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Philosophie und ihr Verhältnis


zu den Einzelwissenschaften

Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

In diesem Kapitel werden wir die Leitfragen dieses Bandes – Warum soll
eigentlich überhaupt philosophiert werden? Aus welchen Gründen, mit
welchen Zielen und Absichten wird Philosophie denn überhaupt betrieben?
– anhand des Verhältnisses zwischen der Philosophie und den Einzelwis-
senschaften erörtern. Ein solches Unternehmen sieht sich zunächst mit drei
Problemen konfrontiert, die wir im ersten Abschnitt besprechen. In den
darauf folgenden Abschnitten stellen wir dann einige neuere Ansätze dazu
vor, wie die Philosophie ihr Verhältnis zu den anderen Wissenschaften
auffassen kann und was dieses Verhältnis für die Gründe und Ziele des
Philosophierens bedeuten kann. Schließlich werden wir im letzten Ab-
schnitt unsere eigene Auffassung davon darlegen, wie sich die Philosophie
zu den Einzelwissenschaften verhalten sollte.
Während die Einzelwissenschaften positives Wissen über die Beschaf-
fenheit der Welt hervorbringen wollen, hat die Philosophie unserer Auffas-
sung nach u. a. die Aufgabe, das von den Einzelwissenschaften hervorge-
brachte Wissen kritisch zu reflektieren. Eine solche Tätigkeit kann für die
Einzelwissenschaften zwei verschiedene Arten von Ergebnissen haben.
Zum einen kann die kritische Reflexion von positivem wissenschaftlichem
Wissen zur Klärung der darin gebrauchten Begriffe oder der darin be-
schriebenen Sachverhalten führen, so dass man ein tieferes Verständnis
dieser Begriffe oder Sachverhalte gewinnt. In diesem Modus kann die
Philosophie als eine Fortführung der Arbeit der Einzelwissenschaften ver-
standen werden, indem sie zur Vertiefung und Interpretation des einzelwis-
senschaftlichen Wissens beitragen kann. Zum anderen kann eine solche
Tätigkeit auch zu einer Destruktion der involvierten Begriffe oder Sach-
verhalte führen, weil sich bei der genaueren Nachfrage die entsprechende
Sache als unhaltbar herausstellt. Hier kann die Philosophie als Kritik der
Wissenschaften verstanden werden, indem sie Probleme im einzelwissen-
schaftlichen Wissen aufzeigt und damit die Wissenschaften herausfordert,
bestimmte Fragestellungen erneut zu untersuchen.

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I. Vorbemerkungen: drei Probleme

Bevor wir in die genauere Erörterung des Verhältnisses von Philosophie


und Einzelwissenschaften eintreten, sind drei Vorbemerkungen zu ma-
chen. Erstens ist festzuhalten, dass eine Erörterung der Gründe und Ziele
der Philosophie unter Einbeziehung anderer Wissenschaftsbereiche grund-
sätzlich Gefahr läuft, sich in einer Selbstrechtfertigung der Philosophie
gegenüber diesen anderen Wissenschaften zu verlieren. Diese Gefahr tritt
besonders dann auf, wenn die Philosophie und die sogenannten harten
Naturwissenschaften einander gegenüber treten. Oft vertreten Naturwis-
senschaftler die Meinung, dass die Philosophie ihre Existenz als akademi-
sche Disziplin zu rechtfertigen habe, da sie ja nicht wie die Physik, die
Chemie oder die Biologie empirisch begründete Erkenntnisse über die
Beschaffenheit der Welt liefert. Wenn aber die Philosophie kein empiri-
sches Wissen liefert, muss ihre Existenzberechtigung darin liegen, dass sie
ein anderes brauchbares Produkt liefert – und die Brauchbarkeit dieses
Produkts, so meinen manche Naturwissenschaftler, sollte in einem Nutzen
für die Naturwissenschaften bestehen.
So beklagte z. B. der Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg
in einem Aufsatz aus dem Jahr 1992 mit dem verheißungsvollen Titel
Gegen die Philosophie (Weinberg 1992, Kapitel VII; unsere Übersetzung)
die Nutzlosigkeit der Philosophie für sein eigenes Fach. Das Einzige, wozu
die Arbeiten von einigen – und sicherlich nicht von allen! – Philosophen
aus der Sicht des praktizierenden Physikers gut wären, so Weinberg, sei, die
Physiker davor zu schützen, auf Irrtümer anderer Philosophen hereinzufal-
len. Weinberg wirft der Philosophie vor, im Allgemeinen einen eher brem-
senden als fördernden Einfluss auf die naturwissenschaftliche Erforschung
der Welt zu haben. Diese Bremswirkung rührt zum einen daher, dass die
Philosophie spekulativ-metaphysische Weltbilder aufstellt, womit neue
naturwissenschaftliche Erkenntnisse oft überhaupt nicht oder nur sehr
schwer vereinbar sind. Zum anderen formulieren manche Philosophen
strikte methodologische und epistemologische Anweisungen für die For-
schung, die Naturwissenschaftler oft als unrealistisch und für die alltägliche
Forschungspraxis als unbrauchbar einschätzen. Selbst das Teilgebiet der
Philosophie, das den Naturwissenschaften am nächsten steht, die Wissen-
schaftsphilosophie, bietet den Naturwissenschaftlern in Weinbergs Sicht
nicht mehr als lediglich „eine angenehme Betrachtung der Geschichte und
der Entdeckungen der Wissenschaften“ (ebd., 167; unsere Übersetzung).
Zwar gesteht Weinberg (vgl. ebd., 175 f.) zu, dass philosophische Posi-
tionen manchmal eine fördernde Wirkung auf den Fortschritt der Wissen-
schaft haben können, jedoch überwiegen in seiner Sicht die schädlichen
Einflüsse. Die positiven Beiträge der Philosophie für die Naturwissenschaft
bestanden letztendlich nur in der „Befreiung“ der Naturwissenschaften von

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Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 129

