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Gewaltverhalten unter Alkoholeinfluß:

Bestandsaufnahme, Zusammenhänge, Perspektiven.

(aus: DEUTSCHE HAUPTSTELLE GEGEN DIE SUCHTGEFAHREN (Hrsg.) 1996:


Alkohol - Konsum und Mißbrauch, Alkoholismus - Therapie und Hilfe. Freiburg: Lambertus,
S. 86 - 103. (= Schriftenreihe zum Problem der Suchtgefahren; 38).

Michael Klein

Umfang des Problems

Jeden Tag geschehen in unserem Land mindestens drei Tötungsdelikte, bei denen der
Tatverdächtige unter Alkoholeinfluß steht. Etwa alle 25 Minuten wird eine schwere oder
gefährliche Körperverletzung begangen, bei der auf Seiten des Täters ebenfalls eine
Alkoholintoxikation vorliegt. Häufig sind die Opfer aus dem allerengsten Umfeld, besonders
Frauen und Kinder, bisweilen auch Mittrinker im Umfeld von Kneipen, Gastwirtschaften,
Bierzelten, Discos usw.
Für die Wissenschaft gilt der enge räumliche und zeitliche Zusammenhang zwischen
Alkoholtrinken, insbesondere Alkoholintoxikation, und übermäßig aggressivem Verhalten als
hinlänglich bewiesen (BUSHMAN & COOPER 1990; MOSS & TARTER 1993). Von allen
psychoaktiven Drogen ist Alkohol am häufigsten mit Gewalt assoziiert (MILLER &
POTTER-EFRON 1989), wohl allein schon aufgrund der großen Verbreitung und des
Alltagskonsums durch viele Menschen. Weitgehend offen ist bis jetzt jedoch die Frage
geblieben, ob Alkoholtrinken nur ein Begleitumstand von Gewaltverhalten oder eine
Hauptursache darstellt (MOSS & TARTER 1993). Ebenfalls ungeklärt und von immenser
politischer Bedeutung ist die Frage, wie viele der bislang unter Alkoholeinfluß zu
konstatierenden Gewaltverbrechen mit geringeren Alkoholkonsumraten zu verzeichnen
wären, wie stark also die Gewaltkriminalität auf diesem Wege einzudämmen wäre.

Die Mehrzahl der modernen Menschen scheint das Auftreten von Gewalttaten unter
Alkoholeinfluß stillschweigend zu tolerieren, bisweilen kaum zur Kenntnis zu nehmen oder
als unveränderbare Realität resignierend zu akzeptieren.

Abgesehen von dem oft unermeßlichen menschlichen Leid, das für die Opfer von Gewalttaten
(insbesondere Frauen und Kinder) entsteht, dürfte allein der volkswirtschaftliche Schaden, der
durch alkoholinduzierte Gewalttaten verursacht wird, einen derartig immensen Betrag
ausmachen, daß präventive und korrektive Maßnahmen unerläßlich sind und außerdem
rentabel wären. Rechnet man die Unfälle im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluß zu dem Teil
noch hinzu, zu dem sie durch aggressives Fahren ausgelöst wurden, erscheint Ausmaß der
Problematik noch gravierender.

Globale Zusammenhänge

Der Einfluß des Alkohols auf das Gewaltverhalten einzelner Menschen kann vereinfachend
als risikohaft auslösender und erleichternder (damit auf jeden Fall begünstigender) Faktor
angesehen werden, keinesfalls jedoch als alleinige Ursache. Alkohol als solcher kann
natürlich nicht Gewaltverhalten auslösen, sondern wird über die Vermittlung mit den
entsprechenden biochemischen, neuropsychologischen und kognitiven
Verarbeitungsmechanismen im Gehirn des Menschen zu einem potenten Risikofaktor für
Gewaltverhaltensweisen. Im einzelnen sind folgende Konsequenzen und Wechselwirkungen
zu unterscheiden:

