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Gebildete Souveränität
Pastoraltheologische Argumente für die neue Einübung
eines alten Zieles theologischer Ausbildung
von
Christian Albrecht
aus denen die künftigen Pfarrerinnen und Pfarrer stammen, auf die Vielfalt ihrer
Motivlagen und Erfahrungshintergründe, aber auch auf ihre Interessen am Pfarr-
beruf und auf die Bedingungen, unter denen sie ihn zu ergreifen bereit sind. Es
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Pfarramt in der Ausrichtung am Ideal der Bildung der Pfarrerinnen und Pfarrer
bestimmen zu wollen, ist zwar nicht originell, verträgt aber eine Konkretisie-
rung.
Diese These soll begründet werden in drei Schritten. Am Anfang steht eine
kurze historische Orientierung zu den Gründen, der Bildung einen solchen
kategorialen Stellenwert in der praktisch-theologischen Ausbildung von Pfar-
rerinnen und Pfarrern beizumessen. Hier wird ein relativ spezieller Blick auf
die Funktion der Bildungsidee für die Ausbildung und Berufsführung des
Geistlichen eingenommen. Im zweiten Abschnitt soll eine systematische,
pastoraltheologische Begründung für die Bedeutung des Bildungsideals in der
Ausbildung vorgetragen werden. Und in einem dritten Schritt sollen einige
Überlegungen zur praktischen Umsetzung eines solchen Bildungsideals in den
Ausbildungsvorgängen gegeben werden.
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1. Historische Orientierung
Das Bildungsideal in die Mitte von Zielbestimmungen der Ausbildung von Pfar-
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rerinnen und Pfarrern zu rücken, hat in der Praktischen Theologie eine lange
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Tradition.1 Im Kern geht sie zurück darauf, dass schon die Reformatoren der
Ausbildung ins Pfarramt das spätmittelalterliche Bildungsprogramm zugrunde
legten, indem sie wissenschaftliche Bildung für jeden Pfarrer verbindlich mach-
ten. Das hat seinen Grund in der Umstellung des Pfarrberufs auf die Haupt-
aufgabe einer Auslegung des göttlichen Worts. Weil die Funktion des geistlichen
Amts nicht mehr in erster Linie in der Administrierung der heiligen Symbole,
sondern in der Predigt gesehen wurde, ergab sich das gesteigerte Bedürfnis nach
der Vermittlung der reinen Lehre an jeden Pfarrer und nach ihrer Erhaltung
durch jene. Der sakramentale Charakter der Weihe als Bedingung für die Befä-
higung zum Pfarramt wurde ersetzt durch theologische Vorbildung. Aus dem
humanistischen Bildungsprogramm wurde ein Ideal religiöser Bildung gewon-
nen, dessen subjektive Anverwandlung die Fähigkeit zur individuellen Verant-
wortung für die Reinheit der Lehre sicherstellen sollte. In der Geschichte der
modernen Praktischen Theologie hat diese Grundbestimmung zu verschiede-
nen Typen der Inanspruchnahme der Bildungsidee für das Selbstverständnis
der Praktischen Theologie geführt. Hier soll, in aller Kürze, auf vier markante
Typen hingewiesen werden.
(a) Ein erster Typus ist von Friedrich Schleiermacher (1768–1834) ausge-
formt worden. Er hat die reformatorische Fassung der theologischen Aufgabe
1
Zum Folgenden ausführlich Ch. Albrecht, Bildung in der Praktischen Theologie,
2003, 5–11.
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als Ganzer aus dem Bildungsgedanken aufgenommen und erneuert. Vor allem
hat er dabei aber die neu entstehende Disziplin der Praktischen Theologie ganz
aus dem allgemeintheologisch überlieferten und verbindlichen Bildungsgedan-
ken heraus konzipiert. Die Praktische Theologie wird, im Zusammenhang der
Theologie als Ganzer, im Blick auf die Bildung des Geistlichen konzipiert, die
für die Ausübung der christlichen Gemeindeleitung unabdingbar ist. Ins Zen-
trum der Praktischen Theologie rückt der Bildungsgedanke deshalb, weil Bil-
dung die Funktion hat, dem Geistlichen (in der Verbindung mit dem ihm gege-
benen Talent) die Transformation geschichtlich überlieferter Ideale wie auch
geschichtlich überlieferter Formen des christlichen Lebens in selbständig be-
gründete und verantwortbare Praxisoptionen zu ermöglichen.
