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Körperrituale der Nacirema

Urtext: Body Ritual among the Nacirema. Horace Miner. American Anthropologist, New
Series, Vol. 58, No. 3. (Jun., 1956), pp. 503-507.
Horace Miner war ein amerikanischer Anthropologe, der im Afrika und Südamerika
mit der Variationsbreite menschlicher Kulturen gearbeitet hat. Am bekanntesten ist seine
Studie mit der Titel „Körperrituale der Nacirema“. Er sagte, dass die magischen
Überzeugungen und Praktiken des Nacirema so ungewöhnliche Aspekte darstellen, dass es
wünschenswert erscheint, sie als ein Beispiel für die Extreme zu beschreiben, zu denen
menschliches Verhalten führen kann.
Die Kultur dieses Volkes ist immer noch sehr schlecht verstanden. Über ihre Herkunft
ist wenig bekannt, aber wir glauben, dass sie aus dem Osten kamen. Nach der Mythologie
der Nacirema ist ihre Nation von einem kulturellen Helden namens Notgnihsaw begründet
worden. Die Kultur der Nacirema ist durch einen hoch entwickelten Markthandel
charakterisiert, der sich in einer reichen natürlichen Umgebung entwickelt hat Einen großen
Teil der Erträge ihrer Arbeit verwenden die Nacirema für rituelle Aktivitäten, die vor allem
den menschlichen Körper betreffen. Der fundamentale Glaube, der den Ritualen zugrunde
liegt, scheint zu sein, dass der menschliche Körper hässlich ist und natürlicherweise zu
Kraftlosigkeit und Krankheit neigt. Die einzige Hoffnung des Menschen besteht darin, diese
Eigenschaften zu verändern, indem er sie durch mächtige Rituale und Zeremonien
beeinflusst. Jeder Haushalt besitzt dafür einen Schrein, der diesem Zweck gewidmet ist
mächtige Individuen der Gesellschaft haben sogar mehrere solcher Schreine in ihren
Häusern. Obwohl jede Familie mindestens einen solchen Schrein besitzt, sind die damit
zusammenhängend. Rituale keine familiären Zeremonien, sondern privat und geheim. Ober
diese Rituale wird normalerweise nur mit Kindern gesprochen, und zwar nur in der Periode,
in der sie in die Mysterien eingeführt werden. Der Mittelpunkt des Schreins ist eine Kiste
oder Truhe, die in die Wand eingebaut ist. In dieser Truhe sind die vielen Reize und
Zaubertränke aufbewahrt, ohne die kein Eingeborener zu leben glaubt. Diese
Vorbereitungen werden von einer Vielzahl von Fachärzten getroffen, deren Hilfe mit
erheblichen Gaben belohnt werden muss. Die Medizin entscheidet, welche Zutaten
zubereitet werden sollen, und schreibt sie in einer alten und geheimen Sprache auf, die nur
von Medizinmännern und Kräuterkennern verstanden wird.
Nach dieser eher allgemeinen Einführung wendet sich Miner einzelnen Ritualen zu
und beschreibt sie ausführlich. Besonders fasziniert ist er offensichtlich von dem Mundritual
der Nacirema, das er so beschreibt: »Das tägliche Körperritual, das von jedem durchgeführt
wird, beinhaltet auch einen Mundritus. Trotz der Tatsache, dass diese Leute so peinlich
genau sind in der Sorge um ihren Mund, enthält dieser Ritus eine Übung, die ein nicht
eingeführter Fremder als abstoßend empfindet. Es ist mir betichtet worden, dass das Ritual
darin besteht, ein kleines Bündel von Schweineborsten gemeinsam mit bestimmten
magischen Pudem in den Mund einzuführen und dann das Bündel in einer hoch
formalisierten Serie von Gesten zu bewegen.« Ein weiteres Ritual führt Miner zu der
Vermutung, dass im Naciremavolk masochistische Tendenzen weit verbreitet sind. Er
beschreibt nämlich, dass fast alle Männer täglich die Oberfläche ihres Gesichts mit einem
scharfen Instrument abkratzen und sich dabei oft verletzen Auch die Frauen kennen ein
masochistisch anmutendes Ritual, das allerdings deutlich seltener durchgeführt wird. Als
Teil dieser Zeremonie erhitzen die Frauen ihre Haare m kleinen Öfen für etwa eine Stunde.
Vom theoretischen Standpunkt aus findet es Miner sehr interessant, dass ein
überwiegend masochistisch veranlagtes Volk sadistische Spezialisten hervorgebracht hat.
Solche Spezialisten scheinen insbesondere die heiligen Mundmedizinmänner zu sein, die
jeder Nacirema etwa einmal im Jahr aufsucht Diese Sadisten verfügen über ein
beeindruckendes Arsenal von Instrumenten, die vermutlich für die Austreibung von
Mundteufeln benutzt werden. Dabei werden den Menschen geradezu unglaubliche rituelle
Torturen zugefügt. Auch andere Medizinmänner scheinen bei den Nacirema eine wichtige
Rolle zu spielen, denn sie verfügen in jeder Ortschaft über beeindruckende Tempel, die
allerdings nur schwerkranke Personen besuchen dürfen.Die Tempel heißen Latipsoh.
Neben den eigentlichen Medizinmännern gibt es dort auch noch eine Art von
vestalischen Jungfrauen, die sich gelassen zwischen den Räumen des Tempels bewegen,
wobei sie besondere Kostüme und oft auch einen auffälligen Kopfschmuck tragen. Ein
spezieller Typ des Medizinmannes ist der sogenannte »Zuhörer«. Er soll die Macht haben,
die Teufel zu vertreiben, die sich im Kopf von verhexten Menschen angesiedelt haben .Die
Nacirema glauben, dass die Eltern oft ihre eigenen Kinder verhexen. Die Gegenmagie des
Medizinmannes ist insofern ungewöhnlich, als sie kaum Rituale aufweist. Der Patient
erzählt dem »Zuhörer« weitgehend formlos seine Sorgen und Ängste, wobei er angehalten
wird, mit den frühesten Schwierigkeiten zu beginnen, an die er sich noch erinnern kann .Die
Gedächtnisleistung, die Nacirema bei diesen Exorzismussitzungen zeigen, ist wirklich
bemerkenswert. Es kommt durchaus vor, dass ein Patient die Ablehnung beklagt, die er als
Kleinkind beim Entwöhnen von der Brust empfunden hat. Manche Individuen meinen sogar,
dass ihre derzeitigen Probleme auf das Trauma zurück zufuhren sind, das sie bei ihrer
eigenen Geburt erlitten haben.
Am Ende seines Aufsatzes vertritt Miner die Auffassung, dass die Nacirema ein sehr
von Magie belastetes Volk sind. Er ist darüber erstaunt, wie lange sie unter der schweren
selbst auferlegten Bürde überleben konnten. Zur Erklärung dieses Phänomens zitiert Miner
abschließend den berühmten polnisch-britischen Sozialanthropologen Bronislaw
Malinowski, der bereits 1948 geschrieben hat »… von unserer hohen Warte der Sicherheit
in einer entwickelten Zivilisation aus betrachtet, ist es leicht, all die Rohheit und
Belanglosigkeit der Magie zu erkennen Aber ohne diese Macht und Orientierung hätte der
frühe Mensch weder die praktischen Schwierigkeiten so bewältigen können, wie er es getan
hat, noch hätte der Mensch vordringen können zu den höheren Stadien der Zivilisation.«

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