1. Alkoholtrinken als "Trigger" für Gewaltverhalten.

Bei dieser wohl häufigsten Form des Zusammenhangs werden Suchtmittel als Katalysatoren,
Erleichterer, Beschleuniger oder Auslöser ("trigger") von Gewaltakten angesehen, wobei
anzumerken ist, daß der Auslöser meist nicht identisch mit der Ursache eines Verhaltens sein
wird. Diese Auslösung geschieht am ehesten, wenn die Rauschmittel lösgelöst von kulturell
überlieferten Ritualen in mißbräuchlicher Art konsumiert werden. Viele der heutzutage weit
verbreiteten Alkoholkonsumstile (z.B. in jugendlichen Peer-Gruppen, bei Kneipen- und
Diskobesuchen) zielen auf die stimmungs- und verhaltensverändernde Wirkung des Alkohols
und begünstigen aggressive Verhaltensweisen, z.B. aufgrund der schnell eintretenden
Intoxikation oder der mit dem Trinken bei den Gruppenmitgliedern verbundenen
Erwartungen. Bisweilen ergibt sich dadurch eine Aggressionseskalation, die so ohne
Suchtmittel unmöglich oder zumindest unwahrscheinlicher wäre. Es bleibt jedoch zu
bedenken, daß Alkoholtrinken multiple Funktionen und Konsequenzen für Menschen besitzt
und nur in einer Minderzahl aller relevanten Situationen zu Gewaltexzessen führt. Daher sind
weitere Determinanten für das Zusammenspiel zwischen Alkoholtrinken und Gewaltverhalten
zu berücksichtigen. sind.

2. Sucht infolge chronischer Gewalterfahrungen.

Weiterhin können Sucht und Abhängigkeit die Folgen chronischer Gewalterfahrungen im


Sinne der Opferposition, also der Viktimisierung, sein. Alkohol dient hier eher der
Beruhigung, Angstunterdrückung und Steigerung bzw. Verlängerung der Leidensfähigkeit.

3. Gewalthandlungen nach chronischem Alkoholmißbrauch.

Ferner können Gewalthandlungen auch die Folgen von chronischem Suchtmittelmißbrauch


sein, etwa im Sinne von Persönlichkeitsveränderungen, moralisch-ethischem Verfall,
kriminellen Fehlentwicklungen oder aufgrund der Haltung, daß aggressives Verhalten unter
Alkoholeinfluß leichter zu entschuldigen ist ("Exkulpierung").

4. Süchtige Eigendynamik gewalttätigen Verhaltens.

Schließlich ist anzumerken, daß Gewaltverhalten selbst, insbesondere als exzessives


Verhalten, einen rauschartigen Effekt im Gehirn nach sich ziehen kann. Diese durch
Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter ausgelösten Effekte im Rahmen des sogenannten
Selbstbelohnungssystems des Gehirns sind auch von anderen exzessiven Verhaltensweisen
bekannt.

In der Kombination mit Drogen und Rauschmitteln kann dieses rauschhafte Erleben
möglicherweise noch gesteigert bzw. einfacher und schneller herbeigeführt werden.

Um die komplexen Zusammenhänge zwischen den beiden Bereichen Alkoholtrinken und


Gewaltverhalten umfassend zu verstehen, ist die Berücksichtigung phramakologischer,
endokrinologischer, neurobiologischer, genetischer, ethnologischer, situativer,
kognitionspsychologischer, ökologischer, soziologischer und kultureller Determinanten
erforderlich (vgl. REISS & ROTH 1993). Zur Erklärung der Entstehung gewalttätigen
Verhaltens bietet sich das "ätiologische Dreieck", bestehend aus den Faktoren Person,
Umwelt und Droge, an. In je unterschiedlicher Gewichtung können die drei Faktoren zum
Auftreten bzw. Nichtauftreten von Gewaltverhalten führen.

