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Raus aus der Befangenheit, zurück ins Leben

Der Weg von der Angst zur Selbstbestimmung am Beispiel


Haftentlassener

Von Mag. Dietmar Kuss

Kursnummer: 36B
Datum: 11.01.2015
Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort ………………………………………………………….….. 3
2. Einleitung …………………………………………………….……...4
3. Theoretische Ansätze dreier Methoden …………………….…5
3.1. Daseinsanalyse ……………………………………………….6
3.2. Selbstpsychologie ……………………………………………8
3.3. Gestalttherapie ………………………………………………..9
4. Erfahrungen aus der Praxis im Praktikum ……………………11
5. Resümee und Reflexion ………………………………………….14
6. Wie ging es mir im Praktikum? …………………………….…...16

Literaturverzeichnis ………………………………………………….18

2
Vorwort:
In meinem Praktikum beim „Verein für Integrationshilfe“ hatte ich mit Menschen zu
tun, die gerade aus der Haft entlassen wurden. Zu meinen Aufgaben gehörte es,
KlientInnen in Empfang zu nehmen, Gespräche zu führen (oft nur kurz), einen
Schlafplatz zu vermitteln oder Essensgutscheine anzubieten. Längere Gespräche
gab es teilweise in dem vom Verein betreuten Männerwohnheim. Weder der „Verein
für Integrationshilfe“, noch die Bewährungshilfe „Neustart“ können längere
psychologische Betreuung bzw. Gespräche zur Neuorientierung und Bewältigung der
neuen Lebenssituation anbieten. Dafür sind keine personellen Ressourcen
vorhanden. Aus diesem Grund stellte ich mir schon zu Beginn des Praktikums die
Frage: Wie könnte eine tiefer gehende Hilfe aussehen? Im Grunde ist eine Person,
die über einen längeren Zeitraum eingesperrt war, exemplarisch für einen Menschen,
dessen Identität und Selbstwert einer harten Prüfung unterzogen wird. Man muss
nicht im Gefängnis gewesen sein, um mit Zukunftsängsten, Selbstwertproblemen
und Identitätskrisen konfrontiert zu werden. Bei Haftentlassenen zeigen sich diese
Krisen vermutlich im besonderen Maße. Im Umgang mit ihnen ist mir das vor allem
durch ihr einerseits verunsichertes Auftreten, andererseits aggressives Einfordern
von Dingen oder Rechten aufgefallen.

Im theoretischen Teil der Arbeit möchte ich die Begriffe Angst, Identität und
Selbstwert vor dem Hintergrund dreier theoretischer Ansätze und Methoden
(Gestalttherapie, Daseinsanalyse und Selbstpsychologie) erläutern. Die
unterschiedlichen Konzepte möchte ich dazu nutzen, um hier darzustellen, wie man
haftentlassenen Menschen helfen könnte, aus ihrer Angst herauszukommen, um
einen Weg in eine „freundliche“ Zukunft einzuschlagen. Die Angst ist trotz ihrer
gefühlsmäßig unangenehmen Begleiterscheinung eine Bestimmung der Freiheit, die
noch „gefesselt“ ist und auf den Mut desjenigen abzielt, der sein Leben neu gestalten
muss bzw. will. Der dänische Existenzphilosoph Søren Kierkegaard beschreibt 1844
diese Dynamik der gefesselten Freiheit, die es im Rahmen einer Psychotherapie zu
befreien gälte.

Angst ist nicht eine Bestimmung aus Notwendigkeit, aber auch nicht aus
Freiheit, sie ist eine gefesselte Freiheit, wobei die Freiheit nicht frei in sich

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selbst ist, sondern gefesselt, nicht in der Notwendigkeit, sondern in sich
selbst (Kierkegaard, 1992, S.41).

Im praktischen Teil werde ich meine Praktikumserfahrungen mit den theoretischen


Erörterungen in Beziehung setzen. Dabei soll auch klar werden, warum mich gerade
diese drei methodischen Ansätze interessiert haben. Dieser Teil dient gleichsam auch
als Vorgeschmack auf die Erörterung im dritten Teil, in dem der antizipierte Nutzen
der drei im theoretischen Teil besprochenen Methoden abstrakter und detaillierter
gezeigt werden soll. Ebenso möchte ich in Form einer Schlussreflexion meine
Eigenerfahrungen mit den KlientenInnen beschreiben. Also noch mehr auf das
Selbsterleben eingehen.

Einleitung:
Die Darstellung des „Kairos“ in der griechischen Mythologie veranschaulicht einen
Neuanfang: Der Gott des rechten Augenblicks hält ein Messer in Händen, um
unnütze Bindungen zu durchschneiden. Die Kontinuierlichkeit der Veränderungen
gibt dennoch das Gefühl, dass wir trotz der Brüche immer die Gleichen bleiben.
Deshalb können wir im Sinne des Kairos spontan und emotional auf neue
Anforderungen reagieren und eine neue Identität schaffen.

Identität ist etwas Lebendiges, normalerweise nichts Statisches. Sie verändert sich
„kontinuierlich“ mit den Ansprüchen und Erfordernissen des Lebens. Wer wir sind,
erleben wir in und durch Bezogenheit zu dem, was wir nicht sind: Die Außenwelt,
unsere Mitmenschen. Identität als ewiges „in sich ruhen“ gibt es nicht. Ebenso wäre
eine ausschließlich äußerliche Bestimmung als Rolle (Beruf, Status) im Sinne des
griechischen „persona“ nicht adäquat. Große Veränderungen im Leben (der
„Außenwelt“), wie der Verlust eines geliebten Mitmenschen, Krieg oder
Kontrollverlust gehen einher mit einer Identitätskrise. Haftentlassene
sind in besonderem Maße damit konfrontiert. Gerade sie erleben sich gleich mehrere
Male in ihrem Leben von einem Moment zum anderen bruchartig anders.