»Die Aufgaben, zumal im Gebiet des Kirchenregiments, wird derjenige am richtigsten
stellen, der sich seine philosophische Theologie am vollkommensten durchgebildet hat.
Die richtigsten Methoden werden sich demjenigen darbieten, der am vielseitigsten auf
geschichtlicher Basis in der Gegenwart lebt. Die Ausführung muß am meisten durch
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Insofern wird man die Etablierung des Bildungsbegriffs als eines theoretischen
Leitbegriffs der Praktischen Theologie als Ganzer auf Schleiermacher zurück-
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führen können.
(b) In der Zeit nach Schleiermacher ist der Bildungsbegriff in der Prakti-
schen Theologie für lange Zeit im Wesentlichen in Zusammenhänge der Be-
gründung des kirchlich-religiösen Unterrichts abgewandert, also in katecheti-
sche bzw. religionspädagogische Kontexte. Als Leitbegriff der Praktischen
Theologie insgesamt hat er dagegen kaum eine tragende Rolle gespielt. Dies
ist der Fall erst wieder in den Diskussionen einer Reorganisation des theologi-
schen Studiums um die Wende vom 19. aufs 20. Jahrhundert, und zwar insbe-
sondere unter Praktischen Theologen aus dem liberalprotestantischen Umfeld.
In diesem Typus wird der Bildungsgedanke in Anspruch genommen als Gegen-
gewicht zu empirischen Öffnungen der praktisch-theologischen Ausbildung
zum Pfarrberuf. Neben Heinrich Bassermann (1849–1909)3 und Wilhelm Bor-
2
F. Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf
einleitender Vorlesungen. Zweite umgearbeitete Ausgabe (1830) (in: Ders., Universitäts-
schriften – Herakleitos – Kurze Darstellung des theologischen Studiums [KGA I/6], hg.
von D. Schmid, 1998, 325–446), 445 (§336).
3
H. Bassermann, Die Bedeutung der praktischen Theologie in der Gegenwart
(1879; in: Ders., Beiträge zur Praktischen Theologie. Gesammelte Aufsätze und Vor-
träge, 1909, 1–14). – Ders., Arbeiten und Ziele der heutigen praktischen Theologie
(ZprTh 2, 1880, 25–47. 123–147). – Ders., Die Praktische Theologie als eine selbständi-
ge, wissenschaftliche theologische Disziplin (1896; in: Ders., Beiträge zur Praktischen
Theologie, 15–36).
318 Christian Albrecht ZThK
nemann (1858–1946)4 ist hier vor allem Paul Drews (1858–1912) und sein Re-
formprogramm der theologischen Ausbildung zu nennen. Drews hat in theolo-
gischer Vorbildung eine Realisierungsbedingung seines praktisch-theologischen
Programms gesehen. Denn sie ermöglicht erst den Betrieb einer empirisch aus-
gerichteten Praktischen Theologie, zu deren vordringlichen Aufgaben er die
Vermittlung zwischen der gemeindlich-sozialen Wirklichkeit und deren prin-
zipientheologisch-ekklesiologischen Bestimmungen zählte. Im Kern bedeutet
Bildung dabei die Kenntnis dieser prinzipientheologisch-ekklesiologischen
Rahmenbedingungen: Bildung ist Wissen. Ob das überzeugend oder ausrei-
chend ist, sei hier nicht diskutiert – erwähnenswert ist dies als ein eigener Typus,
weil er eine nicht wenig verbreitete Vorstellung widerspiegeln dürfte, der zu-
folge Bildung im Besitz fest umrissener, substantieller Wissensgehalte besteht.
