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Hanna Reitsch

Das Unzerstörbare in meinem Leben


Meinen Eltern in tiefer Dankbarkeit gewidmet
Hanna Reitsch
Das Unzerstörbare in meinem Leben
mit 13 Abbildungen

J. F. LEHMANNS VERLAG MÜNCHEN


Das Aquarell auf dem Vorsatz zeigt das Elternhaus
von Hanna Reitsch in Hirschberg/Schlesien.

2. Auflage 1975
© J. F. Lehmanns Verlag München 1975
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Buchdruckerei W. Möller oHG,
Berlin
Printed in Germany
ISBN 3-469-00533-8
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 7
1. Kapitel: Mein Elternhaus und meine Fa-
milie 9
2. Kapitel: Das Geheimnis 18
3. Kapitel: Musikabende in meinem Eltern-
haus 22
4. Kapitel: Das verletzte Ehrgefühl 27
5. Kapitel: Die Sonntage daheim 31
6. Kapitel: Die Schokoladenbäume 35
7. Kapitel: Kindliche Krise 37
8. Kapitel: Familie, Heimat und die schöne
Welt 40
9. Kapitel: Der Wunsch zu fliegen 49
10. Kapitel: Die Koloniale Frauenschule 53
11. Kapitel: Die heimlichen Schlüssel zu
meinem Fliegen 58
12. Kapitel: Die selbstverdienten Flug-
scheine 63
13. Kapitel: Ich werde Testpilotin 73
14. Kapitel: Die Briefe meiner Mutter 76
15. Kapitel: Auslands-Missionen 81
16. Kapitel: Vom Einsatz im Krieg 85
17. Kapitel: Das tragische Ende 91
18. Kapitel: Erneut in der Gefängniszelle 95
19. Kapitel: Die verschwundenen Briefe 119
Schluß 131
Vorwort
Dieses Büchlein war ursprünglich für ältere Men-
schen geschrieben, da Propaganda — Massenmedien
— Reklame und Mode fast ausschließlich auf junge
Menschen ausgerichtet sind. Doch glaube ich, daß
gerade „Unzerstörbares“ den jungen Menschen nicht
weniger interessiert und angeht als den älteren. Ich
selbst bin 1912 geboren, gehöre also schon zur älte-
ren Generation. Da ich mich aber noch jung und un-
verbraucht fühle und noch mitten in meinem Fliegen
und Schaffen stehe, erscheint mir die Tatsache selt-
sam, bereits zu „jenen Älteren“ zu gehören. Wenn
ich ehrlich bin, so finde ich mein Alter wunderbar
und wünschte diesen Zustand, wie ich ihn jetzt erle-
be — nämlich gleichzeitig jung und alt zu sein —
noch viele Jahre erleben zu dürfen. Warum ich so
glücklich bin und so begnadet reich, zwar ohne
Geld, doch reicher als viele Millionäre der Welt, soll
dies Büchlein verraten. Den Schlüssel dazu finden
Sie in dem Vers, der von meiner weisen Mutter
stammt:
„Glück ist nicht Reichtum, nicht Erfolg,
nein, Glück ist Gottes Nähe,
daß man in allem was geschieht,
die Führung Gottes sehe.“
Dies schrieb sie mir in einem ihrer Briefe, als ich 22
Jahre alt war. Und es hat heute und so lange ich
noch lebe, für mich die gleiche Gültigkeit.
Hanna Reitsch
1. Kapitel
Mein Elternhaus und meine Familie
Wenn meine Fliegerkameraden dieses Vorwort le-
sen, höre ich sie schmunzelnd sagen: „Ja, die Hanna
hat gut reden, sie fliegt seit über 40 Jahren und lebt
heute gesichert — wahrscheinlich sogar in Saus und
Braus.“ Sie alle wissen nicht, wie viele Tränen ge-
weint, was an Leid durchlitten und an Armut durch-
standen wurde, um zu „diesem Glück“ zu gelangen,
das unabhängig ist vom „Hosianna“ heute und dem
„kreuziget“ morgen im eiligen Laufe dieser Welt.
Die tiefste Wurzel dieses Glückes liegt in meinem
Elternhaus — meiner sehr glücklichen und harmoni-
schen Familie und wohl ganz besonders in der un-
gewöhnlichen Verbindung, die seit klein auf zwi-
schen meiner Mutter und mir bestand. Meine Mutter
stammt aus einer alten Tiroler Familie, deren Wur-
zeln seit Generationen in Nordtirol und Südtirol lie-
gen. Sie sagte als junges Mädchen: Drei Dinge wüß-
te sie ganz genau. Erstens würde sie niemals aus ih-
rem schönen Tiroler Land hinaus heiraten, zweitens
würde sie niemals einen Protestanten und drit-
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tens schon gar niemals einen Preußen heiraten. Aber
alle drei Dinge sind geschehen, und sie wurde tief
glücklich dabei. Ich aber bin durch diese Verbin-
dung ein echter „Tiroler-Preuße“. Es paaren sich in
meinen Geschwistern und mir, wie Menschen uns
neckend sagen: „Preußischer Charme und Tiroler
Gründlichkeit.“
Mein preußischer Vater kam 1905 als junger Augen-
arzt zu einem Praktikum an die Universitäts-
Augenklinik nach Innsbruck. Da er hoch musika-
lisch und ein wirklicher Künstler im Cellospielen
war, suchte er dort Verbindung zu musikalischen
Familien. Man riet ihm, bei der sehr musikliebenden
Familie der früh verwitweten Frau Helf-Hibler v.
Alpenheim und ihren drei erwachsenen Töchtern in
Schloß Rainegg Besuch zu machen. Im Volksmund
wurde es „Ganner Schlößl“ genannt, da mein Ur-
großvater Dr. Ganner in Bad Hall Salinenarzt war
und das Schloß bis zur Inflation nach dem ersten
Weltkrieg der mütterlichen Familie gehörte. Aus
diesem Besuch meines Vaters in Rainegg entstand
langsam eine tiefe Freundschaft mit der ganzen Fa-
milie v. Alpenheim und führte schließlich zu seiner
Heirat mit Emy, der ältesten der drei Töchter. Sie
wurde meine Mutter. 1908 wurde meinem Vater ei-
ne Augenklinik im herrlich gelegenen Hirschberg im
Riesengebirge (Niederschlesien) angeboten. Dort
wurden meine Geschwi-
10
ster und ich geboren, und wir lebten in der schönen
Stadt, bis wir 1945 daraus vertrieben wurden. Die
Augenklinik war mit einem Schwesternhaus der
Frankensteiner Diakonissen verbunden, die nach der
Vertreibung aus Schlesien in Wertheim a. Main ihr
neues Mutterhaus errichtet haben.
Dort also in Ostdeutschland, das 900 Jahre lang
deutscher Kulturboden war, lag in einem weiten,
lieblichen Talkessel gebettet die kleine Stadt
Hirschberg mit ihren 30 000 Einwohnern. Im Süden
war das Tal von dem in seiner höchsten Erhebung
1600 m hohen Kamm des Riesengebirges umsäumt,
im Norden von den bewaldeten Bergen des Bober-
Katzbach-Gebirges und im Osten und Westen von
Wäldern und Hügeln, die mit ihren Feldern, Burgen
und Schlössern, nach beiden Himmelsrichtungen
hin, in die weite Ebene hinüberwiesen.
Ich hatte einen zwei Jahre älteren Bruder und eine
vier Jahre jüngere Schwester — Kurt und Heidi. Da
meine Mutter, während sie mich erwartete, fest
glaubte, bei meiner Geburt sterben zu müssen, woll-
te sie dem unter ihrem Herzen wachsenden Kinde,
das dann wohl ohne eigene Mutter leben und wach-
sen müßte, alle Liebe mitgeben, zu der sie fähig war.
So ist es wohl zu erklären, daß, nachdem sie mir in
einer stürmischen Märznacht 1912 ohne
Komplikatio-
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nen das Leben geschenkt hatte, diese besonders in-
nige Verbindung zwischen ihr und mir entstanden
ist. Sie hatte nicht etwa meine zwei Geschwister we-
niger lieb, keine Rede davon, nur verband uns beide
ein nicht in Worte zu kleidendes Verstehen bis zu
ihrem tragischen Tode im Mai 1945.
Wir wohnten in Hirschberg auf der Promenade, im
ersten Stock eines großen Hauses, 10 Zimmer gehör-
ten zu unserer Wohnung. Diese lagen an einem herr-
lichen, langen Flur, der wirklich so lang war, daß
man sogar „radeln“ konnte. Dort befanden sich für
uns eine Reckstange und eine Schaukel. Zur Woh-
nung gehörte ein schöner Balkon und ein großer
Garten, in dem hohe Bäume standen, die wunderbar
zum Klettern geeignet waren. Dort gab es Wiesen
und Sandkästen, herrliche Möglichkeiten zum Spie-
len und zum Toben. Die Augenklinik lag 5 Minuten
vom Haus entfernt. Während Vater um 6 Uhr früh
zur ersten Visite seiner operierten Patienten ging —
er operierte täglich — ging Mutter unter dem Vor-
wand, Milch und Brötchen lieber selber einzuholen,
statt unsere treue Köchin Selma darum zu bitten,
rasch in die katholische Kirche, um für ihren gelieb-
ten Mann und ihre Kinder zu beten. Mein Vater, der
aus einer nach strengen preußischen Maßstäben aus-
gerichteten, sehr musischen Familie stammte und zu
dessen Vorfahren etliche evangelische Pastoren ge-
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hörten, konnte zum Katholizismus keinen Zugang
finden. Er hatte daher von Mutter vor der Ehe das
Einverständnis erbeten, daß die Kinder evangelisch
getauft und erzogen werden sollten. Damals konnte
ein evangelischer Mann eine katholische Frau in ei-
ner katholischen Kirche heiraten, getraut unter „pas-
siver“ Assistenz eines katholischen Priesters. Die
Hochzeit fand in Innsbruck im Klosterstift Wilten
statt. Nach meiner Geburt trat Mutter zum evangeli-
schen Glauben über, da sie es nicht ertragen konnte,
einen anderen Glauben zu haben als den, in dem ihre
Kinder erzogen werden sollten. Und so gab sie uns
in Wirklichkeit das Schönste vom Katholizismus
und das Schönste vom Protestantismus mit und
blieb, was sie immer war, ein katholischer Protes-
tant.
Seit ich fünf Jahre alt war, begleitete ich Mutter auf
diesem täglichen Weg am Morgen zur Kirche. Und
ob gerade hl. Messe war oder nicht, wir knieten ge-
meinsam für einige Minuten vor dem Altar und bete-
ten. Ich war voll Ehrfurcht erfüllt von dem Weih-
rauchgeruch und der Heiligkeit, die ich in dieser
Kirche mit dem geheimnisvollen roten, immer bren-
nenden Licht empfand.
Wer von uns drei Kindern besonders brav war, durf-
te Vater morgens, mittags oder abends bei seinen
Klinik-Visiten begleiten. Da ein an den Augen
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Operierter ja normalerweise nicht physisch krank ist,
aber meist in verdunkeltem Zimmer sehr still liegen
und viel Geduld aufbringen muß, hatten die Patien-
ten große Freude an uns fröhlich plappernden Kin-
dern. Die Eltern wollten mit diesen Besuchen bei
den Kranken uns frühzeitig dazu erziehen, Leiden-
den eine Freude zu machen und uns anregen, jeden
Tag bewußt zu danken, daß wir selbst so unverdient
gesund sein durften. Unsere Mutter wurde nicht mü-
de, sich Dinge auszudenken, mit denen wir Kinder
die Kranken und die in den Lazaretten mit jedem
Kriegsjahr an Zahl wachsenden verwundeten Solda-
ten erfreuen sollten. So hängte sie jedem von uns am
Dreikönigstag Leinentücher um, die sie mit vielen
Sternen aus Goldpapier beklebt hatte; sie setzte uns
„goldene Kronen“ aus Papier auf die Blondschöpfe
und ließ uns als Kaspar, Melchior und Balthasar von
Krankenzimmer zu Krankenzimmer gehen. Sie hatte
die Gabe, ihre Gedanken leicht und spielend in klei-
nen oder auch längeren Gedichten auszudrücken. So
erinnere ich mich, daß ich als Melchior folgenden
kleinen Vers von ihr zu sagen hatte:
„Ich bin der alte Melchior
und zieh’ die Weihrauchbüchs hervor.
Weihrauch bedeut’ seit alter Zeit
die Ehrfurcht, ja Ehrfürchtigkeit.
Ehrfurcht, ich muß es nochmals sagen,
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denn auf der Reise hört’ ich klagen,
sie sei auf Erden verlorengegangen,
drum können die Menschen zum Glück nicht
gelangen.
Drum lehr’ Du sie liebes Christkindlein,
sich in Ehrfurcht Deiner Wunder freun’.“
Das erste, an was ich mich bewußt aus meiner Kind-
heit erinnere, ist die Musik. Ich soll übrigens Melo-
dien von Kinderliedern rein und klar gesummt ha-
ben, bevor ich sprechen konnte. Meine Geschwister
und ich haben die Musikalität von beiden Eltern ge-
erbt, vor allem die des Vaters. Mit fünf Jahren haben
wir drei begonnen, ein Instrument zu spielen: mein
Bruder Geige, meine Schwester und ich Klavier.
Und ich erinnere mich gut, daß wir Vater zu jedem
Anlaß eines Familien- oder Kirchenfestes keine grö-
ßere Freude machen konnten als durch gut geübtes,
gemeinsames Musizieren. So durften mein Bruder
und ich mit Vater schon Trios spielen, als Kurt neun
und ich sieben Jahre alt waren. Wir spielten u. a. die
leichtgesetzten Haydn-Trios (Variationen über das
„Kaiserlied“). Das Üben war uns allerdings eine
große Last. Doch um Vater zu erfreuen, hielt uns
Mutter gütig, aber fest täglich dazu an. Unser Mu-
sikzimmer lag neben Vaters Ordinationszimmer. Al-
so wurde auch jedes „Pfuschen“ beim Üben von ihm
gehört. Er unterbrach dann manchmal die Be-
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Handlung seiner Patienten und kam in seinem wei-
ßen Arztkittel rasch und leise herein und sagte mit
seiner sanften, wohlklingenden Stimme: „Komm
Hannerl, jetzt spielst Du diesen Lauf zwanzigmal
ganz langsam und Du wirst sehen, wie er beim
einundzwanzigstenmal, wenn Du ihn rascher spielst,
perlend hervorsprudelt.“ Schluderte ich trotzdem
gleichartig weiter, so konnte er rasch wieder er-
scheinen, diesmal sogar streng und fast böse werden.
Ohne meine gütige, immer strahlende und so gedul-
dige Mutter hätte ich das Üben wahrscheinlich auf-
gegeben, eben weil Vater nebenan jeden Fehler hör-
te.
Vergöttert habe ich als Kind meinen „großen Bru-
der“, der mir sehr heldisch erschien. Daß er es ver-
stand, sich mit männlichem „Nimbus“ in frühester
Kindheit zu umgeben, zeigt eine reizende Begeben-
heit: Er war wohl vier Jahre alt, als er mit Mutter in
der Stadt einer Dame begegnete, die eine riesengro-
ße Dogge hatte, fast so groß wie ein Kalb. Mein
Bruder suchte sofort Deckung hinter dem Rücken
der Mutter. Als Mutter ihn liebevoll hervorholte und
sagte: „Aber Kurt, Du hast doch nicht etwa Angst?“,
faßte sich der kleine Kurt rasch, trat gelassen hinter
ihrem Rücken hervor und sagte: „Nein Mutter, ich
wollte ihn nur nicht zertreten.“ Mein Bruder war ein
originelles Kind. Als er sieben Jahre alt war, also das
zweite Jahr zur Schule ging, bekam er zum Ge-
16
Meine Mutter
Mein Vater
burtstag eine Trommel. Es war 1917 inmitten des
schweren 1. Weltkrieges. Unser Vater war als Mari-
ne-Oberstabsarzt auf einem Kriegsschiff eingesetzt.
Da ging mein Bruder eines Tages nach dem Unter-
richt zu seinem Lehrer und sagte: „Herr Engel, ich
möchte mich von Ihnen verabschieden.“ „Aber
Kurt“, sagte der Lehrer erstaunt, „wo willst Du denn
hin?“ „In den Krieg“, sagte Kurt. „Ja, wohin denn in
den Krieg?“ fragte Herr Engel weiter. „Oh, die Sta-
tionen schreibt mir meine Mutter noch auf.“ „Als
was willst Du denn in den Krieg, Kurt?“ fragte der
Lehrer weiter. „Als Trommler“, antwortete Kurt
ernst, machte eine Verbeugung und ging. Sehr ent-
täuscht kam er am nächsten Tag wieder zur Schule
und erklärte lakonisch: „Mutter hat es mir nicht er-
laubt.“
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2. Kapitel
Das Geheimnis
Ich wuchs mit sieben Buben zusammen auf und trug,
bis ich 6 Jahre alt war und in die Schule kam, meis-
tens kurze Lederhosen wie die Buben, um besser mit
diesen herumtollen zu können. Die nächsten Freunde
meiner Eltern hatten je zwei Buben im Alter meines
Bruders und von mir. Da war unsere Nachbarin, die
im ersten Weltkrieg früh verwitwete Baronin v.
Müllenheim-Rechberg mit ihren Söhnen Burkhard,
der jetzt als Diplomat im deutschen Auswärtigen
Dienst steht, und Wendelin, der wie ich Flieger wur-
de und als junger Offizier der deutschen Luftwaffe
am Anfang des 2. Weltkrieges in Polen fiel. Weitere
Freunde der Eltern waren der Landrat v. Bitter und
seine Frau. Ihre zwei ältesten Söhne, Konrad und
Franz, gehörten zu unserem Freundeskreis. Hinzu
kamen die zwei ältesten Buben des Superintenden-
ten Warkow, Hans-Gerd und Günther. Es schien, als
ob nur ich versehentlich ein Mädchen geworden wä-
re. Alle diese Ehepaare hatten nach weiteren vier
Jahren kleine Mädchen bekommen,
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die dann die Freundinnen meiner vier Jahre jüngeren
Schwester Heidi wurden. Zunächst aber waren sie
für uns noch Babys und zum Spielen nicht zu ge-
brauchen. Wenn mir das Toben der Buben im Garten
zu wild wurde, schlich ich mich, von ihnen unbe-
merkt, zu meinem geheimen Versteck davon. Dort
hatte ich eines Tages ein bedrückendes Erlebnis. Ich
hörte von der Straße her Schreien, Johlen und La-
chen vieler Kinder. Neugierig stieg ich heimlich aus
meinem Versteck über unseren Gartenzaun, der
durch Büsche verborgen war. Ich lief dem johlenden
Haufen Kinder nach. Zu meinem Erstaunen folgten
sie einer alten buckligen Frau und riefen: „Hexe,
Hexe“ und lachten voller Freude, wenn sie mit ei-
nem Stock um sich schlug, sobald die Kinder sie am
Kleide gezupft hatten. Zum Lachen fand ich das
ganz und gar nicht. Ich schlich mich heim und such-
te im Hause nach der Mutter, der ich erregt von die-
ser vermeintlichen Hexe und den Kindern erzählte.
Da nahm mich die Mutter auf den Schoß und sagte:
„Ich will Dir jetzt ein Geheimnis anvertrauen, aber
Du darfst es mit niemandem bereden und mußt es
ganz in Deinem Herzen bewahren. Gott hat uns
Menschen das Leben geschenkt, um in seinem Sinn
zu leben und Gutes zu tun, damit wir eines Tages zu
ihm in den Himmel kommen. Der Lebensweg von
jedem einzelnen Menschen führt über viele Tränen
und über viel Leid — das verstehst Du jetzt noch
nicht. Der
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eine wird krank, der andere verliert früh einen ge-
liebten Menschen. Es gibt viele Möglichkeiten von
Leid, das zu durchstehen ist und Tränen, die geweint
werden müssen, damit man am Ende des eigenen
Lebens in den Himmel gelangt. Gott hat aber einige
Menschen schon bei der Geburt auserwählt, den
Himmel zu erreichen und hat ihnen für Menschen
unsichtbar in einem Buckel verborgen schon kleine
Flügel mit auf den Erdenweg gegeben. Sie haben
zwar das Leid und das Kreuz zu tragen, daß sie häß-
lich sind und einen Buckel haben, aber ihnen ist der
Himmel schon auf Erden sicher.“
Das war für mich ein wundersames Geheimnis, ich
konnte es kaum erwarten, dieser Frau, die die ande-
ren Kinder aus Unverstand Hexe nannten, wieder zu
begegnen. Ich versuchte ganz nahe an ihr vorbei zu
gehen und machte dabei einen tiefen, ehrfürchtigen
Knix und strahlte sie an im Wissen um ihr Geheim-
nis. Und so erging es mir noch etliche Jahre bei je-
dem buckligen Menschen, den ich traf, und der mir
fast wie ein Heiliger erschien. Erst viel später, als
ich älter geworden war, verstand ich, was meine
Mutter einst mit den im Buckel versteckten Flügeln
gemeint hatte. Sie hatte es durch diese „geheime Ge-
schichte“ nicht nur fertiggebracht, mir eine besonde-
re Ehrfurcht vor körperlich Behinderten ins Herz zu
legen, sondern ich begriff im Laufe der Jugend und
des Lebens, daß gar jeder sein Kreuz mit auf den
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Weg bekommt, der eine schon früh mit der Geburt,
der andere erst im Laufe seines Lebens — aber jeder
„sein Kreuz anzunehmen hat“.
21
3. Kapitel
Musikabende in meinem Elternhaus
Bei uns daheim wurde gar jeden Mittwochabend
klassische Kammermusik gespielt: Trios, Quartette
oder auch Quintette. Künstler, die in unserer Stadt
Konzerte gaben, machten bei uns Besuch und musi-
zierten mit meinem Vater. Normalerweise aber war
Vaters Pianist Otto Johl, der später mein verehrter
und von allen Schulmädchen geliebter Gesanglehrer
wurde im Lyzeum und der Studienanstalt, wo nur
Mädchen erzogen wurden. Dort machten meine
Schwester und ich unser Abitur. Otto Johl wurde
auch mein Klavierlehrer. Ihm verdanken wir Schüle-
rinnen einen reichen Schatz an schönsten Liedern.
