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Vom (ver)letzten Tabu zum institutionellen Umgang mit

Anschuldigungen. Eine diskursethische Konversation.1


Ulrich Kobbé

Der Beitrag greift die Crux des individuellen wie institutionellen, klinischen wie
ethischen, rechtlichen wie psychodynamischen, defensiven wie offensiven Umgangs
mit Anschuldigungen im Maßregelvollzug auf. Dabei nimmt der Verfasser – sozusagen
als stoischer2 Stuntman des rollenhaften Experten – die reflexive Position des
akademisch sozialisierten Affen bei Kafka (1996), Rotpeter genannt, ein.
Es geht mitnichten um den juristischen Umgang mit falschen Anschuldigungen oder übler
Nachrede – diesen regelte das StGB. Zwar nur vereinzelt, gleichwohl Fall für Fall prekär,
werden MitarbeiterInnen von PatientInnen der sexuellen Nötigung, der Ausübung von Gewalt,
beschuldigt. Institutionelles Manko des Problems ist, dass in Maßregelvollzugskliniken an-
scheinend niemand darauf vorbereitet ist. Für den Maßregelvollzug formuliert der saarländi-
sche Staatssekretär der Justiz 2010 auf einer Fachtagung eher holzschnittartig-plakativ denn
authentisch engagiert, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssten darauf vorbereitet werden,
„dass zu ihrer Arbeitsplatzbeschreibung gehört, jederzeit mit den übelsten Beschuldigungen
überzogen werden zu können“. Der Maßregelvollzug müsse „noch lernen, Beschuldigungen
mit allem Ernst nachzugehen, und dennoch der oder dem ‚Beschuldigten’ [zu] spiegeln, dass
wir ihm oder ihr vertrauen. Die Menschenrechtskonvention und ihre Unschuldsvermutung
(Art. 6 Abs. 2 EMRK) gelten auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ (Schild, 2010, 7). Vor-
bereitete Leitfäden, Ablaufschemata, Notfallpläne jedenfalls finden sich institutionell ebenso
selten wie es überhaupt nur sehr rare Veröffentlichungen zum Thema gibt. Zwar wird das
Phänomen sog. „verleumderischer Anschuldigungen“ auch von Beschwerdekommissionen
thematisiert, jedoch lediglich „exemplarisch“ zur Kenntnis genommen, nicht für eine Empfeh-
lung präventiver Strategien genutzt (Beschwerdekommission, 2004, 26). Immerhin formuliert
Maragkos (2014), die Würde der Professionellen sei vielfach – so eben auch durch unbe-
rechtigte Anschuldigungen – gefährdet. Doch diese Anerkennung eines offensichtlich virulen-
ten ‚Problems’ zieht keinerlei institutionspolitische Konsequenzen nach sich.
Dies muss in einer Institution, die mit sexueller, ja, mit pervers strukturierter Gewalt umgeht,
in der Sexualität virulent präsent ist und Intimität alltäglich tabuisiert wird, in der Mitarbeite-
rInnen allemal erotische Übertragungsobjekte werden (können), überraschen. Und zugleich
auch wieder nicht: Nur selten wird das heterogene Geflecht aus formellen, informellen und
subversiven, aus klinischen, juristischen, administrativen, politischen, organisatorischen Dis-
kurslinien, aus begehrenden, aversiven, manipulativen, abwehrenden, pseudo-objektiven,
hierarchischen usw. Dispositiven in seiner illusionären Funktionalität, seiner chaotischen
Überstrukturiertheit und seiner aufgeladenen Systemdynamik als diffuses Beziehungs- und
Übertragungsangebot gedacht.
Untersuchen wir dies eingehender: Obskurer Knackpunkt der Crux ist, dass der Vorwurf zu-
treffend oder nicht sein kann, dass die Trennung von professioneller und privater Person
aufgelöst wird, dass er eine (ver-)störende Dynamik in den Behandlungs- wie Arbeitsbezie-
hungen freisetzt, dass dies unterschiedliche Fürsorge-, Schutz- und Regelungsgebote wie -
reflexe aktiviert. Letzteres hört sich vielseitig statt einseitig, routiniert statt hilflos, qualifiziert
statt unerfahren an, doch tatsächlich erleben sich die Betroffenen mehr oder weniger als al-
lein gelassen. Es ist ein ‚worst case’. Präventiv gehen Maßregelvollzugskliniken mit dieser
Art von antizipierbarem Zwischenfall durch versuchsweise eindeutige Arrangements der Pa-
tient-Behandler-Interaktionen um, indem auf Sichtfenster in Türen, auf ggf. kontraindizierte
1:1-Kontakte, auf Kleiderordnungen, auf Probleme gleich- und gegengeschlechtlicher Kon-
takte usw. Bezug genommen wird. Doch entsprechen derartige (lies auch: artige) Maßnah-
men eher den Gefahr-erkannt:Gefahr-gebannt-Aktionen vom Ratgebertyp ›Der 7. Sinn‹. Sie
nehmen nicht nur eine verkürzende Wahrnehmung vor, sondern auch eine letztlich kontra-
faktische Entstellung des kommunikativen Handelns im institutionellen Behandlungsalltag.
Untersuchen wir zunächst schlaglichtartig Ereignis, Instanzen, Dilemmata, Interferenzen und
Interaktionsmuster.
In einem Arbeitspapier des Klinischen Ethik-Komitees im LWL-Zentrum für Forensische Psy-
chiatrie Lippstadt vom 08.12.2014 (Kobbé, 2014) werden die jeweiligen Dynamiken nicht nur
vorauszusetzen, sondern in ihren Vektorbeziehungen grafisch als Tetraeder darzustellen ge-
sucht.
Die Situation einer Anschuldigung wegen ausgeübter (sexueller) Gewalt
betrifft nicht ausschließlich anschuldigende Patienten und beschuldigte
Mitarbeiter, sondern zugleich immer auch die klinische Institution in ih-
ren therapeutischen Standards und Garantien sowie ihren personal-
rechtlichen Aufsichts- und Schutzinteressen sowie das öffentliche Recht
mit den beteiligten oder zu beteiligenden Institutionen.

