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Romeo Grünfelder

Dalli klick1

»Why trust it to memory when you can trust


it to polaroid instant pictures.«
 Polaroid Commercial


Die Gedankenfotografie von Ted Serios scheint eng mit


einer Art »bildgebenden Technik« verbunden, die den
rätselhaften Effekt auslöst, anstatt ihn bloß abzubilden.
Gemäß Pauline Oehler begann Serios um 1953 zunächst
unter Hypnose nach »verborgenen Orten, an denen sich
Schätze befinden«, zu suchen. George Johannes, Serios’
Pagenkollege aus dem Hilton Hotel in Chicago, Hobby-
Hypnotiseur und leidenschaftlicher Schatzsucher, soll
von dessen Ortsbeschreibungen in Trance derart faszi-
niert gewesen sein, dass die implantierte Idee, diese Orte
»fotografieren zu können«, für erste überraschende Er-

1 Das Bildratespiel auf Zeit unter dem Titel »Dalli-Klick«, war Bestandteil der in den 70er
Jahren erfolgreichen TV-Spiele- und Unterhaltungshow »Dalli Dalli« (aus dem Polnischen
dalej weiter, los, beeil dich, mach schnell), bei dem immer mehr Teile eines projizierten
Fotos aufgedeckt wurden, sofern der unvollständige Bildinhalt nicht schon von einem der
Spielerteams erraten werden konnte.

2 Pauline Oehler, A report on The Psychic Photography of Ted Serios, Illinois 1962; siehe FATE
Magazine, in diesem Band S. 40. Darüberhinaus weist Eisenbud auf die Problematik von
unter Hypnose erzeugten Suggestionen hin, »die alle möglichen Arten von Einbildungen
(halluzinatorische und andere), Urteilsverzerrungen sowie anormale und haarsträubende
Überzeugungen« hervorzurufen imstande sind«. Eisenbud, ebd. S. 137 f.

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gebnisse sorgte, wiewohl sich damit auch kein »versun-
ken geglaubter, spanischer Schatz« finden, geschweige
bergen ließ.2 Neben einer vorgeblichen Vielzahl an mehr
oder weniger erfolgreich erprobten fototechnischen
Möglichkeiten kristallisierte sich im Verlauf der Jahre die
Überzeugung heraus, Gedanken am effizientesten mit-
tels Sofortbildtechnik übertragen zu können. Wenngleich
sich die Trance, in der die Effekte erzielt wurden, eher
auf die Wirkung erheblichen Alkoholkonsums denn auf
Hypnose zurückführen ließen. Was ist das Besondere
an ihr?
Das generelle Versprechen der von Serios bevor-
zugten Sofortbildfotografie liegt zunächst im Anspruch
begründet, dass »sofort« nach der Aufnahme »ein fer-
tiges positives Bild (als Unikat)« entsteht. Sofort meint in
diesem Zusammenhang, dass das belichtete Negativ mit
dem Übertragungspapier beim zügigen Herausziehen
aus der Kamera »über ein Walzenpaar läuft, das einen
an einer Kante angebrachten Beutel mit dickflüssigem
Fixierentwickler zum Platzen bringt und diesen dann
zwischen die Schichten presst. Dadurch wird das Negativ
entwickelt, das unbelichtet gebliebene restliche Silber-
halogenid diffundiert dagegen in die silberkeimhaltige
Schicht des Übertragungspapiers, wo es die Schwärzen
des positiven Bildes aufbaut«.3 Bis das Bild des ver-
wendeten Rollfilmtyps, der auch überwiegend für die
Aufnahmen von Ted Serios benutzt wurde, vollständig
entwickelt war, vergingen noch weitere 10 bis 30 Sekun-
den. Das zeitlich definierte »sofort« ist jedoch insofern
kein Euphemismus, als sich die Entwicklungsdauer des
Sofortbilds gegenüber der analogen Filmentwicklung in

3 Universal-Lexikon: Sofortbildfotografie, http://deacademic.com

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der Dunkelkammer wesentlich verkürzt: Was ehedem
minutenlang dauerte und mehrere komplexe Arbeits-
schritte und Vorbereitungen erforderte, lag nun mit
einer Handbewegung innerhalb von Sekunden gleich auf
Papierabzügen abgelichtet vor.
Und obschon der Fotograf mit der Kamera zugleich
auch das »Labor in der Hand«4 hielt, was auktoriale
Vorteile in der Bildgestaltung erwarten lassen könnte,
so waren diese Abzüge im Entwicklungsprozess, anders
als in der Dunkelkammer, nicht ohne Weiteres fototech-
nisch wie chemisch optimier- bzw. manipulierbar. Mehr
noch: Sofortbilder waren aufgrund des Einwegnegativs
im Grunde gar keine Abzüge mehr, sondern eher Unikate,
vergleichbar dem Abklatsch, insbesondere der Monotypie
in der Zeichenkunst, auf die der Fotograf nur im Vorfeld,
d.h. in der Änderung der Parameter des Aufnahmesettings
einwirken konnte. Doch Änderungen des Lichts, der Re­-
quisite, der Positionen etc. im Vorfeld der Aufnahme
waren auch schon unter Einsatz konventioneller fotogra-
fischer Verfahren möglich, und auch die Anpassung der
Belichtungs- und Blendenverschlusszeiten waren – wenn
auch abhängig von der Filmempfindlichkeit – bereits mit
analogen Negativfilm-Fotokameras gegeben und mit der
Sofortbildfotografie nicht neu erfunden worden. Nimmt
man hinzu, dass in der vordigitalen Ära kommerzielle
Fotolabore nicht nur zahlreich vorhanden waren, sondern
auch Redaktionen, Kliniken und Polizeidienststellen
eigene Fotolabore unterhielten, erscheint der tatsächliche
Nutzen der angepriesenen sekundenschnellen Entwick-
lung eines Bildes für Gutachter, Arztpraxen, Unfallstellen
und Polizei nur bedingt nachvollziehbar.5

4 Viktor Stauder (Regie), Polaroid – Magische Momente, Arte/ZDF Deutschland, 2010, 52 min.

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So stellt sich die Frage nach dem Vorteil, den die Sofort-
bildfotografie generell zu versprechen schien, der ganz
offensichtlich nicht nur in der Entwicklungsgeschwin-
digkeit der auf Papier vorliegenden Fotografie liegen
konnte. Ganz deutlich wurde diese Diskrepanz, als Po-
laroid eine Digitalkamera mit Minidrucker als Ersatz für
die klassische Sofortbildkamera auf den Markt brachte.
»Die Stammkundschaft akzeptierte diese digitale Lö-
sung jedoch nicht.«6 Polaroid verfehlte die tatsächlichen
Ansprüche und ging in Folge insolvent.
Pauline Oehler, die schon 1962 und damit lange vor
der Insolvenz auf den Polaroid-Stammkunden Ted Serios
und dessen Fähigkeiten aufmerksam wird – fotoähnliche
Bilder zu produzieren, die unabhängig von den Objekten
waren, auf die die Kamera gerichtet war7 – fasst die Vor-
teile des Sofortbildverfahrens in ihrem Forschungsbericht
so zusammen: »Durch den Gebrauch einer Pola­roid-Land
Kamera, welche es erlaubt, Filme umgehend und unter
den Augen anwesender Zeugen zu entwickeln, scheint die
Kritik an vorherigen Experimenten mit übernatürlicher
Fotografie größtenteils eliminiert. […] Die simple Vorkeh-
rung, seine eigene Kamera und den Film zur Verfügung zu
stellen, reduziert die Möglichkeiten für Schwindel quasi
auf null.«8 Jule Eisenbud zitiert hierzu explizit nochmals

5 Selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Polaroid im Einsatz von Fotoautomaten, als
Jahrmarktattraktion und schließlich unter Künstlern und Liebhabern verbreitet war, spricht
der Einsatz der Sofortbildtechnik nicht ohne Weiteres für seine unbedingte Notwendigkeit
nur aufgrund der Entwicklungsgeschwindigkeit. Anders verhält es sich hingegen in der
Nutzung von Polaroid in der Werbefotografie zur schnellen Vorbestimmung von Motiv
und Lichtsituation oder in der Forschung (u. a. Parapsychologie), die nicht an der reinen
Abbildfunktion der Sofortbildtechnik, sondern die Sofortbildtechnik als Grundlage der
Hervorbringung ihres Untersuchungsgegenstandes betrachten. Vgl. Peter Geimer, »Sichtbar/
Unsichtbar. Kritik einer Zweiteilung«, in diesem Band S. 73 ff., aus: Peter Geimer, Bilder aus
Versehen – Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, FUNDUS Band 178, Hamburg 2010

6 https://de.m.wikipedia.org/wiki/Sofortbildkamera, siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/


Polaroid

7 Eisenbud, Gedankenfotografie, Freiburg 1975, Vorwort Hans Bender, S. 7

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Oehlers Informanten, Stanford Calder­wood, Vizepräsident
der Polaroid Corporation: »Einen Film entsprechend
zu präparieren, ist ein langwieriges und kompliziertes
Verfahren und kann nicht [unbeobachtet] durch eine Art
Taschenspielertrick gemeistert werden. Dies gilt ins-
besondere dann, wenn zwei oder drei unterschiedliche
Bilder auf demselben Film belichtet werden müssten,
ohne die Kamera neu zu laden und ohne die Möglichkeit,
vor oder hinter dem Objektiv etwas auszutauschen.«9
Eisenbud beließ es nicht dabei, sich bei seinen
Experimenten mit Serios ausschließlich auf die von
Serios präferierte Sofortbildfotografie zu stützen, ihm
waren Serios’ Versuche mit konventioneller Fotografie
zumindest dem Bericht nach bekannt. Im Kontext einer
Schlafüberwachung und einer intuitiven Anwendung
der Sofortbildfotografie erwähnt Eisenbud Tests mit
anderen Materialien und Kameratypen, die jedoch ins-
gesamt erfolglos verliefen. Er gibt auf eine merkwürdig
selbstironische Weise an, kurze und doch nur halbher-
zige Versuche mit Farbfilmen, Röntgenfilmen, Filmka-
meras und unterschiedlichen Filmtypen durchgeführt
zu haben; wie und mit welchem Engagement Serios’,
bleibt an dieser Stelle undeutlich;10 umso deutlicher
verweist er hingegen an anderen Stellen gesondert auf
das experimentelle Forschungsdesign, das im Einzelnen
mit mehr oder weniger »Erfolg« zur Anwendung kam.

