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Ulrich Kobbe Schmallenberg, den 15.

Oktober 1992

Da kommt Leben auf!


Psychisch Behinderte und Sexualität -
behinderte Sexualität?

Wieviel Normalisierung darf's denn sein?

Sehr geehrte Damen und Herren,


liebe Kolleginnen und Kollegen,

als mich Herr Sieker vor ein paar Wochen anrief und mich fragte,
ob ich diesen Vortrag halten würde, war der Titel bereits vor-
formuliert - es fällt mir also leicht, mich von ihm soweit zu y
distanzieren, daß die eventuelle Nichterfüllung Ihrer Erwartungen
nicht allein auf mich zurückfallen müßte.
Zugleich aber stellte sich mir die Frage nach dem zu Referieren-
den, denn das haben wir letztlich nicht weiter erörtert. Zudem ist
in der Tagungsankündigung fast schon alles an Stichworten enthal-
ten. .. Ich habe mich dafür entschieden, Ihnen zu diesem Thema kei-
nen Vortrag "aus einem Guß" anzubieten, eher einzelne Aspekte an-
zureißen, das heißt die Provokation des Titels sowohl für Heraus-
fordernd-Provokantes zu nutzen wie als fürsprechend-berufen(d)e
Pro-/Vokation zu verstehen.

Schauen wir uns das Feld des Umgangs mit der Sexualität Behinder-
ter in seiner Polarität einmal an:
> Da findet sich auf der einen Seite die 1989 getroffene Entschei-
dung des Vormundschaftsrichters Grochtmann am Amtsgericht Rheda-
Wiedenbrück, der die gemeinsame Unterbringung von männlichen und
weiblichen Patienten im Landeskrankenhaus Benninghausen für
"grundsätzlich unzulässig" erklärte. Ja, er forderte von der sich
widersetzenden Klinikleitung die Wiedereinführung der - Zitat -
"früher selbstverständlichen Trennung nach Geschlechtern", denn es
sei - so Richter Grochtmann im Originalton - "nicht wirklich er-
sichtlich, aus welchen Gründen das, was seit Jahrzehnten und Jahr-
hunderten, also gemäß langer Erfahrung, als richtig angesehen wur-
de, nun auf einmal falsch sein solle".
> Auch sein Fazit möchte ich Ihnen nicht vorenthalten - es erging
folgender Unterbringungsbeschluß: "Nachdem die Klinik offensicht-
lich nicht bereit ist, dafür zu sorgen, daß der Mündel keinen Ge-
schlechtsverkehr durchführt, mußte zur Abwendung erheblicher Ge-
fahren körperlicher und seelischer Art bei den Betroffenen die Ge-
nehmigung der Unterbringung dahingehend eingeschränkt werden, daß
diese nur auf einer nach Geschlechtern getrennten Station durchge-
führt werden darf".

> Nun wissen wir es: derartig unartiges sexuelles Tun Behinderter
würdigt den Geschlechtsverkehr - Zitat - "zu einer tierischen Be-
tätigung herab" - ein Wunder, daß noch nicht von "Entartung" die
Rede ist... - Und was würde Grochtmann dann erst von dem Kollegen
sagen, den ich 1982 in der psychiatrischen Klinik "Vijverdal" in
Maastricht/Holland besuchte und der mir berichtete, daß er im Rah-
men eines Enthospitalisierungsprojekts älterer behinderter Patien-
ten Prostituierte engagiert hat, um den männlichen Patienten wie-
der Möglichkeiten befriedigender Sexualkontakte zu bieten. Übri-
gens ging dieses Reformprojekt auch dort nicht undiskutiert von-
statten, aber: immerhin zahlte die Sozialbehörde den Liebesdienst.

Liebesdienst? Sollte es wirklich sein, daß es zur Normalität ge-


hört, Liebe zu empfangen, zu geben, zu empfinden? Noch einmal
hierzu der Sündenbock Grochtmann im Zitat: "Schon bei gesunden
Menschen hat die fortschreitende sexuelle Hemmungslosigkeit nicht
etwa zu mehr Glück und Zufriedenheit, sondern zu einem Verfall der
Ehen durch Ehescheidungen" geführt.

