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Behandlung & Institution

Notwendigkeit, Ideale und Chancen der institutionellen Therapie


psychisch gestörter Rechtsbrecher1
Ulrich Kobbé

Die Praxis gegenseitiger Ausschließungen

Bei der Analyse der jüngeren Reformansätze fällt innerhalb der forensischen Psychiatrie auf,
dass es dort zu typischen interinstitutionellen Entwicklungen und komplementären intrainstitutionel-
len Abläufe kommt: Totale Institutionen lassen sich hinsichtlich ihrer interinstitutionellen Politik da-
durch charakterisieren, dass sie nach Prinzipien eines ausschließenden oder abwehrenden Dis-
kurses funktionieren. Insbesondere die Spezialisierung von Einrichtungen wie den Massregelvoll-
zugsanstalten fördert eine negierende Form des institutionellen Diskurses, der alle Inhalte, Pati-
enten, Anfragen oder auch andere Einrichtungen ausschliesst, die nicht absolut kongruent mit
dem impliziten oder – selten explizit ausgewiesenen – therapeutischen Konzept zu sein scheinen.

Konkret läßt sich sowohl für die allgemeinpsychiatrischen Krankenhäuser wie für Massregel- und
Strafvollzugseinrichtungen beschreiben, dass sie versucht sind, unbotmäßige, schwierige oder
störende Patienten bzw. Insassen in andere Zuständigkeiten abzuschieben - eine Praxis, über die
unter anderem Schumann (1989) berichtet. Das heißt, diese Institutionen funktionieren in der bzw.
analog zur Übertragungsdynamik ihrer Patienten, die die Verantwortung oder Schuld nach außen
projizieren. sprich, externalisieren.

Diese Entwicklung ist sicher primär auf dem Hintergrund zu sehen, dass die Institutionen be-
stimmte fortschrittliche Entwicklungen für sich in Anspruch nehmen, bei denen chronische oder
langzeithospitalisierte Patienten stören. Parallel hierzu lässt sich für die mittlerweile besser aus-
gestatteten forensisch-psychiatrischen Kliniken ein Trend feststellen, der in eine Diskussion um
die sog. „falschen Patienten" mündet. Hiermit findet zwar einerseits eine dringend erforderliche
Diskussion über Fehlbegutachtungen und Fehleinweisungen statt, doch droht andererseits auch
die Gefahr, dass hier „kranke Kriminelle“ gegen „kriminelle Kranke“ ausgespielt werden. Eine der-
artige Ausgrenzung durch Spezialisierung aber impliziert, daß sich die jeweilige Institution negativ
darüber definiert, was sie nicht zu leisten in der Lage ist – ein Vorgang, den man organisations-
dynamisch als Umwertung der narzisstischen Abwehr charakterisieren muss.

Dem gegenüber müsste sich eine solche Klinik programmatisch den Anforderungen des einge-
wiesenen Klientels mit einem eher integrativen Denkansatz anpassen (Duncker, 1993, S. 6), da
Kriminalität und kriminelle Entwicklung eben nicht von Störungs- und Persönlichkeitsentwicklung zu
trennen sind. Die Einrichtungen des Maßregelvollzugs müssten insbesondere wegen der weiter-
hin unzureichenden Anzahl der Sozialtherapeutischen Anstalt des Strafvollzugs ein Therapiean-
gebot machen, das beiden Teilen in der Persönlichkeit der Untergebrachten gerecht wird (Kobbé
1985).

1
Unveröffentlichter Entwurf eines Handbuchartikels (2004).
Rahmenanalyse

Folgerichtig bleiben innerer wie äusserer Zwiespalt dem Patienten, der forensisch-
psychiatrischen Institution und dem Behandler als eine Zerrissenheit eigen (Kobbé, 1991), die an
das Bewusstsein erinnert, dass man – in Paraphrase einer Anmerkung von Mitscherlich (1981)
über Juristen – nur mit schlechtem Gewissen im Massregelvollzug arbeiten kann. Gerade in die-
sem Bewusstsein jedoch wird vielleicht erst die Möglichkeit geschaffen, einen institutionellen
Rahmen zu schaffen, der geeignet sein könnte, der subversiven Infragestellung des zwischen-
menschlichen Diskurses durch die archaische Destruktivität (der Patienten) im fragilen psycho-
therapeutischen Übergangsraum ebenso zu begegnen wie der Destruktion therapeutischer Ideale
durch die repressive Struktur und zynisch reglementierende Praxis der Institution. Der Wider-
spruch institutionell „gewissermassen von vornherein eingearbeiteten Konflikt[e]“ (Rasch, 1974,
S. 25) lässt Psychotherapie in der forensischen Psychiatrie als den Versuch erscheinen, „zwi-
schen der gefürchteten Scylla und der ebenso schaurigen Charybdis hindurchzusegeln" (Gouds-
mit, 1985, S. 74).