Gewalt und Gewaltverhalten

Der Gewaltbegriff wurde in der öffentlichen Diskussion der vergangenen Jahre zunehmend
ausgeweitet, was einerseits den Blick für bislang vernachlässigte Phänomene schärfte,
andererseits aber auch mit mehr Unklarheit und Mehrdeutigkeit einherging. Beispielsweise
benennt KLOSINSKI (1994) als Formen zu berücksichtigender seelischer Gewalt Isolation
und Ausschluß, Bedrohung und Beschämung sowie Erpressung und Korruption. Wichtig
erscheint auch, Gewaltbereitschaft von Gewaltverhalten abzugrenzen. Obwohl beide in engem
Zusammenhang stehen, muß es durchaus trotz vorhandener Gewaltbereitschaft nicht zu
Gewaltverhalten kommen, etwa wenn die Auslösereize fehlen, zu schwach sind oder
unterschiedlich bewertet werden. Möglicherweise spielt Alkohol für die Bahnung des
Verhaltens von Gewaltbereitschaft zu Gewaltakten in vielen Fällen eine wichtige Rolle,
insbesondere wenn es sich um spontanes, impulsives und wenig geplantes Verhalten handelt.

Selbst der rein physische Gewaltbegriff ist schwierig zu definieren und konfundiert oft mit
unklaren Vorstellungen über Aggression (vgl. MOSS & TARTER 1993). Zur besseren
begrifflichen Klarheit werden im folgenden einige forschungsleitende Definitionen
vorgestellt:

HURRELMANN & PALENTIEN (1995, 15) konzentrieren sich auf die Gewalt als
körperliche Aggression, "bei der ein Mensch einem anderen Menschen Schaden mittels
physischer Stärke zufügt". Wichtig ist dabei die Absicht oder zumindest die Inkaufnahme
seitens des Täters, daß dem Opfer ein körperlicher, seelischer und sozialer Schaden entstehen
kann.

RAUCHFLEISCH (1992, 11) sieht "Gewalt als eine Teilmenge, als eine spezifische Form der
Aggression" an, bei der die grundsätzlich denkbaren positiven Funktionen von Aggressionen
(z.B. angemessene Selbstbehauptung, Revierverteidigung, Notwehr) ausgeschaltet sind.
Vielmehr wird Gewalt als eine spezifische Form der Aggression angesehen, "welche die
Schädigung eines Objekts oder einer Person zum Ziel hat" (RAUCHFLEISCH 1992, 36).

Daß Gewaltakte andererseits oft mit Ohnmachtsgefühlen und Risikoverhalten zu tun haben,
machen ENGEL & HURRELMANN (1993, 31) deutlich, wenn sie davon sprechen, daß
Gewalt "immer ein interaktives Produkt, das in sozialen Prozessen entsteht und am Ende von
Kommunikationsschwierigkeiten und Konflikten stehen kann."

Unter einer sozialpsychologischen Perspektive, die auch auf die Rolle von Randgruppen und
Subkulturen fokussiert, kann zusätzlich zwischen personaler Gewalt als beabsichtigter
physischer und/oder psychischer Schädigung einer Person, von Lebewesen und Sachen durch
eine andere Person und struktureller Gewalt als die systematische Benachteiligung,
Ausgrenzung und Ungerechtigkeit in Gesellschaften unterschieden werden. Diese
verschiedenen Gewaltformen, die auch als heiße und kalte Gewalt bezeichnet werden, gilt es
bei der folgenden Analyse des suchtbedingten Kontextes von Gewalt nicht aus den Augen zu
verlieren.

Der soziale Nahbereich als Risikoumwelt

Gewalterfahrungen sind für Personen im Umkreis des Konsums und Mißbrauchs von
psychoaktiven Drogen ein durchaus in Betracht zu ziehendes Risiko. Die Familie ist für
Frauen und Kinder im Verhältnis zu der Zahl der erlittenen Gewaltakte der gefährlichste
Lebensort. Vermutlich nur ein Bruchteil der dort unter Alkohol- und Drogeneinfluß
begangenen Gewalttaten wird bekannt.

