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Deutschlandradio: von damals veran­schau­lichen

Erfahrungen, die auch heute


Wort zum Tage noch jeder Mensch in seinem
Pfr. Thomas Noack von der
Glaubensleben machen kann.
Neuen Kirche

L iebe Hörerin, lieber Hörer,


die Bibel antwortet uns in
Bildern. Allem Anschein nach
E in Beispiel: Stellen sie sich
ein Schiff vor! In der Bibel
begegnet uns dieses Bild
geht es im Alten Testament mehr­fach. Sie kennen die
um die Geschichte Israels und Geschichte von der Arche
im Neuen Testament um die Noah. Noah sollte ein Schiff
Geschichte Jesu. Doch was ge­ bauen. Er, seine Familie und
hen diese längst vergangenen die Tiere sollten darin vor der
Geschehnisse uns heute an? großen Flut, der Sintflut, ge­
Die Antwort meiner Kirche lau­ rettet werden. Das Schiff ist
tet: Die Bibel antwortet uns in ein Bild für die Geborgenheit
Bildern. Denn die Geschichten in Gott. Werfen wir einen Blick
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in das Neue Testament! Jesus
wirkte am Galiläischen Meer.
gesammelter, menschlicher
Erfahrungen. So sagen wir bei­
Jesus und die Ehebrecherin
Seine ersten Anhänger waren spielsweise: »Wir sitzen doch Jürgen Kramke
Fischer. Daher spielt das Boot alle im gleichen Boot.« Das Als Jesus einmal frühmorgens, vom Ölberg kommend, zum Tem-
in den Jesuserzählungen eine heißt: Wir sind zum Zusam­ pel ging, kam das ganze Volk zu ihm, und er setzte sich nieder
nicht un­wichtige Rolle. Einmal mensein verurteilt. Wir sind und lehrte sie. Da führten Schriftgelehrte und Pharisäer eine Frau
wollte Jesus mit seinen Jüngern auf Gedeih und Verderb auf­ herbei, die man beim Ehebruch ertappt hatte, stellten sie in die
in einem Boot zum anderen einander angewiesen, ob wir Mitte und sagten zu ihm: »Meister, diese Frau wurde auf frischer
Ufer hinüberfahren. Als sie mit­ wollen oder nicht. Und den­ Tat beim Ehebruch ertappt. Im Gesetz hat uns Moses befohlen,
ten auf dem See waren, erhob noch versuchen wir nicht sel­ solche zu steinigen; was sagst du dazu?«
sich ein gewal­tiger Sturm. Die Das sagten sie, um ihn auf die Probe zu stellen, damit sie einen
ten, einander »auszubooten«,
Wellen schlugen ins Boot. Und Grund zur Anklage gegen ihn hätten. Jesus aber bückte sich nieder
beispielsweise am Arbeits­platz.
was tat Jesus? Er schlief. Angst­ und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Da sie aber nicht nachlie-
Dabei sitzen wir alle im glei­ ßen mit ihren Fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: »Wer
erfüllt weckten die Jünger ih­ chen Boot und könnten von
ren Meister. Der stand auf und von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie.« Und er
der nächsten Kündigungswelle bückte sich abermals und schrieb auf die Erde. Als sie aber dies hörten,
brachte den Wind mit der Kraft
über Bord gespült werden. Oft gingen sie davon, einer nach dem anderen, von den Ältesten ange-
seines Wortes zum Schweigen.
müssen wir »gefährliche Klip­ fangen bis zu den letzten, und Jesus blieb allein mit der Frau zurück.
Dann sagte er: »Was seid ihr
pen umschiffen«. Denn wir Da richtete sich Jesus auf und sprach zu ihr: »Frau, wo sind sie?
so furchtsam? Habt ihr noch
wollen nicht zu den »gestran­ Hat dich keiner verurteilt?« Sie sagte: »Keiner, Herr!« Jesus sprach
keinen Glauben?« Das Boot
deten Existenzen« gehören, zu zu ihr: »Auch ich verurteile dich nicht. Geh hin und sündige fortan
symbolisiert das menschliche nicht mehr!« (Joh 8,1–11)
Leben. In stürmischen Zeiten den mensch­lichen »Wracks«.
haben wir den Eindruck: Gott
schläft, sonst könnte er das al­
Wir wollen nicht »Schiffbruch
erleiden«. D iesen Bericht im Evangelium nach Johannes finde ich ausgespro­
chen beruhigend, zeigt er doch auf anschauliche Weise, dass
unser Jesus jederzeit bereit ist, einem reuigen Sünder den rechten
les nicht zulassen. Doch die

M anchmal fühlen wir uns Weg zur Wiedergeburt zu zeigen. Er weiß um die Probleme, welche
Bibel sagt: »Der Hüter Israels
hoffnungslos überfor­ wir in der Welt mit ihren mannigfaltigen Verlockungen haben, und
schläft und schlummert nicht.«
so schreibt Er unsere Sünden in den Sand, wenn wir uns nachhaltig
(Ps 121,3). dert. Erinnern sie sich dann
darum bemühen, dem Bösen und Falschen aus dem Weg zu gehen.
doch bitte an die biblischen
Dieses Bemühen beinhaltet meines Erachtens auch, dass wir es

