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Unterweisung

Derjenige, Aus
den
der Vorleben
des
Avalokiteś vara
niemals
die Augen
schließt Geshe Thubten Ngawang

Avalokiteœvara, auf Tibetisch gibt und daß sie im eigenen


Tschenresig, ist der Buddha Geist entwickelt werden kön-
des Mitgefühls. Es ist das nen.
Mitgefühl sämtlicher Bud- Weisheit und Mitgefühl
dhas, das sich in ihm ver- sind die Tugenden, aus
körpert. Alle Buddhas ha- denen heraus der Buddha
ben das Mitgefühl und körperlich Gestalt an-
die Weisheit auf ihrem nimmt – in sogenannten
Pfad zur Vollendung ge- Formkörpern. Der Buddha
bracht. Wenn man das Mit- kann zum Nutzen der ver-
gefühl sämtlicher Buddhas zu- schiedenen Wesen zahllose
sammennimmt, manifestiert es Formkörper annehmen, ganz wie
sich körperlich als Avalokiteœvara es den Veranlagungen und Wün-
– entweder in der Erscheinung mit schen der Schüler entspricht, denen er
vier Armen oder mit 1000 Armen. erscheint. Wenn erst einmal das Ver-
Die Tugenden des Geistes lassen trauen des Schülers vorhanden ist,
sich unendlich ausweiten, wenn man dann besteht für den Buddha kein
erst einmal eine hohe Stufe der Geistes- Hindernis, diesen Schüler auf dem
schulung erlangt hat. Sicherlich ist es Pfad zu führen.
mühsam, überhaupt auf den Pfad eines Alle Buddhas gleichen sich darin,
Bodhisattva zu gelangen, einer Person, daß sie zuerst den Erleuchtungsgeist
die angetreten ist, für alle Lebewesen entwickelt haben, d.h. den Wunsch,
das höchste Wohl zu erwirken. Auf die- zum Wohle der Wesen die Buddha-
sem Pfad müssen die Übungen von schaft zu erreichen. Dann haben sie
Weisheit und Methode vollständig ent- über drei zahllose Zeitalter Verdienst
wickelt und alle Hindernisse im Geist und Weisheit angesammelt. Schließ-
Statue: Privatsammlung G.-W. Essen, Hamburg

aufgegeben werden. Der Weg dorthin lich haben sie die Buddhaschaft er-
ist schwierig und übersät mit Hinder- reicht und alle Tugenden vervoll-
nissen. Hat man jedoch erst einmal kommnet. Die Unterschiede zwi-
ein gutes Stück des Weges zurückge- schen den einzelnen Buddhas be-
legt, geht der Rest quasi mühelos, stehen darin, daß sie verschiede-
wie von selbst. Entscheidend ist ne körperliche Erscheinungen
für uns, daß wir eine feste Über- annehmen – entsprechend den
zeugung, eine Gewißheit dar- Vorstellungen und Wün-
über erlangen, daß es die Tu- schen der Wesen, die sie be-
genden eines Buddha wirklich lehren wollen.

