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Kunst als soziales Verhältnis

Anmerkungen zur Ästhetisierung der Politik

Roger Behrens

»Je grandioser der Anspruch der Kunst ist,


umso mehr liegt ihre wahre Verwirklichung
jenseits von ihr.« Guy Debord, ›Die
Gesellschaft des Spektakels‹ (190)

»Zur Selbstverständlichkeit wurde, dass nichts,


was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich
ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum
Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.«
Adorno, ›Ästhetische Theorie‹ (GS Bd. 7, S. 9)

Kunst ist soziales Verhältnis. Sie ist Teil der Gesellschaft auch dort, wo
sie sich der Gesellschaft zu entziehen versucht und eine dieser
gegenüber erhabene Stellung behauptet. »Frei« ist die Kunst, wie sie sich
mit der Neuzeit herausbildete, nicht im Sinne einer isolierten
ästhetischen Autonomie, sondern in Abgrenzung zur herrschenden
Unfreiheit, die sich in die bürgerliche Gesellschaft eingeschrieben hat.
Und in diesem sozialen Verhältnis wird »Freiheit« zum emphatischen
Gegenstand der Kunst, schließlich zum Wesen ihrer ästhetischen
Ideologie: Seit dem Übergang der Klassik zur Romantik reklamiert die
Kunst, ja reklamieren die Künste insgesamt die Verwirklichung des
Menschen als Einlösung des Versprechens der humanen,
humanistischen Idee des Glücks. Schiller hat für die damalige Leitkunst,
die Literatur, die programmatische Unterscheidung von naiver und
sentimentalischer Dichtung formuliert und damit auf die Notwendigkeit
der Selbstreflexivität der Kunst hingewiesen, die mit ihrer wachsenden
Entzweiung von der Gesellschaft immer dringlicher wird, will Kunst
eben nicht auf den naiven Standpunkt zurückfallen. Anders gesagt: Zur
widersprüchlichen Gesellschaft gerät Kunst selbst in Widerspruch.
Hegel hat das in dem drastischen Befund vom Ende der Kunst
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zusammengefasst. Ein falsches Ende indes, solange die Kunst der einzige
Ort ist, an dem das Glücksversprechen eines emanzipierten Daseins
überhaupt noch aufgehoben sein kann.

Es scheint mithin, gerade in Bezug auf das Postulat der »freien Kunst«,
als entfernten sich die Künste nicht nur immer weiter von der
Gesellschaft, sondern von der gesellschaftlichen Realität. Doch genau
dem hat sich die avancierte Kunst radikal entgegen gestellt, indem sie die
Gesellschaft, eben die als Wirklichkeit bezeichnete Sphäre als ihren
originären Gegenstand zurück zu gewinnen ersuchte: im Realismus, im
Surrealismus und im revolutionären Versuch der Avantgarde, die
Realität ästhetisch zu überwinden. Gemeinsam ist dieser Kunst das
Bewusstsein, nicht mehr sentimentalisch sein zu können, sondern
kritisch werden zu müssen – kritisch im Verhältnis zur Wirklichkeit,
was eben das soziale Verhältnis der Kunst bestätigt.

Zugleich ist ihr »Ende«, wie Hegel es gemeint hatte, nicht durch ein
Verschwinden gekennzeichnet, sondern – ganz im Gegenteil – durch
eine Integration in die Gesellschaft, ein Nivellement, das seit der
Gründung der ersten öffentlichen Museen, Kunstakademien, Galerien
und dergleichen zu beobachten ist: Ganz im Gegensatz zur radikalen
Ästhetik der avancierten Kunst vollzieht sich dies aber nicht als Kritik
an der Wirklichkeit, sondern als affirmative Preisgabe an die
Wirklichkeit, als An- und Einpassung an den kapitalistischen Markt,
dessen Logik sich auch auf die künstlerische Produktion überträgt:
Kunst wird zur Ware, und zwar in einer Gesellschaft, die durch und
durch vom ökonomischen Tauschprinzip durchdrungen ist: Es gibt
kein Außen mehr, beziehungsweise das »Außen« verkehrt sich zur
schlechten Ideologie, zum billigen Trug des schönen Scheins.

