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gekommen: In seinem Sohn hat sich Gott in letzt-

ZUR VERBORGENHEIT GOTTES gültiger Weise offenbart, so dass Jesu Wirken,


Sterben und Auferstehen als die Erfüllung der vo-
"MEIN GOTT, MEIN GOTT, WARUM HAST DU rangegangenen Verheißungen und die Vollendung
MICH VERLASSEN?"1 der bisherigen Heilsgeschichte erkannt werden
können.
HANS-JOACHIM ECKSTEIN So beginnt das öffentliche Wirken Jesu nach
dem ältesten Evangelium2 mit den programmati-
schen Worten Jesu: „Die Zeit ist erfüllt und die
Königsherrschaft Gottes ist gekommen – d.h. sie ist
Die Herausforderung der „Rechtfertigung Got-
da3. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“
tes“ angesichts des wahrnehmbaren Übels in der
(Mark 1,15). Angesichts dieses Erfüllungsan-
Welt ergibt sich nicht nur im Rahmen der alttesta-
spruchs der „Guten Nachricht“ von Gottes Offen-
mentlich-jüdischen Überlieferung oder gar aus-
barsein und Gegenwart in Jesus Christus erschei-
schließlich aus der Perspektive des Unglaubens. Im
nen die offensichtlichen Erfahrungen von Leid und
Gegenteil, die sogenannte „Theodizee-Frage“ er-
Krankheit, von Not und Ungerechtigkeit, von Ver-
scheint aufgrund des neutestamentlichen Zeugnis-
gänglichkeit und Tod umso qualvoller. Im auf-
ses sogar nochmals verschärft und dringlicher.
scheinenden Licht des Evangeliums von Gottes
Sosehr die Zeugen des Neuen Testaments sich
einerseits in Kontinuität zu Gottes Reden und Han- 2
Dem Markusevangelium ist auch die Formulierung
deln gegenüber Israel verstehen, sosehr sehen sie unseres Themas entlehnt: Mark 15,34.
mit Christus doch eine heilsgeschichtlich und 3
Mark 1,15 spricht nicht nur von dem nahen Bevor-
offenbarungsgeschichtlich grundlegend neue Zeit stehen der Gottesherrschaft, sondern bereits von seinem
Dasein, seinem gegenwärtigen Angebrochensein in der
Person und dem Wirken Jesu, wie die spätere Formulie-
1
Veröffentlicht in H.-J. Eckstein, Glaube als Bezie- rung Matth 12,28 (par Luk 11,20) eindeutig festhält:
hung. Von der menschlichen Wirklichkeit Gottes, Rei- „Wenn ich aber durch den Geist Gottes die bösen Geis-
he: Grundlagen des Glaubens 2, Holzgerlingen 2006, ter austreibe, so ist ja die Königsherrschaft Gottes zu
71-97. euch gekommen“ (vgl. Mark 3,27).

1
Zuwendung und Herrlichkeit wird die Erfahrung lem Menschlichen in ganz grundsätzlicher Weise
der „dunklen Seiten Gottes“ umso schmerzlicher unterschieden, und sein „Gottsein“ wird dem ver-
empfunden. gänglichen und fehlbaren Menschen kritisch ge-
genübergestellt.
Wenn wir dennoch von einer „personhaften E-
DIE VORAUSSETZUNGEN DER xistenz“ Gottes sprechen, dann deshalb, weil Gott
als liebend und erwählend, als sprechend und han-
THEODIZEEFRAGE
delnd beschrieben wird. Gott entscheidet sich dazu,
die Welt zu erschaffen und mit Abraham und den
Warum leiden Hiob und die Beter der Klage-
Vätern ein Volk zu begründen, das ihm zugehören
psalmen an Gottes Schweigen und Unwirksam-
soll. Er offenbart sich den Menschen und lässt sich
keit? Und warum stellt sich die Frage nach dem
von ihnen mit seinem Namen – „Jahwe“, „Er wird
Verborgensein Gottes seit seiner Offenbarung in
(da)sein!“ – anrufen (2 Mose 3,13ff). Er eröffnet in
Christus um so dringlicher? Vergegenwärtigen wir
seiner „Willensverfügung“ – in seinem „Bund“ –
uns zur Klärung die grundsätzlichen Vorausset-
die wechselseitige persönliche Beziehung zwi-
zungen, die die alttestamentliche wie neutesta-
schen Gott und seinen Menschen: „Ihr sollt mein
mentliche Rede von Gott bestimmen und die die
Volk sein, und ich will euer Gott sein!“ (3 Mose
„Theodizee-Frage“ als solche überhaupt erst un-
26,11f; Hes 37,27; vgl. Offb 21,3). Wie personhaft
ausweichlich machen.
die Gottesvorstellung und wie persönlich die Got-
tesbeziehung bereits in der alttestamentlichen Ü-
1.) Was weder für die Antike noch für die Neu-
berlieferung bestimmt sind, zeigt sich an dem
zeit selbstverständlich ist, gilt durchgängig für die
grundlegenden Bekenntnis und Gebot Israels in 5
biblische Tradition: Gott wird als personhaft exis-
Mose 6,4f: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott,
tierend erkannt. Nicht dass er naiv mit einer
der HERR allein. Und du sollst den HERRN, deinen
menschlichen Person verwechselt würde oder
Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele
menschliche Züge auf ihn projiziert werden soll-
und mit aller deiner Kraft“ (vgl. Mark12,28-34).
ten. Im Gegenteil, sein „Personsein“ wird von al-

