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und der
Sprechgesang
i i / > j i 1
Editorial 4
D ie Autoren. 184
M U S IK -K O N Z E P T E
D i e R e i h e üb er K o m p o n i s t e n
Herausgegeben v on Heinz-K lau s M etzger und Rainer Riehn
Heft 1 1 2 /1 1 3
S c h ö n b e r g u n d de r S p re c h g e s a n g
Juli 2 0 0 1
ISSN 0 9 3 1 - 3 3 1 1
ISBN 3 - 8 8 3 7 7 - 6 6 0 - 2
D i e W i e d e r g a b e de r N o te n b e i s p i e l e aus W e r k e n A r no ld S c h ö n b e r g s erfol gt
m i t f re u n d l i ch er G e n e h m i g u n g de r Unive rsa l E d i t io n A G , W i e n , so w ie
des Verlags G . S c h i r m e r I n c . , N e w Y o rk , für die O d e to N a p o leo n Buonaparte-,
d e n E d i t io n s Sala be rt, Paris, d a n k e n w i r für die A b d r u c k e r l a u b n i s de r
N o te n b e i s p ie le aus A k itn th o sv o n I ann is X e n a k i s.
U m s c h l a g e n t w u r f : T h o m a s S c h e e r / D i e t e r Vollender!', M ü n c h e n
D i e U m s c h l a g a b b i l d u n g v o n D o l b i n zeigt: S c h ö n b e r g bei ei ne r A u f f ü h r u n g
des P ierrot lu n a ire a m 17 . N o v e m b e r 1 9 4 0 in de r ’l b w n Ha ll in N e w York
(E n c id o p e d ia delki M in ien , M a i l a n d 1 9 7 2 ) .
Satz: F o t o s a t z S c h w a r z e n b ö c k , I lo h e n l i n d e n
D r u c k un d B u c h b i n d e r : B o s c h - D r u c k , E a n d s h u t
© e di ti o n te x t t- kritik im R i c h a r d B o o r b e r g Verl ag G m b H & C o .
Po st f a ch 8 0 0 5 2.9, D - 8 1 6 0 5 M ü n c h e n
Giuseppe Chiari (1 9 6 4 )
M onika Schwarz-Danusers Aufsatz über die Rolle des Sprechgesangs bei Buso-
ni erschien zuerst im Bericht über den musikwissenschaftlichen Kongreß Bayreuth
1981, hrsg. von G .-W . M ahling und S. W iesrnann, Kassel 1985, S. 4 4 9 .'■454.
Ihr Beitrag zum entsprechenden Sachverhalt bei Oskar Fried ist ein Vorab
druck aus: Wiener Schriften zur Stilkunde und Auffuhrungspraxis, Sonderreihe
Wien-Modem 1= Stimme und Wort in der Musik des 20. Jahrhunderts, Univer
sitär für Musik und darstellende Kunst W ien 2 0 0 1 , S. 2 5 - 4 2 . Beim Text von
Friedrich Cerha handelt es sich um die erweiterte Fassung einer Arbeit, deren
erstes Stadium im Bericht über den I. Kongreß der Internationalen Schönberg-
Gesellschaft Wien 1974 (= Publikationen der Internationalen Sch'önberg-Geseü-
schaft, Bd. I), hrsg. von Rudolf Stephan, W ien 1 978, S. 25 —33 nachzulesen
ist; die in diesem H eft erstmals erscheinende endgültige Gestalt des Textes soll
in Cerhas gesammelte Schriften aufgenommen werden. Zu Aufführungen des
Pierrot lunaire, die Robert H P Platz einstudierte und dirigierte, verwendete er
verschiedenenorts als Programmeinführung den Beitrag, der seinen Realisa
tionsvorschlag begründet und hier jetzt zur Diskussion gestellt wird.
Zum ersten M al veröffentlicht werden hier auch die beiden Dispute zwischen
Adorno und Boulez, die am 26. November 1965, betreut von Juan Allende-
Blin, für den Norddeutschen Rundfunk Ham burg aus Rücksicht auf Adornos
W ohnsitz im Hessischen Rundfunk zu Frankfurt am M ain aufgenommen wor
den waren. Allencie-Blin organisierte damals, angeregt von Schönbergs Witwe
Gertrud, eine Schönberg-W oche im Dritten ( H örfunk-)Program m des Nord
deutschen Rundfunks, das zu jener Zeit unter der Leitung Samu
Blüte erlebte. Diese Schönberg-W oche ging dann im Januar I
Sender, die Gespräche zwischen Adorno und Boulez wurden in <
am 6 .17. Januar 1966 ausgestrahlt. W ir danken dem Norddeu,..- .
funk Ham burg sowie Dr. Rolf Tiedem ann, dem Leiter des A<
Frankfurt am M ain, und Pierre Boulez für die ......... dhche Gen.< m i i
Transkription der ’.lonbänder dieser Ausei.na.ndi i v i-m ig zu pul. It/ c ■.
Alle übrigen Beiträge sind, eigens für den vorliegenden Doppelband der iVlusik-
Ko nzep te ve rfaßt w o rei.en.
H .-K . M.
R. R.
Ulrich Krämer
] Vgl. hier/Ai Rudolf Stephan, » Zu r jüngsven G esch ichte des M elodrams «, in: A r c h iv ß r M u s ik w is
senschaft \1 ( I 9 6 0 ) , S. J 8 3 - 1 9 2 ; ders\, »Sprechgesang«, in: D ie M u sik in Geschichte u n d Gegenwart.
Zweite neubearbeitete Auflage, hrsg. von Ludwig Pinscher, Sachteil, Bd. 8, Kassel und Stuttgart 1 9 9 8 ,
Sp. 1 6 9 8 - 1 7 0 1 ; ders., »Was bedeutet der Verzieht auf fixierte To nh ö he n ? Überl eg un gen zur S i t u a
tion der Sp rac hkom position«, in: M usik als Text. Bericht ü b er d en Internationalen K o n g reß d e r Gesell
schaft fü r M tiükforschling I r e ib u r g im Breisgau. 1 9 9 3 , hrsg. von H e r m a n n Danusev und Tobias Pie-
bu ch, Bd. 1, Kassel 19 9 8 , S. 4 0 2 - 4 0 4 ; Pierre Boulez, »Sprechen, Singen, Spielen«, in: M elos 11 ( 1 9 7 1 ) ,
S. 4 5 3 1 h ; Friedrich C er h a, »Z ur Interpretation der S p rec hst im me in Sc hö nbergs Pierrot li(uaire<s, irr.
B erich t ü b er den J. K o n g reß d er Internationalen. Sehönberg-Gesellschaft W ien 1 9 7 4 ( - Publikationen d er
Internationalen Schimberg-Gesellscljafh Bd. 1), hrsg. von Rudolf Stephan, W i e n 1 9 7 8 , S. 2 5 - 3 3 ; Peter
Stadien, »Schönberg und der Sprechgesang«, ebenda, S. 2 0 2 - 2 1 2 .
Z u r N o tatio n der Sprechstim m e bei Schönberg 7
Seit den Anfängen der G attung im späten 1 8. Jahrhundert bestand die, nota
tionstechnische Hauptschwierigkeit des M elodrams in der zeitlichen Fixierung
des deklamierenden Textvortrags im Verhältnis zur instrumentalen Begleitung,
wenn man diese weder dem Zufall noch dem Belieben des Vortragenden über
lassen wollte. M eist geschah dies durch die mehr oder weniger genaue Plazie
rung des zu sprechenden Textes über oder zwischen den konventionell notier
ten, Instrum entalstim m en, wobei die Taktstriche zusätzlich zu ihrer metrischen
Funktion die zeitliche Koordinierung von 'Text und M usik übernahmen. Im
Fall von metrisch gebundener D ichtung war die Zuordnung der Textsilben zur
unterlegten M usik unproblematisch, da die M elodiebildung in der instru
mentalen Begleitung dann meist den Betonungsverhältnissen und der Silben
zahl des Textes entsprach.2 Bei metrisch freien Prosatexten, wie sie beispiels
weise, für melodramatische Opernszenen charakteristisch sind, stellte die
Verbindung von Text und, Musik dagegen ein Problem dar, das einer beson
deren notationstechnischen Lösung bedurfte. In den meisten Fällen behalf man
sich m it dem einfachen Verfahren, einzelne durch Unterstreichung typogra
phisch hervorgehobene Silben möglichst genau den ' 1aktschwerpunkten der
Instrumentalstimmen zuzuordnen, um auf diese Weise eine Koordinierung der
.Betonungsverhältnisse von Text und Musik zu erreichen. In arideren Fällen
verwendeten die Kom ponisten spezielle Notationssym bole wie z. ß. Pfeile, um
eine Simultan Verbindung von einzelnen Silben und musikalischen Ereignissen
herzustellen. D er N achteil dieser Notationsart lag darin, daß die K oordinie
rung zwar stellenweise gewährleistet war, sich jedoch übe
trolle durch, den .Komponisten entzog. N icht die Musik., aux
menwirken von Musik und 'lextvortrag, sondern die Deklamation bestimmte
den Fluß des Vortrags, was auch erklärt, warum sich beispielsweise Richard
" i<>u< i der musikdramatischen i ni l . i n I u i< <i », < uüber normaler-
ut >'< mfgeschlossen war, von dei imi'> nt i l G h uh p inzipiell distan
zierte.3 M öglichkeiten wie auch ßeschrankuiigen der Notation re itH '.....H ier
Koordinierungszeichen verdeutlicht eine Anmerkung in den its-
rnelodram. Weihnacht auf einen Text von Ernst v. W ildenbruch -ar-
tel: »Das Tem po der Begleitung hat sich ganz nach dem Vortrag zu. richten,
Text und musikalische Phrase sollten im Allgemeinen in Fühlung Zusam m en
gehen. Jedoch müssen die unterstrichenen W orte eng mit den dazugehörigen.
Akkorden zusammenfallen. An einigen wenigen. Stellen sollen W ort und Musik
fast wie gesungen, miteinander verschmelzen. An diesen Stellen zeigen Pfeil
striche die Silben und die dazugehörigen Akkorde an.«
2 Dies erklärt auch, die häufige Verwendung des 6/8--Taktes in den zahllosen um die J a h r h u n d e r t
wende entstandenen G ele ge nhc its kom pos hio nen , da sich das überwiegend jambische Versmaß der
Texte dieser l a k t a n problemlos anpaßt.
3 Vgl. Wa gne rs bekanntes D ik tu m über das M el o dr am als »ein Genr e von unerquicklichster G e
mischt-heil« in: O per u n d D ra m a (~ ( nisammeltc Schriften u n d D ichtu ngcr/, Bd. 4) , L e i p z i g X|1 9 0 7 , S. 4.
8 U lrich K räm er
4 F ü r diese und weitere Noiavionsformen, auf die hier im einzelnen nicht einzugehen ist, sei auf die
in den ersten Deka de n des vorigen Jahrhunderts erschienene Reihe M elodram en des Theater-Verlags
Eduard Bloch in Berlin verwiesen, die zugleich einen repräsentativen Überblick über die blühende
Pro duktion von überwiegend trivialen Gelegenheirswerken besinnlichen, aber auch - wie bereits der
Untertitel etwa von Philipp Gretschers Vaterländischem M e lo d ra m »D e r Posten« erkennen läßt —patrio-
tisch-nationalen Inhalts jener Ze it bietet.
5 Vgl. Stephan, » Z u r jüngsten Geschichte«, S. 1 8 3 - 1 8 6 .
6 Wo lfr am H u m pe r di n ck , En gelb ert L in rn p erd in ck ..das Lebern meines Vaters F ra n k furter Lebens
bilder, Bd. 17 ), Fran kfurt am Ma in J 9 6 5 , S. 2 3 3 f.
Z u r N o tarion der Sprechstim m c bei Schönberg 9
mus übernahm, sondern auch das Fünfliniensystem zur Fixierung der 'Ion-
hohe. Der einzige Unterschied lag in der Verwendung des als »Sprechnote«
bexeichneten x-förm igen Notenkreuzes anstelle des gewöhnlichen runden
Notenkopfes. D a in diesem System die Differenzierung zwischen hohlen und
gefüllten Köpfen entfiel, beschränkten sich die zur Verfügung stehenden
Notenwerte auf Viertel, Achtel, Sechzehntel etc., d .h . auf jene W erte, die in
konventioneller N otation gefüllte N otenköpfe verwenden. D ie Wahl des No-
tenlcreuzes war übrigens keineswegs zufällig, sondern sie läßt interessante Rück
schlüsse auf Humperdincks Verständnis des Unterschiedes zwischen Sprache
und Gesang zu. D er Kom ponist verband nämlich m it diesem Notenzeichen
die Vorstellung von einem »'ibnskelett« ', das übrigbleibt, wenn der von der
menschlichen Stim m e hervorgebrachte I o n von allem Gesangsmäßigen ent
kleidet ist. Humperdinck: erblickte demnach in dem Verhältnis von gehobener
Sprache zum Gesangston keinen prinzipiellen Unterschied, sondern nur eine
graduelle Abstufung, weshalb er auch die Aufzeichnung der Sprechstimme mit
dem Zeichensystem der M usik als etwas ganz Natürliches ansah.
Hum perdinck hat sich in zahlreichen Briefen und Aufzeichnungen über die
Funktion, Verwendung und Ausführungseiner »Sprechnoten« geäußert. D ie
se Bemerkungen lassen erkennen, daß sich seine Auffassung im Lauf der Zeit
gewandelt hat, was wohl zum Teil m it der eher ablehnenden Haltung der Kri
tik, aber auch der an den Aufführungen der Königskinder beteiligten Schau
spieler zusammenhing, die letztlich dazu führte, daß Hum perdinck sein Buh
nenmelodram später in eine »normale« O per um arbeitete.8 Da diese
Entwicklung ähnlich wie später bei Schönberg verlief, u u im u ! i<
tilgbaren D okum ente im folgenden kurz dargestellt
2 5 .7 . 1895 an den Schauspieler und Intendanten der
Hoftheater Ernst von Possart, der die Königskinder zur
und auch die ! )ruck!egung entscheidend befördert hart
bereits sehr detailliert auf die neue Art des (gebundenen
ist zu beachten, daß sic h .- wie aus dem. Vorwort zum 1
neuen Klavierauszug der Königskinder hervorgeht:10 —a!
7 Ebenda.
8 Vgl. etwa den M ü n c h n e r Zeitungsartikel von 1 9 1 2 , in d em es rückblickend über die Urauf
führung der l(önigddnder\\Q\{l\.: »So entstand das M el o dr am >Königskinder<. Es war ein K o m p r o m i ß ,
bei dem eigentlich kein Teil viel gewann. Die Mus iker bedauerten, daß die Stimmung- durch das Auf
hören der Musik ständig zerrissen werde. Die Schauspieler beklagten sich, daß sie über das volle H u m -
per din cks ch e O rc he st er nicht hinwegsprechen kön n te n. Die W o r t e wurden unverständlich odi i \< i
loren sich in Schreien. Ger ade dad ur ch gingen aber die Feinheiten der D i c h t u n g verloren /u u ii
nach R ugelberl H u m p erdir/ek zu m 7 0 . l'odeslug. Veröffentlichung des (jeschichts- u n d A llerlu
fü r S iegbu rg und- d en R hein-Sieg-Kreis r. K, hrsg. von An drea Korte-Böger, Siegburg 1 9 9 2 , S. /:> ym
folgenden zitiert als liurnperdhicL ).
9 Ernst von Possart war übrigens, wie aus einem Brief Alban Bergs vom 1 3 . 1 . 1 9 1 3 an Schön ber g
hervorgeht, noch 1 9 1 3 für die Sprecherpartie des M el o dr a m s aus den (ju rre-l.ied ern vorgeschlagen
worden.
10 »Die in den m el odram atischen Sätzen ang ew andten Sprec hno ten sind dazu bes tim mt , R h y t h
m us und dönfalJ der gesteigerten Red e (Melodie des Sprachver.ses) m it der begleitenden Musik in
Einklang zu setzen.«; zitiert nach Stephan, »Sprechgesang«, Sp. 1 6 9 9 .
10 U lrich Kräm er
if‘ 1 P :>
G ä n s e m a g d : .Ei, h iu ich schö n.!
vorgeschrieben ist. Ich bin neugierig, wie ciie Sache wirken wird; sollte es
glücken, so haben wir dann eine Ausdrucksform, die vielleicht einige Ä hn
lichkeit m it der m elodramatischen Rezitation des altgriechischen Theaters
besitzt..«13
Und gar keinen Zweifel daran, daß die präzise Vorgabe der Tonhöhen in den
D eklam ationspartien der Königskinder tatsächlich ernstgem eint war, ließ
Hum perdinck in einem Brief an die Schauspielerin Tony Kwast, lo c h te r Fer
dinand. Hillers, der er das M anuskript zwecks Begutachtung der Ausführbar
keit geschickt hatte: »Es sind lauter M elodram en, allerdings meistens m it sehr
ausführlicher Musik versehen - die gekreuzten N oten [ j) werden nicht ge
sungen, sondern gesprochen mit möglichster Berücksichtigung des Tonfalls
und des Rhythm us — |...].«1'!
Die Schwierigkeiten, die die tonhöhengetreue Umsetzung der »Sprechnoten«
bereitete und die den Erfolg cies Werkes bei. der Uraufführung in M ünchen
und den nachfolgenden Inszenierungen in Frankfurt (unter Humperdincks
eigener Leitung), Prag, Leipzig und Berlin nicht unerheblich beeinträchtigt:
hatten15, führten jedoch zu einer Wandlu ng in Humperdincks Auffassung. Und
so heißt: es in einer späteren, das Melodram betreffenden Notiz: »Die Sprech
noten geben im allgemeinen nicht: die absolute Tonhöhe, sondern die relative
an, die Linie der Hebungen und Senkungen in der Stimme. Je mehr Ton die
letztere annim m t, desto genauer wird sie die vorgeschriebene lo n h ö h e einzu
halten haben, damit es zu keinen Dissonanzen kom m t; je mehr sie sich dem
trockenen Sprechton nähert, umso mehr kann sie sich von. der Vorschrift des
Tonsetzers entfernen. Über das M aß kann natürlich, nur die Eigenart des Vor
tragenden, andererseits der Charakter der betreffenden Stelle e
Bemerkenswert an dieser Notiz ist vor allem Humperdincks
offenbar nicht zufriedenstellenden. Erfahrungen bei der Urnsetzi.
noten mit der Titsache, daß die Sprechsttnimc als imepraler ,
C .Hi/< ’i u i ' b h e h komp' uni 11 ilso »in 1 oiu <I n\ r 1 mm 1, , i . i i.\cu zu
Vi u im i) . heim dient ein> i m u die Bemed un <! i1 du -j. •in - >. im nie
relative lo n h ö h e , d .h . die Linie der Hebungen una oeriRiingen angeoen, und
andererseits die Forderung, daß die angegebenen lo n h ö h en immer dann ver
bindlich einzuhalten sind, wenn sich der Sprechton innerhalb eines in seiner
.Auffassung vorn graduellen Unterschied zwischen. Gesang u nd. Sprache begrün
deten Kontinuum s zwischen, »trockenem Sprechton.« einerseits und. vollem
Gesangston andererseits dem letzteren annähert. D ie zweite Forderung wirkt
jedoch vor allem in H inblick auf die in diesem Zusam m enhang gegebene
Begründung (»damit: es zu keinen .Dissonanzen kom m t«), die ja die zumindest
II
Arnold Schönberg hat von Hum perdinck nicht nur die Idee, sondern auch die
Notationsform des gebundenen Melodrams übernommen und aufgrund sei
ner eigenen Erfahrungen mit der Problematik des Sprechgesangs weiterent
wickelt. Rein äußerlich lassen sich fünf unterschiedliche Notationsarten un
terscheiden, die jedoch zum Teil ineinandergreifen und auf vielfältige Weise
modifiziert und. erweitert werden:
1., die diastematisch eindeutige Fünfliniennotation m it den Hum perdinck-
sc h e n No t en k re uze n ,
2. die daraus abgeleitete Fünfliniennotation mit normalen Notenköpfen und
durchkreuzten Notenhälsen,
3. die adiastematische Fünfliniennotation ohne Notenköpfe,
4. die diastematisch nicht festgeiegte Fünfliniennotation mit .Notenkreuzen.,
und
5. die diastematisch nicht eindeutige, um mehrere Hilfslinien erweiterte Ein-
liniennotation m it konventionellen. Notenzeichen.
D ie diasternatisch eindeutige Fünfliniennotation mit den Hum perdinck-
schen Notenkreuzen markiert nicht nur den Anfang von Schönbergs Beschäf
tigung mit dem gebundenen M elodram , sondern findet sich auch noch in
Zusammenhang m it seinen späteren frei- und zwölftönig-atonalen Werken mit
Sprechstimme. Er setzte sie im M elodram aus den Gurre-Liedern{ 1900/ 1901),
in den Skizzen zur Glücklichen H and op. 18 (1 9 1 0 -1 9 1 3 ) , in der ersten N ie
derschrift und der Reinschrift des Pierrot lunaire op. 21 (1 9 1 2 ), im Seraphita-
Fragment ( 1 9 1 2 )'7, in der Anfangsphase der Arbeit am Particell des Jakobslei-
Passage T 84-7 tt.: hier realisieren die Instrum entalstim m en ein aus zwei Tove-
T hem en und einem W aldem ar-M otiv bestehendes Engführungsgeflecht, in
das sich die Sprechstimm e zwanglos einfügt, indem sie solche T ö n e des Instru
mentalsatzes übernim m t, die ihr einerseits genügend Eigenständigkeit ge
währen und andererseits die charakteristischen kleinen Intervallschritte zur Ver
fügung stellen. (Dabei wird die motivisch bedeutsame große Septim e aufwärts
häufig durch ihr Komplementärintervall, die kleine Sekunde abwärts, ersetzt.)
D ie Sprechstimme erscheint hier also —wie auch an anderen S te lle n ..als ein
Substrat thematisch relevanter T ö n e, die aus wechselnden Stim m en des Instru
mentalsatzes entnom m en und zu einer Sprachmelodie umgeformt sind:
851
16 Ulrich K räm er
32 Vgi. T. 8 2 5 , 5 / 8 : las 'statt: //V”; T B 5 9 >letzte Note: fts “statt e ”\T. 8 7 1 , 3 . No te : £ 's ta t t //V ; P. 8 9 2 ,
2 / 8 : eis” statt h\
33 Arnold Sc hö nb er g an Emil Plertzka, Brief vom. 2 2 . 1 2 . 1 9 1 3 . - Vgl. den Abdruck in Br in km an n ,
P ierrot lunaive op. 2 1 : K ritischer Berichts Studien z u r Genesis, Skizzen, Dokum entes S. 2 9 1 i.
34 Die Ve rbindung von M e lo dr a m und P a n t o m i m e in der französischen opera co m iq ue wurde
durch, pan to m im isc he Szenen des Boulevardtheaters angeregt und fand als »stummes M el o dr am « E i n
gang in die g ra n d opera. A u ch W ebers O p e r Silvana enthält ein mi t »Pan tom im e« überschnebenes
stu m m es M e l o d r a m , in welchem die Musik der s t u m m e n Heldin zur Sprache verhilft (vgl. M o ni ka
Sch warz-Danuser, »Me lodr am« , in: D ie M u sik in Geschichte u n d Gegenwart. Zweite neubearbeitete
Auflage, hrsg. von Lu dwig Pinscher, Sachteil, Bd. 6 , Kassel und Stuttgart 1 9 9 8 , Sp. 6 7 - 9 9 , hier 7 6 -
7 8 ; dies., »Die Rezeption des französischen Boulev ard -Me lodra ms« , in: M usik als Text. Bericht über
d en Internationalen K o n greß d er Gesellschaft fü r M usikforschung J r e ib u r g im Breisgau. 1 9 9 3 , hrsg. von
Piermann. Danu ser un d ’lobias Plebuch, Bd. 1, Kassel 1 9 9 8 , S. 4 0 1 ) . ln den G u rre-L ied ern dient die
pa n to m im is ch e Gebär de als Ausdruck des Üb ergangs v on der unbeseelten, zur beseelten Natur.
Z u r N o tatio n der Sprech.stim.me bei Schönberg 19
zipiert war«35 erklären lassen. Zu diesen zählen vor allem die zahlreichen Zwi
schentöne, Schattierungen und M odifikationen, durch welche die Übergänge
zwischen den Extremen »gesungen«, »gesprochen« und »geflüstert« im Sinne
einer klangfarblichen Differenzierung fließend gehalten werden.36 Es handelt
sich bei ihnen meistens um verbale Zusätze wie »tonlos geflüstert - m it Io n
gesprochen« (Nr. 3 , 1 ’. 8) oder »gesungen - tonlos -- gesungen —gesprochen..
fast gesungen, m it etwas Io n , sehr gezogen, an die Klarinette anpassend« (Nr.
3, I'. 16 -2 0 ), die bisweilen durch eine besondere N otation sinn- und augen
fällig gemacht werden. Am Ende von Nr. 3 etwa notierte Schönberg die »ton
los geflüsterte« Stelle »mit einem phantastischen Mondstrahl« m it einer N o
tationsform, in der die N otenköpfe durch zusätzliche, d .h . die entsprechenden
Balken ergänzende Achtel-, Sechzehntel- und Zweiunddreißigstelfähnchen
ersetzt sind.37 Diese Verdopplung des rhythmischen Anteils der N otations
symbole dient einerseits der Akzentuierung des Rhythm ischen auf Kosten der
Diastem atik, verstärkt also die durch den verbalen Zusatz ohnehin geforderte
»Tonlosigkeit«, enthält jedoch andererseits auch ein parodistisches M om ent,
indem der tonhöhenspezifische Bestandteil der Notenzeichen durch sein rhyth
misches Gegenstück ersetzt ist. In Nr. 10 dagegen notierte Schönberg die eben
falls »tonlos« gesprochenen Achtel- bzw. Sechzehntelnoten bei »Nachts m it sei
nen Zech-ljtum pa-]nen« (I'. 8 f.) m it einem hohlen Notenkopf, der mit einem
in der M itte ausgesparten Kreuz überschrieben ist, also mit einem jener N oten
zeichen, die er an anderen Stellen auch zur Notation der Halben Note ver
wendete. Diese Art der N otation wie auch ihre drucktechnischc Realisierung
mittels eines hohlen, kreisförmigen Notenkopfes in der gestochenen Partitur
von 191.438 läßt sich aufgrund der fehlenden Füllung des N :ben-
falis als unmittelbare visuelle Umsetzung der geforderten »’i deu
ten, und zwar vor allem auch aufgrund ihrer direkten Nach i den
m it »Ion « gesprochenen und dementsprechend m it gefüllu... . ___ ___ jplen
notierten Silben »[Zech-]kum pa-|nenj«. Parodistisch wirkt auch die »tonlos
geflüsterte« Stelle »Waschtisch« aus Nr. 3 (118), indem der Geräuscbanteil des
vor allem durch den doppelten Zischlaut »sch« geprägten Wortklangs durch
das .Flüstern verstärkt und zugleich die Vokalfärbung aufgrund des Fehlens von
»Ion« unterdrückt wird. Eine ähnliche Funktion hat auch der verbale Zusatz
»gezischt« in Nr. 9 bei dem Wort »zerfloß« (T, 5).
;35 Arnold Sc hö nb er g an Erika und Fritz Stiedry, Brief: vorn 3 1 . 8 . 1 9 4 0 . — Vgl. den A b dr uc k in
B r in km an n . Pierrot luntiire op. 2 1 : Kritischer Bericht, S tudien z u r Genesis, Skizzen, Dokumente., S. 3 0 2 .
36 Vgl. Stephan, »Was bedeutet der Verzicht auf fixierte To nhö hen ?«, S. 4 0 3 .
37 ln der ersten Niederschrift- ist diese Stelle no ch o hn e die zusätzlichen Fähnchen.» aber bereits
o hn e No te nk ö pf e notiert. Vgl. unten, S. 25.
38 in der Dr uckausgabe wurde aufgrund der Verwend ung des hohlen, m it einem in der M it te aus
gesparten Kreuz überschriebenen Noten kop fes auc h für die Ha lbe N o t e versehentlich auch die H a l
be N o t e in Nr. 1 1, T. 2 6 m it jene m hohlen, kreisförmigen N o t e n k o p f wiedergegeben, was Sc hön ber g
in einem seiner H a nd e xe m p la re mi t dem Zus at z zweier Fragezeichen quittierte (vgl. B r i n k m a n n , Pier-
rot lunaire op. 2 1 : K ritischer B ericht, Studien z u r Genesis, Skizzen, D o k u m en te, S. 8 8 ) .
20 U lrich K räm er
39 Vgl. etwa in Nr. 7 die durch die Auffiihrungsamveisung »dieser Takt anders, aber doch nicht
tragisch« ergänzten fr-Schlangen über d e m letzten T a k t ..hierbei handelt es sich mit einiger W a h r
scheinlichkeit um eine Reaktion auf die ins Sentimentale abgleitende Auffassung dieser Stelle durch
die erste Interpretin des Pierrot, Alb ertine Z e h m e , v on der Eduard S te u erm an n ber ichtete (vgl.
G ü n th e r Schüller, »A (Konversation with Steue rman n« , in: Perspectives of N ew M it sic i.JI/1 (1 96 4 ). ,
S. 2 3 ff.) das m it d em Zus at z »kläglich« versehene Glissando in Nr. 9 , T . 9 oder auch das Sprech-
stim nien frem oJo zu den W ort en »verlernt« in Nr. 9 , T 1 l / l 2.
40 A r no ld Sc hö nb er g an E m il He rtzka, Br ief vom 5 . 7 . 1 9 1 2 . ..Vgl. den A b dr uc k in Br in km an n ,
Pierrot lunaire op. 2 1 : Kritischer Bericht, S tudien z u r Genesis, Skizzen, D o k u m en te, S. 2 3 3 .
41 Vgl. die in B r in km an n , Pierrot lu na ire op. 2 1 : Kritischer Bericht, Studien z u r Genesis, Skizzen,
D o k u m en te abgedruckten Briefe an Alexander J e m n i t z v o m 1 5 . 4 . 1 9 3 1 : »N ur eines m u ß ich sofort
Z u r N o ration der Sprechstim m e bei Schönberg 21
und mir aller l'Titschiedcnheit sagen: Pierroi lunaire ist nicht z u singen!« (S. 3 0 2 ) und an Daniel
R uy ne m an vorn 2 3 . 7 . 1 9 4 9 : »Ich m ö c h t e nur G e w ic ht daran! legen, daß Sie sie daran erinnern, daß
keines dieser Gedic hte zum Singen be s t im m t ist, so ndern ohn e (ixierbare "lonh öhe gesprochen wer
den m uß « (S. 3 0 4 ) .
42 »Die Rezitation Ikh die 'lo n h ö h e andeutungsweise zu b r i n g e n . « ..Da Sc hö nb er g dieses Stück als
e rs te s der / V #7Y?/~M elodram en k o m p o n i e r t e , kann diese)- An m e r k u n g w o h l eine g e w iss e Allgemein-
V e r b in d lic h k e it für d e n g e s a m te n Zyklus z u g e s p r o c h e n w e rd e n .
43 Vgl. An m er k u n g 4 1 .
44 Vgl. oben, S. 16.
22 U lrich K räm er
war, findet sie sich ohnedies in der Musik. Wo der Ausführende sie vermißt,
verzichte er darauf, etwas zu geben, was der Autor nicht gewollt hat. Er wür
de hier nicht geben, sondern nehmen.«
In einem Brief, den Schönberg am 8. Juli 1923 an seinen damaligen Assisten
ten Josef Rufer in Zusammenhang m it dessen Vorbereitungen einer Aufführung
des Pierrot lunaire schrieb, gibt er erstmals detaillierte, über die Bemerkungen
im Vorwort hinausgehende Anweisungen darüber, wie eine derartige Umfor
mung der notierten M elodie in eine Sprachmelodie zu erfolgen habe: »Die
'lonhöhen im Pierrot richten sich nach dem Umfang der Stimme. Sie sind >gut<
zu berücksichtigen aber nicht »streng einzuhaltene M an kann den Umfang der
Stim m e in soviel Teile teilen, als H albtöne verwendet werden; vielleicht ist
dann jeder Abstand nur ein 3/4-Ton, Das muß aber nicht so pedantisch durch
geführt werden, da ja die Tonhöhen keine harmonischen Verhältnisse eilige-
hen. D ie Sprechlage reicht natürlich nicht aus. D ie Dam e muß eben lernen,
m it >Kopfstimme< zu sprechen; das hat jede Stimme. (...) Das wichtigste ist es,
die >Sprechmelodie< zu erzielen.«4’
Dieser Brief spricht nicht nur jene Schwierigkeiten an, die sich in der zu die
sem Zeitpunkt bereits zehnjährigen Aufführungsgeschichte des Pierrot als
zentral herausgestellt hatten, sondern er gibt zugleich eine Art »Rezept«, wie
einige dieser Probleme zu lösen seien. An erster Stelle steht dabei natürlich wie
der die Forderung, daß der Rezitationspart nicht zu singen, sondern zu spre
chen ist. Weiter geht Schönberg auf das Problem des großen Umfangs der
Sprechstimme ein, der m it zweieinhalb Oktaven (es bis gis”) nicht nur den
Ambitus des Sprechens, der selbst in der hochdiffercnzierten Kunst der gestei
gerten Rede »nur« bei gut einer Oktave liegt4'5, um ein Vielfaches übertrifft,
sondern auch jede Berufssätigerin vor unüberwindbare Schwierigkeiten stel
len würde. Schönbergs »Rezept« zur Lösung d ieses!>..1........... 1......... ’n darin, den
notierten Umfang der Sprechstimrnenrnelodie m hen Stim m
umfang der Ausführenden gieichzusetzen und c .ervaii.e ent
sprechend proportional zu verkleinern.'1'' Was : zumindest
annähernd gewahrt bleibt, sind die für Sprachgestm unu -ausumck verant
wortlichen Intervallverhältnisse, wobei Schönberg Ungenauigkeiien bei der
Intonierung der irrationalen Intervalle ausdrücklich in Kauf nim m t. D ie ab
soluten Tonhöhen der Sprechstimm enmelodie dagegen haben bei Befolgung
dieser Anweisung keinerlei Geltung mehr, und es ist daher zu fragen, ob die
se Vernachlässigung des diastematischen Aspekts bereits bei der Konzeption
der SprechstijTime aus Schönbergs Melodramenzyklus eine Rolle gespielt hat.
Für die Klärung dieser Frage könnte eine systematische Untersuchung der
sprachmelodischen Behandlung jener Textentsprechungen innerhalb der drei
Strophen aufschlußreich sein, die den G edichten ihre unverwechselbare Struk
tur verleihen. Diese Textentsprechungen sind näm lich häufig mittels einer Art
musikalisierter Sprachgestik aufeinander bezogen, wobei jedoch nie die abso
luten Ib n h ö h en , sondern eher die Kontur der melodischen Linie eine Rolle zu
spielen scheint. Als Beispiel sei hier vor allem die Nr. 18 (»Der M ondfleck«)
angeführt, wo die N otation der Textzeile »[Einen weißen Fleck] des hellen
Mondes« in der M itte bzw. am Schluß deutlich erkennbar als transponierte
W iederholung bzw. als Umkehrung auf die Anfangsgestalt bezogen ist, ohne
daß es jedoch zu genauen Entsprechungen innerhalb der intervallischen oder
diastematischen Struktur käme48:
^ J
4 : ? :
1!)
-O y V
, 'i
v 1
des he! - le n iVion - des
den W ein,
Auf der anderen Seite läßt sich jedoch häufig auch ein ganz unmittelbarer, d. h,
auf den tatsächlichen 'Ibnhöhen beruhender diasrematiseber Bezug zwischen
48 Das Verfahren erinnert vielmehr an die in Schö nbe rg s späteren Zwö iftonw erk en realisierte
M et h o d e, die K o n t u r eines T h e m a s oder eines 'Motivs durch gezielte Oktavversetzungen einzelner
T ö n e auch in seiner U m k e h r u n g zu erhalten.
24 Ulrich K räm er
i T i ,i L j
K o ls -a r /i der W
49 Die Mö glichkeit, daß Sc hö nb er g m it dem Intervall der kleinen N o n e ganz bewußt a u f Kundrys
La ch en in Wagners Parsifal anspielt, könn te als ein weiteres Indiz für die Verbindlichkeit der k o m
ponierten l o n h ö h e n verstanden werden.
50 Vgl. etwa Ce rha , » Zu r Interpretation der Sp rechstimme«, S. 3 0 i\
Z ur Notavion der Sprechstim m e hei Sch önb erg 25
51 Vgl. oben, A n m . 3 7 .
52 Weitere auf diese Art notierte Steilen finden sich, bei »Das ist das Gesetz« (T. 1 0 0 3 ) , »Ahnst D u
nun Allm acht des Ge dan ken s über die W o r t e und Bilder?« ( 1 . 1 0 1 Ob), ». ..u m des Ge- l.ddnk.ens wil
len]« (T. 1 0 1 9 ) , »Du erschütterst micli [nicht!]« (T. 1 0 3 3 ) .
26 U lrich K räm er
53 O b die von Sc hö nbe rg in den Skizzen zu dieser Kom position verwendete diastematische N o t a
tion mi t den I: hm ipe rd in cks ch en No tenkreu zen tatsächlich auf einen W and el innerhalb der K o n
zeption hinweist, läßt sich aufg rund der geringen Zahl der Ent wür fe (vgl. Christian Ma rt in Sc hm id t
[H rsg.], A rn o ld Schönberg, C horw erke 11: K ritischer Bericht, Skizze)/, Fra gm en te \~ S äm tliche Werke,
unter d e m Pat ronat der Akademie der Künste, Berlin, hrsg. von Josef Rufer, Reihe B, Bd. 19 ], Mainz
und W i e n 1 9 7 7 , S. 1 0 4 - 1 1 0 ) nur schwer entscheiden, i m m e r hi n kö nn te die Verwendung eines Vor
zeichens innerhalb der Baisstimme (vgl. Skizze A 5, T. 3) als ein Hinweis darauf gewertet werden, daß
die gesprochenen Partien ursprünglich möglicherweise eine wesentlich stärkere l o n h ö h e n b i n d u n g
hatten als in der späteren Ausarbeitung, auch wenn die notierten 'l o n h ö h e n keine Ve rbindung zur
Reihenstruktur erkennen lassen.
54 Vgl. etwa T . 9 4 - 9 8 , 3 1 4 - 1 1 8 , 1 2 2 - 1 2 5 .
Z u r N o tatio n der Sprechstim m e bei Schönberg 27
denen Partie des Rabbis angelegt, und sie findet in der Fragmentierung der
M elodie in Einzelmotive und der dam it verbundenen Unabhängigkeit der
M otive vom Textvortrag (und umgekehrt) innerhalb des ersten Durchgangs
ihre formale Entsprechung.
Darüber hinaus hat Schönberg einen relativ großen Teil des Textes auch hin
sichtlich seiner sprach rhythmischen Gestaltung freigestellt. Dies betrifft vor
allem den nicht zur eigentlichen liturgischen Handlung gehörenden Text der
Einleitung.55 Ähnlich wie im frühen, vor-H um perdinckschen M elodram
erfolgt hier die Koordinierung von Text und M usik durch die taktweise Text
unterlegung, wobei bestim m te besonders betonte Textsilben am Anfang eines
'Faktes mittels Unterstreichung typographisch hervorgehoben sind und auf die
se Weise den entsprechenden metrischen Schwerpunkten innerhalb des Instru
mentalsatzes genau zugeordnet werden.