altem, überholtem Gedankengut – und damit lediglich darin, dass die Philo-
sophie die Sachen entsorgt, die sie selbst in die Welt gesetzt hatte.
Wir möchten in diesem Beitrag jedoch keine Rechtfertigung der Philo-
sophie gegenüber Herausforderungen wie den oben angedeuteten liefern,
da wir der Meinung sind, dass die Philosophie eine solche Rechtfertigung
gar nicht benötigt. Die Philosophie ist, obwohl sie keine empirische For-
schung betreibt, dennoch eine eigenständige Disziplin, die ihren eigenen
Fragestellungen nachgeht, ihre eigenen Phänomene untersucht und ihre
eigenen Theorien entwirft, so wie die Physik, die Biologie, die Soziologie,
die Geschichtswissenschaft usw. es auch tun. Die Ziele der Philosophie
leiten sich nicht primär aus dem Verhältnis von Philosophie und den ande-
ren Wissenschaften ab; sie werden in den anderen Beiträgen dieses Bandes
erörtert. In diesem Beitrag werden wir lediglich einen kleinen Teil dieser
Thematik ansprechen und versuchen zu klären, was die Philosophie in
Bezug auf die anderen Wissenschaften leisten kann. Dabei werden wir
nicht voraussetzen, dass diese Leistung für die anderen Wissenschaften
von unmittelbarem Nutzen bezüglich deren Erkenntnisziele ist.
Ein zweites Problem ist folgendes: Wenn die Philosophie wie oben be-
schrieben eine eigenständige Disziplin ist, weshalb sollte man dann über-
haupt erwarten, dass man mehr Klarheit über die Gründe und Ziele der
Philosophieausübung erlangen kann, indem man das Verhältnis der Philo-
sophie zu anderen Wissenschaften betrachtet? Die Frage Warum sollte
überhaupt Physik betrieben werden? wird ja üblicherweise auch nicht
dadurch beantwortet, dass wir uns ansehen, wie die Physik sich zur Biolo-
gie und zur Soziologie verhält. (Und sie wird schon gar nicht dadurch be-
handelt, dass gefragt wird, auf welcher Weise die Physik für diese Wissen-
schaften von Nutzen sein könnte!)
Unsere Antwort auf diese Frage ist wissenschaftshistorisch. Die Philo-
sophie darf einen Anspruch darauf erheben, die Mutter aller Wissenschaf-
ten genannt zu werden, da viele der heutigen selbständigen Einzelwissen-
schaften im Laufe der Geschichte aus der Philosophie hervorgegangen
sind. So haben sich die Physik und die Chemie zur Zeit der wissenschaftli-
chen Revolution von der (Natur-)Philosophie abgelöst, so ist die Psycholo-
gie im 19. Jh. endgültig ihren eigenen Weg gegangen und so sehen wir
heute, wie sich die Kognitionswissenschaft als eigenständige Wissenschaft
etabliert. Ursprünglich rein philosophische Fragen werden dadurch zu
einzelwissenschaftlichen Fragen, zumindest zum Teil. So wird beispiels-
weise die Frage nach dem freien Willen, eine klassische Frage der Philoso-
phie, heute auch in den Kognitionswissenschaften behandelt. In dieser
Perspektive würde sich die Philosophie als der Restbereich verstehen müs-
sen, die sich mit den Fragen befasst, die übrig geblieben sind, nachdem
sich die Einzelwissenschaften von ihrem Ursprung abgelöst haben. Eine

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solche Auffassung der Philosophie ist in der Philosophiegeschichte von


mehreren Autoren vertreten worden. Sie findet sich beispielsweise bei dem
Philosophen und Psychologen William James (vgl. James 1911, 22 f.) und
dem Philosophen Bertrand Russell (vgl. Pradeu 2011).1 Auf den ersten
Blick ist dies sicherlich kein wünschenswertes Selbstverständnis für ein
akademisches Fachgebiet, zumal es die Frage aufwirft, ob denn auf lange
Sicht überhaupt etwas für die Philosophie übrig bleiben wird!
Man kann diese Situation jedoch auch anders sehen. Die Tatsache, dass
die von der Philosophie abgelösten Einzelwissenschaften ihre eigenen
Fragen und Phänomene studieren und dabei die klassischen Fragen der
Philosophie in ein neues Licht rücken, bedeutet nicht, dass die Philosophie
selbst nichts mehr zu diesen Fragen und Phänomene zu sagen hat. Ein
Beispiel hierfür ist die schon genannte Frage nach der Existenz eines freien
Willens. Obwohl dies heutzutage sicher auch eine Frage für die empiri-
schen Kognitionswissenschaften ist, bleibt nach der empirisch-wissen-
schaftlichen Beantwortung dieser Frage (heutzutage oft die Leugnung des
freien Willens)2 noch einige Aufklärungsarbeit für die Philosophie übrig.
Was bedeutet es für den Menschen, wenn er (k)einen freien Willen hat?
Wie sollten wir unsere Gesellschaft einrichten, sodass sie der Tatsache
gerecht wird, dass Menschen (k)einen freien Willen haben und also (nicht)
für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden können? Wie soll ich
als Mensch, der (k)einen freien Willen hat, mein Handeln begründen? Die
Erörterung solcher Fragen bleibt auch dann Aufgabe der Philosophie, wenn
diese Fragen auch in den Aufgabenbereich von Einzelwissenschaften fallen
und diese Einzelwissenschaften Antworten liefern, die die Philosophie
selbst nicht liefern kann (aber wovon sie selbstverständlich mit Gewinn
Gebrauch machen kann – vgl. Hansson 2008, 477). Auf diese Weise kann
die Philosophie also gerade über ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaf-
ten ihr Aufgabenfeld abstecken, indem die Arbeitsteilung zwischen Philo-
sophie und Einzelwissenschaften bei der Bearbeitung spezifischer Fragen
klargestellt wird. Einige der Gründe und Ziele der gegenwärtigen Philoso-
phieausübung folgen so unmittelbar aus den Überlappungen, Verbindun-
gen, Kooperationen, Streitigkeiten und sonstigen Relationen, die zwischen
der Philosophie und den verschiedenen Einzelwissenschaften existieren.
Aus den vorangegangenen Überlegungen folgt jedoch ein drittes Prob-
lem, nämlich dass die Gesamtheit der Überlappungen, Verbindungen, Ko-
operationen, Streitigkeiten und sonstigen Relationen zwischen der Philoso-

1
Vgl. auch Hansson 2008, 476–477 und Rosenberg/McShea 2008, 1–3.
2
Für die gegenwärtige Diskussion im deutschsprachigen Raum, vgl. z. B. Singer
2003, Geyer 2004.

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Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 131

phie und den Einzelwissenschaften zu groß und zu komplex ist, um in


einem kurzen Buchbeitrag erfasst werden zu können. Wir können daher
das komplexe und vielfältige Verhältnis von Philosophie und den Einzel-
wissenschaften nur sehr unvollständig erörtern und uns auf einige wenige
Aspekte dieses Themenkomplexes beschränken. Statt aber spezifische
Themen aus den Einzelwissenschaften und dem gegenwärtigen Stand der
philosophischen Arbeit dazu in den Blick zu nehmen (z. B. zur Frage nach
der Existenz eines freien Willens), wollen wir die Thematik allgemeiner
angehen. Wir werden in den folgenden Abschnitten einige neuere Vor-
schläge vorstellen, die darlegen, in welches Verhältnis sich die Philoso-
phie, speziell die Wissenschaftsphilosophie, zu den Einzelwissenschaften
setzen könnte und wie Philosophen, die sich mit Wissenschaft befassen,
ihre Arbeit dementsprechend auffassen könnten – oder gar sollten.

II. „Normative Wissenschaftsphilosophie“:


Erforschen, wie Wissenschaft funktioniert, um damit
die Einzelwissenschaften zu stärken

Innerhalb des Teilbereichs der Philosophie, der sich explizit mit den ver-
schiedenen Einzelwissenschaften befasst, der Wissenschaftsphilosophie,
können die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik unterschieden
werden. Diese Unterscheidung entspricht natürlich der allgemeineren Un-
terscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie. Jeder dieser
beiden Bereiche hat einen allgemeinen Teil und mehrere spezielle Teile
(die speziellen Wissenschaftstheorien bzw. -ethiken). Die allgemeine Wis-
senschaftstheorie beschäftigt sich mit der Frage, was Wissenschaft eigent-
lich ist und wie sie funktioniert. Die speziellen Wissenschaftstheorien, wie
z. B. die gegenwärtig weltweit etablierten Spezialgebiete Philosophie der
Physik, Philosophie der Biologie, Philosophie der Chemie oder Philoso-
phie der Wirtschaftswissenschaften, untersuchen, wie die Einzelwissen-
schaften in ihrer Spezifizität funktionieren, was ihre zentralen Begriffe
genau bedeuten und wie ihre Theorien genau zu analysieren sind.3 So wird
z. B. untersucht, wie Ökonomen typischerweise argumentieren, welche
Elemente in den Erklärungen der Evolutionsbiologie involviert sind, auf
welcher Grundlage in der Chemie Atome und Substanzen klassifiziert
werden, was der Genbegriff in den verschiedenen Bereichen der Biologie

3
Für einen ausgezeichneten Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung
in der Philosophie der Biologie siehe Krohs/Toepfer 2005. Für die Philosophie der
Physik ist beispielsweise Mittelstaedt 1976 ein Klassiker.

