistert war. Er ging diesmal langsamer
die Treppe hinunter und rieb sich die Schläfen.
Die Treppe führte zur Küche, und so wählte er diesen
Weg nach draußen. Er nickte Sara zu, doch dann beeilte
er sich, als sie allem Anschein nach ihre Unterhaltung
wieder aufnehmen wollte. Der Stallhof war fast leer. Nur
Mutch, der an der Stalltür stand, und einer der
Stallknechte, der einen Sack auf der Schulter hatte und ihn
in die Ställe trug, befanden sich dort. Rand nickte Mutch
zu, aber der Pferdepfleger warf ihm einen gehässigen
Blick zu und ging hinein. Er hoffte, die übrigen Städter
würden eher Sara ähneln als Mutch. Er war neugierig,
den Charakter dieser Stadt kennenzulernen, und
beschleunigte seine Schritte.
Am offenen Tor des Stallhofes blieb er stehen und sah
sich um. Die Straßen waren von Menschen gefüllt wie ein
Pferch mit Schafen. Die Menschen waren bis zu den
Augen in Umhänge und Mäntel gehüllt, hatten die Hüte
zum Schutz gegen die Kälte tief heruntergezogen und
begaben sich mit schnellen Schritten in die Menge hinein
oder wieder heraus, als bliese der über die Dächer
pfeifende Wind sie immer weiter. Achtlos schoben sie sich
aneinander vorbei, grußlos und ohne die anderen
anzuschauen. Alles Fremde, dachte er. Keiner von ihnen
kennt den anderen.
Auch die Gerüche waren fremdartig, scharf und sauer
und süß, alles zu einem Durcheinander vermischt, das ihn
in der Nase juckte. Noch nicht einmal auf dem Höhepunkt
eines Festes hatte er bisher erlebt, daß sich so viele
Menschen zusammendrängten. Nicht einmal halb so viele.
Und dies war nur eine einzige Straße. Die ganze Stadt...
War es überall so? Er trat langsam vom Tor zurück nach
hinten, weg von dieser mit Menschen gefüllten Straße. Es
war nicht richtig, wegzugehen und Perrin krank im Bett
zurückzulassen. Und wenn Thom mit dem Erzählen fertig
würde, während er noch draußen in der Stadt war? Der
Gaukler würde dann vielleicht selbst ausgehen, und Rand
mußte mit jemandem sprechen. Viel besser, ein wenig zu
warten. Er atmete erleichtert auf, als er der überfüllten
Straße den Rücken kehrte.
Bei seinem Kopfweh hatte er aber auch keine Lust,
zurückzukehren in die Schenke. Er setzte sich auf ein Faß,
das umgedreht an der Rückwand der Schenke stand, und
hoffte, die kalte Luft möge seinem Kopf guttun. Von Zeit
zu Zeit kam Mutch an die Stalltür und starrte ihn an.
Sogar auf die Entfernung konnte Rand die böse Miene des
Burschen deutlich erkennen. Mochte der Mann keine
Leute vom Land? Oder hatte ihn Meister Fitch so in
Verlegenheit gebracht, als er sie begrüßte, nachdem
Mutch versucht hatte, sie zu verscheuchen, als sie von der
Rückseite her hereingekommen waren? Vielleicht ist er
ein Schattenfreund, dachte er. Eigentlich hätte er von sich
erwartet, bei diesem Gedanken zu schmunzeln, aber nun
war es alles andere als lustig. Er streichelte mit der Hand
über den Knauf von Tams Schwert. Es gab überhaupt
kaum noch etwas Lustiges.
»Ein Schafhirte mit einem Schwert, das ein
Reiherzeichen trägt«, sagte eine leise Frauenstimme. »Da
kann man ja gleich alles glauben. In welchen
Schwierigkeiten steckst du denn, Junge vom Land?«
Überrascht sprang Rand auf. Es war die junge Frau mit
dem kurzgeschnittenen Haar, die bei Moiraine gestanden
hatte, als er aus dem Bad kam. Sie trug immer noch Hosen
und Mantel eines Jungen. Sie war ein wenig älter als er,
wie er glaubte, und hatte dunkle Augen, noch größer als
Egwenes Augen und seltsam intensiv im Blick. »Du heißt
Rand, nicht wahr?« fuhr sie fort. »Ich heiße Min.«
»Ich bin nicht in Schwierigkeiten«, sagte er. Er hatte
keine Ahnung, was Moiraine ihr alles erzählt hatte, aber
er erinnerte sich an Lans Weisung, keine Aufmerksamkeit
zu erregen. »Wieso glaubst du, ich sei in Schwierigkeiten?
Die Zwei Flüsse sind ein ruhiges Gebiet, und wir sind alle
ruhige Leute. Kein Ort für Schwierigkeiten, es sei denn,
sie hängen mit der Ernte oder den Schafen zusammen.«
»Ruhig?« fragte Min mit leichtem Lächeln. »Ich habe
gehört, was man über euch Zwei-Flüsse-Leute so sagt. Ich
habe die Witze gehört, die man über holzköpfige Schäfer
gerissen hat, aber es gibt auch Männer, die wirklich dort
unten gewesen sind.«
»Holzköpfe?« fragte Rand mit finsterer Miene. »Was
für Witze?«
»Diejenigen, die euch kennen«, fuhr sie fort, als habe
er nichts gesagt, »berichten, daß ihr immer lächelnd und
höflich herumlauft, so sanft und butterweich im
Verhalten. Jedenfalls an der Oberfläche. Darunter, sagen
sie, seid ihr so zäh wie alte Eichenwurzeln. Wenn du sie
zu hart anpackst, behaupten sie, beißt du auf Granit. Aber
in dir und deinen Freunden liegt der Granit ziemlich an
der Oberfläche. Es ist, als hätte ein Sturm die Erde
weggeblasen, die ihn bedeckte. Moiraine hat mir nicht
alles erzählt, aber ich habe ja Augen im Kopf.«
Alte Eichenwurzeln? Granit? Das klang kaum nach den
Geschichten der Händler und anderer Leute. Der letzte
Satz allerdings ließ ihn zusammenfahren.
Er sah sich schnell um. Der Stallhof war leer und die
nächsten Fenster geschlossen. »Ich kenne niemanden
namens – wie war der Name doch gleich wieder?«
»Also dann eben Frau Alys, wenn dir das lieber ist«,
sagte Min mit belustigtem Blick, der Rand die Röte in die
Wangen trieb. »Es ist niemand in der Nähe, der uns
belauschen könnte.«
»Wieso glaubst du, daß Frau Alys noch einen anderen
Namen hat?«
»Weil sie es mir erzählt hat«, sagte Min so geduldig,
daß er schon wieder errötete. »Allerdings hatte sie keine
andere Wahl, denke ich. Ich erkannte, daß sie... anders
war... gleich vom ersten Augenblick an... als sie auf dem
Weg zu euch hier vorbeikam. Sie erkannte mich ebenfalls.
Ich habe früher schon mit... anderen von ihrer Art
gesprochen.«
»Du erkanntest – sie?« fragte Rand.
»Na ja, ich glaube nicht, daß du gleich zu den Kindern
rennen wirst. Vor allem, wenn man bedenkt, wer deine
Reisegenossen sind. Den Weißmänteln würde das, was ich
tue, genausowenig gefallen wie das, was sie tut.«
»Ich verstehe nicht.«
»Sie sagt, daß ich Teile des Musters sehen kann.« Min
lachte kurz und schüttelte den Kopf. »Hört sich toll an –
zu toll, was mich betrifft. Ich sehe einfach nur Dinge,
wenn ich die Leute anblicke, und manchmal weiß ich, was
sie wirklich wollen. Ich sehe einen Mann und eine Frau
an, die noch nie miteinander gesprochen haben, und weiß,
daß sie heiraten werden. Und das tun sie dann auch. Das
sind die Dinge, die ich sehe. Sie wollte, daß ich dich
kennenlerne. Euch alle zusammen.«
Rand schauderte. »Und was hast du gesehen?«
»Wenn ihr alle zusammen seid? Funken schwirren um
euch herum, Tausende, und ein großer Schatten, dunkler
als Mitternacht. Diese Erscheinung ist so stark, daß ich
mich schon fast frage, warum es nicht jeder sieht. Die
Funken versuchen, den Schatten zu füllen, und der
Schatten versucht, die Funken zu verschlingen.« Sie zuckte
die Achseln. »Ihr seid alle in irgend etwas Gefährlichem
verstrickt, und ich kann einfach nicht mehr darüber
herausfinden.«
»Wir alle?« murmelte Rand. »Auch Egwene? Aber sie
waren nicht hinter... Ich meine...«
Min schien seinen Versprecher nicht zu bemerken.
»Das Mädchen? Sie gehört auch dazu. Und der Gaukler.
Ihr alle. Und du bist in sie verliebt.« Er sah sie entgeistert
an. »Das kann ich sagen, ohne mein inneres Auge
bemühen zu müssen. Sie liebt dich auch, aber sie ist nicht
für dich bestimmt und du nicht für sie. Jedenfalls nicht in
der Art, die ihr euch beide wünscht.«
»Was soll das heißen?«
»Wenn ich sie ansehe, erblicke ich das gleiche wie bei...
Frau Alys. Auch andere Dinge, die ich nicht verstehe,
doch zumindest weiß ich, was das bedeutet. Sie wird es
nicht verweigern.«
»Das ist doch alles Unsinn«, sagte Rand unsicher. Sein
Kopfweh verflog langsam; der Kopf war wie taub, als ob
man ihn voll Wolle gepackt hätte. Er wollte weg von
diesem Mädchen und den Dingen, die sie sah. Und doch...
»Was siehst du, wenn du den Rest von uns anblickst?«
»Alles mögliche«, sagte Min mit einem Lächeln, als
wisse sie, was er wirklich fragen wollte. »Der Krieg...
äh... Meister Andra hat sieben zerstörte Festungen um den
Kopf und ein Kind in der Wiege um sich, das ein Schwert
hält und...« Sie schüttelte den Kopf. »Männer wie er –
verstehst du? – haben so viele Bilder um sich herum, daß
ein Bild das andere verdrängt. Die stärksten Eindrücke,
die den Gaukler umgeben: ein Mann – nicht er selbst –,
der Feuer schluckt, und der Weiße Turm. Bei einem
Mann ergibt das überhaupt keinen Sinn. Die stärksten
Eindrücke bei dem großen krausköpfigen Burschen sind
ein Wolf, eine zerbrochene Krone und Bäume, die um ihn
herum blühen. Und bei dem anderen – ein roter Adler,
ein Auge auf einer Waagschale, ein Dolch mit einem
Rubin, ein Horn und ein lachendes Gesicht. Da gibt es
noch mehr, aber ich denke, du siehst, was ich meine.
Diesmal kann ich einfach nichts Rechtes damit anfangen.«
Dann wartete sie, immer noch lächelnd, bis er sich
schließlich räusperte und fragte: »Wie steht's bei mir?«
Ihr Lächeln wurde zu einem offenen Lachen.
»Dieselben Dinge wie bei den anderen. Ein Schwert, das
kein Schwert ist, eine goldene Krone in Form von
Lorbeerblättern, ein Bettelstab, du, wie du Wasser auf
Sand schüttest, eine blutende Hand und ein weißglühendes
Eisen, drei Frauen, die bei einer Beerdigung an der Bahre
stehen, auf der du liegst, schwarzer Fels, naß von Blut...«
»Ist schon gut«, unterbrach er sie verlegen. »Du mußt
nicht alles aufzählen.«
»Vor allem sehe ich Blitze um dich herum. Manche
zucken auf dich zu, manche kommen aus dir heraus. Ich
weiß nicht, was das alles bedeutet, außer bei einer Sache.
Du und ich, wir werden uns wiedersehen.« Sie sah ihn
fragend an, als verstehe sie auch das nicht.
»Warum auch nicht?« fragte er. »Ich werde auf dem
Heimweg wieder hier durchkommen.«
»Ich denke schon.« Plötzlich war ihr Lächeln wieder
da, versonnen und geheimnisvoll, und sie tätschelte ihm
die Wange. »Aber wenn ich dir alles erzähle, was ich sah,
dann wäre dein Haar genauso kraus wie bei deinem
Freund mit den breiten Schultern.«
Er zuckte vor ihrer Hand zurück, als sei sie rotglühend.
»Was meinst du damit? Siehst du irgend etwas über
Ratten? Oder Träume?«
»Ratten! Nein, keine Ratten. Und was die Träume
betrifft, vielleicht träumst du so was gern, aber ich habe
sonst nie davon geträumt.«
Er fragte sich, ob sie übergeschnappt sei, so lächelte sie
ihn an. »Ich muß gehen«, sagte er und schob sich an ihr
vorbei. »Ich... ich muß meine Freunde treffen.«
»Also geh. Aber du wirst nicht entkommen.«
Er rannte nicht gerade weg, wurde aber doch mit
jedem Schritt etwas schneller. »Renn, wenn du willst!«
rief sie ihm nach. »Du kannst mir nicht entkommen.«
Ihr Lachen verfolgte ihn über den Hof und hinaus auf
die Straße in das Menschengewühl hinein. Ihre letzten
Worte glichen zu sehr denen von Ba'alzamon. Er rempelte
Leute an, als er sich durch die Menge schob, was ihm
scharfe Blicke und böse Worte einbrachte, aber er
verlangsamte seine Schritte nicht, bis er einige Straßen
von der Schenke entfernt war.
Nach einer Weile begann er, wieder auf seine
Umgebung zu achten. Sein Kopf fühlte sich an wie ein
Ballon, aber er sah sich trotzdem um und genoß den
Anblick. Er fand, Baerlon war schon eine tolle Stadt,
wenn auch nicht auf dieselbe Art wie die Städte in Thoms
Geschichten. Er wanderte durch breite Straßen, meist mit
großen Platten gepflastert, und durch kleine gewundene
Gassen, wohin auch immer der Zufall und die
Menschenmenge ihn trieben. Es hatte in der Nacht
geregnet, und die ungepflasterten Straßen waren von der
Menge bereits zu Matsch zertrampelt worden. Doch
schlammige Straßen waren für ihn nichts Neues. Keine
der Straßen in Emondsfeld war gepflastert.
Es gab nun bestimmt auch keine Paläste, und nur
wenige Häuser waren sehr viel größer als die zu Hause,
aber jedes Haus hatte ein Ziegel- oder Schieferdach, das
genauso schön war wie das der Weinquellenschenke. E r
schätzte, daß es in Caemlyn vielleicht ein oder zwei
Paläste gab. Was Schenken betraf, so zählte er neun, und
keine davon war kleiner als die Weinquelle. Die meisten
waren genauso groß wie der ›Hirsch und Löwe‹, und es
gab ja noch eine Menge Straßen, die er nicht gesehen
hatte.
An jeder Straße gab es Läden mit Markisen, die mit
Waren vollgeladene Tische schützten. Man bekam alles –
vom Stoff, über Bücher bis zu Töpfen und Stiefeln. Es
war, als hätten hundert Händlerwagen ihren Inhalt
verstreut. Er sah sich alles so auffällig an, daß er mehr als
einmal unter den mißtrauischen Blicken eines
Ladeninhabers flüchten mußte. Beim ersten Ladeninhaber
hatte er noch nicht verstanden, warum er ihn so ansah. Als
er endlich kapierte, wurde er zuerst wütend, bis er sich
daran erinnerte, daß er hier der Fremde war. Er hätte
sowieso nicht viel kaufen können. Er schnappte nach Luft,
als er sah, wie viele Kupfermünzen man für ein Dutzend
verfärbte Äpfel oder eine Handvoll verschrumpelter
Rüben hinlegen mußte – die man bei den Zwei Flüssen an
die Pferde verfüttert hätte, aber die Leute zahlten ganz
eifrig.
Es gab hier für seinen Geschmack wirklich mehr als
genug Leute. Für eine Weile überwältigte ihn der Anblick
der Massen beinahe. Einige trugen feinere Kleider, als
irgend jemand in den Zwei Flüssen besaß – beinahe die
Qualität von Moiraines Kleidung –, und recht viele waren
in pelzbesetzte lange Mäntel gehüllt, die bis zu den
Knöcheln reichten. Die Bergarbeiter, von denen man in
der Schenke soviel geredet hatte, gingen gebeugt einher
wie alle Männer, die unter der Erde gruben. Doch die
meisten Menschen sahen auch nicht anders aus als jene,
mit denen er aufgewachsen war, weder was die Gesichter
noch was die Kleidung betraf. Er hatte irgendwie mehr
Unterschiede erwartet. Und nun erinnerten ihn manche
Gesichter so sehr an die Zwei Flüsse, daß er sich
vorstellen konnte, sie gehörten der einen oder anderen
Familie an, die er aus der Gegend von Emondsfeld kannte.
Ein zahnloser grauhaariger Bursche mit Ohren wie die
Henkel an einem Bierkrug, der auf einer Bank vor einer
Schenke saß und trauernd in den leeren Humpen blickte,
hätte sehr wohl ein Vetter Bili Congars sein können. Der
Schneider mit dem kantigen Kinn, der vor seinem Laden
nähte, mochte Jon Thanes Bruder sein – bis hin zu dem
kahlen Fleck auf dem Hinterkopf. Ein Beinahe-Spiegelbild
von Samel Crawe drängte sich an Rand vorbei, als er um
eine Ecke kam und...
Ungläubig starrte er den kleinen hageren Mann mit
langen Armen und großer Nase an, der sich hastig durch
die Menge schob. Seine Kleider wirkten wie ein Bündel
Lumpen. Die Augen waren von dunklen Ringen umgeben,
und das Gesicht wirkte eingefallen, als hätte er tagelang
nicht geschlafen und nichts gegessen, aber Rand hätte
schwören können... Der zerlumpte Mann sah ihn und
erstarrte mitten im Schritt. Er achtete nicht auf die
Menschen, die ihn aus Versehen beinahe anrempelten.
Rands letzter Zweifel verschwand.
»Meister Fain!« rief er. »Wir dachten alle, Ihr wärt...«
Schnell wie der Blitz eilte der Händler davon, aber
Rand lief ihm hinterher. Er rief den Leuten, die er
anrempelte, über die Schulter Entschuldigungen zu. Durch
die Menge hindurch erhaschte er einen Blick auf Fain, als
dieser gerade in eine Gasse rannte. Rand bog hinter ihm in
dieselbe Gasse ein. Der Händler war nach ein paar
Schritten stehengeblieben. Ein hoher Zaun machte die
Gasse zu einer Sackgasse. Als Rand sich abfing und mit
Mühe stehenblieb, tat Fain so, als wolle er gleich über ihn
herfallen. Er duckte sich, zog sich dann aber zurück. Mit
schmutzigen Händen bedeutete er Rand, nicht näher zu
kommen. In seinem Mantel war mehr als ein Riß zu
erkennen, und der Umhang war so abgetragen und
zerfleddert, als sei er eher mißbraucht als getragen
worden. »Meister Fain«, fragte Rand zögernd, »was ist
los? Ich bin es, Rand al'Thor aus Emondsfeld. Wir
dachten alle, die Trollocs hätten Euch
gefangengenommen.«
Fain gestikulierte mit abgehackten Bewegungen und
rannte gebückt ein paar Schritte in Richtung auf das
offene Ende der Gasse zu. Er versuchte aber nicht, an
Rand vorbeizukommen oder sich ihm auch nur zu nähern.
»Nicht!« krächzte er. Sein Kopf war ständig in Bewegung,
da er sich bemühte, die Straße jenseits von Rand immer
im Auge zu behalten. »Erwähne nicht...« Seine Stimme
wurde zu einem heiseren Flüstern. Er drehte den Kopf
weg und beobachtete Rand von der Seite her. »Erwähne
sie nicht! Es sind Weißmäntel in der Stadt.«
»Sie haben keinen Grund, uns zu belästigen«, sagte
Rand. »Kommt mit zurück zum ›Hirsch und Löwen‹! Ich
bin dort mit meinen Freunden. Ihr kennt die meisten von
ihnen. Sie werden sich freuen, Euch zu sehen. Wir
dachten alle, Ihr wärt tot.«
»Tot?« fauchte der Händler beleidigt. »Nicht Padan
Fain. Padan Fain weiß, wie man wieder auf den Füßen
landet.« Er richtete seine Lumpenkleider, als seien sie ein
Festtagsgewand. »Das habe ich immer geschafft, und das
werde ich auch immer schaffen. Ich werde lange leben.
Länger als...« Plötzlich straffte sich sein Gesicht, und die
Hände verkrampften sich in dem Vorderteil seines
Mantels. »Sie haben meinen Wagen und alle Waren
verbrannt. Hatten keinen Grund, das zu tun, nicht wahr?
Ich konnte meine Pferde nicht holen. Meine Pferde, aber
dieser fette alte Wirt ließ sie in seinen Stall sperren. Ich
mußte schnell entkommen, um meinen Hals zu retten, und
was habe ich davon? Alles, was mir bleibt, sind die
Sachen, die ich anhabe. Ist das etwa anständig? Wirklich?«
»Eure Pferde sind in Sicherheit in Meister al'Veres
Stall. Ihr könnt sie jederzeit abholen. Wenn Ihr mit mir
zur Schenke kommt, sorgt Moiraine sicher dafür, daß Ihr
zu den Zwei Flüssen zurückkommt.«
»Aaaah! Sie ist... sie ist die Aes Sedai, ja?« Fains
Gesicht nahm einen lauernden Ausdruck an. »Vielleicht
aber auch...« Er schwieg und leckte sich nervös über die
Lippen. »Wie lange bleibt Ihr in dieser... Wie heißt das?
Wie hast du die Schenke genannt? ›Hirsch und Löwe‹?«
»Wir reisen morgen ab«, sagte Rand. »Aber was hat
das mit...«
»Du kannst das einfach nicht nachfühlen«, winselte
Fain, »wie du da mit vollem Bauch und nach einer Nacht
in einem weichen Bett dastehst. Ich habe seit der bewußten
Nacht kaum ein Auge zugetan. Meine Stiefel sind fast
durchgelaufen, und was ich essen mußte...« Sein Gesicht
verzog sich. »Ich will mich lieber meilenweit entfernt von
einer Aes Sedai aufhalten« – bei diesem Namen spuckte er
beinahe aus –, »meilenweit, aber vielleicht muß ich doch...
Ich habe keine Wahl, nicht wahr? Der Gedanke, daß sie
mich ansieht, daß sie überhaupt weiß, wo ich mich
aufhalte...« Er streckte die Hände nach Rand aus, als wolle
er ihn am Mantel packen, doch hielt er kurz davor
zitternd inne und trat statt dessen einen Schritt zurück.
»Versprich mir, daß du ihr nichts erzählst. Ich habe Angst
vor ihr. Es ist nicht notwendig, ihr von mir zu erzählen.
Eine Aes Sedai muß nicht wissen, daß ich noch lebe. Du
mußt es mir versprechen. Du mußt!«
»Ich verspreche es«, sagte Rand in beruhigendem Ton.
»Aber Ihr habt keinen Grund, Euch vor ihr zu fürchten.
Kommt mit! Zumindest bekommt Ihr dann eine heiße
Mahlzeit.«
»Vielleicht. Vielleicht.« Fain rieb sich nachdenklich das
Kinn. »Morgen, sagst du? Während dieser Zeit... Du wirst
dein Versprechen doch nicht vergessen? Du erzählst ihr
bestimmt nicht...?«
»Ich werde dafür sorgen, daß sie Euch nichts tut«,
versprach Rand und fragte sich insgeheim, wie er wohl
eine Aes Sedai aufhalten sollte, was auch immer sie
vorhatte.
»Sie wird mir nichts tun«, sagte Fain. »Nein, das wird
sie nicht. Ich lasse es nicht zu.« Wie der Blitz schnellte er
an Rand vorbei und verschwand in der Menge.
»Meister Fain!« rief Rand. »Wartet!«
Er rannte gerade rechtzeitig aus der Sackgasse heraus,
um einen zerfledderten Mantel um die nächste Ecke
herum verschwinden zu sehen. Er rief nochmals nach Fain
und rannte hinterher. Als er um die Ecke flitzte, konnte er
gerade noch den Rücken eines Mannes sehen, bevor er
auch schon mit ihm zusammenstieß. Sie beide landeten
aufeinander im Matsch.
»Kannst du nicht aufpassen, wohin du rennst?« kam
eine Stimme unter ihm hervor, und Rand rappelte sich
überrascht hoch.
»Mat?«
Mat setzte sich mit vorwurfsvollem Blick auf und
streifte mit den Händen den Matsch von seinem Umhang.
»Du scheinst dich wirklich in einen Stadtmenschen zu
verwandeln. Den ganzen Morgen schlafen und dann Leute
über den Haufen rennen.« Er stand auf, betrachtete seine
verschmierten Hände, fluchte leise und wischte sie sich am
Umhang ab. »Paß mal auf! Du wirst nie erraten, wen ich
gerade eben sah.«
»Padan Fain«, sagte Rand.
»Padan Fa... Woher weißt du das?«
»Ich habe mit ihm gesprochen, aber er rannte weg.«
»Also haben die Tro...« Mat hielt inne und sah sich
mißtrauisch um, doch die Menge marschierte vorbei, ohne
ihnen die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Rand
war froh, daß Mat ein wenig vorsichtiger geworden war.
»Also haben sie ihn nicht erwischt. Ich frage mich, warum
er Emondsfeld so heimlich verlassen hat. Möglich, daß er
weglief und nicht mehr innehielt, bis er hier ankam. Aber
warum ist er jetzt wieder weggelaufen?«
Rand schüttelte den Kopf und verwünschte die
Bewegung gleich wieder. Es war ein Gefühl, als werde
ihm der Kopf gleich abfallen. »Ich weiß auch nicht...
außer er hat Angst vor M... vor Frau Alys.« Es war nicht
leicht, die Zunge immer im Zaum zu halten. »Sie soll
nicht erfahren, daß er hier ist. Ich mußte ihm
versprechen, daß ich es ihr nicht erzähle.«
»Also, dieses Geheimnis werde ich auch wahren«, sagte
Mat. »Ich wünschte, sie wüßte auch nicht, wo ich bin.«
»Mat?« Die Leute strömten immer noch vorbei, ohne
sie zu beachten, aber Rand senkte trotzdem die Stimme
und beugte sich näher zu Mat hinüber. »Mat, hattest du
letzte Nacht einen Alptraum? Von einem Mann, der eine
Ratte tötete?«
Mat sah ihn mit großen Augen an. »Du auch?« fragte er
schließlich. »Und Perrin auch, schätze ich. Ich hätte ihn
heute morgen beinahe gefragt, aber... Er muß es auch
geträumt haben. Blut und Asche! Jetzt bringt uns jemand
dazu, scheußliche Dinge zu träumen. Rand, ich wünschte,
niemand wüßte, wo ich bin.«
»Heute morgen lagen überall in der Schenke tote Ratten
herum.« Er fühlte die Angst nicht in solchem Maß in sich
aufsteigen, wie er sie vorher beim Erzählen noch gefühlt
hätte. Er fühlte überhaupt nicht viel. »Ihr Rückgrat war
gebrochen.« Die eigene Stimme hallte ihm in den Ohren
wider. Falls er krank wurde, mußte er zu Moiraine gehen.
Er war überrascht, daß ihn der Gedanke, die Eine Macht
werde bei ihm angewandt, nicht weiter störte. Mat holte
tief Luft und blickte sich um, als überlege er, wohin er
gehen könne. »Was geschieht mit uns, Rand? Was?«
»Ich weiß es nicht. Ich werde Thom um Rat fragen. Ob
ich... jemandem davon erzählen soll?«
»Nein! Nicht ihr. Vielleicht ihm, aber ihr nicht.«
Die Schärfe in Mats Reaktion überraschte Rand. »Dann
hast du ihm geglaubt?« Er mußte gar nicht erklären, wen
er mit ›ihm‹ meinte; die Grimasse auf Mats Gesicht
verriet ihm, daß er verstand.
»Nein«, sagte Mat langsam. »Es sind alles
Möglichkeiten... Wenn wir es ihr sagen und er hat
gelogen, dann geschieht vielleicht gar nichts. Vielleicht.
Aber vielleicht ist die Tatsache, daß er in unseren
Träumen war, genug, um... Ich weiß nicht.« Er schwieg
und schluckte. »Wenn wir ihr nichts erzählen, haben wir
vielleicht weitere Träume. Ratten oder nicht, Träume sind
besser als... Erinnerst du dich an die Fähre? Ich sage, wir
halten den Mund.«
»In Ordnung.« Rand erinnerte sich an die Fähre und
auch an Moiraines Drohung, aber alles schien bereits so
weit zurückzuliegen. »In Ordnung.«
»Perrin wird nichts verraten, oder?« fuhr Mat fort. E r
stellte sich auf die Zehenspitzen. »Wir müssen zu ihm
zurück. Wenn er es ihr erzählt, dann kommt es heraus,
daß wir alle diese Träume hatten. Du kannst darauf
wetten. Komm!« Er marschierte strammen Schrittes
durch die Menge. Rand stand da und blickte ihm nach, bis
Mat zurückkam und ihn packte. Bei der Berührung durch
seinen Arm zwinkerte er und folgte dann dem Freund.
»Was ist mit dir los?« fragte Mat. »Schläfst du schon
wieder ein?«
»Ich denke, ich bin erkältet«, sagte Rand. Sein Kopf
war so angespannt wie ein Trommelfell und fast so leer
wie eine Trommel.
»Du kannst etwas Hühnersuppe essen, wenn wir wieder
in der Schenke sind«, sagte Mat. Er schwatzte andauernd
weiter, während sie sich durch die vollen Straßen
drängten. Rand strengte sich an, ihm zuzuhören und sogar
von Zeit zu Zeit etwas einzuwerfen, aber es strengte ihn
an. Er war nicht müde; er wollte nicht schlafen. Er fühlte
sich nur so, als ob er dahintriebe. Nach einer Weile
bemerkte er, daß er Mat von Min erzählte. »Ein Dolch
mit einem Rubin, eh?« fragte Mat. »Das gefällt mir. Aber
ich weiß nichts von dem Auge. Bist du sicher, daß sie es
nicht erfunden hat? Mir scheint, wenn sie wirklich eine
Wahrsagerin ist, müßte sie eigentlich wissen, was das alles
bedeuten soll.«
»Sie sagte nicht, daß sie Wahrsagerin sei«, sagte Rand.
»Ich glaube, sie sieht nur Dinge. Denk daran, Moiraine
sprach mit ihr, als wir badeten. Und sie weiß, wer
Moiraine ist.«
Mat sah ihn vorwurfsvoll an. »Ich dachte, wir sollten
diesen Namen nicht benutzen.«
»Nein«, murmelte Rand. Er rieb sich mit beiden
Händen den Kopf. Es war so schwer, sich auf irgend etwas
zu konzentrieren.
»Ich glaube, du bist wirklich krank«, sagte Mat mit
hochgezogenen Augenbrauen. Plötzlich hielt er Rand am
Mantelärmel fest. »Schau mal die an!«
Drei Männer mit Brustpanzer und konisch zulaufenden
Stahlkappen, die so poliert waren, daß sie wie Silber
glänzten, gingen die Straße hinunter auf Rand und Mat zu.
Sogar die Kettenringe an ihren Armen glänzten. Ihre
langen Umhänge, jungfräulich weiß und mit einem
aufgestickten goldenen Sonnenaufgang auf der linken
Brust, endeten gerade eben über dem Matsch und den
Pfützen der Straße. Ihre Hände ruhten auf den Griffen
ihrer Schwerter, und sie blickten drein, als sähen sie nur
Dinge, die sich unter einem fauligen Baumstamm
hervorringelten. Niemand sah sie an. Niemand schien sie
auch nur zu bemerken. Trotzdem mußten sich die drei
ihren Weg durch die Menge nicht bahnen; sie teilte sich
wie zufällig, wich auf beiden Seiten aus und ließ sie so in
einem leeren Raum einherschreiten, der sich mit ihnen
weiterbewegte. »Glaubst du, sie gehören zu den Kindern
des Lichts?« fragte Mat mit lauter Stimme. Ein Passant
sah Mat böse an und beschleunigte seine Schritte.
Rand nickte. Kinder des Lichts. Weißmäntel. Männer,
die Aes Sedai haßten. Männer, die anderen Leuten
befahlen, wie sie zu leben hatten, und allen denen
Schwierigkeiten bereiteten, die sich zu gehorchen
weigerten. Falls man niedergebrannte Bauernhöfe und
noch Schlimmeres unter ›Schwierigkeiten‹ einordnen
wollte. Ich sollte Angst haben, dachte er. Oder neugierig
sein. Jedenfalls irgendeine Reaktion zeigen. Statt dessen
starrte er sie nur passiv an.
»Für mich sehen sie nicht so toll aus«, meinte Mat.
»Ziemlich von sich eingenommen, nicht wahr?«
»Sie spielen keine Rolle«, sagte Rand. »Die Schenke.
Wir müssen mit Perrin sprechen.«
»Wie Eward Congar. Der hat auch immer seine Nase in
der Luft.« Plötzlich grinste Mat mit glitzernden Augen.
»Erinnerst du dich daran, wie er von der Wagenbrücke
fiel und klitschnaß nach Hause laufen mußte? Das hat ihn
für einen Monat vom hohen Roß geholt.«
»Was hat das mit Perrin zu tun?«
»Siehst du das?« Mat deutete auf einen Karren, der in
einer Einfahrt ein Stück von den Kindern entfernt stand.
Eine einzige Strebe hielt ein Dutzend gestapelter Fässer
auf der Ladefläche des Karrens. »Paß auf!« Lachend
verschwand er im Laden eines Messerschmieds zu ihrer
Linken.
Rand sah ihm nach und wußte, daß Rand etwas anstellen
würde. Dieser Blick in Mats Augen verhieß immer wieder
einen seiner Streiche. Aber seltsamerweise freute er sich
darauf, was Mat wieder anstellen würde. Irgend etwas
sagte ihm, daß dieses Gefühl falsch war, ja sogar
gefährlich, aber trotzdem lächelte er erwartungsvoll.
Nach einer Minute erschien Mat über ihm. Er beugte sich
aus einem Giebelfenster im Ziegeldach des Ladens. In den
Händen hielt er seine Schleuder. Sie begann sich bereits zu
drehen. Rands Augen wanderten zu dem Karren zurück.
Beinahe im gleichen Moment hörte er einen scharfen
Knall und die Strebe, die die Fässer hielt, zerbrach, just in
dem Moment, als die Weißmäntel sich daneben befanden.
Menschen sprangen aus dem Weg, als die Fässer mit
hohlem Poltern herunterrollten und auf der Straße
aufprallten. Matsch und schmutziges Wasser spritzten nach
allen Seiten. Die drei Männer sprangen nicht weniger
schnell als die anderen. Die Überlegenheit in ihrem Blick
verwandelte sich in Bestürzung. Ein paar Passanten fielen
hin. Es platschte wieder. Doch die drei bewegten sich
geschickt und mieden mühelos den Aufprall der Fässer.
Allerdings konnten sie dem herumfliegenden Schmutz
nicht ausweichen, und so wurden ihre weißen Umhänge
bespritzt.
Ein bärtiger Mann in einer langen Schürze eilte aus der
Einfahrt, schwenkte die Arme und schrie zornig, doch ein
Blick auf die drei, die vergebens versuchten, den Schmutz
von ihren Umhängen abzustreifen, und er verschwand
schneller wieder in seiner Einfahrt, als er
herausgekommen war. Rand sah zu dem Dach des Ladens
hinauf; Mat war weg. Es war ein leichter Schuß für einen
Jungen der Zwei Flüsse gewesen, aber die Wirkung
übertraf fast noch die Absicht. Er konnte nicht anders – er
mußte lachen. Der Humor schien in Wolle gehüllt, aber
die Szene wirkte trotzdem noch lustig. Als er sich wieder
der Straße zuwandte, sahen ihn die drei Weißmäntel an.
»Du findest irgend etwas lustig, wie?« Der Sprecher stand
ein wenig vor den anderen. Er wirkte hochmütig, und in
seinen Augen stand geschrieben, daß er etwas sehr
Wichtiges wußte, er allein und niemand anders.
Rands Lachen erstarb. Er und die Weißmäntel standen
allein zwischen Matsch und Fässern. Die Menge, die sich
vorher noch um sie gedrängt hatte, hatte offenbar die
Straße hinauf oder hinunter Wichtiges zu tun.
»Schweigt deine Zunge aus Angst vor dem Licht?« Der
Zorn machte das schmale Gesicht des Weißmantels noch
schmaler und härter, als es von Haus aus war. Er blickte
verächtlich auf den Schwertknauf, der unter Rands
Umhang sichtbar war. »Vielleicht bist du dafür
verantwortlich, wie?« Im Unterschied zu den anderen trug
er unter dem Sonnenzeichen noch einen goldenen Knoten.
Rand wollte sein Schwert bedecken, aber statt dessen
schob er seinen Umhang nach hinten zurück. Im
Hinterkopf fragte er sich verzweifelt, was er da tat, aber
es war nur ein entfernter Gedanke. »Unfälle geschehen
nun mal«, sagte er. »Auch bei den Kindern des Lichts.«
Der Mann mit dem schmalen Gesicht hob eine
Augenbraue. »Bist du so gefährlich, Jüngling?« Er war
nicht viel älter als Rand.
»Das Reiherzeichen, Lord Bornhald«, sagte einer der
anderen warnend.
Der schmalgesichtige Mann sah noch einmal Rands
Schwertknauf an – der bronzene Reiher war klar zu sehen
–, und seine Augen weiteten sich für einen Moment. Dann
erhob er den Blick zu Rands Gesicht und schniefte voller
Verachtung. »Er ist zu jung. Du bist nicht von hier, wie?«
fragte er Rand kalt. »Woher kommst du?«
»Ich bin gerade in Baerlon angekommen.« Ein Schauer
rann über Rands Arme und Beine. Er fühlte sich erhitzt,
beinahe sommerlich warm. »Ihr kennt wohl keine gute
Schenke hier, oder?«
»Du weichst meinen Fragen aus«, fauchte Bornhald.
»Was hast du Böses in dir, daß du mir nicht antwortest?«
Seine Begleiter traten an seine Seite, die Gesichter hart
und ausdruckslos. Trotz der Schmutzflecken auf ihren
Umhängen war jetzt nichts mehr Lustiges an ihnen.
Ein Kribbeln erfüllte Rand; die Hitze war zu einem
Fieber geworden. Er wollte lachen; das war so ein schönes
Gefühl. Eine dünne Stimme in seinem Hinterkopf rief ihm
zu, daß etwas nicht stimme, aber er konnte nur daran
denken, wie energieerfüllt er sich fühlte. Er platzte
beinahe vor Energie. Lächelnd verlagerte er sein Gewicht
auf die Fersen und wartete darauf, was wohl geschehen
werde. Ganz undeutlich und entfernt fragte er sich, was es
wohl sein werde.
Das Gesicht des Anführers verfinsterte sich. Einer der
anderen zog sein Schwert ein Stück aus der Scheide und
sagte mit zornbebender Stimme: »Wenn die Kinder des
Lichts dich etwas fragen, du grauäugiger Bauerntölpel,
dann erwarten sie Antworten, oder...« Er hielt inne, als
der schmalgesichtige Mann ihm einen Arm über die Brust
legte. Bornhald bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung,
er solle die Straße hinaufblicken.
Die Stadtwache war eingetroffen, ein Dutzend Männer
mit runden Stahlkappen und metallbeschlagenen
Lederwämsern. Sie trugen ihre Schlagstöcke, als wüßten
sie damit umzugehen. Sie standen da und beobachteten
schweigend die Szene aus etwa zehn Schritten Entfernung.
»Diese Stadt hat das Licht vergessen«, grollte der Mann
mit dem halbgezogenen Schwert. Er erhob die Stimme
und rief der Wache zu: »Baerlon steht im Schatten des
Dunklen Königs!« Auf eine Geste Bornhalds hin rammte
er sein Schwert wieder in die Scheide.
Bornhald wandte seine Aufmerksamkeit wieder Rand
zu. Das Licht der Erkenntnis brannte in seinen Augen.
»Schattenfreunde entkommen uns nicht, Jüngling, nicht
einmal in einer Stadt, die im Schatten steht. Wir treffen
uns wieder. Da kannst du sicher sein!«
Er drehte sich auf der Stelle um und schritt weiter,
seine beiden Begleiter dicht hinter ihm, als hätte Rand zu
existieren aufgehört. Zumindest für diesen Augenblick.
Als sie den dicht bevölkerten Teil der Straße erreichten,
öffnete sich der gleiche scheinbar zufällige Freiraum wie
zuvor, um sie durchzulassen. Die Wachen zögerten und
sahen Rand an. Dann schulterten sie ihre Schlagstöcke und
folgten den drei Weißgekleideten. Sie mußten sich durch
die Menge schieben und riefen deshalb: »Platz für die
Wache!« Nur wenige machten ihnen murrend Platz.
Rand balancierte immer noch auf den Fersen und
wartete. Das Prickeln war so stark, daß er beinahe
zitterte; er fühlte sich so, als verbrenne er innerlich.
Mat trat aus dem Laden und starrte ihn an. »Du bist
nicht krank«, sagte er schließlich. »Du bist verrückt!«
Rand atmete tief ein, und mit einem Schlag war alles
vorbei wie eine geplatzte Seifenblase. Er taumelte, als ihm
bewußt wurde, was er getan hatte. Er leckte sich die
Lippen und bemühte sich, Mats Blick standzuhalten. »Ich
denke, wir kehren jetzt besser zur Schenke zurück«, sagte
er unsicher.
»Ja«, sagte Mat. »Ja, ich glaube auch, das ist das beste.«
Die Straße hatte sich langsam wieder gefüllt, und mehr
als ein Passant sah die beiden Jungen an und murmelte
einem Begleiter etwas zu. Rand war sicher, daß sich die
Geschichte wie ein Lauffeuer ausbreiten würde. Ein
Verrückter hatte versucht, sich mit drei Kindern des
Lichts herumzustreiten. Das war ein guter Gesprächsstoff.
Vielleicht treiben die Träume mich zum Wahnsinn.
Die beiden verliefen sich mehrmals in den
unregelmäßig angelegten Straßen, doch nach einer Weile
schlossen sie sich Thom Merrilin an, der allein wie eine
ganze Prozession wirkte, als er so durch die Menge
stolzierte. Der Gaukler sagte, er sei hier, um sich etwas
die Beine zu vertreten und frische Luft zu schnappen, aber
immer wenn jemand seinen vielfarbigen Umhang näher
betrachtete, verkündete er mit hallender Stimme: »Ich
werde nur heute abend im ›Hirsch und Löwen‹ auftreten.«
Es war Mat, der ziemlich wirr von dem Traum von
ihrem Problem zu erzählen begann und, ob sie Moiraine
davon etwas sagen sollten oder nicht, aber Rand griff dann
und wann ein, denn es gab Unterschiede in ihren
Erinnerungen. Vielleicht war ja auch jeder Traum ein
bißchen anders, dachte er. Der Hauptteil der Träume war
allerdings jeweils der gleiche.
Sie waren mit dem Erzählen noch nicht weit
gekommen, als Thom ihnen endlich die volle
Aufmerksamkeit widmete. Als Rand Ba'alzamon
erwähnte, packte der Gaukler beide Jungen an den
Schultern und befahl ihnen, den Mund zu halten, erhob
sich auf Zehenspitzen, um über die Köpfe der Menge
blicken zu können, und führte sie dann aus dem Gewühl in
eine Sackgasse, die bis auf ein paar Kisten und einen
abgemagerten hellbraunen Hund, der in einer Ecke vor
der Kälte Schutz suchte, leer war.
Thom blickte in die Menge hinaus und suchte nach
Leuten, die möglicherweise stehenblieben, um sie zu
belauschen, bevor er sich wieder Rand und Mat zuwandte.
Der Blick aus seinen blauen Augen bohrte sich in ihren
Blick, zwischendurch aber wanderte er in Richtung
Straßeneinmündung. »Sagt niemals mehr diesen Namen,
wenn Fremde zuhören können.« Seine Stimme war leise,
aber sehr eindringlich. »Nicht einmal dort, wo ein
Fremder vielleicht zuhören könnte. Es ist ein sehr
gefährlicher Name, sogar dann, wenn sich keine Kinder
des Lichts auf den Straßen befinden.«
Mat schnaubte. »Ich könnte dir etwas über die Kinder
des Lichts erzählen«, sagte er mit einem sarkastischen
Seitenblick auf Rand. Thom überhörte die Bemerkung.
»Wenn nur einer von euch diesen Traum gehabt hätte...«
Er zupfte zornig an seinem Schnurrbart. »Sagt mir alles,
woran ihr euch erinnern könnt. Jede Einzelheit.«
Während er zuhörte, blieb er stets wachsam und
beobachtete die Straße. »... er nannte die Namen von
Männern, die angeblich benutzt wurden«, sagte Rand
schließlich. Er war sicher, alles andere berichtet zu haben.
»Guaire Amalasan. Raolin Dunkelbann.«
»Davian«, fügte Mat hinzu, bevor Rand weitersprechen
konnte. »Und Yurian Steinbogen.«
»Und Logain«, beendete Rand die Aufzählung.
»Gefährliche Namen«, sagte Thom leise. Seine Augen
schienen sie noch eindringlicher als zuvor zu
durchbohren. »Fast genauso gefährlich wie jener andere,
so oder so. Alle sind tot bis auf Logain. Einige davon
schon lange. Raolin Dunkelbann seit beinahe zweitausend
Jahren. Aber immer noch gefährlich. Am besten sprecht
ihr die Namen nicht laut aus, selbst wenn ihr allein seid.
Die meisten Leute können nichts damit anfangen, aber
wenn der Falsche zuhört...«
»Aber wer waren sie?« fragte Rand.
»Männer«, murmelte Thom, »Männer, die an den
Säulen des Himmels rüttelten und die Grundmauern der
Welt erschütterten.« Er schüttelte den Kopf. »Es spielt
keine Rolle. Vergeßt sie. Sie sind zu Staub geworden.«
»Haben die... wurden sie benutzt, wie er behauptete?«
fragte Mat. »Und getötet?«
»Man könnte sagen, daß der Weiße Turm sie getötet
hat. Man könnte das durchaus sagen.« Thoms Mund
verzog sich einen Augenblick lang, und dann schüttelte er
nochmals den Kopf. »Aber benutzt...? Nein, das kann ich
nicht behaupten. Das Licht weiß, wie viele Intrigen der
Amyrlin-Sitz im Moment wieder schmiedet, aber diese
Sache gehörte nicht dazu, soweit ich das sagen kann.«
Mat lief ein Schauer den Rücken hinunter. »Er hat
soviel behauptet. Verrückte Sachen. All das von Lews
Therin Brudermörder und Artur Falkenflügel. Und vom
Auge der Welt. Was, beim Licht, soll das denn sein?«
»Eine Legende«, sagte der Gaukler langsam.
»Vielleicht. Als Legende genauso berühmt wie die vom
Horn von Valere, zumindest in den Grenzlanden. Dort
droben gehen junge Männer auf die Suche nach dem Auge
der Welt, so wie in Illian die jungen Männer das Horn
suchen. Vielleicht ist es eine Legende.«
»Was sollen wir tun, Thom?« fragte Rand. »Es ihr
erzählen? Ich möchte keine weiteren Träume dieser Art
erleben. Vielleicht könnte sie etwas tun?«
»Vielleicht würde uns nicht gefallen, was sie tut«,
grollte Mat.
Thom betrachtete sie, überlegte und strich sich dabei
mit einem Finger über den Schnurrbart. »Ich sage, haltet
Frieden«, sagte er schließlich. »Erzählt niemandem davon,
jedenfalls im Augenblick. Ihr könnt es euch immer noch
anders überlegen, wenn es nötig ist, aber wenn ihr es
einmal erzählt habt, dann ist es draußen, und Ihr seid
mehr als zuvor an sie... gebunden.« Plötzlich richtete er
sich auf. Seine gebückte Haltung verschwand fast
vollständig. »Der andere Junge! Ihr sagt, er hatte den
gleichen Traum? Ist er vernünftig genug, den Mund zu
halten?«
»Ich denke schon«, sagte Rand zur gleichen Zeit, als
Mat heraussprudelte: »Wir wollten zur Schenke
zurückgehen und ihn warnen.«
»Ich hoffe beim Licht, daß es nicht zu spät ist!« Mit
wehendem Umhang – die Flicken flatterten im Wind –
schritt Thom aus der Gasse. Ohne sich aufzuhalten blickte
er über die Schulter auf sie zurück. »Also, was ist? Sind
eure Füße am Boden festgefroren?«
Rand und Mat eilten ihm hinterher, aber er wartete
nicht darauf, daß sie ihn einholten. Diesmal blieb er nicht
stehen, wenn Leute seinen Umhang anschauten oder ihn
als Gaukler ansprachen. Er bahnte sich einen Weg durch
die überfüllten Straßen, als seien sie leer. Rand und Mat
mußten beinahe rennen, um ihm folgen zu können. In viel
kürzerer Zeit, als Rand erwartet hatte, erreichten sie den
›Hirsch und Löwen‹.
Als sie gerade hineingehen wollten, kam Perrin
herausgerannt und versuchte beim Rennen seinen Umhang
überzuziehen. Er wäre beinahe gestürzt, so mußte er sich
bremsen, um nicht in sie hineinzurennen. »Ich wollte nach
euch suchen«, brachte er schnaufend heraus, nachdem er
sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
Rand ergriff seinen Arm. »Hast du irgend jemandem
von dem Traum erzählt?«
»Sag bitte, daß du es nicht getan hast!« verlangte Mat.
»Es ist sehr wichtig«, sagte Thom.
Perrin sah sie verwirrt an. »Nein, habe ich nicht. Ich
bin bis vor einer Stunde nicht mal aus dem Bett
gekommen.« Seine Schultern sackten nach unten. »Ich
habe schon Kopfschmerzen von der Anstrengung
bekommen, nicht daran zu denken, geschweige denn
darüber zu reden. Warum habt ihr es ihm erzählt?« E r
nickte in Richtung Gaukler.
»Wir mußten einfach mit jemand darüber sprechen,
sonst hätten wir durchgedreht«, sagte Rand.
»Ich erkläre es euch später«, fügte Thom mit einem
bedeutungsvollen Blick auf die Leute hinzu, die in den
›Hirsch und Löwen‹ hineingingen oder herauskamen.
»In Ordnung«, antwortete Perrin langsam. Er wirkte
immer noch verwirrt. Plötzlich schlug er sich vor die
Stirn. »Jetzt hätte ich beinahe vergessen, weswegen ich
euch suchte. Ich vergäße es ja gern, aber... Nynaeve ist
drinnen.«
»Blut und Asche!« jaulte Mat auf. »Wie ist sie
hierhergekommen? Moiraine... Die Fähre...«
Perrin schnaubte. »Glaubst du, eine Kleinigkeit wie
eine gesunkene Fähre könnte sie aufhalten? Sie hat
Hochturm aus dem Bett geworfen – ich weiß nicht, wie er
über den Fluß zurückgekommen ist, aber sie sagte, er
habe sich in seinem Schlafzimmer versteckt und wollte
nicht einmal mehr in die Nähe des Flusses gehen –
jedenfalls hat sie ihn so eingeschüchtert, daß er ein Boot
für sie und ihr Pferd auftrieb und sie hinüberruderte.
Persönlich. Sie hat ihm nur soviel Zeit gelassen, daß er
einen seiner Helfer holen konnte, um ein zweites Paar
Ruder zu bedienen.«
»Licht!« hauchte Mat.
»Was tut sie da drinnen?« wollte Rand wissen. Mat und
Perrin warfen ihm einmütig einen spöttischen Blick zu.
»Sie ist uns gefolgt«, sagte Perrin. »Sie ist jetzt bei... bei
Frau Alys und da drinnen ist es kalt genug, daß es
schneien könnte.«
»Könnten wir nicht eine Weile woandershin gehen?«
fragte Mat. »Mein Pa sagt immer, nur ein Narr steckt
seine Hand in ein Hornissennest, wenn er es nicht
unbedingt muß.«
Rand warf ein: »Sie kann uns nicht zwingen,
zurückzukehren. Die Winternacht sollte ihr zu dieser
Einsicht verholfen haben. Wenn nicht, müssen wir es ihr
beibringen.«
Mats Augenbrauen hoben sich bei jedem seiner Worte
und als Rand fertig war, stieß er einen leisen Pfiff aus.
»Hast du jemals versucht, Nynaeve etwas beizubringen,
was sie nicht lernen wollte? Ich hab's probiert. Ich meine,
wir sollten bis zum Abend wegbleiben und uns dann
hineinschleichen.«
»Nach allem, was ich an dieser jungen Frau beobachtet
habe«, sagte Thom, »glaube ich nicht, daß sie aufhören
wird, bevor sie nicht alles gesagt hat. Wenn ihr nicht
gestattet wird, schnell alles loszuwerden, dann macht sie
vielleicht so lange weiter, bis sie eine Aufmerksamkeit
erregt, an der keiner von uns Interesse hat.«
Bei der Vorstellung fuhren alle zusammen. Sie sahen
sich an, atmeten tief durch und marschierten hinein, als
erwarteten sie, Trollocs zu sehen.
KAPITEL 16

