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Schönberg

und der
Sprechgesang
i i / > j i 1

Editorial 4

Ulrich Krämer, Z u r N o tatio n der Sprechstim m e b ei Schönberg 6

Peter Hirsch, >Ohne Titeh. Marginalien zum Them a »Sprechgesang« 33

M onika Schwarz-Danuser, M elod ram und Sprechstim m e bei


F erm ccio ß uson i 37

Juan Allende-Blin, Ü b er Sprechgesang. Auf Spurensuche 46

Friedrich Cerha, Z ur In terp retatio n der Sp rech stim m e in


Schönbergs P ierrot lu n aire (>'/.

Theodor W, Adorno/Pierre ßoulez, G espräche über den


P ierrot lu n aire 75

Robert H P Platz, P ierrat lu n a ir e ..Sprechgesang 93

Hans R udolf Zeller, Schönbergs »Sprechgesang« und


Xenalcis’ Intervallglissan d o 97

M onika Schwarz-Danuser, Vom M elod ram zur Sprechstim m e.


Aspekte der »Sprechstimme« in Oskar Frieds Die Auswanderer 111

Stefan Litwin, Z u r O de to N apoleon B u on ap arte 128

Heinz-Klaus Metzger, N apoleon(s Sturz) 147

Jakob U llm ann, 'zwei sprachen 158

D ie Autoren. 184
M U S IK -K O N Z E P T E
D i e R e i h e üb er K o m p o n i s t e n
Herausgegeben v on Heinz-K lau s M etzger und Rainer Riehn

Heft 1 1 2 /1 1 3
S c h ö n b e r g u n d de r S p re c h g e s a n g
Juli 2 0 0 1

ISSN 0 9 3 1 - 3 3 1 1
ISBN 3 - 8 8 3 7 7 - 6 6 0 - 2

D i e W i e d e r g a b e de r N o te n b e i s p i e l e aus W e r k e n A r no ld S c h ö n b e r g s erfol gt
m i t f re u n d l i ch er G e n e h m i g u n g de r Unive rsa l E d i t io n A G , W i e n , so w ie
des Verlags G . S c h i r m e r I n c . , N e w Y o rk , für die O d e to N a p o leo n Buonaparte-,
d e n E d i t io n s Sala be rt, Paris, d a n k e n w i r für die A b d r u c k e r l a u b n i s de r
N o te n b e i s p ie le aus A k itn th o sv o n I ann is X e n a k i s.

D ie R ei he M U S I K - K O N Z h P T h er sch ein t in vier N u m m e r » im Jahr.


D i e K ü n d i g u n g des A b o n n e m e n t s ist bis z u m O k t o b e r eines jeden Jah res
für de n f ol g en d en J a h r g a n g m ö g l i ch .

Z u bezie he n d u r c h jede B u c h - und M u s i k a l i e n h a n d l u n g


o d e r üb er d e n Verlag.

Preis für dieses D o p p e l h e f t D M 4 2 , ../ öS 3 0 7 , .... / sfr 3 9 , ....

U m s c h l a g e n t w u r f : T h o m a s S c h e e r / D i e t e r Vollender!', M ü n c h e n
D i e U m s c h l a g a b b i l d u n g v o n D o l b i n zeigt: S c h ö n b e r g bei ei ne r A u f f ü h r u n g
des P ierrot lu n a ire a m 17 . N o v e m b e r 1 9 4 0 in de r ’l b w n Ha ll in N e w York
(E n c id o p e d ia delki M in ien , M a i l a n d 1 9 7 2 ) .

Satz: F o t o s a t z S c h w a r z e n b ö c k , I lo h e n l i n d e n
D r u c k un d B u c h b i n d e r : B o s c h - D r u c k , E a n d s h u t
© e di ti o n te x t t- kritik im R i c h a r d B o o r b e r g Verl ag G m b H & C o .
Po st f a ch 8 0 0 5 2.9, D - 8 1 6 0 5 M ü n c h e n

I n f o r m a t i o n e n ü b e r alle B ü c h e r des Verlags im I n t er n et u n t e r


h t t p : / / w w w .e r k - m u e n c h c n . d e
... La divisione delle arti e a difesa di una nobiltä. In pratica bisogna negarla
sotto tutte le forme. Nobiltä di uiio spettacolo su. un altro, nobiltä di uno stru-
m ento su un altro, nobiltä del suono sul rumore, nobiltä dello strumento
sull’oggetto, nobiltä del cantare sul parlare. ln definitiva le grandi rivoluzioni
in musica sono proprio avvenute negando la nobiltä del cantarc sul parlare.
Non esemplificherö —com e appoggio alla mia tesi - con i solid »Greci« o la
solita »Camerata Fiorentina«; posso, m olto meglio, esemplificare con l’espres-
sionismo, con Berg. Berg usava la Sprachstimme per dire, non per fare musica.
E questa Sprachstimme nelle sue opere si contrapponeva alla forma contrap-
puntistica. La forma contrappuntistica era com e citata contro la Sprachstim­
me. Questo contrasto dava importanza alla parola e obbligava a capire. 11 rmo-
vo canto e sollecitato nella musica di Berg dal »cercar di parlare«. Questa Imea
di rivoluzione si e interrotta quando 1’espressionismo e stato deviato nei cana-
h del positivisrno logico ...

Giuseppe Chiari (1 9 6 4 )

... D ie leilung der Künste verteidigt ein jeweiliges Vorrecht, in der


gilt: es ein solches in jeglicher G estalt zu. negieren: das Vorrecht eine
vor einer anderen, das Vorrecht eines Instrum ents vor einem anderen., .............
recht des Io n s vor dem Geräusch, des Instrum ents vor dein D ing, d
vor eiern Sprechen. Letztlich geschallen die großen Revolutionen in
eben dadurch, daß sie das Vorrecht des Singens vor dem Sprechen
Ich belege d ie s ..zur Stützung meiner T h e s e ....nicht einmal, mit aen uun-
d ien »Griechen« oder der üblichen »Florentiner Camerata«; ich k; iel
besser m it dem Expressionismus, m it Berg, belegen. Berg verwandte c h-
stirnnie zürn Sagen, nicht zürn M usikm achen. Und diese Sprachstimm e ko.it-
traponierte in seinen W erken sich der kontrapunktischen Form. D ie kontra-
punktische Form wirkte wie gegen die Sprachstim me zitiert. Dieser Gegensatz
verlieh dem. W ort Bedeutung und verpflichtete zum. Verstehen. D er neue
Gesang in Bergs M usik wird durch den »Versuch zu sprechen« hervorgerufen.
Dieser Revolutionsstrang riß ab, als der Expressionismus in die Kanäle des logi­
schen Positivismus umgeleitet wurde ...

Giuseppe Chiari (1 964)


(Aus eiern Italienischen von H .-K . Metzger)
W ä r e der Sprechgesang bei Schönberg bloß eine Vortragsmanier, es verlohn­
te nicht, um eine solche Spezialität ein pralles Bündel an Bestandsaufnahmen,
Abhandlungen und Spekulationen - nebst ein paar Seitenblicken - zu zen­
trieren, Aber was zwischen den beiden allergeläufigsten stimmlichen Äuße­
rungsformen des M enschen, dem Sprechen und dem Singen begreift man
diese einmal dramarisch als Scylla und G harybd is.., sich als 'ahr­
wasser auftut, ist eine Zone musikalischer Erfindung, in der die
Grundlage der abendländischen M usik, es mit ihrer im manenten Negation zu
tun b ek o m m t..und insofern das ganze Prinzip der D eterm ination selber von
dem der Indeterm ination verschlungen zu werden droht. .Der mikrologische
Blick, das mikrologische O hr gewahrt im Innern des Phänomens, man nenne
dieses scheinbar oder unscheinbar, den noch infinitesimal kleinen Index einer
Äonenscheide, die zu voller Größe künftig erst aufgehen wird. Nicht umsonst
komm en Anhänger Gages und Xenakis’ in diesem H eft zu Wort. Schönberg
hat den Sprechgesang immer wieder fallenlassen, um ihn stets erneut — und
neu. strukturiert —doch aufzunehmen und weiterzutreiben. Ein nicht Bewäl­
tigbares, das Unkontrollierbare schlechthin, hat er hier wohl gespürt. Es hat sich
seither zum Weltganzen ausgewachsen, nur hat manche Musik es noch nicht
gemerkt. Rettung, wenn überhaupt möglich, ist von keiner noch so ingeniö­
sen Hypertrophie der Kontrolle, sondern höchstens von der Ineinssetzung des
Problems m it der Lösung zu erwarten. In der Kunst geht das wohl. Und in der
Realität? »Umso schlimm er für die Tatsachen.«
Editorial 5

M onika Schwarz-Danusers Aufsatz über die Rolle des Sprechgesangs bei Buso-
ni erschien zuerst im Bericht über den musikwissenschaftlichen Kongreß Bayreuth
1981, hrsg. von G .-W . M ahling und S. W iesrnann, Kassel 1985, S. 4 4 9 .'■454.
Ihr Beitrag zum entsprechenden Sachverhalt bei Oskar Fried ist ein Vorab­
druck aus: Wiener Schriften zur Stilkunde und Auffuhrungspraxis, Sonderreihe
Wien-Modem 1= Stimme und Wort in der Musik des 20. Jahrhunderts, Univer ­
sitär für Musik und darstellende Kunst W ien 2 0 0 1 , S. 2 5 - 4 2 . Beim Text von
Friedrich Cerha handelt es sich um die erweiterte Fassung einer Arbeit, deren
erstes Stadium im Bericht über den I. Kongreß der Internationalen Schönberg-
Gesellschaft Wien 1974 (= Publikationen der Internationalen Sch'önberg-Geseü-
schaft, Bd. I), hrsg. von Rudolf Stephan, W ien 1 978, S. 25 —33 nachzulesen
ist; die in diesem H eft erstmals erscheinende endgültige Gestalt des Textes soll
in Cerhas gesammelte Schriften aufgenommen werden. Zu Aufführungen des
Pierrot lunaire, die Robert H P Platz einstudierte und dirigierte, verwendete er
verschiedenenorts als Programmeinführung den Beitrag, der seinen Realisa­
tionsvorschlag begründet und hier jetzt zur Diskussion gestellt wird.

Zum ersten M al veröffentlicht werden hier auch die beiden Dispute zwischen
Adorno und Boulez, die am 26. November 1965, betreut von Juan Allende-
Blin, für den Norddeutschen Rundfunk Ham burg aus Rücksicht auf Adornos
W ohnsitz im Hessischen Rundfunk zu Frankfurt am M ain aufgenommen wor­
den waren. Allencie-Blin organisierte damals, angeregt von Schönbergs Witwe
Gertrud, eine Schönberg-W oche im Dritten ( H örfunk-)Program m des Nord­
deutschen Rundfunks, das zu jener Zeit unter der Leitung Samu
Blüte erlebte. Diese Schönberg-W oche ging dann im Januar I
Sender, die Gespräche zwischen Adorno und Boulez wurden in <
am 6 .17. Januar 1966 ausgestrahlt. W ir danken dem Norddeu,..- .
funk Ham burg sowie Dr. Rolf Tiedem ann, dem Leiter des A<
Frankfurt am M ain, und Pierre Boulez für die ......... dhche Gen.< m i i
Transkription der ’.lonbänder dieser Ausei.na.ndi i v i-m ig zu pul. It/ c ■.

Alle übrigen Beiträge sind, eigens für den vorliegenden Doppelband der iVlusik-
Ko nzep te ve rfaßt w o rei.en.
H .-K . M.
R. R.
Ulrich Krämer

Zur N otation der Sprechstimme


bei Schönberg

D ie wichtige Stellung, die der Sprechgesang in Schönbergs CEuvre einnim m t,


läßt sich bereits daran ablesen, daß sich die Kom positionen m it Sprechstim ­
me durch sein gesamtes Schaffen - angefangen von den Gurre Liedern von
1900/1901 bis hin zu seinem letzten Werk, dem (unvollendeten) Modernen
Psalm, op. 50 C von 1950 —ziehen. Hinzu kom m t, daß es sich bei einigen die ­
ser Kom positionen wie den Gurre-Liedern und der O per Moses und Aron um
Hauptwerke des Komponisten handelt, bei dem Melodramenzyklus Pierrot
lunaire sogar um das Hauptwerk einer ganzen Gattung. Entsprechend groß ist
auch das Interesse, auf das die Sprechstimm e seit jeher gestoßen ist. Von Beginn
an kreiste dabei die Diskussion um das bis heute nicht zufriedenstellend ge­
klärte und wohl auch gar nicht lösbare Problem der Ausführung, in dessen
Zentrum die Frage steht, ob die Sprechstimm e aufgrund der Tatsache ihrer
rhythmisch-melodischen G ebundenheit als vollgültiger Bestandteil des musi­
kalischen Satzes zu gelten und sich entsprechend G eltung zu verschaffen hat
oder ob es sich bei ihr in erster Linie um eine Folge lautsprachlicher Ereignis­
se handelt, die als besondere Ausdrucksform des ’lextes zwar deklamatorisch-
klangliche, aber eben keine absolut-musikali leitinng haben und daher
ähnlich, wie der Text selbst eine überwiegent ändige Schicht, innerhalb
der Komposition darstellen.1 Im Miftelpun,.... .........Diskussion standen dabei
vor allem Schönbergs eigene Äußerungen zur Sprechstimme, die allerdings
widersprüchlich, sind, da sich seine Auffassung im Lauf der Zeit geändert hat.
Ein ebenso wic.litl.ger A sp e k t.. nämlich die Notation als unm ittelbare Aus­
führungsvorschrift - wurde jedoch noch, nicht systematisch untersucht. Die
folgenden Ausführungen haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese D icke zu
schließen.

] Vgl. hier/Ai Rudolf Stephan, » Zu r jüngsven G esch ichte des M elodrams «, in: A r c h iv ß r M u s ik w is ­
senschaft \1 ( I 9 6 0 ) , S. J 8 3 - 1 9 2 ; ders\, »Sprechgesang«, in: D ie M u sik in Geschichte u n d Gegenwart.
Zweite neubearbeitete Auflage, hrsg. von Ludwig Pinscher, Sachteil, Bd. 8, Kassel und Stuttgart 1 9 9 8 ,
Sp. 1 6 9 8 - 1 7 0 1 ; ders., »Was bedeutet der Verzieht auf fixierte To nh ö he n ? Überl eg un gen zur S i t u a ­
tion der Sp rac hkom position«, in: M usik als Text. Bericht ü b er d en Internationalen K o n g reß d e r Gesell­
schaft fü r M tiükforschling I r e ib u r g im Breisgau. 1 9 9 3 , hrsg. von H e r m a n n Danusev und Tobias Pie-
bu ch, Bd. 1, Kassel 19 9 8 , S. 4 0 2 - 4 0 4 ; Pierre Boulez, »Sprechen, Singen, Spielen«, in: M elos 11 ( 1 9 7 1 ) ,
S. 4 5 3 1 h ; Friedrich C er h a, »Z ur Interpretation der S p rec hst im me in Sc hö nbergs Pierrot li(uaire<s, irr.
B erich t ü b er den J. K o n g reß d er Internationalen. Sehönberg-Gesellschaft W ien 1 9 7 4 ( - Publikationen d er
Internationalen Schimberg-Gesellscljafh Bd. 1), hrsg. von Rudolf Stephan, W i e n 1 9 7 8 , S. 2 5 - 3 3 ; Peter
Stadien, »Schönberg und der Sprechgesang«, ebenda, S. 2 0 2 - 2 1 2 .
Z u r N o tatio n der Sprechstim m e bei Schönberg 7

Seit den Anfängen der G attung im späten 1 8. Jahrhundert bestand die, nota­
tionstechnische Hauptschwierigkeit des M elodrams in der zeitlichen Fixierung
des deklamierenden Textvortrags im Verhältnis zur instrumentalen Begleitung,
wenn man diese weder dem Zufall noch dem Belieben des Vortragenden über­
lassen wollte. M eist geschah dies durch die mehr oder weniger genaue Plazie­
rung des zu sprechenden Textes über oder zwischen den konventionell notier­
ten, Instrum entalstim m en, wobei die Taktstriche zusätzlich zu ihrer metrischen
Funktion die zeitliche Koordinierung von 'Text und M usik übernahmen. Im
Fall von metrisch gebundener D ichtung war die Zuordnung der Textsilben zur
unterlegten M usik unproblematisch, da die M elodiebildung in der instru­
mentalen Begleitung dann meist den Betonungsverhältnissen und der Silben­
zahl des Textes entsprach.2 Bei metrisch freien Prosatexten, wie sie beispiels­
weise, für melodramatische Opernszenen charakteristisch sind, stellte die
Verbindung von Text und, Musik dagegen ein Problem dar, das einer beson ­
deren notationstechnischen Lösung bedurfte. In den meisten Fällen behalf man
sich m it dem einfachen Verfahren, einzelne durch Unterstreichung typogra­
phisch hervorgehobene Silben möglichst genau den ' 1aktschwerpunkten der
Instrumentalstimmen zuzuordnen, um auf diese Weise eine Koordinierung der
.Betonungsverhältnisse von Text und Musik zu erreichen. In arideren Fällen
verwendeten die Kom ponisten spezielle Notationssym bole wie z. ß. Pfeile, um
eine Simultan Verbindung von einzelnen Silben und musikalischen Ereignissen
herzustellen. D er N achteil dieser Notationsart lag darin, daß die K oordinie­
rung zwar stellenweise gewährleistet war, sich jedoch übe
trolle durch, den .Komponisten entzog. N icht die Musik., aux
menwirken von Musik und 'lextvortrag, sondern die Deklamation bestimmte
den Fluß des Vortrags, was auch erklärt, warum sich beispielsweise Richard
" i<>u< i der musikdramatischen i ni l . i n I u i< <i », < uüber normaler-
ut >'< mfgeschlossen war, von dei imi'> nt i l G h uh p inzipiell distan
zierte.3 M öglichkeiten wie auch ßeschrankuiigen der Notation re itH '.....H ier
Koordinierungszeichen verdeutlicht eine Anmerkung in den its-
rnelodram. Weihnacht auf einen Text von Ernst v. W ildenbruch -ar-
tel: »Das Tem po der Begleitung hat sich ganz nach dem Vortrag zu. richten,
Text und musikalische Phrase sollten im Allgemeinen in Fühlung Zusam m en­
gehen. Jedoch müssen die unterstrichenen W orte eng mit den dazugehörigen.
Akkorden zusammenfallen. An einigen wenigen. Stellen sollen W ort und Musik
fast wie gesungen, miteinander verschmelzen. An diesen Stellen zeigen Pfeil­
striche die Silben und die dazugehörigen Akkorde an.«

2 Dies erklärt auch, die häufige Verwendung des 6/8--Taktes in den zahllosen um die J a h r h u n d e r t ­
wende entstandenen G ele ge nhc its kom pos hio nen , da sich das überwiegend jambische Versmaß der
Texte dieser l a k t a n problemlos anpaßt.
3 Vgl. Wa gne rs bekanntes D ik tu m über das M el o dr am als »ein Genr e von unerquicklichster G e ­
mischt-heil« in: O per u n d D ra m a (~ ( nisammeltc Schriften u n d D ichtu ngcr/, Bd. 4) , L e i p z i g X|1 9 0 7 , S. 4.
8 U lrich K räm er

Eine hierüber hinausgehende M öglichkeit zur Koordinierung von gespro­


chenem W ort und begleitender M usik bestand in der rhythmischen Festlegung
des vorzutragenden Textes m it Hilfe einer rein rhythmischen Notenschrift.
Hierzu wurden normale Notationszcichen ähnlich wie bei der Niederschrift
von Schlaginstrumenten auf einem über der instrumentalen Begleitung ange­
brachten Einliniensystem notiert und der Text entsprechend unterlegt. Die
hierdurch gegebenen M öglichkeiten zu einer weitergehenden rhythmisch-
metrischen Differenzierung hatten jedoch den Nachteil, daß das Notenbild
selbst den Eindruck einer tonhöhenm äßig gewollt undifferenzierten, gewis­
sermaßen »psahnodierenden« D eklam ation erweckte.4
O bw ohl es von der rein rhythmischen Festlegung des gesprochenen Text­
vortrags zu einer auch tonhöhenm äßigen Fixierung zumindest notationstech­
nisch nur ein kleiner Schritt ist, handelte es sich bei der Einführung des soge­
nannten »gebundenen Melodrams« durch Engelbert Humperdinck um etwas
qualitativ Neues. D enn während die Verwendung der oben beschriebenen
Koordinierungszeichen bis hin zur rhythmischen Fixierung der Silbenlängen
auf nicht m ehr und nicht weniger als eine Synchronisierung der beiden in ihrer
Eigenständigkeit nicht weiter berührten Sphären M usik und Sprache abzielte,
barg Humperdincks Neuerung gewollt oder ungewollt ganz neue M öglich­
keiten in sich, durch die die Eigenständigkeit der beiden unterschiedlichen
Sphären gelockert, wenn nicht aufgehoben wurde. D enn das W esentliche der
zur M usik gesprochenen Rede, ihre Sprachmelodie, war aufgrund der nota­
tionstechnischen Neuerung Humperdincks nun nicht mehr der freien .Ausge­
staltung durch den Vortragenden anheirngestel.lt, sondern mit einem Mal
»komponierbar« geworden. Dies bedeutete jedoch nicht nur die M öglichkeit,
den. melodischen Verlauf der Deklamation im Sinne der »gesteigerten .Rede«
nach dem W illen des Komponisten testzulegen., sondern auch die M öglich­
keit, spezifisch musikalische E lem ente..etwa .Motiv d ie Fort -
schreitungen ..auch sprachlich zur G eltung zu brir ick hatte
diese neue Art des Melodrams erstmals in seinem Bühnenmelodram Königs--
kinder { 1.895) zur Anwendung gebracht.’ Zur Niederschrift der Sprechsüm-
me hatte er eine neuartige Notenschrift ersonnen, die bereits ihrer äußeren
Form nach das Sprachmäßige als eine Art »M ittelding zwischen Singen und.
Sprechen« zürn Ausdruck bringen sollte.6 Dabei unterscheidet sie sich jedoch
nur unwesentlich von. der konventionellen N otation, von der sie nicht nur das
System von Fähnchen, Balken, Punkten und. Bögen zur Festlegung des .Rhyth­

4 F ü r diese und weitere Noiavionsformen, auf die hier im einzelnen nicht einzugehen ist, sei auf die
in den ersten Deka de n des vorigen Jahrhunderts erschienene Reihe M elodram en des Theater-Verlags
Eduard Bloch in Berlin verwiesen, die zugleich einen repräsentativen Überblick über die blühende
Pro duktion von überwiegend trivialen Gelegenheirswerken besinnlichen, aber auch - wie bereits der
Untertitel etwa von Philipp Gretschers Vaterländischem M e lo d ra m »D e r Posten« erkennen läßt —patrio-
tisch-nationalen Inhalts jener Ze it bietet.
5 Vgl. Stephan, » Z u r jüngsten Geschichte«, S. 1 8 3 - 1 8 6 .
6 Wo lfr am H u m pe r di n ck , En gelb ert L in rn p erd in ck ..das Lebern meines Vaters F ra n k furter Lebens­
bilder, Bd. 17 ), Fran kfurt am Ma in J 9 6 5 , S. 2 3 3 f.
Z u r N o tarion der Sprechstim m c bei Schönberg 9

mus übernahm, sondern auch das Fünfliniensystem zur Fixierung der 'Ion-
hohe. Der einzige Unterschied lag in der Verwendung des als »Sprechnote«
bexeichneten x-förm igen Notenkreuzes anstelle des gewöhnlichen runden
Notenkopfes. D a in diesem System die Differenzierung zwischen hohlen und
gefüllten Köpfen entfiel, beschränkten sich die zur Verfügung stehenden
Notenwerte auf Viertel, Achtel, Sechzehntel etc., d .h . auf jene W erte, die in
konventioneller N otation gefüllte N otenköpfe verwenden. D ie Wahl des No-
tenlcreuzes war übrigens keineswegs zufällig, sondern sie läßt interessante Rück­
schlüsse auf Humperdincks Verständnis des Unterschiedes zwischen Sprache
und Gesang zu. D er Kom ponist verband nämlich m it diesem Notenzeichen
die Vorstellung von einem »'ibnskelett« ', das übrigbleibt, wenn der von der
menschlichen Stim m e hervorgebrachte I o n von allem Gesangsmäßigen ent­
kleidet ist. Humperdinck: erblickte demnach in dem Verhältnis von gehobener
Sprache zum Gesangston keinen prinzipiellen Unterschied, sondern nur eine
graduelle Abstufung, weshalb er auch die Aufzeichnung der Sprechstimme mit
dem Zeichensystem der M usik als etwas ganz Natürliches ansah.
Hum perdinck hat sich in zahlreichen Briefen und Aufzeichnungen über die
Funktion, Verwendung und Ausführungseiner »Sprechnoten« geäußert. D ie­
se Bemerkungen lassen erkennen, daß sich seine Auffassung im Lauf der Zeit
gewandelt hat, was wohl zum Teil m it der eher ablehnenden Haltung der Kri­
tik, aber auch der an den Aufführungen der Königskinder beteiligten Schau­
spieler zusammenhing, die letztlich dazu führte, daß Hum perdinck sein Buh­
nenmelodram später in eine »normale« O per um arbeitete.8 Da diese
Entwicklung ähnlich wie später bei Schönberg verlief, u u im u ! i<
tilgbaren D okum ente im folgenden kurz dargestellt
2 5 .7 . 1895 an den Schauspieler und Intendanten der
Hoftheater Ernst von Possart, der die Königskinder zur
und auch die ! )ruck!egung entscheidend befördert hart
bereits sehr detailliert auf die neue Art des (gebundenen
ist zu beachten, daß sic h .- wie aus dem. Vorwort zum 1
neuen Klavierauszug der Königskinder hervorgeht:10 —a!