Die Identität des Häftlings nährt sich dadurch, Freiheit nicht leben zu können – und
auch nicht zu müssen. Die Situation ist eine befangene, die aufgezwungene Aufgabe
des Strebens nach Selbstverwirklichung. Ein erneuter Identitätsverlust tritt ein, wenn
die Haft zu Ende ist. Ob Angehörige zu Stelle sind oder nicht: Die

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Aufbruchsstimmung ist in den meisten Fällen mit Angst verbunden – der Angst vor
der eigenen Zukunft, zu der man nun aufgerufen ist, sie wieder selbst zu gestalten.
Bei Martin Heidegger ist gerade diese Angst die Bedingung und Möglichkeit der
Freiheit. Ein Gefühl für diese Ressource zu bekommen, ist die beste Voraussetzung
für einen „Neustart“. Ziel einer Psychotherapie könnte sein, den Selbstwert der
KlientInnen wieder in Richtung Selbstbestimmung hin auszurichten, um schließlich
ein selbstorganisiertes Leben zu ermöglich. Verena Kast bringt den Zusammenhang
von Emotion, Identität und Selbstwert auf den Punkt: „Alle Erfahrungen, auch die
Erfahrung von Identität oder von fehlender Identität, sind von Emotionen begleitet.
Das begleitende Gefühl der Identität ist das Selbstwertgefühl“ (Kast, 2013, S.35).

Theoretische Ansätze dreier Methoden


Obwohl sich Haftentlassene in vielen Fällen so fühlen, müssen sie nicht beim „Punkt
null“ beginnen. Das lehrt uns die Daseinsanalyse, die davon ausgeht, dass der
Mensch sich „immer schon“ in einer Welt mit Beziehungen „vorfindet“ (vgl. Boss
1999, S.285) – es geht also nicht um das „wo finden“, sondern gleich mal um das
„wie gestalten“. Dieses Moment spielt auch – wie der Name schon sagt - in der
Gestalttherapie eine Rolle. Auch hier stößt man auf eine interessante begriffliche
Doppeldeutigkeit: Fritz Perls beschäftigte sich in seinem Erstlingswerk mit
„Befangenheit“ als einer nach innen gerichteten Ausdrucksform. Welche
Ausdrucksmöglichkeit hat ein Gefangener? Mit Sicherheit keine freie nach außen
gerichtete expressive. Mit gestalttherapeutischen Mitteln könnte man Haftentlassene
aus ihrer eingelernten „Befangenheit“ bringen. Dieser Zustand tritt Fritz Perls zufolge
konkret dann ein, „wenn Impulse und Emotionen danach drängen, zum Vorschein zu
kommen, ihnen aber der angemessene Ausdruck verwehrt wird (Perls, 2007, S.305).
Dabei geht es um „Auflösung der Retroflexion“ und „Assimilierung der Projektionen“
(ebd. S. 311). Ebenso könnte der Ansatz der Selbstpsychologie von Heinz Kohut
hier eine Rolle spielen. Nämlich das Selbst des Menschen zu stärken, damit er Kraft
findet, sich ein gesundes Umfeld „selbst“ zu schaffen – ihn aus einem Zustand der
„archaischen Verschmelzung“ herauszuführen, hinein in ein von empathischer
Resonanz geprägtes positives Selbsterleben. Die Selbstpsychologie könnte ein
wichtiger Baustein auf dem Weg vom Selbstwert hin zur Selbstbestimmung mit dem
Ziel der Selbstorganisation sein.

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Aus der Haft Entlassene müssen schließlich ihr Leben in selbstorganisierter Freiheit
weiter führen. Sie müssen ihr Leben, ihr Mensch sein nun wieder vollziehen und
gestalten. Martin Heidegger nennt dies die Faktizität des Daseins (vgl. Heidegger,
2006, S.193). Im Zustand der Möglichkeit ist die Gestaltung dieser Möglichkeit
oberstes Gebot. Genau dafür müssen Haftentlassene wieder selbstbewusster
werden. Denn: Im Gefängnis war diese Gestaltung nicht oberstes Gebot, sondern
das „oberste Verbot“.

Daseinsanalyse:
Der Philosoph Martin Heidegger geht von Angst als einer Grundstimmung aus. Die
Angst leitet das Dasein an und will es dazu bringen, in der Eigentlichkeit des Lebens
zu bleiben. „Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, das
heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und ergreifens“
(Heidegger, 2006, S. 188). Die Flucht in die Alltäglichkeit des „Man“ birgt das Gefühl
der Angst und Einsamkeit (Anm: Was repräsentiert dieses „Man“ mehr, als der Alltag
eines Menschen in Haft?).

Von Heideggers Ansätzen inspiriert, suchten die Begründerinnen und Begründer der
Daseinsanalyse nach einem neuen Verständnis des Menschen – weg von der
systematisierenden klinischen Psychopathologie. Ludwig Binswanger zeigte, dass
eine monopolisierte naturwissenschaftliche Denkweise zu kurz greift, wenn es darum
geht, den Menschen in seiner ganzen Existenz zu begreifen (vgl. Stumm, 2011). Der
Schweizer Psychiater Medard Boss begründete unter der Mitarbeit Heideggers die
psychotherapeutische Daseinsanalyse. Jeder Mensch (in der Sprache Heideggers
„Dasein“) findet sich immer schon unter Mitmenschen vor, hat (immer schon) einen
bestimmten Lebensstil und handelt nach entsprechenden Regeln, hat ein bestimmtes
Selbstbild und ein Verhältnis zu Moral und Sitte. Welt ist immer schon Mitwelt,
Beziehungen zu anderen Menschen müssen nicht erst gemacht werden, sondern
bestehen „bereits“. Mensch kann nicht keine Beziehung zur Welt und Mitmenschen
haben, die Beziehung besteht schon. Die Gestaltung vollzieht sich im Miteinander,
Einsamkeit verweist aus sich heraus auf Miteinandersein. „Einsam kann nur der sein,
dessen Wesen ein ursprüngliches Mit-sein mit anderen seinesgleichen auszeichnet“
(Boss, 1999, S.285).