(c) Daneben zu nennen ist ein dritter Typus, der mit dem vorangegangenen
darin verwandt ist, dass er ebenfalls versucht, die theologische Wende zur Er-
fahrungswelt zu vollziehen. Unterschieden ist er von dem vorangegangenen
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aber dadurch, dass Bildung hier nicht in Wissensgehalten, sondern in einer Hal-
tung besteht. An Friedrich Niebergalls (1860–1932) Programm der Praktischen
Theologie ließe sich das studieren, deutlicher indessen bei Otto Baumgarten
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(1858–1934), für den der Bildungsgedanke eine zentrale Bedeutung zur Be-
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4
W. Bornemann, Die Unzulänglichkeit des theologischen Studiums der Gegenwart.
Ein Wort an Dozenten, Pfarrer und Studenten, 1886. – Ders., Historische und praktische
Theologie. Öffentliche Antrittsvorlesung in der Aula der Universität Basel am 24. Juni
1898, 1898.
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genheit von Amt und Person als Kennzeichen der Bildung des Geistlichen her-
vorzuheben, um andererseits im selben Atemzuge alle Forderungen nach ratio-
nalisierbaren Berufsausübungstechniken für unvereinbar mit diesem Professio-
nalitätsideal zu erklären.5 Die eigentliche Funktion der Bildung des Geistlichen
besteht darin, dass sie die Erfahrungen der eigenen Wirksamkeit »einreihen
lehrt in die Bewegungen auf dem weiten Schauplatz der Zeit und der christ-
lichen Gegenwart«.6 Die der Bildung entspringende geistige Haltung und zu-
gleich diejenige Haltung, die eben diese Bildung vervollkommnet und die
Kompetenz des Geistlichen fördert, ist dabei diejenige einer differenzierten
Beobachtung: Baumgarten beschreibt sie, sich auf Herder berufend, als eine
auf Dauer gestellte »›Beobachtungslage der Seele‹, in der sie ganz unerwartete
Entdeckungen zu machen vermag«.7 Ein weiteres von Baumgarten genanntes
Kennzeichen der dem protestantischen Seelsorger gemäßen Bildungshaltung
besteht in der Bereitschaft und Fähigkeit des Seelsorgers zu Selbsterkenntnis
und Selbstkritik als Resultat einer im Begriff der protestantischen Professiona-
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Theologie, sie bleibt allerdings ohne Einfluss auf deren theoretische Gestalt, an
der Baumgarten jedoch ohnehin kaum interessiert ist.
(d) Diese Abstinenz gegenüber einem theoretisierten und theoriewirksamen
Bildungsbegriff gilt für den letzten hier zu nennenden und einen eigenen, vier-
ten Typus darstellenden Entwurf Praktischer Theologie gerade nicht. Bei Die-
trich Rössler (*1927) rückt der Bildungsbegriff in eine zentrale Funktion für die
Selbstbegründung und Selbstkontrolle der praktisch-theologischen Theorie-
praxis ein und wird dabei zur organisierenden Mitte der Praktischen Theologie
insgesamt. Rössler beschreibt, im Zusammenhang konstitutionstheoretischer
Erwägungen zur Einheit der Praktischen Theologie – die notierenswerterweise
von einer pastoraltheologischen Frage ihren Ausgang nehmen und auf die Be-
deutung der Theorie für die Berufsführung abheben – eine bildungstheoretisch
begründete Funktion Praktischer Theologie, die sich als Programm des eigenen
Entwurfs lesen lässt:
»Es kann und muß ein Bild des ›ganzen Pfarrers‹ entworfen werden. Damit ist das Bild
eines Pfarrers gemeint, der durch eine einheitliche und zusammenstimmende Theorie ge-
bildet ist. Eine Praktische Theologie in diesem Sinne kann ihre Leistung nicht auf Aus-
bildungen beschränken, die zu bestimmten Fertigkeiten führen. Der ›ganze Pfarrer‹ soll
5
O. Baumgarten, Protestantische Seelsorge, 1931, 63f.
6
AaO 83.
7
AaO 67.
