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Auflage
IMPRESSUM
Der PLASTIKATLAS 2019 ist ein Kooperationsprojekt von
Heinrich-Böll-Stiftung sowie Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND)
Inhaltliche Verantwortung:
Lili Fuhr, Heinrich-Böll-Stiftung (Gesamtleitung)
Dr. Rolf Buschmann und Judith Freund, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND)
Die Beiträge geben nicht notwendig die Ansicht aller beteiligten Partnerorganisationen wieder.
ISBN 978-3-86928-200-8
Dieses Werk mit Ausnahme des Coverfotos steht unter der Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – 4.0 international“
(CC BY 4.0). Der Text der Lizenz ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode abrufbar.
Eine Zusammenfassung (kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de nachzulesen.
Sie können die einzelnen Infografiken dieses Atlas für eigene Zwecke nutzen, wenn der Urhebernachweis
PLASTIKATLAS | Appenzeller/Hecher/Sack CC-BY-4.0 in der Nähe der Grafik steht (bei Bearbeitungen: PLASTIKATLAS |
Appenzeller/Hecher/Sack (M) CC-BY-4.0).
Cover-Copyright: Foto: ©Nora Bibel ©Montage: Annelie Saroglou unter Verwendung einer Darstellung von Wetzkaz/Adobe Stock
3. Auflage
2019
INHALT
02 IMPRESSUM 18 GENDER
UNGLEICH VERTEILTE RISIKEN
06 VORWORT Von Kunststoffen sind Frauen stärker betroffen
als Männer. Dahinter stecken unter anderen
biologische Unterschiede: Ihre Körper reagieren
anders auf Giftstoffe, sie verwenden belastete
Hygieneprodukte. Doch es gibt Alternativen.
20 ERNÄHRUNG
EIN UNAPPETITLICHER KREISLAUF
Einer der größten Abnehmer von Kunststoffen
ist die Lebensmittelindustrie. Ihre Produkte
sollen schön verpackt sein und jedes Bedürfnis
befriedigen. Der Preis: Das Plastik landet auch
auf Äckern und damit in der Nahrungskette.
08 ZWÖLF KURZE LEKTIONEN
ÜBER PLASTIK UND DIE WELT 22 KLEIDUNG
MEHR VERANTWORTUNG TRAGEN
10 GESCHICHTE Textilien aus synthetischen Fasern haben auf den
DURCHBRUCH MIT DREI BUCHSTABEN ersten Blick viele Vorzüge: Sie sind günstig,
Die ersten Kunststoffe imitierten Elfenbein trocknen schnell und passen sich dem Körper an.
und Seide und besetzten zunächst nur Doch sie sind zu Wegwerfartikeln geworden
eine Marktnische. Der Boom begann erst und tragen so erheblich zum Klimawandel bei.
nach dem Zweiten Weltkrieg mit PVC. Und nicht zuletzt gefährden sie die Gesundheit.
Danach eroberte billiger Kunststoff die Welt.
24 TOURISMUS
12 WEGWERFMENTALITÄT GIBT ES NOCH HOFFNUNG
MÜLL FÜR DIE WELT FÜR DAS URLAUBSPARADIES?
Noch in den Fünzigern verwendeten Menschen Viele Reiseziele sind zu Sinnbildern der Plastik
Plastik mit so viel Sorgfalt wie Glas oder Seide. krise geworden. Die Entsorgung von Abfall
Dann entdeckten die Konsumgüterkonzerne die funktioniert nicht. Achtlosigkeit kommt hinzu.
Vorzüge des Materials. Und es entwickelte sich Mit den Folgen stehen die Einheimischen
ein Lebensstil, der unentwegt Abfall produziert. weitgehend allein da.
14 NUTZUNG 26 KLIMAWANDEL
FLUCH UND SEGEN PLASTIK HEIZT DAS KLIMA AN
Kunststoffe sind unverzichtbar geworden. Kunststoffe gelten als umweltschonende
Sie stecken in Plastiktüten, Smartphones und Alternative zu anderen Materialien – unter
Armaturenbrettern. Doch beinahe die Hälfte anderem wegen ihres geringen Gewichts.
aller Produkte ist nach weniger als einem Monat Dabei trägt der Plastik-Boom erheblich zum
Abfall. Nur ein Bruchteil landet im Recycling. Anstieg gefährlicher Treibhausgase bei.
4 PLASTIKATLAS 2019
30 KONZERNE 42 REGULIERUNG
DIE AKTIVITÄTEN DER PLASTIK-LOBBY LÖSUNGEN AM FALSCHEN ENDE
Mit gut organisiertem Lobbydruck sorgt die Es gibt keinen Mangel an Abkommen und
Plastikindustrie dafür, dass die wachsende Initiativen, die Plastikkrise einzudämmen. Doch
Produktion von Kunststoffen als Problem aus beinahe alle behandeln allein die Entsorgung,
dem Blick gerät. Sie lenkt die Aufmerksamkeit sind nicht aufeinander abgestimmt und
auf das Abfallmanagement und Recycling entlassen die Hersteller aus der Verantwortung.
und drückt sich so vor der Verantwortung.
44 ZIVILGESELLSCHAFT
32 WOHLSTAND WIE DIE ANTI-PLASTIK-BEWEGUNG
DAS PRODUKT DES WELTHANDELS GEGEN DIE INDUSTRIE VORGEHT
Das Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit Ein globales zivilgesellschaftliches Bündnis
wäre ohne Plastik nicht möglich gewesen. namens „Break Free From Plastic“ versucht,
Kunststoffe sind Ergebnis wie Antriebskraft einer die Vermüllung der Welt zu stoppen.
Ära der Globalisierung, die mit dem Online- Mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen und
Shopping weitere Müllberge produziert. Aufklärung setzt es Konzerne unter Druck.
34 „BIO“-PLASTIK 46 ZERO-WASTE
MAIS STATT ÖL IST KEINE LÖSUNG ES GEHT AUCH OHNE!
Kunststoffe aus nachwachsenden Rohstoffen Kunststoffe zu recyceln – das allein wird die
haben den Ruf, umweltverträglich zu sein. Plastikkrise nicht lösen. Gefragt sind Ideen, die
Außerdem bauen sie sich schneller ab. So das das Problem an der Wurzel anpacken. Eine
Versprechen der Industrie. Ein genauerer Blick wachsende Bewegung zeigt, wie es geht – und
zeigt: Die Materialien schaffen neue Probleme. mutige Städte und Kommunen gehen voran.
36 ABFALLENTSORGUNG
HINTER DEN KULISSEN DER
UNGELÖSTEN PLASTIKKRISE
Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube: Solange
der täglich anfallende Müll nur sauber getrennt
wird, muss sich am Konsumverhalten nichts
verändern. Die Wahrheit ist: Ein Großteil des
Plastikmülls landet in Öfen oder in der Umwelt.
38 MÜLLEXPORTE
DIE MÜLLHALDE HAT GESCHLOSSEN
Was tun mit Plastikabfall, der nicht recycelt
oder entsorgt werden kann? Ganz einfach:wo
anders hinschicken. Bis vor kurzem wurde der
Großteil schlecht verwertbarer Kunststoffe nach
China verschifft. Doch damit ist es jetzt vorbei.
PLASTIKATLAS 2019 5
P
VORWORT
lastik ist allgegenwärtig und kaum noch aus unserem Alltag wegzuden
ken. Wir nutzen Plastik für lebensrettende medizinische Geräte, für
Kleidung, Spielzeug und Kosmetik genauso wie in industriellen und
landwirtschaftlichen Produkten. Wir wissen auch schon seit langem,
welch wachsendes Risiko Plastikmüll in der Umwelt, auf Deponien
und in den Weltmeeren darstellt.
Mehr und mehr wird deutlich, wie sehr Plastik entlang des gesamten
Lebenszyklus von der Produktion über die Nutzung bis zur Entsorgung
die menschliche Gesundheit bedroht. Plastikpartikel und die bei der
Plastikherstellung verwendeten giftigen Chemikalien finden sich in
unserer Atemluft, in unserem Trinkwasser und im Boden. Dies schädigt
das Immun- und Reproduktionssystem, Leber und Nieren, und es
kann sogar Krebs erzeugen.
6 PLASTIKATLAS 2019
Gegenteil: Der Handel mit Plastikmüll ist ein boomendes Geschäft.
Denn wir exportieren einen Großteil unseres Plastikmülls (und die damit
einhergehenden negativen Umwelt- und Gesundheitsfolgen) nach
Südostasien. Viele der Länder dort haben keine oder nur unzureichende
Abfallentsorgungssysteme. Der Plastikmüll landet so letztendlich in
der Umwelt und vor allem auch in den Meeren.
„
Dennoch sind wir zuversichtlich: Noch nie war das Plastikthema so weit
oben auf der politischen Agenda, noch nie haben sich so viele Menschen
in globalen Bewegungen wie „Break Free From Plastic“ organisiert.
Überall auf der Welt entstehen Initiativen für eine „Zero-Waste“ Politik
in Städten und Gemeinden. Ihnen allen ist
gemeinsam: Sie wollen das Problem an der
Wurzel packen und an Lösungen und Wir sind zuversichtlich:
Alternativen arbeiten. Noch nie war das
Plastikthema so weit oben auf
Eine Welt ohne Plastikverschmutzung ist der politischen Agenda.
eine Vision, für die es sich lohnt zu streiten.
Denn Plastik ist ein Thema, das jeden und
jede von uns etwas angeht und bewegt. Wir haben gerade erst begon
nen, die gewaltigen Dimensionen dieser Krise zu begreifen. Für ein
Umsteuern braucht es fundiertes Wissen über die Ursachen, die Akteure
sowie die Auswirkungen der Plastikkrise. Mit unserem Plastikatlas
wollen wir genau das bieten.
Barbara Unmüßig
Heinrich-Böll-Stiftung
Hubert Weiger
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland
PLASTIKATLAS 2019 7
12 KURZE LEKTIONEN
8 PLASTIKATLAS 2019
7 Viele Kleidungsstücke werden aus Chemiefasern wie
Polyester gefertigt. Deren Grundstoff ist Erdöl oder -gas.
Je nach Produktionsart liegen die CO2-EMISSIONEN EINES
POLYESTER-SHIRTS zwischen 3,8 und 7,1 Kilogramm.
PLASTIKATLAS 2019 9
GESCHICHTE
P
Fünf Jahre später patentierte Fritz Klatte einen Kunst-
stoff namens Polyvinylchlorid. Besser bekannt als PVC oder
lastik ist im Alltag von Milliarden von Menschen omni- Vinyl. Bis etwa zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts be-
präsent und wird auch in der Industrie umfangreich setzten Kunststoffe jedoch nur eine überschaubare Markt-
genutzt. Jährlich werden weltweit über 400 Millionen nische. Die Initialzündung für die massenhafte Verbreitung
Tonnen hergestellt. Aber was genau ist Plastik überhaupt? von PVC war die Entdeckung, dass ein Abfallprodukt der
Der Begriff bezeichnet umgangssprachlich eine Gruppe chemischen Industrie genutzt werden kann, um es herzu-
von Materialien synthetischen Ursprungs, die sogenannten stellen. Das bei der Produktion von Natronlauge anfallende
Kunststoffe. Sie entstehen durch eine als Polymerisation be- Chlor ließ sich als günstiger Ausgangsstoff verwenden.
zeichnete Abfolge chemischer Reaktionen aus organischen Damit begann der rasante und bis heute ungebrochene
Rohstoffen, hauptsächlich aus Erdgas und Erdöl. Durch ver- Aufstieg von PVC. Im Zweiten Weltkrieg stieg die Nachfra-
schiedene Formen der Polymerisation lassen sich Kunststof- ge deutlich, weil mit dem Stoff die Kabel auf Militärschiffen
fe mit variablen Eigenschaften herstellen: weich oder hart, isoliert wurden. Obwohl immer bekannter wurde, dass die
transparent oder undurchsichtig, fest oder flexibel. PVC-Produktion sowohl der Umwelt wie auch der Gesund-
Der erste Kunststoff wurde auf der Weltausstellung im heit schadet, nutzte die petrochemische Industrie die neu
Jahr 1862 in London präsentiert. Er hieß „Parkesine“ – nach entdeckten Möglichkeiten, um ein Abfallprodukt in Profit
seinem Erfinder Alexander Parkes, der ihn aus Zellulose ab- zu verwandeln. PVC avancierte zum wichtigsten Kunststoff
leitete. Dieses organische Material ließ sich formen, während in einer Vielzahl von Haushalts- und Industrieprodukten.
es erhitzt wurde, und behielt seine Form nach dem Abküh- Neben PVC setzte sich Polyethylen durch. Es wurde in
len bei. Wenige Jahre später entwickelte John Wesley Hyatt den 1930er Jahren erfunden und benutzt, um Getränke-
Zelluloid, indem er Nitrozellulose unter Hitze und Druck flaschen, Einkaufstüten und Lebensmittelbehälter herzu-
und Beigabe von Kampfer und Alkohol in einen verformba- stellen. Einen weiteren Kunststoff mit den Eigenschaften
ren Kunststoff verwandelte. Er ersetzte Elfenbein und Schild- von Polyethylen entdeckte 1954 der Chemiker Guilio Natta:
patt in Billardkugeln oder Kämmen und machte in der Film- Polypropylen wurde in den fünfziger Jahren populär und
und Foto-Industrie Karriere. 1884 patentierte der Chemiker wird bis heute für eine Reihe von Alltagsprodukten wie zum
Hilaire de Chardonnet eine als Chardonnet-Seide bekannte Beispiel Verpackungen, Kindersitze oder Rohre verwendet.