7 Ebenda.
8 Vgl. etwa den M ü n c h n e r Zeitungsartikel von 1 9 1 2 , in d em es rückblickend über die Urauf­
führung der l(önigddnder\\Q\{l\.: »So entstand das M el o dr am >Königskinder<. Es war ein K o m p r o m i ß ,
bei dem eigentlich kein Teil viel gewann. Die Mus iker bedauerten, daß die Stimmung- durch das Auf ­
hören der Musik ständig zerrissen werde. Die Schauspieler beklagten sich, daß sie über das volle H u m -
per din cks ch e O rc he st er nicht hinwegsprechen kön n te n. Die W o r t e wurden unverständlich odi i \< i
loren sich in Schreien. Ger ade dad ur ch gingen aber die Feinheiten der D i c h t u n g verloren /u u ii
nach R ugelberl H u m p erdir/ek zu m 7 0 . l'odeslug. Veröffentlichung des (jeschichts- u n d A llerlu
fü r S iegbu rg und- d en R hein-Sieg-Kreis r. K, hrsg. von An drea Korte-Böger, Siegburg 1 9 9 2 , S. /:> ym
folgenden zitiert als liurnperdhicL ).
9 Ernst von Possart war übrigens, wie aus einem Brief Alban Bergs vom 1 3 . 1 . 1 9 1 3 an Schön ber g
hervorgeht, noch 1 9 1 3 für die Sprecherpartie des M el o dr a m s aus den (ju rre-l.ied ern vorgeschlagen
worden.
10 »Die in den m el odram atischen Sätzen ang ew andten Sprec hno ten sind dazu bes tim mt , R h y t h ­
m us und dönfalJ der gesteigerten Red e (Melodie des Sprachver.ses) m it der begleitenden Musik in
Einklang zu setzen.«; zitiert nach Stephan, »Sprechgesang«, Sp. 1 6 9 9 .
10 U lrich Kräm er

gehobene, dem deklamierenden Bühnenstil verpflichtete Rede beziehen: »Da


ich auf eine sehr innige Verschmelzung der begleitenden M usik m it dem gespro­
chenen W ort hinarbeite, wie sie sonst nur beim Gesänge m öglich ist, so glau­
be ich fest, daß sich dabei ein neuer oder wenigstens ziemlich ungewohnter
Vortragsstil heraussteilen wird, dessen Schwierigkeiten ich mir keineswegs ver­
hehle. D ie Schauspieler erhalten in der Partitur ein besonderes Notensysteni,
in welchem ihre >Stimme< m it gekreuzten N oten dargestellt wird. Diese Noten
sollen nicht etwa gesungen werden, sondern nur als ein Fingerzeig dienen, wie
die Verse annähernd in der Tonhöhe und ziemlich genau im Rhythmus gespro­
chen werden sollen, z. B.:

if‘ 1 P :>
G ä n s e m a g d : .Ei, h iu ich schö n.!

Dieses konsequente M itgehen und. Gontrapunktieren m it der O rchester-M elo­


die [...] soll nun hier, ohne daß der M im e in der Wiedergabe seiner Rolle all­
zu. sehr eingeengt zu werden braucht, von vornherein fixiert werden, so wie
auch andererseits die Form der M usik bedingen, wodurch - so wie ich es mir
vorstelle - ein gewisses eigenartiges clair-obscur der Stim m ung, wie es dem
M ärchencharakter besonders in den Liebesszenen entspricht, und zugleich eine
stilistische Einheit zwischen der poetischen und. der musikalischen Idee erreich i
werden, dürfte.«n
Bereits diese erste M itteilung Humperdincks ist - und auch hierin liegt eine
Parallele zu. Sch ö n b erg ..mißverständlich, d um »ziemlich.
genau« einzuhaltenden. Rhythm us eine g e . i „ I > i m. , , len nur »an­
nähernd« zu befolgenden Tonhöhen impliziert, a u s o .............'Di T Tn des spä­
teren Pfitzner-Verlegers Max Blockhaus geht jedoc! .re solche
freie Auffassung der Ih n h ö h en nicht den Intentic icks ent­
sprach.: »Unmittelbar vor der Generalprobe kam es ■ zwischen
Humperdinck und Possart, wohl wegen, der Nichtbefolgung von Humper­
dincks Vorschriften über die Sprechnoten.. Die Darsteller sprachen die me­
lodramatischen Worte rhythmisch richtig, ignorierten aber die durch die
Sprechnoten festgelegte Tonhöhe, so daß das Problem des Melodrams zu
Humperdincks begreiflichem größten Ärger ungelöst blieb.«12
Humperdinck selbst machte in einem nur kurze Zeit nach dein zitierten Brief
an Possart versandten Schreiben deutlich, daß es ihm durchaus auf eine
»genaue« Befolgung der vorgeschriebenen Tonhöhen der gesprochenen Par­
tien ankam: »Hier ist wohl zum ersten Male der Versuch gemacht worden, die
Wagnerischen Formen im Melodram anzuwenden, wobei der Tonfall der
Deklamation genau durch eine von mir erdachte Notenschrift (Sprechnoten)

I1 Zitiert nach H um perdincks S. 34 .


12 Zitiert na ch H u m p erd in ck , S. 7 2 .
Z u r N o tatio n der Sprechstim m e bei Schönberg 11

vorgeschrieben ist. Ich bin neugierig, wie ciie Sache wirken wird; sollte es
glücken, so haben wir dann eine Ausdrucksform, die vielleicht einige Ä hn­
lichkeit m it der m elodramatischen Rezitation des altgriechischen Theaters
besitzt..«13
Und gar keinen Zweifel daran, daß die präzise Vorgabe der Tonhöhen in den
D eklam ationspartien der Königskinder tatsächlich ernstgem eint war, ließ
Hum perdinck in einem Brief an die Schauspielerin Tony Kwast, lo c h te r Fer­
dinand. Hillers, der er das M anuskript zwecks Begutachtung der Ausführbar­
keit geschickt hatte: »Es sind lauter M elodram en, allerdings meistens m it sehr
ausführlicher Musik versehen - die gekreuzten N oten [ j) werden nicht ge­
sungen, sondern gesprochen mit möglichster Berücksichtigung des Tonfalls
und des Rhythm us — |...].«1'!
Die Schwierigkeiten, die die tonhöhengetreue Umsetzung der »Sprechnoten«
bereitete und die den Erfolg cies Werkes bei. der Uraufführung in M ünchen
und den nachfolgenden Inszenierungen in Frankfurt (unter Humperdincks
eigener Leitung), Prag, Leipzig und Berlin nicht unerheblich beeinträchtigt:
hatten15, führten jedoch zu einer Wandlu ng in Humperdincks Auffassung. Und
so heißt: es in einer späteren, das Melodram betreffenden Notiz: »Die Sprech ­
noten geben im allgemeinen nicht: die absolute Tonhöhe, sondern die relative
an, die Linie der Hebungen und Senkungen in der Stimme. Je mehr Ton die
letztere annim m t, desto genauer wird sie die vorgeschriebene lo n h ö h e einzu­
halten haben, damit es zu keinen Dissonanzen kom m t; je mehr sie sich dem
trockenen Sprechton nähert, umso mehr kann sie sich von. der Vorschrift des
Tonsetzers entfernen. Über das M aß kann natürlich, nur die Eigenart des Vor­
tragenden, andererseits der Charakter der betreffenden Stelle e
Bemerkenswert an dieser Notiz ist vor allem Humperdincks
offenbar nicht zufriedenstellenden. Erfahrungen bei der Urnsetzi.
noten mit der Titsache, daß die Sprechsttnimc als imepraler ,
C .Hi/< ’i u i ' b h e h komp' uni 11 ilso »in 1 oiu <I n\ r 1 mm 1, , i . i i.\cu zu
Vi u im i) . heim dient ein> i m u die Bemed un <! i1 du -j. •in - >. im nie
relative lo n h ö h e , d .h . die Linie der Hebungen una oeriRiingen angeoen, und
andererseits die Forderung, daß die angegebenen lo n h ö h en immer dann ver­
bindlich einzuhalten sind, wenn sich der Sprechton innerhalb eines in seiner
.Auffassung vorn graduellen Unterschied zwischen. Gesang u nd. Sprache begrün­
deten Kontinuum s zwischen, »trockenem Sprechton.« einerseits und. vollem
Gesangston andererseits dem letzteren annähert. D ie zweite Forderung wirkt
jedoch vor allem in H inblick auf die in diesem Zusam m enhang gegebene
Begründung (»damit: es zu keinen .Dissonanzen kom m t«), die ja die zumindest

13 H u m pe r di n ck an A r th u r Sinolian, Brief vom 5 . 8 . 18 9 5 ; zitiert nach H u m p erd in ck , S. 3 6 .


14 H u m p e r d i n ck an T o ny Kwast, Brief vom 1 3 . 3 . 1 8 9 6 ; zitiert nach H um perdinck\ S. 4 6 .
15 N ach Einsch ät zu ng M a x Broc kha us ’, der der Genera lpr obe zur Urauff ühr un g bei gewobm hat­
te, wurde »das Problem des M el o dr am s |...l zumeist nich t günstig beurteilt«; zitiert nach H urnper-
d inck, S. 7 4 .
16 Zitiert nach H u m p erd in ck , S. 164 L
12 U lrich K räm er

harmonische Eingebundenheit der Sprechstimme in den musikalischen Satz


voraussetzt, eher als Kapitulation vor den realen Aufführungsschwierigkeiten
denn als Revision der ursprünglichen kompositorischen Intention. In die glei­
che Richtung geht auch die Tendenz, die Gestaltung der Sprachmelodie trotz
der Tatsache ihrer »Gebundenheit« nun doch wieder dem Vortragenden zu
überlassen, d .h . aus dem Bereich des Kom ponierten in den der Ausführung zu
verlagern. H um perdinck ist auf dem eingeschlagenen Weg nicht weitergegan­
gen, sondern hat, obwohl er noch 1906 m it dem »melodramatischen Krip­
penspiel« Bübchens Weihnachtstraum ein weiteres W erk zum Genre beitrug, als
Reaktion auf die unüberwindbaren Schwierigkeiten bei der Umsetzung der
Sprechnoten seine Königskinder im ja h r 1910 für »normale« Singstim m en
umgearbeitet. D ie W eiterentw icklung seiner Erfindung des »gebundenen
Melodrams« überließ er den Kom ponisten der folgenden Generation.

II

Arnold Schönberg hat von Hum perdinck nicht nur die Idee, sondern auch die
Notationsform des gebundenen Melodrams übernommen und aufgrund sei­
ner eigenen Erfahrungen mit der Problematik des Sprechgesangs weiterent­
wickelt. Rein äußerlich lassen sich fünf unterschiedliche Notationsarten un­
terscheiden, die jedoch zum Teil ineinandergreifen und auf vielfältige Weise
modifiziert und. erweitert werden:
1., die diastematisch eindeutige Fünfliniennotation m it den Hum perdinck-
sc h e n No t en k re uze n ,
2. die daraus abgeleitete Fünfliniennotation mit normalen Notenköpfen und
durchkreuzten Notenhälsen,
3. die adiastematische Fünfliniennotation ohne Notenköpfe,
4. die diastematisch nicht festgeiegte Fünfliniennotation mit .Notenkreuzen.,
und
5. die diastematisch nicht eindeutige, um mehrere Hilfslinien erweiterte Ein-
liniennotation m it konventionellen. Notenzeichen.
D ie diasternatisch eindeutige Fünfliniennotation mit den Hum perdinck-
schen Notenkreuzen markiert nicht nur den Anfang von Schönbergs Beschäf­
tigung mit dem gebundenen M elodram , sondern findet sich auch noch in
Zusammenhang m it seinen späteren frei- und zwölftönig-atonalen Werken mit
Sprechstimme. Er setzte sie im M elodram aus den Gurre-Liedern{ 1900/ 1901),
in den Skizzen zur Glücklichen H and op. 18 (1 9 1 0 -1 9 1 3 ) , in der ersten N ie­
derschrift und der Reinschrift des Pierrot lunaire op. 21 (1 9 1 2 ), im Seraphita-
Fragment ( 1 9 1 2 )'7, in der Anfangsphase der Arbeit am Particell des Jakobslei-

17 Vgl. Joseph H . Aimer, Scbocnbergs Com positionalandA esthetic "Jvansforrnatiom 1 9 1 0 - 1 9 1 3 : The


Genesis o f >D ieglückliche Manch, Dissertation C hi ca g o 1 9 9 1 , S. 1 2 6 f. —Aim er nutzt den Wechsel zwi­
schen der N o ta ti on sf or m mit den H um pe rd in ck sc he n No tenkreuzen und der m it den durchkreuz­
ten No tenhälsen als A r g u m e n t innerhalb seiner Diskussion der En tst eh un g der G lücklichen H a n d .
Z ur N otation der Sprechstim m e bei Schönberg 13

ier (1 9 17), in Moses und Aron (1 9 3 0 - 19 3 3 ), zu Anfang der ersten Niederschrift


der Ode to Napoleon op. 41 (1942) und schließlich in zwei Skizzen zum Psalm
130 op. 50B (1950) ein, verwendete sie also über einen Zeitraum von 30 Ja h ­
ren. Diese 'Tatsache darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich Sch ön ­
bergs Auffassung von der Sprechstimm e und ihren M öglichkeiten in der Zwi­
schenzeit grundlegend gewandelt hatte, was schließlich zur Einführung der
diastematisch nicht festgelegten Einliniennotation führte. W enn Schönberg
trotzdem so lange an der frühen N otationsform festhielt —wenn auch nur im
Skizzierungs- und Entwurfsstadium der nach Moses und Aron entstandenen
W erke --, dann wohl nur darum, weil ihm die Humperdincksche N otation die
vertrauteste Aufzeichnungsform für die Sprechstimme war und blieb.
Das Problem der im Humperdinckschen System nicht vorhandenen Halben
und Ganzen Note löste Schönberg dabei auf unterschiedliche Weise: in der
1911 fertiggestellten G«?7r-/,i(?^(fr-Partiturreinschrift etwa setzte er im M elo­
dram anstelle des Notenkreuzes einen durchkreuzten hohlen N otenkopf, eine
Notationsform , die er bereits innerhalb der 1900/ 190] angefertigten ersten
Niederschrift zur N otation der »geschrienen« bzw. »geprochenen« Stelle im
»Lied des Bauern« —hier allerdings für Achtel-, Viertel- und Halbe Note glei­
cherm aßen — verwendet hatte und die sich auch noch in der ersten Nieder­
schrift und der Reinschrift des Pierrot findet. D ort ist sie jedoch nur eine von
mehreren Aufzeichnungsweisen, die Schönberg übrigens alle (und noch wei­
tere!) in einer an Alban Berg gerichteten N otiz18’ zusammengestellt hat und
zwischen denen es hinsichtlich ihrer Bedeutung keinen Unterschied gibt. Anlaß
des Briefes war das Problem, in der von B e rg ..oder wahrscheinlicher von der
Universal Edition - für den Klavierauszug der Gurre-Lieder gewähltcjl Nota­
tion der Sprechstim me mit hohlen R hom ben die Halbe Note: darzustellen. 1./le­
se N otationsform geht auf Franz Schreker zurück, zu dessen O per Der ferne
Klang Berg ebenfalls den Kla.vi.erau.szug angefertigt hatte. Doch auch Schön •
berg hatte sie zu diesem Zeitpunkt bereits verwendet, und zwar b der
Partiturreinschrift der Gurre-Lieder, wo sie die in der ersten Nie ft zur
Notation, des melodramatischen Schreiens bzw. Sprechens des Bauern oemttz-
ten. durchkreuzten hohlen Notenköpfe ersetzten.19 Der in Schönbergs Notiz
m it dem Kom m entar »vielleicht am besten.« versehenen und im 3 9.1.2 erschie­
nenen Klavierauszug dann auch tatsächlich verwirklichten N otation sart..ein
aus zwei sich, seitlich kreuzenden Halbkreisen bestehender Notenkopf, der sich
bereits im 1901 niedergeschriebenen Particell des M elodrams aus den Gurre-
Liedern fin d et..treten im .Pierrot noch (mindestens) vier weitere zur Seite, die

18 A m o n Web er n an Alban Berg, Brief vom 2 0 . 6 . 1 9 1 2 m it beigefiigtem Notizzetrel von Arnold


S c h ö n b e r g . ..Vgl. den Abd ruc k in Reinhold Br in km an n (H rs g .) , A rn o ld Schönberg, M elodram en a n d
Lieder mit In s lm m en ien , Teil 1: Pierroi lunaire op. 2 1 : K ritischer Bericht, Studien z u r Genesis> Skizzen,
D o k u m en te (= Säm tliche Werke, unter dein. Pat ro nat der Akademie der Künste, Berlin, begründet von
Josef Rufer, hrsg. von Rudolf Stephan, Reihe B, Bd. 2 4 , 1), Ma inz und W i e n 1 9 9 5 , S. 2 3 1 .
19 Von hier aus gelangten sie in die gestochene Partitur von 1 9 2 0 , allerdings mit teilweise gefüll­
ten Notenköpf'en, um den Unters chie d zwischen Viertel- und Halbei' N o t e zu verdeutlichen.
14 U lrich K räm er

sich aufgrund der nicht normierbaren handschriftlichen Überlieferung nicht


immer ganz scharf voneinander unterscheiden lassen: der m it einem in der
M itte ausgesparten Kreuz überschriebene hohle Notenkopf, der einfache hoh­
le Rhom bus, der hohle Rhom bus m it sich seitlich kreuzenden Seitenlinien —
eine Notationsform , die sich auch als zwei nebeneinandergesetzte Notenkreu-
ze im Sinne einer »2/4-Note« deuten läßt und von Schönberg auch offenbar
ganz bewußt in diesem Sinn verwendet wurde20 —und der hohle Rhom bus m it
sich oben, unten und seitlich kreuzenden Seitenlinien. Auch die beiden letz­
ten Notationsarten hat Schönberg in seiner Notiz ausdrücklich (»oder am
besten«) für tauglich befunden. In Moses und Aron, den Skizzen zu Psalm 130
sowie in jenem 'Feil des Jakobsleiter-Fragments, der ebenfalls Humperdincks
»Notenkreuze« verwendet, sind die Halben und Ganzen dagegen ausschließ­
lich als hohle Rhom ben wiedergegeben.21
Bereits im M elodram aus den Gurre-Liedern ist ein gewisser Widerspruch
zwischen der Art der Sprechstimm enbehandlung (und ihrer N otation) und
Schönbergs späteren Anweisungen zur Ausführung spürbar. Das wichtigste in
diesem Zusammenhang zu erwähnende D okum ent ist ein Brief Schönbergs
an Alban Berg, der an den Proben zur Uraufführung am 2 3. Februar 1913
durch Franz Schreker beteiligt war. Berg war bei seiner intensiven Beschäfti­
gung m it dem Werk - außer dem Klavierauszug hatte er innerhalb kürzester
Zeit die bis heute umfang- und inhaltsreichste Analyse des Werkes, den Gur-
re-Lieder-Führer11, geschrieben .. gewiß nicht verborgen geblieben, daß die
Sprechstimme aufgrund der überwiegend kleinen Notenwerte eigentlich nicht
viel anders als eine im parlando-Stil gehaltene Singstim me kom poniert ist.
Sogar der Stim m um fang, der beim Sprechen bekanntlich wesentlich geringer
ist als beim Singen23, entspricht m it einem Ambitus von d' bis f f (notiert) der
Tenorlage. D ie durch die N otation der Sprechstimme realisierte »Melodie« ist
zwar meistens von den Instrum enialstim m en unal erscheint
dabei jedoch stets in die Harm onik eingebunden i ff.), D ar­
über hinaus ergeben sich jedoch bisweilen noch eng t zwischen
dem Instrumentalsatz und der Sprecherpartie, am de.......... ...... . ,„ ,..Jch t in der