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genau bedeutet usw. Die Wissenschaftsethik beschäftigt sich mit morali-


schen Fragen, die in der wissenschaftlichen Handlungspraxis und als Fol-
gen von wissenschaftlichen Innovationen auftreten können. Zum einen
sind dies z. B. Fragen zur Verantwortung des Wissenschaftlers, oder die
Frage danach, was gute wissenschaftliche Praxis ausmacht und was genau
als wissenschaftliches Fehlverhalten angesehen werden muss. Zum ande-
ren sind dies Fragen zu möglichen gesellschaftlichen Folgen wissenschaft-
licher Entdeckungen und neuer Technologien, wie der Gebrauch von emb-
ryonalen Stammzellen für Forschungs- und therapeutische Zwecke oder
die Modifizierung des genetischen Materials von Nutzpflanzen. Wir wer-
den die Wissenschaftsethik hier nicht weiter betrachten und uns auf den
theoretischen Teil der Wissenschaftsphilosophie, also die allgemeine Wis-
senschaftstheorie und die speziellen Wissenschaftstheorien beschränken.4
Wie schon vorher bemerkt, ist es ein traditionelles Ziel der Wissen-
schaftstheorie, zu verstehen, wie das Unternehmen „Wissenschaft“ im
Detail funktioniert. Demnach beabsichtigt die Wissenschaftstheorie zu
klären, was Wissenschaftler genau tun, was die Ergebnisse wissenschaftli-
cher Tätigkeit sind und warum Wissenschaftler ihre Arbeit in der Weise
tun, wie sie es tun. Dies ist in erster Linie ein deskriptives Ziel, das, wenn
erfolgreich realisiert, bereits genügen würde, um die Frage Warum (Wis-
senschafts-)Philosophie? positiv zu beantworten. Jedoch wollen Wissen-
schaftstheoretiker in ihrer Arbeit mehr als lediglich beschreiben, wie wis-
senschaftliche Arbeit vonstattengeht. Es wird darüber hinaus auch ein
normatives Ziel verfolgt, nämlich eine sog. Methodologie zu formulieren,
die beschreibt, nach welchen Methoden gute wissenschaftliche Arbeit ver-
fahren soll.
Sehen wir uns dazu einige Belege aus der Literatur an. „In der Wissen-
schaftsphilosophie geht es […] nicht einfach generell darum, wie Wissen-
schaft funktioniert; es geht darum, wie Wissenschaft in epistemischer Hin-
sicht funktioniert“ (Carrier 2007, 19 f.; unsere Hervorhebung), schreibt
beispielsweise der Wissenschaftsphilosoph Martin Carrier. Entsprechend
hat die Wissenschaftstheorie eine doppelte Zielsetzung. Zum einen soll die
Wissenschaftstheorie also klären, welche Eigenschaften das Produkt wis-
senschaftlicher Tätigkeit – wissenschaftliches Wissen – hat (man denke
hier an Eigenschaften wie Geltung, Bestätigung, Allgemeinheit, erklärende

4
Zur allgemeinen Wissenschaftstheorie siehe den Beitrag von Rainer Enskat in
diesem Band. Eine Erörterung der Frage, wie sich die Ethik zu den anderen Wis-
senschaften verhält bzw. verhalten sollte, kann hier nicht vorgenommen werden,
weil dies einen eigenen Beitrag erfordern würde. Für allgemeine Einführungen in
das Themenfeld der Wissenschaftsethik siehe u. a. Nida-Rümelin 1996 oder Hoy-
ningen-Huene/Tarkian 2010.

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Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 133

Kraft usw.) und auf welche Weise diese Eigenschaften in der Produktion
wissenschaftlichen Wissens realisiert werden: „Wissenschaftler häufen
Erkenntnis auf Erkenntnis, Wissenschaftsphilosophen legen auseinander,
was die wesentlichen Eigenschaften dessen sind, was dort aufeinander
gehäuft wird“ (ebd., 20). Zum anderen soll die Wissenschaftstheorie dar-
über hinaus auch in epistemischer Hinsicht bewerten, indem „die Verfah-
ren, die in der Wissenschaft zur Einschätzung von Geltungsansprüchen
herangezogen werden […] auf ihren Zusammenhang mit den Erkenntnis-
zielen der Wissenschaft untersucht“ werden (ebd.).
Auch der Wissenschaftsphilosoph John Losee hob in seinem klassi-
schen Lehrbuch A Historical Introduction to the Philosophy of Science die
normative Aufgabe der Wissenschaftstheorie hervor. Nach Losee gibt es
mindestens vier unterschiedliche Auffassungen davon, was das Hauptziel
der Wissenschaftsphilosophie sei (vgl. Losee 1980, 1 f.). Einer Auffassung
nach besteht wissenschaftsphilosophische Arbeit darin, übergreifende
Weltbilder zu entwerfen, die auf dem von den Einzelwissenschaften pro-
duzierten Wissen aufbauen und dieses in ein kohärentes Weltbild syntheti-
sieren. Dies ist eine metaphysische Zielsetzung, die auf die Arbeit der Ein-
zelwissenschaften aufbaut und diese weiterführt. Gegenwärtige Vertreter
dieser Sichtweise sind z. B. der Wissenschaftsphilosoph James Ladyman
und der Ökonom und Philosoph Don Ross (vgl. Ladyman/Ross 2007).
Den drei anderen von Losee unterschiedenen Auffassungen nach ist
die Arbeit, die die Wissenschaftsphilosophie leisten kann, eher epistemo-
logischer als metaphysischer Natur. Der zweiten Auffassung nach ist die
Aufgabe der Wissenschaftsphilosophie, die (oftmals verschwiegenen)
Grundannahmen, die wissenschaftlicher Arbeit unterliegen können, expli-
zit zu machen. Beispielsweise denke man an die Annahme, dass es in der
Natur selbst Regelmäßigkeiten gibt, die die Wissenschaft entdecken und
beschreiben kann. Der dritten Auffassung nach ist Wissenschaftsphiloso-
phie wesentlich Begriffsanalyse, d. h., ihr Ziel ist, die zentralen Begriffe
wissenschaftlicher Theorien auf ihre Bedeutung zu prüfen und ggf. vorlie-
gende Unschärfen und Mehrdeutigkeiten ans Licht zu bringen. Eine vierte
Auffassung der Zielsetzung der Wissenschaftsphilosophie (die Auffassung,
die Losee selbst vertritt) ist die, dass Wissenschaftsphilosophie wesentlich
darin besteht „darüber nachzudenken, wie Wissenschaft betrieben werden
sollte“ (Losee 1980, 2 f.). Zwar beinhaltet die wissenschaftsphilosophische
Arbeit in dieser letzten Auffassung auch die Explikation wissenschaftlicher
Grundannahmen und die Klärung zentraler wissenschaftlicher Begriffe;
jedoch ist dabei primär das normative Ziel der Analyse und Verbesserung
der wissenschaftlichen Methodik im Blick.
Ein Problem für eine sich selbst als normativ verstehende Wissen-
schaftsphilosophie ist jedoch, dass bisher alle Versuche, eine einigermaßen