B iblische Bilder erschließen Bilder von Schiffen in Fluten lernen müssen, dem Pharisäertum zu entsagen. Ich meine damit, dass
sich uns, wenn wir auf un­ und Stürmen! Und an das der Mensch im allgemeinen dazu neigt, sich im äußeren Anschein
sere Erfahrungen und auf un­ Wort: »Der Hüter Israels schläft zu begründen. So brachten z.B. die Pharisäer als Begründung dafür,
sere Sprache achten. Denn die und schlummert nicht.« dass die Ehebrecherin gesteinigt werden sollte, mosaische Gesetzes­
Sprache ist eine Schatztruhe (Ps 121,3) texte vor, die schon längst im äußeren Buchstabensinn erstarrt waren.
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Irgendwie scheint der Mensch dazu zu neigen, sinnlich erfahr­ Im Gegensatz zu den verstockten Tempeldienern war das
bare Begebenheiten zum Maßstab seiner Betrachtungen und Be­ Herz der Ehebrecherin offen für die Liebe des Herrn, so dass Jesus
gründungen zu machen. Und wenn es damals nun einmal schwarz ihre aus einer materiellen Notsituation heraus begangene Sünde
auf weiß geschrieben stand, dass der Ehebruch ein Verbrechen ist, in den Sand schreiben konnte. Für die Welt war sie zwar immer
welches mit dem Tod zu bestrafen sei, dann meinte jeder tempel­ noch eine Sünderin, vor Gott hingegen war ihre Schuld getilgt
gläubige Jude das Recht zu haben, solch eine Frevlerin zu steinigen. und so konnte Jesus ihr den Rat geben, dass sie in der Zukunft
Da wurde nicht gefragt, welche Ursachen dazu führten, dass nicht mehr sündigen solle, wenn sie in diesem schuldfreien Zu­
die Frau den Ehebruch begangen hatte. Es spielte auch keine Rolle, stand bleiben will.
ob sie vielleicht von dem Mann, mit dem sie den Ehebruch voll­ Für mich persönlich ist es ein ausgesprochen angenehmer
zogen hat, dazu gezwungen wurde oder ob sie aus einer reinen Gedanke, dass der himmlische Vater auch heute noch jederzeit
Notsituation heraus in diese Situation gekommen war. Allein die bereit ist, die Sünden der Menschen in den Sand zu schreiben. Die
Tatsache, dass die Frau gefehlt hatte und die mosaischen Gesetze Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass sich der Mensch seiner
den Tod durch steinigen forderten, reichte den anwesenden Juden Sünden bewusst wird und danach strebt, die aus seiner Selbst-
völlig aus, um das Urteil zu fällen und schon einmal nach einem und Weltliebe entstehenden falschen Verhaltensmuster umzubil­
passenden Stein Ausschau zu halten. den. Dies kann er in der Regel nicht ohne die Unterstützung eines
Jesus hingegen reagierte in dieser Situation völlig anders als kompetenten Helfers, denn hierzu sind tiefe Einblicke in Seelenbe­
die dort anwesenden Juden. Er wusste natürlich um die geistigen reiche notwendig, die der Mensch sehr gerne meidet, weil sie mit
Hintergründe des mosaischen Gesetzes und Er kannte auch die Wut, Hass, Schmerzen und ähnlichen als überwunden gehofften
niederen Beweggründe der Pharisäer und Schriftgelehrten. Dazu Gefühlen verbunden sind.
kam noch, dass der Herr im Gegensatz zu den sinnlichen Men­ Der wohl mit Abstand beste und kompetenteste Helfer im
schen hinter die äußere Leibeshülle in das Innere des Menschen Diesseits wie im Jenseits dürfte wohl unser Jesus sein. Denn Er
schauen kann. Und so wusste Er natürlich um die Nöte der Frau, kennt wie kein zweiter die Abgründe unserer Seelen und Ihm ist
welche sie zum Ehebruch getrieben hatten. Als Jesus dann zu den kein noch so unangenehmer Aspekt menschlicher Verirrungen un­
Anwesenden sagte: »Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster bekannt. Von daher darf man sich ohne falsche Scham im Gebet
einen Stein auf sie«, gingen sie davon, einer nach dem anderen, an Jesus wenden und Ihn um Seine liebevolle und barmherzige
von den Ältesten angefangen bis zu den Letzten. Lebenshilfe bitten.
Ich empfinde die Tatsache, dass sich die Pharisäer und Schrift­ Ich persönlich bin felsenfest davon überzeugt, dass der Herr
gelehrten möglichst unauffällig vom Ort des Geschehens zurückge­ sich nicht sehr lange bitten lässt, wenn unser Wunsch nach inner­
zogen haben, als einen Beweis dafür, dass sie geistig gesehen die licher Neuausrichtung wahrhaftig ist. Und so werden sich schon
eigentlichen Ehebrecher waren. Denn in der Sprache der Entspre­ bald die ersten Lebenssituationen einstellen, in denen wir uns mit
chungen bezeichnet der Ehebruch die Verbindung des Falschen mit neuen Gedanken und Gefühlen auseinandersetzen dürfen, die oft­
dem Bösen. Und ihre aus dem äußeren Buchstabensinn der Thora mals sehr schön, bisweilen aber auch sehr unangenehm sein kön­
entlehnten Begründungen für ihr herz- und liebloses Ansinnen spre­ nen. Es liegt nun einmal in der Natur des Menschen, dass er nur
chen ja nun nicht gerade dafür, dass sich in ihrem Seelenverstand sehr schwer die breiten gutbeleuchteten Prachtstraßen der äuße­
himmlische Wahrheiten befanden. Sie waren sosehr in ihrem Hoch­ ren Welt mit ihren Kathedralen der Weltweisheit und den Palästen
mut verstrickt, dass sie gar nicht bemerkt haben, wie weit sie sich der Eigenliebe verlassen mag, um den schmalen und dornigen
schon von der Liebe zu Gott und ihren Nächsten entfernt hatten. Himmelspfad in seiner eigenen Seelenwelt zu betreten.
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Doch zu unser aller Glück ruft uns der Herr allzeit zu: erleben. Lass die Liebestrahlen deines und auch meines Himm­
lischen Vaters in deine Seele einfließen und vielleicht wirst du
»Kommt zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, und ich noch heute auf deinem Seelengrund Jesus Christus begegnen. Sei
will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, gewiss, Er wartet dort in Seiner alles erbarmenden Liebe schon
denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen, und ihr werdet seit langer Zeit darauf, dass du dich aufmachst, um Ihn in dir zu
Erquickung finden für eure Seelen; denn mein Joch ist sanft, und begegnen. Mach du nur den ersten Schritt, gehe in dich und du
meine Bürde ist leicht.« (Mt 11,28) wirst erfahren, wie es ist, wenn die Liebe des Herrn in dir zu wirken
beginnt.«
Ich empfinde es als einen unglaublichen Akt von barmherziger Vielleicht wirst du erleben, wie überall die Blumen deiner
Liebe, wenn sich Jesus Christus selbst anbietet, uns auf unserem Liebe zum Herrn aus dem Boden sprießen und ein seichter Wind
nicht immer leichten Weg zur Gotteskindschaft zu begleiten. Mit göttlicher Wahrheiten über deinen Seelengrund weht. Wenn dies
größter Geduld durchwirkt der Herr unser Leben mit einem feinen geschieht, dann werden sich die Wolken deines Buchstabenglau­
Netz seiner unendlichen Liebe, so dass wir, ohne auch nur einen bens lichten und über den Kamm eines in nicht allzu weiter Ferne
Funken an Willensfreiheit einzubüßen, auf wunderbare Weise von liegenden Gebirges wird die geistige Sonne aufgehen. Obwohl
Ihm geführt, geleitet und beschützt werden. die Sonne noch halb vom Gebirgskamm verdeckt ist, verspürst
Bei genauerer Betrachtung könnten wir in jedem Augenblick du schon die Wärme der göttlichen Liebe und das Licht der gött­
unseres Seins die liebende Hand des himmlischen Vaters spüren. lichen Weisheit blendet dich so sehr, dass du gar nicht bemerkst,
Wobei ich gar nicht so sehr die Tatsache meine, dass wir ohne den wie sich Jesus neben dich stellt.
ständigen Einfluss der Göttlichen Liebe und Weisheit gar nicht exi­ Erst nach einer geraumen Zeit bemerkst du, dass neben dir
stieren könnten. Ich meine auch nicht die spektakulären Lebenser­ jemand steht und du fragst ihn etwas überrascht, wer er denn sei.
eignisse, in denen wir durch den Schutz des Herrn mit knapper Not Als Er dir zur Antwort gibt: »Ich bin das Licht der Welt«, wirst du
einem schweren Unfall oder gar Gevatter Tod entronnen sind. Ich gewahr, dass Jesus Christus dich für würdig erachtet hat, für dich
meine vielmehr die kleinen, alltäglichen Liebesbeweise des Herrn, in deiner Innenwelt zum schaubaren Gott zu werden. Schlagartig
ohne die unser Leben doch recht armselig und freudlos wäre. fallen dir alle deine Verfehlungen und Sünden ein und du sinkst
Natürlich bedarf es einer gewissen Aufmerksamkeit, um die vor Angst und Scham zu Boden.
kleinen Geschenke unseres Jesu nicht zu übersehen, doch mit ein
wenig Übung ist dies gar nicht so schwer. Und was macht der Herr?
Da ist die Sonne, die uns an einem kühlen Morgen mit ihren Zuerst bückt sich Jesus und schreibt schweigend mit dem Zei­
Strahlen umschmeichelt und uns auf diese Art und Weise die Wär­ gefinger Seiner rechten Hand etwas in den Sand. Anschließend
me der göttlichen Liebe verkosten lässt. greift Er dir liebevoll unter die Arme und stellt dich wieder auf
Da ist der kleine Vogel, der sich auf einem der vielen Äste des deine noch recht wackligen Beine. Wortlos schaut Er dir einige
vor dem Fenster stehenden Baumes niedergelassen hat und nun Sekunden lang liebeernst in deine Augen, um dich dann zärtlich
mit voller Kraft sein Lied in den Morgen jubiliert. Es ist als wollte an Seine heilige Vaterbrust zu ziehen. Dort spürst du, wie die un­
er uns zurufen: endliche Liebe des Herrn dein ganzes Sein ausfüllt und es ist, als
»Freue Dich, der Himmlische Vater hat dir einen neuen Mor­ würde Jesus zu dir sagen: »Mein Kind, habe keine Angst, denn Ich
gen geschenkt. Nutze den Augenblick und öffne dein Herz ganz habe dir all deine Sünden vergeben, jetzt bist du zu Hause, jetzt
weit für die Liebe des Herrn und du wirst Wunder über Wunder bist du bei Mir.«
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Kain und Abel wo Jahwe ist, abgewendet hat und nach unten auf das Irdi­sche
blickt (siehe »aversus« in HG 378 und »deorsum spec­tare« in HG
Eine Auslegung von Genesis 4,1 bis 16 379)3. Diese Verfluchung Kains geschieht »wegen« oder »infolge«
in der Tradition Swedenborgs des Bodens, in dessen Machtbereich sich Kain befindet. Außerdem
3. Teil spricht für die zweite Variante der innere Sinn. Denn der Boden
meint die geistige Grundlage, das heißt im Falle Kains die schisma­
von Thomas Noack tische oder häretische Lehre der Gerechtmachung des Menschen
durch den Glauben allein (HG 377). Kain ist demnach wegen die­
Z u Genesis 4,11: »Und nun« leitet die Schilderung der Folgen
ein. »Verflucht bist du vom (min) Boden«. Die Präposition
»min« ermöglicht verschiedene Übersetzungen. Erstens: »Ver­
ser Irrlehre ein Verfluchter.
Der Boden »hat sein Maul aufgerissen«. Das Verb »pazah« ist
nicht das gewöhnliche Wort für »öffnen«. Das ist »patach«, das
flucht bist du vom Boden (her)«. So verstanden vollzieht der Bo­ in der hebräischen Bibel auch in Verbindung mit Mund belegt ist
den selbst die Verfluchung. Das passt zu Vers 10, wo das Blut vom (Gesenius 667), so dass man sich fragen kann, warum in Genesis
Boden her zu Jahwe schreit. Zweitens: »Verflucht bist du wegen 4,11 »auf­reißen« (pazah) und nicht »öffnen« (patach) steht. Die
des Bodens«. So verstanden vollzieht zwar Jahwe die Ver­fluchung Antwort besteht möglicherweise darin, dass sich mit »pazah« die
(siehe die direkte Anrede), aber »we­gen« oder »infol­ge« des Bo­ Nebenbedeutung von »törichter, übereilter Rede« verbindet (Ge­
dens. Drittens: »Verflucht bist du vom Boden weg«. So ver­standen senius 653). Diese Beobachtung passt jedenfalls gut mit Swe­den­
wird Kain vom Boden weggetrieben oder ver­bannt. Das passt zu borgs Auslegung zusammen, wonach der Boden hier die törichte
seinen Worten in Vers 14: »Siehe, du vertreibst mich heute von Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben allein meinen
den Angesichten des Bodens«. Und viertens ermöglicht der kom­ soll. Das Aufreißen bedeutet das Lehren dieser Häresie (HG 378).
parativische Gebrauch von »min« die Über­setzung: »Verfluchter Dadurch verschwindet das Blut Abels, weswegen es heißt, dass
bist du als der Boden«. In den deut­schen Bibeln überwiegt die der Boden sein Maul aufriss, um das Blut Abels zu nehmen oder
dritte Va­ri­an­te.1 Die Swedenborgianer Leonhard Tafel und ­Ludwig zu verschlucken. So löscht die Lehrtätigkeit die Liebtätigkeit aus
H. Tafel sind jedoch zu­rück­haltender. Sie übersetzen »min« mög­ (HG 378).
lichst neu­tral mit »von« und greifen somit kaum sinnklärend in Zu Genesis 4,12: »Wenn du den Boden bebaust, wird er dir
den Text ein. In der Tradition Swedenborgs muss man der zwei­ seine Kraft nicht mehr geben.« Das heißt, die Lehre von der Ge­
ten Varian­te den Vorzug geben: »Verflucht bist du wegen (oder rechtsprechung des Menschen, der bestimmte dogmatische Satz­
infolge) des Bodens«2. Auch die erste kann man gelten lassen. wahrheiten für wahr hält, erzeugt kein geistliches oder spirituelles
Doch die so beliebte dritte und erst recht die vierte scheiden aus. Leben. Die Kultivierung (»excolere«, HG 380) dieses theologischen
Zur Be­gründung diene das Fol­gende: In Genesis 3,17 wurde der Grundsatzes erweist sich für das Leben der Kirche als un­fruchtbar.
Boden verflucht. Als »Knecht des Bodens« (Genesis 4,2) ist Kain In den Ohren echter Kainiten ist dieser Satz selbst­verständlich eine
dem­nach in der Sphäre des Verfluchten tätig. Somit steht er vor Ungeheuerlichkeit. Denn die Rechtfertigungslehre gilt diesen Bru­
der Entscheidung: Wird er den Fluch überwinden und auf­heben dermördern als »articulus stantis et cadentis ecclesiae«, das heißt
kön­nen? Oder wird ihn die verfluchte »adamah« nach unten zie­ als »der Glaubensartikel, mit dem die Kirche steht und fällt«. Doch
hen? Die Antwort: Kains Angesicht fällt nach unten und wendet der Absolutismus dieser törichten Lehre leert die Kirchen. Die
sich von oben ab. Kain kann den Fluch also nicht aufheben. Statt­ Menschen suchen Spiritualität, doch geboten wird ihnen von den
dessen wird er nun selbst ein Verfluchter, einer, der sich von oben, Schwarzröcken nur das leere Stroh einer falschen Kreuzestheolo­
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gie. Und so wandert das Glaubensvolk aus und sucht woanders Unstet und flüchtig sein bedeutet »nicht wissen, was wahr und gut
die Quelle des Lebens. ist«. Kain gerät demnach durch den Bru­der­mord in geistige Orien­
»Koach« bedeutet Kraft, hier die Kraft des Erdreichs, die es tierungslosigkeit. Das Verb »nua‘« bedeutet »(sch)wanken«, »halt­
nicht aus sich heraus hat, sondern aus dem Saatgut des göttlichen los« bzw. »heimat­los sein«. Und das Verb »nud« hat eine ähnliche
Geistes, der im Erdreich die Materie oder den mütterlicher Stoff Bedeutung, denn es bedeutet »(sch)wanken«, »ziellos« bzw. »hei­
vorfindet, um daraus die ihm entsprechende Leiblichkeit zu for­ matlos sein«. Die Glaubenswissenschaft ist nach dem Brudermord
men. »Koach« ist hier die mütterliche oder seelische Kraft, etwas nicht mehr im Glaubensleben ver­ankert. Daher verliert Kain den
aus etwas zu gestalten. »Koach« ist die Erzeugungsfähigkeit und Boden unter den Füßen und gerät ins Wanken, das heißt er wird in
dann auch der Ertrag dieser ausformenden und gebärenden Kraft. seiner scheinbar festgefügten Meinung unsicher. Die stabreimar­
Die Mutter Erde wird unfruchtbar. Was für ein Fortschritt! In Ge­ tige Wiederholung zeigt an, dass sich diese Ver­unsicherung sowohl
nesis 3,17–18 hieß es demgegenüber nur: »… so sei der Erdbo­ auf den Standpunkt (das Wahre) als auch auf den Zielpunkt (das
den verflucht um deinetwillen. Mit Mühsal sollst du davon essen Gute) auswirkt. »Flüchtig« wird die Glaubenswissenschaft, weil sie
alle Tage deines Lebens, Dornen und Disteln wird er dir sprossen nach dem Brudermord ihren Halt im kirchlich-spirituellen Leben
lassen, und du wirst das Kraut des Feldes essen!« Immerhin, die verliert und nun den Angriffen von außen ausgeliefert ist und ih­
»adamah« brachte damals noch etwas hervor. Nun aber wird sie nen entgehen möchte. So befindet sich die Glaubenswissenschaft
unfruchtbar (»sterilis«, HG 380). Denn sie hat das Blut Abels aufge­ ständig auf der Flucht vor glaubensfremden Argumenten in der
nommen. Das Blut gilt als der Sitz des Lebens (Num 17,11). Doch Angst, von ihnen erschlagen zu werden.
der Lebenssaft Abels befruchtet die »adamah« des Brudermörders Zu Genesis 4,13: »Da sagte Kain zu Jahwe: ›Zu groß ist meine
nicht. Denn er ist das Blut einer Bluttat. Und indem dieses Blut den Verkehrtheit, als dass sie aufgehoben werden könnte.‹« Für das
Boden durchtränkt, wird die Gewalttat die Seele oder das Wesen hebräische »awon« steht in den deutschen Bibeln meist »Stra­fe«.5
der »adamah« Kains. Sein Studium der Schriften kann fortan nur Die katholische Einheitsübersetzung hat »Schuld«. Und Leonhard
noch den Tod gebären. Sein Studium der Schriften bleibt unfrucht­ und Ludwig Tafel haben »Misset(h)at«. Die deutschen Interpreten
bar, weil es keine Werke hervorbringen will und daher auch nicht der hebräischen Partitur betonen demnach mehr­heitlich den An­
kann. Werke sind aber die Früchte des Studiums der alten, heiligen schluss an Vers 12. Dort war von der Straffolge die Rede, und da­
Texte. Steril wird dieses Studium, wenn es nur noch um historische rauf reagiert Kain nun mit den Worten: »Zu groß ist meine Strafe,
Fragen geht und dabei vergessen wird, dass die biblische Exegese als dass ich sie tragen könnte.« (Elber­felder Bibel). Werfen wir ei­
keine reine Wissenschaft sein, sondern dem kirchlichen Leben die­ nen Blick auf Swedenborg! In der lateinischen Bibel von Sebastian
nen soll. Mit dem Mord an seinem Bruder hat Kain seinen eigenen Schmidt fand er »delictum« (Vergehen) vor. Er selbst wählte aber
Glaubensboden unfruchtbar gemacht. Der Glaube hat den Liebes­ »iniquitas« (Un­ebenheit, Ungerechtigkeit).
hauch vernichtet, so daß nun auch die Glaubensgrundlagen nicht Das hebräische »awon« meint den ganzen Zusammenhang
mehr fruchtbar werden können. vom Vergehen über die Schuld bis zur Strafe. Denn nach Rolf Knie­
Die stabreimartige Verbindung »na‘ wanod« (»unstet und rim wurzelt der Begriff »im dyna­mistischen Ganzheits­den­ken«. Zur
flüch­tig«)4 kommt im gesamten Alten Testament nur hier vor. gängigen Übersetzungspraxis schreibt er: »Angesichts der durch
Swedenborg bringt in HG 382 zwar einige Ver­gleichs­stellen, sie das Ganzheitsdenken bestimmten einheitlichen Verwendung des
enthalten aber nicht die oben ge­nann­te Verbindung und teilweise Begriffs ›awon‹ für die verschiedenen Stadien eines Untat-Gesche­
auch nicht die darin ver­borgenen Verben, sondern nur sinnver­ hensablaufes (Tat – Folgesituation – Vollen­dung) wird die her­
wandte. Den­noch kann Swedenborg den folgenden Sinn ermitteln: kömmliche, auch lexikographische Über­setzungs­praxis problema­
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tisch. Sie übersetzt ›awon‹ je nach dem Kontext mit ›Vergehen‹ Ange­sicht (von der Oberfläche) des Bodens«. Zweitens: »Und vor
– ›Schuld‹ – ›Strafe‹. Zunächst einmal können ›Schuld‹ und ›Strafe‹ deinem Angesicht werde ich verborgen sein«. Oder: »Und vor dei­
nur noch als freie Inter­pre­tationen der Grundbedeutung angese­ nem Angesicht muss ich mich verbergen«. Mit Swedenborg be­
hen werden. Darüber hinaus drohen die Implikationen der Einheit­ vor­zugen wir die erste Übersetzung.7 Drittens: »So dass ich unstet
lichkeit eines Geschehensablaufes und die Einheitlichkeit desselben und flüchtig sein werde auf Erden«. Viertens: »Und dann wird es
hebr. Begriffes in verschiedenen Kontexten durch die Verschieden­ geschehen, dass jeder, der mich findet, mich tot­schla­gen wird«.
heit der Übersetzung verlorenzugehen.« (THAT II,245). Die hier Diese vier Abschnitte lassen sich zu zwei Gruppen vereinen. Denn
angesprochene Grund­bedeutung des Verbums »awah«, von dem die ersten zwei Abschnitte enthalten Verben der Trennung (vertrei­
»awon« abgeleitet ist, ist »beugen«, »krümmen«, »ver­keh­ren«, ben und verbergen). Und die zweiten zwei Ab­schnitte beginnen
»verdrehen«. Daher haben wir uns, einem Vorschlag von Rolf mit einem Perfekt consecutivum, das heißt mit einer hebräischen
Knierim folgend, für »Verkehrtheit« als Übersetzung von »awon« Verbform, die eine folgernde Funktion hat. Hier bringen diese Verb­
entschieden. formen die Folgen der zuvor genannten Trennungen (»separari«,
Bevor wir diese Überlegungen abrunden können, müssen wir HG 385) zum Ausdruck.
noch etwas zum Verb »nasa’« sagen. Wieder ist nämlich eine Vor­ Die erste Trennung bezieht Swedenborg auf das Wahre (HG
liebe in den deutschen Bibeln zu beobachten. Dort steht mehr­ 386), die zweite auf das Gute (HG 387). Zur Vertreibung vom Bo­
heitlich »tragen«.6 Swedenborg entschied sich jedoch für »au­ den sei erläuternd gesagt: Kain wird von seiner Glaubensgrundla­
ferre« (wegtragen). Daher finden wir in den neukirchlichen Bibeln ge geschieden. Denn das Ver­weilen bei einem Glauben ist weniger
von Leonhard Tafel und Ludwig Tafel »wegneh­men«. Auch das eine Sache des Den­kens; gedanklich läßt sich nämlich sehr viel
Verb »nasa’« deckt einen ganzen Zusammenhang ab. Es bedeu­ begründen und plau­sibel machen. Die Bindung an einen Glau­
tet »aufheben«, »tragen« und »wegtragen«. In Verbindung mit ben ist vielmehr eine Sache des Gefühls oder jenes Hauches, den
Sünde kann es auch »vergeben« bedeuten. Der Übersetzer, der Abel darstellt. Nach der Auslöschung Abels wird auch die innere
in seiner Zielsprache keine Worte vor­findet, die alle Aspekte in Ver­bun­denheit mit dem bis dahin Geglaubten schwächer und ver­
sich vereinen, muss wohl oder übel einen Aspekt herausgreifen schwin­det schließlich ganz und gar. Und die zweite Trennung, das
und dadurch beim Leser den Ein­druck erwecken, dieser eine Ge­ Verbergen des Angesichtes ist ein Zeichen dafür, dass der veräu­
sichtspunkt sei der richtige. ßerlichte Glaube den Zugang zum Inneren oder den eigentlichen
In diesem Sinne haben wir in der Tradition Swedenborgs eine Lebens­geheimnissen total verloren hat. Der kainitische Glaube
bestimmte Teilbedeutung her­vor­gehoben. Wir hören aus den Wor­ empfin­det tiefe Abscheu und einen unaus­sprechlichen Widerwil­
ten Kains Resignation oder Verzweiflung (»desperatio«, HG 383) len gegenüber dem Guten des Le­bens. Da­her ist ihm das Ange­
heraus, die er in die Worte kleidet: »Meine Verkehrtheit ausgehend sicht Jahwes unerträglich. Swe­denborg schreibt: »Manche sind der
von dem, was ich getan habe, bis zu den letzten Tatsachen, die Meinung, dass Gott sein Angesicht vom Menschen abwende« (HH
sich daraus ergeben werden, ist einfach viel zu groß, als dass das 545), doch der Mensch wendet sich selbst vom Herrn ab »und
je wieder aufgehoben oder rückgängig gemacht werden könnte.« wendet sein Gesicht jener Hölle zu, mit der er in der Welt verbun­
Kain schafft eine neue Wirk­lichkeit, der die Mensch­heit fortan nicht den gewesen war« (HH 548). In Vers 5 war davon die Rede, dass
mehr wird entkommen können. So groß, so umfassend ist diese sich Kains Angesicht senkte. Zwi­schen dieser Fall­be­wegung und
neue, kainitische Wirklichkeit. Auch Jahwe muss sie respektieren. dem Verbergen des An­gesichtes Jahwes be­steht ein innerer Zu­
Zu Genesis 4,14: Mit Swedenborg zerlegen wir den Vers in sammenhang. Denn wenn wir uns unter dem Angesicht Jahwes die
vier Abschnitte. Erstens: »Siehe, du vertreibst mich heute vom Sonne vorstellen, dann verschwand es schon, als Kain seinen Blick
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senkte und nur noch den Boden an­starr­te. Für den kainitischen Ersatzstabi­li­sie­rung gefun­den werden. Und das ist die Heiligung
Glauben ist Gott ein »Deus absconditus«, ein verborgener Gott. des Bruder­mörders. Doch aufgrund seiner Herkunft neigt der sol­
Schauen wir auf die Folgen der beiden Trennungen. Die erste cherart Ge­heiligte zur Verhärtung, Dogmatismus genannt. Diese
Konsequenz ist die Orientierungslosigkeit oder die Unwissen­heit Skle­rose erinnert ihn an den einstigen Mord, an die Aus­löschung
in Bezug auf das Wahre und Gute (HG 388). Und die zweite ist die des Lebens, der er seinen Aufstieg verdankt.
Anfälligkeit für alles Böse und Falsche (HG 389).8 Die zweite Hälfte des Verses lautet in einer möglichst wört­
Zu Genesis 4,15: »Aber Jahwe sprach zu ihn: ›Ebendeswegen9 lichen Übersetzung: »Und Jahwe setzte dem Kain ein Zeichen,
soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfach Rache erleiden.‹« Hier ist damit jeder, der ihn findet, ihn nicht totschlage.« Für das he­brä­
besonders »das Erstaunliche zu würdigen, dass Jahwe sich nach sei­ ische »ot« (»Zeichen«) fand Swedenborg bei Sebastian Schmidt
nem eindeutigen Urteil über Kains Tat so außer­ordent­lich für Kain »miraculum« (Wunder) vor. Denn »setzen« in Verbindung mit »ot«
einsetzen kann.« (Seebass 159). Doch Swe­denborg gibt eine sehr und Jahwe als Subjekt »wird nur in poetischen Texten und so ver­
einleuchtende Erklärung. Sie ergibt sich nach all dem Gesagten wandt, daß die Zeichen entweder in der Zukunft oder in der Ver­
beinahe von selbst aus seiner Inter­pre­tation Kains. Kain oder »der gangenheit liegen.« So meinen Ex 10,2, Ps 78,43, Jer 32,20 und
isolierte Glaube« (»fides separata«, HG 394) darf um des Heils des Ps 105,27 rückblickend die den Exodus begleitenden Wun­der; Jes
Menschengeschlechtes willen nicht auch noch zerstört werden. 66,19 hingegen meint ein zukünftiges (siehe Seebass 159). Daher
Daher fügt Jahwe es so, dass die Überlieferungen des Glaubens könnte auch hier ein Jahwes Zusage beglaubigendes Wunder (»mi­
sakrosankt werden (»sacrosanctum«, HG 395). Und dann dürfen raculum«) gemeint sein. Swedenborg entschied sich aber gegen
sie als geheiligte oder hochheilige Überlieferungen nicht mehr an­ die Übersetzung von Schmidt für »signum« (Zeichen). Allerdings
getastet wer­den. Die Sieben weist auf etwas Hochheiliges hin (HG interessiert ihn nicht so sehr die Art des Zeichens, sondern dessen
395). Da­her meint »siebenfache Rache«: Wer die dem profanen Funktion. Es dient nämlich der Unterscheidung (distinguere, HG
oder mensch­lichen Zugriff entzogenen und dadurch geheiligten 396) und infolgedessen der Erhaltung (con­servare, HG 396) des
Glau­bens­leh­ren der Kritik und den Manipulationen des Intel­lekts Glaubens. Es ist also ein Zeichen des Schutzes. Die Glaubensüber­
oder der eigenen Klugheit unterwirft, der handelt sich damit die lieferungen werden von den übri­gen unterschieden, indem sie mit
Strafe eines Schänders heiliger Dinge ein. Denn der äußere Ver­ einer Aura des Heiligen umgeben werden. Das dient ihrer mög­
stand erhebt sich über alles sogenannte Heilige, verliert je länger lichst unversehrten Bewahrung durch die Zeiten hindurch.
er am Werk ist um so mehr jegliche Achtung gegenüber den Tradi­ Zu Genesis 4,16: »Und Kain ging vom Angesicht Jahwes
tionen der Väter und Mütter des Glaubens und am Ende hat er das weg«. Damit vollzieht er die Ankündigung von Vers 14: »Vor dei­
ganze Erbe aufgelöst und steht vor dem Nichts seiner schändlichen nem Angesicht werde ich verborgen sein«. Er trennt sich also nun
Leistung. Deswegen will Jahwe, dass Kain nicht dem menschlichen wirklich »vom Guten des Glaubens der Liebe« (HG 398). Zu be­
Gericht und dem menschlichen Ur­teil ausge­liefert wird, obwohl achten ist, dass sich Kain von Jahwe trennt, nicht Jahwe von Kain.
er ein Brudermörder ist und auch bleibt. Der Verstand hat schon Denn der Mensch ist es, der in seiner Verfinsterung die Nähe sei­
Recht, wenn er vermutet, dass mit den »heiligen« Texten etwas nes Got­tes nicht mehr ertragen kann und das Weite sucht. Diese
nicht stimmt, aber das gibt ihm dennoch nicht das Recht, diese Flucht vor der zu großen Nähe Gottes beinhaltet aber auch einen
alten Zeugen einer großen Wahrheit vor das Gericht seiner eige­ Neu­anfang. Das Verb »jaza’« deutet das insofern an, als es auch
nen Be- und Verurteilung zu zerren. Die Heiligung oder Tabuisie­ den Ausgangs­punkt einer neuen Entwicklung an­zei­gen kann.10
rung bestimmter Tra­di­tionen ist die Folge eines Urfrevels. Nach Diesen Aspekt her­vorhebend, können wir das Versstück so über­
dem Verlust der lebendigen Gottesbeziehung (Abel) musste eine setzen: »Kain zog vom Angesicht Jahwes aus«. Oder: »Kain ging
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vom An­gesicht Jahwes hervor«. Und tatsächlich wird Kain durch 5. Eine Synthese des inneren Sinnes
seinen Auszug aus dem Angesicht (= dem Inneren) Jahwes zum
Wir haben Genesis 4,1 bis 16 Vers für Vers besprochen und nicht
Be­gründer der äußeren Kultur (Genesis 4,20–22).
sel­ten sogar den Sinngehalt einzelner Worte untersucht. Nun
»Und er ließ sich im Land Nod nieder, östlich von Eden«. Wie
wol­len wir das Ganze zusammenfassen, indem wir den inneren
läßt sich das unstete und flüchtige Dasein Kains mit seinem neu­
Sinn als eine Art Übersetzung von Genesis 4,1 bis 16 darbieten.
en, festen Wohnsitz »im Land Nod« vereinbaren? Die Antwort ist
Die­ses Vorgehen ist nicht unproblematisch, denn es erweckt den
einfach. Das Land Nod ist nämlich in der Bildersprache der Bibel
Ein­druck als ließen sich die Korres­pondenzen so einfach in einen
genau dieser neue Zustand des geistigen Elends und der Heimat­
äußeren Wortlaut umgießen. Dennoch wollen wir dem Le­ser, der
losig­keit (Gesenius 491), es ist »das Land der Ruhe­losig­keit« (v.
Rad 78). »Nod« greift »na wa-nod« (unstet und flüchtig) auf (HG uns bis hierhin gefolgt ist, mit dieser Übersetzung die eigenstän­
398). Dieser elende Zustand des Menschen, der seine Heimat bei dige Synthese oder Zusammenschau des inneren Sin­nes ein wenig
Gott ver­loren hat, erinnert mich an das berühmte Wort Augustins: erleichtern.
»… denn du hast uns auf dich hin erschaffen, und ruhelos ist unser 1. Die älteste Kirche brachte eine Glaubenslehre hervor und mein­
Herz, bis es ruht in dir« (»… quia fecisti nos ad te et inquietum est te, damit etwas selbständig Seiendes kreiert zu haben. 2. Außer­
cor nostrum, donec requiescat in te«, Confessiones I,1,1). dem brachte sie die Nächstenliebe hervor. Diese leitete die Men­
Das Land Nod liegt »östlich von Eden«. Eden, der Wonnegau schen zum geschwisterlichen Verhalten in der Gemeinschaft an.
der Liebe, liegt demnach von Nod (bzw. Kain) aus gesehen im Die Glaubenslehre hingegen beschäftigte sich nur mit den theo­
Westen und somit in der Gegend des Sonnenuntergangs. Nach retischen Grund­lagen. 3. Beide Tätigkeiten galten als gottesdienst­
Gesenius bedeutet »qidmah« neben »östlich von« auch »gegenü­ lich. Und so brachte die Dogmatik dem Gottesleben ihre Lehrsätze
ber« (701). Das wirft ein Licht auf Swe­den­borgs Inter­pre­tation. Er dar. 4. Die Nächstenliebe aber brachte ihm das Heilige und Himm­
übersetzt nämlich: »gegen den Osten Edens hin« (versus orientem lische dar. Diese Gaben waren dem Gottesleben angenehm. 5.
Edenis). Und das bedeutet: Kain wohnte »dicht neben (juxta) dem Aber das bloße Glaubenswissen konnte ihm nicht angenehm sein.
verständigen Gemüt, wo früher die Liebe herrschte« (HG 398). Das Doch das erregte den Zorn der Glaubenswissenschaft, die sich
heißt: Der Glaube ist nun zwar separiert oder als etwas Besonderes daraufhin sich selbst zuwandte und vom Gottesleben abkehrte.
von der Liebe un­terschieden, aber er ist immer noch »gegenüber« 6. Da meldete sich jedoch die Stimme des Gewissens und sagte:
dem ursprünglichen Wonnegau vor der Entzweiung angesiedelt. »Warum erregt das deinen Zorn? Und warum wendet sich dein
»Juxta« (dicht neben) ist mit »jungere« (Verbinden) verwandt. Für Inneres von mir ab? 7. Ist es nicht so? Wenn du dich zum Guten
Swedenborg scheint hier also noch eine gewisse Verbindung zwi­ durchringen könntest, dann würde sich dein Inneres wieder erhe­
schen dem Land Nod und dem »Osten Edens« zu bestehen. Im ben. Wenn du dich aber gegen das Gute entscheidest, dann lauert
Fortgang der Urerzählungen der Bibel (Genesis 1 bis 11) wird die die Sünde wie ein Dämon vor der Tür deines Willens. Bedenke
Entfernung vom Osten (»qedem«) oder von der Urzeit (ebenfalls doch! Die Nächstenliebe hat ein inniges Verlangen nach dir, du
»qe­dem«) immer größer werden. Die Erzählung von Babel und aber willst sie beherrschen und nicht anerkennen, dass sie dei­
seinem Turm leitet das Geschehen mit den Worten ein: »Und es ne Seele ist und dich lenken und leiten will.« 8. Aber der Glaube
geschah bei ihrem Aufbruch von Osten« (Genesis 11,2). Dort wird hörte nicht auf die Stimme des Gewissens, sondern verwickelte
der Absturz in das rein analy­tisch-zerlegende Denken erzählt. So die Nächsten­liebe in dogmatische Streitgespräche. Und auf die­
weit unten ist Kain noch nicht an­ge­kommen. Er wohnt noch in sem Feld des Disputs erhob er sich dann über sie und schlug sie
einem Land, das »östlich von Eden« liegt. brutal mit theologischen Argumenten tot. 9. Doch sofort meldete
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sich wieder die Stimme des Gewissens und fragte: »Wo ist denn vom Ackerboden«. Die Elberfelder Bibel: »Und nun, verflucht seist du von dem
die Nächstenliebe geblieben?« Der Glaube aber re­agier­te unwil­ Ackerboden hinweg«. Die Verdeutschung von Buber und Rosenzweig: »Und nun,
verflucht seist du hinweg vom Acker«. Die Gute Nachricht Bibel: »Du hast den
lig, indem er sprach: »Das weiß ich doch nicht. Bin ich etwa der Acker mit dem Blut deines Bruders getränkt, deshalb stehst du unter einem Fluch
Aufpasser meines Bruders?« 10. Doch die innere Stimme ließ sich und musst das fruchtbare Ackerland verlassen.« Die Übersetzung »Hoffnung für
durch diese dreiste Antwort nicht zum Schweigen bringen. Und so alle«: Darum bist du von nun an verflucht: Weil du in diesem Land einen Mord
wurde der Dogmatik der ganze Um­fang ihrer mörderi­schen Über­ begangen hast, musst du von hier fort.« Nur die Lutherbibel ist nicht eindeutig der
heblichkeit bewusst: »Mein Gott, was habe ich da angerichtet! dritten Variante zuzuordnen. Dort lesen wir: »Und nun: Verflucht seist du auf der
Erde«. Die Übersetzung von »min« mit »auf« ist sprachlich nicht korrekt, weswegen
Mein eigener Grund und Boden ist von einer Bluttat durchtränkt,
wir die Lutherbibel keiner der oben genannten Lesarten zuordnen können.
von einem himmelschreienden Unrecht. 11. Bereits die Grundlage 2 Einen ersten Hinweis gibt vielleicht schon Swedenborgs Übersetzung. Sie lautet:
meiner Wissenschaft stellt eine Abkehr von Gott dar. 12. Damit »maledictus tu de humo«. Warum hat er »min« nicht mit »ab« (von) übersetzt?
ist mein ganzes Tun unfruchtbar geworden. Denn wenn ich nun Die Präposition »de« bedeutet jedenfalls auch »wegen«.
3 »Arur« (verflucht) ist das Gegenteil von »baruk« (gesegnet). Diese beiden Begriffe
die heiligen Texte be­arbeiten werde, dann wird daraus keine Nah­
bilden im Hebräischen ein Gegensatzpaar (siehe THAT 1,236–240).
rung für das Gottesleben in der Seele hervorgehen. Vollkommen 4 Die Verdeutschung von Buber und Rosenzweig ahmt den Stabreim mit den
orien­tierungs­los werde ich umherirren.« 13. Verzweifelt sprach der Worten »schwank und schweifend« nach.
Glaube zum Herrn des Lebens: »Zu groß ist meine Verkehrtheit, als 5 »Strafe« steht in der Elberfelder Bibel (in der Anmerkung wird auf die Alternative
»Schuld« hingewiesen), in der Lutherbibel (1984), in der Zürcher Bibel (1931), in
dass sie je wieder aufgehoben werden könnte. 14. Nun werde ich der Übersetzung von Hermann Menge (in Klammern steht »oder: Sündenschuld),
von allem Wahren und Guten der Kirche für immer getrennt sein. in der Gute Nachricht Bibel (1997) und in der Hoffnung für alle (2002).
Orientierungslos werde ich umherschweifen und allen Angriffen 6 »Tragen« steht in der Elberfelder Bibel (1991), in der Lutherbibel (1984), in
schutzlos ausgeliefert sein.« 15. Doch die innere Stimme sagte: der Zürcher Bibel (1931), in der Übersetzung von Hermann Menge und in der
Einheitsübersetzung. Die Hoffnung für alle (2002) hat »ertragen«.
»Nein! Deine Angst geht mit dir durch. Du bist zwar nun, weil du 7 Bei Sebastian Schmidt fand Swedenborg »me abscondere cogar« (ich muss mich
den inneren Lebenshauch ausgelöscht hast, eine äußere Wissen­ ver­bergen) vor. Er selbst übersetzte aber die hebräische Verbform mit »abscon­
schaft geworden. Aber selbst in dieser Verkehrtheit bewahrst du dar« (ich werde verborgen). Das Verb »nistar« bedeutet »sich verbergen« und
»verborgen sein« (Gesenius 553). Horst Seebass übersetzt es in Genesis 4,14
immerhin noch ein göttliches Urwissen auf. Deswegen soll jeder, mit »werde ich … verborgen sein« und kommentiert diese Übersetzung mit den
der dich erschlägt, meine göttliche Hand zu spüren bekommen.« Worten: »str impf. ni. heißt zwar überwiegend ›sich verbergen‹, aber das gibt hier
Und so zeichnete Jahwe das Glaubenswissen als etwas Besonderes keinen Sinn.« (144). Das bestätigt Swedenborgs Übersetzung. Die meisten deut­
aus, damit die Menschen dieses Erbe unangetastet lassen. 16. Da­ schen Bibeln haben jedoch »ich muss mich verbergen« (siehe die neukirchlichen
Bibeln von Leonhard und Ludwig Tafel, die Lutherbibel, die Zürcher Bibel, die
nach ent­fernte sich der Glaube von der Wahrnehmung des inne­ Einheitsübersetzung, die Übersetzung von Hermann Menge und die Elberfelder
res Wesens Jahwes und ließ sich in der Ruhelosigkeit des äußeren Bibel).
Weltwissens nieder, blieb aber immerhin noch auf das innere Le­ 8 Zu den Merkwürdigkeiten der Urgeschichte gehört, dass sie zuweilen mehr
Menschen voraussetzt als vorhanden sein können. Nach dem Brudermord gibt es
ben bezogen, denn davon handeln ja, zumindest theoretisch die
nur drei Menschen aus Erden: Adam, Eva und Kain. Dennoch sagt Kain: »Und es
Glaubenslehren. wird geschehen, dass jeder, der mich findet, mich erschlagen wird.« Vor welchen
Menschen fürchtet sich Kain eigentlich? Swedenborg verstand die Personen der
Anmerkungen Urgeschichte nicht als Individuen, sondern als Kollektive.
9 Der masoretische Text hat »laken« (daher, fürwahr). Einige alte Übersetzungen
1 Eindeutig der dritten Variante zuzuordnen sind die folgenden Übersetzungen. Die setzen hingegen »lo ken« (nicht so) voraus.
Einheitsübersetzung: »So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden«. Die Zürcher 10 Darauf lassen die folgenden Verwendungen schließen: »v. d. neugeborenen
Bibel: »Und nun – verflucht bist du, verbannt vom Ackerland«. Die Übersetzung Kinde«, »sichtbar w.«, »v. d. Sonne u. d. Gestirnen: aufgehn«, »v. Pflanzen: aus
von Hermann Menge: »Und nun – verflucht sollst du sein, (hinweggetrieben) der Erde kommen«, »entspringen (v. Flusse)« (Gesenius 310f.).