In dieser Double-bind-Situation geht es darum, "jenseits ritualisierter Ordnungsfunktionen“ im


Rahmen von Supervision „die radikale Reflektion eben auf die implizite Gewaltsamkeit des eige-
nen Ansatzes, des eigenen Handelns, der eigenen therapeutischen Phantasien" zu garantieren
(Knoll 1985, S. 122). Die Selbstreflektion soll dem Therapeuten ermöglichen, seine bis dahin de-
fensiv-objektivierenden und/oder instrumentellen Gegenübertragungen durch eine dialektische
Sichtweise zu ersetzen und die therapeutische Situation „als reale, konflikthafte Beziehung zu
verstehen, die von beiden Beteiligten gemäß ihren unterschiedlichen Rollen gestaltet und fortent-
wickelt wird" (Körner, 1990, S. 96-97). Nur in dem Verständnis, dass jeder Gegenübertragung ei-
ne Übertragung vorausgeht, und den entsprechenden Interventionen im Sinne eines Dazwischen-
tretens kann eine „exzentrische“ Position für den Therapeuten (Kobbé‚ 1992) wie für den Patien-
ten (Buchholz, 1990) zur Verwandlung der dyadischen Beziehung(sfalle) in eine triadische Bezie-
hungsform erlangt werden (Körner, 1990, S. 99-102). Denn: Wenn der Therapeut im forensisch-
psychiatrischen Feld nicht nur die Symptomatik, sondern auch die ätiologischen und damit auch
die in den Maßregelvollzug führenden Faktoren beachten will, muss er sich vergegenwärtigen,
dass er selbst ein wesentlicher krankheitsauslösender („iatrogener“) Faktor ist.

Das theoretische Ziel der Interaktionsanalyse muss demzufolge darin bestehen, die „Prozesse im
Gefolge der Double-bind-Wut" (Knoll 1985, S. 122) in ein theoretisches Konzept einzubringen,
das die destruktive Störungsanteile im Rahmen des Diskurses der Institution aus ihrer „ausweg-
losen imaginären Situation" befreit (Mannoni, 1973, S. 232). Als organisierendes Element von All-
tagserfahrung zeigt Goffman (1980) zeigt unterschiedliche Aspekte des Institutions- und Alltags-
rahmens auf: Eine wesentliche Rolle spielt dabei der begrenzende – wie potentiell auch haltende
und schützende – Rahmen der forensischen Psychiatrie, weil sich dort der Rahmen der Institution
Maßregelvollzug und der Institution Psychotherapie überlagern. Zum Erfolg kann diese Überlage-
rung der zwei Rahmen folglich nur führen, wenn der – extrem starre – Rahmen der psychothera-
peutischen Institution „in ein institutionelles Milieu eingepasst wird, das flexibel genug ist, die Bre-
schen, die der Patient in den institutionellen Rahmen zu schlagen versucht ist, hinzunehmen"
(Mannoni, 1973, S 91). In praxi muss der institutionelle Rahmen dementsprechend sowohl die un-
vermeidlichen Wiederholungen des Symptoms (zum Beispiel des aggressiven Reagierens, der
perversen Inszenierung) zulassen wie auch in der Wiederholung Chancen zu etwas unter Um-
ständen nur minimal Neuem eröffnen, was nicht möglich ist, wenn der Circulus vitiosus von Ein-
schluss und Ausschluss des Patienten in seinen Alltags- und Arbeitsbeziehungen von der Instituti-
on starr reinszeniert wird. Hierbei bedarf es eines relativ immobilen Rahmens, dessen als symbo-
lische Ordnung das Imaginäre des Patienten reaktualisiert und eine Phantomwelt sichtbar werden
lässt, die der Patient der Institution als seinen Rahmen überstülpt (Mannoni, 1973, S. 77-78).

Folglich geht es um gegenseitige Anpassungsprozesse von Institution und Individuum, „um die
Ermöglichung einer Dialektik der gegenseitigen Abgrenzung und Beeinflussung, um einen inter-
subjektiven Prozess zwischen Subjekten. Bei schwer gestörten Rechtsbrechern ist dabei schon
sehr viel erreicht, wenn „ein Oszillieren zwischen Subjekt- und Objektposition“ zwischen Patient,
Behandler und Institution ermöglicht wird und kein „statisches Entweder-Oder der phantasmati-
schen oder tatsächlichen gegenseitigen Unterdrückung und Vernichtung" entsteht (Feuling, 1991,
S. 159).

Die relativen Immobilität verweist darauf, dass es in der Therapie nur ein Setting mit möglichst
gleichbleibend-kontinuierlichem Charakter geben darf, und doch muss der Rahmen ebenfalls kon-
tinuierlich verändert werden, weil sich sonst gegenseitige Stereotype ineinander verhaken (Feu-
ling, 1991, S. 159). Hierbei ist wesentlich, dass sich die Institution nicht entlang der – prinzipiell
unerfüllbaren, imaginären – Bedürfnisse der Patienten, sondern entlang deren im Symptom er-
sichtlichen Konflikten anpasst. Das heißt, sie orientiert sich nicht auf die reale Bedürfnisbefriedi-
gung hin, sondern auf die – symbolische – Anerkennung dieser Bedürfnisse. Als Bedingung wird
hierbei vorausgesetzt, dass die totale Institution ihren Anspruch auf Omnipotenz und Omniprä-
senz aufgeben und „sich selbst – ohne sich dabei (schuldhaft) als defizitär zu empfinden – als
mangelhaft, das heißt als nicht vollständig situieren und anerkennen" kann (Feuling, 1988, S. 42).