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umfassende Methodologie für die Gesamtheit der Wissenschaften auszuar-


beiten, als gescheitert bewertet werden müssen. Wie der Wissenschaftsphi-
losoph Paul Feyerabend bemerkt hat, ergibt sich der Hauptgrund dafür aus
der Wissenschaftsgeschichte: Es gibt, so Feyerabend, nämlich keinen ein-
zigen Grundsatz, der in allen Episoden der Wissenschaftsgeschichte tat-
sächlich als Basis für die wissenschaftliche Wissensproduktion gedient hat
(vgl. Feyerabend 1986, 31 f.).5 Es ist daher wahrscheinlich, dass die Ein-
zelwissenschaften grundsätzlich zu unterschiedlich sind, um alle mittels
einer Methodologie erfasst werden zu können.
Das Scheitern dieses normativen Projekts heißt jedoch nicht, dass die
Wissenschaftstheorie überhaupt keine sinnvollen normativen Empfehlun-
gen geben kann, die für die Wissenschaften methodologisch produktiv sein
könnten. Beispielsweise hat der Wissenschaftsphilosoph William Wimsatt
über fast vier Jahrzehnte hinweg versucht, einen Ansatz herauszuarbeiten,
der vorführt, wie die Wissenschaftsphilosophie für die Wissenschaften in
dieser Hinsicht nützlich sein kann.6 Wimsatts Ansatz beruht auf der allge-
meinen Feststellung, dass Menschen kognitiv und physisch beschränkte
Wesen sind, die mit begrenzten Mitteln in einer komplexen und unüber-
sichtlichen Welt zurechtkommen müssen. Dabei greifen sie wie Bastler auf
die Hilfsmittel zurück, die gerade zur Verfügung stehen und passen diese
je nach Problemlage und Möglichkeiten an.7 Es geht bei einem solchen
Vorgehen typischerweise nicht darum, die bestmögliche Lösung für ein
Problem zu finden, sondern darum, Lösungen zu finden, die in Bezug auf
ein bestimmtes Ziel funktionieren. Fehler werden dabei in Kauf genom-
men, so lange sie die Funktionalität der vorgeschlagenen Lösung nicht
allzu stark beeinträchtigen.
Dies gilt nicht nur im alltäglichen Leben, so Wimsatt, sondern auch in
der Wissenschaft. Wissenschaft ist eine durch und durch menschliche Tä-
tigkeit; sie hat daher ebenfalls den Charakter eines Zurechtkommens mit

5
Daher auch Feyerabends Behauptung, dass „es nur einen Grundsatz gibt, der sich
unter allen Umständen und in allen Stadien der menschlichen Entwicklung vertre-
ten lässt. Es ist der Grundsatz: Anything goes“ (ebd., 32). Die Allgemeingültigkeit
dieses Grundsatzes ist durch seine vollkommene Leere erkauft (siehe hierzu Hoy-
ningen-Huene 1997)!
6
Eine Gesamtübersicht der Wimsatt’schen Vision für die Wissenschaftsphilosophie
findet sich in Wimsatt 2007; eine gute Zusammenfassung gibt Griesemer 2010.
7
Wimsatt vergleicht oft sowohl die Natur als auch den Menschen mit einem Bastler
(„a backwoods mechanic and used parts dealer“), der beim Entwerfen von Lösun-
gen für neue Probleme sich etwas Brauchbares aus den in seinem Schuppen herum-
liegenden Einzelteilen zusammenbastelt. Der Vergleich der Natur (oder spezifi-
scher: der Evolution) mit einem Bastler geht auf den Biologen und Nobelpreisträger
François Jacob zurück (vgl. Jacob 1977; 1994, 34).

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Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 135

der Welt mit den Mitteln, die gerade greifbar sind. Dies charakterisiere die
Wissenschaft viel treffender als das traditionelle wissenschaftsphilosophi-
sche Bild eines auf maximale Effizienz hin organisierten, durchrationali-
sierten Unternehmens.8 Wissenschaftler suchen meistens nicht nach der
wirklich optimalen Forschungsmethodik oder der wirklich optimalen He-
rangehensweise, um ein bestimmtes Problem zu lösen – wie in der Wissen-
schaftstheorie verbreitete Idealbilder von Wissenschaft es oft suggerieren.
Vielmehr benutzen sie Methoden und Herangehensweisen, die zufälliger-
weise gerade am Ort vorhanden sind, die ihre Brauchbarkeit in anderen
Forschungskontexten bewiesen haben oder die bestimmte Praxisvorteile
versprechen. Dazu gehört z. B., dass sie weniger umständlich als eigentlich
besser geeignete Methoden sind, aber trotzdem gut genug sind oder einen
schnelleren Erfolg versprechen, dafür aber vielleicht eine etwas höheren
Fehlerquote haben. Dazu kommen ad hoc Anpassungen von Methoden und
Herangehensweisen – je nach Bedarf.
Dementsprechend, so argumentiert Wimsatt, kann eine sinnvolle nor-
mative Wissenschaftstheorie nicht die Form eines Systems von rein rational
begründeten methodologischen Vorgaben für die Wissenschaft annehmen,
sondern muss auf empirische Studien der verschiedenen Vorgehensweisen
in den Einzelwissenschaften beruhen. Wimsatts Vision der Wissenschafts-
philosophie beinhaltet also eine sehr wissenschaftsnahe Weise des Philoso-
phierens über Wissenschaft, die versucht zu verstehen, wie Wissenschaft
tatsächlich funktioniert. Die Wissenschaftsphilosophie sollte nach Wimsatt
herausfinden, welche Methoden, Heuristiken, Strategien, Herangehenswei-
sen usw. in welchen Forschungskontexten ihre Effektivität bewiesen haben.
Statt aus einer Außenperspektive methodologische Vorgaben für die
Wissenschaften zu formulieren, sollten Wissenschaftsphilosophen also
versuchen, die Wissenschaften von innen heraus zu verstehen (vgl. Wim-
satt 2007, 27). Das erlangte Verständnis davon, wie die Wissenschafts-
praxis in ihrer tatsächlichen Vielfältigkeit funktioniert, kann letztendlich
in den Wissenschaftsbetrieb zurückfließen und damit einen Beitrag zu
seiner Verbesserung leisten. Letzteres ist für Wimsatt ein explizites Ziel
der Wissenschaftsphilosophie: „Eine adäquate Wissenschaftsphilosophie
sollte normative Kraft haben. Sie sollte uns helfen, Wissenschaft zu betrei-
ben oder, wahrscheinlicher, uns helfen Fehlerquellen zu finden und zu
vermeiden […]“ (ebd., 26; unsere Übersetzung). Diese Zielsetzung kann

8
In Kontrast zu diesem Bild, das oftmals stark idealisiert ist und auf philosophischen
„Spielzeugbeispielen“ basiert, ist Wimsatt auf der Suche nach einer „realistischen“
Wissenschaftsphilosophie – d. h. einer Wissenschaftsphilosophie, die von realen
Menschen in realen Situationen in realer Zeit betrieben werden kann (vgl. Wimsatt
2007, 5).