D ie um mehrere Hilfslinien erweiterte Einliniennotation mit konventionel
len Notenzeichen findet sich in den Rezitationspartien dreier W erke: der Ode
to Napoleon op. 4 1 (1 9 4 2 ), des Survivorfirom Warsaw op. 4 6 (1947) und des
als Fragment [unterlassenen Modernen Psalms op. 50 C (1 9 5 0 ), Schönbergs
letzter Kom position. Sie ist insofern diastematisch nicht eindeutig, als der in
allen drei Fällen vorgeschriebene Baßschlüssel lediglich als Hinweis auf eine
tiefe M ännerstim m e dient, ein Sachverhalt, dem im Survivor zusätzlich da
durch Ausdruck verliehen wird, das der Schlüssel hier vertikal durchgestrichen
ist. Die Einliniennotation ist für alle drei Stücke von Anfang bis Ende ver
bindlich, wird jedoch im Survivor einmal durch normales, d.h. weder rhyth
misch noch sprachrnelodisch festgelegtes Sprechen unterbrochen.y> Bei dieser
Art der N otation stellt sich die Frage der 'ibnhöhen- bzw. Intervaüverbind-
lichkeit in ganz besonderer Weise. Denn trotz der unmißverständlich inten
dierten diastematischen Uneindeutigkeit —die Linie markiert lediglich die min
lere Stimmlage, die Hilfslinien bestimmen jeweils den relativen Abstand eines
Sprechtons zu dieser M ittellage..bestellen systemimmanente Bezüge zur k on -
ventionellen N otation, bei denen zu fragen ist, inwieweit sie beabsichtigt und
durch den Ausführenden zur G eltung zu bringen sind. Diese Gem einsam kei
ten bestehen vor allem darin, daß sieb einerseits die Einliniennotation auf
grund der Hilfslinien und des Vorhandenseins von Akzidenrien. scheinbar
zwanglos auf das diatonisch-heptatonische Fünfliniensystem zurückführen läßt
..das einzige Problem bestünde aufgrund der Schlüssellosigkeit in der fehlen
den Festlegung der H albtonschritte.., und daß sich andererseits aufgrund des
Notenbild.es bei allen auf Hilfslinien notierten. Tönen —und das sind, die mei
sten .- Assoziationen zu den entsprechenden 'lonstufen des Fünfliniensystems
aussetzung der Äquidistanz nicht mehr besteht, da es sich bei dem Intervall
J. J bzw. J i ..... »J . . dann nicht mehr um eine kleine, sondern um
eine große Terz handeln würde. Überhaupt wären sämtliche Intervalle nicht
mehr aufgrund ihres Notenbildes intuitiv erfaßbar, sondern müßten jeweils
neu errechnet werden, wobei der einzige system im manente Vorteil darin
bestünde, daß die Intervalle jeweils eindeutig bestim m bar wären, da die
H albtonschritte ja —anders als in der konventionellen, heptatoniseben N ota
tion —nur mittels Akzidentien notiert werden können. Ausgehend von diesen
Überlegungen würden also folgende Intervallbeziehungen zwischen dem hep-
tatonischen und dem äquidistanten Notationssystem bestehen57:
Q u in te klein e S o u e
/'
i>*.
r r
ji«
<!.*?...
große Septim e
57 Üb erm äßi ge und ve rminderte sowie en h arm on isc h notierte Intervalle werden aus Platzgründen
nic ht herücksichtigt.
30 U lrich Kräm er
I j i,
w l i o s t r c w ’d o u r e ; m h w iih h o s - li le boncs
Auf der anderen Seite lassen sich jedoch auch Stellen anführen, an denen eine
äquidistante Interpretation sinnvoller erscheint als eine heptatonische, wie etwa
gleich beim ersten Einsatz der Sprechstimm e T. 26 zu den Worten »‘ Fis done«.
W ährend die erste Niederschrift hier die (im Violinschlüssel notierten) 'Ibn
höhen h ’- ä “~g ’v orgibt, lautet die Stelle in der Endfassung,
62 Dasselbe gilt für den auf ähnliche Weise ’/ u errechnenden »Oktavsprung« zu den W o r
ten. »death alone«, T. 81 .
32 U lrich K räm er
>Ohne Titei<
M arginalien zum Them a »Sprechgesang«
D ie alte Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Musik, die in der
O per so ausführlich und überaus fruchtbar unbeantwortet geblieben ist, stellt
sich im Falle gesprochener Sprache noch einmal ganz neu. Prima le parole dopo
la musica oder umgekehrt? Degradiert Sprache M usik zur Illustration oder
reduziert M usik eher die Sprache auf ihren bloßen W or xLauid. Bei dem Ver
such der W iener Schule, diese Beziehung neu zu definieren, steckt vielleicht
bereits im Ansatz ein M ißverständnis: anders als bei den M elodram en des 19.
Jahrhunderts, die den Text frei gesprochen ü b er..oder unter —die M usik leg
ten, nim m t Schönberg den Interpreten die Last der Freiheit und fixiert, um
den Ausdruck festzulegen, die Rhythm en und Tonhöhen des gesprochenen
Textes. Nun gibt es aber 1. einen oft großen Lagenunterschied zwischen den
Sprech- und Gesangs-Stim m en, vor allem bei den Frauenstimmen; 2. führt die
Befolgung dieser musikalischen Fixierung des Sprachausdrucks oft zu einer Ver
schiebung der Schwerpunkte: die Konzentration auf das M usikalisch-Techni
sche absorbiert meist das Nachdenken über den Text, musikalisiert die Spra
che bis zur Unkenntlichkeit. Schönberg war sich dieser Ciefa.hr wohl bewußt:
um sie zu vermeiden, ist im Vorwort zum Pierrot vorn Unterschied zwischen
Gesangston und. Sprechton, den es genau einzuhalten. gilt, di" --f-r
Gesangston hält die '1 onhöhe unabänderlich fest, der Sprech ton r
an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen sofort wieder.« I.
ständnis folgt ein. W iderspruch: dieses Fallen oder Steigen führt zu genau jener
»>singenden< Sprechweise«, vor der im nächsten Satz ausdrücklich, gewarnt wird,
und. die dennoch seither eine neue Konvention eines Wiener-Schule-Ausdrucks
begründet hat.
Natürlich, leitet sich, die >.Frfindung< Sprechgesang aus einer bestim mten,
historischen Rezitations-Tradition ab, wie man sie von Kainz oder Karl Kraus
etwa her kennt. (Hin und wieder kann man diesen farbigen und. bebildernden
Sprech ton bis heute hören.) Dazu mag man ästhetisch stehen, wie man will:
im M om ent, wo zur Sprache Musik hinzukom m t, verändern sich die K oor
dinaten. Schon beim. >alten< M elodram , wie etwa Enoch Arden von. Richard
Strauss besteht die Aufgabe und. Schwierigkeit für den. Rezitator darin, nicht
m it der Musik zu konkurrieren. Das >Musikalische< der Sprache, das neben
dem Klang der W orte wesentlich ein Rhythmisches ist, gefährdet oft ihren
Gegenstand. D er Rausch, in den uns die Schönheit einer Sprache versetzen
kann, benebelt leicht die Sinne. Fürs Gesprochene allgemein gilt, daß kaum
34 Perer H irsch
lisch-technische Parameter definieren kann, sondern nur über den Inhalt, und
also —h o ffen tlich .- immer neu definiert.
Natürlich soll das nicht heißen, diese Bem ühung um Inhalte wäre nicht auch
eine Frage des Klanges (oder des Ausdrucks). Schließlich ist gesprochene Spra
che weder ausdrucks- noch tonlos. (Ihr Tonhöhenanteil ist etwa dem einer
großen Holztrommel vergleichbar, die zwischen den M elodie- und den reinen
Geräusch-Instrum enten liegt.) D er Tonhöhenunterschied einer Oktave z.B .
ist beim reinen Sprechen genauso gut hörbar und nachprüfbar wie beim Sin
gen; er erscheint jedoch ganz anders: nämlich als viel geringerer Ausschlag.
Selbst bei einem als m onoton empfundenen Sprechen fern ab jeder singenden
Sprechweise wird dieser Um fang ohne weiteres erreicht. Beispiel Wozzeck:
M arie liest m der Bibel: »Und ist kein Betrug in seinem M unde erfunden wor
den.« D ie Tonhöhen-Relationen sind durchaus einzuhalten (und einhaltbar),
nicht aber das Register. W ie sollte Berg wissen, um wieviele Oktaven, eine oder
gar zwei, die Sprechweise einer zukünftigen M arie unter ihrer Singstim m e lie
gen würde; also notiert er im Violinschlüssel, im Register des Gesangs. Aber:
gesprochen Ist gesprochen] Fs geht um die Haltung einer Frau, die, lesend, einen
ihr fremden Text vor sich hin-buchstabiert. Übers langsame Verstehen der W or
te beim Entziffern der Buchstaben. Und zufällig sp ielen ..wie auf'entfernten
M onden und Planeten um sie herum - vereinzelte Streicherfragniente dazu.
Über diesen fragilen, besonderen iHanghrniet. sich vielleicht ein Ansatz für den
besonderen Ausdruck, um den es geht.
Bei einem anderen Versuch, der Sache nahe zu kom m en, in den Snielnn
W eisungen zur Glücklichen Hand, schreibt Schönberg: »in den Part
Frauen und sechs M änner sind die durch 'lo n h öh e und Rhyrhnu
ten Sprechmelodien zum Ausdruck zu bringen, i n d e m Rhythmei
mik. genau, die 'Ibnhöhen aber andeutungsweise gebracht wert:
unter »an d e u tu n g sw e ise « verstellt, wird zunächst nicht klar. O ff
je d o c h gleich das Besondere hier: chorisch.es Sprechen. Es h a n d e l t :
Chöre, zu Beginn und am .Ende, die in der Art eines griechische:
Handlung komm entieren. Das erste ist ein bis zu 6-stim m iger >FIüsterchor<,
in den vereinzelte, gesungene und gesprochene Partikel eingestreut sind. Zwi
schen »klangvoll...« und »tonlos geflüstert« bestellt wohl nur ein Intensitäts
unterschied, denn tatsächlich »tonlos« geflüstert gibt es nicht. D er T o n
höhenanteil des Flüsterns ist sogar deutlich, größer als der der Sprache. Um so
klarer müssen, die Unterschiede zum Sprechen und Singen sein. Übergangslo
se Brüche! Interessanterweise ist der Registerwechsel für die tiefen. M änner
stimmen natürlich umgekehrt wie sonst: ihr {'lüstern, wird viel höher sein als
die gesungenen Tiefen. Läßt man sich, auf diese Brüche ein und realisiert strikt:
die unterschiedlichen K langebenen ..samt der sieh, daraus ergebenden Regi
sterwechsel .., bricht der auf den ersten Blick kom pakt wirkende Satz auf, wird
licht und. transparent. Zudem verliert die strenge Rhythm ik, die im Chori-
schen ja unerläßlich ist, jede Gefahr eines »Martialischem. D er Klang dieser
zwölf Gesichter, von denen »man fast nur die Augen deutlich sieht«, ist merk
36 Peter H irsch
Nachdem das M elodram zur Zeit seiner Entstehung in den 70er und 80er Ja h
ren des 18. Jahrhunderts heftig umstritten gewesen war, im 19. Jahrhundert
aber nur mehr am Rande der artifiziellen Gattungen existierte, gewann es gegen
1900 erneut an Aktualität. Eine Kontroverse entzündete sich insbesondere an
der melodramatischen Fassung von Engelbert Humperdincks Königskinder aus
dem Jahre 1897, worin erstmals die Sprechstimm e auch tonhöhenm äßig fest
gelegt wurde, eine M aßnahm e, die für unser Jahrhundert von weitreichenden
Konsequenzen werden sollte. D aneben entstand um die Jahrhundertwende
eine wahre Flut frei rezitierter M elodram en, die von W erken m it Kunstan
spruch wie M ax von Schillings’ Hexenlied oder Richard Strauss’ Erioch Arden
bis hin zur äußersten 'IHvialität von Gelegenheitsstücken reichte.
Uber die Tatsache hinaus, daß die Titelfigur in Ferruccio Busonis Arlecchi
no als Sprechrolle konzipiert ist, sind Art und Umfang seiner Verwendung von
M elodram und Sprechstimm e bisher kaum beachtet w o rd en ..weder in der
Busoni-Forschung noch in der dem Melodram gewidmeten Literatur. Insbe
sondere in Busonis Opernschaffen ist die gesprochene Sprac
gesetzt, von erheblicher Bedeutung. Auch der G attung des K< ;
hat er sich zugewandt, allerdings nur ein einziges M a l..in eir
Dieses Konzertmelodram für eine Sprcchstimm e mit Klavt
stand nach Friedrich Schnapp und Ernst Hilmar in den 18 ;
trägt den 'Eitel Hine alte Geschichte in neue Reime gebracht i ;
unveröffentlichtes Autograph vor/’- Das G edicht, dessen Ai
nicht: bekannt war, stammt von Friedrich M artin von Bodenstedt, einem sei
nerzeit recht erfolgreichen Schriftsteller und Siavisten, Busoni entnahm es der
Gedichtsam m lung Die .Lieder des Mirza Schaffy, die auf’oriental ischem G edan
kengut: beruht und sich von der Erstauflage 1851 an im Rahmen der damali
gen Exotism us-M ode außerordentlicher Beliebtheit erfreute. D aß ihn gerade
dieses G edicht zu melodramatischer Vertonung reizen m ochte — ein anderes
der Sammlung hat er zu einem Lied g estaltet.., ist durchaus verständlich. Es
lautet folgendermaßen-5:
4 Ebenda, S. 121
M elodram und Sprechstim m e bei Ferru ccio Busoni 39
Änderungen von Ausdruck und D ynam ik lehnt sie sich an gängige M elo
dramtechniken an und steigert deren textverdoppelnde Attitüde ins Übertrie
ben--Parodistische. Das Lieben soll »dolce«, das wilde Füreinanderentbrennen
»molto agitato« vorgetragen werden, gehäufte Dissonanzen bringen die un
glücklich Liebenden um ihren Verstand, und über Tonmalereien des M on-
denscheins, Sterngefunkels und grausigen Waldesdunkels erreicht das M elo
dram mit pathetisch auftrumpfenden Akkorden sein Happy-End, worauf ein
kurzes, au f den Anfang verweisendes Nachspiel das rührselige Stück beschließt.
D a Busoni diese Jugendkom position m it keiner Opuszahl versah und sie unver
öffentlicht ließ, scheint er diese M elodram -Parodie nur als kleinen privaten
Scherz betrachtet zu haben.
Von größerem G ew icht ist die vielfältige Anwendung von M elodram und
Sprechstimm e innerhalb der O pern Die Brautwahl, Arlecchino und Turandot,
die zur Hauptsache in den 1 9 10er Jahren entstanden, in einer Zeit also, in wel
cher auch Kom ponisten der Neuen M u sik .- Arnold Schönberg und Alban Berg
zumal - sich mit M öglichkeiten der gesprochenen Sprache beschäftigten. Um
den Stellenwert dieser Techniken in Busonis Opernschaffen zu ergründen,
haben wir zum einen ihrer funktionalen Bedeutung im Gefüge der einzelnen
Werke nachzugehen und zum ändern auch seine Ästhetik zu berücksichtigen,
die sich, wie bekannt, gegen die Wagner-Nachfolge, den italienischen Veris
mus und den musikalischen Expressionismus gleichermaßen abgrenzte.
Seit früher Jugend trug sich Busoni mit zahlreichen O pernplänen, von denen
indessen nur wenige zur Ausführung g elangten ..außer den genannten noch
der als Hauptwerk intendierte Doktor Faust, in dem die Sprechstimm e mir zum
Schluß des Werkes, in dem von Philipp Jarnach für die Uraufführung vervoll
ständigten Ieil, eingesetzt wird. D er Erstling, Die Brautwahl, eine »musika
lisch-phantastische Komödie«, dessen Libretto Busoni nach der glcidinam i
gen Erzählung des von ihm hochverehrten E. T, A. Hofftnanii schricl
zwischen 1909 und 191.1 kom poniert und irn darauffolgenden Jahr
bürg uraufgeführt. Die musikalische Ausarbeitung des Arlecchino wus
191.4 in Berlin begonnen und. 1.916 in Zürich beendet, wo das Werk: 1 , , .....
dem berühmten Schauspieler Alexander Moissi in der Hauptrolle erstmals ge
geben wurde. Da dieser Einakter für die Zürcher Aufführung einer .Ergänzung
bedurfte, kom ponierte Busoni die zweiaktige O per 7 urandot, wobei er auf sei
ne gleichnamige Orchestersuite und die unter Max. Reinhardts Regie 191 1 ver
wendete Schauspielmusik zurückgriff. (M it dem Sujet hatte er sich schon seit
1904 befaßt.)
M elodram und Sprechstimme lassen, sich im H inblick auf ihren Einsatz in
den. genannten O pern nach je drei Funktionen gliedern. Das Melodram ver
wendet Busoni 1. zu parodistischeui Zweck (.Brautwahl, Arlecchino), 2. als M it
tel. dramatischer Steigerung ( Turandot), 3. im Sinne eines Rekurses auf ältere
Operntypen, zumal die opera buffa ( Turandot, Arlecchino). Die Sprechstimme
dagegen, dient 1. zur deutlichen Vermittlung der semantischen Ebene des Tex
tes, 2. als Mittel musikalischer Kom ik (Brautwahl) und 3. wiederum als Steh-
40 M on ika Schw arz-D anuser
In der 14. Szene des 3. Aktes der Brautwahl dient eine kurze melodramatische
Passage zu doppelt parodistischem Zweck. D er G eheim e Kanzleisekretär Thus-
m ann, ein schon ältlicher Junggeselle, gehört neben dem jungen M aler
Edmund und dem jüdischen M illionär Benjam in zu den Bewerbern, die um
die Hand Albertines, der Tochter des parvenühaften Kommissionsrates Vos-
winkei, anhalten, Als Thusm ann, dern Albertine fast: versprochen war, ein.se-
hen muß, daß ihre Zuneigung dem Künstler gilt und er von diesem, gar mit
einem, grünfarben.en Ölpinsel übel zuj....: " L~........ ’ 1 1.........i - - seinem
Leben ein Ende zu setzen. Die Szenenan l.aich< irn
Berliner '1 'iergarten. M ondschein m it zici von dro
hendem Charakter, ln der Entfernung 1 /.um Tor
hinausfabrenden Reise-Diligence auf dem Horn blasen gehöre. Thusm ann,
noch immer mit grünem Gesicht, liegt: unter einem Baum, anscheinend fas
sungslos.« Nach einer längeren Gesangspame, in der er sein Geschick beklagt,
schreitet Thusm ann zur Tat: mit den gesprochenen W orten: »Leben Sie wohl,
grausame Dem.oisel.le Albertine Voswinkel/Sie sehn Ihren Bräutigam niemals
wieder /Er springt sogleich dem ’ I ’homasio nach!«1’ D ie dazu, erklingende Musik
von sechs Takten Länge ist, entsprechend den drei ’lextphrasen, in drei paral
lel konstruierte D reitakter gegliedert. D er erste l a k t (ein 'Fakt nach Ziffer 1 9)
schafft durch clusterähnliche Sekundballungen der Hörner in der Oberlage
und chromatische Gänge der Baßklarinette (über dem von den Violoncelli
gehaltenen O rgelpunkt D) eine situationsadäquate Spannung, worauf im zwei
ten 'lak t auf einen durchgehaltenen., scharf dissonierenden Akkord von Violi
nen und Klarinetten sowie einem Paukenwirbel die W orte rezitiert werden.
5 Ebenda.
M elodram und Sprechstim m e bei Ferru ccio Busoni 41
(Die Sekundballungen vor der dritten Textphrase umfassen übrigens einen voll
ständigen diatonischen Cluster in D -D ur, der durch den chrom atischen Gang
gar zum Zwölftonfeld ergänzt wird.) D ie Auflösung der schreckerregenden D is
sonanzen in einen harmlosen D -D ur-A kkord zeigt indessen an, daß der Sui
zidversuch nicht tragisch endet —und in der Tat: nur allzu bereitwillig läßt sich
Thusm ann von dem unvermutet hinzutretenden Leonhard, der die weiße
Magie verkörpert, von seinem Vorhaben abbringen. D ie doppelt parodistische
Funktion des Melodrams beruht hier darauf, daß Thusm anns Selbstmordver
such so wenig ernst zu nehmen ist, wie er selbst als Person insgesamt, und daß
die melodramatische Technik gleichzeitig im Sinne einer Stilparodie auf die
deutsche rom antische O per verweist, in der Melodramen hauptsächlich dann
aufgeboten wurden, wenn sich die Stim m ung ins Unheim lich-Schauderhafte
verdüsterte.
Als weiteres Beispiel parodistischer Funktion wäre ein Melodram in Arlecchi
no zu nennen, das - im Unterschied zur eben besprochenen Passage — aus
drücklich als solches überschrieben ist. (Arlecchino ist denn auch, im Vergleich
zur durchkomponierten Brautwahl eine ausgeprägte Numm ernoper im Vor
feld des Neoklassizismus.) Die M elodram -'iechnik entspricht in den G rund
zügen der am vorigen Beispiel skizzierten, mit dem Unterschied allerdings, daß
hier die Parodie, statt auf die romantische Schauersphäre, sich, auf die H och-
zeits- und Verlobungsmelodramen bezieht, die damals als Gelegenheitsmusik
sehr beliebt waren.
Als Beispiel wähle ich die 7. Nummer des zweiten Aktes voi
Turandot im D uett nur Adel.ma, Um den Preis ihre;
venstand erklärt sich. Ä.d.elma bereit, Turandot den I
zen zu nennen, der die drei von ihr aufgegebenen liai.se............... u vennouitc.,
Adelmas Rede, stets im Dialog mit 'liirandots Gesangsp;. u aus von frei
gesprochenem Textvortrag über gehaltenen Akkorden. et in intensi
viertem Dialog fort zu knappen, nun gesungenen Deidamationsphrasen und
kulm iniert schließlich dort, wo sic um ihre Freiheit bittet, in ariosem Gesang.
An dieser Stelle fungiert das Melodram, somit, durch die gesprochene Sprache
als untere Stufe einer Skala, deren, obere Stufe der ariose Gesang bildet. In ähn
licher Weise, doch ungleich, differenzierter, hat beispielsweise Alban Berg cm
Kontinuum zwischen gesprochener Sprache und emphatischem Gesang aus
kom poniert. Busonis Anwendung dieser D isposition basiert allerdings auf-
anderen ästhetischen Voraussetzungen als die der W iener Sch ule: Turandot und
Arlecchino sind, geschrieben in bewußtem. Rückgriff auf die C om m edia dell’ar-
te und die Opera buffa, deren ästhetisch wesentlicher Spielcharakter von Buso
ni in zahlreichen M om enten der Desillusionierung aktualisiert wird. Dies führt
uns zum dritten Punkt.
42 M on ika Schw arz-D anuser
Sowohl Turandot als auch Arlecchino enthalten, nicht anders als Buffa und
Singspiel des 18. Jahrhunderts, zahlreiche gesprochene Abschnitte ohne
M usikuntermalung. In einigen Fällen — Busoni überschreibt die N um m ern
mit »Dialog« (in Arlecchino) oder »Intermezzo dialogato« (in Turandot) —wech
seln Textpassagen m it musikalischen Abschnitten so rasch m iteinander ab, daß
eine melodramatische W irkung entstellt. M it großer W ahrscheinlichkeit war
es dieser dritte Typus, der eine Rezensentin der Uraufführung zu folgendem
abwertenden Urteil veranlaßte: » ... sie [seil, die Musik] versucht sich in un
sangbaren Kom binationen, .Ensemblesätzen, Tuttis, sie geht unvermutet aus,
wie ein Licht: D ie Leute reden plötzlich, doch ja nicht so wies früher üblich
war«6.
D er Gebrauch der Sprechstimm e läßt sich, wie erwähnt, ebenfalls nach drei
Funktionen aufgliedern.
gen).11 Diese Partie ist insofern eine Reminiszenz an die Brauterscheinung selbst
(4. Szene des ersten Aktes), als Thusm anns Stim m e dort »unterdrückt und fast
wie gesprochen« klingen soll. Ähnlich derparodistischen Funktionen des M elo
drams in der Brautwahl, dient hier der Einsatz der Sprechstimme als M ittel
musikalischer Kom ik: sie ist vorwiegend der Partie des Thusm ann zugewiesen,
der als aufgeblasener Spießbürger die - der Sphäre des Phantastischen entge
gengesetzte —Ebene des Prosaischen verkörpert.
14 Ebenda, S. 2 7 f.
Juan Allende-Blin
Uber Sprechgesang
Auf Spurensuche
In den M emoiren von Salka Viertel (geb. Salome Steuerm ann), Das unbelehr
bare Herz, beschreibt: sie, wie ihr Bruder, der Pianist Eduard Steuermann, zu
Ü b er Sprechgesang 47
Schönberg kam und wie sie die Uraufführung des Pierrot lunaire erlebt hat. Sie
erzählt: »Mein zurückhaltender Bruder zögerte lange, bevor er dem Maestro
[Busoni] seine Kom position vorlegte. Busoni schien sehr beeindruckt und riet
ihm, die Berliner Akademie, an der Edward einen unbefriedigenden Lehrgang
über Kontrapunktik begonnen hatte, zu verlassen und bei Arnold Schönberg
zu studieren. D er damals unbekannte Schönberg - es war noch vor der Auf
führung der >Gurre-Lieder<' — war eben von W ien nach Berlin übergesiedelt
und wohnte in Zehlendorf, wo Edward ihn aufsuchte.
Edward kam von seinem Besuch bei Schönberg stark beeindruckt zurück.
D ie Beziehung zwischen M eister und Schüler verwandelte sich bald in eine
lebenslange Freundschaft. Edward wurde einer der ersten Schönberg-Inter-
preten und Vorkämpfer der modernen Musik.
Bald brachte die Post jeden M orgen ein Kuvert m it einem Blatt Notenpa
pier, auf dem die am heftigsten umstrittene M usik des Jahrhunderts niederge
schrieben war. Als wäre es ihm etwas ganz Vertrautes, setzte sich Edward ans
Klavier und spielte Schönbergs Vertonung von französischen G edichten mit
dem Titel >Pierrot lunaire<, die der D ichter H artleben ins Deutsche übersetzt
hatte. Nachdem er sie gespielt hatte, fuhr Edward zu einer reichen älteren
Dam e, Frau Albertine Zehrne, die um der Langeweile ihrer bürgerlichen Exi
stenz zu entkom m en, beschlossen hatte, sich in eine künstlerische Karriere zu
stürzen. Im Pierrotkostüm reiste sie durch Deutschland und rezitierte die ver
träumten, zarten Gedichte, jem and hatte ihr gesagt, daß eine musikalische
Untermalung die W irkung erhöhen würde, und so hatte sie sich mit Schön
berg in Verbindung gesetzt und ihn beauftragt, die M usik zu dem >Pierrot<-
Zyklus zu schreiben. W eil er dringend Geld brauchte, hatte er eingewiliigi,
.'. jedoch die völlige künstlerische Unterwerfung der Auftraggebern! verlangt.
; Frau Zehnte m ußte nicht nur seine M usik, sondern auch seine Interpretation
der Gedichte akzeptieren und. sich von Edward die komplizierten Rhythmen
■ und die stim m lichen Modulationen des Sprechparts Beibringen lassen. Sie war
nicht sehr musikalisch, und ich erinnere mich gut an .Edwards Verzweiflung.
Aber die Leidensfähigkeit der beiden schien unbegrenzt.«2
Am 28. Jänner .1912 schreibt Schönberg in seinem. Berliner'lagebuch: »Dage
gen Vorschlag, zu Frau Dr. Zehntes Vortragsabsichten einen Zyklus >Pierrot
lunaire< zu. komponieren. Stellt hohes H onorar (1 0 0 0 Mark) in Aussicht. Habe
Vorwort gelesen, G edichte angescliat.it, bin begeistert. Glänzende Idee, ganz in
meinem Sinn, W ürde das auch ohne H onorar machen wollen.«J
Schönberg notierte einige 'Lage später in seinem Berliner Tagebuch.: »Gestern,
12. März, schrieb ich das erste von. den >Pierrot lunaire<-Melodramen. Ich glau-
be es ist sehr gut geworden. Das gibt viele Anregungen, Und ich gehe unbe
dingt, das spüre ich, einem neuen Ausdruck entgegen. D ie Klänge werden hier
ein geradezu tierisch unm ittelbarer Ausdruck sinnlicher und seelischer Bewe
gungen. Fast als ob alles direkt übertragen wäre. Ich bin begierig, wie das wei
tergeht.«4
Salka Viertel beschreibt in ihrem Buch die Atmosphäre der Uraufführung:
»Die Interpretation des >Pierrot lunaire< verlangte bald nach einem Kam m er
orchester. Zu Edwards Klavier gesellten sich der junge Holländer Elans Kind-
ler m it dem Cello, ein Flötist und ein Klarinettist. Schönberg dirigierte. Da
die Flöte kahlköpfig war, flehte Frau Zehm e Schönberg an, niemand außer ihr
solle vom Publikum gesehen werden. Schönberg entwarf daraufhin ein ausge
klügeltes System von W andschirmen, welches die M usiker verbarg, Frau Z eh
me jedoch erlaubte, seinen Taktstock zu sehen.
Das Publikum begrüßte den Pierrot - in riesiger Halskrause unter dem ange
malten ängstlichen G esicht und kokett dargebotenen B e in e n ..mit unheilvol
lem M urm eln. Ich bewunderte es, wie Frau Zehm e ihre Nervosität beherrsch
te und ohne auf das Zischen und Buhrufe zu achten, mutig ein Gedicht: nach
dem anderen vortrug. Es gab natürlich auch fanatischen Beifall der jüngeren
Zuhörer, aber die Mehrheit: des Publikums war em pört. |..,] Fünfzig Jahre spä
ter schrieb Edward über diesen Abend: >Es ist nicht ungewöhnlich bei künst
lerischen Ereignissen wie diesem, daß die M enschen, konfrontiert m it dem
Neuen, gar nicht: erkennen, wie tief sie berührt wurden. D ie Kritiker waren
em pört, aber es ist: doch unglaublich, daß nicht ein einziger das Genie Schön
bergs erkannte.«“’
in der Zeitschrift Der Sturm. (11171 912) erschien ein. Artikel von Alfred D öb-
lin, in dem. er über dieses Ereignis berichtet: »Das Konzert, von Schönberg im
Choraiionsaal letzte W oche ist von einigen, der Mehrzahl der Berliner M usik
kritiker zu groben Exzessen der W itzlosigkeit benutzt worden. Und man kann
nicht sagen, daß die, die gar nicht schrieben, damit einen besseren W itz gemacht
haben. Die Herren, scheitern, eben an. der kleinsten Aufgabe. Sobald man. sie
zu einem selbständigen Urteil zwingt, versagen sie; was nicht im Trott der K on
servatoriumsliteratur liegt, die einige von ihnen sicher vorzüglich gelernt ha
ben, bleibt unverstanden. Subalterne Intelligenzen; mit der alleinigen Fähig
keit zur Pensionsberechtigung, j ... j Theoretisch ist diese M usik unangreifbar.
Bleibt Schönberg. Ich habe ihn zum erstenmal gehört. Hördauer vierzig M inu
ten, zu wundervollen Texten des Albert Giraud. Sie fesselt ungemein, diese
Musik; es sind Klänge, Bewegungen drin, wie ich sie noch nicht: gehört habe;
bei manchen. Liedern hatte ich den Eindruck, daß sie nur so kom poniert wer
den können.«
Und in derselben Num m er dieser Zeitschrift: kom m entiert Edgar Byk einen
Vortrag von Schönberg: »Selten hat jemand über das Wesen der G enialität T ie
4 Eb en da , S. 3 4 .
5 S. Viertel, a . a . O . , S. J 1 0 / 1 1 1 .
(j b e r S p rech ges a n g 49
feres geäußert, niemand die G enialität Gustav Mahlers stärker geäußert und
daher auch Besseres darüber gesagt, als der Kom ponist Arnold Schönberg in
seinem Vortrag über Gustav Mahler, gehalten am Sonntag, den 18. O ktober
1912 zu Berlin.«
I. T e il.
~""Si
Uu
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aus dem fahre 1916. Schreyer führte von 1918 bis 1923 folgende Werke au f
in denen er diese le c h n ik benutzte: Sancta Susanna, Die Haidebraut und Kräf
te von August Stram m ; Der Tod des Ernpedokles (II. Fassung) von Hölderlin;
Sünde von Herwarth Waiden; ein Krippenspiel nach einem Text von 1589 und
Kindsterben, Mann, Kreuzigung und Mondspiel mich eigenen Texten, die im
Sturm erschienen waren.
»Das >Klangsprechen<« —schreibt Lothar Schreyer —»unterscheidet sich vorn
Ton der Umgangssprache und vom 'Fon des gesungenen W ortes. D ie M ittel-
läge des Tons entspricht jeweils dem G rundton des Schauspielers, der die W ort
tongestalt ausführt. In dieser M ittellage bildet der Schauspieler jeweils die ihm
entsprechenden Tonhöhen: hoch, sehr hoch, tief, sehr tief. Dazu kom m t noch
ein >stirnmloser< 'Fon, in dem gleichsam der Klang ausgelöscht ist, ein Nichts,
aus dem aber auch der Klang sich erhebt. D er Klang kann die verschiedenen
Tonstärken sehr leise, leise, mittelstark, stark, sehr stark haben und ist hierin
der musikalischen Form am nächsten als pp, p, mf, f, ff. Musikalisch ist das
Klangsprechen dem Rezitativ verwandt, wenn dieses ebenfalls auf dem G rund
ton beruht. D ie gegebene W orttongestalt bindet den Schauspieler in ähnlicher
Weise wie den ausübenden Musiker.«6
Alle Begriffe der Bühnenkunst wurden von Schreycr neu definiert und neu
geformt. Das reine Elem ent (Farbe, Form, 'Ion , Bewegung) erstand mit einem
neuen Sinn. D er Begriff der Reihe hat bei Schreyer im |ahre 191 5 eine weiter
reichende, Vieles umfassende Bedeutung als er jemals bei Schönberg gehabt
hat.
Die Bühne wird nun kaum noch als Guckkasten benutzt. Der Mensch ver
schwindet unter einer überlebensgroßen Ganzmaske. Das Bühnenbild, die
Beleuchtung und die Masken sind eine Einheit geworden, denn das B ühnen
bild ist die Ganzmaske, und die Masken mit der Beleuchtung bilden die Färb-
formgestalt. D ie Stim m en der Figuren werden ähnlich der Farbformbewegung
behandelt. Sie sind genau vorn D ichter fixiert: der Rhythm us, die 1
die Lautstärke. Lothar Schreyer notierte so die vollständigen Bühriei
ge in Paititurforrn, die er Spielgang nannte.
Im Spielgang zum Bühnenwerk Kreuzigung legt er die Grundbegriffe seiner
N otation dar.
*
Wenn wir den Begriff ».Melodram«, den Schönberg selbst benutzt, historisch
verfolgen, so werden wir bei Georg Bencla ( 1 7 2 2 - 1 7 9 5 ) wahrscheinlich die
ersten Beispiele finden, seine Ariadne auf 'Naxos und seine Medea. Jean-Jacques
Rousseau definierte in seinem Dictionna.ire de Musique ( 1764) einige. Begriffe,
welche Sprechen und Singen betreffen. So zum Beispiel »Accent«. Darüber
schreibt er: »On appeile ainsi, selon Pacception la plus generale, toute modifi-
cation de la voix parlante, dans la duree ou dans le ton des syllabes & des mots
dont le discours est cornpose; ce qui montre un rapport tres exact entre les deux
usages des accens & les deux parties de la melodie, savoir le rhythme & l’into-
nation. Accent,us, dit le Gram m airien Sergius dans D onat, quasi ad, cantus. II y
a autant d 'accens differents qu’il y a de rnanieres de modifler ainsi la v o ix ; & il
y a autant de genres d’accens quil y a de causes generales de ces modifications.«
Über den B egriff »Recitatif« heißt es bei Rousseau: »Discours recke d’un ton
musical & harmonieux. C ’est une maniere de chant qui approche beaucoup
de la parole, une declamation en M usique, dans laquelle le M usicien doit im i-
ter, autant q u il est possible, les inflexions de voix du Declamateur.«
D ie M elodram en des X V III. Jahrhunderts sind meistens für die Bühne
bestim m t und werden von einem Orchester begleitet.
Franz Schubert in seinem M elodram Abschied von der Erde (1 8 2 5 ) scheint
der erste zu sein, der den Rhythm us der Verse in Koordination m it der Kla
vierbegleitung genau vorschreibt:
Jrflll.l fri.-'.lt-'vi
Mfdju.6 oon öu h )
( h v i
J f 1) ' 1 ji
n <M 1!' ) M (,1S liÜ
i'P —
) l 1 * lU < r - -nij.li' ,r i i i i i i i i i i l l l i i i i i i l llillliif lS l
i 1 K ' 1 U i1 ■
i • ■'.....•v'/j'uff l i i i l l i l i i l
D ie Melodramen von Schum ann und Liszt für eine Rezitationsstimm e und
Klavier enthalten keine näheren Angaben für den Vortrag der Gedichte. Auch
Beethoven und W eber in deren O pern Fidelio und Freischütz schreiben nicht
den Rhythm us des Textes vor, geschweige denn die lonhöhen.
U b er Sprechgesang 53
Claude Debussy hinterließ auch M elodram en, die Musique de scenepour les
Chansons de Bilitis für Rezitantin, 2 Flöten, 2 H arfen und Celesta nach Prosa
texten von Pierre Louys. Sie wurden als »tableaux vivants« 1901 in Paris urauf-
gefuhrt —also mit vergleichbaren theatralischen Effekten, wie sie auch bei der
Uraufführung des Pierrot lunaire durch Albertine Zehme und Arnold Schön-
berg angewandt wurden, Debussy führt auch in Le Martyre de Saint-Sebastien
und in La Chute de la Maison Usher melodramatische Partien ein.
Arnold Schönberg und Lothar Schreyer schufen eine Rezitationskunst zwi
schen Sprechen und Singen, die sie m it einer subtilen Präzision notierten. Von
der M usik her kam die Tradition der M elodramen, vom Schauspiel her kam
die Tradition der Rezitation. Beide Vortragsarten haben sicherlich den gleichen
Ursprung. Sprechgesang und Klangsprechen: bei Schönberg, der eine Sprech
melodie anstrebte, der M usik näher — bei Schreyer, der D ichter und D ram a
turg war und der eine nach musikalischen Gesichtspunkten durchorganisier
te Sprache anstrebte, dem Sprechen näher.
