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Die Macht des Beiläufigen


Versteckte Wissensschätze in E-Mails, Terminen und Kontakten
Die Masse aller Unternehmensdaten steckt nicht wohl geordnet in Datenbanken, sondern liegt auf einem riesigen chaotischen Haufen.
Dieser Datenwust aus E-Mails, Terminen, Adressbucheinträgen, Texten, Bildern und Präsentationen macht achtzig Prozent aller elek-
tronischen Informationen aus. Ausgerechnet ihre Unordnung halten Experten für besonders wertvoll. Denn an unstrukturierten Daten
haften wie das Parfum an einem Liebesbrief soziale Informationen. Web-Technologien ermöglichen Unternehmen und Organisa-
tionen nun erstmals, dieses Wissen einfacher und systematisch zu nutzen.

W ie nützlich das soziale Potenzial unstrukturierter Daten ist, zeigen


beispielsweise Social Networks. Dort machen sie das eigentliche A U TO R E N :
Kapital dieser Dienste aus. So erkennen Nutzer beim Business-Netz- Konstantin Weiss, Tobias Jordans
werk XING, wie sich ihr persönliches Kontaktnetz geographisch verteilt, und Marian Steinbach
Beratung und Konzeption bei der nexum AG (www.nexum.de)
wie gut andere Nutzer vernetzt sind oder mit welchen Themen sie sich
beschäftigen. Auch Unternehmen verfügen in ihren IT-Systemen über
derartige Informationen. Doch liegen sie wie Puzzleteile verstreut über
die unterschiedlichen Büroanwendungen und Intranetseiten. Weinberger: Sozialer Wissensschatz in
Unternehmen
Der amerikanische Web-Philosoph und Co-Autor des Cluetrain-
Manifests David Weinberger sieht in solchen versteckten sozialen
Daten einen Wissensschatz. Denn Zahlen, Pläne und Zielvorgaben
erklären nicht immer, warum Projekte in Verzug geraten oder wer im
Unternehmen die wirklichen Experten für ein Thema sind. Eine Analyse
der Kommunikation kann hier Überraschendes zutage fördern.

Dazu bringt Weinberger in seinem neuen Buch „Everything is


Miscellaneous“ ein Beispiel aus der Vorzeit des Internet: die Geschichte
von Valdis Krebs, einem Unternehmensberater und Forscher, der sich
seit Jahrzehnten mit sozialen Netzwerken beschäftigt. In den achtziger
Jahren entwarf Krebs für seinen damaligen Arbeitgeber TRW
Automotive, einem amerikanischen Automobilzulieferer, eine Karte des
betrieblichen Ökosystems, wie er es nennt. Krebs’ Analyse ergab zum
Beispiel, dass ein teuer von der Airforce eingekaufter Manager kaum
in die Kommunikationsprozesse involviert war. Dagegen erwies sich
eine seiner Mitarbeiterinnen als der eigentliche Multiplikator seiner

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Abteilung. In Zeiten von Internet und E-Mail liegen solche Infor- daran, den ungeordneten Haufen von E-Mails nach verräterischen
mationen elektronisch vor, so Weinbergers Argumentation, die ideale Spuren zu durchforsten. Dazu entwickelten sie Softwareprogramme,
Voraussetzung also, um sie automatisiert und Kosten sparend durch die diese Arbeit automatisiert durchführen sollten. Jeffrey Heer von
Computer zu verarbeiten. der University of California in Berkeley gelang es hierbei, einen der
wichtigsten Drahtzieher des Betrugsskandals, den damaligen Enron-
Doch bisher fehlte es an geeigneter Software, um das soziale Ökosys- Handelschef Timothy Belden, anhand seines Mailverkehrs zu identifi-
tem eines Unternehmens beispielsweise aus der Analyse seines zieren. Das eingesetzte Analyse-Tool durchsuchte das Mailarchiv nach
E-Mailverkehrs zu destillieren. Das Problem dabei: Der Hinweis, wie Mitarbeitern, die die Knotenpunkte und Multiplikatoren im Mail-
wertvoll beispielsweise ein Mitarbeiter in einem Projekt ist, kann sogar verkehr darstellten. So zeigte Heers Software, dass Handelschef Belden
der expliziten Aussage in einer E-Mail widersprechen. Soziale Informa- laufend von wichtigen Leuten innerhalb des Konzerns informiert
tionen verstecken sich in der Regel zwischen den Daten. Aufgrund der wurde. Von ihm selbst jedoch fanden sich überhaupt keine Mails in
Schwierigkeiten bei ihrer elektronischen Verarbeitung dominieren in den freigegebenen Daten. Sprachverarbeitungs-Experte Heer publi-
Intranets, Portalen und Geschäftsberichten aber nach wie vor struktu- zierte daraufhin seinen Verdacht, dass Beldens Mails vorsorglich ver-
rierte und ausdrückliche Informationen, die auch ohne verborgenen nichtet worden seien und brachte so die Ermittlungsbehörden auf die
Kontext verständlich sind. So lassen sich Umsatzzahlen oder Budget- Spur des Managers.
pläne deshalb so gut handhaben, weil sie in Tabellen aufgereiht von
jedem Entstehungszusammenhang befreit sind. Das heißt, Anleger Informationsverlust durch zu viel Ordnung
oder Wirtschaftsprüfer müssen nicht Hunderte von Mails lesen, bevor Im Enron-Fall erwiesen sich die E-Mails als kriminalistischer Glücksfall.
sie eine Bilanz lesen können. Explizite Daten jedoch können manipu- Die Forschungsarbeiten ergaben, dass sich das Miteinander im
liert werden, wie der Finanzskandal um den texanischen Energie- Unternehmen vor allem in solchen unstrukturierten Daten ablagert.
konzern Enron im Jahr 2001 gezeigt hat. Gerade ihre Unstrukturiertheit ermöglicht, dass Informations-
fragmente sozialer Interaktion in den Daten zurückbleiben. Anstatt die
Enron-Skandal als Lehrstück Daten gewissermaßen zu reinigen und ihre Inhalten aufzubereiten,
Um die Wahrheit hinter den offiziellen Zahlenwerken zu erhellen, ver- plädiert David Weinberger dafür, den Datenschmutz nicht wegzuwi-
öffentlichte die oberste amerikanische Regulierungsbehörde für Energie- schen – vergleichbar einem Archäologen, der Artefakte in der Erde für
fragen im Mai 2002 den kompletten sicher gestellten Bestand an Enron- kommende Forschergenerationen zurücklässt. Denn später könnten
Mails, insgesamt 517.431 Dokumente. Sofort machten sich Forscher sich vermeintlich wertlose Informationen gerade als nützlich erweisen.