Die Kunst kann ihre Autonomie als sei’s freie sei’s bildende Kunst oder
fine art – nur behaupten, wo sie sich einen Raum schafft oder in einen
Raum platziert wird, der scheinbar selber »autonom« (i. e.
selbstbestimmt, selbstgesetzlich) und »frei« ist, faktisch aber in seiner
Struktur die herrschende Unfreiheit und ökonomische Abhängigkeit
verlängert; dieser Raum wird seit ungefähr zwei Jahrhunderten als
Kultur bezeichnet und hat innerhalb dieser Zeit seine ideologische wie
manifeste Transformation als Hochkultur, Massenkultur,
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Kulturindustrie und schließlich Popkultur erlebt. Entscheidend für den


Status der modernen Kunst wie die Kunst in der Moderne (bzw.
nachfolgend dann Postmoderne) ist, dass die Kultur im zwanzigsten
Jahrhundert selber kommodifiziert ist, dass also der Warenfetischismus,
den Marx noch für die Produktionsverhältnisse beschrieben hat, nicht
nur auch auf die Reproduktionsverhältnisse, auf den Konsum
überspringt, sondern mittlerweile – einhergehend mit einer Ausweitung
der Kultur in den Alltag – sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse
durchdrungen hat (und zwar in einer positiven Weise wie ehedem etwa
religiöse Phantasmen, Gottesglaube oder anderer Wahn das Leben der
Menschen bestimmt haben und zum Teil noch immer bestimmen).

Die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts ist eingespannt, mehr als in


anderen Epochen, zwischen Ästhetisierung, Politisierung und
Kommodifizierung. Kunst ist kein autark oder isoliert funktionierendes
System. Im Gegenteil: in der Komplexion von Alltagsleben, Ästhetik,
Politik und Kapitalismus hat sich das, was Kunst gesellschaftlich
bedeutet in den letzten zwei Jahrhunderten fundamental gewandelt; und
zwar in einem Maße, dass nachgerade erstaunlich ist, wie scheinbar
selbstverständlich heute von »Kunst« die Rede ist, wie scheinbar
selbstsicher »Kunst« in den unterschiedlichsten Bereichen der
Gesellschaft positioniert ist, so dass tendenziell »alles Kunst sein kann«.
Als soziales Verhältnis steht die Kunst dabei im Kontext der
gesellschaftlichen Entwicklungen, die sich ökonomisch im Bereich der
Kultur manifestieren: In der zweiten Hälfte des zwanzigsten
Jahrhunderts etabliert sich mit der Popkultur, die aus der Pop Art und
der Kulturindustrie gleichermaßen hervorgeht, ein neuer Status der
Kunst beziehungsweise Künste, in dem die Konzeption der Avantgarde
(nämlich die Forderung, Kunst in Lebenspraxis zu übersetzen) kollidiert
mit der Durchsetzung der spätkapitalistischen so genannten
Konsumgesellschaft: eine Ambivalenz, die einerseits durch – scheinbare
– Ausdifferenzierung der verschiedenen Felder der Künste, ihrer
»klassischen Öffentlichkeiten« und den dazugehörigen Diskursen und
Märkten, die andererseits durch eine Integration der Kunst in den
Alltag, eine Gewöhnung der Menschen an die Kunst, schließlich eine
Banalisierung der Ästhetik charakterisiert ist.
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Für eine Ausstellung der New Yorker Society of Independent Artists