8 Oehler ebd.; siehe FATE Magazine, in diesem Band S. 29

9 siehe hier Oehler, ebd., in diesem Band S. 37, aber auch Eisenbud, Gedankenfotografie, S. 13

10 Eisenbud, ebd. S. 74; siehe auch Oehler ebd. Undeutlich bleibt auch Pauline Oehler in
Aussagen hierüber, die als indirekte Wiedergabe denn eigener Beobachtung gewertet wer­
den müssen: »Mr. Serios hat seine Bilder auf viele andere Arten erstellt als die, die hier
verzeichnet sind. […] Gelegentlich produzierte Mr. Serios ein Foto ohne Negativ. Dies ist unter
unanfechtbaren Bedingungen geschehen, zuletzt in Anwesenheit von Wissenschaftlern in
einem Industrielabor. Als weitere Innovation projizierte er eine Szenerie in Farbe auf eine
leere Wand, indem er den Blitz ohne Kamera verwendete.«

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Der scheinbar entscheidende Vorteil der Sofortbildfoto­
grafie lag bei Oehlers wie Eisenbuds Untersuchungen
also offensichtlich weniger in der Entwicklungsge-
schwindigkeit als in der rein automatischen und daher
optimalen Kontrollfunktion während des Entwicklungs-
prozesses, d. h. der Phase »nach dem Moment der natür-
lichen Einschreibung«.11 Die Kontrolle der Parameter,
die die Vorbereitung der Experimente betraf, »bevor«
die Belichtung erfolgte, z. B. die Verwendung versiegelter
Filmpackungen, das Einlegen und Handling des Films
in der Kamera und damit die Verhinderung einer vorhe-
rigen Beeinflussung der lichtempfindlichen Fotoschicht,
wurde, so gut es ging, methodisch gewährleistet. Was
jedoch zwischen der Blendenöffnung und dem Moment
kurz vor der Diffusion der Silbersalzmoleküle in der
Kamera tatsächlich passierte, lag auch für Oehler und in
Folge Eisenbud komplett im Dunkeln.
Dubois betrachtet das Foto »allein im Augenblick
der Belichtung selbst« als »Spur eines Aktes«, und er
meint damit letztlich: einer Wirklichkeit in Form einer
»Botschaft ohne Code«. Nur hier entziehe sich die Foto­
grafie der Kontrolle des Menschen und setze die sie
vereinnahmenden Codes außer Kraft.12 Und diese Kon-
trolle scheint in der Sofortbildfotografie – als Spezial­
gebiet der Fotografie – wie gezeigt auch während der
anschließenden Phase der Verteilung des Fixierentwick-
lers aufgrund des technischen Automatismus außer
Kraft gesetzt.

11 Philippe Dubois, Die Fotografie als Spur eines Wirklichen, Paris 1990, in diesem Band S. 105 f.,
vgl. auch Eisenbud, ebd. S.208: Der experimentelle Einsatz von Polaroid erfolgte eher
absichtslos, da Serios bereits Effekte auf Negativ-Fotofilm produzierte, an denen er scheinbar
selbst zweifelte. Kurze Zeit später wurde der Vorteil der Sofortbildfotografie insbesondere
ihrer scheinbaren Unhintergehbarkeit während der Entwicklungsphase von Serios selbst
erkannt.

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In der Sofortbildpraxis bedeutet dies jedoch nun nicht,
dass die unkontrollierbare Phase der »eigentlichen Be-
lichtung« und der anschließend automatischen Entwick-
lung nicht massiven Codierungsversuchen ausgeliefert
wäre, die sich in zahlreichen Aussagen von Anwendern
zur magischen Besonderheit und Einzigartigkeit der
Sofortbildfotografie ausdrückt:13 Mit Polaroid seien, so
die Aussage eines Anwenders, völlig einzigartige »private
moments«14 möglich, die im Moment ihres Entstehens
die höchste Stufe der Intimität zwischen dem Fotograf
und der Fotografierten erreichen. Für andere zählt die
Magie des Chaos und des unberechenbaren Zufalls,
der genau in dem Moment der Belichtung eine immer
wieder neue Rolle zu spielen scheint, und wieder andere
sehen in der Anwendung der Sofortbildfotografie eine
Poesie am Werk,15 die angeblich mit keinem anderen, vor
allem mit keinem reproduzierenden Medium hervorge-
bracht werden kann.
Was allenfalls als – bereits aus der Geschichte der
Foto­grafie bekannte – Verklärung einer technisch inno-
vativen Apparatur und verbrämte Fetischisierung ihres

12 Siehe in diesem Band S. 106. vgl Eisenbud, ebd., S.229, Eisenbud mutmaßt demgegenüber
eine ›erste Bedeutung‹ (S. 230: ›prototypisches Wissen‹, das medial begabte Menschen
Berichten zufolge scheinbar ›besitzen‹): »Bei dieser Art des Wissens, das irgendwie vor
sich geht, bevor bildliche Vorstellungen oder andere Sinneserfahrungen ins Bild kommen,
bekommt man aufgrund der Zeugnisse medial begabter Menschen fast den Eindruck, daß
›Bedeutung‹ das erste ist, was wahrgenommen wird […]und daß alles weitere daraus folgt,
in der Weise, in der gewisse Vorstellungen formlos im Unbewußten, sozusagen als reine
Möglichkeiten, zu bestehen scheinen, bevor sie in eine Phase bewußter Aktualität eintreten.«
Eisenbuds fragwürdige Definition von ›Bedeutung‹ überlässt er grundlos polemisierend den
Philosophen, S. 227: »Jeder scheint zu wissen, was Bedeutung, bedeutet d. h. jeder, außer den
Philosophen, die das zu ihrer Lebensaufgabe machen.«

13 Stauder, Polaroid – Magische Momente

14 Ebd. Der Kauf eines Polaroid-Films wird von einem Polaroid-Nutzer mit dem verschämten
Kauf von Kondomen verglichen, weil vermeintlich sofort bewusst ist, dass man mit Polaroid
Fotos mache, die man lieber nicht ins Labor gibt.

15 Ebd. »instant painting«, »es findet eine Farbstoffdiffusionsübertragung zwischen Negativ


und Positiv statt, in dem Raum zwischen Negativ und Positiv bewegen sich die Farbstoffe, so
kommt diese Weichheit, die wie Malerei wirkt, zustande.«

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Outputs im »Betriebssystem Kunst« gewertet werden
kann, beruft sich doch auch auf eine auf den Moment
zugespitzte Fotografie, die zwar in keinem zwingenden
Zusammenhang zum Schnappschuss steht, diesen aber
doch latent als einzigartig, unkontrolliert und unvorher-
gesehen zitiert. Auch die einzelnen Polaroids der Expe-
rimente mit Serios lassen eine Ästhetik erkennen, die als
»Schnappschussfotografie« ihre Wurzeln in der Amateur-
fotografie hat und mit der Einführung handlicher Kame-
ras und dem Entstehen der industriellen Filmherstellung
wie -entwicklung Anfang des 20. Jahrhunderts aufkam.
Entlehnt aus der Jägersprache, meinte der Schnapp-
schuss das Schießen aus der Hüfte ohne sorgfältiges
Zielen, also ohne übermäßige Kontrolle fotografischer
Parameter. War für die mit Kopfhalter und Kniebrille
fixierten Posen der Porträtfotografie des 19. Jahrhun-
derts noch ein gesondertes Arrangement der Szenerie
nötig, so konnte nun mit umso größerer Spontaneität
»geschossen« und geknipst werden. Unschärfen und
Fokusverlagerungen waren Ergebnisse dieser amateur-
haften Spontaneität, die zur schnellen Dokumentation
ergreifender Erlebnisse, besonderer Situationen oder
ungeahnter Sensationen billigend in Kauf genommen
wurden. Hierin liegt ganz nebenbei auch die Wiederent-
deckung der Unschärfe als bewusst eingesetztes, formal­
ästhetisches Element in Referenz zur Amateurfoto­grafie
begründet.
Fotografisch festzuhalten, was sich an subjektiver
Besonderheit des Moments, aber auch als wesentliche
Charakteristik des Überraschenden zeigt, ist die erklärte
Intention der Schnappschussfotografie, die auch Pola­
roid-Anwender, wenn auch über den Umweg der Tech-
nik, für ihre Bildproduktion in Anspruch nehmen. Drehte

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sich Cartier-Bressons Philosophie des Moments noch
um die chronometrische Präzision des Augenblicks im
»entscheidenden Moment«16, wendet Robert Frank seine
Aufmerksamkeit eine Fotografen-Generation später den
»off-Momenten« zu, die eher vor oder nach dem soge-
nannten entscheidenden Moment von Cartier-Bresson
liegen und der Regellosigkeit des Zufalls mehr Raum
gestatten. Den Begriff »Moment« jedoch gibt auch Frank
nicht auf: »Ich glaube, dass ich einfach die besseren Mo-
mente als Cartier-Bresson oder sonst jemand habe. […]
Du denkst aber eigentlich nicht so viel über den Moment
nach. Du denkst darüber nach, was der Fotograf fühlt in
dem Moment, wo er abdrückt. Es ist weniger eine ästhe-
tische Entscheidung über etwas, was gut komponiert und
gut ausgeleuchtet ist. Darum geht es nicht. Ich denke,
daß beispielsweise Walker Evans Fotografien das auf
irgendeine Weise zeigen: Ein perfekter Blick zur rechten
Zeit, geradeaus und scharf. Ich arbeite da viel schneller
und denke weniger über eine mögliche Perfektion der
Fotografie nach.«17
So bleibt die sonderbare Engführung von Sofort-
bildtechnik und der schnappschussartigen Darstellung
beiläufiger, alltäglich scheinender Szenerien bei den als
Treffer bezeichneten Polaroids von Ted Serios auffällig.
War die Schnappschussfotografie ohnehin nie an das
Polaroid gekoppelt, im Gegenteil: Robert Frank schoss
seine Bilder mit einer sehr handlichen Kleinbildkamera,
einer Leica 3 (Modell F) mit einem Nikkor Objektiv 1:1,4/

16 In seiner 1952 erschienenen Monografie Der entscheidende Augenblick bestimmt Cartier-


Bresson seine Philosophie so: »To me, photography is the simultaneous recognition, in a
fraction of a second, of the significance of an event as well as of a precise organization of
forms which gave that event its proper expression.«

17 Robert Frank im Interview mit Jiang Rong, If An Artist Doesn’t Take Risks, Then It’s Not Worth
It. Robert Frank’s Studio, New York, 22. Juli 2007