*
Aber es gab noch eine dritte Art des Sprechgesangs. Emil Frantisek Burian
erfand sie M itte der Zwanziger Jahre. Er war Kom ponist, Pianist, Dirigent,
Sänger, Schauspieler, Theaterregisseur und politisch engagierter Schriftsteller.
Geboren wurde er 1904 in eine berühmte Prager Künstlerfamilie: der Vater
war der Bariton Em il Burian, seine M utter war eine Sopranistin, die auch als
Pädagogin hoch geschätzt war; sein Onkel Karel Burian war ein Heldentenor
von internationalem Format, der an der M etropolitan Opera in. New York auf
trat (wo er 1913 den Tristan unter Arturo Toscanini sang), ebenso wie an den
Opernhäusern in Prag, Budapest, Dresden, Bayreuth (wo i i I i ' n\ / /
oder W ien. Karel. Burian besaß außerdem, eine enorme
genoß einen guten Ruf als Übersetzer sowohl aus dem .
chi.sc.he als auch umgekehrt. Dam itwar sicherlich eine wo
mationskunst verbunden, wie immer wieder hervorgehol
sen Einflüssen wuchs Em il Frantisek. Burian auf.
M itte der Zwanziger Jahre erfand Burian die »voice-band«. So nannte er in
Anlehnung an »Jazz-band.« einen chorischen Sprechgesang m it dissonanten
und. manchmal sogar ultrachromatischen Intervallen; auch Geräusche, welche
die Stim m e erzeugen kann, wurden, in diese Werke integriert. Dieser Sprech
gesang hatte seinen. Ursprung in der Deklam ationskunst, so wie er sie von sei
nem O nkel Karel Burian kannte, und in der Stirnm technik, die er von seiner
M utter erlernt hatte. Darüber hinaus benutzte Burian die neuen, phonologi-
schen Erkenntnisse des Linguisten Roman Jakobson, der zu der Zeit in Prag
lebte, sowie ebenfalls die Erfahrungen der futuristischen und dadaistischen
Rezitationskunst,
1927 kom ponierte Burian ein Jazz-Requiem iüt »voice-band«, Sopran, Baß,
Klavier, Harm onium , Saxophon und Schlagzeug. Dieses und viele andere Wer
ke von Burian zerstörten die Nazis, welche die Tschechoslowakei besetzt hat
54 Juan AUende-Blin
ten, im Jahre 1941 vor den Augen des Kom ponisten. Danach internierten sie
ihn im Konzentrationslager Neuengamme. D ort blieb er bis 1 945. Außer der
enormen körperlichen Arbeit, die er im K Z verrichten mußte, zwangen ihn
seine Bewacher einmal, eine kleine Musikkapelle zu dirigieren, während, ein
Kamerad unter den Blicken der Lagerinsassen aufgehängt wurde. Burian über
lebte die grausamen Dem ütigungen und Folterungen des Konzentrationsla
gers und den anschließenden Mordversuch durch die SS-Leute, als sie die Ü ber
lebenden in fahruntüchtige Schiffe verluden, die dann bombardiert wurden.
Für immer durch diese Erfahrung geprägt, versuchte Burian seine früheren
vielfältigen Aktivitäten wieder aufzunehmen. Seine schöpferische Energie ver
ließ ihn nicht, er leitete sein Theater, kom ponierte, gab noch. Konzerte; aber
er war nicht mehr der fröhliche, lachende junge M ann. D ie zahlreichen E n t
täuschungen und physischen Q ualen hatten ihn gezeichnet. 1959 starb er in
Prag im Alter von 55 Jahren.
Von seiner »voice-band« blieb nur eine Aufnahme eines kurzen Stückes Nas
taticek.
Aber in einem Aufsatz des Jahres 1928 beschreibt Burian seine »voice-band«:
»M it der Voice-band haben wir uns ein neues Fach der musikalischen For
schung geschaffen. Das Vibrieren der Stim m lippen, der natürlichen B eto
nungen der Sprache, die Bewegungen der Sätze, der Rhythmus der Form haben
unsere normale Tonalität um ein tonales Absolutum erweitert, das vom Ganz
ton bis zum Sechzehntelton reicht und wie alles, was eben erst geboren wur
de, seiner gesetzlichen Bestim m ung harrt. Vorläufig ist die Voice-band, trotz
einer beträchtlich gereiften Entwicklung, bloß ein Spiel der Klänge und. des
freien W illens des Autors.
Die N otenschrift der Voice-band m ußte sofort kommen, als mir klar wur
de, daß die Mitglieder, die der kleinsten. Vibration meinet Hand gehorchen,
m it m it einen formeilen Standard bildeten, der bis in die Kleinigkeiten fest
gelegt war, sobald wir uns über seine Definitivität einig waten, ich war übet
die Fähigkeiten des menschlichen. Gehörs überrascht..und ich betone: nicht
eines trainierten menschlichen G e h ö rs.., als es mir gelang, meine Mitglieder
ohne Tonangabe (wenn ich diesen Ausdruck in Zusamm enhang m it der Voi-
ce-band gebrauchen darf) durch eine Stimmgabel oder ein anderes Instrument,
ja sogar ohne besonderes Übereinkom m en eine Komposition immer in der
gleichen Tonhöhe und im gleichen Umfang ausführen zu lassen, wie ich es bei
den Proben bestim m t hatte. Dies ging sogar noch weiter. Im G edicht DieZwölf
von [AleksandrJ Blok ist es mir gelungen, mit ihnen eine ungefähr 20 Takte
lange Sequenz in großen Septimen durchzuhalten, die sie nicht bloß im m er in
der gleichen absoluten 'lon höh e, sondern auch m it der G enauigkeit eines
Instrumentes durchführten.«7
7 H. l'T, Burian, »Voiceband - nova ronalita«, in: lem p o 7, 1 9 2 8 auch au! deutsch: »Voice-band«,
in: D e r A ufta k t 1 9 2 8 , Heft 5 / 6 , S. H 3 / 1 14.
Ü b er Sprecbgesang 55
nachtrillert —und was ists doch für ein Ungeheuer, eine menschliche N ach ti
gall in einer H öhle oder im Walde der Jagd?«12
Ähnliche Gedanken finden wir in dem Ira k ta t Von der Musikalischen Poesie
von Krause, der 1753 in Berlin bei Johann Friedrich Voß erschien. Laut M ar-
purg handelt es sich um den Kom ponisten Christian G ottfried Krause ( 1 7 1 9 -
1 770). Dieses Buch beginnt m it einem Kapitel »Von der ehemaligen und jet
zigen Verbindung der Poesie m it der Tonkunst«, in dem folgendes zu lesen ist:
»Dasjenige, was wir jetzo M usik nennen, nemlich die Verfertigung und A u f
führung musikalischer Stücke; die ganze Poesie; die Tanzkunst; die Kunst der
Geberden; die, nach welcher man die Aussprache einer Rede in N oten auf
schrieb, und ihr solchergestalt den angenehmsten und nachdrücklichsten
W ohlklang gab, weswegen diese D eclam ation auch ein Gesang genannt wur
de; alles dis begriffen die Alten unter den Nahmen der M usik.«13
D ann untersucht Krause die Tragödie und die Poesie der Griechen. »Nach
Erfindung der Buchstaben, hatte man zwar des Singens bey den G edichten
nicht mehr so nöthig als vorhin. W eil aber doch die ganze Poesie von dem Sin
gen herkam, und man auch in den geredeten Versen so viel W ohlklang ver
langte, als nur möglich war, so wurden in den öffentlichen Spielen und sonst,
die G edichte so wohlklingend als seyn konnte, hergesagt, oder vielmehr, so wie
ich oben erwehnet, nach gewissen M elodien abgesungen, die einem Gesänge
nach unsern Begriffen mehr oder weniger beykamen, nachdem die Poesie
lyrisch oder in einer ändern Schreibart abgefasset war. Was also die von T h es-
pis und Aeschilus zwischen den Chören gestellten Personen vortrugen, das
sprachen sie auch, weil es in Versen war, mit einem W ohlklangc aus, der einem
Gesänge sehr ähnlich war. D ieß ist tun so viel wahrscheinlicher, da selbst nach
Einführung der hohen Schreibart, und bey der höchr.....w" m........im enheit des
'Irauerspiels, alles mit einem wenigstens halben Gesa ret wurde.«1'1
W ir pflegen solche alten Traktate zu belächeln, w blich zu w is
senschaftlicheren Erkenntnissen gelangt: sind, die sich, leider später als falsch
erweisen, Aber die scheinbar naiven Texte aus früheren. Jahrhunderten bergen
vergessene Überlieferungen, die, wenn man sie vorurteilsfrei liest, erstaunliche
Wahrheiten enthal ten. So hier bei Krause, wenn er von einer Vortragsart berich
tet, die »mit einem wenigstens halben. Gesänge declamiret wurde.« Sind wir da
nicht in der Nähe des »Sprechgesangs« und. des »Klangsprechens«?
Es ist spannend, was Krause uns noch m itteilt: »Diese D eclam ation hatte
einen ordentlichen 'lackt, den einer bald geschwind, bald langsam schlug, wie
es die vorkommenden Sachen und Affecte verlangten; ein anderer bließ auf
einer Flöte dazu, um den Acteur im Tone zu halten; noch ein anderer unter
stützte diesen Gesang mit einem gelinden Baßinstrum ent, und die ganze D ecla
m ation war in einer Art von N oten vorgeschrieben. Aristoteles wirft den Schau-
S p ie l e r n seiner Zeit vor, daß sie zuweilen am U nrechten O rte getrillert hätten;
welches sich in einer bloßen Rede nicht wohl thun läßt. Und eben dieser Kunst
lichter sagt, daß die Noten zu den M onologen, nicht vom Poeten, sondern von
einem eigentlichen Tonkünstler gesetzet worden. In diesen Stellen eines thea
tralischen Stückes kom m t die Sprache den Affecten vor, wobey die M usik sich
am stärksten zeigen kann.«1'’
*
Arnold Schönberg kam auf Einladung von Ernst von Wolzogen M itte D e
zember 1901 nach Berlin, um als Kapellmeister an dessen » Buntem Theater«,
das man eher unter dem Namen »Überbrettl« kennt, zu wirken. In Berlin blieb
Schönberg bis fuli 1903. Im Herbst 1911 erschien ein Aufruf in der Z eit
schrift Pan, unterschrieben von Ferruccio Busoni, Alfred Kerr, Artur Schna
bel, Oskar Fried und Edward Clark, der zur Teilnahm e an Kursen Schönbergs
über Ästhetik und Komposition im Sternschen Konservatorium aufforderte.
So kam Arnold Schönberg ein zweites M al nach Berlin, wo er bis zum Som
mer 1915 blieb. In dieser Zeit war er also Dozent am Sternschen Konserva
torium, und dort entstand auf Anregung von Albertine Zehme der Pierrot
lunaire.
Die Klavierstücke op. 19, die Schönberg 1911 kom poniert hatte, waren am
4. Februar 1 91 2 in einer Matinee, nur mit Schönbergs Werken im H arm o
nium-Saal (Steglitzer Straße 35) von. dem ßusoiii-Schüler .Louis Closson. tirauf ■
gefühlt worden. Weniger bekannt, aber aufregenc ich eine Aufführung,
die ein paar M onate später stattfand. Am 3. A selben Jahres spielte
Eduard Steuermann diese sechs Stücke im 9. Aben. «pathetischen Caba-
rets zwischen Rezitationen von unveröffentlichten Gedichten und Briefen H ö l
derlins, einer Gedenkrede von G olo Gangs auf Georg H.eyrn, der am 16. Ja
nuar im Wannsee ertrunken war, und. der Rezitation einiger von dessen
Gedichten sowie auch anderer von Jakob van Hocldis. Außerdem wurden Tex
te von M artin Buber (Glei.ch.nis des Tschung-Tse), Stanislaw Przybyszewski,
Ferdinand Hardekopf und M ynona vorgetragen. Selten begegneten sich in so
konzentrierter Weise eng verwandte zeitgenössische Sensibilitäten der Poesie
und der M usik in einer Konstellation, die wahrscheinlich damals nicht in ihrer
Bedeutung gewürdigt wurde.
Herwarth Waiden eröffnete im M ärz 1912 die erste Ausstellung des Sturm
in den Räumen, an der Tiergartenstraße 3 4 a ; dort wurden Bilder von den
M alern des »Blauen Reiters«, von Franz Flaum und von Oskar Kokoschka
gezeigt. Im April wurden Werke der italienischen Futuristen ausgestellt.
Ü b er Sprechgesang 59
Schönberg muß viel mehr von Berlin wahrgenommen haben, als wir bis jetzt
vermuten. Aber seine präzise Denkweise absorbierte nicht kritiklos die Ein
flüsse seiner Umwelt, sondern verwandelte sie in seiner tief verwurzelten Per
sönlichkeit zu seinem unverwechselbaren Eigentum.
*
Betrachten wir einige Dichter, die zur selben Zeit in Berlin wirkten und sich
bem ühten, ihren Werken eine präzise Klanggestaltung zu verleihen. Es sind
außer Lothar Schreyer R ud olf Blüm ner und Raoul Hausmann.
Eine wichtige Persönlichkeit, die heute fast vergessen ist, aber zu Beginn des
X X . fahrhunderts in Berlin eine große Bedeutung hatte, war Rudolf: Blümner.
Er war der bedeutendste Rezitator der expressionistischen D ichtung. W ie so
viele Berliner war er nicht dort, sondern in Breslau geboren, im Jahre 1873.
Er, der Sohn eines berühmten Altertumsforschers, war Schauspieler, D ram a
turg, Regisseur und Dichter. 1906 schrieb er einen grundlegenden Aufsatz mit
dem 'Eitel »Tonfall, Musik und Sprache«, der in Berlin erschien. Liier unter
sucht er, wie man eine »Rede melodisieren« sollte. Es handelt sich um die detail
lierteste Untersuchung des Klanges beim Sprechen.
Blüm ner stellt in diesem Aufsatz folgenden Grundgedanken auf: »Die fei
nen psychologischen Nuancen des Sprachtonfalles kann die Gesangsmelodie
nicht wiedergeben, die rein ästhetischen W irkungen der Gesangsmelodie aber
kann der Sprachtonfall nicht erreichen.«18
Und er beobachtet sehr genau die Inflexionen des Sprechens: »Daß die Rede
eines M enschen in. T ö n en auf- und. absteigt, in Zehntelstönen oft, oft in ein
bis zwei Oktaven, daß das schlichteste, sogar einsilbige Won: oft in einer Ion-
folge zum Ausdruck gelangt, die bei. genauer Betrachtung das Staunen des .Spre
chenden erregen würde, führt sich kaum einer zürn Bewußtsein. Und doch ist
wiederum niemand ohne Gefühl fth li Spi hm lotlie.«1'1
ln einem .Artikel über den Schau.' iz schreibt er 1.909: »Aber
der Schauspieler, dessen Aufgabe es ist, aus cier dprech-Vertonung ein Kunst
werk zu bilden, weiß oder sollte wissen, daß auch er die reichste .Auswahl hat.
(Also nicht seinem üblichen Kollegen, dem Sänger, sondern dem Kom poni
sten zu vergleichen ist.)«20
Im selben Aufsatz heißt es noch präziser: »Und. die M elodie des Sprechens
schließt jede I larm onie aus wegen eines M ankos, das gesteigert wird durch
einen, ihr eigenen Reichtum an Tonfeinheiten, die weit hinaus über H albie
rungen bis zur unendlichen ’J bnverteilung reichen, und eine unbegrenzte H äu
fung und. Spaltung auf einer einzigen Silbe gestatten.«21
18 l)r. Rudolf'Blümn.cr, »IbnlalK Musik und Sprache«, in: Preußische Jahrbücher, 1 2 3 . Band , Heil
2 , Berlin 1 9 0 6 , S. 2 7 5 .
19 Eb end a, S. 2 7 6 / 2 7 7 .
20 D as Theater, Jg. 1, Son derheit Kainz, Sehriftleitung: Her wa rth Wai den , Berlin, O k t o b e r 1 9 0 9 ,
S. 2 0 .
21 Ebenda, S, 2 1 .
60 Juan Allcnde-Blin
Kur t Schwitters, der Autor der Sonate in Urlauten, hat bei R ud olf Blüm ner
Sprechunterricht genommen. Blüm ner war Freund von August Stram m , von
Lothar Schreyer, von Herwarth Waiden, Oskar Kokoschka und so vielen ande
ren Künstlern seiner Generation.
Sowohl die Sonate in Urlauten von Schwitters wie Ango laina — absolute
D ichtung von Rudolf Blüm ner - verlangen nach einer Musikalisierung der
Sprache. D ie Rezitationsweise, wie sie uns von den Aufnahmen durch Schw it
ters dokum entiert ist, zeigt, daß sie in der Nähe eines Sprechgesangs angesie
delt war. Ähnlich geschieht es m it der zaum’-D ichtung der russischen Poeten
wie Velimir Chlebnikov, Aleksej Krucenych und Aleksandr Tufanov.
R ud olf Blümner, der m it einer Jüdin verheiratet war, überlebte in Berlin das
III. Reich, aber er verhungerte 1945.
Ein anderer Dichter, der auch M aler war, und der damals in Berlin m it Pau
ken und Trompeten agitierte, war Raoul Hausmann. Er schrieb und rezitierte
phonetische G edichte wie das berühm te fmsbivt aus dem Jahre 1918, das 1921
zur IJrzelle der Sonate in Urlauten von Kurt Schwitters werden sollte. D ie Auf
nahmen von Hausmann lassen uns eine Skala von Klangelementen erkennen,
welche auch Geräusche einbeziehen.
*
Das Umfeld vom Sprechgesang ist vielfältig. Die Partituren von Lothar Schrey
er sowie natürlich der Pierrot lunaire von Arnold Schönberg bleiben Werke,
die so notiert wurden, daß wir sie heute mit der angemessenen 'Freue, die wir
jeder anderen überlieferten Partitur schuldig sind, atiftühren können.
Zum Schluß m öchte ich Arnold Schönberg zitieren, der seine Einstellung
zum Komponieren sehr deutlich ausgcdrückt hat: »Ich habe in meinem Leben
nie eine Theorie gehabt. Ich habe einen musikalischen Gedanken für eine K om
position, ich versuche daraus eine bestimmte logische und schöne Vorstellung
zu entwickeln und sie in eine Art M usik zu fassen, die natürlich und zwingend
aus mir fließt.
Ich schreibe, was ich in meinem Fletzen fü h le .. und was schließlich aufs
Papier kom m t, ist zuvor durch jede Fiber meines Körpers gegangen.«
Und Schönberg präzisiert diesen Gedanken: »Es ist nicht das Herz allein, das
alles das hervorbringt, was schön, gefühlvoll, pathetisch, leidenschaftlich und
bezaubernd ist; noch ist es der Verstand allein, der das W ohlkonstruierte, das
Logische und das Komplizierte zu schaffen vermag. Erstens, weil alles, was in
der Kunst höchsten W ert besitzt, sowohl Herz als auch Verstand zeigen muß.
Zweitens, weil der wahrhaft schöpferische Genius bei der Kontrolle seiner
Gefühle durch den Geist keine Schwierigkeiten kennt; und weil der auf G e
nauigkeit und Logik ausgerichtete Verstand durchaus nicht nur Trockenes und
Unansehnliches hervorbringen muß. Aber man kann gegen die Aufrichtigkeit
solcher Werke argwöhnisch werden, die ihr Herz offenbaren, die an unser M it
Ü b er Sprechgesang 61
leid appellieren, uns einladen, m it ihnen von unbestim m ter und vager Sch ön
heit und von unbegründeten und grundlosen Gefühlen zu träumen; die aus
Mangel an vernünftigen M aßen übertreiben; deren Süße eine künstliche ist,
und deren Reiz nur die O berfläche des O berflächlichen erreicht. Solche Pro
dukte beweisen nur den absoluten M angel an Verstand und zeigen, daß diese
Sentim entalität nur einem sehr armen Herzen entspringt.«22
Januar 2001
22 Zitiert aus: josef: Rufer, »Scliönberg in seinen Skizzenhüchern und Briefen. Eine D o k u m e n t a
tion«, Sendem anusk ript für den N D R 1 9 6 5 .
Friedrich Cerha
Seit der Uraufführung, bei der Albertine Zehme, die Schönberg zur Kom po
sition des Pierrot angeregt hat und der das W erk auch gewidmet ist, den Sprech
gesangspart ausgeführt hat, ist die Diskussion um dessen Interpretation nicht
mehr verstummt. Erlauben Sie mir, für das hier doch auch vertretene, nicht
ausgesprochene Fachpublikum den W ortlaut des Schönbergschen Vorworts zu
Pierrot lunaire in Erinnerung zu bringen:
»Die in der Sprechstimme durch Noten angegebene M elodie ist (bis auf ein
zelne, besonders bezeichnete Ausnahmen) nicht zum Singen bestim m t. D er
Ausführende hat die Aufgabe, sie unter guter Berücksichtigung der vorge
zeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie umzu/wandeln. Das geschieht,
indem er
I. den Rhythmus haarscharf so einhält, als ob er sänge, d.h. m it nicht mehr
Freiheit, als er sich bei einer Gesangsmelodie gestatten dürfte;
II. sich des Unterschiedes 'zwischen Gesangston und Sprechton genau bewußt
wird: der Gesangston hält die Tonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton
gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen sofort wieder.
D er Ausführende muß sich aber sehr davor hüten, in eine >singende< Sprech
weise zu verfallen. Das ist absolut nicht gemeint. Hs wird, zwar keineswegs
ein. realistisch-natürliches Sprechen angestrebt. Im Gegenteil, der Unter
schied zwischen gewöhnlichem und einem Sprechen, das in. einer musika
lischen Form m.itwirkt, soll deutlich werden. Aber es darf auch nie an Gesang
erinnern.
im übrigen sei über die Ausführung folgendes gesagt:
Niemals haben die Ausführenden hier die Aufgabe, aus dem Sinn der W or
te die Stim m ung und den Charakter der einzelnen Stücke zu. gestalten, son
dern stets lediglich aus der Musik. Soweit dem. Autor die tonmalerische D ar
stellung der im Text gegebenen Vorgänge und Gefühle wichtig war, findet sie
sich ohnedies in der Musik. Wo der Ausführende sie vermißt, verzich te er dar
auf, etwas zu geben, was der Autor nicht gewollt hat. Er würde hier nicht geben,
so n de rn n eh rn e n .«
Scheinen diese Anweisungen auch vieles klar zu sagen, so haben sie, vor allem
im Zusammenhang m it Kom m entaren in Briefen, m it praktischen, noch heu
te nachprüfbaren Erfahrungen und m it zum Teil widersprüchlichen Aus
führungen aus Schönbergs Freundes- und Schülerkreis Unsicherheit nicht aus
zuschließen vermocht, und etliches hat eher zur Verwirrung als zur Klärung
der Probleme beigetragen.
Z ur Interpretation der Sprechstim m e in Schönbergs P ierro t lu m m e 63
Das eben erwähnte Q uellenm aterial spielt in der Diskussion um die Aus
führung des Sprechgesangsparts verständlicherweise eine Rolle und es wird
im m er w ieder zitiert. Da sich aber aus ihm bei genauer Kenntnis sehr Ver
schiedenes belegen läßt, reicht die Beschäftigung dam it nicht aus, um zu ver
bindlichen Lösungen zu gelangen. Als ich gezwungen war, solche zu suchen,
weil ich das W erk in einer angemessenen W eise interpretieren w ollte, entschloß
ich mich schließlich, dieses M aterial —Schönbergs Vorwort ausgenomm en —
zunächst einm al ganz beiseite zu lassen. Ich versuchte, zwei Wege einzuschla
gen, und zwar
1. nach den W urzeln zu suchen, aus denen Schönbergs Vorstellung bei der
Gestaltung des Sprechgesangsparts geschöpft haben könnte, und
2. aus der m usikalischen Anlage des W erks selbst zu Schlüssen für die Inter
pretation zu gelangen.
Ich suchte zunächst in der Zeit vor der Entstehung des Pierrot nach Stücken,
die gesprochenes W ort und M usik verbinden. Die verfonnelte Rezitativpraxis
der Oper fiel natürlich als A usgangspunkt von vornherein weg. Da gab es aber
das auf eine beachtliche Tradition zurückgehende M elodram . In Schauspiel
und Oper hat sich M elodram atisches im weitesten Sinn im m er w ieder auf dem
Theater ereignet. Als eigene Kunstform, geht das M elodram auf J. ]. Rousseaus
Pygm alion (1762) zurück, der in Frankreich, Spanien, Italien, aber auch bei
deutschen Komponisten der »G eniezeit« eine kurze, heftige M odebewegung
auslöste. Kritische Stim m en (u. a. auch Goethe) m eldeten bald Bedenken gegen
ein Pathos an, das der m usikgehobenen Sprache bei. m elodram atischer Behand
lung eines 'Textes leicht zufließt.
In .keinem der einschlägigen Werke zeigt sich bei Deklam atic
malerischen, oder rhythm isch prononciert artikulierten. Figuren c ;
nach einer strengeren Verklamtnerurur von '! ext und M usik. Erste. i
einer F ixierung! im n 'm m im>m Im !<n ■i<h <e , m der i i "i i
das M elodram I / i hm mi< i n u< m >In^y ■< i<D ung fine i I
tion von Rhythm en (auf einem schlüssellosen System wie in C .iv i. von vveoers
Prezi.osa-M.usik oder auf einer Linie wie in R. Schum anns dram atischem
G edicht M anfred) bezieht sich jedoch jeweils nur auf einzelne Stellen. Eine die
Ib n h ö h en berücksichtigende Sprechstim rnennotation tritt —in sehr beschei
denem M a ß ..erst viel später bei E. H um perdinck (Das Wunder) auf; der Lite
ratur zufolge hat er auch als erster jene N otation für andeutungsweise zu inter
pretierende Tonhöhen verwendet (ürfassung der K önigskinder), die später in
den Sprechgesangssteilen von. Schönbergs G urreliedem von 1900/1901 zu fin
den. sind.
Für Gegner des M elodram s (u .a. R. W agner) blieb es eine »Z w ittergat
tung«, in der H. Riernann zufolge »der Vortragende sich m öglichst der ’iQu
art, den H arm onien der Begleitung akkom odieren, d .h . des Komponisten
Unterlassungssünden, wenigstens teilweise gutm achen« m uß, wenn ein W id er
spruch zwischen M usik und Sprechtönen halbwegs verm ieden werden soll
(1909!).
64 Friedrich Oerha
Dessen ungeachtet gew innt das M elodram - vor allem seine Form m it Kla
vierbegleitung — in der zweiten H älfte des 19. Jahrhunderts zunehm end an
Bedeutung. Ich denke an F. Liszt: D er traurige M önch, D er blinde Sänger,
R. Strauss: Enoch Arden, Das S chloß am M eer und M . von Schillings: Kassan
dra (1900) und sein H exenlied (\ 902). A uffallend ist die Vorliebe für sehr ex
pressive, tonm alerisch ergiebige'I'exte, wobei zu ihnen notierte Rhythm en h äu
fig ein dram atisch-pathetisch überhöhtes, keineswegs immer dem natürlichen
Tonfall folgendes D eklam ieren nahelegen. So stehen z. B. schon in Liszts Trau
rigem M önch über den W orten »Schreck und Grauen« pro Silbe wechselnde
Achtelnoten und A chtelpausen, was ein Skandieren des le x ts ergibt; das glei
che schreibt Schillings an einer Stelle in Kassandra v or.
Im Gegensatz dazu destilliert Janaceks Sprachm elodie aus dem natürlichen
Tonfall der Sprache them atisches M aterial. Bei Schönberg gilt das sehr häufig
für den Rhythm us, aber nicht im gleichen M aß für den Tonfall, also für die
intervallischen Bezüge.
Ein völlig anderes Genre von Beziehungen von W ort und M usik, das —eher
am Rande —aber doch eine gewisse A nregung für Schönbergs Vorstellungen
gegeben haben könnte, ist die reich nuancierte Vortragskurist im Possenlied,
irn C ouplet des W iener Volksstücks und auch in der O perette. Nachweise sind
hier schwer zu erbringen, w eil es von den erstgenannten G attungen keine alten
Aufnahm en gibt. Die m ündlich überlieferte Bew underung Schönbergs für die
V om agskunst eines Girardi, oder einer M m M assary —w enngleich er 'zumeist
nicht schätzte, was sie interpretierten ..gibt zu denken. Ich habe als kurzes Bei
spiel —allerdings erst aus den Z w anzigerjahren ..eine von Girardi gesungene
Vorstrophe zum. Rauschlied aus Das K ünstlerblut v o n Edm und Eysier gewählt
(Grammophon 61972): was in der Interpretation auffällt, ist die sehr autonom
sprach melodisch stilisierende Darstellung, d i e .. wie in der vorkom menden
I ,achpassage..auch stark: verfremdete E -r die im ( Cou
plet selbstverständlichen Freiheiten im I anet:< u <mi i-
chen m usikalischen Strukturen eines St 1 j i i hin&ti' » in
gen in dieser Atm osphäre leben könnte, ist ein. bestimm ter Interpretationsstil,
der beschrieben wird, für den es aber keine direkten A ufnahm en als Beweis-
material gibt, —und. eine M entalität von etwas frecher, frivoler bis skurriler Iro
nie, wie sie in manchen D okum enten aus dem »Ü berbrettl« (ich denke z.B.
an die Verse aus Leo Felds Pierrots Fastnacht unter dem Bild von Olga W ol-
brück) zu finden ist.
Eine weitere Beobachtung führte mich nochmals zurück zum M elodram . Es
schien m ir in unserem Z usam m enhang interessant, daß um die [ahrhundert-
wende berühm te, m usikalisch gebildete Schauspieler —w ie Friedrich W üllner
und Ernst von Possart im Fall von Flexenlied und Kassandra —M elodram en,
die ihnen eine sehr eindrucksvolle G elegenheit zur D arstellung und wohl auch
zur Selbstdarstellung geboten haben, nicht nur mit. Vorliebe interpretierten;
sie haben derartige Werke auch in Auftrag gegeben.
A lbertine Zehme, die - wie erwähnt - Schönberg i 912 zur Komposition des
P ierrot lunaire angeregt hat, war eine dieser Schauspielerpersönlichkeiten und
sie hat sich dem nach m it einem für die Zeit typischen Anliegen an ihn gewen
det. Die Tatsache, daß Schauspielerinnen die ersten Interpreten des Pierrot
waren, erklärt nicht nur die besonderen Schw ierigkeiten, die sie m it der R ea
lisation von Schönbergs »Sprechgesang« hatten, sie lenkt auch die Aufm erk
sam keit auf eine w ichtige, über das zeitgenössische M elodram hinausgehende
Q uelle für Schönbergs Vorstellungen; ich stellte m ir schließlich die nahelie
gende Frage: w ie ist eigentlich D ichtung zur Zeit der Entstehung des Pierrot
gesprochen worden? Die Beantw ortung brachte für mich überraschende und
aufschlußreiche Aspekte. H ier einige Beispiele, die ich dem historischen Archiv
des ORF entnehm en durfte:
Hören Sie zunächst die beiden folgenden Stellen aus D er Gott u nd d ie Ba
jadere (G ram m ophon 041 023) und dem Erlkönig (C olum bia 16 037) von
Goethe, gesprochen von Alexander M oissi. ln beiden Beispielen auf fr
der enorme Wechsel in den Sprechlagen, eine ausgeprägte sprac
G estaltung, Glissandi in verschiedenem le m p o , z.'L. verbunden n
di oder A ccelerandi, daneben das zum '1 eil lange .Aushalten von. 'L,
einzelnen Silben und. die Auszierung des D etails vom Sprechcharakter her
(Beben, Rollen usw.). G elegentlich nim m t die Stim m e Moissis in den beiden
G octhestellen beinahe G esangscharakter an, z.B . in D er Gott u n d d ie B ajade
re das: »Ertöne, Dromm ete, zu heiliger Klage« oder - in ganz, anderem C h a
rakter ..das »D u liebes Kind, kom m , geh m it m ir ...« aus dem Erlkönig. Blen
det m an daneben eine kleine Stelle aus P ierrot lunaire (Aufnahme unter der
Leitung d.es K om ponisten, Colum bia. M L 4471: 7. »Der kranke M ond«,
T 1 0 -2 1 ) ein, so bedarf der Zusam m enhang keines besonderen Kommentars.
Es ist erstaunlich, daß auch der D eklam ationsstil eines Karl Kraus selbst: in
politisch-kritischen Stücken stark expressive Züge zeigt und. von einer ver
wandten V ariabilität der M ittel gekennzeichnet ist. Zwei Ausschnitte aus: »Die
Raben« (aus D ie letzten Tage d er M enschheit) und »Bunte Begebenheiten« (Prei
se): Records 3017) können als Beispiel hierfür dienen.
66 Friedrich C erha
'Festet man den Ambitus heutigen Sprechens, so bekom m t m an etwa für das
Sprechen von Nachrichten eine große Sekunde bis kleine 'ierz, für Lyrik eine
O u a rte , für die Gesellschaftskomödie etwa eine Q uint bis Sext, für das klassi
sche Versdrama m axim al eine Sept. Bei Karl Kraus finden w ir häufig die O kta
ve überschritten, bei M oissi w urde gelegentlich der 1 V.vOktavenbereich
erreicht, ja darüber hinausgegangen.
Im Zusam m enhang m it dem ungeheuren Umfang, in dein Schönberg die
Sprechstim m e gedacht und fixiert hat, ist im m er w ieder von seiner puren Expe
rim entierfreude die Rede gewesen. Die wenigen, hier gegebenen Sprech-Bei-
spiele zeigen, daß er sich auf eine sehr variable, ungem ein expressive Tradition
des D eklam ierens stützen konnte. Die D ifferenzierungstechnik des Sprechens,
die er vorfand, hat er w eitergetrieben und bis ins Extrem ausgebaut. Er ist hier
m it der Sprechstim m e nicht anders verfahren als in anderen Bereichen seines
m usikalischen Denkens auch, z. B. m it der Singstim m e in den Herzgewächsen.,
aber auch au f ganz anderem Gebiet im Grad an them atischer E ntw icklung und
Verzahnung, w ie in der K am m ersym phonie op, 9.
Eine H auptschw ierigkeit, auf die man in der Interpretation des Pierrot: stößt,
ist und bleibt tatsächlich der ungeheure Um fang der Sprechstimm e, der 2 ]h
Oktaven um faßt. Der tiefste Ton ist das kleine es, der höchste das oft vorkom
m ende zw eigestrichene as oder gis. Boulez sprach einmal davon, daß das W erk
lagenm äßig gleichzeitig zu hoch und zu tief sei.
Die zweite H auptschw iengkeit besteht darin, daß —zum Teil in extremen
H ö h en lag en ..auf einzelnen Silben Dauern verlangt werden, wie sie im heu
tigen Sprechen nicht zur Verwendung kom m en. Aber auch diesbezüglich d if
ferenzierte, w ie erwähnt, das sprachliche D eklam ieren zur Zeit der Entstehung
von P ierrot reicher; in Moissis Interpretation von D er (Jott u n d d ie Bajadere
gibt es Dauern von einer Sekunde, in denen eine Tonhöhe festgehalten wird.
Fassen w ir also zusamm en: der Vorstel zur Zeit der Kom
position des P ierrot eine sprachliche 1 iil> n u i hu < i < nik präsent, die es
sowohl bezüglich des lagenm äßigen Umrangs als aiicn Bezüglich der Dauern
seit den. D reißiger Jahren nicht mehr gibt. Die sprechtechnischen M ittel sind
..wenn man w ill —im Gebiet der Literatur seither vergleichsweise verarmt.
Selbst im klassischen Versdrama ist der Einsatz extrem differenzierenden
Sprachausci.rucks verpönt. Wird, er im klassischen. Bereich heute w ieder ver
wendet, dann trägt das Ergebnis das Signum des bewußt artifiziell stilisieren
den Experiments (es gibt eine so geartete Regiem anier im heutigen deutsch
sprachigen T h eater).
Der eingetretene Geschmackswandel im Interpretationsstil ist unübersehbar
—was im H inblick auf unser T hem a festzustellen w ichtig ist - , und er ent
spricht in verschiedenster W eise einem solchen in der literarischen. Produk
tion. Selbst A ufnahm en von Lautgedichten bzw. Iconkreter Literatur von Jandl,
R ühm oder G om ringer zeigen, was A m bitus und Dauern betrifft, W ette, die
kaum, über die der Umgangssprache hinausgehen. Andererseits: wo M usiker
Sprache differenzierend verform t haben — Kagel, Schnebel, Berio, H auben
Z ur Interpretation der Sprechstim m e in Schönbergs P ierrot lu n a ire 67
stock, Ligeti u. a . ..ist ihr Einsatz ganz in den Bereich strukturell-m usikalischer
Verfahren integriert, zerhackt, verfremdet und collagiert, oder Elemente w er
den zu Anspielungen auf: prim äre, em otionelle Ausgangspunkte von Sprache
reduziert. So in der M usik eingesetzt bezieht sich die Sprache weder auf lebens
nahe Sprechdeklam ation noch w irkt sie au f sie. Ein direkter Z usam m enhang
zur Situation im P ierrot ist nicht gegeben, w enngleich vor allem das Element
der artifiziellen V erfrem dung im expressionistischen Sprechgesang als ein e
Wurzel für eine bestim m te, begrenzte A rt von Sprachbehandlung in der M usik
der Gegenwart: angesehen werden kann. Erfahrungen in der letzteren allein
haben denn auch bezeichnenderweise selbst ausgezeichneten Interpreten in der
Bew ältigung der Probleme, die im P ierrot gestellt sind, w enig geholfen.
W ählen w ir also noch einm al den ersten Ansatz m einer Ü berlegungen, der
sich auf die W urzeln von Schönbergs Vorstellung im H inblick auf D eklam a
tion von L iteratur bezog, als A usgangspunkt für einen kurzen, historisch begin
nenden, aber nicht ganz so durchgeführten Ü berblick darüber, w ie sich Inter
preten bisher gegenüber den erwähnten Schw ierigkeiten im P ierrot lunaire
verhalten haben, ehe w ir auf den zweiten, prinzipiellen Ausgangspunkt für m ei
ne Auseinandersetzung m it dem Werk eingehen, der in einem möglichst u n m it
telbaren H erangehen an die kom positorischen G egebenheiten in der M usik
selbst bestanden hat.
Zunächst fällt auf, daß angesichts der Tatsache, daß in Schönbergs Vorwort
von einer »Sprechstim m e« die Rede ist (hier sei auch daran erinnert, daß die
ersten Interpreten Schauspielerinnen w aren), lange Zeit überhaupt nicht ver
sucht wurde, die äußerst überlegt kom ponierten und. fixierten Tonhöhen zu
realisieren. A llein die Bezeichnung w ar offenbar schon ein A nlaß, sieh, größe
re Freiheiten gegenüber den ’ 1bnhöhen herauszunehm en, als sie jemals der
unm usikalischste Sänger zu beanspruchen gewagt hätte, Dem Sm'eeben in
extremen Höhenlagen ist man dadurch aus dem We :
Partie teilweise oder ganz tiefer transponiert hat !