reichte Marcel Duchamp 1917 ein handelsübliches Pissoir, gekauft in
einem Sanitärgeschäft in New York und mit dem Pseudonym R. Mutt
gezeichnet, als Exponat ein. Der ›Fountain‹ betitelte Gegenstand wurde
nach einer langen Diskussion der Jurymitglieder über Sinn und Unsinn
der Kunst nicht zur Ausstellung zugelassen und eben nicht gezeigt.
Alfred Stieglitz stellte das Pinkelbecken eine Woche später in seiner
Galerie 291 aus und fotografierte es. Das Originalbecken, welches
Duchamp seinerzeit besorgte und auf der Stieglitzfotografie auch zu
sehen ist, ist verschollen. Bekannt wurde die Arbeit schließlich nicht
durch das »Original« und auch nicht durch die Stieglitz-Fotografie,
sondern durch die vielen Reproduktionen und (Farb-) Aufnahmen
dieser Reproduktionen. Sie verweisen indes noch immer auf den
Skandal, als der die ganze Angelegenheit nach wie vor innerhalb des
Kunstbetriebes verhandelt wird. Tatsächlich ist der vermeintliche
Skandal längst Teil des Spektakels, mit dem auch diese Arbeit als Kunst
einer lückenlosen Kommodifizierung unterworfen wird: Jeder, der auch
nur ein vages Verständnis von moderner Kunst hat, dürfte Duchamps
Pinkelbecken kennen – und die meisten werden allein die (Fehl-)
Information »Duchamp hat ein Pinkelbecken ausgestellt und es damit
zur Kunst erklärt« für das eigentlich Skandalöse halten. Dieser Skandal
hat jedoch nichts mit dem kritischen Verhältnis von Kunst und
Gesellschaft zu tun, sondern beschränkt sich auf die Bildungsanekdote,
die dem Kunstinteressierten als Ware konsumgerecht vermittelt wird:
Völlig unproblematisch ist es, wenn heute die vielen Duchamp-
Publikationen mit dem Pinkelbecken auf dem Umschlag in den
Buchläden angeboten werden. Die gleichsam minimalistisch arrangierte
Fotografie reiht sich nahtlos ein in den Gesamtbestand von
kommodifiziertem Kunstkitsch, der von Michaelangelos Engel als
Servietten-Motiv und auf Kaffeebecher über Picassos ›Guernica‹ im
wohnzimmertauglichen Poster-Kleinformat, von lebensgroßen Munchs
›Der Schrei‹-Gummipuppen als Gag und Gimmick bis zu
kunstgeschichtlichen Trivialisierungen und Verdummungen wie Dan
Brown-Romane und ihre Verfilmungen reicht.

Das Pinkelbecken verselbständigt sich scheinbar als Kunstwerk; es wird


von einem hässlichen Alltagsgegenstand, der den emphatischen Begriff
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des Kunstwerks infrage stellte, genau zu dem, was Duchamp als


dadaistische Karikatur kritisch-ironisch vorführen wollte: ein
ästhetisches Objekt der Schönheit, auratisch erhöht auf einem Sockel
präsentiert. Doch das Pinkelbecken hatte sich ohnehin schon
verselbstständigt: als Ware, die Duchamp in einem Sanitärgeschäft
erwarb, hatte dieser Gegenstand nie Gebrauchswert, sondern war schon
immer, was er schließlich auch als zur Kunst erklärter Gegenstand war,
nämlich Tauschwert.

Duchamps ›Fountain‹ ist erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten


Jahrhunderts zu einem berühmten Kunstwerk geworden. Dies folgt
einem Prozess, der weniger mit den intrinsischen Veränderungen der
Kunst selbst zu tun hat, als vielmehr mit der Kunst als soziales Verhältnis
im Zusammenhang mit den allgemeingesellschaftlichen Veränderungen,
die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch die Entfaltung des
Konsumkapitalismus ergeben haben: die Kunst hat gleichsam darauf
reagiert, indem sie offensiv Reklamefunktion übernahm. Auch damit
zeigte sich, dass die Kunst nicht mehr die Domäne dessen war, was in der
Anfangs- und Hochphase der bürgerlichen Gesellschaft als
Geschmacksurteilsvermögen verteidigt wurde; der Geschmack wird
gewöhnlich, verliert seine kritisch-ästhetische Dimension. Der Verlust
der Fähigkeit, dezidierte Geschmacksurteile zu fällen, ist ein weiterer
Aspekt der Dialektik der Aufklärung, der Ersetzung der objektiven
Vernunft durch technologische Rationalität. Was heute als Geschmack
gilt, hat das Ästhetische selbst depotenziert: Ästhetik hat nichts mehr
mit der kritischen Selbstreflexion des Reflexionsvermögens zu tun –
etwa im Sinne des Erkenntnischarakters und Wahrheitsgehaltes der
Kunst –, sondern ist ein alltagssprachliches Synonym für eine bloß noch
aufs Dekorative reduzierte Idee der Schönheit. Und Schönheit ist nicht
mehr Symbol des sittlich Guten, sondern bloß schematische
Verhübschung des trostlosen gewöhnlichen Lebens; die damit sich
manifestierende Ästhetisierung der Politik geht über das, was Walter
Benjamin 1936 in seinem ›Kunstwerk‹-Aufsatz festhielt, hinaus: nicht
nur geht es darum, wie die politische Inszenierung der Masse als Masse
in den Wahrnehmungsapparat eingreift, sondern um die
Veränderungen von »Ästhetik« und »Politik« selbst. So wie sich »das
Ästhetische« mit der Entfaltung der kapitalistischen Konsumgesellschaft
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von der Kunst löst, so löst sich auch »das Politische« sukzessive vom
Staat, das gesellschaftliche Leben wird das politische Leben. Die
Ästhetisierung der Politik kippt in eine »uneingeschränkte
Politisierung« (Marcuse), nämlich in eine Politisierung des ästhetisierten
Alltagslebens um. Was sich in den faschistischen Regimes, wie von
Benjamin und Marcuse ja gleichermaßen beschrieben, durch politische
Gewalt in einer ebenso gewaltvollen Ästhetik grausam vollzieht,
manifestiert sich in den demokratisch verfassten Gesellschaften
wirtschaftlicher Prosperität als durchgängige, affirmative
Kommodifizierung aller Lebensbereiche.

