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Feilchenfelt, Walter.
Berlin, E. Ebering, 1922.
http://hdl.handle.net/2027/mdp.39015012190347
_
H. v. Fischer, A. Götze, 0. Jiriczek, V. Michels, F. Muncker, W. Oehl,
J. Petersen, K. v. Kraus, G. Roethe, E. Schröder, Th. Siebs, Ph, Strauch,
—
W. Uhl, R. Unser u. a., herausgegeben von Dr. E. Ebering
Heft 22
auf Novalis
Von
BERLIN
Verlag von Emil Ebering
1922
I
51 (s
a. a. 0. Walzel, Euphorion S. *. a.
f.;
Erstes Kapitel.
Jakob Böhme. Seine Nachwirkung.
Jakob Böhme steht in der Geschichte der Philosophie als
ein in seiner Art einzigartiges Phänomen da. Kommt da des
Wegs ein Schuster gelaufen, Gott im Herzen und die Bibel im
Kopfe, und fängt an, von unwiderstehlichem Drange getrieben,
auf seine Art zu philosophieren. Zwar darf bei all seiner Origina
lität nicht verkannt werden, daß auch er nicht außerhalb aller
Bildungselemente, sondern innerhalb einer bestimmten Tradition
steht. Als seine Quellen kommen vor allem Parazelsus und
Weigel in Betracht.1 Auch die Schriften Schwenkfelds, Wey
rauchs2 und verwandter Geister hat er gelesen, allerdings erst
verhältnismäßig spät und mehr kritisierend als lernend. Die Zu
sammenhänge mit der Alchymie hat Harleß3 klargelegt. Mit
allem Nachdruck wird man endlich auch auf das verweisen müs-
sen, was dem Philosophen auf mündlichem Wege durch die große
Zahl seiner hochgebildeten Freunde zugetragen wurde.
Diese Anregungen haben nun aber auf Böhme nicht in jeder
Hinsicht segensreich gewirkt. Die Grundlagen seines Systems
sind durchaus originell4 und wahrscheinlich bereits zu einer Zeit
konzipiert, als noch wenig fremde Einflüsse wirksam waren. .In
dem er sich nun mit unermüdlicher Gewissenhaftigkeit bemühte,
nicht 'nur die Worte der Heiligen Schrift, sondern auch alle auf
gegriffenen Brocken gelehrten Wissens mit möglichst enzyklo
pädischer Vollständigkeit in seine Gedankenwelt einzuordnen, in
dem er auch wohl gerade wegen seiner mangelhaften Bildung
den begreiflichen Wunsch empfand, seine Bücher mit halbver
standenen, gelehrten Worten aufzuputzen und gerade an den
schwierigsten Begriffen seine Interpretationskunst zu üben, wurde
jin
er (durch das fremde Gut weit mehr beengt als gefördert, sah! sich
dem Bestreben, allen gerecht zu werden, zu Kompromissen,
ja
zu
Widersprüchen genötigt, und so ist es für den Leser nicht immer
ganz leicht, auf den vielen umgeprägten Münzen, die vor ihm aus
geschüttet werden, die Physiognomie der Böhmeschen Züge mit *
rühmend
Koffmane, Die religiösen Bewegungen in der evangelischen Kirche Schle
siens während des 17. Jahrb.., Breslau 1880, S. — VII 397, 400,
5.
3.
B
— 4 -
Folgt man Böhme in sein Reich, so ist es reizvoll zu sehen,
wie er ein Stück
Entwicklung in sich selbst durchmacht, ,wie
Begriffe, die anfangs unbestimmt auftauchen, allmählich klarer
werden, endlich versteinern und Bausteine hergeben, die der
Philosoph nun fast mechanisch gebrauchen kann, ohne in jedem
Augenblick ihren tiefsten Sinn lebendig gegenwärtig zu haben.6
Allerdings bleiben diese Ansätze Zu konstruktivem Denken doch
, unentwickelt. Im ganzen stellt Böhme doch den Typus des in-
H- — tuitiven Denkers dar, wie er reiner kaum gedacht werden kann.
Wahrhaft staunenswert ist die unerschöpfliche Kraft seiner In
tuition, und dabei wird
die geistige Isolierung, die berufliche
Enge, die Anfeindungen der Obrigkeit in Rechnung stellen müs
sen, wer seine Leistung würdigen will. Mit Eifer wendet er sich
gegen die Leichtfertigkeit derer, die da reden und doch den Inhalt
ihrer Worte nie intuitiv geschaut haben. Sie „haben's in der
Historie",7 sagt er von den Menschen, die mit Worten wie mit
Werkzeugen von unbekanntem inneren Mechanismus operieren,
und setzt diesem Verfahren wahres Verständnis gegenüber. Er
zwingt seine Leser in jedem Augenblick, die Oberfläche des jn-
tellektualistischen Denkens, dessen Fortgang mit logischen Re
geln mechanisch gespeist wird, zu verlassen, in den inneren
Kern der Dinge zu schauen und auch von unscheinbaren Punkten
der Peripherie aus allezeit schnell den Weg in den Mittelpunkt
der Natur zu finden.
. Das intuitive Denken bedingt den Charakter von Böhmes Sy
stem. Er verfährt nicht wie ein konstruktiver Denker, der aus
einigen fundamentalen Gedanken heraus nach den unverrück
baren Regeln der Logik das großartige Gebäude seines wohl
dimensionierten Systems auftürmt, sondern gleicht, wie Harden
berg erkannt hat, einem Bergmann, der hier und dort die Erd
rinde anschürft und bohrt, bis die Stollen sich in einem gemein
samen Mittelpunkte treffen. Seine Gedanken stützen sich nicht
gegenseitig, und wenn sie dennoch zu einem organischen Gebilde
verwachsen, so verdankt dieser Organismus sein Dasein nicht den
Gesetzen der Logik, sondern der tiefen Einheit der Grundan-
„Das ewige Zentrum des Lebens Geburt und der Wesenheit ist
überall. Wenn du einen kleinen Zirkel schleußt als ein kleines Körn
lein, soist darinnen die ganze Geburt der ewigen Natur".8 Dasselbe
könnte man von seinen Schriften sagen: In jedem kleinsten Aus
schnitt weiß Böhme sich ganz zu geben dem, der ihn wirklich von
innen heraus versteht. Deshalb verrät sein System eine Einheit,
die zwar nicht mit logischer Schärfe herausgearbeitet, aber doch
mit großer innerer Konsequenz festgehalten und gleichsam trieb
haft gewachsen ist, wie eine Blume des Feldes. „Wir sind nicht
von der Kunst geboren, sondern von der Einfalt, und reden große
Dinge mit einfältigen Worten. Nehmefs an als ein Geschenk
Gottes!"9 Deshalb wollte Böhme auch nicht kanonisiert werden,
sondern Vorbild der Lebensführung geben und die Menschen
ein
mahnen, den Weg zu ihrem eigenen Selbst, zu ihrer inneren
Wiedergeburt zu finden. Damit kam er aber den lebhaften Wün
schen der Romantiker entgegen, denen an der Gestaltung der
eigenen Persönlichkeit mehr lag als an dem toten Ballast über
kommener, erstarrter Systeme.
Der Ausgangspunkt von Böhmes Denken wird trefflich sym
bolisiert durch das bekannte Erlebnis mit dem Zinnteller. Was
wäre die Sonne, wenn sie nicht spiegeln könnte? „Es ist in der Na
tur immer eines wider das andre gesetzt, daß eines des andern.
Feind sei, und doch nicht zu dem Ende, daß sich's feinde; son
dern daß eines das andre im Streite bewege und in sich offenbare,
auf daß das Mysterium Magnum in Schiedlichkeiten eingehe".10
An dem Zinnteller wird Böhme klar, daß Gegensätze einander be
dingen, daß sie notwendig aller Realität innewohnen, daß sie
Voraussetzung aller „Schiedlichkeit"
sind. Wenn Franckenbergs
Zeugnis,11 daß diese Einsicht den
Philosophen in die höchste
Verzückung versetzt habe, Glauben verdient, so werden wir dar
aus schließen dürfen, daß der Zinnteller die Lösung von Pro
blemen vermittelte, die Böhme lange zuvor gequält haben müssen.
Nun erweist die Idee der notwendigen Gegensätzlichkeit, die
überall in der Natur angetroffen wird, ihre wahre Herkunft durch
die Art und Weise, wie Böhme sie auf das Weltganze angewendet
hat. Die sichtbare Natur durch die Synthesis von zwei
entsteht
ewigen Prinzipien, die Böhme als Licht und Finsternis, aber auch
hundert Jahren wach war. Es ist bekannt, wie Luther den Bösen als eine
durchaus reale Macht Unter seinen Schülern blühte eine ausge
empfand.
dehnte Literatur über das Reich der Teufel auf, die1 Feyeraibend im Jahre
1569 in dem vielbändigen „Theatrum diabolorum" sammelte. So wurde die
Zeit für das Faustproblem reif, ja, Bartholomäus Krüger unternahm eBi in
seiner neuenAktion vom Anfang und Ende der Welt, den Prozeß der Welt
geschichte vom StuTze Luzifers bis zum jüngsten Gericht auf die Bühne
zu bringen, indem er ihn als Widerstreit des guten und bösen Prinzips
auffaßte und entsprechend gliederte. Auch hat man Rembrandte Kunst
des Helldunkels gewiß nicht mit Unrecht zu Böhmes System in Beziehung
gesetzt.
— 17. B IV 457. — 18. B V 26 — 19. vgl.
„verwesen".
—
- Q -
gleichsam den Akt bezeichnet, durch den ein Ding seine Existenz
behauptet. Der Begriff des Seins wird so weit lebendiger ge
faßt als in der modernen Terminologie.
Das Wesen, in dem die Schiedlichkeit in Prinzipia in Er
scheinung tritt, ist also eine Folge des Willens, und da alle Er
kenntnis am Wesen haftet, so ist der Wille vor der Erkenntnis.
Ausdrücklich betont Böhme, daß sich die Gottheit in der Tiefe ähres
„Ungrundes" selbst nicht kenne. Er ist also durchaus Voluntarist.
Der Wille selbst aber ist seiner inneren Natur nach wiederum
antithetisch. Er bedarf eines Objektes, auf das er sich bezieht,
und müßte dieses Objekt, in sich selbst betrachtet, als ein Nichts
angesehen werden. Als notwendiger Grenzbegriff spielt das Nichts
in der Mystik die Rolle einer Realität, so wie die 0 in der
Mathematik eine reale Größe ist. „Der Wille ist die Fassung,
und das Gefassete im Willen ist seine Finsternis".20 Das Ziel des
Willens ist, sich zu offenbaren und in der Offenbarung zu spiegeln.
Diesen Prozeß versinnbildlichen die sieben Quellgeister. In ihrem
Zusammenwirken besteht die Gottheit und che ganze Natur.
Alles Dasein ist eine Folge ihres Wirkens. Deshalb kommt Böhme
immer wieder auf diese Lehre zurück, die von der „Morgenröte"
bis zu den späteren Schriften hin gewisse Wandlungen durchge
macht hat.Der folgende Versuch, Böhmes Ausführungen so
weit angängig in eine modernem Empfinden verständlichere Spra
che zu übertragen, lehnt sich hauptsächlich an die ausgereifte
Darstellung üi der Schrift „De signatura rerum"21 an:
Der Formwille (I.) oder Offenbarungstrieb der zunächst noch
wesenlosen Gottheit saugt in sich das in Begierde zu der ewigen
Sanftmut entzündete Gegenprinzip (II.), das als Widerwille oder
auch schlechthin als das Nichts erklärt werden kann und der For
mung durch seine zentrifugale Tendenz widerstrebt. Mit diesem
Prinzip also füllt sich der zentripetal gerichtete Formwille Und
schwillt, und in dem Ringen der Gegensätze entsteht Angst (III.),
aus welcher der Wille, nachdem er sich so gefunden und offenbart
hat, in die
Freiheit, d. h. in die Selbstauflösung zurückstrebt.
Doch gibt es nun kein Entweichen mehr, sondern von dem bitte
ren Stachel der finsteren Begierde (II.) gepeinigt, wirbelt die wer
dende Gestalt wie „ein wütender Geist"22 um sich selbst. In dieser
Bedrängnis nun entzündet sich der Feuerblitz (IV.) der Freiheits-
—
i
105.
B
30.
II 98. — vgl. auch Martensen, a. a. 0. S. 74, 145 ff. —
B
31. 32. a. a.
0. S. vgl. F. Schneider, Die Freimaurerei, Prag 1909, S. —
J.
181, 82
f.