Die Dialektik von Individuum und Kollektiv

Sowohl die intra- wie die interinstitutionellen Ausschliessungsmechanismen sind zugleich histori-
sches Ergebnis einer pragmatischen und ordnungsbezogenen Anstaltspolitik, die jeder elaborier-
ten Organisationstheorie oder konkreten therapeutischen Begründungen entbehrt. Auf der einen
Seite findet man einen normalisierend-verwahrenden („kustodialen“) Diskurs in den Anstalten,
doch besteht auf der anderen Seite das Risiko neuer disziplinierender oder negierender psycho-
logischer Diskurse in Reforminstitutionen mit Tendenzen zu struktureller oder latent psychothera-
peutischer Totalisierung (Kobbé, 1992, S. 58-60). Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass
selbst „Psychoanalyse als ein im Kern selbstreflexives, auf Mündigkeit zielendes Verfahren [...] im
Zuge ihrer Institutionalisierung" dazu tendiert, „Hierarchie und zunehmende Entmündigung nach
unten" zu reproduzieren (Fabricius, 1990, S. 338). Gerade zur Verhinderung derartig negativ-
dialektischen Umschlagens der Reform erscheint über die Nutzung einer „emanzipatorischem
Erkenntnisinteresse" (Habermas) verpflichteten Metatheorie hinaus wesentlich, dass die unter-
gebrachten Patienten als Individuen eines Kollektivs nicht behandelt werden können, ohne dass
die Institution selbst als Gesamtheit, als Kollektiv mit allen seinen Subsystemen und komplementä-
ren Beziehungen, hinterfragt und behandelt wird.

Derartige Gemeinschaften entwickeln eine gemeinsame Sprache (Oury, 1991, S. 70), so dass
von ihnen als jeweils relativ geschlossenem Bedeutungssystem gesprochen werden kann. W e-
sentlich ist hierbei, dass es sich somit bei Einrichtungen des Massregel- wie des Strafvollzugs um
auch „imaginäre Institutionen" handelt, die nicht auf Funktionalität reduzierbar sind, sondern „in ih-
rem Fortbestand und ihren Wirkungen über ihre Aufgabe, ihre ‚Ziele' und ihre ‚Rechtfertigungen'
hinaus" einer eigenen Logik und Dynamik folgen (Castoriadis, 1984, S. 188). Denn gerade das
sprachlich vermittelte kollektive Bedeutungssystem verbindet das sogenannte «ensemble transfi-
ni» der Institutionen (Oury) mit den Gruppen und Individuen, so dass Institutionen organisations-
psychologisch nicht ausserhalb der Struktur und Dialektik der Sprache erfasst werden können
(Tosquelles, 1977, S. 14).

Institutionelle Psychotherapie betrachtet die Institution vornehmlich vom Platz des Subjektes aus
(Hofmann, 1983, S. 30) und begreift dieses Subjekt als „sub-jectum“ (Unter-worfenes), als ein
dem System unterworfenes Element, das nicht passives Objekt sondern aktives Element einer
Struktur des Austausches ist. Individualität wird als Ergebnis dieser Interaktionsdynamik verstan-
den, so dass eine hierauf hinorientierte Institution nicht reibungs-, konflikt- und wunschlos funktio-
nieren darf, da das Individuum in einem rein technologischen Apparat keinen Platz finden würde.
Vielmehr bedarf es institutioneller Möglichkeiten, das heisst Leerstellen, die das Individuum ein-
nehmen oder sich schaffen kann. Dieses dynamische Prinzip folgt im übrigen
a) der Jahrtausende alten Logik der „lebenden Stellungen" des Go-Spiels, das nur durch die Er-
haltung eines leeren Feldes – „Freiheit" oder „offenes Auge" genannt – garantiert wird, wie
b) dem «place du mort» beim Bridge-Spiel, der sich beständig verschiebt bzw. als leeres Feld un-
ablässig springt.
Dieser Bezug auf Spielmetaphern, „die mehr sind als Metaphern" (Deleuze, 1992, S. 19), offen-
bart die Nähe von Strukturalismus und institutioneller Psychotherapie zur Spieltheorie. Die (institu-
tionellen) Strukturen sind in den intersubjektiven Sinnzusammenhängen unweigerlich dadurch
„überdeterminiert", dass die gesamte Struktur von diesem ursprünglichen dritten Ort „bewegt" wird
und mit diesen Verschiebungen nicht nur die differentiellen Verhältnisse wechseln, sondern auch
das Differenzierende der Differenz (Kobbé, 1998) konstituiert wird: „Kein Strukturalismus ohne
diesen Nullpunkt" (Deleuze, 1973, S. 45).

Der hier im Sinne von Lyotard gebrauchte Terminus „Differenz“ gibt an, dass menschliches Ver-
halten oder gesellschaftliche Phänomen nicht nur auf unterschiedliche Weisen zu erklären sind
sondern erklärt werden müssen, um zu einer vollständigeren, sprich, komplementären Sicht des
Phänomens zu kommen. Dass es insofern auch keinen herrschaftsfreien Diskurs innerhalb der
forensischen W issenschaft wie der forensischen Institutionen geben kann, dass der Widerstreit
„nicht durch friedliche Übereinkunft“ beigelegt werden könne, sondern „(als Prozess) einer Sen-
tenz, d.i. des rechtskräftigen Spruches eines Richters (der Vernunft)“ bedürfe, definiert bereits
Kant (1798, 31) im „Streit der Fakultäten“. Insofern sollen die institutionellen Diskurse in gewisser
Weise „verkantet“ werden.