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136 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

als Wimsatts Antwort auf die Frage Warum (Wissenschafts-)Philosophie?


angesehen werden – wie er selbst schreibt: „Wenn das, was ich zu sagen
habe, für Wissenschaftler nicht brauchbar ist, dann habe ich meine Arbeit
nicht richtig gemacht“ (ebd., 30; unsere Übersetzung).

III. Einen Schritt weiter: „Partizipative


Wissenschaftsphilosophie“

Wimsatt steht der traditionellen Wissenschaftsphilosophie kritisch gegen-


über, weil sie seiner Einschätzung nach zu wissenschaftsfern und eine zu
idealisierte Rekonstruktion der Wissenschaft ist. Stattdessen strebt er eine
Reflexion der tatsächlichen Wissenschaftspraxis an, wie sie in ihrer ganzen
Vielfalt existiert. Dennoch bleibt bei Wimsatt das Hauptziel der Wissen-
schaftsphilosophie das traditionelle Ziel, das Phänomen Wissenschaft zu
studieren und zu verstehen, und nach Möglichkeit einen Beitrag zur Ver-
besserung der Wissenschaftspraxis zu liefern.
Der schwedische Wissenschafts- und Technikphilosoph Sven Ove
Hansson hat einen weiterführenden Ansatz vorgestellt, wie sich Philosophie
zur Wissenschaft verhalten sollte. Hansson unterscheidet zwei Weisen, wie
sich Philosophie in ein Verhältnis zu den Einzelwissenschaften setzen kann.
Er nennt diese „Philosophie von …“ und „Philosophie mit …“ (vgl. Hans-
son 2008, 479 f.). Mit „Philosophie von …“ sind die Wissenschaftsphiloso-
phien der Einzelwissenschaften im vorher beschriebenen, traditionellen
Sinne gemeint. Charakteristisch für diese Art, Wissenschaftsphilosophie zu
betreiben, ist, dass die Einzelwissenschaften lediglich die Arbeitsobjekte
der Philosophie sind, die von Philosophen studiert und gegebenenfalls ver-
bessert werden. In diesem Modus der Wissenschaftsphilosophie bleiben
Philosophen mit ihrer Arbeit weitgehend außerhalb der Einzelwissen-
schaften. Dem stellt Hansson die „Philosophie mit …“ gegenüber, womit er
einen Modus des Philosophierens in enger Zusammenarbeit mit Fach-
wissenschaftlern aus einer Einzelwissenschaft meint. In diesem Modus
betreiben Wissenschaftsphilosophen ihr Fach nicht als Außenstehende, als
Beobachter der Einzelwissenschaften, sondern sind selbst aktive Teilneh-
mer im Theorieentwicklungsprozess der Einzelwissenschaften. Wissen-
schaftsphilosophie wird so zu einem interdisziplinären Fach, in dem spezia-
lisierte Philosophen und Forscher aus den Einzelwissenschaften gemeinsam
Fragen aus den Einzelwissenschaften bearbeiten. In dieser Perspektive ist
das Ziel der Wissenschaftsphilosophie nicht nur zu verstehen, was Wissen-
schaft ist und nach Möglichkeit den Wissenschaftsbetrieb methodologisch
zu verbessern. Vielmehr soll auch ein inhaltlicher Beitrag zu den einzelwis-
senschaftlichen Fragestellungen geliefert werden.

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Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 137

Eine ähnliche Auffassung der Wissenschaftsphilosophie findet sich bei


dem Wissenschaftsphilosophen Hasok Chang. Changs These ist, dass Wis-
senschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie als Weiterführung der
Wissenschaft mit anderen Mitteln aufgefasst werden können (vgl. Chang
1999; 2004, Kapitel 6). Chang sieht die Wissenschaftsgeschichte und die
Wissenschaftsphilosophie als „Schattendisziplinen“ (ders. 1999, 413), die
im Hintergrund arbeitend „die spezialisierten Wissenschaften bei der Pro-
duktion von Wissen über die Natur ergänzen“ (ebd.; unsere Übersetzung).
Sie kommen bei der Beantwortung von Fragen ins Spiel, die die Einzelwis-
senschaften selbst nicht stellen (vgl. ebd. ff.; 2004, 236).
Dieser Position liegt die Idee zugrunde, dass keine Einzelwissenschaft
es sich leisten kann, alle Behauptungen in ihrem Wissensbereich in Frage
zu stellen, da es ja einige Grundprinzipien geben muss, die als feste und
unbezweifelbare Grundlagen für die alltägliche Forschungspraxis dienen
können (vgl. ders. 1999, 414; 2004, 237).9 Außerdem, so bemerkt Chang,
haben die Einzelwissenschaften nur eine beschränkte Arbeitskapazität.
Daher können sie nicht alle in ihrem Bereich relevanten Forschungsprob-
leme bearbeiten, sondern müssen Prioritäten setzen, indem einige Fragen
und Probleme ignoriert werden (vgl. ders. 2004, 237). Hier liegt nun eine
Aufgabe für die Wissenschaftsgeschichte und die Wissenschaftsphiloso-
phie: Sie können (und sollten) die Fragen aufgreifen, die die Einzelwissen-
schaften aus den genannten Gründen liegen lassen.10 Chang schreibt:

„Ich schlage vor, dass wir Wissenschaftsphilosophie als ein Arbeitsgebiet auf-
fassen, worin wir wissenschaftliche Fragen untersuchen, die gegenwärtig nicht
in den Einzelwissenschaften bearbeitet werden. Diese Fragen könnten von den
Wissenschaften angegangen werden, sie werden jedoch von ihnen ignoriert in
Folge der Notwendigkeit zur Spezialisierung.“ (ders. 1999, 415 f.; unsere Über-
setzung, Hervorhebung im Original).

9
Chang stützt seine Ideen hier auf die Arbeit des Wissenschaftshistorikers und -philo-
sophen Thomas Kuhn, der in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revoluti-
onen (Kuhn 1970) schon darauf hingewiesen hatte, dass in einer Einzelwissenschaft
in Perioden der sog. Normalwissenschaft ein Paradigma als der unbezweifelte Hin-
tergrund für die Forschung angenommen wird. Siehe dazu auch Hoyningen-Huene
1993, 175–179.
10
Für Chang ist dies nur eine, aber nicht die einzige Aufgabe von Wissenschaftsge-
schichte und Wissenschaftsphilosophie. Die klassischen Aufgaben der Wissen-
schaftsphilosophie – zu verstehen, wie Wissenschaft funktioniert, und die Methodo-
logie der Wissenschaften zu analysieren und ggf. zu verbessern – bleiben nach wie
vor bestehen. Diese beiden Aufgabenbereiche nennt Chang „deskriptive“ und „par-
tizipative“ Wissenschaftsphilosophie (vgl. Chang 1999) und benutzt den Terminus
„partizipative Wissenschaftsphilosophie“ also in einer anderen Bedeutung, als wir
ihn hier gebrauchen.