Bestimmte Substanzen sind besonders häufig mit Gewaltverhalten assoziiert. MILLER &
POTTER-EFRON (1989) nennen in diesem Zusammenhang insbesondere Alkohol,
Phencyclidin (PCP), Sedativa (insbes. Barbiturate), Amphetamine und Kokain. Der
vorliegende Beitrag beschränkt sich auf den schon recht komplexen Bereich des
Gewaltverhaltens unter Alkoholeinfluß, speziell in Kontexten von Alkoholintoxikation
und -entzug sowie Alkoholmißbrauch und -abhängigkeit.

Alkohol und Gewalt in Kriminalstatistiken

Auch wenn nur wenige Alkoholintoxikationen zu gewalttätigen Verhaltensweisen führen,


besteht in den Fällen, in denen es zu schweren Formen von Gewalttätigkeiten unter Alkohol
kommt, auch die Gefahr einer engen Verbindung zur Kriminalität. Die Wahrscheinlichkeit,
daß ein Alkoholiker wegen eines schwerwiegenden Verbrechens verurteilt wird, ist dreimal
höher als daß dies einem Nicht-Alkoholiker passiert (Mc CORD 1995).

COLLINS (1982) berichtet zusammenfassend, daß mehrere umfangreiche Untersuchungen zu


Tötungsdelikten Alkoholisierungsquoten der Täter von um oder über 50% ergeben haben. Es
zeigte sich auch, daß bei 88% der Tatverdächtigen von Messerstechereien (Mc CORD 1995)
eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von mehr als 0.1% nachzuweisen war.

Auffällig bei zahlreichen Studien war außerdem, daß in vielen Fällen auch die Opfer
intoxikiert waren. Die erfahrene amerikanische Gewaltforscherin Joan Mc CORD (1995)
weist daraufhin, daß Verbrechen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit dort passieren, wo
potentielle Opfer trinken bzw. intoxikiert sind.
Die mögliche Verbindung zwischen Alkoholrausch und Gewaltkriminalität besteht generell
eher in der Richtung, daß bei Gewalthandlungen eine Alkoholisierung wahrscheinlich ist, als
daß bei einer Alkoholintoxikation ohne weiteres eine Gewalttat naheliegend ist.

Aus deutschen Kriminalstatistiken ist zu entnehmen, daß die Alkoholisierungsquote der


Tatverdächtigen unter allen Deliktgruppen für Gewaltkriminalität am höchsten ist (1993:
26.8%). Dabei liegt ein Alkoholeinfluß vor, "wenn dadurch die Urteilskraft während der
Tatausführung beeinträchtigt war. Maßgeblich ist ein offensichtlicher oder nach den
Ermittlungen wahrscheinlicher Alkoholeinfluß" (BUNDESKRIMINALAMT 1994, 116).
Innerhalb der gewaltkriminellen Delikte ergibt sich mit der Schwere der Tat im wesentlichen
auch eine Zunahme der Alkoholisierungsquote: Während 1993 30.1 % der Tatverdächtigen
für gefährliche und schwere Körperverletzung unter Alkoholeinfluß standen, waren es bei
Totschlagsdelikten 42.4% und bei Sexualmorden sogar 52.9%. Einzig die Tötungsdelikte, die
eine Planung und im Einzelfall auch eine gewisse Impulskontrolle voraussetzen (z.B.
Raubmorde) weisen mit 29.9% eine deutlich erniedrigte Alkoholisierungsquote auf. Es ist
naheliegend, bei diesen Tatzusammenhängen gerade auf die potentiell affektauslösende und
die Impulskontrolle störende Wirkung des Alkohols zu verweisen. Selbstberichtete
Alkoholintoxikationen können natürlich auch den Versuch einer Exkulpierung für begangene
Fehlverhaltensweisen darstellen. Insofern dürften hier - wenn kein andersartiger Nachweis
geführt werden kann - auch Schutzbehauptungen aus Angst vor Bestrafung oder sozialer
Verurteilung eine Rolle spielen.

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hier bitte Abb. 1 einfügen !