Prinzipia stehen, denn sie ist ja ein Oedankenspiel Gottes. Es
galt also die Frage, wie in der Gottheit ein Gedanke entstehen
und wesenhaft werden konnte. Eine Lösung dieses Problems
"
konnte Böhme nur in eigener innerer Erfahrung suchen. „Du
mußt dein eigen Buch, das du selber bist, lesen lernen, so wirst
du aller Bilder los, und siehest die Stätte, welche heißet: Hie
ist der Herr".34 Seine Begründung erhält dieses methodische
Prinzip in den Worten, die das Grundthema von Böhmes Philosor
phie überhaupt aussprechen: „Des Menschen Gemüt ist ein
Gegenbild der ewigen Kraft Gottes".35 In dem Prozeß der sieben
Quellgeister hat Böhme also offensichtlich den inneren Vorgang
beschrieben, den er selbst bei der Konzeption eines neuen Ge
dankens empfand:36 Anfangs ein unbestimmtes Drängen und
Pochen, fln Wille nach Gestaltung, ein Widerstand, der die
Kraft des Willens nur steigert, ein Kampf, eine Angst, eine Be
wegung; plötzlich der Blitz der Intuition, der das Chaos in er
kennbare Gegensätze spaltet und — im Gleichnis des Feuers ge
sprochen — das klare Licht aus der grimmigen Hitze erlöst (spricht
doch Böhme geradezu von dem „brennenden Feuer", das seinen
Geist zur Produktion treibt),37 eine sichere Orientierung, die den
Weg vom Wertlosen fort zum Rechten findet, zum Schluß die
Ausdrucksfähigkeit — und der neue Gedanke hat Wesen und
Gestalt gewonnen. Wir haben also hier aus der Feder eines
Mannes, der gewiß wie nur wenige dazu berufen war, darüber ein
Wort mitzusprechen, eine Darstellung dunklen
des Vorganges
der Intuition,38 und die dramatische Schilderung verrät, wie un
gewöhnlich schwer dem Philosophen die Formung seiner inneren
Gesichte wurde, wie ungewöhnlich lang bei ihm der Weg vom
Gedanken zum Worte war. ,
42. B VTI 349. — 43. B V 10. — 44. B V 76; vgl. auch B VII 435, IV
— 16 —
398. — 45. vgl. B IV 57, VI 183, VI 48. — 46. B III 51. — 47.
sehen, in dem Christus seine Wiedergeburt feiert, ist ja die charak
teristische Lehre aller Mystiker. Damit der Mensch die Kraft
habe, dem Fluch der Erbsünde zu entfliehen und seine verlorene
Seele wieder in die innerste Geburt einzuführen, mußte Gott
Mensch werden und im Feuerblitz der Wiedergeburt das lichte
Prinzip in der Finsternis zum Glühen bringen. Wenn nun die
Seele Zeitlichkeit überwindet und sich der Ewigkeit der
die
innersten Geburt nähert, in der das prineipium individuationis
aufgehoben, Raum und Zeit überwunden und alle Schiedlichkeit
dieser Welt nur eine Magia, ein Spiel von Figuren ist, so feiert
sie ihre Wiedergeburt in Christo. Auf dieser Stufe sind Iwir
eins mit Christo: „Da ChristusKreuze hing und starb,
am
allda hingen wir mit und in ihm am Kreuz, und sturben in ihm,
stunden auch in ihm vom Tode auf, und leben ewig in ihm".49
In dieser Vereinigung erscheint Christus als Bräutigam, die Seele
als Braut, ganz im Sinne der älteren Mystik.
Welches ist nun aber der rechte Weg, der zur Wiedergeburt
führt? Will der Mensch „eine klingende Saite in Gottes Saiten
spiel sein",50 Eigenwillen aufgeben und seine
so muß er seinen
Selbheit abbrechen, damit Gottes Stimme in ihm vernehmlich
werde.51 Hier schließt sich Böhme also eng an die ältere My
stik an; auf der anderen Seite führt die Linie dieser Entwicklung
direkt zu Schopenhauer.52 Wenn Hardenberg einmal sagt: „Jeder
Mensch kann seinen jüngsten Tag durch Sittlichkeit herbeyrufen",53
so hat Böhme diesen Gedanken, der das jüngste Gericht in die
Gegenwart eines einzelnen Menschenlebens rückt, wohl schon des
halb nicht klar ausgesprochen, weil er nicht in Konflikt mit der
kirchlichen Lehre geraten wollte. Doch liegt der Gedanke in der
Konsequenz seines Systems, das die Zeitlichkeit für den inneren
Menschen überwindet, für die äußere Welt aber als einen Kreis
lauf auffaßt: „Diese äußere Welt mit ihren Heeren und alle
dem, was darinnen lebet und webet, das ist geschlossen in eine
Zeit eines Uhrwerkes, das läuft nun von seinem Anfange immer
dar wieder zum Ende, als wieder in das erste, daraus es gegangen
28 f.).
B
B
6,
von Paul Deussen, Jakob Böhme, Aufl. Lpz. 1911, S. 29 ff. kann ich nicht
2.
„Die äußerste Geburt ist der Tod, die andere ist das Leben,
welches im Zornfeuer und in der Liebe steht, die dritte ist das
heilige Leben".69 Damit ist für den Menschen die Stufenfolge
seiner sittlichen Entwicklung gegeben. Anschaulich wird sein
Werdegang geschildert: „Das Gemüt hält die Wage, und die
Sinne laden in die Schalen ein. Nun denke, was du einladest durch
deine Sinne Du bist in diesem Leibe ein Acker, dein Ge
müt ist der Sämann, und die drei Prinzipia sind der Same. Was
dein Gemüt säet, dessen Leib wächst, das wirst du in dir selber
ernten: so nun der irdische Acker zerbricht, so stehet der neuge
wachsene Leib in Vollkommenheit, er sei nun im Himmel- oder
Höllenreiche gewachsen".70 Diese Ausführungen zeigen aber be
reits, daß die Lehre von der dreifachen Geburt nicht zu dem Kern
und wesentlichen Bestande der Philosophie Böhmes gehört und
ihre fremde Herkunft nicht verleugnet.
Daß der Mensch in die äußere Geburt gefallen ist, hat die
Erbsünde verschuldet. Ehe Adam in die Sünde fiel, war er ein
Bild der Vollkommenheit. Der innere Mensch in ihm sah durch
den äußeren, so daß er im Glanze seiner eigenen Natur des
Sonnenlichtes nicht bedurfte.71 Das Paradies glühte durch die
äußere Natur, wie Feuer im Eisen glüht. Es gab keine Jahres
zeiten, nicht Tag und Nacht, nicht Schlafen und Wachen, nicht
Hitze und Frost. Ja, viel Wunderbareres weiß Böhme zu berichten:
In Adam war eine Zweiheit von Jüngling und Jungfrau zu einer
Person vereinigt. Die Jungfrau hieß Sophie und war der Funke
göttlicher Weisheit, an dem der Mensch Anteil hatte. Der Jüng
ling aber war von der irdischen Welt. Und es regte sich in dem
Jüngling heißes Verlangen nach der Jungfrau, die doch ewig Jung
frau bleiben sollte. Denn ihr war es gegeben, auszuteilen von
ihren Gaben, aber nicht zu empfangen. So entspann sich ein
Zwist zwischen beiden, indem die Jungfrau die Begehrlichkeit des
Jünglings von sich wies lund ihn beschwor, ihr in Züchten treu
zu bleiben. Als aber Gott erkannte, daß die Bildung nicht länger
in Reinheit würde bestehen können, senkte er den Jüngling in
III 96. — 72. B VI 409. — 73. B III H7. — 74. B IV 462. — 75. I
- 23 -
eine mehr philosophische Darstellung des Sündenfalls zu geben.
Die Erbsünde beruht darauf, daß der Mensch aus der Harmonie
der Prinzipia ausgetreten ist, die im Paradiese in gleicher Kon
kordanz in ihm wirkten.76 Solange diese Harmonie nicht gestört
wurde, war in Adamkeinerlei Spannung und Unterschied; er
wußte um das Gute nicht, weil er das Böse nicht kannte. Ein
jedes Prinzipium war in ihm in seinem eigenen Sitze, wie in Gott,
der um das Gute nur in seinem guten Prinzip, um das Böse nur in
dem bösen Prinzip weiß. Daher war der Mensch ein „Gleichnis
nach Gottes Wesen".77 Der Teufel aber beredete ihn, vom Baume
der Erkenntnis zu essen, in dem die Prinzipia in eine Mischung
eingetreten waren, damit er um das Gute und das Böse wüßte
und allwissend würde. Als er nun in den Apfel biß, erlosch um
ihn das Paradies; „da ward er aus der innersten Geburt in die
anderen zwei gesetzt".78 Um nun die verlorene Fühlung mit
dem Menschen wieder zu gewinnen und ihn erlösen zu können,
mußte Gott selbst in Christus Mensch werden; denn nur durch die
Vereinigung mit einem Mittler kann die verlorene Seele wieder
den Weg in die Gottheit finden.
So ist dem Philosophen aus dem eifrigen Studium der Bibel
eine Kosmogonie erwachsen, in die er die Wonnen und Nöte seiner
Seele ausgeströmt hat. Die Ablösung seiner Stimmungen ist ihm
ii? »inem Grade gelungen, daß es ihm möglich war, in dem ge
wonnenen Kosmos den Blickpunkt zu wechseln. Ihm ist die Er
kenntnis aufgegangen, daß alle Wahrheit eigentlich eine Bezie
hung sei. Gott ist im Lichte ein Ichts, und in der Hölle ein
Nichts;79 die Sonne ist der irdischen Welt ein Naturgott, in
Gott ist sie eine Figur; die Ereignisse dieser Welt sind für den
Menschen, soweit er in der äußeren Geburt steht, eine Realität,
in Gott aber ein Gedanke; dem giftigen Wurme ist das Gute
tödlich.80 So weiß Böhme den Standpunkt zu wechseln und
verschiedene Weltbilder zu sehen. Man könnte glauben, daß
solchem Systeme die Gefahr des Relativismus drohe, da der ab
solute Ruhepunkt im Ich aufgegeben sei. Sagt doch Böhme
selbst einmal: „Wie ein Volk ist, solch einen Gott hat es auch
III 172. — 76. vgl. B V 99. — 77. vgl. B VI 165. Epikur hatte
z. B.
einst angenommen, daß sich die Götter nfcht um die Menschen kümmern,
weil das Böse sie dann beflecken würde. Für Böhme besteht diese
Schwierigkeit nicht: 8. B VII 172. — 78. B II 220. — 79. B VI 626.
— 24
das gute Prinzip über, das böse unter den horizontalen Balken
in sich"; aber er fährt fort: „und ist doch nur der Einige; aber
er offenbart sich in allem Leben nach des Lebens Begierde, im
Guten oder Bösen".81 Woher weiß Böhme nun, daß gerade er
den rechten Gott gefunden habe? Er hat seinen Selbwillen auf
gegeben, den ganzen Reichtum seiner inneren Gesichte gleichsam
in die Gottheit geworfen und sich gegen die Sprache seiner Sinne
verschlossen. Dadurch ist er in den Willen Gottes eingegangen.
Nun spricht Gott selbst aus ihm, er fühlt sich als ein Werkzeug
des Höchsten, der sich in ihm offenbart. Das Erlebnis der In
tuition bürgt dem Philosophen dafür, daß er die Relativität über
wunden habe und alle Standpunkte vom Zentrum aus auf einmal
überschaue, während die Darstellung doch nur diskursiv erfolgen
kann. Mit dieser Beantwortung der Frage im Sinne
Böhmes
selbst werden wir uns freilich nicht zufrieden geben und tiefer
suchen. Es muß den Philosophen ein bestimmtes Orientierungs
vermögen auf dem Wege zum Absoluten geleitet haben, das ihn
ein Oben und Unten unterscheiden lehrte. Auf dies Problem
wirft folgende Stelle Licht: „Nun ist die Tiefe der Finsternis
also groß als die Wonne des Lichts, es ist keines weder oben
noch allein die
unten, Wiedergeburt aus der Finsternis in die
— 80. vgl, B I 88. — 81. B VII 182. — 82. B III 151. — 83.
- 25 —
stellten sich die Herrenhuter gegen Böhme,100 obwohl sie bei ihm
manches hätten finden können, was in ihrem Gesichtskreise lag.101
Dagegen trat eine andere Gruppe von Männern, die gleichfalls
stark für religiöse Fragen interessiert waren, lebhaft für Böhme
ein. Ihre Reihe eröffnete um die Wende des Jahrhunderts Gott
fried Arnold, der dem Mystiker in seiner „Kirchen- und Ketzer
historie" einen warmen Nachruf widmete102 und ungeachtet aller
Anfeindungen103 die Lehre von der Sophia zum Mittelpunkt seiner
Lyrik machte. Metaphysischer eingestellt war Johann Conrad Dip-
pel, der sich inKampfe gegen den Materialismus an
seinem
Böhme stärkte, obwohl er in seinen positiven Zielen von ihm nicht
unerheblich abwich.104 Vielleicht folgte er auch bei der Erfin
dung seines tierischen Oeles,105 das noch Jung-Stilling als Me
dikament anwandte,106 Böhmeschen Anregungen. Uebrigens blie
ben auch ihm Anfeindungen wegen seiner Stellungnahme für
Böhme nicht erspart.107 Erfolgreicher und getreuer als Dippel
hat Friedr. Christ. Oetinger das geistige Erbe des Philosophus
Teutonicus angetreten. Sein Ziel, Böhmes Lehren gemäß einer
Forderung Speners in ein deutliches System zu bringen, hat er
allerdings nicht erreicht. Doch hat er den Philosophen wirklich
in seiner metaphysischen Tiefe erfaßt und so viel zu seiner Er
Eröffneter Weg zum Frieden mit Gott und allen Creaturen, Berleburg 1747,
Bd. III, — 105. ebenda, II 261 ff. — 106. Jung-Stilling, Häus
S.
