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Cixin Liu
DER DUNKLE WALD
ANHANG
Nachwort des Autors
Es gibt eine Nacht in meiner Kindheit, die sich mir ganz deutlich
eingeprägt hat: Ich stand an einem Teich am Rande eines Dorfes irgendwo in
der Region Luoshan der Provinz Henan, in dem meine Vorfahren seit
Generationen gelebt hatten. Viele andere Leute, Erwachsene und Kinder,
waren ebenfalls da. Gemeinsam sahen wir zum klaren Nachthimmel empor,
wo ein winziger Stern langsam über das dunkle Firmament zog.
Es war der erste künstliche Satellit, den China jemals ins All geschickt
hatte: Dongfanghong I ( » Der Osten ist rot I « ). Es war der 25. April 1970,
und ich war sieben Jahre alt.
Damals waren dreizehn Jahre seit dem Start von Sputnik vergangen, und
neun Jahre, seit der erste Kosmonaut die Erde verlassen hatte. Nur eine
Woche zuvor war Apollo 13 sicher von einer gefährlichen Reise zum Mond
zurückgekehrt.
Doch von alldem wusste ich nichts. Während ich zu diesem winzigen,
dahinziehenden Stern emporschaute, war mein Herz von einer
unbeschreiblichen Neugier und Sehnsucht erfüllt. Und ebenso deutlich wie
diese Gefühle hat sich mir der Hunger eingeprägt, den ich verspürte. Damals
war die Gegend um mein Dorf herum außerordentlich arm. Der Hunger war
für jedes Kind ein ständiger Begleiter. Im Vergleich zu den anderen konnte
ich mich noch glücklich schätzen, weil ich Schuhe an den Füßen hatte. Die
meisten der Freunde, die an meiner Seite standen, waren barfuß, und einige
der winzigen Füße wiesen unverheilte Erfrierungen vom vergangenen Winter
auf. Durch die Risse in den Wänden der heruntergekommenen, strohgedeck
ten Hütten hinter mir drang das schwache Licht von Kerosinlampen – das
Dorf sollte erst in den Achtzigerjahren ans Stromnetz angeschlossen werden.
Die Erwachsenen um uns herum sagten, dass der Satellit nicht wie ein
Flugzeug sei, weil er die Erde hinter sich gelassen habe. Damals war die Luft
noch nicht vom Staub und Rauch der Fabriken verschmutzt, und es war eine
besonders sternenklare Nacht, in der die Milchstraße deutlich zu erkennen
war. In meiner Vorstellung waren die Sterne, die den Himmel erfüllten, nicht
viel weiter weg als der winzige, dahinziehende Satellit, weshalb ich mir
vorstellte, zwischen ihnen umherzufliegen. Ich machte mir sogar Sorgen,
dass der Satellit auf seinem Weg durch die dichten Sternenhaufen mit einem
davon zusammenstoßen könnte.
Meine Eltern waren damals nicht bei mir, weil sie in einer über tausend
Kilometer weit entfernten Kohlenmine arbeiteten, in der Shanxi-Provinz. Ein
paar Jahre zuvor, ich war damals noch kleiner, war diese Mine einer der
Schauplätze der blutigen Kämpfe der Kulturrevolution gewesen. Ich erinnerte
mich an Schüsse mitten in der Nacht, an Laster, die durch die Straßen fuhren,
voll beladen mit Männern, die Gewehre umklammerten und rote Armbinden
trugen … Aber ich war damals zu jung, um heute zu wissen, ob diese Bilder
echte Erinnerungen sind oder Trugbilder, die ich mir später
zurechtkonstruiert habe. Wie dem auch sei, eines weiß ich mit Sicherheit:
Weil die Mine nicht sicher war und meine Eltern unter der Kulturrevolution
zu leiden hatten, war ihnen keine andere Wahl geblieben, als mich in das
Heimatdorf meiner Vorfahren in Henan zu schicken. Als ich Dongfanghong I
sah, lebte ich bereits seit über drei Jahren dort.
Einige weitere Jahre vergingen, bevor ich begriff, wie weit der Satellit
und die Sterne voneinander entfernt waren. Damals las ich eine Reihe
beliebter Wissenschaftseinführungen mit dem Titel Einhunderttausend
Warums . Aus dem Band über Astronomie erfuhr ich, was ein Lichtjahr ist.