1. »M ondestrunken«, Takt 1-1.2, 'Iransposition u m eine Q uarte dis v^tunrj
oder man ist dem großen. Am bitus dadurch entgangen, daß man die notierten
Intervalldim ensionen auf einen engeren Raum zusam m engedrängt hat (Bei
spiel. ARG Saga XID 5212: 4. »Eine blasse W äscherin«); hier ist beides fest
stellbar: Transposition und. Verengung des Am bitus. Es folgt die gleiche Stel
le auf Turnabout Vox TV 34:31.5 m it den richtigen 'Ibnhöhen; die dadurch
autom atisch erreichte richtige Lage gibt dem Stück: einen ganz anderen, spe
zifischen und offenbar in tendierten C harakter). Schönbergs A nweisungen bie
ten zu Verfahren wie Transposition und Verengung des A m bitus keinerlei
Anlaß. Er verlangt im Gegenteil, dort zwar die U m w andlung in eine Sprech
melodie, aber »unter g u ter Berücksichtigung der 'Ibnhöhen«.
In den folgenden B eisp ielen ..und. sie ließen sich beliebig fortsetzen - kom
men die 'Ibnhöhen nirgends auch nur in. die Nähe der vorgeschriebenen, und
die kom ponierten Intervalle sind in der Interpretation absolut unkenntlich. Es
fällt auf, daß einiges an brtotuitionsu.ngenauigk.eit offenbar auch m it dem
68 Friedrich C erha
lung einer Realisation nur die Kriterien »richtig« oder »falsch« gehen. (Ich gebe
als Beispiele zum Vergleich Turnabout 34315: 17. »Parodie« Takt 1 -21 m it
richtigen 'lonhöhen im C harakter des Sprechens und noch einm al dieselbe
Stelle m it falschen Tonhöhen: C olum bia M L 4471.) Eine andere Situation:
(Beispiel Turnabout Vox 34315: 13. »E nthauptung«, Takt 2 2 -3 6 .) Diese Stel
le ist eine instrum entale Reprise zum »Kranken M ond«. Ich lasse ihr das Aus
gangsstück folgen (Turnabout Vox 34315: 7. »Der kranke M ond«, Anfang).
W ie aber soll die Reprise als solche erkannt werden, wenn im »Kranken M ond«
der kom ponierte zw eistim m ige Satz gar nicht realisiert w ird (Beispiel Wergo
60 001: '7. »Der kranke M ond«, ebenda)? Noch schlim m er w ird es, wenn die
Singstim m e eine Sext zu tief einsetzt und dam it in der O ktav zur Flöte (Bei
spiel: C olum bia 4471, ebenda). Es kann kein Zweifel bestehen, daß hier der
kom ponierte Sinnzusam m enhang völlig zerstört w ird, die tonale A nspielung
überhaupt nicht verstanden werden kann. Um es drastisch zu form ulieren: hier
tun falsche T one ebenso weh wie in einem M ozart-Satz.
Schließlich noch ein Aspekt aus dem Bereich des Harm onischen: die Passa
caglia »Nacht« ist au f der kleinen Terz nach oben und darauffolgend der großen
Terz nach unten aufgebaut:. In den ersten drei 'Takten beginnt m it jedem 'Ton
eine Im itation dieser Floskel. Da das erste Intervall eine kleine Terz ist, bilden
die Einsatztöne einen verm inderten Septakkord. Die Fortführung des chro
matischen Verhältnisses vom ersten zum dritten 'Ion und die verm inderte Sept
als Sum m e der Einsätze im Abstand einer kleinen Terz —auch orthographisch
so notiert - bestim m t den Anfang der Stim m e. W er mag wohl darauf verfal
len, wenn kein Ton und kein Intervall stim m t? (Beispiele C olum bia M L 4 4 7 1:
8. »N acht« Takt 1 -1 1 ; m it besserer Intonation im C harakter des Singens das
gleiche auf Arnadeo AVRS 5 0 0 9 ..und m it richtigen '.lonhöhen im Sprechge-
sangscharakter auf Turnabout Vox 3431 5.)
Ein grundlegendes lnterpretationsproblem s< i r - wie aus dem bisher
Gesagten ersich tlich ..in der Konzeption des Su 1 ;fbst zu 1
1. Schönbergs sprachd eklam a to tisch e VorstelliMi< « ren vo i unten,
durch ihn modifizierten Leitbildern geprägt.
2. Er hat m usikalische Strukturen nach bestim mten Gesetzm äßigkeiten, die in
der Komposition wirksam und wesentlich sind, konzipiert.
D aß er im Arbeiten m anchm al stärker von. dem einen, m anchm al von dem
anderen Aspekt geleitet gewesen sein mag, ist m öglich; daß ihm im Feilen, an
einer Struktur, in der die Stim m e, w ie gesagt, unabd ingbar integrierter Bestand
teil des gesamten Stirnmgewebes ist, die Vorstellungen, Probleme und Schw ie
rigkeiten, die sich aus seinen deklam atorischen Forderungen ergeben, nicht in
jedem. A ugenblick gleich wesentlich und präsent waren, ist w ahrscheinlich. Es
ist ihm in der m usikalischen Arbeit vorübergehend an. manchen Stellen sogar
offensichtlich der them atische Bezug w ichtiger geworden als der eigentlich zu
erwartende deklam atorische 'Ibnfall.
Briefe und Ü berlieferungen belegen, daß Schönberg m it keiner Interpreta
tion der Partie au f die D auer ganz glücklich war. Entgegen seiner sonstigen
Z ur Interpretation der Sprechstim m c in Schönbergs P ierrot lu n a ire 71
worts ein.) latsä ch lich ist die Skala des Verlangens so w eit gespannt wie der
A m bitus in der Stim m e. Die N um m ern lassen sich verhältnism äßig einfach
drei verschiedenen Fächern zuordnen: einem jugendlich-lyrischen, einem iro
nisch-satirischen und einem expressiv-dramatischen, wobei Lyrik und D ra
m atik unversehens ans Ironische streifen können. Keine Persönlichkeit wird
sich jem als in allen drei Fächern absolut gleich gut bewegen können. Pierrot
m it drei D arstellern aus den genannten Fächern aufzuführen, wäre anderer
seits auch nur ein Kuriosum.
Sicher ist P ierrot lunaire ein Stück, das einen - hat m an sich einmal darin
vertieft —nicht m ehr losläßt.
Als vorläufiges Ergebnis m einer praktischen Arbeit kann ich nur au f unsere
hier einige M ale zitierte Schallplatte —gespielt vom Ensemble »die reihe« m it
M arie Therese Escribano als Solistin - hinweisen. W ir hoffen, daß sie in Kür
ze auch als CD erhältlich sein w ird. (Beispiele Turnabout Vox TV 34315: 3.
»D er D andy«, und 21. »O alter D uft«.)
.Theodor W. Adorno /Pierre Boulex
ri
ADORNO: Ich bin froh und stolz, daß ich heute m it Pierre Boulez dieses
Gespräch über die alte Schönbergsche Platte des P ierrot lunaire und seine eige
ne ganz neue führen kann. Ich bin deshalb stolz, w eil die neue Platte ganz sicher
zu den außerordentlichsten Leistungen gehört, die es im Bereich der Interpre
tation moderner M usik überhaupt gibt. Ich bin froh deshalb, w eil die Aufga
be eines Vergleichs, die uns gestellt ist, au sn a h m sw eise w irklich einmal sinn
voll ist, w eil es sich u m Vergleichbares handelt, n ä m lic h um zwei m ögliche und
beide M ale höchst konsequent durchgeführte G rundkonzeptionen. Dabei
möchte ich gleich sagen, daß es nicht angebt, der des Komponisten selbst, weil
es der Komponist ist, den Vorrang zuzuerteilen; denn ein W erk ist in dem
Augenblick, in dem es kom poniert, geschrieben, publiziert ist, ein Selbständi
ges, das von seinem Autor sich abgelöst hat, das seine eigene Geschichte hat,
das sogar in sich sich verändert, und gerade irn Sinn dieser Veränderungen ist
nun die fünfundzwanzig Jahre später entstandene Platte von Pierre Boulez
besonders fesselnd.
BOULEZ: Ich finde auch, w e n n ich mich, als Komponist und n ic h t m e h r als
D irigent nehm e, daß m ein Stück, wenn das Stück fertig ist, nichi mehr zu mir
g e h ö rt, sondern ich bin froh, wenn es einen guten Dingent<
ten in s tru m e n ta lis te n gibt, u m für m ein eigenes Stück einer
punkt zu erhalten.
a u f der äl teren, der Schönbergschen Platte, also der Platte seines Werkes, die
Schönberg selbst dirigiert hat, die Sprechstim m e mehr zurücktritt als in der
neuen Aufnahm e, was deshalb au f den ersten Blick paradox ist, weil ja die Bou-
lezsche G rundauffassung sich von dem, was man so im Sinne einer Stilcha
rakteristik das M elodram atische nennen könnte, gerade entfernt.
BOULEZ: Also m eine M einung w ar ganz präzise, als ich die Schallplatte machen
wollte. Ich habe m ir vor der A ufnahm e zuerst die Schallplatte von Schönberg
angehört, und ich hatte sie also ganz frisch in Erinnerung, als ich selbst auf
nahm . M eine Platte ist: m anchm al wegen dieses - wie sagt m an —Gewichts der
Stim m e sehr scharf kritisiert w orden, und m an hat m ir gesagt, daß die Instru
m ente viel zu w eit entfernt waren, und man hat dafür besonders die Platte von
Schönberg als Gegenbeispiel erwähnt. Aber ich habe die Premiere des P ierrot
lunaire in E rinnerung gehabt, bei der die Insfrum entalisten hinter einer spa
nischen W and verdeckt: waren und ziemlich w eit weg hinter der Bühne saßen
und Albertine Zehme dagegen ganz im Vordergrund stand.
ADORNO: j a , u n d k o s t ü m ie r t .
BOULEZ: Und kostüm iert. Ich w ollte diese Charaktere auf der Platte heraus
bringen, weil der P ierrot für m ich zuerst ein Stück T heater ist. Und ich finde,
tun. diesen Eindruck durch eine Platte zu verm itteln, m uß man. eine A rt Decor
und eine H auptperson haben. Und das D ecor..nicht im. schlechten Sinn, son
dern im besten Sinn ..waren die Instrum ente, und die Stim m e spielte die
H auptrolle.
ADORNO: ja , also bei dem sehr stark farblichen M om ent, das die Instrum ente
dabei innehaben, ist der Gedanke an ein Decor natürlich etwas, was sich ganz
unm ittelbar aufdrängt. Es gibt etwas wie eine Klangkulissc, ein Klangdessin,
und in gewissen Partien ihrer eigenen Aufführung tritt das auch sehr hervor.
Aber wenn ich nun auf rein M usikalisches kom m en darf, so ist es vielleicht
erlaubt, zunächst einmal in ein paar W orten die beides) Grundkonzeptionen
zu charakterisieren, jedenfalls so, w ie sie m ir erscheinen. Die Schönbergsche
würde ich eine Konzeption von. unten nach oben nennen: er geht also von den
m usikalischen Einzelereignissen aus, von den einzelnen them atischen Gestal
ten und C harakteren, dann auch von den einzelnen Stücken des Pierrot , geht
aus von der Expression, die ja im m er naturgem äß am Detail haftet, und läßt
das D etail sich ausleben. Daher rührt wohl auch jenes M om ent, daß die Schöm
berg-Platte schockierender w irkt, daß das Ganze offener w irkt, nicht so inte
griert, aber dafür ein M om ent der Aggressivität hat, das Ihre P la tte ..und ich
sage das, wie m an au f deutsch sagt, wertfrei —nicht ebenso hat, w ährend bei
Ihnen —und das ist bei Ihnen als bei einem integral-seriellen Komponisten
ganz n a tü rlic h .- von oben her, von oben nach unten gestaltet w ird, also die
Totale, das Ganze unbedingt den Prim at hat, die Konstruktion hervortritt, es
G espräche über den Pi.e r ro t Imiai.re 75
w ird ein lückenloses, in allen erdenklichen Farben schillerndes, aber doch ganz
ineinander gearbeitetes Ganzes erzielt, alles greift völlig ineinander. Es ist so,
daß die Einheit: den Vorrang vor der M annigfaltigkeit hat. Ich glaube, davon
sollten w ir in allem ausgehen, was w ir dann über die einzelnen U nterschiede
vielleicht zu sagen haben, um diese Intentionen konkreter zu machen.
BOULEZ: ja , ich bin Ihrer M einung. Ich habe zuerst die Zyklen gesehen und
nicht die Einzelstücke.
A d o r n o : Ja.
BOUEEZ: Und ich w ollte darauf reagieren und zeigen, daß es im Gegenteil bei
Schönberg überhaupt keine Hysterie in dem Sinne gibt, wie man es in Frank
reich versteht, sondern vielm ehr eine ganze M enge von A usdrucksm öglich
keiten, und ich habe den Akzent auf diese Diversirät, auf diese Flexibilität von
Schönberg gelegt, und ich finde, daß gerade Schönberg ein M eister des Aus
drucks auf allen Gebieten ist. Und drittens: auf dieser Platte kann man auch
deshalb so sp ie le n .- darum klingt das w eniger aggressiv.., weil man, um die
Sum m e ganz nach vorn zu bringen, die D ynam ik der Instrum entalgruppe cm
bißchen reduzieren m uß, und deswegen klingt die ganze D ynam ik bis zum
fortissimo ein. w enig d u m p f
BOUEEZ: Ja, ich m uß auf der Platte däm pfen, w eil ich betonen rnuß, daß ich,
wenn ich das W erk auf der Bühne aufführe, zwei Gruppen habe: die Gruppe
der Instrum entalisten links von der Bühne, eher weit entfernt, wo sie forte spie
len können und die Stim m e jedenfalls nicht verdecken. Und die S tim m e..also
die R ecitan te..ist: auf der rechten. Seite der Bühne ganz a b g eteilt und. für sich
allein, und ich übertreibe die Isolierung sogar durch die Beleuchtung, weil die
M usiker m it N orm albeleuchtung spielen und. die Frau dagegen von einem
Scheinwerfer beleuchtet ist, so wie zum Beispiel im C a b a re t. Also für mich ist
alles zusam m engebunden: diese o p tisc h e W irkun g, die akustische W irkung
und die ästhetische W irkung.
ADORNO: V ielleicht wäre es gut, 'wenn w ir den Hörern den Unterschied an ein
paar Beispielen verdeutlichen, ganz konkret machen w ürden. Ich denke: zum
76 T h eo dor W . A dorno/P ierre Boulez
BOULEZ: Ja, ich w ollte zwei Sachen sagen: zuerst der Cello-Einsatz ist ja der
erste Cello-Einsatz überhaupt. U nd ich finde, man sollte das nicht zu sehr über
treiben, w eil das schon da ist; also m an merkt: das C ello zum ersten M al, und
m an hört: das sofort: ohne Ü bertreibung als eine Hauptsache. Und zweitens:
ich habe den höchsten Grad von D ynam ik für die Geige genau fünf ’lak te
später reserviert, wo das molto ritenuto ist, also das hohe cis in der G eigen
stim m e, und für mich ist das jetzt der w irkliche H öhepunkt, und deswegen
habe ich diesen Cello-Einsatz nicht so unterstrichen. Und für mich gibt es
tatsächlich auch diesen Klang von Salonorchester, der mich stört.
B o u l e / : U n d m a n f in d e t ih n n u r a n d ie s e r e in e n S te lle ,
ADORNO: Nur an dieser einen Stelle; aber da würde ich nun sagen, dadurch,
daß es nur an einer Stelle ist, stört es auch wieder nicht, w eil es ja die Aus
nahm e ist.
BOULEZ: Nein, das stört mich w iederum bei m e in e m U rteil nicht. Nein,
ADORNO: Das w ürde ich schon w ieder sagen. Hier die Stelle in der Interpre
tation von Schönberg:
Ich darf vielleicht auch au f den »D andy« hinweisen, das ist das dritte Stück —
übrigens eines der genialsten aus dem ganzen Pierrot, würde ich denken —, das
bei Schönberg die wildesten dynam ischen Kontraste enthält zwischen Takt 13
m it A uftakt und l a k t 14, während diese Ausbrüche von Ihnen, Herr Boulez,
etwas gem ildert werden.
BOULEZ: Das hat in diesem Fall einen technischen Grund: Sie sehen, daß der
H öhepunkt in dieser melodischen Linie in der K larinette auf fts (klingend) zu
hören ist. Wenn man das wirklich forte spielt, verdeckt es die Stimme vollkom
men, weil es in der Sprechstimme auf »metallischen Klangs« ein hohes as gibt.
BOULEZ: Und d ie Stim m e kann auf dieser Tonhöhe überhaupt nicht sprechen,
sie m uß ein bißchen tiefer unter die K larinette gehen, sonst ist sie nicht mehr
zu hören. Und deswegen habe ich die Klarinette ein bißchen zurückgenom
men, um dieses »m etallischen Klangs« in der Stim m e ganz durchsichtig zu
hören.
ADORNO: ja , also da könnte man eine lange Diskussion anknüpfen, deren 1 'he-
rna man vielleicht hier wenigstens bezeichnen darf, ob inan näm lich in diesem
Fall w irklich der M öglichkeit der Ausführung die rein kom positorische Idee
untcrordnen darf, wie Sie es hier t u n ..und ich würde sagen, es ist sehr west
lich g e d a c h t.., während Schönberg im Sinn des Beethovenschen Satzes, daß
man nicht an seine elende Geis«: denken soll, wenn ihn der’ Genius gepackt
hat, während also Schön Ix m*i In i d i/n tendiert hat, hier das Xy7il.de selbst dann
hervorzuheben, wenn b i d< i 'n n 1 n Ile »metallischen. Klangs« die Singsiinv-
me nicht so durehkom m r. Hier che Stelle in der Interpretation von Schönberg:
Ich darf vielleicht noch, dam it auch diejenigen, die nicht: auf diese Einzelhei
ten einzugehen w illens sind, genau, merken, worum es geht, auf etwas sehr
Klotziges aufmerksam m achen, näm lich auf die berühm ten Terzen ganz am
Schluß des P ierrot lunaire, diese berühm ten Terzen in »(.) alter Duft«, also in.
'.Fakt 26 und 27. Es steht da »Tempo«, also w ieder das rasche Z eitm aß des
ganzen Stücks. Schönberg nim m t das ganz brav a ternpo, im H auptzeitm aß,
78 T h eo dor W. A dorno/P ierre Boulez
während Ihnen offenbar diese Terzen also doch kaum m ehr erträglich sind,
und Sie deshalb den Einsatz »Tempo« schneller als das Z eitm aß nehm en, um
nur so rasch wie m öglich drüber wegzukom m en nach dem englischen oder
am erikanischen Prinzip: let’s get over w ith it. Und ich glaube gerade, das ist
äußerst charakteristisch am Schluß dafür, daß für Sie eben doch der Gedanke
an die lo ta le im Vordergrund steht.
BOULEZ: ... wieder packen, um dieses molto rite n u to , dam it das Klavier w irk
lich genau zweim al wie die derzen vorher ...:
ÄDORNO: Das war die Stelle in der Interpretation von Schönberg. Nun die
Stelle in der Interpretation von Boulez:
BOULEZ; ja , sicher. In dem Fall aber, für diesen Auftakt, möchte ich mich ver
teidigen.
BoiJLEZ: Nein, nein. Ich möchte dazu nur sagen: ich finde, daß Auftakte beson
ders in diesem Fall ziem lich weich sein müssen, weil erstens der C harakter der
M elodie sehr zart und leicht ist, sehr schwebend, und das ergibt dann dieses
W iegende bei »H eim fahrt«, den Balancecharakter dieser Barcarole, das würde
leicht durch einen zu scharfen oder zu starken Auftakt wie gehackt w irken, und
deswegen w ollte ich besonders in diesem Fall den Auftakt ein bißchen auf-
weichen.
Nun sollten w ir aber vielleicht: doch auch auf die Probleme im Großen einge-
hen, bei denen es sich um die G esam tanlage handelt. Und da m öchte ich ger
ne m it Ihnen, wenn Ihnen das recht ist, über das berühm teste Stück des Pier
rot lunaire, näm lich den »M ondfleck«, sprechen. Der w ird von Schöi
da rgestellt, als o b er ein e K lavier fu g e wäre, d ie er tatsächlich ist, die
beiden krebsgängigen Kanons begleitet wird. Bei Ihnen, Herr Boulez, ist anes
gewissermaßen auf einer Ebene, es ist nichts darin Begleitung, und es ist nichis
H auptstim m e, sondern alle Dinge sind gleichgewichtig, und dadurch wird
zwar diese Pointierung des them atischen H auptm odells nicht erreicht, aber auf
der anderen Seite eine Art Einheit des Ganzen hergestellt, wie sie in dieser Wer
se in der S ch ö n b ergseh en A ufführung nicht vorliegt, also nach der 'Jerm ino-
logie des Schönberg-Schülers Jalowetz ist Ihre D arstellung die polyphonere,
die von Schönberg die kontrapunktischere. M an könnte nun die Frage disku
tieren, ob man gerade dieses Stück, das also das in sich gefangene Kreisen, ja
wie soll man sagen, eines in sich verblendeten Menschen darstellt, ob m an das
überhaupt transparent machen kann, ja ob man es soll, oder ob es nicht gera
de dadurch, daß man es nicht th em a tisch m usiziert, also n icht durchhört, son
dern daß es ein unaufhörliches Klanggewebe ist, ob man nicht dadurch gera
de mehr den E indruck des Ausweglosen, Kreisenden, in sich Geschlossenen
gew innt, der gem eint ist, und m ein Gefühl ist, daß Sie jedenfalls eher dieser
.Ansicht' zu neigen.
BOULRZ: Ja, also m einer M ein ung nach ist dieser »M ondfleck« nicht in ganzer
K larheit herauszubringen.
80 Theodor W. A dorno/Pierre Boulez
ADORNO: E r is t n ic h t d u r c h h ö r b a r z u m a c h e n , d a s in d w ir u n s e in ig , Ü b r ig e n s
is t d a s a u c h die M e in u n g v o n K o lis c h .
BOULEZ: ja gut, ich bin froh, daß w ir darüber einig sind . Denn, sehen Sie, von
dieser Tatsache gehe ich zu folgendem Punkt: es gibt noch die Stim m e, die
vollkom men unabhängig von den Instrum enten ist, und die m uß w irklich als
unabhängig wahrgenom m en werden, w eil sie überhaupt nicht them atisch ist.
BOULEZ: Im Gegensatz dazu stehen alle Instrum ente in Beziehungen. Die bei
den Blasinstrum ente, also Piccolo und K larinette, sowie Geige und C ello bil
den sogar ein Spiegelbild.
BOULEZ: Und das Klavier ist rhythm isch doppelt so langsam , geht im m er zwei
mal langsam er als die Klarinette und Piccolo.
ADORNO: W obei aber der Kanon von Klarinette und Piccolo, wenn ic h das
dazu sagen darf, seinerseits auf demselben I ’hem a beruht w ie die Fuge des Kla
viers.
Bo U l , K Z : Gienau.
ADORNO: Aber es ist im m erhin m erkw ürdig, daß Schönberg doch, so tief mo-
tivisch-them atisch gedacht h a t..und das ist ja einer der entscheidenden Unter
schiede zu der neuen K om ponistengeneration.-, daß er selbst in diesem Stück,
das eigentlich so schon gar nicht m ehr war, trotzdem motivisch-them atisch im
Sinn einet begleiteten Fuge m usiziert hat, also im Gegensatz, könnte m an fast
sagen, zu dem , was er kom positorisch bereits erreicht hatte, in der D arstellung
des Erreichten eigentlich einen älteren Kompositionsstil noch vertreten hat.
Daran aber, daß Schönberg seine eigene M usik im Sinn dieses Klarheitsideals
G espräche über den P ierro t lu n a ire 81
dargestellt hat, während sie über den Gegensatz von H auptstim m e und N eben
stim m e schon hinausgeht:, kann man w irklich sehen, daß es sich um ein genui
nes Problem handelt, w ie es richtig sei, und gar nicht so um zwei beliebige Auf
fassungen.
Ich möchte doch einm al versuchen, das Problem zu form ulieren: der P ierrot
selber ist in sich doppelsinnig im Sinn eines Januskopfs. A uf der einen Seite ist
er ein Liederzyklus, allerdings m it Sprech- anstatt m it Singstim m e, und das
hat auch m usikalisch die Bedeutung, daß die Stim m e nicht ins them atische
Gewebe einbezogen ist, m it der einen Ausnahm e des übrigens auch ungeheuer
schwierigen Stücks »Parodie«. Berg hat im U nterricht im m er unterschieden -
er legte darauf sehr großen W e r t..zwischen symphonischen und Charakter-
Stücken. U nd er nannte C harakter-Stücke, m it diesem etwas altm odischen
A usdruck aus dem 19. Jahrhundert, also Stücke, die jeweils einen einzigen
G rundcharakter durchhalten, ohne in sich eine M annigfaltigkeit zu haben,
N un ist der P ierrot zunächst eine Folge solcher Charakterstücke, jedes einzel
ne Stück hat eine bestim m te Idee, wie es denn auch zwar motivische Kontra
ste und eine große B untheit innerhalb der einzelnen Stücke gibt, aber nicht
w irkliche K ontrast-Them en. Ks ist also etwa in der »Blassen W äscherin« die
Idee eines 'I fios gegeneinander dynam isch völlig ausbalancierter Su mm en, oder
im »Kranken M ond« die Idee der Solo-Flöte und in der »N acht« die Idee der
Passacaglia; das »Gebet an Pierrot« ist ein begleiteter M onolog der Klarinette
und die »Serenade« ein virtuoses Solostück m it K lavierbegleitung, die »iiarca-
role«, von der w ir gesprochen haben, ein Stück, das durch wechselnde H aup t
stim m en charakterisiert w ird, und das letzte Stück schließlich ist ein ganz ein
faches Lied. Darin ist das Ganze den George-Licdern verwandt, deren eines
am Schluß des als erstes Stück des Zyklus kom ponierten »Gebets an Pierrot«
anklingt. Und Schönberg, kann m an zunächst einm al sagen, hat den Pierrot
wesentlich, als Folge von Charakterstücken musizier!:. W ie denken Sie übrigens
über das Verhältnis zu den Cieorge-l.Jed.erni
BOULEZ: Ja, ich finde auch —ich habe einm al über den Pierrot lunaire geschrie
ben .., daß die G eorge-Lieder die letzte Stufe vor dem Pierrot lunaire waren.
A d o r n o : Ja,
BOULEZ: Das w ar aber nur e in Zyklus, im Gegensatz dazu h a t der P ierrot drei
Zyklen.
1
82 T h e o d o r W . A d o rn o / P ie rre B oulez
ADORNO: ja . Also ich w ürde eben sagen, daß die Tendenz Schönbergs zum
Form bildenden, zum Konstruktiven im P ierrot lunaire ebenso stark ist wie d ie
se Tendenz zur Form ulierung einzelner Charakterstücke. Er drängt eben doch
zugleich au f Einheit. Sinnfällig ist dafür, daß er nach der »E nthauptung« als
Zwischenspiel von im m erhin 15 Takten eine Art durchführende C horalbear
beitung des »Kranken M ondes« bringt, die übrigens, wenn ich das sagen darf,
m ir au f Ihrer Platte ganz besonders gelungen und besonders durchsichtig
erscheint. Dann ist das ganze Stück, darauf haben Sie bereits hingewiesen, in
sich dreiteilig disponiert, wobei der erste Teil einen verhältnism äßig losen prälu
dierenden C harakter hat. Die Stücke des ersten. Teils sind im allgem einen auch
nicht so kom pliziert. Der zweite ist tragisch im Sinn der Gefangenschaft und
der Angst des in sich eingesperrten M enschen wie den Fiinrichtungs-'.I.räumen
und m it zwei, tragischen tiefen Punkten, um die es gruppiert ist: am Anfang
eben der Passacaglia »N acht« und am Ende den »Kreuzen.« m it den. stärksten
tragischen Akzenten, und. der dritte Teil. - beinahe hätte ich gesagt Hi. A k t ..
gibt eine Art von Lösung, aber nun wieder Lösung im Imaginären. Die H eim
fahrt Pierrots in den Süden ist die zentrale Idee davon. Es ist so, wie wenn man
zu erwachen träumen würde, eine Form ulierung, die von. Benjamin, stam m t,
der dam it den Jugendstil überhaupt definierte, und aus der Sphäre tl.es Jugend
stils stammen, ja unverkennbar die Giraudschen Gedichte, zu denen der P ier
rot kom poniert ist.
Bo Ul.,DZ: Ich w ollte dazu nur sagen, daß für mich in diesem zweiten Teil
natürlich, w ie Sie gesagt haben, die reine Angst wie zum Beispiel in der
»N acht« oder in den »Kreuzen« vorherrscht. Aber es gibt auch ein Spiel mit
der Angst.
BOULEZ: In der »E nthauptung«, ja. Es g ib t eben auch bei Schönberg das, was
Andre Schaeffner einm al über das 'Theater in Afrika, über einige Zeremonien
in A frika bem erkte, n äml ich das sei das Spiel d er Angst. Ich meine dam it, daß
man die Angst bis zu dem Punkt sim uliert, daß m an w irklich Angst bekom m t,
und m an braucht dann nur einen Stoß Ironie, um diese Angst wieder zu lösen.
G espräche über den P ierro t lu n a ire 83
Bei Schönberg ist das wesentlich und in diesem Teil für mich besonders bedeut
sam, w eil zum Beispiel am Schluß der »N acht« dieses sforzato von ...
BOULEZ: ... von Baßklarinette und C e llo genau wie ein Abbruch der Angst
w irkt, und der ist ganz absichtlich gem acht, trocken zu realisieren.
ADORN O: ' I r o c k e n .
BOULEZ: Aber das ist m a n c h m a l ein Spiel. Zum Beispiel am Schluß der Nr.
11, der »Roten Messe«, kom m t es auch zu derselben T erm inierung nach die
sen »billigen Fingern«: man hat einen furchtbaren Eindruck, und dann plötz
lich dieses Flageolett und staccato vom Klavier, pianissim o: das ist ein Schluß
wie ein Klack, fertig.
ADORNO: V ie lle ic h t d a r f m a n h ie r a b e r n o c h e in p a a r W o r te ü b e r d e n T e x t
sagen , ...
B o u l e z : ja.
ADORNO: . .., w eil au f dern le x t so rum gehackt w ird, und w eil der Platte, Ihrer
Platte in ihrer bisherigen Form, ein W aschzettel beigegeben ist*, io dem über
den 'lex t in der schm ählichsten Weise geredet w ird, übrigens m it einigen, anti -
französischen W endungen, die ich einen Skandal finde, das m uß u
sagen. Es geht nicht an, daß m an über den. P ierrot lunaire im 'Ihn eis.
chers der Volks- und. jugend.rntisikbewegi.ing, also m it dern Ion eine
flötenanbeters spricht |Boulez lacht], das gebt, also nicht, und das h;
ich so sagen darf, etwas Blasphemisches. Ich will unseren Zuhörern :
Zeitmangel Beispiele ersparen. Sicherlich sind die G edichte von. Gira
große D ichtung, niem and würde sie dafür halten, aber so schlecht, wie man
sie m acht, sind, sie ganz bestim m t nicht, sondern sie sind ein großartiges Vehi
kel für die M usik gewesen. Es ist ja oft in der Geschichte der M usik so, daß es
D ichtungen von. Niveau, die aber nicht höchsten Ranges sind, den. Komponi
sten eher erleichtern, sie in M usik um zuschm elzen, als sehr große und deshalb
autonom e D ichtungen. Diese D ichtung hat eben doch, den Vorzug, daß sie,
während sie gew iß hinter dem fortgeschrittenen. Schönbergschert Expressio
nismus als ein Stück. Nachziiglertum. des Jugenstils zurückgeblieben ist, doch
in sich, genau diese Im agerie, diese B ilderw elt hat, diese gebrochene, ironische
ßilderw elt, an die dann, die W iederkehr, die gebrochene W iederkehr des O bjek
tiven und der Reminiszenz des O bjektiven in Schönbergs Komponieren hat
anknüpfen können. Und ich glaube, wenn m a n stattdessen über diese Gedich
te m oralisiert, anstatt zu sehen, welche ungeheure Produktivität sie in der M usik
entbunden haben, dann tut man dem Albert G iraud und seinem vorzüglichen
deutschen Übersetzer Otto Erich H artleben bitteres Unrecht an, und jem an
dem, der also ein W erk w ie den P ierrot lunaire durch seine D ichtung inspiriert
hat, dem sollte m an doch ganz einfach dankbar sein.
BOULEZ: ja , ich finde auch, daß die Ä sthetik von Schönberg viel kom plizier
ter ist, als man zunächst gem eint hat.
A d o r n o : N atürlich.
BOULEZ: Und er hat auch viel m ehr Ironie besessen, als man anfangs glaubte;
ich habe, als ich m eine A ufführungen in Frankreich machte, die Gedichte von
G iraud, die vollkom men vergessen waren, in der Bibliotheque Nationale erst
wiederfinden müssen.
A d o r n o : ja .
BOULEZ: Und natürlich, also wenn man sich die Poeme genau ansieht, haben
sie überhaupt keinen literarischen W ert, sondern das ist ein Resum e einer
Epoche, ...
BoiJUiZ: ... der Nachhall, genau, und das ist viel w ichtiger als die Poeme an
sich. Und deswegen glau.be ich, daß Schöi irkiieh als Bild
einer Epoche ausgewähk h at. Und darin li< die viel w ic h ti
ger ist als ihr eigener Wert, der literarische Wert.
stärker heraus, als wenn sie rein in sich verbliebe und sich überlassen wäre. Und
es scheint m ir nun das außerordentlich Interessante an Ihrer A ufführung zu
sein, daß Sie gerade dadurch, daß Sie die ursprüngliche Idee der Sprech rnelo-
d ie viel ernster, viel schwerer nehm en, als der Interpret Schönberg selbst es
getan hat, daß Sie also Frau Pilarczyk den Part viel mehr melodisch als einen
integralen Bestandteil aussprechen lassen, als Schönberg das Frau W agner
gestattete, die viel mehr zurücktreten m uß, daß durch dieses Ihr Vorgehen die
Sprechstimm e besonders entnaturalisiert und dieser Verfremdungseffekt un
gem ein deutlich gestaltet w ird. M an kann sagen, daß vielleicht gerade die
B ehandlung der Sprechstim m e In »Parodie«, wo diese Sprechstim m e in die
M usik verwoben ist, das M odell für Ihre gesamte B ehandlung der Sprech
stim m e ist, das heißt, daß Sie durchweg die Verfremdung der Sprechstim m e
gerade durch ihre Rernusikalisierung erreicht haben. Und es wäre vielleicht
schön, wenn Sie zum Schluß darüber noch ein paar W orte sagen wollten.
BOULEZ: Ja, ich w ollte sagen, daß für mich die Sprechstimm e sozusagen e in
unreines M ittel ist ...
A d o r n o : ja .
BOULEZ: ... in dem Sinn, daß sie gegen einen rein musikalischen W illen ver
stößt; man kann auch eine N egativkontrolle dazu durchführen: zum Beispiel
hat Webern in seinem W erk nie die Sprechstim m e verwandt*, weil sic eben die
R einheit der M usik verletzt; aber deswegen finde ich, daß m an diesen V er
fremdungseffekt:, von dem Sie sprechen, ...
B o u l e z : . .., w irklich nur dadurch erreichen kann, daß die Stim m e doch einer
gesungenen Stim m e sehr ähnlich ist, sich aber von. ihr durch ein strenges Ver
bot des Singens trennt.
BOULEZ: ja, aber ich. habe vorher sehr m erkwürdige Bekundungen gehört: Leo
nard Stein aus Los Angeles hat m ir einmal erzählt, daß zum Beispiel, als man
zum ersten. M al die Ode to Napoleon in. Los Angeles probte, Schönberg selber
m it seiner eigenen Stim m e einige Stellen vorm achte, und. das w ar vollkom m en
anders als notiert, w eil für ihn schließlich der A usdruck w ichtiger w ar als die
Notierung. Für den Autor ist das natürlich möglich. Aber wenn m an als Inter
pret vor einer Partitur steht, m uß man zunächst Respekt vor dem 'lex t haben;
denn wenn m an sich zu w eit vom le x t entfernt, dann ist es nicht mehr not
w endig, eine Partitur zu haben, und vielleicht bin ich deswegen strenger als
Schönberg. [ Boulez lacht J
ADORNO: Sie sind an dieser Stelle w irklich päpstlicher als der Papst, u n d
dadurch ist die äußerst interessante neue Lösung, bei der Sie übrigens v o n Frau
Pilarczyk großartig unterstützt w urden, entstanden.
ÄDORNO: Ja, w ir haben uns gestern über die Probleme der beiden A ufführun
gen des P ierrot lunaire unterhalten, und es hat sich dabei gezeigt, daß w ir von
dem W erk so fasziniert waren, daß w ir dabei eigentlich kein Finde gefunden
haben. Nun, dies » P ierrot und kein Ende« bezieht sich sicher auch auf das
Schicksal des Werkes selbst. Es gibt ja nur sehr wenige Stücke in der neuen
M usik, die einen so ungeheuren Einfluß ausgeübt haben w ie der P ierrot lu
naire, übrigens auch auf Komponisten, die Schönberg sein: fern stehen wie Stra-
winsky oder auch wie H indcm ith zu Zeiten: die »N achtm usik«, dieses kleine
Intermezzo in der Kammermusik Pit: 1 von FIi.ndemi.ih, das fällt m ir gerade
ein, wäre ja auch w ahrscheinlich ohne den 'Fort und den C harakter des »K ran
ken Mondes« nicht möglich gewesen. Es wäre sehr lohnend, einm al sich zu
überlegen, wodurch gerade vom Pierrot diese u«| W irkung ausgegan
gen ist, zunächst sicher eine größere als von allen a: ichönbergs.
Ich würde denken, das hängt gerade m it den äußerst Charakteren
zusam m en, es sind ja in diesem Werk ganz neue Cha igt worden,
übrigens auch gegenüber E rwartung und Glücklicher , t Jn j diese neuen
C haraktere haben die M enschen bezwungen. Aber es wäre doch, vielleicht
schön, wenn w ir so ein bißchen noch über die W irkung gerade auf Kompo
nisten reden würden.
BOUL.EZ: Ich würde zuerst: von der W irkung zum Beispiel auf Straw insky spre
chen.
ßO lJl.EZ: Das ist ein merkwürdiges Beispiel, weil er gegen Schönberg reagiert
hat, ziem lich scharf zuerst besonders gegen die Poetik des Pierrot.
G espräche über den P ierrot lu n a ire 87
A d o r n o : Gegen die Poetik, ja. Er sprach von Oscar W ilde und Beardsley und
solchen D ingen, ja.
BOULEZ: U nd Beardsley, ja. Und das w ar wohl die Q uelle eines Riesen
m ißverständnisses zwischen Schönberg und seiner gesamten Schule au f der
einen Seite und Straw insky sam t seinem Anhang und seiner gesamten U m ge
bung auf der anderen Seite. Das heißt also praktisch: das ganze musikalische
Leben in Frankreich, den United States und vielleicht auch in England vor
dem Krieg war durch dieses M ißverständnis bestim m t. Ich finde, daß durch
diese Barrage seitens Strawinskys das Verständnis von Schönberg für fünfund
zwanzig Jahre in Ländern lateinischer K ultur zurückgeblieben ist —von einem
Russen beherrscht. |Boulez lacht.]