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Wie aus Abbildung 1 zu entnehmen ist, sind die absoluten Zahlen für Gewaltdelikte unter
Alkoholeinfluß seit vielen Jahren nahezu konstant. Jährlich geschehen ca. 800
Totschlagsdelikte und 20.000 schwere Körperverletzungen unter Alkoholeinfluß.

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hier bitte Abb. 2 einfügen !

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Die in Abbildung 2 dargestellten prozentualen Anteile spiegeln für beide Fragestellungen


einen kontinuierlichen leichten Rückgang wider. Dieser wird jedoch eher durch eine Zunahme
der Gesamtzahl der betreffenden Delikte, soweit sie nicht unter Alkoholeinfluß begangen
wurden, verursacht als - wie Abb. 1 zeigt - durch einen Rückgang der absoluten Fallzahlen für
die Taten unter Alkoholeinfluß.
Theorien und aktuelle Forschungsergebnisse

Unter den theoretischen Modellen zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen Alkohol und
Gewalt dominierte lange Zeit die Disinhibitionstheorie, derzufolge die Wirkung des
Alkohols auf das Gehirn eine Hemmung vieler Funktionen, so z.B. auch der Angst und der
Unsicherheit, erzeuge. Über den Weg der "Hemmung der Hemmung" werde auch aggressives
(oft zunächst nur verbales) und gewalttätiges Verhalten gebahnt. Es bleibt dabei jedoch offen,
warum in manchen Situationen Gewaltverhalten gezeigt wird, während in anderen genau dies
nicht geschieht oder sogar mit Rückzug reagiert wird. Daher betonen neuere Theorien die
Wichtigkeit der zusätzlichen Berücksichtigung differentieller Faktoren, wie z.B. der
konsumierten Alkoholmenge und -art, der neuropsychologischen Effekte des Alkohols,
der sozial-kognitiven Erwartungen an die Alkoholwirkungen, zugrundeliegender oder
coinzidentieller Persönlichkeitsfaktoren und Dispositionen sowie der jeweiligen
Situations- und Kontextbedingungen.

Im einzelnen liegen dazu folgende relevante Ergebnisse vor:

(a) Die konsumierte Alkoholmenge scheint nur innerhalb eines bestimmten "Korridors" von
Blutalkoholkonzentrationen (BAK) im Sinne einer kurvilinearen Funktion die
Gewaltbereitschaft zu steigern. Sehr niedrige und sehr hohe BAKs legen eine niedrige,
teilweise sogar erniedrigte Gewaltbereitschaft nahe, während mittlere Werte (geschätzt von
0.1% bis ca. 0.25% BAK) das Risiko für Gewaltverhalten steigern können. Innerhalb des
Wirkungskorridors erzeugen höhere Dosen Alkohol aggressiveres Verhalten als niedrigere
Dosen (BUSMAN & COOPER 1990).

(b) Bei den Arten von konsumierten Alkoholika ergaben sich bei einer Stichprobe männlicher
Trinker für destillierte Getränke höhere Werte für aggressives Verhalten als für einfach
vergorene Getränke wie Bier und Wein (MOSS & TARTER 1993). Innerhalb der
hochprozentigen Alkoholika zeigten Wodkatrinker eine stärkere Gewaltbereitschaft als
Whiskytrinker trotz gleichen Alkoholgehalts im Blut (BUSHMAN & COOPER 1990; MOSS
& TARTER 1993).

(c) Zu den neuropsychologischen Effekten zählen neben der globalen Hemmungswirkung auf
neuronale Prozesse insbesondere die Beeinträchtigung des Beurteilungs- und
Wahrnehmungsvermögens, das Nachlassen der Aufmerksamkeit mit entsprechenden
Gegensteuerungsreaktionen, die verstärkte Auslösung negativer Affekte (LEONARD &
JACOB 1988), die Induktion von Unruhe und Irritierbarkeit, vermehrte Schlafdeprivation
(insbesondere bzgl. der REM-Phasen) und gestörte Denkabläufe (bis hin zu paranoiden
Mustern) sowie das Auftauchen von Gedächtnislücken (MILLER & POTTER-EFRON 1989).
Aggressive Handlungen sind bei ansteigender Blutalkoholkonzentration wahrscheinlicher sind
als bei absteigender (BUSHMAN & COOPER 1990; REISS & ROTH 1993). Die Ursache
hierfür liegt vermutlich darin, daß in dieser Phase die stimulierenden und euphorisierenden
Effekte des Alkohols am stärksten sind. Im Alkoholentzug sind derartige Verhaltensweisen
seltener, auch wenn es im Entzugsdelir zu unberechenbaren Handlungen kommen kann.