Mit dem Vorwurf einer Verhaltens- oder Handlungsweise gegen die


sexuelle Selbstbestimmung geht generell eine Stigmatisierung des /
der Mitarbeiter/in einher. Bereits ein Ermittlungsverfahren wegen
eines Sexualdeliktes kann für den Beschuldigten beruflich und pri-
vat zu Nachteilen führen. Es bedarf also eines diskreten, einerseits
schützenden, nicht-vorverurteilenden und vorurteilsfreien Umgangs
mit Betroffenen in deren u. U. öffentlicher Beschuldigtenrolle sowie
eines innerbetrieblich verschwiegenen Umgangs mit der Tatsache
der Anschuldigung, andererseits einer ergebnisoffenen, nicht-partei-
lichen Reaktion auf die Vorwürfe.
Auf der arbeitsrechtlichen Ebene geht es um die Herstellung von
Transparenz und die strukturierte Information aller mittelbar oder un-
mittelbar Beteiligten. Das heißt, Beschuldigte sind mit allen Standards –
Fertigung eines Protokolls, Beteiligung des Personalrats, Information
aller Vorgesetzten – über die Anschuldigung in Kenntnis zu setzen und
zum Vorwurf zu hören.
Dies impliziert eine Fürsorge-Ebene, auf der Mitarbeiter einerseits vor
weiteren Nachreden zu schützen, andererseits präventiv so einzusetzen
sind, dass keine Arbeitssituationen (mehr) bestehen, in denen überhaupt
Möglichkeiten zu Verhaltensweisen im Sinne der Anschuldigung gege-
ben wären.
Was die therapeutische Ebene betrifft, geht es um eine Beziehung, die –
objektiv oder subjektiv – durch die Verletzung grundlegender Vorausset-
zungen eines vertrauensvollen therapeutischen oder zumindest formal
garantierten Unterbringungsverhältnisses charakterisiert ist und in die –
ob real oder vorgestellt – eine Täter-Opfer-Beziehung eingeführt wurde. Für Patienten ist
diese therapeutische Position nicht mehr wiederherzustellen, d. h. es ist ein Behandlerwech-
sel indiziert.
Auf der juristischen Ebene ist es für Beschuldigte es wesentlich,
möglichst frühzeitig fachkompetenten Rechtsschutz zu erhalten, sprich,
es geht um eine Beratung bzgl. der Mandatierung eines Rechtsanwalts.
Auf einer psychologischen Ebene werden Beschuldigte wird oft erheblich
belastet und müssen sich mit gravierenden – strafrechtlichen, familiären,
beruflich relevanten – Vorwürfen auseinandersetzen, die nicht unmittelbar
auszuräumen sind. Insofern bedarf es einer Kontaktierung der ›Kollegia-
len Hilfe‹ sowie einer Beratung bzgl. einer psychologischen oder psycho-
therapeutischen Unterstützung.
Der/die Patient/in
Bei der Anschuldigung eines/r Mitarbeiters/in wegen der Ausübung von Verhaltens- oder
Handlungsweisen gegen die sexuelle Selbstbestimmung nimmt der/die Patient/in nicht nur
eine öffentliche Opferrolle ein, in der er/sie Anspruch auf Hilfe hat, sondern berichtet zugleich
über eine Infragestellung des therapeutischen Raums mit Auflösung der Schutzgarantien vor
– ggf. erneutem – Erleben von Gewalt, Ausbeutung, Hilflosigkeit.
Der vorgebrachte Tatvorwurf beruht im Allgemeinen ausschließlich auf der eigenen Aussage,
da mittelbare und unmittelbare Zeugen, objektive Beweise und/oder Indizien oft fehlen. Eine
Aussage-gegen-Aussage-Situation birgt für Patienten/innen einerseits die Unsicherheit in
sich, dass ihnen – u. U. im Sinne eine retraumatisierenden Erfahrung – nicht geglaubt wird,
eröffnet andererseits auch ein Feld zum Agieren gegenaggressiv abwehrender, sich selbst-
behauptend stabilisierender oder feindselig eingesetzter Impulse, Fantasien und/oder Bezie-
hungswünsche bzw. -ängste.
Prinzip: Es bedarf es eines sensiblen, therapeutischen, un-
parteilichen und vorurteilsfreien Umgangs mit diesen Patien-
ten/innen im Sinne einer einerseits ergebnisoffenen, deeska-
lierenden Reaktion auf die Vorwürfe, andererseits kritischen
Prüfung der affektiven und kognitiven Logik in Bezug auf
Funktion, subjektive Bedeutung, ich-syntone/-dystone Dyna-
mik.
Therapeutische Ebene: In diesem Sinne bedarf es einer Klärung,  welche Auswirkungen
die berichteten Handlungen auf den/die Patienten/in haben können und wie diese (bspw. mit
der Fragestellung einer Traumatisierung / Retraumatisierung) angemessen zu behandeln
sind,  ob es sich um – ggf. traumabedingte – Wahrnehmungs- und Erinnerungsverzerrun-
gen handelt und dies bearbeitet werden kann und muss,  welche – ggf. manipulative – In-
teraktionsdynamik vorliegt und wie dies (als Falschbeschuldigung) vor dem Hintergrund von
Störungs- und Deliktdynamik zu verstehen, u. U. einem Behandlungsansatz zuzuführen ist,
 welche anderen Motive für eine bewusste Falschbeschul-
digung denkbar sind. Hinweis: Eine psychotherapeutische Be-
ziehung arbeitet zwangsläufig mit der Subjektivität des/der Pa-
tienten/in, d. h. jede – quasi detektivisch – ‚ermittelnde’ Vorge-
hensweise des sich darin selbst instrumentalisierenden Be-
handelnden löst diese therapeutische Position auf und un-
terläuft eine psychotherapeutische Bearbeitung im engeren
Sinne. Zugleich wird ein/e sich möglichst neutral verhaltende/r Therapeut/in als unsolida-
risch, parteilich, unloyal o. ä. erlebt werden, zugleich Einflüssen der argumentativen Verein-
nahmung unterliegen. In dieser Situation, es keiner interessierten Konfliktpartei ‚recht ma-
chen’ zu können, bedarf der/die Einzeltherapeut/in einer externen Beratung. Empfehlung: Es
wird angeregt, eine Liste geeigneter Supervisoren/innen vorzubereiten, um im konkreten Fall
handlungsfähig zu sein.
Fürsorge-Ebene: Der/die Patient/in ist einerseits vor weite-
ren – objektiven oder subjektiven – Bedrohungen der sexu-
ellen Selbstbestimmung zu schützen; zugleich muss er/sie
präventiv auch davor bewahrt werden, in ein Gegenagieren
zu geraten, bzw. daran gehindert werden, eventuelle Falsch-
beschuldigungen fortzusetzen. Empfehlung: Unterbringung
des/der Patienten/in getrennt von dem/der Mitarbeiter/in. Im
Falle einer als traumabedingt anzunehmenden Dynamik sollte unter behandlungsethischen
Aspekten darauf geachtet werden, dass es durch die Wahl von (nur als ‚Verlegenheitslösung’
zu Verfügung stehenden) Alternativen nicht zu benachteiligenden oder kontraindizierten Be-
ziehungs- und Behandlungsabbrüchen kommt bzw. andere Stationen oder Institutionen tat-
sächlich über das fachliche Knowhow bzw. angemessene Behandlungsressourcen verfügen.
Soziale Ebene: Bei unter gesetzlicher Betreuung stehenden
Patienten/innen bedarf es der Information und Beteiligung
des/der Betreuers/in.

