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Oktober 1992
als mich Herr Sieker vor ein paar Wochen anrief und mich fragte,
ob ich diesen Vortrag halten würde, war der Titel bereits vor-
formuliert - es fällt mir also leicht, mich von ihm soweit zu y
distanzieren, daß die eventuelle Nichterfüllung Ihrer Erwartungen
nicht allein auf mich zurückfallen müßte.
Zugleich aber stellte sich mir die Frage nach dem zu Referieren-
den, denn das haben wir letztlich nicht weiter erörtert. Zudem ist
in der Tagungsankündigung fast schon alles an Stichworten enthal-
ten. .. Ich habe mich dafür entschieden, Ihnen zu diesem Thema kei-
nen Vortrag "aus einem Guß" anzubieten, eher einzelne Aspekte an-
zureißen, das heißt die Provokation des Titels sowohl für Heraus-
fordernd-Provokantes zu nutzen wie als fürsprechend-berufen(d)e
Pro-/Vokation zu verstehen.
Schauen wir uns das Feld des Umgangs mit der Sexualität Behinder-
ter in seiner Polarität einmal an:
> Da findet sich auf der einen Seite die 1989 getroffene Entschei-
dung des Vormundschaftsrichters Grochtmann am Amtsgericht Rheda-
Wiedenbrück, der die gemeinsame Unterbringung von männlichen und
weiblichen Patienten im Landeskrankenhaus Benninghausen für
"grundsätzlich unzulässig" erklärte. Ja, er forderte von der sich
widersetzenden Klinikleitung die Wiedereinführung der - Zitat -
"früher selbstverständlichen Trennung nach Geschlechtern", denn es
sei - so Richter Grochtmann im Originalton - "nicht wirklich er-
sichtlich, aus welchen Gründen das, was seit Jahrzehnten und Jahr-
hunderten, also gemäß langer Erfahrung, als richtig angesehen wur-
de, nun auf einmal falsch sein solle".
> Auch sein Fazit möchte ich Ihnen nicht vorenthalten - es erging
folgender Unterbringungsbeschluß: "Nachdem die Klinik offensicht-
lich nicht bereit ist, dafür zu sorgen, daß der Mündel keinen Ge-
schlechtsverkehr durchführt, mußte zur Abwendung erheblicher Ge-
fahren körperlicher und seelischer Art bei den Betroffenen die Ge-
nehmigung der Unterbringung dahingehend eingeschränkt werden, daß
diese nur auf einer nach Geschlechtern getrennten Station durchge-
führt werden darf".
> Nun wissen wir es: derartig unartiges sexuelles Tun Behinderter
würdigt den Geschlechtsverkehr - Zitat - "zu einer tierischen Be-
tätigung herab" - ein Wunder, daß noch nicht von "Entartung" die
Rede ist... - Und was würde Grochtmann dann erst von dem Kollegen
sagen, den ich 1982 in der psychiatrischen Klinik "Vijverdal" in
Maastricht/Holland besuchte und der mir berichtete, daß er im Rah-
men eines Enthospitalisierungsprojekts älterer behinderter Patien-
ten Prostituierte engagiert hat, um den männlichen Patienten wie-
der Möglichkeiten befriedigender Sexualkontakte zu bieten. Übri-
gens ging dieses Reformprojekt auch dort nicht undiskutiert von-
statten, aber: immerhin zahlte die Sozialbehörde den Liebesdienst.
Ist dies die Normalität, die wir meinen und anzubieten haben?
Kommt da erst Leben auf? Wie glücklich sind diejenigen, deren
Beliebigkeitsduzen soziale Distanzen ebenso wenig überwindet wie
die blanken Busen und die Gesprächs-, Geständnis- und Beziehungs-
beliebigkeiten, die unausgesprochene Nähe, intime Zugehörigkeit
und wärmende Gemeinschaft versprechen und nicht einlösen können
(Guggenberger 1987, 48-49)?
Warum aber wird der umarmende, Nähe suchende, Zuneigung ausdrük-
kende geistig Behinderte dann wiederum als "distanzlos", "unbe-
herrscht" oder "triebhaft" etikettiert? Was sind sozial akzeptable
Gesten und Körperhaltungen und wer kann sie dem einzelnen Behin-
derten vermitteln? Etwa die, die selbst zu Distanzüberschreitungen
neigen oder undifferenziert dem inflationären Umarmen völlig Frem-
der nachgeben?