2
2.) Mit diesem zentralen Bekenntnis kommt be- xistenz anderer, Gott widerstrebender Mächte und
reits ein zweites grundlegendes Merkmal bibli- Einflüsse sind mit der Anerkennung Gottes als des
scher Gottesvorstellung in den Blick: Es wird von allmächtigen Vaters nicht ausgeschlossen.6
diesem „HERRN, unserem Gott“ nämlich gesagt,
dass er nicht nur für sich allein existiert und auch die lebensabträgliche und beziehungsgefährdende Wirk-
nicht nur für einzelne Glaubende, sondern als der lichkeit, werden Sterben und Hass im Zusammenhang
eine und wahre Herr der Menschen, der Welt und der menschlichen Verfehlung und Auflehnung gegen-
über Gott als Schöpfer gesehen (vgl. 1 Mose 1-3; Röm
der Geschichte. Diese universale Macht und Be-
1,18 - 3,20; 5,12-21; 7,7-25). Darin kommt einerseits
deutung des Gottes Israels und des Vaters Jesu die Überzeugung zum Ausdruck, dass Gott als Schöpfer
Christi bekennen wir traditionell mit den Worten: Tod, Hass und Leiden seiner Geschöpfe nicht will und
„Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, die den Menschen bestimmende Sünde nicht zum We-
den Schöpfer des Himmels und der Erde“. sen seiner Schöpfung gehört („Und Gott sah an alles,
was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ 1
Gelegentlich wird der Begriff der „Allmacht Mose 1,31); andererseits verdeutlicht das Aufkommen
Gottes“ in Anführungszeichen gesetzt, weil er auch der Sünde schon bei Adam und Eva, dass die Sünde die
Missverständnisse hervorrufen könnte. In der Tat Existenz der Menschen von Anfang an, d.h. seit Geden-
besagt das Bekenntnis zu Gottes Allmacht und ken, bestimmt. Die Frage nach dem „Woher“ der Sünde,
Herrschaft nicht zwangsläufig, dass alles Gesche- wird mit dem Hinweis auf die Auflehnung der Men-
schen gegenüber Gott als ihrem Ursprung beantwortet:
hen in der Welt – sei es gut oder böse, lebensför- Die Sünde als Tat und als Macht kommt vom Sündigen!
dernd oder vernichtend – unmittelbar auf Gott als Der Mensch stirbt in Konsequenz seiner eigenen Sünde,
einzige Ursache zurückgeführt werden muss.4 Die nicht infolge der Schöpfungsabsicht Gottes (1 Mose
eigene Verantwortung der Menschen5 und die E- 2,16f; Röm 5,12; 6,23). Die in unserem Zusammenhang
drängende Frage nach dem Woher der Möglichkeit der
Sünde und des Sündigens in Gottes guter Schöpfung
4
Das Bekenntnis zur „Allmacht Gottes“ setzt also bleibt freilich jeweils offen.
6
nicht zwangsläufig den sogenannten „Monismus“ vor- So findet sich in der biblischen Tradition verbrei-
aus, also die „Einheitslehre“, die die Gesamtwirklichkeit tet die Überzeugung, dass die vorfindliche Welt und ih-
auf ein Grundlegendes, eine einzige Wirkursache zu- re Geschichte aus zwei unvereinbaren, widerstreitenden
rückführt. Kräften bzw. Prinzipien zu erklären sind:
5
Sowohl im Alten wie im Neuen Testament wird Licht/Finsternis, Liebe/Hass, Leben/Tod – und damit

3
Aber es wird – gerade angesichts entgegenge- aufgebbar.
setzter Erfahrungen und Anfechtungen – mit dem
Bekenntnis zu Gott als Herrn hervorgehoben, dass 3.) Zu einer wirklichen Spannung kommt es
er die Macht und den Willen hat, sich gegenüber angesichts der Welterfahrung und des eigenen Lei-
dieser Welt und Geschichte endgültig durchzuset- dens durch die dritte Voraussetzung der biblischen
zen. Vorstellung von Gott, die in der Entfaltung der
Ob sich die Hoffnung dieses endgültigen Ein- beiden ersten bereits mit angeklungen ist. Gott
greifens Gottes noch auf diese Welt bezieht oder wird nämlich nicht nur als personhaft existierend
auf Gottes neuen Himmel und seine neue Erde, ob und als allmächtig beschrieben, sondern zugleich
die siegreiche Wende sich für den Einzelnen noch auch als gütig, gerecht und liebend. Er fordert nicht
im diesseitigen Leben abzeichnet oder mit der nur von den Menschen, dass sie sich gemein-
Auferstehung zu einem neuen Leben – in jedem schaftsbezogen und lebensfördernd verhalten sol-
Fall gilt: Der Glaube an Gott als den Allmächtigen len, sondern er sagt ihnen seine Gemeinschafts-
ist für das alttestamentliche wie für das neutesta- treue und uneingeschränkte Liebe zu: „Nicht hat
mentliche Gottesverständnis grundlegend und un- euch der HERR angenommen und euch erwählt,
weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist
das kleinste unter allen Völkern –, sondern weil er
Gott und sein Widersacher (der Satan, der Teufel, der
Böse, der Verkläger, der Fürst dieser Welt) bzw. die euch geliebt hat ...“ (5 Mose 7,7f). – „Ich habe dich
Macht der Sünde und des Todes. Im Unterschied zum von jeher geliebt. Darum habe ich dich zu mir ge-
„Monismus“ spricht man dann in Hinsicht auf diese du- zogen aus lauter Güte“ (Jer 31,3). – „Kann auch
alen Gegensätze von „Dualismus“. Entscheidend ist eine Frau ihres Kindleins vergessen, dass sie sich
auch hier wieder, dass die Frage des Woher des Bösen
nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob
und des Ursprungs des Widersachers in den biblischen
Texten selbst – im Gegensatz zu späteren Spekulationen sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht
– seltsam offen bleiben. Die Sünde kommt in ihrer Be- vergessen“ (Jes 49,15).
drohung für den Menschen und in dessen Erlösung von Die Vorstellung von Gott als einem liebenden,
ihr in den Blick. Dualistische Spekulationen über eine gerechten und treuen Gegenüber bildet die dritte
vorgeschichtliche Zeit sind den biblischen Texten
fremd. entscheidende Voraussetzung für die Klage und