ADORNO: Von einem Russen beherrscht, das ist gar kein Zweifel.
BOULEZ: Aber trotzdem könnte man einigerm aßen sehen, w ie Straw insky zum
Beispiel auf den P ierrot reagiert hat, wenn m an die Irois poem.es de la lyrique
japonaise liest.
BOULEZ: T ro tzd em sollte man diesen E in flu ß n ic h t übertreiben, w eil eines der
japanischen Lieder, das erste, schon geschrieben war, b e v o r et den Pierrot ge
hört hatte.
A d o r n o : ] 91.2.
BOULEZ: Und die erste Japanische Lyrik, ist schon 1911 kom poniert worden,
die zwei anderen Stücke dann nachher. Und man sieht, das einzige Interesse
von Straw insky in. diesem M om ent war nur ...
A d o r n o : Die Farbe.
BOULEZ: ... die Instrum entalfarben, genau. Dabei ist unverkennbar, daß bei
Schönberg diese Gruppe von Instrum enten sozusagen von Brahms hetkom rnt:
es gibt ein Q uintett, das zwar kein klassisches Q uintett mehr ist, aber doch ein.
Q uintett in postrom antischer Art. Bei Straw insky hingegen handelt es sich wie
bei Ravel-M aliarm e zürn Beispiel um eine R eduzierung eines Orchesters. Das
ist etwas ganz anderes. Bei Schönberg hängt die Instrum entalgruppe wirklich
m it der polyphonen Struktur zusam m en, m it seiner A rt sozusagen, die M usik
88 T h eo dor W. A dorno/P ierre Boulez
zu redigieren. Und bei Ravel sieht m an einfach nur ein reduziertes Orchester.
Ich w eiß nicht, ob Sie die tlerodia.de von H indem ith kennen, eine sehr m erk
w ürdige M ischung, die viel später kom poniert wurde: das ist ein M elodram
über ein Poem von M allarm e m it Streichquintett, Blasquintett und Klavier.
H ier hat der P ierrot natürlich nur eine rein äußerliche W irkung gehabt.
BOULEZ: Der E in f lu ß des P ierrot lunaire is t m einer M einun g nach auf Webern
v ie l größer als a u f B e rg .
ÄDORNO: Da liegt er an sich mehr z u 'läge. Aber ich habe die Sache gerade
deshalb hervorgehoben, weil man bei Berg m it den langen großen Flächen ja
den Einfluß eines so aphoristischen Stils gar nicht verm utet. Doch es wäre
schön, wenn Sie au f den Zusam m enhang W ebems m it dem P ierrot cingingen.
BOULEZ: Genau, es herrscht diese Sparsam keit wie im m er bei W ebern, und
plötzlich kom m t ein vollkom m enes C harakterstück, w ie Sie gestern gesagt
haben, ä la P ierrot lunaire. Für m ich ist dieser Einfluß m erkw ürdiger als der
Einfluß bei Berg. M an kann zum Beispiel bei Berg vielleicht einen strengeren
Einfluß Schönbergs merken , der von der E rwartung in den Wozzeck reicht.
ÄDORNO: Na, das ist klar, das liegt auf der H and, ja .
A d o r n o : Ja.
BOULEZ: Ich finde, opus 14 ist die Ausnahm e, wo m an w irklich einm al eine
strenge W irkun g eines bestim m ten Stückes von Schönberg ,..
ADORNO: Doch auch ich hatte bei den Trakl-Liedern im m er dieses Gefühl.
Vielleicht dar! man in. dem Z usam m enhang an einen Schüler von Schönberg
erinnern, von dem man im allgem einen in ganz anderen Zusam menhängen
redet, der aber genau hierher gehört: das ist näm lich der hochbegabte Manns
Eisler. Man. kann sagen, daß Eislers gesamtes W erk eigentlich von seiner Sona
te op. 1, seiner Klaviersonate op. 1 an, wie unter dem. Bann von P ierrot lunaire
steht. .Aber nun nicht nach der konstruktiv-kom positorischen Seite, sondern
im "I bn. Der C harakter des Pierrot lunaire, also gerade das Ironische, das Aggres
sive, auch ein gewisser sadistischer Zug, also wie wenn eine Katze mit fürch
terlichem Geschrei von einem Dach herunterspringt und sich auf irgendein
Opfer wirft, oder so etwas. Dieser C harakter m it einer zugleich ins W ehm ütige
umsch.lagen.den Ironie, das ist der G randton dieses koboldhaften K om poni
sten gewesen, und wenn man sich s o ..- ja, es ist schwer, das auszudrücken ..,
wenn man sich so die Komplexion dieser M usik ansieht, also diese sehr schnel
len Staccati von. Sechzehnteln etwa, ...
BOUEEZ: Ja.
ADORNO: . .., dann is t das reiner P ierrot lunaire. Übrigens h a t Eisler damals,
das m uß M itte der Z w a n z ig e r ja h r e gewesen, sein, wohl a ls einer der ersten, außer
90 T h eo dor W. A dorno/Pierre Boulez
BOULEZ: Nur die Besetzung, und dann zweitens auch die Idee einer Reihe von
Stücken, die im m er eine neue Besetzung brauchen.
B o u l e z ,: W ie im P ierrot lunaire hat jedes Stück eine nur ihm eigene Besetzung.
ÄDORNO: Übrigens eine Idee, die dann auch Berg f ü r die wechselnden Ensem
bles im Wozzeck und in der Lulu übernom m en hat.
G espräche über den P ierro t lu n a ire 91
ADORNO: Ich d arf da vielleicht auf etwas aufmerksam machen, was sich mir
aufgedrängt hat, was aber vielleicht ganz abwegig ist: ich könnte m ir näm lich
denken, daß gerade zwischen der Behandlung der Singstim m e bei Ihnen und
der B ehandlung der Sprechstim m e im P ierrot ein gewisser Zusam m enhang
besteht. Die Art, ja wie soll man sagen, der Instrum entalisierung und dadurch,
in einem sehr bedeutenden Sinn, der D enaturierung der Singstim m e, die im
M arteau da ist, der ja eine ganz spezifische, mit nichts zu verwechselnde Art
der vokalen M elodiebildung hat, die erinnert wenn überhaupt an i
noch am ehesten an den D enaturierungsvorgang der Sprechstim
rot lunaire. Also wenn die Sprechmelodien des Pierrot gewisserm aßen wiener
in nun auch them atisch und motivisch oder reihenm äßig Zusammenhängen
de Gesangsm elodien xurückübersetzt w ürden, dann sehe ich ger don
aus einen W eg von der Sprechm elodie des P ierrot zu Ihrer ja also vc uuti-
ralistischen Singen völlig em anzipierten Gesangsm elodik in dem m a n ea u sans
Maitre.
BOULEZ: ich w ollte dazu. noch, sagen, daß bei m ir die Stim m e nicht im m er
dabei ist; also es gibt reine Instrum entalstücke, und da will ich auf das zurück
kom m en, was war über das C harakterstück und sym phonische Stucke bespra
chen. Also bei m ir gibt es kaum mehr Charakterstücke, denn der C harakter ist
w irklich schon in den sym phonischen C harakter eingegraben, und manchmal,
brauche ich nicht mehr die Stim m e dafür, und deswegen gibt es reine Insf.ru-
rnentaistücke. Und dazu können Sie auch eine Parallele ziehen, weil es eben
so drei Zyklen im P ierrot lunaire w ie auch im. M arteau gibt. Aber die drei Zyk
len sind bei m ir nicht hintereinander, sondern sind zusam m engem ischt, und
deswegen gibt es in dem W erk eine andere D im ension, die nicht mehr linear
ist, sondern w irklich einen bestim mten ...
92 T h eo dor W. A dorno /Pierre Boulez
BOULEZ: . . . R aum hat. Also diese räum liche Struktur m einer drei Zyklen ist
vielleicht m eine H auptentdeckung und der H auptunterschied zwischen den
beiden Stücken.
ADORNO: Ja, es ist also vielleicht gerade angesichts der vordergründigen Ähn
lichkeit w ichtig, daß man auf die Unterschiede hinweist. M ir hat sich im m er
w ieder beim M arteau etwas sehr aufgedrängt, daß näm lich das Stück, das ja
zum A nfang auch aus kürzeren Einheiten besteht, dann im m er mehr sich in
längere Einheiten verwandelt und daß es dann ja so eine A rt von Finale, also
einen w irklich großen Schlußsatz ausbildet, also daß es dadurch in die große
Form übergeht, w ährend das ja bei Schönberg im Sinne des Prinzips der C ha
rakterstücke im P ierrot lunaire ganz verm ieden ist. Das erinnert eher an Berg,
bei dem ja auch sowohl im Wozzeck wie. in der Lulu erst sich relativ kurze A n
sätze, also eine Suite im Wozzeck und diese lose hin musizierte erste Szene in
der Lulu findet, und dann allm ählich gew innt es im m er mehr M om entum , es
gew innt im m er m ehr Schwerkraft aus sich heraus und erzeugt dann gewisser
m aßen diese großen Bögen. Also der M arteau ist schon, könnte m an vielleicht
sagen, der Übergang des Typus des C harakterstücks in den 'Typus der sym
phonischen M usik.
BOULEZ: ja , Sie h a b e n re c h t.
BOULEZ: In diesem Sinn. Sie haben m it Recht von B( > sn, denn mich
hat bei Berg, auch wenn ich nicht m it ihm ein. md viel w eni
ger als jetzt zum Beispiel m it seiner Stilistik einii iion fasziniert,
was für einen R eichtum in der üesam torganisanon er genaui nat. Das ist: nur
zu vergleichen m it den großen Konstru.kteu.ren wie zum Beispiel Proust und
Joyce. Das ist also genau dasselbe Denken.
ADORNO: ja , von Proust hat Berg sehr viel, weil bei. ihm auch - das ist ein genau
treffender Vergleich - wie bei Proust die unendlich verschlungene und m inu
tiöse D etailarbeit, die also in die kleinsten D inge sich verliert, dann einer unge
heueren A rchitektur entspricht, die das alles zusam m enfaßt. Also es gibt eine
Art von K ontrapunkt zwischen M ikrostruktur und M akrostruktur bei Berg.
BOULEZ: Ja, ich w ürde sagen, der Traum wäre für mich - das ist vielleicht eine
D um m heit - , aber ich möchte das zunächst ganz grob sagen, sozusagen Bruck
ner m it W ebern zu mischen.
ADORNO: ja. ich darf hier vielleicht sagen, daß Webern der Traum einer Ein
heit von Bruckner und W ebern gar nicht so fremd gewesen w ä re und nicht so
p a ra d o x , w ie er klingt; denn W ebern hat das leidenschaftlichste Verhältnis zu
Bruckner gehabt, und ich habe überhaupt erst durch W ebern B ru c k n e r ver
stehen gelernt, nicht um gekehrt.
BOULEZ: Ja, das ist w irklich ... Für mich geht es also um diese M öglichkeit,
zum Beispiel etwas w ie die C ello-Stücke von Webern, also w irklich das A ller
kürzeste, innerhalb einer riesensym phonischen Bewegung sozusagen zu pla
cieren. Ich habe das zuerst im M arteau zu machen versucht, aber dam als noch
in einer ganz unbew ußten Art. Es ging m ir um Stücke, die w irklich nicht ho
mogen in diesem Sinn sein sollten, aber nicht nur um oberflächliche Diskre
panzen, ...
ÄDORNO: ... nicht nur an der O b e rflä c h e , sondern, in. sich ...
BOULEZ: ... die in sich auf einer Inhornogeneität basiert sein sollten.
BOULEZ: ja , und ich fin d e , das m u ß auch in der W e lt der 'l o n h ö h e n und der
D auern reflektiert werden. Ich m eine zum Beispiel, w e n n man für eine Weile
im Halbtonsystem s p ie lt..gut, m an hat dann diese H albtonw elt - und nun
plötzlich M ikrotöne zur Verfügung haben würde, dann darf die M usik nicht
mehr so polyphon sein, um die Feinheiten der Intervalle hören zu können;
m an könnte also nicht m ehr polyphon schreiben, und man m üßte einen
bestim m ten Dreh finden, um diese kleinen Intervalle zu. hören. Und plötzlich,
wenn man wieder zum H albton kom m t, kann. man. alle diese anderen D im en
sionen rekuperieren, verliert aber jene Feinheiten der Intervalle.
Sehen Sie, was ich m it inhom ogen meine, das ist nicht nur ein. Konzept von
Form, das ist auch ein Konzept von. Realität.
BOULEZ: Ja, wie zum Beispiel ... —das hat m ich im m er beeindruckt: Sie waren
sicher in Brügge, und wenn man dort die M em ling-B ilder sieht, m uß m an eine
L u p e m itbringen, ...
A d o r n o : O ja .
BOULEZ: und dann sieht man plötzlich ein D etail sehr genau.
A d o r n o : S o is t es.
BOULEZ: Und wenn man nachher die Lupe w e g n im m t, dann hat m an wieder
das ganze Bild. U nd ich finde, daß m an in der M usik überhaupt bis jetzt über
diese D im ension nicht nachgedacht hat: also die M usik gleichsam unter eine
Lupe zu halten, um eine nicht homogene Dimension herzustellen, die aber
trotzdem w irklich eng m it der anderen D im ension verbunden ist.
V erhinderung auch zukünftigen Jaulens errst einen weiteren Passus des Parti-
turvorwortes entworfen: »der Ausführende m uß sich aber sehr davor hüten, in
eine singende Sprechweise zu verfallen. Das ist absolut nicht gem eint.«
Was also tun?
Die traditionelle Schlamperei übersetzt alles »so ungefähr«, da es ja, wie jeder
w eiß, nur »auf die Linie ankom m t«. Die gängige Lösung lautet also: Die notier
ten Tonhöhen finden keinerlei Berücksichtigung (»das geht ja doch nicht«),
oder wenn, dann kaum mehr denn als taktweise beibehaltene Intervallstruk
tur, kurioserweise oft eine Q uinte zu tief.
Selbst Boulez gibt in seinem Lexikon-Artikel zu Schönberg eine zwar nach
vollziehbare, gleichwohl unbefriedigende Begründung seiner Jahre später unter
völliger Ignorierung des S prechgcszngs vorgelegten Schallplatteneinspielung —
er läßt das ganze W erk schlichtweg singen.
Trotzdem findet sich in seinem Text ein Schlüsselwort, das in Schönbergs
Partitur-Vorwort transplantiert die Sache klären hilft: »Emissionsdauer« (nach
zulesen in: Pierre Boulez, Anhaltspunkte, Stuttgart/Z ürich 1975, S. 313).
Ich lese jetzt also: »Der Gesangston hält die lo n h ö h e unabänderlich fest, der
Sprechton gibt sie zwar an, verläßt sie aber nach kurzer Emissionsdauer.«
Nun klin gt der Satz zwar ein w enig am tlich nach den neuesten Abgasbe
stim m ungen, besagt aber klar: die Ibnhöhe ist beendet nach kurzer Zeit. Also
kein w im m erndes Glissando nach oben oder unten wie in Schönbergs eigener
A ufnahm e (» ... verläßt sie durch Fallen oder Steigen sofort w ieder«), sondern
technisch gesprochen eine A m plitudenrücknahm e.
Und das geht tatsächlich! Die Probe aufs Exempel ist einfach und für jeden
nachvollziehbar: Unterbrechen Sie sich zum le s t einmal mitten, im Redefluß.
Setzen Sie die zuletzt gesprochene Passage quasi in m usikalische W iederho-
lungsklam m ern, um beim wiederholten Sprechen auf die Sprachm elodie, die
lo n h ö h en des Sprechgesangs zu achten. H at man erst einmal, die einer Passa
ge zugrundeliegende lhn.fol.ge erkannt, versucht man, unter Beibehaltung die
ser 'lonhöhen den. Satz nochmals zu sprechen und erhält Schöribergs Sprech
gesang.
Som it ist es m öglich, P ierrot w ie notiert auszuführen: gesprochen, aber m it
exakten, lo n h ö h en . Daß dies bisweilen ungewohnt klingt, liegt an der noch
heute w irksam en R adikalität von Schönbergs W erk... und am. Genre, »irn
Ganzen eine höhere A rt von Kabarett, dessen hum oristische Seite allzu oft über
sehen wurde« (Boulez).
Jedenfalls ergibt sich, etwa im hohen Register, wo norm alerweise niemand
spricht, eine textbezogen richtige Komik.
Hans R udo lf Zeller
Aus Arnold Schönbergs Vorwort zum P ierrot lu naire : »Die in der Sprechstim
me angegebene M elodie ist (bis aut einzelne besonders bezeichnete A usnah
men) n ich t ?,um Singen bestim m t. Der Ausführende hat die Aufgabe, sie unter
guter Berücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen in eine Sprechm elodie
um zuwandeln. Das geschieht indem er
I. den Rhythm us haarscharf so einhält, als ob er sänge, d .h . m it nicht mehr
Freiheit, als er sich bei einer Gesangsm elodie gestatten dürfte,
II. sich des Unterschiedes zwischen Gesangston und Sprechton genau bewußt
wird: der Gesangston hält die 'lonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton
gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen sofort wieder.«
Obwohl der Zyklus von 21 M elodram en für eine Sprechstimm e und Karn-
m erensemble komponiert: wurde, sollen die Texte dennoch nicht gesprochen,
bloß rezitiert, ebensowenig aber gesungen werden; vielm ehr sind sie entspre
chend den »vorgezeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie urnzuwandeln«.
Andererseits aber soll der Ausführende den Rhythm us »haarscharf« so enthal
ten, »als ob er sänge, d .h . m it nicht mehr Freiheit, als er sich bei einer Gesangs--
melodie gestatten dürfte«. Schönberg supponiert also unabhängig von der Pro
duktionsweise einen Z usam m enhang von 'ih n und seiner Dauer, im übrigen
auch, unabhängig vom Unterschied zwischen Gesangston iiru Und
dieser bestellt darin, daß der Gesangstoii »die Tonhöhe un; fest-
hält, während »der Sprechton sic zwar an(gibt), ... sie aber i und
Steigen sofort wieder (verläßt)«. Fast könnte man danach sagen: cm ton, des
sen lonhöhe sich durch Fallen oder Steigen ständig verändert, also nicht nur
eine, sondern unzählige Tonhöhen hat, ist gar kein 'Fon, wenigstens nicht im
traditionellen Sinne. V ielm ehr gehört das, was Schönberg hier offenbar in ten
diert, zur D efinition des Glissandos, das bis in die 50er Jahre des 20. Jahr
hunderts quasi nur in A usnahm efällen auch kom positorische Verwendung
fand, für gewöhnlich aber in seinen diversen Abstufungen eher zu den Unar
ten m ancher Interpreten zählte,
Anfang der 50er Jahre indes waren es nicht vokale, sondern instrum entale
G lissandostrukturen, die in den. ersten Orchester werken von lannis .Xenakis
neben Vierteltönen und Schwebungen zu hören waren, bevor er in den 60er
Jahren auch vokale Glissandoform en entw ickelte und derart: der kurzen
Geschichte der Komposition m it M ikrointervallen m it fast jedem Werk ein
neues Kapitel hinzufügte. Von der sich Schönberg scheinbar schon im voraus
98 H ans R udolf Zeller
oder vielm ehr ein Glissando zwischen den Achteltriolen f ”-<?”und der V ier
telnote d is”. Bewegt es sich hier noch, auf engstem Raum., ist es im elften M elo
dram, »Rote M esse«, vielm ehr ein Riesensturz abwärts von g is ”nach d\ der bei
größter Lautstärke, fff, die Priesterkleider »zer - reißt«:
Das Glissando der Rezitation löst jedoch nicht allein die Glissandi der drei
M elodieinstrum ente aus, sondern ebenso —und w iederum fff - die fallenden,
teilweise ganztön igen und extrem gegensätzlichen M artellato-A nschläge des
Klaviers. Im fünfzehnten M elodram zu Beginn des dritten Teils, »H eim weh«,
Schönbergs »Sprechgesang« und X enakis5 Intervallglissando 101
ist das Glissando zwischen den V ierteltriolen in 'Fakt 9 w ieder wie in den ersten
beiden Beispielen notiert:
Auch das »gesungen (wom öglich die tieferen Noten)« im achten M elodram ,
»N acht«, einer Passacaglia, exem plifiziert einen Anpassungsvorgang: w en ig
stens einm al soll die Rezitation von ihrem eigengesetzlichen Stil abweichen
und klar erkennbar, quasi notengetreu das »Them a« des Stücks, die Verbin
dung von kleiner und großer Terz intonieren:
Schönbergs »Sprechgesang« und X enakis’ in rervallglissando 103
Uftwas rsßeüher.
(B S S Ü S a E tw as r a y h er.
gesgstoeissa
raM H©„ <.g-Lmst fen o feirto .m a. Au»demQu*lmvMr . tot . am
.JI^a Ifitwftgigagener. p**
Was zu Beginn des zweiten Teils als einm alige, auf drei Töne sich beschrän
kende Intervention erscheint, durch die sich die Rezitation als Singstim m e am
Aufbau einer traditionellen Form beteiligt, wird im dritten Teil die Rezitation
selbst übernehmen. N im , im siebzehnten M elodram , »Parodie«, ist diese tr a
ditionelle Form zugleich die strengste: der Kanon. Der Reihe nach im itiert der
Sprechgesang die Stim m en der einzelnen Instrum ente, die zudem noch jeweils
mit einem anderen Instrum ent einen Kanon in G egenbewegung bilden. Doch
eigentlich im itiert der glissandierende Sprechgesang zunächst nicht nur die
Stim m e der Bratsche, sondern transform iert sie zugleich, indem er sie seinem
fluktuierenden Stil anpaßt:
Pictof.
S f3 # = = f= w = »
M, I ,
? !
SM ck .
(JG .,)
din-f ii (i in i k
K lavier.
Schönberg kom biniert jedoch das inkom m ensurabel Neue und Exzeptionelle
des glissandierenden Sprechgesanges nicht erst in der »Parodie« m it dem
gewohnten Instrum entalklang, auch wenn es sich gerade in V erbindung mit
dem Kanon auch in m usikalischer H insicht um eine besonders kunstvolle »Pa
rodie« handelt. Wei taus w irkungsvoller ist bereits eine frühere Parodie, die Kon
frontation des Sprechgesangs m it einem einzigen Instrum ent, der Flöte, im
letzten Stück des ersten Teils, »D er kranke M ond«. W eil auch der M arteau sans
Scbönbergs »Sprechgesang« und X enakis’ Intervallglissando 105
M aitre von Pierre Boulez ein Stück für Flöte und Singstim m e enthält, hat man,
nicht ohne einem. H inw eis von Boulez selbst zu. folgen, Schönbergs Pierrot
lunaire prom pt m it dem anderen großangelegten Zyklus verglichen, obwohl
dort die Singstim m e keinen Sprechgesang auszuführen hat und des- Reiz des
.Marteau gerade vom »exotischen« Instrum entarium ausgeht. Insofern bein
haltet Schönbergs Duo ungleich mehr als ein solches für Flöte und Singstim
me, stellt vielm ehr in. konzentriertester Form den Instrum entalton dem glis-
sandierenden Sprechton des Sprechgesangs gegenüber. D arauf verweist schon
das äußerst reduzierte Tempo »Sehr langsam e d.« und dam it verbunden die
aufs Ganze gesehen längsten D auern der Rezitationstöne, m it vorw iegend H al
ben und V ierteln statt Achteln und Sechzehnteln. Schon in den ersten 'Fakten
überwiegen sowohl instrum ental wie vokal die längeren W erte, die nur vor
übergehend w ieder verkürzt werden, um im gesamten m ittleren 'Feil vorzu
herrschen:
, UM SU ..
i
i» ■
» a S Ä iir a c Iit, S ie f sxaolxJig t-ö..,deskrst>:!kss"
Schon gleich zu Anfang m it den vier Vierteln von (M clo-)»die.«, dem längsten
W ert der Rezitation, das die Flöte als Stichwort zu einem melodischen Aul-
schw ung versteht, der sich, aber nach großen Sprüngen bald auf kleine lauer
vallschritte reduziert. Desgleichen reduziert sich die Lautstärke vorn f zürn ppp})
in Takt i 5 für die Triolen aus kleinen und großen Terzen, und die Spielweise
ist. wie schon zuvor überwiegend non legato. Die Intervalle des Sprechgesangs
hingegen werden, größer, bis s ic ..wie schon im achten M elodram »N ach t«...
in Takt 16 die untere Grenze des Ambitus der Stim m e erreichen, nun aber kei-
u( f ills gesungen werden, dürfen, jedenfalls eine Intensivierung des vorigen
il u s m ittels Erweiterung darstellen. Das Solo des Sprechgesangs beginnt und
endet auf demselben 'io n gleicher Dauer, welche dann auch die Flöte über
nim m t, vor einem eher zaghaften Aufschwung, der erst im folgenden Schluß
teil w ieder an Höbe und Lautstärke gew innt.
Neben gegenseitiger Verstärkung von Sprech- und ln st rum en talstim m e
durch annähernde Parallelführung oder andererseits durch H ervorhebung
gerade der Differenz ihrer A rtikulationsweisen verm ag die Sprechstimm e noch
106 H ans R udolf Zeller
Doch der Text ist nicht zu Ende: Rezitation und Klavier kontrapunktieren
zugleich den unerbittlich zur Aiifangsnote der (-leige zurückkehrenden Krebs
des Doppelkanons, indem sie dein Schluß oder der dritten W iederkehr der
Zeile »einen w eißen Fleck des hellen M ondes« m it erhöhter Aktivität zustre
ben. Zum al das Klavier sich bei der Wende m itten in der zweiten. Exposition
einer Fuge befand, und. nach einem weiteren Zwischenspiel noch eine dritte zu
bewältigen hat samt Coda. Dem gegenüber erscheint der .Doppelkanon seines
Ablaufcharakters wegen nur mehr als Begleitung.
Zu Beginn des Stückes standen die Schlußnoten der Geige über den Wor
ten »w eißen Fleck«, die nun im Schlußtakt gleichfalls w ieder am Anfang
stehen und zusamm en m it dem in der Coda der Klavierfuge m ehrm als
bekräftigten Schlüsselintervall dieses M elodram s, dem Tritonus, gespielt
werden.
Anders als Schönberg, der den Sprechton als A bweichung vom festgehalte-
nen Gesangston definierte und dadurch den Z ugang zur Sprechm elodie als
Schönbergs »Sprechgesang« und X enakis’ Intervallglissando 107
P a u s e , b lo ß fS\
fo lg t:
1977 hingegen hat der Sopran w ieder nur wenige Phoneme —und dies so
gar relativ selten — zu artikulieren, aber die vollständige Besetzung des
Kamm erensembles erinnert trotz einiger U nterschiede auffällig genau an
jene von Schönbergs P ierrot lunaire: Flöte, K larinette, Klavier, Streichquar
tett und K ontrabaß, insgesam t neun Ausführende. Der 'Fitei Akanthos ist
zum einen der Nam e der Pflanze Bärenklau, die zum anderen Vorbild für
das O rnam ent am Kapitell der korinthischen Säule diente. Und manches in
dern Stück könnte m an als O rnarnentierung deuten, vor allem die jeweils indi
viduellen Intervallglissandi, welche die Streicher nach einem interkalierten
Knirschen au f dem Steg »unter« den nach oben schießenden Kaskaden des
Klaviers spielen. Denn instrum ental wie vokal ist das Stück nicht zuletzt ein
K om pendium aller von X enakis entw ickelten Glissandoform en, so gleich
anschließend eine Phase langgedehnter »harmonischer« Glissandostrukturen
der Streicher.
Die Stim m e hingegen, obwohl ins Ensemble integriert, ist keinesweg nur
bloße Vokalfärbung, erfüllt vielm ehr strukturelle, um nicht zu sagen kontra-
punktische Funktionen, gerade beispielsweise gegenüber den Glissandi der
Streicher, denen sie staccato-Repetitionen eines Tones entgegensetzt. Zudem
ist sie weder nur Sing- noch nur Sprechstim m e: in den nach ihren Intervall
glissandi w iederkehrenden, äußerst schnellen Staccato-Partien verläßt sie die
vorgezeichneten Tonhöhen ebenso wie sie diese in den m elodischen G lissan
dofiguren nur berührt. Nur die »einlachen«, mehr oder m inder steigenden oder
fallenden Glissandi führen, abweichend von Schönbe
ton, füllen also unterschiedlich große Intervalle gänzlicn aus.
Intervallglissandi zu den Phonemen u (wie Französisch ou), i und A m it den.
Abschlußsilben NI und SITA und die folgenden zu A:
fe
f r
f= Ü
sn
._l,_ - J I
r...
Schönbergs »Sprechgesang« und X enakis’ Incervallgiissando 109
Die zwischen den einzelnen N otenwerten fixierten kleinen Noten sollen nicht
gespielt bzw. gesungen, sondern nur berührt werden, m arkieren m ithin das
Ende des Glissandos, w orauf dann die folgende Note bis zur nächsten kleinen
Note (so vorhanden) zu spielen ist. So könnte nach Xenakis auch der Schön-
bergsche Sprechgesang noch genauer als unbestim m tes oder vielm ehr unvoll
endetes Intervallglissando gelten.
Doch zurück zur geheim en Beziehung zwischen Staccato und Glissando.
Nach Zweiunddreißigsteln-Staccati des Soprans läßt Xenakis die beiden sich
scheinbar ausschließenden Spielweisen auch vokal konvergieren, vorbereitet
durch das Tremologlissando des Kontrabasses und abgeschlossen vom Platter-
zungen-Glissando der Klarinette:
6&1*3OMH
M onika Schwarz-D anuser
bei welchem die Sprechstim m e sowohl rhythm isch als auch diastematisch in
den Tonsatz integriert und m ittels einer zuvor nicht bekannten N otationsw ei
se bestim m t erscheint.
Zwar hatte es schon früher Ansätze gegeben, die Sprechstimm e durch rhyth
mische Fixierung in den Tonsatz einzufügen —z.B . bereits in Neefes Sopho -
nisbe (1776), Webers Preciosa (1821), Schum anns M anfred (1852) oder auch
Meyerbeers L epardon d e Ploermel(\ 859) doch waren dies kontextbedingte
M aßnahm en innerhalb einzelner W erke gewesen, die m it der rhythm isierten
Sprechstim m e keinen neuen Stand einer m elodram atischen G attungstradi
tion definieren wollten. Die H um perdincksche Fixierung in der m elodram a
tischen Fassung der Königskinder hingegen w urde allgem ein als eine Antwort
au f die Krise der nachwagnerschen Oper verstanden. Indessen wurde die hef
tig geführte Kontroverse w eniger durch die neue Technik des »gebundenen«
M elodram s ausgelöst als vielm ehr durch den Anspruch, m it dem das H um -
perdincksche W erk auftrat: das W agnersche M usikdram a auf legitim e Weise
fortzusetzen und dessen »Sprechgesang« gleichsam zu sich selbst zu bringen.
Begreiflich, daß alle dogm atischen W agnerianer m it Entsetzen reagierten, hat
te doch der M eister selbst das M elodram als ein »Genre von unerquicklichster
Gern ischtheit«2 verworfen.
W eder die im Zuge des Historism us in den 1880er fahren erfolgte W ieder
belebung der Bendaschen M elodram en Ariadne a u f Naxos und M edea in
M ünchen, Gotha und Prag m it teilweise neuer Instrum entierung noch die Auf
führung eines 'teils aus Fibichs M elodram trilogie H ippodamie 1892 in W ien,
noch Publikationen wie M artin Roeders Schrift Line missachtete Kunstforrn
u n d zu deren Regeneration ein ige erläuternde Worte-’ (um 1875) und W ilhelm
Kienzls D ie musikalische D eclam ation'1zeitigten auch nur annähernd eine ver
gleichbare publizistische Resonanz.
Die Einbeziehung der gebundenen Sprechstim m e als einem neuen Aus
drucksm ittel ist auch, und vor allem im Rahmen der dam aligen Na.turah.s-
m usdebatte zu sehen. So schreibt Engelbert H um perdinck in einem Brief aus
dem. fahre 1898 nach der Uraufführung der K önigskinder : »Ich denke natür
lich nicht daran, daß sie [die neue Kunstforrn des Melodrams) je den Gesang
verdrängen soll, aber neben demselben wird, sie sicher von größter W irkung da
sein, wo Stoff und Form sich nicht für rein gesanglichen Ausdruck eignen.
Unsere moderne Oper geht einen Weg, der zum M elodram führen muß. M it
dem in unserer Zeit liegenden Bestreben, Reales auf die Bühne zu bringen,
m uß sich auch eine Form finden, die sich diesem. Zug der Zeit anpaßt, und
das ist meines Dafürhaltens die Form des M elodram s.«3
: i....
81 .~
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... “*... 'S. ii
! ii i 'i; — _
V ,/ I i
..J .•
7 Er nst O tt o N o d n a g e l , Das naturalistische M elodram , in: der s., Jenseits von Wagner u n d LiszU
K ö n i g s b e r g 1 9 0 2 , S. 152.
8 E b e n d a , S. 1 53.
9 E b e n d a , S. 1 5 5.
10 G e o r g K la ren , » Z u r T e c h n i k des O p e r n b u c h e s « , in: M usikblätter des A nbruch 2 (1 9 2 0 ) , S. 2 2 0 .
Vom M elodram zur Sprechstim m e 1 15
»Hänsel u n d Gretel«, bearbeitet für großes Orchester im Jahre 1895, eine Art
H om m age an den Lehrer darstellt. (Er kannte dieses Werk sehr genau, da er
H um perdinck bei der H erstellung des Klavierauszuges behilflich war, und auch
dessen Ü berlegungen hinsichtlich des gebundenen M elodram s dürften Oskar
Fried nicht unbekannt gewesen sein.) Um seine kom positorischen Studien zu
vertiefen, nahm Fried in Berlin noch U nterricht bei Philipp Scharwenka in
K ontrapunkt und w urde durch die A ufführung seines Trunkenen Liedes, op. 11
(1904), durch Karl M uck schlagartig berühm t. Die in den darauf folgenden
Jahren erschienenen M onographien von Paul Bekker (1907), Hugo Leichten-
tritt (1906) und Paul Stefan (1910) w ürdigen Fried als einen Komponisten
von ernstzunehm endem Format, als dessen C harakteristikum ein neuartiger
»M assenstil« galt, wie er vor allem im Erntelied, auf einen 'Text von Richard
D e h m e l für M ä n n e rc h o r und Orchester zutage tritt.
Diesem auf große W irku n g bedachten Stil im Sinne einer W eltanschau
ungsm usik ist auch seine Komposition D ie A uswanderer auf einen Text von
Emil Verhaeren in der N achdichtung von Stefan Zweig aus dem Jahre 1912
verpflichtet. Das nahezu 400 Fakte umfassende W erk ist für eine »Sprechton
stim m e«, großes Orchester und Fernorchester geschrieben. Es darf als eines der
Zeugnisse dafür gelten, daß die Einbeziehung der Sprechstim m e und der Über
gang vom M elodram zur Sprechstimm e nicht nur auf der Linie H um perdinck'
Schönberg, sondern —man denke nur an Ferruccio Busoni11 oder an ähnliche
Versuche in Frankreich oder der dam aligen Tschechoslow akei..von Kompo
nisten ganz unterschiedlicher ästhetischer Standpunkte realisiert w urde, wenn
gleich die eigentlich geschiehtsm ächtige W irkung von Schön berg und seinen
Schülern ausging. Denn anders als Richard Strauss’ Eno<1 / /mi-l i m
Schillings Hexenlied, die vor allem aufgrund ihrer ball :n
G rundlage spätrom antische Züge tragen und auch in uei /u i uei m eium a
m alischen Sprachbehandlung eher retrospektiv erscheinen, anders auch als
beim 1912 kom ponierten P ierrot lunaire, in w elchem der abgestandene G e
halt des Rom antisch-Schaurigen des M elodram s gleichsam m itreflekrieft und
durch die neuartige Behandlung der Sprechstim m e artifiziell überwunden wird,
zeigt die B ehandlung der »Sprechtonstim m e« in Frieds A uswanderern eine
ganz eigenständige Physiognom ie, die durch m ehrere Faktoren begründet
erscheint.
• li g ist, m it ih ih i - ehe
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O s k a r Fried, D ie A uswanderer, T. 1 2 6 - J 2 8 .
1 5 A rn o l d S c h ö n b e r g , Pierrot lunaire, T a s c h e n p a n i n n ’, W i e n 1 9 1 4 ,
16 V g l. R e i n h a r r M e y e r - K a l k u s , » S p r e c h m e l o d i e n in >Pierrot Lunaire<«, in: Neue Z ürcher Z eitung
Nr. 90,' 1 5./16. A p r il 2 0 0 0 , S. 54.
118 M o n ik a Schw arz-D anuser
Indem Oskar Fried bew ußt den Term inus »M elodram « verm eidet und statt
dessen den Begriff »Sprechtonstim m e« für den Untertitel seines W erkes w ählt,
kom m t noch ein weiterer U m stand zum 'Fragen, der für den Übergang vom
M elodram zur Sprechstimm e bezeichnend ist: w ar dem M elodram des 19. Jah r
hunderts fast ausnahmslos ein rom antischer Topos des U nheim lichen und
Übersinnlichen eigen, so wurde die G attung durch den Ü bergang zur Sprech
stim m e semiotisch neutraler und dam it w eit vielfältiger anwendbar. In dem
M aße näm lich, in dem der lyrische Gesang auf Schw ierigkeiten stieß, erwei
terten sich um gekehrt die künstlerischen Perspektiven des M elodram s als einer
Komposition für Sprechstim m e. Im Z eitalter einer »m usikalischen Prosa«
brauchte die gesprochene Sprache im Kontext von M usik in gar keiner Weise
mehr den Vorwurf des Prosaischen -.wie ehedem unter G eltung der m usika
lischen Poesieästhetik - zu befürchten. Im Gegenteil, m elodram atische Prin
zipien konnten der M usik einen ganz neuartigen W i rklichkeitsbezug und dam it
auch ungekannte ästhetische Aussichten verschaffen.