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138 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

In dieser Auffassung von Wissenschaftsphilosophie und Wissenschafts-


geschichte haben diese Bereiche der Geisteswissenschaften den Anspruch,
positives Wissen über die Welt liefern zu können (vgl. ebd., 415; 2004,
237).11 Philosophen können in ihrer Arbeitspraxis in zweierlei Weisen
versuchen, diesen Anspruch zu realisieren: einmal dadurch, dass sie Dinge
in Frage stellen, die in den Einzelwissenschaften nicht hinterfragt werden
(indem sie die Paradigmen der Einzelwissenschaften analysieren) und da-
durch, dass sie neue wissenschaftliche Fragen für die Einzelwissenschaften
identifizieren und diese aufgreifen, bevor sie ggf. von den Einzelwissen-
schaften aufgegriffen werden (vgl. ders. 1999, 417).
Obwohl Hanssons und Changs Charakterisierungen der Wissenschafts-
philosophie in ihren Details unterschiedlich sind, stimmen doch beide darin
überein, dass die Wissenschaftsphilosophie gewissermaßen eine Fortset-
zung der Einzelwissenschaften ist und demnach am wissenschaftlichen
Wissensproduktionsprozess teilnimmt. Diese Auffassung der Philosophie
als interdisziplinäres und ggf. partizipatives Unternehmen, das sich sowohl
mit wissenschaftlichen als auch mit philosophischen Fragen befasst, ist
nicht gänzlich neu. So meinte z. B. der Philosoph W. v. O. Quine schon vor
etwa 40 Jahren, dass „Philosophie nicht als a priori Propädeutik oder Fun-
dierung der Wissenschaft [gesehen werden soll], sondern als kontinuierlich
mit der Wissenschaft. Ich sehe Philosophie und Wissenschaft als im selben
Boot sitzend.“ (Quine 1969, 126; unsere Übersetzung). Zwar umfasst Qui-
nes Auffassung der Wissenschaftsphilosophie nicht die Idee, dass Philoso-
phen sich aktiv an der Wissensproduktion in den Einzelwissenschaften
beteiligen, doch sieht er die Philosophie ebenfalls nicht als gänzlich außer-
halb des Wissenschaftsbetriebs stehend und die Wissenschaften aus der
Außenperspektive beobachtend. Vielmehr gibt es nach Quine keine klare
Abgrenzung zwischen Philosophie und Wissenschaft; beide Bereiche sind
mit dem gleichen Ziel beschäftigt, nämlich Wissen über die Welt zu erzeu-
gen. Auch schon wesentlich früher finden sich in der Philosophiegeschich-
te ähnliche Ideen, z. B. in einem vergleichsweise unbekannten Artikel im
prominenten Journal of Philosophy aus dem Jahre 1921:

„Die wahre philosophische Fakultät der Universität der Zukunft wird […] die
Gruppe von philosophisch denkenden Männern in allen Fachbereichen sein,
die, jeder auf seine Weise, über die ultimativen Fragen nachdenken. […] Das
philosophische Institut sollte für den gesamten Lehrkörper die Sammelstelle
sein für die verschiedenen Theorien und Probleme, die in den verschiedenen

11
Es ist jedoch fraglich, ob die Philosophie positives Wissen über die Welt liefern
kann und es überhaupt ein Ziel der Philosophie sein kann, solches Wissen bereitzu-
stellen. Siehe dazu den letzten Abschnitt unseres Beitrags.

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Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 139

Forschungsbereichen der Universität aufkommen.“ (Brown 1921, 679 f.; unse-


re Übersetzung).12

Die gegenwärtige Philosophie der Biologie ist ein gutes Beispiel für inter-
disziplinäre Wissenschaftsphilosophie, wie sie die genannten Autoren an-
visieren. Zwar fassen manche Philosophen der Biologie ihr Fach in der
traditionellen Weise auf als ausgerichtet auf „Fragen, die aus der biologi-
schen Wissenschaft hervorgehen, aber die Biologie selbst (noch) nicht
beantworten kann, sowie auf Fragen, die sich darauf beziehen, weshalb die
Biologie eigentlich nicht in der Lage ist, diese ersteren Fragen zu beant-
worten“ (Rosenberg/McShea 2008, 3; unsere Übersetzung). Jedoch sind
auch viele Philosophen der Biologie der Meinung, dass ihr Fach sich ein
ambitionierteres Ziel setzen sollte. Zum einen könnte die Philosophie der
Biologie z. B. versuchen, Biologen dabei zu helfen, ihre Fragestellungen
schärfer zu formulieren, indem sie die genaue Bedeutung der in diesen
Fragen zentralen Begriffe klärt. Zum anderen könnte neben dem Ziel, zur
Klärung spezifisch biologischer Fragen beizutragen, die Philosophie der
Biologie sich als Ziel setzen, einen Beitrag zur Klärung klassischer Fragen
der Philosophie zu leisten, nämlich indem sie relevante Erkenntnissen aus
der biologischen Wissenschaft aufgreift und auf philosophische Probleme
anwendet (vgl. Pradeu 2011). Die Philosophie der Biologie könnte in die-
ser Weise eine vermittelnde Rolle zwischen der Philosophie und den bio-
logischen Wissenschaften spielen. Sie würde ein Arbeitsbereich sein, in
dem Philosophen und Biologen gemeinsam versuchen, sowohl spezifisch
biologische Fragen als auch klassische Fragen der Philosophie zu klären.
Sie könnte so Ergebnisse erzielen, die Philosophen oder Biologen im Al-
leingang nicht erreichen könnten.
In den vergangenen vier Jahrzehnten hat sich die Philosophie der Bio-
logie genau in dieser Richtung entwickelt. In einem Übersichtsartikel aus
dem Jahre 1969 bemängelte der Philosoph der Biologie David Hull den
damaligen Stand der Forschung in seinem Fachgebiet wie folgt:

„Was die Philosophie der Biologie nicht ist? Es muss zugegeben werden, dass
bis jetzt weder sie besonders relevant für die Biologie, noch die Biologie be-
sonders relevant für sie ist.“ (Hull 1969, 179; unsere Übersetzung).

12
Der Autor des Artikels, William Adams Brown, war Professor für systematische
Theologie am Union Theological Seminary, New York City. Obwohl Brown weder
eine prominente Persönlichkeit in der Philosophiegeschichte ist noch gegenwärtig
diskutiert wird, haben wir dieses Zitat aufgenommen, da es den Gedanken, dass die
Philosophie gewissermaßen eine Fortsetzung der Einzelwissenschaften ist und sich
daher als interdisziplinäres Unternehmen auffassen soll, klar darstellt.