4 Tibet und Buddhismus • Heft 39 • Oktober November Dezember 1996


Unterweisung

Avalokiteœvara hat erstmals den Er- „Verleihe mir die Kraft, daß später al- Was bedeutet das Mantra
leuchtungsgeist, also das Gelübde eines lein das Aussprechen meines Namens
Bodhisattva, in Gegenwart des frühe- dazu führt, daß das Leiden der Lebewe- OÞ MAµI PADME HÝÞ?
ren Buddha Ratnagarbha hervorge- sen besänftigt wird.“ Der Name steht
bracht – zusammen mit 1000 Bodhi- für die Mantras, die im Zusammen-
hang mit der Avalokiteœvara-Praxis re-
Verantwortung für das zitiert werden, wobei das bekannteste
natürlich OÞ MAµI PADME HÝÞ
Wohl der Lebewesen ist. Dies ist das sechssilbige Mantra,
OÞ ist zusammenge-
übernehmen aber es gibt noch längere Mantras, die
setzt aus A, U und
als Resultat dieser Wunschgebete zu-
sattvas, unter denen auch der spätere standegekommen sind. Unter allen MA und repräsentiert
Buddha Œåkyamuni selbst war. Mantras sind die Mantras von Avaloki- Körper, Rede und
Zur Zeit des Buddha Ratnagarbha teœvara besonders wirkungsvoll. Geist des Buddha, die damit
herrschte ein König, der selbst ein Bo- In den Schriften heißt es, daß Avaloki- angerufen werden.
dhisattva war und vor Buddha Ratna- teœvara allein in Indien 37 Mal aufge-
garbha den Erleuchtungsgeist erzeugte. treten ist, z.B. als Jugendlicher mit dem MAµI symboli-
Der König hatte einen Sohn, ebenfalls Namen: „Derjenige, der bei anderen siert den Pfad der
ein Bodhisattva, mit dem Namen: das Heilsame anwachsen läßt“. Dieser
Methode. Wenn
„Derjenige, der niemals die Augen hatte eine große Ausstrahlung und er-
schließt“ – es war der spätere Avaloki-
man den gesam-
kannte sehr schnell die Nachteile des
teœvara. Der König erhielt von Buddha gewöhnlichen Lebens, das so flüchtig ten buddhisti-
Ratnagarbha die Anweisung zu be- ist und kein dauerhaftes Glück verleiht. schen Pfad einteilt, gibt es den
stimmten Meditationen und entwik- Pfad der Methode und den
kelte sich dadurch zu Buddha „Verleihe mir die Kraft, Pfad der Weisheit, die man zu-
Amitåbha mit dem reinen Land Suk- sammen entwickeln muß.
håvatï. Wenn wir über Avalokiteœvara daß später allein das Aus- MAµI heißt so viel wie Dia-
meditieren, dann stellen wir uns auf sprechen meines Namens mant, man kann es sich wie
seinem Scheitel Amitåbha vor. Man dazu führt, daß das Leiden eine Art wunscherfüllendes Ju-
spricht manchmal davon, daß wel vorstellen, und dies reprä-
der Lebewesen besänftigt
Amitåbha der geistige Lehrer von Ava-
wird.“ sentiert den sogenannten wei-
lokiteœvara ist.
ten Pfad, der Tugenden wie
Der Sohn des Königs erfreute sich
sehr an den Taten des Vaters. Er ging Die Emanation von Avalokiteœvara Mitgefühl und den Erleuch-
zu Buddha Ratnagarbha, um ihm zu konnte zeitweiliges Glück vollständig tungsgeist beinhaltet. Dieser
sagen, daß er selbst eine große Verant- zurückstellen und war in ihrem Han- Pfad ist eine Art wunscherfül-
wortung für sämtliche Wesen auf sich deln stets darauf ausgerichtet, für sich lendes Juwel für die Lebewesen.
nehmen möchte, da ihm das Leiden selber und andere langfristiges Glück
der Lebewesen sehr bewußt wäre. Die zu erlangen. Im Alter von fünfzehn PADME heißt Lo-
Lebewesen in den niederen Daseinsbe- Jahren gab er bekannt, daß er die Voll- tus und steht für
reichen litten sehr stark unter dem Lei- kommenheit der Geduld zu vollenden den Weisheitsaspekt
den des Schmerzes, massiven körperli- gedächte. Weiterhin sagte er, daß er
des Pfades. Dieser
chen Leiden. Die Lebewesen in den kein Interesse an weltlichem Streben
besteht hauptsächlich in der Er-
höheren Daseinsbereichen wie die hätte und die Begierde überwinden
Menschen und Götter erlebten zwar wollte. Seine Einstellung zu den welt- kenntnis der endgültigen Reali-
zeitweilig kein so großes Leid, sie trü- lichen Dingen sollte so sein wie die tät, der Leerheit.
gen jedoch immer noch zahllose Ursa- Haltung einem längst Verstorbenen
chen für zukünftiges Leiden in sich. Da gegenüber, an den keine Anhaftung HÝÞ bedeutet, daß et-
ihm diese Situation der Wesen sehr mehr besteht. So kündigte er an, sich was ungetrennt ist und
deutlich wäre, hätte er großes Erbar- körperlich und geistig in die Abge-
weist auf die Vereini-
men mit ihnen und würde gern die schiedenheit zu begeben. Als er diese
Absicht seinen Eltern gegenüber äußer-
gung von MAµI und
Verantwortung dafür übernehmen, sie
aus allen Leiden zu befreien. te, sagte er, sie sollten sich keine Sorgen PADME, Weisheit und
Der Sohn, der später Avalokiteœvara um ihn machen, denn ihre Sorgen wä- Methode hin, denn diese bei-
werden sollte, richtete das folgende ren ein Hindernis für ihn, wenn er nun den sollten niemamls getrennt
Wunschgebet an Buddha Ratnagarbha: die körperliche und geistige Abgeschie- voneinander praktiziert werden.