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50mm, und arbeitete erst ab den späten 70er Jahren auch
mit Polaroids. Umgekehrt gab es die Tendenz, mit dem
wesentlich teureren Polaroidfilmmaterial bewusst um-
zugehen und es nicht gänzlich absichtslos einzusetzen.
Komposition, Bildgestaltung, Farbigkeit u. a. werden
von Polaroid-Anwendern fast ausnahmslos als wichtige
Parameter ihrer Arbeit mit Sofortbild benannt,18 und
nicht der Schnappschuss aus der Hüfte.19
Es ist wenig darüber bekannt, dass Serios sich für
die damalig aktuellen Fragen der bildenden Kunst,20
insbesondere der zeitgenössischen Fotografie sonderlich
interessiert hätte, und es ist davon auszugehen, dass
Ted Serios wie Jule Eisenbud der damals durch Robert
Frank u. a. reaktualisierte fototheoretische Diskurs über
den Moment in der Fotografie, zugleich aber auch den
hier nur angedeuteten zweiten Aspekt einer schama-
nistisch-aktionistischen Referenz der Performance in der
zeitgenössischen Kunst eher unbekannt war.21 Umso fas-
zinierter wurde dafür von diskursgebeutelten Künstlern
und kunstaffinen Beobachtern die in ein paranormales
Narrativ eingebettete Fotoproduktion rezipiert, die ihren
scheinbar banalen wie beiläufig erscheinenden Output
mit dem entsprechenden Noumenon des Transzenden-
talen versah – wie einst die plump fingierten Geister-
fotografien aus der Dunkelkammer22 –, nun aber dem
fotoperformativen Moment geschuldet, dank Sofortbild-

18 Stauder, Polaroid – Magische Momente

19 Die Kombination von Sofortbild und Schnappschuss ist allenfalls erst viel später ökono­
mischen Mechanismen des Kunstmarkts als fetischisiertes Verkaufsargument des Zufälligen
und Regelfreien geschuldet.

20 Eisenbud zitiert die Auskunft von Pauline Oehler über eine Demonstration »für die Kunst­
akademie in Chicago«. Eisenbud, ebd. S. 42

21 Bernhard Johannes Blume, Transzendentale Fotografie – (eine) Cellularpathologie der Seele, Berlin
1999, S. 10 ff.

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technik vermeintlich fälschungssicher ins Werk gesetzt
und von der um wissenschaftliche Anerkennung bemüh-
ten Parapsychologie »objektiviert«. Um dadurch endlich
den Riss, den Dubois als Spur des Wirklichen decodiert,
wenn schon nicht zu erklären, so doch wenigstens auf
produktive Weise zu nutzen bzw. zu ironisieren.23
Der Moment nimmt auch in der Gedankenbild-
produktion von Ted Serios eine besondere Rolle ein: Wie
die Experimente zeigen, entscheidet Serios zum Teil
selbst, zum Teil per Kommando über den Augenblick
des Auslösens einer Belichtung und damit scheinbar
über Erfolg oder Misserfolg der Aufnahmen. Abgesehen
von der zeitlichen Verzögerung derart dirigierter »Mo-
mentaufnahmen« kann er selbst jedoch oft nicht mit
Bestimmtheit angeben, ob ein »entscheidender« Moment
getroffen wurde oder nicht. Hierfür braucht es den
Nachweis des entwickelten Sofortbilds zur qualitativen
Überprüfung und Kontrolle. Aus diesem Grund wurde die
Sofortbildproduktion in Abhängigkeit zu einem Zielbild
gesetzt, über das Serios kurz vor Beginn des Experiments
unterrichtet wurde und das entweder in einem versie-
gelten Umschlag verborgen,24 in räumlicher Entfernung25
präkognitiv zu bestimmen war oder im Vorfeld von
ihm selbst auf Papier skizziert 26 bzw. von ihm aus einer
Anzahl an mehr oder weniger zufälligen Bildvorlagen

22 Blume, ebd. S. 12

23 Blume, ebd. S. 10, Blinky Palermo, Sigmar Polke, Bernhard-Johannes Blume, Johannes Brus u. a.

24 Eisenbud, ebd. S. 159, siehe auch S. 75 f. »Ich [Eisenbud] nahm das Zielbild – es zeigte eine
österreichische Dorfkirche mit einem Glockenturm – aus dem Umschlag, um ihm zu zeigen,
worauf sich sein Unbewußtes hatte richten sollen. »„Darauf wäre ich nie gekommen«“,
antwortete er und öffnete eine weitere Dose Bier.« […] Das, was [ca. eine Stunde später] zum
Vorschein kam, war in der Tat ein Glockenturm, auch wenn es sich nicht um eine genaue
Übereinstimmung mit dem Zielbild handelte, das unbeachtet einige Schritte entfernt auf
einem Tisch gelegen hatte.«

25 Eisenbud, ebd. 162

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ausgewählt27 werden sollte. In einigen Experimenten
erfolgte wiederum eine Kombination der Auswahlmög-
lichkeiten des Zielbildes,28 in anderen wurde auf ein
Zielbild gänzlich verzichtet.29 Abgesehen davon, dass
die für die ersten beiden Fälle relevanten präkognitiven
Fähigkeiten weder in zwingendem Verhältnis zur Sofort-
bildtechnik noch zur Schnappschussfotografie stehen,
schien der Einsatz eines u. a. präkognitiv zu erfassenden
Zielbilds die Fälschungssicherheit der produzierten
Aufnahmen aus dreierlei Gründen enorm zu erhöhen:
Das Ergebnis war visuell direkt mit dem »Original«
vergleichbar 30 und entweder als gescheitert oder aber als
Treffer bzw. substituierende Emanation eines konstruk-
tiv operierenden Unbewussten zu interpretieren, wie Jule
Eisenbud anhand verschiedener Beispiele eindrucksvoll
zu belegen versucht.31 Zum Zweiten war damit so gut wie
ausgeschlossen, dass ein dem Zielbild entsprechendes
Diapositiv – die am kritischsten diskutierte Hypothese –
vor der Kameralinse zum Einsatz kommen konnte, das
in der Kürze der Zeit nicht herzustellen gewesen wäre,
schon gar nicht unbemerkt. Drittens berechtigte das
Verfahren in Folge schließlich auch zur Annahme, dass
einem medial unbegabten Hochstapler daran gelegen

26 Hans Bender, Unser sechster Sinn – Telephatie, Hellsehen, Spuk, Stuttgart 1970, S. 99, 106,
109–111, Serie »Neandertaler«; s. a. André Libik, An den Grenzen der Vernunft, SFB
Dokumentation Berlin, 1968

27 Eisenbud, Gedankenfotografie., beispielsweise S. 121 / S.171; siehe Serie J. A. Hurry, 22. Februar
1966, in diesem Band S. 409

28 Eisenbud, ebd. S. 162

29 Eisenbud, ebd., beispielsweise S. 106; siehe Serie John L. Chapin, 9. März 1965, in diesem
Band S. 157

30 Eisenbud, ebd., Kapitel IX »Die Zielbildsituation«, S. 145 ff., insbesondere S. 171 »Wir
können nur feststellen, daß es uns nicht gelungen ist, einen Schlüssel zu einer möglichen
Übereinstimmung zu finden. Serios lieferte bei Gelegenheit den Schlüssel selbst, so zum
Beispiel als er bei dem Experiment im Faradayschen Käfig das Zielbild als »Augen, die auf
eine Menschenreihe schauen« sah und dann Bilder von Offizieren produzierte, die eine
geradlinig aufgestellte »Menschenreihe« mustern (»darauf schauen«), vgl. Serie J. A. Hurry,
22. Feb. 1966, in diesem Band S. 409

31 Eisenbud, ebd. S. 198 f.

120
sein musste, den Beweis seiner nicht vorhandenen Fähig-
keiten mittels betrügerischer Realisierung, z. B. mit einer
im Gizmo versteckten Linse, eine größtmögliche Anzahl
an »Treffern« – d. h. Übereinstimmungen mit verwende-
ten Zielbildern – zu erbringen, womit er sich allerdings
einem erhöhten Risiko, entdeckt zu werden, ausgeliefert
hätte. Die Zielbildvorgabe stellt somit, wenn auch nicht
ein vollkommen unüberwindbares Hindernis, so doch
eine hohe Hürde, insbesondere im beobachtbaren Vollzug
des Verfahrens dar.
Das Zielbild nahm insofern eine bestimmende
Kontrollfunktion ein, mit der der Moment des fotogra-
fischen Abbildungsprozesses zwischen dem »davor« und
»danach« beurteilbar werden sollte. Da Eisenbud visuell
minimale Abweichungen bis hin zum völligen Verfehlen
der visuellen Vorlage mit einer durchaus nachvollzieh-
baren Hypothese unbewusster Bildmontage zu erklären
verstand,32 erwies sich die Zielbildsituation der entspre-
chenden Experimente jedoch als weniger zweckdienlich,
als zunächst erhofft, so dass Eisenbud letztlich nur
festzustellen blieb, dass es »nicht gelungen ist, einen
Schlüssel zu einer möglichen Übereinstimmung [von
Serios' Ergebnissen und den verwendeten Zielbildern]
zu finden«.33
Den passenden Schlüssel nicht vorweisen zu
können, wurde Eisenbud schließlich von anerkannten
Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen vorge-
worfen, die er bat, seine Beobachtungen nicht nur aus
ihrer individuellen Perspektive zu beglaubigen, sondern
im Rahmen ihrer institutionellen Möglichkeiten zu

32 Eisenbud, ebd. S. 171, »Wir produzieren oft unbewußt solche Bilderrätsel; unsere Träume
sind voll davon.«

33 Ebd., S. 171

121
verifizieren.34 Doch wie sollte eine Übereinstimmung des
Outputs der Sofortbildkamera mit dem Zielbild über-
haupt begründbar sein?
Technisch wie formal diente die Sofortbildtechnik
sowie die Zielbildverwendung vor allem der Authentifi-
zierungsstrategie Eisenbuds, die von der damals populär
werdenden Schnappschussästhetik, d. h. der scheinbar
subjektiven Besonderheit banaler Momente, allenfalls
marginal auf ästhetische bzw. fototheoretische Weise
unterstützt wurde. Unter Annahme der Authentizität des
Vorgangs, d. h. des – in besonders treffsicheren Fällen –
präkognitiven Wissens, der fotografisch anmutenden
Reproduktion eines »Gedankens«, dem »visuellen Reper-
toire« der Motivwahl sowie der telekinetisch manipu-
lierten Nachahmung eines unbekannten Zielbildes stellt
sich erneut die Frage nach dem Prinzip dieser téchne,35 die
sich im »entscheidenden Moment« des nicht definier-
baren Sprungs »authentifiziert«. Und weiter: Wie lässt
sich, wie Bernhard-Johannes Blume mit kritischer Ironie
zurecht infrage stellt, unser »bio-phantomatisches We-
sen [womit nicht nur die Geisterfotografie um die Jahr-
hundertwende sondern auch die Gedankenbild­erstellung
von Ted Serios gemeint ist] mit eben dieser speziellen
Fotografie in Verbindung bringen, mit Fotografie
überhaupt?«36 Im Kontext der aufkommenden Fragen