(d) Zu den psychologischen Risiken, die eine vermittelnde Rolle zwischen Alkoholtrinken
und Gewaltverhalten bedeuten können, zählen vor allem die Erwartung an die
aggressionsfördernde Wirkung und angstvermindernde Wirkung des Alkohols sowie eine
Zunahme der Euphorie und des unrealistischen Denkens. Da Alkohol auch allgemein als
Ursache für Aggressionen angesehen wird, kann nicht ausgeschlossen werden, daß diese
Erwartung das Auftreten von realen Gewaltakten begünstigt und darüber hinaus dem
Individuum eine Selbstentlastungsmöglichkeit für das gezeigte Verhalten durch die
Attribution auf die externe "Gewaltquelle Alkohol" (vgl. LEONARD & JACOB 1988) liefert.
Alkohol hat dabei kognitiv manipulierende Wirkungen. So zeigten
motivationspsychologischen Studien, daß Männer an das Alkoholtrinken die Erwartung einer
Steigerung des Machtgefühls und eines Nachlassens von Ohnmachtsgefühlen hatten.
Machtgefühle, insbesondere unrealistische Allmachtsphantasien, wiederum können durchaus
die Hemmschwelle für aggressive und gewalttätige Verhaltensweisen absenken.

(e) Bei den coinzidientiellen Persönlichkeitsfaktoren handelt es sich vor allem um antisoziale,
aber auch aggressive, hyperaktive und impulsive Störungen. Von allen comorbiden Störungen
ist die antisoziale Persönlichkeitsstörung am häufigsten mit Substanzmißbrauch kombiniert
(MOSS & TARTER 1993). Zahlreiche Studien deuten darauf hin, daß stark aggressives
Verhalten in der Kindheit ein Risikofaktor für Alkoholmißbrauch und gewalttätiges
Verhalten im jungen Erwachsenenalter sein kann (REISS & ROTH 1993). Auch Personen mit
narzißtischen Persönlichkeitsstörungen scheinen unter Alkoholeinfluß eher zu Gewalt zu
neigen als andere Personen unter Alkoholeinfluß. Eine bereits seit langer Zeit vorhandene
Gewaltbereitschaft oder aggressiv gefärbte Einstellungen und Werthaltungen können auf der
Basis bestimmter Persönlichkeitstypen unter Alkoholeinfluß in gefährlich gewalttätiges
Verhalten umgesetzt werden.

(f) Zu den situativen Bedingungen zählen insbesondere solche, die aufgrund erhöhter
Alkoholintoxikation einzelner Personen ein erhöhtes Risiko für Gewaltverhalten in sich
bergen. Als besonders gefährlich haben sich solche Situationen erwiesen, in denen
Provokationen stattfanden bzw. Personen ein Verhalten zeigten, das als provokativ
empfunden wurde. Höhere Alkoholdosen gehen mit einem stärker aggressiven Reagieren auf
Provokationen einher (MOSS & TARTER 1993). Auf der anderen Seite scheint
Alkoholtrinken nicht zu verstärktem provokativem Verhalten zu führen. Die aggressiven
Reaktionen alkoholintoxikierter Personen sind jedoch auch in starkem Maße von den
antizipierten Folgen eines derartigen Verhaltens abhängig, da eine drohende Vergeltung durch
einen aggressiven Bedroher eigenes aggressives Verhalten unwahrscheinlicher macht. So
berichten BUSHMAN & COOPER (1990), daß sowohl Männer als auch Frauen sich Frauen
gegenüber aggressiver verhielten als Männern gegenüber. Offensichtlich wurden Frauen als
weniger bedrohlich hinsichtlich ihres Vergeltungsverhaltens wahrgenommen. Neuere Studien
weisen auch daraufhin, daß Frauen, die alkoholabhängig sind, einem größeren Risiko
unterliegen, Gewaltopfer zu werden als andere Frauen.