58
2. f.
— '
München 1903, S. 374. 117. „Physiognonnsche Fragmente", Lpz. und
Winterthur, 1778, III 205 f. — 118. ebenda, IV 467 f. — 119. Brief
wechsel mit Hasenkamp, S. 73 (20. V. 1773). — 120. Antworten auf wich-
I
- 31 -
einen Gesichtspunkt her, die er meist mit anerkennenswertem
'
Scharfsinn behandelt; aber er macht sich nichts daraus, sie ab-
wechselnd zu vertreten,ohne sie unter einander auszugleichen.121
Diese Methode Lavaters macht die Mühe, seine Vorbilder aufzu
spüren, sehr leicht. Es läßt sich unschwer nachweisen, was er
Böhme oder dessen Anhängern verdankt. Da er aber in engster
Beziehung zu Hardenberg steht, werden die einzelnen Nachweise
erst im folgenden Kapitel gebracht werden.
Das Beispiel Lavaters und auch Herders hat gezeigt, daß
sich in den letzten Jahrzehnten vor dem Einsetzen der Romantik
Unter der Einwirkung Oetingers das Interesse für Böhme auch in
geistig hochstehenden Kreisen leise zu regen begann. Als ein
bedeutungsvolles Vorzeichen darf auch das Aufsehen gedeutet
werden, das das Buch des französischen Mystikers Saint Martin
„Des Erreurs et de la Verite" sofort nach seinem Erscheinen in
Deutschland machte. Allerdings hat Martin den Böhme erst wäh
rend eines Aufenthaltes in Straßburg (1788 — 1791) durch den
Theosophen Rudolf von Salzmann und Frau Charlotte von Böklin
kennen gelernt.122 Doch lenkte sein von Claudius übersetztes
Werk von Irrtum und Wahrheit das Interesse auf ähnliche Proble
me, wie sie Böhme bewegt hatten, und verriet denselben Zug von
außen nach innen, der den deutschen Mystiker charakterisiert.
Zur gleichen Zeit, als sich dann Martin in die Werke Böhmes
selbst vertiefte, setzte in Deutschland die Renaissance dieses Phi
losophen bei einer Gruppe von Männern ein, die berufen waren,
die Aufklärung innerlich zu überwinden: bei den älteren Roman
tikern.
Zweites Kapitel.
Der indirekte Einfluß Böhmes auf Hardenberg.
tige und würdige Fragen und' Briefe, Bert. 1790, I 422. — 121. G. von
Schulteß-Rechberg in der „Denkschrift", S. 208. — 122. s. Schneider, a.
a. O. S. 142 ff.
!
- 32 -
Posse hier am Wahnsinn, dem Abgeschmackten und der Tollheit
spottend ergötzen".1
zu Die Lektüre änderte sein Vorurteil
schnell;2 wurde ein begeisterter Verehrer des Theosophen
er
und holte sich aus ihm die Stimmung für sein Dichten. iBald
gelang es ihm auch, Friedrich Schlegel und Schelling für seine
Entdeckung zu begeistern! später folgte Hardenberg, den Tieck
im Juli des Jahres 1799 kennen lernte. Hardenberg, streng in
den Anschauungen der Herrenhuter erzogen, brachte wenigstens
eine tiefe Frömmigkeit und ein reges Interesse für religiösie!
Probleme mit, wenn auch die Art der Stellungnahme selbst zu
solchen Fragen in diesen Kreisen der Ansicht Böhmes vielfach
entgegengesetzt Doch war er, als er den Mystiker kennen
war.
lernte,längst Anschauungen der Herrenhuter entwachsen.
den
Er schwärmte für Plotin3 und hatte Parazelsus, Helmont und
mancherlei aus der theosophischen und alchymistischen Litera
tur* gelesen. Böhme selbst aber scheint er wirklich erst durch
Tiecks Vermittlung kennen gelernt zu haben. Wenigstens sagt
er dies selbst in einem undatierten Briefe an Tieck, der wegen
seiner Bedeutung für die vorliegende Untersuchung mit einiger
Ausführlichkeit zitiert sein mag. Da heißt es:
„Ich höre, daß Du eine wundersame Melusine gedichtet hast.
Auf alles bin ich gespannt — besonders auch auf Dein Gedicht
über Böhme Mein Roman ist im vollen Gange. 12 ge
druckte Bogen sind ohngefähr fertig. Der ganze Plan ruht ziem
lich ausgeführt in meinem Kopfe. Es werden 2 Bände werden —
der Erste ist in drei Wochen hoffentlich fertig. Er enthält die An
deutungen und das Fußgestell des 2 ten Theils. Das Ganze soll
eine Apotheose der Poesie seyn. Heinrich von Ofterdingen wird
im 1 sten Theile zum Dichter reif — und im zweyten, als Dichter
verklärt. Er wird mancherley Aehnlichkeiten mit dem Sternbald
haben — nur nicht die Leichtigkeit. Doch wird dieser Mangel
vielleicht dem Inhalt nicht ungünstig. Es ist ein erster Versuch
in jeder Hinsicht — die erste Frucht der bei mir wieder erwachten
Poesie, um deren Erstehung Deine Bekanntschaft das größeste
Verdienst hat. Ueber Speculanten war ich ganz Speculation ge-
1. Werke (Klee), Lpz. u. Wien 1892 III 419 f. vgl. Ederheimer. a. a. O.,
S. 2 f. — 2. vgl. Ricarda Huch, Die Romantik 8—9, Lpz. 1920. S. 164. —
3. s. Reiff, a. a. 0. — 4. s. J. M. Raich, Novalis' Briefwechsel, Mainz
1880. S. 48. Literaturanga.ben dieser Art s. besonders H II 685 ff. —
— 33 —
5. s. Karl von Holtei, Briefe an Ludwig Tieck. Breslau 1864 I 305 ff. —
- 34 -
zur Auflage seiner Novalis-Ausgabe zitiert,6 nennt als Datum
3.
den 23. Februar 1800, und es liegt nicht der mindeste Anlaß
vor, diese Angabe mit Käte Woltereck, 7 die auch sonst gegen)
Tieck in ungerechter Weise Stellung nimmt, als beabsichtigte Fäl
schung zu verdächtigen.
Aus dem Briefe lassen sich folgende Schlüsse ziehen:
1. Hardenberg hat Böhme erst durch Tieck, also nicht vor'
v"
— 36 —
aber schwerlich die Rede sein. Hardenberg selbst erwähnt die geist
lichen Lieder15 und die Physiognomik. Doch berechtigt uns dii
zitierte Aeußerung von Just,16 weiteres heranzuziehen. Da ergib
sich denn, daß Hardenberg die 1790 erschienenen „Antworte
auf wichtige und würdige Fragen und Briefe" gekannt und aus
giebig benutzt hat. Das läßt sich nicht nur durch zahlreich
Anklänge wahrscheinlich machen, sondern geradezu beweiset
Es findet sich nämlich unter den Fragmenten des „Blütenstaubs"1
eines, das sich unverkennbar als eine kritische Auseinandersetzunj
mit einem Kapitel aus den „Antworten"18 ausweist.
Die Anforderungen, die Lavater dort an eine wahrhafte Re
ligion stellt, leitet er aus der Aufgabe ab, die jede echte Religion
dem Menschen zü: erfüllen hat. Sie soll ihm „ein Universal
Medium des Selbstgenusses" werden. In diesem Ausdruck, de
69—85).
— 19. M III 354 (513); H II (Zeit ungewiß).
256 — 20. T.
Chr.
Oetinger, Swedenborgs u. anderer Irrdische und Himmlische Philosophie.
Frankf. u. Lpz., o. J. — 21. Diese Beziehungen sind dargelegt bei Hans
Schlieper, Emanuel Swedenborgs System der Naturphilosophie, Berl. 1901.
— 22. s. Kiesewetter a. a. 0., S. ferner Felix Poppenberg.
382/383;
Zacharias Werner Berl. 1893, S. 6. — 23. B III 87. — 24. Zum Bilde des
Genießens beachte übrigens die Hinweise bei J. M. Verweyen, Die Philo
sophie das Mittelalters. Berlin u, Leipzig 1901, S. 44 Anm. — 25. Ant
-39-
schen Genusses lag also nicht fern, das Dogma der Kirche er-<
mutigte dazu. Doch wird man die eigentümliche Variation nicht
verkennen, die dieser Gedanke in der oben skizzierten Entwick
lung erfahren hat, um zu einer Weltanschauung zu führen, die
nicht nur Gott, sondern auch das iAU umfaßte. Fast darf man sogar,
wie sich zeigen wird, behaupten, daß Hardenberg bei dieser
Betrachtungsweise über dem All seinen Gott eine Zeitlang aus
dem Auge verloren hat. In eigenartiger Weise umgeht Lavater
diese Gefahr. Für ihn ist Gott der Ausdruck für die vollkommenste
Art, den Selbstgenuß zu befriedigen. Wenn die Religion ihre
Aufgabe, „das einzig souveräne Mittel des möglichst reinen und
völligen Selbstgenusses"25 zu sein, erfüllen will, so muß der
Gott, in dem wir uns selbst genießen sollen, in vollständige Ana
logie zum Menschen gesetzt werden. Denn immer wieder hebt
Lavater als einen seiner ersten Grundsätze hervor: „Alles, was
nicht in Analogie mit uns selbst gebracht werden kann, ist nicht
•für uns",26 ein Gedanke, positiv wendet: „Der
den Hardenberg
Mensch ist eine Analogienquelle für das Weltall".27 Nun ist
aber nach Lavater die Grundtendenz des Menschen „ein unauf
hörliches Bestreben nach Mannichfaltigkeit und nach Einfach
heit",28 einer Mannigfaltigkeit, die sich um eine Einheit
d. h. nach
zentralisiert, oder nach einer Einheit, die in einer Mannigfaltigkeit
ihren Ausdruck findet. Es ist sehr bezeichnend für Lavater, daß
er sich einen Gott außerhalb der Schöpfung (d. h. der Mannig
faltigkeit) so wenig vorstellen kann, wie einen Geist ohne Leib.29
Er steht Böhme in dieser Hinsicht ebenso wie der spätere Schel-
ling gegenüber, und es ist gerade der Zweck des Kapitels „Ueber
Mystizismus", diesen Unterschied seiner Auffassung gegenüber
der Mystik zu vertreten. Die Einheit innerhalb der Mannigfal
tigkeit durch die Kraft des Glaubens zu realisieren ist die Bestim
mung des Menschen.30 Er erfüllt diese Aufgabe durch seine
Hingabe an Christus. Denn in diesem „Gottmenschen"31 wird
Gott als eine Einheit konzipiert und doch kreatürlich, d. h. in einer
sinnlichen Erscheinung, in einer Mannigfaltigkeit, angeschaut. Zu
verwerfen ist abe? der Aberglaube und der Atheismus. Der Aber-
(
Worten" I 71. — 26. ebenda. — 27. M II 250 (252); H II 153 (Mitte -
;1798).
— Antworten I 72.
28. — 29. Antworten I 73: „Bs giebt so
wenig einen Gott ausser der Schöpfung, als es einen menschlichen Geist
ausser dem Menschen giebt"; vgl. Denkschrift, S. 211 ff. — 30. vgl.