34 Eisenbud, ebd. S. 39–41, Professor X, den Eisenbud zu einem Experiment mit Serios einlud,
argumentierte folgendermaßen: »In einem entscheidenden Test, behauptete der Professor,
sollte Ted versuchen, ein verborgenes Zielbild – die Aufnahme eines Krankenhausgebäudes in
Miami – zu reproduzieren. Er habe das Zielbild verfehlt. Ein völlig anderes Gebäude sei zum
Vorschein gekommen. “Wollen Sie damit sagen, er bekam das falsche Gebäude?“ frage ich. […]
“Genau das“, antwortete er nichtssagend.«

35 Martin Heidegger, »Die Frage nach der Technik« in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1990,
S. 17, »[die téchne] entbirgt solches, was sich nicht selber her-vor-bringt und noch nicht
vorliegt, was deshalb bald so, bald anders aussehen und ausfallen kann.« Siehe auch S. 38 f.
Mit dem Begriff téchne benannte Heidegger nicht nur die Technik, sondern mehr noch jenes
Entbergen, das die Wahrheit in den »Glanz des Scheinenden« hervorbringt.

122
präzisiert: Woher rührt die parapsychologische Speku-
lation, dass sich Gedanken überhaupt in fotografischer
Detailgenauigkeit – wenngleich in Schnappschussästhe-
tik in Teilen mehr oder weniger verschwommen, schief
ausgerichtet und in der Kadrage eher zufällig anmutend –
niederschlagen? Sind Gedanken überhaupt als visuell
fotografischer Eindruck charakterisierbar? Wie wäre
schließlich ein »eidetisches Vermögen« zu denken, das in
der Sofortbildproduktion von Ted Serios als »wirksam«
verstanden wird?
Letzteres scheint sich heute im Bereich der Neuro­
wissenschaft zu bewegen: »Aus Sicht der Neurowissen-
schaftler entstehen Gedanken nicht aus dem Nichts,
sondern aus messbaren Hirnprozessen [bzw. Spannungs-
mustern], die wiederum durch Verknüpfungen und
Signalwege von Nervenzellen entstehen [nicht gespei-
cherten Repräsentationen]. Neurophilosophen setzen sich
kritisch mit der Annahme auseinander, dass sich Gedan-
ken grundsätzlich von Materie unterscheiden. Damit wäl-
zen sie das große alte Problem einer dualistischen Theorie
des Geistes: Wie kann etwas Nichtmaterielles Materie
beeinflussen oder gar neu schaffen? Ihre Antwort darauf
lautet: Die Annahme ist irreführend, denn Gedanken
sind ein ganz realer Teil unserer materiellen Welt, wie die
Neurowissenschaften plausibel [zu machen versuchen].«37
Irreführend ist jedoch eher, wie Deleuze bereits
1968 in Differenz und Wiederholung 38 darlegt, das zen-
trale Problem eines Denkens, das Denken im Sinne des
Abbildens, des Nachahmens bzw. der Repräsentation

36 Blume, ebd. S. 4

37 Jörg Weiss, Wissenschaft im Dialog, »Woraus bestehen Gedanken?«, Berlin 2014, http://www.
wissenschaft-im-dialog.de/projekte/wieso/artikel/beitrag/woraus-bestehen-gedanken/

38 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1968 (1992), S. 121 ff.

123
begreift,39 wie es noch in der neurowissenschaftlichen
Auflösung messbarer Spannungsmuster in bestimmten
Bereichen des Gehirns – als »ganz realem Teil unserer
materiellen Welt« – mitschwingt. Denken werde in
diesem Kontext durch das ganz real Gedachte charak-
terisiert. Das Gedachte aber auch der gedachte Gedanke
liefert Deleuze zufolge das entscheidende Bild des
Denkens in der Philosophie der Repräsentation.40 Umso
produktiver sind daher die Begriffe Bergsons virtuell und
aktual, die dem Begriffspaar möglich und wirklich entge-
gengesetzt sind. »Dem Wirklichen kann nicht mehr Re-
alität [Aktualität] zukommen als dem Möglichen, da das
Wirkliche jeweils in der Vorwegnahme als Quasi-Über-
setzung des Möglichen gedacht ist.«41 So lässt sich mit
Deleuze unter Hinweis auf Bergson und zwar im Bezug
der bestimmenden Verschränkung von Wahrnehmung

39 S. a. Karl Schawelka, Farbe – Warum wir sie sehen, wie wir sie sehen, Weimar 2007, S. 98 ff.
»Im übrigen funktioniert auch die visuelle Wahrnehmung nicht so, dass ein auf die Netz­
haut geworfenes Bild ins Gehirn weitergeleitet, dort gesehen, interpretiert und fortan als
Erinnerung gedacht wird. […] Die Netzhaut bildet ontogenetisch einen Teil des Gehirns
und die eigentliche Verarbeitung des Netzhautbildes beginnt bereits in ihr. Schon in ihr
nimmt ein Prozess seinen Anfang des Herausfilterns dessen, was biologisch wichtig ist,
eine Reduktion und ein Umkodieren.« Derart gefilterte Daten sind bereits als Denkprozess
zu bezeichnen und ein Produkt des Gehirns in der Wechselwirkung mit seiner Umgebung
und sich selbst. Die Wahrnehmung, die sich wie beschrieben, jedoch nicht nur auf den
visuellen Aspekt beschränkt, spielt in der Ausformung von Gedanken und Erinnerungen
eine wesentliche Rolle, im Verhältnis zur Operabilität des Gedächtnis jedoch eine relativ
kleine Rolle. Wahrnehmung ist letztlich nur »Anlass« zur Erinnerung und es gibt keine
Wahrnehmung, die nicht von Erinnerungen durchsetzt wäre. Vgl. hierzu Henri Bergson,
Materie und Gedächtnis – Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist,
Frankfurt 1982, S. 54 ff. Siehe auch: Jacques Derrida, »Das Theater der Grausamkeit und die
Geschlossenheit der Repräsentation«, in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt 1976, S. 353
ff: »Das Theater der Grausamkeit ist keine ›Repräsentation‹.«

40 Jens Himmelreich, Differenz und différance Eine Untersuchung über den Differenzbegriff Gilles
Deleuze’ und sein notwendiges Verhältnis zur différance Jacques Derridas, Magisterarbeit
Universität Bremen, 1999, S. 8 »Dagegen entwirft Deleuze eine Theorie der Vermögen, die
keine Ähnlichkeit von Denken und Gedanken mehr denkt.« Siehe auch: Jacques Derrida,
»Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation«, in: Die
Schrift und die Differenz, Frankfurt 1976, S. 353 ff: »Das Theater der Grausamkeit ist keine
›Repräsentation‹.«

41 Stephan Günzel, Immanenz – Zum Philosophiebegriff von Gilles Deleuze, Reihe Philosophie,
Band 35, Essen 1998, S. 70 f., siehe auch Eisenbud, ebd. S. 229: Gewisse Vorstellungen
scheinen im Unbewussten, alsreine Möglichkeiten, zu bestehen, bevor sie in eine Phase
bewusster Aktualität eintreten.

124
und Erinnerung konkretisieren: »Jede Vergangenheit
ist gleichzeitig zur Gegenwart, die sie gewesen ist, jede
Vergangenheit koexistiert mit der Gegenwart, bezüglich
welcher sie vergangen ist, aber das reine Element der
Vergangenheit allgemein ist gegenüber der Gegenwart,
die vergeht, präexistent.«42
Auf diese Weise operieren die Erinnerung und die
Wahrnehmung als Denkprozess nicht in Repräsentatio­
nen analoger Instanzen und deren Verkettungen, son-
dern in Verwerfungen und Sprüngen ihrer Koexistenz.
Die reine Erinnerung war nie vergangen, aktualisiert sich
aber aus bestimmtem Anlass als Vergangenheit in der
Gegenwart. Mit Bergson steht eine These zur Disposition,
die weder von der Zeit als eine mit dem Zollstock mess-
bare Größe noch vom Gehirn als einem bloßen Behälter
für Erinnerungen ausgeht und sich metaphysischen
Spekulationen widersetzt. Wie lassen sich jedoch mit
ihr Prinzipien vorgeblicher Gedankenfotografie jenseits
von Authentifizierungsobsessionen und relativierender
Wissenschaftsfolklore43 genauer bestimmen?
Zunächst der Gedanke. Er scheint sich genau umge-
kehrt zur fotografischen Momentaufnahme zu verhalten,

42 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, ebd., siehe auch Bergson, Materie und Gedächtnis,
S. 58–65: »So flüchtig wir unsere reine Wahrnehmung auch ansetzen, sie nimmt [u. a. nicht
zuletzt aus Gründen des neuronalen Vermittlungsprozess] doch eine gewisse konkrete Dauer
ein, so daß unsere aufeinanderfolgenden, momentanen Wahrnehmungen niemals wirkliche
Momente der Dinge sind, wie wir bisher angenommen haben, sondern vielmehr Momente
unseres Bewußtseins,« und zwar als Produkt gefilterter, reduzierter und umcodierter Daten
der Wahrnehmung in diskretem Bezug zur sie durchsetzenden Erinnerung. So entspricht
auch die Bewegung als Schnitt der Dauer (vgl. Romeo Grünfelder, »Moment mal«, in diesem
Band S. 92 ff.) dieser Wahrnehmung, die auf der paradoxen Koexistenz von Vergangenem und
Gegenwärtigen beruht.