Die Seherin
Perrin führte sie in die Tiefe der Schenke hinein. Rand
konzentrierte sich so sehr darauf, was er Nynaeve sagen
wollte, daß er Min nicht sah, bis sie ihn am Arm packte
und zur Seite zog. Die anderen gingen noch ein paar
Schritte weiter den Flur entlang, bevor sie bemerkten, daß
er stehengeblieben war. Dann blieben auch sie stehen,
einerseits ungeduldig, andererseits zögernd.
»Dafür haben wir keine Zeit, Junge«, sagte Thom
barsch. Min sah den weißhaarigen Gaukler scharf an.
»Geh und vollführe irgendwelche Kunststückchen«, fuhr
sie ihn an und zog Rand noch weiter von den anderen
weg. »Ich habe wirklich keine Zeit«, sagte Rand zu ihr.
»Und ganz bestimmt nicht für närrisches Geschwätz über
Entkommen und so was.« Er versuchte, seinen Arm
loszureißen, aber jedesmal, wenn er ihn befreit hatte,
packte sie ihn erneut.
»Und ich habe auch keine Zeit für irgendwelchen
Blödsinn. Halte also bitte den Mund!«
Sie betrachtete kurz die anderen, dann näherte sie sich
ihm und sagte mit gedämpfter Stimme: »Vor kurzem ist
eine Frau angekommen – kleiner als ich, jung, mit
dunklen Augen und sie trägt das dunkle Haar in einem
Zopf, der ihr bis an die Taille reicht. Sie ist ein Teil des
Ganzen, genauso wie der Rest von euch.«
Rand starrte sie eine Minute lang an. Nynaeve? Was
kann sie damit zu tun haben? Licht, wieso bin ich
eigentlich darin verwickelt? »Das ist... unmöglich.«
»Du kennst sie?« flüsterte Min.
»Ja, und sie kann nicht in... in was auch immer das alles
bedeutet... verwickelt sein.«
»Die Funken, Rand. Sie hat Frau Alys getroffen, als sie
hereinkam, und es gab Funken, obwohl nur sie beide
zusammenstanden. Gestern konnte ich keine Funken
wahrnehmen, wenn nicht wenigstens drei oder vier von
euch zusammenkamen, aber heute ist alles klarer und
heftiger.« Sie sah Rands Freunde an, die ungeduldig
warteten, und sie schauderte, bevor sie sich wieder zu ihm
umdrehte. »Es ist beinahe ein Wunder, daß die Schenke
nicht Feuer fängt. Ihr seid alle in größerer Gefahr als
gestern. Seit sie ankam.«
Rand blickte zu seinen Freunden hinüber. Thom, dessen
Brauen sich zu einem buschigen V verzogen hatten, beugte
sich vor, offensichtlich bereit, etwas zu unternehmen,
damit Rand schneller folgen konnte. »Sie wird nichts
unternehmen, was uns verletzen könnte«, sagte er zu Min.
»Ich muß jetzt gehen.« Diesmal gelang es ihm, seinen
Arm zu befreien.
Er mißachtete ihr empörtes Quieken und begab sich zu
den anderen. Sie gingen weiter den Korridor hinunter.
Rand sah einmal zurück. Min schüttelte die Faust in seine
Richtung und stampfte mit dem Fuß auf.
»Was hatte sie zu sagen?« fragte Mat.
»Nynaeve ist ein Teil davon«, sagte Rand ohne
nachzudenken. Dann sah er Mat scharf an und erwischte
ihn gerade noch mit bereits geöffnetem Mund. Die
Erleuchtung breitete sich langsam auf Mats Gesicht aus.
»Teil wovon?« sagte Thom leise. »Weiß dieses Mädchen
etwas?«
Während Rand noch überlegte, was er sagen sollte,
sprach Mat bereits: »Natürlich gehört sie dazu«, sagte er
ärgerlich. »Sie ist ein Teil des Pechs, das wir seit der
Winternacht hatten. Vielleicht ist es für euch keine große
Sache, die Seherin hier vorzufinden, aber ich sähe beinahe
noch lieber die Weißmäntel hier als sie.«
»Sie sah, wie Nynaeve ankam«, sagte Rand. »Sah auch,
daß sie sich mit Frau Alys unterhielt, und dachte, sie
könne etwas mit uns zu tun haben.« Thom sah ihn von der
Seite her an, und sein Schnauben brachte seine
Schnurrbarthaare durcheinander, aber die anderen
schienen Rands Erklärung zu akzeptieren. Er hatte nicht
gern Geheimnisse vor seinen Freunden, aber Mins
Geheimnis konnte für sie selbst genauso gefährlich werden
wie für ihre ganze Gruppe.
Perrin blieb plötzlich vor einer Tür stehen, und trotz
seiner Größe schien er ängstlich zu zögern. Er atmete tief
ein, sah seine Begleiter an, atmete noch einmal durch,
öffnete dann langsam die Tür und ging hinein. Einer nach
dem anderen folgte ihm. Rand war der letzte, und er
schloß die Tür mit äußerstem Widerstreben hinter sich.
Es war der Raum, in dem sie am Abend zuvor gegessen
hatten. Im Kamin prasselte ein Feuer. In der Mitte des
Tisches stand ein glänzendes Silbertablett mit einer
Silberkanne und Bechern. Moiraine und Nynaeve saßen an
den gegenüberliegenden Tischenden. Keine wandte den
Blick von der anderen. Moiraines Hände ruhten auf dem
Tisch, genauso bewegungslos wie ihr Gesicht. Nynaeves
Zopf war über ihre Schulter nach vorn geschlungen, und
das Ende lag in ihrer Faust verborgen. Sie zupfte immer
wieder ein wenig daran, so wie sie es zu tun pflegte, wenn
sie dem Gemeinderat noch sturer als üblicherweise
gegenüberstand. Perrin hatte recht. Trotz des Feuers war
die Atmosphäre eisig kalt, und die Kälte ging von den
beiden Frauen am Tisch aus.
Lan lehnte am Kaminsims, starrte in die Flammen und
rieb seine Hände, um sie zu wärmen. Egwene lehnte mit
dem Rücken an der Wand. Sie hatte ihren Umhang um
und die Kapuze über den Kopf gezogen. Thom, Mat und
Perrin blieben unsicher an der Tür stehen.
Rand fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut.
Doch er zuckte die Achseln und ging zum Tisch.
Manchmal muß man den Wolf bei den Ohren packen,
machte er sich selbst Mut. Allerdings erinnerte er sich
auch an ein anderes Sprichwort: Wenn du einen Wolf an
den Ohren hältst, ist es genauso schwer, loszulassen, wie
sich festzuhalten. Er fühlte Moiraines Blick und den von
Nynaeve, und sein Gesicht begann zu brennen, aber er
nahm trotzdem genau zwischen den beiden Platz.
Eine Minute lang bewegte sich absolut nichts im Raum.
Dann traten Egwene und Perrin und schließlich auch Mat
vor, gingen zögernd zum Tisch und setzten sich neben
Rand in die Mitte. Egwene zog ihre Kapuze noch weiter
vor, genug, ihr Gesicht halb zu verbergen, und sie alle
vermieden es, irgend jemanden anzusehen.
»Also«, schnaubte Thom von seinem Standort neben
der Tür her, »soviel wäre nun geschafft.«
»Da nun alle hier sind«, sagte Lan, verließ den Kamin
und füllte einen der silbernen Becher mit Wein, »werdet
Ihr dies vielleicht endlich von mir annehmen.« Er bot
Nynaeve den Becher an. Sie betrachtete ihn mißtrauisch.
»Keine Angst«, sagte er geduldig. »Ihr habt gesehen, wie
der Wirt den Wein brachte, und keiner von uns hatte
Gelegenheit, etwas hineinzutun. Er ist ganz rein.«
Der Mund der Seherin verzog sich bei dem Wort Angst
zornig, doch sie nahm den Becher und murmelte:
»Danke.«
»Ich möchte gern wissen«, sagte er, »wie Ihr uns
gefunden habt.«
»Ich auch.« Moiraine beugte sich gespannt vor.
»Vielleicht seid Ihr jetzt gewillt zu sprechen, nachdem
Egwene und die Jungen zu Euch gebracht wurden?«
Nynaeve nippte an dem Wein, bevor sie der Aes Sedai
antwortete. »Ihr konntet nirgendwo anders als nach
Baerlon hingehen. Um sicher zu gehen, folgte ich dann
aber eurer Spur. Ihr seid ja ganz schön im Zickzack
geritten. Aber ich schätze, ihr hattet kein Interesse daran,
anständigen Leuten über den Weg zu laufen.«
»Ihr... seid unserer Spur gefolgt?« sagte Lan, der zum
ersten Mal, seit Rand ihn kannte, wirklich überrascht
wirkte. »Ich muß wohl leichtsinnig geworden sein.«
»Ihr habt nicht viele Spuren hinterlassen, aber ich kann
mindestens ebensogut Spuren lesen wie jeder Mann in den
Zwei Flüssen, vielleicht mit Ausnahme von Tam al'Thor.«
Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Bis mein Vater starb,
nahm er mich immer mit auf die Jagd und lehrte mich,
was er sonst den Söhnen beigebracht hätte, die er nie
hatte.« Sie sah Lan herausfordernd an, aber er nickte nur
beifällig.
»Wenn Ihr einer Spur folgen könnt, die ich zu
verbergen versucht habe, dann hat er Euch gut
unterrichtet. Nur wenige schaffen das, selbst in den
Grenzlanden.«
Plötzlich verbarg Nynaeve das Gesicht in ihrem
Becher. Rands Augen weiteten sich. Sie errötete. Nynaeve
zeigte sich niemals auch nur im geringsten verwirrt.
Zornig, ja, oftmals auch wütend, aber niemals aus der
Fassung gebracht. Doch nun waren ihre Wangen deutlich
gerötet, und sie bemühte sich, das durch den Becher zu
verdecken.
»Vielleicht«, sagte Moiraine ruhig, »werdet Ihr nun
einige meiner Fragen beantworten. Ich habe Eure ehrlich
genug beantwortet.«
»Mit einem Haufen Gaukler-Märchen«, schoß Nynaeve
zurück. »Die einzige Tatsache, die ich feststellen kann, ist,
daß vier junge Leute aus einem unerfindlichen Grund von
einer Aes Sedai entführt wurden.«
»Man hat Euch gesagt, daß das hier niemand weiß«,
sagte Lan scharf. »Ihr müßt lernen, Eure Zunge zu
hüten.«
»Warum sollte ich?« wollte Nynaeve wissen. »Warum
sollte ich Euch helfen, Euch oder das, was Ihr seid, zu
verbergen? Ich bin gekommen, um Egwene und die
Jungen nach Emondsfeld zurückzubringen, und nicht, um
Euch zu helfen, sie wegzulocken.«
Thom mischte sich mit Verachtung in der Stimme ein:
»Wenn Ihr wollt, daß sie ihr Dorf wiedersehen – und Ihr
selbst auch –, dann solltet Ihr vorsichtiger sein. Es gibt in
Bearlon solche, die sie« – er machte eine schnelle
Kopfbewegung auf Moiraine zu – »töten würden für das,
was sie darstellt. Ihn auch!« Er zeigte auf Lan, und dann
trat er plötzlich vor und stemmte die Fäuste auf den Tisch.
Er ragte über Nynaeve auf, und sein langer Schnurrbart
und die dichten Augenbrauen wirkten mit einemmal
bedrohlich.
Ihre Augen weiteten sich und sie wollte sich schon von
ihm wegdrehen, doch dann versteifte sie trotzig den
Rücken. Thom schien es gar nicht zu bemerken; er fuhr
mit unheilverheißend sanfter Stimme fort: »Nur ein
Gerücht, ein Flüstern in ein falsches Ohr, würde genügen,
und sie würden diese Schenke wie ein Schwarm vor
Kriegerameisen überschwemmen. Ihr Haß ist so stark, ihr
Wunsch, jeden von der Sorte dieser beiden
gefangenzunehmen oder zu töten. Und das Mädchen? Die
Jungen? Ihr? Ihr hängt alle mit ihnen zusammen.
Jedenfalls wäre es genug für die Weißmäntel. Es würde
Euch nicht gefallen, wie sie ihre Fragen stellen, besonders
wenn es irgendwie um den Weißen Turm geht. Die
Folterknechte der Weißmäntel nehmen von vornherein an,
daß Ihr schuldig seid, und für diese Art von Schuld gibt es
nur ein Urteil. Sie haben kein Interesse daran, die
Wahrheit herauszufinden; sie glauben, diese ohnehin
bereits zu kennen. Alles, was sie mit ihren Brandeisen und
Zangen erreichen wollen, ist ein Geständnis. Also erinnert
Euch besser daran, daß manche Geheimnisse zu gefährlich
sind, sie laut auszusprechen, selbst wenn Ihr glaubt zu
wissen, wer zuhört.« Er richtete sich auf und murmelte
noch: »Wie es scheint, muß ich das in letzter Zeit viel zu
oft sagen.«
»Das war gut gesprochen, Gaukler«, sagte Lan. Der
Behüter blickte wieder abwägend drein. »Ich bin
überrascht, daß Ihr so besorgt seid.«
Thom zuckte die Achseln. »Es ist auch bekannt, daß ich
mit Euch gekommen bin. Ich lege keinen Wert darauf,
daß mir ein Folterknecht mit einem Brandeisen sagt, ich
solle meinen Sünden bereuen und im Licht wandeln.«
»Das«, warf Nynaeve mit beißender Stimme ein, »ist
noch ein Grund mehr, warum sie morgen mit mir
heimkehren sollten. Oder schon heute nachmittag. Je eher
wir weg sind von Euch und auf dem Rückweg nach
Emondsfeld, desto besser.«
»Das können wir nicht«, sagte Rand und war froh, daß
seine Freunde alle zur gleichen Zeit protestierten.
Nynaeves böser Blick mußte nun wenigstens allen
gleichermaßen gelten, und sie bekamen ihn auch prompt
zu spüren. Doch da er zuerst gesprochen hatte, schwiegen
alle anderen und sahen ihn an. Selbst Moiraine lehnte sich
auf ihrem Stuhl zurück und sah ihn über die
verschränkten Finger hinweg an. Es kostete ihn einige
Mühe, der Seherin ins Auge zu blicken. »Wenn wir nach
Emondsfeld zurückgehen, dann kommen auch die Trollocs
zurück. Sie... sie jagen uns. Ich weiß nicht, warum, aber
es stimmt. Vielleicht werden wir in Tar Valon
herausfinden, warum. Vielleicht finden wir auch heraus,
wie wir das beenden können. Es ist der einzige Weg.«
Nynaeve hob verzweifelt die Hände. »Du hörst dich
genau wie Tam an. Er ließ sich in die Dorfversammlung
tragen und versuchte, alle zu überzeugen. Zuvor hatte er
das schon beim Gemeinderat probiert. Das Licht weiß,
wie eure... Frau Alys« – ihre Stimme schüttete eine
Wagenladung Verachtung über den Namen aus – »es
geschafft hat, ihn zu überzeugen. Normalerweise verfügt
er über gesunden Menschenverstand, mehr als die meisten
anderen Männer. Jedenfalls besteht der Gemeinderat auch
sonst aus einem Haufen alter Narren. Aber dafür waren
selbst sie nicht närrisch genug, und die anderen auch
nicht. Sie stimmten zu, daß man euch suchen müsse. Dann
wollte Tam derjenige sein, der euch folgt, dabei konnte er
sich noch nicht einmal auf den Beinen halten. Eure
Familie muß aus lauter Narren bestehen.«
Mat räusperte sich und nuschelte dann: »Wie steht's mit
meinem Pa? Was hat er gesagt?«
»Er hat Angst, daß du deine Streiche an Ausländern
versuchst und dafür eins über den Kopf kriegst. Er schien
davor mehr Angst zu haben, als vor... Frau Alys hier.
Aber er war noch nie viel schlauer als du.«
Mat schien sich nicht sicher zu sein, wie er das
verstehen sollte oder was er antworten sollte oder ob
überhaupt eine Antwort fällig war.
»Ich erwarte«, begann Perrin zögernd, »ich meine, ich
denke, Meister Luhhan war auch nicht gerade glücklich
über meine Abreise.«
»Hast du erwartet, daß er sich freut?« Nynaeve
schüttelte angewidert den Kopf und sah Egwene an. »Ich
sollte mich eigentlich bei diesen drei nicht über solche
idiotischen Einfälle wundern, aber ich dachte, andere
hätten etwas mehr Urteilsvermögen.«
Egwene lehnte sich zurück, damit sie von Perrin
verdeckt wurde. »Ich habe eine Nachricht hinterlassen«,
sagte sie schwach. Sie zupfte an ihrer Kapuze herum, als
habe sie Angst, ihr loses Haar könne sich zeigen. »Ich
habe alles erklärt.« Nynaeves Gesicht lief dunkel an.
Rand seufzte. Die Seherin war drauf und dran, einen
ihrer Wutanfälle zu bekommen und es sah nach einem
ganz hochkarätigen aus. Wenn sie sich in ihrem Zorn auf
etwas versteifte – wenn sie zum Beispiel sagte, sie werde
sie nach Emondsfeld zurückschicken, ganz gleich, was
irgend jemand behauptete –, dann wäre es fast unmöglich,
sich dem zu entziehen. Er öffnete den Mund.
»Eine Nachricht!« begann Nynaeve, gerade als
Moiraine sagte: »Ihr und ich, wir müssen uns immer noch
unterhalten, Seherin.«
Hätte Rand sich selbst noch am Sprechen hindern
können, dann wäre es in diesem Augenblick angebracht
gewesen, doch seine Worte strömten heraus, als habe er
statt seines Mundes ein Wehr geöffnet. »Alles schön und
gut, aber es ändert nichts an der Lage. Wir können nicht
zurück. Wir müssen weiter.« Das letztere sagte er etwas
langsamer, und seine Stimme sank zu einem Flüstern ab.
Die Seherin und die Aes Sedai sahen ihn an. Es war die
Art von Blick, wie er ihn kannte, wenn er auf Frauen traf,
die über Angelegenheiten des Frauenzirkels sprachen – die
Art, die ihm sagte, er solle seine Nase nicht in die
Angelegenheiten anderer stecken. Er lehnte sich zurück
und wünschte sich, er sei irgendwo anders.
»Seherin«, sagte Moiraine, »Ihr müßt mir glauben, daß
sie bei mir sicherer sind als in den Zwei Flüssen.«
»Sicherer!« Nynaeve schüttelte verächtlich den Kopf.
»Ihr seid diejenige, die sie hierher gebracht hat, wo sich
die Weißmäntel aufhalten. Dieselben Weißmäntel, wenn
der Gaukler die Wahrheit gesagt hat, die ihnen
Euretwegen etwas antun könnten. Sagt mir, wieso sie hier
sicherer sind, Aes Sedai!«
»Es gibt viele Gefahren, vor denen ich sie nicht
beschützen kann«, stimmte Moiraine zu, »genauso wie Ihr
sie nicht vor dem Blitz beschützen könnt, wenn Ihr mit
ihnen zurückkehrt. Aber es ist nicht der Blitz, vor dem sie
sich fürchten müssen, und es sind auch nicht die
Weißmäntel. Es sind der Dunkle König und seine
Abgesandten. Und vor denen kann ich sie beschützen. Ich
kann die Wahre Quelle berühren, kann Saidar benützen,
und das gibt mir so wie jeder Aes Sedai die Macht, die zu
ihrem Schutz notwendig ist.« Nynaeves Mund verzog sich
zweifelnd. Auch Moiraines Lippen verzogen sich, aber
vor Ärger, und doch fuhr sie fort, wenn auch ihre Stimme
klang, als sei sie mit ihrer Geduld am Ende. »Selbst jene
armen Männer, die für kurze Zeit über die Macht
verfügen, genießen diesen Schutz. Obwohl Saidin nicht
nur beschützt, denn gelegentlich werden sie durch das
Verderben, das daran klebt, auch erst richtig verwundbar.
Aber ich kann, wie jede andere Aes Sedai, meinen Schutz
auf die ausdehnen, die sich in meiner Nähe befinden. Kein
Blasser kann ihnen etwas antun, solange sie sich – so wie
jetzt – dicht bei mir aufhalten. Kein Trolloc kann sich auf
mehr als eine Viertelmeile nähern, ohne daß Lan es
merkt, denn er fühlt das Böse an ihnen. Könnt Ihr ihnen
halb soviel bieten, wenn sie mit Euch nach Emondsfeld
zurückkehren?«
»Ihr traut Euch reichlich viel zu«, sagte Nynaeve. »Wir
haben ein Sprichwort in den Zwei Flüssen, das heißt: ›Es
ist gleich, wer gewinnt, der Wolf oder der Bär – das
Kaninchen ist immer der Verlierer.‹ Tragt Euren Streit
irgendwo anders aus, und laßt die Leute aus Emondsfeld
in Frieden.«
»Egwene«, sagte Moiraine nach einem Moment des
Schweigens, »geh mit den anderen weg, und laß die
Seherin eine Weile mit mir allein.« Ihr Gesicht sagte
nichts aus; Nynaeve machte sich am Tisch breit, als sei sie
bereit, einen Ringkampf zu beginnen.
Egwene sprang auf die Beine. Ihr Wunsch, sich
würdevoll zu bewegen, stand offenbar mit ihrem Wunsch
auf dem Kriegsfuß, eine Auseinandersetzung mit der
Seherin wegen ihres offen getragenen Haares zu
vermeiden. Sie hatte keinerlei Schwierigkeiten; durch
einen Blick die anderen um sich zu versammeln. Mat und
Perrin schoben ihre Stühle hastig nach hinten, murmelten
irgendwelche Höflichkeitsfloskeln und bemühten sich,
nicht gleich hinauszurennen. Selbst Lan ging auf ein
Zeichen Moiraines zur Tür und zog Thom mit sich.
Rand folgte, und der Behüter schloß die Tür hinter
ihnen. Dann stand er auf der anderen Seite des Flurs
Wache. Unter Lans argwöhnischen Blicken gingen die
anderen ein kleines Stück weiter den Korridor hinunter.
Es durfte auch nicht die geringste Gelegenheit für
jemanden geben, sie zu belauschen. Als sie gerade weit
genug entfernt waren, daß es ihm paßte, lehnte sich der
Behüter entspannt gegen die Wand. Auch ohne seinen
farbverändernden Umhang wirkte er so bewegungslos,
daß er nur schwer zu bemerken war, außer man stand
direkt vor ihm.
Der Gaukler äußerte, daß er Besseres zu tun habe, und
verließ sie mit einem ernsten: »Erinnert Euch daran, was
ich gesagt habe!« über seine Schulter hinweg. Kein
anderer schien das Bedürfnis zu haben, sich wegzustehlen.
»Was hat er gemeint?« fragte Egwene abwesend. Ihre
Augen waren auf die Tür gerichtet, hinter der Moiraine
und Nynaeve miteinander sprachen. Sie spielte an ihren
Haaren herum, als sei sie innerlich gespalten: Sollte sie
weiterhin die Tatsache verbergen, daß sie die Haare offen
trug oder die Kapuze einfach zurückschlagen?
»Er hat uns einige Ratschläge erteilt«, sagte Mat.
Perrin sah ihn warnend an. »Er sagte, wir sollten den
Mund nicht aufmachen, bevor wir sicher seien, was wir
eigentlich sagen wollten.«
»Das klingt nach einem guten Ratschlag«, sagte
Egwene, doch sie wirkte dabei ganz eindeutig
desinteressiert. Rand stand in Gedanken versunken da.
Wie konnte denn Nynaeve Teil dieses Ganzen sein? Wie
konnte irgendeiner von ihnen überhaupt mit Trollocs und
Blassen und einem in den Träumen erscheinenden
Ba'alzamon zu tun haben? Es war verrückt. Er fragte
sich, ob Min Moiraine von Nynaeve berichtet hatte. Was
sagen sie dort drinnen?
Er hatte keine Ahnung, wie lange er dort gestanden
hatte, als sich die Tür endlich öffnete. Nynaeve trat heraus
und erschrak, als sie Lan bemerkte. Der Behüter sagte ihr
leise etwas, was sie ihren Kopf ärgerlich in den Nacken
werfen ließ, und dann schlüpfte er an ihr vorbei durch die
Tür.
Sie wandte sich Rand zu, und nun wurde ihm erst
bewußt, daß die anderen alle heimlich verschwunden
waren. Er wollte der Seherin nicht allein
gegenüberstehen, doch jetzt, da sie ihn erblickt hatte, gab
es kein Entrinnen mehr. Ein forschender Blick, dachte er
erstaunt. Was haben sie nur gesprochen? Er richtete sich
auf, als sie sich ihm näherte.
Sie zeigte auf Tams Schwert. »Das scheint heutzutage
zu dir zu passen, obwohl es mir lieber wäre, das wäre
nicht der Fall. Du bist gewachsen, Rand.«
»In einer Woche?« Er lachte, doch es klang gezwungen
und sie schüttelte den Kopf, als verstehe sie nicht. »Hat sie
dich überzeugt?« fragte er. »Es ist wirklich die einzige
Möglichkeit.« Er unterbrach sich und dachte an Mins
Funken. »Kommst du mit uns?«
Nynaeve machte große Augen. »Mit euch kommen?
Warum sollte ich? Mavra Mallen ist von Devenritt
herübergekommen, um mich zu vertreten, bis ich
zurückkehre, aber sie wird zurückkehren wollen, sobald
sie nur kann. Ich hoffe immer noch, daß ich euch zum
Einlenken bringe und ihr mit mir heimkommt.«
»Das können wir nicht.« Er glaubte, an der immer
noch geöffneten Tür eine Bewegung zu sehen, aber sie
waren allein im Flur.
»Das hast du mir schon einmal gesagt, und sie auch.«
Nynaeve zog die Stirn in Falten. »Wenn sie nicht darin
verwickelt wäre... Aes Sedai kann man nicht trauen,
Rand.«
»Du hörst dich an, als ob du uns in Wirklichkeit
glaubst«, sagte er bedächtig. »Was ist bei der
Dorfversammlung geschehen?«
Nynaeve blickte zur Tür zurück, bevor sie antwortete.
Dort bewegte sich jetzt nichts. »Es war ein totales
Durcheinander, aber sie muß nicht unbedingt wissen, daß
wir unsere eigenen Angelegenheiten nicht besser regeln
können. Und ich glaube nur eine Sache: Ihr seid alle in
Gefahr, solange ihr euch bei ihr befindet.«
»Es ist etwas geschehen«, beharrte er. »Warum willst
du, daß wir zurückkommen, wenn du glaubst, es bestünde
eine Möglichkeit, daß wir doch recht haben? Und warum
überhaupt du? Man könnte dann genausogut den
Bürgermeister schicken wie die Seherin.«
»Du bist gewachsen.« Sie lächelte, und das ließ ihn
einen Augenblick lang unruhig von einem Fuß auf den
anderen treten. »Ich kann mich an eine Zeit erinnern, da
hättest du nicht in Frage gestellt, wohin ich zu gehen
beschließe oder was ich tun will, gleich, worum es ging.
Das ist gerade eine Woche her.«
Er räusperte sich und fragte stur weiter. »Es ergibt
sonst keinen Sinn. Warum bist du wirklich hier?«
Sie sah so halb zu der leeren Türöffnung hinüber und
nahm dann seinen Arm. »Laufen wir ein Stück weiter,
während wir sprechen.« Er ließ sich von ihr wegführen,
und als sie sich weit genug von der Tür entfernt hatten,
um nicht mehr belauscht zu werden, begann sie wieder.
»Wie ich schon sagte: Die Versammlung war ein einziges
Durcheinander. Alle waren sich einig, daß euch jemand
nachgeschickt werden mußte, aber das Dorf war in zwei
Gruppen gespalten. Die einen wollten, daß ihr gerettet
werdet, obwohl es kräftigen Streit darüber gab, wie das
bewerkstelligt werden könne, wenn man bedenkt, daß ihr
bei einer... bei einer von diesen seid.«
Er war froh, daß sie bei der Wahl ihrer Worte sehr
vorsichtig war. »Die anderen glaubten Tam?« fragte er.
»Nicht unbedingt, aber sie dachten, ihr solltet euch
nicht bei Fremden aufhalten, besonders nicht bei einer wie
ihr. Was auch immer – beinahe jeder Mann wollte bei der
Suchaktion dabei sein. Tam und Bran al'Vere mit den
Waagschalen seines Amtes um den Hals, und Haral
Luhhan, bis Alsbet es fertigbrachte, daß er sich wieder
hinsetzte. Sogar Cenn Buie! Das Licht bewahre mich vor
Männern, die mit dem Haar auf ihrer Brust zu denken
versuchen! Obwohl ich nicht weiß, ob es überhaupt andere
gibt.« Sie schniefte kräftig und blickte anklagend zu ihm
auf. »Jedenfalls wurde mir klar, daß es noch einen
geschlagenen Tag dauern würde, bis sie zu einer
Entscheidung kämen, und irgendwie... irgendwie war ich
sicher, daß wir nicht so lange warten durften. Also berief
ich den Frauenzirkel ein und sagte ihnen, was geschehen
müsse. Ich kann nicht behaupten, daß es ihnen gefiel, aber
sie sahen ein: Ich hatte recht. Und deshalb bin ich hier.
Die Männer aus Emondsfeld sind sture Wollköpfe. Sie
streiten sich vermutlich immer noch darüber, wen sie
schicken sollen, obwohl ich hinterließ, daß ich mich
darum kümmern werde.«
Nynaeves Geschichte erklärte ihre Anwesenheit, aber
sie konnte ihn nicht beruhigen. Sie war immer noch
entschlossen, mit ihnen zusammen nach Hause zu gehen.
»Was hat sie dir da drinnen gesagt?« fragte er.
Moiraine hätte doch sicherlich jedes Argument benützt,
aber sollte sie etwas vergessen haben, dann konnte er das
ja nachholen.
»Praktisch das gleiche«, erwiderte Nynaeve. »Und sie
wollte mehr über euch Jungen wissen. Um
herauszufinden, warum ihr... diese Art von
Aufmerksamkeit erregt habt... sagte sie jedenfalls.« Sie
legte eine Pause ein und beobachtete ihn aus den
Augenwinkeln. »Sie versuchte, es zu verschleiern, aber
vor allem wollte sie herausfinden, ob einer von euch
außerhalb der Zwei Flüsse geboren wurde.«
Sein Gesichtshaut spannte sich plötzlich wie ein
Trommelfell. Er brachte es fertig, heiser zu lachen. »Sie
hat aber eigenartige Ideen. Ich hoffe, du hast ihr
versichert, daß wir alle in Emondsfeld geboren wurden.«
»Natürlich«, antwortete sie. Sie hatte nur einen
Herzschlag lang gezögert, bevor sie sprach, so kurz, daß
er es gar nicht bemerkt hätte, wenn er nicht darauf
gewartet hätte.
Er versuchte krampfhaft, sich etwas einfallen zu lassen,
was er sagen konnte, aber seine Zunge fühlte sich an wie
ein Stück Leder. Sie weiß es. Sie war schließlich die
Seherin, und von einer Seherin nahm man an, daß sie alles
über jeden wußte. Wenn sie davon weiß, dann war es kein
Fiebertraum. O Licht hilf mir, Vater!
»Ist alles in Ordnung?« fragte Nynaeve.
»Er sagte... sagte, daß ich... nicht sein Sohn sei. Als er
im Delirium war... wegen des Fiebers. Er sagte, er habe
mich gefunden. Ich dachte, es sei nur...« Seine Kehle
begann zu brennen, und er mußte aufhören zu sprechen.
»O Rand!« Sie hielt inne und nahm sein Gesicht in ihre
beiden Hände. Sie mußte ihre Hände dazu nach oben
strecken. »Die Menschen sagen im Fieber die seltsamsten
Sachen. Verdrehte Sachen. Sachen, die nicht wahr und
wirklich sind. Hör auf mich! Tam al'Thor ist
weggelaufen, um Abenteuer zu suchen, als er ein Junge
war und nicht älter als du. Ich kann mich gerade noch
daran erinnern, wie er zurück nach Emondsfeld kam; ein
erwachsener Mann mit einer rothaarigen ausländischen
Frau und einem Baby in Windeln. Ich erinnere mich
daran, daß Kari al'Thor dieses Kind mit so viel Liebe und
Freude in den Armen hielt, wie ich es nur jemals bei einer
Mutter erlebt habe. Ihr Kind, Rand. Du. Nun reiß dich
zusammen und höre auf mit solchen Verrücktheiten.«
»Natürlich«, sagte er. Ich wurde außerhalb der Zwei
Flüsse geboren. »Natürlich.« Vielleicht hatte Tam einen
Fiebertraum gehabt, und vielleicht hatte er nach einer
Schlacht ein Baby gefunden. »Warum hast du es ihr nicht
gesagt?«
»Das geht keinen Ausländer etwas an.«
»Sind auch noch andere außerhalb geboren?« Sobald er
die Frage gestellt hatte, schüttelte er auch schon den Kopf.
»Nein, antworte nicht. Es geht mich auch nichts an.« Aber
es wäre gut, zu wissen, ob Moiraine an ihm ein besonderes
Interesse hatte, das über das Interesse an ihnen als Gruppe
hinausging. Wäre das wirklich gut?
»Nein, es geht dich nichts an«, stimmte Nynaeve zu.
»Es braucht auch nichts zu bedeuten. Es kann sein, daß sie
einfach blind nach einem Grund sucht, irgendeinem
Grund, warum diese Wesen hinter dir her sind. Hinter
euch allen.«
Rand brachte ein schwaches Grinsen fertig. »Dann
glaubst du also schon, daß sie uns jagen.«
Nynaeve schüttelte ungerührt den Kopf. »Du hast
ziemlich gut gelernt, einem das Wort im Mund zu
verdrehen, seit du sie kennengelernt hast.«
»Was wirst du tun?« fragte er.
Sie betrachtete ihn. Er sah ihr standhaft in die Augen.
»Heute werde ich ein Bad nehmen. Was das andere angeht,
werden wir ja sehen.«
KAPITEL 17

Beobachter und Jäger


Nachdem die Seherin weg war, ging Rand in den
Schankraum. Er brauchte den Klang von Lachen in den
Ohren, um zu vergessen, was Nynaeve gesagt hatte und
welche Schwierigkeiten sie ihnen damit bereiten konnte.
Der Raum war tatsächlich voll, aber niemand lachte,
obwohl jeder Stuhl und jede Bank besetzt war und andere
Leute an den Wänden standen. Thom trat gerade auf. E r
stand auf einem Tisch an der gegenüberliegenden Wand.
Seine Gesten waren umfassend genug, um den ganzen
Raum zu füllen. Es war wieder einmal Die Wilde Jagd
nach dem Horn, aber natürlich beklagte sich niemand
darüber. Es gab so viel über jeden der Jäger zu erzählen
und so viele Jäger waren auf der Suche nach dem Horn,
daß die Geschichte jedesmal anders klang. Es hätte
sowieso eine Woche oder mehr gedauert, die ganze
Geschichte auf einmal zu erzählen. Der einzige Laut, der
neben Stimme und Harfe des Gauklers erklang, war das
Prasseln der Feuer in den Kaminen.
»... Zu den acht Ecken der Welt reiten die Jäger, zu den
acht Säulen des Himmels, wo der Wind der Zeit weht und
das Schicksal die Kleinen wie die Großen bei der Stirn
packt. Nun ist Rogosch von Talmour, Rogosch Adlerauge,
berühmt am Hof des Hochkönigs, gefürchtet an den
Hängen des Shayol Ghul, der größte aller Jäger...« Die
Jäger waren immer gefürchtete Helden – allesamt.
Rand machte seine beiden Freunde aus und quetschte
sich neben Perrin an das Ende einer Sitzbank.
Küchengerüche, die durch den Raum zogen, erinnerten
ihn an seinen Hunger, doch sogar die Leute, die ihr Essen
vor sich stehen hatten, beachteten es kaum. Die
Kellnerinnen, die eigentlich hätten bedienen sollen,
standen verzaubert da, die Hände in die Schürzen
verkrampft, und sahen den Gaukler an. Niemand schien
etwas dagegen zu haben. Zuhören war besser als essen,
ganz gleich, wie gut das Essen auch sein mochte.
›... seit dem Tag ihrer Geburt hat der Dunkle König
Blaes als sein eigen betrachtet, aber nie wird er ihre
Zustimmung gewinnen. Blaes von Matuchin ist kein
Schattenfreund! Stark wie eine Esche steht sie da, biegsam
wie der Zweig einer Weide, schön wie eine Rose.
Goldhaarige Blaes. Bereit, zu sterben, um nicht nachgeben
zu müssen. Doch lauscht! Von den Türmen der Stadt
klingt das Schmettern von Trompeten, ehern und kühn.
Ihre Herolde verkünden die Ankunft eines Helden an
ihrem Hof. Trommelklang rollt, und Beckenschläge
erklingen! Rogosch Adlerauge kommt, um ihr zu
huldigen...‹
›Rogosch Adlerauges Handel‹ neigte sich dem Ende zu,
aber Thom unterbrach die Erzählung nur, um seine Kehle
aus einem Bierkrug zu befeuchten, und dann erklang
›Lians Wehr‹. Dem folgte dann ›Der Fall von Aleth-
Loriel‹ und ›Gaidal Cains Schwert‹ und ›Der letzte Ritt
von Buad von Albhain‹. Als sich der Abend hinzog,
wurden die Pausen länger, und als Thom schließlich die
Harfe weglegte und zur Flöte griff, wußte jeder, daß die
Erzählung für diesen Abend beendet war. Zwei Männer
begleiteten Thom auf einer Trommel und einem
Hackbrett, aber sie saßen neben dem Tisch, während er
noch immer auf ihm stand.
Die drei jungen Männer aus Emondsfeld begannen bei
den ersten Tönen von ›Der Wind, der die Weide beugt‹
mitzuklatschen, und sie waren nicht die einzigen. Es war
ein besonders beliebtes Lied, sowohl in den Zwei Flüssen,
wie auch in Baerlon, schien es. Hier und da fielen
Stimmen ein, und sie klangen nicht so falsch, daß man sie
hätte zum Schweigen bringen müssen.

»Meine Liebe ist fort, weggeweht,


vom Wind, der die Weide beugt,
und alles Land wird niedergedrückt
vom Wind, der die Weide beugt.
Doch will ich sie halten, fest und treu,
in meiner Erinnerung,
ihre Kraft macht meine Seele stark,
ihre Liebe wärmt mein Herz.
So steh ich, wo wir einst uns liebten,
trotz des Winds, der die Weide beugt.«