20 Vgl. Br in km an n , Pierrot lu n a ire op. 2 1 : K ritischer Berich/', S tu d ien z u r Genesis, Skizzen., D o k u ­


m ente, S. 22 1 f.
21 lnteressamerweise hat Sc hön ber g im K ol N id re auch innerhalb des meist auf einem einzigen
Fünfliniensysrem notierten Schlagwerks für die I nst ru m ent e o hn e be st im m te 'l o nh öh e, also diejeni­
gen, bei denen der Geräuschanreil überwiegt, die aus dieser N o t a d o n s f o rm entlehnten N ot enzeichen
verwendet, und zwar für das Becken das Notenkretiz bzw. den hohlen R h o m b u s mit sich seitlich kreu­
zenden Seitenlinien, un d für kleine T r o m m el , T a m t a m und große Trommel den gefüllten bzw. hoh ­
len Rh o m b us . D ie früheste derartige Sc hJ agwcrk -Norarion findet sich jedoch bereits im «Lied der
Waldtaube« aus den G urre-d.iedern, wo an einer einzigen Stelle (T. 1 0 9 4 ) das T a m t a m m it dem h o h ­
len R h o m b u s notiert, ist.
22 A rn o ld S ch ön berg Gurrelieder. F ü h rer von A lb a n B erg; Leip zig/ W ie n 191 3. Vgl. auch Alban Berg,
Analysen m usikalischer Werke von A rn o ld Sch ön b erg (~ Säm tliche Werke, 111. Abteilung: M usikalische
Schriften u n d D ichtu ngen, Bd. 1), vorgelegt von R u d o lf Stephan und Regina Busch, W i e n 1 9 9 4 ,
S. 3 - 8 1 .
23 Vgl. Ce rha , » Z u r Interpretation der Sp rechstimme«, S. 2 7 .
Z u r N o tatio n der Sprechstim m c bei Schönberg 15

Passage T 84-7 tt.: hier realisieren die Instrum entalstim m en ein aus zwei Tove-
T hem en und einem W aldem ar-M otiv bestehendes Engführungsgeflecht, in
das sich die Sprechstimm e zwanglos einfügt, indem sie solche T ö n e des Instru­
mentalsatzes übernim m t, die ihr einerseits genügend Eigenständigkeit ge­
währen und andererseits die charakteristischen kleinen Intervallschritte zur Ver­
fügung stellen. (Dabei wird die motivisch bedeutsame große Septim e aufwärts
häufig durch ihr Komplementärintervall, die kleine Sekunde abwärts, ersetzt.)
D ie Sprechstimme erscheint hier also —wie auch an anderen S te lle n ..als ein
Substrat thematisch relevanter T ö n e, die aus wechselnden Stim m en des Instru­
mentalsatzes entnom m en und zu einer Sprachmelodie umgeformt sind:

851
16 Ulrich K räm er

A uf die briefliche Anfrage Bergs, »ob die Sprechstimm e genau so absolut zu


behandeln [sei] wie eine Gesangsstimme, oder mehr relativ«, ob es also genü­
ge, »wenn die möglichste Annäherung an die Sprachmelodie erreicht« sei, oder
ob »die M elodie selbst streng gefordert« sei24, antwortete Schönberg am 14,
Januar 1913: »Wegen der M elodram en in den Gurreliedern: hier ist die Ton-
böhen-N otation keinesfalls so ernst zu nehmen, wie in den Pierrot-M elodra-
men. Keinesfalls soll hier eine so gesangsartige Sprechmelodie entstehen, wie
dort. Gewahrt bleiben muß durchaus der Rhythmus und die Tonstärke (ent­
sprechend der Begleitung). Bei einigen Stellen in denen es sich fast melodisch
benim m t, könnte «w as (!!) musikalischer gesprochen werden. D ie Tonhöhen
sind nur als >Lagenunterschiede< anzusehen; d. h. die betreffende Stelle (!i! nicht
die einzelne Note) ist höher resp. tiefer zu sprechen. N icht aber Intervallpro­
portionen!«2'5
O ffensichtlich steht diese Anleitung zur Ausführung der Sprechstimm e in
direktem Widerspruch nicht nur zur eindeutigen N otation, sondern auch zum
analytischen Befund des Melodrams aus den Gurre-Liedern. Nach den Erfah­
rungen m it der Sprechstimm e seiner im Jahr zuvor mehrfach aufgeführten
Pierrot-Melodramen hatte S ch ö n b e rg ..ähnlich wie H um perdinck nach den
M ißerfolgen seiner Königskinder - anscheinend jedes Vertrauen darauf verlo­
ren, daß eine tonhöhengetreue Wiedergabe der Sprecherpartie, die sich eben
nicht als Gesang, sondern als gesteigerte Rede artikuliert, überhaupt realisier­
bar war. Und da sich in einer tonalen Partitur die durch eine singende Sprech­
weise überwiegend hervorgebrachten »beinahe richtigen« T ö n e störender aus­
wirken würden als die ausschließlich sprachmedodischc 'Io n Bewegung der
freien Deklam ation, gab Schönberg im M elc tr GurreAAeder seine ur­
sprüngliche Intention, die Sprachmelodie an mom k und M orivstruk-
tur des Instrumentalsatzes zu binden, zugunsten einer ganz freien .Behandlung
der Tonhöhen auf.261nteressanterweise läßt sich auf diese W eise..wenn auch
unter gänzlich umgekehrten V orzeichen..auch S eizügtge Auffas­
sung der notierten Tonhöhen in der gesprochene Moses in .Moses
und, Aron erklären: hier sollen »die 'lonhöhem m terschiede die Deklamation
nur charakterisieren«2'', d. h. sie sind als absolute Vorgaben vollkommen unver­
bindlich, da sie, wie Schönberg in einer Anmerkung zu T .7 5 2 des I. Aktes
bem erkt, nicht in die Reihcnstruktur des Werks integriert sind.28 Noch deut­
licher wird das paradoxe Verhältnis von (exakter) Notation und (inexakter)

2,4 Alban Berg an Arnold Sch önb er g, Brief v om 1 3 . 1 . 1 9 1 3 (Library of (Kongress).


25 A rno ld Sc hö nb er g an Alban Berg, Brief vom 14 . 1 . 1 9 1 3 (Österreichische NationalbibJiothek).
— Vgl. den A b dr uc k in Br in km an n , Pierrot Innaire op. 2 1 : K ritischer Bericht, Studien z u r Genesis, Skiz­
z en , D o k u m en te, S. 2 9 8 .
26 Vgl. Stadien, »Sc hönberg und der Sprecbgesang«, S. 2 0 5 .
27 Ebe nda , S. 2 0 7 .
28 Die meines Wissens einzige Stelle, an der die Spre ch sti mme eine zwolftönig g ebun dene Instru­
mental,stimme verdoppelt ( 1 / 2 0 8 ff.), ist m i t aufwärts behalsten H u m pe r di n ck sc he n Sprechnoten und
m it abwärts behalsten nor malen N o t e n zugleich notiert und mit dem Zusatz: »Diese Steile kann even­
tuell gesungen werden« versehen.
Z u r N otarion der Sprechstim m e hei Schönberg 17

Ausführung in den gesprochenen Chorpartien desselben Werks. Sie sind über­


wiegend
O wie diatonisch,7 d.h. ohne Vorzeichen notiert,3was dazu führt,1 daß sie
an e in ig e n Stellen zu Dreiklangsbildungen Z u s a m m e n t re ff e n , die, wie Peter
Stadien völlig zu R echt bem erkt, einen »krassen Stilbruch« innerhalb der
zwolftönigen Partitur darstellen würden.29 Schönberg ist jedoch o f f e n b a r davon
ausgegangen, daß es ohnehin unm öglich sei, die notiertenTonhöhen von einem
vielstimmigen C hor exakt zur G eltung b r i n g e n zu lassen, so daß die aufgrund
der mehr oder weniger zufallsabhängigen Ausführung zu befü rchtenden D rei­
klangsbildungen paradoxerweise eben gerade durch ihre Vorgabe ausgeschlos­
sen w e rd e n . D ie freizügige Auffassung bezüglich der im M elodram aus den
Gurre-Liedern kom ponierten Sprechstim m enm elodic ve rtra t Schönberg übri­
gens noch ein halbes jah r vor s e i n e m Tod in Zusamm enhang m it einer geplan­
ten Aufführung der Gurre-Lieder, bei der Erika Wagner-Stiedry, die Interpre­
tin s e in e r e i g e n e n Aufnahme der /-fcrof-M elodram en, die Sprecher-Partie
übernehm en sollte. In einem B rief an das Ehepaar Stiedry vom 2. Januar 1951
schrieb er: »Zum Unterschied vorn Pierrot handelt es sieh hier in keiner Wei­
se um Tonhöhen. D aß ich doch Noten geschrieben habe geschah nur, weil ich
glaubte so meine Phrasierung, Akzentuierung und Deklam ation eindringlicher
darzustellen. Also bitte keine Sprechmelodien. D ie einzige Ähnlichkeit mit
dem Pierrot besteht in der Notwendigkeit stets im Takt mit dem Orchester zu
bleiben.«30
Zwischen der diastematisch eindeutigen Fünfliniennotation mit Nocen-
kreuzen und derjenigen m it durchkreuzten Notenhälsen, die Schönberg erst ­
mals in der ersten Niederschrift und. der Reinschrift der Glücklichen Hand
in den Skizzen sind die Kreuze wohl zumindest teilweise Korrekt
ursprünglich konventionell notierten (Gesangs-?)Noten .. und s
Jakobsleiter-Particell. ab T ‘y 5 ’ ] verwendet hatte und die vor allem, ourcu tue
Verwendung in der 1914 erschienenen gestochenen Partitur des Pierrot hin
aire bekannt wurde, besteht prinzipiell kein. Unterschied. Dies zeigt sich u.a.
daran, daß beide. Notationsformen, in. ein und. demselben W erk unterschieds­
los hintereinander (d .h. innerhalb einer einzigen Q uelle wie im Fall der
Jakobsleiter ) bzw. nebeneinander (d.h. in mehreren Q uellen wie im Pierrot)
verwendet werden konnten. D er Wechsel verdankte sich daher auch nicht musi­
kalischen, sondern offenbar rein verlagspraktischen. bzw. drucktechnischen.
Erwägungen. D ie N otation m it durchkreuzten Notenhälsen hatte näm lich der
H umperdinckschen gegenüber vor allem zwei. Vorteile: erstens entfiel bei der

29 Stadien, »Schö nbe rg und der Sprechgesang«, S. 2 0 7 .


30 Arnold Sc hö nb er g an Erika und Fritz Stiedry, Brief von) 2 . 1 . 1 9 5 1 . ..Vgl. den A b dr uc k in Br ink­
m a nn , Pierrot lu na ire op. 2 1 : K ritischer Bericht, Studien z u r Genesis, Skizzen> D o k u m en te, S. 3 0 5 .
31 Vgl. A rnold Schö nbe rg , D ie Jakobsleiter. O ratorium ( 1 9 1 7 ~ 1 9 2 2 ) (Fragm ent) fiirS o li, C höre u n d
Orchester. .Nach d en A nga b en des Kom ponisten in Partitur gesetzt von W in fried Z illig, hrsg. von Rudolf
Stephan (= Säm tliche Werke, un ter d em Pat ro nat der Akademie der Künste, Berlin, begründet von
Josef Rufer, herausgegeben von Rudolf Stephan, Reihe A, Bd. 2 9 ) , M a in z und W i e n 1 9 8 5 , S. VI (Vor­
bem erkung).
18 U lrich K räm er

D rucklegung für den Stecher die notationsspezifische Schwierigkeit, das


Notenkreuz genau auf den Linien bzw. in den Zwischenräumen des F ü n f'
liniensystems zu positionieren - derartige Leseprobleme hatten beispielsweise
noch in der 1920 erschienenen gestochenen Gurre-Lieder-Yaxutm eine relativ
große Zahl »falscher« T öne innerhalb der Sprecherpartie des Melodrams zur
Folge32 und zweitens entfiel so das Problem der »systemfremden« Darstel­
lung der Halben und Ganzen Note. D er Wechsel von der einen zur anderen
N otationsform innerhalb der Überlieferung des Pierrotist übrigens durch einen
aufschlußreichen Brief Schönbergs an seinen Verleger H e m k a vom 22. Dezem­
ber 1913 dokumentiert. Bezeichnenderweise überläßt er hier die Entscheidung
darüber, welche der beiden Notationsarten im Stich für die Rezitation ver­
wendet werden soll, ausdrücklich dem Verlag: »VI. D ie Noten in der Sprech­
stim m e sind bei mir so bezeichnet. 1<( 1/2), J (1/4), >f>(1/8) etc. Das kann der
Stecher so machen, daß er für 1/4, 1/8 etc. das Doppelkreuz-Zeichen nim m t,
für 1/2 N oten setzt er es zweimal nebeneinander ( ...] . Sollte das nicht zweck­
mäßig sein, dann kann es so gemacht werden wie in der glücklichen Hand.
1/4 j , 1/8 > 1/ 16 > 4/8 I J J ) 1/2 i wozu auch das Doppelkreuz dient.
V II. D er Stecher m uß aber die Notenzeichen genau der vorgezeichneten Ton­
höhe entsprechend auf die Linien setzen!!«33
O ffenbar erwies sich der Stich der Hurnperdinckschen Notenkreuze auf­
grund der dargestellten Schwierigkeiten tatsächlich als nicht »zweckmäßig«,
und so ist die von Schönberg erstmals in der Glücklichen H and verwende­
te Sprechstim m ennotation m it durchkreuzten Notenhälsen als N otation der
Pierrot-M elodramen in die M usikgeschichte eingegangen, obwohl sie vom
Kom ponisten selbst: nie im Zusam m enhang mit diesem W erk verwendet
wurde.
Im Gegensatz zum Melodram, aus den Gurre-Liedern, das als einzige Beson­
derheit die bereits im Particell ('1 9 0 0 -1 9 0 ]) notierte pantomimische Anwei­
sung »mit: angstvoll gespanntem Blick, nach der Musik langsam in freundli­
ches Erstaunen übergehend.« (T. 8311.) aufweist3'®, linden sich im Pierrot
zahlreiche Neuerungen und. Besonderheiten, die sich zum G roßteil m it dem
»leichten, ironisch-satirischen Ton [ ...) , in welchem das Stück eigentlich kon­

32 Vgi. T. 8 2 5 , 5 / 8 : las 'statt: //V”; T B 5 9 >letzte Note: fts “statt e ”\T. 8 7 1 , 3 . No te : £ 's ta t t //V ; P. 8 9 2 ,
2 / 8 : eis” statt h\
33 Arnold Sc hö nb er g an Emil Plertzka, Brief vom. 2 2 . 1 2 . 1 9 1 3 . - Vgl. den Abdruck in Br in km an n ,
P ierrot lunaive op. 2 1 : K ritischer Berichts Studien z u r Genesis, Skizzen, Dokum entes S. 2 9 1 i.
34 Die Ve rbindung von M e lo dr a m und P a n t o m i m e in der französischen opera co m iq ue wurde
durch, pan to m im isc he Szenen des Boulevardtheaters angeregt und fand als »stummes M el o dr am « E i n ­
gang in die g ra n d opera. A u ch W ebers O p e r Silvana enthält ein mi t »Pan tom im e« überschnebenes
stu m m es M e l o d r a m , in welchem die Musik der s t u m m e n Heldin zur Sprache verhilft (vgl. M o ni ka
Sch warz-Danuser, »Me lodr am« , in: D ie M u sik in Geschichte u n d Gegenwart. Zweite neubearbeitete
Auflage, hrsg. von Lu dwig Pinscher, Sachteil, Bd. 6 , Kassel und Stuttgart 1 9 9 8 , Sp. 6 7 - 9 9 , hier 7 6 -
7 8 ; dies., »Die Rezeption des französischen Boulev ard -Me lodra ms« , in: M usik als Text. Bericht über
d en Internationalen K o n greß d er Gesellschaft fü r M usikforschung J r e ib u r g im Breisgau. 1 9 9 3 , hrsg. von
Piermann. Danu ser un d ’lobias Plebuch, Bd. 1, Kassel 1 9 9 8 , S. 4 0 1 ) . ln den G u rre-L ied ern dient die
pa n to m im is ch e Gebär de als Ausdruck des Üb ergangs v on der unbeseelten, zur beseelten Natur.
Z u r N o tatio n der Sprech.stim.me bei Schönberg 19

zipiert war«35 erklären lassen. Zu diesen zählen vor allem die zahlreichen Zwi­
schentöne, Schattierungen und M odifikationen, durch welche die Übergänge
zwischen den Extremen »gesungen«, »gesprochen« und »geflüstert« im Sinne
einer klangfarblichen Differenzierung fließend gehalten werden.36 Es handelt
sich bei ihnen meistens um verbale Zusätze wie »tonlos geflüstert - m it Io n
gesprochen« (Nr. 3 , 1 ’. 8) oder »gesungen - tonlos -- gesungen —gesprochen..
fast gesungen, m it etwas Io n , sehr gezogen, an die Klarinette anpassend« (Nr.
3, I'. 16 -2 0 ), die bisweilen durch eine besondere N otation sinn- und augen­
fällig gemacht werden. Am Ende von Nr. 3 etwa notierte Schönberg die »ton­
los geflüsterte« Stelle »mit einem phantastischen Mondstrahl« m it einer N o­
tationsform, in der die N otenköpfe durch zusätzliche, d .h . die entsprechenden
Balken ergänzende Achtel-, Sechzehntel- und Zweiunddreißigstelfähnchen
ersetzt sind.37 Diese Verdopplung des rhythmischen Anteils der N otations­
symbole dient einerseits der Akzentuierung des Rhythm ischen auf Kosten der
Diastem atik, verstärkt also die durch den verbalen Zusatz ohnehin geforderte
»Tonlosigkeit«, enthält jedoch andererseits auch ein parodistisches M om ent,
indem der tonhöhenspezifische Bestandteil der Notenzeichen durch sein rhyth­
misches Gegenstück ersetzt ist. In Nr. 10 dagegen notierte Schönberg die eben­
falls »tonlos« gesprochenen Achtel- bzw. Sechzehntelnoten bei »Nachts m it sei­
nen Zech-ljtum pa-]nen« (I'. 8 f.) m it einem hohlen Notenkopf, der mit einem
in der M itte ausgesparten Kreuz überschrieben ist, also mit einem jener N oten­
zeichen, die er an anderen Stellen auch zur Notation der Halben Note ver­
wendete. Diese Art der N otation wie auch ihre drucktechnischc Realisierung
mittels eines hohlen, kreisförmigen Notenkopfes in der gestochenen Partitur
von 191.438 läßt sich aufgrund der fehlenden Füllung des N :ben-
falis als unmittelbare visuelle Umsetzung der geforderten »’i deu­
ten, und zwar vor allem auch aufgrund ihrer direkten Nach i den
m it »Ion « gesprochenen und dementsprechend m it gefüllu... . ___ ___ jplen
notierten Silben »[Zech-]kum pa-|nenj«. Parodistisch wirkt auch die »tonlos
geflüsterte« Stelle »Waschtisch« aus Nr. 3 (118), indem der Geräuscbanteil des
vor allem durch den doppelten Zischlaut »sch« geprägten Wortklangs durch
das .Flüstern verstärkt und zugleich die Vokalfärbung aufgrund des Fehlens von
»Ion« unterdrückt wird. Eine ähnliche Funktion hat auch der verbale Zusatz
»gezischt« in Nr. 9 bei dem Wort »zerfloß« (T, 5).

;35 Arnold Sc hö nb er g an Erika und Fritz Stiedry, Brief: vorn 3 1 . 8 . 1 9 4 0 . — Vgl. den A b dr uc k in
B r in km an n . Pierrot luntiire op. 2 1 : Kritischer Bericht, S tudien z u r Genesis, Skizzen, Dokumente., S. 3 0 2 .
36 Vgl. Stephan, »Was bedeutet der Verzicht auf fixierte To nhö hen ?«, S. 4 0 3 .
37 ln der ersten Niederschrift- ist diese Stelle no ch o hn e die zusätzlichen Fähnchen.» aber bereits
o hn e No te nk ö pf e notiert. Vgl. unten, S. 25.
38 in der Dr uckausgabe wurde aufgrund der Verwend ung des hohlen, m it einem in der M it te aus­
gesparten Kreuz überschriebenen Noten kop fes auc h für die Ha lbe N o t e versehentlich auch die H a l ­
be N o t e in Nr. 1 1, T. 2 6 m it jene m hohlen, kreisförmigen N o t e n k o p f wiedergegeben, was Sc hön ber g
in einem seiner H a nd e xe m p la re mi t dem Zus at z zweier Fragezeichen quittierte (vgl. B r i n k m a n n , Pier-
rot lunaire op. 2 1 : K ritischer B ericht, Studien z u r Genesis, Skizzen, D o k u m en te, S. 8 8 ) .
20 U lrich K räm er

Eine derartige Ü bertreibung des Repertoires sprachrnelodischer Gestaltung


innerhalb der Sprechstimme, für die sich noch zahlreiche weitere Beispiele an­
führen lassen39, ist ein den Gedichttexten angemessenes M ittel zur Herstellung
jenes »leichten, ironisch-satirischen Tons«, von dem Schönberg in dem oben
zitierten Brief spricht. Sie findet ihre musikalische Entsprechung in der klang­
lichen Differenzierung der Instrumentalstimmen, in denen die »normale« Spiel­
weise nur eine unter vielen M öglichkeiten der Klanggestaltung darstellt, die
etwa durch häufigen Dämpfereinsatz, collegno- u n d pizzicato-Spiel oder Strei­
chen am Steg bzw. am G riffbrett in Geige, Bratsche und Cello, Glissando und
Flatterzunge in Flöte und Klarinette oder auch das bereits in den Drei Klavier ­
stücken op. 11 erprobte Flageolett des Klaviers erweitert und bereichert wird.
Schönberg selbst hat in einem Brief an Emil Hertzka auf die große Bedeu­
tung der klanglichen Differenzierung des Pierrot mix jener vielzitierten Bem er­
kung hingewiesen, derzufolge »bei diesen Werken [den Pierrot-Melodramen]
|...] die Farbe alles, die N oten gar nichts« bedeuteten.40 Auch wenn man be­
rücksichtigt, daß der Kom ponist m it diesem Brief einen ganz bestim mten
Zweck verfolgte —nämlich den, seinem Verleger gegenüber die Notwendigkeit
einer Partiturausgabe des Werks zu unterstreich en - , so darf doch die Aussage
als solche trotz —oder gerade wegen —ihrer Radikalität nicht oder zumindest
nicht ausschließlich als Propaganda in eigener Sache abgetan werden. Vielmehr
knüpft sich an sie ganz unm ittelbar die Frage nach der Verbindlichkeit der
Tonhöhenvorgabe gerade auch in der Sprechstimme, die aufgrund von Sch ön ­
bergs teils ambivalenten, teils widersprüchlichen Aussagen sowie aufgrund
der musikalischen Realität des Kom ponierten im Fall des Pierrot ein ganz
besonderes Problem darstellt. Auf der einen Seite hat Schönberg immer
wieder betont, daß sich die Rezitationspartie mit Ausnahme jener Stellen, an
denen mittels normaler Noten (d .h . ohne durchkreuzte .Notenhälse) aus­
drücklich Gesang gefordert ist, immer im Sprechton artikulieren muß. So heißt
es im Vorwort der gedruckten Partitur von 1.91.4: »Die in der Sprechstimme
durch Noten, angegebene M elodie ist (bis auf einzelne, besonders bezcichnete
Ausnahmen) nicht zum. Singen bestimmt.« Und auch später sah. sich Schön­
berg mehrfach genötigt, diese Anweisung in Briefen an Musiker, die an ihn
m it dem Wunsch, den Pierrot aufzuführen, herangetreten waren, zu wieder­
holen/1 D ie notierte M elodie der Rezitationspartie darf also niemals an eine