Leider liegen zu differentiellen geschlechtsspezifischen Zusammenhängen wenige brauchbare


empirische Untersuchungen vor. Meistens konzentrieren sich die vorliegenden Studien ganz
oder fast ganz auf männliche Trinker. O´FARRELL & MURPHY (1995) konnten jedoch
neuerdings in einer Studie unter Beteiligung 88 amerikanischer Paare zeigen, daß in
Partnerschaften mit einem alkoholabhängigen männlichen Partner sich das Ausmaß des
gewalttätigen Verhaltens zwischen den Partnern beiderlei Geschlechts nicht deutlich
unterschied, während der Unterschied des gewalttätigen Verhaltens im Verhältnis zur
Normalbevölkerung für Männer und Frauen jeweils deutlich erhöht war. Aufgrund des
Wandels der Geschlechtsrollenstereotypen sind hier deutliche Veränderungen der jetzigen
Täter - Opfer - Beziehungen auch in westeuropäischen Gesellschaften in Zukunft zu erwarten.

Sogar üblicherweise wenig betrachtete situative Variablen wie die Temperatur der Umgebung
scheinen einen Einfluß auf die alkoholassoziierte Gewalt zu haben; entsprechende
Verhaltensweisen steigen in ihrer Frequenz ab einer Temperatur von knapp über 30 Grad
Celsius sprunghaft an.

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Sucht- als Gewalt- und Gewalt- als Suchtprävention

Alkoholinduzierte Gewalt ist sowohl Gegenstand der Gewalt- als auch der Suchtprävention.
Obwohl Gewaltverhalten nicht eindeutig kausal mit Alkoholabhängigkeit zusammenhängt, ist
die Wahrscheinlichkeit gewalttätiger Verhaltensweisen bei Alkoholabhängigen besonders
hoch, weil bei diesen mehr und häufiger Intoxikationszustände auftreten, die insbesondere bei
aszendierendem Blutalkoholspiegel die Wahrscheinlichkeit gewalttätiger Verhaltensweisen
begünstigen.

In der Suchtprävention wird zwischen personen- und systemzentrierten, kommunikativen und


strukturellen sowie zwischen substanzbezogenen und gesundheitsfördernden Maßnahmen
unterschieden. Bei all diesen Ansätzen sind die gewaltpräventiven Aspekte der
Suchtprävention mitzubedenken. Ähnlich verhält es sich mit den gewaltpräventiven
Maßnahmen, die wiederum Chancen der Suchtprävention beinhalten. So können z.B. die
Verringerung des durchschnittlichen Alkoholgehalts aller verkauften Alkoholika, die
Verteuerung des Verkaufs alkoholhaltiger Getränke bei öffentlichen Veranstaltungen, das
frühzeitige Verhaltenstraining bei hyperaggressiven Kindern, die bessere ökopsychologische
Gestaltung bestimmter Risikogegenden durchaus sinnvolle Einzelmaßnahmen sein. Sie sollten
jedoch im Gesamtzusammenhang eines notwendigen größeren sucht- und gewaltpräventiven
Rahmen- und Aktionsplans gesehen werden, wie er inzwischen (nach Vorlage des
Abschlußberichts der Gewaltkommission der Bundesregierung und Verabschiedung des
nationalen Rauschgiftbekämpfungsplans) dringend erforderlich scheint.
Ausblick