Das zweite Lied war nicht so traurig. ›Nur einen Eimer


Wasser‹ schien im Gegensatz dazu sogar noch fröhlicher
als sonst üblich, und das hatte der Gaukler ja vielleicht
auch bezweckt. Die Leute beeilten sich, Tische
wegzuschieben und eine Tanzfläche freizumachen. Bald
warfen sie die Beine im Takt, bis die Wände wackelten
von all dem Stampfen und Wirbeln. Der erste Tanz
endete. Lachende Tänzer verließen die Tanzfläche und
hielten sich die Seiten. Neue Tänzer nahmen ihre Plätze
ein.
Thom spielte die ersten Takte von ›Der Flug der
Wildgänse‹ und wartete dann, bis die Leute ihre Plätze in
den Reihen eingenommen hatten.
»Ich glaube, ich probier's auch mal«, sagte Rand und
stand auf. Perrin schoß sofort auch hoch. Mat bewegte
sich als letzter, und so mußte er zurückbleiben und auf die
Umhänge, Rands Schwert und Perrins Axt aufpassen.
»Denkt daran, daß ich auch mal tanzen will!« rief Mat
ihnen nach.
Die Tänzer stellten sich in zwei langen Reihen
gegenüber auf, die Frauen auf der einen und die Männer
auf der anderen Seite. Zuerst gab die Trommel den
Rhythmus an, dann fiel das Hackbrett ein, und alle Tänzer
begannen, im gleichen Takt die Knie zu beugen. Das
Mädchen gegenüber Rand – sie trug die dunklen Haare in
Zöpfen und erinnerte ihn an die Heimat – lächelte ihn erst
schüchtern an und dann zwinkerte sie ihm gar nicht mehr
schüchtern zu. Thoms Flöte schwang sich in die Melodie
hinein, und Rand ging vorwärts auf das dunkelhaarige
Mädchen zu. Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte,
als er sie herumwirbelte und an den nächsten Mann in der
Reihe weiterreichte.
Jeder im Saal lachte, zumindest bildete er sich das ein,
während er um seine nächste Partnerin herumtanzte, eine
der Kellnerinnen, deren Schürze wild flatterte. Das
einzige ernste Gesicht, das er sah, gehörte einem Mann,
der an einem der Kamine kauerte, und dieser Bursche
hatte eine Narbe quer übers ganze Gesicht, von einer
Schläfe bis an die gegenüberliegende Kante seines
Unterkiefers. Sie ließ seine Nase schräg erscheinen und
zog einen Mundwinkel herunter. Der Mann sah ihm in die
Augen und verzog das Gesicht. Rand schaute verlegen zur
Seite. Vielleicht konnte der Bursche mit einer solchen
Narbe nicht mehr lächeln.
Er fing seine nächste Partnerin im Drehen auf und
wirbelte sie im Kreis herum, bevor er sie weiterreichte.
Drei weitere Frauen tanzten mit ihm, während die Musik
immer schneller wurde, und dann hatte er wieder das
erste dunkelhaarige Mädchen am Arm, als sie in einer
kurzen Promenade die Reihen komplett tauschten. Sie
lachte immer noch und zwinkerte ihm wieder zu.
Der narbengesichtige Mann sah ihn finster an. Sein
Schritt wurde unsicher, und seine Wangen erhitzten sich.
Er hatte den Burschen nicht beschämen wollen; er glaubte
wirklich nicht, ihn auffällig angestarrt zu haben. E r
drehte sich nach seiner nächsten Partnerin um und vergaß
den Mann. Die nächste Frau, die in seine Arme tanzte,
war Nynaeve.
Er stolperte in die nächsten Tanzschritte hinein und fiel
fast über die eigenen Füße. Beinahe wäre er ihr noch auf
die Füße getreten. Sie tanzte leichtfüßig genug, um seine
Unbeholfenheit auszugleichen, und lächelte auch noch
dabei. »Ich dachte, du seist ein besserer Tänzer«, lachte
sie beim Partnerwechsel.
Ihm blieb nur ein Augenblick, sich wieder
zusammenzureißen, dann wechselten sie wieder, und er
tanzte auf einmal mit Moiraine. Wenn er sich schon bei
der Seherin unbeholfen angestellt hatte, dann war das
nichts gegen sein Gefühl jetzt beim Tanz mit der Aes
Sedai. Sie glitt elegant über den Tanzboden. Ihr langes
Kleid schwang um ihre Beine. Er fiel dagegen zweimal
beinahe hin. Sie lächelte ihn mitleidsvoll an, doch das half
nicht – im Gegenteil. Es war eine Erleichterung, die
nächste Partnerin weitergereicht zu bekommen, selbst
wenn es sich um Egwene handelte.
Er gewann wieder etwas an Haltung. Schließlich hatte
er jahrelang mit ihr getanzt. Ihr Haar hing immer noch
offen herunter, doch sie hatte es hinten mit einem roten
Band zusammengebunden. Konnte sich vielleicht nicht
entscheiden, ob sie es Moiraine oder Nynaeve recht
machen sollte, dachte er mürrisch. Ihre Lippen waren
geöffnet, und sie wirkte, als wolle sie etwas sagen, aber sie
sprach nicht, und er wollte nicht zuerst sprechen. Nicht,
nachdem sie seinen früheren Versuch im Speisesaal so
schroff abgewürgt hatte. Sie sahen einander ernüchtert an
und bewegten sich wortlos wieder voneinander weg.
Er war froh, als der Tanz zu Ende war und er auf die
Bank zurückkehren konnte. Die Musik zum nächsten
Tanz, einer Gigue, begann, als er sich gerade setzte. Mat
eilte auf die Tanzfläche, und Perrin setzte sich auf die
freigewordene Bank. »Hast du sie gesehen?« begann
Perrin, der noch nicht einmal richtig saß. »Hast du?«
»Welche?« fragte Rand. »Die Seherin oder Frau Alys?
Ich habe mit beiden getanzt.«
»Mit der Ae... mit Frau Alys auch?« rief Perrin. »Ich
habe mit Nynaeve getanzt. Ich wußte nicht einmal, daß sie
tanzt. Zu Hause tut sie das nie.«
»Ich frage mich«, sagte Rand nachdenklich, »was der
Frauenzirkel wohl davon hielte, wenn die Seherin tanzt?
Vielleicht tut sie's deswegen nicht.«
Dann waren Musik und Klatschen und Singen zu laut,
um sich weiter zu unterhalten. Rand und Perrin klatschten
mit, als die Tänzer um den Tanzboden kreisten. Mehrmals
wurde ihm bewußt, daß der Mann mit der Narbe ihn
anstarrte. Der Mann hatte ein Recht darauf, wegen der
Narbe empfindlich zu sein, aber Rand fiel nun nichts ein,
was er hätte tun können, ohne alles noch schlimmer zu
machen. Er konzentrierte sich ganz auf die Musik und
vermied es, den Burschen anzusehen.
Tanz und Gesang gingen bis tief in die Nacht hinein
weiter. Die Kellnerinnen erinnerten sich schließlich ihrer
Pflichten; Rand war froh, ein wenig heißen Eintopf und
Brot herunterschlingen zu können. Jeder aß, wo er gerade
saß oder stand. Rand tanzte noch dreimal, und er
beherrschte sich besser, wenn er dabei auf Nynaeve und
auch auf Moiraine traf. Diesmal lobten beide seine
Fähigkeiten als Tänzer, und er stammelte verwirrt seinen
Dank. Er tanzte auch wieder mit Egwene. Sie sah ihn mit
ihren dunklen Augen an und schien immer etwas auf der
Zunge zu haben, doch sie sagte kein Wort. Er war
genauso still wie sie, aber er war sich sicher, daß er sie
nicht irgendwie böse angesehen hatte, auch wenn Mat das
behauptete, als er zur Bank zurückkehrte.
Gegen Mitternacht ging Moiraine. Egwene bemerkte
den resignierenden Blick, den Moiraine in Richtung
Nynaeve schickte, und eilte ihr nach. Die Seherin
beobachtete beide mit ausdruckslosem Gesicht und tanzte
dann mit voller Absicht noch einmal, bevor auch sie den
Saal verließ. Sie wirkte, als habe sie einen Punktsieg über
die Aes Sedai errungen.
Bald legte Thom seine Flöte in den Kasten und
debattierte freundlich mit denen, die noch weitermachen
wollten. Lan kam und holte Rand und die anderen ab.
»Wir müssen früh aufbrechen«, sagte der Behüter, der
sich des Lärms wegen ganz nah zu ihnen hinbeugen
mußte, »und wir müssen uns so gut wie möglich
ausruhen.«
»Ein Kerl hat mich angestarrt«, sagte Mat. »Ein Mann
mit einer Narbe im Gesicht. Glaubt Ihr, er könnte einer
der... Freunde sein, vor denen Ihr uns gewarnt habt?«
»So eine Narbe?« sagte Rand und fuhr sich mit dem
Finger über die Nase bis zum Mundwinkel. »Er hat mich
auch angestarrt.« Er blickte sich im Saal um. Die Leute
gingen langsam hinaus, und die meisten derer, die immer
noch blieben, hatten sich um Thom versammelt. »Er ist
jetzt nicht mehr da.«
»Ich habe den Mann gesehen«, sagte Lan. »Laut Meister
Fitch ist er ein Spion der Weißmäntel. Der sollte uns kein
Kopfzerbrechen bereiten.« Vielleicht nicht, aber Rand
bemerkte, daß irgend etwas den Behüter störte.
Rand sah Mat an, der wieder diesen unbeweglichen
Gesichtsausdruck zeigte, der immer bedeutete, daß er
etwas verbarg. Ein Spion der Weißmäntel. Konnte es sein,
daß Bornhald sich unbedingt an ihnen rächen wollte?
»Wir brechen früh auf?« sagte er. »Wirklich früh?«
Vielleicht könnten sie schon weg sein, bevor etwas in
der Hinsicht geschah?
»Beim ersten Tageslicht«, antwortete der Behüter.
Als sie den Schankraum verließen, sang Mat leise
Bruchstücke von Liedern, und Perrin blieb manchmal
stehen, um einen neuen Tanzschritt auszuprobieren, den er
gelernt hatte. Thom gesellte sich in bester Laune zu ihnen.
Lans Gesicht zeigte keinen Ausdruck, als sie zur Treppe
gingen.
»Wo schläft Nynaeve?« fragte Mat. »Meister Fitch
sagte, er habe uns die letzten Zimmer gegeben.«
»Sie hat ein Bett«, sagte Thom trocken, »bei Frau Alys
und dem Mädchen.«
Perrin pfiff durch die Zähne, und Mat knurrte: »Blut
und Asche! Ich möchte nicht in Egwenes Haut stecken,
selbst wenn sie mir alles Gold in Caemlyn böten!«
Nicht zum ersten Mal wünschte sich Rand, Mat könnte
einmal ernsthaft mehr als zwei Minuten lang über dieselbe
Sache nachdenken. Sie fühlten sich im Moment nicht
gerade wohl in ihrer Haut. »Ich gehe und hole Milch«,
sagte er. Vielleicht würde ihm das beim Einschlafen
helfen. Vielleicht werde ich heute nacht nicht träumen.
Lan sah ihn scharf an. »Irgend etwas stimmt heute
abend nicht. Geh nicht weit weg. Und denk daran: Wir
reiten los, gleich, ob du wach genug bist, um aufrecht im
Sattel zu sitzen, oder ob wir dich festbinden müssen.«
Der Behüter ging die Treppe hinauf, und die anderen
folgten ihm mit unterdrückter Fröhlichkeit. Rand stand
allein im Flur. Nachdem die ganze Zeit so viele Menschen
um ihn herum gewesen waren, fühlte er sich nun wirklich
einsam.
Er eilte in die Küche, wo eines der Küchenmädchen
immer noch bei der Arbeit war. Sie goß ihm einen Krug
Milch aus einer großen Steinkanne ein. Als er trinkend aus
der Küche kam, bewegte sich eine Gestalt in stumpfem
Schwarz durch den Flur auf ihn zu. Sie erhob blasse
Hände und warf die dunkle Kapuze zurück, die das
Gesicht darunter verborgen hatte. Der Umhang hing
regungslos herunter, während sich die Gestalt bewegte,
und das Gesicht... war das Gesicht eines Mannes, doch
totenbleich wie eine Larve unter einem Felsblock. Es hatte
keine Augen. Vom fettigschwarzen Haar bis zu den
runden Wangen war es glatt wie eine Eierschale. Rand
verschluckte sich und verschüttete Milch.
Rand ließ den Krug fallen und trat vorsichtig zurück.
Er wollte rennen, aber alles, was er fertigbrachte, war,
seine Füße zu einem zögernden Schritt nach dem anderen
zu bewegen. Er konnte sich nicht von diesem augenlosen
Gesicht befreien; sein Blick wurde davon angezogen, und
sein Magen drehte sich um. Er versuchte, um Hilfe zu
rufen, zu schreien, doch seine Kehle war wie ein Stein.
Jeder rauhe Atemzug schmerzte.
Der Blasse glitt ohne Eile näher. Seine Schritte zeigten
eine sinnlich-tödliche Eleganz, wie bei einer Schlange,
wobei die Ähnlichkeit noch durch die überlappenden
Schuppen des Brustpanzers betont wurde. Dünne,
blutleere Lippen verzogen sich in einem grausamen
Lächeln. Der Hohn des Lächelns wirkte unter der glatten,
blassen Haut, wo die Augen sein sollten, besonders
einprägsam. Gegen diese Stimme wirkte die Bornhalds
warm und sanft. »Wo sind die anderen? Ich weiß, daß sie
hier sind. Rede, Junge, und ich werde dich am Leben
lassen.«
Rands Rücken berührte Holz, eine Wand oder eine Tür;
er konnte sich nicht dazu bringen, sich danach umzusehen.
Nun, da seine Füße einmal stehengeblieben waren, konnte
er sie nicht wieder zum Gehen bringen. Er schauderte und
beobachtete, wie der Myrddraal näher glitt. Bei jedem
langsamen Schritt wurde sein Zittern stärker.
»Sprich, sage ich, oder...«
Von oben kam das schnelle Trampeln von Stiefeln, von
der Treppe weiter hinten im Flur her, und der Myrddraal
unterbrach sich und wirbelte herum. Der Umhang hing
bewegungslos herunter. Einen Augenblick lang beugte der
Blasse den Kopf zur Seite, als könne dieser augenlose
Blick die Holzwand durchbohren. Ein Schwert erschien in
der totenblassen Hand. Die Schneide war genauso schwarz
wie der Umhang. Das Licht im Flur trübte sich in der
Gegenwart dieser Klinge. Das Stiefelgetrampel wurde
lauter, und der Blasse fuhr mit einer knochenlos-weichen
Bewegung wieder zu Rand herum. Die schwarze Klinge
hob sich; dünne Lippen zogen sich in einem tierischen
Knurren hoch. Zitternd wurde Rand klar, daß er sterben
mußte. Mitternachtsstahl zuckte auf seinen Kopf zu... und
verhielt.
»Du gehörst dem Großen Herren der Dunkelheit an.«
Das von rauhem Atmen durchsetzte Krächzen dieser
Stimme klang, als kratzten Fingernägel über eine
Schieferplatte. »Du gehörst ihm.«
Der Blasse wirbelte verschwommen schwarz herum
und eilte den Flur hinunter – weg von Rand. Die Schatten
am Ende des Flurs streckten Arme aus und zogen ihn an
sich, und dann war er verschwunden.
Lan sprang die letzten Stufen herunter und landete mit
einem Krachen, das Schwert in der Hand.
Rand rang um Worte. »Ein Blasser«, keuchte er. »Er
war...«
Plötzlich erinnerte er sich an sein Schwert. Solange der
Myrddraal ihm gegenübergestanden hatte, war ihm dieser
Gedanke überhaupt nicht gekommen. Nun zog er
unbeholfen die Klinge mit dem Reiherzeichen heraus, und
es war ihm gleich, ob es nun zu spät war. »Er ist dort
hinunter gerannt!«
Lan nickte abwesend; er schien nach etwas anderem zu
lauschen. »Ja. Es geht fort, es verschwindet langsam.
Keine Zeit zur Verfolgung. Wir reisen ab, Schafhirte.«
Weitere Stiefel polterten die Treppe herunter: Mat und
Perrin und Thom mit Decken und Satteltaschen beladen.
Mat schnürte im Laufen noch seine Bettrolle; den Bogen
hatte er quer unter den Arm geklemmt.
»Abreisen?« fragte Rand. Er steckte das Schwert
wieder in die Scheide und nahm Thom seine Sachen ab.
»Jetzt? In der Nacht?«
»Willst du warten, bis der Halbmensch zurückkommt,
Schafhirte?« sagte der Behüter ungeduldig. »Auf ein
halbes Dutzend von ihnen? Es weiß jetzt, wo wir sind.«
»Ich werde wieder mit Euch reiten«, sagte Thom zu
dem Behüter, »falls Ihr nichts dagegen habt. Zu viele
Leute erinnern sich daran, daß ich mit Euch gekommen
bin. Ich fürchte, noch vor Anbruch des Tages wird es sich
als schlecht erweisen, als Euer Freund zu gelten.«
»Ihr könnt mit uns oder auch zum Shayol Ghul reiten,
Gaukler.« Lans Scheide dröhnte, so heftig rammte er sein
Schwert hinein.
Ein Stallbursche rannte von der Hintertür her an ihnen
vorbei, und dann erschien Moiraine mit Meister Fitch und
dahinter Egwene mit ihrem zusammengerollten Schal auf
den Armen. Und Nynaeve. Egwene sah beinahe zu Tränen
verängstigt aus, doch das Gesicht der Seherin war eine
Maske aus beherrschtem Zorn.
»Ihr müßt das ernst nehmen«, sagte Moiraine zu dem
Wirt. »Es wird hier spätestens gegen Morgen Ärger
geben. Vielleicht Schattenfreunde, vielleicht auch noch
Schlimmeres. Wenn es beginnt, dann macht ihnen ganz
schnell klar, daß wir fort sind. Leistet keinen Widerstand.
Laßt nur denjenigen, wer es auch sein mag, wissen, daß
wir in der Nacht abgereist sind, dann wird man Euch
nicht weiter belästigen. Sie sind hinter uns her.«
»Macht Euch keine Sorgen in bezug auf Ärger, wie Ihr
es nennt«, antwortete Meister Fitch jovial. »Keine Angst.
Wenn jemand in meine Schenke kommt und meinen
Gästen ans Leder will... dann machen meine Burschen und
ich kurzen Prozeß mit ihnen. Kurzen Prozeß. Und wir
werden ihnen kein Wort darüber sagen, wohin Ihr
geritten oder wann Ihr aufgebrochen seid und noch nicht
einmal, daß Ihr überhaupt hier wart. Ich kann so was
nicht ausstehen. Hier wird keiner ein Wort über Euch
verlieren. Kein Wort!«
»Aber...«
»Frau Alys, ich muß mich jetzt wirklich um Eure
Pferde kümmern, wenn Ihr schnell abreisen wollt.« E r
entzog seinen Ärmel ihrem Griff und trabte in Richtung
Stall.
Moiraine seufzte bedrückt. »Ein schrecklich sturer
Mann. Er hört einfach nicht auf mich.«
»Glaubt Ihr, daß hier Trollocs nach uns suchen
werden?« fragte Mat.
»Trollocs!« fuhr Moiraine ihn an. »Natürlich nicht! Es
gibt andere Dinge, vor denen wir uns fürchten müssen!
Nicht zuletzt, weil man uns hier aufgespürt hat.« Sie
mißachtete Mats Verärgerung und fuhr gleich fort: »Der
Blasse wird nicht glauben, daß wir hier bleiben, nachdem
wir nun wissen, daß er uns gefunden hat. Aber Meister
Fitch nimmt die Schattenfreunde nicht ernst genug. E r
glaubt, sie sind erbärmliche Kriecher, die sich in den
Schatten verstecken, aber Schattenfreunde findet man in
den Läden und in den Straßen einer jeden Stadt und
manchmal auch in den höchsten Ratsversammlungen. Der
Myrddraal schickt sie vielleicht aus, um herauszufinden,
was wir planen.« Sie drehte sich auf der Stelle um und
ging, dicht gefolgt von Lan.
Als sie zu den Ställen weitergingen, lief Rand neben
Nynaeve her. Auch sie trug ihre Satteltaschen und Decken.
»Also kommst du nun doch mit«, sagte er. Min hatte
recht.
»War da wirklich etwas hier unten?« fragte sie ruhig.
»Sie behauptete, es sei...« Sie schwieg plötzlich und sah
ihn an.
»Ein Blasser«, antwortete er. Es überraschte ihn selbst,
daß er so ruhig darüber sprechen konnte. »Er war im
Flur bei mir, und dann kam Lan.«
Nynaeve zog ihren Umhang zurecht, um sich vor dem
Wind zu schützen, als sie die Schenke verließen.
»Vielleicht ist etwas hinter euch her. Aber ich bin
gekommen, um euch sicher nach Emondsfeld
zurückzubringen, euch alle, und ich werde nicht gehen,
bevor ich das nicht erreicht habe. Ich lasse euch nicht mit
einer von ihrer Art allein.« In den Ställen bewegten sich
Laternen, wo die Stallburschen ihre Pferde sattelten.
»Mutch!« rief der Wirt von der Stalltür her, wo er mit
Moiraine stand. »Beweg deine Knochen!« Er wandte sich
wieder ihr zu. Dabei schien er zu versuchen, sie zu
beruhigen, anstatt ihr richtig zuzuhören, auch wenn er es
auf sehr ehrerbietige Art tat. Zwischen den Befehlen an
die Stallknechte verbeugte er sich immer wieder.
Die Pferde wurden herausgeführt. Die Stallknechte
beschwerten sich leise über die Eile und die späte Abreise.
Rand hielt Egwenes Bündel und reichte es ihr hinauf, als
sie auf Belas Rücken Platz genommen hatte. Sie sah ihn
mit großen, angsterfüllten Augen an. Wenigstens glaubt
sie jetzt nicht mehr, daß es bloß ein Abenteuer ist.
Er schämte sich, kaum daß ihm dieser Gedanke
gekommen war. Sie befand sich seinetwegen und der
anderen wegen in Gefahr. Selbst allein nach Emondsfeld
heimzureiten wäre sicherer, als mit ihnen weiterzuziehen.
»Egwene, ich...«
Die Worte erstarben ihm im Mund. Sie war zu
halsstarrig, um jetzt zurückzukehren, nicht, nachdem sie
gesagt hatte, sie werde bis Tar Valon dabei sein. Wie ist es
mit dem, was Min gesehen hat? Sie ist ein Teil des
Ganzen. Licht, wovon eigentlich?
»Egwene«, sagte er, »es tut mir leid. Ich kann einfach
nicht mehr klar denken.«
Sie beugte sich herunter und drückte ihm fest die Hand.
Im Licht vom Stall her konnte er ihr Gesicht ganz deutlich
sehen. Sie sah nicht mehr so verängstigt aus wie vorher.
Als sie alle aufgesessen waren, bestand Meister Fitch
darauf, sie selbst zum Tor zu führen, während die
Stallburschen den Weg mit ihren Laternen beleuchteten.
Der rundliche Wirt verabschiedete sich unter
Verbeugungen und versicherte ihnen, er werde ihr
Geheimnis wahren, und er lud sie ein wiederzukommen.
Mutch beobachtete ihren Abschied genauso mürrisch, wie
er ihre Ankunft beobachtet hatte.
Das war einer, dachte Rand, der keineswegs kurzen
Prozeß mit jemandem machen oder überhaupt jemanden
abweisen würde. Mutch würde dem ersten, der ihn fragte,
erzählen, wann sie losgeritten waren und alles andere
außerdem, was sie betraf. Ein kleines Stück die Straße
hinunter blickte er zurück. Eine Gestalt stand noch da, die
Laterne hoch erhoben, und sah ihnen nach. Er mußte das
Gesicht nicht sehen, um zu wissen, daß es sich um Mutch
handelte.
Zu dieser Nachtstunde lagen die Straßen Baerlons
verlassen da. Den geschlossenen Fensterläden entkamen
nur hier und da schwache Lichtstrahlen, und der
Mondschein veränderte seine Helligkeit ständig durch die
vom Wind getriebenen Wolkenfetzen. Gelegentlich bellte
ein Hund, wenn sie an einer Einfahrt vorbeikamen, aber
ansonsten störte kein anderer Laut die Nachtruhe, bis auf
das Hufegeklapper ihrer Pferde und den Wind, der über
die Dächer pfiff. Die Reiter schwiegen. Jeder war in
seinen Umhang gehüllt und hing seinen eigenen Gedanken
nach.
Wie gewöhnlich führte der Behüter sie an, und
Moiraine und Egwene ritten dicht hinter ihm. Nynaeve
hielt sich nahe bei dem Mädchen, während die anderen
eng zusammengedrückt den Schluß bildeten. Lan ließ die
Pferde eine schnelle Gangart anschlagen.
Rand beobachtete die Straßen um sie herum
mißtrauisch, und er bemerkte, daß seine Freunde es ihm
gleichtaten. Die sich verschiebenden Schatten, die der
Mond warf, erinnerten ihn an die Schatten am Ende des
Flurs und wie sie scheinbar nach dem Blassen gegriffen
hatten. Bei jedem gelegentlichen Geräusch in der Ferne,
wie einem heruntergefallenen Faß oder dem Bellen eines
weiteren Hundes, fuhren alle Köpfe ruckartig herum.
Langsam und beinahe unmerklich rückten sie bei ihrem
Weg durch die Stadt immer näher an Lans schwarzen
Hengst und Moiraines weiße Stute heran.
Am Caemlyn-Tor stieg Lan ab und hämmerte mit der
Faust an die Tür eines kleinen, viereckigen Steingebäudes,
das an die Stadtmauer angebaut war. Ein müder Wächter
erschien. Er rieb sich schläfrig die Augen. Als Lan
sprach, verschwand seine Schlaftrunkenheit, und er sah an
dem Behüter vorbei und betrachtete die anderen. »Ihr
wollt die Stadt verlassen?« rief er. »Jetzt? Mitten in der
Nacht? Ihr müßt verrückt geworden sein!«
»Wenn es keinen Befehl des Statthalters gibt, der unsere
Abreise verbietet...?« sagte Moiraine. Sie war ebenfalls
abgestiegen, aber sie blieb von der Tür weg und mied das
aus ihr auf die dunkle Straße fallende Licht. »Nicht direkt,
Herrin.« Der Wächter sah angestrengt nach ihr und
verzog das Gesicht bei dem Versuch, ihres zu erkennen.
»Aber die Tore sind zwischen Sonnenuntergang und
Sonnenaufgang geschlossen. Man kann nur bei Tageslicht
hereinkommen. So lautet der Befehl. Außerdem gibt es
dort draußen Wölfe. Letzte Woche haben sie ein Dutzend
Kühe gerissen. Könnten auch einen Menschen ganz leicht
töten.«
»Keiner darf hereinkommen, aber der Befehl sagt
nichts vom Verlassen der Stadt«, sagte Moiraine, als sei
damit das letzte Wort gesprochen. »Seht Ihr? Wir
verlangen nicht, daß Ihr dem Befehl des Statthalters
zuwiderhandelt.«
Lan drückte dem Wächter etwas in die Hand. »Für
Eure Mühe«, murmelte er.
»Ich schätze«, sagte der Wächter bedächtig. Er sah auf
seine Hand hinunter; Gold glänzte darin, und er steckte
den Inhalt hastig in seine Tasche. »Ich schätze, der Befehl
sagt nichts über das Verlassen der Stadt aus. Einen
Moment, bitte.« Er steckte den Kopf durch die Tür.
»Arin! Dar! Kommt heraus und helft mir, das Tor zu
öffnen. Da sind Leute, die hinaus wollen. Widersprecht
nicht! Tut's einfach!«
Zwei weitere Wächter kamen aus dem Haus, blieben
stehen und betrachteten in schläfriger Überraschung die
Reisegesellschaft von acht Leuten, die darauf wartete,
hinausgelassen zu werden. Unter den Anweisungen des
ersten Wächters schlurften sie hinüber und drehten das
große Rad, mit dem der dicke Riegel heruntergelassen
wurde. Dann konzentrierten sie ihre Anstrengungen
darauf, das Tor aufzuschieben. Das Sperrad klickte schnell
beim Mitdrehen, aber die gut geölten Torflügel
schwangen ansonsten lautlos auf. Bevor sie allerdings auch
nur ein Viertel geöffnet waren, sprach eine kalte Stimme
aus der Dunkelheit: »Was soll das bedeuten? Muß dieses
Tor nicht bis Sonnenaufgang geschlossen bleiben?«
Fünf in weiße Mäntel gehüllte Gestalten traten in den
Lichtschein aus der Tür des Wachhauses. Ihre Schals
waren hochgezogen und verbargen die Gesichter, aber
jeder der Männer hatte eine Hand auf den Griff seines
Schwertes gelegt, und die goldenen Sonnen auf ihrer
linken Brustseite zeigten deutlich, wer sie waren. Mat
fluchte leise vor sich hin. Die Wächter hörten auf zu
drehen und sahen sich unentschlossen an.
»Das geht Euch nichts an«, sagte der erste Wächter
grob. Fünf weiße Kapuzen drehten sich zu ihm hin und er
endete mit kläglicher Stimme: »Die Kinder haben hier
nichts zu sagen. Der Statthalter...«
»Die Kinder des Lichts«, sagte der Mann im weißen
Mantel, der zuerst gesprochen hatte, sanft, »haben etwas
zu sagen, wo auch immer Menschen im Licht wandeln.
Nur dort, wo der Schatten des Dunklen Königs regiert,
lehnt man die Kinder ab, ja?« Er drehte sich vom Wächter
weg Lan zu, und dann plötzlich sah er sich den Behüter
genauer und aufmerksamer an.
Der Behüter hatte sich nicht bewegt; im Gegenteil, er
wirkte völlig entspannt. Doch nicht viele Menschen waren
in der Lage, die Kinder so unbeachtet zu lassen. Lans
steinernes Gesicht hätte genausogut einen Schuhputzer
anblicken können. Als der Weißmantel weitersprach,
klang es mißtrauisch.
»Welche Art von Menschen will die Mauern einer Stadt
zu dieser Nachtzeit und in solchen Zeiten verlassen? Wenn
Wölfe in der Dunkelheit lauern und das Geschöpf des
Dunklen Königs über die Stadt fliegt?« Er betrachtete das
geflochtene Lederband um Lans Stirn, das seine langen
Haare zurückhielt. »Einer aus dem Norden, ja?«
Rand machte sich im Sattel kleiner. Ein Draghkar. Es
mußte einer sein, außer der Mann hätte irgend etwas, das
er nicht verstand, einfach als ein Geschöpf des Dunklen
Königs bezeichnet. Wenn schon ein Blasser im Hirsch und
Löwen war, dann sollte man auch einen Draghkar
erwarten, doch im Moment wollte er darüber nicht
nachdenken. Er glaubte, die Stimme des Weißmantels zu
erkennen.
»Reisende«, erwiderte Lan ruhig. »Unwichtig, was
Euch und die Euren betrifft.«
»Für die Kinder des Lichts ist niemand unwichtig.«
Lan schüttelte leicht den Kopf. »Wollt Ihr wirklich
noch mehr Schwierigkeiten mit dem Statthalter
bekommen? Er hat Eure Anzahl in der Stadt beschränkt,
auch wenn Ihr seinen Befehlen hier gehorcht. Was wird er
tun, wenn er feststellt, daß Ihr ehrliche Bürger an seinen
Toren belästigt?« Er wandte sich dem Wächter zu.
»Warum habt Ihr aufgehört?« Sie zögerten, legten die
Hände auf die Winde und zögerten doch wieder, als der
Weißmantel sprach.
»Der Statthalter weiß nicht, was unter seiner eigenen
Nase geschieht. Es gibt Böses, das er nicht sieht oder
riecht. Aber die Kinder des Lichts sehen es.« Die Wächter
sahen sich an; ihre Hände öffneten und schlossen sich, als
bedauerten sie, ihre Speere im Wachhaus gelassen zu
haben. »Die Kinder des Lichts riechen das Böse.« Die
Augen des Weißmantels kehrten zu den Berittenen zurück.
»Wir riechen es und jäten es, wo immer wir das Böse
finden.«
Rand versuchte, sich noch kleiner zu machen, aber die
Bewegung erregte die Aufmerksamkeit des Mannes. »Was
haben wir denn hier? Jemand, der nicht gesehen werden
möchte? Was wollt Ihr...? Ah!« Der Mann streifte die
Kapuze seines weißen Mantels zurück, und Rand blickte in
das Gesicht, von dem er gewußt hatte, daß es da war.
Bornhald nickte in offensichtlicher Befriedigung. »Ganz
eindeutig, Wächter, habe ich Euch vor einer großen
Katastrophe bewahrt. Dies sind Schattenfreunde, denen
Ihr beinahe geholfen hättet, vor dem Licht zu entfliehen.
Ihr solltet dem Statthalter zur Bestrafung gemeldet
werden, oder vielleicht sollte man Euch den
Folterknechten zur Befragung überstellen, um
herauszufinden, was Ihr heute nacht wirklich geplant
hattet.« Er unterbrach sich und sah den Wächter scharf
an. Seine Worte schienen jedoch keine Wirkung gehabt zu
haben. »Das wollt Ihr doch nicht, oder? Statt dessen werde
ich diese Schurken in unser Lager bringen, damit man sie
im Licht befragen kann – statt Eurer, ja?«
»Ihr wollt mich in Euer Lager bringen, Weißmantel?«
Moiraines Stimme kam plötzlich aus allen Richtungen
gleichzeitig. Beim Näherkommen der Kinder hatte sie sich
in die Nacht zurückgezogen, und sie war von dichten
Schatten eingehüllt. »Ihr wollt mich verhören?« Die
Dunkelheit verzerrte ihre Gestalt, als sie einen Schritt
vorwärts tat; sie ließ sie größer erscheinen. »Ihr wollt
meinen Weg versperren?«
Ein weiterer Schritt, und Rand schnappte nach Luft. Sie
war größer. Ihr Kopf befand sich auf einer Höhe mit
seinem, obwohl er auf dem Rücken des Grauen saß.
Schatten hingen wie Gewitterwolken um ihr Gesicht
herum.
»Aes Sedai!« rief Bornhald, und fünf Schwerter fuhren
aus ihren Scheiden. »Stirb!« Die anderen vier zögerten,
doch er hieb in Fortführung der Bewegung, mit der er
sein Schwert gezogen hatte, bereits nach ihr. Rand schrie
auf, als Moiraines Stab sich hob, um die Klinge
abzufangen. Dieser fein geschnitzte Holzstab konnte wohl
kaum den mit voller Kraft geschwungenen Stahl aufhalten.
Schwert und Stab berührten einander, und eine
Funkenfontäne sprühte auf. Ein Zischen und Dröhnen,
und Bornhald wurde auf seine weißgekleideten Begleiter
geschleudert. Alle fünf fielen übereinander. Aus
Bornhalds Schwert erhoben sich Rauchfäden. Das Schwert
lag neben ihm am Boden. Die Klinge war im rechten
Winkel verbogen und beinahe in zwei Teile geschmolzen.
»Ihr wagt es, mich anzugreifen?« Moiraines Stimme rollte
wie Donner. Schatten wand sich um sie und verhüllte sie
wie ein Kapuzenmantel. Sie ragte so hoch auf wie die
Stadtmauer. Ihre Augen glühten auf sie hinunter: ein
Riese, der Insekten anblickte.
»Weg!« schrie Lan. In einer blitzschnellen Bewegung
riß er die Zügel von Moiraines Stute an sich und sprang in
seinen eigenen Sattel. »Jetzt!« kommandierte er. Seine
Schultern streiften die Torflügel, als sein Hengst wie ein
geworfener Stein durch die enge Öffnung sauste. Einen
Moment lang saß Rand wie angewurzelt da und stierte
Moiraine an. Ihr Kopf und ihre Schultern ragten nun über
die Mauer hinaus. Wächter genauso wie Kinder duckten
sich und kauerten mit dem Rücken zur Wand an der
Vorderseite des Wachhauses. Das Gesicht der Aes Sedai
verlor sich in der Nacht, doch ihre Augen, so groß wie
Vollmonde, zeigten Ungeduld und Ärger, als ihr Blick auf
ihn fiel. Er schluckte schwer, rammte Wolke die Fersen in
die Flanken und galoppierte hinter den anderen her.
Fünfzig Schritte von der Mauer entfernt ließ Lan sie
noch einmal anhalten, und Rand blickte zurück. Moiraines
schattenhafte Gestalt ragte hoch über der Palisadenwand
auf. Kopf und Schultern bildeten ein Stück noch tieferer
Dunkelheit vor dem Nachthimmel und waren vom Schein
des dahinter verborgenen Mondes wie von einer silbernen
Aura umrahmt. Als er mit offenem Mund auf die Gestalt
starrte, schritt die Aes Sedai über die Mauer hinweg. Die
Torflügel schlossen sich hastig. Sobald ihre Füße den
Boden außerhalb der Stadt berührten, hatte sie plötzlich
wieder ihre normale Größe.
»Haltet ein!« rief eine unsichere Stimme hinter der
Mauer. Rand glaubte, es sei Bornhald. »Wir müssen sie
verfolgen und gefangennehmen!« Aber die Wächter
verlangsamten ihr Arbeitstempo keineswegs. Die
Torflügel schlugen zu, und Augenblicke später krachte
der Riegel herunter und verschloß das Tor. Vielleicht
haben einige der anderen Weißmäntel ein geringeres
Bedürfnis, sich einer Aes Sedai zum Kampf zu stellen, als
Bornhald.
Moiraine eilte zu Aldieb und streichelte der Stute über
die Nase, bevor sie ihren Stab hinter den Sattelgurt schob.
Diesmal mußte Rand gar nicht erst hinsehen, um zu
wissen, daß der Stab noch nicht einmal eine Kerbe
aufwies.
»Ihr wart größer als ein Riese«, sagte Egwene atemlos
und rutschte auf Belas Sattel hin und her. Keiner der
anderen sagte etwas, obwohl Mat und Perrin ihre Pferde
ein wenig von der Aes Sedai wegtänzeln ließen.
»Tatsächlich?« sagte Moiraine abwesend, als sie sich in
ihren Sattel schwang.
»Ich habe Euch gesehen«, beharrte Egwene.
»Der Verstand spielt einem in der Nacht manchen
Streich; das Auge sieht etwas, das nicht da ist.«
»Das ist nicht die richtige Zeit für Spiele«, begann
Nynaeve wütend, aber Moiraine unterbrach sie sofort.
»Wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für Spiele. Der
Vorsprung, den wir im Hirsch und Löwen gewonnen
haben, ist nun vielleicht wieder verloren.« Sie sah zum
Tor zurück und schüttelte den Kopf. »Wenn ich nur
glauben könnte, daß sich der Draghkar im Moment auf
dem Boden befindet.« Mit einem Schnüffeln, das nach
Selbstmitleid klang, fügte sie hinzu: »Wenn nur der
Myrddraal wirklich blind wäre. Wenn ich mir schon
etwas wünsche, kann es doch auch gleich das Unmögliche
sein. Ach, spielt keine Rolle. Sie wissen, welchen Weg wir
nehmen müssen, aber mit etwas Glück können wir ihnen
immer einen Schritt voraus sein. Lan!«
Der Behüter ritt los – die Straße nach Caemlyn in
östlicher Richtung hinunter. Die anderen folgten dicht
hinter ihm. Die Hufe trommelten in gleichmäßigem
Rhythmus auf die festgetrampelte Erde.
Sie behielten ein gleichmäßiges Tempo bei, einen
schnellen Trab, den die Pferde stundenlang auch ohne die
Hilfe einer Aes Sedai durchhalten konnten. Bevor sie
jedoch nur eine Stunde unterwegs waren, stieß Mat einen
Schrei aus und zeigte nach hinten. »Seht dort!«
Sie ließen die Pferde anhalten und blickten zurück.
Flammen erhellten die Nacht über Baerlon, als habe
jemand ein Freudenfeuer von der Größe eines Hauses
angelegt. Die Unterseite der Wolken war rot gefärbt. Der
Wind wirbelte Funkenströme durch die Luft.
»Ich habe ihn gewarnt«, sagte Moiraine, »aber er
wollte es nicht ernst nehmen.« Aldieb tänzelte zur Seite.
Die Bewegung spiegelte die Enttäuschung der Aes Sedai
wider. »Er wollte es nicht ernst nehmen.«
»Die Schenke?« fragte Perrin. »Das ist der Hirsch und
Löwe? Wie könnt Ihr so sicher sein?«
»Wie lange wirst du noch an Zufälle glauben?« fragte
Thom. »Es könnte auch das Haus des Statthalters sein,
aber das ist es nicht. Und es ist kein Lagerhaus oder
irgendein Herd, der eine Küche in Brand setzte, und auch
nicht der Heustadel deiner Großmutter.«
»Vielleicht leuchtet uns das Licht ein wenig heute
nacht«, sagte Lan, und Egwene fuhr ihn zornig an: »Wie
könnt Ihr so etwas sagen? Die Schenke des armen Meister
Fitch steht in Flammen! Menschen könnten verletzt
werden!«
»Wenn sie die Schenke angegriffen haben«, sagte
Moiraine, »dann blieb möglicherweise unser Ritt aus der
Stadt und mein... Kunststück unbemerkt.«
»Oder das ist genau das, was uns der Myrddraal
glauben machen will«, fügte Lan hinzu.
Moiraine nickte in der Dunkelheit. »Vielleicht. Auf
jeden Fall müssen wir schnell weiter. Diese Nacht wird
sich keiner von uns ausruhen können.«
»Ihr sagt das so leichthin, Moiraine«, rief Nynaeve.
»Was ist mit den Menschen in der Schenke? Es muß
Verwundete geben, und der Wirt hat seinen
Lebensunterhalt Euretwegen verloren! Mit all Eurem
Geschwätz darüber, im Licht zu wandeln, wollt Ihr
bereitwillig weiterreiten, ohne an ihn zu denken. Er hat
Euretwegen nun Schwierigkeiten!«
»Wegen diesen dreien«, sagte Lan zornig. »Das Feuer,
die Verwundeten, alles geschieht wegen diesen drei
Burschen. Die Tatsache, daß ein solcher Preis bezahlt
werden muß, zeigt, daß er das Bezahlen wert ist. Der
Dunkle König will diese Jungen haben, und alles, wonach
er so angestrengt sucht, muß von ihm ferngehalten
werden. Oder überlaßt Ihr sie nun dem Blassen?«
»Beruhige dich, Lan«, sagte Moiraine. »Entspanne
dich. Seherin, glaubt Ihr, ich könne Meister Fitch und den
Leuten in der Schenke helfen? Na ja, Ihr habt recht.«
Nynaeve wollte etwas sagen, aber Moiraine wischte es mit
einer Handbewegung zur Seite und fuhr fort: »Ich kann
allein zurückgehen und helfen. Nicht zu viel natürlich.
Das würde die Aufmerksamkeit auf jene lenken, denen ich
helfe, und dafür würden sie mir nicht danken, besonders
weil die Kinder des Lichts in der Stadt sind. Dann wäre
allerdings nur Lan übrig, euch zu schützen. Er ist sehr
fähig, aber es wird doch mehr nötig sein, falls ihr von
einem Myrddraal und einer Faust Trollocs aufgespürt
werdet. Natürlich könnten wir auch alle zurückkehren,
obwohl ich bezweifle, daß ich alle unbemerkt wieder nach
Baerlon hineinbringen könnte. Das würde euch alle dem-
jenigen aussetzen, der das Feuer gelegt hat, von den Weiß-
mänteln ganz zu schweigen. Welche Möglichkeit würdet
Ihr wählen, Seherin, wenn Ihr an meiner Stelle wärt?«
»Ich würde etwas unternehmen«, murmelte Nynaeve
undeutlich.
»Und höchstwahrscheinlich dem Dunklen König seinen
Sieg schenken«, antwortete Moiraine. »Denkt daran, was –
wer – es ist, den er haben will. Wir befinden uns in einem
Krieg, genauso wie die Leute in Ghealdan, obwohl dort
Tausende kämpfen und hier nur acht von uns. Ich werde
Meister Fitch Gold schicken lassen, genug, um den Hirsch
und Löwen wieder aufbauen zu lassen, Gold, dessen Weg
man nicht nach Tar Valon zurückverfolgen kann. Und
natürlich auch Hilfe für alle, die verletzt wurden. Alles
weitere würde sie aber nur gefährden. Es ist keineswegs
einfach, wie Ihr seht. Lan.« Der Behüter ließ sein Pferd
wenden und ritt wieder los.
Von Zeit zu Zeit blickte Rand zurück. Schließlich war
alles, was er noch sehen konnte, das Glühen unter den
Wolken, und dann verlor sich auch das in der Dunkelheit.
Er hoffte, daß Min nichts geschehen war.
Alles war immer noch pechschwarz, als Lan sie endlich
von der festgetrampelten Straße wegführte und abstieg.
Rand schätzte, daß es nur noch wenige Stunden bis zum
Morgen sein konnten. Sie legten den Pferden Fußfesseln
an, ließen sie aber voll gesattelt stehen und bereiteten sich
ein kaltes Lager. »Eine Stunde«, warnte Lan sie, als sich
jeder außer ihm in eine Decke wickelte. Er würde Wache
stehen, während sie schliefen. »Eine Stunde, dann müssen
wir uns wieder auf den Weg machen.« Stille senkte sich
über sie.
Nach ein paar Minuten flüsterte Mat Rand etwas so leise
zu, daß er es kaum hören konnte: »Ich frage mich, was
Dav mit dem Dachs angefangen hat.« Rand schüttelte
schweigend den Kopf, und Mat zögerte. Schließlich sagte
er: »Ich dachte, wir seien sicher, weißt du, Rand? Kein
Anzeichen einer Verfolgung, seit wir den Taren
überquerten, und dann waren wir auch noch in einer
befestigten Stadt. Ich dachte, wir seien in Sicherheit. Und
dann dieser Traum. Und ein Blasser. Werden wir jemals
wieder sicher sein?«
»Nicht, bevor wir Tar Valon erreichen«, sagte Rand.
»Das hat sie uns gesagt.«
»Werden wir uns dann in Sicherheit befinden?« fragte
Perrin leise, und alle drei schauten hinüber zu der
schattenhaften Erhebung am Boden, die von der Aes Sedai
zu sehen war. Lan war mit der Dunkelheit verschmolzen;
er konnte überall sein.
Rand gähnte plötzlich anhaltend. Die anderen zuckten
bei dem Geräusch nervös zusammen. »Ich glaube, wir
sollten ein wenig schlafen«, sagte er. »Wach zu bleiben
hilft uns auch nicht, Antworten auf unsere Fragen zu
finden.«
Perrin sagte ruhig: »Sie hätte etwas tun sollen.«
Keiner antwortete.
Rand drehte sich auf die Seite, um eine Wurzel zu
meiden, legte sich auf den Rücken, rollte sich von einem
Stein weg auf den Bauch und lag schon wieder auf einer
Wurzel. Sie hatten nicht gerade an einem guten Lagerplatz
Halt gemacht, keinem wie jene, die der Behüter auf
seinem Weg vom Taren nach Norden ausgewählt hatte. E r
schlief mit dem Gedanken ein, ob ihn die in seine Rippen
gebohrten Wurzeln wohl zum Träumen bringen würden,
und erwachte, als Lan seine Schulter berührte. Seine
Rippen schmerzten, und er war dankbar dafür, daß er sich
nicht an irgendwelche Träume erinnern konnte, falls er
überhaupt welche gehabt hatte. Es war noch in der
Dunkelheit kurz vor Anbruch der Dämmerung, doch als
die Decken eingerollt und hinter die Sättel geschnallt
waren, ließ Lan sie weiter nach Osten zu reiten. Bei
Sonnenaufgang bereiteten sie sich mit rotgeränderten
Augen ein Frühstück mit Brot und Käse und Wasser und
aßen im Reiten. Ihre Umhänge hatten sie zum Schutz
gegen den Wind ganz eng um sich herumgeschlungen.
Alle außer Lan natürlich. Er aß, und seine Augen wiesen
keine roten Ränder auf, und er duckte sich nicht in den
Sattel. Er hatte wieder seinen farbverändernden Umhang
angelegt, und der flatterte um seine Gestalt, wechselte von
Grau zu Grün, und er achtete nur insofern darauf, als daß
er seinen Schwertarm frei hielt. Sein Gesicht blieb
ausdruckslos, aber seine Augen suchten fortwährend, als
erwarte er ständig einen Überfall.
KAPITEL 18

