Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
ISBN: 3-7949-0711-6
Preis: 39,90 EUR
Autor: Müller, Arnold H.
Best. Nr.: 711
Dieses Buch vermittelt das Basiswissen der Filmgestaltung für Videoamateure und Berufsanfänger
bei Film und Fernsehen. In leicht verständlicher Sprache wird erklärt wie man einen Film kreativ
gestaltet. Dabei werden die Prinzipien des Filmschnitts ebenso behandelt wie Fragen der
Wahrnehmung, der Bildkomposition und der Spannungserzeugung.
Dieses Buch ist für alle gedacht, die eine Videokamera in die Hand
nehmen, um irgendwelche Situationen in Form eines Filmbeitrags festzu-
halten. Die Gestaltungsregeln für Filme gelten für Amateure und Profis
gleichermaßen. Sie gelten – mit Abwandlungen – für Spielfilme und
Dokumentationen ebenso wie für den zehnminütigen Urlaubsfilm. Wer
sie außer Acht läßt, tut es entweder aus Unwissen oder weil er zu den
Genies gehört, die sich über alle Regeln hinwegsetzen können – letztere
sind allerdings seltener als man denkt, und oft sind es nicht die, die
einen anlächeln wenn man in den Spiegel sieht.
Wie mache ich einen Film so, daß er interessant ist, daß die Leute bis Wie mache
zum Ende zusehen, daß sie den Inhalt so verstehen wie ich ihn gemeint ich einen Film
habe, und daß sie hinterher noch wissen, was sie gesehen haben? attraktiv?
Schon Goethe wußte, daß alle Kunst letzten Endes unterhalten soll.
Natürlich gilt das auch für uns. Es könnte ja sein, daß es das einzige ist,
was wir zu bieten haben, und dann wären wir immer noch besser als
manche, die gedankenlos hier und da auf den Auslöser drücken und
dann ihre Angehörigen zwingen, sich das anzusehen. Man sollte nicht
herabblicken auf diejenigen, die „nur“ unterhaltsam sein möchten – es
ist eine der schwierigsten Aufgaben die es gibt.
Wildes
Schwenken
und Zoomen
in Tateinheit mit
Kippen und
Wackeln: Das
Markenzeichen
des Anfängers.
Es ist nicht gleichgültig, ob der Zuschauer eine Szene drei, sechs oder
fünfzehn Sekunden lang sieht. Es kommt darauf an, was er erfassen soll.
Eine Szene, die die Gesamtansicht (Totale) eines Marktplatzes zeigt,
kann in drei Sekunden keinesfalls in allen Einzelheiten erfaßt werden.
Die Frage ist aber nicht, was der Zuschauer erfassen kann, sondern was
er erfassen soll. Wieviel müssen wir zeigen, damit das Interesse geweckt
wird? Wenn das Bild zu kurz steht, wird es vielleicht nicht verstanden.
12 Einführung
Steht es zu lange, ist das Publikum nicht mehr gefesselt, sondern fängt
an sich zu langweilen.
Jedes neue Bild sollte das Interesse steigern. Es gehört zu den Geheim- Das Interesse soll
nissen der Montage, also des Filmschnitts, daß durch die Länge der geweckt wertden
einzelnen Einstellungen bestimmt wird, welche Art von Filmwelt im Kopf
des Zuschauers entstehen soll. Auch die Reihenfolge der Einstellungen
eines Films ist entscheidend für die Wirkung, die beim Publikum erzielt
wird. Der Zuschauer soll in die Welt des Films hineingezogen werden, er
soll die Gefühle und Assoziationen erleben, die der Regisseur beabsich-
tigt hat. Zu schwierig?
Der Film hat eine eigene Sprache entwickelt, die Filmsprache, die von
den meisten Menschen eines gemeinsamen Kulturkreises verstanden
Georges Méliès
ließ bereits 1905
die Spielkarten-
königin leibhaftig
aus dem Blatt
steigen. Er gilt
als Erfinder des
Filmschnitts.