Auch die Kunst wird als soziales Verhältnis wie die Gesellschaft allgemein
den Prinzipien des Warentauschs unterworfen; gleichwohl behauptet sie
gegenüber der Gesellschaft eine aus sich selbst begründete, nämlich
autonome Souveränität. Diese besteht wesentlich in der Verteidigung der
Deutungs- und Definitionsmacht darüber, bestimmen zu dürfen, was
Kunst ist und was nicht; kokettiert wird dabei scheinbar waghalsig mit
der Möglichkeit der Selbstaufgabe der Kunst oder des Künstlers, ohne
dass die hermetischen Sicherheitszonen freilich eine ernste Gefährdung
darstellen würden: Einmal im Museum drin, lässt sich leicht als
Pseudoproblem die Frage reklamieren, wie die Gegenstände als Kunst ins
Museum kommen. Duchamps ›Fountain‹ ist dafür exemplarisch, ebenso
und mehr noch die Campbell-Suppendosen und Brillo-
Waschmittelpackungen, die Andy Warhol ausstellte. Allerdings: Das
Pinkelbecken bleibt trotz der Reproduktionen ein künstlerisches
Unikat; dennoch mag man sich beim Besuch eines Baumarktes, wo solche
Pissoirs angeboten werden, an Duchamps ›Fountain‹ erinnert fühlen;
erst recht gilt das für Andy Warhols Dosen und Boxen: Die
Warenmarke ist mit dem künstlerischen Akt der Ausstellung,
schließlich mit dem Name Warhol untrennbar verbunden – und zwar
nicht durch die Existenz der Kunstwerke in den Museen, sondern
durch die Verselbstständigungen dieser Arbeiten jenseits des
Kunstbetriebs: Üblich ist es zum Beispiel, die Brillo-Boxen als
Schaufensterdekoration zu verwenden; ein Laden für Sport- und
Freizeitbekleidung schmückte sein Schaufenster jüngst mit diesen
Boxen, auf denen jeweils noch im fetten Schriftzug »Warhol«
aufgedruckt war. Was sich hier aufdrängt, ist also die Frage, wie die
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Dinge, einmal im Museum ausgestellt und als Kunst deklariert, dort


wieder herauskommen und einer völlig deformierten Idee nach Kunst
bleiben. Genau darin kommt schließlich die Banalisierung der Kunst zum
Ausdruck, die sie als soziales Verhältnis überhaupt noch überleben
lässt.

Dem Text liegt ein Vortrag zugrunde, der am 25. Juni 2009 in der Halle
für Kunst in Lüneburg gehalten wurde. – Erstsendung: FSK
Hallenbaduniversität, Mi. 7. Oktober 2009, 14.00 bis 15.00 Uhr; 18:14
Minuten Sprechzeit.

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