Die heile Welt des Glücks scheint so selbstverständlich nicht -


nicht mehr? - zu sein. "Don't worry, be happy" war 1988 Song des
Jahres (McFerrin 1989). Sozusagen folgerichtig stand der Kongreß
der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie
1989 unter dem bemerkenswerten Motto "Macht Therapie glücklich?",
ist doch - so die Veranstalter - in einer sich wandelnden Gesell-
schaft mit der Frage nach dem Glück auch die Frage nach den Ge-
staltungsmöglichkeiten des Lebens und den Chancen verbunden ...
Zugleich wird im Fernsehen "geoutet" und geraten "Selbstentblößun-
gen" in Talk-Shows zur leicht durchschaubaren Illusion vertrauter
Zugehörigkeit, präsentiert uns "Tuttifrutti" unschön-nackte Wahr-
heiten als phantasiefaule Abkürzung zur Augen-Lust.

Ist dies die Normalität, die wir meinen und anzubieten haben?
Kommt da erst Leben auf? Wie glücklich sind diejenigen, deren
Beliebigkeitsduzen soziale Distanzen ebenso wenig überwindet wie
die blanken Busen und die Gesprächs-, Geständnis- und Beziehungs-
beliebigkeiten, die unausgesprochene Nähe, intime Zugehörigkeit
und wärmende Gemeinschaft versprechen und nicht einlösen können
(Guggenberger 1987, 48-49)?
Warum aber wird der umarmende, Nähe suchende, Zuneigung ausdrük-
kende geistig Behinderte dann wiederum als "distanzlos", "unbe-
herrscht" oder "triebhaft" etikettiert? Was sind sozial akzeptable
Gesten und Körperhaltungen und wer kann sie dem einzelnen Behin-
derten vermitteln? Etwa die, die selbst zu Distanzüberschreitungen
neigen oder undifferenziert dem inflationären Umarmen völlig Frem-
der nachgeben?

Und welche Normalität vermitteln den Toilettennutzern einer Kran-


kenhausstation die von den dort angestellten Pflegern hinterlas-
senen erotischen Zeitschriften wie "Sexy", "Erotik intim" und ähn-
liches? Ist dies nun Zeichen von Aufgeklärtheit, Liberalität, se-
xueller Erfülltheit und Unbeschwertheit oder doch eher pornogra-
phische Lustprothese als zugleich subtile Form sexueller Belästi-
gung aller anderen Toilettenbenutzer und insofern Zeichen "fort-
schreitender sexueller Hemmungslosigkeit", wie sie Grochtmann für
die sogenannten Gesunden juristisch attestierte?

Denn fast hemmungslos sind diese Gesunden, sind wir auch im Umgang
mit der Sexualität Behinderter: ihnen wird schamhaft-moralisierend
und christlich verbrämt oder fürsorglich-unterdrückend in einer
als Moral und Christentum oder aber als Fürsorge getarnten lust-
feindlichen Unterdrückungsideologie fast jede Möglichkeit zum
zärtlichen, intimen Glück, zur sexuellen Lust genommen. Und nicht
nur das: zugleich praktiziert eine auf "I love Genuß sofort", auf
Instantglück ausgerichtete Gesellschaft zahlreiche Sterilisationen
an behinderten Frauen, machen sich Ärzte zum Handlanger einer
letztlich menschenverachtenden Ideologie, die lange Jahre unbeach-
tet und quasi unbemerkt ihr Unwesen trieb.
"Trieb" beinhaltet an dieser Stelle zweierlei:
zum einen doch, daß die treibende Kraft zur sogenannten "Steri-
lisation einwilligungsunfähiger Menschen" einem vielfach ratio-
nal begründeten Ausagieren fremdaggressiver Triebimpulse der
sogenannten Normalen beziehungsweise Nichtbehinderten ent-
springt;
zum anderen bedeutet es in der Vergangenheitsform "trieb" kei-
neswegs, daß diese Eingriffe beendet wären: sie wurden ledig-
lich vom Makel der strafbaren Körperverletzung dadurch befreit,
daß der Bundesminister der Justiz eine entsprechende Legalisie-
rung vornehmen wird oder bereits getroffen hat, daß es also zur
unseligen Allianz hilfloser Eltern, manipulativ beratender
Fachleute, operierender Ärzte und die körperliche Unversehrt-
heit Behinderter mißachtender Juristen kommt.