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Eine Psychologie der eigenen Leben als auch anderseits als einen kulturübergreifenden
Verlauf. Ich nehme an, dass durch die Psychologie eine wichtige

spirituellen Heilung wie auch zeitgemäße Verbindung zwischen dem Bewusstsein und
der Heilung zu klären sein wird.
Eugene Taylor Das Problem besteht darin, dass eine Sprache der inneren
Erfahrungen in der modernen Kultur keine Glaubwürdigkeit mehr
Vorbemerkung der Schriftleitung: Eugene Taylor hat als Privat- besitzt. Dichter, Liedermacher oder Geschichtenerzähler bilden mit
dozent einen Lehrstuhl für die »Geschichte und Philosophie der ihrer Fabulierkunst hier eher die Ausnahme. Gegebenenfalls kann
Psychologie« inne. Seine zahlreichen Werke umfassen »­William es auch sein, dass auch einem Psychotherapeuten oder einem
James Anschauungen über die Gehirnzustände (Scribners Seelsorger oder vielleicht auch einer Mutter, die ihr Baby jeden
1982), »William James Auffassungen über extreme Bewusst- Abend in den Schlaf singt, noch ein solches Reden zugestanden
seinszustände« (Princeton 1996), sowie »kyber­netische Phy- wird. Im allgemeinen jedoch ist eine Sprache der inneren Erfahrung
siologie: Die Wissenschaft der Selbstkon­trolle« (Archaeus keine Alltagssprache, da sie für die Alltagssprache zu persönlich
1988). Im Folgenden drucken wir eine deutsche Übersetzung ist. Die Sprache der inneren Erfahrung ist auch keine Sprache, die
der ersten beiden Kapitel seines Buches »Eine Psychologie der den wissenschaftlichen Diskurs voranbringen würde oder die dem
spirituellen Heilung« ab, das von der Swedenborg Foundation ökonomischen Denken entspräche. Wir können die Sprache der
1997 herausgegeben worden ist. Die Übersetzung stammt Innerlichkeit für gewöhnlich auch nicht in der Nachbarschaft hören,
von Hanno Willenborg. obwohl sie schon eine Sprache der Beziehungen darstellt. Aber sie
ist doch eher die Sprache von engen Freunden oder eine Sprache,
die sich eignet, romantische Gefühle zum Ausdruck zu bringen.
1. Bewusstsein und Heilung
Bisweilen finden sich in ihr auch Anzeichen von fremden Kulturen.