39 Vgl. etwa in Nr. 7 die durch die Auffiihrungsamveisung »dieser Takt anders, aber doch nicht
tragisch« ergänzten fr-Schlangen über d e m letzten T a k t ..hierbei handelt es sich mit einiger W a h r ­
scheinlichkeit um eine Reaktion auf die ins Sentimentale abgleitende Auffassung dieser Stelle durch
die erste Interpretin des Pierrot, Alb ertine Z e h m e , v on der Eduard S te u erm an n ber ichtete (vgl.
G ü n th e r Schüller, »A (Konversation with Steue rman n« , in: Perspectives of N ew M it sic i.JI/1 (1 96 4 ). ,
S. 2 3 ff.) das m it d em Zus at z »kläglich« versehene Glissando in Nr. 9 , T . 9 oder auch das Sprech-
stim nien frem oJo zu den W ort en »verlernt« in Nr. 9 , T 1 l / l 2.
40 A r no ld Sc hö nb er g an E m il He rtzka, Br ief vom 5 . 7 . 1 9 1 2 . ..Vgl. den A b dr uc k in Br in km an n ,
Pierrot lunaire op. 2 1 : Kritischer Bericht, S tudien z u r Genesis, Skizzen, D o k u m en te, S. 2 3 3 .
41 Vgl. die in B r in km an n , Pierrot lu na ire op. 2 1 : Kritischer Bericht, Studien z u r Genesis, Skizzen,
D o k u m en te abgedruckten Briefe an Alexander J e m n i t z v o m 1 5 . 4 . 1 9 3 1 : »N ur eines m u ß ich sofort
Z u r N o ration der Sprechstim m e bei Schönberg 21

Gesangsmelodie erinnern, sondern m uß, wie Schönberg dann ebenfalls im Vor­


wort zum Pierrot ausgefülirt har, in eine »Sprechmelodie« umgewandelt wer­
den, wenn auch »unter guter Berücksichtigung der vorgezeichneten Ton ­
höhen«. W ie dies im Einzelnen zu geschehen hat, ist trotz entsprechender
Anweisungen im Vorwort und in späteren Briefen sowohl theoretisch als auch
praktisch nur schwer zu fassen. So scheint eine Anmerkung zu Nr. 9 des Zyklus''2
trotz der m inutiösen Ausarbeitung der Sprechstim m enm elodie eine gewisse
Unverbindlichkeit im Bereich der diastematischen Gestaltung nabezulegen.
Auch Schönbergs viel spätere Bemerkung, daß die Gedichte »ohne fixierbare
Tonhöhe«43 gesprochen werden m üßten, scheint auf eine gewisse Freizügigkeit
irn Umgang m it den notierten Tonhöhen hinzudeuten.
Auf der anderen Seite jedoch ist die Sprechstimm e in ihrem melodischen
Gestus und ihrer ausdrucksmäßigen Gestaltung so weitgehend festgelegt, daß
vor allem auch in H inblick auf die »auskomponierte« ironische Zuspitzung,
die das Wesen der Pierrot-M elodramen berührt, die über das Notierte hinaus­
gehenden Gestaltungsmöglichkeiten stark eingeschränkt sind. Dies könnte
auch erklären, warum Schönberg in dem bereits zitierten Brief an Berg44 die
Tonhöhenbehandlung im Gurre-Lieder-lAz\o&Tam so scharf von derjenigen im
Pierrot abgrenzt. D a die ohnehin nicht vermeidbaren Abweichungen von den
exakt notierten T ö n en der Sprechstimm e in der atonalen Partitur des Pierrot
weder - wie im tonalen Gurre-Lieder-MdoAvam - als falsch empfunden wer ­
den, n o c h .- wie in der zwölftönigen Moses-Pzmtur ..innerhalb des Tonsatzes
als irrelevant erscheinen, ist die notierte M elodie durchaus »ernst zu nehmen«,
und zwar vor allem in H inblick auf die kom ponierte Zuspitzung des teilweise
stark exaltierten melodischen Verlaufs. Davon bleibt jedoch die Notwendig­
keit, sie dem Tonfall und Gestus der gesprochenen Sprache
berührt. Daß Schönberg die notierten Tonhöhen in diesem h
als verbindlich erachtete, geht nicht zuletzt aus dem absch,*w„....................,...s
des Vorworts zu der gedruckten Partitur des Pierrot hervor, w<
fü h ren d en ..gemeint ist hier natürlich zuerst die Rezitation als vn i
des Texts — zu äußerster Zurückhaltung hinsichtlich einer über das e
hinausgehenden Interpretation ermähnte: »Im übrigen sei über die Au,„.„....„,.g
folgendes gesagt: Niemals haben die Ausführenden hier die Aufgabe, aus dem
Sinn der Worte die Stim m ung und den Gharakter der einzelnen Stücke zu
gestalten, sondern stets lediglich aus der M usik. Soweit dem Autor die ton-
malerische Darstellung der im Text gegebenen Vorgänge und Gefühle wichtig

und mir aller l'Titschiedcnheit sagen: Pierroi lunaire ist nicht z u singen!« (S. 3 0 2 ) und an Daniel
R uy ne m an vorn 2 3 . 7 . 1 9 4 9 : »Ich m ö c h t e nur G e w ic ht daran! legen, daß Sie sie daran erinnern, daß
keines dieser Gedic hte zum Singen be s t im m t ist, so ndern ohn e (ixierbare "lonh öhe gesprochen wer­
den m uß « (S. 3 0 4 ) .
42 »Die Rezitation Ikh die 'lo n h ö h e andeutungsweise zu b r i n g e n . « ..Da Sc hö nb er g dieses Stück als
e rs te s der / V #7Y?/~M elodram en k o m p o n i e r t e , kann diese)- An m e r k u n g w o h l eine g e w iss e Allgemein-
V e r b in d lic h k e it für d e n g e s a m te n Zyklus z u g e s p r o c h e n w e rd e n .
43 Vgl. An m er k u n g 4 1 .
44 Vgl. oben, S. 16.
22 U lrich K räm er

war, findet sie sich ohnedies in der Musik. Wo der Ausführende sie vermißt,
verzichte er darauf, etwas zu geben, was der Autor nicht gewollt hat. Er wür­
de hier nicht geben, sondern nehmen.«
In einem Brief, den Schönberg am 8. Juli 1923 an seinen damaligen Assisten­
ten Josef Rufer in Zusammenhang m it dessen Vorbereitungen einer Aufführung
des Pierrot lunaire schrieb, gibt er erstmals detaillierte, über die Bemerkungen
im Vorwort hinausgehende Anweisungen darüber, wie eine derartige Umfor­
mung der notierten M elodie in eine Sprachmelodie zu erfolgen habe: »Die
'lonhöhen im Pierrot richten sich nach dem Umfang der Stimme. Sie sind >gut<
zu berücksichtigen aber nicht »streng einzuhaltene M an kann den Umfang der
Stim m e in soviel Teile teilen, als H albtöne verwendet werden; vielleicht ist
dann jeder Abstand nur ein 3/4-Ton, Das muß aber nicht so pedantisch durch­
geführt werden, da ja die Tonhöhen keine harmonischen Verhältnisse eilige-
hen. D ie Sprechlage reicht natürlich nicht aus. D ie Dam e muß eben lernen,
m it >Kopfstimme< zu sprechen; das hat jede Stimme. (...) Das wichtigste ist es,
die >Sprechmelodie< zu erzielen.«4’
Dieser Brief spricht nicht nur jene Schwierigkeiten an, die sich in der zu die­
sem Zeitpunkt bereits zehnjährigen Aufführungsgeschichte des Pierrot als
zentral herausgestellt hatten, sondern er gibt zugleich eine Art »Rezept«, wie
einige dieser Probleme zu lösen seien. An erster Stelle steht dabei natürlich wie­
der die Forderung, daß der Rezitationspart nicht zu singen, sondern zu spre­
chen ist. Weiter geht Schönberg auf das Problem des großen Umfangs der
Sprechstimme ein, der m it zweieinhalb Oktaven (es bis gis”) nicht nur den
Ambitus des Sprechens, der selbst in der hochdiffercnzierten Kunst der gestei­
gerten Rede »nur« bei gut einer Oktave liegt4'5, um ein Vielfaches übertrifft,
sondern auch jede Berufssätigerin vor unüberwindbare Schwierigkeiten stel­
len würde. Schönbergs »Rezept« zur Lösung d ieses!>..1........... 1......... ’n darin, den
notierten Umfang der Sprechstimrnenrnelodie m hen Stim m ­
umfang der Ausführenden gieichzusetzen und c .ervaii.e ent­
sprechend proportional zu verkleinern.'1'' Was : zumindest
annähernd gewahrt bleibt, sind die für Sprachgestm unu -ausumck verant­
wortlichen Intervallverhältnisse, wobei Schönberg Ungenauigkeiien bei der
Intonierung der irrationalen Intervalle ausdrücklich in Kauf nim m t. D ie ab­
soluten Tonhöhen der Sprechstimm enmelodie dagegen haben bei Befolgung
dieser Anweisung keinerlei Geltung mehr, und es ist daher zu fragen, ob die­
se Vernachlässigung des diastematischen Aspekts bereits bei der Konzeption
der SprechstijTime aus Schönbergs Melodramenzyklus eine Rolle gespielt hat.

45 A m o k ! Sc hö nb er g an Josef Rufer, Brief vom 8 . 7 . 1 9 2 3 . —Vgl. den A b dr uc k in Brinkmann., P ier­


rot lu na ire op. 2 1 : Kritischer Bericht, Studien z u r Genesis, Skizzen, D o k u m en te, S. 3 0 0 .
46 Vgl. Ce rh a, » Zu r Interpretation der Sp rechstimme«, S. 27 .
47 Bezeichnenderweise zielt der von Sc hö nb er g als Beispiel angegebene Verkleinerungsfaktor 3 / 4
anscheinend d a r a u f den notierten Um fa ng auf den Am bi tu s einer »normalen« S i n g s t i m m e .. die
jedoch, bei der Au sführung nicht zum 'Fragen k o m m e n d a r f ..zu reduzieren. In dieselbe R ich tu n g
geht auch der Vorschlag, die K op fs ti m m e einzusetzen.
Z u r N o ta tio n der Sprechstim m e bei Schönberg 23

Für die Klärung dieser Frage könnte eine systematische Untersuchung der
sprachmelodischen Behandlung jener Textentsprechungen innerhalb der drei
Strophen aufschlußreich sein, die den G edichten ihre unverwechselbare Struk­
tur verleihen. Diese Textentsprechungen sind näm lich häufig mittels einer Art
musikalisierter Sprachgestik aufeinander bezogen, wobei jedoch nie die abso­
luten Ib n h ö h en , sondern eher die Kontur der melodischen Linie eine Rolle zu
spielen scheint. Als Beispiel sei hier vor allem die Nr. 18 (»Der M ondfleck«)
angeführt, wo die N otation der Textzeile »[Einen weißen Fleck] des hellen
Mondes« in der M itte bzw. am Schluß deutlich erkennbar als transponierte
W iederholung bzw. als Umkehrung auf die Anfangsgestalt bezogen ist, ohne
daß es jedoch zu genauen Entsprechungen innerhalb der intervallischen oder
diastematischen Struktur käme48:

^ J

4 : ? :

1!)

-O y V
, 'i

v 1
des he! - le n iVion - des

Ein weiteres Beispiel für eine solche Beibehaltung des Umri:


.melodischen Geste bietet die Behandlung d< • <>i ■;,rochenei
motivs an den entsprechenden Stellen in Nr. I ( 1 it Wein, de
trinkt«):
3
U \ J \ T .K ■
a 1 -U ' «v l l !f ■|

den W ein,

Auf der anderen Seite läßt sich jedoch häufig auch ein ganz unmittelbarer, d. h,
auf den tatsächlichen 'Ibnhöhen beruhender diasrematiseber Bezug zwischen

48 Das Verfahren erinnert vielmehr an die in Schö nbe rg s späteren Zwö iftonw erk en realisierte
M et h o d e, die K o n t u r eines T h e m a s oder eines 'Motivs durch gezielte Oktavversetzungen einzelner
T ö n e auch in seiner U m k e h r u n g zu erhalten.
24 Ulrich K räm er

einzelnen Partien innerhalb der Sprechstimme bzw. zwischen der Sprechstim ­


me und dem Instrumentalensemble feststellen. So verdankt sich beispielswei­
se in Nr. 9 (»Gebet an Pierrot«) die Tatsache, daß die Sprechstimme zu den
W orten »Roßarzt der Seele« (T. 15) einen Teil der Klarinettenfigur des Anfangs
zitiert, ebensowenig dem Zufall, wie der Umstand, daß das W ort »Lachen«
zweimal m it dem tongetreu beibehaltenen Intervall d ’-dis” bzw. umgekehrt
dis ” - ^/'unterlegt ist49:

'V0 V '!> , ji>i I

i T i ,i L j
K o ls -a r /i der W

Und über die tonhöhenm äßige Einbeziehung der :: te in Nr. 8


(»Nacht«), wo sie ebenso an. der M otivstruktur des Pa nas partizi­
pier t wie die instrum entalstim m en, Nr. 17 (»Parodie«;, wo im' als integraler
Bestandteil des Doppelkanons eine tragende Funktion innerhalb des Tonsat­
zes zukommt, und Nr, 7 (»Der kranke Mond.«), wo sic als obligate Stim m e
innerhalb eines zweistimmigen Satzes fungiert, der im. Zwischenspiel, zwischen
Nr. 1.3 (»Enthauptung«) und Nr. 1.4 (»Die Kreuze«) zu einem vierstimmigen
Instrumentalsatz ausgebaut wird, in welchem die vormalige Sprechstirnmen-
melodie ab T 31 sogar das M aterial für die beiden instrumentalen H aupt­
stimmen abgibt, wurde bereits soviel geschrieben, daß hier ein kurzer Hinweis
genügt.30 D er analytische Befund läßt sich also nur schwer m it Schönbergs spä­

49 Die Mö glichkeit, daß Sc hö nb er g m it dem Intervall der kleinen N o n e ganz bewußt a u f Kundrys
La ch en in Wagners Parsifal anspielt, könn te als ein weiteres Indiz für die Verbindlichkeit der k o m ­
ponierten l o n h ö h e n verstanden werden.
50 Vgl. etwa Ce rha , » Zu r Interpretation der Sp rechstimme«, S. 3 0 i\
Z ur Notavion der Sprechstim m e hei Sch önb erg 25

terer Forderung nach einer Vernachlässigung der absoluten Tonhöhen verein­


baren. Vielm ehr sind im Pierrot lunaire alle M öglichkeiten der sprachmelodi-
schen Gestaltung ausgeschöpft, was bedeutet, daß die »ideale« Interpretin in
jedem Einzelfall neu zu entscheiden hat, ob eine möglichst genaue, eine rela­
tiv genaue oder eine ganz freie Umsetzung der notierten Sprachmelodie ange­
bracht ist. M it einem einzigen Rezept wird man den Anforderungen einer so
komplexen Partitur jedenfalls nicht gerecht werden.

D er entscheidende Schritt innerhalb von Schönbergs Entw icklung der Sprech­


stimme war der Übergang von der diastematisch eindeutigen zur diastematisch
nicht eindeutigen N otation, wobei die um mehrere Hilfslinien erweiterte F'in-
liniennofafion m it konventionellen N otenzeichen die w ichtigste Aufzeich­
nungsform ist und wohl auch Schönbergs gewandelte Auffassung über die Ver­
wendung der Sprechstimm e am deutlichsten widerspiegelt. Dagegen spielt die
adiasternatische Fünfliniennotation ohne Notenköpfe innerhalb von Schön­
bergs Entwicklung der Sprechstimme eine eher untergeordnete Rolle, obwohl
auch sie in mehreren Werken anzutreffen ist. Obw ohl das Fünfliniensystem in
dieser N otationsart durch die Vorgabe eines Notenschlüssels tonsystemlich
gebunden erscheint, läßt sich die Aufzeichnung der Ib n h ö h en aufgrund der
fehlenden Notenköpfe nicht absolut deuten. Daß eine solche eindeutige Fixie­
rung auch tatsächlich nicht intendiert war, geht u, a. daraus hervor, daß inner­
halb der Sprechpartien keine Alczidentien notiert sind. Es kam Schönberg also
offenbar nur auf die relative Umsetzung der sich aus der Länge der Notenhälse
sowie der Hals- und der ßalkenrichtung ergebenden, sprachmelodischen Linie
(im Sinne eines »Sprachgesfus«) an. Das erste M al findet sich diese Notationsart
an einer einzelnen Stelle innerhalb der ersten Niederschrift des Pierrot lunaireV
Danach verwendete Schönberg sic erst wieder iti der Schlußszene des II. Aktes
aus .Moses und.Aron, und zwar bezeichnenderweise erstmals zu Moses' Worten
»Dein Bild verblich vor meinem Wort!« ( T 9 9 8 ) V Hier mag die direkte Korn
frontation der beiden Kontrahenten eine als Intensivierung der emotionalen
und. gedanklichen Verfassung Moses’ zu verstehende Verstärkung des Sprach
anteils der ansonsten in der Humperdinckschen Notation mit absoluten 'Ion-
höhen notierten Sprecherpartie motiviert haben. Am konsequentesten mach­
te Schönberg von dieser Notationsart jedoch im Psalm 130 op. 50 B (1 9 5 0 )
Gebrauch. H ier wurde sie allerdings durch die Grundidee des Stücks - die Rea­
lisierung einer durch gesprochene .Einwürfe gesteigerten Vokalpolyphonie im
sechsstimmigen a eapelLt-Chorszti, wobei der Text sowohl, den Gesangspartien
als auch. den. gesprochenen. Abschnitten jeweils einmal vollständig unterlegt ist
— zumindest nahegelegt, da Gesangs- und Sprechvortrag häufig auf engstem

51 Vgl. oben, A n m . 3 7 .
52 Weitere auf diese Art notierte Steilen finden sich, bei »Das ist das Gesetz« (T. 1 0 0 3 ) , »Ahnst D u
nun Allm acht des Ge dan ken s über die W o r t e und Bilder?« ( 1 . 1 0 1 Ob), ». ..u m des Ge- l.ddnk.ens wil­
len]« (T. 1 0 1 9 ) , »Du erschütterst micli [nicht!]« (T. 1 0 3 3 ) .
26 U lrich K räm er

Raum miteinander abwechseln, m ithin ein »Systemwechsel« etwa zur diaste­


matisch nicht eindeutigen Einliniennotation nicht in Frage kam .53
Auch die diastematisch nicht festgelegte Fünfliniennotation m it N oten­
kreuzen, von der Schönberg ausschließlich in seinem K olN idre op. 39 (1 9 3 8 )
G ebrauch machte, steht in unm ittelbarem Zusammenhang m it einer ganz
bestim mten Werkidee, hat also Einzelfallcharakter. Insgesamt hat die Sprech-
stimmenbehandlung in diesem Stück jedoch nur wenig m it dem »gebundenen
Melodram« gemeinsam, da die von einem Rabbiner auszuführende Sprech­
stimme sich beinahe ausschließlich auf die Fixierung eines aufgrund des feh­
lenden Notenschlüssels diastematisch unbestim m ten Rezitationstons in M it­
tellage (zweiter Zwischenraum von oben) beschränkt, der nur an zwei relativ
dicht aufeinanderfolgenden Stellen innerhalb der Einleitung von einem H och-
(T. 3 2: »[Let there be] Light«) bzw. einem Tiefton (1 .3 5 : »|God] crushed that
light to atoms«) auf der obersten bzw. untersten N otenlinie unterbrochen wird.
D ie besondere Notationsform des Kol Nidre hat also fast ausschließlich eine
rein rhythmische Funktion, während sie die Gestaltung der Sprachmelodie
dem m it der liturgischen Kantillation vertrauten Rabbiner überläßt. D ie Ver­
absolutierung des Rhythm us in der Rezitationspartie steht in unm ittelbarem
Zusammenhang mit der Grundidee der Kom position. D ie von Schönberg
selbst nach alten Quellen neu zusammengestellte traditionelle M elodie wird
innerhalb der tonalen Kom position zweimal zum Vortrag gebracht: das erste
M ai (in g-moll) als »Begleitung« des gesprochenen lextvortrags in einer frag­
mentierten, auf bestim m te M otive reduzierten Gestalt in den Instrum ental­
stimmen, und das zweite M al um einen. Halbton aufwärts (also nach as-rno.ll)
transponiert, in einem vom Orchester gestützten (und. begleiteten), vom ein­
stimmigen Unisonogesang über die vierstimmige Vokalpolyphome und den
vierstimmig-homophonen Satz wieder zurück zum einstimmigen Unisonoge­
sang führenden Chorsatz. D ie M elodie geht dabei nur im Chorsatz eine Sim ul­
tanverbindung m it dem zur Formung bestim mter Motivgestalten dienenden
Textvortrag ein, während sie vom Orchester in einer stellenweise choralartig
vereinfachten, vom Sprachrhythmtis »bereinigten« Gestalt intoniert wircP'1, die
bereits am Anfang den Sprachrhythmtis der zentralen Gebetsformel »AU. such
oaths shall be no oaths« (T. 159 ff.) vorwegnimmt. Diese Diskrepanz von
Sprachrhythmtis und M elodie ist aber bereits in der ausschließlich von der
Abstraktion des Sprachrhythmtis bestim m ten, sprachmelodisch nicht gebun­