Wie jede andere Sprache muß auch die Sprache des Films erlernt wer-
den, und zwar nicht in der Schule und nicht aus Büchern. In Filmlehrbü-
chern lernt man, wie man diese Sprache benutzt. Sie zu verstehen lernt
man, indem man Zuschauer ist. Für jemanden, der noch nie einen Film
gesehen hat, ist es schier unbegreiflich, daß die auf einer Spielkarte
abgebildete Königin leibhaftig heraussteigt und von dem danebenste-
henden Moderator mit Handkuß begrüßt wird. Darauf gründete sich der
Erfolg eines Georges Méliès, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts
mit solchen Szenen noch als Zauberer durchging, obwohl er doch nur als
erster Mensch der Filmgeschichte das getan hatte, womit dieses Buch
sich beschäftigen wird: Er hatte zwei verschiedene Filmstücke
zusammengeschnitten und ließ das Publikum glauben, es handle sich
um eine einzige fließende Szene.
Die Kamera Wenn jemand im Hotelzimmer ein Telefongespräch beendet, sehen wir in
flüstert – und Großaufnahme, wie er den Hörer auflegt. Dann macht die Kamera –
wir verstehen während es totenstill ist – einen Schwenk nach unten, bis man die
Unterseite des Nachtschränkchens sieht, wo, immer noch in Großaufnah-
me, eine kleine Schachtel zu sehen ist. Für uns ist das vollkommen klar:
Wir als Zuschauer werden vom Regisseur informiert, daß dort ein Mikro-
fon mit Sender angebracht ist, und daß die Person im Hotelzimmer nicht
weiß, daß ihr Gespräch belauscht wurde. Wir verstehen diese Szene, weil
wir durch Film und Fernsehen gelernt haben, was sie bedeutet.
Die im Film dargebotene Welt scheint zwar ein Abbild der realen Wirklich-
keit zu sein. Doch es wäre ein Irrtum, das als gegeben zu betrachten.
Handlungen im Film werden meistens verkürzt dargeboten, und teilweise
aus Blickwinkeln, die eine anwesende Person gar nicht hätte einnehmen
können. Die Filmlaufzeit stimmt fast nie mit der Realzeit der dargestell-
14 Einführung
ten Geschehnisse überein. Schlachten, die in der historischen Wirklich-
keit tagelang getobt haben, werden auf wenige Minuten zusammenge-
kürzt. Höhepunkte dagegen werden zeitlich gedehnt, weil sie in Real-
Länge für das Auffassungsvermögen zu schnell ablaufen würden. Selbst
Dialoge, bei denen die „reale“, weil zum Sprechen benötigte Zeit doch
eigentlich mit der Filmlaufzeit übereinstimmt, sind in Wahrheit vom
Inhalt her dramatisch verkürzt. Im Leben unterhält man sich anders.
Würde ein Dialog im Film so dargeboten, wie ein normales Gespräch
zwischen Durchschnittsmenschen, würde sich Langeweile ausbreiten.
Nicht einmal Live-Übertragungen zeigen die Welt so, wie wir sie erleben Live-Fernsehen
würden, wenn wir persönlich dabei wären. Die (später noch zu bespre- erweitert
chende) Einheit von Raum, Zeit und Handlung ist zwar gegeben, aber die Realität ?
durch die Auflösung in verschiedene Kamera-Blickwinkel und durch die
Art des Bildschnitts kann für den Zuschauer eine ganz andere Realität
simuliert werden, als sie tatsächlich vorhanden ist. Eine Fußballübertra-
gung mit ihren sechs bis zehn Kameras zeigt uns Einblicke, die wir von
der Tribüne aus niemals sehen würden. Wie der allwissende, gottähnli-
che Erzähler wissen wir als Fernsehzuschauer schon während des Spiels
bedeutend mehr als das zahlende Publikum im Stadion. Wir kennen
sogar die spannendsten Szenen schon in Zeitlupe, wo der Tribünenbesu-
cher noch rätselt, warum dieser Ball ins Tor ging und ein anderer nicht.
Im Unterschied hierzu wird bei Musikshows manchmal ein wildes Hick- Live-Fernsehen
hack von Bildern produziert, es wird eine Welt erzeugt, die kaum noch verfälscht
etwas zu tun hat mit dem, was wirklich im Saal zu sehen ist. Der Fernseh- die Realität?
zuschauer erlebt einen Bilderrausch, der sozusagen nur im Kopf des
Bildregisseurs und auf der Ebene der zahllosen Kameras existiert. Die
Kameraachsen springen in jede beliebige Richtung, während der
Zuschauer im Saal die ganze Zeit nur eine einzige Totale sieht, nämlich
die Bühne. Während wir am Fernseher die Künstler fast nur in Bruchtei-
len von Sekunden sehen, und zwar aus verschiedenen Richtungen und in
ständig wechselnden Ausschnitten, kann der Zuschauer im Saal sie in
Ruhe betrachten und sich an ihrer Ausstrahlung erfreuen. Ein Genuß, der
dem Fernsehzuschauer häufig nicht mal im Ansatz vergönnt ist.