Die wissenschaftlichen Aussagen zum Themenkomplex sind eher schwierig und komplex.
Zwar wird der enge und häufig empirisch bestätigte Zusammenhang zwischen übermäßigem
Alkoholtrinken und Gewaltverhalten allgemein als gesichert angenommen (REISS & ROTH
1993), doch zeigen sich bei differenzierteren Fragestellungen, z.B. nach der Identifikation von
Ursachen und Folgen, Funktionen des Alkohols für Gewaltverhalten, Situationskonstanz vs. -
variabilität erhebliche theoretische und praktische Probleme, die eine genauere Erforschung
der zugrundeliegenden Phänomene erforderlich machen. So ist z.B. wenig bekannt über die
Unterformen gewalttätigen Verhaltens in ihrem Zusammenhang mit Alkoholintoxikation und
die Varianz individueller Reaktionen auf vergleichbare Intoxikationen und Stimuli
("scattering").

Interessanterweise wurde bislang auch die Frage, inwieweit Menschen, nachdem sie
Gewalttaten begangen oder erlitten haben, Alkoholmißbrauch betreiben, kaum
berücksichtigt, und zwar unabhängig davon, ob sie zum Zeitpunkt des Gewaltdelikts
intoxikiert waren oder nicht.

Auch die Tatsache, daß Alkohol von Personen, die unter hohen Spannungen und einer
geringen Frustrationstoleranz leiden, erfolgreich als Beruhigungsmittel eingesetzt wird
(KAPLAN & DAMPHOUSE 1995), hat in der Forschung bislang wenig Interesse gefunden.
Insgesamt verspricht die stärkere Berücksichtigung von Subgruppen bei der Betrachtung
alkoholbedingter Gewalt klarere und eindeutigere Ergebnisse.

Um die Effektivität von Suchttherapien zu verbessern, scheint die Integration des Themas
Gewalt in entsprechende Therapiekonzepte unerläßlich. Während schon seit Jahren die Rolle
der Opfer von Gewalttaten (z.B. im Bereich des sexuellen Mißbrauchs bzw. der sexuellen
Mißhandlung) zu Recht thematisiert wird, stellt die Perspektive des Gewalttäters ein
anscheinend viel größeres Tabu dar. Wie die praktische "Pionierarbeit" an einigen Orten
(siehe z.B. VOGELGESANG et al. 1995) zeigt, ist in der therapeutischen Arbeit mit diesen
Menschen ein hohes Ausmaß an Einfühlungsvermögen und Empathie nötig, damit diese sich
öffnen und selbstkonfrontieren können. Eine rein anklagende oder moralisierende Haltung
diesen Personen gegenüber stabilisiert ihre Verschlossenheit und die Exklusivität des Tabus
"über eigene Gewalt spricht man nicht".

Auch auf Gefahren, die das Aufzeigen der Zusammenhänge zwischen Alkohol und Gewalt in
sich birgt, ist abschließend hinzuweisen. Insbesondere sollte auf eine frühzeitige
Stigmatisierung von Gewalttätern als unverbesserliche Kriminelle verzichtet werden. Auch
die Erwartung bzw. der Glaube, daß Alkoholtrinken - insbesondere bei Männern - die
Aggressivität erhöhen müsse, kann als soziales Stereotyp die Bahnung von Gewaltbereitschaft
zu Gewalttätigkeit begünstigen.
Daß das mit dem Alkoholtrinken verbundene Risiko keine rein neuzeitliche Erscheinung ist,
soll abschließend mit den Worten des griechischen Philosophen Epiktet (zit. nach
SCHNEIDER 1988, 16) bewiesen werden, der bereits vor knapp 1900 Jahren schrieb: "Der
Weinstock trägt drei Trauben: Die erste bringt die Sinneslust, die zweite den Rausch, die
dritte das Verbrechen."

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Korrespondenzanschrift:

Prof. Dr. Michael Klein

Katholische Fachhochschule Nordrhein - Westfalen

Wörthstraße 10

50668 Köln
Netzwerk Psychologische Suchtforschung | Research | Dept of Experimental Psychology |
Psychological Institute | Bonn University

written by Michael Klein, 05.09.97.

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