Juristische Ebene: Für den/die Patienten/in ist es u. U. we-


sentlich, möglichst frühzeitig fachkompetente juristische
Beratung bzw. Rechtsschutz zu erhalten. Empfehlung:
Beratung – des/der Betreuers/in – bzgl. der Mandatierung
eines Rechtsanwalts.
Beratungsethische Ebene: Die Anschuldigung (sexual-)ag-
gressiver Handlungen gegenüber einer Mitglied des
Behandlungsteams induziert unweigerlich persönliche Reaktionen der einzelnen Mitarbei-
ter/innen, die eine reflektierte, ausgewogene und eindeutige Beziehungs- und Therapieges-
taltung erschweren müssen. Empfehlung: Eine beratende Beteiligung des Klinischen Ethik-
Komitees könnte in Ergänzung der fachlichen Kompetenzen des Behandlungsteams ermög-
lichen, eine distanzierte ‚dritte’ Position und unbeeinflusste Sichtweise einzunehmen, eine
Abstraktionsprozess vorzunehmen und hieraus eine Empfehlung abzuleiten.

Institution
Aufsichtsebene: In Bezug auf die Fach- und Dienstaufsicht ist
der Krankenhausträger vom Vorfall in Kenntnis zu setzen.
Beschwerdeebene: Darüber hinaus ist zu prüfen, ob u. U.
die Beschwerde-Kommission zu beteiligen ist.
Fürsorgeebene: Für den/die Beschuldigte/n ist es we-
sentlich, möglichst frühzeitig fachkompetenten Rechtsschutz
zu erhalten. Empfehlung: Beratung bzgl. der Mandatierung
eines Rechtsanwalts (siehe oben).
Juristische Ebene: Da es sich ggf. einerseits um den Vor-
wurf einer strafbaren Handlung handelt, andererseits eine
Falschbeschuldigung ebenfalls strafbar wäre, ist die Frage
einer Information der Staatsanwaltschaft als Ermittlungs-
behörde zu prüfen.
Beurteilungsebene: Unabhängig von der u. U. strafrechtlichen Relevanz der vorgeworfenen
Handlungen bedarf es einer institutionellen Realitätsprüfung, um eine möglichst valide Beur-
teilungs-, Entscheidungs- und Handlungsbasis und anstelle der reaktiven wieder in eine aktiv
gestaltende Position wieder zu gewinnen. Empfehlung:
Sofern sich der/die Patient /in einverstanden erklärt, bietet
es sich – unabhängig von der klinikinternen Beurteilung z. B.
durch den/die Bezugstherapeuten/in – hierfür an, eine
aussagepsychologische Begutachtung durch eine/n
externe/n Gutachter/in vornehmen zu lassen. Es wird
angeregt, hierfür eine Liste feldkompetenter Gutachter/innen
vorzubereiten, um im konkreten Fall handlungsfähig zu sein.
Systemebene: Auch bei einem verschwiegen-diskreten Um-
gang mit Anschuldigungen wird nicht nur aufgrund der zu-
gleich gebotenen Offenheit und Transparenz, sondern aus
sozialpsychologischen Gründen nicht zu verhindern sein,
dass innerhalb der klinischen Institution ein Austausch über
dieses ‚Ereignis’ erfolgt. Formen von ‚Klatsch’ oder ‚Tratsch’
richten als – zusätzliche – Nachrede nicht nur psychosozia-
len Schaden an, sondern erfüllen zugleich  Funktionen
sozialer Kontrolle im Sinne einer kooperationsfördernden Angleichung von Macht- und Sta-
tusunterschieden, einer normativen Bindung und identifikatorischen Stabilisierung,  der
Entlastung angesichts der Infragestellung rechtlich wie gesellschaftlich garantierter Tabus
und professioneller Rollen bzw. geforderter Einstellungs- und Verhaltensstandards, aufkom-
mender Scham-, Schuld- und Angstaffekte. Empfehlung: Angesichts der sowohl sozial schä-
digenden Effekte wie prosozialen Dynamiken bedarf es klinikintern einer – auf den Einzelfall
abgestimmten – strukturierenden Kommunikation über den jeweiligen ‚Fall’. Weiterhin wird
angeregt, präventiv geeignete alltags- und behandlungsbezogene Fortbildungen z. B. zu
Fragen des professionellen Rollenverständnisses und der Rollenreflexion (Unterscheidung
von privater und beruflicher Rolle bzw. Meinung; Verständnis der eigenen Vorbildfunktion),
der Geschlechterbeziehungen und geschlechterbedingten Wahrnehmungsverzerrungen
(‚gender bias’), der Effekte struktureller Gewalt, eines bedachten Umgangs mit Sprache und
Sprechen einzurichten.

Psychosoziale Ebene: Anschuldigungen wegen der Aus-


übung von – sexueller – Gewalt gegenüber Patien-
ten/innen, Schutzbefohlenen also, führen unabwendbar
dazu, dass die betroffenen Adressaten (Mitarbeiter/innen,
Teams) auf unterschiedliche Weise betroffen und in ihrem
professionellen Handeln, ihrem Rollenverständnis, ihrem
sozialen Status, ihrer psychischen Befindlichkeit, ihren
zwischenmenschlichen Beziehungen usw. verändert und/oder beschädigt werden. Empfeh-
lung: Wesentlich erscheint der Hinweis, dass Verletzungen der Betroffenen weder zu ver-
meiden sind noch rückgängig gemacht werden können, sondern ein implizites Berufsrisiko
darstellen, das auch durch professionelles Handeln und korrekte Einhaltung präventiver Ver-
haltensroutinen zwar vermindert, aber nicht verhindert werden kann. Insofern bedarf es der
grundlegenden Akzeptanz, dass die möglichen Maßnahmen im Umgang mit allen Beteiligten
den Zweck erfüllen, die Konsequenzen zu minimieren (‚harm reduction’) und Hilfestellungen
bei der Bewältigung des individuellen Schicksals anzubieten.