Die Straße nach Caemlyn


Die Straße nach Caemlyn unterschied sich nicht wesentlich
von der Nordstraße durch das Gebiet der Zwei Flüsse. Sie
war natürlich um einiges breiter und zeigte deutlich mehr
Merkmale von Beanspruchung, aber sie bestand immer
noch aus festgetrampeltem Lehm und war auf beiden
Seiten von Bäumen umrahmt, die man auch in den Zwei
Flüssen hätte finden können, besonders jetzt, wo nur die
Nadelbäume noch Grün zeigten.
Das umliegende Land sah allerdings anders aus, denn
gegen Mittag erreichten sie ein Gebiet niedriger Hügel.
Zwei Tage lang führte die Straße durch diese Hügel –
schnitt sogar manchmal mitten hindurch, wo sie so breit
waren, daß die Straße einen großen Bogen gemacht hätte,
und nicht groß genug, um das Durchgraben zu schwierig
zu gestalten. Als sich der Einfallswinkel des Sonnenlichts
jeden Tag ein wenig veränderte, wurde ihnen klar, daß
sich die so gerade erscheinende Straße auf ihrem Weg
nach Osten ganz langsam in Richtung Süden krümmte.
Rand hatte sich, wie die Hälfte aller Jungen in
Emondsfeld, im Geist immer wieder mit Meister al'Veres
alter Landkarte beschäftigt, und er erinnerte sich nun
daran, daß sie etwas, genannt die ›Hügel von Abscher‹,
umrundete und dann nach Weißbrücke führte.
Von Zeit zu Zeit ließ Lan sie alle auf der Spitze eines
Hügels absteigen, von wo aus er die Straße voraus und
hinter ihnen und natürlich auch das Land um sie herum
gut überblicken konnte. Der Behüter sah sich dann alles
sehr genau an, während die anderen sich die Beine
vertraten oder sich unter einen Baum setzten und etwas
aßen.
»Ich mochte Käse früher einmal«, sagte Egwene am
dritten Tag, nachdem sie Baerlon verlassen hatten: Sie
hatte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt
und verzog das Gesicht bei diesem Mittagessen. Es war
das gleiche wie beim Frühstück, und das Abendessen
würde auch nicht anders aussehen. »Keine Gelegenheit,
wenigstens Tee zu trinken. Schönen heißen Tee.« Sie zog
den Umhang enger zusammen und veränderte ihre
Stellung hinter dem Baum in einem vergeblichen Versuch,
dem fauchenden Wind zu entgehen.
»Flachwurz-Tee und Andilei Wurzeln sind die besten
Mittel gegen Erschöpfung«, sagte Nynaeve zu Moiraine.
»Sie machen den Kopf wieder frei und dämpfen das
Brennen der erschöpften Muskeln.«
»Da bin ich ganz Eurer Meinung«, murmelte die Aes
Sedai und sah Nynaeve von der Seite her an.
Nynaeves Unterkiefer verkrampfte sich, doch sie fuhr
im gleichen Tonfall fort. »Wenn man längere Zeit ohne
Schlaf auskommen muß...«
»Kein Tee!« sagte Lan in scharfem Ton zu Egwene.
»Kein Feuer! Wir können sie noch nicht sehen, aber sie
sind irgendwo dort hinten, ein oder zwei Blasse und ihre
Trollocs, und sie wissen, daß wir uns auf dieser Straße
befinden. Wir müssen ihnen nicht auch noch genau zeigen,
wo wir sind.«
»Ich habe keinen Tee verlangt«, murmelte Egwene in
ihren Umhang hinein. »Ich habe es nur bedauert.«
»Wenn sie wissen, daß wir auf der Straße sind«, fragte
Perrin, »warum kürzen wir dann nicht ab und reiten über
Land nach Weißbrücke?«
»Selbst Lan kann querfeldein nicht so schnell
vorwärtskommen wie über die Straße«, sagte Moiraine
und unterbrach damit Nynaeve, »und vor allem nicht
durch die Hügel von Abscher.« Die Seherin seufzte
ergeben. Rand fragte sich, was sie wohl plante. Nachdem
sie am ersten Tag die Aes Sedai vollständig ignoriert
hatte, hatte sie anschließend versucht, ständig mit ihr über
Kräuter zu sprechen. Moiraine entfernte sich von der
Seherin, als sie fortfuhr: »Warum glaubt Ihr, daß die
Straße einen Bogen um sie macht? Und wir müßten
schließlich doch wieder auf diese Straße zurückkommen.
Es könnte sein, daß sie sich dann vor uns befänden und
nicht hinter uns.«
Rand sah zweifelnd drein, und Mat äußerte etwas von
einem »langen Umweg«.
»Habt Ihr heute morgen einen Bauernhof gesehen?«
fragte Lan. »Oder wenigstens Rauch aus einem
Schornstein? Nein, denn zwischen Baerlon und
Weißbrücke liegt nur Wildnis, und in Weißbrücke müssen
wir den Arinelle überqueren. Dort ist die einzige Brücke
über den Arinelle südlich von Maradon in Saldaea.«
Thom schnaubte und pustete die Enden seines
Schnurrbarts hoch. »Was kann sie daran hindern,
jemanden oder etwas bereits jetzt nach Weißbrücke zu
schicken?«
Aus westlicher Richtung kam das durchdringende
Wehklagen eines Horns. Lans Kopf fuhr herum, und er
musterte die Straße hinter ihnen. Rand lief es kalt den
Rücken herunter. Ein Teil seines Verstands jedoch blieb
ganz ruhig und schätzte die Entfernung auf höchstens zehn
Meilen ein.
»Nichts kann sie daran hindern, Gaukler«, sagte der
Behüter. »Wir vertrauen dem Licht und unserem Glück.
Aber nun wissen wir sicher, daß Trollocs hinter uns her
sind.«
Moiraine wischte sich die Hände ab. »Es wird Zeit für
uns, weiterzureiten.« Die Aes Sedai bestieg ihre weiße
Stute.
Das löste einen Ansturm auf die Pferde aus, der noch
beschleunigt wurde, als das Horn ein zweites Mal erklang.
Diesmal antworteten andere. Die dünnen Töne trieben
vom Westen her wie ein Trauerlied durch die Lüfte. Rand
bereitete sich darauf vor, Wolke gleich in vollem Galopp
laufen zu lassen, und die anderen rissen mit der gleichen
verzweifelten Mühe an ihren Zügeln. Alle außer Lan und
Moiraine. Der Behüter und die Aes Sedai sahen sich lange
an.
»Laßt sie weiterreiten, Moiraine Sedai«, sagte Lan
schließlich. »Ich werde zurückkehren, sobald ich nur
kann. Falls ich versage, werdet Ihr es wissen.« Er legte
eine Hand auf den Sattel Mandarbs, sprang mit einem Satz
auf den Rücken des schwarzen Hengstes und galoppierte
den Hügel hinunter. Er ritt gen Westen. Die Hörner
erklangen wieder.
»Das Licht sei mit Euch, letzter Lord der Sieben
Türme«, sagte Moiraine so leise, daß Rand es kaum hören
konnte. Sie holte tief Luft und wandte Aldieb in Richtung
Osten. »Wir müssen weiter«, sagte sie und ritt in
langsamem, gleichmäßigem Tempo los. Die anderen
folgten ihr in einer Linie.
Rand drehte sich einmal im Sattel um und wollte nach
Lan sehen, aber der Behüter war bereits zwischen den
niedrigen Hügeln und kahlen Bäumen außer Sicht geraten.
Letzter Lord der Sieben Türme hatte sie ihn genannt. E r
fragte sich, was das heißen mochte. Er hatte nicht
geglaubt, daß noch jemand außer ihm die Worte
verstanden haben konnte, doch Thom kaute an den Enden
seines Schnurrbarts, und sein Gesicht zeigte einen
Ausdruck, als spekuliere er... Der Gaukler schien eine
Menge zu wissen.
Die Hörner riefen und antworteten noch einmal hinter
ihnen. Rand rutschte im Sattel hin und her. Diesmal waren
sie näher, da war er sich ganz sicher. Acht Meilen.
Vielleicht sieben. Mat und Egwene blickten sich um, und
Perrin duckte sich, als erwarte er, daß ihn etwas im
Rücken treffen werde. Nynaeve ritt schneller, um mit
Moiraine sprechen zu können.
»Können wir nicht schneller reiten?« fragte sie. »Diese
Hörner kommen näher.«
Die Aes Sedai schüttelte den Kopf. »Und warum lassen
sie uns wissen, daß sie da sind? Vielleicht gerade, damit
wir uns beeilen und nicht darüber nachdenken, was uns da
vorn erwarten mag.«
Sie behielten ihr Tempo gleichmäßig bei. Von Zeit zu
Zeit schrien die Hörner hinter ihnen auf, und jedesmal
klangen sie näher. Rand bemühte sich, nicht
nachzurechnen, wie nahe sie sein könnten, aber jedesmal,
wenn das blecherne Wehklagen erklang, rechnete sein
Verstand ungebeten mit. Fünf Meilen, dachte er gerade
voller Grauen, da kam Lan in vollem Galopp hinter ihnen
den Hügel hoch.
Auf Moiraines Höhe hielt er den Hengst an.
»Mindestens drei Fäuste Trollocs, und jede von einem
Halbmenschen angeführt. Vielleicht sind es auch fünf.«
»Wenn Ihr ihnen nahe genug wart, um sie sehen zu
können«, sagte Egwene besorgt, »dann könnten sie Euch
auch gesehen haben. Sie sind Euch vielleicht auf den
Fersen.«
»Sie sahen ihn nicht.« Nynaeve richtete sich im Sattel
auf, als alle sie anblickten. »Erinnert Ihr euch? Ich bin
seiner Spur gefolgt.«
»Ruhe!« befahl Moiraine. »Lan will uns sagen, daß uns
vielleicht an die fünfhundert Trollocs folgen.«
Erschüttertes Schweigen, und dann sagte Lan: »Und sie
holen auf. In einer Stunde oder noch weniger haben sie
uns erreicht.«
Die Aes Sedai meinte, mehr zu sich selbst als zu den
anderen gewandt: »Wenn sie so viele zur Verfügung
hatten, warum wurden sie nicht schon in Emondsfeld
eingesetzt? Und wenn nicht, wie haben sie die alle so
schnell hierherbekommen?«
»Sie rücken auf breiter Front an, um uns vor sich
herzutreiben«, sagte Lan. »Dazu haben sie auch noch
Kundschafter vorgeschickt.«
»Wohin wollen sie uns treiben?« überlegte Moiraine.
Wie zur Antwort erklang im Westen in einiger
Entfernung ein Horn wie ein langgezogener Klagelaut, der
diesmal von anderen vor ihnen beantwortet wurde.
Moiraine hielt Aldieb an. Die anderen folgten ihrem
Beispiel. Thom und die Emondsfelder blickten sich
angsterfüllt um. Hörnerklang vor ihnen und hinter ihnen.
Rand glaubte, aus den Tönen einen gewissen Triumph
herauszuhören.
»Was machen wir jetzt?« fragte Nynaeve zornig.
»Wohin sollen wir uns wenden?«
»Alles, was noch übrigbleibt, sind der Norden und der
Westen«, sagte Moiraine. Es war mehr ein lautes Denken
als eine Antwort auf die Frage der Seherin. »Im Süden
liegen die Hügel von Abscher, kahl und tot, und der
Taren. Aber es gibt hier keinen Übergang und kein Boot.
Im Norden könnten wir den Arinelle vor Einbruch der
Dunkelheit erreichen, und dort ist es auch möglich, das
Boot eines Händlers zu finden. Wenn das Eis bei Maradon
mittlerweile gebrochen ist.«
»Es gibt einen Ort, an den die Trollocs nicht gehen
werden«, sagte Lan, aber Moiraines Kopf fuhr sofort zu
ihm herum.
»Nein!« Sie winkte den Behüter heran, und sie steckten
die Köpfe zusammen, um nicht gehört zu werden.
Die Hörner erklangen, und Rands Pferd tänzelte
nervös.
»Sie versuchen, uns Angst einzujagen«, murrte Thom,
der sich bemühte, sein Pferd zu beruhigen. Er klang halb
wütend und halb, als hätten die Trollocs damit Erfolg
gehabt. »Sie versuchen, uns Angst einzujagen, damit wir
in Panik davonlaufen. Dann erwischen sie uns gewiß.«
Egwenes Kopf drehte sich bei jedem Hornstoß. Zuerst
sah sie nach vorn, dann nach hinten, als halte sie nach den
ersten Trollocs Ausschau. Rand wollte eigentlich das
gleiche tun, doch er bemühte sich, den Drang zu
unterdrücken. Er trieb Wolke näher zu ihr hin. »Wir
reiten nach Norden«, verkündete Moiraine.
Die Hörner tönten schrill, als sie die Straße verließen
und zwischen die sie umgebenden Hügel ritten.
Die Hügel waren wohl niedrig, aber es war ein
ständiges Auf und Ab; niemals ein ebenes Stück Wegs
dazwischen, die Strecke führte unter Bäumen mit kahlen
Asten hinweg und durch totes Unterholz. Die Pferde
erkletterten mühsam einen Hang und galoppierten den
nächsten wieder hinunter. Lan gab ein strammes Tempo
vor; viel schneller als vorher auf der Straße.
Zweige peitschten auf Rands Gesicht und Brust. Alte
Schlingpflanzen wickelten sich um seine Arme und zogen
sogar manchmal seinen Fuß aus dem Steigbügel. Die
durchdringenden Töne aus den Hörnern kamen immer
näher und erklangen immer häufiger.
So sehr sich Lan auch bemühte, sie kamen einfach nicht
sehr schnell vorwärts. Für jeden Schritt nach vorn mußten
sie zwei nach oben und wieder einen nach unten tun, und
jeder Schritt bedeutete ein mühsames Vorwärtsschieben.
Und die Hörner kamen näher. Zwei Meilen, dachte er.
Vielleicht noch weniger.
Nach einer Weile blickte Lan unruhig erst in die eine
Richtung, dann in die andere. Sein Gesicht zeigte beinahe
schon etwas wie Sorge. Einmal stand er aufgerichtet in
den Steigbügeln und starrte nach hinten, woher sie
gekommen waren. Alles, was Rand sehen konnte, waren
Bäume. Lan setzte sich wieder in den Sattel und schob mit
einer unbewußten Geste seinen Umhang zurück, um das
Schwert griffbereit zu haben, während er mit Blicken den
Wald absuchte.
Rand suchte fragend Mats Blick, aber Mat schnitt nur
eine Grimasse in Richtung auf den Rücken des Behüters
und zuckte hilflos die Achseln.
Dann sagte Lan über seine Schulter hinweg: »Trollocs
sind nah.« Sie erreichten die Spitze eines Hügels und
begannen den Abstieg. »Einige Kundschafter, die vor den
anderen herlaufen. Möglicherweise jedenfalls. Wenn wir
auf sie treffen, dann bleibt unter allen Umständen in
meiner Nähe und macht dasselbe wie ich. Wir müssen auf
dem einmal eingeschlagenen Weg verbleiben.«
»Blut und Asche!« murrte Thom. Nynaeve gab Egwene
ein Zeichen, dicht bei ihr zu bleiben.
Verstreute Gruppen von Nadelbäumen boten die einzige
wirkliche Deckung für sie. Rand versuchte, in alle
Richtungen gleichzeitig zu blicken. Seine Phantasie ließ
graue Baumstümpfe, die er aus den Augenwinkeln
erblickte, zu Trollocs werden. Auch die Hörner waren
wieder ein Stück näher. Und direkt hinter ihnen. Da war
er sicher. Hinter ihnen, und sie holten weiter auf.
Wieder erreichten sie einen Hügelkamm. Unter ihnen
begannen gerade Trollocs mit langen Stangen, an deren
Enden sich Seilschlingen oder große Haken befanden, den
Hügel hochzumarschieren. Viele Trollocs. Die Linie
erstreckte sich weit nach beiden Seiten. Ein Ende war
nicht in Sicht, doch in der Mitte, geradewegs vor Lan, ritt
ein Blasser.
Der Myrddraal schien zu zögern, als auf dem Hügel
oben die Menschen erschienen, aber im nächsten
Augenblick schwang er ein Schwert mit der schwarzen
Klinge, an die sich Rand so ungern erinnerte, über seinem
Kopf. Die Trolloc-Kette rannte los.
Noch bevor sich der Myrddraal bewegte, hatte auch
Lan sein Schwert in der Hand. »Bleibt bei mir!« schrie er,
und dann stürzte sich Mandarb hügelabwärts auf die
Trollocs. »Für die Sieben Türme!« rief Lan.
Rand schluckte und rammte dem Grauen die Fersen in
die Flanken. Die ganze Gruppe galoppierte dem Behüter
hinterher. Er war überrascht, Tams Schwert plötzlich in
seiner Faust zu finden. Von Lans Schlachtruf mitgerissen,
fand er einen eigenen: »Manetheren! Manetheren!«
Perrin fiel mit ein. »Manetheren! Manetheren!«
Aber Mat rief: »Carai an Caldazar! Carai an Ellisande!
Al Ellisande!«
Der Kopf des Blassen wandte sich von den Trollocs den
Reitern zu, die ihn angriffen. Das schwarze Schwert
erstarrte über seinem Kopf, und die Öffnung seiner
Kapuze drehte sich hin und her und suchte die auf ihn zu
galoppierenden Reiter ab. Dann hatte Lan den Myrddraal
erreicht, und gleichzeitig griffen die Menschen die Reihe
der Trollocs an. Die Klinge des Behüters traf auf den
schwarzen Stahl aus den Schmieden von Thakan'dar. Es
gab ein Klingen wie von einer großen Glocke. Der Schlag
wurde von den Hügeln als Echo zurückgeworfen, und ein
blauer Blitz erfüllte die Luft wie Wetterleuchten. Beinahe-
Menschen mit Tierschnauzen drängten sich um jeden der
Menschen herum. Fangseile und Haken wurden wild
umhergeschwenkt. Sie mieden nur Lan und den
Myrddraal. Diese beiden fochten in einem freigebliebenen
Kreis. Die Rappen paßten ihren Schritt jeweils dem
anderen an, und die Schwerter parierten einander Schlag
für Schlag. In der Luft blitzte und läutete es.
Wolke rollte mit den Augen und wieherte laut. E r
bäumte sich und schlug mit den Hufen nach den
knurrenden Gesichtern mit ihren scharfen Reißzähnen, die
ihn umgaben. Schwere Körper umringten ihn, Schulter an
Schulter. Rand ließ den Grauen die Fersen spüren und
trieb ihn rücksichtslos vorwärts. Sein Schwert schwang er
– verglichen mit Lan – ungeschickt; er hackte drauflos, als
müsse er Holz spalten. Egwene! Verzweifelt suchte er
nach ihr, als er den Grauen weitertrieb. Er hackte sich
einen Weg durch die haarigen Körper wie durch dichtes
Unterholz.
Moiraines weiße Stute galoppierte und schlug bei der
leisesten Bewegung der Aes Sedai an ihren Zügeln aus.
Moiraines Gesicht war genauso hart wie das Lans, wenn
sie ihren Stab auf die Gegner richtete. Trollocs wurden
von Flammen eingehüllt, die dann mit einem Aufbrüllen
explodierten, das nur noch gekrümmte Gestalten
bewegungslos am Boden zurückließ. Nynaeve und Egwene
ritten in verzweifelter Eile dicht neben der Aes Sedai. Sie
bleckten die Zähne beinahe genauso wild wie die Trollocs
und hatten Dolche in den Händen. Diese kurzen Klingen
wurden ihnen überhaupt nichts nützen, wenn ein Trolloc
ganz nahe kam. Rand versuchte, Wolke in ihre Richtung
zu lenken, aber der Graue ging durch. Wiehernd und
ausschlagend kämpfte er sich weiter vorwärts, gleich, wie
stark Rand an den Zügeln zerrte.
Um die drei Frauen herum ergab sich ein wenig freier
Raum, als Trollocs vor Moiraines Stab flüchteten, doch
wie sie auch versuchten, ihr zu entgehen, so folgte sie
ihnen. Feuer prasselte, und die Trollocs heulten vor Wut
und Kampfeslust. Über dem Prasseln und Heulen donnerte
der Glockenschlag der Schwerter des Behüters und des
Myrddraal; die Luft um sie herum leuchtete blau auf,
dann wieder und immer wieder.
Eine Schlinge am Ende einer Stange fuhr auf Rands
Kopf zu. Mit einem ungeschickten Schlag spaltete er die
Stange in zwei Teile und hackte dann auf den
ziegenbockartigen Trolloc los, der sie hielt. Ein Haken
erwischte seine Schulter von hinten und verfing sich in
seinem Umhang, zog ihn mit einem Ruck nach hinten.
Verzweifelt paßte er das Sattelhorn, um nicht zu stürzen,
wobei er beinahe noch sein Schwert verloren hätte. Wolke
wand sich und wieherte schrill. Rand klammerte sich
voller Angst an Sattel und Zügel. Er fühlte, wie er
Handbreit um Handbreit abrutschte, von dem Haken
gezogen. Wolke drehte sich herum. Einen Augenblick
lang sah Rand Perrin, halb aus dem Sattel hängend, der
mit drei Trollocs um seine Axt kämpfte. Sie hielten ihn an
einem Arm und beiden Beinen fest. Wolke warf sich nach
vorn, und Rands Blickfeld war nur noch von Trollocs
erfüllt.
Ein Trolloc stürmte auf ihn zu und packte sein Bein. E r
zerrte Rands Fuß aus dem Steigbügel. Schwer atmend ließ
er den Sattel fahren, um den Trolloc zu erstechen. Sofort
zog ihn der Haken aus dem Sattel auf Wolkes Hinterhand.
Nur sein verkrampfter Haltegriff am Zügel hielt ihn noch
oben. Wolke bäumte sich auf und wieherte. Und im
gleichen Moment hörte das Zerren auf.
Der Trolloc an seinem Bein riß die Hände hoch und
schrie. Alle Trollocs schrien – ein Heulen, als seien alle
Hunde der Welt auf einmal verrückt geworden.
Um die Menschen herum fielen die Trollocs sich
windend zu Boden, rissen an ihrem Haar und zerkratzten
sich die Gesichter. Alle Trollocs. Sie bissen in den Boden,
schnappten nach der leeren Luft und heulten, heulten,
heulten.
Dann sah Rand den Myrddraal. Er saß noch aufrecht im
Sattel seines wie wahnsinnig tänzelnden Pferdes, das
schwarze Schwert schwang noch herum, doch er hatte
keinen Kopf mehr.
»Er wird noch bis zum Anbruch der Nacht leben!« Der
schwer atmende Thom mußte laut rufen, um über die
nicht nachlassenden Schreie hinweg hörbar zu sein. »Er
wird noch nicht vollständig sterben. Das habe ich
jedenfalls gehört.«
»Reitet!« rief Lan ärgerlich. Der Behüter hatte bereits
Moiraine und die anderen beiden Frauen bei sich, und sie
befanden sich schon halb auf dem nächsten Hügel. »Das
hier sind nicht alle!« Tatsächlich erklangen nun auch die
Hörner wieder, trotz der Schreie der sich am Boden
windenden Trollocs, und zwar aus Osten und Westen und
Süden.
Erstaunlicherweise war Mat der einzige, der nicht mehr
auf seinem Pferd saß. Rand trabte zu ihm hinüber, doch
Mat warf schaudernd eine Schlinge weg, hob seinen Bogen
auf und kletterte ohne Hilfe in seinen Sattel, wobei er sich
allerdings noch die Kehle rieb.
Die Hörner jaulten wie Hunde auf der Spur eines
Hirsches. Jagdhunde, die sich ihrem Opfer näherten.
Wenn Lan schon vorher ein hohes Tempo gehalten hatte,
dann verdoppelte er es jetzt, bis die Pferde schneller die
Hügel hinaufgaloppierten, als sie es zuvor bergab
geschafft hatten. Dann warfen sie sich schon fast auf die
andere Seite. Und doch näherten sich die Hörner
weiterhin, bis sie die rauhen Schreie der Verfolger hören
konnten, wenn die Hörner eine Pause einlegten.
Schließlich erreichten die Menschen die Spitze eines
Hügels in dem Moment, in dem auf dem nächsten Hügel
hinter ihnen Trollocs erschienen. Die Hügelspitze war im
Nu schwarz von Trollocs mit ihren Tierschnauzen, die mit
verzerrten Fratzen heulten, und über allen thronten drei
Myrddraal. Nur hundert Spannen trennten die beiden
Gruppen.
Rands Herz verschrumpelte wie eine alte Traube. Drei!
Die schwarzen Schwerter der Myrddraal hoben sich
gleichzeitig. Eine Woge von Trollocs schäumte den Hang
hinunter. Heftige, triumphierende Schreie erklangen, und
schlingenbewehrte Stangen hüpften über ihren Köpfen
beim Rennen auf und ab.
Moiraine kletterte von Aldiebs Rücken. Ruhig zog sie
etwas aus ihrem Brustbeutel und packte es aus. Rand sah
dunkles Elfenbein schimmern. Das Angreal. Mit dem
Angreal in der einen Hand und dem Stab in der anderen
stellte sich die Aes Sedai entschlossen hin, sah den
heranrennenden Trollocs und den schwertschwingenden
Blassen kühl entgegen, hob ihren Stab in die Luft und
rammte ihn in die Erde.
Der Boden erzitterte und klang wie ein Eisenkessel, der
von einem Holzhammer getroffen wird. Das hohle
Klingen wurde schwächer und verschwand. Einen
Augenblick lang war alles still. Alles schwieg, Der Wind
erstarb. Die Schreie der Trollocs verstummten; sogar ihre
Attacke verlangsamte sich und kam zum Stehen. Einen
Herzschlag lang wartete alles. Langsam kehrte das stumpfe
Klingen wieder, änderte sich zu einem leisen Rumpeln und
wuchs an, bis die Erde aufstöhnte.
Der Boden erzitterte unter Wolkes Hufen. Das war das
Werk einer Aes Sedai, wie es im Buch stand. Rand
wünschte sich hundert Meilen weit fort. Das Zittern
wurde zu einem Beben, das die Bäume um sie herum
wanken ließ. Der Graue stolperte und stürzte beinahe.
Sogar Mandarb und die reiterlose Aldieb torkelten wie
betrunken, und diejenigen, die auf ihren Pferden saßen,
mußten sich an Zügeln und Mähnen festklammern, an
alles, was sie ergreifen konnten, um nicht aus dem Sattel
zu fallen.
Die Aes Sedai stand immer noch wie zu Anfang, hielt
das Angreal und den aufrecht in der Hügelspitze
steckenden Stab, und weder sie noch der Stab bewegten
sich auch nur eine Handbreit von ihrem Platz, obwohl der
Boden wankte und um sie herum erzitterte. Nun wölbte
sich der Boden von ihrem Stab weg; wie auf einem Teich
rollten Wellen auf die Trollocs zu, Wellen, die schnell
wuchsen, alte Büsche wegschwemmten, abgestorbene
Blätter hochwirbelten, weiterwuchsen und als Erdwogen
auf die Trollocs zuschwemmten. Die Bäume im Talkessel
knickten wie Streichhölzer. Auf dem Abhang stürzten
ganze Scharen von Trollocs zu Boden und überschlugen
sich im Wüten der Erde.
Doch als erhöbe sich der Boden überhaupt nicht, so
bewegten sich die Myrddraal nebeneinander vorwärts.
Ihre nachtschwarzen Pferde verloren ihren Rhythmus
nicht; sie hoben jeden Huf im Gleichschritt. Trollocs
rollten um die schwarzen Reittiere auf dem Boden herum,
heulten und griffen nach der kahlen Erde, die sich unter
ihnen aufbäumte, doch die Myrddraal ritten langsam
weiter.
Moiraine hob ihren Stab, und die Erde beruhigte sich,
doch sie war nicht fertig. Sie zeigte auf den Einschnitt
zwischen den Hügeln, und Flammen schossen aus dem
Boden – eine zwanzig Fuß hohe Flammenfontäne. Sie
breitete die Arme aus, und das Feuer breitete sich
ebenfalls nach rechts und links aus, so weit das Auge
blicken konnte. Es wurde zu einer Wand, die Menschen
und Trollocs voneinander trennte. Die Hitze war so stark,
daß Rand selbst oben auf dem Hügelkamm die Hände vors
Gesicht schlug. Die schwarzen Reittiere der Myrddraal,
welche seltsamen Kräfte sie auch immer besitzen mochten,
wieherten wild, bäumten sich auf und kämpften gegen ihre
Reiter an, obwohl die Myrddraal auf sie einschlugen und
versuchten, sie durch die Flammenwand
hindurchzuzwingen. »Blut und Asche«, sagte Mat mit
ersterbender Stimme. Rand nickte betäubt.
Plötzlich wankte Moiraine und wäre gefallen, wäre
nicht Lan von seinem Pferd gesprungen und hätte sie
aufgefangen. »Reitet weiter«, sagte er zu den anderen. Die
Härte seiner Stimme stand in einem merkwürdigen
Gegensatz zu der Sanftheit, mit der er die Aes Sedai in
ihren Sattel hob. »Das Feuer wird nicht ewig brennen!
Beeilt euch! Jede Minute zählt!«
Die Flammenwand tobte, als wolle sie tatsächlich die
Ewigkeit überdauern, aber Rand widersprach nicht. Sie
galoppierten nach Norden, so schnell ihre Pferde nur
konnten. Die Hörner schrillten in einiger Entfernung ihre
Enttäuschung in den Himmel, als wüßten sie bereits, was
geschehen war, und dann schwiegen sie.
Lan und Moiraine holten die anderen schnell ein, auch
wenn Lan Aldieb am Zügel führte, während die Aes Sedai
schwankte und sich mit beiden Händen an das Sattelhorn
klammerte. »Ich bin bald wieder in Ordnung«, sagte sie
auf ihre besorgten Blicke hin. Sie klang müde, aber
selbstbewußt, und ihr Blick war so unwiderstehlich wie
immer. »Ich bin nicht so stark, wenn ich mit Erde und
Feuer arbeiten muß. Eine Kleinigkeit.«
Die beiden begaben sich in schnellem Schritt wieder an
die Spitze. Rand glaubte nicht, daß Moiraine bei noch
höherem Tempo im Sattel hätte bleiben können. Nynaeve
ritt nach vorn neben die Aes Sedai und hielt sie mit einer
Hand aufrecht. Eine Weile lang, während sie über weitere
Hügel ritten, flüsterten die beiden Frauen miteinander,
dann suchte die Seherin in den Taschen ihres Umhangs
und gab Moiraine ein kleines Päckchen. Moiraine
entfaltete es und schluckte den Inhalt. Nynaeve sagte noch
etwas zu ihr und ließ sich dann zu den anderen
zurückfallen, ohne auf ihre neugierigen Blicke zu achten.
Trotz der äußeren Umstände glaubte Rand, bei ihr einen
leichten Ausdruck von Befriedigung zu entdecken.
Es war ihm eigentlich gleichgültig, was die Seherin
machte. Er rieb ständig über den Griff seines Schwertes,
und wenn es ihm bewußt wurde, dann blickte er staunend
darauf hinunter. So also ist eine Schlacht. Er konnte sich
kaum an etwas erinnern, jedenfalls nicht an irgendeine
bestimmte Einzelheit. Alles floß in seinem Kopf zu einem
Brei zusammen, einer geschmolzenen Masse von haarigen
Gesichtern und Angst. Angst und Hitze. Während des
Kampfes war es ihm so heiß vorgekommen wie an einem
Mittsommermittag. Er konnte das nicht verstehen. Der
eisige Wind versuchte, Schweißperlen an seinem Körper
und Gesicht anzufrieren.
Er sah seine beiden Freunde an. Mat wischte sich mit
einem Zipfel seines Umhangs Schweiß von der Stirn.
Perrin, der in die Ferne zu blicken schien und
offensichtlich den Anblick nicht gerade schön fand, war
sich wohl nicht bewußt, daß auch auf seiner Stirn
Schweißperlen glitzerten.
Die Hügel wurden flacher, und das Land wandelte sich
langsam zu einer Ebene, doch anstatt flott weiterzureiten,
hielt Lan an. Nynaeve wollte wieder an Moiraines Seite
reiten, doch der Blick des Behüters hielt sie davon ab. E r
und die Aes Sedai ritten ein wenig voraus und steckten
wieder die Köpfe zusammen. Aus Moiraines Gesten wurde
ersichtlich, daß sie sich stritten. Nynaeve und Thom
beobachteten sie. Die Seherin zog besorgt die Stirn in
Falten. Der Gaukler führte Selbstgespräche und blickte
immer mal wieder zurück. Die anderen vermieden es, Lan
und Moiraine überhaupt anzusehen. Wer wußte schon, was
aus einem Streit zwischen einer Aes Sedai und einem
Behüter entstehen konnte?
Nach ein paar Minuten sprach Egwene Rand leise an,
wobei sie einen unangenehm berührten Blick auf das sich
immer noch streitende Paar warf. »Diese Sachen, die Ihr
den Trollocs entgegengeschrien habt...« Sie hielt inne, als
sei sie nicht sicher, wie sie fortfahren solle.
»Was ist damit?« fragte Rand. Er fühlte sich schon ein
wenig eigenartig dabei – Kriegsgeschrei mochte für die
Behüter selbstverständlich sein, aber Leute von den Zwei
Flüssen taten so etwas nicht, was auch immer Moiraine
sagte – doch wenn sie sich deswegen über ihn lustig
machte... »Mat muß diese Geschichte doch schon zehnmal
wiederholt haben.«
»Und zwar schlecht«, warf Thom ein. Mat brummte
protestierend.
»Wie er sie auch erzählt haben mag«, sagte Rand, »wir
haben sie jedenfalls alle oft genug gehört. Außerdem
mußten wir einfach irgend etwas rufen. Ich meine, das tut
man eben in dem Fall. Du hast ja Lan gehört.«
»Und wir haben ein Anrecht darauf«, fügte Perrin
gedankenverloren hinzu. »Moiraine sagt, daß wir alle
Nachkommen dieser Leute von Manetheren sind. Sie
haben gegen den Dunklen König gekämpft, und wir
kämpfen gegen den Dunklen König. Das gibt uns doch ein
Recht darauf!«
Egwene schnaubte verächtlich, als wolle sie zeigen, was
sie davon hielt. »Davon habe ich doch gar nicht
gesprochen. Was... was hast du denn eigentlich gerufen,
Mat?«
Mat zuckte unsicher die Achseln. »Ich kann mich nicht
erinnern.« Er sah sie um Rechtfertigung heischend an.
»Na ja, es geht eben nicht. Alles ist verschwommen. Ich
weiß nicht, was es war oder woher es kam oder was es
bedeutet.« Er lachte über sich selbst. »Ich schätze, es hat
nichts zu bedeuten.«
»Doch... ich glaube, es bedeutet etwas«, sagte Egwene
langsam. »Als ihr geschrien habt, dachte ich einen
Augenblick lang – ich verstünde euch. Aber nun ist alles
wie weggeblasen.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf.
»Vielleicht hast du recht. Seltsam, was man sich in einer
solchen Situation alles einbilden kann, nicht wahr?«
»Carai an Caldazar«, sagte Moiraine. Alle drehten die
Köpfe zu ihr und sahen sie an. »Carai an Ellisande. A l
Ellisande. Zur Ehre des Roten Adlers. Zur Ehre der Rose
der Sonne. Die Rose der Sonne. Der uralte Schlachtruf
von Manetheren und der Schlachtruf seines letzten Königs.
Eldrene nannte man die Rose der Sonne.« Moiraines
Lächeln galt Mat und Egwene, obwohl ihr Blick vielleicht
etwas länger auf ihm ruhte. »Das Blut von Arads Familie
rinnt immer noch in den Adern der Menschen der Zwei
Flüsse. Das alte Blut singt immer noch.«
Mat und Egwene sahen einander an, und alle anderen
sie beide. Egwene machte große Augen, und ihr Mund
verzog sich immer wieder zum Anflug eines Lächelns. Sie
verbiß es sich immer wieder, als sei sie nicht sicher, wie
sie dieses Gespräch über das alte Blut verstehen solle. Mat
dagegen war sich sicher, wie man an seiner finsteren
Miene ablesen konnte.
Rand glaubte zu wissen, woran Mat dachte. Er dachte
das gleiche. Wenn Mat ein Nachkomme der alten Könige
von Manetheren war, dann waren die Trollocs vielleicht
hinter ihm her und nicht hinter allen dreien. Er schämte
sich bei diesem Gedanken. Seine Wangen röteten sich, und
als er sah, wie schuldbewußt Perrin das Gesicht verzog, da
wußte er, daß Perrin derselbe Gedanke gekommen war.
»Ich kann nicht behaupten, daß ich je von so etwas gehört
habe«, sagte Thom nach einer Weile. Er schüttelte sich,
und sein Tonfall wurde wieder nüchtern. »Zu einer
anderen Zeit würde ich möglicherweise eine Geschichte
daraus machen, aber im Moment... Plant Ihr, den Rest des
Tages hier zu verbringen, Aes Sedai?«
»Nein«, antwortete Moiraine und ergriff ihre Zügel.
Als wolle es ihre Worte unterstreichen, ertönte von
Süden her ein Trolloc-Horn. Weitere Hörner antworteten
aus Osten und Westen. Die Pferde wieherten leise und
tänzelten nervös.
»Sie haben das Feuer passiert«, sagte Lan ruhig. E r
wandte sich Moiraine zu: »Ihr seid nicht stark genug für
das, was Ihr vorhabt, jedenfalls noch nicht. Nicht ohne
Euch ausgeruht zu haben. Und weder Myrddraal noch
Trolloc wird diesen Ort betreten.«
Moiraine hob eine Hand, als wolle sie ihn unterbrechen,
seufzte aber dann und ließ sie wieder fallen. »Also gut«,
sagte sie gereizt. »Ich schätze, du hast recht, aber mir
wäre es lieber, wenn wir eine andere Wahl hätten.« Sie
zog ihren Stab aus der Gurtschlinge ihres Sattels. »Kommt
alle her zu mir. So nahe Ihr könnt! Noch näher!«
Rand trieb Wolke näher an die Stute der Aes Sedai
heran. Moiraine bestand darauf, daß sie sich in einem
engen Kreis um sie herum versammelten, so daß der Kopf
jedes Pferdes über Kruppe oder Widerrist eines anderen
hinwegragte. Erst dann war die Aes Sedai zufrieden. Dann
stellte sie sich in ihre Steigbügel und schwang wortlos den
Stab über ihre Köpfe. Sie streckte sich, damit auch jeder
vollkommen einbezogen wurde.
Rand zuckte jedesmal zusammen, wenn der Stab über
ihn hinwegging. Bei jedem Kreis durchrann ihn ein
Prickeln. Er hätte der Bewegung des Stabs folgen können,
ohne ihn zu sehen, nur durch das fortlaufende Zittern der
Menschen unter ihm. Es überraschte ihn nicht, daß Lan
der einzige war, den der Stab nicht beeinflußte.
Plötzlich streckte Moiraine den Stab nach Westen aus.
Abgestorbene Blätter wirbelten durch die Luft, und Äste
peitschten sie, als folge ein Luftwirbel der Richtung ihres
Stabs. Als der unsichtbare Wirbelwind in der Entfernung
verschwand, setzte sie sich mit einem Seufzer wieder im
Sattel zurecht. »Den Trollocs«, sagte sie, »wird es
erscheinen, als folgten unsere Spuren und Gerüche diesem
Wind. Der Myrddraal wird es nach einer Weile
durchschauen, aber bis dahin...«
»Bis dahin«, sagte Lan, »haben sie uns längst verloren.«
»Euer Stab ist sehr mächtig«, sagte Egwene, was ihr ein
Schnauben von Nynaeve einbrachte.
Moiraine schnalzte mit der Zunge. »Ich habe dir gesagt,
Kind, daß Dinge keine Macht haben. Die Eine Macht
kommt aus der Wahren Quelle, und nur ein lebendiger
Verstand kann sie anwenden. Das hier ist nicht einmal ein
Angreal, sondern lediglich eine Konzentrationshilfe.«
Müde steckte sie den Stab wieder in die Gurtschlaufe.
»Lan?«
»Folgt mir«, sagte der Behüter, »und verhaltet euch
still. Wenn die Trollocs uns hören, verdirbt es alles.«
Er führte sie wieder nach Norden, nicht in dem
ermüdenden Tempo von zuvor, sondern eher in dem
schnellen Schritt wie auf der Straße nach Caemlyn. Das
Land wurde immer flacher; nur der Wald blieb genauso
dicht.
Ihr Weg führte sie nicht mehr geradeaus wie zuvor.
Lan wählte eine Route, die sich in Schlangenlinien über
festen Boden und Felsausläufer wand. Er ließ sie auch
nicht mehr durch das Unterholz reiten und nahm sich statt
dessen die Zeit, es zu umgehen. Von Zeit zu Zeit ließ er
sich an das Ende ihrer Reihe zurückfallen und betrachtete
eingehend ihre Spuren. Wenn jemand auch nur hustete,
brachte ihm das ein hartes Räuspern Lans ein.
Nynaeve ritt neben der Aes Sedai und machte ein
Gesicht, als könne sie sich nicht zwischen Abneigung und
Fürsorge entscheiden.
Und da war noch eine Andeutung von etwas anderem,
dachte Rand, so, als sei für die Seherin irgendein Ziel in
Sicht. Moiraines Schultern hingen nach unten, und sie hielt
sich mit beiden Händen an Zügel und Sattel fest. Trotzdem
schwankte sie bei jedem Schritt Aldiebs. Es war klar, daß
sie die falsche Spur, die sie gelegt hatte, obwohl es neben
dem Erdbeben und der Feuerwand nur eine ganz kleine
Sache gewesen war, eine Menge Energie gekostet hatte,
Energie, die zu verlieren sie sich einfach jetzt nicht mehr
leisten konnte.
Rand wünschte sich schon beinahe den Klang der
Hörner herbei. Zumindest konnte man daran ablesen, wie
weit die Trollocs hinter ihnen zurückblieben. Und die
Blassen.
Er sah immer wieder zurück, und so war er nicht der
erste, der das erblickte, was vor ihnen lag. Als er es dann
sah, war er verblüfft. Eine große, unregelmäßig geformte
Masse erstreckte sich nach beiden Seiten, so weit das Auge
blicken konnte. An den meisten Stellen war sie ebenso
hoch wie die Bäume, die gleich davor wuchsen, und hier
und da ragten noch höhere Spitzen daraus hervor. Kahle
Schlingpflanzen und Ranken in dichten Massen bedeckten
alles. Eine Klippe? Die Ranken werden uns das Klettern
erleichtern, aber die Pferde bekommen wir niemals
hinauf.
Plötzlich, als sie näher kamen, bemerkte er einen
Turm. Es war ganz klar ein Turm und keine natürliche
Felsformation. Auf der Spitze befand sich eine
eigenartige, spitz zulaufende Kuppel. »Eine Stadt!« sagte
er. Und eine Stadtmauer, und die Spitzen waren
Wachtürme auf dieser Mauer. Sein Unterkiefer klappte
herunter. Sie mußte zehnmal so groß sein wie Baerlon.
Fünfzig mal so groß.
Mat nickte. »Eine Stadt«, stimmte er zu. »Aber was
macht eine Stadt mitten in einem solchen Wald?«
»Und ohne Einwohner«, sagte Perrin. Als sie ihn
ansahen, deutete er auf die Mauer. »Würden Einwohner
Schlingpflanzen über alles hinwegwachsen lassen? Ihr
wißt, wie diese Ranken eine Mauer zerstören können. Seht
mal, wie sie eingefallen ist.«
Was Rand sah, ergab nun langsam ein richtiges Bild in
seinem Kopf. Es war, wie Perrin gesagt hatte. Unter
beinahe jedem niedrigeren Teil der Mauer befand sich ein
von Unterholz überwachsener Hügel: Reste der
zusammengebrochenen Mauer. Keine zwei Wachtürme
hatten noch die gleiche Höhe. »Ich möchte wissen, was für
eine Stadt das war«, überlegte Egwene. »Ich frage mich,
was damit geschehen ist. Ich kann mich nicht erinnern, sie
auf Papas Landkarte gesehen zu haben.«
»Sie wurde Aridhol genannt«, sagte Moiraine. »In den
Tagen der Trolloc-Kriege war sie ein Verbündeter von
Manetheren.« Sie betrachtete die massive Mauer so
intensiv, daß sie sich der anderen kaum bewußt schien,
nicht einmal Nynaeves, die sie mit einem Arm im Sattel
stützte. »Später starb Aridhol, und dieser Ort erhielt einen
anderen Namen.«
»Welchen Namen?« fragte Mat.
»Hier«, sagte Lan. Er hielt Mandarb vor etwas an, das
früher wohl ein so breites Tor gewesen war, daß fünfzig
Männer nebeneinander hindurchmarschieren konnten. Nur
die zerfallenen, von Schlingpflanzen überwucherten
Wachtürme waren geblieben; es war kein Überrest der
Torflügel zu sehen. »Hier reiten wir hinein.« In einiger
Entfernung schrillten Trolloc-Hörner auf. Lan spähte in
die Richtung, aus der die Hörnerklänge kamen, und sah
dann zur Sonne hoch, die sich bereits auf halbem Weg
abwärts zu den Baumwipfeln im Westen befand. »Sie
haben herausgefunden, daß es eine falsche Spur war.
Kommt, wir müssen vor der Dunkelheit noch einen
Unterschlupf finden.«
»Welchen Namen?« fragte Mat noch einmal.
Moiraine antwortete, während sie in die Stadt
hineinritten. »Shadar Logoth«, sagte sie. »Sie wird Shadar
Logoth genannt.«
KAPITEL 19