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Outlook als Social Network


Doch Softwarelösungen wie die von Jeffrey Heer waren bisher nicht
für den Alltagseinsatz in Unternehmen geeignet. Bisher jedenfalls.
Denn inzwischen entstehen im Web 2.0 neue Tools und Technologien,
die das soziale Potenzial unstrukturierter Daten zutage fördern. Die
Software XOBNI zum Beispiel nutzt E-Mails als Steinbruch zur Analyse
sozialer Netzstrukturen. Der Name ist ein Wortspiel und die Um-
kehrung des Begriffs „Inbox“, wie der Posteingang in manchen Pro-
grammen bezeichnet wird. Das kostenlose Tool lässt sich als Bestand-
teil von Microsoft Outlook installieren und indiziert den gesamten
Mailbestand des Nutzers. Ohne weitere Eingaben sieht der Anwender,
welche Mails er bereits mit einem bestimmten Kontakt ausgetauscht
hat. Besonders praktisch: Dazu erhält er auch eine Liste aller Datei-
anhänge aus dieser Korrespondenz. Des Weiteren bietet XOBNI ein
Ranking der wichtigsten Mailkontakte und zeigt die Kontakte, mit
denen die eigenen Mailpartner wiederum vernetzt sind. Außerdem
erfährt der Nutzer, zu welchen Zeiten er typischerweise mit bestimm-
ten Leuten E-Mails austauscht, ob er dabei mehr elektronische Post
empfängt oder sendet oder mit welchen Mitgliedern seines Netzwerks
er schon länger nicht mehr Kontakt hatte. Neuerdings bezieht XOBNI
auch Daten des Social Networks LinkedIn in seine Recherche mit ein.
Das erspart Nutzern den umständlichen Abgleich von Adressdaten per
Hand. Diese Social-Networking-Funktionen begeisterten sogar
Microsoft-Gründer Bill Gates, dessen Kaufangebot für XOBNI das
gleichnamige Start-up aus San Francisco bisher ausgeschlagen hat.
Der Nutzen dieser Software beruht also auf der Erfahrung, dass in archi-
vierter elektronischer Post mehr steckt als der bloße Mailtext. Sie extra-
hiert soziale Informationen aus unstrukturierten Daten, indem sie Infor-
mations-Puzzleteile aus verschiedenen Quellen zu einem Gesamtbild
zusammensetzt. So hilft XOBNI dem Anwender, sich in seinem eigenen
Kontakt-Netzwerk einfacher zurechtzufinden und dieses auch besser zu
pflegen. Möglich wird dies, indem der Computer unstrukturierte Daten
mit menschlichen Kontakten und sozialen Aktivitäten verknüpft. Anders
jedoch als Heers Analyse-Software im Fall Enron dient XOBNI nicht
dazu, das Verhalten von Nutzern auszukundschaften. Der Nutzer muss
also nicht fürchten, dass seine persönlichen Kontaktdaten und sein
Kommunikationsverhalten in Summe öffentlich werden. XOBNI dient
ausschließlich der persönlichen Kontaktpflege.