Behandler/innen
In der Situation einer einerseits therapeutisch engagierten,
andererseits institutionell verpflichteten und mit dem/r
beschuldigten Kollegen/in solidarisch verbundenen Identität
besteht für das Behandlungsteam die Notwendigkeit einer
Interessens- und Positionsklärung. Unabhängig davon bedarf
der/die Einzeltherapeut/in – siehe oben – einer superviso-
risch garantierten Reflexionsebene. Empfehlung: Für die
Aufrechterhaltung einer behandlungsethisch gebotenen,
hinreichend reflektierten Position sollte  eine – ggf. zusätzliche – Supervision angeboten
werden. Es wird angeregt, hierfür eine Liste geeigneter Supervisoren/innen vorzubereiten,
um im konkreten Fall handlungsfähig zu sein. Zugleich sollte parallel die Möglichkeit erwo-
gen werden,  das Klinische Ethik-Komitee in die Beratung weiterer therapeutischer Schritte
im Umgang mit dem/der Patienten/in einzubeziehen.
Aber auch dieses – hier nur neu verwendete – Arbeitspapier bleibt noch einem reaktiven,
Gefahren abwehrenden, Schaden minimierenden und konfliktregulierenden Fallmanagement
verhaftet.
Was also fehlt? Über die erörterten Aspekte hinausgehend bliebe zu diskutieren, ob eine
solche Situation überhaupt durch die – auf unterschiedliche und konfligierende Weise partei-
liche – Krankenhausbetriebsleitung gemanagt werden kann oder ob das Verfahren unab-
hängig von juristischen Maßnahmen innerinstitutionell nicht an eine neutrale Instanz abge-
geben werden müsste. Damit greift dieser Essai über eine Problemskizze hinaus und wird zu
einer prismatischen Praxis institutioneller Kritik. Als eine Art solidarisches ›What’s wrong?‹
muss sie unweigerlich auch praktizierte Selbstkritik beinhalten. Nicht um theoretische Kritik
also geht es, sondern ganz praktisch auch um die Tatsache, dass beim auf den anderen
ausgestreckten Zeigefinger drei Fingern der eigenen Hand auf uns selbst zurückweisen. Das
heißt, diese Frage- und Infragestellung greift ein, greift etwas auf. Was in seiner Banalität
aufgegriffen wird, sind zunächst jene politisch korrekten Deklarationen zum Beispiel eines
Klinik- oder Pflegeleitbildes, die im Alltag insofern unbedeutend sind, als auf sie – seien wir
redlich – allenfalls deklamatorisch Bezug genommen wird. Sie stellen also kein verlässliches
Entscheidungs- oder Handlungsfundament dar, sind allenfalls deren abstrakte Planskizze.
Wie umgehen damit, dass wir nicht nur sexualisierte Übertragungsangebote machen und
‚genderspezifische’ Projektionsobjekte sind, uns dabei allerdings allenfalls als zu phantasie-
rende (also fiktive) Modelle – nicht als konkrete Personen – verstanden wissen wollen? Wie
verfahren mit der Crux, dass die Institution auf allen Ebenen (des Einzelgesprächs, der The-
rapiegruppe, des Stationsflurs, des Ausgangs, aber auch der Station, der Abteilung oder der
Berufsgruppen) als eine gänzlich heterogene, oft unreflektierte, ungeregelte, sprich, als eine
quasi experimentelle Interaktionsfigur zu beschreiben ist? Was ist der eigene Anteil an dieser
defizitären Praxis? Was ist Anteil der Instanzen und Personen, die eine solche Institution lei-
ten? Wie wäre also im konkreten Fall das komplexe Ganze anzugehen?
Denkbar wäre zum Beispiel die Übergabe des weiteren Verfahrens an eine unabhängige
Ombudsperson. Ein „ombud“, altnordisch bzw. altisländisch für ‚Auftrag’ und ‚Vollmacht’, ist
die Berufung einer oder mehrerer unabhängiger Personen, sich bei bestimmten Themen ein-
zuschalten, um als Bevollmächtigter vermittelnd, treuhänderisch und sachlich ungerechte
oder ungerechtfertigte Behandlungen von Personengruppen – hier sowohl von Patient wie
Mitarbeiter – zu verhindern (vgl. Gundlach, 2014). Es geht also nicht, wie oft in der psychiat-