320 Christian Albrecht ZThK
eben nicht bloß in einzelnen Rollen tätig werden können, nicht nur dort, wo er etwas ge-
übt oder eingeübt hat, er soll vielmehr aus eigenem und selbständigem Urteil sein eigenes
Handeln zu begründen wissen und zwar aufgrund einer theoretischen Bildung, die ihn
zu selbständigen Urteilen im Horizont der ganzen Praktischen Theologie befähigt.«8
Im Zentrum dieses Bildungsbegriffes steht also Bildung als Fähigkeit und Be-
reitschaft zum Erwerb selbständigen Urteilsvermögens – oder umgekehrt ge-
sagt: Bildung fungiert als Widerstandskraft gegen die Versuchung, Vorschriften
und Anleitungen aus anderen Motiven als aus durchschauten Gründen folgen
zu wollen. Bildung wird damit zur Voraussetzung aller Ausbildungen: Für das
praktisch-kirchliche Amt ausgebildet werden kann nur, wer sich der theoreti-
schen Bildungsanstrengung nicht verweigert. Insofern konnte Rössler auch vor-
aussetzen, dass »Bildung der Urteilsfähigkeit [. . .] als Grundlage aller weiteren
Ausbildungen anzusehen ist«9 und dass deswegen die Praktische Theologie ins-
gesamt an dieser Bildungsaufgabe orientiert sein müsse.10 In seiner Fassung der
Bildungsaufgabe der Praktischen Theologie erfahren mithin die reformatori-
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schen Interessen an der Bildung des Pfarrers und Schleiermachers Motive an der
bildungstheoretischen Begründung der Praktischen Theologie ihre Verbindung:
Bildung ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass der einzelne Pfarrer, die
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2. Systematische Erwägungen
8
D. Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, 21994, 66f.
9
AaO VI.
10
Ebd.
11
Zum Folgenden ausführlich Ch. Albrecht, Bildung zur Selbständigkeit. Zu Orien-
tierungsleistungen pastoraltheologischer Grundunterscheidungen (NELKB 70, 2015, Nr. 9,
245–249).
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Die erste Voraussetzung lautet, dass der einzelne Pfarrer sich sein Bild seines
Berufes und seiner Berufsführung selbst erarbeiten muss. Das kann ihm, am
Ende, keiner abnehmen und er darf es sich eigentlich auch nicht abnehmen las-
sen wollen, denn das hieße, alle Freiheit aufzugeben, alle Selbständigkeit, alle
Eigenverantwortlichkeit, aber auch die Möglichkeit zur Umsetzung eigener
Überzeugungen, eigener Fähigkeiten und eigener Realitätswahrnehmungen.
Der Einzelne kann sich hier nicht vertreten lassen und er kann sich von nichts
und niemandem dazu zwingen lassen, etwas zu tun, hinter dem er nicht selbst
stünde.
Die zweite Voraussetzung besteht darin, dass der einzelne Pfarrer sich einer
Vielfalt von Anforderungen und Erwartungen, vor allem: vielfach kollidieren-
den Anforderungen gegenüber sieht, die er kanalisieren muss. Eine zentrale
Aufgabe der Berufspraxis besteht darin, sich in ein irgendwie konstruktives, alle
inneren Zerreißungen vermeidendes Verhältnis zu dieser konflikthaltigen Er-
wartungsvielfalt zu setzen, und zwar ebenso grundsätzlich wie zugleich Tag für
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zung leitet: Der Pfarrer, die Pfarrerin ist widersprüchlichen Erwartungen aus-
gesetzt – und: er oder sie muss eine eigene Form der Bewältigung dieser Er-
wartungsvielfalt finden.
In dem alltagspragmatischen Umgang mit diesem Problem lassen sich ver-
schiedene Grundformen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen identi-
fizieren, die ihr Abbild in unterschiedlichen Leitmotiven moderner pastoral-
theologischer Entwürfe finden. Drei hauptsächliche, wiederum idealtypische
Bewältigungsansätze seien in aller Kürze skizziert. Ihnen haften jeweils Wahr-
heitsmomente an, wenngleich sie für sich selbst jeweils unvollständig bleiben.