Kunstseide. Rayon, heute Viskose genannt, ist ein halbsyn- Nicht zuletzt trug auch das damalige Image des Mate-
thetischer Kunststoff aus chemisch behandelter Zellulose – rials zum Kunststoff-Boom bei. Plastik galt als schick, sauber
die günstigere Alternative zu Naturprodukten wie Seide.
Diese und andere frühe Kunststoffe wurden aus natür-
lichen Materialien hergestellt. Es sollte noch 40 Jahre dau-
Die Erfindungen der wichtigsten Kunststoffe liegen in der
ern, bis ein vollständig synthetischer Kunststoff entwickelt
Zeit zwischen 1850 und 1950. Seitdem wurden die
Produkte weiter verfeinert, meist aber mit giftigen Zusätzen.
ZEITSTREIFEN
Die Geschichte der wichtigsten Kunststoffe 1892 1907 1910 1931
H = Herstellung, E = Erfindung Viskose Bakelit Synthese- Polystyrol
Charles Cross, Edward Leo Baekeland (E) kautschuk IG Farben (E)
Bevan, Clayton Beadle (H) Fritz Hofmann (E)
1839 1908
Gummi Cellophan
Charles Goodyear (H) Jacques E.
Brandenberger (H)
1869 1884 1912
Zelluloid Kunstseide Polyvinylchlorid
John Wesley Hyatt (H) Hilaire de Bernigaud, (PVC)
Graf von Chardonnet (H) Fritz Klatte (E)
1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930
10 PLASTIKATLAS 2019
PLASTIKATLAS 2019 / UBA
DER PLASTIK-KREISEL
Anteile verschiedener Kunststofftypen und deren Kennzeichnung mit Recyclingcodes, in Deutschland 2017
Polyesterfasern,
7 1 Folien, Lebensmittel-
ANDERE PET verpackungen,
Koffer, CDs und Verschiedene Polyethylen- Lebensmittelflaschen
DVDs, Bekleidung, Kunststoffe (u.a. terephthalat
Seile, Fallschirme, PC, PA, PMMA,
Borsten von Zahn- PUR, ABS, ASA, 6 % Plastikflaschen,
bürsten, Spielzeug, SAN, sonstige 2 Reinigungs-
13 %
Gehäuse von Thermoplaste) HDPE mittelbehälter,
Elektrogeräten 31 % Polyethylen Rohre für Gas-
hoher Dichte und Trinkwasser,
13 % Haushaltswaren
Lebensmittel- Plastiktüten,
verpackungen, 5 4 Frischhaltefolien,
DVD-Hüllen, PP LDPE Müllsäcke, Tuben,
Innenraumverkleidungen, Polypropylen Polyethylen Milchkarton-
Stoßstangen, Kindersitze niedriger Dichte beschichtungen
PLASTIKATLAS 2019 11
WEGWERFMENTALITÄT
B
nen-Haushalte hat sich seit 1950 verdoppelt. Mithilfe von
Gefrier- und Mikrowellengeräten ließen sich selbstgekochte
is weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein waren Pro- Mahlzeiten aus frischen Zutaten durch vorgekochte Fertig-
dukte noch auf Haltbarkeit und eine dauerhafte Be- gerichte aus dem Supermarkt ersetzen.
nutzung ausgelegt. Die Läden verkauften ihre Lebens- Insbesondere Einwegprodukte aus Plastik ermöglichen
mittel und Getränke in großen Mengen zum Selbstabfüllen. den „Convenience-Lifestyle“: Strohhalme, Tüten, Geschirr
Verpackungen und Flaschen konnten weiterbenutzt oder und Besteck, Flaschen und Becher für Getränke und Snacks
zurückgegeben werden. Auch als Kunststoffe nach dem „to go“ bilden die materielle Basis unseres Alltags. Alles ist
Zweiten Weltkrieg zum Massenprodukt wurden, behan- schnell zu haben, bequem zu konsumieren und danach ein-
delten die Menschen sie anfangs ebenso sorgfältig wie her- fach wegzuwerfen. Die Einwegprodukte sind zu Symbolen
kömmliche Materialien und Verpackungen. des Lebensstils in einer kapitalistischen Wirtschaft gewor-
Im Zuge des aufkommenden Massenkonsums in den den. Dieser ist sowohl Ursache als auch eine Folge der zu-
späten 1950er-Jahren wurde der Ressourcenhunger von nehmenden Getriebenheit und Geschwindigkeit des mo-
Wirtschaft und Gesellschaft immer größer. Die Industrie dernen Lebens.
nutzte die Möglichkeit, Geld einzusparen und Lieferketten Diese Mentalität spiegelt sich in zentralen Bereichen der
zu vereinfachen, indem Verpackungen und Flaschen nach populären Kultur wider, zum Beispiel bei Sport- und Musik-
der Nutzung im Mülleimer landeten. Es war der Startschuss events oder in Hollywood-Filmen. Von der Collegeparty-Sze-
für unsere heutige Wegwerfmentalität. Bereits in den frü- ne mit Plastikgeschirr bis hin zum Serien-Helden, der mit
hen 1960er-Jahren fluteten Milliarden von Kunststoffarti- dem To-go-Becher in der Hand zur Arbeit geht, haben Weg-
keln die Mülldeponien und Verbrennungsanlagen der west- werfprodukte ihren Weg auf die Bildschirme gefunden. Von
lichen Welt. Die Umstellung auf Wegwerfverpackungen dort aus strahlt diese Kultur in die ganze Welt. In ärmeren
erfolgte schrittweise. In den späten 1970er-Jahren setzten Regionen gelten Wegwerfprodukte aus Kunststoff als Teil
sie sich schließlich weltweit durch. 1978 führte Coca-Cola des westlichen Lifestyles mit hohem Prestige und werden
die Einweg-PET-Flasche als Ersatz für die Kultflasche aus Glas massenhaft eingesetzt. Konzerne und Unternehmen haben
ein. Dieser Schritt markierte den Beginn einer neuen Ära. diese Entwicklung aktiv vorangetrieben und eifrig verstärkt.
Mitte der 1980er-Jahre war der Glaube in der westlichen Bei Großveranstaltungen fallen Lastwagenladungen
Welt weit verbreitet, Recycling könne das wachsende Pro- voller Abfälle an, die nur verbrannt oder auf Müllhalden
blem der Einwegplastikprodukte lösen. Am Ende des Jahr- deponiert werden können. Das hat immerhin ansatzweise
zehnts waren kaum noch nachfüllbare Limonaden- und zu einem Umdenken geführt. Einige wenige Veranstalter
Milchflaschen im Umlauf. Die meisten waren durch Weg- sind inzwischen dazu übergegangen, Mehrweg-Pfandbe-
werfflaschen aus Plastik ersetzt worden. Diese Methode der cher zu verwenden und das Essen auf kompostierbaren Tel-
Einweg-Lieferkette half den Herstellern von Lebensmitteln lern zu servieren. Zudem gehen immer mehr Anbieter von
und Getränken, weit entfernte neue Märkte zu erobern. To-go-Getränken und -Lebensmitteln dazu über, ihren Kun-
Gleichzeitig begannen die Entwicklungsländer, dem Vor-
reitermodell des Westens zu folgen. Der Wegwerf-Lebens-
stil stand für Fortschritt und Modernität. Gegen Ende des
Plastik ist nicht gleich Plastik. Manche Produkte werden
zwanzigsten Jahrhunderts wurde das Leben noch geschäf-
über Jahrzehnte verwendet. Verpackungen jedoch stellen
die größte Menge und sind nur sehr kurz in Benutzung.
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PLASTIKATLAS 2019 / GEYER
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12 PLASTIKATLAS 2019
Gemeinsam mit 31 Konzernen hat Coca-Cola 2019
erstmals seine Plastik-Daten veröffentlicht. Sie belegen, bieten die herstellenden Unternehmen keine Lösungen zur
wie viel Müll von relativ wenigen Unternehmen kommt. Entsorgung bzw. Verwertung der Verpackungen an. Abfäl-
le von Convenience-Artikeln sind in den Städten vieler Ent-
wicklungsländer zu einem erheblichen Problem geworden.
dinnen und Kunden Rabatte für selbst mitgebrachte Mehr- Denn es gibt keinen wirtschaftlichen Anreiz, sie zu sammeln,
wegbecher einzuräumen. Aber die Wegwerfmentalität und keine Möglichkeit, sie umweltgerecht zu entsorgen.
bleibt bis heute beherrschend. Denn sie erleichtert bestimm-
te Aspekte des Lebens. Die Kosten, die durch die Vermüllung
entstehen, sind in diese Produkte nicht eingepreist.
PLASTIKATLAS 2019 / STATISTA
SO VIEL PLASTIKMÜLL FÄLLT IN DER EU AN
Die spezifischen Mechanismen unterscheiden sich da-
Plastikverpackungsabfall pro Kopf in EU-Ländern, 2016
bei von Land zu Land. In vielen Entwicklungsländern war
ausschlaggebend, dass Branchenriesen wie Unilever und kg/Einwohner/in
Proctor & Gamble ihre Produkte in sogenannten Sachets > 40
anbieten: Um weiter Marktanteile zu gewinnen, werden 30–39
Shampoos, Waschmittel oder Ketchup in kleinen Mengen 20–29
verkauft. Die Unternehmen argumentieren, dass sich nur 10–19
auf diese Weise Verbraucherinnen und Verbraucher mit < 9
niedrigem Einkommen solche Produkte leisten können. Das EU-Durchschnitt:
Resultat ist allerdings eine weitere Vermüllung. 2015: 31 kg
Verhängnisvoll ist, dass mit dieser Kleinstportionierung 2016: 24 kg
ein drastisches Missverhältnis von der Verpackung zum In-
halt entsteht und der Verbrauch noch einmal enorm gestei-
gert wird. Zu katastrophalen Folgen führt das in Regionen,
in denen die Menschen nicht ausreichend mit Trinkwas-
ser versorgt werden und zu Plastikflaschen greifen. Ohne
funktionierende Müllabfuhr leiden sie unter einer Flut von
Plastikmüll. Für solche nur einmal verwendbaren Produkte
2016 verursachten die Deutschen rund 38 Kilogramm Malta, Litauen, Zypern, Griechenland
Plastikverpackungsabfälle pro Kopf. Nur in Luxemburg (50,5), und Rumänien: Werte von 2015
Irland (46,2) und Estland (42,2) ist der Verbrauch noch höher.
PLASTIKATLAS 2019 13
NUTZUNG
Z
PET dagegen lässt weder Gase noch Flüssigkeiten durch
und ist deshalb Ausgangsstoff für Getränkeflaschen. Poly-
wischen den Jahren 1950 und 2015 ist bereits eine propylen hat einen hohen Schmelzpunkt und hält Chemi-
Menge von 8,3 Milliarden Tonnen Plastik produziert kalien stand, was den Kunststoff für heiße Flüssigkeiten
worden – das entspricht mehr als einer Tonne Plastik attraktiv macht. Polystyrol kann starr, spröde, klar oder ge-
pro Mensch, der heute auf der Erde lebt. Doch die Gegen- schäumt sein und ist damit ein vielseitiger Kunststoff für
den, in denen es hauptsächlich hergestellt und konsumiert Schutzverpackungen und Lebensmittelbehälter. Und aus
wird, konzentrieren sich auf wenige Länder und Weltregio- PVC werden starre oder flexible Verpackungen, aus denen
nen. Es sind China, Nordamerika und Westeuropa. weder Sauerstoff noch Wasser austreten können.