W as ist unter einer Psychologie der spirituellen Heilung zu ver­


stehen? Wir haben es hier mit einer komplizierten Frage zu
tun, für die sich mehrere Interpretationsmöglichkeiten auftun. Um
Apropos fremde Kulturen. Ich erinnere mich, dass der ältere Dr.
Mark Altschule, Dozent an der Harvard Universität, einmal über die
Begründung der Psychoanalyse spöttelnd meinte, dass diese wohl
eine brauchbare Antwort zu erhalten, sollten wir zunächst fragen, durch jenen griechischen Dichter entstanden sei, der einst ein Schild
was in diesem Zusammenhang der Begriff Psychologie bedeutet. an seine Haustür gehängt habe mit der Aufschrift: »Mir fällt nichts
Zunächst einmal handelt es sich nicht um eine Psychologie im mehr ein. Kommt, erzählt mir von euren Problemen.« Auf ähnliche
gewöhnlichen akademischen Sinne des Wortes. Diese Psychologie Weise haben Dramatiker und Romanciers oft das Mittel des inneren
kann sich nicht auf Tierexperimente zur Lernforschung verlassen. Monologs gebraucht, um den Persönlichkeitscharakter zu enthüllen
Diese Seelenkunde vermag sich auch nicht auf sexualpathologische und eine Handlung aufzubauen. Tatsächlich zeichnete sich der
Theorien zu gründen, oder auf Computersimulationen, die kogni­ psychologische Roman des 20. Jahrhunderts dadurch aus, dass er
tive Prozesse widerspiegeln. Eher handelt es sich um eine Psycholo­ sich davon abwandte über Seiten lang lediglich äußere Ereignisse
gie, die zugleich erfahrend, existentiell und vorausschauend wirkt. zu schildern. Stattdessen begann er das zu beschreiben, was seine
Solch eine Psychologie stellt aller Wahrscheinlichkeit nach ein Protagonisten dachten und fühlten.
erstes Mittel dar, wodurch nicht nur eine Selbstheilung, sondern Die Art der inneren Psychologie, die ich hier beschreibe, ist
auch ein persönliches Reifen und die spirituelle Transformation gewiss kein alltäglicher innerer Monolog. Nichtsdestotrotz ist
Raum greifen. Meinem Resümee nach betrachte ich das Studium das Gewahrwerden der inneren Stimme der erste Schritt zu einer
der Psychologie einerseits als einen Prozess der Innen­erkundung im solchen Psychologie. Denn eine Psychologie, welche die spirituelle
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Erfahrung angemessen betrachten möchte, bedarf zunächst einmal Eine Psychologie, die ausreicht um die spirituelle Erfahrung
der Erfahrung als solcher. Diese Erfahrung beginnt im Hier und zu begreifen, ist zugleich visionär. Dies bedeutet, dass die Inhalte
Jetzt. Sie wird sich gewahr, dass alles gegenwärtig ist. Sie begreift, des Unbewussten durch das Bewusstsein in eine symbolische Form
dass alle Erinnerungen Rekonstruktionen der Vergangenheit in gegossen werden, die zunächst einmal interpretiert und verstanden
unserem gegenwärtigen Bewusstsein sind. Auch versteht sie, dass werden muss. So eine Deutung ist deshalb notwendig, da sie aus
alles Planen für die Zukunft Projektionen der Gegenwart, bloße Metaphern, Vergleichen und einer Vorstellung besteht, die Ausdruck
Annahmen über mögliche Geschehnisse sind. Ganz gleich was der allgemeinen Energie des Unbewussten ist. Die Innenreise zur
die Erinnerung oder Vorausschau entwirft: Es entsteht im Hier und Selbstverwirklichung schließt die Suche nach Ursymbolen ein, die
Jetzt. Das Hier und Jetzt ist der Knotenpunkt, durch den sich uns das einzigartige Schicksal der Persönlichkeit widerspiegeln. Je tiefer
jedwede Erfahrung mitteilt. jemand dieses Unbewusste durchdringt, um so größer ist tatsächlich
Es bedeutet zudem, dass eine solche Psychologie der Inner­ die Möglichkeit, dass seine Vorstellung etwas zum Vorschein bringen
lichkeit einzigartig ist. Einzigartig in dem Sinne, dass sie durch den wird, was anderen als apokalyptisch oder mystisch erscheinen mag.
Einzelnen selbst entsteht, obschon sie ihre Bestätigung durch die Solch eine Psychologie ist folglich auf das innere Wachstum
Erfahrung anderer findet. Sie ist auch einzigartig, da sie tatsäch­ ausgerichtet, will meinen: sie zielt auf das Transzendentale. Sie sollte
lich keiner inneren Psychologie eines anderen gleicht, obwohl sie unsere moralischen und ästhetischen Ziele inspirieren. Sie sollte den
– einmal nebenbei, einmal in hohem Maße – an den gleichen Einzelnen ermutigen, sein Höchstes und Bestes zu erreichen. Und
universellen Begrenzungen der Sprache, Zeit, und den Umständen sie sollte programmatisch sein und einen Entwurf zur Selbstaktuali­
leidet, die jedem auferlegt sind, der versucht die Realität mittels des sierung anbieten, der uns etwas Größeres enthüllt als dasjenige, das
Ausdrucks zu verstehen. wir uns gegenwärtig vorzustellen vermögen.1 So gründet sich diese
Von höchster Bedeutung ist der psychodynamische Charakter Seelenkunde auf die Idee, dass die Umgestaltung des gegenwär­
dieser Psychologie. Sie ist sich ständig bewusst, dass unsere Gegen­ tigen bruchstückhaften Zustands in etwas Ganzheitlicheres jeder
wart und unser Alltagsbewusstsein immerzu von den tieferen Geset­ Zeit möglich sein könnte.
zen des Unbewussten durchdrungen werden. Diese Gesetze bleiben Da dies so ist, muss eine solche Psychologie auch in der Lage
uns verborgen, obschon sie einen gewaltigen Einfluss auf jeden sein allgemein das auszudrücken, was existentiell ist, oder dasjenige
Gedanken, jedes Wort und jede Tat ausüben. Diese Psychologie zu erklären, was das Höchste im Leben eines Menschen bildet. Die
begreift auch, dass die seelische Energie, der Geist des Bewusstseins, höchste Erfahrung oder der Zustand der größten Weite, welche der
den wahren Kern der Persönlichkeit ausmacht. Eine solche Energie Person je begegnet ist, müsste sich in gewisser Weise ebenso wieder­
kann verschiedene Formen annehmen und wir müssen uns klar finden, wie der niederste Zustand, der uns ebenso nur allzu vertraut
werden, dass die seelische Energie des einen Zustands in den davon ist. Dies gilt gleichermaßen für den künstlerischen, sprachlichen oder
getrennten Ausdruck eines anderen Zustands übertragen werden leiblichen Ausdruck. Solche Darstellungen des Höchsten beziehe
muss. Die versteckte Bedeutung eines Gedankens, der uns im Wach­ ich auf eine Ikonographie des Transzendenten. Sie steht für eine
zustand in den Sinn kommt, könnte beispielsweise nur durch eine symbolische Darstellung des höchsten Bewusstseinszustands, den
Vorstellung im Traum enthüllt werden. Dies besagt, dass die Energie ein Mensch, wie auch immer sich dieser Zustand für die Außenwelt
des Unbewussten allein durch das Bewusste in der indirekten Form des kundzutun vermag, zu erreichen imstande ist.
Traums ausgedrückt werden kann, während der bewusste Gedanke Schlussendlich versucht solch eine Psychologie auch die inneren
die heilsamere Form dessen ist, was das Unbewusste uns wirklich zu Pforten der Wahrnehmung zu öffnen. Es muss eine Bewegung jenseits
sagen versucht. Das Wort dynamisch verweist daher auf die Umwand­ der Beschränkungen des Wachzustands geben. Weiter muss es eine
lung der Energie von einem Bewusstseinszustand in einen anderen. Erfahrung von etwas Jenseitigen hinter der Endlichkeit des Einzelnen
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sein. Etwas das mehr ist als reiner Intellekt. Etwas das jenseits der und »Können Sie sich daran erinnern, wer Sie sind?«, da das Erkennen
Grenzen der materiellen Wirklichkeit Bestand hat. Solche Erfahrungen ein Zeichen von bestehendem und verbliebenem Bewusstsein ist. So
haben Menschen zu allen Zeiten gemacht. Hier einige Beispiele: Dieser heißt, sich selbst bewusst zu sein, auch das Bewusstsein selbst mit
Frau ist vielleicht ein besonderer innerer Sinn angeboren. Jener Mann seiner eigenen Identität zu verbinden.
vermag eine besondere innere Weite zu erfahren, da ihm als Kind ein Das Zweite, was wir bezüglich unseres Bewusstseins annehmen,
traumatisches Erlebnis widerfuhr. Eine Gruppe kann vielleicht Zeuge ist, dass es fließt. Es wechselt andauernd seine Gestalt. Es bewegt
einer kollektiven Vision werden. Dies könnte dann das Ergebnis eines sich beständig fort. Die Gegenwart ist immerzu im Fluss, und wird
intensiven gemeinsamen Findungsprozesses sein. Besagte Gruppe so rasch zur Vergangenheit, wie sie in die Zukunft überwechselt. In
könnte diese Psychologie als Resultat einer großen gemeinsamen diesem Sinne erleben wir das Bewusstsein als einen Strom. Es ist ein
Verpflichtung begreifen. Ihre Mitglieder könnten sich vielleicht als Fluss, der sich nie an einem Ort zweimal aufhält. Ein Gedanke, der
Überlebende einer an die Belastungsgrenze gehenden Erfahrung sich zum zweiten Mal einstellt, ist doch immer ein neuer Gedanke, da
begreifen. Durch diese Erfahrung könnten sich die Mitglieder nun die Erinnerung ein Rest der wiedererfahrenen Vergangenheit in der
berufen fühlen ein großes gesellschaftliches Ziel zu vertreten. Gegenwart ist. Währenddessen ändert sich folglich das unmittelbare
Ich möchte dies als Ausgangspunkt für unser allgemeines Panorama beständig. Vor uns entfalten sich Ereignisse. Wir beobach­
Verständnis von Bewusstsein nehmen. Dies findet in unserem ten, dass Lebendiges entsteht, reift und vergeht. Alles erscheint im
Alltagsbewusstsein dann statt, wenn wir bemerken, dass sich ein Zustand des Kommens und Gehens, von Entwicklung und Auflösung.
Heilungsprozess ereignet hat. In diesem Sinne seien hier einmal ein So verhält es sich auch mit dem Schauspiel, dass sich auf der Bühne
paar Gedanken des Ansatzes von William James angeführt.2 unseres erwachenden Bewusstseins im Rampenlicht ereignet. Die
Gemäß James bedeutet Bewusstsein zunächst einmal sich Gedanken folgen einander. Wortfolgen wechseln sich ab, und die
selbst bewusst zu sein. Bewusstsein scheint demnach das zu sein, Gegenstände wechseln ihre Farbe. So folgt der lichte Tag der nächt­
was wir wissen und woran wir uns erinnern. Es ist der Raum in dem lichen Finsternis, so werden wir uns auch der Zeit und danach des
wir leben und den wir unser eigen nennen. Oder, um es mit den Schlafes bewusst – insgesamt verbringt ein 70 jähriger Mensch 22
Lebensprozessen zu erklären: Es ist der Raum, in dem wir leben, Jahre seines Lebens schlafend. Demnach wandeln wir mal bewusst
weben und sind. Bewusstsein, in diesem Sinne, meint nicht nur zu mal unbewusst, durchlaufen Tag und Nacht im beständigen Kreislauf.
bemerken, dass wir uns selbst bewusst sind, sondern befähigt einen Nichtsdestotrotz steht über das Bewusstsein weiter fest, dass
auch zu bemerken, dass es so etwas wie einen Bewusstseinsstrom ihm, entgegen allem beständigen Wandel, auch etwas Festes und
gibt. An einigen Tagen sind wir sehr offen, an anderen völlig abge­ Vernünftiges eigen zu sein scheint. Fast alle Zellen unseres Körpers
kapselt. An einigen Tagen erinnern wir uns an Dinge, an anderen werden beständig umgeformt, sterben ab und erneuern sich. Dies
sind wir vollkommen vergesslich. All dies geschieht in unserem geschieht seit meiner Geburt schon Tausende von Malen. Und den­
Bewusstsein. So wir uns nicht bewusst sind, nehmen die meisten noch scheine ich über diesen ganzen Zeitraum hinweg der gleiche
von uns an, dass wir unbewusst handeln. Folglich scheint sich das Mensch geblieben zu sein. Lege ich mich des Abends schlafen,
Bewusstsein auszudehnen und zusammenzuziehen. erwache ich morgens im gleichen Körper. Ich erwache nicht als
Beim Schlafen nehmen wir einen koma- oder narkosegleichen jemand anderes. Auch fühle ich mich in meinem gegenwärtigen
Zustand des Unbewussten ein. Als wir jung waren weckte uns unsere Selbst nicht als Fremder. Vielmehr nehme ich die Beständigkeit
Mutter, indem sie uns beim Namen rief, bis wir uns schließlich bewusst meines Seins von Augenblick zu Augenblick, von Stunde zu Stunde,
wurden, was vor sich ging. An diesem Punkt wachten wir auf. Erst von Tag zu Tag immer schärfer wahr.
dann wurden wir uns selbst bewusst. Bei Fällen von Schock fragt das Und doch ist ein viertes Charakteristikum meines gegenwär­
Ärzteteam den Patienten im Regelfall: »Wissen Sie Ihren Namen?« tigen Bewusstsein, dass es einen krassen Unterschied zwischen
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dem »Ich« und dem »Nicht-Ich« zu geben scheint. Es gibt einen nen. Wir werden durch den Tag unserer Geburt bestimmt, die Farbe
Unterschied zwischen dem, was ich fühle, und meiner erfahrenen unserer Augen, unsere Finger- und Fußabdrücke, unser einmaliges
Wirklichkeit sowie andererseits der Wirklichkeit, die sich außerhalb Irismuster. Wir sind genau dieses Herz, genau diese Lungen, genau
meiner Selbst zu ereignen scheint. Das Bewusstsein scheint sich also diese Gene. Angenommen etwas stößt diesen Bestandteilen zu, so
mit anderen Worten zu den Objekten so zu verhalten, als wären sind wir nicht länger das vollständige Selbst, das wir zuvor waren.
diese von sich selbst unabhängig. Die Welt »da draußen« scheint mit Dies kennzeichnet das biologische Selbst: Die Geschichte meiner
Gegenständen und Personen erfüllt, während meine eigene Innen­ Krankheiten, die Geschichte, wie ich diese Narbe und diese Prellung
welt durch Ideen, Vorstellungen und Erinnerungen durchdrungen erhielt – kurz das biologische Ich.
zu sein scheint. Anders gesagt: Mit Darstellungen all der Dinge der Es gibt ferner ein materielles Selbst. Dem gemäß definieren wir
Außenwelt. So nehmen wir folglich an, dass die Wirklichkeit zwei­ uns über all die Objekte die wir unser eigen nennen. Ich bin dieses
geteilt sei. Die eine da draußen, die andere in unseren Gehirnen. Haus, dieses Auto, diese Kleider. Ich besuche diese Schule, ich übe
Schlussendlich ist also unser Bewusstsein selektiv. Aus jener diesen Beruf aus. Ich habe zu jedem dieser Objekte eine persönliche
durchpulsten und grellen Verwirrung, genannt Wirklichkeit, ent­ Bindung. Dies muss nicht heißen, dass dieses Objekt mir gehört,
nimmt unser Bewusstsein nur gewisse Teile und ignoriert den Rest. aber schon, dass es mir im weiteren Sinne zuzurechnen ist. Ich habe
Ich zolle folglich dem Aufmerksamkeit, woran ich interessiert bin, das in letzter Zeit einmal personalisiert. Ich habe ein altes Paar mei­
alles weitere verschwimmt, wird nicht beachtet und nicht regis­ ner Lieblingsschuhe entsorgt. Wir waren sehr lange zusammen, wir
triert. Ich bemerke dasjenige, was ich aus Gewohnheit geübt habe haben viel miteinander unternommen, uns ist viel zugestoßen. Sie
wahrzunehmen. Ich neige eher dazu Neuartiges zu vermissen, da waren so bequem; es schien allerdings, dass, bevor sie auseinander
ich zu beschäftigt bin, mich auch noch um das zu kümmern, was gingen, ich sie in allem zu stören schien. Sie und ich waren ein­
ich ohnehin längst weiß. Anderseits umgebe ich mich in hohem mal eins. Ich verweilte für einen nostalgischen Moment über dem
Maße mit Vertrautem, da ich dies als mein eigen betrachte. Mülleimer, in den ich sie warf, aber als ich dann in meinem neuen
So erscheint das Bewusstsein als persönlich, immerzu wech­ Paar schwarz glänzender Lederschuhe davon schritt, begann eine
selnd, doch auch beständig, sowie unabhängig von den Dingen weitere Liebesaffäre mit einem anderen Objekt der dinglichen Welt
und selektiv in dem, was es wahrnimmt. Doch dies ist beileibe nicht und alles begann von vorn.
alles. Andere Definitionen nehmen die Existenz von versteckten, Und dann gibt es da noch das soziale Selbst. Tatsächlich, so
unbewussten Kräften an und weisen auf die Wirklichkeit mög­ James, ist dieses soziale Selbst für jede Bindung die wir eingehen eine
licher anderer Bewusstseinszustände hin, die vom pathologischen andere. Jeder Person zeigen wir eine andere Seite unserer Persönlich­
Zustand bis zum Erfahrung der religiösen Entrückung reichen. Fürs keit. So sind wir in keiner Beziehung dieselben. Auch passen wir uns
erste jedoch wollen wir uns auf eine Definition des Bewusstseins jeder Person so an, dass neue Seiten unseres Selbst zum Vorschein
als persönliche Identität beschränken, dem Zustand des alltäglichen kommen. Wir versuchen uns bei jeder anderer Persönlichkeit in das
Seins, der uns am vertrautesten ist. Licht zu stellen, in dem wir zu erscheinen wünschen, und die anderen
Dies führt uns nun zum Problem der persönlichen Identität. projizieren den Teil ihrer Selbst auf uns, den sie als unsere Persön­
Wer oder was ist das Selbst, das geheilt wird? William James bietet lichkeit annehmen. In diesem Sinne sind zwei Beziehungen niemals
freimütig die Interpretation an, dass wir tatsächlich mehrere Selbste gleich, noch ist jede die Gesamtheit des Selbst unser vielen Selbste.
zugleich sind. Dann gibt es das Erfahrungs – »Ich«, das »Ich«, das als Subjekt
Zum einen, so James, gebe es das biologische Selbst. Gemäß jeden Satz über mich einleitet; die vollständige Summe aller meiner
dessen sind wir physikalische Körper oder physiologische Prozesse; biologischen materiellen und sozialen Selbste; das Pronomen, das
wir sind diese Gewebe, diese Organe, diese Gene, die vor uns erschei­ auf das gebündelte Wissen meiner selbst verweist. Das Erfahrungs
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– »Ich« steht jedoch im starken Kontrast zum spirituellen Selbst, tenzen und verbleiben doch bei den herrschenden Vorstellungen
dem Teil von mir, der nur mir selbst bekannt ist. über die Wirklichkeit. Ist denn die Wirklichkeit allein aus Atomen
Das spirituelle Selbst ist das innere »Ich« jenseits meiner und Molekülen aufgebaut? Ist sie bloß ein großes Vakuum, das sich
Gedanken und Gefühle. Jenseits der Erinnerungen, was ich beses­ nur mit wissenschaftlichen Fachbegriffen erklären lässt? Oder ist das
sen, getan und gewusst habe. Dies ist der undurchdringbare Teil Universum eine Schöpfung eines allmächtigen, allgegenwärtigen
meiner Persönlichkeit der mir einerseits so vertraut und anderseits und alles beherrschenden Gottes, durch den sich letzten Endes
so verschlossen vorkommt, da er sich jenseits der Worte, jenseits der alles begründen lässt? Es scheint uns unvorstellbar, dass es noch
Etiketten, jenseits einer Vorstellung befindet. Tatsächlich aber ist er einen 3. Möglichkeit geben könnte. Wir haben die Neigung alles
zutiefst mein wirkliches Sein. auf die beiden großen gedanklichen Gegensätze zu reduzieren und
sie für unvereinbar zu halten. Die US-amerikanische Verfassung
1.1. Die Pforte zum spirituellen Selbst gewährleistet die Trennung von Kirche und Staat, während der
Wir sind zur Schwelle des Unbekannten gelangt, zu jenem Portal, Staat Millionenbeträge in die Forschung steckt. Unterdessen gibt
durch das nur der Einzelne zu gehen vermag. An dieser Schwelle es aber auch religiöse Splittergruppen, die versuchen eine Christi­
sind die beherrschende öffentliche Meinung, das geteilte Wissen anisierung der Forschung zu erreichen. In diesen Gruppen werden
wissenschaftliche Belege verwendet, um die Ereignisse der Bibel zu
und das Eigene des inneren Selbst zum letzten Mal miteinander
belegen. Oder es werden physikalische Prinzipien angeführt, um die