Und dies folgt letztlich einer Logik, die seit Jahrzehnten bis
Jahrhunderten gängige Praxis ist: verschiedene Wissenschafts- und
Gesellschaftsanalytiker (Dörner, Foucault, Jetter und andere) ha-
ben differenziert herausgearbeitet, daß in den gesellschaftlichen
Ausschlußsystemen der Justiz, der Asyle und anderer totaler Insti-
tutionen die körperlichen Maßnahmen durch die Zeitstrafe der
Gefängnis-, Zuchthaus- oder Psychiatrieinternierung und den hinzu-
tretetenden Besserungs- und Behandlungsgedanken des "moral treat-
ment" abgelöst wurden. Wie gesagt, eine solche Reform der Straf-
Systeme und sozialpolitischen Ordnungsinstrumente betrifft letzt-
lich alle totalen Institutionen vom Knast über die Gerichts- und
Allgemeinpsychiatrie bis hin zum Heim.
Daß diese Logik nach dem Zeitalter der Aufklärung keineswegs ver-
schwunden ist, belegen in erschreckender Weise die Greuel natio-
nalsozialistischer Sterilisierungs- und Vernichtungsaktionen, de-
nen die zu "lebensunwert" erklärten seelisch wie geistig Behinder-
ten sowie chronisch Kranken und andere gesellschaftlichen Störer
des Normalitätswahns zum Opfer fielen.

Wieviel und welche Normalität darf also sein, 47 Jahre nach NS-
und 3 Jahre nach SED-Diktatur auf deutschem Boden? Wie national
und international darf/kann/soll man heutzutage noch beziehungs-
weise wieder sein angesichts fremdenfeindlicher Parolen, tödli-
cher Attacken, populistischem Mit-/Agieren beziehungsweise hilf-
losem Re-/Agieren der Parteien und drohender Aufgabe grundgesetz-
licher Garantien?
Und die Normalität im Behindertenbereich: sind nicht bereits
Psychiatrie- und Heimsysteme auf Ausgrenzung und Unterdrückung,
auf Lustfeindlichkeit und Triebkontrolle angelegt? In der Tat
formulierte Siegusch 1970 mehrere Thesen zum Verhältnis von
Medizin und Sexualität, die durch eine weitere These Lautmanns
ergänzt werden kann; die Thesen lauten:
1. Die Medizingeschichte ist zugleich eine Geschichte des Kampfes
gegen Sexualität.
2. Die Medizin begreift Sexualität am ehesten als Krankheit, Ab-
normität, Perversion und Kriminalität.
3. Für die Medizin hat "gesunde" Sexualität vor allem eine repro-
duktive Funktion.
4. Die Medizin ignoriert die Lustfunktion von Sexualität.
5. Die Medizin will Anpassung und Beseitigung, nicht Emanzipation
und Sensibilisierung von Sexualität.
6. Die Sexualmoral der Medizin ist traditionell-oppressiv.
7. Sexualforschung ist im Bereich der Medizin unerwünscht.
Es gibt noch keine Sexualmedizin.
8. Sexualität ist als gesellschaftliches Thema nicht autonom.
Diskurs und Praxis gehen getrennte Wege.
Jegliche Thematisierung steht im Schatten eines Pornographie-
verdachts.
Der Gegenstand wird offiziell in die Privatsphäre abgeschoben.

Gerade mit den letzten Feststellungen Lautmanns befinden wir uns


mitten im Thema: die Explosion des Diskurses über Sexualität der
letzten Jahre, die übersexualisierte Fernseh- und Alltagskommuni-
kation ist vor allem ein Phänomen der Quantität und nicht der Qua-
lität des Redeflusses. Denn nicht nur im Alltag sondern erst recht
in der Justiz und in der Klinik, auch im Heim- und Behindertenbe-
reich entwickeln die Mitarbeiterinnen einen hinhaltenden Wider-
stand gegen die sexuelle Selbständigkeit der Pflegebefohlenen,
Schützlinge und/oder Bewohner, obwohl doch gerade größtmögliche
Autonomie das - zumindest offizielle - Ziel jeder Förderung, Be-
hindertenpädagogik oder Behandlung sein sollte. Immerhin sind Nor-
malisierung und Integration ja selbstverständliche Reformprinzi-
pien der Behindertenhilfe.
Gerade diese Begriffe aber "verführen durch eine ungerechtfertigte
naive Normsetzung dazu, den Dualismus von Normalen und Behinderten
festzuschreiben und lassen sich allzu leicht zur Legitimation be-
hindertenfeindlicher Anpassungsstrategien an eine normierte Ge-
sellschaft mißbrauchen" (Gaedt 1982, 22).