4
Anfrage in der Erfahrung der Verlassenheit und zugleich personhaft existiert und allmächtig ist,
Dunkelheit. Wäre er nach dem biblischen Zeugnis wenn wir von seiner Liebe in unserer Welt und in
wechselhaft und unbeständig, so könnte man alle unserem eigenen Leben so wenig sehen können?
Leiderfahrung seiner Ablehnung und seiner Unbe- Kann ein liebender Gott, der all das Leid in der
rechenbarkeit zuschreiben. Da er aber nach seinem Welt zulässt, wirklich als allmächtig gedacht wer-
Wesen liebend und gerecht sein soll, da er Licht ist den, oder ist er selber den lebens- und menschen-
und nicht Finsternis, erscheint eine von Ungerech- feindlichen Ereignissen gegenüber hilflos? Haben
tigkeit und Hass erfüllte Wirklichkeit als unverein- wir uns Gott angesichts all der Widersprüche in der
bar mit dem Glauben an die Güte und Zuverlässig- Natur und der Geschichte vielleicht gar nicht als
keit Gottes. liebend vorzustellen, sondern als willkürlich und
zerstörerisch? Oder sehen wir uns bei nüchterner
Analyse der Weltgeschichte gar zu dem Einges-
AUSWEGE AUS DER UNVEREINBARKEIT? tändnis gezwungen, dass wir wohl an dem Ideal
und der Macht der Liebe festhalten wollen, aber
Diese drei Voraussetzungen des biblischen Got- Gott nicht länger als personhaft existent denken
tesbekenntnisses – nämlich die der Existenz, der können? Ist Gott als liebender Vater und mächtiger
Allmacht und der Liebe Gottes – lassen sich mit Herr etwa „gestorben“, ist Gott „tot“? Oder hat er
der leidvollen Wirklichkeitserfahrung auch für in Wahrheit nie wirklich und außerhalb des Glau-
Glaubende nicht einfach zur Deckung bringen! Sie bens existiert?
stehen schon für Israel und für die frühe christliche
Gemeinde in einem schmerzhaft empfundenen Es ist durchaus verständlich, dass Menschen
Widerspruch zu ihrer unmittelbaren Wahrnehmung angesichts des Leides in der Welt und im eigenen
und Alltagserfahrung. Und angesichts der langen Leben darum ringen, wie sie der Ausweglosigkeit
Geschichte stellt sich das Problem für Israel wie dieses Widerspruchs von Gottesglauben und Welt-
für die Kirche eher noch dringlicher als zu bibli- erfahrung entkommen können. Ist es möglich, eine
schen Zeiten. der drei biblischen Voraussetzungen des Glaubens
Wie können wir daran festhalten, dass Gott an Gott preiszugeben, um wenigstens die beiden

5
anderen Elemente des Bekenntnisses zu retten? nem eigenen Verheeren von Gott, seiner Gerech-
Aber wer wollte das Bekenntnis zu Gottes Liebe, tigkeit und Liebe abbringen wollen? Bis hin zum
Gerechtigkeit und Treue opfern, um Gottes all- letzten Buch der Bibel wird doch von diesem apo-
mächtiges Wirken in der Widersprüchlichkeit von kalyptischen Kampf um die Herrschaft der Welt
Liebe und Hass, Licht und Finsternis, Leben- und den bestimmenden Einfluss auf die Mensch-
Schaffen und Töten logisch denken zu können? heit berichtet, dessen unheilvolle Auswirkungen
Darf man andererseits den Tod Gottes proklamie- gerade auch die an Gott Glaubenden zu erleiden
ren, nur um den Glauben an das Ideal der Liebe haben.
und der Macht des Lebens trotz aller widersprüch- Aber gerade die Offenbarung des Johannes mit
lichen Welterfahrung festhalten zu können? Scheut ihren unverschleierten Darstellungen endzeitlicher
man sowohl von der Preisgabe der Liebe Gottes Leiden, Kriege und Nöte widerstreitet jedem Zwei-
wie vor dem beklemmenden Gedanken der Nicht- fel und jeder Preisgabe des Bekenntnisses zu Got-
existenz Gottes zurück, dann mag der Verzicht auf tes Allmacht. Soll denn offen bleiben, ob am Ende
das Bekenntnis zu Gottes Allmacht für viele noch der Geschichte nicht doch Sünde, Tod und Teufel
am ehesten nachvollziehbar zu sein. die Oberhand über Gottes Schöpfung behalten und
über seine Gerechtigkeit und Liebe triumphieren?
Im Gegenteil, will doch die Offenbarung gerade
IST GOTT NICHT ALLMÄCHTIG? die Leidenden und Verfolgten in ihrer Anfechtung
trösten und des endgültigen – wenn auch jetzt noch
Gehen die biblischen Traditionen nicht vielfach nicht für alle sichtbaren – Sieges Gottes und seines
davon aus, dass der Mensch durch seine Abwen- Christus vergewissern.
dung von Gott die gute Schöpfung Gottes gefähr- Nicht erst in der triumphalen Darstellung des
det hat und sein von Gott geschenktes Leben durch definitiven Sieges über den Tod und des Erschei-
seine eigene Unverantwortlichkeit verwirken nens Gottes zum Trost seiner Menschen (Offb 19-
kann? Wissen nicht Altes und Neues Testament 22) wird diese Gewissheit besungen und bezeugt,
auch von widergöttlichen Mächten und Wesen zu sondern von Anfang an und inmitten aller wider-
berichten, die den Menschen versuchen und zu sei- sprechenden Erfahrungen: „Füchte dich nicht! Ich