rischen Praxis, um einen Ombudsmann als Patientenfürsprecher, sondern um eine unab-
hängige, unparteiisch – und damit quasi ‚zweiseitig’ – lösungsorientiert agierende Ombuds-
funktion. Für den Fall der Anschuldigung von Übergriffen kennen beispielsweise die Malte-
ser-Werke ein solches Ombudsamt mit entsprechenden Funktionen der Initiierung, Beglei-
tung und Beratung eines entsprechenden Regelungs- und Ordnungsverfahrens.
Weder um eine administrative Programmatik noch um poli-
tisch korrekte Artigkeiten geht es dabei, sondern um etwas
Entscheidenderes: Sowohl die involvierten PatientInnen als
auch die betroffenen MitarbeiterInnen werden in einer prekä-
ren Lage, die intersubjektiv einer lose-lose-Situation, intra-
subjektiv einer no-win-Situation gleichkommt, mehr oder we-
niger allein gelassen. Wenn und weil es dabei Opfer (Ruf-
mordopfer, verkannte Opfer, Missbrauchs- oder Gewaltopfer)
gibt, müssen sich forensisch-psychiatrische Kliniken in der Tat fragen lassen, warum sie sich
ein derart ineffizientes, fallweise planloses und allenfalls eklektisches Fall- und Krisenmana-
gement ‚leisten’. Anders gefragt: Worum geht es? Oder mit Eliot (1934):
o Was ist die Wahrheit, die wir – nicht durch die Anschuldigung offenbart, sondern in ihr
verborgen – verloren haben?3
Keinen strukturierten Ablaufplan vorbereitet, keinen mehrspurigen Leitfaden schematisiert zu
haben, ist keineswegs auf die QM-Frage fehlender Formalisierungen und Standardisierung
organisatorischen Maßnahmen zur Verbesserung institutioneller Prozessqualität zu reduzie-
ren. Wenn Organisationen
o wie Facheinrichtungen der Malteser (2014) einen Ombudsmanagementplan,
o wie die Arbeitsgemeinschaft Kinderschutz in der Medizin (AG-KiM, 2014) einen Interven-
tionsstufenplan,
o wie der Paritätische Wohlfahrtsverband (2010) einen einrichtungs-, opfer- und täterbezo-
genen Notfallplan
im Falle von (sexuellem) Machtmissbrauch erarbeiten und veröffentlichen können, stellt sich
die Frage, warum Maßregelvollzugskliniken dies nicht zu benötigen scheinen. Mit dem lako-
nischen Fingerzeig auf fehlende QM-Standards in Behörden dieser Art würde die vom
selbstkritischen ›What’s wrong?‹ eröffnete Fehlerkultur und Fallanalyse allenfalls abgewürgt.
Ziel einer Untersuchung ist, wie der Begriff bereits ansagt, ‚unterhalb’ der offiziellen Gründe
oder augenscheinlichen Fakten nach den eigentlichen Bedingungen zu suchen. Mithin geht
es um die Untersuchung eines institutionellen Mankos, das man im Falle von Einzelpersonen
als Unterlassung, als Lapsus, als Fehlleistung erörtern würde. Der darin enthaltene Aspekt
der Spaltung verweist – als Ausblenden von Offensichtlichem – auf einen spezifischen Mo-
dus der Konfliktbewältigung. Seine Praxis folgt einem Muster, das als Devise, als Sprichwort
der ›Drei Affen‹ bekannt ist.
Das Sprachbild der ›Drei Affen‹ basiert auf einer Ethik, einer Tugendlehre des chinesischen
Lehrmeisters Kong (Kong Fu Dsï 孔夫子), den wir lateinisiert entstellt als Konfuzius kennen.
Der Staats- und Moralphilosoph fordert ‚Sittlichkeit’ als eine Haltung ein, bei der alles, was
angemessenem Verhalten – einem Ideal – widerspricht, nicht geschaut, nicht gehört, nicht
ausgesprochen, nicht getan werden solle (Konfuzius, 2008a, 349). Im Japanischen leitete ei-
ne Homophonie des Begriffs zaru ざる (Verneinung einer Tätigkeit) und des Substantivs saru
猿 (Affe) die bildhafte Entfaltung des bekannten Drei-Affen-Motiv ein. Historisch erfolgte eine
Erweiterung der ›Drei Affen‹ um den vierten Affen, der mit beiden Händen seinen Unterleib
bedeckt und das Nicht-Sehen, Nicht-Hören, Nicht-Sprechen durch ein Nicht-Tun von sittlich
Unangemessenem bzw. Unschönem ergänzt und den Verzicht auf sexuelle Lust versinnbild-
licht (Mieder, 2005, 97).