J
Antworten I 76. — 31. Der Ausdruck „Gottimensch" findet sich bei
40 -
glaube odet Fetischdienst erblickt Gott in jedem kreatürlichen
Wesen und verliert über dem All die Einheit. Er ist nicht fähig,
eine Religion zu vertreten, weil er den Menschen einem Chaos
*
überantwortet und dem Bedürfnis nach Konzentration nicht ent
gegenkommt. In den umgekehrten Fehler verfallen die Athei
sten, die Lavater mit den Mystikern schlechthin identifiziert. In
dem Bestreben, Gott von der Erscheinungswelt immer mehr ab
zurücken und das grundlose Eins in ihm zu finden, entfernen
sie ihn so weit von der Natur, daß schließlich „nichts Brauchbares
mehr übrig zu bleiben -scheint".32 Denn „es ist eine vergebliche
ermüdende Anstrengung und Marter des Geistes, sich aller Krea
türlichen Mittelbegriffe, aller sinnbildlichen oder sinnlichen Medien
gänzlich zu entschlagen".33
Die Art und Weise, wie Lavater in diesen Ausführungen ge
gen die Mystik polemisiert, macht es unwahrscheinlich, daß er da
bei Böhme selbst im Auge habe. Doch unterscheidet er sich von
diesem Mystiker nicht nur durch die Betonung des Kreatürlichen,
sondern vor allem durch die Hervorhebung der Persönlichkeit
Christi. Bei Böhme ist Gott-Vater das metaphysische Prinzip,
auf dem alles beruht. Christus kann daneben nur als ethisches
Prinzip eine fast untergeordnete Rolle behaupten. Für Lavater
ist Christus als der Mittler, als das „Medium", eigentlich alles.
Gott-Vater verschwindet hinter diesem Medium vollständig. An
dieser Unklarheit hat Hardenberg in dem bezeichneten Blüten-
staubfragment, in dem er sich an Lavater anlehnt, Anstoß genom
men. „Wahre Religion ist, die jenen Mittler als Mittler annimmt
— ihn gleichsam für das Organ der Gottheit hält, für ihre sinn
liche Erscheinung". Auch sonst bemüht er sich, über das bei
Lavater Gesagte hinauszugehen. Er schließt den Atheismus von
der Betrachtung aus, weil er mit Religion überhaupt nichts zu
schaffen habe. Den Mystizismus ersetzt er durch den jüdischen
Monotheismus, der auf jeden Mittler verzichte und daher in Wahr
heit Irreligion sei. lieber den Götzendienst und den Pantheismus
aber denkt er nicht ganz so skeptisch wie Lavater. Es sei möglich,
die Vorstellung eines vielfältigen Mittlers durcfT die Konzeption
eines einzigen Mittlers gleichsam zu zentrieren. Obwohl Harden
berg also gewisse Schwächen von Lavaters Ausführungen er
kennt, bleiben seine eigenen Bemerkungen doch unklar, ja fast
— I — II H II
1 70. 33. ebenda 79. 34. M 292 (356); 363 (nach 1. II.
— 35. Antworten II — ebenda, I —
1800). 92. 36. 319. 37. ebenda,
- 42 -
Aus Böhmeschen Anschauungen heraus sind diese Gedanken
nicht erwachsen und daher in unserem Zusammenhange nicht zu
verwerten. Es kommt in diesem Rahmen hauptsächlich darauf
an, Lavater als Durchgangspunkt für Böhmesche Ideen
einen
zu Hardenberg hin zu behandeln. Diese Aufgabe wird dadurch
erschwert, daß Hinweise auf besonders charakteristische
Ideenzusammenhänge nicht beigebracht werden können. Die Pro
bleme, um die es sich handelt, bewegten die Zeitgenossen in wei
tem Umfange, man begegnet ihnen allenthalben, upd so hätten
die die die Linie Böhme -Lavater- Hardenberg her
Hinweise,
ausheben, den Charakter einer gewissen Zufälligkeit, die zu nichts
verbindet, wenn nicht bereits erwiesen wäre, daß Lavater den
Böhme geschätzt, Hardenberg den Lavater eifrig gelesen hat.
Im Grunde stimmten die drei eben überein in der Tendenz, sich
selbst zu vollkommenen die innere
Menschen zu erziehen und
Harmonie zu gewinnen. Voraussetzung für dieses Ziel war für
alle drei das, was die Romantiker die Möglichkeit einer „Perfekti-
bilität" des Menschen nannten. Der Mensch .soll dem „Ueber-
menschlichen", wie Lavater sagt, soll der Gottheit zustreben.
Gottesnähe und Gottesferne sind die Worte, die die Welt be
wegen. „Gott muß Mensch werden, Mensch muß Gott werden,
Himmel muß mit der Erde ein Ding werden, die Erde muß zum
Himmel werden",38 ruft Böhme. „Durch Vermenschlichung un
sere Gottes werden wir göttliche Menschen",39 ruft Lavater.
„Gott will Götter",40 ruft Hardenberg. Die ganze Natur wird
beseelt, um an der Vervollkommnung teilhaben zu können. La
vater sagt: „Ohne Bewegung, d. h. ohne scheinbare Bewegung
— ist alles todt für uns. Selbst das Lebloseste, wenn es wohl-
thätig auf uns wirken soll, muß zu leben scheinen Die Natur
belebt alles, organisiert alles: unser Zeitalter desorganisiert alles.
Die liebe heilige Vorzeit machte alles persönlich; Wir entkleiden
alles von aller Persönlichkeit!"41 Fast noch deutlicher ist der
Hinweis auf Böhme in den Worten: „Je lebendiger wir sind?
desto lebendiger wird das Leblose für uns. Je aufmerksamer und
schweigender wir, desto sprechender die Schöpfung für uns".*2
Hardenberg wiederum sagt in den „Lehrlingen", sichtlich von
Lavater beeinflußt: „Drückt nicht die ganze Natur, so gut wie
das Gesicht und die Geberden, der Puls und die Farben, den
I 320. — 38. B IV 374. — 39. Antworten 1 326, vgl 1 564. — 40. M II 198 (69);
Zustand eines jeden der höheren, wunderbaren Wesen aus, die
wir Menschen nennen?"13 Auch er klagt über sein Zeitalter:
„Vielleicht ist nur krankhafte Anlage der späteren Menschen,
es
wenn sie das Vermögen verlieren, diese zerstreuten Farben ihres
Geistes wieder zu mischen und nach Belieben den alten einfachen
Naturstand herzustellen, oder neue mannichfaltige Verbindungen
unter ihnen zu bewirken. Je vereinigter sie sind, desto vereinigter,
desto vollständiger und persönlicher fließt jeder Naturkörper, jede
Erscheinung in sie ein."*4 Im Verlauf der weiteren Ausführungen
dieser Stelle wird dann das enge Verhältnis gerühmt, in dem un
sere Altväter zu den Dingen der Natur standen. Bei allen also eine
überströmende Liebe zur Natur, das Gefühl einer innigen Ver
wandtschaft mit allen Wesen der Welt, das Bewußtsein, daß die
gleiche lebendige Urkraft im Größten wie im Kleinsten wirkt.
Es muß in diesem Zusammenhang auch auf die Wirksamkeit des
Geologen Werner verwiesen werden, zu dessen Füßen Harden
berg und Baader saßen. Wie Lavater die Physiognomieen der
Menschen studierte, gewann vor Werners Blick die Natur, ge
wannen selbst die Steine eine lebendige Physiognomie. Zu ihm
sprach, was anderen tot schien; er besaß jenen Spürsinn für die
verborgenen Merkmale der Natur, mit dem Böhme nach dem Aus
weis seiner Schriften und dem Zeugnis seiner Zeitgenossen be
gabt war. Er lehrte Hardenberg, durch seine Beobachtung jene
lebendige Energie zu stählen, die sich Antwort aus jedem Gliede
der Natur erzwingt.
Allerdings verrät uns Hardenberg in den „Lehrlingen", daß er
selbst lieber den Weg ging, der aus dem Inneren seiner eigenen
Natur heraus zum Ziele führte. Dieses Ziel aber war für ihn
wie für Böhme und Lavater die innere Harmonie. Wir haben
gesehen, welch wichtige Rolle die innere Konkordanz in Böhmes
System spielte. Lavater schreibt: „Ich glaube, Alles ist im
Menschen, dem möglichst vervollkommlichen Ebenbilde Gottes
— und das Ende von allem ist Harmonie mit sich selbst, und durch
diese Harmonie mit sich selbst — Harmonie mit allem Guten.
Lebenden, Ewigen!"45 Tiefer faßt Hardenberg den Gedanken:
„Alle Wahrheit besteht in innerer, eigner Harmonie und Concor-
danz, Coincidenz".46 In diesen Worten spricht er bereits den
32;
44. M IV — II — HI
8;
H
214.
M
(925); H n
' '
—
. '
M
| rrriTTH
III H II
472
(Ende 1798). 52. 76 (369); 87 (Mitte 1798V
— 53. Antworten, I 255. — 54. M II 111 (6); H II 2 (Blütenstaub). —
- 48 -
ewigen Lebens voll".55 Ansätze zii dieser dynamischen Auffassung
der Lebensaufgabe finden sich durchaus auch bei Lavater, und
zwar deutlich durch die Mystik angeregt und in einem Tone vor
getragen, der unmittelbar an Böhme anklingt: „Jeder Glaube
ist Aberglaube, oder Unglaube, der nicht reinlebendige Seelen
kraft und Energie ist — Es ist alles nichts, bis wir etwas so glauben
können, daß der Glaube den Effekt des Wissens, die Bestimmungs
kraft des Anschauens hat. Diese Kraft aller Kräfte wird nicht
ohne heißen Schmerz gebohren. Dieß Kleinod muß lange ge
sucht werden, eh' gefunden wird. Aber "mit ihm ist denn auch
es
Alles gefunden. Kein Preis ist zu theuer für diese Perle — für
diesen weissen Stein mit dem neuen Namen, den niemand kennt,
als wer ihn empfängt, kein Kampf zu schwehr".56 Diese Worte
zeigen so recht, wie Lavater unter dem starken Einfluß Böhmes
zu Gedanken gedrängt wird, die das Wesen des magischen Idealis
mus „Produktive Einbildungskraft"' nennt Harden
ausmachen.
berg jenen Glauben, der so stark ist, daß er für das Individuum
Realitäten schafft.
Soweit die theoretischen Grundlagen des magischen Idea
lismus auf Fichtes System beruhen, sind sie von Simon57 dargelegt
worden. Der von Hardenberg selbst gewählte Name des Systems
verrät uns aber noch eine zweite Quelle: Die Magie. Aus der
Synthese zweier Weltauffassungen hervorgegangen, hat das System
die von der Aufklärungszeit erarbeitete Dialektik, die das
Leben als Offenbarung, d. h. von außen ansah und begrifflich
zergliederte, in sich verzehrt, tön ihre tote Form in einer magischen
Wiedergeburt gleichsam zu einem lebendigen Wesen von Empfin
dung und Pulsschlag zu erwecken. Gewiß war auch Männern
wie Kant und Fichte ihr System etwas durchaus Lebendiges.
Aber dieses Leben spielte sich in der abgeklärten Sphäre hoher Ab
straktionen und logischer Deduktionen ab, die den Romantikern
aus ihrem veränderten Lebensgefühl heraus als etwas Totes,
Gottfernes erschienen. Ein Hardenberg wollte sich nicht nur
durch dialektische Schlüsse überzeugen lassen, daß Himmel und
Erde im Ich beschlossen liegen; er wollte es jederzeit von innen
den Teufel und den Antichrist nicht narren, der dir die GotthHt
ja
weit von dir zeigen will und dich in einen weit ahp-elepenen HtmL
mel weiset. Es ist dir nichts näher als der Himmel" 82 Auf
Lavater hat dieser Gedanke tiefen Eindruck gemacht: „Tch möchte
federn Gottesbedürftigen Herzen zurufen: SHfre n'cht in den
Himmel herauf, um Ihn von dorten herunter zu holen. Versenke
Dich nicht in den Abgrund, um Ihn von dort gleichsam herauf
zu zaubern — Der Herr ist nahe bev dir".63 Das ahnd' ich. daß
die christliche Seele in sich selbst unmittelbar einen ewi'o^n. "nd
tinendlichen Himmel pflanzt, welchem gle'chsam von sich selbst
in
f.
- 50 —
Doch nicht nur von Gott und dem Himmel, sondern auch
von allen Dingen der Außenwelt führt Lavater aus, daß sie in
Wirklichkeit der menschlichen Seele immanent seien,66 und er
bemüht sich, diese Ueberzeugung nicht wie Fichte deduktiv zu
beweisen, sondern wie Böhme dem lebendigen Empfinden näher
zu bringen. Ganz im Sinne Hardenbergs ist diese Immanenz für
ihn nicht schlechthin eine Tatsache, sondern eine Aufgabe, die
den Menschen anweist, wie er sich mit der Außenwelt ausein
anderzusetzen habe: Wir sollen die Welt durch unsere Persönlich
keit hindurchführen und auf diese WeiseOrganismus in einen
verwandeln. „Es ist ein unaufhörliches Streben in uns, alles
außer uns in Harmonie mit uns selbst zu bringen, und alles
unser Leiden kömmt einzig und allein daher, wenn wir nicht Kraft
genug besitzen, das Mannichfaltige zu vereinfachen — das Wider
sprechende unter eine Regel zu bringen. Unaufhörlich breiten
wir uns gegen eine Unermeßlichkeit aus und unaufhörlich ziehen
wir uns wiederum auf Einen Punkt zusammen".67 Diese letzten
Worte enthalten einen deutlichen Hinweis auf die beiden ersten
Quellgeister Böhmes, die man als Kontraktion und Expansion
gedeutet hat.