Denn fast hemmungslos sind diese Gesunden, sind wir auch im Umgang
mit der Sexualität Behinderter: ihnen wird schamhaft-moralisierend
und christlich verbrämt oder fürsorglich-unterdrückend in einer
als Moral und Christentum oder aber als Fürsorge getarnten lust-
feindlichen Unterdrückungsideologie fast jede Möglichkeit zum
zärtlichen, intimen Glück, zur sexuellen Lust genommen. Und nicht
nur das: zugleich praktiziert eine auf "I love Genuß sofort", auf
Instantglück ausgerichtete Gesellschaft zahlreiche Sterilisationen
an behinderten Frauen, machen sich Ärzte zum Handlanger einer
letztlich menschenverachtenden Ideologie, die lange Jahre unbeach-
tet und quasi unbemerkt ihr Unwesen trieb.
"Trieb" beinhaltet an dieser Stelle zweierlei:
zum einen doch, daß die treibende Kraft zur sogenannten "Steri-
lisation einwilligungsunfähiger Menschen" einem vielfach ratio-
nal begründeten Ausagieren fremdaggressiver Triebimpulse der
sogenannten Normalen beziehungsweise Nichtbehinderten ent-
springt;
zum anderen bedeutet es in der Vergangenheitsform "trieb" kei-
neswegs, daß diese Eingriffe beendet wären: sie wurden ledig-
lich vom Makel der strafbaren Körperverletzung dadurch befreit,
daß der Bundesminister der Justiz eine entsprechende Legalisie-
rung vornehmen wird oder bereits getroffen hat, daß es also zur
unseligen Allianz hilfloser Eltern, manipulativ beratender
Fachleute, operierender Ärzte und die körperliche Unversehrt-
heit Behinderter mißachtender Juristen kommt.
Und dies folgt letztlich einer Logik, die seit Jahrzehnten bis
Jahrhunderten gängige Praxis ist: verschiedene Wissenschafts- und
Gesellschaftsanalytiker (Dörner, Foucault, Jetter und andere) ha-
ben differenziert herausgearbeitet, daß in den gesellschaftlichen
Ausschlußsystemen der Justiz, der Asyle und anderer totaler Insti-
tutionen die körperlichen Maßnahmen durch die Zeitstrafe der
Gefängnis-, Zuchthaus- oder Psychiatrieinternierung und den hinzu-
tretetenden Besserungs- und Behandlungsgedanken des "moral treat-
ment" abgelöst wurden. Wie gesagt, eine solche Reform der Straf-
Systeme und sozialpolitischen Ordnungsinstrumente betrifft letzt-
lich alle totalen Institutionen vom Knast über die Gerichts- und
Allgemeinpsychiatrie bis hin zum Heim.
Daß diese Logik nach dem Zeitalter der Aufklärung keineswegs ver-
schwunden ist, belegen in erschreckender Weise die Greuel natio-
nalsozialistischer Sterilisierungs- und Vernichtungsaktionen, de-
nen die zu "lebensunwert" erklärten seelisch wie geistig Behinder-
ten sowie chronisch Kranken und andere gesellschaftlichen Störer
des Normalitätswahns zum Opfer fielen.
Wieviel und welche Normalität darf also sein, 47 Jahre nach NS-
und 3 Jahre nach SED-Diktatur auf deutschem Boden? Wie national
und international darf/kann/soll man heutzutage noch beziehungs-
weise wieder sein angesichts fremdenfeindlicher Parolen, tödli-
cher Attacken, populistischem Mit-/Agieren beziehungsweise hilf-
losem Re-/Agieren der Parteien und drohender Aufgabe grundgesetz-
licher Garantien?
Und die Normalität im Behindertenbereich: sind nicht bereits
Psychiatrie- und Heimsysteme auf Ausgrenzung und Unterdrückung,
auf Lustfeindlichkeit und Triebkontrolle angelegt? In der Tat
formulierte Siegusch 1970 mehrere Thesen zum Verhältnis von
Medizin und Sexualität, die durch eine weitere These Lautmanns
ergänzt werden kann; die Thesen lauten:
1. Die Medizingeschichte ist zugleich eine Geschichte des Kampfes
gegen Sexualität.
2. Die Medizin begreift Sexualität am ehesten als Krankheit, Ab-
normität, Perversion und Kriminalität.
3. Für die Medizin hat "gesunde" Sexualität vor allem eine repro-
duktive Funktion.