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140 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

Hull wies darauf hin, dass Philosophen der Biologie bislang ihre Möglich-
keiten, biologisches Wissen in philosophische Diskussionen einzubringen
und umgekehrt durch philosophische Arbeit einen Beitrag zur Lösung
biologischer Probleme zu liefern, kaum wahrgenommen haben und dass
sich diese Situation baldmöglichst ändern sollte (vgl. auch ders. 1998,
77 ff.). In späteren Übersichtsartikeln vermerkt Hull (ders. 1998; 2002)
jedoch eine deutliche Veränderung im Arbeitsmodus der Philosophie der
Biologie: Professionelle Philosophen und professionelle Biologen haben
angefangen, mehr und mehr zusammenzuarbeiten: Kooperation zwischen
den beiden Fachgebieten ist heutzutage keine Seltenheit mehr. Entspre-
chend findet man mittlerweile regelmäßig Veröffentlichungen auf dem
Gebiet der Philosophie der Biologie und der Biologie selbst, die von Philo-
sophen und Biologen gemeinsam verfasst worden sind.13

IV. Schlussbetrachtung: Philosophie als fragende Wissenschaft

Im Vorangegangenen haben wir einige in der einschlägigen Literatur ver-


tretene Positionen betrachtet, die darlegen, wie die Philosophie (und insbe-
sondere die Wissenschaftsphilosophie) ihr Verhältnis zu den Einzelwissen-
schaften auffassen kann bzw. soll und was dieses Verhältnis für die
philosophische Arbeit bedeuten kann. Wie wir gesehen haben, werden die
Leitfragen dieses Bandes – Warum soll eigentlich überhaupt philosophiert
werden? Aus welchen Gründen, mit welchen Zielen und Absichten wird
Philosophie denn überhaupt betrieben? – mit Blick auf die Wissenschafts-
philosophie von den behandelten Autoren unterschiedlich beantwortet.
Zwei allgemeine Positionen sind in diesem Kontext vorgestellt wor-
den: Einige Autoren sehen als primäres Ziel der Wissenschaftsphilosophie
die Bewertung und, wenn möglich, die Verbesserung der wissenschaftli-
chen Forschungspraxis. Aus dieser Perspektive ist die pauschale Antwort
auf die Frage Warum Wissenschaftsphilosophie?: Um „uns [zu] helfen,
Wissenschaft zu betreiben“ (Wimsatt 2007, 26; unsere Übersetzung). Wir
nennen diese Position „normative Wissenschaftsphilosophie“. Andere
Autoren haben ein ambitionierteres Ziel: Ihrer Meinung nach sollte die
Wissenschaftsphilosophie ebenfalls anstreben, wissenschaftliches Wissen
zu produzieren. Die Wissenschaftsphilosophie wird hier zu einem interdis-
ziplinären Unternehmen und der Wissenschaftsphilosoph zu einem For-

13
Einige Beispiele sind: Kummer/Dasser/Hoyningen-Huene 1990, Griffiths/Gray
1994, Sober/Wilson 1994; 1998, Ariew/Lewontin 2004, Reydon/Hemerik 2005,
Rosenberg/McShea 2008, Assis/Brigandt 2009.

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Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 141

scher, der selbst am Wissensproduktionsprozess der Einzelwissenschaften


teilnimmt und diesen Prozess in den Bereichen weiter fortsetzt, wo die
Einzelwissenschaften selbst nicht auftreten. Aus dieser Perspektive ist die
pauschale Antwort auf die Frage Warum Wissenschaftsphilosophie?: Um
„wissenschaftliche Fragen [zu] untersuchen, die gegenwärtig nicht in den
Einzelwissenschaften bearbeitet werden.“ (Chang 1999, 415 f). Wir haben
diese Position „partizipative Wissenschaftsphilosophie“ genannt.
Abschließend möchten wir unsere eigene Auffassung des Unterneh-
mens Philosophie vorstellen und mit diesen beiden allgemeinen Positionen
kontrastieren. In unserem Verständnis besteht der hauptsächliche Kontrast
zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften darin, dass die Einzelwis-
senschaften primär positives Wissen hervorbringen wollen, während die
Philosophie primär Dinge in Frage stellt, vor allem bislang unbefragte
Selbstverständlichkeiten. Hier fünf Erläuterungen und Konsequenzen die-
ses Verständnisses von Philosophie.
(1) Mit dem Wort „primär“ in dieser Charakterisierung soll ausge-
drückt werden, dass der angesprochene Kontrast zwischen Einzelwissen-
schaften und Philosophie keineswegs als eine harte Dichotomie zu verste-
hen ist. Natürlich werden auch in den Wissenschaften Dinge in Frage
gestellt (in den Naturwissenschaften sehr tief gehend vor allem in wissen-
schaftlichen Krisenzeiten), und natürlich wird in der Philosophie auch
versucht, auf fragwürdig gewordene Selbstverständlichkeiten positiv zu
reagieren und positive Antworten zu formulieren. So wurden in der Entste-
hungszeit der Quantenmechanik einige Grundannahmen der klassischen
Physik in Frage gestellt, und dies wurde keineswegs als eine nicht mehr
der Physik zugehörige Tätigkeit empfunden. Aber es wird auch gesagt,
dass die Physik in dieser Zeit sehr „philosophisch“ wurde, eben weil be-
stimmte Grundannahmen in Frage gestellt wurden, deren Kritik den weite-
ren wissenschaftlichen Fortschritt erst möglich gemacht haben. Umgekehrt
gibt es durchaus philosophische Traditionen, in denen vor allem positive
Antworten auf gegebene Fragen gesucht werden. Typischerweise entstehen
solche Traditionen, nachdem eine bestimmte neuartige Frage entdeckt
worden ist, und die Antworten auf diese Frage sich als ihrerseits problema-
tisch herausstellen. Beispiele könnten die Transzendentalphilosophie oder
die Tradition des Utilitarismus sein. Erreichen solche Traditionen einiger-
maßen stabile Konsense, so kann philosophische Routinetätigkeit oder
auch eine neue Einzelwissenschaft entstehen, deren Frage- und Antwort-
richtung einigermaßen stabil ist.
(2) Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen kann in verschiedenen
Graden von Radikalität geschehen. Eine seit dem platonischen Sokrates
wohlbekannte Art der typisch philosophischen Infragestellung von etwas
Selbstverständlichem ist die Frage: „Was ist eigentlich X?“, wenn das X

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142 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