Die langlebigen, leichten und formbaren Kunststoffe Auch im Bausektor nimmt der Einsatz von Plastik stark
werden in zahllosen Industrie- und Alltagsprodukten ver- zu, zum Beispiel bei Bodenbelägen, Türen, Fenstern oder
wendet. Doch entgegen der ursprünglichen Intention, Plas- Rohren. Die Materialien leben lange, sind flexibel und be-
tik als hochwertiges Material zu etablieren, wird es heute ständig gegen Fäulnis und Korrosion – und sie haben eine
vor allem gebraucht, um Verpackungsmaterialien und Ein- feste Konsistenz. Im Vergleich zu anderen Werkstoffen las-
wegartikel herzustellen. Viele Produkte des täglichen Be- sen sie sich leicht installieren und warten. Außerdem schüt-
darfs werden nur einmal – in den meisten Fällen auch nur zen sie gegen Kälte und Wärme und tragen damit ihren An-
kurz – genutzt und landen anschließend im Müll. Die Eigen- teil dazu bei, Energie einzusparen.
schaften des Materials sind dabei Fluch und Segen zugleich. Der im Bausektor am häufigsten verwendete Kunststoff
Kunststoffe sind sehr widerstandsfähig. Genau deshalb aber ist PVC. Ähnlich wie bei Lebensmitteln kommen dem Kunst-
bauen sie sich auch extrem langsam ab. stoff hier zum einen seine Haltbarkeit und die mechanische
Es gibt mehrere Gründe, warum Kunststoffe für Verpa- Festigkeit und zum anderen sein geringes Gewicht zugute.
ckungen von Lebensmitteln und anderen Produkten beson- Rohre aus Polyethylen hoher Dichte (HDPE) beispielsweise
sind dicht, widerstandsfähig gegenüber Umwelteinflüssen
und rosten nicht. Zudem sind sie flexibel, so dass sie gebo-
gen und durch vorhandene Rohre gezogen werden können.
PLASTIKATLAS 2019 / UN, STATISTA
14 PLASTIKATLAS 2019
WOFÜR BRAUCHEN WIR PLASTIK?
Nutzung nach Industriezweigen, Gesamtmenge 407 Millionen Tonnen, in Millionen Tonnen pro Symbol, 2015
Industriemaschinen 3 Elektronik 18
Gebrauchswaren 42
Textilien 47
Bausektor 65
PLASTIKATLAS 2019 / GEYER
Verpackungen* 146 Sonstiges 59
Millionen Tonnen Plastik pro Jahr produziert werden. Heuti- jemals hergestellten
ge Recycling-Systeme wären nicht in der Lage, diese Menge Kunststoffs wurde seit
400
2000 produziert.
an Müll zu bewältigen. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Nur
neun Prozent der über acht Milliarden Tonnen Kunststoff,
300
die seit den 1950er Jahren erzeugt wurden, sind recycelt
worden. Die beste Lösung ist deshalb einfach formuliert,
aber schwierig umzusetzen. Sie lautet, erst gar nicht so viel 56% 200
PLASTIKATLAS 2019 / GEYER
Plastik zu produzieren.
100
mehr Plastik entstanden als in den 40 Jahren zuvor. 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 2030
PLASTIKATLAS 2019 15
GESUNDHEIT
CHEMIE IM KÖRPER
Die Auswirkungen der aus den Fugen geratenen lich also können noch weit mehr Fremdstoffe vorhanden
Plastikproduktion auf die Umwelt sind bekannt sein. Untersuchungen aus Deutschland zeigen, dass vor al-
lem Kinder zum Teil sehr stark mit Weichmachern belastet
und unübersehbar. Verborgen bleiben die
sind, die sich schädlich auf die Fortpflanzungsfähigkeit aus-
gesundheitlichen Folgen für den Menschen – wirken können. Bezogen auf ihr Körpergewicht atmen sie
von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung.
D
mehr Luft ein als Erwachsene und haben eine höhere Stoff-
wechselrate. Außerdem spielen sie häufig auf dem Boden
er Lebensweg vieler Plastikprodukte beginnt bei Erdöl und sind größeren Mengen an Schadstoffen ausgesetzt.
oder Erdgas. Während der Förderung, insbesondere Besonders Besorgnis erregend ist dabei die Gruppe der
im umstrittenen Fracking-Verfahren, gelangen giftige hormonell wirksamen Substanzen, zu denen auch viele
Substanzen in Luft und Wasser. Mehr als 170 Fracking-Schad- Weichmacher gehören. Diese Stoffe ähneln den körpereige-
stoffe stehen im Verdacht, Krebs zu erzeugen, Fortpflan- nen Hormonen und bringen das fein austarierte Hormon-
zungs- und Entwicklungsstörungen zu verursachen oder das system des Körpers aus dem Gleichgewicht. Eine Vielzahl
Immunsystem zu schädigen. Besonders betroffen sind – auch von Erkrankungen und Störungen wird mit hormonell wirk-
durch die hohe Dichte an Diesel-Trucks – die Menschen in samen Substanzen in Verbindung gebracht. Dazu gehören
der Umgebung von Fracking-Regionen. Bis zu 6000 LKW- Brustkrebs, Unfruchtbarkeit, verfrühte Pubertät, Fettleibig-
Ladungen Ausrüstung, Wasser und Chemikalien sind nötig, keit, Allergien und Diabetes.
um ein Gebiet zu erschließen. US-Studien weisen darauf hin, Für Verbraucherinnen und Verbraucher ist es nur schwer
dass werdende Mütter, die in der Nähe von Fracking-Bohr möglich, belastete Produkte zu erkennen. Anders als bei
stellen leben, ein erhöhtes Risiko für komplizierte Schwan- Körperpflegeprodukten müssen Hersteller von Spielzeug,
gerschaften und Frühgeburten haben. Möbeln oder Textilien die Chemikalien nicht kennzeichnen.
Damit aus Erdöl sortenreines Plastik werden kann, wird Innerhalb der EU hat jede Bürgerin und jeder Bürger das
es gereinigt und in kleine Moleküle aufgespalten. Nach dem Recht, die Hersteller nach Schadstoffen zu befragen. Dieser
Baukasten-Prinzip entstehen durch Chemikalien, Hitze und muss nach der EU-Chemikalienverordnung innerhalb von
Druck aus kleinen Bausteinen große Plastikmoleküle. Zahl- 45 Tagen antworten. Das Problem ist allerdings, dass viele
reiche Zusatzstoffe sorgen für die gewünschten Eigenschaf- Firmen gar nicht wissen, welche Chemikalien in ihren Pro-
ten des Materials. Dank Weichmachern verwandelt sich dukten enthalten sind. Eine Deklarationspflicht entlang der
hartes PVC in ein Planschbecken. Fluorierte Verbindungen Lieferkette würde Verbrauchern und Verbraucherinnen so-
werden zur Imprägnierung von Outdoor-Jacken verwen- wie Händlern und Händlerinnen weiterhelfen.
det. Bromierte Substanzen dienen als Flammschutzmittel Auch die Kreislaufwirtschaft würde davon profitieren.
in Elektrogeräten und Möbeln. Durchschnittlich enthalten Wenn schadstoffhaltiges Plastik recycelt wird, sind unwill-
Plastikprodukte rund sieben Prozent solcher Zusatzstoffe. kürlich auch die neuen Produkte belastet. Nach Untersu-
Bei einem Ball aus PVC können Weichmacher bis zu 70 Pro- chungen von Umweltorganisationen aus 19 europäischen
zent des Gesamtgewichts ausmachen.
Viele dieser Additive sind gesundheitsschädlich. In
Dänemark musste 2018 eine ganze Serie von Spielzeugen
DIE UNSICHTBARE GEFAHR
aus Weichplastik vom Markt genommen werden. Auch das
Mögliche gesundheitliche Folgen des alltäglichen Kontakts
EU-Schnellwarnsystem RAPEX für den Verbraucherschutz mit hormonell wirksamen Substanzen in Kunststoffen
markiert Schadstoffe in Produkten wie Spielzeug und Klei-
dung als eines der drängendsten Gesundheitsprobleme. Schilddrüsen-
Hyperaktivität/
Da die Zusatzstoffe im Plastik nicht fest gebunden sind, ent- erkrankungen
ADHS,
weichen sie mit der Zeit und reichern sich in Innenraumluft Niedrigerer IQ
und Hausstaub an. Mit den Produkten gelangen die Schad- Brustkrebs
Niedriges
stoffe also direkt in Schlaf- und Kinderzimmer und über die Geburts- Diabetes
Atmung auch in den Körper. gewicht
Im Blut von schwangeren US-Amerikanerinnen wurden Fett-
Asthma leibigkeit
im Schnitt 56 verschiedene Industriechemikalien gefun-
Fett-
den. Viele dieser Stoffe kommen auch in Plastikprodukten leibigkeit Unfrucht-
bzw. bei deren Herstellung zum Einsatz. Natürlich kann nur Ent- barkeit
frühe
nachgewiesen werden, was auch gemessen wird. Tatsäch- wicklungs-
© PLASTIKATLAS 2019 / HEAL
Pubertät
störungen Prostatakrebs
beim
Embryo Niedrige
Viele in Kunststoffen enthaltene Chemikalien haben Spermienzahl
Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen.
Die Folgen können langfristig und gravierend sein.
16 PLASTIKATLAS 2019
GEFAHREN ZU WASSER, ZU LANDE UND IN DER LUFT
Über den gesamten Lebenszyklus von Plastik ist der Mensch toxischen Chemikalien und Mikroplastik ausgesetzt.
Die Schadstoffe dringen auf unterschiedlichen Wegen in den Körper ein.
Direkter Kontakt
Luft
© PLASTIKATLAS 2019 / CIEL
Mikroplastik Chemikalien
Einatmung
orale Aufnahme
Agrarland Hautkontakt
PLASTIKATLAS 2019 17
GENDER
G
schätzungsweise 30 Prozent der Beschäftigten in der Kunst-
stoffindustrie Frauen. Um Kunststoffe und Plastikprodukte
iftstoffe aus Kunststoff belasten Frauen anders als massenweise und günstig für den Weltmarkt herstellen zu
Männer, sowohl am Arbeitsplatz als auch im Alltag. können, werden meist sie, vor allem in Entwicklungslän-
Das liegt an den biologischen Unterschieden bei der dern, zu Niedriglöhnen in der industriellen Produktion be-
Körpergröße oder dem Anteil von Fettgewebe zum einen schäftigt, häufig an gefährlichen Arbeitsplätzen und ohne
und tradierten Geschlechterrollen zum anderen. Frauenkör- Maßnahmen zum Arbeitsschutz. Eine kanadische Studie
per haben mehr Körperfett und reichern in ihrem Gewebe zeigt, dass Frauen, die in der Automobilindustrie Kunststof-
deshalb fettlösliche Chemikalien wie etwa Phthalat-Weich- fe verarbeiten, ein fünffach erhöhtes Risiko haben, an Brust-
macher stärker an. Besonders sensibel auf die Giftstoffe re- krebs zu erkranken.
agiert der weibliche Körper in Lebensphasen wie Pubertät, Ebenfalls problematisch können Hygieneprodukte sein.
Stillzeit, Menopause und Schwangerschaft. Der Plastikanteil bei Tampons beträgt bis zu sechs Prozent,
Das kann auch Folgen für das ungeborene Kind haben. Binden bestehen bis zu 90 Prozent aus rohölbasiertem
Vor allem Chemikalien, die ähnlich wie Hormone wirken Kunststoff. Beide können unter anderem hormonell wirk-
– sogenannte endokrine Disruptoren (ED) –, sind problema- sames Bisphenol A (BPA) und Bisphenol S (BPS) enthalten.
tisch. Da die Plazenta keine sichere Barriere ist, können ED Applikatoren für Tampons enthalten darüber hinaus häufig
schon im Mutterleib all die Entwicklungsphasen stören, die Phthalate. In den USA benutzt eine Frau in ihrem Leben zwi-
hormonell gesteuert werden. Das kann Fehlbildungen bei schen 12 000 und 15 000 dieser Produkte. Alternativen sind
Neugeborenen und Erkrankungen begünstigen, die sich erst waschbare Mehrwegprodukte oder wiederverwendbare
viel später zeigen. ED betreffen Frauen und Männer gleicher- Menstruationstassen.
maßen. Die Weltgesundheitsorganisation vermutet, dass ED In ärmeren Regionen, auch in der EU, können sich Frau-
für die Zunahme hormonbedingter Krebsarten wie Brust- en und Mädchen Hygieneartikel während der Menstrua-
und Hodenkrebs verantwortlich sind. Weiter scheint es mög- tion häufig nicht leisten, oder sie haben gar keinen Zugang
lich, dass sie die Fruchtbarkeit und die Qualität der Spermien zu ihnen. Das führt bei Mädchen während ihrer Periode zu
beeinträchtigen. Darüber hinaus können ED zu Fettleibig- schulischen Fehlzeiten von durchschnittlich fünf Tagen pro
keit, Diabetes, neurologischen Erkrankungen, einer verfrüht Monat. Kostengünstigere und zudem sichere Mehrwegpro-
einsetzenden Pubertät sowie angeborenen Fehlbildungen dukte könnten diese Lücke schließen und die Belastung mit
Schadstoffen und den Müll reduzieren. Denn die Einweg-
produkte landen auf Deponien, in Wasserquellen und Mee-
ren und blockieren auch die Abwassersysteme.