Davor hatte ich bereits gewusst, dass das Licht innerhalb einer Sekunde eine
Entfernung zurücklegen konnte, die siebeneinhalb Reisen um den Erdball
entsprach, aber ich hatte noch nie darüber nachgedacht, welch gewaltige
Entfernungen man überbrücken konnte, wenn man ein ganzes Jahr lang mit
einer solchen Geschwindigkeit flog. Ich stellte mir einen Lichtstrahl vor, der
mit einer Geschwindigkeit von dreihunderttausend Kilometern pro Sekunde
durch die kalte Stille des Alls reist. Verzweifelt versuchte ich, mir die
erschütternden Ausmaße und die Gewichtigkeit dieser Idee auszumalen und
verspürte dabei nicht nur eine gewaltige Last von Schrecken und Ehrfurcht,
sondern gleichzeitig ein rauschhaftes Hochgefühl.
Von jenem Augenblick an war mir klar, dass ich über ein besonderes
Talent verfügte: Maßstäbe und Wirklichkeiten, die die Grenzen der
menschlichen Sinneswahrnehmung weit überschritten – sowohl im Großen
wie im Kleinen – und die für andere anscheinend nur abstrakte Zahlen waren,
nahmen in meinem Kopf konkrete Gestalt an. Ich konnte sie anfassen und
fühlen, so wie andere Menschen Bäume und Steine anfassen und fühlen
konnten. Selbst heutzutage, wo es die meisten Leute nur noch langweilt,
davon zu hören, dass das Universum einen Radius von fünfzehn Milliarden
Lichtjahren hat oder dass Strings viele Größenordnungen kleiner sind als
Quarks, erzeugt die Vorstellung von einem Lichtjahr oder einem Nanometer
nach wie vor lebhafte, großartige Bilder in meinem Kopf und erweckt in mir
ein unbeschreibliches Gefühl der Ehrfurcht und der Erschütterung. Ich weiß
nicht, ob ich im Vergleich zu dem Großteil der Bevölkerung, der nichts
Derartiges erlebt, Glück oder Unglück habe. Aber mit Sicherheit waren es
diese Gefühle, die mich erst zu einem Science-Fiction-Fan und später zu
einem Science-Fiction-Autor gemacht haben.
In jenem Jahr, in dem ich zum ersten Mal von der Vorstellung eines
Lichtjahrs mit Ehrfurcht erfüllt wurde, kam es in der Nähe meines
Heimatdorfs zu einer Überschwemmung (bekannt als die Große Flut vom
August 1975). Innerhalb eines einzigen Tages fielen in der Region
Zhumadian in Henan 100,5 Z entimeter Regen. Achtundfünfzig Dämme
verschiedener Gr öße brachen, einer nach dem anderen, und
zweihundertvierzigtausend Menschen starben in den Fluten. Kurz nachdem
das Wasser zurückgegangen war, kehrte ich in mein Dorf zurück und sah eine
Landschaft voller Flüchtlinge vor mir. Es kam mir vor, als beobachtete ich
das Ende der Welt.
Der Satellit, der Hunger, die Sterne, die Kerosinlampen, die Milchstraße,
die Fraktionskämpfe der Kulturrevolution, ein Lichtjahr, die
Überschwemmung – all diese scheinbar zusammenhanglosen Dinge
verschmolzen miteinander zu den ersten Jahren meines Lebens und formten
dabei auch die Science-Fiction, die ich heute schreibe.
Als SF -Autor, der als Fan angefangen hat, benutze ich meine Geschichten
nicht als tarnende Fassade, hinter der ich die gegenwärtige Wirklichkeit
kritisiere. Für mich ist der größte Reiz der Science-Fiktion die Erschaffung
zahlreicher imaginärer Welten, die außerhalb der Wirklichkeit liegen. Ich war
schon immer der Meinung, dass die großartigsten und schönsten Geschichten
der Menschheit nicht von fahrenden Spielleuten gesungen oder von
Stückeschreibern und Romanautoren verfasst werden, sondern uns von der
Wissenschaft zukommen. Die Geschichten der Wissenschaft sind im
Vergleich zu denen der Literatur weit überwältigender, prachtvoller,
vertrackter, tiefgründiger, spannender, seltsamer, erschreckender,
geheimnisvoller und sogar gefühlvoller. Nur sind diese wunderbaren
Geschichten in kalte Gleichungen eingesperrt, die die meisten Menschen
nicht lesen können.