71. Die Bedeutung dieses Ereignisses hebt hervor Moeller van den Bruck.
Vorschwärmte Deutsche, Minden (1906), S. 180 f. — 72. M II 198
- 63 -
das sein System verlangte, immer beschwerlicher fallen; es konnte
der Zeitpunkt nicht ausbleiben, wo ihm bei seiner Gottähnlichkeit
bange würde. i
sieh ihm als das Bild zu Sais, in dem er sein Selbst entdeckte.
Das dankbarste Motiv seiner Muse verdankte er diesem Erlebnis.
Alles hätte er am liebsten in seine Sophie verwandelt,74 die ihm
der reinste Spiegel seiner Seele war. Ein Kunstwerk seines
eigenen Geistes verehrte er in ihr, und wie ein von wahrhafter
Religiosität erfüllter Künstler sich in dem eigenen Werke, zu dem
ihn der Rausch der Verzückung in selbstverlorenen Stunden rein
ster Schaffensfreudigkeit begeistert hat, hernach nicht mehr wieder
findet und darin die Einwirkung einer höheren Macht ahnt, so
schrieb Hardenberg kurz nach Sophiens Tode die vielzitierten
Worte: „Ich habe zu Söfchen Religion — nicht Liebe. Absolute
Liebe, vom Herzen unabhängige, auf Glauben gegründete, ist
Religion".75
Es steckte also doch in Hardenbergs Verehrung für Sophie,
so sehr er sich auch bemühte, die Geliebte mit seinem besseren
Selbst restlos zu identifizieren, bereits ein Stück Religion, d. h.
die Anerkennung einer Macht, die über die Grenze seines Ichs
hinausging, der sein Ich zustreben mußte, um sein Ziel zu erfüllen.
Also auch von dieser Seite her wurde der magische Idealismus
durchbrochen. Denn dies mußte Hardenberg in der Tat als den größ
ten Mangel seines Systems empfinden, daß es ihn der Religion ent
fremdete, die ihm im Vaterhause lieb geworden war. Gewiß hat
er in keinem Augenblick seines Lebens an den Grundsätzen des
Glaubens gezweifelt. Aber sie waren ihm zunächst etwas Er
erbtes, nichts innerlich Verarbeitetes. Deshalb versagten sie auch
ausreichenden Trost, als Sophie starb, und er wußte sie im Rah
men seiner gewohnten Gedankenwelt nicht recht unterzubringen.
„Will ich Gott oder die Weltseele in den Himmel setzen?
nun
Besser wär es wohl, wenn ich den Himmel zum moralischen
Universo erklärte und die Weltseele im Universum ließe".76 Da
mit war ein vollständiger Bruch ausgesprochen, das Reich des
Moralischen dualistisch neben diese Welt gestellt. „Gott und
Natur muß man hiernach trennen. Gott hat gar nichts mit der
Natur zu schaffen. Er ist das Ziel der Natur, dasjenige, mit dem
sie einst harmoniren soll. Die Natur soll moralisch werden, und
so erscheint allerdings der Kantische Moralgott und die Moralität
in einem ganz andern Lichte. Der moralische Oott ist etwas weit
II
- Antworten, II 58. — 74. s. M III
(69); H —
-
176 (Mitte 1798). 73. 373
(1108); H II 561 (Ende 1798). 75. M III 181 (81); H II 101
(1797).
- 5S -
höheres, als der magische Gott".77 Mit diesen Worten bekannte
also Hardenberg bereits, daß es einen höheren Standpunkt gebe
als den des magischen Idealisten. Er nahm sich auch vor, über die
Struktur der moralischen Welt einiges zu sagen. Er sprach von
einer „Ansicht der ganzen Welt durch den Moralsinn" und plante
eine „Deduction des Universums aus der Moral".78 Doch unter
nahm er keinen ernsthaften Versuch in dieser Richtung und ahnte
wohl das negative Ergebnis dieser Untersuchung, wie ein tief
gründiger Aphorismus beweist: „Mit vollständiger Selbstkennt-
niß und Weltkenntniß, vollständiger Selbst- und Weltbestimmung
verschwindet das Moralgesetz, und die Beschreibung des morali
schen Wesens steht an der Stelle des Moralgesetzes. Gesetze
sind die Data, aus denen ich Beschreibungen zusammensetze".79
Eine deduktive Ausführung dieses Gedankens hätte damals bei
Hardenberg immer nur zu einer Beschreibung des Prozesses
führen können, der sich im magischen Idealisten bei der Um-
schmelzung des Weltalls durch die Wirksamkeit seiner Seelen
energie vollzieht. So hatte der Dichter in der Tat über der Kon
struktion des vollkommensten Menschen Gott selbst verloren.
Von seiner Weltanschauung, die das Ich als erstes Postulat setzte,
sah er keinen gangbaren Weg zu einer Macht, die die Grenzen
des Ichs übersteigt und das Ich von seiner ungeheuren Verantwor
tung entlastet. Diese Verantwortung dauernd allein zu tragen
war Hardenberg aber nicht robust genug; der Drang nach Re
ligion war in ihm so stark wie in wenigen Menschen.
Im Grunde lag der Schritt, der für ihn in dieser Lage zu
tun war, gar nicht fern. Er brauchte nur zu begreifen, daß der
Mensch das „Partikular" einer Allmacht ist, die in jedem klein
sten Teilchen das volle Maß ihrer wirksamen Kräfte einschließt,
daß also die Identität des Menschen mit der Natur in diesem
Sinne die Gottheit bereits voraussetzt. Aber der Dichter hatte
sich auf dem Umwege über die ihm wesensfremde Philosophie
Fichtes den klaren Blick für diese Zusammenhänge getrübt, und
da die Anregung Lavaters gerade in diesem entscheidenden Punkte
versagte, so ist es sehr bezeichnend, daß er diesen Weg aus eige
ner Initiative nicht fand. Erst Böhme mußte ihm die fruchtbare
Anregung bringen, die ihn aus seinen Nöten herausführte.
7.
276.
II
ff.
71
— IV H —
M
so auch
8.
Bald wird der König vertrieben sein und das Reich der Freien
unendlichen Sorgen und wilden Leidenschaften herbeylockt. So
untergräbt sie heimlich den Grund des Eigenthümers, und be
gräbt ihn bald in den einbrechenden Abgrund, um aus Hand in
Hand zu gehen, und so ihre Neigung, Allen anzugehören, allmäh
lich zu befriedigen".11 Ich meine doch: diese Worte sprechen
klar. Sie sprechen die glatte Absage an das System des magischen
Idealismus aus, die Hardenberg unter dem Eindruck Böhmes voll
zieht. Etwas Besseres hat er dafür gewonnen: „Das wahrhafte
Vertrauen zu seinem himmlischen Vater".12 Jedes Wort des
Alten paßt auf Böhme: „Wie unzähliche mal habe ich nicht vor
Ort gesessen, und bey dem Schein meiner Lampe das schlichte
Krucifix mit der innigsten Andacht betrachtet! da habe ich erst
den heiligen Sinn diesesräthselhaften Bildnisses recht gefaßt, und
den edelsten Gang meines Herzens erschürft, der mir eine ewige
Ausbeute gewährt hat".13 Es ist bereits ausgeführt,14 welche tiefe
Deutung Böhme dem Kreuz gibt; es ist ihm zum Symbol für die
Orientierungskraft geworden, die der menschlichen Seele im mo
ralischen Sinne kraft des Gewissens innewohnt.
Alle diese Argumente werden bestärkt durch den Hinweis
der Paralipomena, daß der Bergmann mit Sylvester identisch sei,
in dem ich ein Portrait Böhmes mit Bestimmtheit nachweisen zu
können hoffe. Es kann nun auch die Deutung des zweiten Berg
mannsliedes („Ich kenne wo ein festes Schloß") gegeben werden,
die Marie Joachimi15 völlig mißlingt, wenn sie meint, der darin
genannte König sei der dogmatische Gott im alten Himmel, wo
bei sie denn freilich die zweite Hälfte der ersten und die zweite
Strophe völlig ignorieren muß. In Wirklichkeit ist das feste Schloß
die Hirnschale, die Quellen, die zu dem Könige herabrauschen, um
ihm die Ereignisse der Welt zu berichten, sind die fünf Sinne,
der König selbst, der „aus seiner Mutter weißem Blut",16 d. h. aus
dem Gehirn, hervorblinkt, ist der von Böhmes Selbheit besessene
Intellekt des magischen Idealisten, der die ganze Welt zur Dienst
barkeit unter seinem Joche zwingt. Das unermeßliche Geschlecht
ist die betrogene Menschheit, die ihrem selbstsüchtigen Könige be
glückt huldigt. Aber es regt sich bereits der Geist der Einsicht.
M IV — M IV H — IV
f.;
M
H
- 64 -
Großvater Schwaning in seinem Hause gibt. Die Wirkung des
Weines wird geschildert. Dann heißt es: „Heinrich begriff erst
jetzt, was ein Fest sey. Tausend frohe Geister schienen ihm um
den Tisch zu gaukeln und in stiller Sympathie mit den fröhlichen
Menschen von ihren Freuden zu leben und mit ihren Genüssen
sich zu berauschen. Der Lebensgenuß stand wie ein klingender
Baum voll goldener Früchte vor ihm. Das Uebel ließ sich nicht
sehen, und es dünkte ihm unmöglich, daß je die menschliche Nei
gung von diesem Baume zu der gefährlichen Frucht des Erkennt
nisses, zu dem Baume des Krieges sich gewendet haben sollte.
Er verstand nun den Wein und die Speisen. Sie schmeckten ihm
überaus köstlich. Ein himmlisches Oel würzte sie ihm, und aus
dem Becher funkelte die Herrlichkeit des irdischen Lebens".26
Für sich betrachtet, sind diese Worte unverständlich. Was hat
ein fröhliches Trinkgelage mit dem Paradiese und dem Baume
der Erkenntnis zu tun? Was bedeutet der Ausdruck: ein himmli
sches Oel? Es handelt sich um eine Entgleisung in Böhmesche
Gedankenbahnen, bezeichnend für die ineinanderfließenden Asso
ziationen, die den Dichter zum echten Romantiker stempelten.
Böhme erzählt uns von dem Leben Adams im Paradiese, wie er
die Speisen „in der Imagination" aß und das Uebel der gestörten
Harmonie nicht kannte, bis ihn seine menschliche Neigung zu
dem Baume der Erkenntnis trieb. Auch das himmlische Oel
stammt aus Böhme. Denn die Flüssigkeit, die er als ein Symbol
der Ursubstanz ansieht, zerfällt ihm in eine Zweiheit von Wasser
und Oel. Das Oel, „in welchem die wirkende Kraft ein guter
Geist ist, nach der Eigenschaft der Liebelust",27 versinnbildlicht
das Prinzip der Sanftmut oder des Lichtes. Denn es steigt in der
Flamme auf und verwandelt sich in Licht, während das Wasser
zurückbleibt. Man darf sich wohl vorstellen, daß diese Anschau
ung eines chemischen alchymistischen Experimentes auch
oder
in die symbolische Darstellung vom Prozeß der Quellgeister als
stützende Anschauung eingeflossen sei. Interessant für die Art
und Weise, wie Böhme verschiedene Gradus ineinandergeschach
telter Realitäten annahm, ist folgende Stelle: „Das ölische Wesen
ist der Geist des Wassers, als des Wassergeistes ; und die geoffen
barten Kräfte Gottes sind der Geist des Oeles oder ölischen
Geistes; und der ewige Verstand des Worts ist der Anfang der
— IV — V —
f.;
H
28.
B
29.
I
a. a. 0. S. 67.
- 66 —
eil
Kampfansage, mit einer Heftigkeit vorgebracht, die kaum
t
greiflich erscheint. Ein rätselhafter Widerspruch klafft zwisch
diesen Aeußerungen und dem Zeugnis, das die Dichtung abz
legen scheint. Darüber vermag Käte Woltereck nicht hinweg?
täuschen. Sie hat offenbar richtige Beobachtungen nicht
gai
richtig interpretiert. Ich stelle zunächst die Verhältnisse hin,
w
sie tatsächlich liegen. Auch ich bezweifle nicht, daß Klingsof
mit gewissem Vorbehalt allerdings, wovon noch zu sprechen
se
wird, ein Portrait Goethes darstellt. Ich bezweifle ferner nid
daß Goethes Sprache von bedeutendem Einfluß auf den „Ofte
dingen" gewesen ist, daß sich dieser Einfluß sogar vielleicht
den letzten Kapiteln verstärkt. Einzelne Stellen, die K. Wolters
durch Goethe inspiriert glaubt, werde ich allerdings mit No
wendigkeit Böhme zuweisen müssen. Ich gebe ferner zu,
ii
Die Handln!
sich der Stil der letzten Kapitel durchaus verändert.
wird zielbewußter, die innere Spannkraft größer, die Lust an
d
Spekulation, noch im Briefe an Tieck verdammt, wächst:
fünften und sechsten Kapitel kaum merklich, stärker im siebenti i
und achten Kapitel, im neunten Kapitel aber, im Märchen, schwii
sie zu einer Absurdität an, die in der Geschichte der Literat:
ihresgleichen sucht.