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Was nun im psychiatrisch-psychotherapeutischen Zusammenhang, sowie im
Zusammenhang mit der Wahrnehmung von RechtsbrecherInnen als entweder
„krank“ oder „unsozial“ gilt, ist abstrakt gesehen das „wie“ dieser Beziehungen und
des „In-der-Welt-seins“. „Vor aller Unterscheidung von ‚gesund’ und ‚krank’ ist der
Mensch leibhaftig anwesend und situiert in seiner Welt, d.h. vertraut mit ihr da.“
(Stumm, 2011, S. 245).

Seelisches Leiden ist in der daseinsanalytischen Psychotherapie der Ausdruck


unfreien Existierens in Bezug auf die Umwelt bzw. Mitwelt. Medard Boss erweiterte
Heideggers Angstbegriff: Angst ist dem Schweizer Psychiater zufolge auch ein
Grundmerkmal des isolierten, auf sich selbst zurückgeworfenen Daseins.

Angst aber ist die kennzeichnende Grundbefindlichkeit (Heidegger) des


auf sich selbst zurückgeworfenen, isolierten Daseins. Als solches ist sie
der eigenste anthropologische Gegensatz der Liebe und stellt sich darum
auch jedem Austragen der Fülle, Weite, Tiefe, Heimatlichkeit und Ewigkeit
des liebend-In-der-Welt-sein-Könnens radikal entgegen (Boss, 1984,
S.66).

Als Gegenentwurf zu Angst stellt Boss auch in Anlehnung an den späten Heidegger
die „heitere Gelassenheit“ vor. Also wie kann der Angst ein sprichwörtliches
Schnippchen geschlagen werden? Die Zukunft liegt nicht einfach vor uns, sondern
öffnet sich uns. Das meint Heidegger mit Existenz: das sich offen halten eines
Weltbereichs, aus dem und zu dem wir uns frei verhalten. Dementsprechend
gestaltet sich die Therapie bzw. das Ziel der Therapie.

Das therapeutische Ziel ist optimales sich Offenhaltenkönnen für den


jeweiligen Weltbereich, Ermöglichung freien, selbstverantwortlichen
Existierens durch Freilegung des Daseins und seiner Dynamik, in der es
um Sein und um Nichtsein, Leben und Tod geht, aber auch um […] das
Sorgetragen für uns Selbst und für Andere“ (Stumm, 2011, S.247).

Ein nicht-dualistisches Weltbild hat auch eine Auswirkung auf die Beziehung
zwischen TherapeutIn und AnalysandIn. Durch die phänomenologische
Betrachtungsweise sind beide in eine ursprünglich mitmenschliche Beziehung
eingelassen. Eine „Übertragung“ im klassischen psychoanalytischen Sinn gibt es hier
nicht. Hass und Liebesgefühle gelten nicht irgendeiner Person aus der

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Vergangenheit, sondern im Hier und Jetzt ausschließlich dem/der TherapeutIn. Denn:
Rein phänomenologisch gesehen gibt es in der Sitzung nichts, was auf eine
vergangene Projektion, Introjektion, Identifikation oder Verdrängung hinweisen
würde. Das Setting ist ein vorurteilsfreier Raum, auf den sich TherapeutIn und
AnalysandIn einlassen. Sie sind quasi in-die-Therapie-geworfen.

Selbstpsychologie:
Wie die Daseinsanalyse hat auch Heinz Kohuts Selbstpsychologie zu einer
Weiterentwicklung bzw. Neuberwertung des freudschen Begriffes der Übertragung
geführt. Der in Wien geborene Kohut hat als ausgebildeter Tiefenpsychologe zehn
Jahre in Chicago Triebtheorie und Metapsychologie gelehrt. Auf dieser Basis
entwickelte er sein eigenes Konzept von Empathie und Übertragung, der so
genannten Selbstobjektübertragung.

Kohut und die psychoanalytische Selbstpsychologie verstehen unter


Empathie einen bestimmten Modus der Beobachtung, nämlich sich selbst
in einen anderen hineinzuversetzen, und die Welt aus dessen inneren
Bezugsrahmen heraus wahrzunehmen und zu interpretieren“
(H.-P.Hartmann in: Kutter, 2006, S. 32).

Im Gegensatz zu Freuds Auffassung ist nicht die Rede von normalen und
pathologischen Zuständen, sondern es geht um „Nachreifung“ und „Arretierung“.
Ähnlich wie bei gestalttherapeutischen Ansätzen wird beim Menschen eine
innewohnende Tendenz nach persönlichem Wachstum angenommen.
Übertragungswiderstand ist hier nicht als Widerstand, sondern als Angst vor
Retraumatisierung zu deuten. „Damit Selbstobjektbeziehungen sich entwickeln
können, muss zunächst im Rahmen des therapeutischen Prozesses die Abwehr des
Patienten, seine Furcht vor der Wiederholung von Traumatisierungen bearbeitet
werden“. (ebd. S. 34). In seinem letzten und Resümee ziehenden Buch „Wie heilt
Psychoanalyse“ weist Kohut auf den metapsychologischen Wandel des Begriffes der
Übertragung hin, der ursprünglich als Prozess definiert war, „der zwischen zwei
Bereichen des psychischen Apparats ablief – als Einfluss des Unbewussten auf das
Vorbewusste, war er eindeutig […] eine Abstraktion und Generalisierung von Daten,
die mittels Introspektion und Empathie gewonnen worden waren oder heute
gewonnen werden könnten […] Übertragung im heutigen Sinne ist etwas, das
zwischen Menschen stattfindet“ (Kohut, 1993,S. 83).