verbunden. Hier sollte unsere Diskussion über die Heilung begin­
christliche Lehre zu bestätigen. Die institutionalisierte wissenschaft­
nen, da hier die Psychologie der inneren Erfahrung geformt wird.
liche Forschung hat sich aber immer auch mit Nachdruck gegen
Dort wo sich das Subjektive und das Objektive treffen, wo die
diese Missionierungsversuche zur Wehr gesetzt.
Gegensätze zu einer einzigen Erfahrung verschmelzen, wo alles
Zum einen bleiben Wissenschaft und Religion als kulturelle
Erfahrene Wirklichkeit zu werden beginnt, ereignet sich der Augen­
Institutionen getrennt, zum andern hat es aber auch eine steigende
blick des Unmittelbaren. An diesem Punkt bitte ich noch einmal
Zahl erfolgreicher Versuche gegeben, Spiritualität zu messen. Ein
zurückzuschauen, was wir traditionell unter Heilung verstehen. gutes Beispiel ist die »Relaxation Response«, die durch Herbert
Was ein Arzt, der Idee westlicher Medizin folgend, für gewöhn­ Benson ins Leben gerufen wurde. Dies ist eine einfache Übung, um
lich leisten soll, ist eine körperliche Heilung. Die Wissenschaft zeigt eine körperliche Tiefenentspannung zu bewirken. Dabei werden die
uns die Natur des Wirklichen. Sie zeigt uns dasjenige, woraus sich die Versuchspersonen angewiesen, die heiligen Lehren ihrer Religionen
Medikamente zusammensetzen, zeigt uns, wie die Arzneien geprüft zu wiederholen. Tests zu dieser Methode zeigten, dass auf einmal
werden und in die Massenproduktion gelangen. Währenddessen die Kopfschmerzen verschwanden, der Blutdruck sank, die tägliche
beschränkt sich die Heilung durch den Geist auf eine rein theolo­ Medikamentendosis abgesetzt werden konnte usw. Wie der Arzt
gische Diskussion oder auf populäre Zeugnisse der Sachliteratur, die Larry Dossey ausführlich verdeutlicht hat, legt dies den Beleg für den
dann aber zumeist ebenfalls dem Gebiet der Religion zugeordnet positiven Einfluss von Gebeten auf eine weitere Distanz hin zumindest
werden. Es gibt Kinder, die beim Anblick der Jungfrau Maria augen­ nahe.3 Patientengruppen, für die andernorts gebetet wurde, fühlten
blicklich geheilt werden. Ein charismatischer Priester legt seine sich später besser als Patientengruppen, denen diese Dienste nicht
Hände über ein Paar verkrüppelte Beine und sofort danach erhebt zuteil wurden. Andere Forscher haben nachgewiesen, dass Patien­
sich der Gelähmte und schreitet von dannen. Ein unheilbar Krebs­ tinnen mit Brustkrebs, die an Unterstützergruppen teilnahmen, für
kranker erfährt eine göttliche Vision und sein Tumor verschwindet. gewöhnlich länger lebten als andere Patientinnen, die allein blieben.
Hieran wird die große Trennung der modernen Gesellschaft sichtbar: Herzpatienten, die eine Diät zur Gewichtsabnahme durchführten
Wissenschaft contra Religion, beide streiten sich über ihre Kompe­ und beteten, konnten eine Senkung des Cholesterinspiegels bewir­
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ken. Hirnhautpatienten, bemerkten, dass sich ihre Haut schneller rung von Trancezuständen zum Ziel der Vorhersage und Heilung.
reinigte als bei jenen, die nur eine gewöhnliche Strahlungstherapie Der Mythologe Joseph Campbell betont in seinem klassischen Werk
erhalten hatten usw. Die Beweise häufen sich, dass in der richtigen »Der Held mit den tausend Gesichtern«, in dem er die gewach­
Umgebung, wenn die physikalischen Behandlungsmethoden mit senen und ursprünglichen Motive einer Reihe an schamanischen
psychospirituellen Methoden verbunden werden, Bedingungen Kulturen herausfilterte, den mythischen Kreis der Suche des Helden
erzeugt werden, die im Verlauf des Heilungsprozesses positiv mess­ auf seiner Innenreise. Er schildert die folgende Rückkehr des Helden
bare Unterschiede und wachsendes Wohlbefinden hervorbringen. als geläutertes Wesen, das die Rolle des Heilers in der primitiven
Tatsächlich herrscht zur Zeit gerade soviel Bewegung auf diesem Gesellschaft einnimmt. Zur gleichen Zeit nahm der Psychiater und
Forschungszweig, dass er inzwischen als ein eigener Forschungsbe­ Historiker Henri Ellenberger in seiner Schrift »Die Entdeckung des
reich mit verschiedenen Bezeichnungen betrachtet werden kann. Unbewussten« den schamanischen Kreis als Ausgangspunkt zum
Einige von diesen sind: Holistische Heilung, energetische Medizin, Verständnis gegenwärtiger Entwicklungen in der dynamischen
Leib-Seele-Medizin oder ergänzende Therapie.4 Psychotherapie. Tatsächlich entwickelte sich der Schamanismus zur
Unglücklicherweise zeigt eine Prüfung gerade dieses neuen neuen Bewegung innerhalb der alternativen Psychotherapien.5
Bereichs der medizinischen Forschung aber auch wieder nur, dass Wie ich die schamanische Erfahrung begreife, wurde der Scha­
zwar die Themenfelder Bewusstsein und Heilung ins Gespräch manist zunächst einmal darin geschult, jederzeit, seinem Belieben
gekommen sind, sich dieses Gespräch aber allein um Symptome, nach, in Trance zu verfallen, oder zumindest dann, wenn sich
Umstände als günstig erwiesen. Wenn Patienten zum Schamanen
Mittel und Gebetsmethoden dreht. Zwar wird die Heilung diskutiert,
kommen, wird eine Untersuchung des bestehenden Leidens vorge­
aber dennoch findet bis heute kein systematisches Verständnis von
nommen. Doch verhält sich der Schamane wie ein wissenschaftlich
Bewusstsein, keine Diskussion über irgendeine Art von Psychologie
geschulter Arzt, indem er auch nur versucht anhand äußerer Zeichen
statt, die über ein verfeinertes Laienverständnis der Tiefenpsycho­
des Leidens mehr über den Patienten herauszufinden. Der Heiler
logie Freuds und Jungs hinausgehen würde. Auch wird keine
probiert auch darauf zu achten, was sich im Inneren des Patienten
Psychologie entwickelt, die genügen könnte neuartig, visionär oder
oder der Patientin abspielt. Dann beschreibt er anhand dessen sein
mythisch zu sein, und dies, obschon es eine eindeutige Bewegung
intuitives Fühlen oder er geht in die Hellsichtigkeit über. Natürlich
der transpersonalen Psychologie in diese Richtung gibt. Diese psy­ kommen die Patienten auch mit gewissen Erwartungen. Sie breiten
chologische Strömung beruft sich stark auf die Theosophie oder die vor dem Schamanen vor allem ihre Erzählungen und Probleme aus,
religiösen Traditionen des fernöstlichen Raums wie den Hinduismus, die der geübte Heiler dann der Art des Erzählens, der Stimme und
Buddhismus oder Taoismus. der körperlichen Erscheinung nach zu deuten hat.
1.2. Die Beziehung zwischen Heilung und Bewusstsein. Der Schamane beginnt weiter eine Reihe der verschiedensten
Mittel beim Patienten oder der Patientin anzuwenden, um eine
Durch die Geschichte der Traditionen innerhalb der Weltreligionen Bewusstseinversänderung in ihrem Inneren zu erreichen. Die Pati­
hindurch, besonders in jenen, die sich eine hohe Kenntnis über das enten nehmen selbst an dieser Bewusstseinänderung teil und reisen,
Innere des Bewusstseins erworben haben, ist spirituelle Erfahrung mittels einer unmittelbar einsetzenden Verbindung (Rapport) zum
schon immer mit Heilung jedweder Form in Verbindung gebracht Schamanen, durch ihr eigenes Bewusstsein. Oder sie bleiben biswei­
worden. len auch im Bewusstsein hinter dem Heiler zurück, während dieser
In seinem Werk »Schamanismus und die archaische Ekstase­ einen unzugänglichen Bewusstseinszustand erreicht, der wichtige
technik« befasst sich der vergleichende Religionswissenschaftler Informationen enthält. Diese Informationen können dann in Form
Mircea Eliade mit dem sibirischen Schamanismus und der Kultivie­ eines Liedes, eines Tanzes, einer Pflanze oder einer Idee, die auf die
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Krankheit oder den Heilungsverlauf des Patienten bezogen ist, vermit­ stimmen mit den spirituellen Lehren des Tibetischen Buddhismus
telt werden. Der Schamane kann diese Geistreise schon etliche Male überein. Die Psychologie ist keine getrennte Kategorie der tibetischen
vorher vollzogen haben oder er gelangt zum ersten Mal an einen Medizin, sondern ein integrierter Bestandteil jeder Diagnose.7
Ort, den er vorher noch nie betreten hat. Um dorthin zu gelangen, Diese enge Verknüpfung zwischen den sich wandelnden Be­­
formt der Heiler seinen Körper in den eines Tieres um. Sonst könnte wusstseinszuständen und der Heilung besteht zudem in den Jäger
er auch mittels geheimer Methoden fliegen, fallen oder ankommen. und Sammler-Kulturen. Richard Katz hat in seiner Arbeit »Kochende
Die Geschehnisse, die sich auf die kranke Person beziehen, dürften Energie« weitreichende Feldstudien über die Kung in der Kalahari
sich auf ähnliche Weise ereignen. Der Schamane mag auf Wesen Wüste in Südafrika durchgeführt. Diese zeigt, dass der örtliche
treffen, die ihm Hindernisse in den Weg legen, die es zu überwin­ Trancetanz sowohl ein Zentrum des Dorflebens darstellt als auch
den gilt. Es müssen innere Kämpfe ausgefochten werden, um das zur Quelle der Lösung von körperlichen und geistigen Leiden der
Geheimnis zu erlangen, welches zur Heilung des Patienten führt. Stammesmitglieder wird.8 Dorfbewohner, Heiler, und der gemein­
Bisweilen mag die Rückkehr vereitelt werden. Es wird verhindert, same quälende und die gesamte Nacht hindurch anhaltende Tanz
dass die sichere Zustellung all dessen, was beabsichtig ist, zurück­ in einem festgeformten Kreis, lassen gemeinsam das Num oder die
gebracht wird. In schamanischen Kulturen kommt Trancezuständen Hitze entstehen. Das Num ist die spirituelle Energie, die von jedem
dieser Art eine Schlüsselrolle zu. geteilt wird, obwohl die Tanzrituale oft bloß zum Wohlbefinden
In den nordindischen Dörfern wird der örtliche Heiler, so er eines kranken Stammesmitglieds veranstaltet werden. Dennoch
ein Muslim ist, Tabib, so er ein Hindu ist, Vede genannt. Während erhält auf diese Weise jeder einen Teil der heilenden Energie.
der Vede einerseits eine weit gefächerte Erfahrung darin besitzt Auf ähnliche Weise verbindet sich die Ausbildung der weisen
kranke Menschen zu behandeln, schöpft er anderseits sein Wissen Frauen im Stamm der Yurok-Indianer in Nord Kalifornien mit der Ein­
aus der langen medizinischen Lehrtradition der Veden, den vier führung in höhere Bewusstseinszustände in einer »süßen Herberge«.9
großen Büchern des bramanischen Hinduismus. Die Upanishaden Frauen, die traditionellen Heilerinnen dieses Stamms, würden beim
sind die höchsten philosophischen Lehren der Veden, welche die Eintreten in einen Trancezustand eine süße Herberge betreten und
Philosophie und Psychologie des Bewusstsein in den heiligen Texten würden so lange tanzen, bis sie in bestimmten Körperteilen Schmerz
durch spezielle Regeln in ihren medizinischen Texten unterlegen.6 verspürten. Stellten sich diese Schmerzen ein, tanzten die Frauen
Die Lehren der Veden kennen den Zustand des Wachens, den solange weiter bis selbst der Schmerz aufgehört habe. Ab diesen
Traumzustand im Schlaf, den Tiefenzustand, den Tiefschlaf ohne Zeitpunkt würden sie als die weisen Frauen bekannt sein, die sich
Träume und den Zustand des Überbewusstseins, der die Essenz genau mit der Stelle des Körper auskennen würden, an der ihr eige­
all dessen bildet, was eins mit dem höchsten Selbst ist. Diese ner Schmerz sich eingestellt habe. Mit ihrer eigenen neuentdeckten
Zustände werden in verschiedenen Maßen für die Heilung genutzt. Fähigkeit wären sie nun fähig den gleichen Schmerz bei anderen
Die tibetische Medizin beruft sich in ihrer Heilungstradition auf hinwegzunehmen. Denn sie hätten gelernt den eigenen Schmerz
zwei verschiedene Heilungsstränge. Zum einen bezieht sie sich auf in sich selbst zu finden und diesen in sich selbst zu überwinden.
den vedischen Hinduismus, zum anderen auf den traditionellen chi­ In der westlichen Kultur beheimatete Zuhörer sind mit den Hei­
nesischen Taoismus. Zusätzlich besitzt diese Heilungsrichtung noch lungsberichten des Neuen Testaments vertraut, jenen Heilungen,
eigene Quellen. Diese eigenen Quellen schreiben pflanzliche Mittel die durch Jesus durchgeführt wurden. Obschon es vereinzelte
und meditative Übungen vor. Solche Übungen gehen einher mit psy­ Hinweise im Alten Testament gibt, die auf geheimnisvolle Heilung
chosozialen Vorschriften. Jede von diesen Vorschriften ist zudem mit und die Auferstehung von Toten verweisen, sind doch die meisten
der Diagnose der Krankheit des Patienten verknüpft. Beide, sowohl Beispiele in den Evangelien des Neuen Testaments zu finden. Diese
die psychologischen als auch die physischen Heilungsmethoden, beschreiben hauptsächlich die Wunderheilungen Jesu. Über Jesus
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wurde gesagt, dass er Fieber verschwinden ließ und Leprakranke In all diesen Beispielen sind die Heilung und das Bewusstsein
heilte, Blinde sehend und Lahme gehend gemacht habe. Dass miteinander verbunden. Es ist eine merkwürdige Erscheinung des
er Männer, Frauen und Kinder vom Tode erweckt und Dämonen Abendlandes, dass nach der Trennung von Religion und Wissenschaft
ausgetrieben habe. Er vollführte seine Wunder an Einzelnen und und der Vermählung der Medizin mit der Wissenschaft, anderseits
Gruppen. Er behandelte jeden, der zu ihm gebracht wurde, und auch das Bewusstsein und die Heilung radikal geschieden wurden.
suchte zudem die aus der Menge Menschen aus, die er heilte. In Ferner war es so, dass die Methoden der rein körperlichen Heilung an
allen Fällen wurden die Heilungen durchgeführt, um das Bewusst­ Bedeutung zunahmen, während die spirituelle Dimension der Heilung
sein der Kranken durch den Glauben umzuformen, jedoch nicht nur bis vor kurzem völlig außen vor gelassen wurde. Es ist zu bemerken,
um die körperliche Gesundheit wiederherzustellen. Wenn sie nicht dass es eine schon sehr alte Idee ist, die gerade zentral für unsere
vor ihrer Heilung an die Kraft Christi glaubten, so erzählt uns die gegenwärtige Diskussion wird. Sie stellt vielleicht sogar für einige
Bibel, so taten sie es doch immer danach. unserer Leser eine Neuigkeit dar. Dennoch besteht diese Idee allein in
Eine wichtige Interpretation, die eine klare Verknüpfung der der Tatsache, dass Bewusstsein und Heilung tatsächlich miteinander
äußeren Heilung und der inneren Sprache des Bewusstseins vor­ verbunden sind und es zeigt sich, dass dies Faktum am besten im
nahm, ist in der Folge von Emanuel Swedenborg vorgenommen Zusammenhang mit einer auf das geistige Wachstum ausgerichte­
worden. Swedenborg glaubte, dass er eine spezielle Gabe von ten Psychologie der Selbstverwirklichung verstanden werden kann.
Gott erhalten habe, die ihn befähige mit ihm durch die Engel zu
kommunizieren, und auf diese Weise den geistigen Sinn der Schrift 2. Die Bedeutung des Leidens
auslegen zu können. Durch diese Gabe begriff Swedenborg, dass
Die Heilung beginnt mit der Heiligung der Neigungen. Dies schließt
die Worte der Bibel Symbole waren, die nicht auf physikalische oder
eine Umformung in unserem Wachzustand, dem weltlichen Bewusst­
historische Ereignisse der materiellen Welt verwiesen, sondern, dass
sie Symbole für die spirituelle Bewusstseinsumformung darstellten. sein, mit ein. In diesem Zustand der Umformung unserer Emotionen
Alle äußeren Geschehnisse waren demnach Thema einer inneren wird von dem Beginn an, wo wir der Außenwelt noch mit einer
spirituellen Interpretation. unbestimmten Glücks- oder Leidensempfindung begegnen, bis hin
Wenn wir Swedenborgs Interpretationsmethode verwenden, zu höheren Stufen des spirituellen Fühlens, das analytische Denken
bemerken wir, dass das unterschwellige Ziel der von Jesus vollzo­ beiseite gelassen. Eine physische Krankheit kann uns befähigen,
genen Heilungen darin bestand, die Geheilten und die Zeugen der unser Selbstmitleid in Dankbarkeit für unsere Wohltäter umzu­
Heilung (und in der weiteren Folge alle, die von diesen Wundern formen. Auch kann es in uns ein emphatisches Gefühl zu Jemanden
hörten oder diese Wunderberichte lasen) zu einer inneren Weitung entstehen lassen, den es noch schlimmer getroffen hat als uns.10
und zur Dominanz des spirituellen Bewusstseins zu verhelfen, das den Schmerz kann ertragen werden, wenn wir lernen uns auf ein höheres
meisten Menschen im Wachzustand verschlossen bleibt. Als ein von Ziel zu konzentrieren. Jeder kann miterleben, dass eine positive
Geburt an blinder Mann zu Jesus kam, spuckte Jesus auf den Boden, Einstellung zu einer Operation eine rasche, gleichsam wundersame
mischte die Erde mit seinem Speichel und bestrich des Menschen Erholung nach sich ziehen kann. Anderseits kann Negativität und
Augen mit diesem Gemisch. Darauf sagte er dem Mann er solle Pessimismus auf Seiten des Patienten oftmals mit Komplikationen
fortgehen und sich im Wasser reinigen. Als der Mann dies tat, erfuhr im Heilungsverlauf sowie mit einer geringeren Abwehrfähigkeit
er Jesu Zeichen zum ersten Mal. Gemäß dieser Episode habe der vor­ gegenüber Infektionen einhergehen, die zu häufigeren Klagen und
malig Blinde jedoch nicht nur seine körperliche Sehfähigkeit zurück­ zu schlechteren Ergebnissen führen.
erhalten, sondern er wurde zudem, der Analyse der inneren Bedeu­ Ähnlich verhält es sich mit dem spirituellen Sinn. Irdische Liebe
tung folgend, Zeuge einer Vision des inneren spirituellen Lebens. kann in himmlische Empathie umgeleitet werden. Gefühle für oder
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wider eine Person oder Gruppe können in Gleichmut verwandelt konzentriert sich auf eine Veränderung des eigenen Bewusstseinszu­
werden. Auf diese Art können die Emotionen zur Förderung der spi­ stands, um die Möglichkeit der spirituellen Überhöhung des Leides
rituellen Entwicklung beitragen, statt zu Hindernissen zu werden. zu erreichen. Obschon diese Zustandsveränderung durch Medita­
Ich nehme hier einmal die Umwandlung des Leides als Beispiel. tion erlangt wird, meint der Begriff im Buddhismus aber etwas völlig
Dieser Leitgedanke ließ sich z.B. beim verehrungswürdigen Lama anderes, als was ähnlich lautende Techniken westlicher Herkunft
Anagarika Govinda, einem deutschstämmigen Theravada Mönchs, durch Versenkung erreichen wollen. Anderseits betont aber auch
der zuvor die tibetische Vajrayana-Tradition studiert hatte, finden.11 das Christentum die Beziehung zwischen dem Gebet des Einzelnen
Govinda kam in jenem Frühjahr des Jahres 1973 zur Perkins School und einer höheren Kraft.
of Theology, als ich mich gerade in meinem letzten Semester Trotz dieser Unterschiede griff Govinda direkt auf die Erfah­
befand. Er gab dort einen Kurs über die historische und spirituelle rungen seiner Zuhörer zurück, indem er eine Atmosphäre des
Entwicklung des Buddhismus, was aus verschiedenen Gründen eine Wandels erreichte, die den gesamten Hörsaal zu durchdringen
besondere Erfahrung darstellte. schien. Einige begriffen sein Thema allein durch den Verstand,
Zunächst einmal ist die Perkins School of Theology eine konser­ andere fühlten sich an eigene persönliche Erfahrungen erinnert.