Es steht ferner fest, daß sich in jener Zeit in Hardenba
entscheidende innere Umwälzungen abspielten, die sich
in
g
sei
Projizierung der inneren Spannkräfte auf die Außenwelt
verliert. Die Folge ist, daß der Kosmos, des egozentriscl
Blickpunktes beraubt, auseinanderzuspringen droht. Deshalb
weise Begrenzung und Sparsamkeit nötig, ökonomische Verteil
der Kräfte, ein kühles und besonnenes Gemüt, damit die
Di
innerhalb eines bescheidenen Raumes ^zwischen selbst gestel
Horizonten in die rechte Ordnung gebracht werden können,
mit wird aber die Kunst zur Technik. Die Mühe, einen Reich
von Verhältnissen, die ihre natürliche Beziehung zu dem im
gelegenen Konvergenzpunkte verloren haben, zu sammeln und
ordnen, absorbiert die Kraft des Dichters vollständig, die Oekcj
mie siegt über die Poesie, und in diesem Sinne schreibt Hai
berg in dem Briefe an Tieck: „Ich sehe so deutlich die gn
Kunst, mit der die Poesie durch sich selbst im Meister vernic
wird — und während sie im Hintergrunde scheitert, die Oed
mie sicher auf festem Grund und Boden mit ihren Freunden!
gütlich tut und Achselzuckend nach dem Meere sieht".
1
mit dem Meere gemeint ist, das die Oekonomie mit einem Acffl
zucken glaubt abtun zu dürfen, verraten uns die letzten Zej
j
„Am Ende wird, von Banden los,
Das Meer die leere Burg durchdringen,
Und trägt auf weichen grünen Schwingen
,
Zurück uns in der Heymath Schooß".31
In dem Meere symbolisiert sich also das Leben, in de«
Urgrund der Mensch seine Heimat hat. Die ökonomische m
auffassung hat für dieses Meer kein Verständnis, weil siel
Welt nach ihren extensiven, meßbaren Verhältnissen erfora
Hardenberg glaubte im „Wilhelm Meister" das Mustea
spiel einer solchen ökonomischen Behandlung des Stoffes gel
den zu haben. Die bei Käte Woltereck32 zusammengestellten!
J
— M III II. —
J
II
H
(nach 1800).
69 -
sie des Meisters
erscheinen mochte, so vollständig sie auch
Gegensatz seiner eigenen Neigungen verkörperte, so konnte
iich doch nicht verhehlen, daß sein eigenes . System des magi-
:n Idealismus -in seiner äußersten
Konsequenz eben dieser
fassung der Welt zustrebte. War es der Zweck seines gan-
Systems gewesen, die Welt von innen heraus, als Wille, als
mft empfundenen Urtrieb, nach ihrer intensiven Seite, kennen
ernen, so mußte ihm der „Meister" zu seiner Bestürzung vor
jen führen, daß eben dieses Ziel, sobald der magische Prozeß
Genießens und Absonderns durchgeführt war, sich selbst
10b, daß sein Ideal einer Poesie sich selbst vernichtete, daß er
egozentrischen Blickpunkt verlor und die Welt ihm nur noch
Vorstellung, wie Schopenhauer sagt, als Offenbarung, wie
Mystiker sagen, als extensive Größe übrig blieb. Hatte er
h dieser Konsequenz ausweichen wollen, indem er die
„Gene-
3nsaktion" selbst als den eigentlichen Höhepunkt des magi-
iu Prozesses erklärt hatte, so mußte ihm doch der „Wilhelm
ster" wie ein Dorn im Fleische sitzen. Da lernte er Jakob
ime kennen, und es zeigte sich ihm nun der Weg, wie man
ch den Mikrokosmosgedanken von der egozentrischen Welt-
assung zu einem kosmischen Standpunkte gelangen könne,
doch das All in seiner Intensität erfaßt, von innen heraus er-
. Nun erst, als Hardenberg selbst eine überlegene Anschauung
'onnen zu haben glaubte, konnte sich der lange gehegte Un-
über den Meister in einigen heftigen Ausbrüchen entladen.
Aber da er selbst ja nun gewonnenes Spiel hatte, so mußte
Zorn bald überlegener Nachsicht weichen. Es konnte ihm
it einfallen, achtlos fortzuwerfen, was er aus dem „Wilhelm
ster" gelernt hatte, so wenig, wie er daran dachte, das eigene
iststreben langer Jahre schlechthin zu verurteilen. Er war nur
:h Böhme, wie sich noch zeigen wird, um eine Stufe höher
iegen. Die alten Wahrheiten blieben bestehen; aber es waren
t mehr die letzten Wahrheiten. Wollte Hardenberg seine
isterziehung, die ihm das höchste Ziel seines Lebens war (ur
inglich war es wohl eher die Selbsterkenntnis gewesen), ökono-
:h durchführen, so durfte er Erarbeitetes nicht achtlos fort-
fen, sondern mußte es als Baustein zu Vollendeterem verwen-
Zwei Weltanschauungen müssen nicht notwendig gegen
minder deutlich ist der Hinweis auf Böhme in den Worten: „Noch
war sie [die Welt dem Dichter] aber stumm, und ihre Seele, das
Gespräch [der 6. Quellgeist], noch nicht erwacht. Schon nahte
sich ein Dichter, ein liebliches Mädchen an der Hand, um durch
Laute der Muttersprache [ ! ] und durch Berührung eines süßen
zärtlichen Mundes, die blöden Lippen aufzuschließen".37
Bedeutungsvoll sind die Worte Heinrichs: „Mich dünkt,
daß man gerade, wenn man am innigsten mit der Natur ver
traut ist, am wenigsten von ihr sagen könnte und möchte".38 Wer
den innigen Zusammenhang mit der Natur gewonnen hat, handelt
in engster Verbindung mit ihrem Willen und
bei jeder Tätigkeit
wird bei jedem Gedanken von ihren Gesetzen lebendig durch
strömt. Diese Gesetze erscheinen als Gesetze nur demjenigen,
der selbst außerhalb der Gesetze steht oder doch durch heterogene
Hemmungen in seiner Bahn gestört ist. Ein Bild mag dies ver
anschaulichen: Wer ohne Widerstand in einer Strömung treibt,
empfindet diese Strömung nicht als Strömung, wohl aber der
jenige, der sie vom Ufer aus beobachtet. Dieselbe Handlung hat
ein anderes Gesicht, je nachdem sie triebhaft von innen heraus
erfolgt oder von außen her, nämlich unter dem Gesichtswinkel
der moralischen Wertung, beobachtet wird. Es ist etwas anderes,
ob wir eine fremde oder auch die eigene Entwicklung nach ge
wissen äußerlichen Merkmalen, nach Werken, Handlungen usw.
beschreiben, oder ob sich eine Entwicklung in uns selbst, mehr
unbewußt als durch unser Wissen und Wollen gefördert, voll
zieht. Bereits früher hatte Hardenberg erkannt, daß an die Stelle
des Moralgesetzes die Beschreibung des moralischen Wesens trete,
sobald der Mensch zur inneren Harmonie gelangt sei; doch hatte
er diesen Gedanken in seinem alten Systeme nicht verwerten
können. Denn es steckt in dieser Idee die Anerkennung von
Urkräften, die durch eine bewußte Setzung des Ichs nicht be
gründet werden können, weil sich das Ich erst aus ihrer Syn
these ergibt. Auf diese Urkräfte mußte Hardenberg sich be
sinnen, als er Böhme las. Denn das waren ja die Mächte, die
das Ich von einer überspannten Verantwortung entlasteten und
mit der Gottheit verknüpften. Durch sie regte sich die Gott
heit im Menschen.
34. M IV 162: H I 108. — 35. Reden über die Religion, S. 86. — 36. M
IV 148; HI 95. — 37. M IV 149; H I 96. — 38. M IV 165; H I 111. —
Vergeblich hat Hardenberg einen Ausweg aus dem Zirkel
der Antinomieen mit den Mitteln gesucht, die die erkenntnistheo
retisch orientierten Systeme seiner Zeit ihm boten. Vergeblich
ist er von Kant zu Hemsterhuis, von Hemsterhuis zu Kant ge
laufen. Auf dieser Grundlage ist für ihn keine Lösung zu er
hoffen. Da fällt ihm ein Buch in die Hände, das ganz anders,
das moralisch orientiert ist. Mit beiden Händen greift er zu
einer Lösung, die er selbst in zahlreichen Aphorismen unsicher
vorausgeahnt hat. Jene Gedanken, die er damals nicht recht zu
großen Zusammenhängen hat verwerten können, erscheinen ihm
nun als wertvolle Fingerzeige, die der Abgesandte einer höheren
Welt ihm hie und da auf seinem Wege hat zukommen lassen.
Sein früheres Streben ist ohne Erfolg geblieben, denn es hatte
sich ein falsches Ziel gesteckt. Es gilt nicht die reine Erkenntnis,
die die erkundet, wie sie sind, und die Natur als einen
Dinge
Zustand, als einen Status auffaßt, sondern es gilt, die Aufgabe
zu bestimmen, die ein jeder als tätiges Glied in dem lebendigen
Kosmos zu verrichten hat, es gilt, sich von den Kräften durchströ
men zu lassen, die das All wirkend durchfließen, es gilt, den
Strom des Lebens in nicht zu hemmen.
uns Es gibt also in
unserem Inneren Stimmen, die über das hinausweisen, was wir
im Augenblick verstehen können, und uns den Weg vorschreiben.
Diese Stimmen sind Aeußerungen von Kräften, die unsere Ent
wicklung tragen und uns den Weg vorschreiben. So swird der
Kosmos im Sinne Böhmes als ein moralisches Gefüge gefaßt,
und jenes Organ, das uns durch die Gottheit vernehmlich wird, ist
nichts anderes als das Gewissen. Wer aber diese Kraft auf sich
wirken läßt, wird, so scheint es Heinrich, sich am wenigsten (im
stande und getrieben fühlen, über diesen Zustand zu reflektieren
und ihn begrifflich zu zerlegen.
Mit dieser Darstellung haben wir allerdings einen Gedanken
gang antizipiert, der erst im Gespräch Heinrichs mit Sylvester aus
geführt, im ersten Buche des Romans aber hie und da angedeutet
ist. Originell ist der Versuch Hardenbergs, über diesen Zusam
menhängen, die sich ihm neu erschließen, das beabsichtigte Leit
motiv seines Romans nicht aus dem Auge zu: verlieren, der auf
eine Verherrlichung der Poesie hinauslaufen soll. Wenn die
Poesie das Höchste auf Erden sein soll, so muß auch sie über
die Grenzender Individualität hinausgetragen werden. So wird
— 74 —
sie zu einer Kraft, die in der ganzen Natur lebendig ist. Aber
sie darf doch nicht mit der Natur als Ganzem schlechthin iden
tifiziert werden: „Ich weiß nicht, warum man es für Poesie nach
gemeiner Weise hält, wenn man die Natur für einen Poeten aus-
giebt. Sie ist es nicht zu allen Zeiten. Es ist in ihr, wie in dem
Menschen, ein entgegengesetztes Wesen, die dumpfe Begierde
und die stumpfe Gefühllosigkeit und Trägheit, die einen rastlosen
Streit mit der Poesie führen".39 Hardenberg spinnt also die An
regungen, die ihm bei Böhme geboten werden, zu neuen Ge
danken weiter. Poesie ist ihm die Wirkung der Natur, sofern sie
im ersten Quellgeiste steht. Sie ist ihm ebenso universell, wie der
erste Quellgeist selbst. Im Ringen mit der Trägheit erprobt
sie ihre Kraft. So steht die ganze Natur im Streite der Gegen
sätze. „Im Kriege regt sich das Urgewässer. Neue Welttheile
sollen entstehen, neue Geschlechter sollen aus der großen Auf
lösung anschießen. Der wahre Krieg ist der Religionskrieg; der
geht gerade zu auf Untergang, und der Wahnsinn der Menschen
erscheint in seiner völligen Gestalt. Viele Kriege, besonders die
vom Nationalhaß entspringen, gehören in diese Klasse mit, und
sie sind ächte Dichtungen".40 Der Gedanke großer religiöser Um
wälzungen, aus denen neue Weltteile entstehen, findet sich bereits
in der „Christenheit": „Wahrhafte Anarchie ist das Zeugungs
element der Religion".41 Solchen Ideen, denen die Sage vom
Antichrist Vorschub leistet, begegnet man in der gesamten christ
lichen Literatur, und es ist unnötig, in diesem Zusammenhange
auf ähnliche Stellen bei Böhme zu verweisen.42 In dem Ausdruck
„Urgewässer" wird wiederum das Leben unter dem Symbol des
Meeres angeschaut. Doch erscheint dem Dichter die ganze irdische
Natur im Sinne Böhmes als ein Sinnbild, als eine „Figur" der
Urkraft. Am reinsten tritt sie Heinrich in der Gestalt seiner Ge
liebten entgegen: „Könntest du nur sehn, wie du mir erscheinst,
welches wunderbare Bild deine Gestalt durchdringt, und mir
überall entgegen leuchtet, du würdest kein Alter fürchten. Deine
irdische Gestalt ist nur ein Schatten dieses Bildes. Die irdischen
Kräfte ringen und quellen, um es festzuhalten, aber die Natur ist
noch unreif; das Bild ist ein ewiges Urbild, ein Theil der un
bekannten heiligen Welt".43 Eine Notiz Hardenbergs über Böhme
lautet: „Abhandlung über Jacob Boehme — seinen Werth, als
M
Völker gen Abend und gen Mitternacht, bei denen nach heftigen
inneren Kämpfen und lebhaftem Widerstande das Heil durch den
aus der Mitte gekommenen Bräutigam, d. h. natürlich durch
Christus, offenbar werden wird, sind wohl mit den Deutschen
zu identifizieren, die zu Böhmes Zeit durch heftige Kämpfe zwi
schen den Sektirern gespalten waren. Absichtlich drückt sich
Böhme nicht deutlicher aus: „Diese ausführliche Deutung darf
man anitzo noch nicht klärer machen, es wird sich Alles selber
zeigen, und dann wird man es sehen, was es gewesen ist, denn
es ist noch gar eine andere Zeit".62 Für unseren Zusammenhang
ist vor allem die Anregung von Bedeutung, die Hardenberg aus
dieser Stelle geschöpft hat. In seinem Märchen erscheint der
Bräutigam, der aus der Mitte gen Norden fährt, um die mitter
nächtige Krone, d. h. die Hand der Freya zu erringen, als der
Eros, der Sohn der Erde, der wie Christus himmlische Macht hat.