Eine Psychologie der Befriedung?

Wenn die gesellschaftlichen und institutionellen Diskurse über psychisch gestörte Rechtsbrecher
hinsichtlich einiger Facetten eines aktuellen befriedungspolitischen Mainstreams (Basaglia et al.,
1980) auf ihre Konsequenzen für die Behandlungspraxis wie für die intrainstitutionelle Streitkultur
untersucht werden sollen, bedarf es einer geschichtlichen Positionierung. Das heisst, jede Psy-
chologie des konkreten Individuums muss dessen und den eigenen historisch-sozialen Kontext
mitdenken, sofern man Menschen nicht nur als Marionetten begreift, die in den sozialen Struktu-
ren zappeln.

Zugleich erscheint bedeutungsvoll, dass man im Sprechen über Massregel- und Strafvollzug wie
über Behandlung und Psychologie mit Ergebnissen eines Projekts der Moderne konfrontiert ist
(Kobbé 1996, S. 83-169; Magar, 2000). Für die Psychologie skizziert Foucault (1968, S. 112),
erst durch die Schaffung psychiatrischer Anstalten, „dieser Welt der strafenden Moral“, sei „der
Wahnsinn etwas geworden, das wesentlich die menschliche Seele, ihr Schuldgefühl und ihre Frei-
heit, betrifft; er ist jetzt in den Bereich der Innerlichkeit verlegt, und dadurch wird der Wahnsinn
zum erstenmal in der abendländischen Welt nach Status, Struktur und Bedeutung psychologisch“.
Hier hat Psychologie ihren Ursprung in einem Projekt der aufklärerischen Vernunft, das zwar
Vernunftkritik betreibt, jedoch als Psychologie zugleich vergisst, „dass die ‚objektive‘ oder ‚positi-
ve‘ oder ‚wissenschaftliche‘ Psychologie ihren Ursprung und ihren Grund in einer pathologischen
Erfahrung gefunden hat“. Oder „anders gewendet: der Mensch ist eine psychologisierbare Gat-
tung erst geworden, seit sein Verhältnis zum Wahnsinn eine Psychologie ermöglicht hat, d.h. seit
sein Verhältnis zum W ahnsinn äusserlich durch Ausschluss und Bestrafung und innerlich durch
Einordnung in die Moral und durch Schuld definiert ist“ (Foucault, 1968, S. 113).

Insofern besteht der Auftrag von Psychologie innerhalb der freiheitsentziehenden Institutionen
(Kobbé, 1999) in einer „Grenzsicherung" zwischen ungefährlichen Vernünftigen und gefährlichen
Vernünftigen, das heißt, in der Garantierung des ungestörten öffentlichen Diskurses. „Damit die-
se Aufgabe ordnungsgemäß erfüllt wird, wurde es einmal als nützlich angesehen, Psychiater und
Psychotherapeuten von der philosophischen Reflexion abzukoppeln, damit sie sich im positivisti-
schen Glauben an ihre Wissenschaft nicht stören lassen" (Dörner, 1988, S. 451). Gerade dies
aber mache die W iedereinführung auch philosophischen Reflektierens in die Psychologie (und
Psychiatrie) erforderlich, um ihre Praxis - ihr Denken und Handeln - gegen die „eigene Gefähr-
lichkeit zu schützen" (Dörner, 1988, S. 451-452).

Die Therapeutische Gemeinschaft

Hinsichtlich der dynamischen Dialektik von Individuum und Kollektiv ist die Institution als eine um
Gruppenprozesse mit wechselndem Strukturierungsgrad organisierte soziale Struktur zu begrei-
fen (Kernberg, 1971), die die Individuen mit der Teilnahme an einem experimentellen Setting kon-
frontiert (Kobbé, 1992b, S. 46), das in unterschiedlichem Ausmaß die Aktivierung primitiver Ob-
jektbeziehungen verstärkt.

Immer wieder wird die Idee der Therapeutischen Gemeinschaft in äusserst unterschiedlicher
Weise auch für forensische Institutionen proklamiert, hierbei allerdings nur bedingt zu recht und
allzu häufig zu unrecht in Anspruch genommen (Nedopil & Ottermann, 1993). Dabei wird einer-
seits verkannt, dass die Idee der therapeutischen Gemeinschaft nur unter dem dynamischen Ge-
sichtspunkt zeitlicher Entwicklungsphasen zur Ausfüllung des Konzepts in der Institution Bedeu-
tung haben kann, mithin weder fertiger Ist- oder Soll-Zustand noch starre Institutionsstruktur sein
kann. Andererseits wird die Idee der Therapeutischen Gemeinschaft zudem dadurch instrumenta-
lisierend verfälscht bzw. missbraucht, daß sie konzeptuell als Instrument der „Ent-Prisonierung"
dienen soll (Rasch, 1977, S. 47-50) oder als Vorwand zur Gängelung von Patienten herhalten
muss. So verwundert nicht, daß nach einer Übersicht von W ittling (1980, S. 251) noch keine ef-
fektiven Resultate dieser eher idealistischen Konzeption vorgelegt werden konnte, zumal sie unter
anderem dazu tendiert, in gewisser Weise die insbesondere in Straf- uns Maßregelvollzug un-
leugbaren Unterschiede zwischen Mitarbeitern und Patienten zu verwischen.