DAS INNENLEBEN EINER DAMENBINDE
Auch Kosmetik kann eine Quelle für Schadstoffe sein.
Energie- und Stoffanalyse der Produktion
Ein Viertel aller Frauen in westlichen Industrieländern ver-
Was hineingeht: Was herauskommt: wenden bis zu 15 unterschiedliche Produkte täglich. Nicht
selten enthalten diese bis zu 100 Chemikalien, einige davon
LDPE* schaden der Gesundheit. In vielen Kosmetika steckt zudem
Rohstoffverarbeitung
stoff, Papier)
Elektrizität
Die Produktion einer modernen Damenbinde
* Polyethylen niedriger Dichte ** Stickoxide ist ohne den Einsatz von fossilen
Rohstoffen und Kunststoffen nicht denkbar.
18 PLASTIKATLAS 2019
PLASTIKATLAS 2019 / WEN
EINE STETE QUELLE VON SCHADSTOFFEN
Durchschnittlicher Verbrauch von Menstruations-Produkten bei Frauen in westlichen Konsumgesellschaften
25 325 3 250
in 39 Jahren*
12 675
Binden/Tampons
Das entspricht
einem Gewicht von
152 kg
an Binden
und Tampons.
* Durchschnittliche
10 Binden/ Dauer der Menstruation
Tampons im Leben einer Frau
PLASTIKATLAS 2019 / CVI
MEHR PLASTIK FÜR FRAUEN
ist das das einzige Familieneinkommen, verdient auf einem
Anzahl der Patente für Damen-Hygieneprodukte seit 1969
hochtoxischen Arbeitsplatz. Um an wertvolles Kupfer zu ge-
1500
langen, werden PVC beschichtete Drähte verbrannt. Dabei
1400 Markteinführung
entstehen hochgiftige Dioxine, die schädlich für die Fort-
1300 von Maxibinden
pflanzung sind, den Fötus schädigen und Krebs verursa- mit Flügeln;
1200
chen können. Auch sind es meist Frauen, die den Hausmüll Schwerpunkt der
1100
in Hinterhöfen verbrennen oder giftigen Müll sortieren. Produkte liegt
Das Wissen um die Gefahren, die von Plastik ausgehen,
1000 auf Saugfähigkeit
900
ist bisher weltweit ungleich verteilt. Frauen sind hier eine
800
wichtige Zielgruppe, um ein grundlegendes Umdenken Tampax meldet
700
und andere Alltagspraktiken zu initiieren sowie politische Erste Patent an für
600
Maßnahmen für mehr Schutz zu fordern. Frauen nehmen Maxibinde Tampon mit
mit Klebe- Einführhilfe
500
verschiedene Gefahren sensibler wahr als Männer und sind
400 streifen
weniger bereit, Mensch und Umwelt Risiken auszusetzen,
300
sowohl in Unternehmen als auch als Konsumentinnen und
200
Managerinnen ihrer Familien. Vieles deutet darauf hin, dass
100
0
1969 1979 1989 1999 2009 2019
Patente für Damen-Hygieneprodukte sind seit Ende Die Daten für 2018 und 2019 sind unvollständig, da einige der
der 90er-Jahre sprunghaft angestiegen. Eine Ursache Patentanmeldungen noch nicht veröffentlicht wurden.
ist massenhaft verfügbarer günstiger Kunststoff.
PLASTIKATLAS 2019 19
ERNÄHRUNG
G
Jahr 2017 treffen sie damit einen Nerv: Mehr als 60 Prozent
der Deutschen unterstützen diesen Trend.
urken in Folie verpackt, Salat vorgeschnitten in klei- Plastik ist aber in unserem Ernährungssystem nicht nur
nen Plastikschälchen, Fertiggerichte und verpackte als Verpackung zu finden. Die Landwirtschaft der EU landet
Lebensmittel: Die Ernährung in Europa ist heute ohne bei dem Verbrauch dieses Kunststoffes auf Platz sechs, welt-
Plastik kaum vorstellbar. weit sind es pro Jahr etwa 6,5 Millionen Tonnen. Der Obst-
Auf globaler Ebene wird in all den Ländern rapide mehr und Gemüseanbau scheint ohne Plastik kaum denkbar: Be-
Plastik im Lebensmittelsektor eingesetzt, in denen sich die wässerungsanlagen, Gewächshäuser und Tunnel sind aus
Vermarktung weg von Straßen- und Bauernmärkten hin zu Plastik. Obstbäume und Sträucher werden gegen Vögel mit
Supermärkten entwickelt. Auch in Deutschland hat sich die Plastik geschützt. Ganze Felder sind bedeckt, damit der Bo-
Lebensmittelbranche noch einmal grundlegend verändert. den sich erhitzt und beispielsweise die Spargel-Ernte früher
Convenience ist das Gebot der Stunde. Der Ernährungsre- stattfinden kann. Mit Plastik.
port 2019 zeigt, dass 48 Prozent der Befragten eine schnelle Relativ neu ist die Debatte um Mikroplastik in Böden,
und einfache Zubereitung ihrer Mahlzeiten wichtig ist. Nutztieren und damit letztlich in den Lebensmitteln der
Die Lebensmittelindustrie reagiert darauf nicht nur Menschen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie sehr
mit ihren Angeboten an Fertiggerichten. Auch die Ver- Plastik und Mikroplastik dem Boden schaden, sind noch
packungsgrößen spiegeln einen Trend wider: In mehr als recht dünn. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der
75 Prozent der deutschen Haushalte leben nur eine oder
zwei Personen. Portionen für Singles finden sich inzwischen
in jedem Supermarkt. Daher steigt auch seit Jahren die Zahl
Wie viel Plastik auf Äckern landet, ist wenig
der Verpackungen in der EU. 2018 wurden für Essen und
erforscht. Dabei ist die Verschmutzung an Land
zwischen vier- und 23-mal höher als im Meer.
20
2 – 5 mm Mikroplastik
18
140 10
> 5 mm Makroplastik
16
PS PET 14
Polystyrol Polyethylen-
terephthalat 12
10
8
28 5
6
PP PMMA 4
PLASTIKATLAS 2019 / PIEHL
Poly- Polymethyl-
2
propylen methacrylate
0
m
4
5
10
90 0
10 00
20 00
0
– 7
4 –
– 2
– 3
– 4
– 5
– 6
– 8
– 9
30
60
3 –
m
5 –
– 1
2
60
0 –
0 –
0 –
10
40
20
20 3
50
70
80
30
3
2 –
30
20 PLASTIKATLAS 2019
WELCHE SORGEN HABEN VERBRAUCHER/INNEN BEI LEBENSMITTELN?
Einschätzung zu folgenden Themen in Prozent auf einer Skala von 1 bis 5;
Basis: 1 014 Befagte in Deutschland, 2018 Einschätzung des Risikos von
Mikroplastik für die Umwelt
Antibiotika- in Prozent auf einer Skala von
47 21 11 5 4 11 resistenzen 1 bis 5; Basis: 866 Befragte, die
von Mikroplastik gehört haben
Mikroplastik in
38 18 13 9 4 17
Lebensmitteln
5 sehr hoch
Reste von Pflanzenschutz- 4 3 2
34 20 20 8 4 13
mitteln in Lebensmitteln
1 sehr niedrig
39 14 19 15 9 3 Salmonellen weiß nicht, keine Angaben
in Lebensmitteln
Glyphosat
29 17 15 8 6 22
in Lebensmitteln
Schimmelpilzgifte
28 16 17 9 6 23
in Lebensmitteln
PLASTIKATLAS 2019 / BFR
22 22 25 19 9 3 Lebensmittelhygiene 12 %
in der Gastronomie
3 %
5 beunruhigt 4 3 2 1 nicht beunruhigt 1 %
noch nichts davon gehört weiß nicht, keine Angaben 1 %
PLASTIKATLAS 2019 21
KLEIDUNG
S
Aber auch nach der Produktion verursachen syntheti-
sche Kleidungsstücke Probleme. Werden sie gewaschen,
ehr viele Kleidungsstücke, die wir täglich tragen, be- gelangt Mikroplastik in die Umwelt. Die Studienergebnis-
stehen teilweise oder sogar ganz aus Plastik. Oft ist se zu den Mengen der Partikel reichen von sechs Millionen
Verbraucherinnen und Verbrauchern unklar, dass Mikrofasern pro Waschgang von fünf Kilogramm bis zu
sich hinter Begriffen wie Polyamid, Polyester, Acryl oder 250 000 bei der Wäsche von nur einer Fleecejacke. Bisher ist
Nylon synthetische Fasern verbergen. Mit anderen Worten: noch wenig bekannt, wie sich Mikroplastik auf die mensch-
Plastik. Doch die Fasern sind bei Produzenten sowie Ver- liche Gesundheit auswirkt. Besonders bedenklich ist jedoch,
braucherinnen und Verbrauchern beliebt. Sie sind elastisch dass Mikroplastik andere Schadstoffe wie ein Magnet an-
und trocknen schnell. Sie fühlen sich weich an und wiegen zieht. So beispielsweise persistente organische und andere
weniger als vergleichbare Kleidung etwa aus Baumwolle. langlebige, giftige Schadstoffe, die besonders gesundheits-
Chemiefasern entstehen aus Polymeren, die in zwei
Gruppen eingeteilt werden. Polymere auf der Basis von Zel-
lulose wie Viskose werden in der Regel aus Holz gewonnen.
PLASTIKATLAS 2019 / FROMMMEYER
KUNSTSTOFF IN DER TEXTILEN LIEFERKETTE
Synthetische Polymere wie Polyester durchlaufen mehrere
Einsatz von Plastik bei Produktions- und Distributionswegen
Produktionsschritte, aber letztendlich bestehen sie aus Erd-
öl oder -gas. Im Jahr 2017 waren ungefähr 70 Prozent aller
weltweit hergestellten Fasern synthetische Chemiefasern.
Polyester hat mit 80 Prozent den höchsten Anteil an der Pro-
duktion von Kunstfasern – und er steigt konstant. 2017 ka-
men schätzungsweise 53,7 Millionen Tonnen auf den Markt. Zulieferer
Zu 94 Prozent wird das Material in Asien produziert und
weiterverarbeitet, dort vor allem in China. Etwa die Hälfte
der produzierten Polyesterfasern findet sich in unserer Klei-
dung wieder. Textilien – Industrietextilien inklusive – ma-
chen damit einen Anteil von 15 Prozent bei der jährlichen Konfektion
globalen Plastikproduktion aus.
Die Textilindustrie ist einer der größten industriellen
Verschmutzer von Grundwasser, Flüssen und Meeren. Um
Kleidung zu behandeln und zu färben, werden zwischen
20 000 und 40 000 verschiedenen Chemikalien eingesetzt. Veredelung
Viele davon sind krebserregend, verändern das Erbgut und
beeinträchtigen die Fortpflanzungsfähigkeit. Zudem kön-
nen sie allergen wirken und das Hormonsystem verändern.
Zu den bekannten schädlichen Zusätzen gehören Formalde-
hyd, sogenannte perfluorierte Chemikalien, Flammschutz-
Online-/
mittel sowie Farb- und andere Zusatzstoffe. Arbeiterinnen
Handel
und Arbeiter sind solchen Schadstoffen an vielen Stellen ent-
lang der Wertschöpfungskette ausgesetzt. Sie schaden aber
auch Anwohnerinnen und Anwohnern von Produktions-
stätten und Abwasserströmen.
Die Folgen sind weitreichend: Viele Arbeitskräfte in der
Kunden
Textilindustrie – etwa 70 Prozent davon weltweit sind Frau-
en – leiden unter arbeitsbedingten Krankheiten. So konnte
Polybeutel Etiketten Reinigung
Stretchfolie Anhänger optional
Kunststoffe kommen in der Textilindustrie nicht nur Kleiderbügel Versandtaschen
bei der Produktion zum Einsatz, sondern auch, Kleiderschutzhüllen
um Kleidung sauber auszuliefern und anzubieten.