43 Zur Wissenschaftsfolklore gehört scheinbar, sich von dem zu distanzieren, wofür sie einst
herhalten musste, vgl. 31.Workshop der Wissenschaftlichen Gesellschaft zur Förderung
der Parapsychologie e. V., 23. bis 25. Oktober 2015; Einführung von Dipl.-Psych. Eberhard
Bauer: »Das […] Porträt über Ted Serios Detour de Force (2014) vertritt – jenseits von
Authentizitätsfragen der ›Gedankenfotografie‹ – einen eher ›ethnographischen‹ Zugang; es
gibt einen zeithistorisch wertvollen Einblick in die sozialen und wissenschaftlichen Kontexte,
die in den 1960er Jahren auf der Suche nach dem ›Außergewöhnlichen‹ dominierten.«

125
nämlich nicht-fotografisch, d. h. Details werden nicht
erinnert bzw. ausgeblendet oder vermischt und von an-
deren substituiert. Zudem sind auch Gerüche, Geräusche
und körperliche Erfahrungen im Gedächtnis codiert
und es ist schlicht nicht nachvollziehbar, wie sich diese
durch das Herausfiltern dessen, was im entscheidenden
Moment wichtig ist, zu einem visuellen Eindruck trans-
formieren oder umgekehrt, sich dieser Transformation
verweigern sollten.44 Einzig die diskrete Unabhängigkeit
der fotografischen Abbildungen von den Objekten, auf
die die Kamera gerichtet ist,45 zeigen eine noch diffe-
renzierter zu untersuchende Nähe zum hier nur stich-
punktartig hergeleiteten Verständnis des Denkens in
Bezug auf Wahrnehmung und Erinnerung.
In einer zweiten Hypothese bringt Eisenbud den
Begriff »Traumbild« ins Spiel: »Meist ist das, was Ted auf
Film erhält, ganz unabhängig von seiner Fähigkeit, sich
das Motiv bewußt visuell vorzustellen, etwa in der Art
eines Traumbildes (wobei sich natürlich auch zeigt, wie
wenig wir über Traumbilder wissen)«.46 Etymologisch
steckt in »Traum« eine Betonung des Visuellen jenseits
»dessen, was Ted in seinen ›Fehlleistungen‹47 vollbrachte,
und falls verifizierbar, […] den gleichen Gesetzen unter-
worfen war, die auch den geistigen Prozessen in Träu-
men und auf anderen Gebieten zugrunde liegen, und
daß es genau die Art der Gedankensubstitution durch

44 vgl Eisenbud, Gedankenfotografie, S. 173: »Dies brachte eine Reaktion in Gang, die eher
auf einer ›akustischen‹, als auf einer ›visuellen‹, Wahrnehmung beruhte, von welcher
möglicherweise die ›sails‹, (Segel) von ›Versailles‹, herrührten. Hier möchten wir daher
annehmen, daß eine auditive Assoziation mit einem rein graphischen Element verschmolzen
wurde, um die endgültige Konfiguration zu bilden.«

45 Vgl. Eisenbud in: Eberhard Bauer, Psi und Psyche – Neue Forschungen zur Parapsychologie,
München 1974, Vorwort Hans Bender

46 Eisenbud, Gedankenfotografie, S. 273

126
Assoziation widerspiegelte, die bei den gewöhnlichen
kognitiven und Wahrnehmungsprozessen sowie beim
kreativen Denken«48 immer wieder behauptet werden.
»Traum« lässt sich zurückverfolgen auf das germanische
draugma, ein »nicht wirkliches Bild, Trugbild«49 und
trifft insofern auf eine Gedankenfotografie zu, deren Re-
ferenzialität – wie Serios' »Treffer« demonstrieren – im
Moment der Aufnahme keinem »ursprünglichen« Objekt
entspricht und die weder »erste Bedeutung«50 noch Spur
eines Wirklichen, sondern eher dessen metaphora ist.
Mit der Annahme, reine Erinnerung aktualisiere
sich im Moment der Sofortbildaufnahme in einer Weise,
wie Serios befähigt wäre, Zeit als Simultaneität von Ge­
genwart und Vergangenheit zu transzendieren – nicht
nur als suggestiver Effekt einer Hypnose oder Trance51 –,
bliebe drittens festzuhalten, dass Serios die referenzier­
ten Objekte seiner Treffer oft mit keiner »eigenen Erin-
nerung« in Verbindung bringen kann bzw. die auf den
entstandenen Polaroids referenzierten Bildobjekte von
einer partiellen bis totalen Amnesie einer wirklichen Er-
fahrung begleitet sind. Damit wäre aber noch keineswegs
die Frage beantwortet, die auch für den »getroffenen«

47 »Für Freud sind Träume eine in der Ordnung des Visuellen arbeitende Aufführungspraxis
des Unbewussten, in der es um ›Verbildlichung des abstrakten Gedankens‹ gehe. Zu
diesem Zweck bediene sich die Traumarbeit eines ganzen Arsenals von Möglichkeiten, aus
logischen Beziehungen Bilder zu modellieren, die dann durch Entstellung, Verdichtung
und Verschiebung für das ›phantastische Gepräge‹ des Traums verantwortlich seien.
Logische Verhältnisse […] würden in der Traumarbeit zu bestimmten Bildkonstellationen
verdichtet, die dann die ›Traumrequisiten‹ bereitstellten oder auch sich der Ausformung
ins Bildliche verweigerten, sodass der Traum diesen Missstand durch weitere Entstellung
und Verschiebung umgehen müsse, um zur Darstellung zu gelangen« aus: Psychoanalytische
Theorien des Bildes, »Bildtheoretische Ansätze«, Glossar der Bildphilosophie, in: gib.uni-
tuebingen.de, vgl. Siegmund Freud, Die Traumdeutung, Wien 1899, S. 327, S. 399–344

48 Eisenbud, ebd. S. 42

49 Wolfgang Pfeifer, Ety­molo­gisches Wörter­buch des Deutschen, München 1997

50 Eisenbud, ebd. S. 227

51 Eisenbud, ebd. S. 75, hauptsächlich S. 137 ff., »Kapitel VIII – Gewisse Einwände«, sowie S.
206 f. und S. 333

127
Gedanken und das »konstruierte« Traumbild, wenn auch
auf unterschiedliche Weise, gilt: Auf welchem Prinzip
beruht die Übertragung eines psychisch-neuronalen
Vorgangs bzw. einer raumzeitlichen Transzendenz auf
ein Stück Fotopapier, zwischen der Blendenöffnung und
dem Moment kurz vor der Diffusion der Silbersalzmole-
küle in der Kamera?
Hinzu tritt viertens die bereits angeführte Proble-
matik der Repräsentation, d. h. wie es sich bei Serios'
Sofortbildproduktion überhaupt um die Übertragung
»originaler« Gedanken, Traumbilder oder Erinnerungen
handeln kann und nicht um die Übertragung einer
bereits reproduzierten Darstellung derselben, worunter
sowohl das Diapositiv der hartnäckigsten Betrugshypo-
these fallen würde als auch das decodierte Spannungs-
muster aus entsprechenden Bereichen des Gehirns. Die
Reproduktion verweist auf die Nachträglichkeit der Re-
präsentation, deren Vorläufigkeit wie beispielsweise beim
Traumbild, das strenggenommen nur im Wachzustand
als solches nachträglich identifizierbar ist, ungeklärt
bleibt. Erinnerung und Gedanke widersprechen darüber
hinaus Modellen der Repräsentation und es bliebe allein
schon deshalb fragwürdig, wo und wie diese Repräsenta-
tion ihre ursächliche Präsenz substanziieren sollte.52
Fünftens ist die Reproduktion eines Zielbildes zu
nennen, das beispielsweise in räumlicher Distanz ausge-
wählt wurde, und darüber hinaus die Fragestellung nach
dem Prinzip der telekinetischen Auswirkung auf Polaroid
um die Frage erweitert, wie Ted Serios Kenntnis eines
verborgenen Zielbildes haben kann. Der Annahme dieser
Dopplung parapsychologischer Fähigkeiten wie Präkog­

52 Eisenbud, ebd. S. 213, Eisenbud selbst erwähnt schon die genannten ersten vier Hypothesen.

128
nition und Telekinese steht die These gegenüber, dass
den Zielbildern ähnelnde Darstellungen – beispielsweise
mit einer Mikrokamera – reproduziert und vom Moment
der Auswahl des Zielbildes bis zum ersten erfolgreichen
»Treffer« als Diapositiv entwickelt und beispielsweise in
das von Serios verwendete Gizmo verbracht wurden. Ge-
mäß aller vorliegenden Hinweise zu den Experimenten
mit Serios eine nicht weniger unwahrscheinliche These.53
Selbst in den Fällen, in denen die Zielbildauswahl kurz
vor Beginn der Experimente situativ gewährt oder aus
einer Vielzahl an Vorlagen Ted Serios überantwortet wur-
de,54 ist nicht zu klären, wie die Herstellung eines Dia­
positivs davon unbemerkt hätte stattfinden können. Si-
cherlich ist nicht in Abrede zu stellen, dass Jule Eisenbud
auch weit von der Zielvorgabe entfernt liegende Motive
wie beispielsweise Abänderungen von Buchstabenfolgen
in auftauchenden Worten55, scheinbare Motivverfeh-
lungen (anstatt eines Bügeleisens eine Straßenszene,56

53 Die sich als »Entlarvungsszenario« dennoch hartnäckig hält. Siehe u. a. Charles Reynolds
u. David B. Eisendraht, »An amazing weekend with the amazing Ted Serios«, in: Popular
Photography, October 1967, S. 81–83, 136–140, 158; sowie NBC Today Show mit Dr. Jule
Eisenbud, Ted Serios und James Randi, Aufz. 4. Okt. 1967, Sendung vermutl. 28. Nov. 1967.
Eisendraht, Randi u. a. demonstrieren verschiedene opto-technische Bedingungen, die zur
Erzeugung ähnlicher Bildästhetiken und Abbildungsmöglichkeiten, wie sie Ted Serios unter
von Eisendrath u. a. vollkommen vernachlässigten, und deshalb nicht weniger bestimmenden
Randbedingungen erreicht (bspw. unter massivem Alkoholeinfluss). Der Trugschluss besteht
darin, von einer einzigen technischen Bedingung und unter Ausschluss aller anderen
Umstände auf Fälle zu schließen, die unter vielfacher Beobachtung und Sicherung ebendiese
Bedingung auszuschließen scheinen. Eisenbud selbst führte bereits Untersuchungen
mit verschiedenen Linsensystemen vor laufender Kamera durch, um eben diesen
Betrugsverdacht zu entkräften. Vgl auch Curtis Fuller »Dr. Jule Eisenbud vs the amazing
Randi« in FATE Magazine, August 1974, S. 65 f. Der Autor Peter Andreas behauptet in Esotera
25 Jahrg., Heft 10/74 darüberhinaus die unreflektierte Übernahme der trugschlüssigen
Argumentationskette in der Presse: Andrew Tobias in New York Magazine, 10. Sept 9. 1973,
Thomas von Randow in Die Zeit, 19. April 1974 u. a.

