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Zerrdruck mit O] 143x143 1988 ...und das Gehirn des Menschen? Du kannst Dein eigenes Gehirn mit Deinem eigenen Gehirn erforschen: Aber nicht ganz. Gédels Theorem wirkt auf den ersten Blick etwas unscheinbar, doch bedenk: Gédel hat recht! Das menschliche Gehirn als Sitz der Seele, des Geistes, des Verstandes, des Traums, des Wahnsinns - ein Topos, das bemerkenswert-merkwiirdigerweise Neuroanatomen, Psychotechnikern sowie anderen Angehdrigen sezierender Berufe mit der Tendenz zur Senkung der Pathologisierungsschwelle vorbehalten zu sein scheint, und auch diesen meist unter dem Gesichtspunkt der sogenannten wissenschaftlichen, erkennt- nisgeleiteten Untersuchung” oder der ,populistischen Lust an der wechselseitigen Psychodiagnostik."* a Wenn nun ein Kistler sein Interesse dem Gehirn des Menschen zuwendet, es abbildet, verfremdet, verfarbt, verformt, zudem in gesellschaftspolitische Zusammenhange bringt - dann schafft er ,Kopigeburten" und arbeitet offensichtlich an der ,Aufhebung von UnbewuBtheit™. Insofern haben die Bilder Bredemeyers keineswegs funktionale reparative gesellschaftliche Funktion, sondern sie aktualisieren dysfunktional® unsere miihsam verdrangend bewaltigten Angste. Zunachst finden sich in seinem groBen Panorama der Erde die linke und rechte Hemi- sphare der Cerebralanatomie ebenso wieder wie die westliche und die dstliche Hemi- sphare unserer politischen Welt. Die Spaltungsmechanismen zwischen Gefiihl und Verstand, Gut und Bése sind ebenso reprasentiert wie die Dualitat und die Komplemen- taritét zweier BewuBtseinspole, wie sie im Prinzip des chinesischen Ying und Yang symbolisiert sind’, Linkshemispharische Gedankenwelt und rechtshemispharische Gefiihlswelt, Kontinente der Ratio und Meere der Emotionen: So ist der Mensch von Ambivalenzen und Ambitendenzen gepragt, wenn er ,an seinem Bilde der Welt leidet, am ungelésten Widerspruch dazwischen, wie die Dinge sind und wie sie seinem Welibild nach sein sollten. Es stehen ihm dann zwei Méglichkeiten offen: aktives Eingreifen, das die Umwelt mehr oder weniger seinem Weltbild angleicht; oder, wo unméglich, umgekehrt die Anpassung seines Weltbildes an die unabander- lichen Gegebenheiten** Hierfir jedoch muB er, miissen seine beiden Gehirne, in Zwiesprache mit sich selbst treten, miteinander kommunizieren anstatt sich domi- nierend zu blockieren. 1 Enzensberger, Hans Magnus: Hommage a Gédel. in: ders.; Gedichte 1955-1970. Suhrkamp, Frankfurt (1971) 168-169 (s. a. Hofstadter, Douglas R.: Gédel, Escher, Bach. Ein Endloses Geflochtenes Band. Kleti-Cotta, Stuttgart [1985],) 2 Marfield, A. F.: Kybernetik des Gehirns. Ein Kompendium der Grund- lagenforschung. Rowohit, Reinbek (1973) Lausch, Erwin: Manipulation. Der Griff nach dem Gehirn. Methoden, Resultate, Konsequenzen der Hirnforschung. Rowohit, Reinbek (1974) Eccles, John C.: Das Gehirn des Menschen. Sechs Vorlesungen fir Horer aller Fakultaten. Piper, Minchen (1979) 3 HGrisch, Jochen: Vexierbilder. in: Heinz, Rudolf: Minora aesthetica. Dokumentation auf Kunst angewandter Psychoanalyse. tende/Focus, GieBen (1985) 7-10 4 Grass, Giinther: Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus. Luchterhand, Darmstadt/Neuwied (1983) 5 Bauriedl, Thea: Die Wiederkehr des Verdrangten. Psychoanalyse, Politik und der einzelne. Piper, Miinchen (1986) 6 Gorsen, Peter: Die gespaltene Funktion der Phantasietatigkeit im gesellschaftlichen Lebenszusammenhang, Die ,kritische Paranoia* als Restpotential dysfunktionaler Phantasie. in: ders.; Salvador Dali, der ,kritische Paranoiker’, Syndikat/EVA, Frankfurt (1980) 95-108 7 Ornstein, Robert: Die Psychologie des BewuBtseins. Fischer, Frankfurt (1976) insb. S. 74 ff. 8 Watzlawick, Paul: Die Méglichkeit des Andersseins. Zur Technik der therapeutischen Kommunikation. Hans Huber, Bern (1978) 72 Kleine Verniicktheit”* ‘van | Zendruck und Ol " 38,5x29,5 1988 Wenngleich das Gehirn topologisch zwei Hemisphiren hat, der Mensch in sich-von Natur aus zwiespiltig und widerspriichlich ist - ,ver-riickt" nennen wir nur einige von uns und lokalisieren diese Verriicktheit entsprechend. Als ,Schizogorsk" identifiziert Vogt’ in seinem Roman eine Welt, die alle Anzeichen kollektiven Wahns aufweist; im Gehirn des Menschen lokalisiert der Erfinder des Elektroschocks Cerletti (in einem Portrat von Enzensberger") den subjektiven Wahn: ,Und ich brachte zwei Elektroden an seinen Schlafen an... Und ich beschlo8 mit 80 Volt Wechselstrom und 0,2 Sekunden anzufangen .. . Und seine Muskeln wurden steif... Und er baumte sich auf... Und er fiel zusammen aber ohne das Bewufitsein zu verlieren .. . Und er fing an sehr laut zu singen... Und dann wurde er still und rihrte sich nicht mehr." - Gewalt pragt unseren Umgang mit den Verriickten cbenso wie wir uns in unserer alltaglichen unbewuBSten 9 Vogt, Walter: Schizogorsk, Fischer, Frankfurt (1986) 10 Enzensberger, Hans Magnus: Mausoleum. Siebenunddreifig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts. Suhrkamp, Frankfurt (1975) 105-107 73

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