Er begleitete meinen Vater bei öffentlichen Kam-
mermusik-Konzerten — er leitete einen großen und
einen kleinen Schulchor, einen städtischen Madri-
gal-Chor und wurde zum städtischen Musikdirektor
ernannt. Bei jenen „Hausmusikabenden“ durften wir
Kinder, wenn wir brav waren, in der Pause Tee her-
umreichen und Salzstangen, eine besondere Spezia-
lität meiner Mutter. Wir durften auch abwech-
22
selnd Herrn Johl beim Klavierspielen die Noten um-
blättern, was uns mit Stolz und Freude erfüllte.
Wenn ich bei zu raschem Tempo den Noten nicht
mehr folgen konnte und mit vor Angst glühendem
Kopf nur noch die Augen von Herrn Johl anschaute,
um zu erhaschen, wohin er auf die Noten blickte,
wurde ich durch sein humorvolles Schmunzeln be-
ruhigt. Er hatte mir meine Pein natürlich längst an-
gemerkt, und ich hielt dann die nächste Seite früh
genug zum Umblättern bereit und wartete nur auf
sein Kopfnicken, so daß es immer rechtzeitig glück-
te. Ich hätte ihn voll Dank dafür umarmen mögen. In
dieser Zeit wuchs eine stille Verehrung für ihn in
meinem Herzen. Seit Jahren liegt Herr Johl in Lich-
tenfels/Oberfranken begraben. Nach Lichtenfels ver-
schlug es ihn und seine Frau nach der Vertreibung
aus unserer geliebten Heimat mit zwei unserer Leh-
rerinnen, Fr. Dr. Sommer und Fr. Dr. Idzinsky, die
noch heute „unsere Freundinnen“ sind, sowie mit
vielen anderen Hirschbergern. (Frau Dr. Lotte
Sommer ist inzwischen gestorben.) Sie wurden halt
einfach „zufällig“ dort aus dem Vertriebenenzug
ausgeladen und fanden in dem schönen Oberfranken
ein neues Zuhause, aber keine wirkliche neue Hei-
mat. Bei den Zusammenkünften unserer ehemaligen
Abiturklasse, die oft in Lichtenfels im Haus unserer
zwei verehrten alten Lehrerinnen stattfanden, gingen
wir jedesmal zum Friedhof an Otto
23
Johls Grab und sangen ihm dort sein Lieblingslied.
So alt wir auch inzwischen geworden sind, so hat
sich an unserer Dankbarkeit und Verehrung für Otto
Johl nichts geändert. Unsere Klasse galt als die mu-
sikalischste Klasse der Schule. Wir stellten im be-
rühmten „kleinen Chor“, der auch im Radio sang
und Konzertreisen durchführte, den führenden ersten
Sopran, den zweiten und auch den dritten Sopran.
Aber zurück zu meiner Kindheit und meinem El-
ternhaus; denn dieses ist und bleibt die Wurzel mei-
nes Glückes und Reichtums, so lange ich lebe. Mei-
nes Vaters Lebensinhalt und -ziel waren
seine Berufung zum Arzt, um kranken Men-
schen zu helfen;
seine Musik, die wie ein Teil seines Wesens
selbst erschien;
und seine über alles geliebte Familie.
Für gesellschaftliches Leben hatten die Eltern daher
keine Zeit. Es konnte aber jeder der vielen Freunde,
die an Musik Freude hatten, zu den Kammermusik-
abenden in unser Elternhaus kommen. Oft waren es
50 bis 60 Menschen, die alle leicht Platz fanden, da
Warte- und Ordinationszimmer, die schöne alte Mö-
bel hatten, ganz rasch durch Teppiche, durch Kerzen
und chinesische Wandbehänge festlich in Gesell-
24
schaftsräume umgewandelt wurden. Vater hatte als
junger Kriegsfreiwilliger an dem Boxer-Aufstand in
China teilgenommen und hatte von dort einige schö-
ne Erinnerungsstücke mitgebracht. Vier Zimmer mit
weitgeöffneten Doppeltüren gingen ineinander über.
Das hintere Zimmer blieb meist geschlossen. Dort-
hin zogen sich diejenigen zurück, die unmusikalisch
waren, aber ihren musikalischen Ehepartner gern zu
uns begleiteten. In diesem Zimmer durfte „ge-
dämpft“ geredet und auch geraucht werden, und es
war bekannt, obwohl Vater selbst Nichtraucher und
Abstinenzler war — er konnte gesundheitlich be-
sonders das Rauchen nicht vertragen —, daß es in
meinem Elternhaus die besten Zigarren und Zigaril-
los gab und die erlesensten Weine im Keller lagen.
Wenn für uns Kinder die Zeit zum Schlafengehen
kam, begann für uns drei ein heimliches Vergnügen
besonderer Art: In unserem langen Flur war für die
Mäntel und Hüte der vielen Menschen natürlich eine
große Garderobe, die tagsüber den Patienten diente.
So lagen natürlich an solchen Musikabenden eine
stattliche Zahl der uns Kindern komisch erscheinen-
den Hüte darauf. Da waren Melonen von Herren, da
waren mit Kunstfrüchten und Kunstblumen oder
Schleiern verzierte Damenhüte. Damals ging doch
keine Dame ohne Kopfbedeckung aus dem Hause.
Diese Hüte also probierten wir drei Schlingel aus
und freuten uns bei jedem Musikabend auf diese
25
anschließende „Gaudi“, bis der Spaß ein jähes Ende
fand. Eine humorlose Dame, die einmal frühzeitig
fortgehen mußte und sich unbemerkt leise davon-
schleichen wollte, entdeckte uns drei Kinder in Py-
jamas auf dem Flur, und ich hatte gerade ihren
reichverzierten Hut auf, natürlich etwas zurechtge-
bogen, damit er mir auch paßte, und schnitt dazu
Grimassen. Mit einem Schrei des Entsetzens eilte
die Dame ins Zimmer zurück, bevor wir eigentlich
recht erfaßten, was da auf uns zukam. Sie holte mei-
ne Mutter herbei, die uns ernst verwarnte und ins
Bett schickte. Und am nächsten Morgen folgte die
weit strengere Zurechtweisung durch unseren Vater,
der diesem Vergnügen ein für allemal ein Ende setz-
te.
26
4. Kapitel
Das verletzte Ehrgefühl
Ohne Klapse ging es bei solchen Zurechtweisungen
freilich nicht immer ab. Meistens erhielt sie mein
Bruder, weil seine Lausbubenstreiche am deftigsten
waren. Wenn solch eine Strafe drohte, stopfte ich
meinem Bruder vorsorglich seine Lederhose hinten
mit harten Pappbilderbüchern aus. Mein Vater wun-
derte sich, daß mein Bruder heldisch keine Miene
vor Schmerz verzog. Er konnte ihn übers Knie legen
und so toll schlagen, daß ihm selbst die Hand weh-
tat. Bis er eines Tages hinter unsere Schliche kam,
weil es auf meines Bruders Hosenboden so hohl und
dumpf klang und Vater ihm, mißtrauisch geworden,
hinterrücks in die Hose langte und die verbogenen
Pappseiten zum Vorschein holte. Ich glaube, er hat
damals selber gelacht. Danach aber vollzogen sich
Strafprozeduren viel schmerzhafter für meinen Bru-
der. Mich durfte man nicht schlagen, das ging gegen
mein sehr ausgeprägtes Ehrgefühl, welches ich gera-
de von meinem Vater geerbt hatte und das mir oft im
Leben Pein bereitete. Als ich aber eines Tages mei-
27
nem Vater stolz das eben von meinem großen Bru-
der erlernte „Rülpsen“ vorgemacht hatte, empfing
ich im nächsten Augenblick eine Ohrfeige. Ich war
wohl sieben Jahre alt und innerlich so verletzt, daß
ich kurzerhand beschloß, heimlich — für immer na-
türlich — aus dem Elternhaus davonzulaufen. Sofort
verschwand ich weinend vor Entrüstung, noch dazu,
da ich doch glaubte, es wäre großartig, was ich da
als „Rülpsen“ erlernt hatte. Ich rannte, so schnell ich
konnte, aus der Stadt hinaus gegen Westen zum He-
likon, einem beliebten sonntäglichen Ausflugsziel
— einem Hügel, auf dem ein alter Tempel stand und
nicht weit davon ein Turm, der „Hausberg“ hieß.
Daran schlössen sich weite dunkle Wälder. Es war
Spätnachmittag, als ich den Wald betrat. Zunächst
fand ich alles unerhört aufregend, zum erstenmal
allein so weit von der Stadt entfernt zu sein. Und
dann das seltsam prickelnde Gefühl: Die werden alle
schön weinen, wenn ich nicht mehr zurückkomme.
Als ich schließlich zum Abendbrot um 19 Uhr noch
immer nicht erschienen war, telefonierten die Eltern
voller Sorge mit ihren Freunden und begannen dann
all diejenigen eiligst aufzusuchen, die kein Telefon,
aber Kinder in meinem Alter hatten. Damals war
Kindesentführung oder gar Vergewaltigung von
Kindern in unserer Heimat völlig undenkbar und ab-
surd. Wo aber sollte ich geblieben sein? Inzwischen
lief ich voller Herzklopfen einsam immer tiefer in
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den Wald hinein. Es wurde darinnen ständig dunkler
und unheimlicher. Jeder krumme Baum erschreckte
mich plötzlich, weil er ausschaute wie ein Räuber
aus einem Märchen oder wie Rübezahl, über den ich
viele Geschichten gelesen hatte. Und so wußte ich
auch, daß er böse Kinder in immer wieder verwan-
delter Gestalt erschreckte. Schließlich war es mit
meinem Heldentum aus, und mein verletzter Stolz
war gebrochen. Ich begann bitterlich zu weinen und
hatte schreckliche Angst und rief vergeblich nach
meiner Mutter. Ich drehte um und rannte, rannte so
schnell mich nur die Füße tragen konnten, wieder
aus dem dunklen Wald hinaus und zurück ins El-
ternhaus. Als ich gegen 9 Uhr abends klingelte, öff-
nete Mutter mir die Tür und schloß mich still in ihre
Arme. Sie sagte kein Wort des Vorwurfs, sondern
ließ mich nur schluchzen. Aber ich sah zum ersten
Mal im Leben, daß sie geweint hatte und ihre Augen
rot von Tränen waren. Ich wurde gleich ins Bett ge-
steckt. Vater und die Geschwister sah ich nicht; die
kleine dreijährige Heidi hatte ohnedies noch nichts
davon gemerkt. Mit den „zwei Männern“ (Vater und
Bruder) war es aus Klugheit so abgesprochen wor-
den. Die Tränen meiner geliebten Mutter aber waren
die schlimmste und nachhaltigste Strafe, die ich be-
kommen konnte. Am nächsten Morgen wurde die
Sache einfach übergangen und kein Wort darüber
verloren. Nie, nie mehr aber machte ich so etwas
wieder. Und
29
Vater vermied es, mir je wieder eine Ohrfeige zu
geben, obwohl ihm seine Hand wohl oft „gezuckt“
haben mag.
30
5. Kapitel
Die Sonntage daheim
Das Schönste der ganzen Woche waren die Sonnta-
ge, die, solange wir noch Kinder waren, die ganze
Familie immer gemeinsam verbrachte. War im
Sommer gutes Wetter angesagt, wurden wir Kinder
am Samstag ganz früh zu Bett geschickt und um
halb 2 Uhr nachts geweckt. Im Dunkeln fuhren wir
mit den Eltern bis zum Fuß des Riesengebirges.
Dann ging es nach „Himmelreich“, der Endstation
der elektrischen Talbahn, offiziell Giersdorf ge-
nannt; ein anderes Mal fuhren wir nach Hermsdorf
oder nach Schreiberhau. Immer wanderten wir in der
Sommernacht in die langsame Morgendämmerung
hinein; drei Stunden dauerte es bis hinauf zum
Kamm des Riesengebirges. Dort oben gingen wir
zur Adolfbaude oder zur Peterbaude, zur
Spindlerbaude oder auch zur Schneegrubenbaude.
Wir Kinder liefen in fröhlicher Unterhaltung voraus.
Jedes hatte stolz seinen Rucksack auf dem Rücken.
Wenn der weite Weg für die kleine Heidi beschwer-
lich wurde, begann ich, Geschichten zu erzählen,
was ich von kleinauf
31
leidenschaftlich gern tat. Dazwischen wurde an den
letzten Baumstümpfen, bevor die Tannen immer
kleiner wurden und schließlich den Latschen in der
Höhe wichen, Halt gemacht und ein fröhliches Pick-
nick veranstaltet. Wenn wir nach Stunden den
Kamm erreichten, erlebten wir dort oben gemeinsam
den Sonnenaufgang. Vater hatte es zeitlich immer
gut vorausgeplant. Es war für uns Kinder ein gewal-
tiges Erlebnis, dessen Wiederholung die Größe des
Erlebten nur vertiefte. Zunächst war der Himmel
weiß, fast fahl, dann wurde es im Osten lichter und
lichter, das Weiß färbte sich langsam gelb, und das
Gelb verwandelte sich in leuchtendes Gold. Bevor
die Sonne selbst aufleuchtete, sah man nur Farben,
die nicht blendeten, sondern den Vordergrund dop-
pelt kontrastreich hervorhoben. Wenn das Licht
beim Auftauchen des Sonnenballs grell wurde, setzte
Vater jedem von uns eine tiefdunkle Kinderbrille
auf, und wir durften das Schauspiel nur mit Hilfe
dieser Brille weiterverfolgen. Für mich war es so, als
öffnete sich einfach der Himmel und für einen Au-
genblick schien Gottvater durch Licht und Glanz
herabsteigen zu wollen.
Nach einem fröhlichen Frühstück aus den Rucksä-
cken, auf Felsbrocken sitzend und nach ein paar
dreistimmig gesungenen Jodlern, liefen wir um 6
Uhr früh wieder ins Tal hinunter. Bis wir dem Strom
der
32
Beim Trio-Spiel mit Vater und Bruder
Das „Ganner Schlöß l“
Sonntags-Bergwanderer begegneten, waren wir
schon im Tal und bald wieder zu Haus. Nach einem
erfrischenden Bad wurde daheim am Vormittag der
Sonntags-Gottesdienst gehalten. Ich spielte am Flü-
gel den von Mutter ausgesuchten Choral, den die
Familie mehrstimmig sang. Dann las Mutter den für
diesen Sonntag bestimmten Bibeltext, den wir Kin-
der meist nicht verstanden. Aber Mutter legte ihn
anschließend so verständlich für uns aus, daß wir
fasziniert lauschten und uns gar nicht bewußt wurde,
wie tief sich die verborgene Weisheit des Gesagten
in unsere Herzen legte. Vater, der ein tief religiöser
Mensch war, liebte es gar nicht — die Pfarrer mögen
es mir und ihm verzeihen — in die Kirche zu gehen.
Er wollte nicht, daß jemand die ihm heiligen Gefüh-
le sehen könnte. Oft schlich er nach Mutters Text-
Auslegung in sein danebenliegendes Ordinations-
zimmer, ohne unseren Schluß-Choral mitzusingen.
Eines Tages entdeckte ich die Ursache: Als ich mich
einmal trotz der großen Spannung während Mutters
Text-Auslegung erregt umwandte und zu Vater hin-
blickte, ertappte ich ihn, wie er mit tränengefüllten
Augen den Worten seiner geliebten Frau lauschte.
Wenn er zu Tränen bewegt war, sollten wir Kinder
es nicht merken. Auch an diesem Tag verschwand er
rasch. Ich verriet ihn nicht an meine Geschwister,
aber fühlte mich seit diesem kleinen Erlebnis mit
ihm heimlich verbunden.
33
Vor den Mahlzeiten, bevor wir uns niedersetzten,
wurde ein dreistimmiger Tiroler Jodler gesungen,
mit dem wir wochentags, wenn uns Vater in seiner
Sprechstunde nebenan zu lange warten ließ, ihn so-
gar zum Abbruch der Sprechstunde verlocken konn-
ten. Er hieß: „Was tuat denn der Jagerbua...“ Nach
dem Sonntagsmahl wurde wegen der fehlenden
Nachtruhe ausgiebig geschlafen. Danach spielten
wir fröhlich mit den Eltern: Ratespiele oder
Quartettspiele oder im Garten Boccia. Kein Kind
will gern verlieren — auch Erwachsene können es
selten mit Humor. So liefen uns, wenn wir Verlierer
waren, die Tränen herunter. Die Folge war, daß alle
übrigen der Familie fröhlich über den Verlierer lach-
ten, bis er schließlich mitlachen mußte. Die Eltern
aber reichten dem „Sieger“ die Hand und sagten:
„Ich gratuliere Dir, das hast Du fein gemacht!“ Die-
ser Schritt vom Verlieren zum Anerkennen des Sie-
gers ist für ein Kind schwer, aber das immerwähren-
de Beispiel der Eltern lehrte ihn uns unmerklich.
34
6. Kapitel
Die Schokoladenbäume
„War das Wetter nicht günstig, um die Nachtwande-
rung zu unternehmen und den Sonnenaufgang auf
dem Kamm des Riesengebirges zu erleben, machte
die ganze Familie am Sonntagmorgen einen zwei-
stündigen Spaziergang in die wunderschöne Umge-
bung von Hirschberg. Das war für uns drei Ge-
schwister, solange wir noch klein waren, ein fröhli-
ches Unternehmen, denn sonderbarerweise schien
unser Vater ganz besondere Augen zu haben und
entdeckte, wie er sie nannte, „Schokoladenbäume“.
Es waren nur Bäume, deren Stamm so dünn war, daß
wir — zwar mit großer kindlicher Anstrengung —
sie schütteln konnten, so daß die Zweige sich stark
bewegten. Während wir uns kräftig abmühten, warf
Vater heimlich hinter unserem Rücken, in Goldpa-
pier gewickelte Schokoladestangen in die jeweiligen
Bäume. Sie purzelten über die Zweige und unsere
Köpfe auf den Boden. Jubelnd hoben wir sie auf und
verzehrten sie. Es fiel uns gar nicht auf, daß bei je-
dem solchen Schokoladenbaum jedesmal
35
genau fünf Stück, also für jeden der Familie eine
Stange herunterfiel. Mein Vater war sehr darauf be-
dacht, daß wir nicht verwöhnt werden, und solch
Zuckerln gab es höchstens mal am Sonntag. Wenn
Patienten für uns Kinder zum Beispiel
Konfektschachteln mitbrachten, so erhielten wir die-
se nie. Der Inhalt wurde nach und nach bei den
Sonntagsspielen — aber jeweils nur eine Praline —
an den Sieger verteilt und je eine als Trostpreis an
die Verlierer. Wir drei versuchten auf solchen Spa-
ziergängen heimlich doch zu mehr Zuckerln zu ge-
langen und liefen so weit voraus, daß die Eltern bei
einer Wegkrümmung unseren Blicken zeitweilig
entschwanden. Dann versuchten wir eifrigst an je-
dem Baum zu schütteln in der Hoffnung, daß doch
mal viele Stangen herunterfallen würden, um nach
Herzenslust naschen zu können. Aber leider schien
das Entdecken von Schokoladenbäumen nur den
Augen des Vaters vorbehalten zu sein.
36
7. Kapitel
Kindliche Krise
Als ich etwa 8 Jahre alt war, hatte ich eine schwere
Zeit, die mir noch heute lebendig in Erinnerung ist.
Und zwar war die Liebe zu meiner Mutter so glü-
hend gewachsen, daß ich nur eine einzige quälende
Angst hatte, Mutter könnte mir vom Herrgott durch
den Tod genommen werden. Mir erschien ein Wei-
terleben ohne die geliebte Mutter völlig unmöglich.
Diese innere Angst drückte sich in intensivsten
Träumen aus, die sich Nacht für Nacht in veränder-
ter Form wiederholten, die aber jede Nacht im
Traum Mutter sterben ließ und ich erfuhr dies vom
Herrgott jedesmal vorher und mußte darüber
schweigen. Den ganzen grausamen Schmerz erlebte
ich Nacht für Nacht, bis ich immer tränenüberströmt
aus tiefer Qual erwachte. Ich erzählte es niemandem,
hatte aber vor jeder Nacht eine sich steigernde
Angst. Sie wurde so groß, daß ich — so lange wie
möglich, versuchte, wachzubleiben. Das veranlaßte
mich, als übersensibles Kind, sobald ich die Ge-
schwister fest und tief eingeschlafen wähnte, mich
leise zu erheben und
37
barfuß durch die Wohnung zu streifen bis vor die
Tür, hinter der ich die Eltern beisammensitzend
wußte. Entweder lasen sie sich vor oder sprachen
miteinander. Mich interessierte nicht, was sie rede-
ten, sondern ich wollte nur die geliebte Stimme der
Mutter hören. Oftmals setzte ich mich dazu vor der
Tür auf den Boden, bis ich nach langem, beglücktem
Lauschen ins Bett zurückschlich — und anschlie-
ßend wieder von neuem im Traum die Qual durch-
litt. Eines Nachts aber war ich vor der Tür von Va-
ters Zimmer sitzend eingeschlafen. Und als die El-
tern um Mitternacht ins Bett gehen wollten, fanden
sie voll Schreck mich schlafend im Nachthemd vor
der Tür in der Ecke sitzend. Sie trugen mich ins
Bett, und als Mutter noch allein an meinem Bett sit-
zenblieb, schluchzte ich im Traum plötzlich wieder
vor Schmerz auf, weinte bitterlich und erwachte. Ich
konnte das Glück kaum fassen, daß Mutter mich in
ihre Arme geschlossen hatte und mich zu beruhigen
versuchte. Ich erzählte ihr die ganze Qual der vielen
vorausgegangenen Nächte, und daß ich schon seit
vielen Abenden leise zur Tür geschlichen wäre, hin-
ter der ich sie reden gehört hätte. Mutter verstand es
nun, mir lieb, aber energisch klarzumachen, daß man
sich solche Gedanken nicht erlauben dürfe. Wen
auch immer in der Familie man besonders ins Herz
geschlossen hätte — dieser Liebe dürfe man sich nur
in Dankbarkeit gegen Gott erfreuen. Dann würde
sich im
38
Traum auch nur die Freude ausdrücken und nicht die
Angst, das Glück zu verlieren. Und die abendlichen
Wanderungen zur Tür redete sie mir mit Überzeu-
gungskraft aus. Um es aber wirklich zu verhindern,
ließen die Eltern die Tür weit offen und den Flur er-
hellt, so daß ich nicht mehr ungesehen hätte hin-
schleichen können. Auf diese Weise gewöhnte ich es
mir ab. Die weise Methode aber, mit der Mutter es
verstand, die Liebe in Dank zu verwandeln, war für
Mutter bezeichnend.