Mit diesem Exkurs wird erkennbar, dass es sich um eine Paraphrase handelt, die einen
(ethisch) verantwortlichen Umgang mit dem verletzten Tabu zum Inhalt hat und sinnbildlich
abhandelt. Wenn es also um einen institutionalisierten Widerstand, um – wie Konfuzius sich
ausdrückt – ein „Zurückdrängen alles Unkultivierten und Wilden“ geht, dann entbehrt dieser
Akt kollektiver Abwehr jener Gründlichkeit, die derselbe Konfuzius (2008b, 351) als weiteres
sittliches Prinzip der „Erzeugung von Realitäten inmitten einer widerstrebenden Welt“ be-
nennt. Es könnte also um einen Widerstand gehen,
o der sich gegen die dem Problem eigene Fragestellung und Infragestellung richtet,
o der die in der Forderung (als imperative Auf- und Überforderung) enthaltene Zersplitte-
rung der Interessen abzuwehren sucht,
o der das Undenkbare des Einbruchs von etwas Unglaublichem in die klinische Ordnung,
der das Unaussprechliche des verletzten Tabus ausblendet,
o der aufkommender Unsicherheit, der dem Unheimlichen einer Auflösung direktorial-über-
legener Positionen vorzubeugen sucht,
o der einer Angst entspringt, im konzeptionellen Maßnahmenplan zu kurz zu springen.
Wenn die zu fordernde Ethik – so Konfuzius (2008b, 355) – „nicht etwas [ist], worüber man
geistreich konversieren kann“, dann wird vielleicht nachvollziehbar, warum der Verfasser bei
der dennoch geleisteten Konversation die fingierte Position eines Stuntmans in Anspruch
nimmt. Denn für eine lernfähige Fehlerkultur bedarf es einer gründlichen, sprich, bedingungs-
losen Analyse, mithin auch einer dialektischen Betrachtung, einer ggf. auch dissidenten Mo-
dellbildung. Was die institutionellen Instanzen im Umgang mit dem Tabubruch hemmt, könn-
te Folge einer insgesamt irritierenden, unauflösbaren und paradoxen Dynamik sein. Was –
gewissermaßen ‚hinter dem Rücken’ der Subjekte – provoziert wird, ist die alternativlos er-
zwungene Auseinandersetzung mit etwas Abgewehrtem, Verdrängtem.
Was aber theoretisch nicht zu fassen ist, was sich rational-logisch nicht erfassen lässt, kann
unter Umständen treffender als grafischer Entwurf veranschaulicht, prägnanter als topologi-
sches Modell verdeutlicht werden: Bereits das Vektormodell des Tetraeder zielte darauf ab,
Beziehungen aufzuzeigen, blieb jedoch – einer euklidischen Geometrie1 verhaftet – noch ein
statisches Modell. Indem es um dynamische Beziehungen, um Beziehungsfunktionen, -gren-
zen, -räume geht, bedarf es – da Strukturen und Topologien2 strikt äquivalent sind (Lacan,
1972, 16) – eines nicht-euklidischen Körpers3. Die in diesem Fall (und in dieser Falle) alter-
nierende Innen- und Außenposition einer Leitung ist gemeinhin als ein Möbius-Band dar-
stellbar. Es handelt sich um ein in sich schleifenartig verdrehtes Band, das jene untrennbare
Differenz zwischen Klinik und Organisation, jene fließende Alternanz von Subjektivität und
Objektivität artikuliert, wie sie hier zu untersuchen versucht wird: Insofern thematisiert das Di-
lemma der Anschuldigung nicht getrennte, sondern komplementäre institutionelle Ebenen,
sprich: eine experimentelle Interaktionsfigur, wie sie durch die jeder Möbiusschleife inhärente
Verdrehung, durch ein Wechselprinzip illustriert wird.