Letztlich kann es doch nur um die Normalisierung der Lebensbedin-


gungen gehen, nicht aber um die Normalisierung der Behinderten.
Gesund bleiben oder werden kann ein seelisch oder geistig behin-
derter Mensch nur, wenn er seinen Lebensalltag möglichst eigenver-
antwortlich bedürfnisorientiert gestalten und entsprechend seinen
Fähigkeiten Einfluß auf diese Lebensbedingungen nehmen kann. Und
gesund bleiben oder werden kann er auch nur, wenn er sich in den
verschiedenen Formen zwischenmenschlicher Beziehungen als gleich-
berechtigten Partner erleben und in ihnen auch Glück und Lust fin-
den kann. Insofern bedeutet "Normalisierung" auch die Anerkennung
gegebener Unterschiedlichkeiten, die Anerkennung behinderter Iden-
tität und die gleichzeitige Anerkennung der Wünsche, Neugier und
Bedürfnisse nach Zärtlichkeit, Liebe, Sex, Befriedigung, Partner-
schaft, dem kleinen Glück undsoweiter.
So banal es klingen mag: Normalisierung fängt meines Erachtens
dort an, wo sexuelle Bedürfnisse im weitesten Sinne überhaupt erst
einmal anerkannt werden. Denn die Sexualität Behinderter beinhal-
tet letztlich, daß diese Menschen grundsätzlich die gleichen sexu-
ellen Bedürfnisse wie die Nichtbehinderten und als Konsequenz auch
den gleichen Anspruch auf die Befriedigung dieser Bedürfnisse ha-
ben. Beeinträchtigt sind Behinderte im Ausleben ihrer sexuellen
Bedürfnisse eben aufgrund ihrer Behinderung und benachteiligt sind
sie hierbei aufgrund der herrschenden Normen der Sexualität, die
sie noch härter treffen als die Nichtbehinderten, und aufgrund
ihrer allgemeinen Lebenssituation der Benachteiligung (Bächinger
1978, 76-77).

Letztlich wirken sich gesellschaftliche Benachteiligungen sowohl


von der Sexualität wie von der Behinderung her auf das Sexualver-
halten der Behinderten aus: wie bereits ersichtlich, besteht auch
noch trotz anhaltender Mediendiskussionen und -berichte über Sexu-
alität und trotz einer übersexualisierten Alltagskommunikation
nach wie vor ein restriktiver Begriff von Sexualität:
stillschweigend wird insbesondere als Folge einer katholisch
geprägten Auffassung Sex auf die Ehegemeinschaft und die
Zeugung reduziert, so daß es auch nicht erstaunlich ist, daß
bei vielen behinderten Jugendlichen eine sexuelle Aufklärung
mit der Begründung unterblieben ist, daß er oder sie "doch nie
heiraten" werden;
sozusagen logisch war auch in dem eingangs gewählten juristi-
schen Text von Grochtmann neben der Beschränkung auf die Ehe
zugleich eine Beschränkung auf die Sexualität als Fortpflan-
zungsfunktion enthalten und gibt es im übrigen zwar eine Flut
populärwissenschaftlicher Literatur zur genitalen Sexualität,
hingegen kaum einen Artikel, geschweige denn ein Buch über
Zärtlichkeit (Hainz 1987);
deutlich wird dies auch in der Werthierarchie der verschie-
denen Ausdrucksmöglichkeiten von Sexualität, in der "bei
Kirchens" der eheliche Koitus und zum Teil bei sich emanzipie-
renden Frauen beziehungsweise Männern der Orgasmus oft als der
alleinige Höhepunkt verstanden wird, sodaß es letztlich in
dieser Gleichsetzung von Sexualität mit Geschlechtsverkehr zu
einer "dürftigen Einseitigkeit" (Popplow) kommt;
das heißt die übermäßig hervorgehrte Genitalität als Norm und
Normalität ist Ausdruck einer Psyche, die Nähe will, ohne sie
ertragen zu können, die die orgiastische Lust sucht, ohne die
Fähigkeit zu haben, sich ihr wirklich auszuliefern (Vinnai
1977; Kobbe 1989)..