Drohende Schatten
Auseinandergebrochene Pflastersteine knirschten unter
den Hufen der Pferde, als Lan sie in die Stadt führte. Die
gesamte Stadt lag in Ruinen, jedenfalls soweit Rand
blicken konnte, und war so verlassen, wie Perrin es gleich
behauptet hatte. Nicht einmal eine Taube flog auf, und in
den Rissen der Mauern und Straßen wucherte Unkraut,
das nach diesem Winter aber auch schon alt und
abgestorben war. Bei mehr als der Hälfte aller Gebäude
war das Dach eingefallen. Aus zusammengebrochenen
Mauern waren Ziegel und Bausteine in die Straßen
gestürzt. Türme ragten mit zerfransten Spitzen wie
abgebrochene Zahnstummel in den Himmel.
Unregelmäßig geformte Schutthaufen, an deren Hängen
ein paar verkrüppelte Bäume wuchsen, konnten wohl die
Überreste von Palästen oder vollständigen Wohnblocks
darstellen.
Doch das, was noch stand, war genug, um Rand den
Atem zu rauben. Auch das größte Gebäude Baerlons
würde im Schatten beinahe jeden Gebäudes hier
verschwinden. Blasse Marmorpaläste mit riesigen Kuppeln
obenauf waren überall zu sehen. Jedes Gebäude schien
zumindest eine Kuppel zu haben; manche hatten vier oder
fünf, und jede hatte eine andere Form. Lange Säulengänge
zogen sich Hunderte von Schritten bis zu Türmen hin, die
in den Himmel zu greifen schienen. An jeder Kreuzung
stand ein Bronzebrunnen oder die Alabastersäule eines
Denkmals oder eine Statue auf einem Sockel. Obwohl die
Brunnen ausgetrocknet, die meisten Denkmäler
umgestürzt und viele der Statuen abgebröckelt waren,
waren die Überreste noch immer so großartig, daß Rand
nur staunen konnte.
Und ich habe Baerlon für eine Stadt gehalten!
Versengen soll mich das Licht, aber Thom muß sich ganz
schön über uns amüsiert haben. Moiraine und Lan
natürlich auch.
Er war so in seine Betrachtungen versunken, daß es ihn
überraschte, als Lan plötzlich vor einem weißen
Steingebäude anhielt, das einst doppelt so groß wie der
Hirsch und Löwe gewesen war. Man konnte nicht mehr
sagen, was es einst dargestellt hatte, als die Stadt bewohnt
und groß gewesen war – vielleicht sogar eine Schenke.
Von den oberen Stockwerken existierte nur noch ein
hohles Gerüst. Durch die leeren Fensterlöcher – Holz und
Glas waren lange schon verschwunden – konnte man den
Nachmittagshimmel sehen, doch das Erdgeschoß schien
stabil genug. Wie alt mag das alles sein? dachte Rand.
Moiraine, die ihre Hände immer noch auf dem
Sattelhorn liegen hatte, betrachtete das Gebäude
eingehend, bevor sie nickte. »Das wird gehen.«
Lan sprang aus dem Sattel und hob die Aes Sedai von
ihrem Pferd herunter. »Bringt die Pferde hinein«,
kommandierte er. »Sucht Euch einen Raum weiter hinten
als Stall heraus. Los, Bauernjungen. Das ist nicht der
Dorfplatz zu Hause!« Er verschwand mit der Aes Sedai
auf den Armen nach drinnen. Nynaeve kletterte herunter
und lief ihm nach. Sie hielt ihren Beutel mit Kräutern und
Salben fest in der Hand. Egwene kam ihr sogleich nach.
Sie ließen ihre Reittiere einfach stehen.
»Bringt die Pferde hinein«, äffte Thom spöttisch nach
und pustete die Enden seines Schnurrbarts von seinen
Lippen. Er kletterte steif und langsam herab, rieb sich den
Rücken und seufzte lang. Dann nahm er Aldiebs Zügel.
»Na?« sagte er und zog eine Augenbraue hoch, wobei er
Rand und seine Freunde auffordernd anblickte.
Sie beeilten sich beim Absteigen und trieben die
restlichen Pferde zusammen. Der Torbogen, an dem kein
Rest einer früheren Tür mehr hing, war mehr als groß
genug, um die Tiere hindurchzubringen, sogar immer
zwei nebeneinander.
Drinnen fanden sie einen riesigen Saal, so breit wie das
ganze Gebäude, mit einem schmutzigen, geplättelten
Fußboden und ein paar zerfetzten Wandbehängen, zu
einem stumpfen, gleichmäßigen Braun verblaßt, die
aussahen, als würden sie bei einer Berührung gleich
zerfallen. Sonst nichts. Lan hatte in der nächstgelegenen
Ecke für sich und Moiraine einen Lagerplatz mit ihren
Umhängen als Unterlagen gerichtet. Nynaeve schimpfte
über den Staub, kniete neben der Aes Sedai nieder und
kramte in ihrem Beutel herum, den ihr Egwene aufhielt.
»Ich kann sie vielleicht nicht leiden, das mag schon
stimmen«, sagte Nynaeve zu dem Behüter, als Rand, der
Bela und Wolke führte, hinter Thom eintrat, »aber ich
helfe jedem, der meine Hilfe braucht, ob ich ihn mag oder
nicht.«
»Ich habe mich nicht beklagt, Seherin. Ich habe nur
gesagt, Ihr sollt mit Euren Kräutern vorsichtig umgehen.«
Sie sah ihn aus den Augenwinkeln an. »Es ist nun mal
so, daß sie meine Kräuter braucht, und Ihr ebenfalls.« Zu
Beginn klang ihre Stimme bitter, doch dann nahm sie
einen eher beißenden Tonfall an. »Es ist nun mal so, daß
sie eben auch nur soviel und nicht mehr tun kann, selbst
mit Ihrer Einen Macht, und sie hat schon soviel getan, wie
sie nur konnte, ohne zusammenzubrechen. Es ist nun mal
so, Herr der Sieben Türme, daß Euer Schwert ihr jetzt
nicht helfen kann, wohl aber meine Kräuter.«
Moiraine legte eine Hand auf Lans Arm. »Entspanne
dich, Lan. Sie meint es nicht böse. Sie weiß es einfach
nicht besser.« Der Behüter schnaubte verächtlich.
Nynaeve hörte mit dem Herumkramen in ihrem Beutel auf
und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann
aber sprach sie Moiraine an. »Es gibt viele Dinge, die ich
nicht weiß. Worum geht es hier?«
»Zum einen«, antwortete Moiraine, »brauche ich
wirklich nur etwas Ruhe. Zum anderen stimme ich Euch
zu. Eure Fähigkeiten und Euer Wissen werden uns mehr
nützen, als ich dachte. Wenn Ihr nun noch etwas habt, was
mich eine Stunde lang schlafen läßt, ohne daß ich einen
schweren Kopf bekomme...?«
»Ein schwacher Tee aus Fuchsschwanzgras, Marisin
und...«
Rand versäumte den Rest, als er Thom in einen zweiten
Raum folgte, der genauso groß und noch leerer war als
der erste. Hier gab es nur Staub, dicht und unberührt, bis
sie kamen. Nicht einmal die Spuren von Vögeln oder
Kleintieren waren auf dem Fußboden zu sehen.
Rand nahm Bela und Wolke die Sättel ab, Thom sattelte
Aldieb und seinen Wallach ab und Perrin sein Pferd und
Mandarb. Alle außer Mat. Er ließ seine Zügel mitten im
Raum einfach fallen. Es gab außer der Tür, durch die sie
eingetreten waren, noch zwei Ausgänge. »Eine Straße«,
verkündete Mat, nachdem er den Kopf zum ersten
hinausgestreckt hatte. Das konnten sie alle von ihren
Standpunkten aus sehen. Die zweite Tür war nur ein
schwarzes Rechteck in der hinteren Wand. Mat ging
langsam durch und kam viel schneller wieder zurück,
wobei er sich lebhaft alte Spinnweben vom Haar streifte.
»Da ist nichts drin«, sagte er und beäugte wieder die
Gasse.
»Wirst du dich vielleicht mal um dein Pferd
kümmern?« fragte Perrin. Er war bereits mit seinem
fertig und hob gerade Mandarbs Sattel ab. Es war seltsam,
aber der Hengst mit den wilden Augen machte bei ihm
überhaupt keine Schwierigkeiten, obwohl er Perrin genau
beobachtete. »Keiner wird das für dich erledigen.«
Mat blickte noch einmal zu der Gasse hinüber und
wandte sich dann seufzend seinem Pferd zu. Als Rand
Belas Sattel auf den Boden legte, bemerkte er, daß Mat
nur trübsinnig in die Luft stierte. Seine Augen schienen
tausend Meilen weit weg, und er bewegte sich nur ganz
mechanisch.
»Bist du in Ordnung, Mat?« sagte Rand. Mat hob den
Sattel von seinem Pferd und stand gedankenverloren da.
»Mat? Mat!«
Mat erschrak und ließ beinahe den Sattel fallen. »Was?
Oh! Ich... Ich habe nur nachgedacht.«
»Nachgedacht?« höhnte Perrin von drüben her, wo er
gerade Mandarbs Geschirr abschnallte. »Du hast
geschlafen!«
Mat machte ein finsteres Gesicht. »Ich habe darüber
nachgedacht, was... was da hinten geschehen ist. Über
diese Worte, die ich...« Alle wandten sich ihm zu, nicht
nur Rand, und er trat unsicher von einem Fuß auf den
anderen. »Also, ihr habt ja gehört, was Moiraine sagte. Es
ist, als habe irgendein toter Mann mit meiner Zunge
gesprochen. Es gefällt mir nicht.« Seine Miene
verfinsterte sich noch mehr, als Perrin lachte.
»Aemons Schlachtruf, sagte sie – richtig? Vielleicht ist
in dir Aemon wiedergeboren. So wie du immer über
Emondsfeld herziehst, wie langweilig es dort ist, denke
ich, das würde dir gefallen – ein König und wiederge-
borener Held zu sein.«
»Sagt so etwas nicht!« Thom holte tief Luft. Jetzt sah
jeder ihn an. »Das ist gefährliches, dummes Gerede! Die
Toten können wiedergeboren werden oder einen lebenden
Körper übernehmen, und das ist nichts, worüber man so
leichthin sprechen darf.« Er holte noch mal tief Luft, um
sich zu beruhigen, bevor er fortfuhr: »Das alte Blut, hat
sie gesagt. Das Blut und kein toter Mann. Ich habe gehört,
daß so was manchmal geschehen kann. Gehört, wie gesagt,
aber ich dachte niemals im Ernst daran... Es waren deine
Wurzeln, Junge. Das geht zurück über deinen Vater zu
deinem Großvater und geradewegs zu Manetheren und
vielleicht noch weiter. Na ja, jetzt weißt du, daß deine
Familie alt ist. Damit solltest du es bewenden lassen und
einfach froh sein. Die meisten Leute wissen nicht viel
mehr, als daß sie einen Vater hatten.«
Manche von uns können nicht einmal da sicher sein,
dachte Rand bitter. Vielleicht hatte die Seherin recht.
Licht, ich hoffe, sie hatte recht.
Mat nickte zu den Worten des Gauklers. »Ja, das denke
ich auch. Nur... glaubt Ihr, daß es etwas mit dem zu tun
hat, was mit uns geschehen ist? Die Trollocs und alles? Ich
meine... ach, ich weiß gar nicht, was ich meine.«
»Ich glaube, du solltest es vergessen und dich darauf
konzentrieren, heil aus allem rauszukommen.« Thom zog
seine langstielige Pfeife aus einer Innentasche seines
Umhangs. »Und ich glaube, ich werde ein wenig
rauchen.« Er winkte mit der Pfeife in ihre Richtung und
verschwand im vorderen Saal.
»Wir stecken alle gemeinsam in dieser Sache, und nicht
einzeln«, sagte Rand zu Mat.
Mat schüttelte sich und lachte kurz und hart auf.
»Richtig. Also, wenn wir schon von gemeinsamen Dingen
reden: Jetzt sind wir ja mit den Pferden fertig, warum
sollten wir dann nicht herumlaufen und ein bißchen mehr
von dieser Stadt sehen? Eine richtige Stadt und keine
Menschenmengen, wo man ständig angerempelt und
getreten wird. Keiner, der uns von oben herab anschaut.
Das Tageslicht wird sich noch eine, vielleicht auch zwei
Stunden lang halten.«
»Vergißt du nicht die Trollocs?« fragte Perrin.
Mat schüttelte verächtlich den Kopf. »Lan sagte, sie
kämen nicht hierher; erinnerst du dich nicht mehr? Du
mußt auf das hören, was die Leute sagen.«
»Ich erinnere mich«, sagte Perrin. »Und ich pflege
zuzuhören. Diese Stadt – Aridhol? – war ein Verbündeter
von Manetheren. Siehst du? Ich höre zu.«
»Aridhol muß wohl während der Trolloc-Kriege die
größte Stadt gewesen sein«, sagte Rand, »wenn die
Trollocs sie immer noch fürchten. Sie hatten keine Angst,
die Zwei Flüsse zu betreten, und Moiraine sagte, daß
Manetheren – wie hat sie das ausgedrückt? – ein Dorn im
Fuße des Dunklen Königs war.«
Perrin hob die Hände. »Erwähne bitte den Schäfer der
Nacht nicht. Bitte!«
»Was meint ihr?« lachte Mat. »Gehen wir!«
»Wir sollten Moiraine erst fragen«, sagte Perrin, und
Mat hob nun die Hände in einem Anfall von
Verzweiflung. »Moiraine fragen? Denkst du, sie wird uns
aus ihrer Sichtweite lassen? Und wie steht's mit Nynaeve?
Blut und Asche, Perrin, warum willst du nicht auch noch
Frau Luhhan fragen, wenn du schon dabei bist?«
Perrin nickte zögernd, und Mat wandte sich grinsend an
Rand. »Wie steht's mit dir? Eine richtige Stadt? Mit
Palästen!« Er lachte hinterhältig. »Und keine Weißmäntel,
die uns anstarren.«
Rand warf ihm einen spöttischen Blick zu, zögerte aber
nur kurz. Diese Paläste hätten aus einer Gauklergeschichte
stammen können. »Geht klar!«
Sie bewegten sich ganz leise, damit man sie in dem
vorderen Saal nicht hören konnte, und verließen das
Gebäude über die Gasse. Sie folgten ihr von der
Vorderfront des Gebäudes bis zu einer Straße auf der
anderen Seite. Sie gingen schnell, und als sie sich einen
Häuserblock weit von dem weißen Steingebäude entfernt
hatten, begann Mat plötzlich zu hüpfen und zu tanzen.
»Frei.« Er lachte. »Frei!« Er ging langsamer, bis er
schließlich einen Kreis beschrieb und dabei alles um sich
herum betrachtete und immer weiter lachte. Die
Nachmittagsschatten erstreckten sich lang und gezackt,
und die sinkende Sonne färbte die in Ruinen liegende Stadt
golden. »Habt ihr euch je einen solchen Ort erträumt?
Habt ihr das?«
Perrin lachte auch, aber Rand zuckte nur unangenehm
berührt die Achseln. Das glich in nichts der Stadt aus
seinem ersten Traum, doch trotzdem... »Wenn wir noch
etwas sehen wollen«, sagte er, »dann sollten wir
losmarschieren. Es wird nicht mehr lange Tag sein.«
Mat wollte einfach alles sehen, so schien es jedenfalls,
und er riß mit seiner Begeisterung die anderen mit. Sie
kletterten über verstaubte Brunnen, deren Wasserbecken
groß genug waren, um alle Emondsfelder auf einmal
unterzubringen, liefen in Gebäude hinein und wieder
heraus, die sie ohne irgendein System per Zufall
auswählten, aber es waren immer die größten, die sie
finden konnten. Einiges verstanden sie, anderes nicht. Ein
Palast war immer noch ein Palast, aber was konnte man
mit einem Gebäude anfangen, das nur aus einer runden,
weißen Kuppel bestand, außen so groß wie ein ganzer
Hügel und mit einem riesenhaften Saal im Inneren? Und
was sollte dieser von Mauern begrenzte Platz ohne Dach,
groß genug, um ganz Emondsfeld darin unterzubringen,
mit Reihe auf Reihe auf Reihe von Steinbänken
außenherum?
Mat wurde ungeduldig, als sie nichts außer Staub,
Schutt und farblosen Wandbehängen fanden, die bei der
leisesten Berührung zerfielen. Einmal waren Holzstühle an
einer Mauer aufgestapelt, doch als Perrin versuchte, einen
davon aufzuheben, zerfielen sie alle.
Die Paläste mit ihren riesigen leeren Sälen – in einigen
davon hätte man gut die Weinquellenschenke unterbringen
können, und es wäre auf allen Seiten und nach oben hin
noch genug Platz geblieben – ließen Rand oft an die
Menschen denken, die sie einst bewohnt hatten. E r
glaubte, daß alle Einwohner der Zwei Flüsse unter dieser
runden Kuppel Platz gefunden hätten, und was den Ort
mit den Steinbänken betraf... Er konnte sich beinahe
plastisch vorstellen, die Menschen in den Schatten zu
erkennen, wie sie mißbilligend den drei Eindringlingen
zusahen, die ihre Ruhe störten.
Schließlich wurde selbst Mat müde, auch wenn die
Gebäude noch so beeindruckend waren, und er erinnerte
sich daran, daß er in der Nacht zuvor nur eine Stunde lang
geschlafen hatte. Alle begannen, sich daran zu erinnern.
Gähnend saßen sie auf den Stufen vor einem hohen
Gebäude, an dessen Vorderseite viele Reihen hoher
Steinsäulen aufgestellt waren, und stritten sich darüber,
was sie als nächstes machen sollten.
»Zurückgehen«, sagte Rand, »und etwas schlafen.« E r
hielt sich den Handrücken vor den Mund. Als er wieder zu
sprechen in der Lage war, sagte er: »Schlafen. Das ist
alles, was ich will.«
»Du kannst doch immer schlafen«, sagte Mat
zielbewußt. »Schau mal, wo wir uns hier befinden. Eine
Ruinenstadt. Schätze.«
»Schätze?« Perrins Kiefer knackten. »Hier gibt es
keinen Schatz. Es gibt nichts als Staub.«
Rand hob die Hand an die Stirn, damit er nicht von der
Sonne geblendet wurde, die wie ein roter Ball über den
Dächern hing. »Es wird spät, Mat. Bald ist es dunkel.«
»Es könnte Schätze geben«, beharrte Mat tapfer. »Auf
jeden Fall möchte ich auf einen der Türme steigen. Schaut
mal den dort drüben an. Er ist unversehrt geblieben. Ich
wette, von dort droben kann man meilenweit sehen. Was
meint ihr?«
»Die Türme sind nicht sicher«, sagte eine
Männerstimme hinter ihnen.
Rand sprang auf die Füße und wirbelte herum, wobei
er sein Schwert am Griff packte. Die anderen waren
genauso schnell. Ein Mann stand im Schatten unter den
Säulen oben an der Treppe. Er trat einen halben Schritt
vor, hob die Hand, um seine Augen zu schützen, und trat
wieder zurück. »Vergebt mir«, sagte er weich. »Ich bin
eine ganze Zeit drinnen im Dunkeln gewesen. Meine
Augen sind noch nicht an das Licht gewöhnt.«
»Wer seid Ihr?« Rand hielt den Akzent des Mannes für
eigenartig, sogar nach dem, was sie in Baerlon gehört
hatten; er betonte einige Worte so seltsam, daß Rand sie
kaum verstehen konnte. »Was macht Ihr hier? Wir
dachten, die Stadt sei leer.«
»Ich heiße Mordeth.« Er legte eine Pause ein, als
erwarte er, daß sie den Namen erkannten. Als keiner von
ihnen ein Anzeichen dafür zeigte, murmelte er etwas vor
sich hin und fuhr fort: »Ich könnte Euch dasselbe fragen.
Es ist schon lange niemand mehr in Aridhol gewesen.
Lange, lange Zeit. Ich hätte nicht gedacht, daß ich auf der
Straße drei junge Männer finde.«
»Wir sind auf dem Weg nach Caemlyn«, sagte Rand.
»Wir sind hier geblieben, um uns ein Nachtquartier zu
suchen.«
»Caemlyn«, sagte Mordeth langsam und rollte den
Namen um seine Zunge herum. Dann schüttelte er den
Kopf. »Ein Nachtquartier, sagt Ihr? Vielleicht schließt Ihr
Euch mir an?«
»Ihr habt noch immer nicht gesagt, was Ihr hier
macht«, sagte Perrin.
»Also, ich bin natürlich Schatzsucher.«
»Habt Ihr einen gefunden?« wollte Mat aufgeregt
wissen.
Rand glaubte, Mordeth lächeln zu sehen, aber er konnte
im Schatten nicht sicher sein. »Habe ich«, sagte der Mann.
»Mehr als ich erwartete. Viel mehr. Mehr als ich
wegtragen kann. Ich habe nicht erwartet, drei kräftige,
gesunde junge Männer zu finden. Wenn Ihr mir helft, das,
was ich wegtragen kann, zu meinen Pferden zu schleppen,
könnt Ihr alle einen Teil des Rests bekommen. Soviel Ihr
tragen könnt. Was ich auch zurücklasse, wird schnell weg
sein, von einem anderen Schatzsucher weggeschleppt,
bevor ich zurückkommen und es holen kann.«
»Ich habe euch gesagt, daß es an einem solchen Ort
Schätze geben muß«, rief Mat. Er schoß die Treppe hoch.
»Wir werden Euch helfen, ihn zu tragen. Bringt uns nur
dorthin.« Er und Mordeth gingen tiefer in die Schatten
unter den Säulen hinein. Rand sah Perrin an. »Wir können
ihn nicht allein lassen.« Perrin sah hinüber zu der
sinkenden Sonne und nickte.
Sie gingen mißtrauisch die Treppe hoch. Perrin
lockerte die Axt in seiner Gürtelschlaufe. Rand spannte
die Hand um den Griff seines Schwertes. Mat und
Mordeth warteten zwischen den Säulen. Mordeth hatte die
Arme vor der Brust verschränkt, während Mat
ungeduldig nach innen spähte.
»Kommt«, sagte Mordeth. »Ich zeige Euch den Schatz.«
Er schlüpfte hinein, und Mat folgte ihm. Den anderen
blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls nachzukommen.
In dem Saal drinnen herrschte Düsternis, aber Mordeth
wandte sich sofort zur Seite und betrat eine enge Treppe,
die sich in vielen Windungen durch immer tiefere
Dunkelheit nach unten zog. Schließlich ertasteten sie sich
den Weg durch pechschwarze Nacht. Rand tastete mit
einer Hand an der Wand entlang und war sich nie sicher,
ob eine weitere Stufe kommen würde, bis sein Fuß sie
schließlich fand. Selbst Mat fühlte sich nicht mehr wohl in
seiner Haut. Man hörte es seiner Stimme an, als er sagte:
»Es ist schrecklich dunkel hier unten.«
»Ja, ja«, antwortete Mordeth. Der Mann schien in der
Dunkelheit überhaupt keine Probleme zu haben. »Unten
gibt es Lichter. Kommt.«
Tatsächlich mündete die Wendeltreppe plötzlich in
einen Korridor, der durch verstreute, qualmende Fackeln
in Eisenhaltern an den Wänden trübe beleuchtet wurde.
Im Licht der flackernden Fackeln hatte Rand erstmals
Gelegenheit, Mordeth, der ohne Unterbrechung
weiterhastete, genauer zu betrachten. Er winkte ihnen zu,
ihm zu folgen.
Er hatte etwas Eigenartiges an sich, dachte Rand, aber
er konnte nicht genau sagen, was es war. Mordeth war ein
gepflegter, etwas molliger Mann. Seine Augenlider waren
halb geschlossen, und so schien es, als verstecke er sich
hinter irgend etwas und blicke dahinter hervor. Er war
klein und hatte eine vollständige Glatze, doch er ging
einher, als sei er größer als sie alle. Seine Kleidung sah
ganz sicher anders aus als jede, die Rand zuvor gesehen
hatte. Enge schwarze Kniebundhosen und weiche rote
Stiefel, deren Stulpen an den Knöcheln heruntergeschlagen
waren. Eine lange, rote, mit Gold reich bestickte Weste
und ein schneeweißes Hemd mit weiten Ärmeln. Die
Enden seiner Manschetten hingen beinahe in Kniehöhe.
Ganz bestimmt keine Kleidung, in der man eine
Ruinenstadt nach Schätzen durchsucht. Aber das war es
noch nicht einmal, was ihn so fremdartig wirken ließ.
Dann mündete der Korridor in einen gekachelten Raum,
und er vergaß alles Eigenartige, was er an Mordeth
entdeckt hatte. Sein Keuchen glich dem seiner Freunde.
Auch hier stammte das Licht von einigen Fackeln, die die
Decke des Zimmers mit Ruß schwärzten und von jedem
mehr als einen Schatten erzeugten, aber dieses Licht
wurde tausendmal reflektiert von den Edelsteinen und
dem Gold, die am Boden aufgehäuft lagen: Hügel von
Münzen und Schmuck, Pokale und Teller und Platten,
vergoldete, mit Edelsteinen verzierte Schwerter und
Dolche, alles unachtsam hüfthoch aufgehäuft. Mit einem
Aufschrei rannte Mat vor und fiel vor einem der Stapel
auf die Knie nieder. »Säcke«, sagte er atemlos und steckte
die Hände in all das Gold. »Wir werden Säcke brauchen,
um all das zu tragen.«
»Wir können nicht alles tragen«, sagte Rand. Er blickte
sich hilflos um; alle Schmuckhändler, die während eines
Jahres nach Emondsfeld kamen, hätten nicht ein
Tausendstel auch nur eines dieser Stapel zusammenbringen
können. »Nicht jetzt. Es ist fast dunkel.«
Perrin zog eine Axt heraus und warf nichtachtend die
Goldketten zurück, die sich darum verwickelt hatten.
Juwelen glitzerten an ihrem glänzend-schwarzen Griff,
und die Doppelschneide war mit feinen Goldgravuren
verziert. »Also morgen«, sagte er und schwang grinsend
die Axt. »Moiraine und Lan werden uns verstehen, wenn
wir ihnen das zeigen.«
»Ihr seid nicht allein?« fragte Mordeth. Er hatte sie an
sich vorbeigelassen, als sie in die Schatzkammer stürzten,
doch nun folgte er ihnen. »Wer ist noch bei Euch?«
Mat, dessen Arme tief in den Reichtümern vor ihm
steckten, antwortete abwesend: »Moiraine und Lan. Und
dann noch Nynaeve und Egwene und Thom. Er ist
Gaukler. Wir reiten nach Tar Valon.«
Rand hielt die Luft an. Dann ließ ihn Mordeths
Schweigen den Mann anblicken. Wut und Angst
verzerrten Mordeths Gesicht. Seine Lippen öffneten sich
und gaben die Zähne frei. »Tar Valon!« Er schüttelte
geballte Fäuste nach ihnen. »Tar Valon! Ihr habt gesagt,
Ihr wolltet nach diesem... diesem... Caemlyn reiten! Ihr
habt mich angelogen!«
»Wenn Ihr immer noch wollt«, sagte Perrin zu
Mordeth, »dann kommen wir morgen zurück und helfen
Euch.« Vorsichtig legte er die Axt auf den Stapel
juwelengeschmückter Schalen und Ringe und Ketten
zurück. »Wenn Ihr wollt.«
»Nein. Das heißt...« Schwer atmend schüttelte Mordeth
den Kopf, als könne er sich nicht entscheiden. »Nehmt,
was Ihr wollt. Außer... außer...«
Plötzlich war Rand klar, was ihn die ganze Zeit an dem
Mann gestört hatte. Die verstreuten Fackeln in dem
Korridor hatten jedem von ihnen einen Ring von Schatten
verliehen, genau wie die Fackeln in der Schatzkammer.
Nur... Er war so entsetzt, daß er es laut aussprach: »Ihr
habt keinen Schatten!«
Ein Pokal fiel mit lautem Krach aus Mats Hand.
Mordeth nickte, und zum erstenmal öffneten sich seine
fleischigen Augenlider ganz. Sein schmales Gesicht
erschien auf einmal eingefallen und hungrig. »Also.« E r
richtete sich auf. Er schien nun größer als zuvor. »Die
Entscheidung ist gefallen.« Plötzlich war aller Schein
verschwunden. Mordeth schwoll wie ein Ballon an,
verzerrte sich, der Kopf stieß an die Decke, die Schultern
wurden von den Wänden aufgehalten, und so füllte er das
eine Ende des Raums und schnitt ihnen den Fluchtweg ab.
Mit eingefallenen Wangen und in einem starren Fauchen
gebleckten Zähnen streckte er Hände nach ihnen aus, die
groß genug waren, um den Kopf eines Mannes in ihnen zu
halten.
Mit einem Schrei sprang Rand zurück. Seine Füße ver-
fingen sich in einer Goldkette, und er stürzte zu Boden.
Die Luft blieb ihm weg. Er versuchte, wieder zu Atem zu
kommen, und gleichzeitig griff er nach seinem Schwert,
wobei er seinen Umhang wegreißen mußte, der sich um
die Scheide gewickelt hatte. Die Schreie seiner Freunde
erfüllten den Raum, und dazu ertönte das Klappern von
Goldtellern und Pokalen, die über den Fußboden rollten.
Plötzlich gellte ein Schmerzensschrei in Rands Ohren.
Fast schon schluchzend brachte er es endlich fertig, tief
Luft zu holen, gerade in dem Augenblick, als er auch das
Schwert aus der Scheide gezogen hatte. Vorsichtig stand
er auf und fragte sich, von welchem seiner Freunde der
Schrei hergerührt hatte. Perrin sah ihn mit weit
aufgerissenen Augen von der anderen Seite des Raums her
an, wo er mit der Axt in seiner Hand kauerte, als wolle er
einen Baum fällen. Mat blickte hinter der Seite eines
Schatzhaufens hervor, und seine Hand umklammerte einen
Dolch, den er aus dem Schatz herausgezogen hatte.
Etwas bewegte sich dort, wo der Schatten, den die
Fackeln übriggelassen hatten, am tiefsten war. Sie fuhren
alle herum. Es war Mordeth, der seine Knie an die Brust
gezogen hatte und sich so weit wie möglich in die
entfernteste Ecke drückte.
»Er hat uns betrogen«, keuchte Mat. »Es war alles eine
Falle.«
Mordeth warf den Kopf zurück und schrie jammernd
auf. Die Wände zitterten, und Staub rieselte herunter. »Ihr
seid alle tot!« rief er. »Alle tot!« Und er sprang auf und
hechtete durch den Raum.
Rands Unterkiefer klappte herab, und beinahe hätte er
das Schwert fallen lassen. Als Mordeth durch die Luft
schoß, streckte und verdünnte sich sein Körper wie eine
Rauchfahne. So dünn wie ein Finger traf er auf einen
Spalt zwischen den Kacheln an der Wand und verschwand
darin. Ein letzter Schrei wehte noch durch den Raum, als
er verschwand, und wurde langsam immer leiser,
nachdem er weg war.
»Ihr seid alle tot!«
»Wir müssen hier raus«, sagte Perrin schwach. E r
festigte seinen Griff um den Axtstiel und bemühte sich,
gleichzeitig in alle Richtungen zu sehen. Goldzierat und
Edelsteine knirschten unbeachtet unter seinen Füßen.
»Aber der Schatz«, protestierte Mat. »Wir können ihn
nicht einfach so liegen lassen.«
»Ich will nichts davon«, sagte Perrin, der sich immer
noch von einer Seite zur anderen drehte. Er erhob die
Stimme und schrie die Wände an:
»Es ist Euer Schatz, hört Ihr mich? Wir nehmen nichts
davon mit!«
Rand sah Mat zornig an. »Willst du, daß er uns
nachkommt? Oder willst du hier warten und dir die
Taschen vollstopfen, bis er mit zehn anderen von seiner
Sorte zurückkommt?«
Mat deutete auf all das Gold und die Edelsteine. Bevor
er jedoch etwas sagen konnte, packte Rand einen seiner
Arme und Perrin den anderen. Sie zerrten ihn aus dem
Raum. Mat wehrte sich und rief etwas über den Schatz.
Bevor sie auch nur zehn Schritte den Gang hinunter
getan hatten, erlosch das sowieso trübe Licht hinter ihnen
allmählich. Die Fackeln in der Schatzkammer gingen aus.
Mat hörte auf zu schreien. Sie beschleunigten ihre
Schritte. Die erste Fackel außerhalb der Schatzkammer
ging aus, dann die nächste. Als sie die Wendeltreppe
erreicht hatten, mußten sie Mat nicht mehr zerren. Sie
rannten alle, und hinter ihnen schloß sich die Dunkelheit.
Sogar die pechschwarze Dunkelheit an der Treppe ließ sie
keinen Moment zögern. Dann rannten sie hoch und
schrien mit aller Kraft. Sie schrien, um alles
wegzuscheuchen, was dort auf sie warten mochte, und um
sich selbst daran zu erinnern, daß sie noch immer lebten.
Sie rannten in den Saal oben, rutschten und stürzten auf
dem staubigen Marmorboden, krabbelten zwischen den
Säulen hindurch nach draußen und landeten in einem
aufgeschürften Gewirr auf der Straße. Rand befreite sich
und hob Tams Schwert vom Pflaster auf, wobei er sich
mißtrauisch umblickte. Weniger als die halbe Sonnen-
scheibe zeigte sich noch über den Dächern. Schatten
griffen wie dunkle Hände nach ihnen, erschienen im noch
vorhandenen Licht noch dunkler. Sie füllten die Straße.
Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Die Schatten sahen
wie Mordeth aus, als griffe er nach ihnen. »Wenigstens
sind wir draußen.« Mat stand auf und klopfte sich in einer
zittrigen Imitation seiner üblichen Geste den Staub aus der
Kleidung. »Und zumindest ich...«
»Tatsächlich?« fragte Perrin.
Rand wußte, daß es diesmal nicht seine Einbildung war.
Sein Nacken prickelte. Irgend etwas beobachtete sie aus
dem Schatten der Säulen heraus. Er fuhr herum und
betrachtete die Gebäude auf der anderen Straßenseite.
Auch von dort her konnte er Blicke auf sich ruhen fühlen.
Sein Griff um den Schwertknauf festigte sich, obwohl er
sich fragte, was das wohl bringen würde. Von überall her
schienen sie beobachtet zu werden. Die anderen sahen sich
mißtrauisch um; er wußte, daß auch sie dasselbe fühlten.
»Wir bleiben in der Straßenmitte«, sagte er heiser. Sie
suchten seinen Blick und sahen dabei genauso verängstigt
aus, wie er sich fühlte. Er schluckte schwer. »Wir bleiben
in der Straßenmitte, halten uns soweit wie möglich von
den Schatten fern und gehen schnell.«
»Gehen sehr schnell«, stimmte ihm Mat leidenschaftlich
zu.
Die Beobachter folgten ihnen. Oder aber es gab große
Mengen an Beobachtern, denn aus beinahe jedem Gebäude
wurden sie von vielen Augen angestarrt. Rand konnte
beim besten Willen keine Bewegung entdecken, aber er
fühlte die Augen, gierige, hungrige Augen. Er wußte
nicht, was schlimmer war: Tausende von Augen oder nur
wenige, die ihnen folgten.
An offenen Stellen, wo der Sonnenschein sie noch
erreichte, gingen sie etwas langsamer, allerdings nur ein
wenig, und blinzelten nervös in die Dunkelheit, die
fortwährend vor ihnen lag. Keiner von ihnen hatte es
eilig, in die Schatten zu treten; keiner war sich ganz
sicher, ob nicht doch etwas dort auf sie lauerte. Wann
immer Schatten die ganze Straße bedeckten und ihren Weg
versperrten, war die Vorfreude der Beobachter beinahe
greifbar zu spüren. Sie rannten schreiend über diese
dunklen Stellen. Rand bildete sich ein, trockenes,
raschelndes Lachen zu hören.
Endlich – die Dämmerung neigte sich schon ihrem
Ende zu – kam das weiße Steingebäude in Sicht, das sie
scheinbar vor Tagen verlassen hatten. Plötzlich waren die
Augen der Beobachter weg. Von einem Schritt auf den
anderen verschwanden sie in einem Wimpernschlag.
Wortlos begann Rand zu laufen, von seinen Freunden
gefolgt, und dann rannten sie aus Leibeskräften, bis sie
durch die Tür hetzten und schnaufend zusammensanken.
Mitten auf dem geplättelten Fußboden brannte ein
kleines Feuer. Der Rauch verschwand durch ein Loch in
der Decke, und zwar auf solche Weise, daß es Rand
unangenehm an Mordeth erinnerte. Alle außer Lan waren
da und um das Feuer herum versammelt. Ihre Reaktionen
unterschieden sich allerdings erheblich. Egwene, die sich
die Hände am Feuer wärmte, erschrak, als die drei in den
Raum platzten. Sie umklammerte erschrocken ihren Hals,
aber als sie sah, wer es war, verdarb ein Seufzer der
Erleichterung ihren Versuch eines tödlich wirkenden
Blickes. Thom murmelte nur etwas mit der Pfeife im
Mund, doch Rand konnte das Wort ›Narren‹ heraushören,
bevor der Gaukler wieder dazu zurückkehrte, mit einem
Stock in den Flammen herumzustochern.
»Ihr wollköpfigen Nichtsnutze!« schimpfte die Seherin.
Sie schien von Kopf bis Fuß Funken zu sprühen, ihre
Augen glitzerten, und auf ihren Wangen glühten dicke
rote Flecken. »Warum, zum Licht noch mal, seid ihr so
davongerannt? Stimmt's bei euch noch da oben? Habt ihr
überhaupt kein Hirn mehr? Lan sucht jetzt nach euch, und
ihr habt mehr Glück, als ihr verdient, wenn er euch bei
seiner Rückkehr nicht die Vernunft in eure dicken Schädel
prügelt!«
Das Gesicht der Aes Sedai verriet überhaupt keine
Erregung, aber bei ihrem Anblick hatten sich die in ihr
Kleid verkrampften Hände gelöst. Was Nynaeve ihr auch
gegeben haben mochte, hatte geholfen, denn sie war
wieder auf den Beinen. »Das hättet ihr nicht tun sollen«,
sagte sie mit einer Stimme, die so klar und ruhig klang
wie Oberfläche eines Sees im Wasserwald. »Wir werden
später darüber sprechen. Dort draußen muß etwas
geschehen sein, denn sonst würdet ihr nicht so über die
eigenen Füße stolpern. Was war los?«
»Ihr habt gesagt, wir seien in Sicherheit«, beklagte sich
Mat, wobei er sich wieder hochrappelte. »Ihr sagtet,
Aridhol war ein Verbündeter von Manetheren und die
Trollocs würden nicht in die Stadt kommen und...«
Moiraine trat so unvermittelt einen Schritt vor, daß Mat
seinen Redefluß mit offenem Mund abbrach und Rand und
Perrin mitten in der Bewegung des Aufstehens
innehielten, der eine noch gebückt und der andere auf den
Knien. »Trollocs? Habt ihr Trollocs innerhalb der Mauern
gesehen?«
Rand schluckte. »Keine Trollocs«, sagte er, und dann
begannen alle drei auf einmal, aufgeregt
durcheinanderzusprechen.
Jeder begann an einem anderen Punkt. Mat erzählte
zuerst davon, wie sie den Schatz gefunden hatten, und es
klang fast so, als sei es allein sein Verdienst gewesen.
Perrin erklärte zuerst, warum sie sich anfangs
davongestohlen hatten, ohne jemandem Bescheid zu sagen.
Rand kam gleich zu dem Punkt, der ihm wichtig erschien.
Er berichtete von ihrem Treffen mit dem Fremden unter
den Säulen. Aber sie waren alle derart erregt, daß keiner
die richtige Reihenfolge einhielt. Wann immer einem von
ihnen etwas einfiel, sprudelte er es heraus, ohne darauf zu
achten, was davor oder danach kam oder wer was sagte.
Die Beobachter. Sie stammelten alle etwas von
Beobachtern.
Die ganze Erzählung wirkte ziemlich
zusammenhanglos, aber ihre Furcht wurde trotzdem
deutlich. Egwene begann, unsicher zu den leeren Fenstern
an der Straßenseite hinüberzublicken. Dort draußen
verblaßten die letzten Reste der Dämmerung; das Feuer
erschien ihnen nun sehr klein und düster. Thom nahm die
Pfeife aus dem Mund und lauschte mit düsterer Miene und
geneigtem Kopf. Moiraines Augen sahen besorgt drein,
aber nicht zu sehr. Bis...
Plötzlich zischte die Aes Sedai und packte Rands
Ellenbogen ganz fest. »Mordeth! Bist du sicher, daß er so
hieß? Ihr müßt euch alle jetzt ganz sicher sein. Mordeth?«
Sie murmelten im Chor ihr ›Ja‹, durch die Erregung
der Aes Sedai erschreckt.
»Hat er euch berührt?« fragte sie. »Hat er euch irgend
etwas gegeben, oder habt ihr etwas für ihn getan? Ich muß
das wissen!«
»Nein«, sagte Rand. »Niemand. Nichts von alledem.«
Perrin nickte zustimmend und fügte hinzu: »Alles, was
er versuchte, war, uns umzubringen. Ist das nicht genug?
Er schwoll an, bis er den halben Raum ausfüllte, schrie,
wir seien alle tote Männer, und verschwand dann.« E r
zeigte es mit einer Handbewegung an. »Wie Rauch.«
Egwene kreischte auf. Mat drehte sich gereizt ab. »Sicher,
habt Ihr gesagt! All das Gerede, die Trollocs kämen nicht
hierher. Was sollten wir denn sonst denken?«
»Offensichtlich habt ihr überhaupt nicht gedacht«, sagte
sie wieder ganz kühl und beherrscht. »Jeder mit ein
bißchen Verstand würde sich an einem Ort vorsehen, den
selbst Trollocs aus Angst nicht zu betreten wagen.«
»Mats Verdienst«, sagte Nynaeve mit Sicherheit in der
Stimme. »Er überredet sie immer zu irgendwelchem
Blödsinn, und die anderen schalten das bißchen Verstand,
das sie haben, ab, wenn sie bei ihm sind.«
Moiraine nickte kurz, doch ihre Augen ruhten weiter
auf Rand und seinen beiden Freunden. »Gegen Ende der
Trolloc-Kriege lagerte eine Armee in diesen Ruinen –
Trollocs, Schattenfreunde, Myrddraal, Schattenlords, viele
Tausende. Als sie nicht mehr herauskamen, schickte man
Kundschafter hinter die Mauern. Die Kundschafter fanden
Waffen, Teile von Rüstungen und überall Blutspritzer.
Und Botschaften in der Trolloc-Sprache, die in die Wände
gekratzt waren, Gebete an den Dunklen König, er möge
ihnen in ihrer letzten Stunde helfen. Männer, die später
dorthin kamen, fanden keine Spur mehr von Blut oder
von den Botschaften. Alles war entfernt worden.
Halbmenschen und Trollocs denken noch immer daran.
Das hält sie von diesem Ort fern.«
»Und den habt Ihr erwählt, um uns zu verstecken?«
fragte Rand ungläubig. »Wir wären sicherer dort draußen
bei dem Versuch, ihnen davonzulaufen.«
»Wenn ihr nicht davongerannt wärt«, sagte Moiraine
geduldig, »hättet ihr erfahren, daß ich um dieses Gebäude
herum Amulette plaziert habe. Ein Myrddraal würde noch
nicht einmal wissen, daß sich diese Amulette hier
befinden, denn sie sollen eine andere Form des Bösen
aufhalten, aber was sich hier in Shadar Logoth befindet,
wird sie nicht überschreiten oder ihnen auch nur nahe
kommen. Am Morgen wird es sicher genug sein, daß wir
gehen können – diese Dinge können das Sonnenlicht nicht
ertragen. Sie werden sich tief in der Erde verstecken.«
»Shadar Logoth?« sagte Egwene unsicher. »Ich glaubte,
Ihr hättet gesagt, diese Stadt hieße Aridhol.«
»Einst wurde sie Aridhol genannt«, antwortete
Moiraine, »und war eine der Zehn Nationen, der Länder
des Zweiten Paktes, der Länder, die sich von den ersten
Tagen nach der Zerstörung der Welt an gegen den
Dunklen König stellten. In den Tagen, da Thorin al Toren
al Ban König von Manetheren war, war Balwen Mayel,
Balwen Eisenhand, König von Aridhol. Im Aufdämmern
der Verzweiflung während der Trolloc-Kriege schien es,
daß der Vater der Lügen sicher gewinnen würde, und in
jener Zeit kam ein Mann namens Mordeth an Balwens
Hof.«
»Derselbe Mann?« rief Rand, und Mat sagte: »Das kann
nicht sein!« Ein Blick Moiraines brachte sie zum
Schweigen. Stille erfüllte den Raum, und die Stimme der
Aes Sedai erklang wieder. »Mordeth war noch nicht lange
in der Stadt, da lieh ihm der König sein Ohr, und bald
war er der zweite Mann im Staat nach Balwen. Mordeths
Stimme war wie Gift für Balwen, und Aridhol veränderte
sich allmählich. Aridhol zog sich in sich selbst zurück und
verhärtete. Man sagte, viele sähen noch lieber Trollocs
kommen als die Männer aus Aridhol. Der Sieg des Lichts
ist alles, was zählt. Das war der Schlachtruf, den Mordeth
ihnen mitgab, und die Männer von Aridhol schrien ihn
hinaus, während ihre Taten dem Licht Hohn sprachen.
Die Geschichte ist zu lang, um sie ganz zu erzählen, und
auch zu grausig. Nur Bruchstücke davon sind bekannt,
sogar in Tar Valon. Wie Thorins Sohn Caar kam, um
Aridhol wieder für den Zweiten Pakt zurückzugewinnen,
und wie Balwen auf seinem Thron saß, eine ausgelaugte
Hülle mit dem Licht des Wahnsinns, das aus den Augen
leuchtete, wie er lachte und Mordeth an seiner Seite
lächelte und den Tod Caars und der Abgesandten als
Freunde der Dunkelheit befahl. Wie Prinz Caar den
Namen Caar Einhand erhielt. Wie er aus den Verließen
von Aridhol entkam und allein in die Grenzlande flüchtete
mit Mordeths unnatürlichen Mördern auf den Fersen. Wie
er dort Rhea traf, die nicht wußte, wer er war, und sie
heiratete und damit den Faden in das Muster verwebte,
der zu seinem Tod durch ihre Hand und zu ihrem eigenen
durch ihre Tat vor seiner Gruft führte, und zum Fall von
Alethloriel. Wie die Armee von Manetheren anrückte, um
Caar zu rächen, und die Tore von Aridhol niedergerissen
fand, kein Leben mehr in seinen Mauern, aber dafür
etwas, das schlimmer war als der Tod. Kein Feind war
nach Aridhol gekommen, Aridhol hatte sich selbst
zerstört. Aus Mißtrauen und Haß war etwas geboren
worden, das die verzehrte, die es erschaffen hatten, und
das im Muttergestein unter der Stadt lebte. Mashadar
wartet immer noch dort und ist hungrig. Die Menschen
sprachen nicht mehr von Aridhol. Sie nannten es Shadar
Logoth, den Ort An-Dem-Der-Schatten-Wartet, oder
einfacher: Wartende Schatten.
Nur Mordeth wurde nicht von Mashadar verzehrt, doch
er wurde von ihm in die Falle gelockt, und so hat auch er
in diesen Mauern jahrhundertelang gewartet. Andere
haben ihn gesehen. Einige hat er durch Geschenke
beeinflußt, die den Verstand verdrehen und den Geist
verderben. Diese Verderbnis nimmt zu und scheint wieder
zu verschwinden, wieder und wieder, bis sie herrscht...
oder tötet. Wenn er jemanden dazu bringt, ihn zu den
Mauern zu begleiten, zur Grenze von Mashadars
Machtbereich, ist er in der Lage, die Seele dieser Person
zu verzehren. Mordeth kann dann die Stadt im Körper
dessen verlassen, den er nicht nur einfach getötet hat, um
wieder Unheil in der Welt anzurichten.«
»Der Schatz«, stammelte Perrin, als sie schwieg. »Er
wollte, daß wir ihm helfen, den Schatz zu seinen Pferden
zu tragen.« Sein Gesicht trug einen gequälten Ausdruck.
»Ich wette, sie sollten irgendwo außerhalb der Stadt
angeblich auf ihn warten.« Rand lief es kalt den Rücken
hinunter. »Aber jetzt sind wir sicher, nicht wahr?« fragte
Mat. »Er hat uns nichts gegeben und uns auch nicht
berührt. Wir sind durch die Amulette, die Ihr hinterlassen
habt, in Sicherheit, ja?«
»Wir sind sicher«, stimmte Moiraine zu. »Er kann die
Abwehrlinie nicht überschreiten, genau wie die anderen
Bewohner dieses Orts. Und sie müssen sich vor dem
Sonnenlicht hüten, so daß wir hier gefahrlos weg können,
sobald es Tag ist. Versucht jetzt zu schlafen. Die Amulette
werden uns beschützen, bis Lan zurückkehrt.«
»Er ist aber schon lange weg.« Nynaeve blickte besorgt
in die Nacht hinaus. Es war jetzt vollkommen dunkel –
pechschwarz.
»Lan geht es gut«, sagte Moiraine beruhigend und
breitete ihre Decken beim Sprechen neben dem Feuer aus.
»Für ihn wurde ein Gelübde abgelegt, daß er gegen den
Dunklen König kämpfen müsse, noch bevor er die Wiege
verließ. Ein Schwert wurde in seine Kinderhände gelegt.
Außerdem wüßte ich es im selben Augenblick, wenn er
stirbt, und auch, wie er ums Leben kommt. Genauso
wüßte er es von mir. Ruhe dich jetzt aus, Nynaeve. Alles
wird gut.« Doch als sie sich in die Decken rollte, hielt sie
einen Moment lang inne und blickte auf die Straße hinaus,
als hätte auch sie gern gewußt, was den Behüter so lange
aufhielt.
Rands Arme und Beine waren bleischwer, und seine
Augen wollten sich immer wieder von allein schließen,
und doch dauerte es eine Weile, bis er einschlief, und als
es soweit war, träumte er, redete im Schlaf und strampelte
seine Decken weg. Er erwachte dann ganz unvermittelt
und sah sich einen Augenblick lang um, bevor er sich
daran erinnerte, wo er sich befand. Der Mond stand am
Himmel. Es war die letzte dünne Sichel vor dem
Neumond. Die Nacht besiegte seinen schwachen Schein.
Alle anderen schliefen noch, wenn auch manche recht
unruhig. Egwene und seine beiden Freunde wälzten sich
herum und murmelten kaum hörbar im Schlaf. Thoms
Schnarchen, ausnahmsweise einmal leise, wurde von Zeit
zu Zeit durch halbgeformte Worte unterbrochen. Es war
immer noch keine Spur von Lan zu sehen.
Plötzlich hatte er ein Gefühl, als seien die Amulette
überhaupt kein Schutz. Alles konnte sich dort draußen in
der Dunkelheit herumtreiben. Er sagte sich, das sei
närrisch, und legte frisches Holz auf die letzten Kohlen
des Feuers. Es war zu klein, um viel Wärme abzugeben,
aber es erzeugte mehr Licht.
Er hatte keine Ahnung, was ihn aus seinem
unangenehmen Traum gerissen hatte. Er war wieder ein
kleiner Junge gewesen, der Tams Schwert trug und dem
man eine Wiege auf den Rücken geschnallt hatte, und er
rannte durch leere Straßen, von Mordeth verfolgt, und
der schrie, er wolle nur seine Hand. Und dann war da
noch ein alter Mann gewesen, der hatte sie beobachtet und
die ganze Zeit wie ein Verrückter gelacht.
Er zog seine Decken zurecht, legte sich wieder hin und
blickte die Decke an. Er hätte so gerne geschlafen, selbst
auf die Gefahr hin, noch mehr solche Träume wie den
letzten zu erleben, doch er konnte einfach die Augen nicht
schließen.
Plötzlich trat der Behüter leise aus der Dunkelheit in
den Saal. Moiraine erwachte und setzte sich auf, als habe
er eine Glocke geläutet. Lan öffnete die Hand; drei kleine
Gegenstände fielen vor ihr auf die Fußbodenplatten. Das
Klicken ihres Aufpralls hörte sich nach Eisen an. Es
waren drei blutrote Abzeichen in Form gehörnter
Schädel.
»Es sind Trollocs innerhalb der Stadtmauern«, sagte
Lan. »Sie werden in wenig mehr als einer Stunde hier
sein. Und die Dha'vol sind die schlimmsten unter ihnen.«
Er weckte die anderen auf.
Moiraine fing ungerührt an, ihre Decken
zusammenzufalten. »Wie viele? Wissen sie, daß wir hier
sind?« Sie klang, als habe sie es gar nicht eilig.
»Ich glaube nicht«, antwortete Lan. »Es sind gut
hundert, und sie haben solche Angst, daß sie alles töten
würden, was sich bewegt, einschließlich anderer Trollocs.
Die Halbmenschen müssen sie mühsam vorwärts treiben –
vier, um nur eine Handvoll zu befehligen –, und selbst die
Myrddraal scheinen sich nichts sehnlicher zu wünschen,
als die Stadt so schnell wie möglich zu durchqueren und
dann wieder zu verlassen. Sie weichen nicht von ihrem
eingeschlagenen Weg ab, um nach uns zu suchen, und sie
sind so nachlässig! Wenn sie nicht geradewegs auf uns
zumarschierten, würde ich sagen, wir müßten uns
keinerlei Sorgen machen.« Er zögerte.
»Gibt es noch etwas?«
»Nur soviel«, sagte Lan bedächtig. »Die Myrddraal
zwangen die Trollocs in die Stadt hinein. Was hat die
Myrddraal gezwungen?«
Alle hatten schweigend gelauscht. Jetzt fluchte Thom
leise vor sich hin, und Egwene hauchte eine Frage: »Der
Dunkle König?«
»Sei kein Narr, Mädchen«, fauchte Nynaeve. »Der
Dunkle König liegt in Shayol Ghul in Ketten, wo ihn der
Schöpfer gefangennahm.«
»Im Augenblick jedenfalls«, stimmte Moiraine zu.
»Nein, der Vater der Lügen ist nicht dort draußen, aber
wir müssen in jedem Fall fort.«
Nynaeve blickte sie scharf an. »Den Schutz der
Amulette verlassen und Shadar Logoth bei Nacht
durchqueren.«
»Oder hier bleiben und uns den Trollocs stellen«, sagte
Moiraine. »Sie von hier fernzuhalten, das könnte nur mit
Hilfe der Einen Macht geschehen. Das würde die Amulette
zerstören und genau das anlocken, wogegen sie uns
schützen sollen. Außerdem könnten wir dann gleich auf
einem der Türme ein Leuchtfeuer entzünden, das jeder
Halbmensch auf zwanzig Meilen Umkreis sieht. Ich renne
nicht gern weg, doch wir sind die Hasen, und die Hunde
bestimmen die Jagd.«
»Was ist, wenn außerhalb der Mauern noch mehr
warten?« fragte Mat. »Was machen wir dann?«
»Wir werden uns an meinen ursprünglichen Plan
halten«, sagte Moiraine. Lan sah sie an. Sie hob eine Hand
und fügte hinzu: »Ich war nur zu müde, um mich vorher
schon daran zu halten. Aber nun bin ich dank der Seherin
ausgeruht. Wir machen uns auf den Weg zum Fluß. Dort
wird uns das Wasser den Rücken decken, und ich kann ein
kleineres Amulett anfertigen, das die Trollocs und
Halbmenschen abhält, bis wir Flöße gebaut und den Fluß
überquert haben. Oder was noch besser wäre: Vielleicht
können wir uns einem Händlerboot bemerkbar machen,
das von Saldaea herunterkommt, und mitfahren.«
Die Gesichter der Emondsfelder drückten
Unverständnis aus. Lan bemerkte das.
»Trollocs und Myrddraal verabscheuen tiefes Wasser.
Trollocs haben schreckliche Angst davor. Keiner von
ihnen allen kann schwimmen. Ein Halbmensch watet
höchstens durch hüfthohes Wasser, vor allem, falls eine
Strömung herrscht. Trollocs machen noch nicht einmal
das, wenn sie es vermeiden können.«
»Also sind wir in Sicherheit, sobald wir über den Fluß
kommen«, sagte Rand, und der Behüter nickte.
»Die Myrddraal werden beinahe genauso große
Schwierigkeiten damit haben, die Trollocs Flöße bauen zu
lassen, wie damit, sie nach Shadar Logoth
hineinzubringen, und wenn sie trotzdem versuchen, sie auf
diesem Weg über den Arinelle zu bringen, dann läuft
ihnen die Hälfte weg, und der Rest wird vermutlich
ertrinken.«
»Auf die Pferde«, sagte Moiraine. »Wir sind noch nicht
über den Fluß.«
KAPITEL 20