Der Schauplatz wird aus dem Reiche der Ewigkeit in das dritte
Prinzipium, in das Reich der Vergänglichkeit verlegt. Ginnistan,
die in Sinnlichkeit geborene, die Sinne berückende Phantasie,
weiß Eros eine Zeitlang in der Verkleidung der Mutter jzu
fesseln, und
ist kein Wunder, wenn er in ihrer Begleitung
es
nicht die unvergängliche Weft Arkturs, sondern nur das zer
brechliche Reich des Mondes findet; denn sie hat die Magnet
nadel, unter deren Führung die Reise geht, zur Form einer
Schlange umgebogen — ein deutlicher Hinweis auf Böhmes Adam,
der sich in seiner „Imagination" (= Ginnistan) dazu betören ließ,
dem Rat der Schlange zu folgen, und dadurch in die Zerbrechlich
keit des dritten Prinzips gestoßen wurde. Der Mond (und die
Sonne, die aber im Märchen kaum eine Rolle spielt) sind ganz wie
bei Böhme „Naturgötter", vergängliche Vertreter einer unver
gänglichen Macht. Wenn sie aber in einem gewissen Gegensatz
zu den am Hofe Arkturs versammelten übrigen Gestirnen ste
hen, findet dies in Böhme keine Begründung.
so Wie Held
Eisen die himmlische Welt durch den Schall, die sechste Essenz,
zu sichtbarem Wesen erweckt hat, so stößt auch der Mond ins
Horn. Aber sein Reich ersteht auf dem „Gebirge jenseits des
Meeres", in der vergänglichen Außenwelt. Seltsame Schauspiele
gehen in dieser Welt vor sich, die im Reiche der Ewigkeit nur
als ein Wechsel von Figuren gelten, als ein „Schachspiel": „aller
Krieg ist auf diese Platte und in diese Figuren gebannt".63 Eros
schaut hier die große Weltrevolution, die schließlich von dem
blauen Strome der Zeitlichkeit verschlungen wird und dem Reiche
der Ewigkeit Platz macht. Er erblickt Freya in der blauen Blume,
und seine Leidenschaft erwacht; aber da die Geliebte fern ist,
so umarmt er Ginnistan, die ihn doch nur für kurze Zeit zu be
rücken vermag.
Unterdessen hat der Aufstand im Hause die kleine Fabel zu
den drei Parzen hinabgeführt. Sie stellen Vergangenheit, Gegen
wart und Zukunft dar,64 deren Fäden durch Fabel in einen ein
zigen Faden geschlungen werden sollen. Denn es gilt die Er
lösung vom Fluche der Zeitlichkeit und Vielfältigkeit. Was ne
ben- und nacheinander liegt, soll ineinander gewirkt werden, wie
bei Böhme, dessen Leitspruch lautete:
„Wem wie Ewigkeit
ist Zeit
Und Ewigkeit wie diese Zeit,
Der ist befreit
Von allem Streit".
Angelus Silesius hatte diesen Spruch umgeformt:
„Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit,
So du nun selber nicht machst einen Unterscheid".
Der Schreiber, „der petrificirte Verstand",65 der den wahren
Geist der Dinge durch ihre Einspannung in das Reich der Zahlen
tötet, ist der natürliche Verbündete der Parzen, in deren Schatten
reich wahrhaft Lebendige als scheußliche Larve erscheint.
alles
„Leben dem Alterthum und Gestalt der Zukunft"66 sagt Fabel,
als sie vor König Arktur ihr Programm eröffnet. Ihr Ziel ist die
Herbeiführung des Paradieses, wie es zu Adams Zeiten bestand.
Nachdem sie die Parzen vernichtet hat, darf sie die von Böhme
inspirierten Worte aussprechen: „Das Leblose ist wieder ent
seelt. Das Lebendige wird regieren und das Leblose bilden und
gebrauchen. Das Innere wird offenbart, und das Aeußere ver
borgen".67 Fabel führt die innere Wiedergeburt durch den Trank
herbei, in dem die Asche der Mutter aufgelöst ist. „Aus Schmer
zen wird die neue Welt geboren, und in Thränen wird die Asche
zum Trank des ewigen Lebens aufgelöst.
In jedem wohnt die
himmlische Mutter, um jedes Kind ewig zu gebären. Fühlt ihi
die süße Geburt im Klopfen eurer Brust?"68 Aehnlich lauten
IV 210; H I 154. — 64. Die Erklärungen von Bing, a. a. 0., S. 146 und
-
von Spende, a. a. 0., S. 223 muß ich ablehnen. — 65. Raieh, a. a. 0., 8.
139. — 66. M IV 197; H I 142. M IV H I 149. —
67. 204; 68. M
- 81 -
die letzten Verse des Astralisprologs, und zu Sylvester sagt Hein
y
rich: „Mußte die Mutter sterben, damit die Kinder gedeihen können,
und bleibt der Vater zu ewigen Thränen allein an ihrem Grabe
sitzen?68a Mathildens Mutter ist früh gestorben, auch die Mutter
der Prinzessin in dem Märchen, das die Reisenden erzählen. Die
Mutter in Klingsohrs Märchen wird auf dem Scheiterhaufen ge- 1
IV — 68a. M IV 227; —
f.;
M
H
207
H
IV — Huber, a. a. 0., —
H
II — IV — IV
f.;
330;
f.
- 83 -
Neues, nicht viel, was Hardenberg nicht auch zwölf Monate früher
hätte schreiben können. Daß aber die dargestellten Kräfte ganz
offensichtlich von einer einzelnen Individualität abgelöst sind und
ihre Existenzberechtigung in sich selbst haben, daß die Kräfte des
Gemütes einen Kosmos für sich voll dramatischen Geschehensi
bilden, ist das große Neue, das Böhme dem Dichter hat finden
helfen. Somit dürfte an dem Verhalten Hardenbergs Goethe
gegenüber nicht viel Rätselhaftes übrig bleiben, sobald der Ein
fluß Böhmes in Rechnung gestellt wird.
Die neue Poesie, in der die Gegensätze Klingsohrs und Hein
richs verschmelzen, bedeutet eine bestimmte Art der Einstellung
der Natur gegenüber. Der wahre Dichter betrachtet die Welt
sub specie aeternitatis. Diese Auffassung stellt sich aber dem
Menschen als eine unendliche Aufgabe dar, die In der Zeitlichkeit
nicht erfüllt werden kann. Im Lichte der Ewigkeit aber ver
schmelzen Heinrichund Mathilde zu einem siderischen Geiste,
der die vollendete Poesie darstellt. In Anlehnung an Böhme,
der gelegentlich die okkulten Anschauungen vom Astralleib be
rührt, wird dieses geisterhafte Wesen Astralis genannt. In den
Phasen seiner Entstehung hat Huber75a einen Hinweis auf die
dreifache Geburt bei Böhme erblickt. Doch ist diese Annahme
schon deshalb nicht stichhaltig, weil keine Rede davon sein kann,
daß der Geist, obgleich aus der Vereinigung zweier Menschen ge
boren, selbst auch nur einen Augenblick lang in elementischer Ge
stalt auftreten könne. Dagegen ist die Darstellung seines Werdens
deutlich von der Vorstellung der sieben Elementargeister beein
flußt.
Nach der Urtiefe seines innersten Wesens hin betrachtet, ist
Astralis der ewige Zeugungs- und Offenbarungswille, der sich
voll Sehnsucht nach Gestalt in die dumpfe Trägheit ergießt, um aus
ihr wieder zurückzustreben. Will er wesenhaft werden und seine
Existenz siegreich gegen das Nichts behaupten, so müssen die
Quellgeister in ihm zur Wirkung gelangen. Der erste Ternar er
füllt sich in einem inneren Quellen, einem sanften Ringen, einem
Zurückfließen in die eigene Flut. Das sinnige Sinnbild des seiner
selbst noch unbewußten, triebhaften Eros, zugleich mehr als ein
Sinnbild: die Geburtsstunde selbst, ist der erste Kuß der Liebenden,
aus deren Einswerdung der Geist geboren wird. Da tritt der Blitz,
der vierte Elementargeist, in die werdende Gestaltung, die Prin-
zipia scheiden sich, die junge Gestalt beginnt sich zu regen.
Allerdings ist sie zunächst nur „ein Anklang alter, sowie künft'
ger Zeiten", die sich -jBoch nicht in wesenhafter Gegenwart ver
mählt haben. Nun regen sich die Sinne, es sondern sich im
fünften Quellgeist Lust und Pein: „Und wie die Wollust Flam
men in mir schlug, Ward ich zugleich vom höchsten Weh durch
drungen". So hilft erst der Tod Mathildens dem Geiste zu vollen
detem Dasein. Denn der Tod in der irdischen Welt bedeutet im
Sinne Hardenbergs ein Erwachen in der Ewigkeit, in der allein
Worten Böhmes der alte Adam mit seiner Sophia wieder
nach den
zu einem Wesen verschmelzen kann. So werden die Worte
des alten Böhme76 Flügeln, auf denen die Liebenden ihrer
zu
Vereinigung entgegeneilen. In Astralis, der nun Wesen annimmt,
feiert ihre Zweieinigkeit die überirdische Verklärung.
Der Werdeprozeß, in dem Heinrich und Mathilde verschmel
zen, bedeutet für sie zugleich eine Stufenfolge von Entwicklungen
zur Ewigkeit hin, die Huber zu seiner irrigen Meinung von der
dreifachen Geburt verführte. Schon in den „Hymnen" hatte
Hardenberg dem Gedanken Ausdruck verliehen, daß wir in dem
selben Grade, in dem wir, noch auf der Erde wandelnd, für die
irdische Welt absterben, in einer besseren Welt zu neuem Leben
erwachen. Unter dem Eindrucke Böhmes erkennt er nun, daß
er diese neue Welt,in der ihn die Geliebte an der Hand Christi
empfangen wird, nicht in abgründiger Ferne zu suchen braucht,
sondern daß sie in der lebendigen Natur selbst ihren sichtbaren
Ausdruck gefunden hat. Wie der Mensch in dieser Welt her
niedersteigt, so steigt er in jener Welt empor; wie er das Schein
licht des Tages überwindet und in dieser Welt das Dunkel sucht,
so geht ihm in der anderen Welt das wahre Licht auf. Alle Be
griffe kehren sich um und tauschen ihre Bedeutung. Die Natur
wird zum Schauplatz des Urspiels, in dem das große Weltgemüt
sich vergnügt, die Blumen und Bäume werden zu einer Zeichen
sprache, durch die die Weltkräfte mit einander in Beziehung tre
ten. Die banale Wirklichkeit verflüchtigt sich vor einer höheren
Realität, die Natur ist kein Selbstzweck mehr, sondern das Me
dium, durch das das Paradies hindurchgrünet. „Die Welt wird
Traum, der Traum wird Welt".