Wie Filme Filme kann heute jeder machen, der sich eine digitale Videokamera
entstehen – leisten kann. Der Computer steht sowieso zu Hause und braucht nur eine
die Macher billige Zusatzkarte, um das Material auf die Festplatte zu überspielen.
Viele Computer haben das schon in der Grundausrüstung. Mit Program-
men wie Edition, Mediastudio pro, Premiere oder Avid Xpress DV stehen
Bearbeitungsmöglichkeiten zur Verfügung, von denen Steven Spielberg
nicht einmal träumen konnte, als er bei seiner Acht-Millimeter-Kamera
zum ersten Mal auf den Auslöser drückte.
16 Einführung
Ein Fernsehteam
bei der Arbeit:
Korrespondent
Werner Brüssau
und Kameramann
Benno Müller.
Im Hintergrund ein
Tontechniker sowie
der Kamera-
assistent mit
Aufheller.
(Bild:
Benno Müller)
Bei der Arbeit im Studio erledigen sich viele Probleme von selbst, weil es
dort eine professionelle Arbeitsteilung gibt und Fachleute für die ver-
schiedenen Bereiche zur Verfügung stehen.
Je nach Größe des Projektes können dem
Redakteur folgende Spezialisten Wenn der Fokus-
zugeteilt werden: Ein Produzent, der puller die Schärfe
die Kosten überwacht und notfalls falsch einstellt,
zusätzliches Geld beschafft; ein war alles
Drehbuchautor, der ein filmgerech- vergebens.
tes Manuskript mitbringt und es
notfalls auch umschreiben
kann; ein Regisseur, der die
künstlerische und organisatori-
sche Leitung der Aufnahmen
und der Nachbearbeitung
übernimmt; ein Kameramann,
der seinerseits über ein Team von Assistenten und Beleuchtern gebietet;
ein Toningenieur mit Assistenten, Requisiteure, Scriptgirl und so fort.
Sogar zum Einstellen der Schärfe gibt es im Spielfilmstudio einen
Arbeitsplatz: Den Fokuspuller oder Schärfe-Assistenten.
Die Regeln Aber der mutige junge Journalist, der allein mit der Kamera auf Auslands-
der Kunst dreh gefahren ist, mag sich wohl manchesmal fragen: was sind denn nun
die Regeln der Kunst? Die Könner wissen es natürlich, aber der Neuling,
der sich seine Sporen erst verdienen muß, braucht Ratschläge. Er befin-
det sich in einer ähnlichen Situation wie der Amateur, der sich gerade
eine Kamera gekauft hat, mit einem Unterschied: Man erwartet Qualität
von ihm. Vom Amateur wohl nicht? Wenn der Profi schlechte Filme ablie-
fert, läuft er Gefahr, daß sie nicht gesendet werden. Das Publikum des
Amateurs muß ausharren und auf ein baldiges Ende hoffen.
Wenn wir als Amateure eine Urlaubsreise oder das Aufwachsen unserer
Jüngsten mit der Videokamera einfangen, dann stellen sich doch im
Grunde nur zwei Fragen:
18 Einführung
Erstens: Muß ich die Leute mit Gewalt zwingen, oder sie mit Alkohol
bestechen, damit sie sich mein Werk zu bis zum Ende ansehen, oder
zweitens: Kann ich es mir leisten, den Stop-Test zu machen?