6
bin der Erste und der Letzte und der Lebendige.
Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewig-
keit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel der Hölle IST GOTTES WESEN GESPALTEN?
und des Todes“ Offb 1,17 (vgl. 1,5-8; 5,5ff) –
„Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich un- Während angesichts der von Menschen und Na-
seres Gottes geworden und die Macht seines Chris- tur hervorgerufenen Katastrophen des letzten Jahr-
tus ...“ (Offb 12,10; vgl. 11,15; 19,6). hunderts viele traditions- und kirchenkritische
So will gerade die Offenbarung, die die grauen- Zeitgenossen eher die Existenz eines personhaften
volle Wirklichkeit einer gottfeindlichen und men- transzendenten Wesens in Zweifel gezogen haben
schenverachtenden Herrschaft ungefiltert in den und bis hinein in theologische und kirchliche Krei-
Blick nimmt, das ungeteilte Bekenntnis zu Gottes se den „Tod Gottes“ proklamierten, wird die Span-
heiliger Existenz, zu seiner wahrhaftigen Gerech- nung zwischen Gottesglaube und Welterfahrung in
tigkeit und zu seiner ungebrochenen Größe und konservativen Kreisen häufiger durch die Ein-
Allmacht vergegenwärtigen: „Groß und wunder- schränkung des Bekenntnisses zu Gottes unbeding-
sam sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! ter Liebe aufgelöst. Die Widersprüche der Welter-
Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du Kö- fahrung scheinen für manche erträglicher zu wer-
nig der Völker. Wer sollte dich nicht fürchten, den, wenn auch alles Leid der Welt und alle Grau-
Herr, und deinen Namen preisen? Ja, alle Völker samkeit der Geschichte unmittelbar auf Gottes
werden kommen und anbeten vor dir, denn deine Willen und sein eigentliches Wesen zurückgeführt
gerechten Gerichte sind offenbar geworden“ (Offb werden können. Dann will Gott das Leben für die
15,3f). Menschen oder auch ihren Tod; dann kann er Men-
Sosehr die Frage nach der Möglichkeit und schen lieben, aber andere auch hassen; dann kann
Wirksamkeit widergöttlicher und menschenverach- er erwählen und treu sein, aber auch verlassen und
tender Kräfte und Einflüsse auch verunsichern endgültig verwerfen; dann will er einerseits, dass
mag, sowenig wäre den Leidenden ausgerechnet die Welt versöhnt und gerettet wird und anderer-
mit der Preisgabe der Hoffnung auf Gottes endgül- seits will er sie zerstören. Aber hat der Vater Jesu
tigen Sieg über alle Mächte geholfen. Chrisit ein doppeltes Gesicht gleich dem römi-

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schen Gott Janus? Ist Gottes Wesen gespalten? dass er uns also unbedingt und nicht konditioniert
Ganz abgesehen davon, dass das „Evangelium“ liebt: „Gott aber erweist seine Liebe gegen uns dar-
von Jesus Christus sich gerade im Hinblick auf die in, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch
grenzenlosen Liebe Gottes als wahrhaft „erfreuli- Sünder waren“ (Röm 5,8; vgl. 5,6-10). Die Ge-
che Nachricht“ erweist, – wie will jemand ohne wissheit, dass uns nichts von Gottes Liebe in
Selbstbetrug und Heuchelei ausgerechnet in der Christus trennen kann (Röm 8,37-39), gründet also
Abschwächung der Liebe Gottes zugunsten einer nicht in unserer eigenen Treue und Liebe, sondern
einfacheren Welterklärung Trost und Gewissheit in dem Zuspruch, dass Gott uns in Christus seine
finden? Wer könnte denn von sich behaupten, dass grenzenlose und unbedingte Liebe offenbart hat,
er sich aufgrund seines eigenen Lebens und Glau- von der er nach seiner Verheißung nicht mehr las-
bens die Liebe und Erwählung Gottes von sich aus sen will.7
verdient hätte? Inwiefern erscheint der Schrecken
der Ungerechtigkeit und des Elends denn geringer,
wenn das unermessliche Leid anderer mit ihrer ei- GOTT IST LIEBE, LEBEN UND LICHT
genen Schuld und Gottes Verwerfung erklärt wird?
Und was ist, wenn gerade Glaubende durch So bleibt es nach all diesen Erwägungen dabei,
Krankheit, Not und Leid betroffen sind? Soll es dass die Spannung zwischen der leidvollen Wirk-
sich dann um willkürliche – oder gar absichtsvolle lichkeitserfahrung und dem Bekenntnis zu Gottes
– Strafe Gottes handeln? Oder sollen die Betroffe- Existenz, seiner Allmacht und Liebe keinesfalls
nen zu allem Leid auch noch mit ihrem Zweifel an dadurch abgeschwächt werden kann, dass eine der
der persönlichen Erwählung und dem eigenen
Glauben allein gelassen werden? 7
S. zum Ganzen H.-J. Eckstein, Glaube, der er-
Der ganze Trost des Evangeliums liegt darin, wachsen wird, 6. Aufl., Holzgerlingen 2002, 19-53;
dass Gott sich uns nicht erst aufgrund unseres lie- ders., Das Wesen des christlichen Glaubens. Nachden-
benswerten Verhaltens und unserer Gerechtigkeit ken über das Glaubensverständnis bei Paulus, in: Ders.,
zugewandt hat, sondern als wir unsererseits in Ab- Der aus Glauben Gerechte wird leben. Beiträge zur
Theologie des Neuen Testaments, BVB 5, Münster u.a.
lehnung und Feindschaft ihm gegenüber lebten, 2003, 3-18.