22 PLASTIKATLAS 2019
SYNTHETISCHE FASERN UND DIE KLIMAKRISE
Emissionen von Treibhausgasen durch die Produktion von Polyesterfasern
Mode-Zyklen der klassischen Modeindustrie und Die globale Produktion von Polyesterfasern in Millionen Tonnen
der Fast-Fashion-Industrie im Vergleich
80
2015
DEZ JAN DEZ JAN Prognose
FE FE
OV OV 60
N
N
B
B
SEP OKT
SEP OKT
MRZ APR
MRZ APR
40
UG
M
A AI A AI
JUL JUN JUL JUN 20
Klassisch: Fast-Fashion: 0
2 Zyklen im Jahr 50 Zyklen im Jahr 1977 1982 1987 1992 1997 2002 2007 2012 2017 2022 2027
* CO₂e = CO₂-Äquivalente. Die Kategorie stammt vom Weltklimarat IPCC, um die Wirkung verschiedener Treibhausgase wie CO₂ oder Methan vergleichbar zu machen.
PLASTIKATLAS 2019 23
TOURISMUS
B
an Forschung und Daten mangelt. Zudem lassen sich viele
Folgeschäden nur schwer ermessen; darunter die Auswir-
lauer Himmel, Sandstrände und Müll, so weit das Auge kungen invasiver Arten, die sich über schwimmende Plastik-
reicht. Kaum etwas ruiniert die Urlaubsidylle so wir- abfälle verbreiten.
kungsvoll wie vermüllte Urlaubsparadiese. Obwohl Urlaubsreisen vergrößern maßgeblich den eigenen öko-
Reisende unberührte Naturlandschaften genießen möch- logischen Fußabdruck. Die Anreise zu einem exotischen
ten, tragen sie selbst dazu bei, die Schönheit dieser Gegen- Ziel – meistens mit dem Flugzeug – verursacht große Men-
den zu zerstören. Und so sind Bilder von Plastik im Meer und gen an CO2-Emissionen. Zudem verwenden Touristinnen
an Stränden ein gewohnter Anblick geworden. und Touristen unterwegs meist mehr Einwegprodukte und
Millionen Tonnen Kunststoff gelangen jedes Jahr in die -verpackungen als zuhause. An Flughäfen, in Flugzeugen
Ozeane. Sie werden von Flüssen mitgeführt, durch Abflüsse und Zügen oder an Tankstellen werden Lebensmittel und
ins Wasser geleitet, von Schiffen entsorgt oder durch Wel- Getränke meist in Einwegverpackungen und Plastikflaschen
len vom Ufer abgetragen. Weltweit sammelt sich an Küsten ausgehändigt. Vielen Touristenzielen fehlt es außerdem an
und Stränden ein wildes Durcheinander von Plastikabfällen, der nötigen Infrastruktur, um die wachsenden Müllberge
das Touristinnen und Touristen verprellt und dem Image zu bewältigen. Die Menge an Plastikmüll, die beispielsweise
selbst legendärer Urlaubsziele wie den karibischen Inseln ins Mittelmeer gelangt, wächst in den Sommermonaten aus
oder Bali erheblich schadet. diesem Grund um 40 Prozent an. Das macht auf einen Blick
Die Tourismusbranche kann das Problem nicht ignorie- den direkten Zusammenhang zwischen dem Tourismus
ren – und beginnt mancherorts, ihrer Verantwortung ge- und der Verschmutzung mit Plastik deutlich.
recht zu werden. Ganze 80 Prozent des gesamten Tourismus Nach Angaben des Wirtschaftsverbands International
entfallen auf Küstenregionen. Um ihre Attraktivität zu er- Air Transport Association erzeugen Flugreisende im Durch-
halten, müssen Urlaubsorte viel Geld in die Hand nehmen.
Denn die Schäden durch Meeresmüll sind erheblich: Eine
Schätzung für das Umweltprogramm der Vereinten Natio-
Bis Anfang der 2000er-Jahre wurde auf
nen beläuft sich auf umgerechnet 11,6 Milliarden Euro pro
Sardinien wenig Müll getrennt. Das Bewusstsein
hat sich seitdem grundlegend gewandelt.
% 60,15
60 600 Müllerzeugung
Getrennter Müll
50 500 Restmüll
42,5
40 400
30 300
ITALIEN
20 200
Sardinien
PLASTIKATLAS 2019 / ZWE
10 200 km 100
3,8
0 0
2003 ʼ04 ʼ05 ʼ06 ʼ07 ʼ08 ʼ09 ʼ10 ʼ11 ʼ12 ʼ13 ʼ14 ʼ15 ʼ16 2003 ʼ04 ʼ05 ʼ06 ʼ07 ʼ08 ʼ09 ʼ10 ʼ11 ʼ12 ʼ13 ʼ14 ʼ15 ʼ16
24 PLASTIKATLAS 2019
DIE MÜLLVERSCHMUTZUNG AN STRÄNDEN
Die häufigsten Abfälle an ausgesuchten Küstenlinien, prozentualer Anteil pro 100 Meter, basierend auf OSPAR*-Screenings, 2013
Nordsee Ostsee
36 % Zigarettenkippen
Besteck/Tabletts/ 17 %
Strohhalm 9 % Chipstüten
Süßigkeitenverpackungen
Zigarettenkippen 14 % und Lutscherstäbchen
9 % Getränkeflaschen
Deckel/Verschlüsse 14 %
6 % Plastik-/Polystyrol-Stücke
Getränkeflaschen 12 %
2,5 – 50 cm
Tüten (z. B. Einkaufstüten) 5 %
PLASTIKATLAS 2019 / EC
5 % Deckel/Verschlüsse
Wattestäbchen 5 % 5 % Getränkedosen
Sonstiges 33 % 30 % Sonstiges
* Völkerrechtlicher Vertrag zum Schutz der Nordsee und des Nordostatlantiks
PLASTIKATLAS 2019 25
KLIMAWANDEL
D
Produktion in großen und rapide zunehmenden Mengen
verwendet wird.
ie Herstellung, Verwendung und Entsorgung von Die wachsende Produktion von Kunststoffen bedarf
Kunststoffen haben enorme Auswirkungen auf mari- neuer Infrastrukturen für fossile Rohstoffe und steigert die
ne wie kontinentale Ökosysteme und nicht zuletzt auf Emissionen, die bei der Exploration und Förderung, beim
die menschliche Gesundheit. Die Folgen für das Klima sind Transport und bei der Raffinierung von Öl, Gas und Kohle
dagegen weniger bekannt, aber ebenso bedeutend. entstehen. Die weltweite Plastikproduktion ist von zwei
Im Pariser Klimaabkommen aus dem Jahr 2015 ver- Millionen Tonnen im Jahr 1950 auf jährlich über 400 Mil-
pflichteten sich die beteiligten Staaten, die globale Erwär- lionen Tonnen gestiegen. Sie hat sich damit in den vergan-
mung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen genen 20 Jahren nahezu verdoppelt. Es wird erwartet, dass
und sich aktiv darum zu bemühen, den Temperaturanstieg sie sich in den nächsten 20 Jahren noch einmal verdoppeln
unter 1,5 Grad zu halten. Im Jahr 2018 kam der Weltklima- und bis Anfang der 2050er-Jahre vervierfachen wird.
rat IPCC in einem Sonderbericht zu dem Schluss, dass die Kohlendioxid, Methan und andere Treibhausgase wer-
globalen Treibhausgasemissionen bis 2030 um 45 Prozent den in jeder Phase des Plastik-Lebenszyklus freigesetzt. Das
sinken und bis spätestens 2050 bei Netto-Null liegen müs- beginnt, wenn die fossilen Rohstoffe gewonnen, raffiniert
sen, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. und in energieintensiven Verfahren verarbeitet werden,
In der Klimapolitik konzentriert sich die Aufmerksam- und endet, wo Kunststoffabfälle entsorgt oder verbrannt
keit größtenteils auf die Energie- und Verkehrswende. Aber werden. Dies hat enorme Auswirkungen auf die Bemühun-
auch die Industrie ist von erheblicher Bedeutung: Sie war gen, die globalen Klimaziele zu erreichen. Um zu vermei-
2010 für 30 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen den, dass die Zielmarke von 1,5 Grad überschritten wird,
verantwortlich. Vor allem die Kunststoffproduktion trägt dürfen die Gesamtemissionen bis 2050 das verbleibende
dazu bei, dass diese Emissionen weiter zunehmen. Kunst- (und schnell schrumpfende) Budget von 420 bis 570 Milliar-
stoffe und synthetische Fasern werden aus Öl und Gas ge- den Tonnen Kohlendioxid nicht übersteigen.
wonnen. Über 99 Prozent basieren auf fossilen Rohstoffen. Das gemeinnützige Center for International Environmen-
Weltweit nimmt der Ölverbrauch in keinem anderen Be- tal Law (Zentrum für Internationales Umweltrecht, kurz CIEL)
reich so stark zu wie bei der Herstellung petrochemischer hat berechnet, dass allein die Produktion von Kunststoffen bis
Produkte. Laut Schätzungen der Internationalen Energie- 2050 bei den derzeitigen und prognostizierten Wachstums-
raten einen Ausstoß von 52,5 Gigatonnen Kohlendioxidäqui-
valent verursachen könnte. Zusammen mit den Emissionen
aus der Verbrennung von Kunststoffabfällen erhöht sich die-
PLASTIKATLAS 2019 / CIEL, IPCC
* Im Klimavertrag von 2015 hat sich die Staatengemeinschaft geeinigt, die Erderwärmung
gegenüber der vorindustriellen Zeit auf möglichst 1,5 Grad zu begrenzen. ** CO₂-Äquivalente: Mobilität, Energie, Landwirtschaft: Geht es um den Klima
Maßeinheit zur Vereinheitlichung der Klimawirkung unterschiedlicher Treibhausgase. wandel, werden oft diese drei Bereiche genannt.
Die Kunststoffproduktion bleibt außen vor – zu Unrecht.
26 PLASTIKATLAS 2019
PLASTIKATLAS 2019 / ZHENG
WIE PLASTIK ZUR KLIMAKRISE BEITRÄGT
Anteil des CO2-Ausstoßes von Plastik nach Sektoren und Kunststofftypen, 2015
Entsorgung 9 %
161 Millionen Tonnen CO₂
De clin 6 %
g1 %
%
er 0,4
0
9,
0,
g5
g3
un
un
nn
cy
Kunststoff-Herstellung 61 %
ni
re
Re
po
rb 1 085 Millionen Tonnen CO₂
lve
ül
M
1%
1%
So offe %
tig ,1 %
%
,7
,4
,2
,6
st 7,3
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0,
8,
9,
ns 5
19
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11
12
12
T1
sa PVC
PS
PE
PE
A
R
PP
PP
PE
PU
HD
LD
tz
Zu
Verarbeitung 30 %
535 Millionen Tonnen CO₂
R %
PS 0 %
PE ,8 %
sa PVC 0 %
So ffe %
%
tig %
HD 13,0
PU ,8
st 4,3
,2
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ns 4,8
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,
29
17
e3
10
5
T5
PE
PE
PP
tz
Zu
50
PLASTIKATLAS 2019 27
PLASTIK IM WASSER
J
europäischen Meeren finden sich hohe Konzentrationen. In
der Nordsee konnten durchschnittlich elf Kilogramm Müll
edes Jahr landen etwa zehn Millionen Tonnen Plastik- pro Quadratkilometer ermittelt werden.
müll in den Weltmeeren. Das entspricht etwa einer Der Eintrag von Müll in unsere Ozeane hat vielfältige
LKW-Ladung Plastik pro Minute. Entgegen seiner meist Quellen. Im Mittelmeer kommt der Hauptanteil des Plas-
kurzen Verwendungsdauer ist Plastik extrem langlebig. Ein tiks beispielsweise aus dem küstennahen Tourismus. In der
To-go-Becher ist im Schnitt 15 Minuten im Gebrauch. Die Nordsee sind 40 Prozent des Mülleintrags auf die maritime
verwendete Plastikbeschichtung benötigt aber Jahrzehnte Industrie, die Schifffahrt und besonders die Fischerei zu-
bis Jahrhunderte, um sich in immer kleinere Teile zu zerset- rückzuführen. An der Ostsee stammt der Großteil von den
zen. Übrig bleiben Kleinstpartikel von weniger als fünf Milli- Touristinnen und Touristen an den Stränden; Schifffahrt,
metern. Dieses Mikroplastik verteilt sich überallhin. Fischerei und Offshore-Plattformen spielen eine eher unter-
Global betrachtet sammeln sich die größten Plastikkon- geordnete Rolle. Die Zusammensetzung des Mülls ist jeweils
zentrationen in fünf Strudeln: dem nordpazifischen, dem abhängig davon, wie das Meeresgebiet genutzt wird und
indischen, dem südpazifischen, dem nordatlantischen und wie die Küste besiedelt ist.
dem südatlantischen Müllstrudel. Unter dem Namen Great Ein Großteil des Plastiks wird über Flüsse in die Meere ge-
Pacific Garbage Patch ist der nordpazifische der bekann- schleust. So zeigt beispielsweise der Rhein eine durchschnitt-
teste. Das sind allerdings nur die Stellen, an denen sich das liche Belastung mit Mikroplastik von rund 893 000 Partikeln
meiste Plastik ansammelt. Generell findet sich Plastik heute pro Quadratkilometer. Besonders stark konzentriert ist die-
nahezu überall. Selbst an den entlegensten Orten wie der se Belastung in den Zuflüssen. Eine Studie des Helmholtz-
Tiefsee oder in der Arktis schwimmt oder lagert inzwischen Zentrums für Umweltforschung schätzt, dass der Plastik-
Plastik und die Verschmutzung nimmt rapide zu: Innerhalb eintrag von Flüssen nicht gleichmäßig verteilt ist, sondern
von zehn Jahren ist die Müllverschmutzung in der arkti- hauptsächlich aus zehn großen Flüssen in die Weltmeere
schen Tiefsee um das 20-Fache gestiegen. gelangt. Der Großteil stammt aus asiatischen Flüssen.