Wie das geht? Sehr einfach. Ich lasse das Video eine Weile laufen, sagen Der Zuschauer-Test
wir: 6-8 Minuten, und dann drücke ich auf die Stoptaste. Dann gibt es
zwei mögliche Reaktionen: Entweder die Leute stehen sofort auf: „Vielen
Dank, und jetzt mach mal die Musik an!“ – Oder sie bleiben sitzen und
sagen: „Laß doch mal laufen, ist doch interessant!” Die erste Antwort
werden Sie hören, wenn Sie das Material gar nicht oder nicht gut bear-
beitet haben. Die zweite Antwort hören Sie, wenn das Material gut
geschnitten und bearbeitet ist. Wenn Sie nicht nur alles überflüssige
rausgeworfen, sondern das, was übrig blieb, so zusammengefügt haben:
Und schließlich:
Die schönste Frage, die man nach einer Videovorführung hören kann,
lautet: „Wie hast du das gemacht?“
Die erste Regel für einen guten Film besteht darin, daß man beim Drehen
bereits ans Schneiden denken muß. Das wird Ihnen sofort einleuchten,
wenn Sie sich klarmachen, daß auch ein Schneider keinen Anzug bauen
kann, wenn Sie ihm nur ein paar Fetzen Stoff geben, die hinten und
vorne zu kurz sind, und kreuz und quer nichts zusammenpaßt.
Filme sind immer in gewissem Sinne interaktiv. Ich zeige etwas, und der
Zuschauer soll reagieren. Mit Interesse, mit Neugier, mit bestimmten
Gefühlen. Aber nicht mit Ärger wegen der wackelnden Kamera und
nichtssagender Bildfolgen. Film ist Kommunikation. Niemals ist ein Film
etwas, das nur mir gefallen soll. Er soll vor allem den anderen gefallen.
Das ist wie mit der Tomate auf dem Kartoffelpuffer. Das schmeckt nur mir
und sonst niemandem. Natürlich kann ich immer so kochen – wenn ich
beim Essen gern allein bin. Aber wer beim Vorführen seiner Filme am
Ende allein ist, sollte anfangen, sich um die Gestaltungsregeln zu küm-
mern.
Ein richtiger Film soll geradezu nach Publikum schreien. Und sei es die
Ehefrau, seien es die Kinder, die später sich selbst sehen: Verwackelt,
zerschwenkt und zerzoomt wollen die sich nicht sehen. Auch nicht
minutenlang auf dem Topf sitzend.
Unser eigener Genuß beim Herstellen eines Films, und das gilt natürlich
auch für die Profis, besteht darin, daß wir den Film machen. Die Freude
am Betrachten sollen die anderen haben. Wir auch, klar, aber wir sind
unseren eigenen Werken gegenüber nicht objektiv. Unser Los ist das
Tüfteln, Probieren, Ändern; der Frust, weil etwas nicht funktioniert, und
die Freude, wenn doch. Aus der Reaktion der Zuschauer lernen wir, was
wir gut gemacht haben und wo wir besser werden müssen. Entscheidend
ist der Wille zur Qualität. Die Begeisterung für die Sache. Wenn Sie so an
Ihre Videofilme herangehen, wird der Genuß, den die Zuschauer haben,
Ihre Belohnung sein. Und irgendwann wird man von Ihnen lernen wollen.
20 Einführung
Natürlich kann man nicht alles so drehen, wie man es gern hätte. Die
Filmjournalisten wissen ein Lied davon zu singen. Oft genug kommt es
nur darauf an, daß man überhaupt Material erhält. Dann muß man bei
der Nachbearbeitung viel Erfahrung haben, wenn man das Mangelhafte
doch noch vorteilhaft zur Geltung bringen möchte.
Das Arbeiten mit der Videokamera mag zwar viel Freude bereiten und ist
bei den meisten wohl der Hauptgrund, weshalb man sich mit dem Thema
beschäftigt, aber sehr bald wird der Amateur begreifen – wie übrigens
auch jeder Berufsanfänger bei Film und Fernsehen – daß der eigentliche
Film erst bei der Nachbearbeitung entsteht, also beim Schnitt.
Natürlich bekommt man keinen Film, ohne vorher zu drehen. Doch wenn Erst beim
man das Rohmaterial dreimal kopiert und es drei verschiedenen Cutterin- Schnitt wird ein
nen oder Cuttern gibt, so kann es sein, daß man am Ende drei ganz Film daraus
unterschiedliche Filme erhält, je nachdem, welche Gesichtspunkte sich
bei der jeweiligen Bearbeitung „durchgesetzt“ haben. Besonders wenn
die Cutterin das Material sichtet, ohne schon zu wissen, was der Regis-
seur damit aussagen will, wird sie manchmal zu völlig abweichenden
Rückschlüssen kommen. Das liegt einfach daran, daß Kameramann und
Regisseur ihre eigenen Aufnahmen ganz anders bewerten und sich
manchmal gar nicht vorstellen können, daß man aus bestimmten Bildern
auch etwas anderes herauslesen kann. Daher sei dem Amateur empfoh-
len, das Material nicht sofort nach dem Drehen zu schneiden, sondern
eine gewisse Zeit verstreichen zu lassen. Man sieht dann eher, was
gelungen ist und was nicht oder wie man dies und jenes besser zur
Geltung bringen kann.