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Kern des selbstpsychologischen Menschenbildes ist die lebenslange Bezogenheit
des Menschen auf andere Menschen. Bei der Verwirklichung eigener Potenziale
spielt die Qualität sozialer Interaktionen eine große Rolle. Dieses Prinzip könnte bei
Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, „gestört“ bzw. unterbrochen
worden sein (das „fragmentierte“ Selbst im Gegensatz zum „kohäsivem“ Selbst).
Heinz Kohut spricht von „Selbst-Selbstobjekt-Beziehungen“, die „von Geburt bis zum
Tode bestehen“ (Kohut, 1993, S. 81 ff.). Das gesunde Selbst braucht „vom ersten bis
zum letzten Atemzug immer die stützenden Reaktionen von Selbstobjekten“ (ebd.).
Anders formuliert muss das Selbst zeitlebens in ein Netz erhaltender Beziehungen
mit „Selbstobjekten“ eingebettet sein - zugunsten von Kohäsion und Vitalität. Kohut
verstand unter Selbstobjekt vor allem eine Funktion (eigentlich kein „Objekt“ im
strengen Sinne), die als Stütze unseres Selbst fungiert. „Noch genauer ist das
Selbstobjekt weder das Selbst noch das Objekt, sondern der subjektive Aspekt einer
das Selbst erhaltenden Funktion, die durch die Beziehung vom Selbst zum Objekt
geleistet wird“ (Kutter, 2006, S. 48). Diese Beziehung prägt das „besondere Gefühl
für die eigene Persönlichkeit“.

Die essentielle Selbstobjekterfahrung kann im Laufe eines Lebens mehr oder


weniger stark fragmentiert sein. Empathisches Verstandenwerden kann in einer
Therapie wiederhergestellt werden, indem der/die PatientIn den/die AnalytikerIn als
ähnlich gesinnt wahrnimmt. „Bei abnormaler Entwicklung oder bei pathologischen
Zuständen kann der Versuch gemacht werden, durch Stimulierung des Selbst einer
drohenden Auflösung zuvorzukommen“ (Kutter, 2006, S.56). Die dadurch neu
gewonnene Selbstobjekterfahrung kann so integrierende Fähigkeiten des Menschen
wiederherstellen.

Gestalttherapie:
Das Schicksal eines Gefangenen müsste vor dem Hintergrund der
gestalttherapeutischen Methode besonders interessant sein. Häftlinge werden mit
ihren natürlichen Bedürfnissen, die nicht Vordergrund werden können, irgendwie
umgehen. Fritz Perls führt in diesem Zusammenhang den Begriff des "Mittelgrunds"
ein, und nimmt dabei nicht ganz unironisch Bezug auf Freuds topografischer
Einteilung des Psychischen in der Metapsychologie. Im "Mittelgrund" landen jene

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Bedürfnisse, die aus oben genannten äußerlichen Gründen nicht in den Vordergrund
treten dürfen, aber auch nicht in den Hintergrund treten können, weil sie zu stark
sind. "In diesem Fall werden sie weder verdrängt noch ausgedrückt; zugleich ist das
Gewahrsein des eigenen Selbst zu ausgeprägt, als dass ihre Projektion zugelassen
würde. Selbstgewahrsein verwandelt sich in Befangenheit. (Perls, 2007, S.305)

"Befangen sein" hat nicht umsonst denselben Wortstamm wie "gefangen sein".
Gefangene Menschen werden im Laufe der Zeit befangen - das tritt erst voll in
Erscheinung, wenn die Freiheit in ihr Leben zurückkehrt. Bis dahin werden die
eigenen Bedürfnisse zurückgehalten, die Energie bleibt im eigenen Kreis, weil es
kaum Möglichkeiten des Ausdrucks gibt. Der Zugang zur Außenwelt wird in ihrer
Lebensgeschichte gleich zwei Mal verriegelt: Zuerst äußerlich durch Mauern und
Wächter und ein zweites Mal innerlich, nämlich dann wenn der Energiestrom nicht
mehr vom Selbst nach außen fließt (in den Vordergrund tritt), sondern plötzlich
zurück zu sich selbst. Perls nennt dies "Retroflexion".

Der Ausdruck ‚befangen’ ist nicht schlecht. Er weist auf eine Retroflexion
hin, auf den Umstand, dass die Aufmerksamkeit eines Menschen auf das
eigene Selbst gerichtet ist und nicht auf das Objekt des Ärgers oder des
potentiellen Interesses […]. Befangenheit ist das Bewusstsein der eigenen
verurteilten oder verachteten Züge und Verhaltensweisen. ( Perls, 2007,
S. 306)

Das Feld, in dem normalerweise Beziehungen aufgebaut werden, ist gesperrt.


Die an sich positive Kraft, sich um sich selbst kümmern zu können, wird so
vorherrschend, dass der Bezug zur Außenwelt komplett verkümmert. Der
unauslöschliche Wunsch nach Kontakt und Beziehung richtet sich auf sich selbst und
macht einsam. Menschen, die äußerlich nicht eingesperrt sind, erleben eine ähnliche
Einsamkeit. Was kann man tun, um aus dem Kreis der Retroflexionen
herauszukommen? Laut Perls müsste der Versuch unternommen werden, die
Konzentration des Interesses auf sich selbst in eine Konzentration auf ein Objekt zu
verwandeln. Das "Objekt" im Fall eines Haftentlassenen ist ganz einfach "die Welt da
draußen". "Eine Möglichkeit, Befangenheit zu kurieren, besteht darin, sie in
Objektbewusstsein zu verwandeln" (ebd. S.309)