53 O b die von Sc hö nbe rg in den Skizzen zu dieser Kom position verwendete diastematische N o t a ­
tion mi t den I: hm ipe rd in cks ch en No tenkreu zen tatsächlich auf einen W and el innerhalb der K o n ­
zeption hinweist, läßt sich aufg rund der geringen Zahl der Ent wür fe (vgl. Christian Ma rt in Sc hm id t
[H rsg.], A rn o ld Schönberg, C horw erke 11: K ritischer Bericht, Skizze)/, Fra gm en te \~ S äm tliche Werke,
unter d e m Pat ronat der Akademie der Künste, Berlin, hrsg. von Josef Rufer, Reihe B, Bd. 19 ], Mainz
und W i e n 1 9 7 7 , S. 1 0 4 - 1 1 0 ) nur schwer entscheiden, i m m e r hi n kö nn te die Verwendung eines Vor ­
zeichens innerhalb der Baisstimme (vgl. Skizze A 5, T. 3) als ein Hinweis darauf gewertet werden, daß
die gesprochenen Partien ursprünglich möglicherweise eine wesentlich stärkere l o n h ö h e n b i n d u n g
hatten als in der späteren Ausarbeitung, auch wenn die notierten 'l o n h ö h e n keine Ve rbindung zur
Reihenstruktur erkennen lassen.
54 Vgl. etwa T . 9 4 - 9 8 , 3 1 4 - 1 1 8 , 1 2 2 - 1 2 5 .
Z u r N o tatio n der Sprechstim m e bei Schönberg 27

denen Partie des Rabbis angelegt, und sie findet in der Fragmentierung der
M elodie in Einzelmotive und der dam it verbundenen Unabhängigkeit der
M otive vom Textvortrag (und umgekehrt) innerhalb des ersten Durchgangs
ihre formale Entsprechung.
Darüber hinaus hat Schönberg einen relativ großen Teil des Textes auch hin­
sichtlich seiner sprach rhythmischen Gestaltung freigestellt. Dies betrifft vor
allem den nicht zur eigentlichen liturgischen Handlung gehörenden Text der
Einleitung.55 Ähnlich wie im frühen, vor-H um perdinckschen M elodram
erfolgt hier die Koordinierung von Text und M usik durch die taktweise Text­
unterlegung, wobei bestim m te besonders betonte Textsilben am Anfang eines
'Faktes mittels Unterstreichung typographisch hervorgehoben sind und auf die­
se Weise den entsprechenden metrischen Schwerpunkten innerhalb des Instru­
mentalsatzes genau zugeordnet werden.
D ie um mehrere Hilfslinien erweiterte Einliniennotation mit konventionel­
len Notenzeichen findet sich in den Rezitationspartien dreier W erke: der Ode
to Napoleon op. 4 1 (1 9 4 2 ), des Survivorfirom Warsaw op. 4 6 (1947) und des
als Fragment [unterlassenen Modernen Psalms op. 50 C (1 9 5 0 ), Schönbergs
letzter Kom position. Sie ist insofern diastematisch nicht eindeutig, als der in
allen drei Fällen vorgeschriebene Baßschlüssel lediglich als Hinweis auf eine
tiefe M ännerstim m e dient, ein Sachverhalt, dem im Survivor zusätzlich da­
durch Ausdruck verliehen wird, das der Schlüssel hier vertikal durchgestrichen
ist. Die Einliniennotation ist für alle drei Stücke von Anfang bis Ende ver­
bindlich, wird jedoch im Survivor einmal durch normales, d.h. weder rhyth­
misch noch sprachrnelodisch festgelegtes Sprechen unterbrochen.y> Bei dieser
Art der N otation stellt sich die Frage der 'ibnhöhen- bzw. Intervaüverbind-
lichkeit in ganz besonderer Weise. Denn trotz der unmißverständlich inten
dierten diastematischen Uneindeutigkeit —die Linie markiert lediglich die min
lere Stimmlage, die Hilfslinien bestimmen jeweils den relativen Abstand eines
Sprechtons zu dieser M ittellage..bestellen systemimmanente Bezüge zur k on -
ventionellen N otation, bei denen zu fragen ist, inwieweit sie beabsichtigt und
durch den Ausführenden zur G eltung zu bringen sind. Diese Gem einsam kei­
ten bestehen vor allem darin, daß sieb einerseits die Einliniennotation auf­
grund der Hilfslinien und des Vorhandenseins von Akzidenrien. scheinbar
zwanglos auf das diatonisch-heptatonische Fünfliniensystem zurückführen läßt
..das einzige Problem bestünde aufgrund der Schlüssellosigkeit in der fehlen­
den Festlegung der H albtonschritte.., und daß sich andererseits aufgrund des
Notenbild.es bei allen auf Hilfslinien notierten. Tönen —und das sind, die mei­
sten .- Assoziationen zu den entsprechenden 'lonstufen des Fünfliniensystems

55 Vo m eigentlichen Kol N id re sind (bezeichnenderweise) nur die W o r t e »U nseen, Unfarhomable«


(T. 6 5 ) . die später vorn C h o r in einem po ly pho nen Satz, d. h. in me hr fac hem Tex tvortrag gesungene
zentrale, durch den nachfolgenden ersten Choreinsatz hervorgehobene 4ex.tzei.lc »We repent thar diese
obligations have estnmged us from die sacred task we were chosen for« (T. 7 2 7 4 ) sowie die letzten, zur
liturgischen Ha nd lu ng überleitenden Textworte des Rabbi (T. 1 7 4 - 1 7 8 ) auf diese Weise gesetzt.
56 Vgl. T . 6 9 f . -- Möglicherweise sah sich Sc hö nb er g außerstande, den Satz »In einer M in u te will
ich wissen, wieviele ich zur G a sk am m e r abliefere« in T ö n e zu. kleiden.
28 U lrich Kräm er

einstellen, was wiederum Konsequenzen für die Setzung der Halbtonschritte


nach sich zieht. D ie sich hieraus ergebenden Probleme seien anhand des B ei­
spiels des Modernen Psalms op. 50 C verdeutlicht: obwohl sich hier die Spre­
cherpartie selbstverständlich ebensowenig wie in Moses und A rm auf die Rei­
henstruktur des Werkes zurückführen läßt, bildet die Sprechstimme Motive
aus, deren Intervallfolge sich offensichtlich weniger der Sprachmelodie als der
bewußten Bezugnahme auf die zugrundeliegende Reihe verdankt. Hierzu
gehört beispielsweise das in kurzer Folge dreimal hintereinander erklingende
Motiv, auf das die W orte »Was aber« 15) bzw. »Wer bin ich« (T. 18 f.) gespro­
chen werden. D er sprachmelodische Duktus würde etwa bei der Phrase »Wer
bin ich« eine Tonfolge erwarten lassen, die auf einen Ton in M ittellage einen
H ochton und einen Ton deutlich unterhalb der M ittellage folgen läßt. Schön­
berg bringt dagegen eine Tonfolge, die —bei Lesung des Tons >«- als des’ ( F. 15,
18) bzw. des Fons l J : als es’ (Y. 1 9 ) ..m it den ersten drei T ö n en der zugrun­
deliegenden Reihe (des’- c ’-a bzw. es’- d ’-h) übereinstimmt. Ein noch deutli­
cherer diastematischer Bezug ergibt sich ganz zu Anfang der Kom position, wo
die Sprechstimme bei realer Zugrundelegung des Baßschlüssels eine ebenso
rhythmisch genaue wie tongetreue Im itation d< s vorangehenden Choreinsat­
zes (vgl. I. Sopran: e”-dis’- e ”) bietet: j j , i j i”
O, Du m ein G ou!

Abgesehen davon, daß diese beiden Interpretationen entweder sich gegensei­


tig ausschließen oder aber variable H albtonschritte voraussetzen, haben sie mit
den Gegebenheiten des in der einlinigen Notationsform angelegten Tonsy­
stems nur wenig zu tun. D enn die Tatsache der Sch 1üssellosigkeit heißt nichts
anderes, als daß die einzelnen auf Linien bzw. in Zwischenräumen notierten
Tonstufen jeweils die gleiche Distanz zueinander aufweisen, und das Vorhan­
densein von Akzidentien weist darauf hin, daß diese Distanz der G anzton­
schritt ist. D er schlüssellosen Einliniennotation liegt a ls o ..in gleicher Weise
übrigens wie der schlüssellosen Notation im Eiinfliniensystem ..ein Tonsystem
zugrunde, das auf der Ganztonleiter beruht. Dieser Sachverhalt läßt sich ver­
hältnismäßig einfach an den Sprecherpartien der drei, hier untersuchten Stücke
überprüfen: eine Feststellung der mittels Akzidentien notierten H albton ­
schritte zeigt, daß solche H albtonschritte auf sämtlichen lo n stu fen V orkom ­
men. Dies schließt aber das Vorhandensein von systemimmanenten H albton­
schritten aus, da die Verwendung enharmonisch notierter 'Fonwiederholungen
wie z. B. der Folge e-fes oder his-e zweifelsfrei sein muß, also die notations­
technische Festlegung solcher H albtonschritte mithilfe eines Notenschlüssels
voraussetzt - ganz abgesehen davon, daß sich verminderte Sekundschritte nur
innerhalb eines tonalen Bezugssystems musikalisch sinnvoll verwenden lassen.
Eine solche Rationalisierung von Schönbergs Einliniennotation hat aber fol­
genreiche Konsequenzen sowohl für das Verständnis als auch für die Aus­
führung der in Frage stehenden Kom positionen. Betrachtet man etwa jene
Stellen im Modernen Psalm, an denen die Sprecherpartie den besagten Bezug
zur Zw ölftonreihe herstellt, so zeigt sich, daß dieser Bezug unter der Vor­
Z u r N o tatio n der Sprechstim m e bei Schönberg 29

aussetzung der Äquidistanz nicht mehr besteht, da es sich bei dem Intervall
J. J bzw. J i ..... »J . . dann nicht mehr um eine kleine, sondern um
eine große Terz handeln würde. Überhaupt wären sämtliche Intervalle nicht
mehr aufgrund ihres Notenbildes intuitiv erfaßbar, sondern müßten jeweils
neu errechnet werden, wobei der einzige system im manente Vorteil darin
bestünde, daß die Intervalle jeweils eindeutig bestim m bar wären, da die
H albtonschritte ja —anders als in der konventionellen, heptatoniseben N ota­
tion —nur mittels Akzidentien notiert werden können. Ausgehend von diesen
Überlegungen würden also folgende Intervallbeziehungen zwischen dem hep-
tatonischen und dem äquidistanten Notationssystem bestehen57:

klein e S e k u n d e große Sekunde

klein e Terz g ro ß e Ter/

Q u in te klein e S o u e

/'

gro ße Sexte klein e S e p tim e

i>*.
r r
ji«
<!.*?...

große Septim e

57 Üb erm äßi ge und ve rminderte sowie en h arm on isc h notierte Intervalle werden aus Platzgründen
nic ht herücksichtigt.
30 U lrich Kräm er

Es bleibt zu fragen, ob Schönberg eine solche tonsysternliche Festlegung der


Einliniennotation bei der Niederschrift der Sprechstimm en tatsächlich m it­
gedacht hat oder ob es sich nicht vielmehr um ein irrationales »System« han­
delt, dessen Wesen gerade in seiner Systemlosigkeit liegt.58 Ein glücklicher
Umstand innerhalb der Überlieferung der Ode to Napoleon ermöglicht zu­
mindest eine Annäherung an diese Frage, W ie Reinhold Brinkm ann dargelegt
hat59, fixierte Schönberg die Verse 8 - 1 2 1 der Sprechstimm e zunächst in einer
separaten Niederschrift, wobei er die Verse 8 - 1 9 zunächst noch im Fünf-
liniensystem m it vorgezeichnetem Violinschlüssel und normalen N otenköp­
fen niederschrieb. In der ersten Niederschrift des Werks sind die ersten sieben
Verse im Violinschlüssel, m it den Humperdinckschen Notenkreuzen, die Ver­
se 8 - 9 im Baßschlüssel m it normalen N otenköpfen notiert, während die R ein­
schrift von Anfang an die diastematisch nicht eindeutige Einliniennotation
verwendet. A u f der Grundlage dieses Materials ergeben sich für die ersten
neunzehn Verse Vergleichsmöglichkeiten zwischen diastematisch eindeutiger
Fünflinien- und diastematisch nicht festgelegter Einliniennotation, wobei für
die Verse 8 und 9 sogar zwei diastematisch eindeutige Fassungen zur Verfü­
gung stehen.60
Obwohl bei einem derartigen Vergleich natürlich zu. berücksichtigen ist, daß
sowohl die separate Niederschrift der Sprechstimme als auch die erste N ie­
derschrift Entwurfscharakter h a b e n ..dies geht etwa aus den starken Abwei­
chungen der bereits im Einliniensystem notierten Fortsetzung des separaten
Sprechstimmenentwurfs h e rv o r.., lassen sich doch einige interessante Fest­
stellungen treffen: offenbar hat Schönberg an mehreren Stellen den diastema­
tisch fixierten Entw urf nahezu unverändert übernom m en.61 Dabei ist er
anscheinend so verfahren, daß er die N oteniinie (ungeachtet des vorgeschrie­
benen. Baßschlüssels) als a -Iin ie auffaßte, wodurch die auf den darüberlie­
genden Hilfslinien notierten 'Föne quasi intuitiv »im Baßschlüssel« gelesen-
werden können:

58 D a ß sich Sc hö nb er g me hr mir als K o m po ni st , sondern auch als Theoretiker i m m e r wieder mit


eien Mö glic hkeiten (und Bes chränkungen) des Tonsystems und seiner notationstechni,sehen Fixie­
rung auseinandergesetzt hat, belegt u .a . der Aufsatz »Eine neue Zwölfron-Schrift« (1 9 2 4 ) . Vgl. Arnold
Schön borg, S til u n d G edanke: A ufsätze z u r M u sik Gesamm elte Schriften > Bd. 1. hrsg. von Ivan Voj-
tech), Fra nkfurt am M a in , S. 1 9 8 - 2 0 5 .
59 Reinhold Br i n k m an n (H rsg .) , A rn o ld Schönberg, M elodram en u n d Lieder m i t .Instrum ente//, .1eil
2 : Herzgew ächse op. 2 0 , O d e to Napoleon B u onaparte op. 4 1 : K ritischer Bericht, S tudien z u r Genesis,
Skizzen, D okum ente, A nh a n g, Fragm ente (■-- Säm tliche Werke, unter d em Patr ona t der Akademie der
Künste, Berlin, begründet von Josef Rufer, hrsg. von Rudolf Stephan, Reihe B, Bd. 2 4 , 2 ) , M a in z und
W i e n 1 9 9 7 , S. 1 1 3 f.
60 F ü r eine Gegenüberstellung der verschiedenen Versionen der Verse 8 und 9 vgl. Br in km an n ,
Herzgew ächse op. 2 0 , O de to N apoleon B uonaparte op. 4.1: Kritischer B ericht, Studien z u r Genesis, Skiz ­
zen, D o k u m en te> S. 13 3.
61 Vgl. etwa T 2 8 : » W i t h kings to [strive]«, M.2-9: »nameless thing«, T . 3 2 : »wbo srrew’d ou r earth
with hostile [bones]«, T. 3 5 f.: »Since he, miscalled \:he M o r n i n g Star, n o r inan n o r fiend jhath fallen
so far]«> T. 3 8 ; »Ulminded fmanj«, T 4 l / \ : »|by gazing on thy-]se]f gro wn bhnd«, T. 4-5: »power to
save«.
Z u r N otarion der Sprechstim m e bei Schönberg 31

I j i,

w l i o s t r c w ’d o u r e ; m h w iih h o s - li le boncs

Eine Interpretation dieser Stelle im Sinne des äquidistanten Systems würde


dagegen zu folgender, entstellter Variante führen, die schon aufgrund des auf­
steigenden D es-D ur-Ü reiklangs —der als solcher auf Anhieb gar nicht erkenn­
bar ist, sondern erst »errechnet« werden m uß —sicher nicht gemeint ist62:

Auf der anderen Seite lassen sich jedoch auch Stellen anführen, an denen eine
äquidistante Interpretation sinnvoller erscheint als eine heptatonische, wie etwa
gleich beim ersten Einsatz der Sprechstimm e T. 26 zu den Worten »‘ Fis done«.
W ährend die erste Niederschrift hier die (im Violinschlüssel notierten) 'Ibn ­
höhen h ’- ä “~g ’v orgibt, lautet die Stelle in der Endfassung,

'T is... done

Im hcptatonischen System mit angenommener //-Linie wären dies die do n e //-


ces’-ges., in äquidistanter Notation, und zu VerpJ.eiohszweck.en ebenfalls von a
ausgehend dagegen die 'Jo n e a - c ’-ges. i iu rt ist h >, i
ter an der Ausgangsgestalt als die erste, im n ird am b d :
gerecht, daß Schönberg trotz aller tonaler »ezuge vvoni K aum einen. [Jur- (bzw.
Moll-') Dreiklang zur Eröffnung der Deklamationspartie in einem zwölftöni-
gen W erk verwendet hätte, sondern d.aß in. der Fassung der ersten Niederschrift
höchstwahrscheinlich nicht alle Akzid.enti.en notiert wurden. Aufgrund, dieser
Beobachtungen drängt sich die Vermutung auf, daß Schönbergs Einlinien­
notation gar kein System zugrund.eliegt, sondern daß es sich hierbei um eine
irrationale Notationsweise handelt, die dem Ausführenden weitgehende Frei­
heit bei der sprachrnelodischen Gestaltung gewährt und. dabei sowohl, auf die
intuitive Umsetzung assoziativer M om ente als auch auf das rationale Erfassen
grundlegender musikalischer Strukturen setzt. D ie gedankliche Vorbereitung

62 Dasselbe gilt für den auf ähnliche Weise ’/ u errechnenden »Oktavsprung« zu den W o r ­
ten. »death alone«, T. 81 .
32 U lrich K räm er

dieser letzten Entwicklungsstufe innerhalb von Schönbergs Auffassung der


Sprechstimme ist jedoch bereits in jenem in anderem Zusammenhang zitier­
ten B rief an Jo sef Rufer geleistet.63 Auch dort zielt ja die Forderung, die kom ­
ponierten Intervallschritte je nach dem Stimmumfang des Interpreten pro­
portional. zu verkleinern, auf ein System ab, das aufgrund seiner immanenten
Irrationalität an. das gesteigerte Mit-Denken im Sinne einer verantwortlichen,
analytischen Interpretation appelliert. Nichts anderes hatte Hum perdinck mit
seiner späteren Auffassung von der Relativität der 'Ibnhöhen im Sinn, wobei
er den Grad der Annäherung an die notierte M elodie einerseits von der »Eigen­
art des Vortragenden« und andererseits vorn »Charakter der betreffenden Stel­
le« abhängig machte. Fis ist jedoch Schönbergs Verdienst, diese zugleich freie
und gebundene Auffassung der Sprechstimme durch ein entsprechendes »irra­
tionales« Notationssystem kom ponierbar gemacht zu haben.

63 Vgl. oben, S. 2.2.


Peter Hirsch

>Ohne Titei<
M arginalien zum Them a »Sprechgesang«

D ie alte Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Musik, die in der
O per so ausführlich und überaus fruchtbar unbeantwortet geblieben ist, stellt
sich im Falle gesprochener Sprache noch einmal ganz neu. Prima le parole dopo
la musica oder umgekehrt? Degradiert Sprache M usik zur Illustration oder
reduziert M usik eher die Sprache auf ihren bloßen W or xLauid. Bei dem Ver­
such der W iener Schule, diese Beziehung neu zu definieren, steckt vielleicht
bereits im Ansatz ein M ißverständnis: anders als bei den M elodram en des 19.
Jahrhunderts, die den Text frei gesprochen ü b er..oder unter —die M usik leg­
ten, nim m t Schönberg den Interpreten die Last der Freiheit und fixiert, um
den Ausdruck festzulegen, die Rhythm en und Tonhöhen des gesprochenen
Textes. Nun gibt es aber 1. einen oft großen Lagenunterschied zwischen den
Sprech- und Gesangs-Stim m en, vor allem bei den Frauenstimmen; 2. führt die
Befolgung dieser musikalischen Fixierung des Sprachausdrucks oft zu einer Ver­
schiebung der Schwerpunkte: die Konzentration auf das M usikalisch-Techni­
sche absorbiert meist das Nachdenken über den Text, musikalisiert die Spra ­
che bis zur Unkenntlichkeit. Schönberg war sich dieser Ciefa.hr wohl bewußt:
um sie zu vermeiden, ist im Vorwort zum Pierrot vorn Unterschied zwischen
Gesangston und. Sprechton, den es genau einzuhalten. gilt, di" --f-r
Gesangston hält die '1 onhöhe unabänderlich fest, der Sprech ton r
an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen sofort wieder.« I.
ständnis folgt ein. W iderspruch: dieses Fallen oder Steigen führt zu genau jener
»>singenden< Sprechweise«, vor der im nächsten Satz ausdrücklich, gewarnt wird,
und. die dennoch seither eine neue Konvention eines Wiener-Schule-Ausdrucks
begründet hat.
Natürlich, leitet sich, die >.Frfindung< Sprechgesang aus einer bestim mten,
historischen Rezitations-Tradition ab, wie man sie von Kainz oder Karl Kraus
etwa her kennt. (Hin und wieder kann man diesen farbigen und. bebildernden
Sprech ton bis heute hören.) Dazu mag man ästhetisch stehen, wie man will:
im M om ent, wo zur Sprache Musik hinzukom m t, verändern sich die K oor­
dinaten. Schon beim. >alten< M elodram , wie etwa Enoch Arden von. Richard
Strauss besteht die Aufgabe und. Schwierigkeit für den. Rezitator darin, nicht
m it der Musik zu konkurrieren. Das >Musikalische< der Sprache, das neben
dem Klang der W orte wesentlich ein Rhythmisches ist, gefährdet oft ihren
Gegenstand. D er Rausch, in den uns die Schönheit einer Sprache versetzen
kann, benebelt leicht die Sinne. Fürs Gesprochene allgemein gilt, daß kaum
34 Perer H irsch

ein noch so emotionsgetränktes Färben und Singen der Sprache es m it der


Kom plexität von M usik wird aufnehmen können, hingegen viel wahrschein­
licher dazu führen wird, daß die Inhalte sich auflösen. D er Sinn der W orte wird
nicht mehr verstanden werden können, weil er nicht mehr gehörfm td. So wie
jede musikalische Aufführung durch sich selbst das Ihr-Zuhören inszenieren
m uß, so muß Sprache den Verfolg der Gedanken, die Konzentration des Zuhö­
rers darauf erzeugen — bisweilen auch: erzwingen. Sprache soll nicht kolorie ­
ren, sondern im Augenblick des Gesprochen-W erdens sich selbst nachvoll­
ziehbar machen. (Das gilt auch dann, wenn es um ein Denken gehen mag, das
sich etwa um seine eigene Unm öglichkeit dreht; das ein Gefühl des Unver­
mögens, sich klar und deutlich auszud rücken, beschreibt, da es um D inge geht,
die vielleicht gar nicht formulierbar sind, und das deshalb vielleicht besonders
auf fremder Kunst H ilfe >angewiesen< sein mag. Auch die mögliche N icht-
Nachvollziehbarkeit eines Bildes oder Gedankens hat Sprache >nachzuvollzie-
hen<.) W orte und Sätze wie auf einer Perlenschnur. Oder auch: »Uber die all ­
mähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«.
(Es versteht sich von selbst, daß hier nicht von solchen Stücken die Rede ist,
die die Sprache ganz bewußt der Musik unterordnen, sie gleichsam in ihren
D ienst stellen; wie z .B . jene rhythm isch-m otorischen Passagen in der Ode an
Napoleon , die einige überausführliche M etaphern Byrons perpetuum-mobiie-
artig wie eine Rhythm usmaschine hinwegskandieren.) An dem oben beschrie­
benen »Nachvoliziehen« wird die unterschiedliche Schubkraft deutlich, m it
der Sprache und Musik in der Zeit verlaufen. D ie Geschwindigkeit der Wahr­
nehmung durch Sprache sich äußernder Gedanken ist langsamer als die musi­
kalischer. ln einem Brief schreibt M ozart einmal über seine Arbeitsweise:
»..sodaß ich's hernach mit einem Blick gleichsam wie ein. schönes Bild ..im
G eist übersehe«. Dies ist (außer einer besonderen CAbc) natürlich die Sicht des
Autors, aber auch für uns Rezipienten gilt, daß w: Anhören
von M usik >ins Bild gesetzt< werden als beim An
Alban Berg versucht im Wozzeck durch. Ausc hiedener
Grade von Künstlichkeit in der Sprache der auigesteuien raue zu. entgehen.
Zum einen gibt es Stellen »mit etwas Gesangsstimme«, wo die Stim m e »ins
Singen hineinkommen« soll. Zum anderen schreibt er: »In den Fällen, wo die
Sprechstimme nicht durch Tonhöhe und. Rhythm us dargestellt ist, handelt es
sich um ein gewöhnliches Sprechen, also um eine, zur darunterliegenden Musik
ganz natürlich-realistisch geführte Konversation.« Natürlich-realistisch, also
ohne das Korsett von Rhythmus und Tonhöhe. W ie er sich das wohl vorge ­
stellt hat? Etwa so, wie im m er noch viele Zauberflöten- oder Freischütz-D ia 1o-
ge klingen? Sarastro-Bässe, die man noch in der Kantine heraushört? Allzu oft
ist die Stim m e eines Sängers oder Schauspielers die M aske der Profession, h in­
ter der man sich verbirgt und die den persönlichen Ausdruck' verdeckt. Bergs
klangliche Feinheiten bannen nicht die Gefahr des diohlen. Tönens<, rühren
nicht ans Wesentliche: nämli ch d ie Notwendigkeit einer Haltung des Sprechers
seinem Text gegenüber; einer Haltung, die sich letztlich nicht über rnusika -
M arginalien zum T h em a »Sprechgesang« 35