Was man beim Drehen versäumt hat, wird spätestens beim Schneiden
bemerkt. Das kann bitter sein, wenn die Aufnahmen nicht wiederholbar
sind. Beim Fernsehen gibt es Produktionen, bei denen die Cutterin von
Anfang an in beratender Funktion dabei ist, und der Satz: „Wär’ ich dabei
gewesen, hättest du das anders gedreht!“ – enthält eine tiefe und
manchmal schmerzhafte Wahrheit.
Ein richtiger Film entsteht erst beim Schnitt. In den folgenden Kapiteln
wird es darum gehen, die Kriterien kennenzulernen, die beim Drehen
beachtet werden müssen, damit man beim Schneiden die Möglichkeit
hat, einen gut gestalteten Film zu erarbeiten.
Die Menschheit ist wider besseres Wissen in ihr eigenes Abbild vernarrt.
Einer der ersten Belege für diese Tatsache findet sich bei dem römischen
Dichter Ovid (43 v. - 17 n. Chr.). Der Knabe Narzissos verschmähte die
Liebe der Nymphe Echo und wurde zur Strafe dazu verurteilt, sich in sein
eigenes Spiegelbild zu verlieben 1). 1) Ovid,
Metamorphosen
Doch vor dem selbstverliebten Blick in den Spiegel stand die Sicherung
des Überlebens durch Beobachten der Umwelt. Das Reagieren auf opti-
sche und akustische Reize ist tief verwurzelt. Es gab Zeiten, in denen
Sobald man sich aber geschützt weiß – durch stabile Mauern oder
gesellschaftliche Konventionen – entsteht Langeweile. Veränderungen im
optisch-akustischen Umfeld werden zu erwünschten Reizen. Oft genug
steigert sich dies zur Sucht. Auge und Ohr brauchen den Reizwechsel,
wenden sich erfreut jedem Geräusch und jeder Bewegung zu. Heutzuta-
ge wird diese Veranlagung von den Medien hemmungslos ausgenutzt,
was dazu führt, daß der Transport von Informationen im Überangebot
der Reize untergeht.
Warnsignale Als man begann, die Prinzessinnen vor den Augen der Welt zu ver-
werden zum stecken, mußte man etwas gegen ihre Langeweile tun. Angeblich hat es
Nervenkitzel im alten China bereits schemenhafte Schattenprojektionen auf Gazestof-
fen gegeben. Wer es zum ersten Mal erlebte, mochte noch in Angst und
Schrecken davongelaufen sein. Beim zweiten Mal war es schon unter-
haltsam, beim dritten Mal wollte man es länger und schöner.
Es gehört bis heute zum Schicksal des Bildermachens, daß die techni-
schen Voraussetzungen stets von den Genies geschaffen wurden, wäh-
rend die ersten, die sie vermarkteten, die Schausteller waren. Einen
glaubwürdigen Bericht über das Geschäft mit visuellen Sensationen gibt
es von dem Bildhauer Benvenuto Cellini (1500-1571), der im Kolosseum
von Rom einer „Geisterbeschwörung“ beiwohnte. Dort wurden mit Hilfe
von Spiegeln allerlei Figuren auf Rauchwolken projiziert. Die Leute
glaubten, Geister zu sehen, doch Cellini durchschaute die Tricks.
Camera obscura Die Tatsache, daß Lichtstrahlen, die durch ein enges Loch fallen, auf der
anderen Seite ein verkleinertes kopfstehendes Abbild erzeugen, soll
schon dem griechischen Philosophen Aristoteles (384-322 v.Chr.)
bekannt gewesen sein. Bei Leonardo da Vinci (1452- 1519) findet sich die
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So wurde die
Camera Obscura
von Diderot
dargestellt.