Wie Staub im Wind


Als sie das weiße Steingebäude auf ihren nervös
tänzelnden Pferden verließen, kam der eisige Wind in
Böen, seufzte über die Dächer, peitschte Umhänge wie
Flaggen und trieb dünne Wolkenfetzen über die feine
Sichel des Mondes. Nach einem leisen Befehl, nahe
beieinander zu bleiben, führte Lan sie die Straße hinunter
an. Die Pferde bewegten sich unruhig und zogen an ihren
Zügeln. Sie wollten schnell weg von diesem Ort.
Rand lugte mißtrauisch hinauf zu den Gebäuden, an
denen sie vorbeikamen. Sie ragten hoch in die Nacht
hinein, und ihre leeren Fenster wirkten wie die
Augenhöhlen eines Schädels. Schatten schienen sich zu
bewegen. Gelegentlich hörte man etwas klappern – Schutt,
den der Wind zum Abrutschen gebracht hatte. Wenigstens
sind die Augen weg. Es war nur eine kurze Erleichterung,
die er da spürte. Warum sind sie weg?
Thom und die Emondsfelder hielten sich dicht
beieinander. Sie waren sich so nahe, daß sie sich fast
berühren konnten. Egwenes Schultern waren eingezogen,
als bemühe sie sich, den Hufschlag Belas auf dem Pflaster
noch leichter zu machen. Rand hätte am liebsten gar nicht
geatmet. Geräusche könnten die Aufmerksamkeit auf sie
lenken. Plötzlich wurde ihm klar, daß sich vor ihnen eine
Lücke aufgetan hatte, die sie von dem Behüter und der
Aes Sedai trennte. Die beiden waren nur als undeutliche
Gestalten gute dreißig Schritte vor ihnen zu erkennen.
»Wir bleiben zurück«, murmelte er und klatschte mit
den Stiefeln auf Wolkes Flanken, um diesen zu einer
schnelleren Gangart zu bewegen. Ein dünner, silbergrauer
Nebelfaden trieb in geringer Höhe über die Straße vor
ihm. »Halt!« Das kam als ein unterdrückter Schrei von
Moiraine, scharf und dringlich, aber so gehalten, daß er
nicht weit hörbar war.
Unsicher hielt er Wolke an. Der Nebelsplitter lag nun
quer über der Straße und wurde langsam dicker, als
quölle immer mehr davon aus den Gebäuden zu beiden
Seiten der Straße. Jetzt war er so dick wie der Arm eines
ausgewachsenen Mannes. Wolke wieherte leise und
versuchte, nach hinten auszuweichen, während Egwene
und Thom und die anderen sie einholten. Auch ihre
Pferde warfen die Köpfe hoch und wehrten sich dagegen,
dem Nebel zu nahe zu kommen.
Lan und Moiraine ritten langsam auf den Nebel zu, der
mittlerweile so stark wie ein Bein geworden war, und
hielten dann auf der gegenüberliegenden Seite in einigem
Abstand an. Die Aes Sedai betrachtete den Nebelarm, der
sie trennte, ganz genau. Rand zuckte nervös, als sich
zwischen seinen Schulterblättern ein Juckreiz, wohl aus
Angst, bemerkbar machte. Der Nebel wurde von einem
schwachen Leuchten umgeben, dessen Helligkeit zunahm,
als der neblige Tentakel fetter wurde. Aber das Leuchten
war trotzdem nicht viel stärker als der Mondschein. Die
Pferde waren unruhig; sogar Aldieb und Mandarb.
»Was ist das?« fragte Nynaeve.
»Das Böse an Shadar Logoth«, antwortete Moiraine.
»Mashadar. Es sieht nichts, denkt nicht und bewegt sich
genauso ziellos durch die Stadt wie ein Wurm sich durch
den Boden bohrt. Wenn es dich berührt, mußt du
sterben.« Rand und die anderen ließen schnell ihre Pferde
ein paar Schritte rückwärtstänzeln, aber nicht zu weit. So
sehr sich Rand auch wünschte, die Aes Sedai los zu sein:
Verglichen mit dem, was da vor ihnen lag, wirkte sie wie
ein Hort der Sicherheit.
»Wie sollen wir dann zu Euch hinüberkommen?« fragte
Egwene. »Könnt Ihr es töten... den Weg freimachen?«
Moiraines Lachen klang bitter und war kurz.
»Mashadar ist riesengroß, Mädchen, so groß wie Shadar
Logoth selbst. Der ganze Weiße Turm könnte es nicht
töten. Wenn ich es in dem Maße verletze, wie es nötig ist,
um Euch herüberkommen zu lassen, dann würde die
verbrauchte Menge der Einen Macht wie ein Signalfeuer
die Halbmenschen anlocken. Und Mashadar würde
herbeistürzen, um den Schaden, den ich angerichtet hätte,
zu heilen und uns vielleicht in seinem Netz zu fangen.«
Rand tauschte einen Blick mit Egwene und stellte dann
ihre Frage nochmals. Moiraine seufzte, bevor sie
antwortete.
»Es gefällt mir nicht, aber was sein muß, muß sein.
Dieses Ding wird sich nicht überall oben aufhalten.
Andere Straßen sollten frei sein. Seht Ihr diesen Stern?«
Sie drehte sich im Sattel herum und deutete auf einen
roten Stern, der sich in niedriger Höhe am Osthimmel
zeigte. »Haltet auf diesen Stern zu, und er wird Euch zum
Fluß führen. Was auch geschieht, ihr müßt versuchen, den
Fluß zu erreichen. Reitet so schnell Ihr könnt, doch macht
vor allem keinen Lärm. Die Trollocs sind auch noch da,
denkt daran. Und vier Halbmenschen.«
»Aber wie finden wir Euch wieder?« wandte Egwene
ein.
»Ich werde Euch finden«, sagte Moiraine. »Ihr könnt
sicher sein, daß ich Euch finden kann. Jetzt reitet los.
Dieses Ding hat wohl überhaupt keinen Verstand, aber es
kann die Anwesenheit von Futter fühlen.« Tatsächlich
hatten sich silbergraue Fäden aus dem größeren
Nebelkörper gelöst. Sie trieben, die Richtung ständig
wechselnd, durch die Luft wie die Tentakel eines
Hundertarms am Grund eines Wasserwald-Teiches.
Als Rand von dem dicken Strang durchscheinenden
Nebels aufblickte, waren der Behüter und die Aes Sedai
fort. Er leckte sich die Lippen und sah seinen Gefährten in
die Augen. Sie waren genauso nervös wie er. Und noch
schlimmer: Sie schienen alle darauf zu warten, daß einer
von ihnen die Führung übernahm. Nacht und Ruinen
umgaben sie. Dort draußen irgendwo waren die Blassen
und die Trollocs; vielleicht schon hinter der nächsten
Ecke. Die Nebel-Tentakel trieben heran, waren schon auf
halbem Weg zu ihnen und suchten nicht länger. Sie hatten
ihre Beute ausgemacht. Plötzlich vermißte er Moiraine
sehr.
Alle saßen immer noch auf den Pferden und
beobachteten und fragten sich, welchen Weg sie wählen
sollten. Er drehte Wolke um, und der Graue verfiel in
einen leichten Trab. Er wehrte sich gegen die Zügel und
wollte schneller rennen. Als habe ihn die Tatsache, daß er
die Initiative ergriffen hatte, zu ihrem Anführer gemacht,
folgten ihm alle.
Da Moiraine nicht dabei war, hatten sie niemanden, der
sie beschützen konnte, sollte Mordeth wieder auftauchen.
Und die Trollocs. Und... Rand zwang sich dazu, nicht
mehr nachzugrübeln. Er würde dem roten Stern folgen.
An den Gedanken konnte er sich klammern.
Dreimal mußten sie umkehren und sich einen neuen
Weg suchen. Jedesmal war eine Straße komplett durch
einen Schutthügel und lose Steine blockiert. Die Pferde
konnten diese Hindernisse nicht überwinden. Rand konnte
das Atmen der anderen hören; kurz und abgehackt, der
Panik nahe. Er biß die Zähne zusammen, damit man sein
Schnaufen nicht hörte. Du mußt sie wenigstens glauben
machen, daß du keine Angst hast. Du leistest gute Arbeit,
Wollkopf. Du wirst alle sicher hinausbringen.
Sie kamen um die nächste Ecke. Eine Nebelwand
übergoß das zerborstene Pflaster mit einem Leuchten, das
so hell war wie das des Vollmonds. Nebelfinger, so stark
wie der Leib ihrer Pferde, lösten sich und trieben auf sie
zu. Niemand wartete. Sie wirbelten herum und
galoppierten in einer engen Traube los, ohne auf das
Klappern der Hufe zu achten.
Zwei Trollocs traten vor ihnen auf die Straße, keine
zehn Spannen entfernt.
Einen Augenblick lang starrten sich Menschen und
Trollocs nur gegenseitig entgeistert an. Einer war
überraschter als der andere. Ein weiteres Paar Trollocs
erschien und noch eines und noch eines. Die hinteren
rempelten die vor ihnen Stehenden an, und es entstand
eine durch den Anblick der Menschen erschreckte Menge.
Allerdings erstarrten sie eben nur diesen Augenblick lang.
Kehliges Heulen hallte von den Gebäuden wider, und die
Trollocs stürmten vorwärts. Die Menschen stoben
auseinander wie aufgescheuchte Hühner. Rands Grauer
brauchte nur drei Schritte, um in vollem Galopp
loszujagen. »Hier entlang!« schrie er, doch er hörte den
gleichen Ruf aus fünf weiteren Kehlen. Ein hastiger Blick
nach hinten zeigte ihm, daß seine Begleiter jeder in eine
andere Richtung verschwanden. Trollocs verfolgten alle.
Drei Trollocs blieben ihm auf den Fersen. Ihre
schlingenbewehrten Stangen wedelten durch die Luft. Ihm
sträubten sich die Haare, als er erkannte, daß sie Schritt
für Schritt mit Wolke mithalten konnten. Er beugte sich
tief über Wolkes Hals und trieb den Grauen voran, von
kehligen Schreien gejagt.
Voraus verengte sich die Straße. Gebäude mit
eingestürzten Dächern neigten sich gefährlich zur Straße
hin. Langsam füllten sich die leeren Fenster mit silbrigem
Leuchten. Ein dichter Dunst schob sich aus ihnen hervor.
Mashadar.
Rand riskierte einen weiteren Blick zurück. Die
Trollocs rannten ihm immer noch in etwa fünfzig
Schritten Abstand hinterher; das Leuchten des Nebels
reichte aus, um sie deutlich zu sehen. Hinter ihnen ritt nun
ein Blasser, und sie schienen im gleichen Maße vor dem
Halbmenschen zu fliehen, wie sie Rand verfolgten. Ein
Stück vor Rand schob sich ein halbes Dutzend grauer
Fühler schwankend aus den Fenstern, dann ein Dutzend.
Sie prüften die Luft. Wolke warf den Kopf hoch und
wieherte, doch Rand hieb ihm brutal die Fersen in die
Flanken, und das Pferd stürmte wild vorwärts.
Die Fühler versteiften sich, als Rand zwischen ihnen
hindurchgaloppierte, aber er beugte sich tief über Wolkes
Hals und weigerte sich, sie anzusehen. Der Weg dahinter
war frei. Wenn einer davon mich berührt... Licht! Er ließ
Wolke noch härter die Stiefel fühlen, und das Pferd
sprang vorwärts in die willkommenen Schatten hinein. In
vollem Galopp blickte Rand zurück, sobald das Leuchten
Mashadars nachließ.
Die schwankenden grauen Fühler Mashadars
versperrten die halbe Straße, und die Trollocs wichen
zurück, doch der Blasse riß eine Peitsche von seinem
Sattelhorn und ließ sie wie einen Blitz über den Köpfen
der Trollocs knallen. Funken stoben durch die Luft. Die
Trollocs krümmten sich zusammen und stürmten wieder
hinter Rand her. Der Halbmensch zögerte. Die schwarze
Kapuze betrachtete Mashadars ausgestreckte Arme, bevor
auch er seinem Pferd die Sporen gab.
Die sich verstärkenden Nebeltentakel schwangen einen
Augenblick lang unsicher hin und her, und dann schlugen
sie wie Vipern zu. Mindestens zwei saugten sich an jedem
der Trollocs fest und übergossen sie mit grauem
Leuchten; schnauzenbewehrte Köpfe legten sich in die
Nacken, um zu heulen, doch der Nebel rollte in die
geöffneten Mäuler und verschlang das Heulen. Vier
beinstarke Tentakel wickelten sich um den Blassen, und
der Halbmensch und auch sein Pferd wanden sich wie im
Tanz, bis die Kapuze zurückfiel und das blasse, augenlose
Gesicht enthüllte. Der Blasse kreischte.
Das Kreischen war völlig lautlos, genau wie bei den
Trollocs, aber etwas kam doch durch: ein
durchdringendes Schrillen gerade jenseits des
Hörbereichs, wie das Surren aller Hornissen der Welt
zusammengenommen, das in Rands Ohren drang und in
ihm ein Höchstmaß an Angst erzeugte. Wolke krümmte
sich, als habe auch er den Laut gehört, und er galoppierte
noch schneller als zuvor. Rand hielt sich ächzend fest.
Seine Kehle war trocken wie Sand.
Nach einer Weile wurde ihm klar, daß er den lautlosen
Todesschrei des Blassen nicht mehr hören konnte, und
plötzlich kam ihm das Hufegeklapper so laut vor, als ob er
schrie. Er riß an den Zügeln, und Wolke blieb an einer
zerbröckelnden Mauer stehen, genau an einer
Straßenkreuzung. Ein namenloses Standbild erhob sich
vor ihm in der Dunkelheit. Im Sattel zusammengesunken,
lauschte er, aber es gab nichts zu hören als das Blut, das in
seinen Schläfen pochte. Kalter Schweiß lief ihm über die
Stirn, und er zitterte vor Kälte, als der Wind seinen
Umhang flattern ließ.
Schließlich richtete er sich wieder auf. Sterne glitzerten
am Himmel, wo sie nicht von den Wolken verdeckt
wurden, und der rote Stern, der so niedrig im Osten
stand, war leicht auszumachen. Lebt sonst noch irgend
jemand, der ihn sehen kann? Waren sie frei oder den
Trollocs in die Hände gefallen? Egwene, Licht blende
mich, warum bist du mir nicht gefolgt? Wenn sie am
Leben und frei waren, würden sie diesem Stern folgen.
Wenn nicht... Die Ruinenfelder waren ausgedehnt. E r
könnte tagelang suchen, ohne jemanden zu finden, falls er
sich von den Trollocs fernhalten konnte. Und von den
Blassen und Mordeth und Mashadar. Zögernd entschloß er
sich, zum Fluß zu reiten.
Er ergriff die Zügel. Auf der Querstraße fiel ein Stein
mit einem scharfen Klicken auf einen anderen. E r
erstarrte; atmete nicht einmal. Er war im Schatten
verborgen, nur einen Schritt von der Ecke entfernt.
Verzweifelt überlegte er, ob er nach hinten ausweichen
sollte. Aber was befand sich hinter ihm? Was konnte
vielleicht ein Geräusch verursachen und ihn damit
verraten? Er konnte sich an nichts erinnern und fürchtete
sich davor, den Blick von der Ecke des Gebäudes zu
wenden.
Die Dunkelheit an der Ecke beulte sich aus, und die
längere Dunkelheit einer Stange stach daraus hervor. Eine
Schlaufenstange! Im selben Moment, als dieser Gedanke
durch Rands Kopf fuhr, hieb er auch schon Wolke die
Fersen in die Flanken, und das Schwert flog aus seiner
Scheide. Sein Angriff wurde von einem wortlosen Schrei
begleitet, und er schwang das Schwert mit aller Kraft.
Nur mit einer verzweifelten Anstrengung hielt er das
Schwert zurück, bevor es auftraf. Mit einem Aufschrei
taumelte Mat rückwärts, fiel beinahe vom Pferd und
verlor fast seinen Bogen.
Rand atmete tief durch und senkte das Schwert. Sein
Arm zitterte. »Hast du sonst noch jemanden gesehen?«
brachte er heraus.
Mat schluckte schwer, bevor er sich wieder unbeholfen
in den Sattel zog. »Ich... ich... Nur Trollocs.« Er legte
eine Hand an seine Kehle und leckte sich die Lippen. »Nur
Trollocs. Und du?«
Rand schüttelte den Kopf. »Sie werden versuchen, den
Fluß zu erreichen. Wir sollten das auch tun.« Mat nickte
schweigend, wobei er immer noch über seine Kehle strich,
und sie starrten den roten Stern an. Bevor sie auch nur
hundert Spannen weit gekommen waren, hörten sie den
schrillen Ruf eines Trolloc-Horns hinter ihnen in den
Tiefen der Stadt. Ein anderes antwortete von außerhalb
der Stadtmauer.
Rand zitterte, doch er behielt die langsame Gangart bei
und beobachtete die dunkleren Stellen, um sie nach
Möglichkeit zu umgehen. Nach einem Ruck an seinen
Zügeln, so, als ob er weggaloppieren wolle, tat Mat es ihm
nach.
Keines der Hörner erklang nochmals, und so kamen sie
in völliger Stille an eine Öffnung in der von Ranken
überwachsenen Mauer, wo sich einst ein Tor befunden
hatte. Nur die Türmchen waren geblieben und ragten nun
mit abgebrochenen Spitzen in den schwarzen Himmel.
Mat zögerte an diesem Tor, doch Rand sagte leise: »Ist
es hier drinnen sicherer als dort draußen?« Er ließ den
Grauen weiterschreiten, und nach einem Augenblick
folgte Mat ihm aus Shadar Logoth hinaus. Er versuchte
wieder, nach allen Richtungen gleichzeitig zu schauen.
Rand stieß die Luft langsam aus; sein Mund war trocken.
Wir werden es schaffen. Licht, wir schaffen es!
Die Mauern verschwanden hinter ihnen, wurden von
der Nacht und dem Wald verschluckt. Rand lauschte auf
das kleinste Geräusch und behielt immer den roten Stern
vor sich. Plötzlich galoppierte Thom von hinten her an
ihnen vorbei. Er verlangsamte sein Tempo nur lang
genug, um zu rufen: »Reitet, ihr Narren!« Einen
Augenblick später verrieten Jagdrufe und Krachen im
Unterholz hinter ihm die Anwesenheit von Trollocs, die
ihn verfolgten.
Rand gab Wolke die Fersen, und das Pferd galoppierte
hinter dem Wallach des Gauklers her. Was geschieht,
wenn wir ohne Moiraine an den Fluß kommen? Licht,
Egwene!
Perrin saß im Schatten auf seinem Pferd, beobachtete
den offenen Torbogen, der sich in geringer Entfernung
zeigte, und fuhr abwesend mit dem Daumen an der
Schneide seiner Axt entlang. Er schien einen
ungehinderten Weg aus der Ruinenstadt zu bieten, doch
nun saß er schon fünf Minuten lang hier und hielt
Ausschau. Der Wind spielte mit seinen verfilzten Locken
und bemühte sich, seinen Umhang wegzuwehen, aber er
zog ihn wieder um sich herum zusammen, ohne eigentlich
zu bemerken, was er tat.
Er wußte, daß Mat und die meisten anderen Leute in
Emondsfeld ihn für ziemlich langsam im Denken hielten.
Zum Teil kam das daher, weil er so groß war und sich
normalerweise bedächtig bewegte – er fürchtete immer,
aus Versehen etwas zu zerbrechen oder jemanden zu
verletzen, da er um so vieles größer war als die Jungen,
mit denen er aufwuchs –, aber er zog es wirklich vor, die
Dinge folgerichtig zu durchdenken, wenn er die Zeit
hatte. Vorschnelle, leichtsinnige Entschlüsse hatten Mat
ein ums andere Mal in Schwierigkeiten gebracht, und Mats
Blitzentscheidungen hatten gewöhnlich Rand oder ihn oder
sie beide mit in den Schlamassel hineingezogen. Sein Hals
zog sich zusammen. Licht, jetzt bloß nicht soviel
nachdenken! Er versuchte, sich wieder zu beruhigen.
Sorgfältiges Überlegen war angesagt. Vor dem Tor hatte
sich einst ein großer Platz befunden, in dessen Mitte ein
riesiger Brunnen stand. Ein Teil des Brunnens war noch
vorhanden; eine Gruppe abgebrochener Statuen stand in
einem großen, runden Becken. Auch die Einfassung
außenherum war rund. Um das Tor zu erreichen, mußte
er fast einhundert Spannen weit reiten, nur durch die
Nacht vor den Augen von Beobachtern geschützt. Auch
das war kein angenehmer Gedanke. Er erinnerte sich noch
zu gut an die unsichtbaren Beobachter.
Er dachte an die Hörner, die er kurze Zeit zuvor in der
Stadt gehört hatte. Beinahe wäre er zurückgeritten bei
dem Gedanken daran, daß vielleicht einige der anderen
gefangengenommen worden waren, doch dann wurde ihm
klar: In diesem Fall konnte er allein nichts ausrichten.
Nicht gegen – was sagte Lan? – hundert Trollocs und vier
Blasse. Moiraine Sedai sagte, wir sollten zum Fluß
kommen.
Er wandte sich wieder dem Torbogen zu. Sorgfältiges
Nachdenken hatte ihn nicht weitergebracht, doch sein
Entschluß stand nun fest. Er ritt aus dem tieferen Schatten
in die etwas lichtere Dunkelheit. In dem Moment erschien
auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ein anderes
Pferd und verharrte. Er blieb ebenfalls stehen und fühlte
nach seiner Axt; ein besonderes Gefühl der Sicherheit
verlieh sie ihm allerdings nicht. Falls diese dunkle Gestalt
ein Blasser war...
»Rand?« erklang ein leiser, zögernder Ruf.
Er atmete langsam und erleichtert aus. »Hier ist Perrin,
Egwene«, rief er genauso leise zurück. In der Dunkelheit
klang es immer noch zu laut. In der Nähe des Brunnens
trafen sich die Pferde. »Hast du noch jemand anderes
gesehen?« fragten sie beide gleichzeitig, und beide
antworteten mit einem Kopfschütteln.
»Es wird ihnen schon gut gehen«, meinte Egwene und
tätschelte Belas Hals. »Oder?«
»Moiraine Sedai und Lan werden sich um sie
kümmern«, erwiderte Perrin. »Sie werden sich um uns
alle kümmern, sobald wir den Fluß erreichen.« Er hoffte
es zumindest.
Er fühlte sich erleichtert, als sie sich auf der anderen
Seite des Torbogens befanden, selbst wenn sich wirklich
Trollocs im Wald aufhielten. Oder Blasse. Er unterbrach
diesen Gedankengang. Die kahlen Äste konnten nicht
verhindern, daß er auf den roten Stern zuhielt, und letzten
Endes befanden sie sich nun außerhalb der Reichweite von
Mordeth. Der hatte ihm mehr Angst eingejagt als alle
Trollocs zuvor.
Bald würden sie den Fluß erreichen und Moiraine
treffen, und sie würde sie auch aus der Reichweite der
Trollocs hinausbringen. Daran glaubte er, weil er diesen
Glauben einfach brauchte. Der Wind ließ Äste
gegeneinanderknirschen und die Blätter rascheln. Der
einsame Ruf eines Nachtfalken schallte durch die
Dunkelheit, und Egwene und er brachten ihre Pferde
näher aneinander, als suchten sie Wärme. Sie waren sehr
allein.
Ein Trolloc-Horn erklang irgendwo hinter ihnen –
schnelle, klagende Töne – und forderte die Jäger zur Eile
auf. Dann ertönte kehliges, halbmenschliches Heulen auf
ihrer Spur, vom Horn angetrieben. Das Heulen wurde
schärfer im Tonfall, als ihre Verfolger den Geruch von
Menschen wahrnahmen.
Perrin ließ sein Pferd galoppieren und rief: »Komm!
Los!« Egwene kam, und beide gaben ihren Pferden die
Fersen, ohne auf das Geräusch der Hufe oder die Äste zu
achten, die ihnen ins Gesicht klatschten.
Als sie so zwischen den Bäumen hindurchgaloppierten,
gleichermaßen von ihrem Instinkt wie von dem düsteren
Mondlicht geleitet, fiel Bela zurück. Perrin blickte nach
hinten. Egwene trat die Stute und ließ die Zügel auf den
Hals des Tieres klatschen, aber es half nicht viel. Den
Geräuschen nach zu urteilen, kamen die Trollocs näher.
Er ließ sein Pferd langsamer galoppieren, um sie nicht
zurückzulassen. »Beeil dich!« schrie er. Er konnte die
Trollocs nun erkennen, riesige, dunkle Gestalten, die
zwischen den Bäumen einhersprangen und bellten und
fauchten, daß einem das Blut gefrieren konnte. Er packte
den Griff seiner Axt, die am Gürtel hing, so fest, daß
seine Knöchel schmerzten. »Schnell, Egwene! Schnell!«
Plötzlich wieherte sein Pferd, und er stürzte, taumelte
aus dem Sattel, als das Pferd unter ihm plötzlich
wegsackte. Er breitete die Arme aus, um sich abzufangen,
und klatschte mit dem Kopf voraus in eiskaltes Wasser. E r
war geradewegs über die Kante einer steilen Klippe in den
Arinelle geritten.
Der Schock des eisigen Wassers ließ ihn keuchen, und
er schluckte eine ganze Menge, bevor er es schaffte, sich
wieder an die Oberfläche zu kämpfen. Das andere
Klatschen fühlte er mehr, als daß er es hörte. Er glaubte,
Egwene müsse gleich nach ihm in den Fluß gestürzt sein.
Schnaufend und prustend trat er Wasser. Es war nicht
leicht, an der Oberfläche zu bleiben; Mantel und Umhang
waren bereits durchnäßt, und seine Stiefel hatten sich mit
Wasser gefüllt. Er sah sich nach Egwene um, doch er
konnte nur das Glitzern des Mondscheins auf dem vom
Wind gerippten schwarzen Wasser erkennen.
»Egwene? Egwene!«
Ein Speer huschte gerade vor seinen Augen vorbei und
spritzte ihm Wasser ins Gesicht. Weitere klatschten um
ihn herum ins Wasser. Kehlige Stimmen stritten sich am
Ufer herum, und es kamen keine Trolloc-Speere mehr
geflogen, aber er gab es fürs erste auf, nach Egwene zu
rufen.
Die Strömung trieb ihn flußabwärts, aber die
gurgelnden Rufe und das Fauchen folgten ihm am Ufer,
hielten Schritt mit ihm. Er löste seinen Umhang und
überließ ihn dem Fluß – ein bißchen weniger Gewicht, das
ihn hinunterziehen konnte. Verbissen begann er, auf das
entfernte Ufer zuzuschwimmen. Dort waren keine
Trollocs – hoffte er.
Er schwamm so, wie sie es zu Hause in den Seen des
Wasserwalds taten, zog beide Arme durchs Wasser und
schlug kräftig mit beiden Beinen aus, wobei der Kopf aus
dem Wasser schaute. Zumindest versuchte er, den Kopf
über Wasser zu halten; es war nicht leicht. Auch ohne
seinen Umhang schienen Mantel und Stiefel zusammen
genausoviel zu wiegen wie er selbst. Und die Axt zerrte an
seiner Hüfte. Sie drohte, ihn herumzudrehen oder gar
hinunterzuziehen. Er spielte mit dem Gedanken, sie auch
dem Fluß zu opfern; mehrmals ging ihm das durch den
Kopf. Es wäre leicht, viel leichter, als sich beispielsweise
die Stiefel abzustreifen. Aber jedesmal, wenn ihm dieser
Gedanke kam, stellte er sich vor, wie er auf das andere
Ufer kroch und lauernden Trollocs in die Hände fiel. Die
Axt könnte ihm im Kampf gegen ein halbes Dutzend
Trollocs kaum viel helfen – vielleicht noch nicht einmal
gegen einen –, aber es war immer noch besser, als mit
bloßen Händen zu kämpfen.
Nach einer Weile war er sich nicht mehr sicher, ob er
die Axt überhaupt noch schwingen konnte, falls dort
Trollocs wären. Seine Arme und Beine wurden
bleischwer; es kostete Mühe, sie zu bewegen, und sein
Gesicht hob sich nicht mehr bei jedem Armzug aus dem
Wasser. Er hustete, als ihm Wasser in die Nase kam. Kein
Vergleich mit einem Tag in der Schmiede, dachte er
erschöpft, und in diesem Augenblick traf sein Fuß auf
irgend etwas Festes. Erst beim nächsten Schwimmzug
erkannte er, was es gewesen war: der Grund. Er war in
seichtem Wasser. Er war am anderen Ufer angelangt.
Er holte durch den Mund Luft und versuchte, zu
stehen. Als seine Beine fast versagten, mußte er um sich
schlagen. Er fuchtelte herum, bis er die Axt aus ihrer
Schlaufe hatte, und stieg aus dem Fluß. Er zitterte im
Wind. Trollocs sah er nicht. Er sah auch Egwene nicht.
Nur ein paar vereinzelte Bäume am Ufer und einen
Streifen Mondlicht auf dem Wasser.
Als er wieder zu Atem gekommen war, rief er wieder
und wieder die Namen seiner Freunde. Schwach hörbare
Rufe von der anderen Seite her antworteten ihm; sogar
auf diese Entfernung konnte er die harten Stimmen von
Trollocs erkennen. Seine Freunde antworteten dagegen
nicht.
Der Wind frischte auf. Sein Heulen übertönte die
Trollocs, und er zitterte. Es war nicht kalt genug, um das
Wasser in seiner durchnäßten Kleidung gefrieren zu
lassen, aber er fühlte sich trotzdem so; der Wind schnitt
ihm mit einer eisigen Klinge bis auf die Knochen. Die
Arme fest um den Oberkörper zu schlingen war nur eine
Geste, die das Zittern nicht verhindern konnte. Einsam
und müde erkletterte er die Uferböschung, um einen
Schutz vor dem Wind zu suchen.
Rand tätschelte Wolkes Hals und flüsterte beruhigend auf
ihn ein. Das Pferd warf den Kopf hoch und tänzelte
leichtfüßig. Die Trollocs hatten sie hinter sich gelassen –
so schien es jedenfalls –, aber Wolke spürte ihren Geruch
noch in seinen Nüstern. Mat ritt mit einem Pfeil auf der
Sehne und hielt Ausschau, um nicht aus der Nacht heraus
überrascht zu werden, während Rand und Thom durch die
Zweige spähten und nach dem roten Stern suchten, der
ihnen die Richtung wies. Ihn im Auge zu behalten, war
trotz der dichten Zweige über ihren Köpfen einigermaßen
leicht gewesen, jedenfalls solange sie geradewegs auf ihn
zu ritten. Aber dann waren weitere Trollocs vor ihnen
aufgetaucht, und so galoppierten sie zur Seite weg; gefolgt
von zwei heulenden Horden. Die Trollocs konnten mit
einem Pferd Schritt halten, aber nur etwa hundert
Schritte, und so ließen sie schließlich die Verfolger und
das Heulen hinter sich. Doch bei all dem Zickzackreiten
hatten sie ihren Leitstern aus den Augen verloren.
»Ich behaupte immer noch, er ist dort drüben«, sagte
Mat und zeigte nach rechts. »Wir sind am Ende nach
Norden geritten, und das bedeutet, wir müssen uns jetzt in
östliche Richtung halten.«
»Da ist er«, sagte Thom plötzlich. Er deutete zwischen
den verschlungenen Zweigen zu ihrer Linken hindurch
genau auf den roten Stern. Mat fluchte unterdrückt.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Rand die Bewegung,
als ein Trolloc lautlos hinter einem Baum hervorsprang
und seine Schlaufenstange schwang. Rand gab seinem
Pferd die Fersen, und der Graue sprang vorwärts, gerade
als zwei weitere aus dem Schatten hinter dem ersten
herausstürmten. Eine Schlinge strich über Rands Nacken
und jagte ihm einen Schauder über den Rücken.
Eine der Tierfratzen hatte plötzlich einen Pfeil im
Auge, und dann war Mat an seiner Seite, als die Pferde
durch den Wald galoppierten. Sie ritten auf den Fluß zu,
das wurde ihm schnell klar, aber er war sich nicht sicher,
ob ihnen das helfen wurde. Die Trollocs hetzten hinter
ihnen her. Sie waren fast schon nahe genug, um nach den
flatternden Pferdeschwänzen zu greifen. Wenn sie noch
einen halben Schritt aufholten, dann konnten sie sie beide
mit ihren Fangstangen aus den Sätteln holen.
Er beugte sich tief über den Hals des Grauen, um mehr
Abstand zwischen seinen Hals und die Schlingen zu
bringen. Mats Gesicht war beinahe in der Mähne seines
Pferdes vergraben. Aber Rand fragte sich, wo Thom
abgeblieben war. Hatte sich der Gaukler überlegt, daß er
allein auf sich gestellt besser dran war, da alle drei
Trollocs hinter den Jungen her waren?
Plötzlich galoppierte Thoms Wallach aus der Nacht
heraus, direkt hinter den Trollocs. Die Trollocs hatten
gerade noch Zeit, sich überrascht umzusehen, doch dann
hoben sich die Arme des Gauklers und fuhren in
blitzschneller Bewegung wieder nach unten. Mondschein
schimmerte auf blankem Stahl. Ein Trolloc taumelte
vorwärts und überschlug sich mehrmals, bevor er
unbeweglich liegenblieb, während ein zweiter mit einem
Schrei auf die Knie fiel und sich mit beiden Händen auf
den Rücken griff. Der dritte knurrte und zeigte eine
Schnauze voll scharfer Zähne, doch als seine Begleiter
fielen, rannte er fort, in die Dunkelheit hinein. Thoms
Hand wiederholte die peitschende Bewegung, und der
Trollocs schrie, doch die Schreie verklangen schließlich in
der Ferne.
Rand und Mat verhielten ihre Pferde und sahen den
Gaukler an.
»Meine besten Messer«, brummte Thom, aber er
machte sich nicht die Mühe, abzusteigen und sie wieder zu
holen. »Der wird die anderen hierher führen. Ich hoffe,
es ist nicht zu weit bis zum Fluß. Ich hoffe...« Statt zu
sagen, was er noch hoffte, schüttelte er den Kopf und ritt
in schnellem Trab los. Rand und Mat schlossen sich ihm
an.
Bald erreichten sie eine niedrige Uferböschung, wo
Bäume bis an den Rand des nachtschwarzen Wassers
wuchsen, dessen vom Mondschein übergossene Oberfläche
im Wind kleine Wellen schlug. Rand konnte das entfernte
Ufer nicht erkennen. Ihm gefiel es nicht, in der
Dunkelheit auf einem Floß den Fluß zu überqueren, aber
hier auf dieser Seite zu bleiben, gefiel ihm noch weniger.
Wenn ich muß, werde ich eben schwimmen.
Irgendwo, ein Stück vom Fluß entfernt, erklang ein
Trolloc-Horn, scharf, schnell und drängend durch die
Dunkelheit. Es war der erste Hörnerklang, seit sie die
Ruinen verlassen hatten. Rand fragte sich, ob das
bedeutete, daß einige der anderen gefangen worden
waren. »Es hat keinen Zweck, die ganze Nacht
hierzubleiben«, sagte Thom. »Wählt eine Richtung.
Flußaufwärts oder flußabwärts?«
»Aber Moiraine und die anderen könnten überall sein«,
protestierte Mat. »Jeder Weg, den wir wählen, führt uns
vielleicht weiter von ihnen weg.«
»Das stimmt.« Thom schnalzte mit der Zunge und
lenkte seinen Wallach flußabwärts am Ufer entlang. »Das
stimmt.« Rand sah Mat an. Der zuckte die Achseln, und so
ritten sie ihm nach.
Eine Zeitlang änderte sich nichts um sie herum. Die
Uferböschung war an einigen Stellen höher, an anderen
niedriger, die Bäume wuchsen dichter oder lichteten sich,
aber die Nacht und der Fluß blieben gleich: kalt und
schwarz. Und keine Trollocs. Das war eine Abwechslung,
über die Rand froh war.
Dann sah er ein Licht voraus; nur einen einzelnen
Lichtpunkt. Als sie näher kamen, konnten sie erkennen,
daß sich das Licht in einiger Höhe über dem Fluß befand,
als sei es in einem Baum. Thom beschleunigte den Trab
und summte leise vor sich hin.
Schließlich konnten sie die Lichtquelle ausmachen: eine
Laterne, die hoch am Mast eines Frachtkahns hing, der für
die Nacht neben einer kleinen Lichtung am Ufer
festgemacht hatte. Der Kahn, gut achtzig Fuß lang,
schwankte leicht in der Strömung und zerrte an den an
Bäumen befestigten Haltetauen. Die Takelage summte und
knarrte im Wind. Die Laterne verdoppelte die Helligkeit
des Mondes auf dem Deck, aber es war niemand in Sicht.
»Also«, sagte Thom beim Absteigen, »das ist ja wohl
nun besser als das Floß einer Aes Sedai, oder?« Er stand
da, die Hände in die Hüften gestützt, und sogar in der
Dunkelheit konnte man seine Selbstgefälligkeit erkennen.
»Es macht nicht den Eindruck, als sei dieses Schiff für
Pferde geeignet, aber wenn man bedenkt, in welcher
Gefahr er sich befindet, vor der wir ihn natürlich warnen
werden, sollte der Kapitän eigentlich vernünftig sein. Laßt
mich nur mit ihm reden. Und bringt für den Fall der Fälle
eure Decken und Satteltaschen mit.«
Rand stieg ab und begann, die Sachen hinter seinem
Sattel abzuschnallen. »Du denkst doch nicht daran, ohne
die anderen abzufahren?«
Thom hatte keine Gelegenheit, zu sagen, was er
vorhatte. Zwei Trollocs brachen aus dem Unterholz
heraus auf die Lichtung, heulten und schwenkten ihre
Fangstangen, und hinter ihnen kamen nochmals vier. Die
Pferde bäumten sich auf und wieherten. Rufe in der Ferne
zeigten ihnen, daß noch mehr Trollocs unterwegs waren.
»Auf das Schiff!« schrie Thom. »Schnell! Laßt alles
zurück! Rennt!« Er hielt sich an seine eigenen Worte und
rannte zu dem Kahn, wobei die Enden seines
Flickenumhangs flatterten und die Instrumentenkästen auf
seinem Rücken hüpften. »Ihr da auf dem Schiff!« schrie
er. »Aufwachen, ihr Narren! Trollocs!«
Rand riß seine Deckenrolle und die Satteltasche von
dem letzten Riemen los und war dem Gaukler im Nu auf
den Fersen. Er warf sein Gepäck über die Reling und
sprang mit einem Satz hinterher. Er hatte gerade noch
Zeit, einen Mann zu bemerken, der zusammengerollt an
Deck lag und sich aufzurichten begann, als sei er erst in
diesem Moment erwacht, und dann trat er auch schon mit
beiden Füßen auf den Burschen. Der Mann grunzte laut,
Rand stolperte, und eine hakenbewehrte Fangstange
krachte gerade dort auf die Reling, wo er
darübergesprungen war. Auf dem ganzen Kahn wurden
Rufe laut, und Füße trampelten über das Deck.
Haarige Hände erfaßten die Reling gleich neben der
Fangstange, und ein Kopf mit Ziegenhörnern tauchte
dazwischen auf. Aus dem Gleichgewicht geraten und
stolpernd konnte Rand trotzdem noch sein Schwert ziehen
und schwingen. Mit einem Schrei fiel der Trolloc wieder
zurück.
Männer rannten überall auf dem Kahn herum, schrien
und hackten mit Äxten auf die Haltetaue los. Der Kahn
schwankte und schwang herum, als sei er froh, hier
wegzukommen. Oben am Bug kämpften drei Männer mit
einem Trolloc. Jemand stach mit einem Speer über die
Bordwand, aber Rand konnte nicht erkennen, was er
treffen wollte. Eine Bogensehne sang und sang nochmals.
Der Mann, auf den Rand getreten war, kroch auf Händen
und Knien von ihm weg und hob dann die Hände, als er
sah, daß Rand ihn anblickte.
»Verschone mich!« rief er. »Nimm alles, was du willst,
nimm das Schiff, nimm alles, aber verschone mich!«
Plötzlich schlug etwas auf Rands Rücken und
schmetterte ihn auf das Deck. Das Schwert rutschte ihm
aus der ausgestreckten Hand. Sein Mund war offen; er
rang vergebens nach Luft und versuchte, das Schwert zu
erreichen. Seine Muskeln reagierten mit schmerzerfüllter
Langsamkeit; er wand sich wie eine Schnecke. Der
Bursche, der verschont werden wollte, sah das Schwert
kurz, ängstlich und gleichzeitig gierig an und verschwand
dann im Schatten.
Unter Schmerzen brachte Rand es fertig, über seine
Schulter nach oben zu blicken, und da wußte er, daß sein
Glück versagt hatte. Ein Trolloc mit Wolfsschnauze stand
auf der Reling, blickte auf ihn hinunter und hielt das
abgebrochene Ende der Fangstange in der Hand, mit der
er Rand zu Boden geschlagen hatte. Rand bemühte sich
verzweifelt, das Schwert zu erreichen, sich überhaupt zu
bewegen, doch seine Arme und Beine bewegten sich nur
zuckend und nicht so, wie er wollte. Sie gaben nach und
standen in unmöglichen Richtungen ab. Seine Brust schien
zwischen Eisenreifen eingespannt zu sein, und vor seinen
Augen schwammen silberne Flecken. Er suchte voller
Verzweiflung nach einer Möglichkeit, zu entkommen. Die
Zeit schien sich zu verlangsamen, als der Trolloc die
zersplitterte Stange hob, um ihn damit aufzuspießen. Rand
schien es, als bewege sich die Kreatur wie im Traum. E r
beobachtete, wie sich der kräftige Arm nach hinten
bewegte. Er konnte bereits den abgebrochenen Schaft
durch sein Rückgrat stechen fühlen und den Schmerz,
wenn er seinen Körper aufriß. Er glaubte, seine Lunge
müsse bersten. Ich werde sterben! Licht hilf mir, ich
werde...! Der Arm des Trollocs mit dem gesplitterten
Schaft fuhr nach vorn, und Rand hatte genug Luft geholt,
um zu schreien: »Nein!«
Plötzlich schwankte das Schiff stark, und aus dem
Schatten schwenkte eine Segelstange heran und traf den
Trolloc auf die Brust. Knochen barsten knackend, und er
wurde über die Reling gefegt.
Einen Augenblick lang lag Rand keuchend da und
betrachtete die Segelstange, die über ihm vor und zurück
schwang. Jetzt habe ich all mein Glück verbraucht, dachte
er. Danach kann ich nicht noch mehr haben. Zitternd
stand er auf und hob sein Schwert auf. Diesmal hielt er es
in beiden Händen, wie Lan es ihm beigebracht hatte, aber
es war nichts mehr da, wogegen er hätte kämpfen können.
Die mit schwarzem Wasser gefüllte Lücke zwischen dem
Kahn und dem Ufer wurde schnell breiter; die Rufe der
Trollocs verklangen hinter ihnen in der Nacht.
Als er sein Schwert in die Scheide steckte und sich an
die Reling lehnte, schritt ein breitschultriger Mann in
einem Mantel, der ihm bis an die Knie reichte, über das
Deck auf ihn zu und sah ihn zornig an. Langes Haar, das
ihm auf die breiten Schultern fiel, und ein Bart, der die
Oberlippe frei ließ, umrahmten ein rundes Gesicht. Rund,
aber nicht weich. Die Segelstange schwenkte wieder
heran, und der Bärtige lenkte einen Teil seines Zornes
darauf, als er sie abfing; sie klatschte in seine breite
Handfläche.
»Gelb!« brüllte er. »Glück! Wo du sein, Gelb?« E r
sprach so schnell und die Worte flossen alle ineinander,
daß ihn Rand kaum verstehen konnte. »Du kann nicht
verstecken vor mir auf eigenem Schiff! Bringt Floran
Gelb her!«
Ein Besatzungsmitglied erschien mit einer runden
Laterne, und zwei weitere schoben einen
schmalgesichtigen Mann in deren Lichtkreis. Rand
erkannte den Burschen, der ihm das Schiff angeboten
hatte. Die Augen des Mannes blickten unruhig drein; er
wechselte ständig die Blickrichtung und sah dem kräftigen
Mann nicht in die Augen. Der Kapitän, dachte Rand. Auf
Gelbs Stirn wuchs eine Beule, wo ihn einer von Rands
Stiefeln erwischt hatte. »Sollen du nicht diese Rahe
befestigen, Gelb?« fragte der Kapitän überraschend ruhig,
wenn auch genauso schnell wie vorher.
Gelb blickte ehrlich überrascht drein. »Aber das habe
ich getan. Hab sie richtig festgebunden. Ich geb' zu,
Kapitän Domon, daß ich hier und da mal ein bißchen
langsam bin, aber ich tue, was man mir aufgetragen hat.«
»Also sein du langsam, ja? Nicht so langsam im
Schlafen. Schlafen, wenn du Wache solltest halten. Bei
Wachsamkeit deiniges könnten wir alle ermordet sein.«
»Nein, Kapitän, nein! Das war er.« Gelb deutete
geradewegs auf Rand. »Ich war auf Wache, wie man es
von mir erwartete, und dann schlich er sich an und schlug
mich mit einem Knüppel nieder.« Er berührte die Beule
an seinem Kopf, zuckte zusammen und sah Rand böse an.
»Ich habe gegen ihn gekämpft, aber dann kamen die
Trollocs. Er arbeitet mit ihnen zusammen, Kapitän. Ein
Schattenfreund. Mit den Trollocs verbündet.«
»Mit meiner Großmutter verbündet!« brüllte Kapitän
Domon. »Nicht ich warnen dich letztes Mal, Gelb? In
Weißbrücke verschwinden du! Aus meinen Augen jetzt,
sonst ich dich gleich rausschmeißen!« Gelb eilte aus dem
Lichtkreis der Laterne, während Domon noch dastand und
die Hände öffnete und schloß, den Blick ins Leere
gerichtet. »Diese Trollocs mir folgen. Warum sie mich
nicht sein lassen können? Warum?«
Rand blickte über die Reling hinaus und bemerkte
überrascht, daß das Ufer bereits außer Sicht war. Zwei
Männer standen an dem langen Steuerruder, das am Heck
hinunter ins Wasser stach, und an der einen Seite ruderten
nun sechs Besatzungsmitglieder, um das Schiff wie einen
Wasserfloh weiter auf den Fluß hinauszudrehen.
»Kapitän«, sagte Rand, »wir haben dort draußen noch
Freunde. Wenn Ihr zurückkehrt und sie aufnehmt, bin ich
sicher, sie werden Euch reich belohnen.«
Das runde Gesicht des Kapitäns wandte sich Rand zu,
und als dann Thom und Mat auch noch erschienen, schloß
er sie in seinen ausdruckslosen Blick mit ein.
»Kapitän«, begann Thom nach einer Verbeugung,
»erlaubt mir...«
»Ihr kommen runter«, sagte Kapitän Domon, »wo ich
sehen, was für eine Art Ding auf mein Deck gefallen sein.
Kommt. Glück verlaß mich, jemand sichern diese
hornverfluchte Rahe!« Als Besatzungsmitglieder
herbeieilten, um die Rahe festzuzurren, stampfte er in
Richtung Heck los. Rand und seine beiden Begleiter
folgten.
Kapitän Domon hatte im Heck eine saubere und gut
aufgeräumte Kabine, die sie über eine kurze Leiter
erreichten, wo alles an seinem Platz war, bis hin zu den
Mänteln und Umhängen, die auf der Rückseite der Tür an
Haken aufgehängt waren. Die Kabine erstreckte sich über
die ganze Breite des Kahns. An einer Seite war ein breites
Bett eingebaut und an der anderen ein massiver Tisch. Es
gab nur einen Stuhl mit hoher Lehne und dicken
Armstützen, und den beanspruchte der Kapitän für sich.
Er bedeutete den anderen, sich selbst Plätze auf
verschiedenen Truhen und Bänken zu suchen, die das
einzige Mobiliar darstellten. Ein lautes Räuspern hielt Mat
davon ab, sich auf das Bett zu setzen.
»Also«, sagte der Kapitän, als sie sich alle gesetzt
hatten, »mein Name sein Bayle Domon, Kapitän und
Besitzer der Gischt, was sein dieses Schiff. Nun wer sein
Ihr und was Ihr wollen hier in der Mitte von Nirgendwo
und warum ich nicht sollen Euch werfen über Bord für
Schwierigkeiten Ihr mir bringen?«
Rand hatte immer noch genausogroße Schwierigkeiten,
Domon zu verstehen, wie zuvor. Er sprach dazu noch sehr
schnell. Als ihm klar wurde, was der Kapitän zuletzt
gesagt hatte, riß er überrascht die Augen auf. Uns über
Bord werfen?
Mat sagte schnell: »Wir wollten Euch keine
Ungelegenheiten bereiten. Wir sind auf dem Weg nach
Caemlyn und dann nach...«
»Und dann, wohin uns der Wind immer treibt«,
unterbrach ihn Thom gewandt. »So reisen wir Gaukler,
wie Staub im Wind. Damit wißt Ihr, daß ich ein Gaukler
bin. Mein Name ist Thom Merrilin.« Er zupfte an seinem
Umhang, so daß sich die vielfarbigen Flicken bewegten,
als könnte der Kapitän sie vorher übersehen haben. »Diese
beiden Burschen vom Land wollen meine Lehrlinge
werden, auch wenn ich da noch nicht sicher bin, ob ich sie
überhaupt will.« Rand sah Mat an, und der grinste.
»Das sein alles gut und schön, Mann«, sagte Kapitän
Domon gelassen, »aber es mir sagen nichts. Weniger.
Glück piekse mich, dieser Ort sein an keiner Straße nach
Caemlyn von irgendwoher, von der ich jemals hören.«
»Also, das ist eine Geschichte für sich«, sagte Thom,
und dann begann er sie auch schon lang und breit zu
erzählen.
Thom erzählte, daß er vom Schneefall dieses Winters in
einer kleinen Bergwerksstadt in den Verschleierten
Bergen hinter Baerlon überrascht worden war. Dort hörte
er Legenden über einen Schatz aus der Zeit der Trolloc-
Kriege in den verschollenen Ruinen einer Stadt namens
Aridhol. Nun ergab es sich, daß er die Lage Aridhols von
einer Landkarte her kannte, die ihm viele Jahre zuvor von
einem sterbenden Freund aus Illian anvertraut worden
war, dessen Leben er einst gerettet hatte, ein Mann, der
starb, nachdem er gerade noch hauchen konnte, die Karte
werde Thom reich machen. Thom hatte das nicht
geglaubt, bis er nun von der Legende hörte. Als genug
Schnee geschmolzen war, habe er sich mit einigen
Begleitern auf den Weg gemacht, darunter auch seinen
beiden Möchtegern-Lehrlingen, und nach vielen Strapazen
schließlich die Ruinenstadt gefunden. Aber es stellte sich
heraus, daß der Schatz einem der Schattenlords selbst
gehört hatte und Trollocs ausgeschickt worden waren, um
ihn nach Shayol Ghul zurückzuholen. Beinahe jede der
Gefahren, denen sie wirklich ausgesetzt gewesen waren,
tauchte in Thoms Geschichte an der einen oder anderen
Stelle auf – Trollocs, Myrddraal, Draghkar, Mordeth,
Mashadar – aber so, wie Thom es erzählte, war alles
gegen ihn persönlich gerichtet und von ihm mit großem
Geschick bewältigt worden. Mit großer Kühnheit – vor
allem Thoms – waren sie entkommen, von Trollocs
verfolgt, und waren in der Nacht voneinander getrennt
worden. Schließlich suchten Thom und seine beiden
übriggebliebenen Begleiter Zuflucht am letzten Ort, der
ihnen noch geblieben war: Kapitän Domons von Herzen
willkommenen Schiff.
Als der Gaukler fertig war, kam es Rand zu
Bewußtsein, daß er eine ganze Weile mit offenem Mund
dagesessen hatte. Er schloß ihn mit hörbarem Knacken.
Ein Blick auf Mat zeigte ihm, daß sein Freund den
Gaukler mit großen Augen anstarrte.
Kapitän Domon trommelte mit den Fingern auf die
Armstütze seines Stuhls. »Das sein eine Geschichte, die
nicht glauben viele Leute. Natürlich, ich die Trollocs
gesehen habe, ist richtig.«
»Jedes Wort daran ist wahr«, sagte Thom verbindlich,
»und stammt von jemandem, der das selbst erlebt hat.«
»Kann sein, Ihr habt etwas von Schatz bei Euch?«
Thom spreizte bedauernd die Hände. »Leider war das
wenige, das wir mitnehmen konnten, bei unseren Pferden,
und die rannten weg, als die letzten Trollocs erschienen.
Alles, was ich noch habe, sind meine Flöte und meine
Harfe, ein paar Kupfermünzen und die Kleider, die ich
trage. Aber glaubt mir, dieser Schatz wäre nichts für
Euch. Er ist vom Dunklen König verflucht. Am besten ist
es, ihn den Ruinen und den Trollocs zu überlassen.«
»Also Ihr kein Geld haben, um die Reise zu bezahlen.
Ich nicht mal eigenen Bruder mitfahren lassen, wenn nicht
bezahlen für Passage, besonders, wenn er bringen
Trollocs her, die Reling zerhacken und Takelage kappen.
Warum ich nicht sollen Euch lassen zurückschwimmen,
wo Ihr kommen her, um loszuwerden Euch?«
»Ihr würdet uns doch nicht am Ufer absetzen?« sagte
Mat. »Nicht, wenn dort Trollocs warten!«
»Wer sagen etwas von Ufer?« antwortete Domon
trocken. Er betrachtete sie einen Moment lang und legte
dann die Hände mit den Handflächen nach unten auf den
Tisch. »Bayle Domon sein ein vernünftiger Mann. Ich
Euch nicht über Bord werfen, wenn anderer Weg
möglich. Nun, ich sehen, einer von euren Lehrlingen
haben Schwert. Ich brauchen gutes Schwert, und ich sein
gutherziger Mann. Ihr können Passage nach Weißbrücke
dafür haben.«
Thom öffnete den Mund, doch Rand kam ihm zuvor.
»Nein!« Tam hatte es ihm nicht gegeben, damit er es
weiterverhökerte. Er fuhr mit der Hand über den Griff
und fühlte nach dem Bronzereiher. Solange er es hatte,
war es, als sei Tam bei ihm.
Domon schüttelte den Kopf. »Na ja, wenn nein, dann
eben nicht. Aber Bayle Domon nicht geben freie Passage,
nicht mal eigene Mutter.«
Zögernd leerte Rand seine Taschen. Es war nicht viel,
was da zum Vorschein kam: ein paar Kupfermünzen und
die Silbermünze, die Moiraine ihm gegeben hatte. Er hielt
sie dem Kapitän hin. Einen Moment später tat Mat es ihm
nach. Thom blickte böse drein, lächelte dann aber ganz
schnell wieder, so daß Rand sich nicht sicher war, ob er
sich den wütenden Blick nur eingebildet hatte. Kapitän
Domon nahm den Jungen flink die beiden dicken
Silbermünzen aus den Händen und holte eine kleine Waage
hervor und einen klimpernden Beutel, den er in einer
messingbeschlagenen Truhe hinter seinem Stuhl verstaut
gehabt hatte. Er wog die Münzen sorgfältig ab, ließ sie in
den Beutel fallen und gab jedem einige kleine Silber- und
Kupfermünzen heraus. Vor allem Kupfermünzen. »Bis
Weißbrücke«, sagte er und trug alles säuberlich in eine
ledergebundene Kladde ein.
»Das ist aber eine teure Fahrt nach Weißbrücke«,
murrte Thom.
»Plus Beschädigung von Schiff meiniges«, antwortete
der Kapitän gelassen. Er legte Waage und Beutel in die
Truhe zurück und schloß sie befriedigt. »Plus etwas für
bringen Trollocs zu mir, daß ich nachts flußabwärts muß
flüchten, obwohl da sein genug Untiefen, wo ich kann
auflaufen.«
»Wie steht es mit den anderen?« fragte Rand. »Werdet
Ihr sie auch mitnehmen? Sie sollten mittlerweile den Fluß
ebenfalls erreicht haben, oder sie werden ihn bald
erreichen, und dann werden sie die Laterne an Eurem
Mast entdecken.«
Kapitän Domons Augenbrauen hoben sich überrascht.
»Ihr etwa glauben, wir stehen still, Mann? Glück stech
mich, aber wir sein drei, vier Meilen flußabwärts von wo
Ihr gekommen an Bord. Trollocs haben meine Burschen
gemacht rudern sehr stark – sie Trollocs besser kennen als
mögen – und Strömung auch helfen. Aber das nichts
machen. Ich nicht wieder an Ufer, selbst wenn alte
Großmutter sein dort. Ich vielleicht nicht mehr an Ufer,
bis wir in Weißbrücke. Ich genug haben von Trollocs auf
meinen Fersen schon vor heute nacht, und ich werde
vermeiden, wenn ich kann.«
Thom beugte sich interessiert vor. »Ihr habt schon
zuvor Zusammenstöße mit Trollocs gehabt? In letzter
Zeit?«
Domon zögerte und musterte Thom genau, doch als er
dann antwortete, klang es lediglich etwas verärgert. »Ich
überwintern in Saldaea, Mann. Ich nicht wollen, aber Fluß
früh gefroren und Eis brechen auf sehr spät. Leute sagen,
du kannst sehen Große Fäule von höchsten Türmen in
Maradon, aber ich kein Interesse daran. Ich schon vorher
mal dort sein und sie immer erzählen, daß Trollocs einen
Bauernhof oder so haben überfallen. Aber diesen Winter
jede Nacht Bauernhöfe brennen. Ja, und ganze Dörfer
manchmal auch. Sie sogar kommen bis an Stadtmauer.
Und nicht schlimm genug, Leute alle sagen, bedeuten daß
Dunkler König kommt, daß Letzte Tage angebrochen.« E r
schüttelte sich und kratzte sich am Kopf, als habe der
bloße Gedanke seine Kopfhaut zum Jucken gebracht. »Ich
nicht kann warten um kommen zurück, wo Leute glauben,
Trollocs sein nur Märchen. Sie glauben, Geschichte ich
ihnen erzählen sein nur Schiffergarn.«
Rand hörte nicht mehr weiter zu. Er starrte die Wand
gegenüber an und dachte an Egwene und die anderen. Es
schien ihm einigermaßen ungerecht, daß er sich in
Sicherheit an Bord der Gischt befinden sollte, während sie
noch immer irgendwo da hinten in der Nacht waren. Die
Kabine des Kapitäns erschien ihm nun nicht mehr so
gemütlich.
Er war überrascht, als Thom ihn auf die Füße zog. Der
Gaukler schob Mat und ihn in Richtung Leiter und
entschuldigte sich bei Kapitän Domon für die
Landpomeranzen. Rand kletterte wortlos hinauf.
Gleich als sie an Deck waren, sah sich Thom schnell
um, ob ihn jemand belauschen konnte, und schimpfte
dann: »Ich hätte uns die Passage mit ein paar Liedern und
Geschichten erkaufen können, wenn ihr beide es nicht so
eilig gehabt hättet, Silber vorzuzeigen.«
»Da bin ich nicht so sicher«, sagte Mat. »Für mich hat
er sich ernsthaft angehört, als er etwas von ›in den Fluß
werfen‹ sagte.«
Rand ging langsam hinüber zur Reling und lehnte sich
dagegen. Er blickte hinauf in den nachtdunklen Himmel.
Er konnte nur Schwarz erkennen – nicht einmal ein Ufer.
Eine Minute später legte Thom ihm eine Hand auf die
Schulter, doch Rand rührte sich nicht.
»Es gibt nichts, was du tun könntest, Junge. Außerdem
sind sie wahrscheinlich mittlerweile in Sicherheit bei
der... bei Moiraine und Lan. Kannst du dir jemand
Besseres vorstellen, um sie aus allem rauszuholen?«
»Ich habe versucht, sie zu überreden, nicht
mitzukommen«, sagte Rand.
»Du hast dein Bestes gegeben, Junge. Keiner kann mehr
von dir verlangen.«
»Ich sagte, ich würde auf sie aufpassen. Ich hätte mich
mehr anstrengen sollen.« Das Knarren der Ruder und das
Summen der Takelage im Wind fügte sich zu einer
traurigen Melodie zusammen. »Ich hätte mich mehr
anstrengen sollen«, flüsterte er.
KAPITEL 21