Behandlungsphilosophie und Institutionsideologie

Gerade für freiheitsentziehende Institutionen mit therapeutischem Anspruch und Auftrag ist zu un-
terstreichen, dass Unterschiede nicht negiert werden dürfen, sondern dass „Differenz“ anerkannt
werden muss (Lyotard, 1983; Habermas, 1992). Denn nur durch die Herausarbeitung der Diffe-
renz und durch beständige Arbeit an und mit den besonderen Unterschieden ist eine Identitätsbil-
dung möglich – dies sowohl in Hinsicht auf das Individuums im institutionellen System wie hinsicht-
lich des Gesamtsystems der Institution. Vom eigenen Verständnis her beinhaltet dies, dass
- hinsichtlich der institutionellen Struktur eine Differenzierung des Individuums und der Gruppe
oder Gemeinschaft vorgenommen und
- hinsichtlich der Behandlung das Prinzip der (Psycho-)Therapie in und mit dem Kollektiv heraus-
gestellt wird.

Dies impliziert einen dialektischen Standpunkt, der in jedem Fall die nähere Ausarbeitung der
zugrundeliegenden theoretischen Bezüge erfordert. Die Konzeptualisierung dieses integrativen
versus ausschließenden Diskurses erfolgt innerhalb der sogenannten „Institutionellen Psychothe-
rapie" (Guattari, 1962/63; Oury, 1977), auf die auch im folgenden Bezug genommen wird. Das
Verständnis der Institutionellen Psychotherapie basiert auf einer spezifisch psychoanalytischen
Erfahrung und organisationspsychologischen Philosophie, die Struktur und Funktionieren der An-
stalt sowohl hinsichtlich seiner externen Beziehungen wie seiner innerinstitutionellen Abläufe un-
tersucht und konzipiert. Insbesondere für den Maßregelvollzug ist die Angabe von Minimalbe-
dingungen wesentlich, die eine Institution erfüllen muß, damit sie Personen behandeln kann. Es
sei – so Oury (1991, S. 72-76) – erforderlich, dass sie die Begehren der Subjekte nicht erdrückt,
finden sich doch gerade innerhalb der herkömmlichen Anstalten entfremdende Behandlungs- und
Lebensbedingungen mit geradezu stereotypen Beziehungen in Form von Rivalität, Aggressivität
oder paranoid gefärbtem Verhalten. Derartige Verwicklungen führen unausweichlich zu Monoto-
nien, die in die Sackgasse „unbeweglicher Praxis" als entfremdeter und entfremdender Praxis
(Sartre, 1967, S. 286-299) führen und äquivalent eine Trägheit des Praxisfeldes als „praktisch-
inerte" Situationen implizieren (Laing 1973, S. 101-114). Das Funktionieren einer Institution ist
dementsprechend nicht ohne ständige theoretische Aufarbeitung möglich, die nur dann konstrukti-
ve W irkung entfalten kann, wenn sie innerhalb der Klinik verbindlich und institutionalisiert ist und
als organisatorische klar von psychoanalytischer Selbstreflektion unterschieden wird (Buchinger,
1993, S. 67).

So kann und darf das Funktionieren der Institution nur auf dem komplexen Hintergrund der Sy-
steme verstanden werden, die das Kollektiv bilden. Diese Systeme sind konkret als Strategie-, In-
formations-, Entscheidungs-, Psychotherapiekonferenzen beschreibbar, die institutionelle Be-
zugspunkte zur Ausbildung des kollektiven Bedeutungssystems darstellen und untereinander
„komplementäre Beziehungen" herstellen. Gerade über den Begriff der „Komplementarität"
scheint die Dynamik institutioneller Gruppen gut erfassbar, da das institutionelle „Gewebe“ nicht
aus einem einfachen Netz funktionaler Systeme sondern aus einem symbolisch und imaginär un-
terlegten Ensemble strukturierter Mechanismen besteht, die den Gesetzen einer sich verändern-
den Gestalt gehorchen. Zur zumindest vorübergehenden Erfassung oder Bewahrung des Gegen-
stands eigener Praxis schlägt Guattari (1964, S. 48) den Begriff der „Transversalität" vor, der
diese institutionelle Praxis von der Vertikalität der hierarchischen Pyramide wie von der Hori-
zontalität des situativen Arrangements abgrenzt. Von der Analyse her lasse sich zwar der „Koeffi-
zient" dieser Transversalität am Grad der institutionellen „Blindheit" eines jeden Mitarbeiters able-
sen, doch müsse Veränderung „auf der Grundlage einer strukturellen Rollenumdefinition und einer
Neuordnung des ganzen Systems stattfinden" (Guattari, 1964, S. 49). Von der Zielsetzung her
soll das transversale Kommunikationsprinzip sowohl das der reinen Vertikalität wie das der einfa-
chen Horizontalität dadurch überwinden, daß von der Tendenz her „maximale Kommunikation
zwischen den verschiedenen Ebenen und vor allem in verschiedene Richtungen" möglich ist und
stattfindet. Damit verhält sich Transversalität konträr und komplementär zu hierarchisierenden
oder ausgrenzenden Funktionsweisen der kustodialen Einrichtungen, indem sie als Träger des
unbewussten Gruppenwunsches den Mitarbeitern dazu dient, den Sinn ihrer eigener Praxis dia-
lektisch zu erfassen und in Frage zu stellen (Guattari, 1964, S. 54-55).
Mit dieser Programmatik soll die oben als narzisstisch abwehrend charakterisierte Entwertungs-
und Ausgrenzungsdynamik aufgelöst werden: An die Stelle der destruktiven Zuschreibungen und
Identifikationen kann die wechselseitige Anerkennung treten, in der anstelle defensiver Allmachts-
ansprüche nunmehr die Differenz (als Spezialisierung, Arbeitsteilung) mit der Ähnlichkeit (der Zie-
le, Strukturen etc.) verbunden ist.