lisch-technische Parameter definieren kann, sondern nur über den Inhalt, und
also —h o ffen tlich .- immer neu definiert.
Natürlich soll das nicht heißen, diese Bem ühung um Inhalte wäre nicht auch
eine Frage des Klanges (oder des Ausdrucks). Schließlich ist gesprochene Spra­
che weder ausdrucks- noch tonlos. (Ihr Tonhöhenanteil ist etwa dem einer
großen Holztrommel vergleichbar, die zwischen den M elodie- und den reinen
Geräusch-Instrum enten liegt.) D er Tonhöhenunterschied einer Oktave z.B .
ist beim reinen Sprechen genauso gut hörbar und nachprüfbar wie beim Sin­
gen; er erscheint jedoch ganz anders: nämlich als viel geringerer Ausschlag.
Selbst bei einem als m onoton empfundenen Sprechen fern ab jeder singenden
Sprechweise wird dieser Um fang ohne weiteres erreicht. Beispiel Wozzeck:
M arie liest m der Bibel: »Und ist kein Betrug in seinem M unde erfunden wor­
den.« D ie Tonhöhen-Relationen sind durchaus einzuhalten (und einhaltbar),
nicht aber das Register. W ie sollte Berg wissen, um wieviele Oktaven, eine oder
gar zwei, die Sprechweise einer zukünftigen M arie unter ihrer Singstim m e lie­
gen würde; also notiert er im Violinschlüssel, im Register des Gesangs. Aber:
gesprochen Ist gesprochen] Fs geht um die Haltung einer Frau, die, lesend, einen
ihr fremden Text vor sich hin-buchstabiert. Übers langsame Verstehen der W or­
te beim Entziffern der Buchstaben. Und zufällig sp ielen ..wie auf'entfernten
M onden und Planeten um sie herum - vereinzelte Streicherfragniente dazu.
Über diesen fragilen, besonderen iHanghrniet. sich vielleicht ein Ansatz für den
besonderen Ausdruck, um den es geht.
Bei einem anderen Versuch, der Sache nahe zu kom m en, in den Snielnn
W eisungen zur Glücklichen Hand, schreibt Schönberg: »in den Part
Frauen und sechs M änner sind die durch 'lo n h öh e und Rhyrhnu
ten Sprechmelodien zum Ausdruck zu bringen, i n d e m Rhythmei
mik. genau, die 'Ibnhöhen aber andeutungsweise gebracht wert:
unter »an d e u tu n g sw e ise « verstellt, wird zunächst nicht klar. O ff
je d o c h gleich das Besondere hier: chorisch.es Sprechen. Es h a n d e l t :
Chöre, zu Beginn und am .Ende, die in der Art eines griechische:
Handlung komm entieren. Das erste ist ein bis zu 6-stim m iger >FIüsterchor<,
in den vereinzelte, gesungene und gesprochene Partikel eingestreut sind. Zwi­
schen »klangvoll...« und »tonlos geflüstert« bestellt wohl nur ein Intensitäts­
unterschied, denn tatsächlich »tonlos« geflüstert gibt es nicht. D er T o n ­
höhenanteil des Flüsterns ist sogar deutlich, größer als der der Sprache. Um so
klarer müssen, die Unterschiede zum Sprechen und Singen sein. Übergangslo­
se Brüche! Interessanterweise ist der Registerwechsel für die tiefen. M änner­
stimmen natürlich umgekehrt wie sonst: ihr {'lüstern, wird viel höher sein als
die gesungenen Tiefen. Läßt man sich, auf diese Brüche ein und realisiert strikt:
die unterschiedlichen K langebenen ..samt der sieh, daraus ergebenden Regi­
sterwechsel .., bricht der auf den ersten Blick kom pakt wirkende Satz auf, wird
licht und. transparent. Zudem verliert die strenge Rhythm ik, die im Chori-
schen ja unerläßlich ist, jede Gefahr eines »Martialischem. D er Klang dieser
zwölf Gesichter, von denen »man fast nur die Augen deutlich sieht«, ist merk­
36 Peter H irsch

würdig entstofflicht. D er zweite C hor ist schon wieder problematischer: »ankla­


gend, streng gesprochen« heißt es da. W enn Kom ponisten nur w üßten, was sie
anrichten, wenn sie so etwas wie »anklagend« zu Sprache schreiben. W ie soll
man da je den sich anbahnenden >Operntonfall< wieder loswerden? Aber: es
gibt auch H ilfen; Schönberg schreibt an dieser Stelle in einer Fußnote: »Durch
die 3stim m igen Akkorde soll angedeutet werden, daß die betreffenden Phra­
sen von den Sängern in ihren Stimmlagen entsprechenden 'lonhöhen gespro ­
chen werden sollen.« D a steht es endlich klipp und klar: in den ihren Stim m ­
lagen entsprechenden Tonhöhen, also Registern! Es werden also je nach
individueller Sprechstim m en-Charakteristik der einzelnen Sänger auch alle
m öglichen Umkehrungen der Akkorde auftreten können, so daß z. B. die Baß-
Stim m e in die M itte wandert, oder die O berstim m e in den Baß usw. Außer­
dem tritt bei diesen 3stim m igen gesprochenen Akkorden die D om inanz der T o n ­
höhen, also die Durchhörbarkeit der einzelnen Akkorde zurück hinter eine
Klang C h arak teristik , die sich einerseits aus der speziellen M ixtur der einzelnen,
individuellen Sprachgestiken zusammensetzt, andererseits aus einer gem ein­
samen, zu inszenierenden Haltung, und die sich klanglich vom kurzen, ab­
schließenden, rein gesungenen Teil wieder deutlichst abheben muß.

Nachwort zum Überlebenden aus Warschau

W ie schaffe ich es, dem notierten Sprach-Rhythm us annähernd gerecht zu


werden, ohne an ihn zu glauben? Was bewirkt er mehr, als die Organisation
des Zusammentreffens von Text und Klängen? W ie klingt die Sprache des Sich-
Erinnerns? Es liegt in der Natur dieses Stückes, daß der N otentext darauf kei­
ne Antwort geben kann. Sprache ist hier wie das Dechiffrieren verwitterter und
überwachsener Grabinschriften, Erinnerung als Palimpscst. D ie Chiffre ist der
’lünnel, in dem jeder Sprecher einen ihm adäquaten lonfall finden m uß. Was
entstellt, ist eine Art Dreidim ensionalität des Hörens, in der die W ahrneh­
mung von Musik und das Nacb-D enken über Sprache in eine neue, fremde
Beziehung treten, ln diesem Raum, der sowohl ein abstrakter wie emotional
bestim mter ist, sind Sprache und M usik gleich weit davon entfernt, einander
zu illustrieren oder zu usurpieren.
M onika Schwarz-Danuser

Melodram und Sprechstimme bei


Ferruccio Kusoni

Nachdem das M elodram zur Zeit seiner Entstehung in den 70er und 80er Ja h ­
ren des 18. Jahrhunderts heftig umstritten gewesen war, im 19. Jahrhundert
aber nur mehr am Rande der artifiziellen Gattungen existierte, gewann es gegen
1900 erneut an Aktualität. Eine Kontroverse entzündete sich insbesondere an
der melodramatischen Fassung von Engelbert Humperdincks Königskinder aus
dem Jahre 1897, worin erstmals die Sprechstimm e auch tonhöhenm äßig fest­
gelegt wurde, eine M aßnahm e, die für unser Jahrhundert von weitreichenden
Konsequenzen werden sollte. D aneben entstand um die Jahrhundertwende
eine wahre Flut frei rezitierter M elodram en, die von W erken m it Kunstan­
spruch wie M ax von Schillings’ Hexenlied oder Richard Strauss’ Erioch Arden
bis hin zur äußersten 'IHvialität von Gelegenheitsstücken reichte.
Uber die Tatsache hinaus, daß die Titelfigur in Ferruccio Busonis Arlecchi­
no als Sprechrolle konzipiert ist, sind Art und Umfang seiner Verwendung von
M elodram und Sprechstimm e bisher kaum beachtet w o rd en ..weder in der
Busoni-Forschung noch in der dem Melodram gewidmeten Literatur. Insbe­
sondere in Busonis Opernschaffen ist die gesprochene Sprac
gesetzt, von erheblicher Bedeutung. Auch der G attung des K< ;
hat er sich zugewandt, allerdings nur ein einziges M a l..in eir
Dieses Konzertmelodram für eine Sprcchstimm e mit Klavt
stand nach Friedrich Schnapp und Ernst Hilmar in den 18 ;
trägt den 'Eitel Hine alte Geschichte in neue Reime gebracht i ;
unveröffentlichtes Autograph vor/’- Das G edicht, dessen Ai
nicht: bekannt war, stammt von Friedrich M artin von Bodenstedt, einem sei­
nerzeit recht erfolgreichen Schriftsteller und Siavisten, Busoni entnahm es der
Gedichtsam m lung Die .Lieder des Mirza Schaffy, die auf’oriental ischem G edan­
kengut: beruht und sich von der Erstauflage 1851 an im Rahmen der damali­
gen Exotism us-M ode außerordentlicher Beliebtheit erfreute. D aß ihn gerade
dieses G edicht zu melodramatischer Vertonung reizen m ochte — ein anderes
der Sammlung hat er zu einem Lied g estaltet.., ist durchaus verständlich. Es
lautet folgendermaßen-5:

1 Vgl. j. Kin de rm a n n, i'heninliseh-ehroiiologisches Verzeichnis d er Werke kerruceio Busonis, Regens-


bürg 1 9 8 0 , S. 180.
2 Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitv. Berlin, Busoni-Nachlafs Nr. 2 0 8 .
5 Pr. von Bodenstedt, D ie 1Je d e r des M irza-Sehctßy -- m it einem P rolog 3. ne uve nn ehr te Aufl., Ber­
lin 18 5 4 , S. 1 15 f.
38 M on ika Schw arz-D anuser

Es hat M irza-Jussuf ein Lied geschrieben


Von zweier M enschen Sehnen und Lieben:
W ie sie erst in W ünschen und Hoffen geschwommen,
D ann wild für einander entbrannt sind —
W ie beide erst um ihr Herz gekommen,
D ann gekommen um ihren Verstand sind —
W ie das Schicksal beide getrennt hat,
Ganz rein und unverschuldet —
W ie er für sie geflennt hat,
Und sie für ihn geduldet.
Dazwischen kom m t viel M ondetischein,
Viel traurig Sterngefunkel,
Und kluge Quellen murmeln drein
Im grausigen Waldesdunkel.
D ann wird ein kühner Sprung gemacht,
M an glaubt sie werden zusam m engebracht..
Da naht das Schicksal trüb und schwer
Und wirft sie wieder hin und her.
Er trägt sein Los in D em ut,
Sie harrt: und hofft —er seufzt und flennt,
W ie man das schon von Alters kennt.
So schwimmen sie beide in W ehm ut,
Bis Allahs Herz gerührt wird
Von dem vielen Flennen und [.eitlen,
Und das Paar zusammengeführt wird
Um nim m erm ehr zu scheiden.

Diese unsäglich triviale und zusammengeschusterte Poesie offenkundig paro-


distischen Charakters ist das erste G edicht einer m it Mirza Jussuf überschrie-
benen Abteilung, das von Bodenstedt als abschreckendes Elaborat gehaltloser
D ichtung präsentiert. (»Was schon geschaffen ist, das schafft er wieder um /Die
ganze W elt setzt er in seine Lieder um, /Und hängt zu eig’nem Schm uck frem­
des Gefieder um /D am it m acht er sich breit und nennt das Poesie/...«1) ln
dieser Parodie erscheinen in geballter Häufung die sprachlichen Klischees, die
zahlreiche, allerdings ernst gem einte M elodram entexte durchziehen, und
Rusoni versäumt nicht, sie mit entsprechend abgegriffenen musikalischen Flos­
keln zu verschärfen.
Ein Vorspiel eröffnet das 126 'Fakte umfassende Stück m it einem ostinaten
Klanggrund, der Bordunquinte auf d, und chromatisch fallenden Figuren in
der O berstim m e, um die exotische Sphäre des Gedichts anklingen zu lassen.
D er Text wird zunächst unbegleitet rezitiert; erst bei dem W ort »l ieben« tritt
die musikalische Untermalung hinzu. In häufigem 'Fon arten Wechsel, brüsken

4 Ebenda, S. 121
M elodram und Sprechstim m e bei Ferru ccio Busoni 39

Änderungen von Ausdruck und D ynam ik lehnt sie sich an gängige M elo­
dramtechniken an und steigert deren textverdoppelnde Attitüde ins Übertrie­
ben--Parodistische. Das Lieben soll »dolce«, das wilde Füreinanderentbrennen
»molto agitato« vorgetragen werden, gehäufte Dissonanzen bringen die un­
glücklich Liebenden um ihren Verstand, und über Tonmalereien des M on-
denscheins, Sterngefunkels und grausigen Waldesdunkels erreicht das M elo­
dram mit pathetisch auftrumpfenden Akkorden sein Happy-End, worauf ein
kurzes, au f den Anfang verweisendes Nachspiel das rührselige Stück beschließt.
D a Busoni diese Jugendkom position m it keiner Opuszahl versah und sie unver­
öffentlicht ließ, scheint er diese M elodram -Parodie nur als kleinen privaten
Scherz betrachtet zu haben.
Von größerem G ew icht ist die vielfältige Anwendung von M elodram und
Sprechstimm e innerhalb der O pern Die Brautwahl, Arlecchino und Turandot,
die zur Hauptsache in den 1 9 10er Jahren entstanden, in einer Zeit also, in wel­
cher auch Kom ponisten der Neuen M u sik .- Arnold Schönberg und Alban Berg
zumal - sich mit M öglichkeiten der gesprochenen Sprache beschäftigten. Um
den Stellenwert dieser Techniken in Busonis Opernschaffen zu ergründen,
haben wir zum einen ihrer funktionalen Bedeutung im Gefüge der einzelnen
Werke nachzugehen und zum ändern auch seine Ästhetik zu berücksichtigen,
die sich, wie bekannt, gegen die Wagner-Nachfolge, den italienischen Veris­
mus und den musikalischen Expressionismus gleichermaßen abgrenzte.
Seit früher Jugend trug sich Busoni mit zahlreichen O pernplänen, von denen
indessen nur wenige zur Ausführung g elangten ..außer den genannten noch
der als Hauptwerk intendierte Doktor Faust, in dem die Sprechstimm e mir zum
Schluß des Werkes, in dem von Philipp Jarnach für die Uraufführung vervoll­
ständigten Ieil, eingesetzt wird. D er Erstling, Die Brautwahl, eine »musika
lisch-phantastische Komödie«, dessen Libretto Busoni nach der glcidinam i
gen Erzählung des von ihm hochverehrten E. T, A. Hofftnanii schricl
zwischen 1909 und 191.1 kom poniert und irn darauffolgenden Jahr
bürg uraufgeführt. Die musikalische Ausarbeitung des Arlecchino wus
191.4 in Berlin begonnen und. 1.916 in Zürich beendet, wo das Werk: 1 , , .....
dem berühmten Schauspieler Alexander Moissi in der Hauptrolle erstmals ge­
geben wurde. Da dieser Einakter für die Zürcher Aufführung einer .Ergänzung
bedurfte, kom ponierte Busoni die zweiaktige O per 7 urandot, wobei er auf sei­
ne gleichnamige Orchestersuite und die unter Max. Reinhardts Regie 191 1 ver­
wendete Schauspielmusik zurückgriff. (M it dem Sujet hatte er sich schon seit
1904 befaßt.)
M elodram und Sprechstimme lassen, sich im H inblick auf ihren Einsatz in
den. genannten O pern nach je drei Funktionen gliedern. Das Melodram ver­
wendet Busoni 1. zu parodistischeui Zweck (.Brautwahl, Arlecchino), 2. als M it­
tel. dramatischer Steigerung ( Turandot), 3. im Sinne eines Rekurses auf ältere
Operntypen, zumal die opera buffa ( Turandot, Arlecchino). Die Sprechstimme
dagegen, dient 1. zur deutlichen Vermittlung der semantischen Ebene des Tex­
tes, 2. als Mittel musikalischer Kom ik (Brautwahl) und 3. wiederum als Steh-
40 M on ika Schw arz-D anuser

gerungsmittel ( Tumndot). D ie Unterscheidung zwischen Sprechstimme und


M elodram —dies als Klammerbemerkung - scheint bei Busoni deshalb gebo­
ten, weil er das Melodram meist in traditionellem Sinne gebraucht, d .h . als
weder rhythmisch noch tonhöhenm äßig festgelegte Sprache, oft über gehalte­
nen Akkorden rezitiert, die Sprechstimm e hingegen entweder rhythmisiert
(ohne bestim mte lo n h ö h e) oder aber sowohl rhythmisch als auch diastema­
tisch fixiert. In letzterem Fall bedient er sich allerdings nicht der Humper-
dinckschen N otation — Kreuzchen statt N o ten k ö p fe .., sondern schreibt zu
normaler Gesangsnotation Vortragsanweisungen wie »gesprochen«, »halb
gesprochen«, »in Gesang übergehend«. Zwischen M elodram im altherge­
brachten und Sprechstimm e im neueren Sinn als einem auskomponierten Ele­
m ent des 'Ionsatzes gibt es außerdem Zwischenformen, in denen beide kom ­
biniert erscheinen. — D ie erwähnten Funktionen m öchte ich im folgenden
anhand einiger Beispiele näher erläutern.

1. M elodram als Parodie

In der 14. Szene des 3. Aktes der Brautwahl dient eine kurze melodramatische
Passage zu doppelt parodistischem Zweck. D er G eheim e Kanzleisekretär Thus-
m ann, ein schon ältlicher Junggeselle, gehört neben dem jungen M aler
Edmund und dem jüdischen M illionär Benjam in zu den Bewerbern, die um
die Hand Albertines, der Tochter des parvenühaften Kommissionsrates Vos-
winkei, anhalten, Als Thusm ann, dern Albertine fast: versprochen war, ein.se-
hen muß, daß ihre Zuneigung dem Künstler gilt und er von diesem, gar mit
einem, grünfarben.en Ölpinsel übel zuj....: " L~........ ’ 1 1.........i - - seinem
Leben ein Ende zu setzen. Die Szenenan l.aich< irn
Berliner '1 'iergarten. M ondschein m it zici von dro­
hendem Charakter, ln der Entfernung 1 /.um Tor
hinausfabrenden Reise-Diligence auf dem Horn blasen gehöre. Thusm ann,
noch immer mit grünem Gesicht, liegt: unter einem Baum, anscheinend fas­
sungslos.« Nach einer längeren Gesangspame, in der er sein Geschick beklagt,
schreitet Thusm ann zur Tat: mit den gesprochenen W orten: »Leben Sie wohl,
grausame Dem.oisel.le Albertine Voswinkel/Sie sehn Ihren Bräutigam niemals
wieder /Er springt sogleich dem ’ I ’homasio nach!«1’ D ie dazu, erklingende Musik
von sechs Takten Länge ist, entsprechend den drei ’lextphrasen, in drei paral­
lel konstruierte D reitakter gegliedert. D er erste l a k t (ein 'Fakt nach Ziffer 1 9)
schafft durch clusterähnliche Sekundballungen der Hörner in der Oberlage
und chromatische Gänge der Baßklarinette (über dem von den Violoncelli
gehaltenen O rgelpunkt D) eine situationsadäquate Spannung, worauf im zwei­
ten 'lak t auf einen durchgehaltenen., scharf dissonierenden Akkord von Violi­
nen und Klarinetten sowie einem Paukenwirbel die W orte rezitiert werden.

5 Ebenda.
M elodram und Sprechstim m e bei Ferru ccio Busoni 41

(Die Sekundballungen vor der dritten Textphrase umfassen übrigens einen voll­
ständigen diatonischen Cluster in D -D ur, der durch den chrom atischen Gang
gar zum Zwölftonfeld ergänzt wird.) D ie Auflösung der schreckerregenden D is­
sonanzen in einen harmlosen D -D ur-A kkord zeigt indessen an, daß der Sui­
zidversuch nicht tragisch endet —und in der Tat: nur allzu bereitwillig läßt sich
Thusm ann von dem unvermutet hinzutretenden Leonhard, der die weiße
Magie verkörpert, von seinem Vorhaben abbringen. D ie doppelt parodistische
Funktion des Melodrams beruht hier darauf, daß Thusm anns Selbstmordver­
such so wenig ernst zu nehmen ist, wie er selbst als Person insgesamt, und daß
die melodramatische Technik gleichzeitig im Sinne einer Stilparodie auf die
deutsche rom antische O per verweist, in der Melodramen hauptsächlich dann
aufgeboten wurden, wenn sich die Stim m ung ins Unheim lich-Schauderhafte
verdüsterte.
Als weiteres Beispiel parodistischer Funktion wäre ein Melodram in Arlecchi­
no zu nennen, das - im Unterschied zur eben besprochenen Passage — aus­
drücklich als solches überschrieben ist. (Arlecchino ist denn auch, im Vergleich
zur durchkomponierten Brautwahl eine ausgeprägte Numm ernoper im Vor­
feld des Neoklassizismus.) Die M elodram -'iechnik entspricht in den G rund­
zügen der am vorigen Beispiel skizzierten, mit dem Unterschied allerdings, daß
hier die Parodie, statt auf die romantische Schauersphäre, sich, auf die H och-
zeits- und Verlobungsmelodramen bezieht, die damals als Gelegenheitsmusik
sehr beliebt waren.