Lausche dem Wind


Sonnenschein, der sich über den Fluß Arinelle schob, fand
den Weg in die Senke nicht weit von der Uferböschung,
wo Nynaeve mit dem Rücken an den Stamm einer jungen
Eiche gelehnt saß und ruhig atmend schlief. Auch ihr
Pferd schlief, den Kopf gesenkt und die Beine leicht
gespreizt, wie es die Art der Pferde ist. Die Zügel hatte
sie um ihr Handgelenk gewickelt. Als der Sonnenschein
auf die Augenlider des Pferdes fiel, öffnete das Tier die
Augen und hob den Kopf, wobei es einen heftigen Ruck
am Zügel gab. Nynaeve erwachte schlagartig.
Einen Augenblick lang blickte sie orientierungslos um
sich und fragte sich, wo sie sei, und als sie sich dann daran
erinnerte, sah sie sich noch erschrockener um. Aber sie
erblickte nur die Bäume und ihr Pferd und einen Teppich
alter, trockener Blätter am Boden der Senke. Wo der
Schatten am tiefsten war, wuchsen einige der noch aus
dem letzten Jahr stammenden Schattenhand-Pilze in
Ringen auf einem umgestürzten Stamm.
»Das Licht erhalte dich, Frau«, murmelte sie und ließ
sich zurücksacken, »wenn du nicht einmal eine Nacht
wach bleiben kannst.« Sie band den Zügel los und
massierte beim Aufstehen ihr Handgelenk. »Du hättest
auch im Kochtopf eines Trollocs erwachen können.«
Die abgestorbenen Blätter raschelten, als sie den sanften
Abhang der Senke hinaufkletterte und über den Rand
spähte. Nur eine Handvoll Eschen standen zwischen ihrem
Standpunkt und dem Fluß. Mit ihrer rissigen Rinde und
den kahlen Asten wirkten sie wie tot. Dahinter floß der
breite Strom mit seinem blaugrünen Wasser. Leer. Nichts
zu sehen. Vereinzelte Gruppen von Nadelbäumen, Tannen
und auch ein paar Weiden boten dem Auge auf der
anderen Seite des Flusses etwas Abwechslung. Aber es
schienen dort drüben weniger Bäume zu wachsen als hier
auf ihrer Seite. Falls Moiraine oder irgendeiner der
Jungen dort drüben war, hatten sie sich gut versteckt.
Natürlich gab es keinen Grund, warum sie den Fluß
ausgerechnet in ihrer Sichtweite hätten überqueren müssen
oder es auch nur versuchen sollten Sie konnten sich
überall befinden, zehn Meilen flußaufwärts oder
flußabwärts... Wenn sie überhaupt noch am Leben sind
nach dieser letzten Nacht.
Sie ärgerte sich über sich selbst, daß sie überhaupt an
eine solche Möglichkeit dachte, und ließ sich zurück in die
Senke hinunterrutschen. Nicht einmal die Winternacht
oder die Schlacht vor dem Erreichen von Shadar Logoth
hatte sie auf die vergangene Nacht und auf dieses Ding –
Mashadar – vorbereitet. Diese verzweifelte Flucht, die
ständige Frage, ob noch jemand von den anderen am
Leben sei; das Warten darauf, daß sie plötzlich einem
Blassen oder den Trollocs von Angesicht zu Angesicht
gegenüberstünde... Sie hatte die Trollocs in einiger
Entfernung knurren und schreien gehört, und das
zitternde Schrillen der Trolloc-Hörner war ihr eisiger den
Rücken hinuntergelaufen, als es der Wind je fertigbringen
würde, aber von jenem ersten Zusammentreffen mit den
Trollocs in den Ruinen abgesehen sah sie nur einmal noch
welche, und das außerhalb der Stadt. Zehn oder mehr
schienen plötzlich – keine dreißig Spannen weit vor ihr –
aus dem Boden aufzutauchen. Sie sprangen in der gleichen
Sekunde auf sie zu, heulten und schrien und schwenkten
hakenbewehrte Fangstangen. Doch als sie ihr Pferd
herumriß, schwiegen sie unvermittelt und hoben die
Schnauzen, um die Luft zu prüfen. Sie war zu verblüfft,
um schnell wegzureiten. Statt dessen beobachtete sie, wie
die Trollocs ihr den Rücken kehrten und in der Nacht
verschwanden. Und das hatte sie von allem am meisten
geängstigt.
»Sie kennen den Geruch von denen, die sie verfolgen«,
sagte sie zu dem Pferd, als sie wieder in der Senke stand,
»und ich gehöre nicht dazu. Die Aes Sedai hatte recht, wie
es scheint, der Schäfer der Nacht verschlinge sie!«
Sie entschloß sich, flußabwärts zu gehen und ihr Pferd
hinter sich herzuführen. Sie bewegte sich langsam und
beobachtete aufmerksam den sie umgebenden Wald. Nur,
weil die Trollocs sie letzte Nacht hatten laufen lassen,
mußte das nicht bedeuten, daß sie sie auch bei einem
erneuten Zusammentreffen wieder ungeschoren lassen
würden. Soviel Aufmerksamkeit sie auch dem Wald
schenkte – noch mehr widmete sie dem Boden vor ihr.
Falls die anderen im Laufe der Nacht hier durchge-
kommen waren, sollte sie einige Anzeichen dafür
entdecken können, die sie vom Rücken des Pferdes aus
nicht sehen konnte. Vielleicht traf sie ja auch auf dieser
Seite des Flusses die ganze Gruppe. Wenn sie aber
niemanden fand, dann würde der Fluß sie irgendwann
nach Weißbrücke führen, und von da gab es eine Straße
nach Caemlyn und auch bis Tar Valon, falls es sein mußte.
Die Aussichten waren schon ziemlich nieder-
schmetternd. Früher war sie noch nie weiter von
Emondsfeld weggewesen als die Jungen. Taren-Fähre war
ihr fremd vorgekommen; in Baerlon hätte sie sich nur
staunend umgesehen, wäre sie nicht so darauf bedacht
gewesen, Egwene und die anderen zu finden. Aber sie ließ
nicht zu, daß irgend etwas ihren Entschluß ins Wanken
brachte. Früher oder später würde sie Egwene und die
Jungen finden, oder einen Weg, die Aes Sedai für alles zur
Rechenschaft zu ziehen, was ihnen zustieß. Entweder das
eine oder das andere, schwor sie sich.
In Abständen fand sie Spuren, eine ganze Menge sogar.
Doch für gewöhnlich konnte sie beim besten Willen nicht
sagen, ob diejenigen, die sie verursacht hatten, gesucht
oder etwas gejagt hatten oder vielleicht selbst verfolgt
wurden. Einige stammten von Stiefeln, wie sie sowohl von
Menschen als auch von Trollocs getragen wurden. Andere
waren Hufspuren wie von Ziegen oder Rindern; das waren
natürlich Trollocs gewesen. Aber es gab nie ein klares
Anzeichen, um sicher behaupten zu können, es stamme
von einem der Gesuchten. Sie hatte vielleicht vier Meilen
zurückgelegt, als der Wind ihr den Geruch eines
Holzfeuers zuwehte. Er kam von weiter drunten am Fluß,
und das Feuer konnte nicht weit entfernt sein, dachte sie.
Sie zögerte nur einen Moment lang, dann band sie das
Pferd an eine Tanne, ein ganzes Stück vom Fluß entfernt
in einem kleinen, dichten Nadelgehölz, in dem das Tier
gut verborgen war. Der Rauch konnte Trollocs bedeuten,
aber der einzige Weg, das herauszufinden, war,
nachzusehen. Sie bemühte sich, nicht darüber
nachzudenken, wozu Trollocs möglicherweise ein Feuer
benützten.
Gebückt schlich sie sich von einem Baum zum anderen
und verfluchte im Geist den Rock, den sie hochheben
mußte, um nicht hängenzubleiben. Kleider waren nicht
fürs Anschleichen geeignet. Ein Geräusch von einem
Pferd ließ sie ihr Tempo verlangsamen, und als sie
schließlich vorsichtig hinter dem Stamm einer Esche
hervorspähte, stieg gerade der Behüter in einer kleinen
Lichtung nahe dem Ufer von seinem schwarzen Streitroß.
Die Aes Sedai saß auf einem umgestürzten Baumstamm
neben einem kleinen Feuer. Das Wasser in einem Kessel
begann gerade zu kochen. Ihre weiße Stute fraß hinter ihr
das dürftige Unkraut ab. Nynaeve blieb, wo sie war.
»Sie sind alle weg«, verkündete Lan ernst. »Vier
Halbmenschen sind etwa zwei Stunden vor Tagesanbruch
nach Süden aufgebrochen, jedenfalls soweit ich das
beurteilen kann – sie hinterlassen nicht viele Spuren –,
aber die Trollocs sind verschwunden. Sogar die Leichen,
und die Trollocs sind nicht gerade bekannt dafür, daß sie
ihre Toten mitnehmen. Es sei denn, sie haben Hunger.«
Moiraine warf eine Handvoll von irgend etwas in das
kochende Wasser und zog den Kessel vom Feuer. »Man
kann noch immer darauf hoffen, daß sie nach Shadar
Logoth zurückgegangen sind und davon verschlungen
wurden, aber wahrscheinlich wäre das zuviel verlangt von
unserem Glück.«
Der köstliche Duft von Tee trieb zu Nynaeve herüber.
Licht, hoffentlich knurrt mein Magen nicht zu laut!
»Es gab keine klare Spur der Jungen oder der anderen.
Die Spuren sind einfach zu verwischt, um genaueres zu
sagen.« In ihrem Versteck lächelte Nynaeve; wenn der
Behüter nichts herausgefunden hatte, war das Labsal auf
ihre Wunden. »Aber etwas anderes ist wichtig, Moiraine«,
fuhr Lan mit ernster Miene fort. Er lehnte das Angebot
einer Tasse Tee von der Aes Sedai mit einer Handbewe-
gung ab und begann, vor dem Feuer auf- und abzulaufen,
eine Hand auf seinem Schwertknauf und mit einem bei
jeder Drehung die Farbe ändernden Umhang. »Ich kann ja
noch Trollocs im Gebiet der Zwei Flüsse akzeptieren, so-
gar hundert davon. Aber dies hier? Gestern müssen bei-
nahe tausend an der Jagd auf uns beteiligt gewesen sein!«
»Wir hatten Glück, daß nicht alle dablieben und in
Shadar Logoth nach uns suchten. Die Myrddraal müssen
Zweifel gehabt haben, daß wir uns gerade dort verbergen
würden, aber sie hatten sicher auch Angst davor, nach
Shayol Ghul zurückzukehren, ohne zuvor jede noch so
kleine Möglichkeit untersucht zu haben. Der Dunkle
König war noch nie für seine Nachsicht bekannt.«
»Versuche nicht, auszuweichen. Du weißt, was ich
sagen will. Wenn diese tausend Trollocs hier waren, hätte
er sie auch zu den Zwei Flüssen schicken können. Warum
tat er das nicht? Es gibt nur eine mögliche Antwort. Sie
wurden erst ausgesandt, als wir den Taren überquert
hatten und er wußte, daß ein Myrddraal und hundert
Trollocs nicht ausreichten. Wie? Wie wurden sie hierher
ausgesandt? Wenn tausend Trollocs von der Großen Fäule
aus so schnell und ungesehen so weit nach Süden gebracht
werden können – ganz zu schweigen davon, daß sie
genauso schnell wieder weggeholt werden können –, kann
er dann nicht auch zehntausend ins Herz von Saldaea oder
Arafel oder Schienar schicken? Die Grenzlande wären
innerhalb eines Jahres überrannt.«
»Die ganze Welt wird in fünf Jahren überrannt, wenn
wir diese Jungen nicht finden«, sagte Moiraine ganz
einfach. »Mir bereitet diese Frage auch Kopfzerbrechen,
aber ich kenne die Antwort nicht. Die Wege des Geistes
sind geschlossen, und seit der Zeit des Wahns hat es keine
Aes Sedai mehr gegeben, die stark genug war, um auf
diesem Weg zu reisen. Falls nicht eine der Verlorenen im
Spiel ist – was das Licht verhüten möge, jetzt und für
immer –, gibt es immer noch niemanden, der das kann.
Und außerdem glaube ich nicht, daß selbst alle Verlorenen
zusammen tausend Trollocs auf einmal befördern könnten.
Laß uns versuchen, die Probleme zu lösen, denen wir uns
hier und jetzt gegenübersehen; alles andere muß warten.«
»Die Jungen.« Es war nicht als Frage gemeint.
»Ich war nicht untätig, während du weg warst. Einer ist
auf der anderen Seite des Flusses und lebt. Was die ande-
ren betrifft, so gab es flußabwärts eine schwache Spur,
aber die verflog, als ich sie fand. Die Verbindung war
schon Stunden vor Beginn meiner Suche abgebrochen.«
Hinter ihrem Baum zusammengekauert, zog Nynaeve
verwirrt die Stirn in Falten. Lan hörte mit dem
Herumlaufen auf. »Glaubst du, daß die Halbmenschen, die
nach Süden zogen, sie gefangen haben?«
»Vielleicht.« Moiraine goß sich eine Tasse Tee ein,
bevor sie weitersprach. »Aber ich wehre mich gegen die
Möglichkeit, daß sie tot sein könnten. Ich kann das nicht
glauben. Ich wage es nicht. Du weißt, wieviel auf dem
Spiel steht. Ich muß diese jungen Männer haben. Natürlich
erwarte ich, daß Shayol Ghul sie jagt. Auch eine
Opposition innerhalb des Weißen Turms erwarte ich,
genauso wie Widerstand selbst vom Amyrlin-Sitz. Es wird
immer Aes Sedai geben, die nur eine Lösung akzeptieren.
Aber...« Plötzlich stellte sie ihre Tasse weg und richtete
sich mit einer Grimasse auf. »Wenn du den Wolf zu
scharf beobachtest«, stellte sie fest, »dann beißt dich eine
Maus in den Fuß.« Und damit sah sie genau den Baum an,
hinter dem sich Nynaeve versteckte. »Frau al'Meara, Ihr
könnt nun herauskommen, wenn Ihr wünscht.«
Nynaeve stand auf und klopfte sich hastig abgestorbene
Blätter vom Kleid. Lan war herumgewirbelt und hatte den
Baum angesehen, sobald Moiraines Blick herüberge-
wandert war. Er hatte sein Schwert in der Hand, bevor sie
Nynaeves Namen noch ausgesprochen hatte. Nun steckte
er es etwas unbeherrschter als notwendig in die Scheide
zurück. Sein Gesicht war beinahe so ausdruckslos wie
immer, doch Nynaeve glaubte, im Ausdruck seines
Mundes einen Hauch von Ärger über sich selbst erkennen
zu können. Sie fühlte ein wenig Befriedigung; zumindest
hatte der Behüter nicht gemerkt, daß sie dagewesen war.
Die Befriedigung hielt sich allerdings nur einen
Moment lang. Sie wandte ihren Blick Moiraine zu und
ging zielbewußt zu ihr hin. Sie wollte kühl und beherrscht
bleiben, doch ihre Stimme zitterte vor Zorn. »In was habt
Ihr Egwene und die Jungen da hineingezogen? Für welche
schmutzige Aes Sedai-Intrige wollt Ihr sie benützen?«
Die Aes Sedai nahm ihre Tasse und schlurfte gelassen
ihren Tee. Als Nynaeve ihr allerdings zu nahe kam,
streckte Lan einen Arm aus und hinderte sie am
Weitergehen. Sie versuchte, das Hindernis
beiseitezuschieben, und war überrascht, als sich der Arm
des Behüters nicht mehr bewegte, als es der Ast einer
Eiche getan hätte. Sie war nicht schwach, doch seine
Muskeln schienen wie aus Eisen.
»Tee?« bot ihr Moiraine an.
»Nein, ich will keinen Tee. Ich würde Euren Tee nicht
trinken, und wenn ich vor Durst stürbe. Ihr werdet keine
Leute aus Emondsfeld für Eure schmutzigen Aes Sedai-
Pläne mißbrauchen!«
»Ihr solltet lieber nicht soviel reden, Seherin.«
Moiraine zeigte mehr Interesse an ihrem heißen Tee als an
dem, was sie sagte. »Ihr könnt schließlich selbst die Eine
Macht auf gewisse Weise anwenden.«
Nynaeve drückte wieder gegen Lans Arm. Der rührte
sich noch immer nicht, und so entschloß sie sich, ihn zu
ignorieren. »Warum behauptet Ihr nicht gleich, ich sei ein
Trolloc?«
Moiraines Lächeln war so überlegen, daß Nynaeve sie
am liebsten geschlagen hätte. »Glaubt Ihr, ich kann mich
Auge in Auge einer Frau gegenübersehen, die die Wahre
Quelle berühren und die Eine Macht lenken kann – wenn
auch nur manchmal – ohne zu merken, was sie ist? Genau
wie Ihr Egwenes Fähigkeiten fühlen konntet. Wieso,
glaubt Ihr, habe ich gewußt, daß Ihr hinter jenem Baum
standet? Wenn ich nicht abgelenkt gewesen wäre, hätte ich
es schon in dem Moment gefühlt, als Ihr näher kamt. Ihr
seid ganz sicher kein Trolloc, denn ich fühle das Böse des
Dunklen Königs, wenn es nahe ist. Also, was kann ich
sonst gefühlt haben, Nynaeve al'Meara, Seherin von
Emondsfeld und unbewußte Lenkerin der Einen Macht?«
Lan sah mit einem Ausdruck auf Nynaeve herunter, der
ihr nicht gefiel; überrascht und abschätzend, so schien es
ihr, obwohl sich an seinem Gesicht nichts verändert hatte
als nur der Ausdruck seiner Augen. Egwene war etwas
Besonderes, das hatte sie immer schon gewußt. Egwene
würde eine feine Seherin abgeben. Sie arbeiten zusammen,
dachte sie, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen.
»Ich werde mir das nicht länger anhören. Ihr...«
»Ihr müßt zuhören«, sagte Moiraine nachdrücklich.
»Ich vermutete das schon in Emondsfeld, bevor ich Euch
traf. Die Leute erzählten mir, wie verstört ihre Seherin
sei, daß sie den harten Winter und den späten Frühling
nicht vorhergesehen hatte. Sie sagten mir, wie gut sie
üblicherweise das Wetter und die Ernte vorhersagen
könne. Sie sagten mir, wie wunderbar ihre Heilmittel
seien, wie sie manchmal Verletzungen heilte, die sonst
einen Krüppel aus dem Betroffenen machen würden; dank
ihrer Hilfe sehe man kaum eine Narbe, kein Hinken oder
Zucken. Das einzig Negative, das ich über Euch hörte,
kam von einigen, die Euch für zu jung für diese
Verantwortung hielten, und das bestärkte nur meinen
Verdacht. So jung und schon solche Fähigkeiten!«
»Frau Barran hat mich gut unterrichtet.« Sie versuchte,
Lan anzusehen, doch dessen Blick machte sie immer noch
unsicher. Also blickte sie über den Kopf der Aes Sedai
hinweg zum Fluß hinüber. Wie können die im Dorf es
wagen, vor einer Ausländerin solchen Klatsch
auszubreiten! »Wer behauptete, ich sei zu jung?« wollte
sie wissen.
Moiraine lächelte, ließ sich aber nicht ablenken. »Im
Gegensatz zu den meisten Frauen, die behaupten, sie
könnten aus dem Wind lesen, könnt Ihr das wirklich
manchmal. Oh, natürlich hat das nichts mit dem Wind zu
tun. Ihr fühlt die Kräfte von Luft und Wasser. Ihr
brauchtet darin nicht unterrichtet zu werden; es ist Euch
angeboren, genau wie bei Egwene. Doch Ihr habt gelernt,
damit umzugehen, und das steht ihr noch bevor. Zwei
Minuten, nachdem ich Euch erstmals gegenüberstand,
wußte ich Bescheid. Erinnert Ihr euch daran, wie ich
Euch plötzlich fragte, ob Ihr die Seherin seid? Warum
habe ich das wohl getan? Es gab nichts, woran man Euch
von jeder anderen hübschen jungen Frau hätte
unterscheiden können, die sich für das Fest zurechtmachte.
Obwohl ich eine junge Seherin erwartet hatte, dachte ich
doch, sie sei wenigstens um die Hälfte älter als Ihr.«
Nynaeve erinnerte sich nur zu gut an dieses
Zusammentreffen: diese Frau, selbstbewußter im
Auftreten als jedes Mitglied des Frauenzirkels, in einem
schöneren Kleid, als sie jemals eines gesehen hatte, und
dann sprach sie sie als ›Kind‹ an. Und dann hatte Moiraine
plötzlich ganz überrascht dreingeschaut und aus dem
Blauen heraus die Frage gestellt...
Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.
Beide sahen sie an. Das Gesicht des Behüters war
undurchschaubar wie ein Stein, während das der Aes Sedai
bei aller Eindringlichkeit Sympathie verriet. Nynaeve
schüttelte den Kopf. »Nein! Nein, das ist unmöglich. Ich
würde es wissen. Ihr versucht nur, mich hereinzulegen,
und damit habt ihr bei mir sicher keinen Erfolg.«
»Natürlich wißt Ihr nichts davon«, sagte Moiraine
beruhigend. »Wie solltet Ihr das auch nur vermuten? Euer
ganzes Leben lang habt Ihr nur davon gehört, dem Wind
zu lauschen. Außerdem – Ihr würdet noch eher vor allen
Emondsfeldern behaupten, Ihr seid ein Schattenfreund, als
auch nur Euch selbst einzugestehen – und wenn es auch
nur im letzten Hinterstübchen Eures Verstands wäre –,
daß Ihr etwas mit der Einen Macht oder den gefürchteten
Aes Sedai zu tun habt.« Etwas wie Belustigung huschte
über Moiraines Gesicht. »Aber ich kann Euch sagen, wie
alles begann.«
»Ich will Eure Lügen nicht mehr hören«, sagte sie,
aber die Aes Sedai fuhr einfach fort.
»Vielleicht war es vor acht oder zehn Jahren – das
Alter ist unterschiedlich, doch es kommt immer in der
Jugend –, da gab es etwas, das Ihr unbedingt wolltet, mehr
als alles in der Welt, etwas, das Ihr brauchtet. Und Ihr
habt es bekommen. Ein Ast, der plötzlich herunterfiel, so
daß Ihr Euch daran aus einem See ziehen konntet, anstatt
zu ertrinken. Ein Freund oder ein Haustier, das wieder
gesund wurde, obwohl jeder geglaubt hatte, es werde
sterben...
Zu der Zeit habt Ihr nichts weiter gefühlt, doch eine
Woche oder zehn Tage später kam die Reaktion auf Eure
erste Berührung mit der Wahren Quelle. Vielleicht war es
Fieber oder Schüttelfrost, was Euch plötzlich ans Bett
fesselte und dann, nach nur ein paar Stunden, wieder
verschwand. Keine der Reaktionen, und da gibt es eine
ganze Reihe von Möglichkeiten, dauert länger als ein paar
Stunden. Kopfschmerzen und ein taubes Gefühl im Kopf
und freudige Erregung, alles durcheinander, und Ihr
riskiert irgend etwas ganz Dummes oder bewegt Euch
taumelnd, schwindlig. Überhaupt dieses Schwindelgefühl:
Ihr seid bei jeder Bewegung herumgetaumelt und
gestolpert und habt keinen vollständigen Satz
herausgebracht, sondern nur gelallt. Es gibt noch mehr
Anzeichen. Erinnert Ihr Euch?«
Nynaeve sackte zu Boden. Ihre Beine trugen sie nicht
mehr. Sie erinnerte sich an alles, und trotzdem schüttelte
sie den Kopf. Es mußte Zufall sein. Oder hatte Moiraine
in Emondsfeld noch mehr herumgefragt, als sie dachte?
Die Aes Sedai hatte eine Menge Fragen gestellt. Das mußte
es sein. Lan bot ihr seine Hand, doch sie bemerkte es noch
nicht einmal.
»Ich gehe noch weiter«, sagte Moiraine, als Nynaeve
schwieg. »Ihr habt die Macht einmal benützt, um entweder
Perrin oder Egwene zu heilen. Eine Verbindung ist
entstanden. Ihr könnt die Gegenwart eines Menschen
fühlen, den Ihr geheilt habt. In Baerlon seid Ihr
geradewegs zum Hirsch und Löwen gekommen, obwohl es
keineswegs die nächste Schenke an einem der Tore war,
durch das Ihr die Stadt betreten konntet. Von den
Emondsfeldern waren nur Perrin und Egwene bei Eurer
Ankunft in der Schenke. War es Perrin oder Egwene?
Oder beide?«
»Egwene«, murmelte Nynaeve. Sie hatte es immer für
gegeben erachtet, daß sie manchmal wußte, wer sich ihr
näherte, auch wenn sie die Person noch nicht sehen
konnte. Bis jetzt war es ihr nie in den Sinn gekommen,
daß es immer jemand war, den sie auf wunderbare Weise
geheilt hatte. Und sie hatte auch immer gewußt, wenn ein
Medikament über alle Erwartungen gut anschlagen würde,
war sich immer sicher gewesen, wenn sie behauptete, eine
Ernte werde besonders gut ausfallen oder der Regen
werde diesmal früher oder später eintreffen. So mußte es
doch sein, dachte sie. Nicht alle Seherinnen konnten dem
Wind lauschen, aber die besten schon. Das hatte Frau
Barran immer gesagt, und sie hatte hinzugefügt, Nynaeve
werde zu den Besten gehören.
»Sie hatte Wundfieber.« Sie sprach mit gesenktem
Kopf. »Ich war immer noch Frau Barrans Lehrling, und
sie ließ mich über Egwene wachen. Ich war jung und
wußte nicht, daß die Seherin alles gut im Griff hatte. Es
ist furchtbar, jemanden mit Wundfieber zu beobachten.
Das Kind war schweißgebadet, stöhnte und wand sich, bis
ich kaum noch verstand, warum ich ihre Knochen nicht
brechen hören konnte. Frau Barran hatte mir gesagt, das
Fieber werde in einem, höchstens zwei Tagen nachlassen,
doch ich glaubte, sie habe mich nur trösten wollen. Ich
glaubte, Egwene läge im Sterben. Ich hatte sie manchmal
beaufsichtigt, als sie noch ein Kleinkind war und wenn
ihre Mutter weg mußte, und so begann ich zu weinen, weil
ich sie nicht sterben sehen wollte. Als Frau Barran eine
Stunde später wiederkam, war das Fieber weg. Sie war
überrascht und kümmerte sich mehr um mich als um
Egwene. Ich dachte immer, sie glaubte, ich habe dem
Kind etwas gegeben und traute mich nicht, es zuzugeben.
Ich dachte immer, sie wolle mich beruhigen und mir
klarmachen, daß ich Egwene nicht geschadet hatte. Eine
Woche später kippte ich in ihrem Wohnzimmer um,
zitterte und glühte abwechselnd. Sie brachte mich ins Bett,
doch beim Abendessen war alles wieder in Ordnung.«
Sie ließ den Kopf in die Hände fallen, als sie fertig war.
Die Aes Sedai hat ein gutes Beispiel gewählt, dachte sie.
Das Licht verbrenne sie! Die Macht wie eine Aes Sedai
benützen! Eine schmutzige, Schattenfreund-Aes Sedai!
»Ihr habt viel Glück gehabt«, sagte Moiraine, und
Nynaeve setzte sich mit einem Ruck auf. Lan drehte sich
weg, als ginge ihn das, worüber sie sprachen, nichts an,
und machte sich an Mandarbs Sattel zu schaffen. Er sah
nicht einmal zu ihnen herüber.
»Glück!«
»Ihr habt eine grobe Kontrolle über Eure Kräfte
erlangt, auch wenn die Berührung der Wahren Quelle
noch immer in unregelmäßigen Abständen erfolgt. Wenn
Ihr das nicht geschafft hättet, wärt Ihr irgendwann daran
gestorben. So, wie es Egwene umbringen wird, wenn Ihr
es schafft, sie davon abzuhalten, daß sie Tar Valon
erreicht.«
»Wenn ich lernte, die Gabe zu kontrollieren...«
Nynaeve schluckte schwer. Das war, als gäbe sie erneut
zu, alles das tun zu können, was die Aes Sedai behauptete.
»Wenn ich lernte, es zu kontrollieren, dann kann sie das
auch. Sie muß deswegen nicht nach Tar Valon gehen und
sich in Eure Intrigen verwickeln lassen.«
Moiraine schüttelte bedächtig den Kopf. »Die Aes Sedai
suchen genauso dringend nach Mädchen, die die Wahre
Quelle ohne Hilfe berühren können, wie auch nach
Männern mit der gleichen Fähigkeit. Es ist nicht der
Wunsch, unsere Anzahl zu vergrößern – oder zumindest
nicht nur das – und auch nicht die Angst, daß diese Frauen
die Macht mißbrauchen werden. Die geringe Kontrolle
über die Macht, die sie erlangen können, wenn das Licht
auf sie scheint, reicht kaum aus, um viel Schaden
anzurichten, besonders weil die wirkliche Berührung der
Quelle von ihnen ohne Lehrer nicht bewußt gemeistert
werden kann und nur wahllos erfolgt. Und natürlich
leiden sie nicht an dem Wahn, der die Männer zu bösen
oder verrückten Taten treibt. Wir wollen ihre Leben
retten. Die Leben jener, die niemals eine wirksame
Kontrolle erlangen.«
»Das Fieber und der Schüttelfrost, die ich hatte,
könnten niemanden töten«, beharrte Nynaeve. »Nicht in
drei oder vier Stunden. Ich habe auch die anderen
Wirkungen erlebt, und auch sie würden niemanden
umbringen. Und nach ein paar Monaten hörte alles auf.
Wie steht es damit?«
»Das waren nur Reaktionen«, sagte Moiraine geduldig.
»Jedesmal kommt die Reaktion schneller nach der
Berührung der Quelle, bis beides fast gleichzeitig
geschieht. Danach gibt es keine weiteren sichtbaren
Reaktionen, aber es ist, als habe eine Uhr zu ticken
angefangen. Ein Jahr. Zwei Jahre. Ich kenne eine Frau,
bei der es fünf Jahre dauerte. Von vieren, die diese
angeborene Fähigkeit haben wie Ihr und Egwene, sterben
drei, falls wir sie nicht finden und ausbilden. Ihr Tod ist
nicht so furchterregend wie bei den Männern, aber schön
ist er nicht, falls man überhaupt einen Tod schön nennen
kann. Krämpfe. Schreien. Es dauert Tage, und wenn es
einmal begonnen hat, kann man nichts mehr dagegen tun,
nicht einmal alle Aes Sedai in Tar Valon gemeinsam.«
»Ihr lügt! Alle diese Fragen in Emondsfeld. Ihr habt
von Egwenes Heilung und meinem Fieber und
Schüttelfrost gehört! Ihr habt alles erfunden!«
»Ihr wißt genau, daß das nicht stimmt«, sagte Moiraine
sanft.
Zögernd, eingeschüchterter als je zuvor in ihrem
Leben, nickte Nynaeve. Es war ein letzter starrköpfiger
Versuch gewesen, zu leugnen, was eigentlich klar war,
und so was ist niemals gut, so unangenehm die Wahrheit
auch sein mag. Frau Barrans erstes Lehrmädchen war so
gestorben, wie die Aes Sedai es beschrieben hatte, als
Nynaeve noch mit Puppen spielte, und in Devenritt war es
vor nur wenigen Jahren einer jungen Frau ebenso
ergangen. Auch sie war Lehrmädchen bei einer Seherin
gewesen, eine, die dem Wind lauschen konnte.
»Ich glaube, Ihr habt große Fähigkeiten«, fuhr
Moiraine fort. »Richtig geführt, könntet Ihr
möglicherweise noch mächtiger werden als Egwene, und
ich denke, aus Ihr kann schon eine der mächtigsten Aes
Sedai werden, die es in den letzten Jahrhunderten gegeben
hat.«
Nynaeve zuckte vor der Aes Sedai zurück wie vor einer
Giftschlange. »Nein! Ich will nichts zu tun haben mit...«
Womit? Mir selbst? Sie sank zurück, und ihre Stimme
wurde unsicher. »Ich möchte Euch bitten, niemandem
davon zu erzählen. Bitte!« Das Wort blieb ihr beinahe im
Hals stecken. Ihr wäre es lieber gewesen, Trollocs wären
gekommen, als daß sie zu dieser Frau ›bitte‹ sagen mußte.
Aber Moiraine nickte nur zustimmend, und etwas von
ihrem Kampfgeist kehrte wieder. »Nichts von dem allen
erklärt, was Ihr mit Rand, Mat und Perrin anfangen
wollt.«
»Der Dunkle König will sie haben«, antwortete
Moiraine. »Wenn der Dunkle König etwas haben will,
stelle ich mich dagegen. Kann es einen einfacheren oder
besseren Grund geben?« Sie trank den Rest Tee aus und
blickte Nynaeve über den Rand ihrer Tasse hinweg an.
»Lan, wir müssen aufbrechen. Nach Süden, denke ich. Ich
fürchte, die Seherin wird uns nicht begleiten.«
Nynaeves Mund zog sich zu einer schmalen Linie
zusammen, als sie hörte, wie die Aes Sedai das Wort
›Seherin‹ betonte, so, als ob sie den großen Dingen den
Rücken kehrte und etwas Unbedeutendes vorzog. Sie will
mich nicht dabei haben. Sie versucht mich abzuschrecken,
so daß ich heimgehe und sie ihr überlasse. »O ja, ich gehe
mit Euch. Ihr könnt mich nicht davon abhalten.«
»Niemand wird Euch davon abhalten«, sagte Lan, als er
wieder zu ihnen stieß. Er leerte den Teekessel über dem
Feuer aus und stocherte mit einem Stock in der Asche
herum. »Ein Teil des Musters?« fragte er Moiraine.
»Vielleicht«, sagte sie gedankenverloren. »Ich hätte
noch mal mit Min sprechen sollen.«
»Ihr seht, Nynaeve, Ihr seid uns willkommen.« Lan
zögerte kurz, als er ihren Namen sagte – da war eine
Andeutung eines unausgesprochenen ›Sedai‹ zu bemerken.
Nynaeve, die es als Spott auffaßte, schnaubte vor Wut,
auch weil sie so vor ihr über Dinge sprachen, von denen
sie nichts wußte, ohne ihr die Höflichkeit einer Erklärung
angedeihen zu lassen, doch sie wollte ihnen nicht den
Gefallen tun, danach zu fragen. Der Behüter fuhr mit den
Vorbereitungen für den Aufbruch fort. Seine Bewegungen
waren sparsam, doch sicher und schnell, so daß er bald
fertig war. Satteltaschen, Decken und alles andere waren
hinter den Sätteln von Mandarb und Aldieb festgeschnallt.
»Ich werde Euer Pferd holen«, sagte er zu Nynaeve, als
er den letzten Gurt angezogen hatte.
Er ging die Böschung hinauf, und sie erlaubte sich ein
kleines Lächeln. Nachdem sie ihn unentdeckt beobachtet
hatte, versuchte er nun, ohne Hilfe ihr Pferd zu finden. E r
würde merken, daß sie wenig Spuren hinterließ, wenn sie
jemanden belauerte. Es wäre ein Vergnügen, ihn mit
leeren Händen zurückkommen zu sehen.
»Warum nach Süden?« fragte sie Moiraine. »Ich hörte
Euch sagen, einer der Jungen sei auf der anderen Seite des
Flusses. Woher wißt Ihr das?«
»Ich gab jedem der Jungen eine Münze. Das schuf eine
Art von Verbindung zwischen ihnen und mir. Solange sie
am Leben sind und diese Münze bei sich tragen, werde ich
in der Lage sein, sie zu finden.« Nynaeves Blick wanderte
in die Richtung, in die der Behüter gegangen war, und
Moiraine schüttelte den Kopf. »Nicht so. Es erlaubt mir
nur herauszufinden, ob sie noch am Leben sind, und sie zu
finden, falls wir getrennt werden. Eine wichtige
Vorsichtsmaßnahme unter den gegebenen Umständen,
findet Ihr nicht auch?«
»Mir gefällt nichts, was Euch mit jemandem aus
Emondsfeld verbindet«, sagte Nynaeve stur. »Aber wenn
es uns hilft, sie zu finden...«
»Es wird. Wenn ich könnte, würde ich zuerst den
jungen Mann von der anderen Seite des Flusses
aufgabeln.« Einen Moment lang prägte Enttäuschung die
Stimme der Aes Sedai. »Er befindet sich nur ein paar
Meilen von uns entfernt. Aber ich kann mir den
Zeitaufwand einfach nicht leisten. Er sollte den Weg nach
Weißbrücke jetzt, wo die Trollocs fort sind, in Sicherheit
zurücklegen können. Die beiden, die sich flußabwärts
bewegen, brauchen vielleicht meine Hilfe nötiger. Sie
haben ihre Münzen verloren, und Myrddraal verfolgen sie
entweder oder versuchen, uns in Weißbrücke
abzufangen.« Sie seufzte. »Ich muß das Nötigste zuerst
erledigen.«
»Die Myrddraal könnten... könnten sie getötet haben«,
sagte Nynaeve. Moiraine schüttelte leicht den Kopf und
verwarf den Gedanken, als sei er zu unbedeutend, um ihm
Beachtung zu schenken. Nynaeves Mund verzog sich.
»Und wo ist dann Egwene? Ihr habt sie nicht einmal
erwähnt.«
»Ich weiß es nicht«, gab Moiraine zu, »aber ich hoffe,
sie ist in Sicherheit.«
»Ihr wißt es nicht? Ihr hofft? All das Gerede darüber,
ihr Leben zu retten, indem Ihr sie nach Tar Valon bringt,
und nun könnte sie genausogut auch schon tot sein!«
»Ich könnte nach ihr suchen und damit den Myrddraal
mehr Zeit geben, bevor ich ankomme und den beiden
jungen Männern helfe, die nach Süden unterwegs sind.
Der Dunkle König sucht nach ihnen, nicht nach ihr. Sie
würden sich nicht um Egwene kümmern, solange ihre
wirkliche Beute ungefangen bleibt.«
Nynaeve erinnerte sich an ihr eigenes
Zusammentreffen, doch sie weigerte sich, den Sinn von
Moiraines Worten anzuerkennen. »Also ist das Beste, was
Ihr mir bieten könnt, daß sie vielleicht noch am Leben ist,
wenn sie Glück hatte. Lebendig, vielleicht allein,
verängstigt, sogar verletzt, Tage vom nächsten Dorf oder
von Hilfe entfernt, außer eben von uns. Und Ihr plant, sie
im Stich zu lassen.«
»Genausogut könnte sie sich auch in Sicherheit bei dem
Jungen auf der anderen Seite befinden. Oder auf dem Weg
nach Weißbrücke mit den beiden anderen. In jedem Fall
befinden sich keine Trollocs mehr hier, die sie bedrohen,
und sie ist stark und intelligent und durchaus in der Lage,
notfalls allein nach Weißbrücke zu gelangen. Wollt Ihr
lieber hierbleiben, weil sie möglicherweise Hilfe braucht,
oder versuchen, denen zu helfen, von denen wir wissen,
daß sie in Not sind? Wollt Ihr, daß ich sie suche, anstatt
mich um die Jungen – und auch um die Myrddraal, die sie
auf jeden Fall verfolgen – zu kümmern? So sehr ich auch
hoffe, Nynaeve, daß Egwene in Sicherheit ist, so gilt mein
Kampf doch dem Dunklen König, und das bestimmt jetzt
meinen Weg.«
Moiraine verlor nie die Ruhe, während sie die
schrecklichen Alternativen schilderte. Nynaeve hätte sie
anschreien können. Sie schluckte Tränen hinunter und
drehte das Gesicht weg, so daß die Aes Sedai es nicht
sehen konnte. Licht, man erwartet von einer Seherin, daß
sie sich um all die ihr anvertrauten Menschen kümmert.
Warum stehe ich vor einer solchen Wahl?
»Lan ist wieder da«, sagte Moiraine, erhob sich und
zog sich den Umhang über.
Es war nur ein kleiner Schlag für Nynaeve, als der
Behüter ihr Pferd aus dem Wäldchen führte. Trotzdem
hatte sie ganz schmale Lippen, als er ihr die Zügel reichte.
Es hätte ihre Laune wenigstens ein kleines bißchen
verbessert, wenn auf seinem Gesicht nur eine Spur von
Ärger bemerkbar gewesen wäre, anstatt dieser
unerträglichen, steinernen Ruhe. Seine Augen weiteten
sich, als er ihr Gesicht sah, und sie wandte ihm den
Rücken zu, um sich die Tränen von den Wangen zu
wischen. Wie kann er sich über mein Weinen lustig
machen!
»Kommt Ihr jetzt, Seherin?« fragte Moiraine kühl.
Sie warf einen letzten langen Blick auf den Wald und
fragte sich, ob Egwene dort draußen sei, bevor sie traurig
auf ihr Pferd stieg. Lan und Moiraine waren bereits
aufgesessen und richteten ihre Pferde nach Süden aus. Sie
folgte mit steifem Rücken und weigerte sich, noch einmal
zurückzusehen. Statt dessen behielt sie Moiraine im Auge.
Die Aes Sedai hatte soviel Vertrauen in ihre Kräfte und
ihre Pläne, dachte sie, aber wenn sie Egwene und die
Jungen nicht fänden, alle, lebendig und unversehrt, dann
würde all ihre Kraft nicht reichen, um sie zu beschützen.
Nicht einmal ihre Macht. Ich kann sie auch benützen,
Frau! Das habt Ihr mir selbst gesagt. Ich kann sie gegen
Euch benützen!
KAPITEL 22

Der eingeschlagene Weg


In einem kleinen Hain, bedeckt von in der Dunkelheit
grob zurechtgeschnittenen Zedernzweigen, schlief Perrin
bis lang nach Sonnenaufgang. Es waren die Zedernnadeln,
die durch seine immer noch feuchte Kleidung
hindurchpieksten, die schließlich auch seine Erschöpfung
durchdrangen und ihn weckten. Direkt aus einem Traum
von Emondsfeld gerissen – er hatte in Meister Luhhans
Schmiede gearbeitet –, öffnete er die Augen und blickte
verständnislos auf die süß duftenden Zweige, die über
seinem Gesicht lagen und durch die nun Sonnenschein
hereinblinzelte.
Die meisten Zweige fielen herunter, als er sich
überrascht aufsetzte, aber ein paar blieben auch an seinen
Schultern und sogar an seinem Kopf hängen, was ihn
selbst wie eine Art Baum aussehen ließ. Emondsfeld
verblaßte mit der Rückkehr der Erinnerung, die ihn mit
solcher Lebhaftigkeit überfiel, daß die vergangene Nacht
einen Moment lang realer wirkte als seine jetzige
Umgebung.
Keuchend und verwirrt kramte er in dem Haufen
Zweige nach seiner Axt. Er packte sie mit beiden Händen
und sah sich vorsichtig um, wobei er sogar die Luft
anhielt. Nichts bewegte sich. Der Morgen war kalt und
ruhig. Falls sich auf der Ostseite des Arinelle Trollocs
befanden, dann waren sie nicht unterwegs, zumindest nicht
in seiner Nähe. Er holte tief Luft, um sich zu beruhigen,
senkte die Axt auf Kniehöhe und wartete einen Moment,
bis sein Herz nicht mehr so hämmerte.
Der kleine Nadelholzhain, der ihn umgab, hatte ihm
vergangene Nacht das erste Obdach geboten, das er finden
konnte. Es war so dürftig, daß es kaum Schutz vor
Beobachtern bot, wenn er aufstand. Er pflückte sich die
Zweige von Kopf und Schultern, schob den Rest seiner
stachligen ›Decke‹ zur Seite und krabbelte auf allen vieren
zum Rand des Hains. Dort lag er, beobachtete das Ufer
und kratzte sich, wo ihn die Nadeln gepiekst hatten.
Der schneidende Wind der Nacht hatte sich so weit
gelegt, daß nur noch eine leichte Brise wehte, die kaum
die Wasseroberfläche bewegte. Der Fluß strömte ruhig
und glatt vorbei. Und breit. Sicherlich war er zu breit und
tief für die Blassen, so daß sie ihn nicht überqueren
konnten. Das gegenüberliegende Ufer wirkte wie eine
solide Wand aus Bäumen, so weit er flußaufwärts und
flußabwärts sehen konnte. Innerhalb seiner Sichtweite
bewegte sich dort absolut nichts.
Er war sich nicht sicher, was er davon zu halten hatte.
Er konnte ganz gut ohne die Gesellschaft von Trollocs und
Blassen auskommen, selbst auf der anderen Flußseite, aber
seine Sorgen würden sich im Nu verflüchtigen, wenn die
Aes Sedai oder der Behüter oder noch besser einer seiner
Freunde dort auftauchten. Wenn Wünschen Flügel
wüchsen, würden Schafe fliegen. Das hatte Frau Luhhan
immer gesagt.
Er hatte kein Lebenszeichen seines Pferdes entdeckt,
seit er über die Klippe geritten war – er hoffte, daß es den
Fluß sicher durchschwommen hatte –, aber er war
sowieso mehr ans Laufen gewöhnt als ans Reiten, und
seine Stiefel waren stabil und hatten gute Sohlen. Er hatte
nichts zu essen, trug jedoch seine Schleuder noch an der
Hüfte und außerdem die Fangschlinge in der Tasche. Da
war doch sicher bald ein Kaninchen fällig. Alles, womit er
ein Feuer hätte entzünden können, war mit seinen
Satteltaschen verschwunden, doch aus den Zedern würde
sich mit ein bißchen Mühe Zunder und ein Feuerbogen
herstellen lassen.
Er zitterte, als der Wind in sein Versteck blies. Sein
Umhang befand sich irgendwo im Fluß, und sein Mantel,
wie auch alles andere, was er am Leib trug, war immer
noch klamm und feucht von dem unfreiwilligen Bad im
Fluß. Letzte Nacht war er zu müde gewesen, als daß ihn
Kälte und Feuchtigkeit gestört hätten, aber jetzt fror er
erbärmlich. Trotzdem entschied er sich dagegen, seine
Kleider zum Trocknen über die Äste zu hängen. Der Tag
war nicht unbedingt kalt; allerdings konnte man ihn auch
nicht gerade warm nennen.
Es war eben eine Frage der Zeit, dachte er seufzend.
Trockene Kleidung, ein wenig Ruhe, ein Kaninchen und
ein Feuer, um es daran zu rösten, und noch mal ein
bißchen Ruhe. Sein Magen grollte, und er bemühte sich,
jeden Gedanken an Essen fallenzulassen. Er hatte
Wichtigeres zu tun. Alles zu seiner Zeit, und das
Wichtigste hatte Vorrang. Das war typisch für ihn.
Sein Blick folgte der starken Strömung des Arinelle
flußabwärts. Er war ein besserer Schwimmer als Egwene.
Falls sie es hier herüber geschafft hatte... Nein, nicht falls.
Der Ort, an dem sie angekommen sein mußte, dürfte sich
weiter flußabwärts befinden. Er trommelte mit den
Fingern auf den Boden, überlegte, wog ab.
Als er seine Entscheidung getroffen hatte, verlor er
keine Zeit mehr, sondern hob seine Axt auf und setzte sich
den Fluß entlang in Marsch.
Auf dieser Seite des Arinelles gab es keinen dichten
Wald wie auf der anderen. Baumgruppen erhoben sich
vereinzelt aus etwas, das man, sollte der Frühling jemals
kommen, als Grasland bezeichnen konnte. Manche waren
groß genug, daß man sie schon als Dickicht bezeichnen
konnte. Gruppen von Nadelbäumen standen neben kahlen
Eschen, Erlen und Süßholzsträuchern. Weiter unten am
Fluß waren die Haine kleiner und noch nicht einmal so
dicht wie diese hier. Sie gaben wenig Deckung, stellten
aber immerhin die einzig mögliche Deckung dar. E r
huschte gebückt von einem Wäldchen zum anderen. Wenn
er sich zwischen Bäumen befand, warf er sich zu Boden,
um die Ufer zu beobachten, sowohl die andere Seite als
auch die, auf der er war. Der Behüter hatte behauptet, der
Fluß werde für die Trollocs und Blassen ein
unüberwindliches Hindernis darstellen aber stimmte das
wirklich? Wenn sie ihn sähen, würde das vielleicht
ausreichen, um ihre Hemmungen, tiefes Wasser zu
überqueren, zu überwinden. Also beobachtete er ganz
genau und rannte von einem Versteck zum nächsten,
schnell und geduckt.
Auf diese Weise legte er mehrere Meilen zurück, bis er
plötzlich auf halbem Weg zu einer Gruppe von Weiden
stehenblieb und zu Boden starrte. Flecken nackter Erde
durchsetzten das fahle Braun des letztjährigen Grases, und
in der Mitte eines solchen Flecks, direkt vor seiner Nase,
befand sich ein deutlich sichtbarer Hufabdruck. Langsam
verbreitete sich ein Lächeln über sein Gesicht. Einige
Trollocs hatten Hufe, doch er bezweifelte, daß sie
beschlagen waren, und sie würden wohl kaum Hufeisen
mit den doppelten Kreuzstreben tragen, die Meister
Luhhan zur Verstärkung daran anbrachte. Er vergaß die
möglichen Beobachter auf der anderen Seite und suchte
nach weiteren Spuren. Auf der dünnen Matte
abgestorbenen Grases hielten sich Spuren nicht sehr gut,
doch seine scharfen Augen spürten sie trotzdem auf. Der
dürftige Pfad führte ihn geradewegs vom Fluß weg zu
einem dichten Gehölz. Lederblattbäume und Zedern
bildeten eine Mauer gegen den Wind oder gegen
neugierige Blicke. In der Mitte thronte mit ausgebreiteten
Asten eine Schierlingstanne. Er grinste noch immer, als er
sich seinen Weg durch die übereinanderstehenden Äste
bahnte, gleich, wieviel Lärm er auch machte. Plötzlich
trat er in eine kleine Lichtung unter der Schierlingstanne
und blieb stehen. Hinter einem kleinen Feuer kauerte
Egwene mit grimmig entschlossenem Gesicht, einen
dicken Ast wie einen Knüppel in den Händen und den
Rücken an Belas Flanke gelehnt.
»Ich schätze, ich hätte doch rufen sollen«, meinte er mit
verlegenem Achselzucken. Sie warf ihren Knüppel weg,
rannte auf ihn zu und umarmte ihn. »Ich dachte, du wärst
ertrunken. Du bist ja immer noch naß. Hier, setz dich ans
Feuer, und wärme dich auf. Du hast dein Pferd verloren,
nicht wahr?«
Er ließ sich von ihr ans Feuer schieben und rieb sich
die Hände über den Flammen, dankbar für die Wärme. Sie
holte ein in Ölpapier gewickeltes Päckchen aus ihrer
Satteltasche und gab ihm etwas Brot und Käse. Das
Päckchen war so gut eingewickelt gewesen, daß das Essen
sogar nach dem Tauchbad noch trocken war. Und du hast
dir ihretwegen Sorgen gemacht! Sie ist besser
davongekommen als du.
»Bela hat mich herübergebracht«, sagte Egwene und
tätschelte die struppige Stute. »Sie ist vor den Trollocs
davongerannt und hat mich mitgerissen.« Sie schwieg
einen Moment lang. »Ich habe keinen von den anderen
gesehen, Perrin.«
Er hörte die unausgesprochene Frage. Er beäugte
bedauernd das Päckchen, das sie nun wieder einwickelte,
und leckte sich die letzten Krümel von den Fingern, bevor
er sagte: »Ich habe seit gestern niemanden außer dir
gesehen. Immerhin auch keine Blassen und Trollocs.«
»Rand geht es bestimmt gut«, sagte Egwene und fügte
dann schnell hinzu: »Den anderen auch. Ganz bestimmt.
Vielleicht suchen sie jetzt nach uns. Sie könnten uns jeden
Moment finden. Schließlich ist Moiraine eine Aes Sedai.«
»Ich werde ständig daran erinnert«, sagte er.
»Versengen soll mich das Licht, ich wünschte, ich könnte
es vergessen!«
»Ich habe nicht gehört, daß du dich beklagt hast, als sie
die Trollocs davon abhielt, uns zu fangen«, sagte Egwene
schnippisch.
»Ich wünsche mir nur, wir könnten ohne sie
auskommen.« Er zuckte die Achseln, von ihrem stetigen
Blick unangenehm berührt. »Aber das können wir wohl
nicht. Ich habe nachgedacht.« Ihre Augenbrauen hoben
sich, doch er war an die Überraschung gewöhnt, die
andere zeigten, wenn er behauptete, eine Idee zu haben.
Selbst wenn seine Ideen genauso gut waren wie die ihren,
dachten sie immer daran, wie lange es dauerte, bis sie ihm
eingefallen waren. »Wir können darauf warten, daß Lan
und Moiraine uns finden.«
»Natürlich«, unterbrach sie ihn. »Moiraine Sedai sagte,
sie werde uns finden, falls wir getrennt würden.«
Er ließ sie ausreden und fuhr dann fort: »Oder die
Trollocs könnten uns zuerst finden. Moiraine könnte auch
tot sein. Das gilt für alle. Nein, Egwene. Es tut mir leid,
aber das ist durchaus möglich. Ich hoffe sie sind alle in
Sicherheit. Ich hoffe, sie kommen alle in ein paar Minuten
hierher ans Feuer. Aber die Hoffnung ist wie ein dünner
Faden, wenn du ertrinkst; er reicht nicht aus, um sich
daran herauszuziehen.«
Egwene schloß den Mund und blickte ihn mit
vorgeschobenem Kinn an. Schließlich sagte sie: »Du willst
flußabwärts nach Weißbrücke gehen? Wenn uns Moiraine
Sedai hier nicht findet, wird das der nächste Ort sein, an
dem sie uns sucht.«
»Ich denke«, sagte er bedächtig, »wir sollten nach
Weißbrücke gehen. Aber das wissen wohl auch die
Blassen. Sie werden gerade dort suchen, und diesmal
hätten wir keine Aes Sedai und keinen Behüter dabei, um
uns zu beschützen.«
»Also, dann schlägst du vor, daß wir irgendwohin ins
Blaue davonrennen, wie Mat es wollte? Uns irgendwo
verstecken, wo Blasse und Trollocs uns nicht finden? Und
auch Moiraine Sedai nicht, ja?«
»Glaube nicht, daß ich nicht daran gedacht habe«, sagte
er ruhig. »Aber jedesmal, wenn wir glauben, wir hätten
sie los, finden uns die Blassen und die Trollocs wieder.
Ich weiß nicht, ob es irgendeinen Ort gibt, an dem wir uns
vor ihnen verstecken könnten. Es gefällt mir wohl nicht
sehr, aber wir brauchen Moiraine.«
»Dann verstehe ich nichts mehr. Wohin sollen wir
gehen?«
Er blinzelte überrascht. Sie wartete auf seine Antwort.
Wartete darauf, daß er ihr sagte, was sie tun sollten. Der
Gedanke war ihm völlig neu, daß sie ihn die Führung
übernehmen lassen wollte. Egwene hatte es noch nie
gepaßt, tun zu müssen, was jemand anderes geplant hatte,
und sie ließ sich nie von anderen vorschreiben, was sie zu
tun habe. Eine Ausnahme machte sie vielleicht nur bei der
Seherin, und er glaubte, daß sie sich manchmal auch
dagegen sträubte. Er strich die Erde vor ihnen mit der
Hand glatt und räusperte sich ungeschickt.
»Das ist der Ort, an dem wir uns jetzt befinden, und
hier ist Weißbrücke.« Er drückte mit dem Finger zwei
Zeichen in den Boden. »Dann müßte Caemlyn irgendwo in
dieser Gegend sein.« Er machte ein drittes Zeichen,
diesmal ein Stück entfernt von den anderen. Er hielt inne
und sah die drei Abdrücke in der Erde an. Sein gesamter
Plan hing davon ab, wie gut er sich an die alte Landkarte
ihres Vaters erinnern konnte. Meister al'Vere hatte
gemeint, sie sei nicht genau, und außerdem hatte er nie
soviel darüber gehockt und geträumt wie Rand und Mat.
Doch Egwene schwieg. Als er aufblickte, beobachtete sie
ihn immer noch und hatte die Hände in den Schoß gelegt.
»Caemlyn?« Ihre Stimme klang verblüfft.
»Caemlyn.« Er verband zwei der Abdrücke auf dem
Boden durch eine Linie. »Weg vom Fluß und quer rüber.
Keiner würde das erwarten. Wir warten in Caemlyn auf
sie.« Er klopfte sich den Schmutz von den Händen und
wartete. Er glaubte, es sei ein guter Plan, aber sicher hatte
sie Einwände. Er erwartete, daß sie jetzt die Führung
übernahm – sie trieb ihn immer zu irgend etwas an –, und
es war ihm recht.
Zu seiner Überraschung nickte sie. »Es muß Dörfer
geben. Wir können uns nach dem Weg erkundigen.«
»Was mir Kopfzerbrechen bereitet«, sagte Perrin, »ist:
Was wollen wir tun, wenn uns die Aes Sedai dort nicht
findet? Licht, wer hätte je geglaubt, daß ich mir mal den
Kopf über so was zerbrechen würde? Was geschieht, wenn
sie nicht nach Caemlyn kommt? Vielleicht hält sie uns für
tot? Vielleicht bringt sie Rand und Mat geradewegs nach
Tar Valon?«
»Moiraine Sedai sagte, sie könne uns finden«, sagte
Egwene mit Nachdruck. »Wenn sie uns hier finden kann,
kann sie es auch in Caemlyn, und das wird sie.«
Perrin nickte langsam. »Meinst du? Aber wenn sie nach
ein paar Tagen in Caemlyn nicht auftaucht, dann gehen
wir weiter nach Tar Valon und bringen unseren Fall vor
den Amyrlin-Sitz.« Er atmete tief durch. Vor zwei
Wochen hast du noch nicht einmal eine Aes Sedai gesehen,
und nun sprichst du über den Amyrlin-Sitz! Licht! »Nach
Lans Aussage gibt es eine gute Straße von Caemlyn aus.«
Er sah das Ölpapierpäckchen neben Egwene an und
räusperte sich. »Wie steht es mit noch ein wenig Brot und
Käse?«
»Das muß vielleicht ziemlich lange reichen«, sagte sie,
»es sei denn, du hast mehr Glück im Fallenstellen als ich
vergangene Nacht. Na, wenigstens war es leicht, Feuer zu
machen.« Sie lachte vergnügt, als habe sie einen Scherz
gemacht, und steckte das Päckchen zurück in die
Satteltasche.
Offensichtlich gab es eine Grenze in bezug auf ihre
Bereitschaft, einen anderen die Führung übernehmen zu
lassen. Sein Magen grollte wieder. »In diesem Fall«, sagte
er und stand auf, »können wir genausogut jetzt gleich
aufbrechen.«
»Aber du bist noch naß!« wandte sie ein.
»Ich werde schon beim Laufen trocknen«, sagte er
entschlossen und schob mit den Füßen Erde auf das Feuer.
Wenn er der Anführer war, dann wurde es Zeit, das unter
Beweis zu stellen. Der Wind vom Fluß her frischte auf.
GLOSSAR

Der Tomanische Kalender (von Toma dur Ahmid


entworfen) wurde ungefähr zwei Jahrhunderte nach dem
Tod des letzten männlichen Aes Sedai eingeführt. E r
zählte die Jahre Nach der Zerstörung der Welt (NZ).
Während der Trolloc-Kriege wurden viele Aufzeich-
nungen zerstört, so daß man sich nach dem Ende dieser
Kriege nicht mehr sicher war, in welchem Jahr der alten
Zeitrechnung der neue Kalender einsetzte. Tiam von
Gazar schlug die Einführung eines neuen Kalenders vor,
der die damals angenommene Befreiung von der
Bedrohung durch die Trollocs feierte und jedes Jahr als
ein Freies Jahr (FJ) zählte. Innerhalb der zwanzig auf das
Kriegsende folgenden Jahre fand der Gazarenische
Kalender weitgehende Anerkennung. Artur Falkenflügel
bemühte sich, einen neuen Kalender durchzusetzen, der
auf seiner Reichsgründung basierte (VG, Von der
Gründung an), aber dieser Versuch ist heute nur noch den
Historikern bekannt. Nach weitreichender Zerstörung,
Tod und Aufruhr während des Hundertjährigen Kriegs
wurde ein vierter Kalender von Uren din Jubai Fliegende
Möwe entworfen, einem Gelehrten der Meerleute, und
von dem Panarch Farede von Tarabon weiterverbreitet.
Der Farede-Kalender, der von dem willkürlich
angenommenen Ende des Hundertjährigen Kriegs an
rechnet und die Jahre seither als Neue Ära (NÄ) führt, ist
momentan in Gebrauch.

