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28/2/2014 Berliner Zeitung - Härtetest für Heiner Müller

Archiv - 15.07.1996
AUSTRALISCHE ABORIGINES UND MICHAEL SIMON: HÖHEPUNKT UND FLOP AUF DEM KUNSTFEST WEIMAR

Härtetest für Heiner Müller


Von Ernst Schumacher

1799 forderte Friedrich Schiller im Prolog zu "Wallenstein", auf der Bühne "der Menschheit große
Gegenstände" abzuhandeln. Es gehört zur "List der Vernunft",

1799 forderte Friedrich Schiller im Prolog zu "Wallenstein", auf der Bühne "der Menschheit große
Gegenstände" abzuhandeln. Es gehört zur "List der Vernunft", daß diese Erwartung auf dem Kunstfest
Weimar ausgerechnet durch das Gastspiel des bisher einzigen Theaters der australischen Ureinwohner
am überzeugendsten erfüllt worden ist. Das Stück, das "The Aboriginal Protesters" aus Sidney in der
Hetzerhalle aufführen, trägt einen fast barocken Titel: "Die protestierenden Aborigines konfrontieren die
Proklamation der australischen Republik am 26. Januar 2001 mit der Theaterproduktion ,Der Auftrag` von
Heiner Müller." Müllers Abgesang auf die europäische Revolution wird dabei einem Härtetest unterzogen,
indem er auf den Befreiungskampf der negroiden Urbevölkerung Australiens gegen die weißen
Herrenmenschen aus Großbritannien übertragen wird. Aktueller "Auftrag" Die Idee dazu kam vom
deutschen Anglisten Gerhard Fischer; der erfolgreiche Aborigines-Schriftsteller Mudrooroo stellte den
Spieltext her. Dabei konfrontierte er die Müller-Szenen mit der Debatte über den Gebrauchswert des
"Auftrags" im Befreiungskampf, wie sie eine Gruppe von Aborigines-Schauspielern geführt hatte. Die
Spieler repräsentieren selbst gesellschaftliche Kräfte: King George die Alten, die ihr Leben im Gefängnis
verbracht haben; Peter den assimilierten "schwarzen Bürokraten"; Clint den Taktierer; Bob den Strategen
des Unabhängigkeitskampfes. Maryanne und Eve drücken das Selbstbewußtsein von Koori-Frauen aus.
Die Spieler stellen fest, daß die nach Meinung von Müller verratenen Ideale der Französischen Revolution -
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - sowenig die ihrigen waren wie die ihrer Eroberer und Unterdrücker. Die
beiden Frauen befinden darüber hinaus, daß Müllers Text "ein verdammt fucking männlicher weißer Text"
sei. Deshalb beschließen die Spieler, Müllers Stück nicht aufzuführen, sondern eine politische
Demonstration zu veranstalten. Diese wird mit den Mitteln des politischen Agitationstheaters ausgeführt:
Im Chor und durch Einzelstimmen wird die ebenso niederschmetternde wie heroische Geschichte der
Aborigines aufgezeigt. Die Manifestation endet mit der Forderung, der geplanten Ausrufung der "weißen"
Republik Australien 2001 die Ausrufung eine Unabhängigen Republik der Ureinwohner entgegenzustellen.
Das alles findet in Weimar in einem simulierten Probenraum statt, den Fotos von versklaven Aborigines
rahmen. Die Müller-Szenen werden auf einer schrägen Rampe gespielt. Durch Halbmasken verwandeln
sich die schwarzen Spieler in Weiße. Die deklamatorische Manier, in der die Müller-Szenen gespielt
werden, verrät die stilistische Dominanz des bürgerlichen Theaters. Wirklich packend sind dagegen die
realistischen Auseinandersetzungen, die die Spieler untereinander über ihre Sache führen, bei der es
buchstäblich um das nackte Überleben, aber auch um die Wiederherstellung der Ehre der Ahnen geht. Hier
sind die Spieler am authentischsten, hier sind sie existentiell engagiert, hier reißen sie das Publikum mit.
Müllers "revolutionäre Romantik" muß bei dieser Adaption beträchtlich ideologische Federn lassen. Aber
die Politparabel erfüllt doch ihre Funktion, "den Auftrag" weiterzugeben. Man darf dieses politische
Theater, das aus dem Zusammenstoß postrevolutionärer Idealität mit der brutalen Realität der
Unterdrückung der Aborigines entstanden ist, uneingeschränkt als Höhepunkt des Kunstfestes Weimar
1996 bezeichnen. Fade "Bildbeschreibung" Demgegenüber war die zweite Müller-Inszenierung des
Kunstfestes, nämlich die der "Bildbeschreibung", ein gänzlicher Flop. Der hochgehandelte Regisseur
Michael Simon machte daraus ein zusammenhangloses Happening auf dem nächtlichen Gelände des
Steinbruchs von Ehringsdorf bei Weimar. Schade um Zeit und Geld. Fast unbemerkt von den Besuchern
des Kunstfestes fand zudem ein Symposium der Stiftung Weimarer Klassik zum Thema "Unpolitische
Klassiker?" statt. Der Begriff des Politischen reduzierte sich dabei freilich viel zu stark auf einen idealen
Humanismus. Aber daß die Klassik überhaupt im Zusammenhang mit Politik gebracht wird, läßt auf
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28/2/2014 Berliner Zeitung - Härtetest für Heiner Müller

"Weimar - Kulturstadt 1999" hoffen. +++

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