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Der 1893 in Berlin geborene Frederick S. Perls begründete zusammen mit seiner
Frau Laura Perls und Paul Goodman die Gestalttherapie. Wie auch andere Kritiker
der Freudschen Psychoanalyse war auch er stark von der philosophischen
Phänomenologie (Husserl/Heidgger) der 1920er-Jahre beeinflusst. Perls trieb das
Prinzip des „sich zeigens aus sich heraus“ bei seiner Ideen einer neuen
Psychotherapie an die Spitze, misstraute den erklärenden Theorien und wandte dies
auch auf seine Arbeit an. „Fragt mich bloß nicht, was Gestalttherapie ist, sondern
schaut mir auf die Finger oder auf den Mund, und ihr werdet es sehen, hören,
erleben“ (Blankertz/Doubrawa, 2005, S.204), soll er Ende der 1960er-Jahre einer
Journalistin geantwortet haben, was denn Gestalttherapie sei. Die Abneigung
Siegmunds Freuds gegen diese unwissenschaftliche Vorgehensweise stachelte Perls
weiter an. Unter dem Einfluss des bekennenden Anarchisten Paul Goodman nutzte
er auch die Aufbruchsstimmung der „wilden“ 60er-Jahre: „Es ging in dieser Zeit um
neue Erfahrungen – nicht um Hirnwichsen“ (ebd). Perls nahm den
phänomenologischen Wahrheitsbegriff buchstäblich beim Wort und postulierte etwas
flapsig und provokant, Worte seien „Geschwafel ohne (objektive) Bedeutung“ (ebd).

Erfahrungen aus der Praxis im Praktikum


Häftlinge sind auf ihrem Lebensweg in einer besonderen Weise mit
aufgezwungenen introjizierten Normen konfrontiert. Im Vollzug lernen sie, darauf mit
Retroflexion zu reagieren. Passend zu Perls oben genanntem Ansatz (Theorie-
Geschwafel) brauchen sie nach der Entlassung Bezug zur der Welt da draußen, die
vor allem eines ist: wirklich und nicht theoretisch. Das Verlassen einer
retroflektierenden Haltung funktioniert nur in einem Feld, das ansatzweise
Möglichkeiten zur Realisierung bietet. Denn: Wie kann man Interesse, Hunger,
Aufmerksamkeit oder Lust leben und ausdrücken, wenn diese Welt „unfreundlich“ ist
und keine Möglichkeit für einen Anfang bietet?

Damit das Leben auch wirklich wieder „wirklich“ werden kann, brauchen Menschen,
die "ins Abseits" geraten sind, vor allem wieder ein Dach über dem Kopf, ärztliche
Grundversorgung und ein regelmäßiges Einkommen. Der "Verein für
Integrationshilfe" stellt seine Zielsetzung auf seiner Internetseite
http://www.integrationshilfe.at/ folgendermaßen dar:

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Das Hauptproblem für die Haftentlassenen ist meist die Frage, wohin sie
gehen und wo sie schlafen können. Weitere Probleme sind die
Arbeitssuche und der Umstand, dass sie ihre sozialen Kontakte verloren
haben. Mit den Haftentlassenen, die einen Wohnsitz suchen, wird ein
ausführliches Gespräch geführt und eine Sozialanamnese erstellt, um
ihre Probleme zu erkennen [...]. Wenn die zuständigen öffentlichen
Stellen aus verschiedenen Gründen nichts mehr tun können, besteht die
Möglichkeit zur Ausgabe von Lebensmittelgutscheinen und finanziellen
Aushilfen.

Wie ich erfuhr, stehen vor allem in Österreich viele Menschen, die aus der Haft
entlassen werden, erneut vor verschlossenen Türen. Aus Gründen, die wohl sehr viel
mit Scham zu tun haben dürften, wollen hierzulande Angehörige mit „ihren“
Haftentlassenen nichts mehr zu tun haben. In meiner Position als Praktikant war ich
ein kleines Rädchen, das zumindest ansatzweise den KlientInnen das bot, was auch
für einen Neuanfang essenziell ist: eine Welt, die es zu gestalten gilt. Da kann dann
auch erst Psychotherapie einsetzen.

Die meisten „frischen“ KlientInnen, die zwischen 10 und 12 Uhr beim Verein
anklingelten, machten einen hilflos-passiven Eindruck. Sie waren zumeist männlich,
das Alter war breit gestreut, zu meinem Erstaunen war eine sehr große Gruppe jene,
die direkt oder indirekt mit dem Asylgesetz in Konflikt geraten war. Die älteren saßen
meistens wegen schwererer Delikte im Gefängnis und waren für mich auch die
schwierigsten. In diesen Fällen registrierte ich mitunter eine Art von fordernder
Aggressivität. Eigentlich immer fiel mir eine Form von Traumatisierung und
Ängstlichkeit auf. Wenn man die Türe öffnete, musste man häufig herein bitten, viele
waren in sich versunken und reagierten nur „punktuell“ auf Aufforderungen oder
Angebote. Hauptmerkmal also eine in sich gekehrte Passivität. Zudem spielten
Suchterkrankungen sichtlich eine Rolle, kognitive Fähigkeiten waren teils
eingeschränkt. In den Gesprächen bemerkte ich auch Unterwürfigkeit, die schnell in
Aggression umschwenken konnte. Aktives selbstbestimmtes auf die Welt
ausgerichtetes Handeln war in den meisten Fällen nicht vorhanden. Ein
Selbstwertgefühl aufzubauen wäre für mich das erste mögliche Ziel einer möglichen
Psychotherapie. Wie gesagt, einer möglichen Therapie; denn eine tatsächliche
Therapie war ja angesichts der Tatsache, dass die meisten nicht einmal ein Dach
über dem Kopf hatten, reine Utopie. Ich bemühte mich trotzdem in einer
empathischen Art und Weise auf die KlientInnen einzugehen, um in ihnen eine

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„innenwohnende Tendenz zur Selbstheilung“ aufzuspüren. Im Sinne Heinz Kohuts
versuchte ich, meinem Gegenüber „ähnlich gesinnt“ gegenüberzutreten. „Als
Selbstobjekt stützend reagieren“ lautete die Devise.