In die sogenannten Normalisierungsüberlegungen sexualpädagogischer


Ansätze muß folglich einbezogen, daß ein erheblicher Teil der Be-
hinderten das Stadium genitaler partnerbezogener Sexualität nicht
erreichen wird, doch deswegen nicht von vornherein insofern ausge-
grenzt werden darf, als ihnen scheinbar sexuell "geringwertigere"
Glückszustände übrig bleiben. Warum also sollte nicht zum Beispiel
Petting zum Hauptbestandteil des Geschlechtsverkehrs von Behinder-
ten werden? Auch über Selbstbefriedigung herrschen gesamtgesell-
schaftlich nach wie vor zum Teil merkwürdige Vorstellungen, da sie
allenfalls Jugendlichen als vorübergehende Aktivität zugesprochen
wird, bei Erwachsenen wiederum nur als sogenannte Ersatzbefriedi-
gung betrachtet wird. Darüberhinaus: Auch Selbstbefriedigung muß
man lernen ... - und wer wird dies innerhalb eines Krankenhaus-
oder Heimbereichs dem Behinderten vermitteln? Und was bleibt dann
noch mit denen, die nicht selber masturbieren können und auf frem-
de Hilfe angewiesen sind?
Behinderte Kinder wachsen im allgemeinen isolierter auf als Nicht-
behinderte: sie lernen deshalb im Bereich sozialen Kontaktverhal-
tens weniger, Beziehungen aufzunehmen oder neue Kontakte anzuknüp-
fen. Durch bevormundende Überbehütung bleiben sie gerade im Be-
reich sozialer Kompetenzen unselbständig, woraus auch eine niedri-
gere oder stagnierende sexuelle Motivation resultieren kann. Ent-
sprechend hat der älterwerdende Behinderte weniger gelernt, von
sich aus aktiv zu werden und Bekanntschaften zu machen. Neben die-
ser eingeschränkten Kontaktfähigkeit sind darüberhinaus den Behin-
derten eine Reihe von Kontaktmöglichkeiten nur erschwert zugäng-
lich. Ein Teil von ihnen wohnt isoliert oder nur unter anderen
Behinderten, sodaß Gelegenheiten fehlen, Sexualität im weiteren
Sinne beim Tanzen oder bei Flirts zu erleben, aus diesen Situa-
tionen heraus dann vielleicht ein weiteres sexuelles Erlebnis zu
entwickeln. - Kontakte werden auch über äußere Attraktivität ge-
knüpft, die gerade aufgrund einer anderen Motorik, Mimik und
Gestik Behinderten wie Nichtbehinderten geringer erscheint, sodaß
auch hieraus zusätzliche Einschränkungen der Sozialkontakte und
damit der erotisch-sexuellen Selbstbestätigung resultieren.

Ein anderer Bereich extremer Abhängigkeit betrifft die Behinder-


ten, die über die eigentliche Pflege oder pädagogische Begleitung
hinaus und zu Hause oder im Heim wohnen müssen. Im ersten Fall
können mögliche Unterschiede in den Ansichten über Sexualität und
Beziehungen zum Teil nicht richtig diskutiert werden, da der Be-
hinderte darauf angewiesen ist, daheim zu wohnen. Im Heim selbst
geht es einmal um die Sexualeinstellungen und die Sexualmoral der
Institution, zum anderen aber auch um die Alltagspraxis als sol-
cher. Auf den Krankenhausstationen oder in den Heimen, in denen
Behinderte in Gegenwart anderer nackt gewaschen werden, wird die
Intimsphäre peinlich verletzt, erfolgen Bloßstellungen ohneglei-
chen. Darüberhinaus fehlt in Heimen wie in Krankenhäusern mit Be-
hindertenbereichen die Privatsphäre, die Nichtbehinderte für sich
in Anspruch nehmen: nur wenige Wohnheime verfügen über Doppel-
zimmer und in den Einzelzimmern ist zum Teil gegenseitiger Besuch
nicht gestattet, in den Mehrbettzimmern oder den anachronistischen
Schlafsälen dagegen jede Intimität unmöglich. Darüberhinaus können
die Türen in Heimen von innen oft nicht abgeschlossen werden, so-
daß jederzeit das Eindringen von Mitbewohnern oder Personal be-
fürchtet werden muß. Und selbst für die Einrichtungen, die die
Sexualität Behinderter eben nicht behindern wollen und ein soge-
nanntes "Pettingzimmer" einrichten, geht doch die Frage, wer von
uns sich vorstellen kann, bei der Heimleiterin, der Stations-
schwester den Schlüssel für dieses Zimmer abzuholen...