Nach:
„Encyclopédie de
Diderot et
d’Alembert“
(1751-1772)
Dies konnte ein kleiner Kasten oder ein ganzes Zimmer sein. Auch damit
wurde Geld verdient. Das zahlende Publikum befand sich in einem
dunklen Raum, in dessen Außenwand ein kleines Loch gebohrt war.
Tänzer, die sich außen im Bereich des Loches produzierten, sah man
innen als kopfstehende Schemen an der gegenüberliegenden Wand. Auf
künstlerischem Gebiet hatte die camera obscura einen gewissen Anteil
an der Entwicklung der perspektivischen Darstellung in der Malerei. Und
darauf wiederum beruht unsere heutige Art, die Umwelt optisch wahrzu-
nehmen.
Im 17. Jahrhundert wurde die Laterna Magica erfunden. Sie war das erste
Gerät, mit dem man vorgefertigte Bilder an die Wand projizieren konnte,
und zwar mit Hilfe von Glasdias. Sie war lange ein bevorzugtes Mittel der
Unterhaltung und wurde im 19. Jahrhundert in Gestalt der sogenannten
Phantasmagorien ein Publikumsrenner. Dabei handelte es sich um
Diavorführungen nach dem Prinzip der Rückprojektion; das Bild wurde
von hinten auf einen Gazevorhang projiziert. Dieses Verfahren hatte den
Vorteil, daß das zahlende Publikum nicht sehen konnte, was der Opera-
teur machte – er konnte z. B. die Laterna Magica vor- und zurück schie-
ben und so das Bild wachsen oder schrumpfen lassen, während die
Zuschauer die Illusion hatten, daß das Bild „lebte“. Größtes Vergnügen
riefen auch einfache Bewegungen hervor, die erzeugt werden konnten,
indem man zwei Glasdias im Lichtstrom gegeneinander verschob. Damit
waren die wesentlichen Komponenten des Kinos erfunden: das Bild und
die Bewegung.
28 Einführung
Im Jahre 1839 wurde durch Louis Jacques Mandé Daguerre das erste
fotografische Verfahren veröffentlicht. Die Belichtungszeiten für die nach
ihm benannte Daguerreotypie lagen bei 30 Minuten und mehr. Damit die
Modelle sich möglichst wenig bewegten, wurden sie mit Hilfe von ausge-
klügelten Stützen ruhig gestellt.
Im Jahr 1877 konnte Eadweard Muybrigde zum ersten Mal Serienaufnahmen von
schnell bewegten Objekten vorstellen.
(Aus: Kevin MacDonnel, Der Mann, der die Bilder laufen ließ)
Der Wettlauf Von da an war der Weg nicht mehr weit zur Kinematografie: Ähnlich wie
der Erfinder die Fotografie hatte auch sie viele Väter. Da die Idee in der Luft lag, gab
es viele Erfinder, die zur gleichen Zeit mit dem Thema beschäftigt waren.
Von einem weiß man nur, daß er mit einer Kamera, die 20 Aufnahmen pro
Sekunde machen konnte, und sämtlichen Konstruktionsunterlagen auf
dem Bahnhof von Dijon spurlos verschwand. Es war der in England
lebende Franzose Louis Aimé Augustin le Prince. Er hatte 1889, also vor
Edison, vor den Brüdern Lumiére, vor Skladanowski sein System zum
Patent angemeldet. Laut Pierre Kandorfer ist diese Patentschrift samt
einigen Filmresten das einzige, was von ihm und seiner Erfindung auf die
Nachwelt gekommen ist.
Es war Thomas Alva Edison, der 1889 den 70 mm breiten Fotofilm von
Eastman/Kodak halbierte und somit das noch heute gebräuchliche
35mm-Kinofilmformat schuf. Das einzelne Filmbild war einen Zoll breit
und drei Viertel Zoll hoch, und vier Perforationslöcher pro Bild ermöglich-
ten den ruckweisen Transport.