39
8. Kapitel
Familie, Heimat, und die schöne Welt
Bis meine Geschwister und ich die Schule mit der
Matura beendet hatten, verbrachte unsere ganze Fa-
milie fast alle Sommerferien in Nordtirol oder Südti-
rol, zusammen mit unseren Tiroler Verwandten. Da
war zunächst die von uns geliebte und verehrte
Großmutter, Therese von Alpenheim, von uns ge-
nannt das „Omamerl“. Von ihr ging eine Güte, eine
Ruhe, eine Weisheit und Kraft aus, an die ich noch
heute mit Ehrfurcht und Bewunderung denke. Sie
war die stillste von allen, die wundersam zuhören
konnte und hatte die Gabe, alles, was man ihr erzähl-
te, so intensiv mitzuerleben, als sei es ihr eigenes
Leben und Schicksal. Unmerklich war sie immer für
uns alle der Mittelpunkt, nach dem man sich wäh-
rend der Ferien ausrichtete. Sie hatte nach kurzer,
sehr glücklicher, aber nur fünfzehnjähriger Ehe ihren
Mann verloren, der damals Landgerichtsrat in Klau-
sen war. Die älteste ihrer drei Töchter, Emy, die spä-
ter meine Mutter wurde, war erst dreizehn Jahre alt
bei seinem Tod. Nach seiner Erkrankung wurde sie
40
ins kaiserliche Zivil-Mädchen-Pensionat nach Wien
gebracht, einer Stiftung Kaiser Franz Josefs, wo sie
ihre Matura machte. Ihre zwei jüngeren Schwestern,
Lisbeth und Hanna, zogen damals mit der so früh
verwitweten Mutter zu den Großeltern ins „Ganner
Schlößl“ nach Bad Hall. Später lebte sie in
Innsbruck, zusammen mit der einzigen unverheirate-
ten ihrer drei Töchter, Lisbeth, die jene Sommerferi-
en mit uns allen verbrachte.
Tante Lisbeth hatte ohne Zweifel das schwerste
Schicksal der drei Geschwister. Dreimal im Leben
wurde ihr der Mann, den sie liebte und zu heiraten
gedachte, durch das Schicksal genommen, so daß sie
schließlich unverheiratet blieb. Und gerade sie, mit
ihrem sprühenden Temperament, dem Wunsch sich
mitzuteilen und das Schicksal geliebter anderer mit-
zuerleben, wäre für Ehe und Familie wie geschaffen
gewesen. Selbst hochmusikalisch, widmete sie dann
ihr Berufsleben voll und ganz der Musik, aber hatte
sich als Klavierlehrerin mühsam und hart durchs Le-
ben zu schlagen. Sie war — ich möchte es so nennen
— eine „stille Heldin des Alltags“. Sie trug ihr
Schicksal nach außen mit größter Fröhlichkeit und
niemals klagend. Neidlos freute sie sich am Fami-
lienglück ihrer zwei Schwestern und konnte, wie nur
wenige Menschen, sich am Glück anderer und an der
Schönheit der Natur und Welt erfreuen. So waren
41
meine Geschwister und ich, und die drei Kinder ih-
rer jüngeren Schwester Hanna ihr besonders ans
Herz gewachsen. In jenen gemeinsamen Sommerfe-
rien widmete sie sich uns daher mit verströmender
Liebe.
Dann gehörte zu diesem „Ferienkreis“ die Familie
der jüngsten der drei Schwestern, nach der ich den
Namen Hanna erhielt und die meine Patentante war.
Später, vor allem nach dem 2. Weltkrieg und dem
Tod meiner Familie, wurde sie meine engste Freun-
din und zweite Mutter. Sie war nicht nur ein ganz
einmaliger Mensch, sondern hatte eine ungewöhnli-
che Familie, die durch ein besonders schweres
Schicksal zu dem wuchs, was sie geworden war: Vor
ihrer Hochzeit nämlich mit dem ältesten Sohn des
Wiener Komponisten Richard Heuberger, welcher
bekannt ist durch die Operette „Der Opernball“, er-
blindete ihr Mann nahezu durch eine Netzhautablö-
sung. Er hatte sie sich im l. Weltkrieg an der Dolo-
mitenfront als Folge einer Kriegseinwirkung zuge-
zogen. Er war ein Mensch voll dynamischer Aktivi-
tät, ein begeisterter Bergsteiger, von Natur aus eher
ungeduldig als geduldig und ein rein visueller Typ.
Er lehnte es schon als Kind ab, daß man ihm je vor-
las, und nun sollte er ein ganzes Leben lang nur vom
Vorlesen anderer abhängig werden. Die ersten Jahre
seiner Erblindung und Ehe waren daher für ihn und
seine tapfere Frau unvorstellbar schwer. Er erbat
42
von seiner Frau drei Versprechungen, ohne die er
das Ertragen der Blindheit niemals packen würde:
1. dürfe sie ihn niemals bemitleiden,
2. dürfe sie ihm selbst niemals erlauben zu klagen,
3. dürfe sie ihn nicht begleiten.
Letzteres war für Tante Hanna besonders schwer,
und sie mag es wohl oftmals, ohne daß er es ahnte,
heimlich getan haben aus übergroßer Angst um ihn,
sich aber niemals dabei verratend. Er wurde als
Blinder Universitäts-Professor in Innsbruck und er-
hielt dort als Historiker einen Lehrstuhl für Ge-
schichte des Mittelalters. Nach zunächst jahrelangen
schwersten Kämpfen, um die Blindheit zu ertragen,
die ihn fast an den Rand des Lebens führte, wurde er
schließlich — nicht nur dank seiner großen Persön-
lichkeit, sondern auch vor allem dank seiner ganz
ungewöhnlichen Frau — einer der glücklichsten,
ausgeglichensten und geduldigsten Menschen, die
mir je begegneten. Erst mit 84 Jahren (ständig noch
als Wissenschaftler arbeitend) starb er 1968, nach-
dem er fünf Jahre vorher seine geliebte Frau verlo-
ren hatte. Er hatte aber das große Glück, daß seine
Tochter Gertrud, trotzdem sie als Lehrerin tätig war
(und dies noch ist), sich ihm in derart liebevoller
Weise widmete, daß er sich bis zu seinem Tod tief
reich und glücklich fühlte. In hohem Alter sagte er
mir einst: „Ich danke Gott für die Blindheit meiner
Augen, denn
43
erst dadurch habe ich mit dem Herzen sehen ge-
lernt.“ Seine Frau, meine Tante Hanna, hatte die Ga-
be, trotz der drei Kinder, die sie ihm geboren hatte,
Wolfgang, Gertrud und Helmut, sich ihm nicht nur
verströmend zu widmen, sondern ihm alles, gar alles
so plastisch zu beschreiben, daß er zu Freunden
einmal sagte: „Ich sehe die Dinge ringsum mit den
Augen meiner Frau; das ist zwar ein kleiner Umweg,
aber ohne meine Blindheit und ohne meine Frau wä-
re ich in meiner Ehe und Familie niemals so glück-
lich geworden, wie ich es bin.“ Tante Hanna ver-
stand es, auch ihre drei Kinder vollkommen auf den
blinden Vater hin zu erziehen. So war er immer der
geliebte und bewunderte Mittelpunkt, der alles, was
jeder einzelne seiner Familie erlebte, durch genaues-
te Beschreibungen so miterleben konnte, als wäre es
sein eigenes Erleben. Durch ihn und seine Blindheit
lebte seine Familie mehr und mehr dem Wesentli-
chen und dem Bleibenden. Das Unwichtige, was die
Tageszeitungen brachten, fiel einfach ab. Dies präg-
te jeden einzelnen dieser Familie. Einst sagte Onkel
Richard zu mir: „Wenn mich der Herrgott fragen
würde, was ich mir wünschte, so würde ich ihm
antworten: Herr, laß mich blind, ich danke Dir.“ Für
einen Sehenden fast unfaßlich, ist er zu einem geis-
tigen Glück und Reichtum gelangt, wie er ihn —
davon war er überzeugt — sehend niemals hätte er-
reichen können.
44
In diesen gemeinsamen Sommerferien wurden mei-
ne Geschwister und ich von klein auf angewiesen,
uns in besonders liebevoller Weise unserem blinden
Onkel Richard zu widmen, der jeden kindlichen
Spaß zu unserem größten Jubel mitmachte. Für je-
den von uns war es eine besondere Auszeichnung,
mit dem blinden Onkel Spazierengehen zu dürfen,
und wir überboten uns dabei, ihm alles, was wir sa-
hen, in den buntesten Farben zu schildern, so daß er
die Berge in ihren verschiedenen Beleuchtungen,
Bäume und Blumen, Menschen und Tiere, kurz al-
les, was wir sahen und was uns begegnete, miterleb-
te und selber zu sehen glaubte. Onkel Richard und
ich waren nicht nur verwandtschaftlich verbunden,
sondern wurden innige Freunde fürs Leben. Seit ich
erwachsen bin, erhielt ich jede Woche bis kurz vor
seinem Tod einen von ihm selbst getippten Brief.
Kein Fremder könnte je glauben, daß ein Blinder ihn
geschrieben habe. Darin malte er geradezu die Far-
ben, in denen diese und jene Bergspitzen aufleuchte-
ten, wenn er am Wochenende mit seiner Familie
oder allein mit seiner Frau durch die Tiroler Berg-
welt wanderte.
Seine drei Kinder waren in diesen vielen gemeinsa-
men Sommerferien natürlich unsere liebsten Spiel-
gefährten. Sie waren etwas jünger als meine Ge-
schwister und ich, der älteste von ihnen, Wolfgang,
45
war so alt wie unsere jüngste Schwester Heidi. Alle
drei waren besonders originell und zugleich bezau-
bernd anzuschauen. Wolfgang, ein dunkler Locken-
kopf mit großen, tief dunklen Augen, war der
schwierigste von ihnen. Als er mit sechs Jahren in
die Schule gehen sollte, weigerte er sich und sagte,
sich sträubend: „Ich will werden wie der liebe Gott
— er hat nichts gelernt und regiert die Welt.“
Von ihm könnte man ein Büchlein köstlichster Ge-
schichten schreiben. Er war hochmusikalisch, spielte
schon als kleines Kind, ohne Noten zu kennen, auf
dem Klavier und improvisierte eigene musikalische
Gedanken. Die Musik blieb auch weiterhin für ihn
eine Hauptquelle des Lebens und hebt ihn über den
Alltag seines Beamten-Daseins in Innsbruck, wo er
mit seiner Familie lebt.
Seine Schwester Gertrud vereinigt wohl am begna-
detsten die Fähigkeiten und Gaben beider Eltern. Sie
gehört zu jener Generation, deren gleichaltrige
männliche Freunde im 2. Weltkrieg fielen. So blieb
sie unverheiratet, und wir beide sind bis zum heuti-
gen Tage nicht nur Cousinen, sondern enge Freun-
dinnen. Der jüngste der drei Geschwister, Helmut,
war blond, blauäugig, ritterlich und charmant. Be-
gabt und musisch, begann er als Zwölfjähriger schon
zu dichten und kindliche Dramen zu schreiben, die
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bei Familienfesten aufgeführt wurden. Später wurde
er (und blieb es bis heute) ein begeisterter Bergstei-
ger und erlebte eigentlich das, was sein Vater sich
nur erträumte. Er war mehrfach als Wissenschaftler
(Geograph) im Himalaya. 1954 gehörte er zu der
kleinen Expedition von Professor Dr. Tichy (Wien),
der mit dem Tiroler Bergsteiger Jöchler den 8153 m
hohen Tscho Oyu bezwang. Helmut, mit dem mich
seit klein auf eine besonders enge Freundschaft ver-
bindet, ist heute Professor an der Universität in
München.
Nach dem Tod der Meinen erwiesen sich diese Ver-
wandten als ganz besonderer Reichtum für mich.
Wie ich schon vorher erwähnte, wurde besonders
Tante Hanna meine allernächste Freundin und zwei-
te Mutter. Auch sie konnte wie ihre Mutter sehr in-
tensiv zuhören und miterleben. Dazu machten ihre
Warmherzigkeit, Weisheit, Klugheit und Bildung
(letzteres allein schon durch all das, was sie täglich
bis in die Nächte hinein ihrem blinden Mann vorlas)
gar jedes Gespräch mit ihr sehr wertvoll. Oft haben
wir miteinander Tränen gelacht, weil wir so gleich-
artig humorvoll erlebten und empfanden. Sie war
und blieb innerlich jung, so daß ich nie merkte, daß
sie eine Generation älter war als ich selbst. Ihr Tod
1963, während ich in Ghana/Westafrika eine Flie-
gerschule leitete, traf mich tief schmerzlich. Die
47
Verbindung mit den noch Lebenden dieser Ver-
wandten und mit den Toten gehört zu diesen wun-
dersamen unzerstörbaren und bleibenden Reichtü-
mern.
Unsere Oster- und Herbstferien benutzten die Eltern,
bis wir etwa 14 Jahre alt waren, um mit uns in die
verschiedensten Städte und Provinzen Deutschlands
zu reisen. Sie führten uns durch Museen, zeigten uns
Kunstschätze aller Art und jeder dieser Reisen ging
eine gründliche gemeinsame Vorbereitung auf das,
was wir zu sehen bekamen, voraus. Auf diese Weise
lernten wir unser herrlich schönes Heimatland inten-
siv kennen und lieben. In den letzten Jahren vor der
Matura wurden die Oster- und Herbstferien von den
Eltern benutzt, um mit uns Kindern Reisen durch
Europa zu machen: Nach Finnland und ins Balti-
kum, nach Frankreich, nach England und Holland,
nach Italien und anderen Ländern Europas, mit dem
Ziel, uns die Schönheiten und die Eigenarten jedes
dieser Länder und seiner Menschen nahezubringen.
Dies machte auf uns junge Menschen einen so tie-
fen, bleibenden Eindruck, daß alles, was wir dort
lieben, ehren und schätzen lernten, auch nicht durch
den schweren, bitteren 2. Weltkrieg und seine Fol-
gen verblassen konnte.
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Mein Onkel — Prof. Richard Heuberger
Die Koloniale Frauenschule in Rendsburg
9. Kapitel
Der Wunsch zu fliegen
In meinem Leben gab es sehr früh ein Problem: Die
Sehnsucht meiner Tiroler Mutter, auf Berge zu stei-
gen, schien sich in mir in Flugsehnsucht verwandelt
zu haben. Sonst wäre es für niemanden verständlich,
warum ich, noch ehe ich wußte, was Fliegen heißt,
mit weit ausgebreiteten Armen von jedem Fenster-
brett und dem Balkongeländer hinunterfliegen woll-
te. Ich durfte also nie aus den Augen gelassen wer-
den. Als die Eltern glaubten, ich wäre verständig
genug, erklärten sie mir, daß ich mausetot wäre,
wenn ich hinunterspränge. Da sie mich aber beim
Beten gelehrt hatten: „Lieber Gott, mach mich
fromm, daß ich in den Himmel komm“, schien mir
diese Warnung in meinem dritten Lebensjahr kei-
neswegs abschreckend. Ich las später in den Tage-
büchern, die Mutter über uns Kinder schrieb, daß ich
ihnen damals mit leuchtenden Augen geantwortet
hätte: „Wird der liebe Gott dann sagen: Hannerl,
wollen wir es hageln lassen?“ Hageln hatte mir zu
jener Zeit den größ-
49
ten Eindruck gemacht — es donnerte und klirrte so
schön, und ehe man sich’s versah, war die Erde im
Sommer weiß, voller lustiger, eiskalter Körner, die
man lutschen konnte.
Als ich älter wurde und ständig vom Fliegen sprach,
fürchteten die Eltern, daß sich in diesem kleinen
Mädchen ein Geltungsbedürfnis entwickeln könnte.
So versuchten sie, dieses im Anfangsstadium zu er-
sticken. Sie dachten sich dabei etwas aus, was ihnen
sehr erfolgversprechend schien: Vater nahm mich
auf den Schoß, ich muß damals etwa 10 Jahre alt
gewesen sein, und sagte: „Hannerl, wenn es dir ge-
lingt, bis zum Abitur kein einziges Wort mehr über
das Fliegen zu reden, darfst du anschließend in
Grunau einen Segelflugkursus mitmachen.“ In
Grunau war eine sehr bekannte und anerkannte Se-
gelflugschule — 12 km von Hirschberg entfernt, de-
ren Schulleiter von 1930 bis 1932 der berühmte Se-
gelflug-Pionier, mein späterer „Fliegervater“, Wolf
Hirth, war. Meine Eltern hatten gehofft, daß dieses
Schweigenmüssen über das Fliegen mich dazu brin-
gen würde, das Fliegen langsam zu vergessen. In so
langen Jahren aber bis zum Abitur, so glaubten und
hofften sie, würde ich ganz gewiß einmal, wenn
auch nur versehentlich, vom Fliegen reden, und da-
mit wären sie ihres Versprechens entbunden. Sie
ahnten aber nicht, wie
50
tief dieser Wunsch in mir saß. Durch dieses Ver-
sprechen schien sich für mich „der Himmel zu öff-
nen“. Der erste Gedanke am Morgen war ein inniges
Gebet, daß der Herrgott mir den ganzen Tag helfen
möge, kein Wort vom Fliegen zu reden. Dies wurde
ständig schwerer, je klarer mir wurde, daß ich etwas
werden wollte wie mein geliebter Vater. Ich wollte
mein ganzes Leben lang ändern helfen. Durch sein
wunderschönes Beispiel und Vorbild glaubte ich
damals, dies am besten erfüllen zu können, wenn ich
Ärztin würde. Da es für mich aber mit dem Fliegen
unbedingt zusammenhängen sollte, so mußte es na-
türlich eine „fliegende Ärztin“ sein. Wo aber muß
eine Ärztin in der Ausführung ihres Berufes auch
fliegen? Das erschien mir damals nur im ungeheuer
weiten Afrika nötig. Dieser schwarze, so geheimnis-
volle Kontinent war für mich der Inbegriff alles
abenteuerlich Verlockenden, aber auch der Inbegriff
von unheilbaren Krankheiten und vielen leidenden
Menschen. Als Vater meinen Wunsch und meine
Neigung erkannte, Ärztin werden zu wollen, unter-
stützte er dies in besonderer Weise. Er erzählte nicht
nur — natürlich ohne Namensnennung — von medi-
zinischen Fällen, sondern er versuchte, das Interesse
zu vertiefen, indem er sich von einem Schlachter in
einer Schüssel Schweineaugen schicken ließ. Das
Auge des Schweines, so erklärte er uns, wäre dem
51
Menschenauge besonders ähnlich. Mit dem Operati-
onsbesteck, das mein Bruder und ich vorsichtig in
die Hände nehmen durften, ließ er uns besondere
Operationen am Auge durchführen, die er uns vor-
machte und erklärte. Er verstand es, uns voll Ehr-
furcht in die Wunder des menschlichen Körpers ein-
zuführen — in diesem Fall des Auges. In meinem
Herzen also war es beschlossen, fliegende Ärztin in
Afrika zu werden. Zunächst aber durfte es nur „Ärz-
tin in Afrika“ heißen, um nicht das Wort „Fliegen“
zu gebrauchen. So vergingen Tag um Tag und Jahr
um Jahr, und täglich betete ich erneut um mein
Schweigen. Bis der Tag kam, an dem ich glückselig
nach bestandenem Abitur nach Hause kam. Von den
Eltern, die ja die Abiturprüfung ihrer Kinder selbst
durchlitten, wurde ich herzlich beglückwünscht. Als
mir aber Vater eine schöne goldene Armbanduhr
dazu schenken wollte, lehnte ich dies ab und sagte
leise: „Bitte, denkt an euer Versprechen und erlaubt
mir jetzt, Segelfliegen zu lernen.“ Meine Worte ver-
setzten den Eltern einen erheblichen Schock, Ich
sah, wie sie blaß wurden, sich anschauten, aber sich
stillschweigend einig waren, dies Versprechen hal-
ten zu müssen. Ein Segelflugkursus dauerte damals
14 Tage und diese, so hofften sie, würden gut vorü-
bergehen, und dann wäre es wohl mit meinem Flie-
gen endgültig zu Ende.
52
10. Kapitel
Die Koloniale Frauenschule
Da ich als Ärztin nach Afrika wollte, sollte ich vor
dem Medizinstudium eine hauswirtschaftliche Schu-
le besuchen. Die Eltern hatten mich für das Jahr
1931 in der einzigen damals in Deutschland existie-
renden Kolonialen Frauenschule in Rendsburg am
Kaiser-Wilhelm-Kanal angemeldet (Foto). In diesem
Jahr sollte ich nicht nur im Kochen, Waschen, Plät-
ten und Nähen unterwiesen werden, sondern in allen
in Afrika sich als notwendig erweisenden Dingen.
So lernten wir dort über die normale Hauswirtschaft
hinaus einen Farmbetrieb zu leiten, melken, schlach-
ten, Wurst und Käse zu machen, einen Molkereibe-
trieb zu leiten, Schuhe zu besohlen, zu drechseln,
einen Zaun zu machen, Werkzeuge anzufertigen, zu
reiten und zu schießen. Wer es wollte, konnte frei-
willig sogar die Sprachen Kisuaheli und Herero er-
lernen. Da ich aber hörte, daß es Hunderte von Ein-
geborenen-Sprachen gibt, wollte ich nicht etwas ler-
nen, was ich wahrscheinlich niemals brauchen wür-
de.