Die Komposition der A uswanderer erfolgte verm utlich irn Jahre 1912. Aus
einem Brief Verhaerens an Stefan Zweig vom 28. November 1912 geht her
vor, daß der Verleger Kurt Fliegel, in dessen »Jungdeutschem Verlag« das Werk
im darauffolgenden Jahr im Klavierauszug erschien, sich an Verhaeren gewandt
hatte, um den Kontakt zwischen D ichter und Komponist herzustellen.1-7 Am
3. Januar 1913 fand in Berlin die Uraufführung im Rahmen der Sym phonie-
konzerte des Philharm onischen Orchesters unter der Leitung des Komponi
sten statt. Die große Schauspielerin T iila Durieux, d; ’ ’ i Ensemble von
M ax Reinhardt engagiert, war m it der Rezitation be; worden. Neben
Frieds Werk w urden in demselben Konzert noch das -Klavierkonzert
von Liszt mit. W ilhelm Backhaus als Solisten, und Busonis Orchestersuite Die
B rau lw ah l zu Gehör gebracht. Das Echo w ar eher zwiespältig, was angesichts
der Diskrepanz zwischen großem O rchesterapparat und einer einzelnen, soli-
stischen Sprechstimm e kaum erstaunt. So heißt es in einer K ritik dieses Kon
zertes in der Zeitschrift D ie Musik, in der die Braulwabl-S uite lobend, erwähnt
w ird, über das Friedsche Werk: »W eit w eniger Kultur und Geschmack zeigt
Fried in seinem M elodram »Die A usw anderer (G edicht von Emile Verhaeren)
für eine Sprechstimm e und großes Orchester. H ier is t..das liegt teilweise schon
im Stoff —von keiner Überfeinerung, von keinem blassen Ä sthetentum etwas
zu. spüren; m it derber H and werden im al fresco-Stil grelle, schreiende Farben
hingesetzt, auch wo sie. der 'lex t nicht unbedingt erfordert. Sonst ist die dum p
fe verzweiflungsvolle Stim m ung des Gedichts nicht übel getroffen; etwas vom
unw iderstehlichen, aufreizenden Rhythm us der Verse (von T illa D urieux aus
gezeichnet, wenn auch des öfteren vergeblich gegen den O rchesterlärm an
käm pfend, gesprochen) lebt auch in der M usik. Aber als Ganzes betrachtet,
kann auch dieses W erk die Bedenken gegen die unselige Z wittergattung des
M elodram s nicht zum Schweigen b ringen .«18
D aß im übrigen T illa D urieux m it der Rezitation beauftragt war, m ag dam it
Zusam m enhängen, daß sie, die m it Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht
bekannt und von der sozialkritischen Tendenz der D ichtung Verhaeren,s beein
druckt war, öffentliche Lesungen seines dichterischen W erks in Berliner A r
beitervierteln veranstaltete. W ie Debussy, Strauss, Schönberg und Strawinsky
zur Komposition m elodram atischer W erke durch die Begegnung m it Schau
spielerinnen bzw. T änzerinnen angeregt w urden, hat eine T illa D urieux m ög
licherweise auch die Komposition der A uswanderer initiiert. In ihren 1954
veröffentlichten Lebenserinnerungen schreibt sie darüber nichts, wohl aber
über die für sie desaströse Uraufführung: »Inzwischen hatte Oskar Fried, der
Schüler Gustav M ahlers, die M usik zu Verhaerens >Die Auswanderer« kom po
niert. Schon einm al w ar ihm eine derartige Komposition für großen Sprech
chor und Orchester gut gelungen, bei Dehmels >Erntelied<. Nun sollte ich in
der Philharm onie Verhaerens Gedicht zur O rchesterbegleitung sprechen. Die
erste Orchesterprobe zeigte bereits die Fehler der Komposition. Das Fortissi
mo eines großen Orchesters zu übertönen, ist für eine Sprechstimm e unm ög
lich. Schw ieg ich, säuselten zarte Geigen, die aber sofort von schm etternden
Trompeten abgelöst w urden, wenn ich den M und auftat. Ich hätte am liebsten
abgesagt, aber der Saal war bereits ausverkauft, Fried, brauchte Geld und war
überdies von seinem W erk sehr eingenom m en. D am it ich besser zu hören war,
w urde für m ich eine Art Käfig in den Saal hineingebaut, in dem ich m ir wie
an. einem Sc.hand.plah 1 vorkam. Aber alles d.as half nichts, die Sprcchsum m e
konnte nicht durchdringen, und das Ganze w ar ein M ißerfolg. Ich fühlte es
schon während des Abends und machte schließlich .1 auf
und klappte ihn wieder zu, denn von dem feurigen I.) atge
eifert, gab das Orchester seine größte Lautstärke.«’9
Nach diesem »M ißerfolg« legte .Fried das W erk aber keineswegs ad acta, son
dern schrieb es für Sprechchor und Solorezitation um, eine Version, die, wie
aus einem Aufsatz von Alf Nyrnan ersichtlich, erfolgreicher gewesen sein muß:
»Dieses G edicht wird in dem Friedschen Werke von einem rhythm isch spre
chenden Chor vorgeführt..eine N euheit, die einen an den Sprechchor im grie
chischen. D ram a denken läßt. Nach, dem Wagnerschen Szenenrezitativ, nach
H um perdincks Versuchen zu melodischer Sprachbikiung (in der M ärchen
oper) und Strau ß ’ und. Schillings’ D eklam ationsm usik (len n yso n s Knock.
Ärden und W ildenbruchs Hexenlied) scheint dies eine folgerichtige Entwick-
lungslinie und eine beachtenswerte Lösung des alten m elodram atischen Pro
18 D ie Musik 1 2 ( 1 9 1 2 - 1 3 ) , S. 183.
19 T i ll a D u r i e u x , Eine 7 irr sieh t offen, hrin n ern n gen , B erl in 1 9 5 8 . S. 158.
120 M o n ik a Schw arz-D anuser
blems zu sein. Es ist auf jeden Fall eine Idee, die ein Regisseurhirn stim ulieren
kann —eine Ü bertragung der M ax Reinhardtschen Prinzipien auf m usikali
schen Boden. [...] Aber unter diesem Redechor, dessen D iktion in freien m usi
kalischen Intervallen steigt und fällt —zittert, klagt, stöhnt ein Orchestermar-
ciale — ein trauerm arschartiger Sym phoniesatz von einer neuen, erregenden
Schönheit.«20
W erkbesch reibung
dröhnend schallt der Hritt der herannahenden Masse. Dieses Stampfen geht
von Anfang bis zu Ende des Stückes ununterbrochen fort in einer Furcht und
Grauen weckenden E intönigkeit. Knirschend hart dazu die Parallelquinten in
den O berstim m en, die steten Begleiter des seltsamen Basses. Auf diesen mas
sigen. Unterbau ist ein reiches Orchester aufgesetzt. Es m alt alle N üancen des
Textes, die weite Ebene, das Knarren der M ühlräder, das Stocken des W indes,
das Fegen des Sturm w inds. In dies Getriebe hinein singt der M ännerchor uni
sono eine ganz einfache M elodie, sechs Strophen hindurch fast ohne wesent
liche Veränderung. Um. ihn her aber wogt und tobt es. In unaufhaltsam em
crescendo wächst der Bass m it den erbarm ungslosen Q uinten zu. Riesengroße
an, am Orchester wird die Erregung im m er heftiger, bis schliesslich bei der letz
122 M o n ik a Schw arz-D anuser
ten Strophe der rasende Sturm w ind dahinfegt; m it zerm alm ender Kraft, in
w ahnsinniger Aufregung schreit der Chor; jetzt erst wenige la k t e vor dem
Schluß wechselt die H arm onie zum ersten M ale [ ...] Die Intensität der Emp
findung in diesem Stücke ist unglaublich erschütternd. Ebenso erstaunlich ist
die virtuose Herrschaft über O rchesterm ittel und die Sicherheit der Satzkunst.
Es ist M assenw irkung großartigster Art. M it diesem Stück schliesst die Reihe
der W erke, die Fried bis jetzt veröffentlicht hat.«22
Sowohl them atisch als auch in der kom positorischen Anlage ist die Kom
position D ie A uswanderer gleichsam ex negative auf das Erntelied bezogen.
W ar jenes von einem revolutionären Impetus getragen, so konzentriert sich
dieses auf das Problem einer entwurzelten Landbevölkerung und ihres Verlusts
der bis dahin geltenden Werte.
O bgleich das G edicht von Verhaeren m it der Vision der Stadt eine Schluß-
kul m ination aufweist, die allerdings keine Erlösung bringt, sondern eher einen
negativen H öhepunkt m arkiert, ist doch der zentrale Gehalt des Gedichtes »die
W iederkehr des Im m ergleichen«. Der Aufbruch der Landbevölkerung ist nicht
zielgerichtet, er vollzieht sich als Kreis:
Diese negative G rundstim m ung der D ichtung, die in immer neue Bilder gefaßt
w ird, gestaltet Oskar .Fried als Trauermarsch, der allerdings an mehreren Stei
len durch rhythmisch bewegte Partien in einem 6/8-Rhythmus aufgebrochen
wird. »Schleppendes M arschtem po« verlangt Fried für die orchestrale Einlei
tung, in der die wichtigsten G rundm otive exponiert werden: ein von einem
Paukenwirbel grundiertes Seufzerm otiv (d.-moll, a-mofl), ein dem entgegen
gesetztes, aufsteigendes M otiv mit scharfen dynam ischen Kontrasten, ein ruhig
abwärts geführtes M otiv sowie schließlich eine kontrapunktische Figur, deren
fließender Gestus später w ieder aufgenomm en wird. Die H arm onik bewegt
sich im Rahmen einer erweiterten Tonalität m it überm äßigen D reiklängen und
Ganztonleiter.
In der Art eines doppelten Kursus ist die orchestrale E inleitung angelegt, die
m it ihrem Gestus heroischer Trauer m itunter an den m usikalischen 'Fon Gustav
M ahlers gem ahnt. Dieser Trauermarsch ist das tragende Gerüst der gesamten
Komposition. Das aus einer unregelm äßigen Strophenfolge (m al 2, mal 4, mal
6 Zeilen) bestehende Gedicht faßt Fried zu größeren Sinneinheiten zusammen
j ) P V t f,r; WANDERER
EMILE VERHAEREN / ,S TEFAN ZWEIG*
0 3 K A R FRIED
—einige läßt er ganz a u s .., ein hier durchaus legitim es Verfahren, da der dich
terische Text verschiedene Varianten ein und desselben Sachverhalts ausm alt
und nicht herm etisch erscheint.
Die ersten vier Strophen, die eine deprim ierte M enschenm enge auf der
Landstraße dahintrottend schildern, faßt Fried, in den Trauerrnarseh, der das
Werk ein.gel.eit.et h a t te ..m it Änderungen vor allem in Instrum entation und
D ynam ik. Die Sprechtonstim m e schw ingt sich nur an zwei markanten. Text
stellen. (»W ind«, »ins Unendliche geht«) auf. Bewußt monoton gestaltet, rezi
124 M o n ik a Schw arz-D anuser
tiert sie au f einer m ittleren Tonlage und kehrt vor allem ihre rhythm ische
Prägnanz hervor, das Trauerm arschartige der M usik unterstreichend. Der
’lex t soll verständlich sein, die Interpretation der Verse bleibt dem Orchester
übertragen.
Es folgt ein scharfer Kontrast beim Wechsel der Perspektive von den M e n
schen zu den D ingen (»Am nackten W ald das H erbergshaus«), ein Perspekti
venwechsel, der in Verhaerens D ichtung im Sinne eines sym bolisch erhöhten
N aturalism us zu verstehen ist. Ausgehend von den W orten »Ratte und Maus/
treiben drin nun ihren Schabernack« prägt die M usik m it Staccato-Figuren in
einem »schnellen un d hastigen« 6/8-Takt, der m it einem 3/4-Takt alterniert,
und tonm alerischen Elem enten w ie einem H arfenglissando bei dem W ort
»W ind« einen völlig anderen Gestus als zuvor aus, der nicht unbedingt voll m it
dem Gehalt des Gedichtes korrespondiert.
Neben dem G rundm uster des Trauerm arschrhythm us, der den Verlauf des
Werkes dom iniert, deuten vor allem M aßnahm en im rhythm ischen Bereich
den Text aus: bei den W orten »die Leut von hier sind ganz verschreckt« schreibt
Oskar Fried, das klagende M otiv des Anfangs aufgreifend, einen 5/4-Takt vor,
und bei den W orten »D ie Klepper trotten trist im Schritt/Ihr klappriges
-F \ !'■ !> 1 1 y !’ H i ■ :
nag .. U>s B ein n it schiß •• fein A rm j» den W in d
K d
I I
23 Ver haeren, A usgew ählte G edichte. S. 6 0 h irn französischer) O r ig in al wird die enge Verz ahn ung
der be id en Zyklen s c h o n rein sj)rachlich durch die Ver haerensehe W o r tp r ä g u n g »temaculaire«, die im
Tire! des folgend en (Gedichtzyklus figurieren wird, verdeutlicht. D ieser Neo log is mu s har sieh inzwi
sch en im französischen S pr ach geb ra uc h durchgesetzt. D i e letzte S tr op h e lautet im Ori gin al :
(L m i l e Verhaeren, Les Gtimpagncs hcdlucinees, Les VilLs tentctaäaires > Paris 1 9 8 2 , $. 78).
''7~TT!SSBMI
---j f--—,
W erk zeigt in seiner eigenw illigen Prägung unter wie untersch ied lichen Prä
m issen K o m p on isten zu B eg in n des 2 0 . Jah rh und erts die Sp rechstim m e ein
bezogen haben.
Z usam m en m it dem Trunkenen LiedxmA dem Erntelied w urde Frieds K o m
p o sition Die Auswanderer von der zeitgenössischen K ritik als eine A rt Trias
beg riffen , deren M erk m al vor allem ein neuer M assenw irkungsstil sei. So
schreib t der bereits zitierte M usikschriftsteller A lf N ym an em phatisch: »Bei
N ietzsche, R ich ard D ehm el und Verhaeren su ch t er die produktive Stim m u ng .
Sein erstes größeres W erk m u ß als philosophisches O rato riu m bezeich.net w er
den. L...] Seine nächste M u sik ertat war die K o m p ositio n von D eh m els b ek an n
tem E rntelied , diesem dunklen dro.lien.den Sang m it seiner O ffen b a ru n g des
öko n om isch en Fatum s, das über den V ölk ern b rü tet. Zu diesem T ext hat Fried
die deutsche M arseillaise geschaffen | ...J. In dieser ü rch este rsch ö p fu n g ver
b ren n t Fried seine letzten akadem ischen S chiffe und zeichnet in großen Fres
ken; die In ten sität des Erlebnisses treibt einen neuen Stil h e rv o r..den Stil des
2 0 . Jah rh u n d erts.«2'1
Und über D ie Auswanderer h e iß t es: ».Es dürfte überhaupt wenige W erke in
der gesam ten k on tin en talen M u sik literatu r geben, die in so h ohem G rade wie
dieses den N am en G egenw artsm u sik verdienen. E in e der stärksten D ich tu n
gen der m odernen Lyrik, in der die naturalistische .Inspiration auf jedem Punk
te m it Sym b olik geladen ist [ . . . ) . H ier geht ein W eg, der w eit führen kann.
D e r M eunier der M u sik, so hat m an Fried genannt. Es sind Z üge vorhanden,
die ihn in tim m it dem belgischen B ron zeb ik lhaiier v e rb in d e n ..n ich t nur die
E m p fän g lich k eit, das G efü h l für die sozialen P roblem e, die proletarischen
I ypen und S tim m u n g en - der Stoffkreis m it einem W o rt. A ber die tiefste A ehn-
lichke.it ist w ohl in der unerhörten Stärke des A usdruckes zu find en, der pathe
tischen Wahrhaftigkeit, m it der der N aturalism us etwas anderes streift, das -
vielleicht — das große N eue ist in der europäischen K u n st.«25
24 N y m a n , Oscar Ir ie d , S. 1 6 5 F
25 E b en d a , S. 1 6 4 FF
Vom M elod ram zur Sp rech stim m e 12 7
Exkurs
A rnold Schön bergs m usikalische In n o v ation en , vornehm lich der Schritt: zur
Freiton alität und die später daraus erw achsende M eth o d e, m it nur zw ölf auf
einander bezogenen Fönen zu k om p on ieren , waren A usdruck einer radikalen
K u nst, die im D ritten R eich als »zersetzend« und »entartet« verfem t wurde. Als
Ju d e von den N ationalsozialisten verfolgt, flü ch tete S ch ö n b erg über Um wege
ins amerikanische Exil, wo er schließlich 1941 als U S-Bürger naturalisiert wurde.
D er A usbruch des Krieges in Europa veranlaßte ih n , k om p ositorisch zu rea
gieren. E r suchte deshalb laut eigener Aussage nach einem 'le x t, der sich »auf
ly r a n n e i beziehen solle«3 und entschied sich für Lord Byrons Ode to .Napole
on Buonaparte. In einem B rief an G ertrucie G reissle beschrieb S ch ö n b erg das
P rojekt wie folgt: »Z ur Z eit kom poniere ich gerade ein Stü ck [...] Es ist ein
M elod ram , ähnlich dem Pierrot, aber nur für 4 S treicher und Klavier, keine
Bläser. R ezitation von. einem M A N N . Es wird sehr interessant sein. D ie G e-
d ichtvorlage ist die Ode an .Napoleon Buonaparte von .1,ord Byron, (...) D er 'i exi.
ist voll von A ndeutungen auf H itler und im ;...... 1........ : ....... l ;...: .....: ..... 4 »Im Jah
re 1.942«, so S ch ö n b erg später rückbiickenc \posersm it
der B itte an m ich heran, ein K am m erm us on zu
schreiben. [...] M ir kam. sogleich die Idee, r :n der
M enschen über all jene V erbrechen zum Ausdruck zu bringen, die diesen Krieg
hervorrufen. Ich dachte an M ozarts Figaro, |...J Schillers Wilhelm Fell, Goethes
Egmont, Beethovens Eroica und Wellingtons Sieg, und ich w ußte, daß es eine m o
ralische P flicht der Intellek.tue.llen war, gegen die Tyrannei. Stellung zu. beziehen.«'’
1 Bei dem vor liegenden lexc ha ndelt es sich um Er w äg un ge n , die der A u to r in seiner T ä ti g k e it als
In te rp re t dieses K a m m e r m u s i k w e r k s zu s a m m e ng e tra g en h a t und die teilweise s cho n in F or m von
Lecture-RecitaLs und R u n d fu n k s e n d u n g e n v er öff en tli ch t worden sind. Sieh e au ch Stil oder Gedanke^
S aa rb rü ck en 1 9 9 5 .
2 D ie Gedichte von Bertolt Brecht, F ran fu rt am M a i n 1 9 8 3, S. 64.1.
3 A r n ol d S c h ö n b e r g , » W i e ich dazu k am , O d e to N a p o l e o n zu k o m p o n i er e n .« , in: Jou rn al o fth e
A rnold Schömberg Institute, Vol. 2 , 1, O c t o b e r 1 9 7 7 , S. 5 5 - 57 .
4 Zi ti e rt nach : Arnold Schönberg 1 8 7 4 —1 9 5 L Lebensgeschichte in Begegnungen, herausgegeben von
N ur ia N o n o - S c h o e n b e r g , Klagen.furt 1 9 9 2 , S. 3 8 4 .
5 Ar nol d S c h ö n b e r g : » W i e ich dazu k am , O d e to N a p o l e o n zu k o m p o n i e re n .« , a . a . O . , S. 5 5 ; L e o
nard Stein: »A N o t e on the Gene si s o f ehe Ode To Nc/fioleon«, in: Journal ofth e Arnold. Schömberg 1nsti-
tutCy Vol. 2, 1, O c t o b e r 1 9 7 7 , S. 5 2 - 5 4 ,
Z u i' Ode to Napoleon Ihm naparte 129
E rstau n lich wird solch dezidierte Aussage, w enn m an sie m it einem von S c h ö n
berg vierzehn Jahre zuvor geschriebenen Aufsatz vergleicht: »Ich habe nichts
m it P olitik zu tun und gestatte es mir, m ein e irrelevanten M ein u n g en für m ich
zu behalten. M an kann nich t ernsthaft glauben, daß K unst politische Vorgänge
beeinflusse. K ünstlerisch gesehen ist es dasselbe, ob je m a n d m alt, d ich tet oder
k om p on iert; sein Stil ist zeitlich bed in gt. In w elchem A kkord den n ließe sich
das m arxistische G lau b en sb ek en n tn is eines M u sikstü cks erken nen, in w elcher
Farbe das faschistische eines Bildes?«6 D ie globale Krise hatte S ch ö n b erg o ffen
sich tlich davon überzeugt, n ich t m eh r au f einer strik t u n politischen H altu n g
zu beharren, sondern seine prom inente Position gegen Krieg und Faschism us zu
nutzen. D aß diese Entscheidung aber keineswegs die Preisgabe einer avancierten
m usikalischen Sprache zu bed euten hatte, ward im folgenden E xkurs d eutlich.
W äh ren d des Zw eiten W eltkrieges befanden sich auch S chön berg s einstiger
Sch ü ler H an n s E isler und T heod or W A d orno im am erikanischen E x il Sie
arbeiteten gem einsam an einem P ro jek t für die R ock efeiler Fou nd ation in New
York, dessen E rgebnis 1 9 4 2 in dem B u ch Komposition ftlr den Film vorgelegt
wurde. D arin vertraten sie die A uffassung, daß sich der m usikalische Stil m ehr
oder w eniger vergleichgültigt habe und nun als ein Param eter gleich lo n h ö h e ,
Farbe, R h y th m u s und D y n a m ik k om p ositorisch eingesetzt werden k önn e. D er
Sin n geh alt eines W erkes m anifestiere sich n ich t m ehr In dessen S til, sondern
in der K o m p o sitio n sm eth o d e selbst, in der A rt, wie eine vom Jazz geprägte
A kkord folge, beispielsw eise, oder eine Z w ö lfton reih e — jetzt zwei M ö g lich k e i
ten unter vielen - im G esam tgefüge integriert sei. B etrach ten w ir hierzu das
R eihen m aterial der Ode to Napoleon:
D ie G ru n d gcstalt der R eihe besteht aus zwei gleichen H älften . D ie 'Föne 7 bis
12 sind eine Sequ enz der 'Fön e 1 bis 6 , genauer n och , deren O bersek u nd -
K rebs. A ußerdem korrespondieren. G ru n d gestalt und K rebsu m kehru n g sowie
U m k ehru ng und K rebs, was zur Folge hat, daß lediglich zwei statt der ü b li
chen vier transponierbaren R eihengestalten als M aterial zur D isp o sitio n ste
hen, die G ru nd gestalt und der Krebs:
6 Ar nol d S c h ö n b e r g , »Fehlt der W e i t eine Fried ens hy mne ?«, in: 8 -Uhr A b en d b la u d er B erliner N atio-
ihi! /'.< in n ig 2 6 . M a i 1 9 2 8 .
130 Stefan Litw in
N ach alter K o nvention etabliert das instru m entale Vorspiel, der Ode to Napo
leon w ichtiges m o tiv isch-them atisches M aterial und. antizipiert auf m usikali
scher E bene die d ram atische H and lung.
Im ersten Vers Byrons stehen W orte wie King und a.rm’d with kings to strive.
M an achte auf die Q u arte und den pu nktierten R h y th m u s in der von Bratsche
und C ello gespielten H au p tstim m e. B eid e E lem ente treten jeweils hervor, wenn
im 'le x t Byrons von M a ch t und K am p f die Rede ist.
Ä h n lich gestaltet ist auch das T h e m a , das zu den W o rten ivith might unque-
stioridpower to save erklingt:
Aus einem B rief Sch ön berg s an H . H . S tu ck en sch m id t: »Lord B y ron, der vor
her N apoleon sehr bew unden hat, war durch seine ein fach e R esignation so
enttäu sch t, daß er ihn m it schärfstem H o h n überschüttet: und das glaube ich
in m ein er K o m p o sitio n n ich t verfehlt zu h ab en ,«9 S p rich t Byron von N a p o
leon, so klin gt ein tonalem D en k en entliehen es M o tiv an, in w elchem D u r-
lind M o lld reiklan g gleicher 'lo n a rt verq u ickt sind. D ie D issonanz der E ck tö n e
zueinand er sowie die scherzando-G este, m it w elcher das M o tiv auftritt, e n t
sprechen Byrons Sarkasm us und Sp o tt.
Z u r Ode to Napoleon Buonaparte ] 33
M it morning star sind zwei verschiedene, wenn auch m iteinander verwandte An
spielungen verbunden. Byron bezieht sich auf Jesaja 14, 12, wo der Prophet den
Sturz N ebukadnezars, des Königs von Babylon, m it dem fallend erlöschenden
M orgenstern vergleicht, und setzt parallel dazu den Sturz N apoleons. Schön berg
illustriert das so:
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i;
:.gH-
BJ 1 J vk 1 . 1 ' J . i i . i . j ...,
< / 0» - ; r
.düDitf. Ibü \-vor-id a-^ a in .-- butwbxhvould
:::: ':^ Z E E E ^ Z- - :^ E = E E E
Z u r Ode to Napoleon Buonaparte 1 35
- J ^ U r - — .....— - _________ i
...... - - .......- y 0~ <
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1 ----------------------------- — ------------------ T " ....................
'% T T IT lega io
D ie Frage doch wer erklimmt die Sonnenhöh, d aß er in Nacht, wie du, vergeh■
;
sch cin t d am it m usikalisch beantw ortet: Luzifer, der 'letifel.
U nentw egt u n term alt S ch ön berg s M usik die Textvorlage. 7 hat spell upon the
mindsofmen, zum Beispiel, wird durch ein hypnotisches O stinato charakterisiert:
I I 1 SS
m l
sp rrp p
136 Stefan Litw in
With fronis of brass and feet o f clay ist eine w eitere A nspielung auf: N ebu kadne-
zar. D em B u ch e D aniel zufolge träumt: der babylonisch e K ö n ig von. einer teils
ehernen (der K ö rp er), teils tönern en Statu e (die Fü ße). D aniel d eutet die S ta
tue als Königreich, und prophezeit dessen U ntergang, D a schon. N ebu kad ne-
zar die Ju d en versklavt hatte, gew ann dieser T extteil im fahre .1942 zweifels
ohn e aktuelle Signifikanz.
Fm folgenden A b schnitt der Ode, wo Begriffe wie Triumph und Victory wie
der durch Q u artm o tiv e repräsentiert w erden, sind aus der Intervallreihe logisch
erfolgend zwei m u sikalische Z ita te ein g efloch ten : die M arseillaise und das
K o p fm o tiv aus Beethovens F ü n fter Sy m p h on ie, welches m it dem S ch lu ß der
M arseillaise verschachtelt wird. W ä h re n d des Krieges waren beide Z itate S y m
bole des antifaschistischen W id erstand s, die M arseillaise stellvertretend für die
französische R esistance und Beethovens F ü n fte als das vom L o n d o n er B R C -
Sender ei ngesetzte Erkennungssignal und »Siegesmotiv«. (Im M orsek od e reprä
sen tiert der R h yth m u s kurz-kurz-kurz-lang den B u ch stab en V, eine damals
allseits bekann te A bkürzung für Victory.)10
Z u r Ode to Napoleon Buonapartc 137
In der Ode to Napoleon kom m t: Byron auch auf historische C h araktere und
Legenden zu sprechen. He who o fo ld ivould rend the oak m ein t die Label von
M ilo und der E iche. M ilo von K ro to n , so wird erzählt, sei so kräftig gewesen,
daß er m it nur einem Faustschlag eine ju n g e Kuh erschlagen und im Laufe des
: ’lages verzehrt habe. E in e partiell gespaltene E iche vorfind end , versuchte er sie
m it bloßen H än d en auseinanderzubrechen, blieb jed och darin stecken. D a er
: sich alleine n ich t m ehr befreien k o n n te, fiel. M ilo den W ölfen zum .Fraß. S ch ö n -
■ berg läßt die V iola ein T h e m a dazuspielen. D as C ello im itiert im K anon,
j
]0 Au ch visuell fand die A b k ü rz u n g weite V er bre it un g, n i c h t zuletzt durch W i n s t o n Ch ur ch il ls
m ed ien wi rks an ien G e b r a u c h davon, n äm li ch durc h eine den B u ch s ta b e n V n a c h a h n i e n d e Spreizung
des Ze ige - und Mit telfing ers .
138 Stefan I.itw in
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PO CO M A ESTO SO
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Z u r Ode to Napoleon Buonaparte 139
D ieses T h e m a ist wie alles andere aus der R eih e abgeleitet. M an vergleiche es
aber m it d em B egin n von B eethovens S treich q u a rtett op. 1 3 2 :
Violino I. :
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V i o l i n o 11.
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V iola
L
1
V ioloncello
] 1 D i e vier Tö:ne, die bereits bei B e et h o v en archaisch a n m u t e n , weil sie an das vorklassische Kreu-
zigungsrnotiv er in ne rn , sind ni cht nur in op. 1 3 2 von zentraler Be d e u tu n g , auch die G roße huge
op. 1 3 3 und an dere Sätze der späten St r ei ch q u a rt e tt e setzen diese Figu r ein.
140 Stefan I.itw in
A uch w altet die Viertonfigur in je n e r Strophe vor, in der B yron von Austritts
rnournfiä hlower, N apoleons zw eiter Frau M arie-L ou ise spricht. Ebenso er
sch ein t sie zur Legende T im ors (oder Tam erlans). D er so b en an n te M o n g o
lenherrscher, h e iß t es, h abe a u f seinen Siegeszügen den en tth ro n ten K ö n ig B aje-
sid in einem Käfig m it sich gefüh rt. G leiches M aterial sch ließ lich m arkiert den
R ü ck g riff auf N ebukadnezar, he, of Babylon, und eine A nspielung auf P rom e
theus, dem thiefoffire. A ber auch Byrons sarkastischer T on fall wird in S c h ö n
bergs eigenem bissigen H u m or reflektiert, wenn im A n sch lu ß an die Z eile So
lang obey’d .. so little worth!folgendes instrum entale Zw ischenspiel erklingt;
Z u r Ode to Napoleon Buonaparte 141
A TEM PO P A ,a
'gl
Licht, von Beethoven auch im Finale der Neunten Symphonie eind rü cklich ins
W erk gesetzt, wird herbeizitiert. S chön bergs Ode an Napoleon spielt je tz t auf
Schillers Ode an die Freiheit an.
V ergleicht m an diese Stelle m it dem in die S chlu ß ep isod e der Ode to Napo
leon einführend en C ello th em a m itsam t der nachfolgend en Im ita tio n e n , so
wird evident, daß S ch ö n b erg aus einsichtigen G rü n d en , w enn m an die daraus
gew onnene sem antische B ed eutu ng b ed enkt, nun auch den C h o r aus B e e th o
vens Neunter Symphonie w ie vorm als das H au p tm o tiv aus op. 1 3 2 zum B au
stein m ach t (siehe S. 1 4 5 ).
Z u r O d e io N a p o leo n B u o n a p a r te 14 3
Andante maestoso (J = 7 2 )
basiert ein friih.es O rch esterw erk Luigi N on o s, die Variazioni canoniche sulla
serie deW Op/il di Arnold Schoenberg, a u f der T o n reih e zu diesem Stü ck . D en n
S ch ö n b erg verlieh Byrons und S chillers F reih eitsu top ie in der Ode to Napoleon
neue G estalt und drückte, k on trär zum M iß b ra u c h der m u sikalischen T ra d i
tio n durch die N ationalsozialisten , den h u m anistischen G eist Beethovens in
aktualisierter W eise aus. W ä h ren d die in D eu tschland b etriebene Politik das
L ich t löschte, erhellte die p o litisch e M u sik des aus D eu tschland V ertriebenen
die finsteren Z eiten .
H einz-K lau s M etzger
Na]>oi('«»n(s Sturz)
S ch ön h erg , Harmonielehre ( 1 9 1 1 ) 1
D e r die .Hierarchie, die »A usführung eines Kunstgriffs, der es erm ög lich t, m usi
kalischen G ed an ken den Anschein von Geschlossenheit zu verleihen«2, weg
fegte; der die G leich b erech tig u n g der T ö n e und aller B eziehungen zwischen
ih n en , der Intervalle, w ider die N atu r erfand und d am it die W ien e r atonale
R evolu tion zu B eg in n des zw anzigsten Jah rh u n d erts anzettelte, hat die to n a
len V erhältnisse n ich t als b lo ß e C h iffren der H errsch aft gedeutet, sondern
u n m ittelb ar als p olitische T atsach en erkannt. D as Sim pelste, die K ad enzklau
sel V -T in C -D u r m it dem F u n d a m en tsch ritt CT C im B a ß , erklärt er dem
H arm onieschüler folgen d erm aßen : »D er 'Fon, der früher H au p tto n war, der
G ru n d to n , wird im zweiten A kkord abhängiger 'Fon, Q u in t; allgem einer: der
B a ß to n des zweiten Akkords ist eine höh ere K ategorie, eine höhere M ach t,
denn er en th ält den ersten, der früher selbst G ru n d to n war, in sich. Im D re i
klang von G ist g übergeordnet, aber im D reik lan g von C ist g un tergeord net
und c übergeordnet. E in S ch ritt, der das hervorbringt, der sozusagen einem
Fürsten einen K ö n ig als V orgesetzten gibt, kann nur ein starker S ch ritt sein.
A ber das c un terw irft n ich t b lo ß den G ru n d to n , sondern zw ingt auch die ü bri
gen B estan d teile des A kkord s, sich seinen B ed in gu ngen anzupassen, und der
neue Akkord en th ält außer dem u n terjo ch ten früheren G ru n d to n nichts, was
an die frühere H errsch aft erinnert.«3 D as System erwies sich je d o ch , sam t der
inneren D ynam ik seiner w echselnden, einander stürzenden und erneut in th ro
nisierenden D om in an zen , als sprengbar von unten nach ob en : »Es kann also
auch anders kom m en ! W en n beispielsw eise der oberste H err schw ach und die
E rgebenen stark werden. E in Fall, der sich nur allzu o ft in der Flarrnon ie ergibt.
A ber so w enig es notw endig ist, daß ein Eroberer D iktator b leib t, so w enig ist:
es notw endig, daß sich nach einem G ru n d to n die T on alität richten m u ß , selbst
w enn sie von ihm abgeleitet ist. im G egenteil.«'1D ie T o n alität explodierte durch
ihre eigene Ladung.
N ich t vorgesehen gewesen war in den klassischen Theorien, über Fortsch ritt
und R evolu tion , auch den musikalischen, der Faschismus. D ie deutsche .M ör
d erherrschaft veränderte die W elt .. und die G esch ieJitsp h ilo so p h ie. Was
S ch ö n b erg als die w ahre F u n k tio n neuer Akkorde stipulien. h atte, war plötz
lich nur noch kritisch zu halten, hingegen, in. seinem positiven A usblick rührend,
vorfaschistisch: »D aß sie Alks, das Äußerste, leisten, wird, ihnen zu gem u tet; daß
sie eine W elt darstellen, einer neuen G efühlsw elt A usdruck geben; d aß sie neu
sagen, was neu ist: einen neuen Menschen/«’ S ta tt seiner standen H ek atom ben
bestialisch oder industriell E rm o rd eter und. ihre M ö rd er auf der Tagesordnung
~~ auch auf der des G eistes oder, falls jem and diesen T erm inu s bevorzugt, des
ästhetischen Su b jek ts. A ufklärung m u ß te jetzt versuchen, so dialektisch zu
w erden wie noch nie zuvor. R ü ck b lick en d auf die K o m p ositio n seiner Ode to
Napoleon Buonaparte hielt: Sch ö n b erg in einer Fragm ent gebliebenen N otiz
fest: »I had lon g speculated ab ou t die rnore p rofou n d m ean in g o f die nazi
3 E b en d a , S. 1 4 1 - 1 4 2 .
4 E b en d a , S. 15 6.
3 Eb end a, S. 4 7 9 . H er v o rh e b u n g e n im Or ig in a l. D i e Ü b er sc h ri f t des Kapitels b e i ß t » Q u a rt e n -
Akkorde«.
N apoleon (s Sturz) 149
philosophy, T h e re was one elem ent th at puzzled m e extrem ely: the resem blance
of the individual b eein g s [sic!] life in respect to values o f the com rn u n ity or its
representative: the queen or the Führer! I could n o t sec why a w hole generati-
on of bees or o f G erm an s should live only in order to produce an oth er gene-
ration of the sam e sort, w h ich on their part should also fulflll only the same
task: to lceep the race alive. 1 even surm ised that bees (or ants) instinctively
believe their destiny was to be successors o f rnankind, when this had destroy-
ed ir s e lf. . . j , . . ] W ith o u t such a goal the life o f the bees, w ith the k illin g o f the
drones and the thousancis o fo ffsp rin g s o f t h e queen seerned fntile. Sim ilarly
die sacrifices o f the G erm an H errenvolk w ould n o t m ake sense w ith o u t a goal
for w orld d o m in atio n - in w h ich the single individual could vest m u ch inter-
est.«6 D em i bevor S ch ö n b erg dazu kam , für seine vielleicht sogar m agisch in
tend ierte k om p ositorisch e U n tern eh m u n g gegen H itle r sch lu ß en d lich Byrons
H oh ngesang auf: den sch m äh lich en A bgang N apoleons zu w ählen, trug er sich
m it dem P lan, das Phantasm a der B ien en vö lk er und ihrer u n h eim lich en Staa
ten zu diesem Z w eck zu them atisieren und hierfür eine eigene D ic h tu n g zu
verfassen. Zwei Z ettel m it Entw ürfen zu diesem P ro jek t haben sich offenbar
erhalten; auf beiden springt der 'le x t am E nd e in ein m usikalisches N o ta t u m 7:
Es fällt ein D etail der In terp u n k tion auf: bevor die Skizze der zweiten »Stro-
ph e« von B u ch stab en sch rift in m usikalische N o ten um schlägt, setzt S ch ön berg
einen D o p p elp u n k t, als w ürde verm ittelst einer K o n stella tio n von T o n
h öh enintervallen der Beleg oder Bew eis des zuvor in verbaler Sprache Vorge
tragenen erbracht. D ab ei handelt: es sich offen sich tlich um den m iß g lü ck ten
E n tw u rf des sech stönigen Vordersatzes einer Z w ö lfton reih e und seiner U m k eh
ru ng in der U n terqu in t, w elche S ch ö n b e rg nach dem d riften 'Fon abbrach, weil
N apoleon (s .Sturz) J 51
er in n e wurde, daß sie k o m p lett n ich t aus den sechs restlichen T ö n e n des ch ro
m atischen Ib ta ls bestü nd e, aus denen sodann der N achsatz der R eih e zu b il
den wäre, wie es dam als längst zur G ru nd regel der seriellen K o n stru k tion en
Sch ön bergs gew orden war, sond ern infolge der W ied erh o lu n g des a und des
Fehlens des gis un brau ch bar wäre. M erkw ürdigerw eise aber b ü ß t bereits der
m elod ische E in fall, in w elchem der T exten tw u rf der ersten »Strophe« k u lm i
n iert, durch ein zweim aliges V ork om m en des /«jedenfalls die E ig n u n g ein, zur
Z w ölftonreih e zu w erden. W as indes den ganzen A lptraum des totalen B ie
nenstaates um seine Tauglichkeit b rachte, in S chön bergs geplanter Negation
des Dritten Reiches durch Kunst das negand um absolutum zu sym bolisieren, war
die literarische Q u elle, die des K o m p on isten einschlägiges W issen exklusiv spei
ste: La Vie des abedles jenes M au rice M aeterlinck, dessen ästhetische Trauer
n och das G rausigste in S ch ö n h eit verzaubern k o n n te: »M aeterlin ck s poetic
p hilo sop hy guilded everything w h ich was n o t gold itself. And so w onderful are
bis explanations th at one m ight d ecline refu tin g tliem , even if one knew they
were m ere poetry. I had to abandon this plan. I had to find an oth er su b ject fit-
tin g m y purpose.«8
W as Sch ö n b erg hier »purpose« n en n t, ist aufs genaueste zu bed enken. D ie
A b sicht, der sein V orhaben gilt, ist singulär in seinem W erk. W er das exzen
trische B eg in n en , das in W ah rh eit ein zentrales war, auf seinen B eg riff zu
bringen sich v erm iß t, m u ß jed e R ü ck sich t auf k on v en tio nelle O rien tieru n g s
m arken, die den gesitteten U m fang des R eichs der K unst im verm eintlich auf
geklärten zwanzigsten Jah rh u n d erts absteckten, von sich tun. D em Rückfall
der E p och e in eine B arbarei, derenglei.ch.en die W elt noch nicht, gesellen, weil
n äm lich die h yp othetische Urzeit, die m an sich so gern, wie fälschlich als einen
Zustand vor der E in fü h ru n g der Zivilisation, auszumalen
n ichr auf der K o m b in a tio n der zur N azizeit fortgesch ritten ste
L och karten des 1 lollerithsystem s, m it V iehw aggons für M et..,...... ............ ........
nicht: auf der V erknüpfung artifiziell hergestellter prim itivster U m stände des
Vegetierens sam t u rtü m lich er Folterun gen in den Lagern m it der technisch
h ö ch sten tw ick elten T ö tu n g s -, R eliq u ien v erw em m g s- und L cich cn cn tso r-
gungsindustrie b e ru h te ,..diesem .Rückfall der E p och e in unausdetikliche B ar
barei antw ortete die avancierte K u nst in einigen ihrer exponiertesten G ebild e
durch den Rekurs auf tabu ierte, tief archaische P raktiken, in die das Potential
ihres utopischen G egen teils, des extrem en ästhetischen F ortsch ritts, unterm
jäh en Signum des U nsterns zu fliehen schien. »K unst ist. M agie, befreit' von der
Lüge, W ahrheit' zu sein«, d oziert ein antisystem atisches Apercpi von abgrün
diger D ia le k tik .9 W om ö g lich eignet: der S ch ö n b erg sch en Ode to Napoleon
8 E b e n d a , S. 1 0 7 .
9 T h e o d o r W. A d o r n o , M in im a M oralin. R eflexione ;/ aus dem beschädigten Leben., Be rli n und F ra n k
furt am M a i n 1.951, S. 4 2 8 ; in A d or no s G esam m elten Schriften > Bd . 4 , hrsg. von R o l f T ie d e m a n n ,
F ra n k fu rt a m M a i n .1980, finde t sich die Steile au f S. 2 5 2 ; sie ist in der zweiten Auflage des Bandes,
Fra n k f u rt am M a i n 1 9 9 6 , auf S. 2 5 4 gerückt.