Edison ließ im Jahre 1890 von seinem Assistenten Dickson einen Apparat
konstruieren, den Kinetographen, mit dem man kurze Filme aufnehmen
konnte. Ein Jahr später wurde unter dem Namen Kinetoscope der
berühmte Guckkastenapparat patentiert, der später in den sogenannten
„Penny arcades“ aufgestellt wurde und das
Betrachten von 50 Fuß langen Filmschleifen ermög-
1889 entschied lichte, was in der Anfangszeit einer Filmlänge von
sich Edison für das 13 Sekunden entsprach.
noch heute gültige
35mm-Filmformat. Warum gerade soviel? Weil – laut Auskunft der
Das Bildfenster Encyclopaedia Britannica – die Fertigungstische,
war 1 Zoll breit auf denen bei Eastman in Rochester die Zelluloidfil-
und 3/4 Zoll hoch. me beschichtet wurden, 50 Fuß lang waren, das
entsprach etwa 15 Metern. Außerdem war Edison
30 Einführung
damals noch der Meinung, daß für die Illusion einer fließenden Bewe-
gung eine Bildfrequenz von 48 Bildern pro Sekunde erforderlich sei. Dies
wurde später auf 16 Bilder pro Sekunde reduziert, wodurch sich die
Spieldauer des Streifens verdreifachte. (Heute sind beim Kinofilm 24
Bilder pro Sekunde üblich und bei Video 25 bzw. 30 Bilder – abhängig
von der verwendeten Fernsehnorm.)
Diese Apparate verbreiteten sich schnell über die ganze Welt, und zwar
deswegen, weil Edison – Ironie des Schicksals – anscheinend nicht sehr
von ihnen überzeugt war. Er hatte nämlich nur das nationale Patent an-
gemeldet und darauf verzichtet, die zusätzlichen 150 Dollar für das inter-
nationale Patent zu bezahlen, so daß das Kinetescope im Ausland nach-
gebaut werden konnte. Der Fotografie-Erfinder Daguerre hatte seinerzeit
sein Patent dem französischen König verkauft, der die Geheimnisse
veröffentlichte und die Nutzungsrechte somit der ganzen Welt schenkte.
Edison schenkte sein Kinetoscope der Welt durch ein Versäumnis.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die neue Technik schon soweit
verbreitet, daß die ersten Amateurkameras auf dem Markt erschienen.
So präsentierte die Dresdener Firma Ernemann 1902 mit der „Kino I“ eine
Filmkamera mit dem Format 17,5 mm. Dieses Format wurde später durch
den bis heute gebräuchlichen 16mm Film ersetzt. Aus dessen Halbierung
entstand dann der 8mm Film, der jahrzehntelang, bis in die 70er Jahre
hinein, das Standardformat für den Amateurfilmer war. Die berühmteste
Szene, die in diesem Format gedreht wurde, war wohl die Zufallsaufnah-
me, die ein amerikanischer Amateur von der Wagenkolonne des Präsi-
denten Kennedy machte, als der verhängnisvolle Schuß fiel.
32 Einführung
Kameras für das 8mm Filmformat
waren bis in die 70er Jahre hinein
in Gebrauch. Dann wurden sie
durch Kameras mit Videoband-
aufzeichnung abgelöst (Bild:
Handbuch der Schmalfilmtechnik,
Schiele & Schön 1950)
einmal 30 Jahre dauern, bis der Amateur sich über diese kleinen digita-
len Videokameras freuen konnte, von denen drei Stück in eine Damen-
handtasche passen, und die hinsichtlich ihrer Bildqualität besser sind als
manche Profikamera vor 20 Jahren.
Ein Kollege sagte mir einmal, der Vorteil einer Profikamera gegenüber
der Amateurkamera bestehe eigentlich nur noch darin, daß man sie
findet, wenn man sie sucht. Das war natürlich ein Scherz. Der Preisunter-
schied liegt mindestens beim Faktor 10 bis 20, mit offener Grenze nach
oben. Aber es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß diese kleinen Zau-
berdinger, wenn man sie auf ein Stativ schraubt und nicht gerade einen
Baum mit tausenden von raschelnden Blättern aufnimmt, durchaus eine
Bildqualität liefern, wie sie auch in der Fernsehberichterstattung ver-
wendbar sein kann. Wenn man dann noch ein höherwertiges Mikrofon
anschließt, dürfte auch der Ton auf ein ausreichendes Niveau zu heben
sein.
Der Preis dieser Kameras ist heute auf einem Niveau, das für jeden
erschwinglich ist. Die Kosten für das Kassettenmaterial liegen im
Taschengeldbereich. Kein Wunder also, daß die Amateurfilmerei zum
Volkssport wurde. Kein Wunder auch, daß bei der gegebenen techni-
schen Qualität auch hier und da im professionellen Bereich mit diesen
Kameras gearbeitet wird.
34 Einführung