8
drei Grundlagen des biblischen Gottesglaubens ab- sel des Lichts und der Finsternis“ (Jak 1,17).
geschwächt oder gar aufgegeben wird. Auch für Für den distanzierten Beobachter mag diese
den Glauben kommt es gegenwärtig noch nicht zu „dualistische“ Wirklichkeitsdeutung, die das Böse
einer Aufhebung der Spannung zwischen der bib- nicht auf Gott zurückführt, sondern auf andere rät-
lisch bezeugten Realität Gottes und der erfahrenen selhaft erscheinende Ursachen, letztlich keinen
Wirklichkeit, zwischen dem Offenbarsein Gottes entscheidenden Unterschied machen. Wenn Gott
und seiner Verborgenheit, zwischen den hellen als existierend, allmächtig und liebend gedacht
Seiten der Selbsterschließung Gottes und den wird, bleiben die bohrenden Fragen nach seinem
dunklen Seiten seines Entzogenseins. Schweigen und seinem Nichteingreifen jedenfalls
Für viele Leidtragende und Trauernde bedeutet bestehen. Und dennoch hat es gute Gründe, wenn
es allerdings einen großen Unterschied, dass sie das neutestamentliche Zeugnis die spannungsvolle
das unerklärliche Leid nicht auf Gottes Wechsel- Gesamtwirklichkeit und widersprüchliche Ge-
haftigkeit und Ablehnung zurückführen müssen, schichte gerade nicht einfach „monistisch“ – d.h.
sondern ihn als die Liebe und das Leben in Person als Entfaltung eines Einheitsprinzips und eines ein-
glauben dürfen. Seine Existenz, seine Liebe und zigen Grundlegenden – deutet. Gewiss, wenn Men-
seine Allmacht garantieren einerseits, dass er sich schen leiden und sterben, hat Gott offensichtlich
endgültig als der liebende Vater und zugewandte nicht verhindernd eingegriffen und es augenschein-
Gott offenbaren wird; und sie besagen andererseits, lich nicht abgewendet. Allerdings bedeutet es für
dass Tod, Hass und Finsternis nicht seinem Wesen viele Betroffene alles, dass damit nicht gesagt wer-
und seiner Absicht zugeschrieben werden müssen. den muss und darf, dass Gott den Tod, den Verlust
Gottes Wesen ist nicht gespalten, so dass er sowohl und das Leid seiner Menschen will. So rätselhaft
liebend wie lieblos zu denken wäre, sondern sein dieser Trost auch für nicht Betroffene erscheinen
Wesen ist Liebe: „Gott ist Liebe“ (1 Joh 4,16). – mag, für Leidende bedeutet es viel, dass sie mit der
„Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis“ (1 Gefährdung ihres eigenen Lebens und dem Verlust
Joh 1,5). – „Alle gute Gabe und alle vollkommene eines geliebten Menschen nicht auch noch das Ver-
Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des trauen auf ihren Gott, den Glauben an die Liebe
Lichts, bei dem keine Veränderung ist noch Wech- und die Hoffnung auf das Leben verlieren.

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zunächst noch schärfer hervortritt. Dies liegt zum
einen an der unvergleichlichen Heils- und Erfül-
ZEIT DER OFFENBARUNG lungsgewissheit, in der Jesus nach dem Zeugnis
des Markusevangeliums seine öffentliche Wirk-
Sosehr diese Unterscheidungen zwischen „ver- samkeit beginnt: „Die Zeit – des Leidens dieser
ursachen“ und „zulassen“, zwischen „bewirken“ Welt und die des verheißenen göttlichen Heils – ist
und „noch nicht überwinden“ gedanklich sinnvoll erfüllt, und die Königsherrschaft Gottes ist ge-
sind und einzelne Leidtragende auch trösten kön- kommen – d.h. sie ist in meiner Person, meinem
nen, sosehr sagt das neutestamentliche Zeugnis ü- Wirken, Verkündigen und Geschick da. Kehrt um
ber die Spannung zwischen Gottes Offenbarsein und glaubt an das Evangelium!“ (Mark 1,15). Es
und seiner Verborgenheit noch viel Bedeutenderes liegt zum anderen an den Zeugnissen einer einzig-
und Hilfreicheres aus. 8 artigen Legitimation Jesu und seiner Botschaft
Wir hatten uns bereits vergegenwärtigt, dass durch Gott selbst aus dem geöffneten Himmel:
mit dem „Anfang des Evangeliums von Jesus „Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich
Christus“ (Mark 1,1) das belastende Rätsel der Wohlgefallen!“ (Mark 1,11). – „Das ist mein ge-
Sünde und des Leidens, der Ungerechtigkeit und liebter Sohn, den sollt ihr hören!“ (9,7).9
des Todes nicht einfach vergessen wird, sondern Nun ist die Zeit der Verborgenheit Gottes abge-
löst durch die Zeit seiner Offenbarung in Gestalt
8
Entscheidend bleibt in jedem Fall, dass solche re- seines Sohnes. Die gottfeindlichen und menschen-
lativierenden – d.h. das Leid ins Verhältnis zum Ganzen verachtenden Mächte werden besiegt durch den
setzenden – Argumente von den Betroffenen nur selbst Anbruch der heilvollen Gottesherrschaft; und der
als hilfreich angenommen werden können und nicht
Widerspruch zwischen der geglaubten Realität des
lieblos von Nichtbetroffenen als Rationalisierungen des
Unerklärlichen verwendet werden sollten. Das Gleiche liebenden und allmächtigen Gottes und der erlitte-
mag auch für die Relativierung der gegenwärtigen Lei-
9
den angesichts der zukünftigen Erlösung und Herrlich- S. zum Ganzen H.-J. Eckstein, Glaube und Sehen.
keit gelten, die der verfolgte Apostel angesichts seiner Markus 10,46-52 als Schlüsseltext des Markusevangeli-
eigenen Leiden glaubhaft weitergeben kann: 2 Kor ums, in: Ders., Der aus Glauben Gerechte wird leben
4,17f; Röm 5,3ff. (s.o.), 81-100.