54 Eisenbud, ebd. bspw. S. 145 sowie S. 164, »Kapitel IX: Die Zielbildsituation«; siehe auch ebd.,
S. 121 sowie Serie J. A. Hurry, 22. Februar 1966, in diesem Band S. 409

55 Eisenbud ebd. S. 174 ff. sowie S. 197 ff., »Wir nehmen jedenfalls an, daß Ted, wenn er
eine Zielvorlage zu verfehlen scheint, dies nicht einfach zufällig tut, sondern daß er
möglicherweise das Zielbild durch ein Bild seiner eigenen Wahl ersetzt. Wir erleben
manchmal, daß er trotz allem, genauso wie bei den Mechanismen der Traumverarbeitung,
von einem unbewußt gewählten Bestandteil, der in diesem Sinne als eine Art Ziel, gelten
kann, auch etwas von dem ursprünglichen Zielbild beibehält.«

129
anstatt eines U-Boots das Porträt der Queen Elisabeth57
u. a. – also im engen Sinne Misserfolge) als Treffer zu
interpretieren wusste. Dies verleitet zur Annahme, Serios
habe in manchen Fällen ohne Rücksicht auf die Zielbild-
wahl irgend ein Motiv auf Diapositiv abgebildet, das im
»Nachhinein« erst als Treffer konstruiert wurde. Doch
auch hier hätte dieses Diapositiv kombiniert mit einem
Linsensystem im verwendeten Gizmo versteckt oder
zumindest in die Nähe des Objektivs gebracht werden
müssen,58 wobei das Risiko der Entdeckung nach wie vor
als sehr hoch eingeschätzt werden muss. Letztlich aber
entbindet der Einwand nicht von der unbeantworteten
Frage, welchem Prinzip die behaupteten präkognitiven
und/oder telekinetischen Fähigkeiten in diesem Fall
unterliegen.
Sechstens lenkt schließlich der hypothetische Ein-
satz einer Reproduktion, z. B. eines Mikropositivs im ver-
wendeten Verfahren – ob im Gizmo oder der Linsenhal-
terung – die Aufmerksamkeit auf den Versuchsleiter Jule
Eisenbud, der auch unter Verdacht der Komplizenschaft
gerät. Schließt man die Möglichkeit der nachträglichen
Reorganisation bzw. Umdeutung einzelner Polaroids aus
den Serien mit ein, so findet sich eine Inkonsistenz bei-
spielsweise in einem Experiment vom 22. Februar 1966
unter Mitwirkung von James A. Hurry, Chefingenieur für

56 Eisenbud, ebd. S. 159 ff., Serie Dr. Martin M. Alexander, 16. Februar 1966

57 Eisenbud, ebd. S. 200 ff., Serie Pauline Oehler, 25. April 1963

58 Siehe Eisenbud, Gedankenfotografie, S. 69. Die für die Sitzung beschriebenen genauen
Kontrollmaßnahmen für das Gizmo erfolgten leider ohne Angabe eines Zielbildes, so dass
die erzeugte Abbildung eines Doppelstockbusses die zielbildunabhängige Verwendung eines
Diapositivs nicht auszuschließen vermag. Andere Berichte weisen keine derart detaillierten
Beschreibungen der Kontrolle des Gizmos auf. Vgl. »Vorwort«, in diesem Band S. 24.

59 Eisenbud, ebd. S. 121, sowie S. 246; vgl. Anmerkungen zur Serie J. A. Hurry, 22. Februar 1966,
in diesem Band S. 409

130
Physik und Beratender Ingenieur, Abteilung Forschung
und Entwicklung, Gates Rubber Company, Denver.59 Die
existierenden Aussagen widersprechen sich u. a. darüber,
welcher der von insgesamt vier bezeugten »Treffern« mit
teils kaum, teils deutlichen Motivdetails während des
Experiments zuerst auftauchte. Die Reihenfolge des Auf-
tauchens60 steht aber deutlich in Relation zur spontanen
Abwandlung eines einzelnen experimentellen Settings,
bei der durchaus ein Mikropositiv eine Rolle hätte
spielen können, sodaß die davon abgeleitete Deutung
dadurch maßgeblich beeinflusst wird. Ob es sich hier
um eine bewusste Täuschung oder um einen »selection
bias«61 handelt, ist nicht zu klären. Folgt man darüber­
hinaus den Ausführungen Eisenbuds, dass Hurry, Dean
und Ronzio in nur diesem Experiment zugegen waren,
Eisenbud hingegen in nahezu allen Experimenten, in de-
nen paranormale Effekte proklamiert wurden, verstärkt
sich dieser Verdacht, der jedoch in anderen Experimenten
aufgrund anderer Umstände nicht vorgetragen werden
kann. Zudem gälte für Eisenbud dann dasselbe Argument
wie für jeden anderen Betrüger, der daran interessiert
sein musste, möglichst viele Beweise an behaupteten
Fähigkeiten zu erbringen und sich damit dem hohen
Risiko, in der Interaktion mit Serios entdeckt oder in der

60 Interessanterweise wurden allein die beiden in Frage stehenden Polaroids während des
Experiments nicht nummeriert.

61 Eine Stichprobenverzerrung (selection bias, selective reporting, sampling bias) ist eine
statistische Verzerrung bei der Auswahl von Stichprobeneinheiten. Quelle: Wikipedia;
Selektives Publizieren bedeutet, dass nur positive Ergebnisse publiziert werden, während
negative oder unbedeutende Ergebnisse nicht öffentlich gemacht werden. Vgl. Holger
Bösch, Fiona Steinkamp, Emil Boller, »Examining psychokinesis: The interaction of human
intention with random number generators – A meta-analysis.« in: Psychological Bulletin,
Vol 132 (4), Washington 2006; vgl. Replik von Dean Radin, Roger Nelson, York Dobyns,
Joop Houtkooper, »Reexamining psychokinesis: Comment on Bösch, Steinkamp, and
Boller (2006)«, ebda., S. 529-532. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, daß der
überwiegend und wesentlich größere Teil von Serios’ Sofortbildproduktion, bestehend aus
»fehlbelichteten« bzw »normal belichteten« Polaroids sowie Kontrollbilder im Konvolut der
Special Collection des Albin O. Kuhn-Archivs fehlen. Vgl. »Vorwort«, in diesem Band S. 12

131
nachträglichen Manipulation bzw. Umdeutung enttarnt
zu werden, ausgeliefert hätte. Daneben müssten alle Ver-
lautbarungen und umfangreichen Aktivitäten Eisenbuds
unter diesem Vorsatz zu subsummieren sein und selbst
die eigene Erwähnung der Komplizenschaft wäre nur Teil
einer raffinierten Tarnung und Täuschungsstrategie.62
Ein solches Vorgehen müsste allein schon deshalb einen
gewissen Respekt gegenüber der ungeahnten Geniali­
tät Eisenbuds hervorrufen, die mit dem jahrelangen
Täuschungsmanöver einherginge, wäre diese Annahme
nicht einfach nur zu absurd, um sie an dieser Stelle
weiterzuführen. Denn ebenso gut könnte unter Annah-
me des gemeinsamen Betrugs auch hinterfragt werden,
ob Ted Serios während den Experimenten tatsächlich
eine gebraute Mischung aus Wasser, Gerstenmalz, Hop-
fen und Hefe mit mindestens 5 % Alkoholgehalt in den
berichteten Mengen63 zu sich genommen hat, oder ob die
Flaschen- bzw. Dosenform der konsumierten Getränke
lediglich zur Täuschung der Versuchsteilnehmer diente,
die im zeitlichen Fortlauf der jeweiligen Sitzungen ein
Delirium vorgegaukelt bekamen um vom eigentlichen
Taschenspielertrick abgelenkt zu werden.
Den aufgezählten Möglichkeiten zur Interpretation
von Serios' Sofortbildfotografie als Gedanke, als Traum-
bild, als Erinnerung, als Repräsentation eines präkognitiv
wahrgenommenen Zielbilds als auch des plumpen

62 Eisenbud, ebd. S. 141 f., »Die Tatsache, daß ich nicht versuchen werde, die Hypothese des
gemeinsam abgesprochenen Betruges zu widerlegen, [liegt darin begründet], daß ich
ernsthafte Zweifel habe, ihre Widerlegung, falls möglich, könnte von irgendeinem Nutzen
sein, denn der Verstand würde ohenehin dazu neigen, sich allen Beweisen zu verschließen.«

63 Beispielsweise dokumentiert in: André Libik, Regie, Fernsehdokumentation: An den Grenzen


der Vernunft, SFB 1968: »Er [Ted Serios] hat bereits 12 Flaschen Bier getrunken, flucht
ununterbrochen und schwitzt.« Dass Ted Serios während den Experimenten große Mengen
an Alkohol zu sich genommen haben soll, wird selbst von sogenannten »Skeptikern« nicht
bezweifelt, was allein schon zeigt, dass es mit deren Skeptizismus nicht weit her sein kann.

132
Betrugs ist das Argument der Evidenz des zu-Sehen-
Ge­gebenen gemein, in suggeriertem Sinne von: es-ist-
etwas-zu-sehen, als »Augenzeugenschaft«. Evident wird
im Moment des Lichtabdrucks – ungeachtet des per-
formativen Aspekts – zunächst jedoch nur die visuelle
Nachahmung, d. h. die Repräsentation einer bestimmten
Vorstellung des Gedankens bzw. der Erinnerung, die
Reproduktion der Vorlage oder deren Substitution und
mit Polaroid als unhintergehbarem Abbildungsprozess
der Versuch der Verknüpfung mit einem das Bild affizie-
renden Numinosen, sei es dem einer »höheren Instanz«
oder dem der »wissenschaftlich technischen Beweisfüh-
rung« animistischer Prinzipien. Fototheoretisch unter-
liegt dieser Betrachtung, was Barthes mit es-ist-so-gewe-
sen beschreibt,64 das Noema der Fotografie: »Daher sollte
man […] sagen, daß das Unnachahmliche der Fotografie
(ihr Noema) darin besteht, daß jemand den Referenten
leibhaftig oder gar in persona gesehen hat (auch wenn es
sich um Gegenstände handelt)«65 Der Referent aus der
Vergangenheit ist Barthes zufolge damit alles andere als
tot: Er wurde gesehen, wie er auf der Fotografie gesehen
werden wird.
Ohne auf den problematischen Kurzschluss des
Sehens mit dem Fotografieren bei Barthes näher ein-
zugehen,66 sind gerade Fehlleistungen des Sehens allein
schon im »normalen« Sehprozess evident, deren empi-
rische Analyse Al-Hazen bereits im Jahr 1021 in einem

64 Roland Barthes, Die helle Kammer, Frankfurt am Main, 1985 Barthes stellt die Fotografie als
»Emanation des Referenten« vor, die ihren »Sinngehalt des ›Es-ist-so-gewesen‹ aus der
Tatsache bezieht, dass die von einem »beleuchteten Objekt zurückgeworfenen Lichtstrahlen«
fotografisch eingefangen und festgehalten werden konnten.