vative methodistische Institution, die es sich zur Aufgabe gemacht Wieder andere wurden von dem müßigen Versuch geheilt, den
hat, Geistliche der verschiedensten Art für die Predigtarbeit in der Buddhismus allein durch seine Meditationstechniken begreifen
christlichen Mission auszubilden. Die Tatsache, dass zum ersten Mal zu wollen, sondern erfuhren, um es im hinduistischen Sinne zu
ein ordinierter buddhistischer Mönch eingeladen und als Kursleiter sagen, das Darshan. Dies bedeutet zum einen die buddhistischen
eingesetzt wurde, bedeutete sowohl für die gesamte theologische Lehren zu vernehmen, zum anderen aber auch völlig vom Sein
Einrichtung als auch für die Studenten der Southern Methodist eines Menschen durchdrungen zu werden, der vom Buddhismus
University, denn das College war der theologischen Einrichtung erfüllt ist. Der Begriff Darshan meint aber zudem auch einfach nur
angegliedert, eine völlige Neuheit. Govindas Anwesenheit bot die gegenwärtig zu sein, wenn die buddhistischen Lehren ihre heilende
Möglichkeit eines einmaligen Dialogs zwischen den ortsansässigen Wirkung entfalten.
Theologen, die für gewöhnlich nicht in Kontakt mit Anhängern Das Leid und die Möglichkeit seiner Überwindung waren die
fernöstlicher Religionen kamen, und den Schülern und Praktikern zentralen Themen von Govindas Botschaft über den Buddhismus.
des Buddhismus. Nun hatten die Theologen reichlich Gelegenheit Die Sichtweise des Buddhismus ist, dass die Menschen dem Leid
dazu diesen Dialog zu suchen, denn Govinda hatte einen Teil seiner nicht entkommen können. Die klassischen Theravada-Texte betonen
Anhänger für die Zeit seines einjährigen Aufenthaltes ebenfalls ins diesen Punkt anhand der Geschichte einer Mutter, die sich Buddha
Institut mitgenommen. und seinen Schülern näherte. Die Mutter flehte Buddha an, ihrerseits
Zweitens war Govinda ein westlicher Vermittler der östlichen ein erleuchtetes Wesen zu werden und ihr das Leid und die Qual
Tradition. Govinda war ein »Europäer«, der die für den Buddhismus zu nehmen, die sie durch den Tod ihres geliebten Sohnes erfahren
erforderlichen Sprachen des Pali und Sanskrit beherrschte und der hatte. Immer und immer wieder bat sie Buddha sie doch von ihrem
die Praxis der buddhistischen Meditation so stark verinnerlicht hatte, Schmerz zu befreien. Der Buddha antwortete ihr, dass bevor die
dass er selbst von den Buddhisten als einer der Ihren anerkannt wurde. Qual verschwinden könne, sie eine Aufgabe zu lösen hätte. Er bat
Drittens war Govindas Besuch aber auch wichtig, da der Bud­ die Frau, sie möge durch die Stadt ziehen und an jede Tür klopfen
dhismus zunächst einmal eine nicht-theistische Religion darstellt und jenen Menschen ausfindig machen, der noch nie den Verlust
und Govinda von daher nicht über unsere klassisch theistische einer geliebten Person erfahren habe.
Religionsvorstellung sprechen musste, sondern über eine spiritu­ Die Frau eilte davon und kam einige Tage später als gewandel­
elle Psychologie sprechen konnte. Die buddhistische Psychologie ter Mensch zurück. Ihr Versuch war fehlgeschlagen. Sie war nicht
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fähig gewesen auch nur eine einzige Person ausfindig zu machen, dass es auch in der christlichen Theologie eine Fülle an Analogien
dessen Leben ohne den Schmerz über den Verlust eines geliebten zum Thema universelles Leid gebe. Ich zog den Schluss, dass die
Menschen verlaufen wäre. Tatsächlich sogar nahmen von Tür zu Analogie mit dem höchsten Symbolwert die Kreuzigung und Auf­
Tür die Berichte über die Verletzungen und die Verzweiflung zu. erstehung Jesu sei. Die Leidensgeschichte Jesu lässt sich in Gestalt
Schlussendlich aber begriff die Frau anhand dessen ein elementares des Kreuzwegs in jeder katholischen Kirche finden. Die Geschichte
Gesetz menschlicher Natur: Es gibt keinen einzigen Menschen, der seines Martyriums wird hier auf 14 Stationen dargestellt. Zudem
des Leides ledig ist. Tatsächlich teilen die meisten Menschen sogar können wir die schauspielerische Verkörperung dieses Kreuzwegs
das gleiche Schicksal wie du selbst. In dem Moment, als sie begriff, durch gläubige Christen an jedem Karfreitag in den Straßen von
dass sie nicht allein war, verringerte sich ihr Leid. Jerusalem miterleben. Auf einer der regelmäßig wiederkehrenden
Die Lehre, die wir hieraus ziehen können, ist die, dass wir die Wallfahrten zu der alten Kathedrale von Nantes bot sich mir die
Erfahrung unseres Leidens nicht als einzigartig und uns allein zuge­ Möglichkeit, die künstlerische Sichtweise der 14 Stationen zu
hörig begreifen sollten. Wir meinen: Wie es tief in uns aussieht, könne betrachten. In dieser regelmäßig wiederholten Serie wird Jesus von
niemand weiter wissen als wir selbst. Da aber niemand die gleiche einem der Seinen verraten, versucht und verurteilt, sowie öffentlich
Erfahrung gemacht haben könne, ist es nur ein kleiner Schritt daher erniedrigt, indem er sein eigenes Kreuz durch die Stadt zu tragen hat
zu folgern, dass auch niemand das gleiche Leid erlebt haben könne. und schließlich das langsame Sterben am Kreuz durchleben muss.
Dringen wir jedoch tiefer vor, stoßen wir auf die gleiche Erfahrung, Die letzte Station bildet die Grablegung. Traditionellerweise gibt es
die einst die Frau erfuhr, dass nämlich niemand, gleich ob reich oder keine bildliche Darstellung der Auferstehung. Die Betonung liegt
arm, gebildet oder unwissend, dem Stachel von Krankheit und Tod allein auf dem Leiden am Kreuz. Wir können diese Betonung auch
entkommen kann. Jeder vermag uns einen schmerzhaften Bericht deutlich an der Darstellung Jesu auf den holzgeschnitzten Altären
über den Verlust eines geliebten Mensch zu geben. Mal ist es der kalifornischer Missionen betrachten. Diese Altäre sind von zum
Tod eines Kindes; dann ist es ein Mensch dem wir uns 50 oder 60 Katholizismus bekehrten amerikanischen Indianern bis ins kleinste
Jahre lang verbunden fühlten, und bei noch einem anderen ist es der Detail hinein gestaltet worden.
Tod der Mutter oder des Vaters. Die einzelnen Details unterscheiden Während diese starke Betonung der Kreuzigung Jesu immer
sich, aber in einem größeren Rahmen der Geschehnisse betrachtet, wieder eine prinzipielle Kritik am Katholizismus hervorgerufen hat,
durchlebt jeder früher oder später die gleiche Erfahrung. betonen Katholiken ihrerseits, dass das Leiden Jesu geschildert werde,
Die andere wichtige Weisheit, die wir dieser Begebenheit um eine Dankbarkeit gegenüber Jesus zu erzeugen, dass er sein
ent­nehmen können, ist die der Selbstverwirklichung. Das Leid Leben zur Vergebung unserer Sünden hingegeben habe. Dadurch
der Frau wich, als sie begriff, dass sie nicht allein und isoliert war. sei es uns möglich, uns bis zu einem gewissen Maße emotional
Wir können uns lebhaft vorstellen, wie sie von Tür zu Tür geht mit dem Leid Jesu zu verbinden. Wir könnten das Maß des Opfers
und dem Leid der Anderen beiwohnt und damit ihren eigenen ersehen, das ein Mensch in unserem Namen auf sich genommen
Bedürfnissen entgegenkommt. Den Anderen beim Erzählen ihrer habe. Daraus folgen zahlreiche moralische Konsequenzen. Anderen
Nöte zuzuhören führt uns selbst nicht nur aus uns heraus und zu vergeben und die Selbstaufopferung im Namen von höheren
trägt uns in die weitere Wirklichkeit der menschlichen Bezie­ Prinzipien sind nur zwei der Tugenden, die durch eine Versenkung
hungen hinein, sondern wandelt unsere Gefühle vom Grad der in das Leid Jesu erlernt werden könnten.
Selbstbezogenheit zu einer universellen Erfahrung des Gleichmuts Es ist nicht notwendig Katholik zu sein, um die spirituelle Bedeu­
und der Empathie um. tung des Leidens, wie sie in diesem Motiv zum Ausdruck kommt,
Dieser Bericht der Frau, aus buddhistischer Perspektive erzählt, schätzen zu lernen. Obschon ich für meinen Teil kein Katholik bin,
brachte Govindas theologische Zuhörerschaft dazu festzustellen, habe ich ein sehr großes Kreuz an einer Wand meines Hauses hän­
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gen. Es hängt dort als Erinnerung an ein Ereignis meiner frühen ich in diesem Fall, dass mich niemand hörte. Durch diese Erfahrung
Jugend in dem ich das Erwachen des Numinosen bei der Erfahrung nahm ich nun auch den Raum um mein Bett herum anders wahr.
des Leids zum ersten Mal erfuhr.12 Es schien, als ob die ganze Atmosphäre mit mildem Licht erfüllt
Das Erlebnis spielte sich im typischen familiären Rahmen gewesen wäre. Ich erinnere mich, dass, wie ich da im Bett lag, eine
eines US-amerikanischen Mittelschichthaushalts ab. Ich war um gekreuzigte Gestalt über und hinter mir wahrnahm, so als ob die
die sieben Jahre alt und mitten in der Zeit des Terrors, den ein Figur irgendwie mit dem Nachttisch verschmolzen wäre. Wie dies,
Junge in diesem Alter so anrichten kann. Ich wollte, nachdem ich während ich schluchzte, alles so sachte vor sich ging, erfüllte mich
schon ins Bett gebracht und das Licht gelöscht worden war, dass auf einmal eine große Zuneigung zu der Gestalt des Gekreuzigten
meine Eltern wieder zurückkommen sollten. Ich erinnere mich, und ich erfuhr das heroische Gefühl von Selbstaufopferung. Die
dass meine erste Masche war nach meinen Eltern zu rufen, die am Erklärung, die mir noch aus der Sonntagsschule über dieses Ereignis
anderen Ende des Flurs schliefen und deren Tür verschlossen war. in Erinnerung geblieben war, besagte, dass dieses Geschehen zu
Tatsächlich stand meine Mutter in diesem Moment vor der Tür. irgendeinem höheren spirituellen Zweck stattgefunden habe. Worin
Sie blieb aber nicht, sondern steckte nur den Kopf zur Tür herein. jedoch dieser Zweck bestanden habe, hatte ich eigentlich nicht ver­
Sie versicherte mir, dass alles in Ordnung sei und ich bald schlafen standen. Dann verspürte ich eine Leere und versank sogleich in Schlaf.
würde. Da ich damit keineswegs zufrieden war, wiederholte ich Diese Vision hat sich vor nun fast fünfzig Jahren ereignet und
das Schreien noch ein paar Mal. Diesmal aber brachte es nicht den doch sehe ich sie immer noch so lebendig wie in der ersten Nacht
gewünschten Erfolg. vor mir. Ich bringe diese Erfahrung nicht mit dem Katholizismus oder
Ich erinnere mich, dass ich dachte, dass – hörten sie mich nur irgendeiner anderen christlichen Strömung in Verbindung, sondern
lange genug schreien – einer von ihnen schon auftauchen würde, betrachte sie lediglich als ein einschneidendes Ereignis meiner eige­
um länger bei mir zu bleiben. Ein weiteres Problem bestand für mich nen inneren spirituellen Entwicklung. Mehr als zwanzig Jahre später,
darin, dass ich mich nicht bewusst zum Weinen bringen konnte. Ich als ich zu meinen Eltern reiste, hielt ich an einem abseits gelegenen
versuchte an etwas zu denken, das mich traurig machte. Dabei hatte Platz, an dem sich ein alter Antiquitätenladen befand. Hinter einer
ich die Hoffnung, dass ich darüber schon traurig genug werden Reihe an Möbeln, die ich zur Seite schob, stieß ich auf ein hölzernes
würde um loszuheulen. Ich versuchte zwei oder dreimal erfolglos Kruzifix, das mich an meine Vision erinnerte. Der Ladenbesitzer
über traurige Dinge nachzudenken, die aber nicht ausreichten mich meinte, es entstammte einer nahegelegenen Methodistenkirche, die
zum Weinen zu bringen. Dann aber dachte ich ganz fest an das nun ihre Pforten geschlossen habe. In den ein, zwei Jahren, die er
Bild einer Kreuzigung. Je länger ich mir die hängenden Körperteile dies Kreuz nun schon besitze, habe sich noch kein einziger dafür
vorstellte: die Glieder, die bluteten, wie die Hände und Füße, durch interessiert. Er meinte, es müsse noch etwas restauriert werden,
welche die Nägel getrieben worden waren, die spottenden Wächter, und gab es mir deshalb für ein paar Dollar. Ich nahm das Kruzifix
die ihren Speer in die Seite stießen, die Stirn, aus der das Blut wegen mit nach Hause, reparierte es und hängte es an die Wand, damit es
der Dornenkrone tropfte, um so mehr fühlte ich mich tatsächlich meine äußere Aufmerksamkeit beständig auf meine innere Erfahrung
abgestoßen und krank. Ich versuchte mich zu erinnern, warum diese lenken solle.
Strafe gegen einen Menschen verhängt wurde. Ein großer Wider­ Erst kürzlich, als ich an dem arbeitete, was ich selbst als die
wille und ein Gefühl für die Ungerechtigkeit stieg in mir hoch. Auf Geschichte der amerikanischen visionären Traditionen bezeichnet
der anderen Seite fühlte ich mich hilflos, da ich der Gestalt meiner habe, las ich, dass der charismatische evangelische Geistliche Frank
Vorstellung nicht aus ihrem Leid heraushelfen konnte. Buchman, Begründer der Oxford Gruppen, im Jahre 1914 eine ganz
An dieser Stelle setzte in mir ein auffälliger Wandel ein. Ich ähnliche Vision erfahren haben soll.13 Buchman hielt gerade eine
begann tatsächlich zu weinen. Doch zu meinem Erstaunen wollte Vorlesungsreihe über die Auferstehung als er jene Kreuzesvision
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erfuhr, die ihn schließlich dazu bewegte die Oxford-Gruppen ins durchleben auf der Couch manchmal längst vergessene emotionale
Leben zu rufen.14 Diese wurden bald zu einer weltweit agierenden Traumata noch einmal. Wir fügen diese Erfahrungen zwecks seelischer
spirituellen Bewegung, die später als »moralische Aufrüstung« Genesung wieder in den Wachzustand ein. Diese Form der Selbster­
bezeichnet wurde. Eine der größten Weiterentwicklungen dieser kenntnis erfüllt in der Psychotherapie eine ähnliche Funktion wie die
Strömung sind die 1930 gegründeten »Anonymen Alkoholiker«, des Beichtsakraments in der katholischen Kirche und die Vergebung
die sich mit ihrem 12 Punkte-Programm zum Prototyp der amerika­ der Sünden während des Gottesdienstes. Selbst die Ziele gewisser
nischen Selbsthilfegruppen entwickelt haben. Therapieformen, so zum Beispiel die von C.G. Jung oder die der
Die andere Seite des Leidens Jesu ist die Wiederauferstehung, die amerikanischen Transpersonalisten wie Stanislav Grof, sind bewusst
einen der zentralen Glaubenssätze im Christentum bildet. Der Glaube in einer Sprache gehalten, welche aus diesen Therapieansätzen spi­
an dieses Ereignis markiert die große Trennungslinie zwischen Altem rituelle Wege zu machen versucht. Deren Hauptziel besteht darin,
und Neuem Testament. Es gibt eine Fülle an theologischer Literatur Bewusstseinszustände jenseits des gewöhnlichen Wachzustands zu
zur Auferstehung. Im Katholizismus wird dieses Ereignis sogar als erstes erreichen.16 Der Patient wird ermutigt besonders die Bewusstsein­
der »fünf glorreichen Mysterien« betrachtet. Tatsächlich enden, wie zustände zu fördern, die im konzeptionellen Rahmen dieser Behand­
mir auf meiner Reise durch Nantes bewusst wurde, die 14 Stationen lungen, als spirituellere Zustände gegenüber dem gewöhnlichen
des Kreuzwegs mit der Grablegung. Nun jedoch ist den Kirchen auf­ Wachzustand betrachtet werden. In der Transpersonalen Psychologie
grund des neuen Katechismus erlaubt, den 14 Stationen noch eine wird daher angenommen, dass wir durch die Erfahrung der Transzen­
15. hinzuzufügen, die Jesu Auferstehung von den Toten zeigt. denz tatsächlich geheilt werden.
C.G. Jung hat darauf hingewiesen, dass sich im Abendland die Ein bewegendes Beispiel für eine transzendentale Form der
Auferstehung zum weltlichen Ziel der Bewusstwerdung gewandelt Psychotherapie ist die Logotherapie von Victor E. Frankl.17 Frankl,
habe.15 Psychologisch betrachtet hätten wir zwar die Wissenschaft eine Wiener Jude und als Arzt in der Technik der Psychoanalyse
von der Religion getrennt, doch hätten wir gleichzeitig die spirituelle ausgebildet, überlebte im 2. Weltkrieg die Vernichtungslager der
Idee der Auferstehung in eine Psychologie der Persönlichkeitsent­ Nazis. In diesen Lagern erfuhr er unvorstellbare Leiden, die niemand
wicklung umgewandelt. Jung nimmt an, dass in dieser Sphäre des begreifen kann, der Auschwitz nicht selber durchlebt hat. Gleichzei­
psychologischen Bewusstseins das therapeutische Heilen einsetze. tig jedoch konnte er auch wahrem Heldentum, unerwarteter Größe
Die Transzendenz, die Erfahrung des Übergangs von einem sowie den tiefsten menschlichen Gefühlen begegnen. Im Angesicht
niederen Zustand des Leidens in einen höheren Zustand der Gnade, des Todes und an einem Ort, an dem die maschinelle Tötung und das
wird heute mit Fortschritt gleichgesetzt. Wir unterziehen uns Leid zur Alltäglichkeit wurden, fanden dennoch Geschehnisse statt,
bestimmten »Läuterungen« um bessere Menschen zu werden. Wir die Frankl allein mit dem Begriff »geistig« zu beschreiben vermag.
halten Diät, wir arbeiten hart an uns selbst, wir erwerben Wissen, das Frankl bemerkte, dass es bisweilen der menschenverachtendsten
uns wandelt. Überall um uns herum werden wir aufgefordert, uns Umgebung bedürfe, um die Möglichkeit zu schaffen das Höchste
zu bessern. Im weltlichen Sprachgebrauch sind diese Versuche für und Edelste hervorzubringen. Manchmal konnte diese Größe nur
Jung Ausdruck der Säkularisierung des Christentums, insbesondere darin bestehen ein Stück Brot zu verschenken, das versteckt worden
in seiner protestantischen Ausprägung. war; manchmal war es ein größeres Opfer, wenn ein Häftling für
Ein anderes Beispiel der Umformung einer religiösen Idee in einen anderen in die Gaskammern ging.
eine säkulare, ist das Bekenntnis. Im modernen Sprachgebrauch hat Frankl überlebte die Todeslager als gewandelter Mensch. In
sich das konfessionelle Kirchenbekenntnis zu einer der weltlichen seiner Erfahrung klingt mehr nach als jene psychoanalytische Aus­
Grundlagen für die Psychotherapie umgeformt. Wir enthüllen dem bildung, die er als junger Arzt durch die Theorien Sigmund Freuds
Therapeuten die verborgenen Sehnsüchte unseres Unbewussten und vermittelt bekam. So verwundert es nicht, dass sich Frankl, nachdem
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er die Vernichtungslager durchlebt hatte, zum Existenzialisten wan­ Doch betont Frankl ebenso, dass sich uns der Sinn auch durch
delte. Er erweiterte seine Theorie um das Unbekannte, stellte sich die Belebung der Werte erschließen könne. Jeder von uns habe Ideale
dem Abgrund menschlicher Erfahrung und kam zurück um davon zu und Ziele, nach denen er strebe. Oder er besitze eine Vorstellung
berichten. Er nannte seine neue Form der Psychotherapie »Logothe­ davon, was er erreichen oder werden möchte. Jeder habe Fragen, die
rapie«. Die Logotherapie sollte nach eigenem Bekunden keine Thera­ er stellen möchte, oder die Neigung, an liebgewonnenen Begrün­
pie für den Geist oder Körper sein, sondern sie sollte der Seele helfen. dungen festzuhalten. Diese Werte mittels unseres eigenen Handelns
In seinem klassischen Werk »Der Mensch auf der Suche nach zum Leben zu bringen, sei eine der höchsten Erfahrungen des Men­
Sinn« schreibt Frankl, dass für ihn im Finden des »Sinns« die höchste schen. Beispiele dafür könnten sein: Ein junger Athlet gewinnt eine