Was zunächst ungeklärt bleibt, ist die zuvor als irritierend, unauflösbar und paradox etiket-
tierte Dynamik der institutionellen Instanzen. Die Skizze zeigt, dass und wie sich die topolo-
gische Figur der Möbius-Schleife stufenweise in ein zweidimensionales Möbius-Band über-
führen und von da aus weiterentwickeln lässt. Die letzte Form jedoch stellt bereits nicht mehr
eine Möbius-Schleife, sondern in seiner Schlauchstruktur bereits eine als Kleinsche Flasche
bezeichnete topologische Figur dar. Dieser variante Korpus könnte dazu beitragen, das Pa-
radoxon zu entwirren.

Über eine Figur wie die Kleinsche Flasche lässt sich das Unheimliche als Zustand verstören-
der interaktioneller – also räumlicher – Desorientierung (Lacan, 1964, 94) topologisch rekon-
struieren. Die ungewöhnliche Figur ist ein spezieller Hohlkörper, dessen Außenfläche mit der
Innenfläche zu einer kontinuierlichen Oberfläche verschmilzt (Lacan, 1965, 118), so wie die
Mikropolitiken einer Maßregelvollzugsklinik fallweise in einem ‚Zwischen’, einem Zwischen-
bereich von Dienstaufsicht und Fürsorgeauftrag, von öffentlicher Transparenz, protektiver
Verschwiegenheit und exhibitionistischer Public-Relation oszillieren. Dies hat zur Folge, dass
nicht mehr eindeutig zwischen Außen- und Innenposition unterschieden werden kann. Die
Kleinsche Flasche zeigt eine Öffnung sogenannter nicht-orientierbarer Oberflächen vor, also
von Oberflächen, bei denen man bruch- und randlos von der Vorder- zur Rückseite, vom In-
nen zum Außen, übergehen kann – und muss.