Die Schöpfungsmythen der verschiedenen Völker und Religionen unserer
Welt verblassen angesichts der Pracht des Urknalls. Die drei Milliarden Jahre
lange Geschichte der Evoluti on des Lebens von sich selbst
vervielfältigenden Molekülen bis hin zur Zivilisation ist reicher an
Überraschungen und romantischen Momenten als jeder Mythos und jedes
Epos. Und dann ist da noch die poetische Vision von Raum und Zeit in der
Relativität, von der seltsamen subatomaren Welt der Quantenmechanik …
Diese wundersamen Geschichten der Wissenschaft verfügen alle über eine
unwiderstehliche Anziehungskraft. Durch das Medium der SF-Literatur
möchte ich einzig und allein mit der Kraft der Fantasie meine eigenen Welten
erschaffen und in ihnen die Poesie der Natur vermitteln, die romantischen
Legenden erzählen, die sich zwischen dem Menschen und dem Universum
entfalten.
Aber ich kann der Wirklichkeit ebenso wenig entkommen wie meinem
Schatten. Die Wirklichkeit hinterlässt bei jedem von uns ihr unauslöschliches
Brandzeichen. Jedes Zeitalter legt denen, die es durchlebt haben, unsichtbare
Ketten an, und mir bleibt nur, in meinen Ketten zu tanzen. In der Science-
Fiction wird die Menschheit oft als Kollektiv beschrieben. In diesem Buch
sieht ein Mensch namens » Menschheit « sich einer Katastrophe gegenüber,
und alles, was er angesichts der Frage von Überleben oder Auslöschung an
den Tag legt, entspringt zweifellos der Wirklichkeit, die ich erlebt habe. Das
Wundersame an der Science-Fiction ist, dass sie, wenn sie in bestimmten
hypothetischen Welten angesiedelt ist, das, was in unserer Wirklichkeit böse
und finster ist, in etwas Rechtschaffenes, hell Leuchtendes verwandeln kann
– und umgekehrt. Dieser Roman und seine beiden Fortsetzungen versuchen
genau das – aber ganz egal, wie sehr die Wirklichkeit durch die Fantasie
verzerrt wird, letztendlich bleibt die Realität immer bestehen.
Ich bin seit jeher der Meinung, dass außerirdische Intelligenzen der
größte Quell von Unsicherheit für die Zukunft der Menschheit sein werden.
Andere große Veränderungen wie der K limawandel und ökologische
Katastrophen sind Prozesse mit vorgezeichneten Abläufen, an die wir uns
anpassen, aber zum Kontakt zwischen Menschen und Außerirdischen kann es
jederzeit kommen. Vielleicht ist der Sternenhimmel, zu dem die Menschheit
emporblickt, in zehntausend Jahren noch imm er leer und schweigt, aber
vielleicht wachen wir auch morgen auf und stellen fest, dass ein
außerirdisches Raumschiff von der Größe des Mondes in der Umlaufbahn
parkt. Das Auftauchen einer außerirdischen Intelligenz wird die Menschheit
dazu zwingen, sich dem Anderen zu stellen. Bislang hatte die Menschheit
noch nie ein äußeres Gegenstück. Das Auftauchen dieses Anderen oder allein
schon das Wissen um seine Existenz wird unvorhersehbare Auswirkungen
auf unsere Zivilisation haben.
Es gibt einen seltsamen Widerspruch, der in der Naivität und
Gutherzigkeit der Menschheit dem Universum gegenüber zutage tritt: Auf der
Erde kommen die Menschen auf einen fremden Kontinent und zerstören dort
mit Krieg und Seuchen die verwandten Zivilisationen, ohne auch nur einen
Gedanken daran zu verschwenden. Aber wenn sie zu den Sternen
emporblicken, werden sie sentimental und glauben, dass es sich bei
außerirdischen Intelligenzen, wenn es sie gibt, um Zivilisationen handeln
müsse, die an universelle, edle moralische Regeln gebunden sind, als wäre es
Teil eines offensichtlichen allgemeinen Verhaltenskodex, verschiedenste
Lebensformen zu lieben und zu schätzen.