53
Eine große Rolle spielten während dieses Jahres für
uns „Kolo-Schülerinnen“ die Kriegsschiffe. Sie be-
nutzten den Kaiser-Wilhelm-Kanal (jetzt Nord-
Ostsee-Kanal), um auf kürzestem Weg von der
Nordsee in die Ostsee zu gelangen und wieder zu-
rück. Unsere „Kolo-Schule“ lag direkt am Ufer die-
ses Kanals. Wenn die Kriegsschiffe majestätisch und
mit herabgesetzter Geschwindigkeit den Bereich un-
serer Schule passierten, so kündigten sie sich durch
lautes Sirenengeheul an — zwar nicht unseretwegen,
sondern wegen einer damals in Rendsburg befindli-
chen Drehbrücke, die über den Kanal führte und
rechtzeitig geöffnet werden mußte, aber sowohl für
die frohe Mädchenschar, wie auch für jegliche Be-
satzungen der Kriegsschiffe, war dieses nötige Sire-
nengeheul sehr willkommen; denn es kündete der
„Kolo-Schule“ ihre Vorbeifahrt an. Bei Tag durften
wir jede Lehrstunde unterbrechen, rannten zum Ka-
nal und stellten uns entlang des Ufers auf. Wir ant-
worteten dem lauten Ruf der Besatzungen, die alle
winkend an der Reling standen, mit einem nicht
minder lauten Ruf: „Zickezacke, zickezacke — Hoi,
Hoi, Hoi.“ Kartoffeln mit kleinen Zetteln und Gruß-
worten darauf wurden herüber- und hinübergewor-
fen, und bei den jährlichen Sommerfesten unserer
Schule waren die geladenen Herren fast immer Ma-
rine-Offiziere jener Besatzungen. Während meiner
„Kolo-Zeit“ gehörte zu den Geladenen auch
54
mein Bruder, der damals als Fähnrich in Flensburg-
Mürwik an der Marine-Schule weilte und mich oft-
mals übers Wochenende — nicht nur zu meiner ei-
genen Freude — in Rendsburg besuchte. Passierten
die Schiffe während der Nacht unsere Schule, so gab
es für uns Sondervorschriften, um nur sittsam, mit
Morgenröcken bekleidet, an den Fenstern zu win-
ken, die durch grelle Scheinwerfer der Kriegsschiffe
taghell beleuchtet wurden.
Diese Verbindung der Marine mit unserer Kolonial-
Schule führte häufig zu Verbindungen fürs Leben.
Trotz meines brennenden Heimwehs wurde dieses
Jahr in Rendsburg eines der schönsten, fröhlichsten
Jahre meiner Jugend, an die ich mich erinnern kann.
Es schenkte mir Freundschaften für mein ganzes Le-
ben. Meine zwei Zimmergenossinnen, mit denen ich
mein „Turmzimmer“ teilte — Anna-Luise v. Öster-
reich, verheiratete v. Fabeck, und Gisela Wülfing,
verheiratete Holzrichter — sind bis zum heutigen
Tag meine liebsten Freundinnen geblieben. Leider
heiratete Anna-Lu ins ferne Chile und ist für mich
dadurch fast unerreichbar. Sie schenkte ihrem Mann,
einem Farmer, sieben gesunde Kinder und ist eine
beispielhaft tapfere, tüchtige Frau geworden. Doch
habe ich das Glück,
55
Gisela Holzrichter ganz in der Nähe Frankfurts, in
Dillenburg, zu haben, wo ihr Mann als Landstall-
meister des bekannten hessischen Hengstgestütes
tätig ist. Gisela und ich waren während unseres
Rendsburger Jahres wohl die zwei begeistertsten
Reiterinnen. Ich wurde später durch mein Fliegen
dem Reiten untreu, aber für Gisela hat sich neben
einer glücklichen Familie mit zwei Kindern und drei
Enkeln der große Wunsch erfüllt, daß sie noch heute
täglich gemeinsam mit ihrem Mann auf edlen
Hengsten reiten kann.
Wenn meine hauswirtschaftlichen Erfolge recht
kümmerlich blieben, so lag das nicht an der Schule,
sondern einem besonderen Umstand: Ich kam nicht
dazu, das Gelernte anzuwenden. Als ich nach Hause
kam und stolz darum bat, unsere treue Köchin für
einen Tag ersetzen zu dürfen, kochte ich, da ich ge-
wohnt war, für etwa siebzig Menschen zu sorgen, so
viel Reis, daß die arme Familie 14 Tage nur Reis
essen mußte und deshalb auf meine weiteren Koch-
künste gern verzichtete.
Eine unserer damaligen Lehrerinnen, Frl. Dreves,
hält bis zum heutigen Tag durch Rundschreiben und
durch von ihr jährlich organisierte Zusammenkünfte
die Verbindung mit uns „Kolo-Schülerinnen“ aller
Jahrgänge. Das unvergeßlich schöne
56
Erleben jener Zeit in Rendsburg läßt uns bei diesen
Treffen — zu denen manchmal sogar jetzt in Afrika
lebende ehemalige „Kolo-Schülerinnen“ herüber-
kommen — sofort ein festes Band der Zusammen-
gehörigkeit empfinden, gleichgültig, ob wir uns vor-
her durch die verschiedenen Altersstufen je kennen-
gelernt hatten. Das Glück dieser Verbindung gehört
zu den unzerstörbaren Reichtümern, die alle politi-
schen Wirren sowie den tragischen zweiten Welt-
krieg und die schwere Nachkriegszeit überdauerten.
57
11. Kapitel
Die heimlichen Schlüssel zu meinem Fliegen
In den ersten Ferien während meiner Kolonialschul-
zeit begann ich mit dem versprochenen Segelflug-
kursus. Wie es mir dabei erging und was ich dabei
erlebte, kann man ausführlich nachlesen in meinem
Buch „Fliegen mein Leben“ (J. F. Lehmanns Verlag,
München, Kapitel 3, Seiten 36—50).
Hier will ich nur andeuten, daß mein erster „Rut-
scher“, aus Ungehorsam und Sehnsucht zugleich
falsch ausgeführt, zu einem höchst unerfreulichen
Flugabenteuer wurde. Ich wäre beinahe aus der
Schule geflogen. Die über mich verhängte Strafe
eines dreitägigen Startverbotes brachte mich auf eine
eigene Methode, das Fliegen geistig zu trainieren;
eine Methode, die ich noch heute mit Erfolg anwen-
de und die ein wesentlicher Schlüssel für mein flie-
gerisches Tun wurde. Den zweiten Schlüssel — ich
möchte sagen: den wesentlichen für mein Leben —
muß ich meinem ersten Buch „Fliegen mein Leben“
doch entnehmen, weil es dabei um meine Mutter
geht. Wolf Hirth aber, der
58
Schulleiter, sagte zu meinen Eltern, daß er in mir
einen wie für das Fliegen geborenen Menschen sehe.
Er nahm sich deshalb ganz besonders meiner an und
wurde buchstäblich mein „Fliegervater“.
Nun aber zu jenem zweiten Schlüssel. Es war mir als
Schülerin der Segelflugschule Grunau im April 1932
gelungen, einen Frauensegelflug-Weltrekord, und
zwar im Dauerflug, zu erreichen. Ich hatte kurz vor-
her die „C-Prüfung“ im Segelflug bestanden. Dazu
war damals erforderlich, daß man länger als fünf
Minuten mit Startüberhöhung — vom Aufwind ge-
tragen — segelte. Wolf Hirth hatte an meinem Prü-
fungsflug solch große Freude, daß er mir zur Beloh-
nung erlaubte, ein ganz neues Segelflugzeug — den
„Grunau-Falken“ — zu fliegen, der bisher nur ihm
selbst und seinen Segelfluglehrern vorbehalten war.
Er gab mir die Erlaubnis, so lange in der Luft zu
bleiben und zu segeln, wie es mir gefiel und der
Aufwind es zuließ. Zum ersten Mal flog ich nun,
ohne an eine zeitliche Einschränkung gebunden zu
sein. Zum ersten Mal war ich frei wie ein Vogel. Mit
wahrem Hochgefühl startete ich, durch Gummiseil
katapultiert, und segelte den Grunauer Westhang
entlang, hin und her, solange der Wind blies. Ich
sang dabei glückselig all die Lieder, die Otto Johl
uns während der Schulzeit gelehrt hatte. Ich jubelte
sie in den Him-
59
mel hinein, dem ich entgegenflog. Ich merkte kaum,
daß es kalt war in dem Flugzeug, das einen offenen
Cockpit hatte, das durch Regenböen und Schneebö-
en geschüttelt wurde, und es dort oben eigentlich
höchst ungemütlich war. Noch dazu war der
Holzsitz hart und das Sitzen darauf schmerzhaft.
Nach mehr als 5 1/2 Stunden Flugzeit schlief der
Wind ein, und ich wurde dadurch zum Landen ge-
zwungen. Dankbar wie immer, wenn alles gut ge-
lungen war, setzte ich auf dem Boden auf. Die Ka-
meraden liefen mir begeistert entgegen und gratu-
lierten zum „Weltrekord“. Jene fünfeinhalb Stunden
waren damals zu meiner Überraschung ein Frauen-
weltrekord. Abends schon brachte das Radio die
Nachricht, und Glückwünsche und Blumen wurden
ins Haus gebracht.
In mir jubelte es, ich war jung, ich fand es wunder-
schön. Doch am Abend, als ich schlafen ging, lag
auf meinem Bett ein Zettel, von meiner Mutter ge-
schrieben: „Wie dankbar bin ich mit Dir für die
Gnade des Glückes, die Dir der Herrgott mit diesem
Flug geschenkt hat.“ Was hieß hier „Gnade des Glü-
ckes“, dachte ich widerstrebend, als ich es las. Ich
hatte Schnee und Kälte, Wind und Regen aushalten
müssen, und noch spürte ich den schmerzhaften
Druck des unbarmherzigen Sitzes. Was verstand
Mutter denn vom Fliegen?
60
Je mehr ich darüber nachdachte und versuchte, die
Worte der geliebten Mutter zu verstehen, um so
mehr wurde mir klar, daß, wenn der Wind nach zehn
Minuten aufgehört hätte zu blasen, ich schon nach
zehn Minuten hätte landen müssen. Der langanhal-
tende Wind war „die Gnade des Glücks“, der zum
Erfolg geführt hatte. Als mir dies klar geworden
war, falteten sich stumm die Hände, und es ging ein
stiller Dank hinauf zum Himmel. Ich begriff nun,
daß jegliches Tun erst durch „Gnade des Glücks“
zum Erfolg wird, auf welchem Gebiet wir es auch
immer erleben mögen.
So war es stets meine Mutter, die auch bei jedem
späteren fliegerischen Erfolg stillschweigend, in die-
sem Sinne, an meiner Seite stand. Oft sagte sie,
wenn Ungezählte jubelten und mich ehrten, wie da-
mals, als ich 1941 Ehrenbürger meiner Heimatstadt
Hirschberg wurde und fast die ganze Stadt auf den
Beinen war: „Hannerl, gewiß sollst du dich dankbar
freuen, aber vergiß nie: ,heute Hosianna — morgen
kreuziget’.“
Durch diesen wunderbaren Einfluß konnte mich kein
Erfolg und keine Ehrung innerlich ohne tiefen Dank
berühren. Auch konnte sich nach dem verlorenen
Krieg, als ich durch die Amerikaner in eine Gefäng-
niszelle gesperrt worden war und 1 1/2 Jahre
61
bei ihnen inhaftiert blieb, nicht eine Sekunde lang
weder Haß noch Bitterkeit entwickeln, nur ein Ge-
fühl und Gebet: „Herr vergib ihnen, denn sie wissen
nicht, was sie tun.“ Dadurch aber blieb ich selber
Sieger, selbst in der Gefängniszelle der Amerikaner
und trotz des verlorenen Krieges
62
12. Kapitel
Die selbstverdienten Flugscheine
Natürlich war für mich nach dem ersten vierzehntä-
gigen Flugkursus, der mir von den Eltern bezahlt
worden war, das Fliegen nicht beendet, sondern es
fing erst an. Da die Eltern aber zunächst darüber gar
nicht glücklich waren, gaben sie mir verständlicher-
weise dafür auch keinerlei weitere finanzielle Unter-
stützung. In ihnen war die Sorge groß, daß ich mir
durch meinen glühenden Wunsch zu fliegen eine
oberflächliche Welt aufbauen würde, die mir charak-
terlich schaden könnte. Sie wollten der Erfüllung
meines Wunsches zwar keine Hindernisse in den
Weg legen, doch wollten sie seine Tiefe und Echt-
heit ergründen, indem sie mich alle dafür notwendi-
gen Opfer selbst bringen ließen. Während also mei-
ne Freundinnen zu Tanz, Theater, in Opern und
Konzerte gingen, arbeitete ich in jeder freien Stunde
in der Werkstatt der Segelflugschule Grunau. Wäre
Wolf Hirth nicht mein Fliegervater geworden, der
größtes Interesse an meinem fliegerischen Fortschritt
und vor allem ein weitherziges Verständnis für mei-
63
nen Wunsch zu fliegen hatte, wäre ich wohl nicht
dahin gekommen, wohin ich fliegerisch kam, denn
vom Start hängt vieles ab.
Nach dem Abitur besuchte ich ein Jahr die Koloniale
Frauenschule in Rendsburg. In den Ferien danach,
also vor Beginn des 1. Medizinsemesters in Berlin,
durfte ich gar jeden Tag in Grunau in der Segelflug-
werkstatt bauen helfen und dafür, sobald ein günsti-
ger Wind blies, solange und soviel ich wollte, über
dem Grunauer Westhang segeln. An jedem Morgen
jener Ferien klingelte ich um sechs Uhr früh an Wolf
Hirths Wohnungstür. Ich war für ihn und seine Frau
Lala der pünktlichste Wecker. Während beide auf-
standen, durfte ich in Wolf Hirths Arbeitszimmer
seine Fliegerbücher durchstöbern. Ich lag dazu meist
am Boden, um mich her ausgebreitet die mich am
meisten interessierenden Bücher, Schriften und Ma-
nuskripte. Eines davon über den „Leistungs-
Segelflug“ gab er mir bald zum Korrigieren. So
merkte ich gar nicht, wie die Zeit jeden Morgen ver-
flog und ich immer tiefer in die Theorie des Leis-
tungs-Segelfluges eindrang. Während des Früh-
stücks durfte ich an Wolf Fragen stellen, die ich un-
aufhörlich und in überreichem Maße immer hatte,
bis es Wolf zu viel wurde und er mich freundlich
loszuwerden suchte, um mit seiner Frau noch allein
zu sein. Ich wurde dann von ihm
64
1934 in Finnland zur Einführung des Segelfluges
1943 in Rußland
mit einem günstigen Trick in die Garage hinunter
geschickt und bekam die mich verlockende Aufgabe,
seinen alten „Wanderer“ von der Garage, die im
Keller lag — also recht steil nach oben — rückwärts
auf die Straße vor das Haus zu fahren. Das war für
mich, noch ohne einen Führerschein zu haben, eine
herrlich aufregende und beglückende Pflicht. Sie
mußte aber hart errungen werden, und das wußte
Wolf Hirth genau. Denn der Motor des alten „Wan-
derer“ mußte mit einer Kurbel angeworfen werden
und sprang niemals an, ohne daß man mindestens
dreißigmal mühevoll die Kurbel betätigen mußte.
Ich war aber von der Aussicht, den Wagen selber
hinausfahren zu dürfen, so begeistert, daß ich diese
Mühe gerne auf mich nahm. Leider hatte dieser Spaß
für mich sein Ende, als ich nämlich — schon ge-
wohnt, mit kühnem Tempo rasch rückwärtsfahrend
— vergaß, die Garagentür zu sichern und ein tücki-
scher Windstoß einen Flügel just in dem Augenblick
zuknallte, als ich im schönsten schwungvollen An-
fahren war. Die Tür barst auseinander — vom Wa-
gen erwischte es nur die Stoßstange, der man den
Stoß kaum ansah. Aber von nun an fuhr Wolf Hirth
lieber selber den Wagen hinaus. Auf der Fahrt nach
Grunau sangen wir beide fröhliche Lieder. Jeden
Tag mußte sein Lieblingslied dabei sein: „Ich bin ja
ein armer Wandergesell, gute Nacht liebes Mädchen,
gut Nacht“ ... Mein ganzes Leben lang kann ich dies
65
Lied nicht mehr hören, ohne sofort an unsere tägli-
chen Singfahrten nach Grunau zu denken.
In der Grunauer Segelflugwerkstatt mußte ich nun
von früh bis spät Nagelleisten vorbereiten, schmir-
geln, Rippen bauen; ich lernte auch Schäften und
spleißen. Sobald aber Westwind blies, war ich auf
und davon und segelte so lange am Himmel, bis der
Wind sich gelegt hatte. Mal wurde daraus ein Frau-
enweltrekord von 6 Stunden, mal von 11 Stunden.
Auch lehrte mich Wolf Hirth an günstigen Thermik-
tagen den Motorschleppflug vom Hartauer Flugplatz
bei Hirschberg starten. Der erste dieser Schleppflüge
endete für mich nach einem einstündigen Gewitter-
flug mit einer Landung auf dem Kamm des Riesen-
gebirges (siehe „Fliegen mein Leben“, Seite 84,
Lehmanns Verlag, München).
Für das um Ostern 1932 beginnende Medizinstudi-
um erhielt ich von den Eltern einen sehr kleinen
Wechsel, mit dem man keinerlei große Sprünge ma-
chen konnte. Ich wohnte in Berlin zur Miete auf der
Grolmanstraße bei zwei reizenden alten Damen:
Gräfin Schwerin und Frl. v. der Decken, die mir für
sehr wenig Geld ein Zimmer überließen. Statt nun zu
den Vorlesungen in die Universität zu gehen, lernte
ich das Pensum meist am Abend und fuhr statt des-
sen tagsüber mit der S-Bahn hinaus nach Berlin-
Staaken,
66
wo ich mich bei der Luftfahrt GmbH, bei Otto
Thomsen, zu einem Motorflugkursus anmeldete. Da
ich noch nicht 21 Jahre alt war, benötigte ich dazu
die Genehmigung und Unterschrift der Eltern. Wie
aber war dies zu erreichen? Ich war in Berlin kurz
nach meinem Eintreffen bei einem Freund meines
Onkels eingeladen worden, Herrn v. Ledebur und
seiner Familie. Er selbst war ein begeisterter Flieger,
der mich im Motorflugzeug als Passagier schon am
zweiten Tag hoch in die Lüfte nahm. Ihn bat ich
nun, in Hirschberg meine Eltern aufzusuchen und sie
davon zu überzeugen, daß, wenn man als fliegende
Ärztin nach Afrika gehen wolle, man das Motorflie-
gen doch besser erlernen solle zu einer Zeit, in der
man auf der Universität noch nicht viel versäume.
Die Eltern willigten ein, unter der Bedingung, daß
ich es mir neben dem Medizinstudium selber verdie-
nen würde. Sie ahnten nicht, daß ich nun meinen be-
scheidenen Wechsel dafür verwendete, die Flug-
stunden zusammenzusparen. Ich lebte nur noch von
trockenem Brot und Milch, wurde aber von Freun-
den reichlich mit Obst beschenkt. Nach 3 oder 4
Doppelsteuerflügen durfte ich bereits glückselig al-
lein fliegen. Einer meiner Mitschüler war der große
Staatsschauspieler Mathias Wieman. Mit ihm und
seiner Frau verband mich seit dieser Zeit bis zu sei-
nem Tod 1970 eine enge Freundschaft. Als ich 1942
als einzige Frau der deutschen Geschichte das Eiser-
ne Kreuz 1. Klasse
67
verliehen bekam, setzte er folgenden lustigen Artikel
in die „BZ — Am MITTAG“.
Glückwunsch für Hanna Reitsch
Lerche in Menschengestalt
An meine Flieger-Schulkameradin
Von Staatsschauspieler Mathias Wieman
„Es klingt heute fast unglaublich, aber auch Hanna
Reitsch hat das Fliegen einmal lernen müssen, und
eine Zeitlang war ich dabei ihr Schulkamerad. Vor
zehn Jahren, 1932, haben wir in Staaken im gleichen
Kurs und beim gleichen Lehrer geschult, bei Gün-
ther Wirthschaft, der im folgenden Sommer von ei-
nem Ozeanflug nicht zurückkam.
Ich sehe das Bild noch vor mir, wie sie zum ersten
Mal am Startplatz auftauchte, ein kleines Persönchen
mit sehr hellen Haaren, sehr hellen Augen und einer
ganz hellen Stimme, immer in Begeisterung, eine
Lerche in Menschengestalt. Sie trug ein großes vier-
eckiges Lederkissen in ihren Armen, halb so hoch
wie sie selber, das brauchte sie, um im Flugzeug da-
rauf zu sitzen, sonst hätte sie nicht hinausschauen
können.
Es dauerte bloß ein paar Tage, dann hatte sie uns
andere Schüler alle überholt und flog allein, wäh-
rend wir noch lange am Doppelsteuer üben mußten.
Das waren harte Schläge für unsern männlichen
Stolz.
68
Wir retteten uns in ironische Hochachtung und nann-
ten sie „Fräulein Flugkapitän“; fünf Jahre später war
sie’s aber wirklich.
Und damals, 1932, hatte Hanna Reitsch es gar nicht
eilig, uns zu überflügeln und mit dem Kursus zu En-
de zu kommen; mir ging es genau so: solange wir
noch Schüler waren, durften wir täglich fliegen.
Aber dann, als ausgelernte Piloten ohne Geld, ohne
eigene Maschine, wie sollte man sich dann zum pu-
ren Luxus und Vergnügen wieder in die Lüfte erhe-
ben?
Heute habe ich in alten Papieren gekramt und einen
Brief gefunden, einen tief betrübten Brief vom 19.
Juni 1932, in dem Hanna Reitsch nach ihrer Flug-
zeugführerprüfung schrieb: „Vom Gedanken des
Fliegens muß ich mich jetzt innerlich freimachen,
und das ist unsagbar schwer. Seit der Prüfung ist in
mir ein harter Kampf zwischen Pflichtgefühl und
durchgehender Leidenschaft. Ersteres muß siegen.