(a) Ein erster Versuch der alltagspragmatischen Bewältigung des eingangs
genannten Problems betont den Aspekt, der Einzelne müsse (und könne) sich
entscheiden, entscheiden für die Erfüllung dieser oder jener Erwartung – und
für die Verweigerung gegenüber anderen. Diese Auffassung wird, wenn nicht
alles täuscht, in der pastoraltheologischen Theorie heute kaum noch vertreten;
man muss relativ weit zurückschauen, wenn man Belege finden will. Aber die
entsprechende Haltung dürfte im subkutanen, handlungsleitenden Bewusstsein
auch heutiger Pfarrerinnen und Pfarrer relativ weit verbreitet sein, darum sei sie
hier erwähnt. Einen exemplarischen Reflex in der Pastoraltheologie fand sie bei
Yorick Spiegel 1970:
»[Der Pfarrer] muß seine Praxis an drei Alternativen ausrichten. 1. Er muß wählen zwi-
schen der Pflege volkskirchlicher Verhältnisse oder dem Aufbau eines aktiven Gemein-
dekernes; 2. er muß sich darüber klar werden, ob er sich mehr als Amtsträger der Kirche
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oder als Beauftragter der Gemeinde versteht; und er muß 3. seine Stellung in der Ge-
meinde selbst deutlich machen, ob er seine Aufgaben nämlich monokratisch oder in
gleichberechtigter Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen und angestellten Kräften durch-
führen will.«12
Gegen diese Beschreibungen wird man vielleicht damals schon, mit Sicherheit
aber heute zwei Einwände geltend gemacht haben wollen, nämlich, ob die An-
forderungsvielfalt an den Pfarrer, die Pfarrerin mit diesen Alternativen bereits
hinreichend beschrieben ist und ob der Pfarrer oder die Pfarrerin wirklich die
ausschließende Wahl zwischen solchen Alternativen hat. Aber es zeigt sich auch
ein Wahrheitskern: So sehr man sich um Vermittlung und Ausgleich bemühen
mag, am Ende muss man sich eben doch entscheiden, jedenfalls in den aller-
meisten Konfliktfällen, und zwar für dieses oder gegen jenes.
(b) Eine zweite Grundform der Bewältigung des Eingangsproblems besteht
in dem recht weit verbreiteten Konsens, dass man sich persönlichkeitsgemäß
entscheiden müsse oder, um es in einem arg strapazierten Modewort zu sagen,
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dass man sich authentisch entscheiden müsse. Weil es keinen eindeutigen Maß-
stab gibt, an Hand dessen man die konfligierenden Ansprüche gleichsam ob-
jektiv auf ihre Angemessenheit hin beurteilen kann, muss der Pfarrer bzw. die
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12
Y. Spiegel, Art. Pfarrer (PThH, 1970, 372–386), 380.
13
M. Klessmann, Das Pfarramt. Einführung in Grundfragen der Pastoraltheologie,
2012.
14
AaO 183.
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such einer Bewältigung des Eingangsproblems lädt, in bester Absicht, alle aus
der Tradition überlieferten wie in der gegenwärtigen Berufsführung erkennbar
werdenden Probleme bei dem einzelnen Pfarrer, der einzelnen Pfarrerin ab.
Alle Strukturen, alles Überlieferte, alles gegenwärtig Geforderte wird gleichsam
achselzuckend als gegeben hingenommen und alles, was daran problematisch
sein könnte, auf die Person abgelenkt. Das geschieht in bester Absicht, nämlich:
um die Freiheit und den Gestaltungsspielraum des Einzelnen festzuhalten und
zu sichern. Diese Tendenz ist auch dort etwa leitend, wo Kirchenleitungen ihre
Pfarrer und Pfarrerinnen auf deren Berufszufriedenheit hin zu unterstützen
suchen, etwa durch sozialstatistische Befragungen oder durch Konsultations-
prozesse zum Berufsbild. Das Individuum, dessen Unvertretbarkeit eingesehen
wird, soll in der Wahrnehmung seiner Individualität gestärkt und gestützt
werden. Dass es dabei zu einer recht unvermittelten Projektion aller Struktur-
probleme auf die Einzelnen kommt, wird zwar durch allerlei Maßnahmen ab-
zufedern versucht – coaching, spirituelle Retraiten, Musterzeitpläne, Fortbil-
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muss die einzelne Pfarrerin, der einzelne Pfarrer in ihrer und seiner Individua-
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15
J. Hermelink, Kirche leiten in Person. Beiträge zu einer evangelischen Pastoral-
theologie (APTh 54), 2014.