menschliche Erfüllung bestehe. Die meisten Menschen strebten nach Goldmedaille oder eine ältere Studentin, 40–50, holt ihren College-
Vergnügen und fänden es nie. Andere schauten auf die Erfüllung Abschluss nach. Es könnte auch der erste Schritt auf den Mond sein
ihrer Wünsche, strebten nach Anerkennung ihrer geistigen Leistung oder der erste Schritt nach einem schweren Autounfall. Diese Arten
oder suchten den materiellen Wohlstand. Nichts jedoch übertreffe der Erfahrung können Menschen einen Sinn im Leben vermitteln. Sie
die Qualität des Sinns. So wir einen Sinn im Leben fänden, wüssten lassen ihr eigenes Herz höher schlagen, und manchmal kann in sol­
wir, warum wir selbst unter den schlimmsten Umständen überleben chen Momenten auch eine ganze Nation mitfiebern. Sie stellen einen
sollten. Hätten wir diesen Sinn, könnten wir zu unserem Sein ste­ Kontakt zum scheinbar Unerreichbaren dar und eröffnen dem Rest
hen, ganz gleich wie schrecklich oder leidvoll das Leben auch sei. So von uns neue Horizonte. Über Tausende von Jahren, bevor Edmund
wir einen Sinn besäßen, würden wir von Glück erfüllt. Dieses Glück Hillary und Tenzing Norgay den Mount Everest bestiegen, hatte nie
käme häufig ungebeten und in Form größter Opfer, doch käme einer zuvor den höchsten Gipfel der Welt erreicht. Nachdem den
es als Segen, da es sich nun als Begleiterscheinung unseres Lebens beiden die Besteigung 1953 gelang, wird nun der Berg jedes Jahr
zeige und nicht als Ziel unserer Handlungen und unseres Denkens. von Menschen erklommen.
Frankls Erfahrungen in den Vernichtungslagern und seine nach­ Doch gibt es neben den sichtbaren Leistungen noch eine
folgenden Begegnungen mit seinen Patienten zeigten ihm, dass die andere Möglichkeit Werte zu beleben. Ich erinnere mich an einen
Sinngebung auf zwei Wegen erfolge. Der erste Weg geschehe durch Artikel im Readers Digest mit dem Titel: »Tue Gutes auf schlaue Art«,
Leiden. Übergroßes Leid, unendlicher Schmerz und eine beständige der mich in jungen Jahren sehr beeindruckte. Der Autor betonte,
Qual lasse uns die Frage stellen, warum dies gerade uns geschehe. dass es den meisten von uns nie in den Sinn käme, Gutes zu tun,
Aufgrund der Bedingungen könnten wir dann zwei Lehren ziehen. ohne dafür Geld oder eine Belohnung zu erhalten. Doch gebe es
Zum einen: Wir geben auf, da wir nicht mehr können und keinen eine Welt unaussprechlicher Größe, die außerhalb unserer eigenen
Grund sehen weiterzumachen. Zum anderen: Der menschliche Welt bestehe. So wir diesem Universum etwas Namenloses gäben,
Geist besitzt eine besondere Qualität, nämlich dass wir selbst in der würde es auf zehnfache Weise wieder zu uns zurückfinden.
unbedeutendsten Idee einen Sinn erfahren können und die Stärke Diesem Ansatz folgend sind dies alle Gedanken, Worte und Taten,
aufbrächten auszuhalten was uns bedränge. Manchmal kann die die nicht unser eigen sind. Ein solches Fehlen des eigenen – und dies
Sinngebung an einem vermeintlich sinnlosen Ort einfach nur im geschieht fast immer unbemerkt – mache die Welt besser. Es ist das
Leben selbst bestehen. Dies ist dann der entscheidende Unter­ Fehlen des Lärms, es ist das Fehlen der Preisgabe zur Lächerlichkeit,
schied zwischen dem, der lebt, und jenem, der stirbt. Gewiss ist es ist das Fehlen von krankhafter Kritik. Es ist allein das ziellose Wirken
derjenige mit einer Hoffnung eher als der ohne Hoffnung jemand, des reinen Seins, in dem es keinen technischen Verstand, keine Hab­
der die Waagschale zugunsten des Lebens auszubalancieren weiß, gier, keine Trägheit, und keine vorgeformten Lehrpfade mehr gibt.
besonders dort wo der menschliche Wille und die Durchhaltekraft In jedem Fall ist es Frankls Verdienst, darauf verwiesen zu
gefordert sind. haben, dass, wenn die Belebung der Werte sich zuerst über das
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Leiden vollziehe, die Menschen lernen würden, auch schwierige danach kollabieren wir im Regelfall. Wie Frankl zeigte, kann selbst
Wege zu beschreiten. Es ginge darum, das Höchste in uns zum extremes Leid ein Mittel zur Transzendenz sein. Dieses Mittel hängt
Leben zu erwecken und sich zu verdeutlichen, dass das Erlangen von der Einstellung ab, die wir zur Krankheit einnehmen und wir
großer Weisheiten und außergewöhnlicher Leistungen eine Kraft­ bezeichnen diese Fähigkeit als Ertragen.
quelle bedeutet, die uns gegen die beständig anbrandenden Wellen Auf Grund dessen nimmt Swedenborg an, dass alle Ereignisse
des Leids schützt. Ein paar von uns haben das Privileg oder die der natürlichen Welt darauf zielen, uns das Geistige zu zeigen.18 Dies
Möglichkeit ihr Leben schmerzfrei verlaufen zu lassen. Tatsächlich sei der Fall, da die natürliche Welt eine Ableitung der geistigen Welt
führen die Begleiter der menschlichen Natur, Trägheit und Lethar­ sei, nicht aber die geistige Welt eine Ableitung der natürlichen Welt
gie dazu, dass die Mehrzahl der Erfahrungen uns aus der Bahn darstelle. Die moderne Wissenschaft jedoch versucht uns weiszu­
werfen wird und wir Wege finden müssen Gefahren überwinden machen, dass die natürliche Welt das einzig wirklich Bestehende ist.
zu können. In diesem Sinne wäre Utopia eine Welt in der wir lernen Die Vorstellungen von Gott, Himmel oder geistigen Wirklichkeiten
könnten, sinnvoll im voraus zu denken, anstatt dass wir ständig seien nur einfache Ergebnisse des menschlichen Geistes. Bei den
die bitteren Lehren der Vergangenheit in Betracht ziehen müssten. wohlmeinenden unter den Wissenschaftlern sind sie im besten Fall
Während einerseits keiner frei von Leid ist, scheint andererseits Ausdruck der Phantasie oder der Vorstellung. Dieser Ansicht folgend
das menschliche Bewusstsein die Fähigkeit zu besitzen, sich von kämen wir zu der Auffassung, dass das Geistige eine Ableitung des
schmerzlichen Erfahrungen lösen zu können. Als Beispiel sei hier der Natürlichen sei. Swedenborg hingegen behauptet, dass tatsächlich
Fall eines amerikanischen Gefangenen angeführt, der sich während das Gegenteil der Fall sei. Das Geistige drücke sich durch jeden
des Korea-Krieges in einem chinesischen Gefängnis befand. Später Aspekt der Natur aus und stehe in genauer Entsprechung zu diesem
vom American Public Radio interviewt, berichtete der Soldat von Aspekt. Demnach entspräche alles in der Natur jedem Aspekt im
seiner Angst, wenn er die vermeintlichen Schreie von Soldaten aus Leben der Seele.
einem anderen Gefängnistrakt hörte. Er nahm zunächst an, er sei Ein Beispiel für das Entsprechungsprinzip vermag uns die
durch Geräusche in seiner eigenen Zelle aus dem Schlaf gerissen Homöopathie zu vermitteln. Diese Form der alternativen Medizin
worden. Einen Moment später erst habe er begriffen, dass er selbst wurde vom Beginn des 19. Jahrhunderts an bis zu dessen Hälfte von
es war, der gefoltert wurde, und er selber derjenige war, der schrie. breiten Bevölkerungsschichten der Vereinigten Staaten praktiziert.
Es scheint sich hier offensichtlich um einen Schutzmechanismus Heute feiert diese Heilkunst in der amerikanischen Alternativkultur
gehandelt zu haben. Über einen gewissen Zeitraum kann uns die fröhliche Urständ.19 Ursprünglich vom deutschen Arzt Samuel
Entpersonalisierung helfen, uns vor beständiger Qual zu schützen. Hahnemann im späten 18. Jahrhundert ins Leben gerufen, behan­
Das Bewusstsein vermag sich ferner den steigenden Graden delte die Homöopathie Symptome dadurch, dass die winzige Dosis
von Leiden und Qualen anzupassen. Hier verhält es sich ebenso wie eines pflanzlichen Substrats verabreicht wurde, das im kleinen
bei einem Body Builder oder einem Soldaten, der sich auf extreme die bestehenden Symptome des Patienten nachahmen sollte. Die
physische Prozeduren einstellen kann, welche für die meisten von Dosierung ging auf Hahnemanns Lehre der winzigen Teile zurück,
uns schon jenseits der Belastungsgrenze liegen würden. Oder einmal die behauptete, dass größere Abschwächungen einer Substanz eine
angenommen, wir befinden uns in der Situation, einen Menschen stärkere Wirkung auf den geistigen Körper des Menschen ausübten.
aus höchster Not retten zu müssen. In dieser Lage mobilisieren wir Im geistigen Körper sei die wahre Quelle der Krankheit zu suchen.
die letzten Kraftreserven, die es uns für einen Moment erlauben, Für Hahnemann bedeutete eine Behandlung des geistigen Körpers
unser eigenes gebrochenes Bein oder unsere Schusswunde oder damit einhergehend auch die Erholung des physischen Leibes.
eiskaltes Wasser, in dem wir selber gerade schwimmen, solange Wider alle medizinische Vernunft nahm Hahnemann an,
zu vergessen, bis wir die andere Person in Sicherheit wissen. Erst dass die belebende Funktion einer Arznei dadurch zu erreichen
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sei, dass sie bis auf das Winzigste zerteilt werde. Wie er in seinem Gelehrter in die USA. Die Glaubwürdigkeit der neuen Lehre konnte
»Organon der Medizin« behauptete, sei die feinste Wirkung des nun anhand Grams erster in englischer Sprache verfassten Abhand­
Medikaments in ihrer Heilkraft am höchsten, besäße eine geistige lung über das Thema »Zehn Merkmale der Homöopathie«, überprüft
Potenz. Hahnemann glaubte nämlich, dass nur mittels des geistigen werden. Genau betrachtet stellte diese Schrift aber lediglich eine fast
Einflusses eines krankhaften Agens unsere geistige und vitale Kraft unlesbare Übersetzung eines Hahnemannschen Essays dar. Gram
erkranke. Folglich könne auch die Gesundheit nur auf ähnliche Weise praktizierte die Homöopathie zunächst in einem kleinen Kreis von
durch eine geistige Wirkung der Medizin zurückerlangt werden. Bekannten, denen gemein war, dass es sich um Swedenborgianer
Es sind leichte Zweifel angebracht, dass sein Gesetz der Hei­ handelte. Diese frühzeitige Verknüpfung zog eine wichtige Konse­
lung, das eine Form des Glaubens darstellte, sowohl von ihm als quenz nach sich: Die Verbreitung des Swedenborgianismus und der
Arzt als auch von seinen Patienten gleichermaßen geteilt wurde. Homöopathie gingen in den USA Hand in Hand. Die Gründerväter
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, dürften auch die Selbstheilungs­ der medizinischen Colleges, die sich nun in Philadelphia, Cincinnati,
kräfte seiner Patienten einen wichtigen Teil zur Heilung beigetragen Boston und andernorts zu entwickeln begannen, waren häufig ein­
haben. Es steht aber außer Frage, dass Hahnemann sich der Bedeu­ geschriebene Mitglieder der »Neuen Kirche«. Die Hauptdrogisten
tung der psychologischen Faktoren durchaus bewusst war. Daher der Homöopathie in dieser Zeit – namentlich Boericke und Tafel
verwundert es auch nicht, dass der junge Hahnemann zu Beginn in Philadelphia sowie Otis Clap in Boston – waren zugleich die
seiner medizinischen Laufbahn Leiter eines deutschen Sanatoriums Hauptverteilungszentren der Swedenborg-Literatur in den Verei­
für Nervenkranke wurde. nigten Staaten. Schlussendlich aber nahm die homöopathische
Die Homöopathie als medizinische Bewegung hat in dieser Zeit Bewegung einen Verlauf, der mit den ursprünglich Swedenborg­
eine Reihe wichtiger Veränderungen erfahren. Der Ansatz wandelte schen Ideen nichts mehr gemein hatte. Dies gilt zum Beispiel für die
sich: Von der vorherrschenden Auffassung, dass die allopathischen Entsprechungslehre.
Mittel eine Wunderarznei seien, kam es zu einem Trend hin zum Wenn wir allerdings eine Sichtung der zeitgenössischen Lite­
Gebrauch der verringerten Dosis der Arzneien, die verabreicht ratur über alternative Therapieformen zu Rate ziehen, findet sich
wurde, um der Krankheit beizukommen. Die einflussreichste Bewe­ keinerlei Erwähnung der Verbindung von Swedenborgs psycho­
gung sprach sich für den medizinischen Vorgang einer Impfung spiritueller Philosophie mit der homöopathischen Medizin mehr.
aus, die deutlich den epidemischen Verlauf zahlreicher bösartiger Weder wird sich dort auf das Entsprechungsprinzip zwischen
Krankheiten veränderte. Als Gegenströmung trat der Ansatz der sich natürlicher und geistiger Welt bezogen, noch findet der Ursprung
selbst begrenzenden Krankheit – der vis medicatrix natura – auf, der Natur im Geistigen dort Erwähnung. Folglich werden heut­
dass nämlich Krankheiten, wenn sie sich selbst überlassen blieben, zutage Diskussionen innerhalb der homöopathischen Bewegung
den vorgezeichneten Verlauf nähmen und oftmals zur Heilung auch eher auf Grundlage der modernen Philosophie der Medizin
führten. Als für die Homöopathie bedeutender erwies sich in den geführt, dass die Homöopathie nämlich rein aufgrund natürlicher
Jahren 1810 bis 1831 im wesentlichen der psychologische Anteil Ursachen wirke; dass sich die Heilung vollziehe, da dem Patienten
der verschiedenen kulturellen Ansätze in den einzelnen Ländern, einige Substanzen verabreicht würden, und dass schließlich alles,
denn die Homöopathie hatte sich inzwischen von Deutschland was an Tradition innerhalb der Allopathie bestehe, die Heilkunst
nach Frankreich, Russland, Dänemark, Spanien, Italien und Groß­ der wissenschaftlichen Medizin als Quelle habe. Ich für meinen Teil
britannien hin ausgebreitet. Den größten Zuspruch jedoch erhielt möchte hier eine etwas andere Deutung vorschlagen, jedoch eine,
die Homöopathie in den Vereinigten Staaten. die ihres Zeichens stark swedenborgianisch geprägt ist. Obschon
Hans Birch Gram (1786–1840), ein Student Hahnemanns, wir verschiedene Heilungsformen wahrnehmen können, so ist doch
brachte in der Mitte der 1820er Jahre die Homöopathie als erster jede Art von Heilung ihrer Natur nach spirituell.
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Anmerkungen and Its Systeatic Representation according to Abhidhamma Tradition (London,
Rider, 1961)
1 Anm. d. Übers.: Der Begriff Selbstaktualisierung dürfte vielleicht manchem Leser 12 Der Ausdruck Numinoses ist im englischen Original nicht zu finden, passt aber an
eher unbekannt sein. Während er dem Begriff Selbstverwirklichung sehr ähnlich dieser Stelle. Er stammt vom deutschen Religionswissenschaftler Rudolf Otto und
klingt, kann er im Deutschen nicht völlig gleich gesetzt werden. In den mehren steht für die erschauernde Begegnung mit dem Göttlichen.
Ansätzen der humanistischen Psychologie u. a. bei Carl Rogers, meint dieser Be­ 13 Anm. des Übersetzers: Es sollte nicht verschwiegen werden, dass Buchmann
griff, dass der Mensch, immer auf die Gegenwart bezogen, versuchen sollte, die Schüler einer Schwenckfeld-Schule in Pennsylvanien gewesen ist. Schwenck­
ihm innewohnenden Kräfte zur Entfaltung zu bringen. Hingegen erscheint der feld war Reformator zur Lutherzeit und bemühte sich die konfessionellen Ge­
Begriff Selbstverwirklichung eher statisch. Der Mensch hat eine bestimmte Vor­ gensätze in einer Geistkirche aufzuheben. Bereits Ernst Benz hat bezüglich der
stellung die er umsetzen möchte, die aber nicht auf die Gegenwart bezogen sein Geschichtsauffassung von Emanuel Swedenborg auf den hier vorliegenden ein­
muss, sondern eher einen längerfristigen Vorgang meint. heitlichen Strom des evangelischen Spiritualismus hingewiesen. Da auch Buch­
2 William James, Principles of Psychology, 2. vols. (New York: Henry Holt, 1890). mann mit seinem Ansatz der »moralischen Aufrüstung« eine ökumenische Tradi­
Besonders zu berücksichtigen ist das Kapitel »The Stream of Thought«. Anm. des tion besitzt, wirkt zumindest in dieser Hinsicht die Idee einer Geistkirche weiter.
Übers. Eine gekürzte Ausgabe der Principles of Psychology sind unter folgendem 14 Walter Houston Clark, The Oxford Group: Its History and Significance (New York:
Titel in den 20er Jahren des 20 Jahrhunderts auch in Deutschland erschienen. Sie Bookman Associates, 1951)
lautet: William James, Psychologie, 2. Aufl. Leipzig 1920, Quelle & Meyer. (Übers 15 C.G. Jung, Psychologie und Religion, 2. Aufl., Freiburg i. Brsg. 1972, Walter
aus dem Englischen von E. Dürr und M. Dürr, engl. Originaltitel: Psychology) 16 Stanislav Grof, Topographie des Unbewussten. LSD im Dienste tiefenpsycholo­
3 Larry Dossey, Heilende Worte. Die Kraft der Gebete und die Macht des Glaubens, gischer Forschung, 6. Aufl., Stuttgart 1993, Klett-Cotta, (Übersetzung aus dem
Sudergellsen 1995, Martin (Übers. Aus dem Engl. von Wolfgang Schellhorn, engl. Englischen von G. H. Müller, englischer Originaltitel »The realms of unconscious­
Originaltitel »Healing words«) ness«.)
4 Siehe das Office of Alternative Medicine, Alternative Medicine, Expanding Medical 17 Victor Emil Frankl, Der Mensch auf der Suche nach Sinn, Sonderausgabe, Güters­
Horizons (Washinghton D.C.: GPO, 1993) loh 1997, Bertelsmann
5 Mircea Eliade, Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, 8. Aufl., Frankfurt a. 18 Emanuel Swedenborg, Die göttliche Liebe und Weisheit, Zürich 1990, Swedenborg
M. 1994, Suhrkamp, (Übersetzung aus dem Französischen von Inge Köch, franz. Verlag (Übersetzung aus dem Lateinischen von Friedemann Horn, lateinischer Ori­
Originaltitel: »Le chamanisme et techniques archaique de´l extase.«), Joseph Cam­ ginaltitel »Sapientia angelica de divino amore et divina sapientia«)
bell, Der Heros in 1000 Gestalten, Frankfurt a. M.; Leipzig 1999, Insel, (Überset­ 19 Marguerite Block, New Church in New World (New York: Swedenborg Publishing
zung aus dem Englischen von Karl Koehne, engl. Originaltitel »The hero with Association, 1984), Carl Classen (Hrsg.), Hahnemanns Organon der Heilkunst,
a thousand faces«), Henri F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten: Ge­ Studienausgabe für die Praxis, 2. Aufl., Stuttgart 2005, Sonntag.
schichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu
Janet, Freud, Adler, Jung, Zürich 2005, Diogenes (Übersetzung aus dem Englischen
von Gudrun Theuser Stampa, engl. Originaltitel »The discovery of unconscious«)
6 Als Hintergrundinformation s. hierzu: Bassedo Bissondoyal, The Essence of the
Vedas and Allied Scriptures (Bombay, Jaico Publishing House, 1966; sowie Shree
Prohit Swami and W.B. Yeats, The Ten Principal Upanishads (London: Faber and
Faber, 1937). Anm. d. Übers.: Das Gesamtwerk von W.B. Yeats in deutscher Über­
setzung ist im Luchterhand Verlag erschienen. Eine Einzelausgabe des genannten
Werkes scheint es in deutscher Übersetzung nicht zu geben.
7 Thomas G. Drummer, Tibetan Medicin and Other holistic Health-Care Systems
(London: Routledge, 1988)
8 Richard Katz; Boiling Energy (Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press,
1982).
9 Robert F. Heizer and M.A. Hipple, ed. The California Indians: A Source Book
(­Berkley: University of California Press, 1971).
10 Anm. d. Übers. Der Ausdruck Empathie findet sich im Englischen nicht. Ich per­
sönlich halte diesen Begriff hier allerdings für passender im Sinne des klientenzen­
trierten Ansatzes von Carl Rogers. Wie gesagt meint Empathie, sich in das Leid
hineinfühlen zu können, ohne an diesem zu ersticken.
11 Lama Anagarika Govinda, The Psychological Attitude of Early Buddhist Philosophy

