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Die Frau Sophie

Wir werden immer weniger, wir, die wir uns erinnern wie unser Dorf, das ganze
Obere Gricht, nach dem Krieg wirtschaftlich arm war. Keine leistungsfähigen
Betriebe, keine Arbeitsplätze, keine Arbeit, kein Geld ! Eine geradezu
hoffnungslose Situation !

Dann aber kam sie, die Frau Sophie, die starke Frau an der Seite eines starken
Mannes ! Die beiden hatten als erste die Zeichen der Zeit erkannt ! Und sie hatten
den nötigen Unternehmungsgeist, den wahrhaft nötigen Mut und die materiellen
Mittel, um dem scheinbar aussichtlosen Zustand ein Ende zu bereiten.

Wie sie es schafften, selbst mit ihrem ansehnlichen Besitz das nötige Geld
aufzutreiben, wo die Banken doch selbst kaum eins hatten, weiß ich nicht.
Auf alle Fälle brachten sie ihr über den Krieg veraltetes Gasthaus auf Vordermann
und holten Gäste aus Dänemark, aus Deutschland und aus England hierher, ich
möchte sagen, hierher, ans Ende der Welt !
Und es ging die Sonne auf in unserem Dorf und mit seiner Vorbildwirkung im ganzen
Oberen Gricht Da gab es plötzlich Arbeitsplätze ! Köche, Hausmeister, Kellner,
Zimmermädchen und Serviererinnen konnten plötzlich Geld verdienen ! Und der
Tischler mit seinen Gesellen, und der Maler, der Metzger, der Bäcker, die
Handelsgeschäfte und nicht zuletzt der Bauer hatten die Möglichkeit zu Geld zu
kommen !

Und die Gäste fühlten sich wohl und es kamen ihrer immer mehr . Es kamen
schließlich ihrer so viele, daß sie im Gasthof nicht mehr unterzubringen waren.
Frau Sophie verteilte sie an die Nachbarschaft und übers ganze Dorf. Manche
Familie verbrachte mit Kind und Kegel die Nächte im Keller oder am Dachboden, um
ein oder zwei Zimmer für die „Fremden“ frei zu bekommen, um damit etwas so nötig
gebrauchtes Geld zu verdienen!

Die Zeit blieb nicht stehen, der Erfolg fand immer mehr Leute, die der Entwicklung
weiterhalfen, und so ist unser Dorf zu Ansehen und Wohlstand gekommen !

Die Frau Sophie ! Sie war eine starke Frau, eine Frau mit Verstand und
Unternehmungsgeist , eine Frau, die selbst am Höhepunkt ihres wirtschaftlichen
Erfolges stets mit Leib und Seele Pfundserin war und blieb, eine Frau, die niemals
den Boden unter den Füßen verlor und wußte, daß wir Pfundser allesamt in ein und
demselben Boot sitzen, zusammehalten und rudern müssen, auf daß es vorwärts
gehe und nicht versinke !

Niemand, der die Verhältnisse erlebt hat, wird mir widersprechen, wenn ich sage,
Frau Sophie und ihr Gatte waren es, die unser Dorf und damit das Obere Gricht aus
dem Dornröschenschlaf geweckt haben.

Es wäre angebracht gewesen, daß maßgebliche Leute aus Gemeinde und


Tourismus beim Begräbnis von Frau Sophie ein paar würdigende Worte, ein paar
Worte der Anerkennung und des Dankes ausgesprochen hätten !

Rudolf Permann

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