65 Roland Barthes, ebd. S. 89

66 Vgl. Peter Geimer, Bilder aus Versehen – Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg
2016; S. 301 ff., »Das ›optisch-unbewusste‹ der Fotografie, 6.1. Künstliche Augen?«

133
gesonderten Buch zu den Irrtümern des Sehvermögens
vorlegt:67 »Nicht jedes Objekt ist so wahrnehmbar wie
von den Augen vermittelt, noch geht der Betrachter
richtig in der Vorstellung, dass jedes Objekt, das durch
Augenschein wahrgenommen wurde, auch so wahr-
genommen wurde, wie es wirklich ist. Vielmehr kann
sich der Augenschein in vielem täuschen, was es von
sichtbaren Objekten wahrnimmt und diese somit anders
wahrnimmt als sie sind, manchmal den Fehler zum
Zeitpunkt der Wahrnehmung erkennend, manchmal aber
eben auch nicht, im Glauben, richtig wahrgenommen
zu haben, selbst wenn es eine Fehlwahrnehmung war.«
Damit bestätigt sich das vermeintliche Noema der Fo-
tografie nur insofern die Leibhaftigkeit68 bzw. persona69
nicht auch als mögliche, mehr oder weniger unbewusste
Täuschungen betrachtet werden.
Das betrifft auch die von Eisenbud verteidigte
Augenzeugenschaft70 insbesondere der vielen honorablen
Zeugen, die nach Entwicklung der Sofortbilder den
Aufnahmeprozess qua Unterschrift beglaubigten um ihn
wissenschaftlich zu legitimieren – was bereits in der
Ära der Geisterfotografie als auktoriale Authentifizie-
rungsstrategie geläufige Praxis war. Autorisiert wurde

67 Al-Hasan Ibn Al-Haytham, The Optics, Kairo 1021, übersetzt: A.I. Sabra, Warburg Inst.
University of London, 1989, »The third Book of the Optics«, Kapitel 1, S. 227, » But not every
object is perceived as it is by sight, nor is the beholder right in imagining that every property
perceived by sight has been perceived as it really is. Rather, sight may err in much of what
it perceives of visible objects, thus perceiving them to be other than they are, sometimes
sensing its error at the time of ernng, but sometimes not, believing itself to be right when in
fact it is in error.«

68 Bei Bergson gerät auch der menschliche Leib zu einem Bild, weil es »überhaupt unmöglich
ist, etwas anderes als Bilder zu setzen« (Bergson, Materie und Gedächtnis) Das anschauliche
Denken beruht stets auf leiblichen Sinneswahrnehmungen, die an den verschiedensten
»Verbildlichungen« beteiligt sind.

69 Vgl. Martin Brasser, »In der Rolle des Individuums. Die Bedeutung von »Person« und die
Ethymologie von »persona«, in: Karen Gloy (Hrsg.), Kollektiv- und Individualbewußstein,
Würzburg 2008, S. 53 f.

134
ein Zu-sehen-Gegebenes, genauer: eine um wissen-
schaftliche Anerkennung bemühte Parapsychologie, die
an der Authentifizierung des vermeintlichen Potenzials
des vorgestellten Bildes, im Verweis auf ein mögliches
Wirkliches, durchaus Wesenhaftes und Reales interessiert
war. Doch was sollte ein Bild, eine Abbildung oder eine
Fotografie anderes leisten als was Platon bereits als nicht
wahrhaft, als die Nachahmung des Scheinbildes und
nicht der Realität und schon gar nicht als das Wesenhafte
der Idee selbst bezichtigt71 und damit allein schon jegli-
chen Ansatz auktorialer Zurichtung und verifizierender
Autorität unterminiert?72
Verkannte nicht gerade der Augenzeuge des 19.
Jahrhunderts den Pferdegalopp und in Folge die tech-
nische Authentifizierung der Bewegungsdarstellung
durch Mareys Serialisierung fotografischer Aufnahmen
als etwas, das dem Wesen der Bewegung selbst fremd
war und nicht der Realität entsprach? »Wenn der Be-
trachter« laut Ibn Al-Hazen »keine vorherige Kenntnis

70 Eisenbud, Gedankenfotografie, ebd., S. 103 f., »Bei einfacher Beobachtung ist das Auge
den Anforderungen der Situation bedeutend besser angepaßt als eine [Film-] Kamera.«
Eisenbud relativiert scheinbar seine Auffassung und bezieht Filmaufnahmen im geforderten
Forschungssetting mit ein, unter dem ein Berufsbetrüger aufgefordert wurde, diesselben
Effekte wie Serios auf Polaroid zu erzeugen, in: Curtis Fuller, »Dr. Jule Eisenbud vs. the
amazing Randi«, FATE Magazine, Aug. 1974, S. 70

71 Platon, Der Staat, Stuttgart 1982, »Zehntes Buch«, S.432–436 ff

72 Eisenbud, Gedankenfotografie, ebd. S. 219 f., Genau das ist aber nicht Ziel der Untersuchungen
Eisenbuds, letztlich der Parapsychologie: »Da es normalerweise nichts bringt, Fotografien
in einem Buch oder einem Album für die mögliche Quelle von Teds Bildern zu halten
und es uns auch nicht weiterhilft, eine Unklarheit durch eine andere zu ersetzen, in dem
wir Bilder im Geist oder Gedächtnis von jemandem als Quelle postulieren, gibt es keinen
Grund, warum man die Dinge nicht so sehen sollte, als ob sich der wahrnehmende und
registrierende Teil von Teds Geist an genau dem Ort befände, auf den die Bilder selbst
verweisen.« sowie Eisenbud, ebd. S. 219: »Ein Vorteil der Haltung, dass die Dinge so sind,
wie sie zu sein scheinen, besteht darin, dass dieser Aspekt von Teds bildlichen Vorstellungen
dann ganz passend im Zusammenhang mit einer Kategorie parapsychologischer oder
quasi-parapsychologischer Erlebnisse gesehen werden könnte.« Entgegen platonischem
Verständnis steht hier das »vorteilhafte« Ziel einer trivialen »Einpassung« in ein
parapsychologisches Konzept im Vordergrund, was sich, wie im folgenden gezeigt wird, als
anmaßende »Zurichtung« (Codierung) des Visuellen begreifen lässt, in Unkenntnis bild- wie
medienphilosophischer Argumente.

135
der Bewegung des Objekts hat, und er das Objekt nicht
lange genug beobachtet, wird er nicht sofort erkennen,
dass er sich irrt und ein [sich sehr langsam bewegendes]
Objekt als unbewegt wahrnehmen; so irrt der Betrachter
in seiner Wahrnehmung von solchen Dingen, ohne seine
Fehler zu erfassen.«73 Was für die Sternbeobachtung wie
für die Entwicklung embryonaler Vorformen gleicher-
maßen gilt, lässt sich als Argument ebenso gut umkeh-
ren: Der Betrachter vermag eine Bewegung zu erkennen,
wo im Grunde nur Stillstand herrscht und bemerkt
diesen Fehler nicht, worauf Gilles Deleuze insbesondere
mit seinem ersten Bergson Kommentar74 abhebt.
Es scheint also, dass die in Einzelaufnahmen zerlegte
Bewegung Mareys und die damit in Beziehung stehende
Bewegungsillusion des Kinematografen zum einen auf
dieser unbemerkt unterschlagenen Fehlleistung des
Sehens gründet, zum anderen auf dem »Artefakt« einer
techné. So resultiert auch das von Barthes attestierte
verkümmerte Noema des Films eben nicht aus einer Be-
wegung, die »die Illusion in den Vordergrund drängt und
das Stillstellen des Realen, das vor dem Auge war, elimi-
niert«.75 Denn gerade die »Bewegungsanalysen« der foto-
und kinematografischen Verfahren Mareys, Muybridges
und darauf aufbauender, filmhistorisch relevanter Ex-
perimente stellten insbesondere den Nachweis des es-ist-
so-gewesen in Aussicht und verfehlen wie gezeigt das, was
doch als Bewegung genau so gewesen sein soll.
Was dies für die Sofortbildserien von Ted Serios
bedeutet, erklärt sich mit Gilles Deleuze so: Das zentrale

73 Al-Hasan Ibn Al-Haytham, The Optics, ebd., S. 228

74 Gilles Deleuze, Bewegungs-Bild, Kino 1, Frankfurt am Main 1989; S. 13 ff. sowie S. 84

75 Barthes, Die helle Kammer, ebd. S. 88

136
Problem besteht in dem Verständnis des Denkens in
Modi des Abbildens, des Nachahmens, der Repräsenta­
tion. In allen aufgezeigten Möglichkeiten der Interpre­
tation spielt »etwas« eine evidente Rolle. Was ereignet
sich aber in einer der bemerkenswertesten Serien von
Serios, in der Session bei John L. Chapin, Assistant Pro-
fessor der Physiologie, University of Colorado Medical
School76 am 9. März 1965? Wieso lässt sich das Motiv mit
der im Gehen und doch unbeweglich bleibenden Frau
überhaupt als Serie77 bezeichnen, wo der Begriff doch von
Eisenbud selbst vermieden wird, anders als Hans Bender,
der keinerlei verdächtige Bewegungslosigkeit in der
veröffentlichten SFB-Polaroid-Serie eines längst ausge-
storbenen, und ohnehin nur im Museum verstaubende
Replik eines Neandertalers zu befürchten braucht?78
Ob Gedanke, Erinnerung oder Repräsentation –
irritierend bleibt die nicht in Einzelbildern erkennbare
(d. h. wahrnehmbare) Bewegung des repräsentierten
Gangs. Sehr gut erkennbar scheint dafür im sequenziell
auftauchenden Motiv die ewige Wiederkunft des Glei-

76 J. Chapin Session, 9. März 1965, in diesem Band S. 157–208

77 Claudia Jaeckel-Göbel, Polaroids: Reihen, Serien, Sequenzen, München 1981, S. 4 f. Die


von Serios produzierten Polaroids sind, wenn überhaupt, oft nur sporadisch fortlaufend
nummeriert. Eine der mit am konsequentesten durchnummerierten und noch umfassend
erhaltenen Serie ist die der Demonstration im C. P. H. Auditorium, die bereits bezüglich
entsprechender Interpretationsmöglichkeiten im Vorfeld schon methodisch angepasst
wurde. Von den zur Argumentation »embryonaler Entwicklungsstufen« (formes frustes)
herangezogenen Polaroids - beispielsweise aus der Sitzung vom 22. Februar 1966, in
diesem Band S. 409, die aus einem Faradayschen Käfig heraus und mit Zielbildvorgabe
erzeugt wurden - weisen nur sechs von neun noch erhaltenen Polaroids auf eine scheinbar
fortlaufende Nummerierung hin. Das Polaroid mit der Nummer #13, zeigt eine erwähnte
embryonale Struktur der »drei Soldaten«, die sich aber mangels durchgehend einheitlicher
Nummerierung keinesfalls eindeutig in eine Reihe sukzessiver Form- und Motiventwicklung
einordnen lässt.