324 Christian Albrecht ZThK
ben fruchtbar machen kann. Unter welchen Gesichtspunkten soll der Pfarrer,
die Pfarrerin die vielfältigen Beobachtungen deuten und entscheiden, ob und
wie er sich vielleicht auch an ihnen orientieren möchte?
So viel zu den drei Grundformen alltagspragmatischer wie pastoraltheolo-
gischer Bewältigung des Eingangsproblems konfligierender Ansprüche. Man
muss festhalten, dass jede einen Aspekt akzentuiert, der angesichts der Aus-
gangskonstellation konstitutiv ist: Es muss gehandelt und mithin entschieden
werden; dabei kann der Einzelne sich nicht vertreten lassen, sondern muss hin-
ter dem stehen, was er tut; und man braucht differenzierte Beschreibungen der
Aufgaben, Herausforderungen und Probleme. Die drei Aspekte sind irreduzi-
bel.
Gleichwohl vermag keine der drei Richtungen für sich allein vollständig zu
überzeugen. Denn keine führt in die Selbständigkeit. Und warum nicht, das
kann man am umweglosesten erkennen, wenn man sich vor Augen hält, welche
Pfarrerstypen die jeweils überwiegende Akzentuierung eines der drei Aspekte
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die den geringsten Widerstand erwarten lässt. Die Schwerpunktsetzung bei dem
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des Pfarrers oder der Pfarrerin stärken, das Spezifische der eigenen Situation zu
verstehen. Um das zu leisten, müssen sie Probleme als Probleme beschreiben,
nicht schon Lösungen präsentieren, erst recht nicht generelle Lösungen für
Probleme, die sich keiner eindeutigen, keiner einfachen und keiner endgültigen
Lösung zuführen lassen. Sie müssen die Probleme so beschreiben, dass die Prin-
zipienfragen, die hinter ihnen stehen, deutlich werden, also die Konstellationen
von Grundsätzen und berechtigten Ansprüchen, die sich nicht leicht und nicht
widerspruchslos zur Einheit fügen lassen. Und sie müssen, das ist das Wich-
tigste, die Probleme so beschreiben, dass der Einzelne im Durchdenken selb-
ständig Gründe für seine Entscheidungen und seine Gewichtungen gewinnt.
Wo immer Theorien auf diese Fähigkeit des Menschen zielen, zielen sie auf
dessen Bildung. Sie zielen auf Bildung als eine Haltung, die nicht über be-
stimmte Bildungsgüter oder konkretes Bildungswissen zu definieren ist, son-
dern eher als eine Weise des Denkens zu beschreiben wäre, als eine Einstellung.
Wollte man dies als Resultat der in der neuzeitlichen Philosophie- und Theo-
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Dazu ausführlicher Albrecht, Bildung in der Praktischen Theologie (s. Anm. 1),
20–50.
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Haltung stehen die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Erwerb selbständigen
Handlungsvermögens im Horizont unauflöslicher, konfligierender Erwartun-
gen. Diese Bildung zielt auf die Einstellung oder die Haltung eines Pfarrers, der
in seinem Amt, in seiner Person und in seinem Beruf seine evangelische Freiheit
zu verbinden vermag mit einem Bewusstsein der Verantwortung für seine theo-
logische Orientierungsfähigkeit und für seine persönliche Amtsführung, mit
einem Bewusstsein aber auch der Notwendigkeit professionellen Könnens und
reflektierter Selbstdistanz. Diese Bildung zielt mithin auf Souveränität. Sie ver-
dankt sich der Einsicht, dass erst aus einer solchen Souveränität die Empathie
entstehen kann für die Menschen, die dem Pfarrer oder der Pfarrerin anvertraut
sind; dass erst aus dieser Souveränität die Leidenschaft für die Sache des Pfarr-
berufs entstehen kann sowie die Fähigkeit, ihn zu bewältigen; und dass erst die-
se Souveränität es erlaubt, zufrieden zu arbeiten in einem Beruf, in dem Erfol-
ge nicht messbar sind.
