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Roger Behrens
Kunst ist soziales Verhältnis. Sie ist Teil der Gesellschaft auch dort, wo
sie sich der Gesellschaft zu entziehen versucht und eine dieser
gegenüber erhabene Stellung behauptet. »Frei« ist die Kunst, wie sie sich
mit der Neuzeit herausbildete, nicht im Sinne einer isolierten
ästhetischen Autonomie, sondern in Abgrenzung zur herrschenden
Unfreiheit, die sich in die bürgerliche Gesellschaft eingeschrieben hat.
Und in diesem sozialen Verhältnis wird »Freiheit« zum emphatischen
Gegenstand der Kunst, schließlich zum Wesen ihrer ästhetischen
Ideologie: Seit dem Übergang der Klassik zur Romantik reklamiert die
Kunst, ja reklamieren die Künste insgesamt die Verwirklichung des
Menschen als Einlösung des Versprechens der humanen,
humanistischen Idee des Glücks. Schiller hat für die damalige Leitkunst,
die Literatur, die programmatische Unterscheidung von naiver und
sentimentalischer Dichtung formuliert und damit auf die Notwendigkeit
der Selbstreflexivität der Kunst hingewiesen, die mit ihrer wachsenden
Entzweiung von der Gesellschaft immer dringlicher wird, will Kunst
eben nicht auf den naiven Standpunkt zurückfallen. Anders gesagt: Zur
widersprüchlichen Gesellschaft gerät Kunst selbst in Widerspruch.
Hegel hat das in dem drastischen Befund vom Ende der Kunst
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zusammengefasst. Ein falsches Ende indes, solange die Kunst der einzige
Ort ist, an dem das Glücksversprechen eines emanzipierten Daseins
überhaupt noch aufgehoben sein kann.
Es scheint mithin, gerade in Bezug auf das Postulat der »freien Kunst«,
als entfernten sich die Künste nicht nur immer weiter von der
Gesellschaft, sondern von der gesellschaftlichen Realität. Doch genau
dem hat sich die avancierte Kunst radikal entgegen gestellt, indem sie die
Gesellschaft, eben die als Wirklichkeit bezeichnete Sphäre als ihren
originären Gegenstand zurück zu gewinnen ersuchte: im Realismus, im
Surrealismus und im revolutionären Versuch der Avantgarde, die
Realität ästhetisch zu überwinden. Gemeinsam ist dieser Kunst das
Bewusstsein, nicht mehr sentimentalisch sein zu können, sondern
kritisch werden zu müssen – kritisch im Verhältnis zur Wirklichkeit,
was eben das soziale Verhältnis der Kunst bestätigt.
Zugleich ist ihr »Ende«, wie Hegel es gemeint hatte, nicht durch ein
Verschwinden gekennzeichnet, sondern – ganz im Gegenteil – durch
eine Integration in die Gesellschaft, ein Nivellement, das seit der
Gründung der ersten öffentlichen Museen, Kunstakademien, Galerien
und dergleichen zu beobachten ist: Ganz im Gegensatz zur radikalen
Ästhetik der avancierten Kunst vollzieht sich dies aber nicht als Kritik
an der Wirklichkeit, sondern als affirmative Preisgabe an die
Wirklichkeit, als An- und Einpassung an den kapitalistischen Markt,
dessen Logik sich auch auf die künstlerische Produktion überträgt:
Kunst wird zur Ware, und zwar in einer Gesellschaft, die durch und
durch vom ökonomischen Tauschprinzip durchdrungen ist: Es gibt
kein Außen mehr, beziehungsweise das »Außen« verkehrt sich zur
schlechten Ideologie, zum billigen Trug des schönen Scheins.
Die Kunst kann ihre Autonomie als sei’s freie sei’s bildende Kunst oder
fine art – nur behaupten, wo sie sich einen Raum schafft oder in einen
Raum platziert wird, der scheinbar selber »autonom« (i. e.
selbstbestimmt, selbstgesetzlich) und »frei« ist, faktisch aber in seiner
Struktur die herrschende Unfreiheit und ökonomische Abhängigkeit
verlängert; dieser Raum wird seit ungefähr zwei Jahrhunderten als
Kultur bezeichnet und hat innerhalb dieser Zeit seine ideologische wie
manifeste Transformation als Hochkultur, Massenkultur,
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von der Kunst löst, so löst sich auch »das Politische« sukzessive vom
Staat, das gesellschaftliche Leben wird das politische Leben. Die
Ästhetisierung der Politik kippt in eine »uneingeschränkte
Politisierung« (Marcuse), nämlich in eine Politisierung des ästhetisierten
Alltagslebens um. Was sich in den faschistischen Regimes, wie von
Benjamin und Marcuse ja gleichermaßen beschrieben, durch politische
Gewalt in einer ebenso gewaltvollen Ästhetik grausam vollzieht,
manifestiert sich in den demokratisch verfassten Gesellschaften
wirtschaftlicher Prosperität als durchgängige, affirmative
Kommodifizierung aller Lebensbereiche.
Auch die Kunst wird als soziales Verhältnis wie die Gesellschaft allgemein
den Prinzipien des Warentauschs unterworfen; gleichwohl behauptet sie
gegenüber der Gesellschaft eine aus sich selbst begründete, nämlich
autonome Souveränität. Diese besteht wesentlich in der Verteidigung der
Deutungs- und Definitionsmacht darüber, bestimmen zu dürfen, was
Kunst ist und was nicht; kokettiert wird dabei scheinbar waghalsig mit
der Möglichkeit der Selbstaufgabe der Kunst oder des Künstlers, ohne
dass die hermetischen Sicherheitszonen freilich eine ernste Gefährdung
darstellen würden: Einmal im Museum drin, lässt sich leicht als
Pseudoproblem die Frage reklamieren, wie die Gegenstände als Kunst ins
Museum kommen. Duchamps ›Fountain‹ ist dafür exemplarisch, ebenso
und mehr noch die Campbell-Suppendosen und Brillo-
Waschmittelpackungen, die Andy Warhol ausstellte. Allerdings: Das
Pinkelbecken bleibt trotz der Reproduktionen ein künstlerisches
Unikat; dennoch mag man sich beim Besuch eines Baumarktes, wo solche
Pissoirs angeboten werden, an Duchamps ›Fountain‹ erinnert fühlen;
erst recht gilt das für Andy Warhols Dosen und Boxen: Die
Warenmarke ist mit dem künstlerischen Akt der Ausstellung,
schließlich mit dem Name Warhol untrennbar verbunden – und zwar
nicht durch die Existenz der Kunstwerke in den Museen, sondern
durch die Verselbstständigungen dieser Arbeiten jenseits des
Kunstbetriebs: Üblich ist es zum Beispiel, die Brillo-Boxen als
Schaufensterdekoration zu verwenden; ein Laden für Sport- und
Freizeitbekleidung schmückte sein Schaufenster jüngst mit diesen
Boxen, auf denen jeweils noch im fetten Schriftzug »Warhol«
aufgedruckt war. Was sich hier aufdrängt, ist also die Frage, wie die
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Dem Text liegt ein Vortrag zugrunde, der am 25. Juni 2009 in der Halle
für Kunst in Lüneburg gehalten wurde. – Erstsendung: FSK
Hallenbaduniversität, Mi. 7. Oktober 2009, 14.00 bis 15.00 Uhr; 18:14
Minuten Sprechzeit.