4. Die Medizin ignoriert die Lustfunktion von Sexualität.
5. Die Medizin will Anpassung und Beseitigung, nicht Emanzipation
und Sensibilisierung von Sexualität.
6. Die Sexualmoral der Medizin ist traditionell-oppressiv.
7. Sexualforschung ist im Bereich der Medizin unerwünscht.
Es gibt noch keine Sexualmedizin.
8. Sexualität ist als gesellschaftliches Thema nicht autonom.
Diskurs und Praxis gehen getrennte Wege.
Jegliche Thematisierung steht im Schatten eines Pornographie-
verdachts.
Der Gegenstand wird offiziell in die Privatsphäre abgeschoben.
Und noch eine letzte auch selbstkritische Anmerkung: ich habe die
ganze Zeit von dem oder der Behinderten gesprochen - ganz so, als
sei "die Behinderung" das einzige Charakteristikum, als sei das
Stigma eine Persönlichkeitseigenschaft oder das behindernde diag-
nostische Pauschaletikett eine sinnvolle Zuschreibung individuel-
ler Seinsmöglichkeiten... Ich habe dies in Ermangelung anderer
differenzierender Bezeichnungen getan und möchte hier nicht miß-
verstanden werden: mir geht es um die individuellen Bedürfnisse
und Fähigkeiten jedes einzelnen als Wahrnehmungsfokus, um die
persönlich-normunabhängigen Möglichkeiten zur Normalisierung sei-
nes Lebens, in dem eben auch Sexualität einen Aspekt ausmacht.
Bächinger, Bernhard
Sexualverhalten und Sexualberatung von Körperbehinderten.
Puls wissen, Luzern 1978
Gaedt, Christian
Einrichtungen für Ausgeschlossene oder "ein Ort zum Leben" - Über-
legungen zur Betreuung Geistigbehinderter -
in: Soz.psych. Inf. 12 (1982) 68/69, 22-31
\: Jahrbuch für kritische Medizin 7 (1981
Kobbe, Ulrich
Sexualität - Auf psychiatrischen Stationen ein Fremdwort?
in: Sexualmagazin 17 (1988) 9, 292-299
Kobbe, Ulrich
Über die "Sexualatrophie" psychiatrischer Patienten - ein essay-
istischer Überblick,
in: Psychiat. Prax. 15 (1988) 6, 192-201
Kobbe, Ulrich
Hospitalisierte Lust - Psychiatrie und Sexualität. Beiträge zu
einer emanzipatorischen Therapie.
unveröffentl. Redemanuskript. Fortbildungsveranstaltung im Psy-
chiatrischen Landeskrankenhaus Zwiefalten, 30.05.1989
Lautmann, R.
Die gesellschaftliche Thematisierung der Sexualität.
in: Pfäfflin, F.; E. Schorsch (Hrsg.) Sexualpolitische Kontrover-
sen. Beiträge zur Sexualforschung Band 63.
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McFerrin, Bobby
Don't worry, be happy.
Goldmann, München 1989
o. Verf.
Bei Triebschub beten. Juristen, Theologen und Mediziner streiten
über Sexualität in Psychiatrie und Behinderten-Heimen.
in: DER SPIEGEL 2 (1990) 100-110
Sigusch, Volker
Medizin und Sexualität. Sieben Thesen zur kritischen Reflexion
ihres Verhältnisses.
in: Med. Welt 21 (1970) 2159-2170
Susy
Chemische Zwangsjacke.
in: Courage-Sonderheft "Zum Verrücktwerden - Frauen in der Psy-
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Vinnai, Gerhard
Psychologische Aspekte der Männlichkeit in der bürgerlichen Ge-
sellschaft. Heterosexualität, Homosexualität und ökonomische
Struktur,
in: Vinnai, G. (Hrsg.) Das Elend der Männlichkeit. Hetrosexuali-
tät, Homosexualität und ökonomische Struktur. Elemente einer
materialistischen Psychologie.
Rowohlt, Reinbek (1977) 10-158
Walter, Joachim
Wo Eltern und Erzieher noch hilflos sind. Grundrecht auf Sexua-
lität - einführende Gedanken zum Thema »Sexualität und geistige
Behinderung«.
in: Sexualmedizin 12 (1983) 3, 90-92
Zeller-Schüle, Suse
Umgang mit der Sexualität in der Krankenpflege.
in: Die Schwester / Der Pfleger 27 (1988) 10, 774-780