Nicht nur die weltweiten Ozeane sind von der steigen- Doch damit sind Deutschland und Europa nicht aus der
den Plastikflut betroffen. Auch europäische Meere wie das Verantwortung. Deutschland steht auf Platz eins der größ-
Mittelmeer zählen zu den Rekordhaltern der am stärksten ten europäischen Plastikproduzenten und -verarbeiter.
verschmutzten Gewässer weltweit. Im Mittelmeer finden Europa ist der zweitgrößte Plastikproduzent der Welt nach
sich ähnlich hohe Anteile von Plastik wie in den fünf ozeani- China. Hinzu kommt, dass Deutschland einen großen Teil
schen Müllstrudeln. Mit einem Anteil von nur einem Prozent des Plastikmülls nicht selbst recycelt, sondern in Drittländer
an den weltweiten Gewässern beherbergt das Mittelmeer exportiert, meist nach Asien. Dort wird der Müll häufig ver-
brannt oder er landet, wenn nicht auf Deponien, im Meer.
Auch die Zahlen aus dem Mittelmeer und der Nordsee
zeigen, welchen großen Anteil die Deutschen an der Ver-
PLASTIK IST KEINE NAHRUNG
müllung des Wassers haben. Plastik macht keinen Halt an
Plastik-Menge im Magen eines Eissturmvogels,
hochgerechnete Menge im Magen eines Menschen Länder- oder Gewässergrenzen. Einmal im Wasser ange-
kommen, könnte sich Mikroplastik auch im Grund- und
Trinkwasser anreichern. In Illinois wurden dazu bereits ers-
te Studien durchgeführt. Nach diesen Analysen sind beson-
ders offene Grundwassersysteme anfällig für den Eintrag
von Mikroplastik.
Die Tiere in offenen Gewässern sind den vielen Gefahren,
die von Plastikmüll ausgehen, direkt ausgesetzt. Sie verhed-
dern sich in Plastik oder verwechseln Plastik mit Nahrung.
PLASTIKATLAS 2019 / VAN FRANEKER
Im Schnitt 34 Teile Entspricht 31 Gramm Viele Vögel verhungern mit dem Magen voll Plastik.
bzw. 0,31 Gramm beim Menschen Hochgerechnet auf den Menschen passt die Menge, die
bei Eissturmvögeln gefunden wurde, auf einen Teller.
28 PLASTIKATLAS 2019
PLASTIKATLAS 2019 / GRID
DIE UNSICHTBARE MÜLLDEPONIE
Schätzungen der Plastikmenge in den Weltmeeren, in Tonnen, 2018
86 Millionen Tonnen
Schätzung der Gesamt- 210 000 – 439 000 Tonnen
menge an Plastik, Plastik treibt auf
die bisher im Meer der Meeresoberfläche
gelandet ist
23 Millionen
Küstengewässer
34 Millionen
Die Spitze des Eisbergs: im offenen Meer
26,8 % 0,5 %
29 Millionen
Küsten- Meeresober-
an den Küsten
gewässer fläche
und auf dem
Meeresboden
33,7 % 39 %
Küsten und Im offenen
Meeresboden Meer
PLASTIKATLAS 2019 29
KONZERNE
D
treffen. Bereits in den 1950er-Jahren führten Chemieunter-
nehmen wie Dow und Mineralölkonzerne wie Esso (heute
ie Kunststoffproduktion ist ein nachgelagerter Zweig ExxonMobil) zwar intensive Diskussionen über die wach-
der gigantischen petrochemischen Industrie. Nur ein sende Krise der Plastikvermüllung; manchmal auf Konfe-
paar Dutzend Unternehmen stellen den Großteil der renzen und in Anwesenheit von Regierungsvertreterinnen
Produkte her, die später als Abfall zurückbleiben. Und nur und -vertretern. Allerdings nutzen dieselben Unternehmen
eine Handvoll multinationaler Konzerne dominiert den bis heute ihren finanziellen Spielraum und ihren Einfluss,
Markt der Plastik-Pellets, der Rohform von Kunststoffen. um Bemühungen zu unterwandern, weniger Plastik zu pro-
Diese Konzerne nutzen ihre Marktmacht, um sich Vor- duzieren. Sie verfolgen oft eine Doppelstrategie aus Lobby-
teile zu sichern, die ihnen weiterhin hohe Profite einbrin- ing und breit angelegter Werbung mit der eindeutigen Bot-
gen, aber nur geringe oder gar keine Verbindlichkeiten schaft: Das Müllproblem lässt sich durch Recycling in den
abverlangen. Sie versuchen vor allem, ihre Kosten zu mini- Griff bekommen.
mieren und die Vermüllung mit Plastik als ein Entsorgungs- In den USA war in den vergangenen 20 Jahren das Fra-
problem darzustellen. Dies schränkt ihre Verantwortung cking eine entscheidende zusätzliche Antriebskraft, die
ein und hat zu einem Abfallhandel geführt, der das Müll- Kunststoffproduktion zu steigern. Im Jahr 2005 erarbeitete
problem von den Wohlstandsregionen in die ärmeren Län- ein Ausschuss aus Aufsichtsbehörden und Lobby-Gruppen
der verlagert und strukturell an die Ausbeutung der Kolo- eine Gesetzgebung, die das Fracking vom US-amerikani-
nialzeit erinnert. Die führenden Kunststoffkonzerne haben schen Wasserschutzrecht (Safe Drinking Water Act) aus-
ihren Hauptsitz in einigen wenigen Ländern (USA, Großbri- nimmt – ohne dass die Öffentlichkeit an dieser Entschei-
tannien, Saudi-Arabien, Schweiz, Deutschland, Italien und dung nennenswert beteiligt wurde. In Louisiana, Texas und
Südkorea), produzieren aber in mehr als 200 Ländern. Jeder anderen Bundesstaaten, in denen Fracking einen Plastik-
dieser Konzerne beschäftigt für seine Lobbyarbeit eigene boom befeuert, werden Bohrungen von Steuern befreit – in
Höhe von Hunderten von Millionen Dollar.
Mit ihrer Lobbyarbeit erreichten der britische Chemie-
konzern Ineos und andere energieintensive Unternehmen
PLASTIKATLAS 2019 / CE
30 PLASTIKATLAS 2019
AUF DEM WEG ZU NEUEM PLASTIK
So transportiert der Konzern Ineos Fracking-Gas (Ethan, Propan und Butan)
aus den Schiefergesteinsschichten der USA nach Europa
Ineos Anlage
Über 10 000 Fracking- in Rafnes in
Bohrstellen in Größter Norwegen:
Pennsylvania (erst seit 8 Schiffe jeweils von der Herstellung von
Ethan-Bunkertank
2005 erschlossen) Größe zweier Fußballfelder Plastik-Pellets
Europas
können bis zu 800 000
Tonnen Ethan im Jahr
transportieren
Antwerpen
Belgien
Atlantischer Köln
Ozean Nach aktuellen Planungen will Deutschland
USA Ineos 3 Milliarden Euro in die Weiterver-
Erweiterung bestehender An- arbeitung des
Verbindung lagen sowie den ersten Neubau Fracking-Gases zu
durch die eines Ethan-Crackers in Europa Petrochemie-
Houston seit 20 Jahren investieren.
Mariner East Produkten
Texas
PLASTIKATLAS 2019 / FW
Pipeline zum
Größtes globales Marcus Hook
petrochemisches Export Terminal
Zentrum nahe Philadelphia
53,6 56,9
Die wenigen in der Plastikproduktion führenden
29,5 15,9 Konzerne sind über die ganze Welt verteilt. Darunter
ist auch BASF mit Hauptsitz in Ludwigshafen.
PLASTIKATLAS 2019 31
WOHLSTAND
N
neue Einsatz- und Absatzmöglichkeiten auf dem Markt ge-
schaffen werden. Auf diese Weise sucht die von der Energie-
ach dem Zweiten Weltkrieg entfaltete sich insbeson- wende bedrohte Öl- und Gasbranche nach Wegen, ihre Ab-
dere in den Ländern der westlichen Welt ein im histo- satzmärkte breiter zu fächern und zu stärken. Sie erzeugt so
rischen Vergleich ungewöhnlich rasantes Wachstum. einen stetigen Druck, neue Materialien zu erfinden. Sei es,
Für die Wirtschaft brach ein goldenes Zeitalter an. Die Pro- um Lebensmittel immer weiter zu transportieren, sei es, um
duktivität wuchs kontinuierlich, zum einen befeuert von attraktivere Eigenschaften bei den Verpackungen zu bieten
der Automatisierung und zum anderen von der Energiege- oder die Haltbarkeit bei einem gegebenen Gewicht zu ma-
winnung aus fossilen Rohstoffen. Dadurch konnte sich ein ximieren. Auf diese Weise hat die Kunststoffindustrie tiefe
Wohlstand für große Teile der Bevölkerung entwickeln, der Wurzeln in der Produktdesign- und Verpackungsbranche
bis dahin undenkbar war. Das eigene Auto, die Waschma- geschlagen. Schätzungen zufolge werden Verpackungen
schine und der Fernseher gehörten bald zum Standard des auch bis 2025 der bedeutendste Anwendungsbereich auf
durchschnittlichen Haushalts. Konsumgüter konnten in im- dem Kunststoffmarkt bleiben.
mer größeren Mengen immer günstiger produziert werden. Die massive Verbreitung von Einwegverpackungen ist
Eine entscheidende Rolle dabei spielte das Plastik. Der ebenso ein Produkt der Globalisierung wie Antriebskraft des
technologische Fortschritt in der petrochemischen Indus- weltweiten Handels. Wenn eine Lieferkette quer über den
trie ermöglichte es, Kunststoffe so günstig und variabel Globus verläuft und die Verbraucherinnen und Verbrau-
herzustellen, dass man sie auch für Einwegprodukte und cher vom Herstellungsort des Produkts weit entfernt sind,
-verpackungen nutzen und dadurch den Absatz von Kon- erschwert und verteuert das die Rücknahme der Verpackun-
sumgütern steigern konnte. Für die Verbraucherinnen gen. Aus diesem Grund zogen bereits in den 1960er-Jahren
und Verbraucher hieß das, jederzeit konsumieren und sich Unternehmen wie Coca-Cola, PepsiCo und andere gegen
der Verpackungen danach einfach entledigen zu können. ein Pfandgesetz zu Felde, das sie verpflichtet hätte, ihre Glas-
Gleichzeitig wurden die Lieferketten immer länger. Der flaschen zurückzunehmen. Mit einem Überangebot an Plas-
Transport von Gütern über weite Strecken machte neue Ar- tikrohstoffen war es wesentlich bequemer und günstiger,
ten von Verpackungen notwendig. Plastik war der ideale Einwegverpackungen aus Kunststoff zu verwenden. Diese
Wegbereiter dieser schönen neuen Welt. Entwicklung hält bis heute an. Sie ermöglicht es den Unter-
In der Zeit von der Erfindung des Bakelits im Jahr nehmen, sich von der unbequemen Rückführungslogistik
1907 – dem ersten modernen Kunststoff – bis zur heutigen zu befreien und sich jeder Verantwortung für die Zeit zu ent-
Vielfalt von Kunststoffverbindungen haben sich synthe- ziehen, in der ihre Produkte nicht mehr genutzt werden.
tische Polymere nahezu unentbehrlich gemacht. Unter-
nehmen wie Dow Chemical oder Mobil Corporation (heu-
te ExxonMobil) befeuerten durch die Entwicklung neuer
Wie in vielen westlichen Ländern ging in Deutschland
Produkte die Nachfrage nach Öl und Gas. Chemiekonzerne
der Verbrauch von Glas seit den 90ern zurück.