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Swedenborg in Russland Jahrhunderts, Alexander Herzen (1812–1870) erwähnte Swedenborg wie­
derholt in einer seiner Geschichte mit der Überschrift »It was on the 22nd
Gordon Jacobs of October 1917« [Es war am 22. Oktober 1917].
In etwas jüngerer Zeit gehörten der Dichter Alexander Blok (1880–

W enigstens drei berühmte Russen kannten Swedenborg persönlich


und mindestens ein russisch-orthodoxer Priester nahm seine Leh­
ren an. 1783 wurde in Moskau ein Zirkel seiner Leser gegründet und
1921), der Novellist und Dichter Dimitri Mereschkowski (1865–1941) und
die Philosophen Nikolai Berdjajew (1874–1948) und ­Sergei Bulgakow
(1971–1944) zu den von den theologischen Konzepten Swedenborgs
noch zu Lebzeiten Swedenborgs erschien eine russische Übersetzung beeinflussten Schriftstellern.
von »Himmel und Hölle«. Diesem Werk folgte Anfang des neunzehnten Im zwanzigsten Jahrhundert gab es eine beträchtliche Zeit unter
Jahrhunderts eine Übersetzung von »Göttliche Liebe und Weisheit«, wo­ der kommunistischen Herrschaft, während der Religion unterdrückt wur­
bei damals bereits andere Lesergruppen existierten, eine der wichtigsten de und Swedenborg verboten war. In jüngster Zeit erlebt das Interesse
in St. Petersburg, und Swedenborgs Werke waren in den oberen Kreisen an seinem Werk jedoch eine Renaissance. In Moskau wurde am Insti­
Russlands gut bekannt und galten als nicht im Widerspruch zu den Leh­ tut für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften vom
ren der Orthodoxen Kirche stehend. In den dreissiger Jahren des neun­ 13. bis 18. November 1994 eine Konferenz zum Thema »Swedenborg
zehnten Jahrhunderts hielt F. Golubinskij, ein bekannter Philosophiepro­ und die russische Tradition« abgehalten. Dabei wurde festgestellt, dass
fessor, an der Moskauer Akademie Vorlesungen über Swedenborg. Russland das Land war, wo mehr von Swedenborgs Büchern verkauft
Über einen Zeitraum von zwanzig Jahren wurde eine ganze Anzahl wurden als in irgendeinem anderen Land der Welt. Kurz nach der Konfe­
von Swedenborgs theologischen Werken ins Russische übersetzt. Eine renz erfolgte im Februar 1995 die offizielle Registrierung der Russischen
neue Übersetzung von »Himmel und Hölle« übte einen bedeutenden Ein­ Swedenborg-­Gesellschaft mit Plänen für Publikations-, Forschungs- und
fluss auf zwei prominente Russen aus, ­Fjodor ­Dostojewski und Wladimir Bildungs­projekten.
Solowjow. Der Umfang von Swedenborgs Einfluss auf Dostojewski wurde Von da ab zeichneten sich weitere Aktivitäten ab. 2001 erschien eine
durch Czeslaw ­Milosz, dem Gewinner des Nobelpreises für Literatur von neue Übersetzung von Swedenborgs »Ehelicher Liebe« ins Russische in
1980, in zwei Artikeln, die beide unter dem Titel »Swedenborgs Einfluss einer ersten Auflage von 2000 Exemplaren, der 2002 eine 2. Auflage von
auf Dostojewski« erschienen, aufgezeigt, der erste 1977 in seinem Buch 3000 Exemplaren folgte. Ebenfalls 2002 wurde ein monumentales Buch
»Emperor of the Earth« [Kaiser der Erde] und der andere in »Beginning mit Cyriel Sigstedts Biographie »Das Swedenborg Epic« (die ersten 300
with My Streets« [Mit meinen Strassen angefangen] (I.B. Tauris & Co. Seiten), »Himmel und Hölle« (400 Seiten), »Das neue Jerusalem und seine
1992, S. 163–177). ­Solowjow, der als der bedeutendste russische Philo­ himmlische Lehre« und etwa 100 Seiten mit Auszügen aus »Apokalypse
soph des 19. Jahrhunderts betrachtet wird, war in den siebziger Jahren erklärt« herausgegeben.
des neunzehnten Jahrhunderts ein Leser Swedenborgs und schrieb für Außerdem bemühte sich in der Ukraine die Swedenborg-­Gesellschaft
eine russische Enzyklopädie einen sechsseitigen, zwei Spalten breiten von Dnjepropetrowsk und der Krim aktiv um die Übersetzung von
Artikel über Swedenborg. Swedenborgs Werken ins Russische. Im Jahre 2000 veröffentlichte sie »Apo­
Alexander Puschkin, der wahrscheinlich größte Russische Dichter, kalypse revelata« (2 Bände), 2001 »Auszüge aus Arcana Caelestia«, »Das
wurde von seiner Schwester in Swedenborgs Schrifttum eingeführt und jüngste Gericht« und »Erden im Universum«, sowie 2003 »Arcana Caelestia«
erwähnt ihn in seinem Werk »The Queen of Spades« [Die Schwertkönigin]. (Band 1) und 2004 »Propheten und Psalmen«. Seither setzte sie sich für ein
Zwei andere von Swedenborg beeinflusste Dichter des neunzehnten Jahr­ »Korrespondenzwörterbuch« und den 2.Band von »Arcana Caelestia« ein.
hunderts, deren späteren Gedichte als bedeutend galten, waren Fjodor Ich glaube, dass wir erwarten dürfen, in den nächsten Jahren sowohl
Tjuttschew und Alexej Tolstoj (1817–1875), der eines seiner Gedichte mit aus Russland als auch aus der Ukraine weitere interessante Neuigkeiten
»Swedenborg« betitelte. Und ein weiterer Schriftsteller des neunzehnten über Swedenborg zu erhalten.

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Bericht vom auf Nahtoderlebnisse. Den Vor­
teil einer sehr offenen Ausspra­
tung des Kreuzestodes weicht die
Theologie der Neuen Kirche von
pert den Glauben, Johannes die
(Nächsten-)Liebe. In mehreren
­Frühjahrstreffen chegelegenheit haben alle Betei­ allem bis dahin Gekannten ab: Szenen treten beide gleichzeitig
der Gemeinde der ligten offensichtlich geschätzt.
Am Samstag hatte Pfr. Tho­
Das Kreuz ist der Endpunkt einer
langen Reihe von Versuchungen,
auf und zueinander in Beziehung.
Aus Stellen wie Joh. 20,2-8 oder
Neuen Kirche mas Noack uns einen sehr gut das ganze Leben Jesu besteht aus Joh. 21,7 wird deutlich, dass man
von Elke Barduhn strukturierten Vortrag über »Die Versuchungen und der Kreuzes­ Glaube und Liebe nicht trennen
Bedeutung des Johannesevan­ tod ist die letzte oder auch äußer­ kann. Beim »Wettlauf zum Grab«

D er Freitagnachmittag des
diesjährigen Frühjahrstref­
fens in Moos-Weiler war dem
geliums für die Theologie der
Neuen Kirche« mitgebracht.
Während nämlich Petrus für die
ste Versuchung, durch die Jesus
sein Menschliches verherrlicht
und sich selbst dadurch vergött­
erkennen wir, wie sehr sich der
Glaube am äußerlich Sichtbaren
orientiert, während die Liebe
Besprechen verschiedener Bibel­ Katholiken bekanntermaßen licht hat. Der Begriff »Verherrli­ intuitiv die Zusammenhänge
stellen gewidmet. Jeder war sehr wichtig ist, spielt in der The­ chung« zur Deutung des Kreuzes erkennt. Auch bei der Szene am
bereits mit der Einladung auf­ ologie der evangelischen Kirche ist ein entscheidender Begriff See Tiberias neigt der Glaube
gefordert worden, einen Bibel­ Paulus eine mindestens ebenso bei Johannes: 7,39; 11,4; 12,28; wieder zu übergroßem Eifer und
vers oder -abschnitt »mitzubrin­ große Rolle. Dass Johannes, der 13,31; 14,13; 15,8; 16,14; 17,1. wildem Aktionismus, während
gen«, der ihm/ihr entweder viel »Lieblingsjünger Jesu« zu Jesus Auch zum Begriff »Wie­ die Liebe sofort das Wesentliche,
bedeutet oder schwer verständ­ eine ähnliche Beziehung hatte dergebur t« findet sich im den Herrn erkennt. Insbesondere
lich erscheint oder, oder ... Inte­ wie Jesus zum Vater (Joh. 1,18 Neuen Testament außerhalb in den Abschiedsworten Jesu an
ressanterweise ergab sich allein und Joh. 13,23), macht ihn zum des Johannesevangeliums prak­ die Jünger wird im Johannes­
aus dem Versuch der Deutung autorisierten Interpreten Jesu. An tisch nichts. Bei Joh. 3,3–6 wird evangelium deutlich, dass das
von Daniel 3 eine überaus rege ausgewählten Beispielen zeigte jedoch sehr anschaulich, was innere Wesen des Glaubens die
Diskussion, in deren Verlauf sehr Thomas Noack deutlich, dass auch Swe­denborg unter Wie­ Liebe ist, so bei Joh. 13,34, Joh.
unterschiedliche Themen ange­ viele Aussagen Swedenborgs, die dergeburt versteht: ein von 14,15 und 21 sowie Joh. 15,15.
sprochen wurden. Beispiels­ zur Theologie der Neuen Kirche neuem, von oben Geborenwer­ Schließlich zeigte Tho­
weise mündete die Frage, ob der geworden sind, sich überwie­ den aus Wasser und Geist. Dabei mas Noack noch auf, dass sich
Todeszeitpunkt jedes einzelnen gend oder ausschließlich durch assoziieren wir bei Wasser rich­ Swedenborgs Entsprechungs­
Menschen vorherbestimmt sei, das Johannesevangelium stützen tigerweise »Fließen«, also auch lehre ebenfalls auf das Johan­
in einen Versuch der Abgrenzung lassen. »Einfluss«, und denken bei der nesevangelium stüt zt. Der
von göttlicher Vorsehung und Zunächst die Trinitätslehre: Kombination der Begriffe Was­ Evangelist selbst bedient sich
göttlicher Zulassung. Und die An Joh. 1,18, Joh. 10,30 sowie ser und Geist sofort an die Taufe. bereits der Symbolsprache. So
Frage nach dem Sinn der früher Joh. 14,9 lässt sich wunderbar die Weiterhin lässt sich am ist beispielsweise Wasser ein
üblichen dreitägigen Totenruhe Richtigkeit des von Swedenborg Johannesevangelium sehr schön sehr starkes Symbol in nahezu
vor der Bestattung (»Und was oft verwendeten Satzes »Gott ist das neukirchliche Verständnis allen Kapiteln dieses Evangeli­
macht die Seele in diesen drei dem Wesen und der Person nach des Verhältnisses von Glaube ums. Von Johannes dem Täufer
Tagen?«) brachte das Gespräch Einer« belegen. Auch bei der Deu­ und Liebe zeigen. Petrus verkör­ in Kapitel 1 über die Hochzeit in
110  OFFENE TORE 2/06 OFFENE TORE 2/06   111
Kana (Kap. 2), wo Wasser in Wein des Johannesevangeliums auf
verwandelt wird, dem bereits Jerusalem, zusammen mit der
erwähnten Gespräch mit Niko­ übrigen Johanneischen Litera­
demus von der neuen Geburt tur (Offenbarung des Johannes
aus Wasser und Geist (Kap. 3), und Briefe des Johannes), in der
der Frau am Jakobsbrunnen Jerusalem ebenfalls eine wichtige
(lebendiges Wasser, Kap. 4), Rolle spielt, weckt sofort die Asso­
der Heilung am Teich Bethesda ziation mit dem von Swedenborg
(Kap. 5) bis zum Kapitel 6, in erklärten Begriff des Neuen Jeru­
dem Jesus auf dem Wasser geht, salem. Mit großer Berechtigung
kommt stets das Wasser vor. Die sprach also Thomas Noack vom
Beispiele lassen sich fortsetzen: Johannesevangelium als dem
In Kapitel 7 spricht Jesus wäh­ Kronzeugen für die Theologie
rend des Laubhüttenfestes von der Neuen Kirche.
den Strömen lebendigen Wasser, Die nachmittägliche Aus­
in Kapitel 9 wird der Blinde an sprache befasste sich unter
den Teich Siloah geschickt, um anderem sehr intensiv mit dem
sich die Augen zu waschen und Begriff und der Problematik des
dann sehend zu werden, im Kap. Lieblingsjüngers sowie der Frage,
13 erfolgt die Fußwaschung. warum, ab wann und mit wel­
Stets ist Wasser Bild oder Sym­ cher Berechtigung dieses Evan­
bol für den Geist, ein Prinzip, das gelium dem Apostel Johannes
uns aus Swedenborgs Entspre­ zugeschrieben wird.
chungslehre bestens vertraut ist. Einen schönen Abschluss
So ist es schließlich nicht schwer, fand das Frühjahrstreffen wiede­
Kapitel 15 zu verstehen, wo rum im sonntäglichen Gottes­
vom Weinstock und vom Wein dienst mit Abendmahl, dessen
die Rede ist. Wein ist Wasser in Predigt nochmals einem Kapitel
höherer Potenz und steht also für aus dem Johannesevangelium
die Wahrheit aus dem Geist. gewidmet war, nämlich dem
Der Vortrag endete mit dem fünften mit der Heilung am Teich
Hinweis, dass in den Berichten Bethesta und Jesu Legitimation
des Johannesevangeliums Jesus als Sohn Gottes.
sich viel häufiger in Jerusalem
aufhält als in den synoptischen
Evangelien. Diese Zentrierung
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