Alles, was ich im Leben empfing, was ich an Fähig-
keiten habe, gehört nicht mir, sondern ich muß es so
verarbeiten, daß ich den anderen Menschen helfen
und etwas geben kann. Mein Fliegen wäre nur egois-
tisch, ein Austoben, Genießen! Anders wäre es,
wenn ich als verkappte Militärfliegerin mich fürs
Vaterland einsetzen könnte. In der heutigen Zeit ein
undurchführbarer, nur romantischer Gedanke.“
Liebe Hanna, Sie werden es verzeihen, daß ich Sät-
ze, die Sie mir von zehn Jahren schrieben, hier wie-
der-
69
gebe; ich tue es auch nur, weil vielleicht heute wie-
der junge Menschen in ähnlichen Zweifeln sind wie
Sie damals und die die Bestätigung brauchen kön-
nen, daß jeder echte Wunsch sich verwirklicht, mag
er noch so „undurchführbar und romantisch“ er-
scheinen. Sie sind nicht nur eine „verkappte Militär-
fliegerin“ geworden, Sie tragen die beiden Eisernen
Kreuze, zu der Zweiten nun das Erster Klasse. Ihr
Fliegen ist das geworden, womit sie Hunderten und
Tausenden von anderen Menschen helfen konnten,
Fliegern, Soldaten, mit einem Wort, dem Vaterland.
Ich bin meinem Schicksal immer wieder dankbar,
daß es mich als Fliegerschul-Kameraden mit Hanna
Reitsch zusammengeführt hat. Es ist eine große Sa-
che, von Angesicht zu Angesicht sehen zu dürfen,
wie das Unüberwindliche mit dem Zartesten zu-
sammenhängt, und die göttliche Kraft wahrzuneh-
men in einem durchsichtigen und schwingenden Ge-
fäß von Menschengestalt.“
1934 hatte ich mein Medizinstudium endgültig auf-
gegeben, um der Aufforderung von Professor
Georgii zu folgen, als Forschungs- und Testpilot an
die Forschungsanstalt für Segelflug nach Darmstadt
zu kommen. Als ich im Frühjahr 1935 für besondere
fliegerische Erfolge vom Ministerium einen hohen
Orden bekommen sollte, bat ich höflich, den Orden
doch bitte zu behalten, aber mich statt dessen auf
eine
70
Verkehrsfliegerschule zu schicken zum Erlangen
aller Flugscheine. Dies wurde anstelle der gedachten
Auszeichnung genehmigt, und ich wurde im Herbst
1935 zur Verkehrsfliegerschule nach Stettin einberu-
fen.
So also hatte ich die Genehmigung erlangt, gar alle
Größen von Maschinen fliegen zu können. Am Ende
des 2. Weltkriegs 1945 gab es wohl kaum einen Pi-
loten auf der Welt (so behaupteten wenigstens die
Amerikaner), der wie ich vom größten Bomber über
Stukas, Jagdflugzeuge, Raketenflugzeuge, V l, Was-
serflugzeug, Segelflugzeuge, bis hin zum rückwärts
fliegenden Hubschrauber Erfahrungen mit all diesen
Maschinen hatte.
Warum aber schreibe ich dieses Kapitel? Weil ich es
großartig von meinen Eltern fand, daß sie, obwohl
sie gegen mein Fliegen waren, es mich durchführen
ließen, wenn ich bereit wäre, dafür alle Opfer zu
bringen und es völlig selbst zu verdienen.
Wie wenig nützlich für das Leben der heutigen Ju-
gend ist die oft falsche Nachsicht der Eltern, die mit
ihrem selbst mühsam verdienten Geld ihre Kinder
verwöhnen, anstatt in ihnen durch mühsam Selbster-
rungenes, Fähigkeiten fürs Leben zu wecken, für die
sie ihnen später tief dankbar sein würden. Es war
weise und weit und klug von meinen Eltern
71
— und das Vertrauen, was sie dabei in mich legten,
wurde für mich selbst durch die große Verpflich-
tung, die darin lag, zum besten Schutz.
72
13. Kapitel
Ich werde Testpilotin
Mein ursprünglicher Plan, „fliegende Ärztin“ in Af-
rika zu werden, hatte sich schicksalhaft geändert.
Nach dem zweiten Semester meines Medizinstudi-
ums folgte ich im Mai 1934 der Aufforderung des
damaligen Leiters des Deutschen Segelflugs und der
Forschungsanstalt für Segelflug, Professor Georgii,
um als Forschungspilotin an seine Anstalt nach
Darmstadt zu kommen. Zunächst hatte ich dort Wet-
terflüge durchzuführen, und ab 1935 wurde ich Test-
Pilotin und Einflieger des Instituts für Segelflug un-
ter dem hervorragenden Konstrukteur und Instituts-
leiter Hans Jacobs. Ich kannte durch Jahre hindurch
aus Begeisterung an meiner fliegerischen Arbeit
keinen Urlaub und keine Ferien, nur über Weihnach-
ten und Neujahr fuhr ich nach Hirschberg, wo sich
im Elternhaus die ganze glückliche Familie zusam-
menfand. Mein Bruder war seit 1929 als See-
Offiziersanwärter in die Reichsmarine eingetreten
und machte während seiner Ausbildung als Seeka-
dett und als Leutnant
73
zur See auf den Kreuzern „Emden“ und „Karlsruhe“
zwei Weltreisen.
Meine Schwester Heidi, die 1935 ihr Abitur bestand,
heiratete kurz darauf den Kavallerie-Oberleutnant
Gustav Adolf Macholz und schenkte ihm bis 1942
vier Kinder, zwei Buben und zwei Mädchen, die ich
wie eigene Kinder liebte. Ich selber aber war vom
Fliegen völlig eingefangen und dachte nur an meine
Testflüge. Wie es im Herzen meiner Mutter dabei
ausschaute, zeigen ein paar Zeilen von ihr, die sie
mir in einem ihrer vielen Briefe 1936 nach Dar-
mstadt schrieb:
„Wenn andre fröhlich zum Tanze geh’n, schläfst Du
in tiefer Ruh’. Wenn andre plaudernd beisammen
steh’n, fliegst in einsamer Höhe Du. Wenn der
Sturmwind über die Felder jagt und niemand sich ins
Freie wagt, dann kämpfst Du hoch oben in bitt’rer
Not und scheust nicht Kälte, Hunger und Tod. Sag’,
Herzenskind, sag’, muß das sein, wann schlägst ei-
nen anderen Weg Du ein? Solang’ es das Vaterland
braucht und will, fliege ich weiter, stumm und still.
Wenn anders ich besser ihm dienen kann, wird es
ebenso freudig von mir getan.“
74
Mein Tag begann im Sommer in Darmstadt um vier
Uhr früh, denn Meß- und Testflüge macht man am
besten in völlig ruhiger Luft, von 5 bis 7 Uhr mor-
gens ohne Einfluß von Auf- oder Abwinden, d. h.
also, bevor die Sonne den Boden erwärmt und die
Luftböigkeit einsetzt. Oft machte ich Test- oder
Meßflüge auch die Nacht hindurch, um z. B. alle
zwei Stunden während der Nacht in Aufstiegen auf
2000 bis 3000 m Höhe meteorologische Messungen
— oder Versuche von Nacht-Segelflügen in „Alto-
Cumuli“-Wolken in 2000—5000m Höhe durchzu-
führen.
75
14. Kapitel
Die Briefe meiner Mutter
Das Glück über meine fliegerische Arbeit gab mir
unsichtbare Flügel und schien mir unbegrenzte Kräf-
te zu verleihen. Aber die Sorge meiner Mutter um
mich und mein Tun kam in ihren Briefen immer
wieder durch Verse zum Ausdruck, in denen sie
mich bat, doch maßzuhalten. Ich würde vor lauter
Glück und Dank über meine fliegerische Arbeit wie
eine Kerze sein, die an beiden Enden gleichzeitig
brenne. Sie endeten mit den Worten: „Verström
Dich nicht, mein Kind, spar Kraft und Zeit!
Nur dem, der sich in schöpferischer Ruh erneut, der
Herrgott auf die Dauer Glück verleiht!“
Ich sammelte alle Verse, die Mutter mir schrieb. Ich
las sie am Abend vor dem Einschlafen und nahm sie
wie ein stilles Heiligtum auf jede Reise mit. Sie
selbst aber schenkte ihnen so wenig Bedeutung, daß
sie sie weder meinem Vater noch meinen Geschwis-
tern jemals zeigte. Sie hatten
76
einen wundersamen Einfluß auf mein Leben. Sie
vermochten Mahnungen annehmbar zu machen und
überzeugten durch Schlichtheit und echte Frömmig-
keit, durch Weisheit und durch die Liebe, mit der sie
mich umschlossen.
Seit 1935 flog ich Tag für Tag und Jahr für Jahr in
Darmstadt bis zum Ausbruch des Krieges als Testpi-
lot der Forschungsanstalt. Ich flog in dieser Zeit elf
neue Segelflugzeuge ein und mußte unter anderem
mit jedem der verschiedenen Typen der in Deutsch-
land existierenden Segelflugzeuge, sobald ein To-
dessturz damit erfolgt war, fliegerisch prüfen, was
die Ursache dafür gewesen sein könnte, ob dies
durch menschliches Versagen eingetreten, ob durch
schlechte Flugeigenschaften des Flugzeugtyps oder
durch mangelnde Festigkeit des Flugzeuges. Diese
Untersuchungen gehörten zu den Aufgaben unseres
Institutes für Segelflug. Sie waren nicht gerade eine
„Lebensversicherung“ für mich, denn ich mußte die
jeweiligen Flug-Situationen, aus denen der Absturz
erfolgt war, in großer Höhe nachfliegen. Natürlich
tat ich dies nur mit angeschnalltem Fallschirm und
hatte das Glück, niemals „aussteigen“ zu müssen.
Ich wußte damals nie am Morgen, ob ich am Abend
noch leben würde, aber ich fühlte mich als glück-
lichster Mensch der Welt, voll Dank, daß mir solche
verantwortungsvollen
77
Aufgaben übertragen wurden, die vielen anderen —
nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen
Ländern der Welt — das Leben retten und bewahren
helfen sollten.
Die Eltern erfuhren durch meine Briefe von allem,
was ich tat. Trotz ihrer Sorge wußten sie mich „in
Gottes Hand“. Mutter bangte sogar weniger um
mich, wenn sie mich hoch am Himmel wußte als
unten am Boden. Diese Sorge von ihr war einerseits
verursacht durch die vielen Neider, die sich selbst-
verständlich auf der Welt gegen jeden erheben, der,
auf welchem Gebiet auch immer, Erfolge hat und
andere überflügelt. Da ich noch dazu ein Mädchen
war, wirkte sich dies besonders schwierig aus und
kostete mich viele heimliche Tränen und leidvolle,
schlaflose Nächte.
Nach besonders gefährlichen und umwälzenden
Testflügen mit den ersten Bremsklappen der Welt an
den Flächen von Segel- und Motorflugzeugen, die
ich in ungezählten senkrechten Sturzflügen aus 6000
m Höhe jahrelang durchgeführt hatte, wurde ich
1937, erst 25jährig, zum ersten weiblichen Flugkapi-
tän der Welt ernannt. Bisher war dieser Titel in
Deutschland nur den verantwortlichen Piloten von
Verkehrsmaschinen vorbehalten. Von 1937 an konn-
ten Männer oder Frauen, die als Flieger in der
78
Luftfahrtforschung tätig waren, unter besonderen
Voraussetzungen diesen Titel erwerben. Die offiziel-
len Bedingungen dafür waren üblicherweise folgen-
de: Man mußte das 30. Lebensjahr vollendet haben,
mußte seit 6 Jahren ununterbrochen im Besitz eines
gültigen Flugzeugführerscheins sein, mußte in den
letzen 3 Jahren entweder in der Forschungsfliegerei,
in der Versuchs-, Erprobungs- oder Einfliegerei tätig
gewesen sein und mußte mindestens 2000 Flugstun-
den absolviert haben.
Die Ehrungen, die durch meine Ernennung zum
Flugkapitän sowie durch ein paar weitere Frauen-
Segelflug-Weltrekorde, die mir im Dauerflug, im
Streckenflug, im Zielflug und Zielflug mit Rückkehr
gelungen waren und die von Magazinen und Zeitun-
gen veröffentlicht wurden, veranlaßten Mutter wie-
der zu liebevollen Mahnungen in ihren Briefen.
„Hanna, Kind, Erfolg und Ehre
bergen in sich viel Gefahren,
und vor ihnen mög’ der Herrgott
täglich neu Dich treu bewahren.
Hanna, Kind, Erfolg und Ehre
bei den Menschen sind vergänglich.
Kraft und Ehr’ im eigenen Herzen
unantastbar lebenslänglich!
79
Hast bewußt Du dies im Herzen,
wird Dein Tagewerk gelingen,
wirst dann allen, die Dir nahen,
Freude, Kraft und Frieden bringen.“
80
Als Testpilot beim Anflug an Ballonseile mit der He-
111
Im Krieg 1944
15. Kapitel
Auslands-Missionen
Jedes Jahr zwischen 1934—1939 wurde ich entwe-
der allein oder mit anderen Kameraden in Zusam-
menarbeit unserer Forschungsanstalt mit dem Aus-
wärtigen Amt für einige Wochen bzw. einige Mona-
te ins Ausland geschickt, entweder um den Segelflug
in das jeweilige Land einzuführen, beim Aufbau des
Segelflugs zu helfen oder segelfliegerische For-
schungsaufgaben durchzuführen. So wurde ich
zweimal nach Finnland geschickt, einmal nach Por-
tugal, dann nach Schweden, Ungarn, England,
Frankreich sowie zu Forschungsexpeditionen nach
Südamerika (Brasilien und Argentinien), Anfang
1939 nach Lybien (Nordafrika) und kurz vor Aus-
bruch des Krieges nach Jugoslawien und Bulgarien.
1938 wurde ich von General Udet beauftragt, das
von Hans Jacobs konstruierte und von mir eingeflo-
gene erste voll-kunstflugtaugliche Segelflugzeug der
Welt, den „Habicht“, vor den Hunderttausenden von
Zuschauern der „International Air Races“ in Cleve-
land, Ohio (USA), vor-
81
zufliegen. Der „Habicht“ hatte die Festigkeit einer
damals modernen Jagdmaschine, und während der
Erprobung mußte ich nicht nur Loopings, Rollen,
Rückenflüge, sondern auch erstmals Loopings nach
vorne damit durchführen. Zum Schluß der Erpro-
bung mußte ich ihn im senkrechten Sturzflug bis zur
Endgeschwindigkeit erfliegen, d. h. aus 6000 m
Höhe im senkrechten Sturzflug so lange verharren,
bis die Geschwindigkeit sich nicht mehr steigerte.
Dies lag bei 440 km pro Stunde. Für ein Segelflug-
zeug und dessen Festigkeit eine recht beachtliche
Geschwindigkeit.
Die vielen Zuschauer in Cleveland rasten vor Be-
geisterung, denn sie hatten noch niemals lautlosen
motorlosen Kunstflug erlebt. Um ihnen auch wirk-
lich einen Eindruck der Stille zu verschaffen, wur-
den sämtliche Motoren der vielen Kunstflugmaschi-
nen und der an der Riesenschau teilnehmenden Mili-
tärmaschinen abgeschaltet. Dies wurde mir durch
eine Leuchtrakete hinauf signalisiert, damit ich, in
1200m Höhe wartend, mich von meinem Schlepp-
flugzeug löste. Das Schleppflugzeug entfernte sich
sofort so weit als möglich, damit die völlige Stille
für die Wirkung des lautlosen Kunstfluges nicht be-
einträchtigt würde. Dem Veranstalter dieser weltbe-
rühmten AIR RACES von Cleveland — Clifford
Henderson — begegnete ich danach zum erstenmal
82
1972 wieder, als ich in den USA von der Organisati-
on „International Order of Characters“ zum „Pilot
des Jahres 1972“ ernannt wurde. Diese Gemein-
schaft vereint Flieger verschiedenster Länder des
Westens, die im zweiten Weltkrieg gegeneinander
gekämpft haben und durch Leistungen besonders
hervortraten. Sie werden alle zum „Ritter“ geschla-
gen und erhalten dabei einen Spitznamen. Meiner ist
„Supersonic-Sue“ (Überschall-Susanne).
Obwohl Clifford Henderson und ich durch die 34
Jahre, die wir uns nicht mehr gesehen hatten, erheb-
lich älter ausschauten, erkannten wir uns sofort wie-
der, und sein erstes Wort, nachdem wir uns in die
Arme flogen, war: „Hanna — what you did 1938
with your ‚Habicht’ was outstanding. You have sto-
len the show!“*
Die Zeitungen berichteten damals in Amerika und
Deutschland begeistert darüber. Und als das Schiff,
die „Bremen“, mit meinem „Habicht“ und mir in
Hamburg wieder eintraf, wurde mir — noch auf dem
Schiff — von der Hafenpolizei als erster Gruß ein
Brief meiner Mutter überreicht. Und während
* „Hanna, was Du 1938 mit dem ,Habicht’ vorführ-
test, war ungewöhnlich. Du hast einfach die Schau
gestohlen!“
83
ich voll Jubel über das Erlebte stolz und glücklich
war, lenkten die Zeilen und Verse meiner Mutter
mein Glück wieder in die richtige Bahn, noch bevor
ich den Heimatboden betrat.
„..........
Jedes Wort, jeder Blick,
was immer Dich grüßt,
erfülle mit Demut Dich,
und fändest Du Schmach
statt Ruhm und Ehr’,
bleibe froh und unerschütterlich.
Nicht um Dank und Ehr’,
nein, aus Dank und Lieb’
fliegst Du fürs Heimatland.
Und was auch immer mit Dir geschieht,
Du bist in Gottes Hand!“
Diese wenigen Zeilen verliehen mir das richtige
Maß für alle Ehrungen, die mich in der Heimat er-
warteten.
84
16. Kapitel
Vom Einsatz im Krieg
Mit Ausbruch des Krieges hat General Ernst Udet
mich in seinen Stab berufen, d. h. ich wurde von der
Forschungsanstalt für Segelflug „entliehen“, weil es
in der deutschen Wehrmacht nicht möglich war, eine
Frau mit einem militärischen Dienstgrad einzuord-
nen und zu besolden. Mir war es damals völlig
gleich, von wem ich beruflich bezahlt wurde, ich
wollte nur meinem Land in der Not des Krieges hel-
fen. Welche Nachteile mir daraus erwuchsen, daß
ich allen damit zusammenhängenden Fragen so we-
nig Beachtung schenkte, zeigte sich nach dem Krie-
ge, als ich mittellos und unversorgt dastand und kei-
ne Stelle sich für mich zuständig ansah. Ich muß
deshalb fast sagen: Gottlob war ich 1942 bei der Er-
probung des ersten Raketenflugzeuges, Me-163, ab-
gestürzt und schwer verletzt. Ich hatte dabei nicht
nur meine Nase verloren, die künstlich wieder auf-
gebaut und zusammengenäht wurde, sondern ich
hatte vierfachen Schädelbasisbruch, Gesichtsschä-
delbrüche und andere schwere Verletzungen, die mir
noch
85
heute zu schaffen machen, die mir aber wenigstens
eine Unfallrente einbrachten, die einen wichtigen
Beitrag für meinen Lebensunterhalt bildet.
General Udet hatte sich ein kleines Sondererpro-
bungs-Kommando geschaffen, dessen Chef der
Konstrukteur und Institutsleiter Hans Jacobs und
dessen Testpilotin ich war. Alle Nöte der Frontflie-
ger und deren Änderungswünsche an Frontmaschi-
nen besprach Udet mit uns beiden. Er stellte uns auf
schnellstem Weg den jeweils erforderlichen Typ an
Militärmaschinen zur Verfügung, damit wir umge-
hend eine Änderung durchführen und erproben
konnten. Auf diese Weise ließ sich ein zeitraubender
bürokratischer Weg umgehen, bei einer Firma erst
einen Änderungsantrag stellen zu müssen, der dann
lange brauchte, bis er anlief. Durch diese Idee Udets
konnten wir der Front oft schnellste Hilfe leisten.
Als ich 1941 für Versuche dieses Kommandos —
diesmal handelte es sich um sehr gefährliche Bal-
lonkappversuche, bei denen ich mit Bombern viele
Male in Ballonseile flog — mit dem EK II ausge-
zeichnet wurde und 1942 für weitere Testflüge, die
den Kameraden an der Front das Leben zu erhalten
und zu retten helfen sollten, als erste und einzige
Frau das Eiserne Kreuz I. Klasse erhielt, kannte
86
die Begeisterung in meiner Heimatstadt keine Gren-
zen. Ich wurde vom Oberbürgermeister von Hirsch-
berg mit dem Auto in Berlin abgeholt und nach
Hirschberg gebracht. Alle Orte Niederschlesiens,
durch die unsere Wagenkolonne fuhr, waren ge-
flaggt. In vielen Dörfern standen die Schulkinder
Spalier, und wir mußten anhalten, während sie Lie-
der sangen und mir Blumen überreichten. Es hat
mich dies alles sehr ergriffen, aber ich wußte, daß es
nicht mir persönlich galt, sondern daß ich für die
Vielen gleichsam ein Symbol war für die in der
Heimat „kämpfenden Frauen“, die den tapferen Sol-
daten an der Front, die ihre Väter, Männer, Söhne
und Brüder waren, auf ihre Weise halfen. Nach drei
unvergeßlichen Tagen des Feierns, an denen ganz
Hirschberg sich jubelnd beteiligte, schrieb eine
Frontzeitung aus Anlaß meiner Auszeichnung mit
dem EK I einen „Offenen Brief der deutschen Solda-
ten“ an mich, mit beigefügtem Foto.
„Liebe Hanna Reitsch!
Da stehst Du nun vor uns, lachend, wie nur ein
glücklicher Mensch lachen kann, mit dem ganzen
Gesicht, vor allem den Augen. Wir müssen Dir heu-
te einmal schreiben, denn Du bist für uns das Sinn-
bild der schaffenden und kämpfenden deut-
87
schen Frau, ein Sinnbild unserer tapferen Heimat,
die wir im Herzen tragen.
Wir haben Deinen Weg verfolgt, lange schon. Jede
Nachricht über Dich haben wir zweimal gelesen.
Wir bewundern an Dir das Können und die Sicher-
heit, die Zähigkeit und die Tapferkeit. Wir bewun-
dern an Dir Dein strahlendes Lachen und — daß Du
trotz Deiner männlichen Taten Frau bist. Ein klein
wenig Liebe ist in unseren Gedanken, so wie wir
unsere Mutter und unsere Schwester lieben, wie wir
jeder deutschen Frau in Liebe zugetan sind.
Oft und oft hast Du Dein Leben gewagt. Du hast an
entscheidender Stelle mitgewirkt, neue Flugzeuge zu
schaffen, die uns helfen sollen. Das danken wir Dir.