152 H ein z-K laus M etzger
10 Vgl. die D ar st e ll un g des Sac hverhalts in Ulr ich Krä m e rs Bei tra g » Z u r N o ta t io n der S p r e c h s ti m m e
bei S ch ö n b er g « , in die sem Here S. 2 5 ff-, ins bes. S. 3 0 - 3 2 .
1i G i u s e p p e C h ia ri , »Appunti«, in: Collage. Rivista trim estrale ä i m tova m usica e a rti visive contem -
p oran ee , n° 3 , a cura di Paolo E m i l i o Carapezza e A n r o n i n o T i t o n e , Pa le rm o marzo 1 9 6 4 , p. 7 6 ; vgl.
auch das G c n e r a l m o r t o dieses Hefts.
N ap oleon (s Sturz) 153
persona auch u m einen w eltlichen W iedergänger des Erzengels G abriel aus der
JakobsleiterhimAdt, einen n u nm ehr freilich »nam enlosen A n kläger«12: un d en k
bar, daß er, bei seiner B o tsch a ft, sän g e.1-5
S ind die system sprengenden, hier erstm als in S chön bergs W erk die P h a n ta
sie der T o n h ö h en relatio n en insgesam t vom A xiom ihrer E ich u n g auf die vor
gegebene ch ro m atisch e S tim m u n g lösenden »unilinearen Sprechneum en« das
E rgebnis eines waghalsigen Verw andlungsprozesses, so ist die Gestik der »be
gleitenden«, grundierend en oder bisw eilen die Rezita tion sogar wid ersprechend
k o m m en tie re n d en 14 In stru m en talp artitu r ebensow enig vom H im m el gefallen.
Im F rü h jah r 1 9 0 7 h atte S ch ö n b e rg seine B allade » D er verlorene H aufen«
op. 12 N r. 2 für M ä n n erstim m e und K lavier - wie das Pendant »Jane Grey«
op. 12 N r. 1 für Frau enstim m e - behufs E in reich u n g zu einem K o m p osi
tionsw ettbew erb verfertigt, bei dem er leer ausging. A n den A nfangstakten des
M ännerlied es
Gesang
Klavier
I zß±:
» D er verlorene H a i d e n « , T. I - 5
sch ein t sich die Idee der in stru m en talen E in leitu n g der Ode to Napoleon Buo
naparte entzündet zu haben:
Piano
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vSuire op. 2 9 O u v c n u r c
einige A kq u isitio n en der R evolu tion , m ögen es auch eher deren ju rid isch e
A bfälle gewesen sein, nach ganz Europa. D a ß U ntaten sonder Z ah l, auch M a s
senm ord e bis dahin n ich t gekann ten A usm aßes n am en tlich im O rien t, dem
Kaiser der Franzosen, h ätte er sich dem B rech tsch en Verhör des Lukullus stel
len m üssen, das U rteil eingetragen hätten : »All ja, ins N ich ts m it ih m und ins
N ich ts m i t /A llen wie er!«15, m ach t n och lange n ich t die Parallelisierung m it
H itle r triftig. H öld erlin sah den »A llbekannten« in einer O d e, deren A nfangs
zeile aufs sonderbarste die ersten W orte der N r. 14 aus S ch ön bergs Pierrot lu
naire nach dem u n terschätzten A lb ert G iraud - »Heilge Kreuze sind die V er
se, dran die D ich te r stu m m verblu ten« — v o rw eg n im m t, n o ch um 1 8 0 0
panegyrisch16:
Buonaparte.
♦|.S' M m p m uz , |‘ >,/
1 3 3 i3 r r ' r b n ' f k h *«
p ä n n r t
I 8 Vgl. in diesem H e i t den Be itr ag von Stefan Lit wi n , S. 1 3 3 ff. D i e Passage lautet bei Jesaja in der
von Wa lter B e n ja m i n geschätzten Ü be rse tzu n g von Le opold Zu n z: »W ie bist du v o m H i m m e l gefal
len, G la nzs te rn, S o h n des M o rg e nr ot s; zu Bo d e n g e s ch m e tte r t. Völk er be zwi nge r! Und du hast gespro
chen in de in em Her zen : i.n den H i m m e l will ich steigen, über G o t t e s Ster ne erheb en m ein en Lhr on,
und m ic h setzen a u f den Be rg der V er sa m m l u n g in der äuß er ste n M i t te r n a c h t. Ste ige n will ich auf
die W o l k e n h ö h c n , m ic h gleichstelien d e m H ö c h s te n . Aber in die H öl le bist du gestürzt, in die tief
ste G ru f t. D ie dich sehen, blicke n hin auf dich, be tra ch ten dich: Ist das der M a n n , der zittern m a c h
te die Erde, der K ö n i g r e i ch e erschüttert?«
19 Diese Vok abe l, seit J ah rze hnt en als banalste S c l b s t r e k l a m e b e n c n n u n g ko m m e rz ie ll e r Su b ku ltu r-
R ac k e ts g eb räu ch li ch , be ze ic hn e t in T a k t 2 3 von Sc h ö n b e r g s K an ta te A Survivor jrorn V/arsiUv die
Abw as ser ka na li sa tio n W ars ch au s: Teil der s tra te g is ch en O pe ra ti o n s b a s i s und am L n d e allerletzte
Z u f l u c h t der K ä m p fe r des ( j h e t t o Au fstandes 1 9 4 3 . J ed er kulturell v er an tw or tli ch e G e b r a u c h des
Begriffs h at von Sc h ö n b e r g s Lext auszugehen: dieser Usus m u ß ka n on is ch werden.
20 M ü n d l i c h e Äußerung» H e r b s t 1 9 6 4 , im Foy er des V o l k s bi k lu n g sh e im s am E s c h e n h e i m e r Tu rm
zu F ra n k f u rt am M a i n .
Ja k o b U llm an n
ck Jed e eröffn tm g statu iert eine Unterscheidung. Sie b estim m t den b lick
des autors auf eine sache, sie len kt den b lick des lesers a u f ein detail, einen
besonderen aspekt des gegenständes, dessen W ahrnehm ung ohn e die arbeit und
die k o n stitu tio n der Interpretation n ich t m ö g lich wäre. Jed e eröffn tm g statu
iert m it der U nterscheidung also eine grenze, die den b lick ein eng t und lenkt,
die in der in terp retation auch den abstand zürn w erk aufrecht erhält. Indem
sie notw endiger weise eine solche differenz statuiert, w ahrt sie n ich t nur die
in tegrität des Werkes, sie erlau bt auch die k on stru k tion all jener Zugänge, die
Im kon kreten fall n ich t betreten, n ich t einm al anvisiert w urden. Sie erhält dar
in ihr recht, daß die k o n stitu tio n der U nterscheidung kennzeichen der tatsa-
che ist, daß >eröffnungen< selbst dann nur als plural gedacht werden k ön n en ,
w enn sich der autor auf eine einzige beschränkt.
D ie in terp retatio n des
werkes eröffn et einen Zu erste eröffiaung
gang, der n ich t für den W ü r d e man. sich entschließen, am ende des J a h r
autor, sond ern für den h u n d erts, am. e n d e eines jahrhim derts voller
leser b estim m t ist. G ilt streit, voller auf- und U m b r ü c h e in der m.usik,
dies schon für die arbeit voller zukunftssehnsu c h t 11 n <1 voI1e r veriangen,
des nachd enken s über in der verg.mgi e i ........ . iid i m. am
künstlerisches denken und ende eine? •J » Ion- |.ih, i h , ! , i i_ <., <ren-
kü n stlerisch e praxis, für zen verletzenden unci .letzten Horizonten n a ch
die d och eher n ach ran strebenden nachd enkens über m u s i k s i e l t e n t
gige b etrach tu n g der er- sch ließ en , eine tafel. der fragen und problerne
gebnisse dieser arbeit, um aufzustellen, die ihre antw ort, die die wege zu ih
w ieviel m eh r m u ß dies rer lösung noch im m er nicht gefunden haben, so
für den au tor und sein hätte eine frage alle aussicht auf einen p rom inen
kunstw erk gelten. N ich t ten platz auf dieser tafel, die eher i m hin ter-
im m er, vielleich t sogar grund, gleichsam in der zw eiten reihe, m u sika
eher selten im laufe der lisches den ken und m u sikalische praxis im
langen und gew undenen nunm ehr vergangenen jahrbiindert: bestimmt hat.
gesch ich te m ensch liehen D iese frage, frage nach dem. gegenständ der
tuns auf dem gebiet der m usik ist ja keineswegs eine frage, die im h isto
kun st, hat diese festsiel- rischen gang w estlich-abendländischer m usik
lung die autoren üher- etwas in und für dieses jah rh u n d ert völlig neu
zwei sprachen 159
zeugt, ihr hand eln gelei es wäre; zu vielfältig und zu grundsätzlich ver
tet und ihre fragen an in- schieden sind die antw orten ausgefallen, die im
halt und S t r u k t u r ihrer laufe von 1 0 0 0 jah ren auf sie gegeben, w urden.
tätigkeit bestim m t. G e ra A llenfalls fällt auf, daß n ich t nur die antw orten
de in jen er zeit, in der des zwanzigsten jah rh u nd erts vielfach v o rsich ti
erstm als in der geschichte ger, zögernder gegeben w urden, es m u tet sogar
es m öglich wurde, auch an, als h abe sie selbst sich w eithin in ein en b eu n
je n e b ereiche k ü n stleri ru higend en h intergrund der diskussion m u si
scher b etätigu n g dem kalisch en denkens zurückgezogen. D ies m u ß
augenhlick zu en treiß en , um so m erkw ürdiger erscheinen, als gerade unser
die bis dahin im m er und zu ende gegangenes ja h rh u n d ert erfü llt war von
u n rettbar dem vergehen der suche nach einer d eu tlich k eit m usikalischer
und d em verklingen ver praxis, die über die genauigkeit der b eschrei
fallen waren, in je n e r zeit bt] ng ihres ortes hinaus auch noch den gegen
also, für die n ich t zuletzt w ärtigen, ja den zukü nftigen hörer festzulegen
das werk, dem diese Über versucht auf das hören einer b otsch aft, deren
legungen gelten, als schlüs jew eiliger in h alt für n ich t w enige k om p on isten
selwerk gelten kann, träum von so grundsätzlicher bed eutu ng für ihre arbeit
ten autoren davon, ihr und ihr w erk war, daß die klarh eit und V e r
werk in einer form für alle ständlichkeit: dieser botsch aft sie bis an die gren
nachw eit erhalten und zen. des ästh etisch zulässig erscheinenden, ja
konservieren zu k ön n en , sogar darüber hinaus trieb.
die jenseits aller interp re D ie frage nach einem solchen gegenständ der
tation und jenseits aller m usik, nach einem gegenständ der m usik über
scheinbaren urr/nl m< I (h - haupt, seiner existenz und rnitteill
keit der sch riftlx In u Fi hart m ehr fragen, m ach t auf m ehr u
x ieru n g, den w illen des b lein c aufm erksam , als r n ...... .... .........................
autors als totale des Wer G erad e diese w eiteren, di
kes festschreibt, der sich p a r ap 11 ra s i e re si d e n a 1s ve i.
kein I n t e r p r e t entziehen nenden fragen sind es, d
kann und der gegenüber n ach den ken über rn usik d ie u na u.sweici 111 u t kcj i
jede in terp retation denn einer a n tw ort auf die ausgangsfrage m it aller
auch nur zum dieser to ta d eutlichkeit vor äugen, stellen.
le gegenüber verschw in W enn die m u sik ein en gegenständ hat, kann, sie
denden trib u t an die tat- ihn dann »aussprechen«? K ann die musik: »über«
sache weiter verfließender ih n sprechen, ist er gleichsam m it ihr identisch
zeit schrumpfen, m u ß. oder ihr un ablösbar verbunden? »Spricht« m usik
M a n kann solche träum e überhaupt? W elchen einflu ß h at die antw ort auf
angesichts der gesellschaft diese frage auf unser sprechen »über« m usik,
lich en , m an ch m al auch kann es ein sprechen über m usik geben, das
sozialen läge von autoren m eh r von ihr erreich t als allenfalls eine um gangs
wie A rnold Sch oen b erg , sp rachlich e um setzung dessen, was in der parti-
angesichts der m iß v er tur längst klarer und eind eutiger »gesagt« ist?
stand nisse ihrer arbeit ge D a m it n ich t genug: w oran sollen w ir ein solches
160 Jakob U llm an n
geniiber, der bew ußten sprechen, w enn wir es denn für m öglich halten,
m iß g u n st un d des boy- messen? W issen wir doch nur allzu genau, daß
kotts ihrer w erke d urch die partitu ren, die scheinbar einzig bleiben de,
m usiker, hörer und kriti- verbind end e und über subjektive eind rü cke h in
ker nur zu gut verstehen. aus beständige grundlage m usikalischer praxis,
Z u d em ist, bevor m an selbst in h oh em m aße am biv alent, in vielen
eine solche gleichsam details verschlossen, in anderen ungenau sind,
eigentu m s- und alleinige ja n ich t wenige In fo rm ation en , ohn e die eine
verfügungsrechte über das au ffü h ru n g sch lech terd ings n ich t auszu kom
werk reklam ierende auf- m en in der läge ist, gar n ich t enthalten .
fassung von autoren k ri M ü ß te m an n ich t schnellstm öglich vom to ten
tisiert, daran zu erin nern, k o n stru k t, in das analysierender zugriff die par
daß solche Überzeugung tituren nur zu rasch verw andelt, zur lebendigen
n ich t zuletzt auch aus- auffü hrung, zum reden über das gehörte weit
d ru ck einer ern sth aftig - eher als über das geschriebene kom m en ?
k eit künstlerischer arbeit D ie tatsache des unausgesetzten sprechens über
und der V erantw ortung m usik, eines historisch ebenso verbürgten wie
für das eigene tu n und gegenw ärtigen sprechens sch ein t nahezulegen,
seine ergebnisse ist, an m indestens die m ö g lich k eit eines k om m u n ik a-
der es uns heute n ich t sel tionszusam rnenhanges mit'der m usik, m it ihren
ten m angelt. w erken, vielleicht ihrem denken n ich t gänzlich
D e n n o c h , so nach v oll abzulehnen. W äre ein solches die Jahrhund erte
ziehbar das als rnangel überdauerndes und über die grenzen, kon kreter
empfundene gefühl grund zeit und konkreten ortes hinausw eisendes spre
sätzlicher lirnitierung der chen über m usik doch kaum vorstellbar, wenn
V erfügbarkeit des autors noch in. ihm kein eclio, kein W iderhall erklänge
über sein werk für diesen von einer realität, die vielleicht n ich t anders als
auch sein mag, so b erech in der m usik zu ihrem hörbaren ausdruck fän
tigt der w ü nsch, an der de, n ichtsd estotrorz selbst n och im. sprechen
trad itio n n ich t allein re >über< (sollte m an sagen »unter«?) m u sik ihre
zeptiv b eteilig t zu sein, ein w enig verläßliche spur himerlassen zu. kön
auch ist, es b leib t an der nen in der Jage wäre?
pluralität der >eröffnun- D ie auskünfte, die uns autoren zu diesem the-
gen< festzuhalten. Nur rna gegeben haben oder geben k ö n n ten , k ön n en
diese pluralität sich ert hier nur w enig verschlagen, ist es doch gerade
jenen statu,s des k u n st- der - auch von autoren selten bestrittene —rnan-
werks, das erst dann sich gel an Verfügbarkeit über das eigene >werk<, der
in die kon krete gegen- uns in den bannkreis dieser fragen, zieht.
w art ein sch reiben kann, Zwei m usikw erke unsres jah rhund erts th em a ti
wenn es in der vielfalt der sieren diese fragen in sonst kaum erreichter k on-
interpretation weder im sequenz und schärfe. G leich sam spiegelbildlich
gestalt- und konturlosen stellen beide die ihre frage als grundsätzliche fra
nebel verschw indet, n och ge an alle m usik, sie stellen sie als frage nach einer
seine id e n tität nu r da k o m m u n ik a tio n jenseits dessen, was sprachli-
durch bewahren kann, cfaer repräsentanz im menschen
w ort der
daß es die lebendige ar- zugänglich ist: A rn old Schoenbergs oper Moses
b eit des im m er neuen, und Aron, Luigi N on o s »tragedia d ell’ascolto«
im m er k o n k reten Spre Prometeo. Sie stellen diese frage als au frich tu ng
chens durch das kalte einer differenz und angesichts eines m angels: wo
lich t rein er erhaltu ng S ch o e n b erg die U n m ö g lich k eit m en sch lich en
und bew ahrung ersetzt. sprechens konstatiert angesichts eines an-spruchs,
N ich t das kunstw erk, der alles m en sch en w o rt unausw eichlich über die
w ohl aber das n achd en- grenze gleißnerisch er U nunterscheidbarkeit zwi
ken über ein solches, über schen realität und bilci treibt, wird für N on o das
seinen charakter, seine h ö ren selbst zum tragischen in h alt des Werkes,
Struktur, seine geschichte weil alle tö n e die spur ihrer h erk u n ft und ihrer
und seine w irku ng, ist Verw undung nur um den preis des verrats, der
sich klarer rechen sch aft scham losen ben u tzu n g ü b ertön en oder verleug
darüber schuldig, w elche nen k ö n n ten . D ie differenz im sprechen zwi
erö ffn u n g dieses n a cb - schen gesungenem und dem n ich t m ehr oder
denken w ählt. W as also n o ch n ic h t gesu ngenen w o rt ist leich ter und
ist der zugang, der hier sinnfälliger au fzurichten als eine solche differenz
eröffn et w erden soll, in im hören, sie ist deshalb auch anfälliger für deu-
bezug auf das m erkw ür tu n g en , die nur die ob erfläch e des klanges
dige phäiiomen des sprech- berühren und von d ort her ihre urteile beziehen,
gesanges, das in Arnold N ich t zuletzt deshalb m u ß das augenm erk der
Schoenbergs oeuvre in so b etra ch tu n g gerade im falle des Werkes von
u n tersch ied lich er w e i se A rnold S ch oen b erg n ich t allein auf der differenz
eine n ich t zu ig norieren zwischen der erin n eru n g der botsch aft und ihrer
de rolle spielt? sprachlich en repräsentation, sondern ebenso auf
Es läßt; sich in verschie die gerneinsam keit zwischen gesungenem und
dene richtu ngen über die n ich t gesungenem w ort im klang und seinem
gründe spekulieren, die h in terg ru n d einerseits, in der gem einsam en
die au ßerord entlieh selt u n verfü gbarkeit seines H intergrundes in der
same Tatsache zu b egrü n W ir k lic h k e it, seiner sem antisch en Zuordnung,;
den verm ö chten, warum andererseits gelenkt w e rd e n ,
ausgerechnet in dem k u r
zen jahrhundertviertel vor zw eite eröffmuntg
der nahezu vollständigen D ie tatsache, daß in der oper gesungen wird, ist
auslöschu ng allen jü d i selbstverständlicher, als es für eine U ntersuchung
schen lebens und aller gut wäre. Es wird dadurch etwas als b lo ß fo r
jü d isch en k u ltu r durch males kriterium einer bestim m ten, gattu n g der
den deutschen n ational- k un st oder eines ensem bles von k ü n sten ver
sozial ism us eben von die standen, was es w ert wäre, in jedem einzelfall als
ser jüdischen k u ltu r auf tief p ro blem atisch en zustand und als n ich t un
b einah allen gebieten, die gefährliches unterfangen zu un tersu chen. S ch on
m en sch lich em geist und ehe w ir wissen, was ein >text< ist, sch on ehe wir
m enschlichem tun zugän- wissen, was der sch ritt vom leisen zum lauten
162 Ja k o b U llm an n
g lich sind, gerade der lesen, vom privaten zum öffen tlich en rezitieren
d eu tschen spräche und bed eutet, wird b lin d vorausgesetzt, m an könn e
k u ltu r noch einm al g a die w orte wie eine beu te davontragen und n ich t
ben hinterlassen w urden, nur rezitieren, sond ern sogar singen lassen.
derer b ew u ßt zu werden A ber was wird dem text dam it angetan oder was
und denen sich gew ach tun die w orte der rnelodie an?
sen zu zeigen in deutsch- S ch a u t m an sich in der opernw eit, schaut m an
land noch im m er eine sich in der gegenwärtigen praxis der opernexe-
auigabe der zukunft ist. k u tio n au f den bühnen einm al um , so find et
D e n k t m an an das viel m an eine antw ort auf diese fragen, die n ich t all
bändige journalistische zu erm u tigen d ist. S ich er wird die Entstehungs
w erk von K arl Kraus und gesch ich te des lib rettos u n tersu ch t, seine so
seiner n u r allzu aktuellen zialen und g esellschaftlich en implikationen,
künstlerischen U m setzung m ögliche politische W irk u n g en der zeit der ent-
in den letzten tagen der stehung od er fürs heute n utzbare pointen, all das
menschheit, an die die sei für viele, vielleicht für die m eisten fälle prak
d eutsche spräche von ih tischer arbeit m it der oper u n bestritten . A ber
rem gründe aufw ühlende d en n och : stärker noch als in der m usik scheinen
Übersetzung der h eb räi die inszenierungen nur m ehr in groben, sozusa
schen bibel durch Franz gen »im allgem einen« dem gang des textes zu
Rosenzw eig und M artin folgen. D ie k o n k retio n des Wortes sch ein t in
Buber, an die erneuerung einem m aße zurücktreten zu m üssen, das die
der philosophie und den au ffü h ru n g en in Originalsprache gerade dort
th eolog isch en einspruch anziehend m acht, wo sich die Umgangssprache
des ersteren im stern der von dieser Originalsprache der oper u n tersch ei
erlösung, an die heute det.
kaum noch b ekannte M it recht darf gefragt w erden, ob, wo schon m it
und dennoch nicht über- w e rte n , deren sem antisch en k o n n o tatio n e n
troffene klarstellung des d och klar sind, so hem dsärm elig um gegangen
sen, was exegese der wird, die musik. auf größere rück- und nachsicht
sehrift h eiß en m u ß , im rechnen kann.
w erk B en no Jaco b s, Aber n ich t die verschiedenen ebenen des aus-
denkt m an an das so ganz drucks und der affizierung gilt es gegeneinan
anders gelagerte und den der auszuspielen, V ielm ehr stellt Schoen bergs
noch seinen jü d ischen oper m it dem gegenüber von h ö ch st d ifferen
wurzeln je länger je d eu t ziert gesprochenem wort und gesungenem text
licher verhaftete d enken uns die fragen des anfangs m it größerer schärfe,
von Sig m u n d Freud, an is t das differenzierte sprechen des Moses ein
das w erk Franz Kafkas, an »noch-nicht-singen« oder ein »n ich t-m eh r-sin -
die bildet und kom posi- gen«? Ü b erschreitet A ron mit seinem g esan g d ie
tio n en der zeit vor 1 9 3 3 , grenze, die die klarheit des gedankens von sei
so scheint n ich t nur die nem bild, selbst seinem künstlerisch leg itim ier
gestalt des M ose eine der ten bild unterscheidet? W ä re das sprechen des
un tergründ igen, m an ch - M o se also als d u rch bru ch aus der w eit schönen
mal w enig, teilw eise gar scheins in jen en b ereich zu verstehen, der als
n ich t erk en nbaren k o n raum prinzipieller, w irk lich er en tsch eid u n g
stanten des nachd enkens allen schm u ck , alle »kunst« als flitter k en n tlich
abzugeben, auch die ge m acht?
stalt der spräche selbst ist W ie im m er m an diese fragen b ean tw ortet, m an
in all diesen beispielen m u ß sich darüber im klaren sein, daß die a n t
zum künstlerischen und w ort von S ch oen b erg in einer d eu tlichk eit gege
zum w issenschaftlichen ben ist, die zweifei an seiner in te n tio n aus
p ro blem gew orden a n sch lie ß t. D ie a n tw o rt S ch oen b erg s liegt auf
gesichts der erken n tn is, zweierlei weise vor. Z u m einen m u ß die tatsa-
d aß das, was an dieser che ernst genom m en w erden, daß der sprech-
stelle zu verhandeln ist, gesang in Sch oenbergs oeuvre als künstlerisches
allergenaueste rechen - mittels o un tersch ied lich e texte wie die des Pier
schaft: erfordert von dem , rot lunaire und des Kol Niedre dem text der par-
der sich auf die trad ition tie des M ose vergleichbar m acht, auch w enn die
einer erin nerung ein läßt, art seiner d ifferenzierung und sein einsatz sich
deren gestalt ebenso nur von stü ck zu stü ck durchaus u n tersch eid en .
im d ialog des >wenn< Sch o en b erg w ollte diese form des Umgangs mir
und >aber< zu existieren einem text: also sicherlich n ich t besonderen, m it
verm ag, wie sein an- religiösen im plikationen belasteten texten Vor
spruch solches k ateg o b eh alten. A u ch die zweite form der antw ort
risch ausschließt. k o m m t zu keinem anderen ergebnis. ln den hin-
Wenn Schoenbergs opern- weisen, die der autor seinem op ernfrag m en t vor
fragm ent Moses und Aron angestellt hat, m ach t er in bezug auf die partie
ausdrücklich in diese rei des M ose un m ißverständ lich klar, daß es ihm
he und in diese tradition m it der m erkw ürdigen n otation des sprechens
gestellt wird, so bed eutet einzig und allein darum geht, den ausdruck, der
das einen Zugang, dessen dem autor vorschw ebt, so genau und klar wie
>eröH'mmg< die m erk m ö g lich m itzu teilen . »D ie T o n h ö h e m m te r
würdige gestalt der sprä schiede sollen die D ek lam ation nur charak teri
che in dieser op er darin sieren«.
begrü nd et sieht, daß die Jeder, der einm al im eigenversuch an einer
trad ition von sinai n ich t unisetzung der Sch.oenbergsch.en n o tatio n sich
w eitergesprochen werden versucht h at, wird, unschw er nachvoliziehen
kan n , w enn die spräche, k ö n n en , wie nahe m an schnell je n e r art expres
sei sie gesungen oder sei sio nistisch er d ek lam ation k o m m t, von denen
sie gesprochen, n ich t sich wir uns durch tonaufn ahrnen vor allem aus den
des ih r d am it in n ew o h zwanziger jah ren des zwanzigsten jah rh u nd erts
nenden anspruchs bewußt einen akustischen eind ru ck verschaffen k önn en.
wird. Sow en ig die Um Beide antw orten S choenbergs scheinen, darauf
gangssprache dieselbe blei hinzud euten, daß für ihn sprechgesang ein (n o t
ben kann in dieser trad i wendiges) künstlerisches mittel, kaum jedoch, das
tion , so w enig kann eine vehikel einer prinzipiellen revolution im Ver
oper ihre »urngangsspra- hältnis zw ischen w ort und to n sein sollte.
164 Ja k o b U llm a n n
W e n n m a n unterstellt, da ß die k on str uk tiv en an st re n gu n gen au f dem geb ier der >m usi k<, au f dem
gebier der m e n s c h l i c h e n praxis im urngang m i t »klängen«, vielleicht au c h mi r deren kons eq uen xe n
n i c h t nur, ja n i c h t ei n m al in erster linie der m ö g l i ch s t g ena ue n W iedergab e a u ß e rm e n s ch l i ch e r
klangereignisse die nen , so wird m a n zu recht fragen müsse n, w elc h en ch ar ak te r die kl änge der
m us ik als folge m en s ch l i ch e r praxis im kulturellen Haushalt der m en s c h h e it erhalten, erhalten
h a b e n o der er halten k ö n n e n . M a n wird zu d em - und dies ist in der ges chi cht e we ste uropäisch-
a be n dl än di s ch er m u s i k ja du rch au s au ch ge sch e h en — fragen müs se n, o b es so etwas gibt, wie eine
Se m an tik der klänge. Letztere frage ist ja m i t der eingangs n a ch der existenz eines »gegenständes«
der musik und seines Charakters gestellten m i tn i c h te n identisch» weil sie diese frage zugleich in
einen klaren systema tisch en ko n re x t stellt, sie d a m i t ein s ch rä nk t, andererseits abe r anders als die
ein gan gslrag c d u rch au s d ie m ö g lic h k c ir e in e r a rn w o n e rö ffn e t, d ie au ch bei eine;; p o sitiv en en t-
Scheidung, einer en rs ch ei du n g zugunsten der a n n a h m e der existenz eine r s em an ti k der klänge, über
diese selbst n o c h kein präjudiz abgibt.
Siche rlich lä ßt sich diese frage als hi storische frage an die g esc hi cht e w e st lic h-a be ndl än d isc hen
n m s i k d e n k e n s stellen. M a n wird bei näherer be tr a c h tu n g ihrer an fä nge vor reichlich tausend jahren
uns chw er je n e prämissen a us m ac h e n können» die dazu führ ten , daß es in den k o m m e n d e n jahr-
hu n de rte n für selbstverständlich galt» da ß musikaiisch.e Zu sa mm enh än ge, u jb n ,d ü n g e n von als
t ö n e kons tru ier ten kl ängen m i t eind eut ige n sem a n tis ch e n k o n n o t a i i o n e n m m i m e t sind oder
do ch mi nde st en s sein k ö n n e n . D e r weg der e m an z ip at io n d( n j< m abend! mdi h<’ m usik, die in
der liturgischen praxis der kirch e ihre wurzeln besaß, zurm kl« m 1 onntc i u u her zur V o r a u s
setzung, da ß die in de r liturgischen praxis er w o r b e n e fäh; ! < i ti 1 larer s >u u i< v n g der klän ge
üb er die evo kation b e s ti m m te r gefühle hin aus oder jensen oK iu j fähigken; als derart sicheres eib
teil galt, da ß wed er die revolu ti one n im bau m u s i k a l i s c h e u n i tm e n n oc h die einbe/.iehung ganz
anderer s em a n tis ch e r sy steme oder semantische)' k o n n o t a t i o n e n als das christlic h-l itu rgi sch er praxis
entsprach» diese g ru n d en ts ch e id u n g auf d e m geb iete musik alis che r rradidon in frage zu stellen ver
m och te.1
A u c h w e nn m an sem a n tis ch e bi n d u n g e n ab e n dl än di s ch er musik. und deren ges chi cht e n ic h t in
zweifei zieht, so wird do ch hä ufig der tatsache zu we nig b e a c h tu n g g esc he nkt , da ß die gesch ichte
keineswegs eine ges chi cht e reiner ev ol uti on, eines sozusagen vielleicht n ic h t i m m e r folgerichtigen
o der geradlinigen, aber do ch an einen weg g eb u n d e n e n fo rtsch reitens ist.
Be s on de rs de utlich f üh rt uns dies ein ein s ch n i tr und ein pr ozeß vor äugen, der im
18. J a h r h u n d e r t st at tg efu n de n hat und der verm utl ich zu je n e n gehö rt, die bishe r in der
k un st- und kulturgeschichte» d a m i t abe r auch in der W a h r n e h m u n g der ges chi cht e der
sem an tis ch e n k o n n o t a ti o n e n von mus ik , zu we nig a uf m e rk s a m k e i t erfahren.
Es m u ß ja ei ne n gru nd für den im m e n s e n u n te r s c h ie d g eb en , der h ö r b a r wird, we nn man
den be g in n der sch öp fu n g v on H a y d n m i t d e m b e g in n v o n Wagn ers /vV/^-tetralogie v e r
gleicht. Z wi sch en 'Haydns Vorstellung des chacs \\nd. W a gn ers selb st gen ügs am er r u h e in den
tiefen des r h e in s v o r be gi nn aller ge sc h ic h te klaffen w e h e n , die sich n ic h t allein m i t m u s i
ka lischer e n tw ic k l u n g o d e r z u n e h m e n d e r en tf e rn u n g v o n einer n o c h bei H a y d n v o r h a n d e
nen» andererseits im zwanzigsten jah rh u n d er e von Mes sia en wied er b e s ch w or en e n selbst
v er ständlich an den ausläufern jü d is c h - c h r is t l i c h e r s ch öp fun gsl eh re orient ier te n
V o r s te llu n g e n v o n der >na tur< erklären lassen.
zwei sprachen 165
selbst« mi r je n e r »kraft« auszustatten, die vormals »nur« de m text eignete. D a ß N o n o liier off e n ba r
eine b e in a h m ag isc h e Vorstellung von den s em a n tis ch e n k o n n o t a t i o n e n spra chl ic her p h ä n o m e n e zu
akzeptieren bereit war, m a g m a n d e m ern st zus chr eib en, m i t de m N o n o an ei n e m u n m i ß v e rs tä n d
li ch en cha ra kte r seiner arb eit Festhalten wollte.
G e ra d e dieses beispiel m a c h t aber auf eines un m i ß v er s tä n d l ic h au fm e rk sa m : die frage nach de m
s em a n tis ch e n cha ra kte r der spräc he in der m u s i k lä ß t sich keineswegs daran klären, o b die spräche
m e h r o der wenig er »verständlich« ist. U n d es ist alles an dere als au sg em ac ht , da ß die s em a n tis ch e
kla rheit da d ur c h wächst, da ß die spräche der m u s i k als ein sie be sch ön ig en de s bild en tk le id et wird,
e b en s o w en ig wie die äs th etische kraft da du rc h wäc hs t, da ß alle im pl ik a tio n en klarer s e m a m i k des
klangs ver m ie de n werden. I m gegenreil: diese b e tr a c h tu n g verd an kt sich der a n n a h m e , da ß die
untersc hie de der sprac hen an deren b r u ch l i n i e n folgt u n d da ß spräche un d m u s i k - sow en ig sie
i n ei n a n d e r aufge hen k ö n n e n ..im unt er g ru n d des klangs wie im an-s pru ch des wortes aus dem
rau m seiner e r in ne ru n g die g em e in s am e aufgabe d e s Z eu g n isses n i c h t v e rw e ig e rn d ü r fe n .
1 Cf. dazu: j. ul lm a n n , »Öd x p d v o s « , in: M usik-K onzepte 1 0 0 = Was ist Fortschritt , m ü n c h e n 1998»
s. 8 8 ff, besonders ab s. 1 0 2
2 S ie h e hierzu: Jan A s s m a n n , Moses d er Ägypter, Frankfurt am m ai n 2 0 0 0 , besonders ab kap. 3. D ie
lektüre dieses bu ch es ist selbst da, wo m a n der grundthe.se des autors n i c h t z u s ti m m e n k a n n, für das
t h e m a von S c b o e n b e r g s o pe r von n i c h t zu u n te rs ch ät ze n de m gew in n , da sie ein e ganze reihe wenig
be a ch te te r rrad itionslinien und überlieferungsspuren bzw. - In te rp re ta ti o n en ins h ew u ß tse in rückt, die
für das th em a des »M ose« und seine be h a n d l u n g in der ersten hälfte des zwanzigsten Jahrhu nd erts
v on gru ndsätzlicher becie utun g sind und da h er n i c h t länger ig noriert w er de n dürfen.
m it ihrer m erkw ürdigen hypostasierung des »gedan- sten der oper glei
kens« (die rede G o ttes, die gleichsam M oses’ gedan- ch erm aß en zu schau
lcen au fn im m t) zu fü hren. M a n täte S ch o en b erg en: sie schaut auf das
unrecht, ihm n u r — was sicher m ö g lich wäre —n a ch singen des A ron wie
zuw eisen, daß seine reform ulieru ng des ereignisses a u f das sprechen des
am b renn end en d ornbusch sich allzuweit vom Zeug M o se und w ird auf
nis der T h o ra entfern t. diese weise seltsam
Es b leib t festzuhalten, daß auch ein solcher nachw eis am bivalent, so a m b i
das problem , das sich hier artiku liert, die spur, die valent, daß S c h o e n
Sch oen b erg sich tbar m ach t, n ich t zum verschw inden berg selbst von ihr im
brächte. D as problem , dessen fo rm u lieru n g schon — n ich t verto n ten —
zum paradox gerät, ist: ein problem der spräche und III, akt w ird sagen
m it jed er m en sch lich en spräche — auch - ein pro k ö n n en , auch der
blem der m usik. d orn b u sch sei ein
bild.