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nen Wirklichkeit einer gottverlassenen Welt tungswundern zu berichten, in denen der Sohn
scheint endgültig überwunden. Der Himmel ist Gottes sich als Herr über die Not und den Mangel
nicht länger verschlossen, sondern geöffnet; und der Menschen, über das lebensbedrohliche Meer
Gottes Existenz, sein Wirken und sein Wesen er- und den Sturm erweist.16
scheinen nicht länger als dunkel und verborgen,
sondern als licht und offenbar.
Dementsprechend werden durch den Sohn Got- DIE PARADOXE HERRSCHAFT DES DIENENS
tes Besessene von der Tyrannei der Dämonen be-
freit10; Gelähmte werden wiederhergestellt11, und Würde man nur die erste Hälfte des Markus-
Aussätzige werden rein12, Blinde werden sehend13, evangeliums vernehmen, dann müsste man fast den
und Taubstumme können hören und sprechen14. Eindruck gewinnen, dass der Evangelist keine
Langjährig Erkrankte werden geheilt und sogar Verborgenheit der Realität Gottes und keine dunk-
Verstorbene zum Leben auferweckt15. Darüber len Seiten in der Glaubenserfahrung mehr kennt.
hinaus weiß der Evangelist von zahlreichen Ret- Denn die menschenfreundliche Güte Gottes offen-
10
bart sich hier durch das Wirken und Verkündigen
Heilungen von Besessenheit: Mark 1,23-28.32-
Jesu so überwältigend und machtvoll, dass alles
34.39; 3,12; 5,1-20; 7,24-30; 9,14-29; vgl. Mark 3,23-
27. Leid und alle Dunkelheit vergessen scheinen. Er-
11
S. Mark 2,1-12; 3,1-6. staunt es da, dass auch der engste Jüngerkreis an
12
S. Mark 1,40-45. Jesus als den verheißenen Messias Erwartungen
13
S. Mark 8,22-26; 10,46-52. eines triumphalen politischen bzw. endzeitlichen
14
S. Mk 7,31-37 mit der an Gottes „gute Schöp-
fung“ (1 Mose 1,31) und an die Heilsverheißungen bei
Herrschers heranträgt (Mk 8,27-30; 10,35-45)?
Jesaja (Jes 35,5.6) erinnernden Reaktion der überwältig- Doch das wahre Geheimnis der Person und des
ten Zeugen des Wirkens Jesu: „Er hat alles wohl ge- Wirkens Jesu ist mit alledem noch keineswegs hin-
macht; die Tauben macht er hören und Sprachlose re- reichend erfasst. Im Gegenteil, das was den Sohn
den“ (Mark 7,37). Gottes ausmacht und was die Offenbarung Gottes
15
S. Mark 5,21-43. Vgl. neben den einzelnen Hei-
lungserzählungen auch die programmatischen Sammel-
16
berichte: Mark 1,32-34; 3,7-12; 6,53-56. S. Mk 4,35-41; 6,32-44.45-52; 8,1-10.

11
in ihm als einzigartig qualifiziert, ist gerade nicht Lebens Gott und den Menschen zu dienen.
mit einer unreflektierten, wenn auch noch so ver- „Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschen-
ständlichen „Theologie der Herrlichkeit“ – einer sohn muss viel leiden und verworfen werden von
theologia gloriae – zu erfassen. Die zweite und den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftge-
entscheidende Hälfte des Evangeliums enthüllt in lehrten und getötet werden und nach drei Tagen
der nachdrücklichen Belehrung der Jünger – wie auferstehen“ (Mark 8,31). – „Ihr wisst, die als
der späteren Gemeinde – durch Jesus (Mark 8,27 – Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ih-
10,45), dass Gott einen anderen als den menschlich re Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es
naheliegenden Weg zur Erhellung der Dunkelheit unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter
und zur Überwindung der Trennung und Verbor- euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch
genheit gewählt hat. der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn
Entgegen mancher traditionellen Erwartung an auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass
die machtvolle Offenbarung Gottes durch die Herr- er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein
schaft des „Menschensohns“ (vgl. Dan 7,13f) zielt Leben gebe als Lösegeld für viele“ (Mark 10,42-
der Weg Jesu nicht auf die Zerschlagung und Un- 45).
terwerfung derer, die Gott durch ihre Ungerechtig-
keit und Untreue verraten haben, sondern auf deren
Rettung. Und die Zugehörigkeit des Gottessohnes „MEIN GOTT, MEIN GOTT, WARUM HAST DU
zu seinem himmlischen Vater zeigt sich gerade
MICH VERLASSEN?“
nicht darin, dass er sich als machtvoller Herrscher
über das Leid und die Not der Menschen erhebt,
Schon mit diesen Hinweisen auf Jesu hinge-
sondern darin, dass er selbst den Weg ins Leiden
bungsvollen Weg bis hin zum Einsatz seines eige-
auf sich nimmt. Seine Größe erweist sich in der
nen Lebens wäre unverkennbar, dass Markus das
Fähigkeit, sich aus Liebe zu Gott und den ihm an-
Evangelium von Jesus Christus nicht im Sinne ei-
vertrauten Menschen selbst der Erniedrigung aus-
ner vordergründig verstandenen „Theologie der
zusetzen; und seine souveräne Herrschaft offenbart
Herrlichkeit“ entfalten kann und will, sondern aus-
sich gerade in der Bereitschaft, unter Einsatz seines