Wir danken Dir, daß Du uns ein Beispiel gegeben
hast, welcher Taten die deutsche Frau fähig ist. Du
hast uns so ein Bild der kämpfenden Frau geschenkt,
edel und rein, erhellt durch die Glut des reinen Her-
zens, geadelt durch den selbstlosen Einsatz und den
Verzicht auf leichte Freuden.
Du bist unser Kamerad. Du trägst die Ehren- und
Leistungszeichen des Soldaten, und wir wissen, was
es heißt, sie zu verdienen. Du hast Gefahr und
88
Schwierigkeit überwunden, Not und Einsamkeit des
Kämpfers und die Last des täglichen Dienens. Du
kennst den Kampf und das glückliche Gefühl, Sieger
geblieben zu sein. Wir freuen uns mit Dir, daß Du
diese hohe Anerkennung gefunden hast.
Wir sind rauhe Soldaten. Wenn Du uns hier sähest,
wie wir in unseren Gräben liegen, uns auf den Win-
ter rüsten und ein wachsames Auge auf den Gegner
halten — so haben wir nichts mit Dir gemeinsam,
die Du Dich in die Lüfte erhebst. Wir wühlen uns in
die Erde, deren Schwere Du überwindest. Unser
Sprung herauf geht nur über die Deckung, wenn der
Befehl zum Angriff kommt. Aber wir sehen biswei-
len hoch oben über uns den Bussard und die kleinen
Falken: Deine Vögel. Wir hören und sehen die grau-
en Adler der Luftwaffe, Deine Kameraden, unsere
Kameraden. Das hebt unsere Gedanken von der Er-
de, empor in Deine Welt.
Wenn Du wieder die Gefahr um Dich spürst, so wis-
se, wir denken an Dich und wünschen Dir Kraft, ein
klares Auge und eine ruhige Hand. Und so grüßen
wir Dich, kämpfende deutsche Frau, wir ,Männer an
der Front’.“
Dieser Brief von der Front war für mich beglücken-
der als jede Auszeichnung, die ich erhalten habe.
89
All diese Ehrungen erfüllten meine Mutter nicht et-
wa mit Stolz, sondern weit mehr mit Sorge. In Ver-
sen malte sie mir das Leben, wie es in Wahrheit sei.
Denn im Glück und Erfolg sei man von Freunden
umringt und würde bewundert, in Leid und Not aber
seien es nur einige, ganz wenige, aber echte Freun-
de, die zu einem hielten
„..........
In den Tälern blühen Blumen,
kahl und einsam sind die Höh’n.
„Wohin Dich der Herrgott sendet,
wirst Du froh und furchtlos geh’n“
90
17. Kapitel
Das tragische Ende
Der Krieg brachte über Millionen von Menschen
schwerstes Leid und unaussprechliche Tragödien —
auch über mich und die Meinen. Zunächst fiel der
Mann meiner Schwester als Major vor Leningrad,
kurz bevor Heidi ihr viertes Kind bekam. Im Früh-
jahr 1945 wurde beim Herannahen der Russen
Hirschberg evakuiert, und meine Familie wurde wie
Millionen andere aus Ober- und Niederschlesien, aus
dem Sudentenland, aus Ostpreußen und Westpreu-
ßen, aus Pommern und aus Mecklenburg sowie aus
Brandenburg, aus der Heimat vertrieben. Die Mei-
nen fanden Aufnahme durch Freunde im Schloß
Leopoldskron in Salzburg. Kurz vor dem Einmarsch
der Amerikaner wurde bekannt, daß General Eisen-
hower beabsichtige, die aus dem Osten geflüchteten
Frauen und Kinder soweit wie möglich wieder zu-
rückzuschicken in die von Russen besetzten Gebiete.
Die geflüchteten Männer sollten alle gefangenge-
setzt werden. Vater hatte als Arzt in den zeitweise
zu-
91
rückeroberten Gebieten im Osten erlebt, was an
Frauen und Mädchen Grauenvolles geschehen war.
Bevor er also von seiner ohne ihn schutzlosen Fami-
lie eventuell getrennt würde, wollte er den Seinen —
die das Heiligste und Liebste bedeuteten, was ihm
auf der Welt anvertraut war — ein solches Schicksal
ersparen, wie er es nun ausweglos auf sie zukommen
sah. Mich selbst glaubte er beim abenteuerlichen
Flug mit Generaloberst Ritter v. Greim in das von
Russen eingeschlossene Berlin gefallen; und meinen
Bruder Kurt, falls er lebend zurückkehren würde,
wußte er seit 1940 glücklich verheiratet mit der
jüngsten Tochter des ehemaligen Leibarztes von
Kaiser Wilhelm II., Professor v. Niedner. So gab er
die ganze übrige Familie und sich selbst, einen Tag
vor dem Einmarsch der Amerikaner in Salzburg,
Gott zurück.
Nach dem fast unmöglich erschienenen Rückflug
aus dem brennenden Berlin mit Feldmarschall v.
Greim, der inzwischen Oberbefehlshaber der Luft-
waffe geworden war, wurden Herr v. Greim und ich
in Österreich durch Amerikaner gefangen genom-
men. Wir waren von Berlin über Lübeck, Schleswig,
nach Plön zu Großadmiral Dönitz geflogen und von
dort über Königgrätz, Graz nach Zell am See auf der
Suche nach Feldmarschall Kesselring. Wir hatten
uns terminlich um einen Tag geirrt und
92
glaubten, die Kapitulation würde am 9. Mai in Kraft
treten statt am 8. Mai 1945. Wir wollten ursprüng-
lich nach Auffindung von Feldmarschall Kesselring
von Zell am See nach Königgrätz zurückeilen. Dies
wurde durch unsere Gefangennahme durch die Ame-
rikaner vereitelt. Als Gefangene wurde ich vor die
sechs Grabhügel meiner geliebten Familie gebracht.
Ein deutsches Schicksal unter Millionen anderer.
Wenige Tage später ging Feldmarschall v. Greim
aus dem Leben. Er wurde aus unserer Haft im Not-
Luftwaffen-Lazarett in Kitzbühl von einem jungen
Amerikaner abgeholt. Er sollte als Gefangener nach
England und anschließend nach Nürnberg gebracht
werden. Er war der letzte Oberbefehlshaber der
deutschen Luftwaffe, die zum Zeitpunkt seiner Er-
nennung — am 26. April 1945 im Führerbunker in
Berlin — praktisch nicht mehr existierte. So hatte er
keinen Grund, sich dem Feind-Tribunal in Nürnberg
zu stellen, um dem Sieger Rede und Antwort zu ste-
hen für Dinge, für die nicht er die Verantwortung
trug und die er als eine rein deutsche Angelegenheit
ansah. Mit ihm schied einer der größten und edelsten
Offiziere der deutschen Wehrmacht aus dem Leben,
von jedem verehrt und geliebt, der ihn erlebt hatte.
Selbst die russischen Gefangenen, die im Bereich
seiner Luftflotte zu arbeiten hatten, betrachteten ihn
wie einen Vater.
93
Mit tiefstem Leid im Herzen folgten für mich 1 1/2
Jahre amerikanischer Haft, mit Stationen in Gmun-
den, in einer Gefängniszelle in Salzburg, Freising
und Oberursel/Taunus.
Damals konnte ich nicht fassen, daß man so viel
Leid ertragen könne, ohne dabei den Verstand zu
verlieren, denn auch der Mann, den ich heiß liebte,
verlor am Kriegsende sein Leben. Ein tiefes Glück
ward mir aber zuteil: Mein Bruder und seine Frau
waren am Leben geblieben und hatten heil die
Kriegsgeschehen überstanden.
94
18. Kapitel
Erneut in der Gefängniszelle
Es war Frühjahr 1947. Vier Monate zuvor war ich
aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen wor-
den. „Sorry — it was a mistake ...“ (Verzeihung, es
war ein Versehen) war alles, was ein amerikanischer
Oberst mir bei der Entlassung sagte.
Es war der erste Frühling, den ich nach dem Krieg in
Freiheit erlebte. Meine Heimat Hirschberg in Schle-
sien war verloren und von Polen besetzt, meine Fa-
milie lag in Salzburg begraben. Am 3. Mai jährte
sich ihr Todestag. Ich wollte aus diesem Anlaß an
ihre Gräber. Die Grenze nach Österreich aber war
„hermetisch abgeschlossen“. Zunächst machte ich
eine schriftliche Eingabe an den amerikanischen
Obersten der CIC in Frankfurt und bat darum, für
einen Tag nach Salzburg an meine Gräber fahren zu
dürfen. Das Gesuch wurde abgelehnt. Ich suchte den
amerikanischen Stadtkommandanten von Frankfurt
auf und trug ihm flehentlich diese Bitte vor. Vergeb-
lich! Ich wollte mich aber nicht — weder durch
Gegner noch durch Grenzen —
95
von meinen Gräbern trennen lassen. Fast alle Ver-
wandte, die mir noch geblieben waren, sind Öster-
reicher. An sie schrieb ich und bat sie, mir zu verhel-
fen, heimlich für einen Tag über die Grenze nach
Salzburg gelangen zu können. Sie setzten sich mit
einem der führenden österreichischen Segelflieger in
Verbindung, der ihnen bald die Adresse eines jungen
Salzburger Ingenieurs vermittelte, der mit seinem
Wagen ungehindert die Grenze nach Deutschland
und zurück passieren konnte. Er willigte ein, mich
heimlich hinüber zu bringen. Am Donnerstag, dem
2. Mai 1947, sollte ich mich in Reichenhall um 20
Uhr in einer bestimmten Pension einfinden. Freund-
liche Nachbarn verhalfen mir zum Reisegeld, um
mit dem Zug von Oberursel nach Reichenhall fahren
zu können. Es gab für Deutsche nur schäbigste Ab-
teile im Zug, die so überfüllt waren, als befänden
sich alle, die nicht eingesperrt waren, „unterwegs“.
Ich trug ein altes steirisches Kostüm und einen
„Kotzen“ (Umhang), und zur besseren Tarnung hatte
ich mir aus reinem Glas eine Brille anfertigen lassen,
die das Gesicht doch stark veränderte. So fuhr ich
unerkannt gen Süden. Als Reise-Lektüre liehen mir
Freunde ein schönes Buch von Gertrud von le Fort:
„Die ewige Frau“. Ich las fasziniert zwischen Kisten,
Kartons, Säcken, alten verschnürten Koffern und
Menschen eingequetscht. Die Fahrt verflog durch
die Lektüre in
96
Feldmarschall Ritter von Greim
1956 auf dem Fliegerlager Klippeneck
Windeseile. Als ich Reichenhall erreichte, hatte ich
das Buch beendet. Es hat einen großen Eindruck in
mir hinterlassen. Noch ahnte ich nicht, in welchem
Gegensatz sein Inhalt zu dem stand, was ich erleben
sollte.
In der Pension eingetroffen, erwartete mich ein jun-
ger Bursche, der höchstens 20 Jahre sein konnte und
sich als mein Begleiter vorstellte. Mir wurde freund-
lich ein Zimmer angewiesen, in dem ich bis Mitter-
nacht schlafen könnte. Pünktlich um 0.30 Uhr sollte
die Fahrt über die Grenze in seinem Wagen erfolgen.
Alle Papiere und die Kennkarte sollte ich in der Pen-
sion in einem verschlossenen Umschlag hinterlegen.
Als ich den jungen Mann fragte, wie er denn ohne
Papiere mit mir herübergelangen wollte, antwortete
er nur: „Bitte fragen Sie nicht, aber haben Sie Ver-
trauen; es geht alles klar.“ Mir wurde die Sache et-
was ungemütlich. Wußte der junge Mann eigentlich,
wer ich war und was auf dem Spiele stand? In Zei-
tungen und Büchern war ich während meiner Gefan-
genschaft, ohne es zu wissen und ohne mich wehren
zu können, auf eine politische Bühne gezogen wor-
den, auf die ich nie gehörte. Ich war begeisterte
Fliegerin — ich liebte mein Land und meine Heimat
— und ich liebte die Welt. Die fliegerischen Erfolge,
die ich errungen hatte, sollten „einer Deutschen“
wohl aber nicht
97
gelungen sein. So erfanden die Gegner politische
Märchen und machten mich zum „outstanding Na-
zi“. Und das hieß damals so gut wie „Verbrecherin“.
Damit hofften unsere Gegner, die Menschen gegen
mich zu beeinflussen. Ich wollte daher unter allen
Umständen vermeiden, daß mein Name mit einem
„heimlichen Grenzübergang“ in Verbindung ge-
bracht würde. Die Zeitungen würden ja nicht den
Tatsachen entsprechend berichten, sondern Sensati-
onen erfinden, z. B. daß die „gefährliche Nazi“ zur
Bildung einer neonazistischen Organisation versuch-
te, nach Österreich zu gelangen oder ähnliches. Be-
vor wir nach Mitternacht im Wagen abfuhren, teilte
ich ernst und nachdrücklich meinem jungen Beglei-
ter diese Sorge mit. Seine Antwort war ruhig und
lakonisch: „Es geht alles klar, machen Sie sich keine
Sorgen.“ Wir erreichten die Grenze. Er stellte etwas
seitlich von der Zollschranke den Wagen ab. Er bat
mich, sitzen zu bleiben, glaubte, in wenigen Minuten
zurück zu sein und verschwand im Haus der Grenz-
polizei. Er hatte mit einem befreundeten Grenzbe-
amten den Zeitpunkt und das geheime Durchschleu-
sen abgesprochen, nicht ahnend, daß die Dienstzeit
seines Freundes plötzlich geändert worden war. Es
vergingen 5 Minuten, 10 Minuten, und es wurde mir
langsam ungemütlich. Plötzlich trat an Stelle meines
Begleiters ein finsterblickender Grenzpolizist her-
aus. „Steigen Sie aus und folgen
98
Sie mir“, schnarrte er mich an. Mir stockte der
Atem. Ich betrat die Amtsstube. An einem Schreib-
tisch saß ein grimmig dreinblickender Beamter, der
zwei Pässe vor sich liegen hatte. Er maß mich von
oben bis unten und sagte dann mißtrauisch: „Sie sind
doch nicht 1,86m groß.“ Ich mußte lachen. „Nein“,
antwortete ich, „keine 1,55 m.“ „Da steht es aber“,
fuhr er fort. Ich trat zu ihm, schaute in den Paß, den
er in der Hand hielt, sah einen völlig fremden Na-
men und ein mir völlig fremdes Foto. „Das ist doch
nicht mein Paß“, sagte ich erstaunt. Nun ging mir
mit einem Male auf, was mein Begleiter gemacht
hatte. Ich entdeckte ihn in einer Ecke hockend, völ-
lig zerknirscht und stumm und hörte, wie einer der
deutschen Beamten jetzt zwei amerikanische Solda-
ten weckte, die auf Pritschen lagen und schnarchten.
„Bad German people“, sagte der Deutsche und rüt-
telte sie wach. Jetzt rollte eine mir unverständliche
Lawine an. Warum nahmen sie dieses Grenzverge-
hen so wichtig? Mein Begleiter wurde in ein anderes
Zimmer geführt und getrennt von mir verhört. Durch
Telefonate wurden weitere Polizisten herbeigerufen.
Wenn die meinen richtigen Namen erfahren würden,
der damals in Deutschland und Österreich fast jedem
bekannt war — ging es mir durch den Kopf —, wür-
den sie keine Erfindung scheuen, um diesen Grenz-
übergang politisch zu färben. Jeder sollte in seinem
99
Ansehen geschädigt werden, darin lag System. Ich
wußte, daß ertappte Grenzgänger vor den Richter
kamen; sie wurden hart mit Gefängnis bestraft. Ich
war entschlossen, meinen Namen nur dem Richter
preiszugeben, er würde ihn nicht mißbrauchen, auch
wenn ich meine Strafe zu verbüßen hätte. Dies alles
spielte sich rasch in meinen Gedanken ab. Ich erfand
einen Namen: „Maria Mattern“ nannte ich mich, aus
Salzburg stammend. Jetzt war alles, was ich sagte,
erfunden — kein Wort entsprach der Wahrheit. Es
folgte eine lange Befragung: Geburt, Zeit, Ort — wo
wohnhaft — Mädchenname der Mutter — Geburts-
und Wohnort der Eltern. Alle meine Antworten wa-
ren Erfindungen. Man suchte zu jener Zeit einen
dem Gefängnis entflohenen, sehr gefährlichen, jun-
gen, blonden Mörder H. Er hatte einen deutschen
Polizisten sowie zwei Amerikaner getötet. Es wurde
vermutet, daß er sich in dieser Gegend versteckt
hielt. Er muß meinem jungen Begleiter äußerlich
sehr ähnlich gesehen haben; denn man glaubte, in
ihm den entlaufenen Mörder gefunden zu haben. In
mir aber sah man die gefährliche Komplizin. Noch
ahnten wir beide nichts von dieser absurden Ver-
wechslung. Die Amtsstube füllte sich indessen mit
der herbeigerufenen Polizei. In getrennten Zimmern
wurden wir weiter verhört — jeder log. Meine Aus-
sagen wurden schriftlich niedergelegt, mir vorgele-
sen,
100
und ich mußte sie unterschreiben. Jetzt kam für mich
ein unerwartet schrecklicher Moment. Ich durfte ja
meinen Namen nicht preisgeben — so unterschrieb
ich mit „Maria Mattern“. Kaum hatte ich den fal-
schen Namen geschrieben, quälte mich das Gewis-
sen. War dies nun eine Urkundenfälschung? Hatte
ich jetzt wirklich ehrlos gehandelt? Solche innere
Qualen, wie sie mich jetzt peinigten, hatte ich wäh-
rend der vorherigen eineinhalbjährigen amerikani-
schen Gefangenschaft niemals verspürt. Da fühlte
ich mich völlig schuldlos — war eben aus Rache
von Seiten der Siegermächte eingesperrt worden.
Hier aber glaubte ich mich nun wirklich schuldig.
Meiner toten Familie — meinen lebenden Angehö-
rigen, würde ich jetzt ihnen allen Schande bereiten?
Ich war wie gelähmt bei diesem Gedanken. Vorerst
aber mußte ich versuchen, eisern durchzuhalten, bis
ich vor den Richter kam. Nach endlosen „Kreuzver-
hören“, in denen ich weiterlog, wurden wir in einen
Gefängniswagen verfrachtet. Es war ein Kastenwa-
gen mit einem winzigen, vergitterten Fenster. Vier
bewaffnete Grenzsoldaten saßen neben uns. Schwei-
gend rüttelten wir zum Reichenhaller Gefängnis.
Dort angekommen, wurde mein Begleiter zu den
Zellen der Männerabteilung geführt, ich zu denen
der Frauen. Nach kurzer Eintragung meines falschen
Namens „Maria Mattern“ wurde mir eine Zelle auf-
geschlossen. Es
101
war inzwischen gegen 5.30 Uhr in der Früh. „Da,
Mattern, ist Deine Pritsche“, fuhr mich eine Wärte-
rin an, und die Zellentür schloß sich hinter mir. Im
dürftigen Licht sah ich sieben junge Frauen vor mir.
Sie sahen schrecklich verwahrlost und schmuddelig
aus und waren gerade dabei, halb bekleidet, sich von
ihren Pritschen zu erheben. Mit bösen, feindlichen
Blicken musterten sie mich. Ich blieb zunächst, fast
wie erstarrt, an der Zellentür stehn. In meiner ganzen
vorherigen Gefangenschaft war ich immer in einer
Zelle allein gewesen. Jetzt sah ich mich diesen sie-
ben Frauen gegenüber, die mir wirkliche Verbreche-
rinnen zu sein schienen. „Mattern, was schaust Du
so dumm, Du glaubst wohl, was Besseres zu sein als
wir?“, herrschte mich bald eine von ihnen an. Und es
folgte ein höhnisches Gelächter der übrigen. Ich be-
gab mich stillschweigend zu der mir angewiesenen
Liege, die einen schmutzigen karierten Überzug hat-
te. In meinen Umhang gewickelt, legte ich mich nie-
der. Es quälte mich unaufhörlich meine vermeintli-
che echte Schuld. Urkundenfälscher, richtiger Ur-
kundenfälscher, hämmerte es in meinem Kopf. Wie
gut, daß meine Eltern diese Schande nicht mehr er-
leben mußten. Wie ein Mühlrad drehten sich diese
Gedanken in meinem Kopf. Inzwischen nahm die
Morgen-Toilette der übrigen Zelleninsassinnen ihren
Lauf. Zur allgemeinen Verrichtung der Notdurft be-
fand
102
sich ein stinkender Eimer im Raum und zum Wa-
schen eine einzige Schüssel Wasser für alle. Der
hörbare Vorgang auf dem Eimer wurde von den üb-
rigen Frauen mit solchen Schweinigeleien begleitet,
daß ich meine Ohren verschließen wollte. Was hatte
ich noch vor wenigen Stunden in Gertrud von le
Forts schönem Buch gelesen: Die polare Spannweite
im Wesen der Frau sei sehr viel größer als bei dem
Mann. Die Frau könne engelhaft gut sein, aber auch
schlechter als ein Mann schlecht sein kann. Die
Spanne reicht von der Madonna bis hin zur Dirne.
Die frivolen Witze hatten ein Maß erreicht, das mich
zum Platzen brachte vor Abscheu. Wie ein Ventil
machte ich plötzlich meinem Herzen Luft, verbot
mit lauter Stimme diese Schweinereien und appel-
lierte an das, was doch in jeder Frau, vor allem in
jeder Mutter, als göttliches Geheimnis wohnen wür-
de. Über die Hälfte von ihnen waren werdende Müt-
ter, man sah es sehr deutlich. Erst war es still nach
meinen Worten. Dann schluchzte plötzlich eine jun-
ge Frau auf, die halbnackt auf der Liege neben mir
saß und jetzt schreiend begann: „So wie Du, Mat-
tern, habe ich auch mal gedacht. Ich bin Polin — da
kamt Ihr Deutsche — ich war damals 15 Jahre alt,
und Ihr habt mich zum Arbeitseinsatz von meiner
Familie fortgeholt. Durch
103
die Einsamkeit und mein Heimweh habe ich mich
einem Mann hingegeben, den ich liebte, der mich
aber nur mißbrauchte und verließ. Und erst einmal
gefallen, tat ich dies wieder und wieder mit einem
Mann nach dem ändern, bis ich plötzlich ein Kind
erwartete, von dem ich nicht einmal wußte, wer sein
Vater war. Als es geboren war, tötete ich es, um
meinen Eltern diese Schande zu ersparen ...“, dann
erstickten ihre Worte in lautem Schluchzen.