1
Die auf Axiomen des griechischen Mathematikers Euklid von Alexandria (wahrscheinl. 3. Jahrh. v. Chr.) beruhende euklidische
Geometrie ist eine anschauliche, zwei- und dreidimensionale Geometrie sog. ‚wirklicher’ Elemente.
2
Die Topologie beschäftigt sich mit den Eigenschaften mathematischer Strukturen, die unter stetigen Verformungen erhalten
bleiben. Der topologische Raum stellt (in der geometrischen Topologie sowie der topologischen Graphen- und Knotentheorie)
eine weitreichende Abstraktion der Vorstellung von Nähe dar und erlaubt weitreichende Verallgemeinerungen mathematischer
Konzepte wie Stetigkeit und Grenzwert.
3
Die nicht-euklidische Geometrie gibt die idealistischen Axiome – insb. das widerlegte Parallelenaxiom – Euklids auf und entwi-
ckelt bspw. eine Differentialgeometrie gekrümmter Räume, geometrische Modelle der Relativitätstheorie usw.
Mit diesem Modell kann die selbstbezügliche Problematik des systeminternen Beobachters
topologisch dargestellt und die Unterscheidung in eine Innen- und eine Außen-Perspektive
als philosophische – ontologische und erkenntnistheoretische – Fragen der Subjekt-Objekt-
Dialektik vorgestellt werden. Auf der einen Seite steht ein Endo-Zugang zur institutionellen
Wirklichkeit (gewissermaßen von ‚innen’, durch einen zum System gehörigen Beobachter)
mit der Konstruktion der praktischen Evidenz subjektiver Wirklichkeiten. Auf der anderen, der
Exo-Seite, findet sich eine empirische Faktenlage, ein positivistisches Verständnis von –
vermeintlich – kausalen Sachverhalten. Das Bild der Kleinschen Flasche lässt erkennen,
dass es keinen bestimmbaren Umschlagpunkt, keine definierbare Grenze vom Wissen zur
Wahrheit gibt (Lacan, 1966, 278), dass die Anschuldigungs- und die Subjektverhältnisse na-
turgemäß undefinierbar und uneindeutig sind. Erkenntnistheoretisch müssen externe und in-
terne Sichtweisen als ununterscheidbar angesehen werden, als eine Innenwelt ohne Konti-
nuität und als eine im permanenten Hier-und-Jetzt verhaftete Außenperspektive.
Lässt man die Topologie der Kleinschen Flasche – zum Beispiel als Satire (Charlie Hebdo,
2015, 7) – konkret werden, konvertiert man deren Hohlkörperstruktur in eine – in ihre – leib-
haftige Körperform (Lacan, 1976, 5), entlarvt sich die zwar befremdliche, aber unbestimmte
Ästhetik des Objekts als ausweglose Selbstbetrachtung des isolierten Subjekts, als eine leer-
laufende, anrüchige Zirkularität ohne Anfang und Ende. Wie die parodistische Verfremdung
zeigt, dient Konversation durchaus der Unterhaltung, und sei es mit Mitteln der Selbstironie.
Gefangener des eigenen Systems zu sein, der ergebnis-, effektivitäts- oder sinnmaximieren-
den Logik nicht ohne weiteres entkommen zu können, macht deutlich, dass und wie sehr Lei-
tungsinstanzen aufgrund mehrfacher, konfligierender Aufträge weder eine konsequent nicht-
mit- oder gegenagierende Innensicht noch eine verlässlich neutrale, distanzierte Außensicht
einnehmen können. Um jeder illusionären Erwartung vorzubeugen: Auch die noch so aufge-
klärteste und refektierteste Praxis wird nicht verhindern, dass MitarbeiterInnen im Maßregel-
vollzug beschuldigt werden, Gewalt – und unter Umständen sexuelle Gewalt – ausgeübt zu
haben. Das idealistische Wunschbild einer Maßregelvollzugsklinik, die derartige Probleme
nicht kennt, wäre zu Ende gedacht das Fantasma eines entsubjektivierten, funktionalen, tota-
lisierten Bootcamps, einer unpsychologischen, asozialen Besserungsanstalt. Wenn Konver-
sation der ‚Unter-Haltung’ – einem Halt von unten – dient, dann geht um den Erhalt einer Kli-
nikkultur, um eine Streit-, Fehler- und Kooperationskultur innerhalb der Klinik. (Merke: Dies
ist der Punkt, an dem Konversation zur Konversion überleitet.) Was eine vorbereitete, eine
therapeutisch instituierte Praxis ermöglichen und erleichtern könnte, wäre eine Form solida-
rischer (weil allparteilicher) Beistandschaft, ein im positiven Sinne routiniertes, ein mit Maß
und Regel vorgefertigtes – weil gemeinsames und transparentes – Krisen- und Qualitätsma-
nagement.
Wesentlich hierfür wäre anzuerkennen, dass wie eine Kleinsche Flasche konzipierte Interak-
tionsstrukturen nicht wie ein Handschuh umgestülpt werden können, dass es keine ‚einfache’,
keine elegante und auch keine komplexe Lösung gibt. Unabdingbar wäre auch, jede Idee ei-
ner anklagenden Fehler- und Schulddiskussion aufzugeben. Es ginge darum, derartige Zwi-
schenfälle im Sinne einer ›What’s wrong?‹-Analyse als affektlogische Folge, als jene sys-
temeigene Außen- und Innenseite dialektischer (mithin fallweise negativ-dialektisch um-
schlagender) Dynamiken zu verstehen, ohne die – und ohne deren subversive Effekte – eine
Tätertherapie nicht möglich wäre. Eine solche Konversation kann keine Arbeit am Konflikt
leisten, dafür ist auf einer Fachtagung weder Ort noch Zeit. Sie vermag sich lediglich dem
Ereignis zu stellen und das zu tun, was Aufgabe solcher (psychologisch-philosophischer) Re-
flexion – und Reflektion (Widerspiegelung) – ist, nämlich nichts vorauszusetzen, sich hinrei-
chend ‚dumm’ zu stellen4 und dabei jenen Punkt zu setzen, an dem das Denken erneut an-
zusetzen vermag (Kobbé, 1998).
Zum Schluss: Die in der Anschuldigung verborgene Wahrheit wird nur in Ablösung von kon-
kreten Einzel- und Krisenfall, von institutionellen Grenzziehungen, sprich, in Loslösung von
mikropolitischen Denkverboten, von systembedingten Fehlleistungen identifizierbar sein. Die
Wahrheit betrifft, verkürzt formuliert, das gängige behandlungstechnologische Fantasma ei-
ner psychologischen Kalkulier- und Machbarkeit menschlichen Verhaltens. Wenn also SOS-
Situationen von PatientInnen wie Behandlern auch zukünftig unvermeidbar sein werden, regt
dieser Essai an, sich in den Kliniken des Maßregelvollzugs darauf vorzubereiten. Dieser Weg
ist nicht ohne Anerkennung unerwünschter Realitäten inmitten einer widerständigen Welt
möglich. Ein Grund, warum hier der durch eine Narbe akademischer Sozialisierung markierte
Affe mit den Worten Kafkas (1918) schließt, der wahre Weg als Weg der Erkenntnis gehe
über ein Seil, das nicht in der Höhe, sondern so knapp über dem Boden gespannt sei, dass
es mehr bestimmt zu sein scheine, stolpern zu machen, als begangen zu werden.

Anmerkungen
1 Vortrag. 32. Eickelborner Fachtagung zu Fragen der Forensischen Psychiatrie. Lippstadt: LWL-Zentrum für
Forensische Psychiatrie, 01.-03.03.2017.
2 stoisch im Sinne der Grabinschrift des Nikos Katzanzakis: Ich erhoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei.
3 Im Original: „Wo ist die Weisheit, die wir im Wissen verloren haben? Wo ist das Wissen, das wir in der Infor-
mation verloren haben?"
4 Vgl. Mengue (2013) über die philosophisch-politische Grundhaltung von Gilles Deleuze, sich dumm zu stellen
(im franz. Original: «faire l’idiot»).
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tiz/mdj_Dokumentation_MRV-Fachtagung_2010.pdf.

Dr. Ulrich Kobbé


iwifo-Institut, Postfach 301025, 59556 Lippstadt
ulrkobbe@iwifo-institut.de
ulrich@kobbe.de

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