12
drücklich und unausweichlich als „Theologie des Jesu (Mark 15,33), nachdem sich doch zuvor bei
Kreuzes“ – nicht als theologia gloriae, sondern als seiner Taufe und Verklärung der Himmel über ihm
theologia crucis. Und schon bis hierher ist den bestätigend geöffnet hatte und ihn in seiner wahren
Jüngern – und mit ihnen der späteren Gemeinde – Herrlichkeit erstrahlen ließ (Mark 1,9-11; 9,2-10).
unausweichlich vor Augen geführt worden, dass Der Abgrund des Leidens Jesu – und damit die
der Weg der Nachfolge seiner Jünger in keine an- Höhe seines Einsatzes für die, die er grenzenlos
dere Richtung führen kann als die, die Jesus selbst und unbedingt liebt – kommt am erschütterndsten
vorangeht: „Wer mir nachfolgen will, der verleug- durch den verzweifelten Schrei des Gottessohnes
ne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und nach seinem himmlischen Vater in seiner Todes-
folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, stunde zum Ausdruck: „Mein Gott, mein Gott, wa-
der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert rum hast du mich verlassen?“ (Mark 15,34) Wie
um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der an Gott verzweifelnde Beter des 22. Psalms
der wird's erhalten“ (Mark 8,34f). und wie unzählige Menschen nach ihm erfährt der
Das ungeheuerliche Ausmaß dieser Entschei- Sohn Gottes in seiner eigenen Todesstunde Gott,
dung Jesu, an Gottes Liebe und der Liebe zu den seinen Vater, als verborgen und nicht offenbar, als
Menschen festzuhalten bis zur letzten Konsequenz ihn verlassend und nicht treu zu ihm stehend, als in
des eigenen Leidens, wird aber spätestens in der Dunkelheit verhüllt und nicht in Herrlichkeit und
schonungslosen Darstellung des folgenden Verra- Liebe strahlend, als nicht eingreifend und rettend,
tes, der Gefangennahme und des qualvollen Ster- sondern schweigend.
bens am Kreuz beklemmend deutlich (Mark 14,12 Gewiss mag man in theologischer Korrektheit
– 15,47). Hier führt ausgerechnet das Erfüllungs- sofort ergänzen wollen, dass der Vater ihn in
geschehen der Gottesherrschaft in das Erleiden Wahrheit nicht verraten und im Stich gelassen hat,
völliger Machtlosigkeit; und die Offenbarung der sondern mit ihm und an der Verzweiflung seines
Herrlichkeit des Gottessohnes muss sich in der Er- eigenen geliebten Sohnes gelitten hat. Und gewiss
fahrung der Verborgenheit seines himmlischen Va- ist auch wahr, dass das Evangelium mit diesem
ters bewähren. Wie paradox erscheint der in Fins- Schrei nicht enden kann und will, sondern in dem
ternis verschlossene Himmel in der Todesstunde Erweis der Existenz und Macht und Liebe des

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himmlischen Vaters durch die Auferweckung sei- und den Glauben wie den Zweifel befriedigende
nes Sohnes am dritten Tage gipfelt (Mark 16,1-8; Antwort auf die nach wie vor unausweichliche
vgl. 8,31; 9,31; 10,33f). „Theodizee-Frage“? Hilft sie bei der unabwendba-
Doch ruft dieser Verzweiflungsschrei des ster- ren Herausforderung der „Rechtfertigung Gottes“
benden Gottessohns uns unausweichlich in Erinne- angesichts der Ungerechtigkeit, der Ohnmacht und
rung, dass er für uns und mit uns eben die Einsam- des Todes und im Hinblick auf das Bekenntnis zu
keit und Finsternis, die wir erleiden, ertragen hat. Gottes Liebe, Allmacht und Existenz?
Er hat sich als das Licht in unsere Finsternis bege- Die Antwort des Evangeliums besteht nicht in
ben, so dass unsere Finsternis nicht mehr dieselbe einer Verharmlosung oder Verleugnung des blei-
bleibt. Er hat die Erfahrung der Ablehnung und benden Widerspruchs von geglaubter Realität des
Verlassenheit, der Ohnmacht und Einsamkeit als liebenden Gottes und erfahrener Wirklichkeit der
der Sohn Gottes selbst ertragen, damit wir sie fort- Anfechtung und Einsamkeit. Die Nachfolge Jesu
an nie mehr in dieser Tiefe und ausweglosen Ver- wird den Jüngern wie der späteren Gemeinde nicht
zweiflung – nämlich ohne die Gewissheit seiner als Weg der Herrlichkeit und unbeschwerten Herr-
göttlichen Gegenwart – erleiden müssen. schaft angekündigt, sondern als ein Weg des Lei-
dens – trotz, ja teilweise sogar gerade wegen ihres
Glaubens. Denn die Ablehnung, die Jesu entschie-
dener Einsatz für Gott und die ihm anvertrauten
ZUR VERBORGENHEIT DES IN CHRISTUS
Menschen in dieser Welt provozierte, wird sich
OFFENBAREN GOTTES wohl überall da wiederholen, wo Menschen in sei-
ner Nachfolge für Gottes Gerechtigkeit und Liebe
Was bedeutet diese unerwartete Entfaltung der eintreten.
Offenbarung der Größe und Herrlichkeit des Got- Das, was sich durch die Offenbarung Gottes in
tessohnes in Gestalt des stellvertretenden Leidens seinem von Menschen verratenen und gekreuzigten
und der Niedrigkeit für die Frage nach dem Ver- Sohn ganz grundlegend geändert hat, ist die Ge-
borgensein Gottes in der Geschichte und im eige- wissheit, dass er in Christus auch in unserem Lei-
nen Leben der Glaubenden? Gibt sie eine rationale den selbst und persönlich gegenwärtig und nicht