Die Politik der Institutionellen Psychotherapie

Eine Grundregel der Institutionellen Psychotherapie ist der – unablässig erforderliche – „Kampf
gegen die kleinen Königreiche" (Oury, 1991, S. 72-73) oder ähnlich isolierte Orte wie Maßregel-
vollzugskliniken, aber beispielsweise auch Justizvollzugsanstalten und hier insbesondere Aus-
senanstalten des Strafvollzugs, an denen speziell unter geschlossenen Bedingungen pathogene
Systeme wuchern und zur Quelle kollektiver Hysterie werden können. Diese zunächst nur auf sich
selbst bezogenen Subsysteme müssen auf unterschiedliche Art und Weise in die Entwicklung und
Dynamik des Gesamtkollektivs einbezogen werden. Gerade dieser Kampf gegen lokale Erstar-
rungen aber führt oft zu Spannungen und Konflikten, auf die Mitarbeiter entsprechend ihrer per-
sönlichen Balance und Flexibilität sowie ihrer Fähigkeiten zur Aufgabe tradierter Rollen reagieren.

Die institutionelle Organisation therapeutischer Arbeit läßt sich folglich nicht von einer generali-
sierten, durchgängigen organisationspsychologischen Sichtweise trennen, wenn das absurde Kli-
ma vieler Institutionen mit all seinen imaginären Forderungen, Rivalitäten und Artefakten unter-
bunden werden soll. Unter der Voraussetzung, dass man die Individuen einer Gruppe nicht behan-
deln kann, ohne das Kollektiv als Ganzes zu behandeln, verlangt dieses Prinzip eine Reihe institu-
tioneller Basisbedingungen: Es bedarf
- differenzierter Besprechungen,
- einer abgestuften Delegation und Verteilung von Verantwortung,
- eines breiten Angebotes von zusätzlichen Aktivitäten und
- einer Begleitung durch geeignete Supervision, die ihrerseits sicherstellt, dass die institutionellen
Abläufe durch reflektierte Interpretation und nicht durch Sanktionen als hierarchischer Macht-
ausübung regelt werden.
Was also die Besonderheit der therapeutischen Arbeit mit Tätern in Institutionen des Straf- uns
Maßregelvollzugs ausmacht, ist insbesondere die gemeinsame Auseinandersetzung von Patient
und Therapeut mit dieser symbolträchtigen institutionellen Grammatik, ihre Bewusstwerdung und
solidarische Veränderung, soweit dies unter den gegebenen Bedingungen möglich ist (Wulff,
1977, S. 215).

Gerade dies betrifft analog auch das Management forensischer Institutionen. Daher darf die Insti-
tution selbst nicht starr sein oder nach einem vorgegebenen Schema ablaufen: Vielmehr muss sie
der Situation und Entwicklung der Individuen folgend infrage gestellt und umgestaltet werden. Ge-
rade hinsichtlich des ausschließenden Diskurses bedeutet dies, dass jede Gruppe oder Institution
Gefahr läuft, den Austausch mit anderen Gruppen einzuschränken, sich selbst zu „uniformieren",
andere Institutionen, Behandlungsbereiche oder Therapieformen kritisierend zu entwerten. Folg-
lich ist die Institutionelle Psychotherapie auf die Anerkennung von gerade wünschenswerter Diffe-
renz und auf das Kollektiv der Patienten und Mitarbeiter hin orientiert, das ein Netz von Beziehun-
gen durch offenen, transparenten und umfassenden Austausch unterhält, der nicht limitiert oder
versteckt funktionieren darf.

Das Prinzip der Offenheit für wechselnde und sich entwickelnde Wünsche impliziert ein Organisa-
tionsschema, das durch ein polyzentrisches Netz von Entscheidungsorganen mit beschränkter
Verantwortung gekennzeichnet ist, was allerdings einen breiten und offenen Informationsfluss
voraussetzt, damit „diese komplizierte institutionelle Maschinerie nicht chaotisch leer läuft" (Hof-
mann, 1983, S. 38). Auf dieser Grundlage kann und muss die forensisch-psychiatrische Klinik des
Maßregelvollzugs ihre Verantwortung für alle psychisch kranken Rechtsbrecher erklären und an-
dererseits die Aufnahme von Strafgefangenen aus dem Gefängnis sowie von zwar harmlosen
aber störenden Patienten aus der Allgemeinpsychiatrie zurückweisen. Und nicht nur dies: Dar-
über hinaus kann die forensisch-psychiatrische Klinik aus einem solchen Verständnis die Verant-
wortung der Allgemeinpsychiatrie für bestimmte – zum Beispiel psychosekranke – forensische
Patienten einfordern und muss sie dies im Sinne gemeindenaher Behandlungsprinzipien durchzu-
setzen suchen.