D as G esetz, dessen zeuge die trad ition ist, ein gesetz des handelns und ein ge-
setz der existenz, verlangt kategorisch, daß das Zeugnis der trad ition w eiterge
geben werden m u ß. H at aber die behau ptu ng, es gäbe eine tradierbare trad i
tion der W ahrheit n ich t etwas beinah ironisches an sich? G e h t es dem künstlet
hier n ich t so wie vor ihm schon dem exegeten oder dem historiograp h en, der
zu recht unsicher ist, ob ihm n och etwas von der >,sache selbstx sich tbar geblie
ben oder das w esentliche n ich t schon in der pro jek tion des historischen ver
schw unden ist. G e h ö rt solche U nsicherheit n icht allemal zur arbeit derer, die
m it philologen und exegeten an der trad ition schon deshalb b eteilig t sind, weil
es ihr gegenständ ist, aus dem selbst der nebel dieser U n s i c h e r h e i t dringt? Und
ist n ich t Sch oen b erg völlig im recht, wenn e t auf dem abstand, ja der un m ög-
1ichkeit des sprechens besteht angesichts des zeugn isses einer W ahrheit, die a lle n
falls erkannt, aber n ich t überliefert werden kann? Ist m an der ambivalenz cies
l a t e i n i s c h e n >tradere< wie des griechischen ■ T r a p a S t h c ij p . t , jenem der hebräi
schen wurzel V3j? (kabal) so verschiedenen schw anken zwischen >überhefern<
und >verraten< n ich t gefährlich nahe, w enn m an festsrellt, wie w enig das, w a s
überliefert werden kann, die Überlieferung n och enthält?
Das B uch w ird S chrift , indem es sieh als das zu lesen gibt:, was es sein w ird
D a ' •>( n h/it Ih ne Wort fä h rt d ie Lektüre ein;
dad> tih in < von allem .Anfang an,
unn >s( hn d n vom gesprochenen Wort.
.Das ()< mhi u bene tritt an d ie Stelle des Gesprochenen keineswegs,
am m /< \t ah alten o d t ">,} ( \b, w<, u fo n n id u n u ,
sondt / n <wdz im ( n <nnn d am su h a// d sun /< /whn htu ng zu eifreuen,
indem es das Gesproilu m. d a I d / i t n <im \/<d. n ,/ n a le ile aussetzt,
in seinen unterschied!/! Ih n Sinn ’am n d , >i o d > a a j wnn n verschiedenen Bedeutungsebenen.
D as A u g e .. u n d ni( In das ( n h o > lost d a w ahn !a hugang aus,
das A bfragen d er tw<s( m l 1 m g s/( Hu, au n du hn S< h, ift eichen laten t gegeben sind.
Edrnond Ja b es
Hs n im m t seinen L a u f
170 Ja k o b U llm an n
tr a d itio n I I -- d ie b o ts c h a ft
D as zitat von E d m o n d Jab es m a ch t d arau f aufm erksam , daß der Übergang vom
gesprochenen w ort zur sch rift die d eu tlichk eit, die eind eutigkeit des textes n ich t
erhöht. D ie ein fü h ru n g der lektüre statu iert lediglich die ein h eit eines ausgangs-
w ie flu ch tp u n ktes der trad itio n , die g erad e dadurch, daß die w eiße des papiers
und die schwärze der buchstaben unveränderlich w erden, der Interpretation
im m er w eitere räum e erschließt. D as erin nern erhält ein en seltsam prekären
zug: es w ird gleichsam verdoppelt und schw ankend. Auf der einen seite die
erin n eru n g an ein h ören , das nu r als gegenw ärtiges h ören, ein präsens des spre
chens gedacht w erden kann und die erin n eru n g durch die schrift, die der erin
nerung gleichsam v o rau sg eh en d im zeugnis der V erg an g en h eit der gegenw art
nu r d urch befragung, nur durch in terp retation zugänglich ist. W oh l m ach t die
tatsache, daß d urch die schrift lektüre m öglich ist, die trad itio n aussprechbar,
aber d och in einer weise, daß m it der aussprechbarkeit die trad ition selbst sich
in den w achsenden raum der interpr :ation verw andelt.
D as gebot der erin neru ng wird in
der Verkündigung transparent. Aus Es ist an dieser stelle d ringen d von
der in terp retatio n en tsteh t der n ö ten , ein häu fig vergessenes, viel
nebel, eine aura des werkes, die es leich t ebenso häufig verdrängtes fak-
in seiner aussprechbarkeit besser tum sich in erin n eru n g zu rufen: wir
verhü llt als alle geheirnhaltu ng es sind gew öhnt, rnusik-w erke wie an
kö n n te. In dieser transparenz ver dere ktm stw erke auch, n icht nur b e
p flich ten d en erb es lösen sich lang stim m ten historischen epoch en zuzu
sam und d och unaufhaltsam die ord nen, sondern sie nach solchen
sch atten auf, die ausgangspunkt ep och en , trad itio n slin ien und. schu
und aulgabe der trad ition waren. len zu k d em entsp re
D er »gedanke« des M o se wird ihm chend E ben so groß
selbst, zum u n ein h olb aren , jedem ist die versu cm m g, p artitu ren oder
sprechen unzugänglichen bild. auff'ührungen m u sikalischer werke
Ü ber jah rhund erte waren m usiker für das >werk seib erc, für das >kunst-
—und n ich t nur sie! —überzeugt, die w erk als solch esc zu h ak en . Im einen
m u sik kön n e es leisten, in. aller wie im anderen falle gerät darüber all
lektüre des geschriebenen je n e tra zu häu fig und schnell in Vergessen
d ition au frechtzu erhalten, die die h eit, daß eine solche klassifizierung,
trad ition des wahren Wortes, die tra die analyse der partitur, das folgen,
d ition der b o tsch aft gerade jenseits einer b estim m ten k lan g lich en reali-
ihrer aussprechbarkeit u n te r s c h e i sation des werkes teil ein er b estim m
det von der w a c h se n d e n U n d u rch ten h istorisch en S i t u a t i o n , einer b e
d rin g lic h k e it der in terp retation . Sie stim m ten >kultur< oder teil einer
sei in der läge etwas in die gegen b estim m ten in terp retation scrad itio n
w art, in jede gegenw art e in z u s ch re i sind. W en n — im günstigsten, falle --
b en , was jen seits der S ch w ärzu n g die k langliche realisation gleichsam
des papiers hegt, ihr an eind eutig eine epiphanie des >kunstw erks< in
keit aber n ich t nachsteht. der g esch ichte, einem b estim m ten
U nd doch wird jed e klangliche rea- p u n k t, e in e r unverfügbaren S itu atio n
lisation eines m usik-w erkes zur ist, so ist alle w e itere b e s c h ä f t i g i m g
in terp retation , jed e analyse des ge n ich t e i g e n t l ic h die b eschäftigim g
schriebenen ist un tren n bar v erb u n m i t d e m > kunstw erk<, s o n d e r n die
den m it all den im p lik ation en des b e s c h ä f t i g i m g m it d e m p r o d u k t einer
wissens und der erfahrung, m it dem lesart, einer interpretation, e in e r
gesam ten »kulturellen apparat«, der > k u lt u r < . Als s o lc h e s » k u ltu r p r o -
von der ch ro n olog isch en ablau fen d u k t« w ird das k u n s t w e r k z u m a b g e
den zeit ebenso b estim m t ist, wie s c h lo s s e n e n o b je k t , zu einer s p u r des
von den ö k o n o m isch e n , sozialen m aterie-zeitrau m s, w o h i n g e g e n die
und p o litisch en b ed in g u ng en je > k u n s t< des rn usik w erkes e in e spur,
weils gegenw ärtigen hörens. e in e geste des k la n g - z e it ra u m s ist.
W ir wissen n ich t, wie das >werk< D i e g e s c h ic h t e d er spur i m k lan g -z e it-
wirklich klin gt. D esh alb sind w ir raurn ist in einer a n d e re n g e s c h ic h te
unausgesetzt auf der suche in der an gesied elt als der, die w ir als k u n s t-
interpretation klanglich er realisati- g e s c h ic h t e , als f o r t s c h r it t , als ent-
on und der anstrengu ng der analy w ick h m g kennen. D ie geste des
se. A ber wir wissen d o ch im m er k la n g -z e it ra u m s v e rläß t die c h r o n o l o
auch, daß alle k enntn is der lebens gis ch b e s t i m m t e zeit, n u r d er Wider
um stände des autors, alle erfor- hall, d en diese spur irn klang-zeitraum
schung des kulturellen, politischen in d e n m e n s c h l i c h e n geselischaften.
und ö k o n o m isch en um felds der h i n t e r l ä ß t , d er sie u n d sich m i t ih n e n
en tsteh u n g des >w erkesc, alles se v e rän d e rt, l ä ß t sich in e p o c h e n u n d
zieren seiner S t r u k t u r uns der a n t schulen e i n te ile n u n d m it den b e g r if
w ort auf die frage n ich t näher fen h i s to r is c h e r ä s t h e t t k fassen. D ie
bringt, was h in ter all d em , ver s p u r im kla ng -ze irrau r ;rgrci
fließen d er zeit verhafteter gestalt fend e kraft« des k u n ; kennt
des >werkes< auf uns w artet. Ja, wir allenfalls Veränderung, w ohl aber
sind unsicher, ob h in ter all dem k a u m e in e n f o rts ch r itt. D as »werden«
überhaupt etwas w artet. Auch dies ist ihr e b e n s o frem d wie die abge-
ist die Verzw eiflung des M ose am s c h l o s s e n h e i t eines o b je k t s , das sich
ende des zw eiten aktes von S ch o e n v o n rn u s eu m zu m u s e u m t r a n s p o n i e
bergs oper; das >w o rte , das dem ren, ja das sich am e n d e sogar handeln
M ose fehlt, ist n ic h t der richtige läßt.
begriff:, n ich t einm al der narac, so n Es ist darauf hinzuw eisen, daß wir es
dern die U nsicherheit, ob es ein hier n ich t m it einer »aura«, einer »aus-
sprechen geben Jearm, das der Zu strahhm g« des werkes zu tun haben.
rückw eisung des bildes zu reinem D ie spur im klang-zeitraum ist nicht
attsdruck verhilft. das werk des autors. Sein werk: besteht
O d e r w eiß M ose »nur« n ich t, wie eher darin, eine S i t u a t i o n , eine geste
das >wort< klingt? zu erm ög lich en , die den to n , das sag
W ir müssen noch einen sch ritt w ei bare dergestalt ins hörbare brin g t, daß
tergehen: in einem außerord entlich er zum Widerhall der spur im klang-
bem erkensw erten beitrag bei einem zeitraum zu werden in der läge ist und
172 Ja k o b U llm a n n
pariser sym posium , das unter dem so die spur der geste übers hörbare
titel »L’idee m usicale« 1 9 9 1 s ta tt hinaus in w iederkehrend er erschei-
fand, hat Jean -F ran co is Lyotard m it nu n g festhalten k an n . D er autor
nach d ru ck darauf aufm erksam ge sch ein t ein >zeichen< zu geben von
m ach t, daß es gilt, sein augenrnerk einer klang-spur, die über das h örba
auch a u f den sozusagen um gekehr re hinausgeht.
ten prozeß zu rich ten . N ich t nur E in neues paradox also: eine klang-
»verbirgt« sich das >werk< im nebel w irk iich k eit, die n ich t v ern o m m en
seiner in terp retation — einem nebel werden kann, weil sie über das h ö r
also, der aus ihm selber d ringt. D as bare hinausgeht und d en n och klang
>werk< ist ebenso spur aus dem ist und d ann eine geste, eine spur in
n ich t-m eh r- oder n o ch -n ic h t-h ö r- und aus dieser Wirklich keit, in und aus
baren. Lyotard zeigt, daß es gerade ihrer zeit, ihrem raum , den sie nur
diese spur klanglicher geste aus der durch eben diese spur en tfaltet, einer
unterw eit des klanges ist, die dem spur die dem autor — ohn e den sie
>werk< jenseits fertiger o b jek te sein un m öglich wäre — stets unverfügbar
da-sein als w erk der >m usik< bleibt. D as >ereignis<, die epiphanie
sichert. im h örbaren , in der gesch ich te ist
D ie »unruhe, die der philosoph bei n ich t das, was der autor w u ßte; was
der rätselhaften K lan gm aterie em p dieses ereignis ist und w oraus es
findet« verbind et Lyotard m it einem besteht, b leib t der in ten tio n des
text von Pascal Quignard, der es wert auüors verschlossen.
ist, ausführlich zitiert zu werden:
d ie sym m etrischer und. undurchdringlicher als a n d ere sin d — w ie zu m B eispiel Viren. Wem ahn ein w irf
Es g ibt ein e große W oge .. unter dem w eißen Schaum -- von Ähnlichkeiten., d ie uns jedesm al, wenn w ir uns
ihrer bew u ß t werden, in Bestürzung versetzt. W ir a lle >m öchten gern einzigartig sein, o b w o h l w ir bis zum
Ekel. Serien bilden.
H in ter dem H in tergrund von Orten g ib t es einen Klanghorizont. K langfetzen ein er Furcht, d ie einst wie
das Universum explodiert ist und. d ie d ie D epression h er bei ruft, d ie in d er Lust geh em m t wird, d ie sich in
L e id flüchtet.
K länge, deren W iedererkennen eh er ein e E n tdecku ng ist, d ie niem als vollendet wird, d ie o ft verspätet k om m t
u n d d ie uns nicht von d er K lage befreit. S o b a ld w ir dies erkennen, hören w ir plö tz lich auf, uns fü r ein
zigartig zu halten. D iese E ntdeckung, wenn sie uns in d er Wüste a llein läßt, befreit uns nicht von d er Sor
ge. D a m an kein en Ursprung von N ichts fin d e n kan n, treibt sie uns gen au gen om m en n icht zum anderen
hin. Sie zw in g t uns zu ein er Solidarität, vor d er w ir uns n ich t retten können, a b e r der w ir nur allzu bereit
w illig zustim m en, so un verm eidlich sie au ch sein mag.
D ie W ahrnehm ung jen er leichten Schatten, d ie un verm ittelt über das Gesicht von sich uns n ähernden M ä n
nern u n d Frauen huschen und. d ie das Eingeständnis ihrer Traurigkeit und. ihres Jodes sind, verschafft uns,
ehrlich gesagt, ein e intensive Befriedigung.
A m lin de dieser Betrachtung — sofern w ir den .Mut h a b en , d ie Illusionen eine nach der anderen m it Ver
achtun g aufzugeben, d ie uns g lau ben lassen, d a ß w ir wesentlich w ir selbst s in d .. em pfin den w ir k ein e E in
sam k eit 'mehr. Dieses G efü h l 'hat einen ekelhaften Geruch. Wenn d ie E in sam keit den Einsam en durch Leid,
würgt, ist sie ein kostbarer Stein, den kein noch so g roßer Schatz k au fen kann. U nd sie ist ebenso dern
Schweigen, w ie d er D u n kelh eit benachbart. A lle Sprachen d er Welt scheinen im H in b lick a u f d ie K lage des
Hungers, d er Verzweiflung, d er E in sam keit des Todes u n d d er U nsicherheit zw eitran gigzu sein. So w ie die
'Eiere sieh in ihrem D reck suhlen, sich in ihren eigenen G estank hineinriechen. D ie gesprochenen Sprachen
lieben d ie Stimmenmasse.
A lle Sprachen, d er Welt, so m ächtig oder ausgefeilt sie au ch seine mögen, kön nen nicht diesen »Klanggc-
ruch« d er G attung verdecken. Sie h aben ihn niem als verdeckt u n d werden ihn niem als verdecken.
Pascal Q uignard
Petics Traires, Irak t a t »spräche «
h ö re n I
M an kö n n te geneigt sein, die spur, auf die Lyotard und Q uignard uns fü hre»,
für eine antw ort auf die eingangs gesteifte frage nach dem , wovon die musik
spricht, zu halten, D e n n o c h , m an m u ß sich vor schnellen schlüssen h üten;
die sache ist n ich t einfach. Es gilt zu b each ten , daß die spur in die »unter-
w eit«, in den Hintergrund der klänge kein weg in die V e rg an g en h e it ist. D ie
»spräche u n ter den sprachen«, der un hörbare hauch, für den alles hörbare nur
die spur eines Zeugnisses ist, hat keine geschichte. E r w im m ert und klagt, irrt
von m u nd zu m u nd , von w erk zu werk. Sein paradoxes Charakteristikum ist es
gerade, nichts zu erzählen, im m er nur da zu sein. Alle artikulation versucht
ihn im ausdruck zu bändigen, zu besiegen, im schlechteren fall b lo ß zu über
tö n en .
E in weiteres paradoxon: er kann n ic h t gehört w erden und d en n och versucht
alle artik u lation, ihn zu entkräften. E r ist ein unvernehm licher laut, hauch des
schreckens, der die stim m e verschlägt. W er von seiner spur gestreift wurde,
dem wird das hören allem al zur tragöclie. So sehr die klarsten sätze der m usik,
alle ku n stfertigkeit der form un d der artikulation diese klarigdüstem is auch zu
bannen versuchen, noch aus ihnen d rin g t das entsetzen heraus.
Ja k o b U llm an n
Es ist also im h öch sten m aß e m erkw ürdig, daß S ch oen b erg in der ersten sze
ne von Moses und Aron das >hören< völlig ausgespart hat. M oses >hört< nich t
die stim m e aus dem d orn b u sch , der gedanke ist in ih m »w iedererw eckt« w or
den, er hat »die W a h r h e i t erkannt«. Und ebenso: d i e greuel wurden »gesehen«,
aber noch wo d i e stimme spricht, sch ein t sie n ich t auf die klage d e s volkes zu
antw orten. D ab ei: gerade in dieser klage, im u n artiku lierten schrei der Ver
zw eiflung find et sich das volle. S ch oen b erg verw eigert der Verkündigung des
M ose die m usik. D ie klage des Volkes wird n ich t » g e h ö rt« ..oder ist gerade alle
m u sik eben jen e spur unard kulierbarer klage, die allenfalls bis in. die wüste
fü h rt aber d och dem »klanggeruch« der g attu ng so verhaftet b leib t, daß sie das
w ort der befreiung, die verkü nd ung des .Anderen n ich t zu umgreifen, vermag?
N och einm al die stimme aus dem d orn bu sch: sie spricht und sie singt. D er
autor sch ein t ihr eine alles um fassende artikulation einschreiben zu w ollen.
E in e artik u latio n , die über den hintergru nd der angst und die erhihrung
abgrundtiefen grauens hinausgeht. Eine spur, die W iderhall wird von etwas,
dessen epiphanie in der gesch ichte von der fu rcht und dem entsetzen affixiert,
ihr aber n ich t m ehr verfallen ist. Ein. W i d e r h a l l , der den h a u c h n ich t übertö-
nen. m u ß, weil er der erfahrung der nach t über der wüste, dem ohr, das der
tärischung offen ist, dem an -h au ch des n ich ts treu bleibt.
E d m on d Ja bes
E in F rem d er m it ein em kleine)] B u ch w n erm A rm
176 Ja k o b U llm an n
hören II
W en n d ie spur, a u f der w ir Lyotard und m it ih m Pascal Q u ignard fol gen, m ehr
ist als eine paradoxe m etapher; w enn wir also bereit sind einzuräum en , daß es
jen seits der »klangsprachen« >klang< g ibt, klang ohn e spräche, klangm aterie,
die etwas ganz anderes ist als das »m aterial« der kornposition, über das in unse
rem vergangenen jah rh u n d ert so viel und heftig gestritten wurde, dann rücken
x sp rach ec, die spricht und das m u sik-w erk tatsächlich enger zusam m en, als
m an gem ein h in zuzugeben bereit ist, auch w enn das in ganz anderer weise
geschieht, als m an es norm alerw eise a n n im m t.
A u ch E d m o n d Jab es d en kt ja m usik-w erk und gesprochenes wort: ganz eng
zusam m en, w enn er in letzterem noch die spur des abw esenden und den h al
lend en sch ritt des leeren vernim m t.
G em einsam wäre ihnen eine klangw irkh ch keit, die n ich t vern om m en werden
kann, weil sie über das hörbare hinausgeht und d en noch klang ist, d ann eine
geste, eine spur in und aus dieser W irklich keit, in und aus ihrer zeit, ihrem
raum , den sie nur durch eben diese spur e n tfa lte t, eine spur, die dem autor —
ohn e den sie u n m öglich wäre — stets unverfügbar bleibt.
D as >ereignis<, die epiphanie im hörbaren , in der g esch ichte ist nicht: das, was
der autor w u ßte; was dieses ereignis ist und woraus es besteht, b leib t der in ten -
tion des autors verschlossen.
H ier eine, w enn auch a u f um w egen erreichte, reh ah ih tation rom antischen
geniebegriffs zu verm u ten, h ieß e das wesen des paradoxons zu verkennen: a u f
w elche art auch im m er ein autor sich verhält, seine >erw artung<, seine Hoff
nu ng auf einen >satz< n ich t zum d urchsch aubaren o b je k t gerin nen zu lassen,
aus aller anstrengung der tech n ik resultieren klangliche formen. D as m usik-
w erk ist hörbar, das hörbare kann vernom m en werden, weil cs in einer Idang-
sprache geform t wurde. D ie spur des klang-Zeitraum s ans ohr des hörers d rin
gen zu lassen, h e iß t daher im m er, das >zcichen< in eine spräche einzuschreiben.
D ie spur »selbst« m ag ein rätsel b leiben , ihre epiphanie im m ateric-zeiträum
chro n ologisch er zeit und m eßbaren ortes m ag eine aktualisierung im m ensch
lich en körper sein, sie affiziert ihn, aber sie wird n icht sein eigen.
D as hörbare des m usik-w erkes ist »m usikalisch« nur, insofern es das u n h örb a
re bezeichnet.
So eng die »spur des abw esenden«, der »hallende sch ritt des Wortes« diesem
verw andt sch ein t, hier nehm en wir in aller d eu tlich k eit den abstand des W or
tes von der geste des m usikalischen wahr, jed em w ort ist das versprechen ein
geschrieben, daß es w eitere w orte geben wird. N och die gesch ichte des schw ei-
gens wird zum versprechen des >buches<. D as w ort, das wir vernehm en, ist
Zeugnis, daß es eher etwas als n ichts geben wird. N o ch der einfachste satz k ü n
digt an, daß n ich t Schluß ist.
U n d der klang? Jed em klang ist das verklingen un ablösbar ein geschrieben. So
wie der atern zu ende geht, so end et der bogen des geigers. D er klavierton ver
k lin gt und selbst alle tech nisch e raffm esse der klangerzeugung und --Verarbei
tu ng kann n ich t darüber hinw egtäuschen, daß der klang der m usik eher zurück
r
zwei sprachen 1 77
als nach vorn schau t. D a ß der klang ein genaueres, weil u n geschm inkteres Zeug
nis für die anw esenheit der unterw eit der klänge ist als alles w ort. E r kan n ihr
w eniger e n tflie h e n . So su cht alle m usik, noch wo sie sich sträu bt, identifizier
bares und e in d e u tig e s o b je k t zu sein , ein e ch o , ein en W iderh all jenes w ortes zu
erreichen, das die U nterscheidung zw isch en dem was ist und der täu schu ng des
bild.es m öglich m acht. N o ch in der n ich t begrenzbaren b estim m b ark eit der
in terp retation w ird sie, w enn sie >m usik< ist, an der V erpflichtung des hörens
ebenso festhalten w ie daran arbeiten, dern echo das zeugnis einzuschreiben,
daß n ich t nur das w ort, sondern auch m it dem klang d ie w eit w irklich ist.
K önnte n ich t dies als beschreibung dessen gelten, was Luigi N ono vor allem in
den letzten zehn jahren seines schafFens in exem plarischer weise gelungen ist?
D ie m u sik erhält ihren realism us, wo sie ihren düsteren U n te rg r u n d , das
stu m m -d u m p fe seufzen aller kreatur n ich t zu übertön en und n ich t zu ver
leugnen versucht. D ie spur aus dem klang-zeitraum ist im m er auch Widerhall
einer geste, die vom u n vernehm lichen schm erz affiziert ist. D er Widerhall der
geste enthält die spur dessen, was der körper n ich t w ahrnehm en kann. Und
doch erreicht der u nhörbare hauch der klage das tim b re der m usik. W as wir
»em pfm dung« n en n en , ist vielleicht nichts anderes, als unsere fähigkeit, den
Widerhall der klage zu erspüren, in der geste noch das versprechen und die m ah-
nu ng zu em pfangen, daß h in ter allem, möglichen, das die spräche verh eiß t, das
größere der W i r k l i c h k e i t erst seinen ausgangspunkt n im m t.
So kann S ch o en b erg m it w o rten , die das B u ch zw eieinhalbtausend, jahre
bew ahrt hat aus dem versprechen und der rnahnung, gesprochen und g esu n
gen, die h o ffn u n g artikulieren, daß auch die klage aus dem tiefsten abgrum !
n ich t ohn e wid.erlia.il bleiben wird,
bu ch es wird das > bu c h < zur w a h rh a ft h is to ri sc h en tat,sache. A b e r hier sc h ei n t äuße rste Vorsicht
geb ote n . D as J u d e n t u m ist nicht »religion d es bu ches«, vielleicht ist israel das volle des bu che s, in s o
fern seine histor isch e existenz iden tis ch ist m i t der tr adition der T h o r a . Aber: die T h o r a ist n i c h t
das b u ch , s ond ern das g esc h ri eb en e u n d das gelehrte, d .h . g es pr och en e und g eh ö rte wort.
Was also ist die »tradition des bu ches«, genauer: was ist ein >buc h<? Wa s unte rsc he ide t es von
> bü c h er n < , v o m schwall der wo rte, die, eb ens o wie das geräusch des geschwätzes, den Widerhall aus
d e m klang- ze irr au m üb e r tö n e n , vergessen m a c h e n sollen?
F olg en wir der >j üdi sch en < spur, auf die wir g efü hrt wu rd en, so sind es drei dinge, die bei der dis-
kussion dessen, was > bu c h < ist, be sonders m er kw ürd ig aufsche inen : das b u c h ist eine rechtstntsache
( n i c h t nur ein geg ens tän d des rechts), das bu ch wird nicht, an s ein em >inh al t< , s on d er n an seiner
>lesbarkeit< e r k a n n t und das b u c h erhält seine grenze in der Hörbarkeit. In - vielleicht zu g r o ß e r ..
kürze lassen sich so die drei b e s ti m m u n g e n des talm ud (in bezug auf sabb ath und feuer'O
übersetzen.
E i n verst'örender ged anke, da ß das > bu c h < sich n i c h t am inhalt, s o n d e rn aus der existenz (oder
nicht- exi ste nz ) v on bu ch s ta be n kon sti tu ier t, ja n o c h mehr, diese bu ch s ta b e n k ö n n e n sogar verstreut
s ei n 5. D ie s e r ged a nk e er öffnet viele wege: das b u c h als bib li ot h e k und der Bu ch s ta be als Zeichen
i m m e n s e r fülle von Wirklichkeiten. D a s bu ch als un be gre nz te abgesc hlo ss enh eit alles d e nkb are n,
gleichsam des a k tu al - un e n d li ch en allen m ö g l i c h e n wissens, das > bu c h < als letztgültige en tschei-
d u n g üb er alle fragen, die wir stellen k ö n n e n , sc h l u ß en d l ic h üb er die Wirklichkeit selber. Vi ele
g enerario nen mitte la lte rli che r lehrer und schüle r der k ab b ala h ha be n diese (und viele weitere)
im p l i k a ti o n en der spur des bu ch es d u rc h d ac h t, gele hrt und we itergegeben. A n den Z e u g n isse n ihres
de n ke n s k an n nun die gefahr n ic h t a uß e r ac h t gelassen we rden, die diese spur birgt. D e r midrasch
k o n e n be sch re ib t in ei n em gewaltigen bild die u r - T h o r a , die, m it schwa rze m auf weißes feuer
gesch ri ebe n, das >buc ii< aller Sch ö pf un g ist. D ies e u r - T h o r a , deren allenfalls m a tt e r abglanz die
gesc hr ieb en e ' l ’hora dan n wäre, k o n n t e n u r allzubald z u m sinnbild je ne r Ununt ers che idb ar kei t zwi
schen dem > bu c h < und der Sch ö pf un g G o tt e s we rden, die nach de m pa n - o der k os m o rh ei s m u s
eb ens o b ü c k t wie n a c h je n e n m y t h is c h - m a g is c h e n pra kt ik en , die in der V e r w is c h u n g der grenzen
zwischen s ch ö p f et und g es ch ö pf auch im s pr ac hl ic he n ausd ruck der tr adition sch li eßl ich n ur m e h r
di e rheur gi,se he Zau berei la u t w e r d e n lassen k a n n .
1 au ch hier linder sich eine de nkw ür dig e »V e r s c h i e b u n g « : während Ex. 3 . 6 v om H er rn steht: »Ich
bi/3 der G o t t deines Vaters der G o t t Ab ra h am s , der G o tt Isaaks und der G o r t J a k ob s. « , spric ht
M.ose bei Sc h o en b e rg : » G o t t m e i n e r V ä ter ...«. D e r histor isch e abstand ha t die una uf lös li che folge der
ge n e ra tio ne n üb er ho lt ...
2 D em , 5. 3 f, 3 . 2 4
3 M a n k ö n n t e es durch au s m i t recht für ei n i g e r m a ß e n rätselhaft halten, da ß bis h eu te eine eigene
wissen sch af tliche disziplin, eine »Wissenschaft v om bu ch «, eine »bibliologie« n ic h t ent w ick el t, noch
weniger be tri eb en wird.
4 Talm ud , »Traktat Sa bb arb «, 1 15 a, b und 1 16 b, sh. M . - A . O u a k n s n , I.e livre brüle, paris 1 9 8 6 ,
dt. w e in h e i m , berlin 1 9 9 0 , s. 1 6 4 ff
5 cf. die diskussion der verse 3 5 und 3 6 des bu che s num eri
6 G . S c h o l e m , Z e h n un h is to ri sch e sätze über kabhala, in: ju d a ica 3» (ran k fu n am ma in , 1 9 8 7 ,
s. 2 6 9 f
7 ebd. S. 2 6 7 f
8 Li eß e sich von hier aus w o m ö g l i ch verstehen, wa ru m es N at h a n von G az a üb er ha u p t möglich
werden k on n te , die apostasie des Messias als den n ot w en di g en kern seines ö ffe n tli ch en wi rkens zum
ang elpu nk t seiner theo logie zu m a c h e n ; nich t nur das, auch verstellen, wnrui
ganz anders als die frühe kirc he - weiteste teile der vorderasiatischen und ■
erfaßte? U n d k an n man sich der er s ch üt te ru n g en tzi eh en, we nn m a n sieht, w
tischen ko n seq ue n ze n des s abb ati an ism us im kreis um J a c o b kran k je n e m sp.
»suhlen im dreck«, wie Qu i g n a r d es in aller er s chr ec ken de n d e u tl ic h k ei l fon
m en sind?
nes brandes und keines Verbots bedarf, um des Zugangs zum B u ch und zw tra
d itio n grundsätzlich b erau bt zu sein.
G erad e die grenzenlose aussprechbarkeit läß t die trad ition un ter allen ausge
sprochenen w eiten ja so tief versinken, daß w ir n ichts m eh r sehen, ja n ich t
m eh r >angesprochen< werden.
W enn dieser zustand die b o tsch aft des horeb, die botsch aft des sinai erfaß t hat,
ist dann die Verzweiflung des M o se n ich t allzu verständlich? D as >zeichen< von
w ölken- und feuersäule m iß in terp retierb ar als bild - G o tt nur »stärker« als die
g ötter ägyptens? .Das >w ort<, das nach Schoenbergs M o se nicht: gesagt, n ich t
einm al gedacht werden kann, ist das w ort des > un erhörten< . D ie Verzweiflung
b eg in n t da, wo sie n ich t m ehr h ö rt und der V ielstim m igkeit der interpretation
schutzlos ausgeliefert, zw isch en realität und bild zu u nterscheid en n ich t m ehr
in der läge ist.
»D u w ort, das m ir fehlt« ist n ich t ausdruck eines kün stlerisch en U nverm ögen s
des au to rs. D ie eröffn u n g der spur, che S ch oen b erg in form einer oper un ter
n om m en hat, fü h rt fo lgerichtig in diese aporie der V e rp flich tu n g zur artikula-
tio n des nicht-rnehr-ausd rü ckbaren.
U m so m erkw ürdiger ist das faktu m , daß S ch oen b erg sehr w ohl den text, die
wortedes d ritten aktes vollendet hat. E r h at diese w orte n ich t vertontu.nd dies
fü h rt uns auf den anfang der oper zurück. D ie grenzüberschreitung der d irek
ten rede G ottes in der oper erhält ihren grundsätzlichen charakter durch che
präm isse, die musik, tö n en d e formen, einer spräche, die vielleicht tiefer reich t
als alles gesprochene rnenschenw ort, kön n e das gem einsam e m ed iu m sein, in
dem die spräche G o ttes und. die spräche des m enschen in. unauflöslicher poly-
p h o n ie erklingen. D eshalb k ö n n e, deshalb m üsse sie in aller tech n ik und kunst-
fertigke.it: so w eit nach vorn schauen wie nur m öglich. .1 rcand, son
dern m edium für das zeugnis zu sein, daß neben aller 1 öpferische
w ort, das Andere., im. hören anwesend ist.
W oh l bedarf es dieser anscrengung steter em eu eru n is und m it ih m
der technik und ku n stfertig k eit in der m usik. Sei : wie vielleicht
w enige andere auch, den schm erz dieser V erp flichtu ng der kunst gefühlt. Und
d en n och , noch in der radikalsten ehrlichkeil: k o m m t sie n ich t w eiter als zum
ausdruck des Z e u g n iss e s, daß ihr das »w ort fehlt«, daß sie das unsagbare nicht
sagen kann und ihr die Verfügung fehlt, die trad itio n zur tradition. des wahren
zu zwingen.
W e n n wir ernst m achen in der m usik, dann hören wir im Widerhall der spur
aus dem klang-zeitraum unw eigerlich jen e unterw eit des klanges, das seufzen
aller kreatur und m it ihr den ebenso unhörbaren m angel, ihm zu reinem aus
d ru ck zu helfen. Es bew eist daher den realism us Luigi N onos, wenn er sein
großes »p rom eteo«-p rojek t n ich t oper, sondern »tragedia dell’ascolfo« nennt“.
W en n w ir ernst m achen in der m usik, d ann hören wir die tragische klage, daß
wir die antwort: a u f die schrecken und die düsternis, auf die jenseits ch ro n o
logischer gesch ichte verw eilende, gleichsam die radikalste art des präsens k o n
stituierende tatsache des todes n ich t zu geben verm ögen. D ie stille, die aus d ie
zwei sprachen 181
sem faktu m d ringt, beru higt n ich t, sie gefriert im S tarrk ram p f w ie Lots weib
im g erich t über sodom und gom orra. N o ch im U n terg an g des Verbrechers b rich t
die klage sich bahn, daß das versprechen des lebens, größer als alle m en sch li
che schuld, tragisch an die schuld gefesselt, dem tod überantw ortet ist.
K ö n n en w ir m ehr sagen? K ann alle m u sik darüber h inausfü hren, ihren realis-
m us irn zeugnis solcher w elt-tragöd ie zu erweisen?
E d m on d fabes
Es n im m t seinen L a u f
zu w erden, wo die W irklichkeit alle m ö g lich k eit der W ahrnehm ung übersteigt,
gebiert eine trad ition des hörens. Es k ann zum zeugnis w erden, daß das w ort
der trad ition seinerseits n ich t u n gehört verhallt.
U nd es gibt zeugnis davon, daß in ihrer in k om m en su rab ilität, gerade in ihrer
verschied enheit alles sprechen und jed e geste des klanges eingedenk dessen zu
sein haben, was sonst ohn e W iderhall bliebe: daß wir antw orten m üssen, auch
da n och , wo alle antw ort in die frage m ü n d et, der keine antw ort, sondern die
W irklichkeit selbst gegenübersteht.
E d m o n d J abe s
1 D as Buch d er Fragen, Frankfurt am m ai n 1 9 8 9 , o h n e S e i t e n z a h l (s. 9)
2 Es n im m t seinen Lauf, Frankfurt am m a i n 1 9 8 1 , s . l 4 f
3 Ein Frem der m it einem klein en B u ch im term A rm , m i i n eh en 1 9 9 3 , s. 6 3
4 Es nim m t seinen Lauf, s.7 0 f
Pascal Q u ig n ar d
Petits 'Tmiihy IV, p. 22- ..2 7 , M ae g h edit. 19 9 0 , übersetzt nach: E ld ee M nsieale , ed. par C h ri s ti n e ß u e i -
G l u c k s m a n n et M ic h a el Levinas, paris 1 9 9 3 , s, 1 14 ff
Juan. Allende-Blin w urde 1 9 2 8 in Santiago de C h ile geboren. E r stam m t ans
einer spanisch-französischen Fam ilie. K o m p o sitio n su n terrich t hatte er bei sei
n em O n k e l P. EI. A U ende-Saron, der dem Kreis um D ebussy angehörte, und
dann bei Fre Focke, der bei A n to n W ebern studiert hatte. 1 9 5 1 iieß er sich auf
p jn p fe h lu n g von H erm an n Scherchen in der B und esrep ublik D eu tsch lan d nie
der. Im R ahm en der D arm städ ter Ferienkurse besuchte er den U n terrich t von
O livier M essiaen.
Jü n g ste W erke sind sein »Streichquartett« und Walter Mehring —ein 'Win
termärchen —Imaginäre Szene für Bariton und Kammerorchester, ein A uftrags
werk der B erlin er Festw ochen, das in der P h ilh arm o n ie uraufgefü hrt wurde.
A u ßerd em das rad iophone S tü ck Nachtgesänge, das der S W R B ad en -B ad en im
M ärz 2 0 0 1 erstm als gesendet hat.
tete M o n ate als »V isiting Scholar« am G rad u ate C en te r der C ity U niversity
und an der P ierp o n t M org an L ib rary in N ew York. K räm er nahm an zahlrei
ch en Kongressen im In - und A usland teil und wurde zu G astvorträgen an d eu t
schen und am erikanisch en U niversitäten eingeladen. Z u seinen P u b lik ationen
zählt die k ritisch e Ausgabe von A lb an Bergs K o m p ositio n en aus der Stu d ien
zeit sowie Aufsätze zu B rahm s, Berg, S ch ö n b e rg und Piazzolla.
Stefan Litwitb geb. in M e x ico C ity ; Stu dien in Klavier, K o m p ositio n und In te r
p retation (u. a. bei C h risto p h Keller, Jü rg W y tten b a ch und W alter Levin.) 1 9 9 3
P ro m o tio n an der State U niversity o f N ew York; in tern ation ale K o n zerttätig
k eit als Solist und K am m erm u sik er; ausgeprägtes E n g ag em en t für M u sik des
2 0 . Jah rh u n d erts; zahlreiche U rau ffü h ru n g en ; Fernseh- und R u n d fu n k p ro
d u ktion en in E uropa und den U SA ; C D -P ro d u k tio n en bei: D eu tsch e G ra m
m o p h on , A u vid is/ M ontaign e, A rte N ova, C ala R ecords, epo, collegno, telos
records. N euere K o m p o sitio n en : Sonatay destruccion.es (N eruda) ( 1 9 9 8 ) , Lyon
1943 (Piece de Resistance) ( 1 9 9 9 ) , Der Nachgeborene {B rech t) (2 0 0 0 / 0 1 ). P ro
fessor an der H o ch sch u le des Saarlandes für M u sik und T h eater sowie regel
m äßiger G astdozent an verschiedenen U niversitäten und Festivals in Europa,
Israel und den U SA .
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J a c q u e s Of Fenbach
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ISBN 3 -8 8 3 7 7 -0 4 8 -5 (31) -- vergriffen.. Die Passionen
(50/51) 139 Seiten
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