Tibet und Buddhismus • Heft 39 • Oktober November Dezember 1996 5


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te hinzu: „Dieser Körper wird ohnehin irgend-


wann zunichte werden, deshalb ist es am besten,
ich benutze ihn jetzt schon zum Wohle der ande-
ren, als daß er einfach nur so vergeht.“ Der Junge
verzichtete jedoch darauf, seinen Körper vollstän-
dig wegzugeben – aus Sorge um seine Eltern, die
seinen Tod fürchteten. Aufgrund seines Gebetes,
seinen Körper zum Wohl seiner Eltern beschützen
zu wollen, war sein Körper sofort wieder vollstän-
dig, d.h. die Teile, die er weggegeben hatte, wa-
ren wiederhergestellt.
Der indische Meister Œåntideva sagt, daß solche
„Wunder“ wirklich geschehen können. Am An-
fang gibt man kleine Dinge wie Nahrungsmittel
weg und gewöhnt sich auf diese Art an die Frei-
gebigkeit. Mit der Gewöhnung an das Fortgeben
kommt irgendwann der Tag, an dem man keiner-
lei Probleme mehr hat, selbst seinen Körper weg-
zugeben. Das ist eine Frage der Gewohnheit. Wer
dagegen denkt, es nütze nichts, kleine Dinge weg-
zugeben, und es deshalb ganz läßt, wird auf Dau-
er kaum Resultate in seiner Dharma-Praxis erlan-
gen. Wer verstanden hat, was es mit dem Gesetz
von Handlungen und ihren Wirkungen auf sich
hat, wird darauf achten, daß er auch die kleinste
Gelegenheit nicht ausläßt, um Heilsames zu tun
Amitåbha erlangte als König zur Zeit des Buddha Ratnagarbha
und Unheilsames zu unterlassen.
die Erleuchtung. Sein Sohn und Schüler war der spätere Avalo-
Aus dem Tibetischen von Gelong Dschampa Tendsin
kiteœvara.

denheit hervorbringe. Sein Ziel sei es, dauerhafte Glück-


seligkeit zu erlangen.
Daraufhin ging der Jugendliche an einen abgeschie-
denen Ort. Auf seinem Weg traf er Leute aus anderen
Dörfern, die ihn fragten: „Warum verläßt du deine lie-
ben Eltern?“ Der Junge gab zur Antwort: „Was ich wirk-
lich befürchte, ist, meine Eltern langfristig zu verlieren.
Deshalb gehe ich jetzt und verlasse sie kurzfristig. Ich
gebe meine Eltern nicht wirklich auf, sondern kümme-
re mich um etwas, was ihnen langfristig von Nutzen sein
kann“. Und es zeigte sich, daß er keinerlei Furcht hat-

„Daß mein Körper sich überhaupt


entwickelt hat, verdanke ich der
Güte der Wesen“

te, sein Leben und seinen Körper für andere zu opfern.


Als er später im Wald lebte, kam es sogar vor, daß er Tei-
le seines Körpers abschnitt, um sie wilden Tieren zu
geben, die nichts zu Fressen hatten. Als die Bewohner
der Dörfer über diese Taten in Erstaunen gerieten, gab
er zur Antwort: „Daß mein Körper überhaupt gewach-
sen ist und sich entwickelt hat, verdanke ich der Güte
anderer Lebewesen. Aus diesem Grund ist es in Ord- Wie Buddha Όkyamuni in seinen Vorleben, gab auch Ava-
nung, wenn ich diesen Körper benutze, um ihnen diese lokiteœvara als Bodhisattva viele Male seinen Körper hin,
Güte zu erwidern und etwas für sie zu tun.“ Und er füg- um die Lebewesen zufriedenzustellen.

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