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3. Praktische Konsequenzen
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Aufgabe damit freilich erst. Der Legitimationsdruck, von dem eingangs die
Rede war, dürfte sich zwar kaum auf das Ziel von Bildung anstrebenden prak-
tisch-theologischen Erwägungen richten, die Selbständigkeit des Pfarrers und
der Pfarrerin. Denn dieses Ziel dürfte relativ unumstritten sein. Wer würde al-
len Ernstes Unselbständigkeit forcieren wollen? Zunehmend kontrovers wird
aber sein, wie dieses Ziel der Selbständigkeit erreicht werden kann. Lässt es sich
tatsächlich durch im strengen Sinne reflexive Verfahren erreichen oder eher
durch die Stärkung intuitiver Kräfte, bewährter Erfahrungshintergründe, geist-
licher Festigkeit, spiritueller Intensität, kollegialen Best-Practice-Austausches?
Reflexiv verfahrende, textbasierte, problemorientierte, theoriegeleitete Kon-
zeptionen der Praktischen Theologie im theologischen Studium und im Vikari-
at, aber auch in der Fort- und Weiterbildung werden künftig genauer als bisher
Auskunft geben müssen, wie sie ihr Ziel erreichen wollen. Weil ihre Formen
sich immer weniger von selbst verstehen, stellen sich Fragen nach ihrer Opera-
tionalisierung immer drängender. So ansprechend das Ideal gebildeter Souverä-
nität sein mag, auf welchem Weg soll es aufgebaut werden? Wie soll diese Bil-
dung als eine solche Haltung, Bildung als eine solche Einstellung vermittelt
werden in den verschiedenen Stufen der Ausbildung zum Pfarrberuf? Wie soll
die konkrete Ausbildung zur Bildung geschehen?
Bildung im beschriebenen Sinne lässt sich weder durch Aufforderung errei-
chen noch einfach mitteilen wie ein Wissensbestand. Als Haltung, als Habitus,
als Einstellung, als Weise des Denkens lässt sie sich aber einüben. Man erwirbt
114 (2017) Gebildete Souveränität 327
Bildung nur an etwas, und zwar an der Reflexion von Problemen. Bildung im
beschriebenen Sinne übt sich im Nachdenken, und zwar in einer bestimmten
Form des Nachdenkens, nämlich in dem auf Ambiguitäten und Spannungen
achtenden, sie anerkennenden, sie in die eigenen Wahrnehmungen und Hand-
lungspläne aufnehmenden Nachdenken. Nicht abgerufen oder beschworen,
sondern permanent eingeübt werden muss dieser differenzsensible, ambiva-
lenzempfängliche Modus des Denkens. Das gilt gleichermaßen für das Studium,
für das Vikariat sowie in der Fort- und Weiterbildung.
Doch auch für die Einübung gilt, dass der Appell allein nicht ausreicht. Das
gebildete Nachdenken über Gründe für das Handeln, über Gründe für Hand-
lungsoptionen im Angesicht dieser oder jener konfligierenden Ansprüche muss
einigen Minimalanforderungen genügen. Es lassen sich in der Tat so etwas wie
normative Vorgaben für die Form der Reflexion benennen, die eingeübt werden
muss, damit sie ihr Ziel erreicht. Begründungen für dieses oder jenes pfarramt-
liche Handeln (sei es prospektiv im Studium oder begleitend im Vikariat und in
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Die erste dieser Grundspannungen, auf die hin das einzelne Problem regel-
mäßig zu beschreiben wäre, wäre die zwischen individueller Authentizität und
der üblichen Praxis der Kirche. Über das Ideal individueller Authentizität war
oben schon gesprochen worden. Die Gegenprobe als Frage nach der üblichen
Praxis der Kirche in diesem oder jenem Problem bringt dagegen einen zentra-
len Gedanken evangelischer Kirchenlehre zur Geltung – die Einsicht nämlich,
dass das Handeln im Namen und Rahmen der Kirche vom Einzelnen zwar ver-
treten und verantwortet werden können muss, als solches aber niemals lediglich
Ausdruck der religiösen Subjektivität des Handelnden sein kann. Die Praxis der
Kirche ist mehr als das Ergebnis der individuellen Frömmigkeit des einzelnen
Amtsinhabers, muss aber gleichwohl von ihm verantwortet werden können.