2. Melodram als M ittel dramatischer Steigerung

Als Beispiel wähle ich die 7. Nummer des zweiten Aktes voi
Turandot im D uett nur Adel.ma, Um den Preis ihre;
venstand erklärt sich. Ä.d.elma bereit, Turandot den I
zen zu nennen, der die drei von ihr aufgegebenen liai.se............... u vennouitc.,
Adelmas Rede, stets im Dialog mit 'liirandots Gesangsp;. u aus von frei
gesprochenem Textvortrag über gehaltenen Akkorden. et in intensi­
viertem Dialog fort zu knappen, nun gesungenen Deidamationsphrasen und
kulm iniert schließlich dort, wo sic um ihre Freiheit bittet, in ariosem Gesang.
An dieser Stelle fungiert das Melodram, somit, durch die gesprochene Sprache
als untere Stufe einer Skala, deren, obere Stufe der ariose Gesang bildet. In ähn­
licher Weise, doch ungleich, differenzierter, hat beispielsweise Alban Berg cm
Kontinuum zwischen gesprochener Sprache und emphatischem Gesang aus­
kom poniert. Busonis Anwendung dieser D isposition basiert allerdings auf-
anderen ästhetischen Voraussetzungen als die der W iener Sch ule: Turandot und
Arlecchino sind, geschrieben in bewußtem. Rückgriff auf die C om m edia dell’ar-
te und die Opera buffa, deren ästhetisch wesentlicher Spielcharakter von Buso­
ni in zahlreichen M om enten der Desillusionierung aktualisiert wird. Dies führt
uns zum dritten Punkt.
42 M on ika Schw arz-D anuser

3. Das M elodram im Sinne eines Rekurses au f ältere Opern typen

Sowohl Turandot als auch Arlecchino enthalten, nicht anders als Buffa und
Singspiel des 18. Jahrhunderts, zahlreiche gesprochene Abschnitte ohne
M usikuntermalung. In einigen Fällen — Busoni überschreibt die N um m ern
mit »Dialog« (in Arlecchino) oder »Intermezzo dialogato« (in Turandot) —wech­
seln Textpassagen m it musikalischen Abschnitten so rasch m iteinander ab, daß
eine melodramatische W irkung entstellt. M it großer W ahrscheinlichkeit war
es dieser dritte Typus, der eine Rezensentin der Uraufführung zu folgendem
abwertenden Urteil veranlaßte: » ... sie [seil, die Musik] versucht sich in un­
sangbaren Kom binationen, .Ensemblesätzen, Tuttis, sie geht unvermutet aus,
wie ein Licht: D ie Leute reden plötzlich, doch ja nicht so wies früher üblich
war«6.
D er Gebrauch der Sprechstimm e läßt sich, wie erwähnt, ebenfalls nach drei
Funktionen aufgliedern.

A. Zwecks deutlicher Vermittlung der semantischen Ebene des Textes

D ie Titelrolle im Arlecchino ist als durchgehende Sprechrolle konzipiert, nur


in der ersten Szene des » Ersten Satzes«..der 'J erminus »Satz« anstelle von »Akt«
bezeugt eine Überführung von Kategorien der Instrum entalm usik in den
Bereich der O per —, in welcher Arlecchino ein gesprochenes Lied vorträgt,
m ündet seine .Rede in Gesang. Anders als in dem. wenige Jahre vorher ent­
standenen Pierrot lunaire, ist: die Sprechstimme bei Busoni zur Hauptsache nur
in. rhythmischer, nicht in tonhöhenm äßiger H insicht in den 'ionsatz integriert,
soweit es sich, nicht um gänzlich frei gesprochene Partien handelt. Eine la g e -
buchaufzciclinung vom 10. November 1 9 ’L it der Kom­
position also, dokumentiert im übrigen, daß b die T itelfi­
gur als Gesangs- oder Sprechrolle gestaltet weraen so tue, ment von vorneherein
feststand. Sie lautet: »Drei Partiturseiten A. (seil. Arlecchino] gemacht. .Lasse
ihn. endgiltig sprechen. Muss guter Schauspieler sein .In jene Zeit fallen
auch Verhandlungen m it Alexander M oissi, der an Reinhardts 'Theater in Ber­
lin wirkte, Uber die ästhetischen Beweggründe von Busonis Entscheidung
erhalten wir aus den bisher zugänglichen biographischen Dokum enten kei­
nen Aufschluß, doch dachte er für eine Aufführung eher an den Rahmen
eines Theaters als an den eines Opernhauses. 1915 schreibt er von Zürich, das
er während des Krieges zum Aufenthalt gewählt hatte, an Edith Andreae in
Berlin: »Inzwischen ist auch die Kom position eines Einakters vorgeschritten.
Bei diesem Stück habe ich im Entwerfen an Reinhardt gedacht. Es fordert

6 A. Roner, »Ferruccio Busoni: >Turandor< und >Aiiecchino<«> in: N M Z 3 8 ( 3 9 7 1 ) , S. 2 7 6 .


7 Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Bus onj -N ach la ß, N . Mus. Nachl. 4 , 98 .
M elodram und Sprechstim m e bei Ferru ccio Busoni 43

eine Sprechrolle und eine übermütige Regie. M ehr als 45 Orchestermusiker


sind überflüssig, und darum schwebt: mir das deutsche Theater, als das rich­
tige M ilieu, vor«8. Und in einem Brief aus dem folgenden jah r: »Es war fast
Alles reif geworden zu einer Reinhardt’schen Vorstellung — aber die Um stän­
de erschweren sie merklich«9. D a Busoni zu einem Werk m it der Titelfigur
des Arlecchino durch den Besuch einer Com m edia dell’arte-Darbietung in
Italien angeregt wurde, ist eine — zeitlich mögliche - Beeinflussung durch
Schönbergs Pierrot lunaire nicht anzunehmen; umso weniger, als er, ohnehin
ein G egner des Expressionismus, dieses W erk anläßlich einer Pariser Aus­
stellung futuristischer Skulpturen von Umberto B occioni als »laue Limonade«
bezeichnete.10 D ie Gestaltung der Arlecchino-Figur als Sprechrolle gründet
demnach in einer W erkkonzeption, die zwischen Schauspiel und O per ver­
mittelt, einer Werkidee, welche Busoni nicht nur erlaubte, eine Fülle spiele­
rischer Ironie zu entfalten, sondern darüber hinaus gestattete, den Arlecchino
zu einem persönlichen Bekenntnis gegen Krieg und moralische Heuchelei
auszuformen. Indem die bloß rhythmisch fixierte Sprechstimm e sich deutlich
gegen den musikalischen Tonsatz abhebt, erscheint die für diesen Zweck
wünschbare Textverständlichkeit verbürgt. Trotz der m it dem Pierrot ge­
meinsamen C om m edia delParte-Figur steht Busonis Arlecchino, wenn wir
den historischen Umkreis von Werken m it Sprechstimme betrachten, eher
in der Nähe von Igor Strawinskys L ’Histoire du Soldat als in der des Pierrot
lunaire.

B. Sprechstimme als M ittel musikalischer Komik

Besonders reichen und differenzierten Gebrauch der gebundenen Kureehsi im


me macht Busoni in der 191 1 vollendeten l(,f» nindil, was ii
esse ist, als ein abgestuftes Kontinuum von S|» » Iu und ( Jesar
vor Schönberg verfügbar wurde. Allerdings bedient sich Bus
der üblichen Gesangsnotation mit zusätzlichen Vortragsanweisungen, statt
einer eigens entwickelten Notationsweise. Als Beispiel hierzu sei eine Stelle aus
»Des geheimen Kanzleisekretärs Thnsm anns unwahrscheinlichem Bericht«,
aus der 7. Szene des ersten Aktes, kurz beschrieben. Thusm ann berichtet:, ganz
verwirrt, dem Kommissionsrat Voswinkel von einer pliantasmagorisclien Er­
scheinung, worin ihm Albertine als Braut entgegenblickte. Seine Partie wird
auf dem H öhepunkt des Berichts von Busoni folgendermaßen abgestuf t: »Aus­
gelassen tönt von oben Janitscharenmusik« (gesungen)..»Tschini bum! Tschinl
bum!« (gesprochen) - - »Da!« (tonlos gesprochen) — »auf einmal durch d.as
Bogenfenster« (halb gesprochen)..»was gewahr ich ... D eine 'lochter!« (gesun­

8 Briefe Busonis nn Kdith Andrcae-, hrsg. von A. Briner, Zür ich 1 9 7 6 , S. 2 0 .


9 Ebenda, ,S. 2 4 .
10 H Busoni, B riefe a n seine F ra u , hrsg. von Fr. Schna pp , m it eine m Vorwort' von W. Schuh, Zürich /
Leipzig 1 9 3 5 , S. 2 7 9 .
44 M onika Schw arz-D anuser

gen).11 Diese Partie ist insofern eine Reminiszenz an die Brauterscheinung selbst
(4. Szene des ersten Aktes), als Thusm anns Stim m e dort »unterdrückt und fast
wie gesprochen« klingen soll. Ähnlich derparodistischen Funktionen des M elo­
drams in der Brautwahl, dient hier der Einsatz der Sprechstimme als M ittel
musikalischer Kom ik: sie ist vorwiegend der Partie des Thusm ann zugewiesen,
der als aufgeblasener Spießbürger die - der Sphäre des Phantastischen entge­
gengesetzte —Ebene des Prosaischen verkörpert.

C . Sprechstimme als M ittel dramatischer Steigerung

In der entscheidenden Rätselszene der O per Turandot beispielsweise sind die


erstell beiden Rätsel, die Turandot dem fremden Prinzen aufgibt — obwohl
gesangmäßig notiert »frei gesprochen« vorzutragen, und erst beim dritten
Rätsel, das über Tod und Leben entscheidet, geht die Stim m e in Gesang über.
W ie die bisherigen Ausführungen erkennen lassen, verfügt Busoni über eine
reich nuancierte Behandlung der Stim m e in seinen drei ersten O pern, die fol­
gende Differenzierungsgrade aufweist: 1. gesprochene Dialoge und M on olo­
ge, 2. frei gesprochene Sprache mit melodramatischer Untermalung, Sprech­
partien mit kurzen musikalischen Zwischensätzen von melodramatischer
W irkung, 3. rhythmisierte Sprechstimm e ohne 'lonhöhenangabe, 4. halblaut
gesprochen (mit hohlen eckigen N oten12 ohne D iastem atik notiert), 5. fast
gesprochen, 6. frei gesprochen, 7. tonlos gesprochen, 8. m ehr gesprochen, 9.
in Gesang übergehend, 10. gesungen.
Abschließend möchte ich noch die Frage streifen, welchen Stellenwert der
Einsatz der gesprochenen Stim m e in Busonis O pernästhetik entnehme. So wie
Busoni in seinen Schriften Probleme i r c rr- 1.......... iviiv ' oder Fragen der
D eklam ation ausspart, hat er .* i I u h i : ,»r Sprechstim m e
geäußert. Immerhin lassen, seine zum Ver­
hältnis von le x t und M usik einij; < n I (hin im mi II et Ineinem
Aufsatz aus dem Jahre 1913 mit dem .1. itel »Uoer che /.-ukimft cier o p e r « u setzt
Busoni, unter Rückgriff auf M ozart als dem unübertroffenen Vorbild, gegen
das Bayreuther Gesamtkunstwerk das Ideal eines musikalischen Gesamtkunst­
werks. N icht die enge Verschmelzung von Drama und Musik, sondern das ver­
schieden. akzentuierte Eigengewicht der konstitutiven Elemente der O per sei
hervorzuheben. Auch epische M om ente müßten zurückgestellt werden, um
einem O perntext Kürze und schlagwortartige Prägnanz zu verleihen: »Darum
ist für die O per das Schlagwort ein unschätzbares Instrum ent, weil hier dem

11 F. Busoni, D ie Bmittweihl. M usikalisch-fantastische K om ödie mich ! i F. A. H offm an ns Erzählung,


Klavier-Auszug von Eg on Petri, Berlin 1 9 1 2 , S. 1 4 2 FF
32 Eb end a, S. 3 9 1 f.
13 D er Aufsatz erschien zunächst in der Vossischen Z eitung, Die wichtigsten Partien üb ern ahm Buso-
ni in seine S c hr ih U b er die M öglichkeit d er O per u n d d ie Partitur des D oktor Faust, Wie sb ade n 1 9 6 7 .
M elodram und Sprechstim m e bei Ferruccio Busoni 45

Zuschauer die Aufgabe zugemutet wird, zugleich zu schauen, zu denken, und


zu hören. Ein durchschnittlicher Zuschauer (und das Publikum stellt sich, im
Groben aus solchen zusammen) vermag aber nur einem von diesen Dreien auf
einmal zu folgen. Deshalb ist dieser Kontrapunkt von geforderter Aufmerk­
samkeit dahin zu vereinfachen, daß W ort und M usik zurücktreten, wo die
Handlung die vorderste Rolle hat (Beispiel: ein Zw eikam pf); daß M usik und
Handlung im Hintergrund, bleiben, wo ein Gedanke m itgeteilt wird; daß
Handlung und W ort sich bescheiden, wo die Musik ihren. Faden spinnt. Ist
doch die O per Schaustück, D ichtung und M usik in einem «14. Aus diesem Zitat
wird deutlich, daß Busoni auch dem Text ein spezifisches Eigengewicht bei­
m ißt, vor allem, wenn die Vermittlung der Textsemantik im Vordergrund ste­
hen soll. Das W ort ist in der O per aber dort am verständlichsten, wo es gespro­
chen wird. Daraus dürfen wir schließen, daß Busoni in seiner Opernkonzeption
vor dem Doktor Faust Melodram und Sprechstimm e als vom Gesang nicht
prinzipiell unterschiedene Gestaltungsmöglichkeiten betrachtete und, wie ich
zu zeigen versuchte, in seinen O pern in mehrfacher Funktion einsetzte. Umso
überraschender ist die 'Tatsache, daß er im Faust, seiner Hauptoper, darauf ver­
zichtete, Worin dies begründet sein mag, kann hier nicht mehr erörtert wer­
den - m utm aßlich war dieser Verzicht von der besonderen Werkid.ee des Faust
motiviert, deren Anlage den die Musik umfassenden Rahmen eines gespro­
chenen Prologs und Epilogs umfaßte (was indessen schon beim Arlecchino ge­
geben war), so daß gesprochene Sprache und Gesang nicht mehr im Rahmen
eines abgestuften Kontinuums, sondern in scharfer ’lrennung als Pole inner­
halb einer übergreifenden. Einheit der Musik erscheinen sollten.

14 Ebenda, S. 2 7 f.
Juan Allende-Blin

Uber Sprechgesang
Auf Spurensuche

Zu Beginn des X X . Jahrhunderts entstanden zwei Techniken, die zwischen


Sprechen und Singen angesiedelt sind: der »Sprechgesang« von Arnold Schön­
berg und das »Klangsprechen« von Lothar Schreyer. 1912 kom ponierte Arnold
Schönberg den Zyklus Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds Pierrot lun­
aire (Deutsch von Otto Erich Hartleben) für eine Sprechstimme, Klavier, Flöte
(auch Piccolo), Klarinette (auch Baßklarinette), Geige (auch Bratsche) und Vio-
loncelL
Es ist im m er wieder instruktiv, das Vorwort Schönbergs zu diesem Werk
nachzulesen:
»Die in der Sprechstimme durch Noten angegebene M elodie ist (bis auf ein­
zelne besonders bezeichnete Ausnahmen) nicht zum Singen bestim mt. Der
Ausführende hat die Aufgabe, sie unter guter Berücksichtigung der vorge­
zeichneten 'Ibnhöhen in eine Sprechmelodie umzuwandeln. Das geschieht,
indem er
I. den Rhythm us haarscharf so einhält, als ob er sänge, d.h. m it nicht mehr
Freiheit, als er sich bei einer Gesangsmelodie gestatten dürfte;
II. sich des Unterschiedes zwischen Gesangston und Sprechton genau bewußt
wird: der Gesangston hält die 'lonhöhe unabände",:''u u -'{, der Sprech ton
gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen od< n sofort wieder.
D er Ausführende muß sich, aber sehr davor hüten, i ngende< Sprech­
weise zu verfallen. Das ist absolut nicht gemeint. Es wird zwar keineswegs
ein realistisch-natürliches Sprechen angestrebt, im Gegenteil, der Unter­
schied zwischen gewöhnlichem und einem Sprechen, das in einer musika­
lischen Form mitwirkt, soll deutlich werden. Aber es darf auch nie an Gesang
erinnern.«
Und Schönberg fügt. noch, eine wichtige Anmerkung hinzu, die zur Realisa­
tion des Sprechgesangs hilfreich ist: »Niemals haben die Ausführenden hier die
Aufgabe, aus dem Sinn der W orte die Stim m ung und den Charakter der ein­
zelnen Stücke zu gestalten, sondern stets lediglich aus der M usik. Soweit dem
Autor die tonmalerische Darstellung der im le x t gegebenen Vorgänge und
Gefühle wichtig war, findet sie sich oh nedies in der Musik. W o der Ausführende
sie vermißt, verzichte er darauf, etwas zu. geben, was der Autor nicht gewollt
hat. Er würde hier nicht geben, sondern nehmen.«

In den M emoiren von Salka Viertel (geb. Salome Steuerm ann), Das unbelehr­
bare Herz, beschreibt: sie, wie ihr Bruder, der Pianist Eduard Steuermann, zu
Ü b er Sprechgesang 47

Schönberg kam und wie sie die Uraufführung des Pierrot lunaire erlebt hat. Sie
erzählt: »Mein zurückhaltender Bruder zögerte lange, bevor er dem Maestro
[Busoni] seine Kom position vorlegte. Busoni schien sehr beeindruckt und riet
ihm, die Berliner Akademie, an der Edward einen unbefriedigenden Lehrgang
über Kontrapunktik begonnen hatte, zu verlassen und bei Arnold Schönberg
zu studieren. D er damals unbekannte Schönberg - es war noch vor der Auf­
führung der >Gurre-Lieder<' — war eben von W ien nach Berlin übergesiedelt
und wohnte in Zehlendorf, wo Edward ihn aufsuchte.
Edward kam von seinem Besuch bei Schönberg stark beeindruckt zurück.
D ie Beziehung zwischen M eister und Schüler verwandelte sich bald in eine
lebenslange Freundschaft. Edward wurde einer der ersten Schönberg-Inter-
preten und Vorkämpfer der modernen Musik.
Bald brachte die Post jeden M orgen ein Kuvert m it einem Blatt Notenpa­
pier, auf dem die am heftigsten umstrittene M usik des Jahrhunderts niederge ­
schrieben war. Als wäre es ihm etwas ganz Vertrautes, setzte sich Edward ans
Klavier und spielte Schönbergs Vertonung von französischen G edichten mit
dem Titel >Pierrot lunaire<, die der D ichter H artleben ins Deutsche übersetzt
hatte. Nachdem er sie gespielt hatte, fuhr Edward zu einer reichen älteren
Dam e, Frau Albertine Zehrne, die um der Langeweile ihrer bürgerlichen Exi­
stenz zu entkom m en, beschlossen hatte, sich in eine künstlerische Karriere zu
stürzen. Im Pierrotkostüm reiste sie durch Deutschland und rezitierte die ver­
träumten, zarten Gedichte, jem and hatte ihr gesagt, daß eine musikalische
Untermalung die W irkung erhöhen würde, und so hatte sie sich mit Schön­
berg in Verbindung gesetzt und ihn beauftragt, die M usik zu dem >Pierrot<-
Zyklus zu schreiben. W eil er dringend Geld brauchte, hatte er eingewiliigi,
.'. jedoch die völlige künstlerische Unterwerfung der Auftraggebern! verlangt.
; Frau Zehnte m ußte nicht nur seine M usik, sondern auch seine Interpretation
der Gedichte akzeptieren und. sich von Edward die komplizierten Rhythmen
■ und die stim m lichen Modulationen des Sprechparts Beibringen lassen. Sie war
nicht sehr musikalisch, und ich erinnere mich gut an .Edwards Verzweiflung.
Aber die Leidensfähigkeit der beiden schien unbegrenzt.«2
Am 28. Jänner .1912 schreibt Schönberg in seinem. Berliner'lagebuch: »Dage­
gen Vorschlag, zu Frau Dr. Zehntes Vortragsabsichten einen Zyklus >Pierrot
lunaire< zu. komponieren. Stellt hohes H onorar (1 0 0 0 Mark) in Aussicht. Habe
Vorwort gelesen, G edichte angescliat.it, bin begeistert. Glänzende Idee, ganz in
meinem Sinn, W ürde das auch ohne H onorar machen wollen.«J
Schönberg notierte einige 'Lage später in seinem Berliner Tagebuch.: »Gestern,
12. März, schrieb ich das erste von. den >Pierrot lunaire<-Melodramen. Ich glau-

1 Die G urrelieder \wu)\\cn 1 9 1 3 in W ie n, der P/erroi lu n a ire wurde am 16. O k t o b e r 1 9 1 2 im C ho ra -


lionsaal in Berlin uraufgeführt.
Arnold Sc hö nb er g hielt sich von Mi tt e D ez e m be r 190 1 bis Juli 1 9 0 3 , von linde Sept emb er 19 1 1 bis
S o m m e r 1 9 1 5 und von A n fa n g 1 9 2 6 bis Mai 1 9 3 3 in Berlin auf.
2 S. Viertel, Das u n b eleh rba re H erz, H a m b u r g , Düsseldorf 1 9 7 0 , S. 10 9.
3 A. Schönberg, Berliner Tagebuch, hrsg. von josef Rufer, Frankfurt: am Main, Berlin, Wien 19/4.. S. 12.
48 Juan A llende-Blin

be es ist sehr gut geworden. Das gibt viele Anregungen, Und ich gehe unbe­
dingt, das spüre ich, einem neuen Ausdruck entgegen. D ie Klänge werden hier
ein geradezu tierisch unm ittelbarer Ausdruck sinnlicher und seelischer Bewe­
gungen. Fast als ob alles direkt übertragen wäre. Ich bin begierig, wie das wei­
tergeht.«4
Salka Viertel beschreibt in ihrem Buch die Atmosphäre der Uraufführung:
»Die Interpretation des >Pierrot lunaire< verlangte bald nach einem Kam m er­
orchester. Zu Edwards Klavier gesellten sich der junge Holländer Elans Kind-
ler m it dem Cello, ein Flötist und ein Klarinettist. Schönberg dirigierte. Da
die Flöte kahlköpfig war, flehte Frau Zehm e Schönberg an, niemand außer ihr
solle vom Publikum gesehen werden. Schönberg entwarf daraufhin ein ausge­
klügeltes System von W andschirmen, welches die M usiker verbarg, Frau Z eh­
me jedoch erlaubte, seinen Taktstock zu sehen.
Das Publikum begrüßte den Pierrot - in riesiger Halskrause unter dem ange­
malten ängstlichen G esicht und kokett dargebotenen B e in e n ..mit unheilvol­
lem M urm eln. Ich bewunderte es, wie Frau Zehm e ihre Nervosität beherrsch­
te und ohne auf das Zischen und Buhrufe zu achten, mutig ein Gedicht: nach
dem anderen vortrug. Es gab natürlich auch fanatischen Beifall der jüngeren
Zuhörer, aber die Mehrheit: des Publikums war em pört. |..,] Fünfzig Jahre spä­
ter schrieb Edward über diesen Abend: >Es ist nicht ungewöhnlich bei künst­
lerischen Ereignissen wie diesem, daß die M enschen, konfrontiert m it dem
Neuen, gar nicht: erkennen, wie tief sie berührt wurden. D ie Kritiker waren
em pört, aber es ist: doch unglaublich, daß nicht ein einziger das Genie Schön­
bergs erkannte.«“’
in der Zeitschrift Der Sturm. (11171 912) erschien ein. Artikel von Alfred D öb-
lin, in dem. er über dieses Ereignis berichtet: »Das Konzert, von Schönberg im
Choraiionsaal letzte W oche ist von einigen, der Mehrzahl der Berliner M usik­
kritiker zu groben Exzessen der W itzlosigkeit benutzt worden. Und man kann
nicht sagen, daß die, die gar nicht schrieben, damit einen besseren W itz gemacht
haben. Die Herren, scheitern, eben an. der kleinsten Aufgabe. Sobald man. sie
zu einem selbständigen Urteil zwingt, versagen sie; was nicht im Trott der K on­
servatoriumsliteratur liegt, die einige von ihnen sicher vorzüglich gelernt ha­
ben, bleibt unverstanden. Subalterne Intelligenzen; mit der alleinigen Fähig­
keit zur Pensionsberechtigung, j ... j Theoretisch ist diese M usik unangreifbar.
Bleibt Schönberg. Ich habe ihn zum erstenmal gehört. Hördauer vierzig M inu ­
ten, zu wundervollen Texten des Albert Giraud. Sie fesselt ungemein, diese
Musik; es sind Klänge, Bewegungen drin, wie ich sie noch nicht: gehört habe;
bei manchen. Liedern hatte ich den Eindruck, daß sie nur so kom poniert wer­
den können.«
Und in derselben Num m er dieser Zeitschrift: kom m entiert Edgar Byk einen
Vortrag von Schönberg: »Selten hat jemand über das Wesen der G enialität T ie ­