Der von Plastik stieg parallel zur Wirtschaftskraft.
0 0 0
1995 ʼ00 ʼ05 ʼ10 ʼ12 ʼ13 ʼ14 ʼ15 ʼ16 1995 ʼ00 ʼ05 ʼ10 ʼ12 ʼ13 ʼ14 ʼ15 ʼ16 1995 ʼ00 ʼ05 ʼ10 ʼ12 ʼ13 ʼ14 ʼ15 ʼ16
32 PLASTIKATLAS 2019
PLASTIKATLAS 2019 / WELTBANK
DIE ZUSAMMENHÄNGE ZWISCHEN WOHLSTAND UND MÜLL
Müllproduktion: pro Kopf und Tag, 2016
> 1,5 kg
1–1,5 kg
0,5–1 kg
< 0,5 kg
keine Daten
Aufteilung der Müllproduktion nach Bruttoinlandsprodukt Verhältnis der Müllproduktion zum Wohlstandsniveau
Kilogramm pro Kopf und Jahr, Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in US-Dollar 215 Staaten, 2016
5 %
kg Verteilung der
USA Müllproduktion
800 Dänemark Hongkong SAR nach Einkommen
700
Neuseeland Schweiz Luxemburg 14 %
600
Deutschland Macau 32 % 35 % 32 %
Malaysia 25 %
500
Katar
Indien Norwegen Anteil der
400 26 %
Japan Länder nach
300
Einkommen
200 China
Philippinen 31 %
100
Vietnam
0 Durchschnittseinkommen in US-Dollar pro Kopf / Jahr nach Ländern
12 476 oder mehr 1 026 – 4 035
$
00
00
00
00
0
00
00
0
0
0
0
0
0
20
40
60
80
12
10
PLASTIKATLAS 2019 33
„BIO“-PLASTIK
S
PET und PE im Verpackungsbereich eingesetzt. Deren bio-
gene Ausgangsmaterialien werden aus Zuckerrohr gewon-
ein größter Vorzug ist gleichzeitig sein größtes Pro- nen, das überwiegend aus Brasilien stammt. Die Pflanze
blem: Wird Kunststoff so produziert, dass er extrem wird unter erheblichem Pestizideinsatz in Monokulturen
widerstandsfähig ist, ist er auch fast nicht abbaubar. angebaut, mit massiven Folgen für Mensch und Natur. Ei-
Je nach Materialart können mehrere hundert Jahre verge- nige der dort verwendeten Pestizide dürfen in der EU nicht
hen, bis sich Plastik zersetzt. Als Alternative zum Rohöl als eingesetzt werden, um die Gesundheit von Menschen und
Basis für Kunststoffe werden bereits heute nachwachsende Tieren, hier besonders Bienen, vor ihrem Gift zu schützen.
Rohstoffe verwendet. Das mit den sogenannten „Bio“-Kunst- Der globale Preisdruck und die Marktkonzentration in Bra-
stoffen verbundene Versprechen lautet: Anders als kon- silien haben zudem zu Niedriglöhnen geführt und fördern
ventionelles Plastik bauen sie sich schneller ab. Doch dieses die Armut in den Anbauregionen. Seit 2018 ist in Brasilien
Versprechen können sie nicht einhalten. Nur weil in ihrem auch der Anbau von gentechnisch verändertem Zuckerrohr
zugelassen. Andere landwirtschaftlich erzeugte Rohstoffe
für „Bio“-Kunststoffe wie Mais oder Kartoffeln sind ebenfalls
Produkte einer stark industrialisierten Landwirtschaft.
HERSTELLUNG UND NUTZUNG VON „BIO“-PLASTIK
Diese agrarerzeugten Rohstoffe werden in großindus-
Produktionskapazitäten von bio-basiertem Plastik in Prozent, 2018
(Insgesamt: 2,11 Millionen Tonnen) triellen Prozessen zu chemischen Grundstoffen verarbei-
tet, die dann in die Produktion herkömmlicher Kunststoffe
eingespeist werden. Je nach Endprodukt liegt der Anteil
Europa Asien
Nordamerika erneuerbarer Rohstoffe zwischen 20 und 100 Prozent. Der
Rest besteht aus fossilen und zunehmend auch aus recycel-
19 %
16 % ten Materialien.
55 % Im Jahr 2017 betrug die Produktionskapazität für bio-
basierte Kunststoffe weltweit etwa ein Prozent der Gesamt-
Südamerika produktion von Kunststoffen. Dafür werden derzeit nur
Australien/Ozeanien
0,02 Prozent der globalen Landwirtschaftsfläche genutzt.
9% Auf den ersten Blick mag es deshalb unproblematisch schei-
1% nen, in der Plastikproduktion fossile Rohstoffe durch Agrar-
erzeugnisse zu ersetzen. Dieser Anteil soll in den nächsten
Jahren jedoch steigen, mit hohen Wachstumsraten. Be-
Bio-basiertes Plastik nach Industriezweigen, in Tausend Tonnen, 2018 trachtet man die Prognosen für die Entwicklung der Kunst-
Nicht biologisch abbaubar stoffproduktion einerseits und die Auslastung der derzeit
Biologisch abbaubar bewirtschafteten Agrarflächen andererseits, wird schnell
0 100 200 300 400 500 600 700
klar: Der Druck auf die weltweiten Ackerflächen würde sich
weiter erhöhen. Schon heute führt dieser Druck in einzel-
Starre Verpackungen 699,5
nen Regionen zu Wasserknappheit, Artensterben, Wüsten-
Flexible Verpackungen 518 bildung und zum Verlust natürlicher Lebensräume. Die Aus-
weitung des Anbaus von Agrarrohstoffen ist keine Option,
Textilien 239
um umweltverträgliches Plastik herzustellen.
Transport & Verkehr 155 Die Gruppe der bio-abbaubaren Kunststoffe soll unter
definierten Bedingungen durch Mikroorganismen abge-
Konsumgüter 143,5
baut werden. Diese abbaubaren Kunststoffe können zu-
Landwirtschaft & Gartenbau 119,5 sätzlich bio-basiert sein, müssen es aber nicht. Die Einsatz-
Beschichtungen & Klebstoffe
felder für derartige bio-abbaubare Kunststoffe reichen von
102,5
„kompostierbaren“ Abfallbeuteln über Lebensmittelverpa-
PLASTIKATLAS 2019 / EB
Bau 76,5
34 PLASTIKATLAS 2019
PLASTIKATLAS 2019 / IFBB, HAUPTMANN, UBA, ZWE
DAS UNEINGELÖSTE VERSPRECHEN DER „BIO“-MÜLLBEUTEL
Herstellung und Abbau von PLA (Polylactic Acid, zu deutsch: Polymilchsäure)
PLASTIKATLAS 2019 35
ABFALLENTSORGUNG
S
In vielen Ländern gilt das Verbrennen von Kunststoff
als Entsorgungsoption. Passiert dies außerhalb geeigneter
eit Beginn der Massenproduktion synthetischer Ma- Anlagen und ohne dass die Abgase gefiltert werden, gelan-
terialien Anfang der 1950er-Jahre wurden weltweit gen zum Teil hochgiftige Substanzen in die Umwelt: krebs-
8,3 Milliarden Tonnen Kunststoff hergestellt. Über 75 erregende Dioxine und Furane genauso wie Quecksilber,
Prozent sind heute Müll. Bis heute ist kein Weg gefunden, Cadmium oder Blei. Anlagen zur Müllverbrennung müssen
damit so umzugehen, dass er keine Probleme verursacht. Abgasgrenzwerte einhalten, sind jedoch nicht in der Lage,
Nur neun Prozent des gesamten weggeworfenen Kunst- die Schadstoffe restlos herauszufiltern. Zusätzlich entstehen
stoffs wurden seit 1950 recycelt. Heute liegt die Recycling- CO2-Emissionen. Die verbliebenen Schadstoffe finden sich im
quote von Plastikverpackungen global immer noch bei nur Filterstaub, in der Asche und anderen Nebenprodukten, die
14 Prozent, wobei es sich überwiegend um ein Downcycling auf Deponien landen. Oder sie werden Zement oder anderen
zu minderwertigen Produkten handelt. Weitere 40 Prozent Baustoffen zugefügt und gelangen in die Umwelt. Die Ver-
enden auf Mülldeponien und 14 Prozent in Verbrennungs- brennung von Kunststoffen ist so energieineffizient wie kos-
anlagen. Die restlichen 32 Prozent gehen in die Umwelt, auf tenintensiv. Sie erfolgt unter beschönigenden Bezeichnun-
Mülldeponien, in Meere und andere Gewässer. Oder sie wer- gen wie „Thermisches Recycling“, „Ersatzbrennstoff (EBS)“
den unkontrolliert verbrannt. All diese Entsorgungswege und „Energie aus Abfall“, auch „waste-to-energy“ genannt.
bergen große ökologische Probleme.
Kunststoff wird vor allem aus den fossilen Rohstoffen Öl
und Gas gewonnen und oft mit giftigen chemischen Zusät- Die Recycling-Quote gilt in Deutschland als
zen versetzt. Er ist biologisch nicht abbaubar und kann über vorbildlich. Sie beziffert aber nur den
Beginn des Prozesses, nicht dessen Ende.
PLASTIKATLAS 2019 / CONVERSIO
DIE BESEITIGUNG DES PLASTIKMÜLLS IN DEUTSCHLAND
Aufbereitung von Kunststoffabfällen und Wieder-Einsatz in der Kunststoffverarbeitung, in Millionen Tonnen, 2017
0,03
Beseitigung auf Deponien
Post-Consumer-
Abfälle:
5,20 Millionen
5,20 3,15 Tonnen
Post- Energetische
Consumer- Verwertung** 15,6 %
Abfälle* 0,05
Rohstoffliche
Verwertung
0,35
0,71 Energetische
Recycling im Ausland Verwertung** 0,09
Export ins Ausland
2,02 Stoffliche 1,26 Input in 0,90 Output 0,81 Rezyklat zur Herstellung
Verwertung Recyclinganlagen von Rezyklat von Kunststoffprodukten***
* Endverbraucherabfälle, die nach dem Gebrauch aus gewerblichen und haushaltsnahen Bereichen anfallen Werte für Darstellung gerundet
** Müllverbrennung/Ersatzbrennstoffe, da nicht recycelbar *** Inklusive ca. 0,135 Millionen Tonnen Rezyklat bei Recyclern mit eigener Produktherstellung
36 PLASTIKATLAS 2019
Das Recycling von Kunststoffen ist gegenüber dem Ver-
DIE URSACHEN DER PLASTIKKRISE
brennen immer noch die bessere Option. Es stößt aber wegen
Weltweite Produktion, Nutzung und Entsorgung von Kunststoffen
erheblicher wirtschaftlicher und technischer Hindernisse von 1950 bis 2015, in Millionen Tonnen
an seine Grenzen. Vor allem Wegwerfprodukte wie Verpa-
ckungen bestehen oft aus unterschiedlichen, mehrschich-
tigen Materialien, die kaum recyclingfähig sind. Allenfalls
entstehen Mischkunststoffe, die nur als minderwertiges Ma-
terial für die Füße von Straßenschildern und ähnliche Arti- ca. 8 300 Millionen
kel eingesetzt werden. Deren Markt ist begrenzt. Selbst mit Tonnen Kunststoff
produziert zwischen
der besten Technologie kann nur eine minimale Menge als 1950 und 2015
neuwertiges Material zurückgewonnen werden.
Offiziell sind die Recyclingquoten in Deutschland rela-
tiv hoch. Im Jahr 2016 lagen sie bei 45 Prozent. Sie täuschen
jedoch darüber hinweg, dass sie sich lediglich auf die An-
lieferung bei einem Recyclingunternehmen, nicht aber auf
den wirklich recycelten Output beziehen. Nimmt man die
Gesamtmenge der anfallenden gebrauchten Kunststoff-
produkte – im Fachjargon „Post-Consumer“ genannt – als 4 600
2 500
Grundlage, wird in Deutschland nur etwa 15,6 Prozent zu
700 500
Rezyclat verarbeitet. 7,8 Prozent sind mit Neukunststoff ver-
gleichbar. Diese Menge wiederum macht 2,8 Prozent der
in Deutschland verarbeiteten Kunststoffprodukte aus. Von
einer Kreislaufwirtschaft kann kaum gesprochen werden.