Der „Verein für Integrationshilfe“ betreibt auch ein Männerwohnheim. Es dient als
„Sprungbrett“ in ein neues Leben, durchschnittlich bleiben die Menschen dort sieben
Monate. Die Bewohner müssen Miete zahlen, ehrenamtliche MitarbeiterInnen,
Zivildiener und PraktikantInnen kümmern sich um Organisatorisches, das seelische
Wohl der Leute und gehen einkaufen. Regelmäßig organisierte „Aktivitäten“ bringen
die Haftentlassenen zumindest kurzzeitig aus ihrem „Mief des Befangen-seins“
heraus. Dazu gehört gemeinsames Kochen und einmal wöchentlich in allen
Stockwerken putzen und aufräumen.

Viele Bewohner reinszenierten meinen Beobachtungen zufolge ihren


Gefängnisaufenthalt, indem sie kaum aus ihren Zimmern kamen und ausschließlich
vor ihren Fernsehern saßen. Den Nutzen der gemeinsamen Aktivitäten konnte man
vor allem dann erkennen, wenn Personen verschiedenen Alters, Charakters oder
psychischen Zustandes interagierten. So gab es einen jüngeren, kommunikativen
und sehr „wachen“ Bewohner, der andere verschlossene und „depressive“
Mitbewohner mitreißen konnte, und mitunter auch die Stimmung im ganzen Haus in
positiver Weise beeinflusste. Sehr oft kam ich zu dem Schluss, dass Stimmungen
sehr viel auslösen und verändern können. Das Herauskommen aus einer
Grundstimmung namens „Angst“ schien mir ein oberstes Gebot zu sein. Und zudem
fassten viele Bewohner, die sich gerade in einer depressiven und in sich gekehrten
Stimmung befanden, wieder Vertrauen in menschliche Beziehungen. Zum Glück
kann nur einsam sein, den ein „ursprüngliches Mit-sein mit anderen seinesgleichen
auszeichnet“ (vgl. Boss, 1999, S. 285). Das Loslassen der Angst und das
Wiederfinden des „Miteinander“ als Sprungbrett zurück ins Leben? Die Zahlen
sprechen dafür, dass das Wohnheim dazu einen Beitrag leistet: Zwei Drittel jener, die
ausziehen, besitzen dann schon eine eigene Wohnung, ein Drittel hat schon einen
Job.

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Resümee: Antizipierter Nutzen für die therapeutische Arbeit
Abschließend möchte ich versuchen, die von mir gestellte Frage, wie der antizipierte
Nutzen für die therapeutische Arbeit mit Haftentlassenen aussehen könnte, zu
beantworten. Das soll nicht entlang der Argumentationslinie der methodischen
Ansätze passieren, sondern quer dazu, entsprechend eines möglichen
Gesundungsverlaufes. Also von dem bereits angedeuteten Weg von der
Wiederherstellung eines Selbstwertgefühls bis zu hin einem selbstorganisierten
Leben. Wie könnte eine Entwicklung vom ängstlichen, entwurzelten Haftentlassenen
hin zu einem Menschen, der sich in seinem Umfeld selbstbestimmt bewegt, grob
umrissen aussehen? Hauptaugenmerk soll auf die sensible Anfangsphase des
therapeutischen Prozesses gelegt werden.

Um sich überhaupt auf eine Therapie einzulassen braucht man Mut und einen
gewissen Willen zur Herstellung des Gleichgewichts, der Gesundheit. „Wie jeder, der
geheilt werden möchte, sucht der Patient nach Gesundheit, nach der
Selbstständigkeit eines Ich, das sich nicht mehr zu Sachen hinreißen lässt, die es
nicht tun möchte“ (Pierre Jakob in: Stäblein, 1997, S. 87). Dass es nicht bei der
bloßen Willensäußerung bleibt, könnte der erste Arbeitsschritt in der Therapie sein.
Denn: Der Wunsch nach einem Bruch, einem totalen Neubeginn, kann trügerisch
sein. „Das in sich selbst gefangene Subjekt ist nicht zum Mut fähig: Aus etwas
herauszukommen wollen bedeutet nicht, zu wollen oder herauszukommen“(ebd.
S.88). Gleich zu Beginn eines therapeutischen Prozesses mit einem Menschen, der
mit dem Gesetz in Konflikt geraten war und eine Haftstrafe abgesessen hat, könnte
diese Dynamik des Willens eines „in sich selbst gefangenen Subjekts“ wichtig sein.
Das aus der psychoanalytischen Selbstpsychologie stammende Selbstobjekt leistet
hier in seiner Funktion als prägendes Moment für die Persönlichkeit einen wichtigen
Beitrag. „Empathie führt zu einer Stützung des Selbstgefühls des Patienten, er erlebt
den Therapeuten in der Funktion eines Selbstobjekts“ (Kutter, 2006, S.48).