ein Begriff oder ein Sachverhalt ist, der eigentlich wohlbekannt und ver-
traut ist. So war die analytische Wissenschaftstheorie beispielsweise lange
mit der Frage beschäftigt, was eigentlich eine wissenschaftliche Erklärung
ist. Natürlich gehört das Geben wissenschaftlicher Erklärungen zum Alltag
der Wissenschaften, aber die Frage nach dem, was eine wissenschaftliche
Erklärung eigentlich ist, bricht aus diesem Alltag aus, indem sie etwas in
Frage stellt, was in diesem Alltag als verstanden und geläufig vorausge-
setzt wird. Grob gesprochen sind philosophische Fragen nun um so radika-
ler, je größer und gewichtiger der in Frage gestellte Bereich ist. So ist etwa
die Frage nach der Wissenschaftlichkeit des wissenschaftlichen Wissens
eine radikalere Fragestellung als die nach dem, was eine wissenschaftliche
Erklärung ist, weil die letztere Frage in ersterer enthalten ist. Noch radika-
ler ist beispielsweise die Frage nach der Möglichkeit von Wissen über-
haupt, und vielleicht noch radikaler die kritische Frage nach der Existenz
oder Existenzweise von Gegenständen (die möglicherweise Objekte des
Wissens werden können).
Akzeptiert man die verschiedenen Grade von Radikalität philosophi-
scher Fragen, so ergibt sich eine Konsequenz für die philosophische Aus-
einandersetzung. In einer potentiell fruchtbaren philosophischen Ausei-
nandersetzung müssen sich die Gesprächspartner des angestrebten Niveaus
der philosophischen Radikalität bewusst sein und es explizit machen, weil
sonst die eine Partei möglicherweise etwas stillschweigend als unproble-
matisch voraussetzt, was die andere Partei gerade in Frage stellt. Unter
diesen Umständen müssen die Gesprächspartner aneinander vorbeireden.
(3) Die typisch philosophische Infragestellung etwa eines Begriffs oder
eines (vermeintlichen) Sachverhalts kann grundsätzlich zwei verschiedene
Ergebnisse haben. Sie kann einmal zu einer Klärung des entsprechenden
Begriffs oder Sachverhalts führen, so dass man ein tieferes Verständnis des
Begriffs oder des Sachverhalts gewinnt. Sie kann aber auch zu einer De-
struktion des Begriffs bzw. Sachverhalts führen, weil sich bei der genaue-
ren Nachfrage die entsprechende Sache als unhaltbar herausstellt. So stell-
ten sich beispielsweise für Kant sowohl die rationalistische als auch die
empiristische Tradition als unhaltbar heraus. Als Beispiel einer ziemlich
erfolgreichen philosophischen Klärung kann der Begriff der logischen
Folgerung dienen. Diese Klärung war so erfolgreich, das die daraus entste-
henden Konsense die Bildung der Logik als einer eigenständigen wissen-
schaftlichen (mathematischen) Disziplin ermöglicht haben.
(4) Für die Philosophie ergibt sich eine grundsätzlich andere Konzeption
von Fortschritt als für die Einzelwissenschaften. Für die Einzelwissenschaf-
ten ist der Fortschritt primär an die Zunahme positiven Wissens gebunden.
Wie genau diese Zunahme zu charakterisieren ist, ob man hier in einem
strengen Sinn von Wissen sprechen kann u. ä., dies sind ihrerseits schwierige

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Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 143

(philosophische!) Fragen. Nichtsdestotrotz besteht ein Kontrast zu einer


Konzeption von Fortschritt in der Philosophie, bei der der Fortschritt in der
Entdeckung immer tiefer gehender Fragen besteht. Als „tiefer gehend“ kann
man insbesondere Fragen bezeichnen, die bislang unbemerkte Präsupposi-
tionen früherer Fragen bzw. ihrer Antworten aufdecken und fraglich ma-
chen. So ließe sich die Entwicklung der abendländischen theoretischen Phi-
losophie stark vergröbert so zusammenfassen: Sie beginnt mit der Frage
nach der Natur der Dinge in Antike und Mittelalter. In der Neuzeit entdeckt
die Reflexion, dass uns diese Natur der Dinge allenfalls im Medium des
Bewusstseins zugänglich ist. Schließlich wird im 20. Jahrhundert deutlich,
dass eine solche Reflexion immer schon im Medium der Sprache stattfindet.
(5) Die unterschiedlichen Schwerpunkte von Einzelwissenschaften und
Philosophie hinsichtlich des primären Gegenstands des Fortschritts impli-
ziert ein unterschiedliches Verhältnis von Philosophie und Einzelwissen-
schaften zum Konsens. In Bezug auf akzeptables positives Wissen, wie es
die Einzelwissenschaften primär anstreben, muss sich ein (temporärer)
Konsens einstellen können, jedenfalls im Idealfall. Wissenschaft ist allen-
falls dann zum Ziel gekommen, wenn ein begründeter (temporärer) Kon-
sens erzielt worden ist. Anders in der Philosophie. Bezüglich akzeptabler
Fragen ist eine Konsenserzielung kein Qualitätskriterium, weil es unter-
schiedliche Frageperspektiven geben kann, die sich nicht notwendigerweise
gegenseitig ihre Legitimität streitig machen (das schließt aber tatsächlich
konkurrierende Fragestellungen nicht aus, etwa wenn eine philosophische
Frage die Präsuppositionen einer anderen philosophischen Frage problema-
tisiert). Infolgedessen ist in der Philosophie der ständige und tiefe Dissens
eine zu akzeptierende Begleiterscheinung, der nicht etwa eine Defizienz der
Philosophie anzeigt.
Dieses allgemeine Verständnis von Philosophie erlaubt nun auch, un-
ser Verständnis des Verhältnisses der Wissenschaftsphilosophie zu den
Wissenschaften darzulegen. Allgemein kann gesagt werden, dass die Wis-
senschaftsphilosophie Selbstverständlichkeiten der Wissenschaften im
oben erläuterten Sinne in Frage stellt. Dies bedeutet, dass die Wissen-
schaftsphilosophie selbst weder positives Wissen darüber, wie die Einzel-
wissenschaften besser funktionieren könnten, noch positives Wissen über
die Welt hervorbringt – d. h., die Wissenschaftsphilosophie trägt nicht im
positiven Sinne zur Realisierung der Ziele der „normativen Wissenschafts-
philosophie“ und der „partizipativen Wissenschaftsphilosophie“ bei. Sie
kann jedoch durchaus auf indirekte Weise zur Realisierung dieser Ziele
beitragen: Dadurch, dass sie weit verbreitete Vorgehensweisen und Me-
thodiken der Einzelwissenschaften in Frage stellt, kann die Wissenschafts-
philosophie methodologische Probleme aufdecken und – ohne im positiven
Sinne Richtlinien für die Einzelwissenschaften zu formulieren – uns „hel-

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144 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

fen Fehlerquellen zu finden und zu vermeiden“ (Wimsatt 2007, 26; unsere


Übersetzung). In der gleichen Weise kann die Wissenschaftsphilosophie
theoretische Probleme, wie z. B. begriffliche Unklarheiten, Inkonsistenzen
innerhalb von Theorien usw., in den Einzelwissenschaften aufdecken und
so zum theoretischen Fortschritt in den Einzelwissenschaften beitragen.
Es sollte daher auch nicht überraschen, dass die Philosophien der ver-
schiedenen Einzelwissenschaften und die theoretische Bereiche dieser Wis-
senschaften tatsächlich oftmals nicht deutlich von einander getrennt sind
(oder getrennt werden sollten!). So veröffentlichen Fachzeitschriften für
theoretische Physik oder theoretische Biologie nicht selten Beiträge, die
stark philosophischer Natur sind. Umgekehrt finden sich in den prominen-
ten Fachzeitschriften in der Wissenschaftsphilosophie, wie Philosophy of
Science, Studies in History and Philosophy of Modern Physics oder Biology
and Philosophy, regelmäßig Beiträge, die sich genauso gut unter theoreti-
sche Physik oder theoretische Biologie einordnen ließen wie unter Philoso-
phie der Physik oder Philosophie der Biologie. Zwischen der Philosophie
der Einzelwissenschaften und den entsprechenden theoretischen Teilen der
Wissenschaft besteht ein gleitender Übergang: Beide Arten von Unterneh-
men sind darauf gerichtet, unser theoretisches Verständnis der Welt zu
vertiefen. Worin sich Philosophie und Wissenschaft unterscheiden, ist der
Modus, in dem gearbeitet wird: Während theoretische Wissenschaft ver-
sucht, positives Wissen hervorzubringen, stellt die Philosophie dieses Wis-
sen in Frage und versucht, durch ihre kritische Betrachtung der einzelwis-
senschaftlichen Ergebnisse die Einzelwissenschaften zu motivieren, das
vorhandene Wissen zu verbessern.

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