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Hanna

Victor saß schon eine Weile an der Bar als er bemerkte, dass
sein White Russian schon längst ausgetrunken war. Er
zahlte, gab der Kellnerin ein Trinkgeld, verließ das Lokal
und erhängte sich mit der Krawatte an dem
gegenüberliegenden Gerüst. Er erwachte starr vor Angst und
mit Schweiß überzogen. Nur mühsam besann er sich und
fand zu neuer Orientierung zurück. Er schleppte sich ins
Bad und wusch sein Gesicht mit kaltem Wasser. Dann
blickte er in den Spiegel und fand seine dunkel
unterlaufenen Augen, vor denen er bewegungslos verharrte.
Er zog schnell ein frisches Hemd an, stieg hastig in seine
Kordhose und verließ seine kleine Dachgeschoßwohnung.
Noch aufgewühlt von dem schrecklichen Traum drängelte er
sich in das Gewühl der Großstadt. Der Blick auf die
Menschen auf dem Fobiusplatz beruhigte ihn, und er fühlte
sich zunehmend befreit. Sofort rief er Hanna an und lud sie
zu einem Espresso in's Cafe Klaas ein. Der Duft von
frischem Fisch, Blumen, Käse und warmem Brot, den der
Wochenmarkt ausbreitete, stieg in seine Nase und weckte
seine Phantasie zu einem 3-Gänge- Menü, das sie
gemeinsam in Rouen einmal gegessen hatte. Er sah, wie
Hanna von weitem auf den Platz einbog. Ein wunderbar
sanftes Gefühl stieg in ihm auf. Die Verkäuferin am
Gemüsestand übergab ihm den Mangold und das
Wechselgeld. Er schritt Hanna mit ungeduldigen Schritten
entgegen, bis sie ihn in ihren lang ausgestreckten Armen
empfing. Er küsste ihre sanften Lippen und saugte ihren
Duft tief in sich ein. Er erzählte ihr von dem Traum und
befragte sie nach ihrer Meinung, was sie Karl und Luise
denn nun zur Wohnungseinweihung mitbringen sollten. Er
schlug nochmals ein Gutscheinbuch vor, mit welchem sie
die Cafes in der Stadt günstig kennen lernen konnten, zumal
sie ja erst vor kurzer Zeit hier hingezogen waren. Sie
hingegen wollte nicht von der Idee abrücken, drei Flaschen
südafrikanischen Wein zu besorgen, der sie daran erinnern
sollte, dass sie sich in Johannesburg vor sechs Jahren
kennen gelernt hatten. Victor beharrte zunächst auf seinem
Argument, gab aber dann schließlich doch nach, weil es ihm
plötzlich bedeutungslos erschien, welches Argument nun
das bessere sei. Als sie zuhause ankamen, liebten sie sich
wild bis zur Dämmerung. Der Mangold lag noch
ungewaschen auf der Holzablage der Küchenzeile, während
der Schweiß ihrer flammenden Körper langsam
eintrocknete. Am Morgen darauf wachte Hanna nicht mehr
auf. Später sagten die Ärzte, sie sei vermutlich aufgrund
einer verschleppten Virusinfektion an einem Herzversagen
verstorben. Dann erinnerte sich Victor daran, dass Hanna
häufiger davon gesprochen hatte, dass ihre Indienreise
körperlich sehr anstrengend gewesen war und sie keine
Erklärung dafür finden konnte. Victor verließ das
Krankenhaus und taumelte auf die Straße, wo er sich in ein
Taxi setzte. Wohin bitte? fragte der Fahrer. Victor
antwortete lange nicht, selbst als das Taxi sich schon in den
Verkehr eingegliedert hatte. Entschuldigen Sie bitte, wohin
soll ich Sie bringen? Es ist doch Ihr Geld!

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