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entzogen ist, dass er treu und gerecht ist, auch
wenn wir seine Liebe nicht verstehen können. Und THEOLOGIE DES KREUZES ALS THEOLOGIE
in der paradoxen Situation der Anfechtung und des
DER HERRLICHKEIT
Zweifels gilt, was der Gebetsschrei in sich selbst
bereits zum Ausdruck bringt. Der Beter mag sich
Ein mögliches Missverständnis dieser Entfal-
wohl als verlassen erfahren und Gott als verborgen
tung des Evangeliums als „Theologie des Kreuzes“
erleben, er wendet sich in seinem Hilferuf mit sei-
sei abschließend noch angesprochen. Es handelt
ner Anrede „Mein Gott, mein Gott!“ aber an eben
sich bei der Kreuzestheologie – wie wir sie im
diesen Gott, ohne dessen Existenz und Macht und
Markusevangelium oder etwa bei Paulus entfaltet
Liebe er nicht leben kann. Und mitten in seiner
finden – nicht etwa um die Preisgabe der Hoffnung
Klage und Anklage gegenüber dem verborgenen
auf die Herrlichkeit. Die theologia crucis ist kein
Gott vertraut er sich zugleich dem in seiner Offen-
ausschließender Gegensatz zur theologia gloriae,
barung entzogenen liebenden Vater an.
sondern deren entschiedene und vertiefte Verwirk-
Mit alledem wird deutlich, dass die „Theodizee-
lichung.
Frage“ im Neuen Testament nicht etwa rational
Das Kreuz Jesu steht nicht für das Scheitern
geklärt wird, sondern personal. Was sie ertragen
und den Verlust des Glaubens an Gottes Existenz,
lässt, sind nicht vernünftige Argumente, sondern
Macht und Liebe, sondern für dessen Neubegrün-
der Blick auf den Sohn Gottes, der diesen Wider-
dung und Stärkung. Es ist nicht Gottes Abwesen-
spruch des Vertrauens in Verlassenheit und des
heit und Unvermögen, die sich in der Selbsthinga-
Gehaltenseins trotz der Verborgenheit Gottes vor
be des Gottessohnes offenbaren, sondern seine ü-
uns und für uns gelebt hat. Weder werden die offe-
berwältigende Zuwendung und Liebe. Es tritt nicht
nen Widersprüche zwischen der Erfahrung einer
das Leiden an die Stelle der Herrlichkeit, sondern
ungerechten Welt und dem Glauben an die Gerech-
die Herrlichkeit Gottes wird mitten im Leiden
tigkeit Gottes „weg-erklärt“, noch wird für diese
wahrgenommen und das Vertrauen mitten in der
Zeit und Geschichte die Illusion eines von Anfech-
Anfechtung geweckt.
tung und Leiden freien Lebens ausgemalt.
So bedeutet auch die Selbstverleugnung der

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Jünger in der Nachfolge Jesu nicht den Verzicht In diesem Sinne bleibt auch die „Theodizee-
auf die Teilhabe an erfüllendem Leben und über- Frage“ sowohl gedanklich wie existentiell solange
wältigender Liebe, sondern gerade deren paradoxe offen, bis Gott alle Verborgenheit und Dunkelheit
Verwirklichung: „... und wer sein Leben verliert durch seine endgültige Offenbarung am jüngsten
um meinetwillen und um des Evangeliums willen, Tag erhellen wird und aus der Rückschau der Ver-
der wird es erhalten“ (Mark 8,35). herrlichung die scheinbar Verlassenen seine nie ge-
Die Kreuzestheologie des Evangelisten steht fährdete Liebe und Treue nachträglich erkennen
und fällt mit dem endgültigen und offensichtlichen können. Dann spätestens wird offensichtlich wer-
Triumph der Auferweckung Jesu durch den Vater den, dass wir es nie mit einem „dunklen Gott“ zu
(Mark 16,1-8; vgl. 8,31; 9,31; 10,33f).17 Wollte tun hatten, sondern mit der Dunkelheit unserer
man eine Kreuzestheologie unter Absehung der Wahrnehmung von ihm, und nicht mit einem „ver-
endgültigen Bestätigung und Verherrlichung Jesu borgenen Gott“, sondern mit dem Verborgensein
durch seinen himmlischen Vater entfalten, dann des längst schon offenbaren Gottes in unserer An-
müsste man sich die Kritik des Engels am Grab fechtung und Klage.
gegenüber den verzweifelten Frauen gefallen las-
sen: „Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzig- Hans-Joachim Eckstein ist Professor für Neues
ten. Er ist auferstanden. Er ist nicht hier!“ (Mark Testament an der Evangelisch-theologischen Fa-
16,6).18 kultät der Universität Tübingen.
www.uni-tuebingen.de/ev-theologie/eckstein
17
So wurde auch das „Wort vom Kreuz“ (1 Kor
1,18 – 2,5) dem Apostel durch die Erscheinung des Auf- Es handelt sich bei diesem Beitrag um einen Auszug
erstandenen vor Damaskus erschlossen (1 Kor 9,1; aus H.-J. Eckstein, Glaube als Beziehung. Von der
15,8-10; 2 Kor 4,6; Gal 1,1.11f.15f). Und unter Abse- menschlichen Wirklichkeit Gottes, Reihe: Grundlagen
hung des Glaubens an die Auferstehung Jesu wäre nach des Glaubens 2, Holzgerlingen 2006, 71-97. Mit freund-
Paulus auch das Geheimnis des Kreuzes und damit der
Sinn und Inhalt des Glaubens an den Gekreuzigten licher Genehmigung des Autor.
preisgegeben (1 Kor 15,14.17).
18
Vgl. zur Bedeutung der Auferstehung Jesu und stein, Zur Wiederentdeckung der Hoffnung. Grundlagen
der Hoffnung für Glauben und Theologie: H.-J. Eck- des Glaubens, Holzgerlingen 2002, 9ff.87ff.123ff.

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