Die Gründe für die Benachteiligung Behinderter im Bereich gelebter


Sexualität lassen sich also von 2 Seiten her aufzeigen, sodaß eine
Überwindung dieser zusätzlichen Behinderung Behinderter ebenfalls
beide Ebenen betreffen muß.
Auf der eine Seite muß es darum gehen, die Isolation Behinder-
ter zugunsten einer Integration aufzuheben, behindertengerechte
Kontaktmöglichkeiten zu schaffen und gängige Leistungsnormen
oder Schönheitsideale mindestens in Frage zu stellen.
Auf der anderen Seite ist es erforderlich, Normen und Werte auf
dem Gebiet der Sexualität zu erweitern, wenn das Recht auf
Sexualität für Behinderte nicht zur Farce werden soll. Im ein
zelnen bedeutet dies, daß Sexualität auch außerhalb der Ehe er
laubt und von der genitalfixierten Sexualität auf andere Formen
sexuellen Lusterlebens ausgedehnt werden muß.
Dies aber bedeutet, das Streicheln von erogenen oder anderen
empfindlichen Körperstellen, der Brüste, des Rückens, des Ge-
säßes, des Anus usw. ebenso als "normal" zu akzeptieren wie
sonstige Formen der körperlichen Berührung mit der Zunge, der
Hand, den Füßen usw. sowie Selbstbefriedigung und auch gleich-
geschlechtliche Kontakte wertzuschätzen.
Gerade Selbstbefriedigung darf nicht weiterhin als "Notlösung"
oder als eine "Entlastungsfunktion" verstanden werden, sondern
muß einen stärkeren Eigenwert als autoerotische Handlung auch
im Erwachsenenalter nicht nur für Behinderte erhalten.
Letztlich darf auch die Verwendung von technischen Hilfsmitteln
wie Vibratoren, Kunstpenissen und einer Kunstvagina nicht län-
ger als abwertig eingestuft werden, muß der Umgang mit derarti-
gen Hilfsmitteln ebenso lehr- und lernbar sein wie der Umgang
mit dem Kondom am Modell.

Sie merken schon, wenn es konkret wird betrifft dieser Vortrag


auch jeden einzelnen von uns als konkrete Person mit Wünschen,
Bedürfnissen, Ängsten und Abneigungen, sodaß mir nach wie vor we-
sentlich ist, daß jeder für sich einige Fragen klären sollte, be-
vor er aufklärerisch tätig wird. Im bewußten Umgang mit den sexu-
ellen Bedürfnissen anderer erscheint wichtig, zunächst die eigene
Person, den eigenen Körper und die eigenen Gefühle kennenzulernen,
desweiteren die komplexen Aspekte zu klären, die sexuelle Befrie-
digung stören oder verhindern. Fragen der eigenen Handlungsbereit-
schaft, der individuellen Grenze des Mitmachbaren sind sehr per-
sönliche Fragen,
angefangen mit Fragen nach den Schwangerschaftsfolgen
über Fragen der Toleranz sexueller Betätigung Behinderter
über Fragen sexualpädagogischen Aufklärungsengagements
bis hin zu Fragen nach praktischen Hilfen.