Hersteller nutzen für ihre Produkte lieber neuwertigen
Kunststoff als minderwertiges Rezyclat. Der niedrige Preis Entsorgt In Gebrauch Verbrannt Recycelt
für Neukunststoff und das teure Sortieren und Aufarbeiten
von Gebrauchtkunststoff hat in Europa dazu geführt, dass
ein Großteil des Plastikmülls nach Übersee verschifft wird. 300 100 100
Im Januar 2018 beendete China – der führende Importeur
PLASTIKATLAS 2019 / GEYER
solcher Abfälle – diese Praxis und zwang die Märkte, neue
Abnahmeländer zu finden. In den ersten vier Monaten nach
dem Einfuhrverbot verdreifachten sich in Malaysia die Ein-
fuhren aus Großbritannien. Auch große Mengen Verpa-
ckungsabfall aus Deutschland gelangen dort hin.
In Hinblick auf Energieeffizienz, Kosten und Sicherheit
ist das sogenannte „chemische Recycling“ nicht besser. Die- Ein Blick auf die Ströme aller Kunststoffe, die seit
se rohstoffliche Verwertung wandelt Kunststoffe in Kraft- den 1950er-Jahren produziert worden sind, zeigt:
stoff und Gase um. Alle Versuche, auf diese Weise neue Recycling ist Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.
Grundkomponenten für die Herstellung von Kunststoff zu
erzeugen, waren im größeren Maßstab nicht erfolgreich.
Probleme sind etwa Emissionen, giftige Nebenprodukte
VERSCHWENDETE KRAFT
oder der hohe Energieverbrauch. Es gab schwere Fehlschlä-
Die Energie-Bilanz der Müllverbrennung, Energie in Megajoule
ge, Brände, Explosionen und finanzielle Verluste. Gemäß
EU-Recht kann diese Verfahrensweise nicht als Recycling be-
zeichnet werden. Die US-amerikanische Environmental Pro- 80
20
10
Beim Recycling bleibt der größte Teil der Energie
eines Produkts erhalten. Nicht so bei der 0
Verbrennung: Hier geht sie größtenteils verloren.
PLASTIKATLAS 2019 37
MÜLLEXPORTE
B
die Umwelt. Das Ausmaß dieser ökologischen und sozialen
Folgen veranlasste China, die Müllimporte strikter zu regu-
is Januar 2018 war China das Hauptziel für Kunststoff- lieren. Die Folge war eine drastische Verschiebung der Plas-
abfälle. Die Exportländer, vorwiegend G7-Staaten, tikmüllströme in andere Länder.
entsorgten dort ihren Müll. Seit 1988 ging rund die Die Exportländer begannen, immer mehr Kunststoff
Hälfte des Plastikmülls der ganzen Welt nach China. Dort nach Südostasien zu verschiffen, vor allem nach Thailand,
wurde er geschmolzen und zu Pellets für die Wiederverwer- Vietnam, Malaysia und Indonesien. In Thailand stieg die
tung verarbeitet. Das änderte sich grundlegend, als China Einfuhr in den ersten vier Monaten des Jahres 2018 im Ver-
ankündigte, dass es nur noch Plastikmüllballen mit weni- gleich zum gleichen Zeitraum im Jahr zuvor fast um das
ger als 0,5 Prozent Verunreinigung durch nicht recycelbare 70-Fache, in Malaysia um das Sechsfache. Im gleichen Zeit-
Materialien akzeptieren wird – eine weit höhere Hürde als raum sanken die Importe in China um 90 Prozent.
der vorherige Wert von 1,5 Prozent. Es ist fast unmöglich, Die schiere Menge an Müllimporten überforderte die
die neuen Auflagen zu erfüllen, wenn man bedenkt, dass Häfen und führte dazu, dass illegale Recyclinggeschäfte und
Kunststoffe in den Recyclinganlagen der USA bei ihrer An- Abfalltransporte stark zunahmen. Im Mai 2018 musste eines
lieferung einen Verunreinigungsgrad von 15 bis 25 Prozent der größten vietnamesischen Schiffterminals die Annahme
haben können. Die neue Vorschrift bedeutete deshalb fak- von Abfall vorübergehend einstellen, nachdem sich dort
tisch ein Einführverbot für die überwiegende Mehrheit der über 8000 Container voll Plastik- und Papiermüll angesam-
Exporte von Kunststoffmüll. melt hatten. In Malaysia wurden fast 40 illegale Recycling-
China hatte gute Gründe, seine Tore für Abfälle aus dem fabriken errichtet, die giftiges Abwasser in die Gewässer lei-
Ausland zu schließen. Die exportierenden Länder recycelten ten und die Luft mit Schadstoffen aus der Verbrennung von
die marktfähigeren Kunststoffe wie PET und HDPE häufig Plastik verschmutzen. In Thailand beschlagnahmten die Be-
im Inland und lieferten nur die Reststoffe von geringerer hörden allein bei einer einzigen Razzia 58 Tonnen illegal im-
Qualität nach China. Solche Abfälle enthalten tendenziell portierter Kunststoffe. Wegen der schwerwiegenden Folgen
für die Umwelt und die menschliche Gesundheit haben vie-
le Einfuhrländer weitere Importe eingeschränkt oder ganz
verboten. Im Juni 2018 kündigte Thailand an, die Einfuhr
DER BEGINN EINER ZEITENWENDE
von Plastikmüll zu untersagen. Vietnam setzte den Import
Exporte von Plastikmüll nach China, in Tonnen pro Monat
von Ende Juni bis Oktober desselben Jahres aus. Malaysia hat
Gesamt Hongkong* Thailand ein neues Genehmigungsverfahren eingeführt und Indone-
Japan Großbritannien
sien die Einfuhr nicht recycelbarer Abfälle reduziert.
USA Südkorea
Deutschland Angesichts der Unmengen an Altkunststoffen und des
700 000
kollabierenden globalen Recyclingmarktes mussten die Ex-
portländer reagieren. Und was geschieht? Sie verlegen sich
600 000
darauf, verwertbare Reststoffe auf Mülldeponien zu entsor-
gen oder sie zu verbrennen. In Großbritannien und Nordir-
500 000
land werden tausende Tonnen gemischter Kunststoffe zu
Verbrennungsanlagen transportiert, die ursprünglich als
Recyclinggut gesammelt worden waren. In den USA sind in
400 000
China verschärft Florida, Pennsylvania und Connecticut ganze Städte dazu
Vorgaben für Import übergegangen, ihre recycelbaren Reststoffe zu verbren-
300 000 von Plastikmüll.
nen, und im ganzen Land entsorgen Gemeinden und Städte
Wertstoffe auf Deponien. In Australien fordert die Umwelt-
200 000
ministerin mehr Mittel für den Bau von „Waste-to-Ener-
PLASTIKATLAS 2019 / GREENPEACE
0
01/2016 01/2017 01/2018
Im Jahr 2016 betrugen die Plastikmüllexporte nach
* Hongkongs Platzierung ist so hoch, weil hier weltweiter Plastikmüll umverteilt wird. China 600 000 Tonnen im Monat. Ab Anfang 2018 brachen
sie drastisch auf unter 30 000 Tonnen im Monat ein.
38 PLASTIKATLAS 2019
WO DER DEUTSCHE PLASTIKMÜLL LANDET
Die 14 wichtigsten Exportziele in Tonnen im Jahr 2018
Malaysia 132 106
Niederlande* 109 010
Indonesien 64 459
Vietnam 56 782
Türkei 50 195
PLASTIKATLAS 2019 / GREENPEACE
Österreich 35 978
Frankreich 22 537
Belgien 19 607
Italien 17 676
* Hongkong und die Niederlande sind Umschlagplätze für Plastikmüll. China 13 486
Das erklärt die hohe Platzierung. USA 12 199
PLASTIKATLAS 2019 39
SAMMELN UND VERKAUFEN
M
halb beschwerlich, weil sie weit weg von den wohlhaben-
deren Wohn- oder Gewerbegebieten leben, wo der meiste
üll ist für viele Menschen in ärmeren Ländern eine Müll anfällt. Mit Handkarren machen sie sich auf den Weg
Lebensgrundlage: Müllsammlerinnen und Müll- in diese Viertel, um Abfälle aus den Mülltonnen und vom
sammler halten sich über Wasser, indem sie Abfälle Straßenrand zu sammeln. Wieder zuhause angelangt berei-
durchforsten und wertvolle Gegenstände beziehungsweise ten sie den Müll dann zum Verkauf auf.
Materialien weiterverkaufen: Glas, Papier, Karton und Me- Viele schließen sich in Verbänden, Genossenschaften
tall ebenso wie Plastikverpackungen, -flaschen und -beutel. oder lokalen Gruppen zusammen, die für eine geringere
In Städten Afrikas, Lateinamerikas und Asiens gehören sie Schadstoffbelastung sowie sicherere Arbeitsbedingungen
zum alltäglichen Stadtbild. Aber auch auf den Straßen Nord- kämpfen. Sie ermöglichen den Zugang zu Abfallmaterialien
amerikas und Europas sind sie anzutreffen. mit höherem Marktwert. Dadurch, dass sie größere Mengen
Wie viele es gibt, ist nicht bekannt. Schätzungen loka- an wiederverwertbaren Materialien aufhäufen, verbessern
ler Organisationen zufolge arbeiten in Lateinamerika etwa sie die Verhandlungsposition ihrer Mitglieder.
vier Millionen Menschen in diesem informellen Sektor, Müllsammelnde verbringen mehr Zeit als irgendwer
meist Frauen und Mädchen. Eine Befragung von 763 Müll- sonst mit dem Abfall der globalen Konsumwirtschaft. Kaum
sucherinnen und Müllsuchern in Afrika, Asien und Latein- jemand kennt dessen Zusammensetzung und Beschaffen-
amerika ergab, dass 65 Prozent der Befragten einen Großteil heit so gut wie sie. Weil sie davon leben, in Sekundärmärk-
ihres Haushaltseinkommens erzielen, indem sie wiederver- ten ausrangierte Materialien zu Geld zu machen, wissen sie
wertbare Abfälle sammeln und verkaufen. sehr genau, welche Gegenstände wertvoll sind und welche
Das Sammeln von Müll ist untrennbar mit wachsen- nicht. Aufgrund ihres Designs und der Marktbedingungen
der sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit verbunden. lassen sich Plastikprodukte in der Regel am schwierigsten
Menschen ohne Zugang zu Bildung, Wohnraum, Gesund- sammeln und weiterverkaufen. Mancherorts hat der Groß-
heitsdienstleistungen und nicht einmal zu Nahrungsmit- teil der Kunststoffe keinen Wert. Andernorts beschränken
teln sind gezwungen, sich ihren Lebensunterhalt zusam- sich die recyclingfähigen Produkte auf wenige Artikel. Für
menzukratzen, indem sie die Abfälle anderer Menschen die Müllsucherinnen und Müllsucher in Lateinamerika
aufbereiten. Einige Familien leben so schon über mehrere lohnt sich das Geschäft nur mit drei der sieben Hauptarten
Generationen – auf Deponien oder neben offenen Müllgru-
ben. Sie sind in einem Armutskreislauf gefangen und haben
mit zahlreichen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen.
Der informelle Sektor leistet vor allem in Städten
Sie hantieren mit schadstoffhaltigen Materialien und sind
mit unterentwickelter Infrastruktur einen wesentlichen
Beitrag bei der Bewältigung der Müllberge.
433 000 979 400
Tonnen Tonnen 0 117 000
15 600 141 800
9 400 529 400
8 900 14 600
12 000 5 400
PLASTIKATLAS 2019 / GIZ
40 PLASTIKATLAS 2019
DAS GESCHÄFT DER MÜLLSAMMELNDEN
Unterschiedliche Beschäftigungsformen
im informellen Sektor in sechs Städten, 2010 Cluj
Rumänien
Pune
Kairo Indien
Ägypten
Quezon
Lusaka Philippinen
Lima Sambia
Peru
PLASTIKATLAS 2019 / GIZ
LUSAKA PUNE QUEZON
LUSAKA :
Sambia 586 Euro
PLASTIKATLAS 2019 41
REGULIERUNG
A
dings erarbeitet eine Arbeitsgruppe aus Expertinnen und
Experten nun auf Grundlage der UNEA-Resolution einige
uf unterschiedlichen Ebene