Skizze des institutionellen Diskurses

Voraussetzung für derartige extramurale Forderungen aber ist der Abbau von Ausgrenzungsprak-
tiken, Entwertungsmechanismen, Willkürprinzipien in den intramuralen Diskursen. Dies zielt auf
den zuvor bereits thematisierten Narzissmus der Institution, durch den die kollektiven Abwehrpro-
zesse und ihr Entstehen bestimmt werden: Aus der fehlenden Differenzierung der psychiatrischen
Einrichtungen heraus erfolgen paranoide Projektionen, in denen die anderen Institutionen als ver-
folgende übermächtige Andere wahrgenommen werden, und finden nur unzureichende Unter-
scheidungen von Psychodynamik und Institutionsdynamik statt, so dass unter anderem den vor-
herrschenden Tendenzen zu symbiotischen Teambeziehungen Vorschub geleistet wird. Gerade
diese dysfunktionalen Abwehrmechanismen müssen sowohl hinsichtlich des Individuums wie der
Gruppe bearbeitet und zugunsten konzeptuell abgestimmter, integrativ-arbeitsteiliger, verantwor-
tungsbereiter und selbstreflexiver Umgangs- und Behandlungsweisen in der Einrichtung aufgege-
ben werden.

Die institutionsintern zu leistende Differenzierung / Strukturierung wie arbeitsteilig-komplementäre


Organisation beziehen sich so mittelbar auf die skizzierte Ausgrenzungsthematik, die sich in den
– aufgrund gegenseitiger Referenzen analogen bzw. gleitenden – Beziehungen von Patienten,
Behandlern, Hierarchien, Stationen, Bereichen und Institutionen zu- und untereinander abbilden.
Zwar sind Negierung oder Ausschließung eigentliche Ergebnisse eines – durch auch nicht-
diskursive Ausgangsbedingungen – induzierten Diskurstyps, doch persistiert dieser andererseits
aufgrund der dynamischen Trias von Narzissmus, Paranoia und Destruktivität als quasi unum-
gängliches Beziehungs- und Kommunikationshindernis. Damit zielen die strukturalistischen Ansät-
ze institutioneller Reform nicht auf Abtötung oder Ausrottung sondern auf Begrenzung der regres-
siven Dynamik, wie sie angesichts pluralisierter und „entzauberter“ Arbeitsbedingungen in einer
„profanisierten" Gesellschaft „ohne metasoziale Garantien" (Habermas 1992: 42-43) konkret
selbst in Reformbestrebungen als zum Beispiel
- Konkurrenz / Rivalität / Entwertung innerhalb der Professionalisierungs- und Qualitätssiche-
rungsbestrebungen oder
- Profilierung / Polarisierung / Ausgrenzung in der identitätsstiftenden Konzeptentwicklung von Sta-
tionen, Behandlungsbereichen oder Kliniken
anzutreffen ist. Innerhalb der forensisch-psychiatrischen Klinik erscheint der handlungskoordinie-
rende Konsens kommunikativen Handelns somit dadurch gefährdet, daß er in seiner Bindungs-
energie durch strategische Interventionen neutralisiert wird.

So verschiebt sich die soziale Integrations- und Verständigungsleistung, wenn „die bindende Kraft
von rational motivierten Überzeugungen und der auferlegte Zwang äußerer Sanktionen [...] inkom-
patibel auseinandergetreten sind" (Habermas, 1992, S. 43) und der reflexiv-kommunikative Dis-
kurs der einen Gefahr läuft, durch den strategischen Diskurs der anderen ausgebeutet zu wer-
den. Den Ausweg aus der Wahl zwischen Kommunikationsabbruch und strategischem Handeln
(als Wahl zwischen Vertagung oder Austragung eines ungelösten Konflikts) bietet in der Institution
wohl nur die Herstellung und Garantie von individuellen Handlungsspielräumen mit gleichzeitiger
Normbindung an sozialintegrative Rahmenbedingungen.

Die Notwendigkeit einer Meta-Theorie

Die Ausführlichkeit dieser diskurstheoretischen und konzeptuellen Darstellung erfolgt aus mehre-
ren Gründen:
1. Einerseits sind die medizinischen und psychologischen Spezialisten innerhalb der forensischen
Psychiatrie im allgemeinen schlecht für die Auseinandersetzung mit institutionellen und orga-
nisatorischen Problemen gewappnet und hat ihnen ihre Ausbildung oft gerade Abwehrsysteme
vermittelt, die sie in anerkannten Rollen erstarren lassen und auch innerhalb des Kollektivs
leicht verkrusten (Oury, 1991, S. 70).
2. Andererseits machen gerade psychodynamisch ausgebildete Ärzte und Psychologen in Institu-
tionen klassische zwei Fehler: Sie neigen sowohl dazu, Psychodynamik und Institutionsdyna-
mik zu verwechseln, wie auch dazu, die in den Institutionen organisierten Berufsgruppen
gleichsam als Familie zu betrachten, bei der man motivationalen Zuspruch und emotionale Ent-
lastung suchen kann (Buchinger, 1993).
Um diesen Missverständnissen und Missverhältnissen zu entkommen, plädiert Buchinger für eine
strikte Trennung der beiden sehr unterschiedlichen Realitätsebenen und beschreibt er Institutio-
nen als sogenannte „nicht triviale Maschinen", die einen hohen Komplexitätsgrad aufweisen und
einer Sachlogik folgen, die weder psychodynamisch noch familialistisch zureichend erklärt werden
kann. Vielmehr geht es darum, in Strukturen denken und handeln zu lernen und nicht nur in Perso-
nen und Beziehungen, das heißt, auch eine organisatorische Selbstreflektion auszubilden und zu
etablieren.