Angesichts der eigenen Sensibilitäten darf es im Rahmen der viel-


beschworenen Normalisierung nicht um eine "Vergesellschaftung"des
Sexuellen gehen, braucht Sexualität für eine einfühlsam-harmoni-
sche Entwicklung einen bergenden Übergangsraum und eine bergende
Form, in der Behinderte die Beziehung zu sich und anderen in ge-
schützter wie offen-unverklemmter Weise erleben können. So darf
die Vermittlung von sexuellem Wissen, von sexueller Technik oder
von sexuellem Kontakt niemals bedrängend wirken, muß die Intimität
des einzelnen geschützt werden. Jeder sollte das Gefühl des Re-
spektiertwerdens und der Nichtvermeidung des Sprechens über Sexua-
lität zugleich haben können, Nähe und Distanz gleichermaßen erle-
ben können. Zugegeben eine schwierige Anforderung bei sehr pflege-
bedürftigen Patienten, bei denen beispielsweise das Waschen oder
andere Hilfestellungen automatisch persönliche Nähe herstellen,
die einen sexualisiert-lustvollen Charakter ebenso beinhalten kann
wie schamlos-intimste Berührung. Das heißt Konflikte entstehen
unter Umständen beim zunächst keineswegs als erotisch oder sexuell
gemeinten und empfundenen körperlichen Kontakt in der Pflege, Gym-
nastik, Massage, beim Baden (Hug et al. 1988; Zeller-Schüle 1988;
Isler 1988) wie beim Sport oder beim Tanzen (Susy 1980, 30).
Folglich darf es auch nicht darum gehen, Behinderte mit deren ver-
meintlichen oder vermiedenen, abgewehrten Bedürfnissen zu überrum-
peln, sondern kann es nur darauf hinzielen, ihre Bedürfnisse, Äng-
ste wie Unsicherheiten anzunehmen und ihnen Intimität und sexuelle
Befriedigung zu ermöglichen. Ganz eindeutig existiert hierfür
angesichts der gesellschaftlichen wie institutionellen Ausgren-
zungslogik,
angesichts der Einschränkungen durch die Behinderung selbst,
angesichts der autonomiefeindlichen Sexualmoral,
angesichts der emanzipationsgeschwätzigen Sexualthematisierun-
gen,
angesichts hinderlicher Schamgefühle und eigener Vorurteile,
angesichts Entscheidungs- und Argumentationsproblemen beim
Kinderwunsch Behinderter,
angesichts persönlicher sexualpädagogischer Fragen und
angesichts konkreter Ängste vor Blamage, Diskriminierung, Über-
sexualisierung undsoweiter...
existiert also aufgrund all dieser Faktoren wenig Anlaß und Chance
zu unbeschwert-fröhlichem Dialog und sexualberatend-aufkläreri-
schem Tun.

Wesentlich erscheint mir,


sich des triebunterdrückenden, autonomiefeindlichen Charakters
von Einrichtungen bewußt zu sein,
demzufolge auf keinen Fall über Sexualaufklärung und ähnliches
"Institutionspolitik mit Patienten" zu betreiben,
sich sowohl dem Wunschbild vom geistig Behinderten als "unver-
dorbenenTund eigentlich "geschlechtlosem großen Kind" zu wider-
setzen wie dem Zerrbild des "maß- und hemmungslos herumwütenden
sexuellen King-Kongs" (Walter 1983, 92) entgegenzutreten,
die eigene Beziehung zu sexuellen Wünschen wie Ängsten im wei-
testen Sinne zu klären,
behindertengerechte Formen und Möglichkeiten sexueller Befrie-
digung und Zufriedenheit zu bedenken und
sich auf das geduldig-langatmige "Anbohren dicker Bretter" ein-
zustellen. . .
Schließen möchte ich mit einer Anmerkung: in der heutigen Veran-
staltung wird die Sexualität Behinderter von uns als fraglich be-
hinderte Sexualität behandelt, ganz so "als ob nichtbehinderte
Experten über die Gefühle und Wünsche anderer Menschen, die behin-
dert sind, urteilen und befinden können" (Walter 1983, 90).
Und gerade darin liegt symptomatisch eines der Dilemmata "mit der
Sexualität Behinderter, daß andere für sie denken, planen und
entscheiden", was für sie "gut und tolerabel - und was schlecht
und deshalb zu unterbinden sei". Denn: auch hier und heute reden
wir über Behinderte, ihre Bedürfnisse und Möglichkeiten, anstatt
mit ihnen selbst zu reden...

Und noch eine letzte auch selbstkritische Anmerkung: ich habe die
ganze Zeit von dem oder der Behinderten gesprochen - ganz so, als
sei "die Behinderung" das einzige Charakteristikum, als sei das
Stigma eine Persönlichkeitseigenschaft oder das behindernde diag-
nostische Pauschaletikett eine sinnvolle Zuschreibung individuel-
ler Seinsmöglichkeiten... Ich habe dies in Ermangelung anderer
differenzierender Bezeichnungen getan und möchte hier nicht miß-
verstanden werden: mir geht es um die individuellen Bedürfnisse
und Fähigkeiten jedes einzelnen als Wahrnehmungsfokus, um die
persönlich-normunabhängigen Möglichkeiten zur Normalisierung sei-
nes Lebens, in dem eben auch Sexualität einen Aspekt ausmacht.

Bächinger, Bernhard
Sexualverhalten und Sexualberatung von Körperbehinderten.
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Gaedt, Christian
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Kobbe, Ulrich
Über die "Sexualatrophie" psychiatrischer Patienten - ein essay-
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Wo Eltern und Erzieher noch hilflos sind. Grundrecht auf Sexua-
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