78 Hans Bender, Unser sechster Sinn – Telephatie, Hellsehen, Spuk, Stuttgart 1970, Abbildungen
S. 109; vgl. auch Jule Eisenbud »Gedanken zur Psychofotografie und Verwandtem« in:
Eberhard Bauer (Hrsg.) Psi und Psyche. Neue Forschungen zur Parapsychologie, Festschrift für
Hans Bender, Stuttgart 1974

137
chen,79 d.h. der Moment, in dem die Aufnahme scheinbar
gemacht wurde. Das gleiche, stillstehende Motiv kehrt
wie es scheint unverändert in den nicht enden wollenden
Sitzungen mit Serios immer wieder. Nicht in Zyklen einer
Rückkehr, sondern in dessen zeitlicher Differenz im
Verlauf der Sitzungen. Die auftauchenden Momente der
Motivserie gleichen sich – indem sie allerdings zeitlich
verschieden wiederkehren, sind sie eben nicht gleich.
Sie lösen einander ab, d. h. sie insistieren nicht auf einer
Gegenwart, die nicht schon zugleich Vergangenheit wäre.
Oder mit Bergson gesprochen: Die aktuellen Momente
bergen in sich schon einen »Riss«, der sich als Koexistenz
von Gegenwart und Vergangenheit dem Moment bereits
eingeschrieben hat und sie dadurch trotz ihrer Gleichheit
zeitlich voneinander unterscheidet. Insofern handelt
es sich bei Serios' wiederholten Bemühungen, dasselbe
Motiv zu generieren, nicht um eine zirkuläre Demonstra-
tionsfähigkeit einer seriell darstellbaren Bewegung in der
Zeit, sondern viel eher um den Bruch mit einer Logik, die
in der Wiederholung nur die Repräsentation einer ersten
Instanz fixieren will: »Eben das markiert den Einschnitt,
der die Wiederholung, die Sequenz und die Serie davor
bewahrt, sich einer Logik der Repräsentation unterzuord-
nen, die bloße Reaktion bleiben müsste.«80
Abgesehen davon, dass in keiner der bekannten
Sitzungen das Motiv einer anderen Sitzung aufgetaucht
wäre, scheint bezüglich einzelner Sitzungen deutlich
der Bezug zur Wiederholung und Differenz auf, wie er
von Deleuze ausgeführt wird. Das Gleiche ist nicht bloß

79 Friedrich Nietsche, »Das größte Schwergewicht«, in: Die fröhliche Wissenschaft, München/Wien
1954, S. 202 f. sowie »Vom Gesicht und Rätsel«, in: Also sprach Zarathustra, ebd., S. 406 f.

80 Hans Joachim Lenger, »Sequenz, Serie«, in: Anna & Bernhard Blume, Transzendentaler
Konstruktivismus, Band III, Köln 1995, S. 144

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(mit sich) identisch, sondern durch dessen Differenz und
Wiederholung trägt es ein Trugbild bzw. den Widerstand
von Trugbildern in sich. Das wiederkehrend Gleiche
unterläuft jedes eindeutige Denken und stürzt jedes her-
kömmlich feststehende Bild des Denkens. Die Wiederho-
lung desselben Motivs dient offensichtlich nicht einem
Bedürfnis, das Ensemble von angehobenen Beinen einer
Frau in eine trügerische Bewegungsdarstellung zurück-
zuführen, sondern der Wiederholung eines traumatisch
»eingeschriebenen Risses«, als Spaltung innerhalb des
Moments, den Serios während den Sitzungen zu durch-
laufen scheint. Und auch wenn die Anstrengungen nicht
zu übersehen sind,81 die Serios dafür zu leisten bereit ist,
gleicht seine Aktivität vor der Kamera eher einem Spiel,
das Sigmund Freud bei seinem anderthalbjährigen Enkel
»analysiert«.82 Dabei handelt es sich um die Wiederho-
lung der Spaltung im Subjekt, das im »alternierenden
Spiel des fort-da, das ein hier oder da ist, [temporär]
überwunden wird und das in seinem Alternieren nur
das fort eines da meint, und das da eines fort. Das Spiel
meint wesentlich das, was, weil vorgestellt, nicht da ist,
es ist Repräsentanz der Vorstellung«. Mit der Frage, was
aus der Vorstellung wird, wenn die Repräsentanz fehlt,

81 Eisenbud, Gedankenfotografie, S. 26 f.

82 Sigmund Freud, Jenseits des Lustprinzips, Wien 1920, Kapitel 2, II: »Das Kind hatte eine Holz­
spule, die mit einem Bindfaden umwickelt war. […] es warf die am Faden gehaltene Spule mit
großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so daß sie darin verschwand,
sagte dazu sein bedeutungsvolles o-o-o-o und zog dann die Spule am Faden wieder aus
dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen »Da«. Das
war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, wovon man zumeist
nur den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde für sich allein unermüdlich als Spiel
wiederholt, obwohl die größere Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing. Diese Deutung
wurde dann durch eine weitere Beobachtung völlig gesichert. Als eines Tages die Mutter über
viele Stunden abwesend gewesen war, wurde sie beim Wiederkommen mit der Mitteilung
begrüßt: »Bebi o-o-o-o!«, die zunächst unverständlich blieb. Es ergab sich aber bald, dass das
Kind während dieses langen Alleinseins ein Mittel gefunden hatte, sich selbst verschwinden
zu lassen. Es hatte sein Bild in dem fast bis zum Boden reichenden Standspiegel entdeckt und
sich dann niedergekauert, sodass das Spiegelbild »fort« war.

139
verweist Jacques Lacan83 auf die symbolische Ordnung,
in der dieses »identitätsstiftende« Spiel stattfindet und
wie die Holzspule von Freuds Enkel auch Serios' erzielte
Treffer auf Polaroid in lacanschen Termini ausgedrückt
als »Objekt klein a« erkennen lassen. 

Zusammenfassend versuchen die in diesem Band
zusammengetragen Polaroidserien mit ihren sich wie-
derholenden Motiven vermeintlicher Bewegungsdar-
stellungen Folgendes zu verdeutlichen: Die mehr oder
minder bewusst diffuse Engführung der damals inno-
vativen und spektakulären Sofort-Bildtechnik mit dem
momentbezogenen Schnappschuss steht auffälligerweise
in keiner direkten Beziehung, betont aber als techné umso
mehr den augenblicklichen Aspekt der Zeit. So präsen-
tiert der entscheidende Moment, der sich von folgenden
entscheidenden Momenten innerhalb einer Polaroid-
Serie mindestens in seiner Zeitlichkeit unterscheidet
und als Treffer ein und desselben [des gleichen] Motivs
nachfolgender Treffer gewertet wird, keine Augen-
blicke, Orte oder Bewegungen, sondern er fungiert
als Sprung oder Spur einer Koexistenz von Gegenwart
und Vergangenheit, die Dubois in peirceschem Gefolge
vorläufig als Riss bezeichnet. Im Polaroid als »Objekt
klein a« wird wiederum der Riss in Lacanschen Sinne als
traumatischer Einbruch des Wirklichen, d.h. des Realen
im Imaginären markiert. Das Reale entzieht sich jeder
Codierung, jeder Metaphorisierung und jeder Deutung
im Moment des Einbruchs und lässt sich allenfalls nach-
träglich als das Reale imaginieren und damit immer
nur verfehlen.

83 Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 3. Auflage, Berlin 1987, S. 68 ff.

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Die zugrunde liegende Realität des Phänomens zeigt sich
nicht, sondern entzieht sich im Moment der Aufnahme
und damit jeder Bestimmung. Umso deutlicher demons-
triert sich dafür das Imaginäre als Imaginäres, worauf
der Künstler Ted Hiebert in seiner medienphilosophi-
schen Studie zur Gedankenfotografie von Ted Serios jen-
seits aller Tautologie verweist: Was wäre, wenn wir diese
Bilder lediglich als legitime Bilder des Imaginären be-
trachten? Was behaupten diese Bilder denn anderes?84 So
deutet das Motiv des gehenden Pärchens aus der Sitzung
vom 9. März 1965,85 das in seiner Sequenzierung am
eindrücklichsten den »figures in motion« Muybridges
widerspricht, nicht auf ein erstes z. B. einer »Bewegung«
oder einer »paranormalen Instanz«, sondern auf den
imaginären Gehalt einer symbolischen Ordnung, in der
die bizarre Fotoperformance von Ted Serios sowohl als
vermeintlicher Betrug entlarvt aber auch als parapsycho-
logischer Beleg zugerichtet werden konnte.

84 Ted Hiebert, Hallucinating Ted Serios. The impossibility of failed performativity, in: Technoetic
Arts: A Journal of Speculative Research Volume 3 Nr. 3, Motréal/intellect Ltd 2005, S. 137:
»But what happens when we consider these as legitimate images of the imaginary? Is this
not, ultimately, what the images claim? It is not quite a representational claim, but rather
a prophetic declaration. Through the documentary power of photografy, the challenge is
issued, not to disprove the image, but to dispute its reality. The challenge, ultimately, is
not whether the imaginary could exist in this form, but if it could exist at all. An inevitable
confrontation ensues – not between the real and the imaginary, but aimed rather at our
sense that the two are distinct.«

85 Polaroid Serie, Session Chapin, 9. März 1965, im vorliegenden Band S. 157–208

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