Ich finde, dass es eigentlich genau andersherum sein sollte: Wir sollten
die Freundlichkeit, die wir den Sternen entgegenbringen, auf die
Angehörigen der menschlichen Art auf der Erde richten und Vertrauen und
Verständnis zwischen den verschiedenen Völkern und Zivilisationen der
Menschheit aufbauen. Doch das Universum außerhalb unseres
Sonnensystems sollten wir immer wachsam im Auge behalten und möglichen
Anderen im All jederzeit die schlimmsten Intentionen unterstellen. Das ist für
eine zerbrechliche Zivilisation wie die unsere mit Sicherheit der
verantwortungsvollere Weg.
Weil ich Science-Fiction -Fan bin, hat die Science-Fiction mein Leben
geprägt, und ein großer Teil der Science-Fiction, die ich gelesen habe, kommt
aus Amerika. Der Umstand, dass westliche Leser nun mein Buch lesen
können, freut mich und erfüllt mich mit Aufregung. Science-Fiction ist eine
Literatur, die der ganzen Menschheit gehört. In ihr geht es um Ereignisse, die
die ganze Menschheit angehen, und deshalb sollte sie das Literaturgenre sein,
das für Leser aller Länder am ehesten verständlich und zugänglich ist.
Science-Fiction handelt oft von einer Zeit, in der die Menschheit ein
harmonisches Ganzes bildet, und ich glaube nicht, dass wir auf das
Auftauchen von Außerirdischen warten müssen, damit dieser Tag kommt.
Ich bedanke mich aufrichtig bei meiner Übersetzerin Martina Hasse für
ihre fleißige Arbeit, durch die mein Roman auf Deutsch erscheinen kann. Ich
bedanke mich bei CEPIEC – der China Educational Publications Import &
Export Corporation Ltd. –, beim Zeitschriftenverlag des Magazins Science
Fiction World und beim Heyne-Verlag, denn sie alle haben mit größtem
Vertrauen und größter Aufrichtigkeit die Veröffentlichung meines Buches
vorangetrieben.
Liu Cixin
Am 28.12.2012 in Shanxi, Yangquan geschrieben und am 15.5.2016
revidiert
Erläuterungen zu Schreibweise und Aussprache
Auf einer Handvoll Seiten die Besonderheiten der chinesischen Sprache
und Schrift erklären zu wollen, grenzt an Vermessenheit. Hier geht es also
lediglich darum, eine Hilfestellung zur Aussprache der in Liu Cixins
Romanen vorkommenden Namen und Begriffe zu geben. Einen
umfassenderen Überblick über das Chinesische bieten die unten genannten
Bücher.
Die chinesische Schrift
Die Ursprünge der chinesischen Schriftzeichen lassen sich bis in die Zeit
der Shang-Dynastie zurückverfolgen, also bis etwa zum 12. Jahrhundert v.
Chr. Auf Knochenplatten und Schildkrötenpanzern fand man Einritzungen in
einer Zeichenschrift, mit der Orakelsprüche protokolliert worden sind. Diese
Schrift bestand aus in senkrechten Spalten angeordneten Piktogrammen,
bildhaften Strichzeichen, die bereits als Vorläufer der heutigen chinesischen
Schrift erkennbar sind: eine ideogrammatische Schrift, deren Zeichen auf
vereinfachten und oft zusammengesetzten Bildsymbolen basierten und die
Silben und Sinnzusammenhänge transportierten – im Gegensatz zu unserem
Alphabet, dessen Buchstaben jeweils einzelne Laute repräsentieren.
Die Jahrtausende alte Kulturgeschichte Chinas ist auch dafür
verantwortlich, dass aufgrund einer viele Dynastien dominierenden
zentralistischen Herrschaftsform sich die chinesische Schrift über all die
Jahrhunderte erhalten hat, während die Aussprache je nach Region
unterschiedlich war. Das ist noch heute so: Ein Deutscher heißt
beispielsweise auf Hochchinesisch (auch »Mandarin« genannt) déguórén ,
während man in Shanghai dagoni sagt und in Taiwan digolang . Geschrieben