Adan, Heran (Ei-dan): Gouverneur von Baerlon.


Aera-Gewebe: siehe Muster eines Zeitalters.
Aes Sedai (Aies Sehdai): Träger der Einen Macht. Seit
der Zeit des Wahnsinns sind alle Überlebenden Aes
Sedai Frauen. Man mißtraut ihnen und fürchtet, ja, haßt
sie. Viele geben ihnen die Schuld an der Zerstörung der
Welt, und allgemein glaubt man, sie würden sich in die
Angelegenheiten ganzer Staaten einmischen.
Gleichzeitig aber findet man nur wenige Herrscher
ohne Aes Sedai-Berater, selbst in Ländern, wo schon
die Existenz einer solchen Verbindung geheimgehalten
werden muß. Als Anrede wird benützt: Sheriam Sedai;
als Ehrentitel: Sheriam Aes Sedai (siehe auch: Ajah;
Amyrlin-Sitz).
Agelmar; Lord Agelmar (Eigelmar) aus dem Hause
Jagad: Herr von Fal Dara. Im Wappen führt er drei
rennende Rotfüchse.
Aiel (Aiiehl): die Bewohner der Aiel-Wüste; gelten als
wild und zäh. Man nennt sie auch Aielmänner. Vor dem
Töten verschleiern sie die Gesichter. Das führte zu der
Redensart: ›Er benimmt sich wie ein Aiel mit
schwarzem Schleier‹, um einen gewalttätigen Menschen
zu beschreiben. Sie nehmen kein Schwert in die Hand,
sind aber tödliche Krieger, ob mit Waffen oder mit
bloßen Händen. Während sie in die Schlacht ziehen,
spielen ihre Spielleute Tanzmelodien auf. Die Aiel-
männer benützen für die Schlacht das Wort ›der Tanz‹.
Aiel-Wüste: das rauhe, zerrissene und fast wasserlose
Gebiet östlich des Rückrats der Welt. Nur wenige
Außenseiter wagen sich dorthin, weil es für jemanden
der nicht dort geboren wurde, fast unmöglich ist
Wasser zu finden, und weil die Aiel sich im ständigen
Kriegszustand mit allen anderen Völkern befinden und
Fremde ablehnen.
Ajah: Gesellschaftsgruppen unter den Aes Sedai. Jede Aes
Sedai gehört einer solchen Gruppe an. Sie
unterscheiden sich durch ihre Farben: Blaue Ajah, Rote
Ajah, Weiße Ajah, Grüne Ajah, Braune Ajah, Gelbe
Ajah und Graue Ajah. Jede Gruppe folgt ihrer eigenen
Auslegung in bezug auf die Anwendung der Einen
Macht und die Existenz der Aes Sedai. Zum Beispiel
setzen die Roten Ajah ihre ganze Kraft dazu ein,
Männer zu finden und zu beeinflussen, die versuchen,
die Macht auszuüben. Eine Braune Ajah andererseits
leugnet alle Verbindung zur Außenwelt und verschreibt
sich ganz der Suche nach Wissen. Es gibt Gerüchte
(vehement verneint und um keinen Preis vor einer Aes
Sedai zu erwähnen) über eine Schwarze Ajah, die dem
Dunklen König dient.
Aldieb: in der Alten Sprache ›Westwind‹, der Wind, der
den Frühlingsregen bringt.
Al Ellisande!: in der Alten Sprache ›Für die Rose der
Sonne!‹
al'Meara, Nynaeve (Almehra, Nainiev): die Seherin
von Emondsfeld.
al'Thor, Rand: ein junger Bauer und Schäfer aus dem
Gebiet der Zwei Flüsse.
al'Vere, Egwene (Alwier, Egwain): jüngste Tochter des
Wirts von Emondsfeld.
Amyrlin, die: (1.) Titel der Anführerin der Aes Sedai.
Auf Lebenszeit vom Turmrat gewählt, dem höchsten
Gremium des Aes Sedai; dieser besteht aus je drei
Abgeordneten der sieben Ajahs. Die Amyrlin hat,
jedenfalls theoretisch, unter den Aes Sedai beinahe
uneingeschränkte Macht; in etwa vom Rang einer
Königin.
(2.) Thron der Anführerin der Aes Sedai.
Andor: das Reich, innerhalb dessen das Gebiet der Zwei
Flüsse liegt. Im Wappen führt Andor einen
sprungbereiten weißen Löwen auf rotem Feld.
Angreal: ein sehr seltenes Objekt. Es erlaubt einer
Person, die die Eine Macht lenken kann, einen
stärkeren Energiefluß zu meistern, als das sonst ohne
Hilfe und ohne Lebensgefahr möglich ist. Relikte des
Zeitalters der Legenden. Es ist heute nicht mehr
bekannt, wie sie angefertigt wurden (siehe auch:
sa'Angreal).
Arafel: eines der Grenzlande. Im Wappen führt Arafel
drei weiße Rosen auf rotem Feld und diagonal
gegenüber drei rote Rosen auf weißem Feld.
Aram (Eiram): ein junger Mann der Tuatha'an.
Augenlosen, die: siehe Myrddraal.
Avendesora: in der alten Sprache der Baum des Lebens;
wird in vielen Geschichten und Legenden erwähnt.
Aybara, Perrin: ein junger Schmiedlehrling aus
Emondsfeld.
Ba'alzamon: in der Trolloc-Sprache ›Herz der
Dunkelheit‹. Es wird angenommen, dies sei der
Trolloc-Name für den Dunklen König.
Baerlon: eine Stadt in Andor an der Straße von Caemlyn
zu den Minen in den Nebelbergen.
Barran, Doral: die Seherin von Emondsfeld vor
Nynaeve al'Meara.
Behüter: ein Krieger, der einer Aes Sedai zugeschworen
ist. Das geschieht mit Hilfe der Einen Macht, und er
gewinnt dadurch Fähigkeiten wie schnelles Heilen von
Wunden, er kann lange Zeiträume ohne Wasser,
Nahrung und Schlaf auskommen und den Einfluß des
Dunklen Königs auf größere Entfernung spüren. So
lange er am Leben ist, weiß die mit ihm verbundene
Aes Sedai, daß er lebt, auch wenn er noch so weit
entfernt ist, und sollte er sterben, dann weiß sie den
genauen Zeitpunkt und auch den Grund seines Todes.
Allerdings weiß sie nicht, wie weit von ihr entfernt er
sich befindet oder in welcher Richtung. Die meisten
Ajahs gestatten einer Aes Sedai den Bund mit nur einem
Behüter. Die Roten Ajah allerdings lehnen die Behüter
für sich selbst ganz ab, während die Grünen Ajah eine
Verbindung mit so vielen Behütern gestatten, wie die
Aes Sedai es wünscht. An sich muß der Behüter der
Verbindung freiwillig zur Verfügung stehen, es gab
jedoch auch Fälle, in denen der Krieger dazu
gezwungen wurde. Welche Vorteile die Aes Sedai aus
der Verbindung ziehen, wird von ihnen als streng
gehütetes Geheimnis behandelt. (siehe auch Aes Sedai).
Bel Tine (Behltein): Frühlingsfest im Gebiet der Zwei
Flüsse.
Biteme: ein winzig kleines, stechendes, sehr lästiges
Insekt.
Blassen, die: siehe Myrddraal.
Blattverderber: siehe Dunkler König.
Blaue Ajah: siehe Ajah.
Bornhald, Dain: ein Offizier der Kinder des Lichts,
Sohn von Geofram Bornhald.
Bornhald, Geofram: ein Oberkommandierender
Hauptmann der Kinder des Lichts.
Bryne, Gareth: General und Hauptmann der königlichen
Garde von Andor. Dient Morgase auch als der Erste
Prinz des Schwertes. Im Wappen führt er drei goldene
Sterne mit jeweils fünf Strahlen.
Byar, Jaret: ein Offizier der Kinder des Lichts.
Caemlyn: die Hauptstadt von Andor.
Cairhien: sowohl eine Nation am Rückrat der Welt wie
auch die Hauptstadt dieser Nation. Die Stadt wurde im
Aielkrieg (976–978 NÄ) niedergebrannt und
geplündert. Im Wappen führt Cairhien eine goldene
Sonne mit vielen Strahlen, die sich vom unteren Rand
eines himmelblauen Feldes erhebt.
Carai an Caldazar!: In der Alten Sprache ›Zur Ehre
des Roten Adlers!‹ Der uralte Schlachtruf von
Manetheren.
Carai an Ellisande!: In der Alten Sprache ›Zur Ehre
der Rose der Sonne!‹ Der Schlachtruf des letzten
Königs von Manetheren.
Cauthon, Matrim (Mat): ein junger Bauer von den Zwei
Flüssen.
Charin, Jain (Dschain): siehe Fernstreicher, Jain.
Cuendillar: siehe Herzstein.
Dämpfung: Wenn ein Mann die Anlage zeigt, die Eine
Macht zu beherrschen, müssen die Aes Sedai seine
Kräfte ›dämpfen‹, also komplett unterdrücken, da er
sonst wahnsinnig wird, vom Verderben der Saidin
getroffen, und möglicherweise schreckliches Unheil mit
seinen Kräften anrichten wird. Ein Mann, der der
Dämpfung unterzogen wurde, kann die Eine Macht
noch spüren, sie aber nicht mehr benutzen. Wenn vor
der Dämpfung der beginnende Wahnsinn eingesetzt hat,
kann er durch den Akt der Dämpfung aufgehalten,
jedoch nicht geheilt werden. Hat die Dämpfung früh
genug stattgefunden, kann das Leben des Mannes
gerettet werden.
Damodred, Lord Galadedrid: der einzige Sohn von
Taringail Damodred und Tigraine; Halbbruder von
Elayne und Gawyn. Im Wappen führt er ein geflügeltes
silbernes Schwert, das nach unten zeigt.
Damodred, Prinz Taringail: ein königlicher Prinz
von Cairhien; er heiratete Tigraine und zeugte Galade-
drid. Als Tigraine verschwand und für tot erklärt wur-
de, heiratete er Morgase und zeugte Elayne und Gawyn.
Er verschwand unter mysteriösen Begleitumständen
und wird seit vielen Jahren für tot gehalten. Sein
Wappen war eine doppelschneidige goldene Streitaxt.
Dha-vol, Dhai-mon: siehe Trollocs.
Djevik K'Shar: in der Trolloc-Sprache ›Der Sterbende
Boden‹; Trollocname für die Aielwüste.
Domon, Bayle (Beil): Kapitän der Gischt.
Drache, der: Ehrenbezeichnung für Lews Therin
Telamon während des Schattenkriegs. Als der
Wahnsinn alle männlichen Aes Sedai befiel, tötete Lews
Therin alle Personen, die etwas von seinem Blut in sich
trugen, und jede Person, die er liebte. So bezeichnete
man ihn anschließend als Brudermörder. Heute wird
die Redensart ›vom Drachen besessen‹ benutzt, wenn
man sagen will, daß jemand seine Mitmenschen
grundlos gefährdet oder bedroht (siehe auch
Wiedergeborener Drache).
Drache, falsch: Manchmal behaupten Männer, der
Wiedergeborene Drache zu sein, und manch einer
gewinnt so viele Anhänger, daß ihn nur eine Armee
besiegen kann. Einige haben schon Kriege begonnen, in
die viele Nationen verwickelt wurden. In den letzten
Jahrhunderten waren die meisten falschen Drachen
nicht in der Lage, die Eine Macht richtig anzuwenden,
aber es gab doch ein paar, die es konnten. Alle jedoch
verschwanden oder wurden gefangen oder getötet, ohne
eine der Prophezeiungen erfüllen zu können, die sich
um die Wiedergeburt des Drachen ranken. Diese
Männer nennt man falsche Drachen (siehe auch
Wiedergeborener Drache).
Drachenzahn: ein stilisiertes Zeichen, meist schwarz, in
Form einer auf der Spitze stehenden Träne. Wenn es
auf eine Tür oder ein Haus gezeichnet wird, gilt das als
Anschuldigung, daß die Bewohner dem Bösen dienen.
Dunkler König: gebräuchlichste Bezeichnung, in allen
Ländern verwendet, für Shai'tan, die Quelle des Bösen,
Antithese des Schöpfers. Im Augenblick der Schöpfung
wurde er vom Schöpfer in ein Verlies am Shayol Ghul
gesperrt. Ein Versuch, ihn aus diesem Kerker zu
befreien, führte zum Schattenkrieg, dem Verderben der
Saidin, der Zerstörung der Welt und dem Ende des
Zeitalters der Legenden.
Dunklen König nennen, den: Wenn man den
wirklichen Namen des Dunklen Königs erwähnt
(Shai'tan), zieht man seine Aufmerksamkeit auf sich,
was unweigerlich dazu führt, daß man Pech hat oder
schlimmstenfalls eine Katastrophe erlebt. Aus diesem
Grund werden viele Euphemismen verwendet, wie z. B.
der Dunkle König, der Vater der Lügen, der
Sichtblender, der Herr der Gräber, der Schäfer der
Nacht, Herzensbann, Herzfang, Grasbrenner und
Blattverderber. Jemand, der das Pech anzuziehen
scheint, ›nennt den Dunklen König‹.
Easar, König Easar aus dem Hause Togita: König
von Schienar. In seinem Wappen führt er den weißen
Hirsch, der nach einer schienarischen Sitte auch –
zusammen mit dem schwarzen Falken – das gesamte
Land repräsentiert.
Eine Macht, die: die Kraft aus der Wahren Quelle. Die
große Mehrheit der Menschen ist absolut unfähig, zu
lernen, wie man die Eine Macht anwendet. Eine sehr
geringe Anzahl von Menschen kann die Anwendung
erlernen, und noch weniger besitzen diese Fähigkeit
von Geburt an. Diese wenigen müssen ihren Gebrauch
nicht lernen, denn sie werden die Wahre Quelle
berühren und die Eine Macht benutzen, ob sie wollen
oder nicht, vielleicht sogar ohne zu bemerken, was sie
da tun. Diese angeborene Fähigkeit taucht meist zuerst
während der Pubertät auf. Wenn man dann nicht die
Kontrolle darüber erlernt – durch Lehrer oder auch
ganz allein (extrem schwierig, die Erfolgsquote liegt
bei eins zu vier) –, ist die Folge der sichere Tod. Seit
der Zeit des Wahns hat kein Mann es gelernt, die Eine
Macht kontrolliert anzuwenden, ohne dabei auf die
Dauer auf schreckliche Art dem Wahnsinn zu verfallen.
Selbst wenn er in gewissem Maß die Kontrolle erlangt
hat, stirbt er an einer Verfallskrankheit, bei der er bei
lebendigem Leib verfault. Auch diese Krankheit wird,
genau wie der Wahnsinn, von dem Verderben hervor-
gerufen, das der Dunkle König über die Saidin brachte.
Bei Frauen ist der Tod mangels Kontrolle der Einen
Macht etwas erträglicher, aber sterben müssen auch sie.
Die Aes Sedai suchen nach Mädchen mit diesen
angeborenen Fähigkeiten, zum einen um ihre Leben zu
retten und zum anderen, um die Anzahl der Aes Sedai
zu vergrößern. Sie suchen nach Männern mit dieser
Fähigkeit, um zu verhindern, daß sie Schreckliches
damit anrichten, wenn sie dem Wahn verfallen (siehe
auch Zeit des Wahns, die Wahre Quelle).
Elaida: eine Aes Sedai-Ratgeberin der Königin Morgase
von Andor.
Elayne: Königin Morgases Tochter, die Tochter-Erbin
des Throns von Andor. Sie führt im Wappen eine
goldene Lilie.
Else, Else Grinwell: eine Bauerntochter, die in der
Nähe der Straße nach Caemlyn wohnt.
Erster Prinz des Schwertes: Titel – normalerweise –
des ältesten Bruders der Königin von Andor, der seit
seiner Kindheit darauf vorbereitet wurde, im Krieg die
Armee der Königin zu kommandieren und im Frieden
als ihr Ratgeber zu fungieren. Falls die Königin keinen
überlebenden Bruder hat, bestimmt sie jemanden für
diese Position.
Fäule: siehe Große Fäule.
Fain, Padan: ein Hausierer, der gerade rechtzeitig zur
Winternacht in Emondsfeld ankommt.
Falkenflügel, Artur: ein legendärer König, der alle
Länder westlich des Rückgrats der Welt und einige von
jenseits der Aiel-Wüste einte. Er sandte sogar eine
Armee über das Aryth-Meer, doch verlor man bei
seinem Tod, der den Hundertjährigen Krieg auslöste,
jeden Kontakt mit diesen Soldaten. Er führte einen
fliegenden goldenen Falken im Wappen (siehe auch:
Hundertjähriger Krieg).
Far Dareis Mai: wörtlich ›Töchter des Speers‹, eine
von mehreren Kriegergemeinschaften der Aiel. Anders
als bei den übrigen werden ausschließlich Frauen
aufgenommen. Sollte sie heiraten, darf eine Frau nicht
mehr Mitglied bleiben. Während einer Schwangerschaft
darf ein Mitglied nicht kämpfen. Jedes Kind eines
Mitglieds wird von einer anderen Frau aufgezogen, so
daß niemand mehr weiß, wer die wirkliche Mutter war.
(›Du darfst keinem Manne angehören, und kein Mann
oder Kind darf dir angehören. Der Speer ist dein
Liebhaber, dein Kind und dein Leben.‹) Diese Kinder
sind hochangesehen, denn es wurde prophezeit, daß ein
Kind einer Tochter des Speers die Clans vereinen und
zu der Bedeutung zurückführen wird, die sie im
Zeitalter der Legenden besaßen.
Faust: grundlegende militärische Einheit der Trollocs.
Die Anzahl der Krieger ist unterschiedlich: Es sind
immer mehr als 100, aber nie mehr als 200. Eine Faust
wird gewöhnlich, wenn auch nicht immer, von einem
Myrddraal befehligt.
Fernstreicher, Jain: ein Held aus dem hohen Norden,
der viele Länder bereiste und viele Abenteuer erlebte;
Autor mehrerer Bücher und selbst Hauptperson in
Büchern und Geschichten. Er verschwand 994 NÄ,
nachdem er von einer Reise in die Große Fäule
zurückgekehrt war, von der behauptet wird, sie habe
ihn bis zum Shayol Ghul geführt.
Flamme von Tar Valon: das Symbol für Tar Valon
und die Aes Sedai. Die stilisierte Darstellung einer
Flamme; eine weiße, nach oben gerichtete Träne.
Frauenzirkel: eine Gruppe von Frauen, die von den
Frauen des Dorfs gewählt werden und die für
Frauenangelegenheiten im Dorf verantwortlich sind (z.
B. wann Aussaat und Ernte durchgeführt werden). Der
Frauenzirkel ist dem Gemeinderat gleichgestellt, hat
aber ganz klar vorgeschriebene Sachgebiete und
Verantwortlichkeiten. Steht oft im Gegensatz zum
Gemeinderat (siehe auch Gemeinderat).
Fünf Mächte: die Stränge der Einen Macht. Jeder, der
die Eine Macht anwenden kann, wird einige dieser
Stränge besser als die anderen handhaben können. Diese
Stränge nennt man nach den Dingen, die man durch
ihre Anwendung beeinflussen kann: Erde, Luft, Feuer,
Wasser, Geist – die Fünf Mächte. Wer die Eine Macht
anwenden kann, beherrscht gewöhnlich einen oder zwei
dieser Stränge besonders gut und hat Schwächen in der
Anwendung der übrigen. Einige wenige beherrschen
auch drei davon, aber seit dem Zeitalter der Legenden
gab es niemanden mehr, der alle fünf in gleichem Maße
beherrschte. Und auch dann war das eine große
Seltenheit. Das Maß, in dem diese Stränge beherrscht
werden und Anwendung finden, ist individuell ganz
verschieden; einzelne dieser Personen sind sehr viel
stärker als die anderen. Wenn man bestimmte
Handlungen mit Hilfe der Einen Macht vollbringen
will, muß man einen oder mehrere bestimmte Stränge
beherrschen. Wenn man beispielsweise ein Feuer
entzünden oder beeinflussen will, braucht man den
Feuer-Strang; will man das Wetter ändern, muß man
die Bereiche Luft und Wasser beherrschen, während
man für Heilungen Wasser und Geist benutzen muß.
Während Männer und Frauen in gleichem Maße den
Geist beherrschten, war das Talent in bezug auf Erde
und/oder Feuer besonders oft bei Männern ausgeprägt
und das für Wasser und/oder Luft bei Frauen. Es gab
Ausnahmen, aber trotzdem betrachtete man Erde und
Feuer als die männlichen Mächte, Luft und Wasser als
die weiblichen. Im allgemeinen werden die Fähigkeiten
als gleichwertig betrachtet, doch unter den Aes Sedai
gibt es ein Sprichwort: ›Es gibt keinen Felsen, der so
fest ist, daß Wind und Wasser ihn nicht abtragen
könnten, und kein Feuer, das nicht von Wasser oder
Wind gelöscht werden kann.‹ Es soll nicht unerwähnt
bleiben, daß dieses Sprichwort erst lange nach dem Tod
des letzten männlichen Aes Sedai aufkam. Irgendein
mögliches Äquivalent bei den männlichen Aes Sedai ist
nicht mehr bekannt.
Galad: siehe Damodred, Lord Galadedrid.
Gaukler: fahrende Märchenerzähler, Musikanten,
Jongleure, Akrobaten und Alleinunterhalter. Ihr
Abzeichen ist die aus bunten Flicken zusammengesetzte
Kleidung. Sie besuchen vor allem Dörfer und
Kleinstädte, da in den größeren Städten schon zuviel
andere Unterhaltung geboten wird.
Gawyn: Sohn der Königin Morgase, Bruder von Elayne,
der bei Elaynes Thronbesteigung Erster Prinz des
Schwertes wird. Er führt einen weißen Keiler im
Wappen.
Gemeinderat: In den meisten Dörfern wird eine Gruppe
von Männern in den Gemeinderat gewählt, der für alle
Entscheidungen zuständig ist, die das gesamte Dorf
oder Verhandlungen mit anderen Dörfern betreffen.
Vorsitzender ist der Bürgermeister oder Dorfälteste.
Der Gemeinderat streitet häufig mit dem Frauenzirkel
des Dorfes. Diese Auseinandersetzungen haben schon
fast Tradition (siehe auch Frauenzirkel).
Gewebe der Zeiten: auch Zeitgewebe genannt (siehe
Großes Muster).
Grenzlande: die an die Große Fäule angrenzenden
Nationen: Saldaea, Arafel, Kandor und Schienar.
Große Fäule: eine Region im hohen Norden, die durch
den Dunklen König vollständig verdorben wurde. Sie
stellt eine Zuflucht für Trollocs, Myrddraal und andere
Kreaturen des Dunklen Königs dar.
Großer Herr der Dunkelheit: Diese Bezeichnung
verwenden die Schattenfreunde für den Dunklen König.
Sie behaupten, es sei Blasphemie, seinen wirklichen
Namen zu benützen.
Großes Muster: Das Rad der Zeit verwebt die Muster
der einzelnen Zeitalter zum Großen Muster, in dem die
gesamte Existenz und Realität, Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft festgelegt sind. Auch als
Gewebe der Zeiten oder Zeitengewebe bekannt (siehe
auch Muster eines Zeitalters, Rad der Zeit).
Große Schlange: ein Symbol für die Zeit und die
Ewigkeit, das schon uralt war, bevor das Zeitalter der
Legenden begann. Es zeigt eine Schlange, die den
eigenen Schwanz verschlingt.
Halbmensch: siehe Myrddraal.
Herzensbann, Herzfang: siehe Dunkler König.
Herzstein: eine unzerstörbare Substanz, die während des
Zeitalters der Legenden erschaffen wurde. Jede
bekannte Kraft, die dazu benutzt wird, den Herzstein zu
zerstören, wird von ihm absorbiert und stärkt die Kraft
des Herzsteins.
Horn von Valere: das legendäre Ziel der Wilden Jagd
nach dem Horn. Man nimmt an, das Horn könne tote
Helden zum Leben erwecken, damit sie gegen den
Schatten kämpfen.
Hundert Gefährten: hundert männliche Aes Sedai,
ausgewählt aus den Mächtigsten des Zeitalters der
Legenden, die – von Lews Therin Telamon geführt –
den letzten Angriff durchführten und den Schattenkrieg
beendeten, indem sie den Dunklen König erneut in
seinen Kerker sperrten und diesen versiegelten. Der
Gegenangriff verdarb die Saidin; die Hundert
Gefährten verfielen dem Wahnsinn und begannen mit
der Zerstörung der Welt.
Hundertjähriger Krieg: eine Reihe sich
überschneidender Kriege, geprägt von sich ständig
verändernden Bündnissen, ausgelöst durch den Tod von
Artur Falkenflügel und die darauffolgenden
Auseinandersetzungen um seine Nachfolge. Er dauerte
von 994 FJ bis 1117 FJ. Der Krieg entvölkerte weite
Landstriche zwischen dem Aryth-Meer und der Aiel-
Wüste, zwischen dem Meer der Stürme und der Großen
Fäule. Die Zerstörungen waren so schwerwiegend, daß
über diese Zeit nur noch fragmentarische Berichte
vorliegen. Das Reich Artur Falkenflügels zerfiel, und
die heutigen Staaten bildeten sich heraus.
Illian: ein großer Hafen am Meer der Stürme, Hauptstadt
der gleichnamigen Nation. Im Wappen von Illian findet
man neun goldene Bienen auf dunkelgrünem Feld.
Ingtar, Lord Ingtar aus dem Hause Schinowa: ein
Krieger aus Schienar, der in Fal Dara auftaucht.
Kandor: eines der Grenzlande. Im Wappen führt Kandor
ein sich aufbäumendes rotes Pferd auf blaßgrünem
Feld.
Kesselflicker: siehe Tuatha'an.
Kinch, Hyam (Kinsch, Haiam): ein Bauer, der nahe der
Straße nach Caemlyn wohnt.
Kinder des Lichts: eine Gemeinschaft von Asketen, die
sich den Sieg über den Dunklen König und die
Vernichtung aller Schattenfreunde zum Ziel gesetzt hat.
Die Gemeinschaft wurde während des Hundertjährigen
Kriegs von Lothair Mantelar gegründet, der gegen die
ansteigende Zahl der Schattenfreunde als Prediger
anging. Während des Kriegs entwickelte sich daraus
eine vollständige militärische Organisation, extrem
streng ideologisch ausgerichtet und fest in dem
Glauben, nur sie dienten der absoluten Wahrheit und
dem Recht. Sie hassen die Aes Sedai und halten sie
sowie alle, die sie unterstützen oder sich mit ihnen
befreunden, für Schattenfreunde. Sie werden
geringschätzig Weißmäntel genannt. Im Wappen führen
sie eine goldene Sonne mit Strahlen auf weißem Feld.
Ko'bal: siehe Trollocs.
Lan, al'Lan Mandragoran: ein Krieger aus dem
Norden, Gefährte von Moiraine.
Luc, Lord Luc aus dem Hause Mantear: Tigraines
Bruder, der ihr Erster Prinz des Schwertes geworden
wäre, hätte sie den Thron bestiegen. Man glaubt
allgemein an eine Verbindung zwischen seinem
Verschwinden in der Großen Fäule und Tigraines
späterem Verschwinden. Er führte eine Eichel im
Wappen.
Lurk: siehe Myrddraal.
Macherax Elyas: ein Mann, den Perrin und Egwene im
Wald treffen.
Mahdi: in der Alten Sprache ›Sucher‹; Titel eines
Karawanenführers bei den Tuatha'an.
Malkier: eine Nation, einst eins der Grenzlande,
mittlerweile Teil der Großen Fäule. Im Wappen führte
Malkier einen fliegenden goldenen Kranich.
Mandarb: in der Alten Sprache ›Klinge‹.
Manetheren: eine der Zehn Nationen, die den Zweiten
Pakt schlossen; Hauptstadt des gleichnamigen Staates.
Sowohl die Stadt als auch die Nation wurden in den
Trolloc-Kriegen vollständig zerstört.
Maradon: Hauptstadt von Saldaea.
Meerleute, Meervolk: Bewohner der Inseln im Aryth-
Meer und im Meer der Stürme. Sie verbringen wenig
Zeit auf diesen Inseln und leben statt dessen meist auf
ihren Schiffen. Sie beherrschen den Seehandel fast
vollständig.
Meile: Längenmaß, gleich eintausend Spannen (siehe auch
Spanne).
Merrilin, Thom: ein Gaukler, der nach Emondsfeld
kommt, um dort seine Kunst beim Bel Tine zu zeigen.
Min: eine junge Frau im Hirsch und Löwen in Baerlon.
Moiraine (Moarän): eine Besucherin, die vor
Winternacht nach Emondsfeld kommt.
Morgase (Morgeis): von der Gnade des Lichts, Königin
von Andor, Hochsitz des Hauses Trakand. Sie führt drei
goldene Schlüssel im Wappen. Das Wappen des Hauses
Trakand zeigt einen silbernen Grundpfeiler.
Muster eines Zeitalters: Das Rad der Zeit verwebt die
Stränge menschlichen Lebens zum Muster eines Zeital-
ters, das die Substanz der Realität dieser Zeit bildet;
auch als Zeitengewebe bekannt (siehe auch Ta'veren).
Myrddraal: Kreaturen des Dunklen Königs,
Kommandanten der Trolloc-Heere. Nachkommen von
Trollocs, bei denen das Erbe der menschlichen
Vorfahren wieder stärker hervortritt, die man benutzt
hat, um die Trollocs zu erschaffen. Trotzdem deutlich
vom Bösen dieser Rasse gezeichnet. Sie sehen äußerlich
wie Menschen aus, haben aber keine Augen. Sie können
jedoch im Hellen wie im Dunklen wie Adler sehen. Sie
haben gewisse, vom Dunklen König stammende Kräfte,
darunter die Fähigkeit, mit einem Blick ihr Opfer vor
Angst zu lähmen. Wo Schatten sind, können sie
hineinschlüpfen und sind nahezu unsichtbar. Eine ihrer
wenigen bekannten Schwächen besteht darin, daß sie
Schwierigkeiten haben, fließendes Wasser zu
überqueren. Man kennt sie unter vielen Namen in den
verschiedenen Ländern, z. B. als Halbmenschen, als die
Augenlosen, Schattenmänner, Lurk und die Blassen.
Pakt der Zehn Nationen: eine Liga, die in den
Jahrhunderten nach der Zerstörung der Welt entstand
(ca. 200 NZ); dem Sieg über den Dunklen König
verschrieben; zerbrach während der Trolloc-Kriege.
Rad der Zeit: Die Zeit stellt man sich als ein Rad mit
sieben Speichen vor – jede Speiche steht für ein
Zeitalter. Wie sich das Rad dreht, so folgt Zeitalter auf
Zeitalter. Jedes hinterläßt Erinnerungen, die zu
Legenden verblassen, zu bloßen Mythen werden und
schließlich vergessen sind, wenn dieses Zeitalter
wiederkehrt. Das Muster eines Zeitalters wird bei jeder
Wiederkehr leicht verändert, doch auch wenn die
Änderungen einschneidender Natur sein sollten, bleibt
es doch das gleiche Zeitalter.
Rote Ajah: siehe Ajah.
Rückgrat der Welt: eine hohe Bergkette, über die nur
wenige Pässe führen. Sie trennt die Aiel-Wüste von den
westlichen Ländern.
Sa'angreal: ein extrem seltenes Objekt, das es einem
Menschen erlaubt, die Eine Macht in viel stärkerem
Maße als sonst möglich zu benutzen. Ein Sa'angreal ist
ähnlich, doch ungleich stärker als ein Angreal. Relikt
des Zeitalters der Legenden. Es ist nicht mehr bekannt,
wie es angefertigt wurde.
Saidar, Saidin: siehe Wahre Quelle.
Saldaea: eines der Grenzlande. Im Wappen führt Saldaea
drei silberne Fische auf dunkelblauem Feld.
Schäfer der Nacht: siehe Dunkler König.
Schattenfreunde: die Anhänger des Dunklen Königs. Sie
glauben, große Macht und andere Belohnungen zu
empfangen, wenn er aus seinem Kerker befreit wird.
Schattenkrieg: auch als der Krieg um die Macht
bekannt; mit ihm endet das Zeitalter der Legenden. E r
begann kurz nach dem Versuch, den Dunklen König zu
befreien, und erfaßte bald die ganze Welt. In einer
Welt, die selbst die Erinnerung an den Krieg vergessen
hatte, wurde nun der Krieg in allen seinen Formen
wiederentdeckt. Er war besonders schrecklich, wo die
Macht des Dunklen Königs die Welt berührte, und auch
die Eine Macht wurde als Waffe verwendet. Der Krieg
wurde beendet, als der Dunkle König wieder in seinen
Kerker verbannt werden konnte.
Schattenlords: diejenigen Männer und Frauen, die der
Einen Macht dienten und sie anwenden konnten, aber
während der Trolloc-Kriege zum Schatten überliefen
und die Trolloc-Streitkräfte kommandierten.
Schattenmänner: siehe Myrddraal.
Schicksalsgewebe: eine große Änderung im Muster
eines Zeitalters, von einem oder mehreren Menschen
ausgehend, die Ta'veren sind.
Schienar: eines der Grenzlande. Im Wappen von
Schienar sieht man einen sich herabstürzenden
schwarzen Falken.
Schufa: ein Kleidungsstück der Aiel, ein Tuch,
gewöhnlich sand- oder felsfarben, das man um Kopf
und Hals wickelt. Nur das Gesicht bleibt frei.
Schwarze Ajah: siehe Ajah.
Seherin: eine Frau, die in den Frauenzirkel ihres Dorfs
berufen wird, weil sie die Fähigkeit des Heilens besitzt,
das Wetter vorhersagen kann und auch sonst als kluge
Frau anerkannt ist. Ihre Stellung fordert großes
Verantwortungsbewußtsein und verleiht ihr viel
Autorität. Allgemein wird sie dem Bürgermeister
gleichgestellt, in manchen Dörfern steht sie sogar über
ihm. Im Gegensatz zum Bürgermeister wird sie auf
Lebenszeit gewählt. Es ist äußerst selten, daß eine
Seherin vor ihrem Tod aus ihrem Amt entfernt wird.
Ihre Auseinandersetzungen mit dem Bürgermeister sind
auch zur Tradition geworden (siehe auch Frauenzirkel).
Shadar Logoth: in der Alten Sprache ›der Ort, an dem
der Schatten wartet‹. Eine seit den Trolloc-Kriegen
verlassene und gemiedene Stadt. Wird auch ›Wartende
Schatten‹ genannt.
Shai'tan: siehe Dunkler König.
Shayol Ghul: ein Berg im Versengten Land; dort
befindet sich der Kerker, in dem der Dunkle König
gefangengehalten wird.
Sheriam: eine Aes Sedai von den Blauen Ajah.
Sichtblender: siehe Dunkler König.
Spanne: Längenmaß; entspricht ungefähr zwei Schritten.
Tausend Spannen ergeben eine Meile.
Sonnentag: ein weithin verbreitetes Mittsommerfest.
Stedding: eine Ogier-Enklave. Viele Stedding sind seit
der Zerstörung der Welt verlassen worden. In
Erzählungen und Legenden werden sie als
Zufluchtsstätte bezeichnet, und das aus gutem Grund.
Auf eine heute nicht mehr bekannte Weise wurden sie
abgeschirmt, so daß in ihrem Bereich kein Aes Sedai
die Eine Macht anwenden kann und nicht einmal eine
Spur der Wahren Quelle wahrnimmt. Versuche, von
außerhalb eines Stedding mit Hilfe der Einen Macht im
Inneren einzugreifen, bleiben erfolglos. Kein Trolloc
wird ohne Not ein Stedding betreten, und selbst ein
Myrddraal betritt es nur, wenn er dazu gezwungen ist,
und auch dann nur zögernd und mit größtem Abscheu.
Sogar echte Schattenfreunde fühlen sich in einem
Stedding nicht wohl.
Stein von Tear: die Festung über der Stadt Tear. Man
sagt, sie sei die erste Festung gewesen, die nach der Zeit
des Wahns gebaut wurde. Manche behaupten sogar, sie
sei während der Zeit des Wahns erbaut worden (siehe
auch Tear).
Tallanvor, Martyn: Gardeleutnant aus der Leibgarde
der Königin; wir treffen ihn in Caemlyn.
Ta'maral'ailen: in der Alten Sprache
›Schicksalsgewebe‹.
Tanreall, Artur Paendrag: siehe Falkenflügels Artur.
Tar Valon: eine Stadt auf einer Insel im Fluß Erinin.
Mittelpunkt der Macht der Aes Sedai. Von hier aus
regiert der Amyrlin-Sitz.
Ta'veren: eine Person im Zentrum des Gewebes von
Lebenssträngen aus ihrer Umgebung, möglicherweise
sogar aller Lebensstränge, die vom Rad der Zeit zu
einem Schicksalsgewebe zusammengefügt wurden (siehe
auch Muster eines Zeitalters).
Tear: ein großer Hafen am Meer der Stürme. Das
Wappen von Tear zeigt drei weiße Halbmonde auf rot-
und goldgemustertem Feld.
Telamon, Lews Therin: siehe auch Drache.
Thakan'dar: ein ewig von Nebel verhülltes Tal unterhalb
des Shayol Ghul.
Tigraine (Tigrän): Als Tochter-Erbin von Andor
heiratete sie Taringail Damodred und gebar seinen
Sohn Galadedrid. Ihr Verschwinden im Jahr 972 NÄ,
kurz nachdem ihr Bruder Luc in der Fäule verschwand,
löste einen Kampf um ihre Nachfolge in Andor aus und
verursachte die Geschehnisse in Cairhien, die
schließlich zum Aiel-Krieg führten. Sie zeigte im
Wappen eine Frauenhand, die den Stiel einer Rose mit
weißer Blüte umfaßt.
Tochter-Erbin: Titel der Erbin des Throns von Andor.
Die älteste Tochter der Königin folgt ihrer Mutter auf
den Thron. Sollte keine Tochter geboren werden oder
am Leben sein, geht der Thron an die nächste
Blutsverwandte der Königin über.
Trolloc-Kriege: eine Reihe von Kriegen, die etwa
gegen 1000 NZ begannen und sich über mehr als 300
Jahre hinzogen. Trolloc-Heere verwüsteten die Welt.
Schließlich aber wurden die Trollocs entweder getötet
oder in die Große Fäule zurückgetrieben. Mehrere
Staaten wurden im Rahmen dieser Kriege ausgelöscht
oder entvölkert. Alle Aufzeichnungen aus dieser Zeit
sind fragmentarisch (siehe auch Pakt der Zehn
Nationen).
Trollocs: Kreaturen des Dunklen Königs, die er während
des Schattenkriegs erschuf. Sie sind körperlich sehr
groß und außerordentlich bösartig. Sie stellen eine
hybride Kreuzung zwischen Tier und Mensch dar und
töten aus purer Mordlust. Nur diejenigen, die selbst von
den Trollocs gefürchtet werden, können diesen trauen.
Trollocs sind schlau, hinterhältig und verräterisch. Sie
essen alles, auch jede Art von Fleisch, das von
Menschen und anderen Trollocs eingeschlossen. Da sie
zum Teil von Menschen abstammen, sind sie zum
Geschlechtsverkehr mit Menschen imstande, doch die
meisten einer solchen Verbindung entspringenden
Kinder werden entweder tot geboren oder sind kaum
lebensfähig. Die Trollocs leben in stammesähnlichen
Horden. Die wichtigsten davon heißen: Ahf'frait,
Al'ghol, Bhan'sheen, Dha'vol, Dhai'mon, Dhjin'nen,
Ghar'ghael, Ghob'hlin, Gho'hlem, Ghraem'lan, Ko'bal
und Kno'mon.
Tuatha'an: ein Nomadenvolk, auch als die Kesselflicker
oder das Wandernde Volk bekannt. Sie wohnen in
buntbemalten Wagen und folgen einer pazifistischen
Weltanschauung, die sie den Weg des Blattes nennen.
Die von den Kesselflickern reparierten Gegenstände
sind häufig besser als vorher, aber viele Dörfer bleiben
ihnen verschlossen, da Geschichten im Umlauf sind, sie
stählen Kinder und verführten junge Leute, ihnen zu
folgen.
Vater der Lügen: siehe Dunkler König.
Verlorenen, die: Name für die dreizehn der mächtigsten
Aes Sedai, die es jemals gab, die während des
Schattenkriegs zum Dunklen König überliefen, weil er
ihnen dafür die Unsterblichkeit versprach. Sowohl
Legenden wie auch fragmentarische Berichte stimmen
darin überein, daß sie zusammen mit dem Dunklen
König eingekerkert wurden, als dessen Gefängnis
erneut versiegelt wurde. Ihre Namen werden heute
noch gebraucht, um Kinder zu erschrecken.
Versengte Land: verwüsteter Landstrich in der
Umgebung des Shayol Ghul, jenseits der Großen Fäule.
Wahre Quelle: die treibende Kraft des Universums, die
das Rad der Zeit antreibt. Sie teilt sich in eine
männliche (Saidin) und eine weibliche Hälfte (Saidar),
die gleichzeitig miteinander und gegeneinander
arbeiten. Nur ein Mann kann von Saidin Energie
beziehen und nur eine Frau von Saidar. Seit dem
Beginn der Zeit des Wahns ist Saidin von der Hand des
Dunklen Königs gezeichnet (siehe auch Eine Macht).
Wanderndes Volk: siehe Tuatha'an.
Weiße Ajah: siehe Ajah.
Weiße Burg: der Palast des Amyrlin-Sitzes in Tar
Valon.
Weißmäntel: siehe Kinder des Lichts.
Wiedergeborener Drache: Nach der Prophezeiung und
der Legende wird der Drache dann wiedergeboren
werden, wenn die Menschheit in größter Not ist und er
die Welt retten muß. Das ist nichts, worauf sich die
Menschen freuen, denn die Prophezeiung sagt, daß die
Wiedergeburt des Drachen zu einer neuen Zerstörung
der Welt führen wird, und außerdem erschrecken die
Menschen beim Gedanken an Lews Therin
Brudermörder, den Drachen, auch wenn er schon mehr
als dreitausend Jahre tot ist (siehe auch Drache).
Wilde Jagd nach dem Horn: ein Zyklus von
Erzählungen über die legendäre Suche nach dem Horn
von Valere in den Jahren zwischen dem Ende der
Trolloc-Kriege und dem Beginn des Hundertjährigen
Kriegs. Um sie vollständig zu erzählen, benötigt man
viele Tage.
Zeit des Wahns: siehe Zerstörung der Welt.
Zeitalter der Legenden: das Zeitalter, welches von
dem Krieg des Schattens und der Zerstörung der Welt
beendet wurde. Eine Zeit, in der die Aes Sedai Wunder
vollbringen konnten, von denen man heute nur träumen
kann (siehe auch: Rad der Zeit).
Zerstörung der Welt: Als Lews Therin Telamon und
die Hundert Gefährten das Gefängnis des Dunklen
Königs wieder versiegelten, fiel durch den
Gegenangriff ein Schatten auf die Saidin. Schließlich
verfiel jeder männliche Aes Sedai auf schreckliche Art
dem Wahnsinn. In ihrem Wahn veränderten diese
Männer, die die Eine Macht in einem heute
unvorstellbaren Maße beherrschten, die Oberfläche der
Erde. Sie riefen furchtbare Erdbeben hervor,
Gebirgszüge wurden eingeebnet, neue Berge erhoben
sich, wo sich Meere befunden hatten, entstand Festland,
und an anderen Stellen drang der Ozean in bewohnte
Länder ein. Viele Teile der Welt wurden vollständig
entvölkert und die Überlebenden wie Staub vom Wind
zerstreut. Diese Zerstörung wird in Geschichten,
Legenden und Geschichtsbüchern als die Zerstörung
der Welt bezeichnet (siehe auch Hundert Gefährten).
Zweifler: ein Orden innerhalb der Gemeinschaft der
Kinder des Lichts. Sie sehen ihre Aufgabe darin, die
Wahrheit im Wortstreit zu erkennen und
Schattenfreunde zu entdecken. Ihre Suche nach der
Wahrheit und dem Licht, so wie sie die Dinge sehen,
wird noch eifriger betrieben, als das bei den Kindern
des Lichts allgemein üblich ist. Ihre normale
Befragungsmethode ist die Folter, wobei sie der
Auffassung sind, daß sie selbst die Wahrheit bereits
kennen und ihre Opfer nur dazu bringen müssen, sie zu
gestehen. Die Zweifler bezeichnen sich als die Hand des
Lichts und verhalten sich gelegentlich so, als seien sie
völlig unabhängig von den Kindern und dem Rat der
Gesalbten, der die Gemeinschaft leitet. Das Oberhaupt
der Zweifler ist der Hochinquisitor, der einen Sitz im
Rat der Gesalbten hat.
Zweiter Pakt: siehe Pakt der Zehn Nationen.

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