Dieses „Selbstgefühl“ ist entscheidend, es entsteht durch eine positiv besetzte


Selbstwahrnehmung. Es kommt dadurch, dass der/die TherapeutIn sich in den/die
KlientIn hineinversetzt und etwa versucht die Situation zu verstehen, wenn man ohne
Hilfe und Unterstützung aus der Haft entlassen wird und Bindungen nicht einmal

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ansatzweise vorhanden sind. Das „in sich selbst gefangene Subjekt“ hat erst einmal
jegliches Vertrauen in sich und die Welt verloren. Will es eine Änderung, braucht es
aber einen Willen, der expressiv ist und von einem positiven Selbstwert getragen ist.
Positives Selbsterleben initiiert der/die TherapeutIn durch empathische Resonanz.
Beflügelt soll der Mut werden – vor allem auch der Mut, die Therapie fortzusetzen. Es
geht letztlich darum, das Gewand der „Häfnidentiät“ abzustreifen, um sich eine neue
„freundliche“ Zukunft zu stricken. Und was ist der Anfang dieses Weges? Die
Bewusstwerdung, dass man von nun an dazu aufgerufen ist, sich wieder selbst zu
bestimmen. Es ist der Ernst, den das Leben wieder fordert, nachdem man eine
längere Zeit über eingesperrt war. Pierre Jakob formuliert das so: „Der Ernst des
Augenblicks muss einen niederschmettern“ (Stäblein, 1997, S. 101).

Hierfür könnte der/dieTherapeutIn auch seine/ihre daseinsanalytischen Karten


ausspielen. Das unfreie Existieren in Bezug auf die Umwelt ist kein guter Start in ein
neues Leben. Aber schafft es der/die TherapeutIn, dem Ex-Häftling das Gefühl zu
geben, dass er wesentlich genauso in-die-welt-geworfen ist, wie alle anderen auch,
hat er/sie schon gewonnen. Das Gefühl der Einsamkeit müssen Haftentlassene auch
positiv sehen, denn es deutet auf eine grundsätzliche Bezogenheit auf die
Mitmenschen hin. In der Therapie von Dialektik und negativen Bestimmungen zu
sprechen hat zwar wenig Sinn, die emotionale Bedeutung zu vermitteln sehr wohl.
Optimalerweise ist Angst zu Beginn des therapeutischen Prozesses nicht mehr als
ein Symptom und gleichzeitig eine Forderung, das Leben selbst in die Hand zu
nehmen, in den Worten Heideggers gesprochen, zu existieren und die Möglichkeit
der Freiheit „in jedem Augenblick“ zu nutzen. Denn: Die Zukunft ist nicht einfach nur
da, sondern öffnet sich. Der/die TherapeutIn könnte die Aufgabe übernehmen, diesen
Bereich „offen zu halten“, um die ersten Gehversuche des/der KlientIn in Richtung
selbstverantwortlichen Existierens zu ermöglichen.

Damit die Therapie in der heiklen Anfangsphase nicht zu konzeptuell und theoretisch
wird, sei dem/der TherapeutIn die praktischen Herangehensweisen der
Gestalttherapie als Werkzeug zur Seite gestellt. Denn mit „theoretischem
Geschwafel“ (Perls) haben Haftentlassene eher nichts am Hut. Also: Man hat es mit
einem retroflektierenden „in sich gekehrten“ Menschen zu tun, der „Geschwafel“ nicht
mag. Dies ist schon einmal der erste Ausgangspunkt für die Stützung in der

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Therapie. Der angesprochene Vorrang der Praxis vor der Theorie impliziert auch den
Vorrang des Hier und jetzt. Die Therapie ist hier keine Analyse, sondern eher als
Pädagogik zu sehen. Ein Mensch, der lange im Gefängnis war, braucht kein
Zurückgehen in die Vergangenheit, sondern einen Menschen, der hilft, vorhandene
Ressourcen zur Neugestaltung des Lebens wieder zu entdecken.

Der Therapeut ist dazu da, zu helfen […]. Keine Analyse! Zurückgeben,
was der Therapeut am Klienten wahrnimmt, nicht nur in seinem Reden,
sondern in seiner ganzen Erscheinung: Haltung, Stimme, Gestik. Nur das
Hier und Jetzt und Wie ist wichtig (de Roeck, 2011, S.59)

Der Vorrang des „Hier und Jetzt“ in der Gestalttherapie ist vor allem in unserem
Zusammenhang interessant und wichtig, wenn man bedenkt, dass die KlientInnen
eigentlich ohnehin nichts anderes haben als dieses „Hier und Jetzt“. Die
Unterstützung kann unter anderem so aussehen, dass „stillgelegte“ innere Anteile
gefunden werden. Es geht um die Bewusstwerdung (engl. awareness) und darum,
den/die KlientIn an sich selbst und an die Wirklichkeit, an seine/ihre Möglichkeiten
heranzuführen. Es geht auch darum, all die Taubheit und Abgestumpftheit, all die
blinden Flecken aufzulösen, um gehemmte Energien freizusetzen. „So dass du dir
selbst besorgen kannst, was du dringend brauchst und was du vergeblich […] von
der Außenwelt bekommen wolltest“ (ebd. S. 68).

Wie ging es mir im Praktikum?


Da ich auf Grund meines journalistischen Berufes vergleichbare Erfahrungen in
psychosozialen Einrichtungen noch nicht sammeln konnte, gestalteten sie sich in der
Art, dass mehr das Allgemeine als das Konkrete in den Situationen zum Vorschein
trat. Das heißt, ich war zumeist nicht fokussiert auf spezielle Erlebnisse und
Gespräche vor dem Hintergrund bereits in ähnlichen Umfeldern gemachten
Erfahrungen, sondern vielmehr war ich konfrontiert mit einem umfassend neuem
Selbsterleben in der Form „ich bin jetzt und hier erstmals Praktikant, erlebe etwas
komplett Neues und habe Angst vor Überforderung“. Im Laufe des Praktikums kam
es schließlich doch öfters zu Situationen, in denen das verwirrende Moment in den
Hintergrund trat und ich mich als jemanden erlebte, der auf ein bestimmtes
erfahrungsbedingtes Handlungsmuster zurückgriff. Hier war nachträglich betrachtet
eine Entwicklung im Gange, an deren Ende ich mich selbst immer mehr als aktives
Element erlebte. Zu Beginn kam es mitunter zu Situationen, in denen ich mit der
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Unsicherheit der gerade aus der Haft entlassenen KlientInnen so gar nicht umgehen
konnte (das hatte verschiedene Gründe: sie standen im Einfluss von Alkohol oder
Drogen; sie erwarteten sich etwas, das es nicht gab; sie waren so lethargisch, dass
sie von selbst nichts taten; ich konnte ein Formular nicht finden), und wiederum mit
Unsicherheit reagierte.