Auch Goethe hatte, als er in den mystischen Büchern des
Fräuleins von Klettenberg studierte, das Zeichen des Makrokosmos
erblickt und in jenen herrlichen Versen besungen, an die Astralis'
Werte so überaus stark anklingen.77 Dennoch sagen beide Dichter
wenn sie Goethe für den Propheten hält. — 77. s. ebenda. — 78. M IV
- 66 -
Alle Personen im zweiten Teile mehrmals in einer
erscheinen
Abstufung von Realitäten, die mit der Annäherung an die sichtbare
Welt an Intensität abnehmen. So erscheint Mathilde als höhere
Realität in der Mutter Gottes. Der Graf von Hohenzollern ist
realer als der alte Vater in Eisenach. Auch Sylvester vertritt den
Geist Böhmes bereits in einer höheren Potenz als der alte Berg
mann. Dies verrät uns das folgende Paralipomenon : „Gespräche
mit dem alten Mann [Sylvester] über Physik usw. besonders
Arzeneykfunde], Physiognomik. Mediänische Ansicht der Welt.
Theophrast Paracels[us]. Philosophie, Magie usw. Geographie,
Astrologie. Er ist der höhere Bergmann".79 Es sei daran er
innert, daß auch in dem Gedichte „An Tieck" Böhme als „ein
alter Mann" erscheint. Mit diesem Manne hat Heinrich Ge
spräche über Themen, die alle bei Böhme behandelt oder wenig
stens berührt werden, allerdings mit Ausnahme der Geographie.
Offenbar hatte Hardenberg das Bedürfnis, sich in möglichst um
fassender Weise mit den Ansichten Böhmes auseinanderzusetzen,
wie er auch sonst oft einen Drang zu enzyklopädischer Vollständig
keit in sich spürte, ohne ihn je zu verwirklichen. Ein anderes
Paralipomenon verrät uns die Bedeutung des alten Mannes stär
ker: „Johannes kommt und führt ihn [Heinrich] in den Berg.
Gespräch über die Offenbarung. Das Hirtenmädchen folgt ihm
treulich nach. (Erzähl[ung]. Der alte Mann erwacht. Das schöne
Mädchen. Er kommt in die Höhle, wo Mathilde schläft — )"80
usw. In dem Augenblick also, als Heinrich, von dem Apostel
selbst geleitet, die Höhle betritt und die blaue Blume findet, er
wacht der alte Mann, so wie es in der letzten Strophe des Ge
dichtes „An Tieck" heißt:
„Du hilfst das Reich des Lebens gründen,
Wenn du voll Demuth dich bemühst,
Wo Du wirst ewge Liebe finden
Und Jacob Böhmen wiedersiehst".81
So erscheint also Böhme als Torwächter vor der Höhle, die
das Geheimnis der ewigen Liebe in sich schließt. Noch deutlicher
spricht ein drittes Paralipomenon: „Der Antiquar [Sylvester] ist
der Bergmann und auch das Eisen".82 Das Eisen aber ruft durch
seinen Hall die ewige Welt ins Leben und weist durch seinen
Magnetismus den Weg ins Paradies. So ist der alte Mann überall
I — IV H I — IV
H 79. M M (HI
f.;
—
91. vgl. Georg Gloege, Novalis' „Heinrich von Ofter
H
f.;
234 178.
I
— M I H I 346 ff. — M IV H — M
f.;
Freunde den Nachlaß des Dichters behandelt haben, so wird man sich
wohl schwerlich zu der Annahme entschließen, daß die Aenderungen
ohne Wissen und Willen des Verfassers eingesetzt seien. Die
ganze Frage wäre von gewisser Bedeutung, sofern man aus dem
Gedicht ersehen wollte, Schriften Böhmes Hardenberg
welche
eigentlich gelesen habe. Das Manuskript erwähnt nur die „Mor
genröte", die Druckfassung nennt aber auch das „Mysterium
Magnum" und berührt das tausendjährige Reich, von dem Böhme
nur im „Weg zu Christo" spricht. Doch läßt sich aus diesen Er
wähnungen überhaupt nur der Schluß ziehen, daß Hardenberg die
betreffenden Buchtitel gekannt hat, nicht aber, daß er die be
treffenden Schriften besonders gründlich studiert hätte. Er wählte
sich unter den Titeln eben diejenigen aus, die sich am hübschesten
in einem Gedichte unterbringen ließen; die meisten Titel waren
ja für diesen Zweck unbrauchbar. Daß Hardenberg aber gerade
das „Mysterium Magnum", den weitschweifigen Genesiskommen
tar, besonders geliebt habe, wird man kaum glauben dürfen. Eher
wird sich der Dichter mit den „drei Prinzipien göttlichen Wesens"
befreundet haben, in denen er von der Sophia lesen konnte; die
vielseitigen Gespräche, die Heinrich von Ofterdingen mit dem
alten Manne führen sollte, deuten vielleicht auf „De signatura
rerum", eine Schrift, die besonders viel Naturwissenschaftliches
enthält; vielleicht griff er auch zu der von Lavater empfohlenen
Trostschrift „De quatuor complexionibus". Genaueres wird sich
darüber nicht ermitteln lassen, weil sich dieselben Motive bei
Böhme zu oft wiederholen.
Das Gedicht schildert, wie dem jungen Tieck der Geist
Böhmes als ein alter Mann erscheint und eine frohe Morgenröte
prophezeit. Ein innerer Sinn wird in dem überraschten Dichter
geweckt" und zeigt ihm den Kristall einer neuen Welt. Die
Schlußstrophe lautet in der Fassung des Manuskripts:
„Du hilfst das Reich des Lebens gründen,
Wenn du voll Demuth dich bemühst,
Wo du wirst ewge Liebe finden
Und Jacob Böhmen wiedersiehst".
I H I 357—359.
224—226; — Der betreffende Vers scheint auf eine
99.
Aeußerung Hecks selbst zurückzugehen. Vgl. den Ausdruck Tiecks in
einem Brief an seine Schwester aus dem Anfang des Jahres 1800, abge
druckt bei Siegfried Krebs, Philipp Otto Rumges Entwicklung mnter dem
- 95 —
14. ebenda, Ideen, S. 32. —R. Röpke, Ludwig Tieck, Lpz. 1855,
15. s.
I 252 ff. — Krebs,
16. 102 ff.
a. a. 0., — 17. Briefe des Dichters
S.
Friedrich Ludw. Zach. Werner, ed. 0. Floeok, München 1914, I 43 ff. Das
poetische Moment bei Böhme betont amch ganz besonders Friedrich
Schlegel, 2. Orignal- Ausgabe, II S. 181 — 183 und Philosophische Vorlesungen,
ed. Windischmamn, Bonn 1836 I 424-429. — 18. Briefe, I S. 299 ff. —
- loä -
zerfließen, in dem der Mensch zu höherem Leben erwacht und
die Natur versteht. Wie sich für Hardenberg mit den Wogen
dieses Meeres, in Heinrichs Traum zu Anfang des Romans und
später im Gesang der Toten, leise lüsterne Vorstellungen ver
binden, so werden für Werner Meer, Tod, Wollust vollends zu
identischen Begriffen. Robert schaut nun das All zunächst als
Chaos; um es als Kosmos und Harmonie schauen zu dürfen, muß
er in die entgegengesetzte Stimmung der höheren Wehmut ver
fallen, die allein zum Kunstwerk formt, was dämmernd in der
Seele webt. So sind die beiden ersten Quellgeister Böhmes, wie
wir oben durchgeführt haben, als Symbole für bestimmte For
es
men der Intuition aufgefaßt. [Wehmut = Fassen = Wollust
I],
= Zerfließen -
II).
Robert hört nun die Legende vom Phosphorus, dem Urtypus
des Menschen, der wegen seines Trotzes, außerhalb der Gott
heit für sich selbst etwas darstellen zu wollen, in den Kerker
des Lebens verstoßen wurde. Ganz so tragisch wie Böhme und
Werner hat Hardenberg das Leben auf dieser Welt allerdings nicht
auffassen können. Alle drei stimmen aber in der Vorstellung
überein, daß der Mensch in demselben Grade in einer höheren
Welt erwache, wie er durch Unterdrückung des Eigenwillens in
dieser Welt abstirbt. Diese allmähliche Erlösung in der inneren
Wiedergeburt ist durch die seltsame Geschichte des vom Astralis-
wesen angeregten Phosphorus, des göttlichen inneren Menschen,
des Mikrokosmus zum Ausdruck gebracht. Werner selbst gibt
der Erzählung eine zwiefache Erklärung,einmal im physikalischen,
sodann im moralischen Sinne, ähnlich wie Böhme z. B. dem Ge
heimnis der mitternächtigen Krone eine zwiefache Deutung, ein
mal im moralischen, sodann im historischen Sinne, gibt.20 Dies
war ganz im Sinne der Romantiker, die allemal der Vielheit der
Erscheinungen und Betätigungsformen flie innere Einheit ent
gegensetzten, also auch umgekehrt, von einem Symbol der inneren
Einheit eine vielfältige Deutungsmöglichkeit forderten.
Die Legende vom Phosphorus weckt in Robert Ahnungen, die
sich im Gespräch mit Adam zur Gewißheit festigen. Das Ziel des
Menschen ist die Auflösung des Selbst im All. Das Individuum
als solches ist nicht unsterblich.
Die Bindung, zu der der syn
thetische Intellekt alle Komponenten des Denkens und der Emp
findungen sammelt, wird im Tode aufgelöst. Wir sind nicht ewig
an das schale Selbst genagelt, wir können und müssen es ver
lieren, um einst in Aller Kraft zu schwelgen. Diese letzte, aver-
roistische Konsequenz hat Hardenberg nicht klar auszusprechen
gewagt, obwohl auch seine Weltanschauung dazu drängte. Ihm lag
an der Vereinigung mit seiner Sophie doch mehr als an dem
restlosen Einswerden mit dem All.
Aehnlich wie bei Zacharias Werner mengen sich in den
„Nachtwachen" Einflüsse Böhmes, Hardenbergs und natürlich
auch, wenngleich minder stark, Tiecks. Das läßt sich besonders
an der elften Nachtwache belegen. Sie schildert, wie einem
Menschen, der blind geboren ist, das Augenlicht geschenkt wird.
Nur leicht verhüllt sich unter dieser Fiktion das Erlebnis der in
neren Wiedergeburt. In der Nacht wird dem Unbekannten die
Binde von den Augen genommen, er schaut zunächst nur in ver
schwimmenden Umrissen „die alten Ruinen einer vorigen Erde",
aus deren Verwesung allein nach Böhme, Schleiermacher, Harden
berg, Werner, die neue Welt geboren wird. Es umgeben ihn
jene dunklen Wälder, durch die auch Hardenberg schreiten mußte,
ehe er in die Lichtungen der Böhmeschen Philosophie eintrat. Da
deckt das „Weltmeer", hier mit dem Himmel idenfiziert, seinen
weiten Spiegel auf, ein zauberischer Frühling entzündet die Welt,
wie es Hardenberg unter der Wirkung Böhmes erlebt hatte, die
ewige Sonne, nach Böhme „der Gott der Erde" genannt, schwingt
Erde zerreißt ihre Nebelschleier,
sich in die Lüfte, und die entzückte
um dem Auge des Gottes ihre höchsten Reize zu enthüllen. Der
Ausgang von Klingsohrs Märchen hat den Dichter zu der fol
genden Schilderung inspiriert: „Ueberall war Heiligthum — der
Frühling lag wie ein süßer Traum (!) an den Bergen und auf
den Fluren — die Sterne des Himmels brannten als Blumen in
dem dunkeln Grase, aus tausend Quellen stürzte das Lichtmeer
herab in die Schöpfung, und die Farben stiegen darin wie wunder
bare Geister auf. Ein All von Liebe und Leben — rothe Früchte
und blühende Kränze in den Bäumen, und duftende Gewinde
um Hügel und Berge — in den Trauben brennende Diamanten (! )
— die Schmetterlinge als fliegende gaukelnde Blumen in den
Lüften — Gesang aus tausend Kehlen, schmetternd, jubelnd,
lobpreisend — und das Auge Gottes aus dem unendlichen Welt
meere zurückschauend und aus der Perle im Blumenkelche".21
19. ebenda, II 47 vgl. I 368. — 20. B VII 448. — 21. Nachtwachen, ed.
\
— 104 —
...
Erstes Kapitel: Jacob Böhme. Seine Nachwirkung 2
....
Zweites Kapitel: Der indirekte Einfluß Böhmes auf Hardenberg 31
...
Drittes Kapitel: Der direkte Einfluß Böhmes auf Hardenberg 58
OR
MUTILATE CARD