Was wäre aus mir selber geworden, dachte ich, ohne
das behütete Elternhaus, wenn ich mit 15 Jahren,
von meiner Familie getrennt, in die Fremde geholt
worden wäre? Hätte mich vielleicht ein ähnliches
Schicksal ereilt? War es denn mein Verdienst, daß
ich so geborgen aufgewachsen bin? Wie sah die
Schuld wohl vor Gott aus? War die meinige nicht
vielleicht sehr viel größer, eben weil ich solch ein
Elternhaus und solche Erziehung genossen hatte ...?
Ich stand jetzt leise auf, setzte mich auf die Liege
meiner schluchzenden Nachbarin und drückte den
Kopf der jungen Frau mit den klebrigen, fettigen
Haaren und dem unsauberen Geruch an mich. Jetzt
war mir das alles gleich; selbst wenn ich mich mit
den schlimmsten Krankheiten anstecken würde. Ich
fühlte mich mit einem Mal wie eine Schwester
104
zu ihnen allen gehörig, mit ihnen in der Schuld ste-
hend als eine der ihren. Als ich ihr tröstend über die
klebrigen Haare strich, sagte ich leise: „Weißt Du, es
wäre mir selbst vielleicht auch nicht anders ergangen
als Dir, wenn ich nicht so behütet aufgewachsen wä-
re.“ Während unseres Gesprächs, das nun folgte,
kam eine nach der andern, sie stellten oder setzten
sich um uns herum. Die eine nur mit einem Schlüp-
fer bekleidet, die Haare strähnig ins Gesicht hän-
gend, die andere nur mit einem BH und einem Kor-
sett um den schwellenden Leib. „Na“, sagte die im
Schlüpfer, in eine Pause unseres Gesprächs hinein,
„na und was sagst Du zu mir, Mattern? Hast Du für
mich auch eine Entschuldigung?“ — Pause — „Was
soll ich Dir sagen“, antwortete ich erstaunt, „warum
bist Du denn hier?“ „Ich“, sagte sie, „ich habe mit
meinem Freund zusammen einen ,Ami’ getötet. Er
hat mich ja auch ständig verfolgt und stellte mir
nach.“ Dann gab sie eine genaue Beschreibung von
dem, was sich zugetragen hatte. Ich war entsetzt,
aber durfte es nicht zeigen, um das Gespräch nicht
abreißen zu lassen. Was blieb mir übrig, als leise zu
sagen: „Töten ist eine große Schuld, wir sind alle
schuldig.“ „Hast Du auch getötet, Mattern? Hier sind
doch nur solche in dieser Zelle.“ Ich erschrak, ließ
mir aber nichts anmerken. „Ich erzähle es Euch spä-
ter“, sagte ich. „Auch ich trage Schuld und möchte
nur
105
vor den Richter.“ „Ach, Mattern“, sagte eine andere,
„da ergeht es Dir schlimm, da gibt es keine Gnade,
der Richter ist ein Jude, da kannst Du als Deutsche
nichts erhoffen.“ Ich spürte, wie es mich in der Keh-
le würgte. Es ist mir gleich, dachte ich, nur meine
Lüge muß ich endlich loswerden.
Dazwischen kam das sogenannte Frühstück. Jeder
bekam einen Napf mit einer Flüssigkeit, in der ein
paar Kohlblätter schwammen und dazu ein trockenes
Stück Brot. Die Flüssigkeit rührte ich gar nicht an,
sondern kaute nur das Brot langsam. Ich hatte ja am
Abend zuvor in der Pension in Reichenhall ein köst-
liches Nachtmahl bekommen. Die anderen sieben
aber stürzten sich, von Hunger gepeinigt, auf alles,
was ihnen da Mageres vorgesetzt wurde. Kaum hat-
ten wir unsere Gespräche wieder aufgenommen, bei
denen mir eine nach der anderen erzählte, was sie
begangen hatte, hörte man wieder ein Schließen an
unserer Zellentür. Der Riegel wurde aufgeschoben,
und vor der geöffneten Tür standen mehrere Polizis-
ten: „Mattern, raustreten“, rief einer von ihnen. Mir
stockte das Herz. Die Blicke der Frauen ruhten vol-
ler Mitleid auf mir. „Denkt an mich“, sagte ich leise,
„ich komme bald wieder.“ Ich ließ meinen Umhang
und Steiererhut bei ihnen zurück. Vor der Tür nah-
men mich die Polizisten in ihre Mitte und sagten
nur: „Vorwärts, los!“ Sie
106
führten mich in einen großen Raum, in dem viele
Polizisten und Zivilisten, wahrscheinlich Kriminal-
polizisten, versammelt waren. Nachdem die Tür hin-
ter mir verschlossen worden war, begann ein Verhör.
„Sie haben bisher nur gelogen“, sagte der Dienstäl-
teste. „Jede Angabe von Ihnen wurde nachgeprüft
und stellte sich als Lüge heraus.“ „Ja“, antwortete
ich. „Also wie ist Ihr richtiger Name?“ „Den sage
ich nur dem Richter“, sagte ich entschlossen. „Wir
werden Sie schon zum Reden bringen“, fuhr der
Frager fort. „Wir raten Ihnen im Guten, jetzt die
Wahrheit zu sagen, bevor wir Methoden anwenden
müssen, die für Sie kein Spaß sein werden.“ Blitzar-
tig fiel mir alles ein, was ich je von Folter-Methoden
gehört hatte. Ich wollte tapfer sein, bis ich das Be-
wußtsein verlöre, nur meinen Namen durfte ich nicht
preisgeben. Ich betete und flehte um ein Wunder. In
diesem Augenblick schlug es energisch an die Tür.
Einer der Polizisten öffnete, und im nächsten Mo-
ment sprangen alle auf, klappten die Hacken zu-
sammen und einer machte die nötige Meldung. In
der Tür war ein goldbetreßter Polizei-Offizier er-
schienen. Dem Range nach schien er mir ein General
zu sein. Ich schaute ihm kurz in die Augen und mir
war klar: den hat mir der Himmel geschickt. In sei-
nen Augen leuchtete warme, echte Menschlichkeit.
Ich sprang von meinem Stuhl auf, lief auf ihn zu und
107
sagte leise, so daß es die anderen nicht hören konn-
ten: „Ich bin Flugkapitän Hanna Reitsch, Sie dürfen
es niemandem sagen. Ich wollte mich erst dem Rich-
ter zu erkennen geben, aber das scheint hier nicht zu
gelingen.“ Dem hohen Polizei-Offizier blieb der
Mund offen. „Wie“, sagte er leise, „das kann ja jeder
behaupten, wie wollen Sie das beweisen, H. R. zu
sein?“ „Bitte“, sagte ich leise, „schicken Sie einen
Ihrer Beamten mit einem Brief von mir in jene Pen-
sion, in der ich meine Papiere hinterlegt habe. Man
wird sie ihm in einem verschlossenen Umschlag ge-
ben.“ Er reichte mir einen Zettel, auf den ich rasch
das Nötige schrieb und in einen Umschlag steckte,
den ich verschloß und adressierte. Während der Po-
lizei-Chef einen seiner Beamten beauftragte, mit
dem Motorrad rasch dorthin zu fahren und auf Ant-
wort zu warten, nahmen auf ein Zeichen des Chefs
hin alle übrigen wieder ihren Platz ein. Er aber setzte
sich mit mir in eine Ecke des Zimmers und sprach so
leise, daß es die anderen nicht hören konnten: „Ja,
wie kommen Sie denn hier in das Gefängnis?“ Ich
erzählte, was sich bisher zugetragen hatte. Er horch-
te aufmerksam, aber immer noch mißtrauisch zu. Er
hatte viele Bilder von mir seit Jahren in Zeitungen
und Magazinen gesehen. Darin aber schien ich im-
mer groß und lang zu sein, vielleicht weil ich schmal
bin. So klein, wie ich wirklich bin, hatte er mich
108
nicht vermutet. Nun wollte er wissen, wie der letzte
Flug in das eingeschlossene Berlin und in den Hit-
lerbunker gewesen wäre, wenn ich tatsächlich H. R.
sei. Ich erzählte ihm ganz leise die ganze aufregende
Geschichte, der er mit größter Spannung lauschte. Es
hätte der Papiere gar nicht mehr benötigt. Ihm war
längst klar, wer ich tatsächlich war, bevor er den
Umschlag öffnete, der ihm inzwischen ausgehändigt
wurde. Dann sagte er leise zu mir: „Ich muß jetzt
allen diese Nachricht mitteilen, ich werde sie zum
Schweigen verpflichten. Es ist dies nötig, da eine
ungeheuerliche Verwechslung vorliegt. Als er sich
nun mit klarer Stimme an die Anwesenden wandte
und ihnen sagte, daß sie einem Irrtum verfallen seien
und wer ich in Wirklichkeit sei, ging ein erstauntes
Raunen durch den ganzen Raum. Jener unter ihnen,
der mich an der Grenze verhört hatte, sagte entsetzt:
„Aber warum haben Sie mir das nicht gleich ge-
sagt?“ Da antwortete ich ihm ärgerlich: „Mußten Sie
als erstes zwei Amerikaner wecken, um einen eige-
nen Deutschen, sogar eine Frau, zu verhaften?“ Der
Angesprochene wurde rot bis über beide Ohren. Nun
aber erfuhr ich voller Staunen durch den „General“,
für wen sie meinen Begleiter und mich gehalten hat-
ten. Ich konnte nun auch meinen Begleiter diesbe-
züglich völlig entlasten. Die Enttäuschung, nicht den
gefährlichen Mörder gefunden zu haben, war bei
ihnen allen
109
groß. Nun aber eröffnete mir der hohe Polizei-Chef,
daß er leider nicht befugt sei, mich aus dem Gefäng-
nis zu entlassen, ich müßte bedauerlicherweise wie-
der in die Zelle zurückgebracht werden. Es war Frei-
tag vor Pfingsten, also bis zum folgenden Dienstag
müßte ich noch in der Zelle bleiben, wenn es ihm
nicht gelänge, noch am selben Tag den Richter zu
erreichen. Der Abschied von allen war freundschaft-
lich, besonders von meinem Retter, den mir der
Himmel geschickt zu haben schien. Ich selbst aber
war innerlich froh, wieder zu meinen Frauen in die
Zelle zu kommen. Ich war davon überzeugt, daß ich
ihnen durch ihr so rasches Vertrauen zu mir wirklich
helfen könne. Wie schön schien sich dazu das
Pfingstfest zu eignen. Ich bat meine Begleiter, sich
nicht anmerken zu lassen, wer ich sei, wenn sie mich
wieder in der Zelle ablieferten. Kaum hatte sich die
Zellentür wieder hinter mir geschlossen, umringten
mich die Frauen voller Neugier und Mitgefühl:
„Mattern“, riefen sie, „wir hatten ja solche Angst um
Dich.“ Und eine sagte scheu: „Ich fing zum ersten
Mal an, wieder zu beten, für Dich zu beten, Mat-
tern.“ Ich war bewegt und spürte einfach, daß ich zu
ihnen gehörte. Jetzt wollten sie natürlich genau wis-
sen, was sich zugetragen hatte. Ich erzählte nur so
viel, daß mir gesagt worden sei, ich hätte bisher aus-
schließlich gelogen in meinem Bericht. Um alles
andere, was
110
geschehen war, zu umgehen, deutete ich nur an, daß
ich betont hätte, die volle Wahrheit erst dem Richter
zu sagen. Ich würde ihnen später über alles berich-
ten, als erster aber käme der Richter dran.
Es war in die Zelle eine gute Atmosphäre einge-
kehrt. Wir sprachen über viele Probleme, meist sehr
ernste, aber zuweilen wurde auch fröhlich gelacht.
Nach zwei Stunden wurde abermals die Zellentür
geöffnet. Ein Gefängniswärter erschien und sagte:
„Mattern, bitte zum Richter.“ Ich atmete direkt auf,
denn die Schuld der vermeintlichen Urkundenfäl-
schung lag noch immer schwer auf meinem Gewis-
sen.
Der jüdische Richter empfing mich sehr freundlich.
Ich konnte es kaum abwarten und sagte ihm gleich:
„Ich habe, glaube ich, etwas entsetzlich Schlimmes
getan: Urkundenfälschung“, und dann erzählte ich
ihm alles. Er horchte schweigend zu, und als ich en-
dete, fragte er mich schmunzelnd: „Sind Sie schon
einmal mit dem Fahrrad übers Trottoir gefahren?
Na, sehen Sie — schlimmer ist dies auch nicht, was
Sie getan haben. Es ist eine Verfehlung oder Falsch-
beurkundung, aber niemals eine
,Urkundenfälschung’.
Jetzt holen Sie rasch, was Sie noch in der Zelle ha-
ben und kommen mit mir nach Hause. Meine
111
Frau erwartet uns zum Tee.“ Ich war sprachlos vor
Freude, vom qualvollen Druck meiner großen
Schuld so plötzlich befreit zu sein. Noch konnte ich
mein Glück kaum fassen. Dann aber fielen mir
plötzlich meine Frauen in der Zelle ein. Ich bat den
Richter inbrünstig, mich über Pfingsten bei ihnen zu
lassen. Er lehnte dies scharf ab und sagte, er dürfe
dies nicht zulassen, wenn ein Verhafteter als un-
schuldig erklärt wird. Er geleitete mich zu meiner
Zelle, ließ sie offen, damit ich meine Utensilien ho-
len könnte. Ich versuchte traurig, den Frauen in Eile
zu erklären, daß ich von ihnen fort müßte und ent-
lassen sei. Eine nach der anderen fiel mir weinend
um den Hals. Ich weinte auch. Ich aber war mir ganz
sicher, daß ich alles versuchen würde, wieder zu ih-
nen zurückzukommen.
Obwohl mir der gütige Richter nach dem gemeinsa-
men Tee in seinem Hause anbot, mit Genehmigung
des Polizeichefs und in Begleitung eines Polizisten
mich hinüber an meine Gräber zu bringen, schob ich
den Zeitpunkt dafür noch unbestimmt hinaus, um
etwas Wichtiges vorher zu erledigen. Sein Gewissen
wollte ich nicht unnötig belasten. Er selbst mußte
mir ja einen Besuch im Gefängnis ablehnen. Ich
wollte aber unbedingt zu diesen Frauen zurück, de-
nen vielleicht nur ich helfen konnte. Sie alle standen
vor einem Ungewissen Schicksal und
112
vor einer schweren Strafe. Sie waren resigniert, ver-
bittert, haßerfüllt und vor anderen verschlossen.
Vielleicht waren sie durch Liebe zu retten. Aber der
Weg war weit und schwer, und zunächst ging es da-
rum, die Schuld einzusehen und die ihnen auferlegte
Strafe innerlich anzunehmen. Sie liebten mich, und
sie spürten, daß ich sie ins Herz geschlossen hatte.
Ich würde versuchen, mich, während sie die Strafe
zu verbüßen hatten, um sie zu kümmern. Wie aber
kann man Menschen auf einen guten Weg zu brin-
gen versuchen, wenn sie hungern und körperlich
schmutzig bleiben müssen? Dies erst zu ändern,
schien mir die wichtigste Voraussetzung. Es war
Samstag vor Pfingsten. Sobald die Läden geöffnet
waren, lief ich von einem Nahrungsmittelgeschäft
zum ändern. Alles Gute und Nahrhafte gab es nur
auf Karten, ich aber hatte keine. Ich riskierte es, auf
die Gefahr hin, an Gegner zu geraten und sagte je-
weils dem Geschäftsinhaber meinen Namen. Ein
freundliches Lachen ging ausnahmslos über die Ge-
sichter, und die Leute holten mir heimlich die
schönsten Dinge hinter dem Ladentisch hervor.
Ebenso erging es mir in einer Drogerie, in der ich
viele nützliche Sachen für meine Frauen erstand.
Dann lief ich, bepackt mit den köstlichsten Dingen,
zum Gefängnis: mit Butter, Schinken, Wurst und
Brot, mit Käse und Sardinen; auch mit allem, was
eine Frau braucht, um körperlich sauber zu sein
113
und sich äußerlich auch schön und gepflegt herrich-
ten zu können. An der Gefängnispforte wurde ich
wie eine alte Bekannte begrüßt, und der Pförtner bat
mich gleich um ein Autogramm, das er durch mei-
nen raschen Aufbruch nicht mehr hatte erbitten kön-
nen. Ich gab ihm dies, bat ihn aber, mich so lange als
irgend möglich in meine alte Zelle zu den Frauen zu
führen. Er lehnte erschreckt ab, da er fürchtete, ohne
offizielle Erlaubnis dazu, seine Stelle zu verlieren.
Nach langer Diskussion, in der ich ihn beschwor,
nur seinem Gewissen vor Gott zu folgen, denn viel-
leicht könne in diesem Augenblick niemand anders
diesen Frauen für die Zukunft wirklich helfen außer
mir. So ließ er sich schließlich erweichen, auf die
Dauer von 1 bis 2 Stunden den Besuch in der Zelle
zu ermöglichen. Mit vor Freude klopfendem Herzen
erwartete ich das öffnen der Zellentür, die der Pfört-
ner gleich wieder hinter mir verschloß. Er selbst be-
ruhigte sich, daß wohl am Samstag vor Pfingsten
bestimmt keine Kontrolle kommen würde. Wie sehr
aber war ich selbst enttäuscht, als keine der Frauen
mir entgegenkam. Das Band zwischen uns schien
wie zerrissen. Scheu und stumm blieb jede an ihrem
Platz. „Was ist denn los?“ fragte ich traurig. „Freut
Ihr Euch nicht, daß ich zu Euch zurückgekommen
bin? Ich habe Euch viel Schönes mitgebracht, schaut
doch erst mal her.“ Das vertraute „Du“ war
114
aber für sie gefallen. „Jetzt wissen wir, wer Sie
sind“, sagte eine von ihnen verlegen — und noch
immer verließ keine ihren Platz. „Ach Unsinn“, sag-
te ich, „für Euch bleibe ich die ,Mattern’, der Name
spielt doch keine Rolle. Schaut, kommt doch her,
mögt Ihr das alles wohl?“ Ich öffnete auf dem Tisch
ein Paket nach dem ändern. Erst neugierig, dann mit
Jubelrufen umringten sie den Tisch voller Gaben.
Ich begann mit einem Messer aus meiner Tasche
ihnen köstliche belegte Brote herzurichten, die sie
mit größtem Genuß verzehrten. Nachdem sie aus-
giebig gegessen hatten und alles übrige verteilt war,
kam bei ihnen die bange Frage, warum ich denn in
ihre Zelle gesperrt worden und dadurch zu ihnen ge-
kommen wäre. Ich erzählte nun alles, was geschehen
war. Vor allem bewegte sie bei meiner Erzählung
das Schicksal meiner Familie, das ich angedeutet
hatte und deren Gräber ich ja eigentlich besuchen
wollte. Sie waren keineswegs stumpf, sondern voll
echtem Mitgefühl. Der Panzer, den sie um ihr Inne-
res gelegt hatten, war wie zerschmolzen. Nun aber
baten sie, ich möge ihnen aus meinem Fliegerleben
berichten. So begann ich vom Fliegen zu erzählen,
was ich ja gar nicht vorhatte, und wob dort hinein
den wundersamen Einfluß meiner Mutter. Spannen-
de fliegerische Abenteuer verquickte ich mit vielem,
was durch meine Mutter für mein Leben wesentlich
geworden ist. Für die
115
Zuhörerinnen fast unmerklich lenkte ich von meinen
Erzählungen und meiner Mutter auf jede einzelne
von ihnen über. So streiften wir immer wieder vom
Erleben des Fliegens und vom Segen meiner Mutter
auf das Leben über, was jetzt vor ihnen stünde und
so schwer zu meistern war. Jetzt galt es ja, mit voller
Wahrheit vor dem Richter zu beginnen, denn nur auf
Wahrheit könne man ein neues Leben aufbauen, das
zum Segen werden kann und soll. Sie hatten dabei
viele ernste Fragen: wie denn ein so verpfuschtes
Leben wie das ihre doch noch zum Segen werden
könne und was denn überhaupt hieße „zum Segen
werden“? Da sagte ich ihnen auswendig viele Verse
meiner Mutter, in denen sie wundersam die Antwort
fanden. Jetzt füllten sich ihre Augen mit Tränen, und
sie baten mich, ein paar Verse für sie niederzu-
schreiben.
Während ich dies tat, öffnete sich wieder Schloß und
Riegel. Der Pförtner erschien und sagte: die Zeit sei
endgültig vorbei. Zum Abschied umarmten wir uns
unter Tränen, und sie versprachen mir gleich nach
Oberursel, meinem damaligen Wohnort, zu schrei-
ben. Schweren Herzens verließ ich sie und das Ge-
fängnis.
Nach Pfingsten fuhr ich, begleitet von dem gütigen
Richter und einem Polizisten, hinüber nach Salz-
116
burg an meine Gräber, die ja das Ziel meiner Reise
waren.
Als ich nach Tagen wieder in Oberursel eingetroffen
war, lag dort ein Brief von meinen Frauen aus der
Zelle, ein Gemeinschaftsbrief. Ein gepreßtes Gänse-
blümchen aus dem Gefängnishof von Reichenhall
lag dabei: „Unsere liebe Hanna Reitsch! Für uns wa-
ren die Stunden, die Sie bei uns waren, als hätte sich
der Himmel geöffnet. Sie sollen wissen, daß Sie von
nun an auch auf uns als Frauen stolz sein können...“
Ich schrieb ihnen sofort bewegt zurück, denn ich
wußte, wie wichtig es war, jetzt schriftlich in Ver-
bindung zu bleiben. Doch von nun an blieb jeder
Brief von mir ohne Antwort, bis ich traurig und ent-
täuscht aufhörte zu schreiben. Erst später erfuhr ich,
welch böse Kräfte das Band zwischen uns zerrissen
hatten. Erst nach einem Jahr erreichte mich nämlich
ein Brief von einer dieser Frauen. Er war heimlich
durch einen Boten, ohne Postmarke, in meinen
Briefkasten gesteckt. Darin stand, daß sie meine
Briefe erhalten hätten, aber an ihrem Inhalt erkann-
ten, daß alle Briefe von ihnen an mich abgefangen
würden. Auch wenn wir nie mehr voneinander hören
würden, so wüßten sie durch meine vorangegange-
nen Briefe, daß ich für sie beten und an sie glauben
würde. Ich solle diesen Glauben an sie niemals auf-
117
geben. Dies Wissen würde ihnen Kraft verleihen.