Die Ausmittlung dieser Spannung zwischen Authentizität und Üblichkeit ver-
dankt sich der Einsicht, dass im selbstverantworteten Handeln des Einzelnen
doch stets Überindividuelles zur Geltung gebracht werden soll, für das die
Kirche im Ganzen steht oder stehen könnte und das die Gemeinschaft aller
Christen begründet und bekräftigt. Beide Spannungspole, individuelle Authen-
tizität hier und die übliche Praxis der Kirche dort, sind also symbolische Eck-
daten, die das Moment des Individuellen und das Moment des Überindividuel-
len in jeder Form des pfarramtlichen Handelns markieren und damit die
Aufgabe einer Ausmittlung formulieren – einer Ausmittlung mit dem Ziel,
Gründe zu finden, die konkrete Handlungsformen auf der Skala zwischen In-
dividualität und Überindividualität zu bestimmen erlauben.
328 Christian Albrecht ZThK
Die zweite Grundspannung, auf die hin das einzelne Problem regelmäßig zu
beschreiben wäre, ist diejenige zwischen den Vorgaben der Tradition oder der
Überlieferung einerseits und den Anforderungen, die durch Erfahrungen und
Einsichten der Gegenwart andererseits entstehen, kurz gesagt: die Grundspan-
nung zwischen Überlieferung und Erfahrung. Auch hier gilt, dass nicht um-
standslos das eine gegen das andere auszuspielen ist, sondern dass die einzelne
Handlungsforderung, die einzelne konfliktträchtige Praxissituation in der Re-
flexion durchsichtig gemacht wird als ein Knoten von berechtigten, tradierten
Grundsätzen und ebenso berechtigten Gegenwartsansprüchen, die sich nicht
leicht und kaum einmal widerspruchslos zur Einheit fügen lassen. Das Refle-
xionsverfahren hat auch hier das Ziel, die Problemsituation als Widerstreit zwi-
schen berechtigten, aber kollisionsanfälligen Forderungen durchsichtig zu ma-
chen und damit offen für deren Ausmittlung.
Und die dritte Grundspannung, die jederzeit in den Blick zu nehmen wäre,
ist die zwischen dem Respekt vor der Freiheit des Individuums hier und der
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Forderung nach Allgemeingültigkeit dort in dem Sinne, dass nicht nur der ein-
zelne Handelnde, sondern möglichst viele derer, denen das Handeln gilt, sich in
der konkreten Handlungsform wiederfinden und aufgehoben fühlen sollen.
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Authentizität und üblicher Praxis der Kirche, der Spannung zwischen Überlie-
ferung und gegenwärtiger Erfahrung und der Spannung zwischen der Freiheit
des Individuums und den Ansprüchen der Allgemeinheit.
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Spannungen verdient die Charakterisierung, hier finde die Suche nach Vermitt-
lungsformen als Leistung der gebildeten Subjektivität des einzelnen Pfarrers,
der einzelnen Pfarrerin statt. Auf dieses Ideal der Bildung als einer habituali-
sierten Weise des Denkens hin auszubilden, im Studium, im Vikariat und auch
in der permanenten Weiterbildung, indem die Berücksichtigung dieser drei
Grundspannungen als normative Vorgabe einer jeden theoretischen Reflexion
eingeübt wird, damit sie im Horizont praktischer Probleme zur Geltung kom-
men kann, ist ein ebenso notwendiges wie lohnendes Ziel. An ihm festzuhalten,
dürfte ein nicht gering zu schätzendes Argument im zu erwartenden Wettbe-
werb praktisch-theologischer Ausbildungskonzepte sein.
Summary
The article first calls to mind that in the Reformation tradition, »Bildung« has become a
guiding principle for the education and professionalism of the clergy, where the indepen-
dent capacity for overview and action of the clergy should be achieved. Under the pre-
sent circumstances, however, concrete considerations are needed for the practical imple-
mentation of the educational idea during training. The article advocates an understanding
of education as a habitualized way of problem-oriented thinking and tries to define nor-
mative prescriptions for the form of reflection that must be practised to achieve its goal.
Schlagworte: Bildung, Pfarramt, Pastoraltheologie, Theologiestudium, Vikariat, Ausbil-
dungsreform