Speziell in dieser Hinsicht erscheint für die Arbeit mit Tätern in Institutionen der Ansatz der Institu-
tionellen Psychotherapie wichtig, indem von dem konkreten Individuum abstrahiert und der Patient
beispielsweise als Individuum gesehen wird, der sich wie ein Vektor einbringt. Gerade weil das
Aufbegehren des zwangsuntergebrachten Patienten sein eigentliches Begehren allzu häufig ver-
deckt, muss dieser „therapeutische Vektor" als Verlangen nach Behandlung oder Beziehung be-
nannt werden: Denn insbesondere in der forensischen Psychiatrie entsteht allzu leicht ein sich
verselbständigender Abwehrkampf des Individuums gegen repressive Bedingungen, der das ur-
sprüngliche eigentliche Begehren zu ersetzen droht und in seiner Verrechtlichung unter Umstän-
den auch nicht mehr als Artefakt identifiziert wird. Gerade das wirkliche Begehren des Patienten
aber rechtfertigt erst die Existenz des Behandlungskollektivs in der forensischen Psychiatrie jen-
seits des Sicherungsauftrags. Das bedeutet, dass es institutionell darum geht, sowohl die eigene
Präsenz zu rechtfertigen wie auch diejenige des Patienten und der Institution, was sich ja kei-
neswegs von selbst versteht, ist doch gerade eine Maßregelvollzugseinrichtung häufiger ein Ort
der Ein- und Ausschließung denn ein Ort psychotherapeutischer Öffnung (Kobbé, 1992c).

Der konkrete institutionelle Diskurs

Folgt die Institution einem gezielt induzierten Prozess der forcierten Demokratisierung, treten
hierbei naturgemäss Kommunikations-, Abgrenzungs-, Rollen- und Kompetenzkonflikte auf, da die
Delegation von Verantwortung zugleich auch erhebliche Auswirkungen auf die Prozesse der Ent-
scheidungsfindung innerhalb der Behandlungsbereiche haben muss. Angesprochen ist Tatsache,
dass eine Institution organisationspsychologisch über unterschiedliche Entscheidungsebenen
oder -hierarchien verfügen muß, dass Inhalte nicht beliebig mit allen Mitarbeitern oder Patienten
besprochen werden können, sondern bestimmte Inhalte auch ihren wohldefinierten Ort haben.

Derartige Prinzipien setzen einen institutionellen W iderstand gegen die Versuchung hierarchi-
scher Machtausübung durch Monopolisierung von Informationen, durch direktive Anordnungen
oder durch sanktionierende Kontrollen: Sie erfordern die Sicherstellung von ausreichender Infor-
mation wie die Garantie kooperativer Führungsstile innerhalb der Behandlungsbereiche und -
abteilungen. Voraussetzung hierfür ist vorab die Etablierung von Gremien auf den unterschied-
lichen Ebenen, in denen die unter Umständen erst praxisunmittelbar zu erkennende „Nötigung der
Destruktion (auch eigener) ‚Pseudoaprioris'" nicht nur möglich sondern auch sichergestellt ist, um
die gerade in Reformprojekten nicht seltene „Instrumentalisierung des Praktikers für erkenntnis-
leitende Interessen" zu verhindern (Niemeyer, 1987, S. 210).

Insofern erfolgt durch „Sprengung“ und Rahmensetzung („framing“) nicht nur eine progressive
Korrektur der sich alle Ebenen des Anstaltslebens und -alltags unterordnenden totalen Institution,
sondern auch der reformierten Institutionen, die unter Umständen strukturell und subtil psychothe-
rapeutisch totalisiert sind (Kobbé‚ 1992b, S. 58-60): "Dahin zu tendieren ist ein fast ‚natürlicher',
konservativer Zug jeder Institution, soweit sie sich am Begriff des Bedürfnisses orientiert; ihm zu
entgehen, verlangt eine dialektische Vorgehensweise" (Feuling, 1988, S. 43).

Demzufolge aufbauend bedarf es der Entwicklung einer differenzierten, funktionalen und keines-
wegs ausschließlich berufsgruppenspezifischen Aufgaben- und Kompetenzverteilung, das heißt,
es muss eine Auseinandersetzung von Pflegern, Erziehern, Psychologen, Sozialarbeitern und
Ärzten über die Arbeitsverteilung, die Rollendefinitionen und -abgrenzungen sowie die Formen in-
terdisziplinärer Zusammenarbeit und Kommunikation erfolgen. Letztlich beinhalten diese Verände-
rungen der institutionellen Rollenzuschreibung und Handlungskompetenz, dass eine kompetente
und kooperative Leitung dieses komplexe interdisziplinäre Geschehen ermöglichen und verant-
worten muss, um die Möglichkeiten der willkürlichen Machtausübung wie der Scheu vor Übernah-
me von Verantwortung gleichermaßen zu behindern.

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