Erst später lernte ich, dass es für beide Seiten immer und auf alle Fälle das Beste
war, irgendwie souverän zu bleiben. Vor allem auch aufkommende Spannungen,
Unsicherheiten oder „Leerläufe“ auszuhalten und in einem Kommunikationsfeld
sowohl mir, als auch meinem Gegenüber einen respekt- und vertrauensvollen Raum
zu bieten (frei nach dem Prinzip der transzendenten Funktion bei Carl-Gustav Jung).
Sehr oft war den KlientInnen ein einfaches situationsabhängiges Gespräch wichtiger,
als dass sie genügend Essensgutscheine oder irgendein Formular bekamen.
Natürlich war es auch oft umgekehrt: sie wollten keinen empathischen Zuhörer,
sondern brauchten Essensgutscheine.

Natürlich nahm ich nicht gleich zu Beginn selbstständig KlientInnen in Empfang.


Beim zuschauenden Lernen, wie man ein Gespräch professionell gestaltet, fiel mir
auf, dass Empathie allein nicht reichte. Abgrenzung schien gleich einmal das oberste
Gebot zu sein. Den anfänglichen Fehler, dass ich Empathie mit mangelnder
Abgrenzung verwechselte und es auch vor mir selbst so rechtfertigte, versuchte ich
im Laufe der Zeit zu korrigieren. Das gelang ganz gut, indem ich versuchte auf die
Situationen möglichst vorurteilsfrei zu reagieren und mich als Mensch einem anderen
Menschen mit einem bestimmten Anliegen zu positionieren. Andererseits immer
wieder abgrenzen, wenn dabei meine Position als lernender Praktikant gefährdet
schien. Da halfen Floskeln wie „Wir können nicht“, „Der Verein hat dazu keine
Mitteln“, „Wir sind dazu nicht befugt“. Vom „Ich“ zum „Wir“ zu wechseln bewirkte oft
Wunder. „Grenze dich ab“, schrieb ich mir auf ein Post-it. Das war auch ein wichtiger
Hinweis meiner ArbeitgeberInnen im Verein. Stupides Wiederholen von „Ich bin nur
Praktikant“ bewirkte da allerdings wenig – auch Abgrenzung muss
situationsabhängig funktionieren. Im Laufe des Praktikums hatte ich aber immer das
Gefühl, dass sich die Grenzen innerhalb meines Arbeitsfeldes mehr und mehr
auflösten. Zu Beginn war da: [ich], [Ex-Häftling], [VereinsmitarbeiterInnen]. Normen
und Herangehensweisen übernahm ich bzw. in einzelnen Fällen „schluckte“ ich sie.

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Die beteiligten Personen sah ich weniger als Menschen, mehr als „Personen“, denen
ich bestimmte Eigenschaften und Funktionen zuschrieb. Systemisch betrachtet gab
es nur diese Funktonalität, die aus den abstrakten Beziehungen der Akteure
bestand. Nach und nach kam mir das Bild von kommunizierenden Gefäßen. Meine
eigene anfängliche Befangenheit löste sich auf. Vor dem Hintergrund, dass
PraktikanInnen Erfahrungen sammeln sollen, begann ich aktiver und eigenständiger
auf Situationen zu reagieren. Das prägte mich sehr und machte auch Spaß. Die
Beziehungen sowohl zu den Haftentlassenen, als auch zu allen anderen in dem
Umfeld wurden lebendiger und authentischer. Ganz stark erkannte ich den Nutzen
und Sinn eines der Hauptprinzipien der Gestalttherapie: nämlich im Hier und Jetzt
stets als Mensch präsent zu sein. Denn: Auch in einer Welt, die im Grunde eine
künstliche ist - geprägt von Technik, geleitet von Verträgen und Planungen - kann
Echtes, Ursprüngliches und Authentisches entstehen.

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Literaturverzeichnis:

Blankertz, S., Doubrawa, E. (2005). Lexikon der Gestalttherapie. Wuppertal: Peter


Hammer Verlag
Boss, M. (1999). Grundrisse der Medizin und Psychologie. Bern: Hans Huber
Boss, M. (1984). Sinn und Gehalt der sexuellen Perversionen. Frankfurt am Main:
Fischer
De Roeck, B.-P. (2011). Gras unter meinen Füßen. Eine ungewöhnliche Einführung
in die Gestalttherapie. Reinbek bei Hamburg: Rowolth
Heidegger, M. (2006). Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer
Kast, V. (2013). Trotz allem Ich. Freiburg im Breisgau: Herder
Kierkegaard, S. (1992). Der Begriff Angst. Stuttgart: Reclam
Perls, F. (2007). Das Ich, der Hunger und die Aggression. Stuttgart: Klett-Cotta
Kohut, H. (1996). Die Heilung des Selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Kohut, H. (1993). Wie heilt Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Kutter, P., Paál, J., Schöttler, Chr., Hartmann, H-P, Milch, W. (Hrsg.) (2006). Der
therapeutische Prozess. Gießen: Psychosozial-Verlag
Stäblein, R. (Hrsg.) (1997). Mut – Wiederentdeckung einer persönlichen Kategorie.
Frankfurt am Main: Fischer
Stumm, G. (Hrsg.) (2011) . Psychotherapie – Schulen und Methoden. Wien: Falter

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