Lange Zeit hob ich diesen Brief auf und denke noch
heut im Gebet an diese Frauen.
118
19. Kapitel
Die verschwundenen Briefe
Eines Tages, lange nach meiner Rückkehr aus Salz-
burg, kam ein Geschwisterpaar aus Ludwigsburg,
Christof und Sabine, zu mir nach Oberursel. Es wa-
ren die zwei ältesten Kinder des Pfarrers K., die wie
ich aus Niederschlesien stammten und von dort ver-
trieben waren. Christof war der Führer einer Ju-
gendgruppe des Versöhnungsbundes, und als deren
Vertreter war er zu mir gekommen. Sie planten eine
dreitägige Tagung in M. mit vielen Vorträgen. Ich
sollte einen Vortrag übernehmen, das Thema stünde
mir frei. Obwohl ich von dieser Art organisierter
Versöhnung nicht viel hielt und überdies mir diese
Institution ein allzu intellektuelles Unternehmen
schien, das mit echter Versöhnung wenig zu tun hat-
te, gab ich ihrer Bitte nach und war bereit, über das
Thema zu reden: „Unser Beitrag zum Frieden.“ Sie
fuhren glücklich, mich gewonnen zu haben, wieder
ab. Nach einer Woche aber standen sie erneut vor
mir, diesmal aber aufgebracht und erregt. Die Leite-
119
rin des gesamten Versöhnungsbundes, Frau X., die
zugleich Landtagsabgeordnete war, hätte ihnen ent-
setzt untersagt, „die böse Nazi-H. R.“ zur Jugendta-
gung einzuladen oder sie gar noch einen Vortrag
halten zu lassen. Christof aber hätte ihr erklärt, daß
die Jugendtagung ohne mich nicht stattfinden solle.
Er war sogar bereit, wenn die Erlaubnis nicht erteilt
würde, die Führung niederzulegen und aus der Or-
ganisation auszutreten. Nun aber kamen sie, um
mich zu fragen, ob ich trotz der ablehnenden Hal-
tung, die mir dort entgegengebracht würde, zu ihnen
kommen wollte. Ich möge sie doch nicht im Stich
lassen. Natürlich war ich bereit, was auch immer
mich erwarten würde.
Der Tag nahte, an dem ich mit dem Zug nach Lud-
wigsburg reiste, wo ich von den Geschwistern K.
abgeholt wurde. Sie schienen recht bedrückt und be-
sorgt zu sein, denn Frau X. hatte viele Menschen
eingeladen, darunter Amerikaner, Geistliche, evan-
gelische und katholische, alle sehr viel älter, als wir
waren, und vor allem hielten sie sich für große Geg-
ner der Vergangenheit und Gegner solcher Men-
schen, die während des 3. Reiches Erfolge hatten.
Ich war zunächst gespannt, was mich erwartete. Am
Tagungsort eingetroffen, traf ich zunächst ungefähr
40 Jugendliche, meist Studenten, die, wie Christof
mir berichtet hatte, große Idealisten im 3. Reich ge-
wesen waren. Sie alle
120
waren vor dem Studium Jugendführer in der HJ ge-
wesen. Nach dem verlorenen Krieg und nach allem,
was sie seitdem ausschließlich nur noch hörten, wie
schlecht oder verbrecherisch alles gewesen sei, für
das sie gelebt hatten, war in ihnen alles zusammen-
gebrochen. Sie glaubten nun resignierend an gar
nichts mehr. Sie waren noch zu jung, um zu begrei-
fen, wie es Völkern und Nationen nach verlorenen
Kriegen ergeht und wie jegliche Lüge über Vergan-
genes von den neuen Machthabern systematisch in
die Herzen aller gelegt wird. So verlor in diesen jun-
gen Menschen all das, was ihnen Werte bedeutet
hatte, seinen Bestand.
Voll Zweifel, aber mit Freundlichkeit begrüßten sie
mich. Mit eisiger Kälte aber behandelten mich die
übrigen, die alle älter waren als ich. Keiner gab mir
die Hand. Sie wendeten sich wie verabredet um,
wenn ich auf sie zutrat. Nur Frau X. gab mir notge-
drungen kurz, aber äußerst ablehnend die Hand. Ich
war wie erstarrt und entsetzt von dieser kalten,
feindlichen Atmosphäre. Und so etwas nannte sich
„Versöhnungsbund“? Bald darauf begann die Ta-
gung. Frau X. begrüßte alle Anwesenden und beton-
te, daß wir alle uns um des gemeinsamen Zieles wil-
len „duzen“ sollten. Ich fand dies völlig unange-
bracht unter Erwachsenen, die sich bisher noch gar
nicht gekannt hatten. Als nächstes verkündete sie,
121
daß durch die große Zahl an gemeldeten Vorträgen
bedauerlicherweise einige ausfallen müßten, sie
nannte die Themen, natürlich auch das Thema mei-
nes Vertrages. Den Führer der Jugendgruppe packte
der Zorn. Ich zwinkerte ihm beruhigend zu. Der Tag
verlief in bedrückter Stimmung. Als ich am Abend
in dem Gemeinschafts-Schlafsaal der Frauen auf
meinem Bett lag, hatte ich den Eindruck, nur ein
Wunder könne hier noch die Situation retten. Ich
selbst vermochte nichts dazu zu tun. Es war läh-
mend, wie eine Ausgestoßene behandelt zu werden.
Der Himmel aber half in wundersamer Weise. Als
wir am nächsten Morgen alle beim Frühstück saßen,
wurde Frau X. ans Telefon gerufen und wegen einer
wichtigen Angelegenheit den Vormittag über in den
Landtag nach S. gebeten. Der Wagen, der sie holen
solle, sei schon unterwegs. Sie teilte uns dies bedau-
ernd mit und fügte hinzu, wir sollten durch Spazier-
gänge die Gelegenheit nutzen, uns kennenzulernen.
Kaum war ihr Wagen außer Sicht, trat Christof an
meinen Tisch und sagte: „Bitte nutzen Sie die Gele-
genheit, der ganze Vormittag gehört jetzt Ihnen.“ Da
mir klar war, daß die meisten der Anwesenden ei-
nem angekündigten Vortrag von mir fernbleiben
würden, beschloß ich die Zeit zu nutzen, während
alle beim Frühstück saßen. Ich schlug an meine Por-
zellantasse, stand auf und sagte fröhlich: „Ich weiß,
daß Sie entsetzt sind, wenn ich jetzt das Wort er-
122
greife und vor allem entsetzt sind, daß ich überhaupt
hier unter Ihnen bin. Man muß Ihnen ja Sonderbares
von mir erzählt haben, aus Ihrem Verhalten gegen
mich zu schließen. Wenn Sie mich aber für eine
,gefährliche Nazi’ halten, so müßten Sie sich doch
als Mitglieder des Versöhnungsbundes freuen, sich
mit mir versöhnen zu können. Oder wollen Sie sich
nur mit Versöhnten versöhnen?“ Ein leises Schmun-
zeln ging über ihre Gesichter, und alle hörten mir
jetzt interessiert zu. „Ich will Ihnen die Versöhnung
leichter machen“, fuhr ich fort, „und Ihnen aus mei-
nem Leben erzählen.“ Und dann begann ich von
meinem Elternhaus, vom Anfang der Fliegerei zu
sprechen, warum und für was ich Flugkapitän ge-
worden war und die Ehrungen und Auszeichnungen
im Krieg erhalten hatte. Es waren dies alles Einsätze
gewesen, bei denen man das eigene Leben ständig
aufs Spiel setzte, um das Leben vieler anderer retten
zu helfen.
Es war still im Frühstückssaal — so still, daß man
eine Stecknadel hätte fallen hören können. Auch er-
zählte ich ihnen, wie ich zu jenem abenteuerlichen
letzten Flug in das von Russen eingeschlossene Ber-
lin kam mit dem damaligen Generaloberst Ritter v.
Greim und was ich mit ihm im Bunker erlebt hätte.
So ganz anders war dies in Wirklichkeit als all die
verschiedenen Fälschungen, wie das Buch des engli-
schen Historikers Trever Roper „Die letzten Tage
123
Hitlers“, der einen Augenzeugenbericht von Hanna
Reitsch benutzte, den ich in Wirklichkeit nie ge-
macht, nie gesehen und nie unterschrieben hatte. Es
war atemlose Stille, als ich die Fälschungen be-
schrieb, die wiederum aus Trever Ropers Buch von
Zeitungen und Magazinen übernommen worden wa-
ren.
Nach einer Stunde endlich kam ich auf mein eigent-
liches Thema, nämlich „Unseren Beitrag zum Frie-
den“, der bei uns selbst begänne, bei jedem einzel-
nen. Ich führte dies vom kleinen persönlichen Be-
reich beginnend aus und endete mit dem, was mich
das Erleben des Fliegens für den Frieden lehrte;
denn hoch über der Erde gäbe es keine Grenzen,
keine Völker, keine Farben, keine Rassen und keine
Sprachen. Dort bilde alles eine Einheit...
Erst als der Wagen von Frau X. angerollt kam, ende-
te ich. Und als sie eintrat, rauschte gerade der Beifall
auf. Frau X. war bestürzt. Sie spürte, daß sie diese
kleine Schlacht verloren hatte. Tiefbeglückt aber
kam Christof auf mich zu. Er packte meine beiden
Hände. Tränen standen ihm vor Dank und Bewe-
gung in den Augen. Bald war ich von den übrigen
Jugendlichen umringt. „Wir hätten Ihnen noch viele
Stunden zuhören können“, sagte einer nach dem än-
dern. „Woher nehmen Sie
124
nur die Kraft und den Glauben an den Sieg des Gu-
ten und an den Sieg der Wahrheit, woher den Glau-
ben an Gott, an die Menschen und an die Zukunft
überhaupt, nach allem, was man Ihnen im Gefängnis
angetan hat — nach all dem Leid, das Ihnen Gott
geschickt hat durch den Tod all Ihrer nächsten Men-
schen und durch alle Verleumdungen über Sie?“
„Woher ich den Glauben nehme, davon erzähle ich
Euch, wenn wir noch Zeit dazu finden im Laufe der
Tagung.“ „Das müssen wir ganz einfach“, sagte
Christof. „Könnten Sie im Anschluß an diese Ta-
gung nicht noch einen Tag länger bleiben — ganz
für uns allein?“ Begeistert schlug nun Christof K.
vor, sich in der Glöckner-Wohnung des ev. Kirch-
turms zu treffen; die Wohnung stünde leer, er würde
seinen Vater um Erlaubnis bitten, sie dafür benutzen
zu dürfen. Die Tagung nahm nun ihren vorgeschrie-
benen Verlauf, aber es war eine wundersame Verän-
derung bei allen Anwesenden mir gegenüber einge-
treten, gegen die Frau X. nicht anzukommen ver-
mochte. Und jede Pause zwischen Vorträgen wurde
von den Jugendlichen, aber auch von vielen der Er-
wachsenen genutzt, mir Fragen zu stellen. Die Ju-
gendlichen aber drängte es vor allem, mir ihre eige-
nen Probleme, mit denen sie nicht fertig wurden,
aufzudecken. Erst als wir nach der Tagung in der
Glöcknerwohnung uns alle wieder trafen, konnte ich
ungestört auf alle die
125
vielen schweren Fragen antworten. Oft blieb ich eine
Antwort schuldig, wenn ich selbst vor Rätseln stand.
Dann holte ich die Verse meiner Mutter hervor, die
ich immer mit mir führte. An die 70 Gedichte waren
mir während meiner Gefangenschaft wieder einge-
fallen. Ich las ihnen eins nach dem andern vor. Kei-
nes durfte ich auslassen, sie wollten alle hören und
waren sehr bewegt. Sie spürten aus jeder Zeile die
echte und dabei so schlichte Frömmigkeit, die Liebe
zum Land und zur Heimat. Sie fühlten den starken
Glauben aus ihren Worten an Werte, die für sie ins
Wanken geraten waren. Aber nicht nur dieses Hei-
ligtum der Verse meiner Mutter gab ich preis, auch
noch einen anderen kleinen Kraftquell: Während
meiner Gefangenschaft in Oberursel lernte ich den
früheren Finanzminister Lutz Graf Schwerin v.
Krosigk kennen, der durch diese gemeinsame Zeit
mir ein naher väterlicher Freund geworden war. Un-
sere Gespräche, unsere Sorgen und Qualen galten
während unserer gemeinsamen Inhaftierung dem
eigenen Land und der Wahrheit über die Vergan-
genheit, und sie galten der Sorge um die Zukunft
Deutschlands. Auf diese Gespräche hin schrieb mir
Graf Schwerin v. Krosigk eine Reihe von Gedichten,
in denen es ausschließlich um Deutschland und um
den deutschen Menschen ging. Auch diese Gedichte
führte ich als eigenen Trost mit mir und las
126
sie nun den Jugendlichen vor. Sie wurden nicht we-
niger bewegt aufgenommen wie jene meiner Mutter.
Darin fanden sie Antwort auf ihre vielen Fragen und
begriffen, daß ihre Liebe zu Deutschland und ihr
Einsatz dafür nicht umsonst gewesen war. Und sie
verstanden auch, daß das nun zerbrochene Land ih-
ren vollen Einsatz in noch viel stärkerem. Maß benö-
tige als früher.
Bei unserem Abschied bat jeder darum, mir in volls-
tem Vertrauen schreiben zu dürfen. Da ich nicht fal-
sche Hoffnungen erwecken wollte und mir klar war,
daß ich eine Korrespondenz mit all diesen 40 Ju-
gendlichen niemals erfüllen könnte, so versprach
ich, jedem von ihnen einmal ganz ausführlich zu
antworten. Jeder könne sich alles vom Herzen
schreiben, und niemals würde ein Fremder davon
erfahren. So fuhr ich zurück nach Oberursel. Ich
fühlte mich auf der Heimfahrt im Zug fast wie ent-
blößt, weil ich gar alles, was mir selber heilig war,
vor diesen Jugendlichen aufgetan, um sie in ihrer
Zerbrochenheit wieder aufzurichten, um ihnen Kraft
für neuen Glauben und neue Hoffnung ins Herz zu
legen an Werte, die sich immer gleichbleiben, zu
jeder Zeit und in jedem Land, gleichgültig, ob sie
auch vorübergehend zertreten würden. Ich fror. Die
„innere Entkleidung“ schien sich auf den ganzen
Körper zu übertragen. Ich wünschte
127
mir jetzt nur, von diesen jungen Menschen richtig
verstanden worden zu sein. Mit Ungeduld wartete
ich auf die ersten Briefe, die mich langsam wieder
„umhüllen“ sollten — aber sie blieben aus. Ein ein-
ziger, mich tief ergreifender Brief erreichte mich
von ihnen, den ich sofort ganz ausführlich beantwor-
tete. Im übrigen aber blieb das von mir erhoffte
Echo aus. Es quälte mich, daß ich mich derart vor
ihnen geöffnet hatte und alles umsonst geschehen
sei.
So vergingen zwei oder drei Monate. Da klingelte es
an meiner Wohnungstür in Oberursel. Pfarrer K.
stand vor mir, mit blassem Gesicht und ablehnen-
dem Ausdruck. Als er mit mir allein im Zimmer saß,
brach es gleich aus ihm heraus: „Wie konnten Sie
unsere Jugend derart im Stich lassen? Das ist fast ein
Verrat an der Jugend. Sie allein hatten die Herzen
der Jugend gewonnen; weder wir evangelischen
Pfarrer noch die katholischen Kollegen vermochten
es, weder ihre Väter noch ihre Mütter. Sie aber ha-
ben die Jugend aufgefangen in ihrer inneren
Zerbrochenheit. Sie begannen durch Sie wieder voll
Hoffnung zu glauben. Alle haben Ihnen in tiefem
Vertrauen geschrieben. Sie versprachen zu antwor-
ten, und Sie haben es nicht getan. Die jungen Men-
schen schrieben Ihnen nicht nur einmal, sie schrie-
ben zweimal, mein Christof sogar
128
dreimal. Dann kamen sie und schlugen mit der Faust
auf den Tisch und riefen: Jetzt glauben wir an gar
nichts mehr, Hanna Reitsch hat uns auch getäuscht
und im Stich gelassen’.“
Dann war der Pfarrer einen Augenblick still: „Das
war ein Verrat an den jungen Menschen“, fuhr er
fort, „wie konnten Sie so gewissenlos sein?“ Mir
schien der Kopf blutleer. Ich muß wohl aschfahl ge-
worden sein. Dicke Tränen liefen mir langsam die
Backen herunter. Dann sagte ich leise: „Dann sind
alle Briefe der Jugendlichen abgefangen worden.
Einen einzigen habe ich erhalten und sofort ausführ-
lich beantwortet. Ich hatte selbst darunter gelitten,
daß meine Worte die anderen nicht erreicht zu haben
schienen.“ Jetzt war auch Pfarrer K. entsetzt, und
Tränen standen auch in seinen Augen. „Das also ge-
hört zu den Methoden, um ein besiegtes Volk ganz
zu zerbrechen. Man zerstört ihnen ihre Beispiele und
nimmt ihnen ihre Helden“, sagte er ernst. „Wie viele
andere mögen Ihnen in eigener Not geschrieben ha-
ben voll Dank, daß Sie im Land geblieben sind und
all den Angeboten, ins Ausland zu kommen, nicht
gefolgt sind. Armes Deutschland.“
Pfarrer K. war nach Ludwigsburg zurückgefahren.
In den folgenden Monaten erlebte ich noch weitere
129
nicht minder bösartige Methoden, die alle dieses
gleiche Ziel hatten. Ich wünschte damals nur eines:
nicht mehr leben zu müssen, damit nicht andere —
ohne daß ich es ahnen konnte — auf solche Weise
durch mich noch mehr in Verzweiflung geraten
würden. Vorher aber wollte ich unbedingt über mein
Leben schreiben und mich damit vor viele ungezähl-
te Deutsche stellen, die in der Vergangenheit — wie
ich selbst — das Beste wollten, an das Gute glaubten
und von Verbrechen, die von den Deutschen began-
gen sein sollten, nichts wissen konnten. Während
ich, versteckt in der Eifel, an diesem Buch „Fliegen
mein Leben“ schrieb (Lehmanns Verlag, München),
wurde mir klar, daß Lügen sich niemals auf die
Dauer halten können. Und daß es ein großer Tri-
umph wäre für die bösen Kräfte, wenn ich meinem
Leben selbst ein Ende setzen würde. Es galt jetzt,
diese schwere Zeit, und wenn es viele Jahre dauern
würde, durchzustehen und an den Sieg des Wahren
und Guten zu glauben, das letztlich unzerstörbar
bleibt. Nur ein tiefer Glaube konnte mir die Kraft
dazu verleihen.
130
Schluß
Seit Kriegsende sind viele Jahre vergangen, in denen
ich unglaublich viel erlebt habe: Reiches und Schö-
nes im In- und Ausland, interessante menschliche
Begegnungen, auch mit Staatsoberhäuptern in fernen
Erdteilen, große fliegerische Erlebnisse, Erfolge und
Ehrungen, aber auch ein unaussprechlich großes
Kreuz an Leid und Tränen, an Enttäuschungen und
an Verleumdungen durch Fälschungen, die immer
wieder meinen Namen in Filmen, in Büchern, Ma-
gazinen und Zeitungen in unwahrer Weise benutzen
oder auf eine politische Bühne zerren, auf die ich
nicht gehöre. Von meinem Verlag wurde ich gebe-
ten, über all das zu schreiben, als Fortsetzung mei-
nes Buches „Fliegen mein Leben“.
Ich gehöre bis zum heutigen Tag meiner Fliegerei,
wenn auch durch meine Kriegsverletzungen nicht
mehr beruflich, so doch sportfliegerisch. Ich fliege
Hubschrauber und Motormaschinen, vor allem aber
widme ich mich meinem über alles geliebten Segel-
flug.
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Was ich aber nie für möglich gehalten hatte, wurde
in all diesen Jahren zur beglückenden Gewißheit und
zu einem tiefen Reichtum: Die Liebe zu meinen To-
ten und das Leid um sie hat sich wunderbar gewan-
delt in eine ständige Gegenwärtigkeit. Sie sind im-
mer, gleichsam wie lebendig, um mich und mit mir.
Sie scheinen mich wie mit einem Schutzwall zu um-
geben. Sie geben mir Kraft, und sie weisen mir noch
heute den Weg, den ich darum klar und sicher gehe.
In mir klingt einer der letzten Verse meiner Mutter:
„Eine heiße Seele, Herr,
hast Du mir gegeben,
daß ich immer brennen darf,
ist mein Glück, mein Leben.
Daß die Flamm’, still, stark und rein,
das ist mein Verlangen,
und daß alle, die ich lieb’,
froh zu Dir gelangen.
Und daß alles, was ich tu’,
ändern werd’ zum Segen,
daran, Herrgott, ganz allein,
ist es mir gelegen.“
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Das Wissen um das Unzerstörbare auf der Welt und
im Leben eines jeden Menschen verleiht dem ein-
zelnen Würde und Sicherheit. Es ist die stärkste
Kraft gegen Lüge und Zersetzung und schenkt Hoff-
nung, selbst dort, wo es fast aussichtslos scheint.
Nur mit Hoffnung kann man fruchtbar an der Zu-
kunft bauen helfen. Hoffnung haben aber heißt,
selbst angesichts unserer heutigen Welt nicht zu ver-
zweifeln, sondern sich Augen zu bewahren, die nicht
nur das Böse sehen, sondern statt dessen das Gute
erkennen und betrachten. Dies jedoch setzt voraus,
daß man das Böse zunächst in sich selbst überwin-
det, um es nicht auf den anderen zu werfen. Erst da-
durch gelangt man zur Schau des Guten und damit
auch zur Hoffnung. Hoffnung setzt für mich den
Glauben voraus und das dankbare Wissen um Un-
zerstörbares und Bleibendes.
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