Soziales braucht Etikette


Eine andere Methode, unstrukturierte Daten in soziale Zusammen-
hänge einzubetten, ist, sie zu verschlagworten. Doch anders als es
Bibliothekare tun würden – nämlich einen klar definierten Schlagwort-

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katalog vorzugeben – entstehen Schlagwortsysteme im Web 2.0


wesentlich ungeordneter. Auf Portalen wie dem Bilddienst Flickr ver- FIRMENPROFIL
sieht jeder Nutzer seine Fotos mit elektronischen Etiketten. Wie er etwa nexum AG
eine Stadtansicht von Köln verschlagwortet, bleibt alleine ihm überlas- Die nexum AG ist Beratung und Agentur
sen. Entsprechend tauchen auf Flickr Bilder der Domstadt unter ganz für digitale Medien. Die Philosophie der
verschiedenen Stichworten auf. Trennscharfe Kategorien scheinen so nexum AG ist es, durch den kreativen Einsatz modernster Tech-
unmöglich. Die Praxis indes zeigt: Ein derart offenes System ermöglicht nologien gemeinsam mit ihren Kunden die gesteckten Geschäfts-
sehr erfolgreich die Orientierung in riesigen Datenbergen. Um denen ziele und eine optimale User Experience zu erreichen.
in den eigenen Intranets Herr zu werden, könnten sich Unternehmen
die Erfahrungen auf dem Web 2.0 zueigen machen. Doch wie lassen Die Leistungen der nexum AG umfassen Beratung, Design,
sich bereits bestehende Dokumente ohne manuellen Aufwand mit Entwicklung, Marketing Services, Redaktion und Projektmanage-
einem Schlagwortsystem erschließen? ment. Themenfelder der nexum AG sind E-Business, Multichannel-
Lösungen und Content Management. Die nexum AG mit Hauptsitz
Schlagworte aus dem Automaten in Köln und zweitem Standort in Jena beschäftigt mehr als 70 feste
Abhilfe verspricht hierbei eine Initiative von Thomson Reuters. Die Mitarbeiter und betreut sowohl mittelständische Unternehmen als
Nachrichtenagentur, die tagtäglich Tausende von Meldungen produ- auch Konzerne. Zu den Kunden gehören unter anderem o2
ziert, unterstützt ein Open-Source-Projekt, das sich mit der automati- (Germany), Sony Europe, ThyssenKrupp, REWE, Sportfive, Lufthansa,
schen Verschlagwortung elektronischer Dokumente beschäftigt. BAUR Versand und coop Schweiz sowie die Fußballbundesligisten 1.
Die Lösung dazu heißt OpenCalais. Die Software wühlt sich durch vor- FC Köln, Hertha BSC, 1. FC Nürnberg und Hamburger SV.
handene Dokumentenberge und versieht jedes einzelne Dokument
mit einem elektronischen Etikett. Dazu verfügt sie über vorgefertigte
www.nexum.de
Schlagwortkataloge aus den Bereichen Popkultur, Medien, Unter-
haltung, Sport und Medizin. Bei OpenCalais handelt es sich um einen
Webservice, also einen Dienst, der über das Internet bereitgestellt
wird. Unternehmen können OpenCalais über eine Programmier-
schnittstelle etwa mit ihrem Intranet vernetzen. Das System befindet
sich derzeit noch in der Erprobungsphase, soll aber schon bis zu
40.000 Anfragen pro Tag bearbeiten können. OpenCalais versieht also
unstrukturierte Inhalte von Websites, Weblogs und Intranets mit A U TO R E N
Metadaten. So lassen sich Webseiten nicht nur über Hyperlinks, son-
Tobias Jordans
dern zunehmend über thematische Zuordnungen miteinander ver-
Diplom-Designer, Berater und Konzepter
netzen. Wichtige Starthilfe leisten dabei die mitgelieferten Schlagwort-
Themen: Interaktionskonzepte, Interfacedesign, User Experience,
kataloge, indem sie bereits vorhandene Dokumentenbestände erfas-
Usability
sen. Auf dieser Grundlage können dann die Nutzer neu hinzukom-
mende Inhalte nach ihrem Gusto verschlagworten und dem System
Marian Steinbach
Diplom-Designer, Berater und Konzepter
Leben einhauchen.
Themen: E-Commerce (Social Commerce, Rich Shopping,
Me-Commerce, Shop Usability etc.), User Experience
Softwarelösungen wie XOBNI und OpenCalais markieren erst den
Anfang. Sie gehören sie zu den ersten praktisch einsetzbaren Werk- Konstantin Weiss
zeugen, mit deren Hilfe Unternehmen das soziale Netz, das ihre Diplom-Designer, Berater und Konzepter
unstrukturierten Daten durchzieht, sichtbar machen und produktiv nut- Themen: Social Knowledge Management, User Experience,
zen. Ziel ist es, damit den Staub von Softwareparks, Dateiservern und Interfacedesign, User Experience, Trendforschung
Intranets zu pusten und sie zu sozialen Netzen umzufunktionieren.

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