4 Eb en da , S. 3 4 .
5 S. Viertel, a . a . O . , S. J 1 0 / 1 1 1 .
(j b e r S p rech ges a n g 49

feres geäußert, niemand die G enialität Gustav Mahlers stärker geäußert und
daher auch Besseres darüber gesagt, als der Kom ponist Arnold Schönberg in
seinem Vortrag über Gustav Mahler, gehalten am Sonntag, den 18. O ktober
1912 zu Berlin.«

1897 wurde im M ünchner Opernhaus ein kurioses W erk, die Königskinder —


ein Klärchen in drei Akten von Ernst Rosrner, Musik von Engelbert Humperdinck
uraufgeführt. Dieses Bühnenwerk enthält viele M elodram en, aber auch gesun­
gene Arien. Zur Erläuterung steht in der Orchesterpartitur folgender Text:
»Die in den melodramatischen Sätzen angewandten >Sprechnoten< ( i ) sind
dazu bestim mt, Rhytm us [sic] und Tonfall der gesteigerten Rede (M elodie des
Sprachverses) m it der begleitenden M usik in Einklang zu setzen. Für die vor­
kommenden Liedsätze gelten die üblichen M usiknoten ( J ) , «
50 Juan A üende-Blin

I. T e il.

i Mondestrunken. .Ärnokl Siihftnbßm. Op. 2L

~""Si

Uu
!.[/

Schönberg muß diese Partitur gekannt haben, denn er übernim m t m it einer


kleinen Abweichung die Graphie Humperdincks.
*

O hne Kenntnis dieser Erfindungen schuf Lothar Schreyer sein »Klang­


sprechen« für die Konzeption und Inszenierung eigener und fremder Büh­
nenwerke. D ie ersten Versuche einer Notation des »Klangsprechens« stammen
Ü b er Sprechgesang 51

aus dem fahre 1916. Schreyer führte von 1918 bis 1923 folgende Werke au f
in denen er diese le c h n ik benutzte: Sancta Susanna, Die Haidebraut und Kräf­
te von August Stram m ; Der Tod des Ernpedokles (II. Fassung) von Hölderlin;
Sünde von Herwarth Waiden; ein Krippenspiel nach einem Text von 1589 und
Kindsterben, Mann, Kreuzigung und Mondspiel mich eigenen Texten, die im
Sturm erschienen waren.
»Das >Klangsprechen<« —schreibt Lothar Schreyer —»unterscheidet sich vorn
Ton der Umgangssprache und vom 'Fon des gesungenen W ortes. D ie M ittel-
läge des Tons entspricht jeweils dem G rundton des Schauspielers, der die W ort­
tongestalt ausführt. In dieser M ittellage bildet der Schauspieler jeweils die ihm
entsprechenden Tonhöhen: hoch, sehr hoch, tief, sehr tief. Dazu kom m t noch
ein >stirnmloser< 'Fon, in dem gleichsam der Klang ausgelöscht ist, ein Nichts,
aus dem aber auch der Klang sich erhebt. D er Klang kann die verschiedenen
Tonstärken sehr leise, leise, mittelstark, stark, sehr stark haben und ist hierin
der musikalischen Form am nächsten als pp, p, mf, f, ff. Musikalisch ist das
Klangsprechen dem Rezitativ verwandt, wenn dieses ebenfalls auf dem G rund­
ton beruht. D ie gegebene W orttongestalt bindet den Schauspieler in ähnlicher
Weise wie den ausübenden Musiker.«6
Alle Begriffe der Bühnenkunst wurden von Schreycr neu definiert und neu
geformt. Das reine Elem ent (Farbe, Form, 'Ion , Bewegung) erstand mit einem
neuen Sinn. D er Begriff der Reihe hat bei Schreyer im |ahre 191 5 eine weiter
reichende, Vieles umfassende Bedeutung als er jemals bei Schönberg gehabt
hat.
Die Bühne wird nun kaum noch als Guckkasten benutzt. Der Mensch ver ­
schwindet unter einer überlebensgroßen Ganzmaske. Das Bühnenbild, die
Beleuchtung und die Masken sind eine Einheit geworden, denn das B ühnen­
bild ist die Ganzmaske, und die Masken mit der Beleuchtung bilden die Färb-
formgestalt. D ie Stim m en der Figuren werden ähnlich der Farbformbewegung
behandelt. Sie sind genau vorn D ichter fixiert: der Rhythm us, die 1
die Lautstärke. Lothar Schreyer notierte so die vollständigen Bühriei
ge in Paititurforrn, die er Spielgang nannte.
Im Spielgang zum Bühnenwerk Kreuzigung legt er die Grundbegriffe seiner
N otation dar.
*

Wenn wir den Begriff ».Melodram«, den Schönberg selbst benutzt, historisch
verfolgen, so werden wir bei Georg Bencla ( 1 7 2 2 - 1 7 9 5 ) wahrscheinlich die
ersten Beispiele finden, seine Ariadne auf 'Naxos und seine Medea. Jean-Jacques
Rousseau definierte in seinem Dictionna.ire de Musique ( 1764) einige. Begriffe,
welche Sprechen und Singen betreffen. So zum Beispiel »Accent«. Darüber
schreibt er: »On appeile ainsi, selon Pacception la plus generale, toute modifi-

6 1,. Schreyer, Expressionistisches Theater, H a m b u r g 1.948, S. i 9 4 .


52 Jüan A llende-Blin

cation de la voix parlante, dans la duree ou dans le ton des syllabes & des mots
dont le discours est cornpose; ce qui montre un rapport tres exact entre les deux
usages des accens & les deux parties de la melodie, savoir le rhythme & l’into-
nation. Accent,us, dit le Gram m airien Sergius dans D onat, quasi ad, cantus. II y
a autant d 'accens differents qu’il y a de rnanieres de modifler ainsi la v o ix ; & il
y a autant de genres d’accens quil y a de causes generales de ces modifications.«
Über den B egriff »Recitatif« heißt es bei Rousseau: »Discours recke d’un ton
musical & harmonieux. C ’est une maniere de chant qui approche beaucoup
de la parole, une declamation en M usique, dans laquelle le M usicien doit im i-
ter, autant q u il est possible, les inflexions de voix du Declamateur.«
D ie M elodram en des X V III. Jahrhunderts sind meistens für die Bühne
bestim m t und werden von einem Orchester begleitet.
Franz Schubert in seinem M elodram Abschied von der Erde (1 8 2 5 ) scheint
der erste zu sein, der den Rhythm us der Verse in Koordination m it der Kla­
vierbegleitung genau vorschreibt:

Jrflll.l fri.-'.lt-'vi
Mfdju.6 oon öu h )
( h v i
J f 1) ' 1 ji
n <M 1!' ) M (,1S liÜ
i'P —
) l 1 * lU < r - -nij.li' ,r i i i i i i i i i i l l l i i i i i i l llillliif lS l

J1 J>Ji j. Ji Jl I J> ,/>l 1


Hd/im
Tjiiljctflicljtv
> J* ävil!!!;»
J 1 ;
, 7i«< ]ll
'
...... ’d 'U & U M »

//,' i i 1 1” ' 1 1 M U li " i ‘ ’ '1 iw i 1 '

i 1 K ' 1 U i1 ■
i • ■'.....•v'/j'uff l i i i l l i l i i l

D ie Melodramen von Schum ann und Liszt für eine Rezitationsstimm e und
Klavier enthalten keine näheren Angaben für den Vortrag der Gedichte. Auch
Beethoven und W eber in deren O pern Fidelio und Freischütz schreiben nicht
den Rhythm us des Textes vor, geschweige denn die lonhöhen.
U b er Sprechgesang 53

Claude Debussy hinterließ auch M elodram en, die Musique de scenepour les
Chansons de Bilitis für Rezitantin, 2 Flöten, 2 H arfen und Celesta nach Prosa­
texten von Pierre Louys. Sie wurden als »tableaux vivants« 1901 in Paris urauf-
gefuhrt —also mit vergleichbaren theatralischen Effekten, wie sie auch bei der
Uraufführung des Pierrot lunaire durch Albertine Zehme und Arnold Schön-
berg angewandt wurden, Debussy führt auch in Le Martyre de Saint-Sebastien
und in La Chute de la Maison Usher melodramatische Partien ein.
Arnold Schönberg und Lothar Schreyer schufen eine Rezitationskunst zwi­
schen Sprechen und Singen, die sie m it einer subtilen Präzision notierten. Von
der M usik her kam die Tradition der M elodramen, vom Schauspiel her kam
die Tradition der Rezitation. Beide Vortragsarten haben sicherlich den gleichen
Ursprung. Sprechgesang und Klangsprechen: bei Schönberg, der eine Sprech­
melodie anstrebte, der M usik näher — bei Schreyer, der D ichter und D ram a­
turg war und der eine nach musikalischen Gesichtspunkten durchorganisier­
te Sprache anstrebte, dem Sprechen näher.
*

Aber es gab noch eine dritte Art des Sprechgesangs. Emil Frantisek Burian
erfand sie M itte der Zwanziger Jahre. Er war Kom ponist, Pianist, Dirigent,
Sänger, Schauspieler, Theaterregisseur und politisch engagierter Schriftsteller.
Geboren wurde er 1904 in eine berühmte Prager Künstlerfamilie: der Vater
war der Bariton Em il Burian, seine M utter war eine Sopranistin, die auch als
Pädagogin hoch geschätzt war; sein Onkel Karel Burian war ein Heldentenor
von internationalem Format, der an der M etropolitan Opera in. New York auf­
trat (wo er 1913 den Tristan unter Arturo Toscanini sang), ebenso wie an den
Opernhäusern in Prag, Budapest, Dresden, Bayreuth (wo i i I i ' n\ / /
oder W ien. Karel. Burian besaß außerdem, eine enorme
genoß einen guten Ruf als Übersetzer sowohl aus dem .
chi.sc.he als auch umgekehrt. Dam itwar sicherlich eine wo
mationskunst verbunden, wie immer wieder hervorgehol
sen Einflüssen wuchs Em il Frantisek. Burian auf.
M itte der Zwanziger Jahre erfand Burian die »voice-band«. So nannte er in
Anlehnung an »Jazz-band.« einen chorischen Sprechgesang m it dissonanten
und. manchmal sogar ultrachromatischen Intervallen; auch Geräusche, welche
die Stim m e erzeugen kann, wurden, in diese Werke integriert. Dieser Sprech­
gesang hatte seinen. Ursprung in der Deklam ationskunst, so wie er sie von sei­
nem O nkel Karel Burian kannte, und in der Stirnm technik, die er von seiner
M utter erlernt hatte. Darüber hinaus benutzte Burian die neuen, phonologi-
schen Erkenntnisse des Linguisten Roman Jakobson, der zu der Zeit in Prag
lebte, sowie ebenfalls die Erfahrungen der futuristischen und dadaistischen
Rezitationskunst,
1927 kom ponierte Burian ein Jazz-Requiem iüt »voice-band«, Sopran, Baß,
Klavier, Harm onium , Saxophon und Schlagzeug. Dieses und viele andere Wer­
ke von Burian zerstörten die Nazis, welche die Tschechoslowakei besetzt hat­
54 Juan AUende-Blin

ten, im Jahre 1941 vor den Augen des Kom ponisten. Danach internierten sie
ihn im Konzentrationslager Neuengamme. D ort blieb er bis 1 945. Außer der
enormen körperlichen Arbeit, die er im K Z verrichten mußte, zwangen ihn
seine Bewacher einmal, eine kleine Musikkapelle zu dirigieren, während, ein
Kamerad unter den Blicken der Lagerinsassen aufgehängt wurde. Burian über­
lebte die grausamen Dem ütigungen und Folterungen des Konzentrationsla­
gers und den anschließenden Mordversuch durch die SS-Leute, als sie die Ü ber­
lebenden in fahruntüchtige Schiffe verluden, die dann bombardiert wurden.
Für immer durch diese Erfahrung geprägt, versuchte Burian seine früheren
vielfältigen Aktivitäten wieder aufzunehmen. Seine schöpferische Energie ver­
ließ ihn nicht, er leitete sein Theater, kom ponierte, gab noch. Konzerte; aber
er war nicht mehr der fröhliche, lachende junge M ann. D ie zahlreichen E n t­
täuschungen und physischen Q ualen hatten ihn gezeichnet. 1959 starb er in
Prag im Alter von 55 Jahren.
Von seiner »voice-band« blieb nur eine Aufnahme eines kurzen Stückes Nas
taticek.
Aber in einem Aufsatz des Jahres 1928 beschreibt Burian seine »voice-band«:
»M it der Voice-band haben wir uns ein neues Fach der musikalischen For­
schung geschaffen. Das Vibrieren der Stim m lippen, der natürlichen B eto ­
nungen der Sprache, die Bewegungen der Sätze, der Rhythmus der Form haben
unsere normale Tonalität um ein tonales Absolutum erweitert, das vom Ganz­
ton bis zum Sechzehntelton reicht und wie alles, was eben erst geboren wur­
de, seiner gesetzlichen Bestim m ung harrt. Vorläufig ist die Voice-band, trotz
einer beträchtlich gereiften Entwicklung, bloß ein Spiel der Klänge und. des
freien W illens des Autors.
Die N otenschrift der Voice-band m ußte sofort kommen, als mir klar wur­
de, daß die Mitglieder, die der kleinsten. Vibration meinet Hand gehorchen,
m it m it einen formeilen Standard bildeten, der bis in die Kleinigkeiten fest­
gelegt war, sobald wir uns über seine Definitivität einig waten, ich war übet
die Fähigkeiten des menschlichen. Gehörs überrascht..und ich betone: nicht
eines trainierten menschlichen G e h ö rs.., als es mir gelang, meine Mitglieder
ohne Tonangabe (wenn ich diesen Ausdruck in Zusamm enhang m it der Voi-
ce-band gebrauchen darf) durch eine Stimmgabel oder ein anderes Instrument,
ja sogar ohne besonderes Übereinkom m en eine Komposition immer in der
gleichen Tonhöhe und im gleichen Umfang ausführen zu lassen, wie ich es bei
den Proben bestim m t hatte. Dies ging sogar noch weiter. Im G edicht DieZwölf
von [AleksandrJ Blok ist es mir gelungen, mit ihnen eine ungefähr 20 Takte
lange Sequenz in großen Septimen durchzuhalten, die sie nicht bloß im m er in
der gleichen absoluten 'lon höh e, sondern auch m it der G enauigkeit eines
Instrumentes durchführten.«7

7 H. l'T, Burian, »Voiceband - nova ronalita«, in: lem p o 7, 1 9 2 8 auch au! deutsch: »Voice-band«,
in: D e r A ufta k t 1 9 2 8 , Heft 5 / 6 , S. H 3 / 1 14.
Ü b er Sprecbgesang 55

Um über den Sprechgesang und seinen Ursprung berichten zu können, ist es


ratsam, über die Sprache nachzudenken. Besonders im X V III. und im frühen
X IX . Jahrhundert haben Philosophen wie Johann G ottfried Herder und W il­
helm von H um boldt über den Ursprung der Sprache Wesentliches publiziert.
1 772 erschien die Abhandlung über den Ursprung der Sprache von Herder.
D arin sind erstaunliche Erkenntnisse enthalten. D ie Schrift beginnt so: »Schon
als 'Fier hat der M ensch Sprache. Alle heftigen, und die heftigsten unter den
heftigen, die schmerzhaften Empfindungen seines Körpers, alle starken Lei­
denschaften seiner Seele äußern sich unm ittelbar in Geschrei, in T ön e, in wil­
de, unartikulierte Laute. Ein leidendes T ier sowohl als der Held Philoktet,
wenn der Schmerz anfället, wird wimmern! wird ächzen! und wäre es gleich
verlassen, auf einer wüsten Insel, ohne Anblick, Spur und H offnung eines hülf-
reichen Nebengeschöpfes. Es ist, als ob’s freier atmete, indem es dem. bren­
nenden, geängstigten H auche Luft gibt; es ist, als ob’s einen Teil seines Schm er­
zes verseufzte und aus dem leeren Luftraum wenigstens neue Kräfte zum
Verschmerzen in sich zöge, indem es die tauben W inde mit Ächzen füllet.«8
Die Ausdrucksweise Herders erinnert uns an die Schönbergs, wenn er über
das erste M elodram des Pierrot lunaire in seinem '.lagebuch schreibt: »Die Klän­
ge werden hier ein geradezu tierisch unm ittelbarer Ausdruck sinnlicher und
seelischer Bewegungen.«<}
Und Herder fährt m it seinen Gedanken weiter fort: »Unsre künstliche Spra­
che mag die Sprache der Natur so verdränget, unsre bürgerliche Lebensart und
gesellschaftliche Artigkeit mag die Flut und das M eer der Leidenschaften so
gedämmet, ausgetrocknet und. abgeleitet haben, als man will: der heftigste
Augenblick der Empfindung, wo und wie selten er sich finde, ni mmt noch
immer sein Recht wieder und tönt in seiner mütterlichen Sprache unm ittel­
bar durch .Akzente.«10
Und etwas später zieht er aus diesen Erwägungen fo
lieh ist diese Sprache der Natur eine Völkcrsprache füs p D u >.
und so hat auch der M ensch die seinige.«11
Herder sinniert weiter: »Die Tradition des Altertums sagt, die erste Sprache
des menschlichen Geschlechts sei Gesang gewesen, und. viele gute musikali­
sche Leute haben gegleubt, die .Menschen könnten diesen Gesang wohl den
Vögeln abgelernt haben. |.,.| Aber den. neugeschaffnen M enschen m it seinen
würksamen Triebfedern, m it seiner fast blind, beschäftigten Aufmerksamkeit
und endlich m it seiner rohen Kehle dahinsetzen, um die Nachtigall nachzuäf­
fen und sich von ihr eine Sprache zu ersingen, ist, in wie vielen G eschichten
der M usik und Poesie es auch stehe, für mich unbegreiflich. |... J So wenig wird
der M ensch sich dadurch je Sprache erfinden wollen, daß er der Nachtigall

8 H erders Philosophie Ausoewählte D en k m ä ler aus d er W erdezeit d er ih n en deutschen B ild u n g Leip­


zig 1 9 0 6 , S. 1.
9 A. Sch önb er g, a . a . O . , S. 3 4 .
10 Herders Philosophie, S\ 2.
11 Eb en da , S. 3.
56 Juan A llende-Blin

nachtrillert —und was ists doch für ein Ungeheuer, eine menschliche N ach ti­
gall in einer H öhle oder im Walde der Jagd?«12
Ähnliche Gedanken finden wir in dem Ira k ta t Von der Musikalischen Poesie
von Krause, der 1753 in Berlin bei Johann Friedrich Voß erschien. Laut M ar-
purg handelt es sich um den Kom ponisten Christian G ottfried Krause ( 1 7 1 9 -
1 770). Dieses Buch beginnt m it einem Kapitel »Von der ehemaligen und jet­
zigen Verbindung der Poesie m it der Tonkunst«, in dem folgendes zu lesen ist:
»Dasjenige, was wir jetzo M usik nennen, nemlich die Verfertigung und A u f­
führung musikalischer Stücke; die ganze Poesie; die Tanzkunst; die Kunst der
Geberden; die, nach welcher man die Aussprache einer Rede in N oten auf­
schrieb, und ihr solchergestalt den angenehmsten und nachdrücklichsten
W ohlklang gab, weswegen diese D eclam ation auch ein Gesang genannt wur­
de; alles dis begriffen die Alten unter den Nahmen der M usik.«13
D ann untersucht Krause die Tragödie und die Poesie der Griechen. »Nach
Erfindung der Buchstaben, hatte man zwar des Singens bey den G edichten
nicht mehr so nöthig als vorhin. W eil aber doch die ganze Poesie von dem Sin­
gen herkam, und man auch in den geredeten Versen so viel W ohlklang ver­
langte, als nur möglich war, so wurden in den öffentlichen Spielen und sonst,
die G edichte so wohlklingend als seyn konnte, hergesagt, oder vielmehr, so wie
ich oben erwehnet, nach gewissen M elodien abgesungen, die einem Gesänge
nach unsern Begriffen mehr oder weniger beykamen, nachdem die Poesie
lyrisch oder in einer ändern Schreibart abgefasset war. Was also die von T h es-
pis und Aeschilus zwischen den Chören gestellten Personen vortrugen, das
sprachen sie auch, weil es in Versen war, mit einem W ohlklangc aus, der einem
Gesänge sehr ähnlich war. D ieß ist tun so viel wahrscheinlicher, da selbst nach
Einführung der hohen Schreibart, und bey der höchr.....w" m........im enheit des
'Irauerspiels, alles mit einem wenigstens halben Gesa ret wurde.«1'1
W ir pflegen solche alten Traktate zu belächeln, w blich zu w is­
senschaftlicheren Erkenntnissen gelangt: sind, die sich, leider später als falsch
erweisen, Aber die scheinbar naiven Texte aus früheren. Jahrhunderten bergen
vergessene Überlieferungen, die, wenn man sie vorurteilsfrei liest, erstaunliche
Wahrheiten enthal ten. So hier bei Krause, wenn er von einer Vortragsart berich­
tet, die »mit einem wenigstens halben. Gesänge declamiret wurde.« Sind wir da
nicht in der Nähe des »Sprechgesangs« und. des »Klangsprechens«?
Es ist spannend, was Krause uns noch m itteilt: »Diese D eclam ation hatte
einen ordentlichen 'lackt, den einer bald geschwind, bald langsam schlug, wie
es die vorkommenden Sachen und Affecte verlangten; ein anderer bließ auf
einer Flöte dazu, um den Acteur im Tone zu halten; noch ein anderer unter­
stützte diesen Gesang mit einem gelinden Baßinstrum ent, und die ganze D ecla­
m ation war in einer Art von N oten vorgeschrieben. Aristoteles wirft den Schau-

12 Eb end a, S. 14 und 15.


13 Krause, Von d er M usikalischen Poesie, Berlin 1 7 5 3 , S. 4.
14 Eb end a, S. 8.
Ü b er Sprechgesang 57

S p ie l e r n seiner Zeit vor, daß sie zuweilen am U nrechten O rte getrillert hätten;
welches sich in einer bloßen Rede nicht wohl thun läßt. Und eben dieser Kunst­
lichter sagt, daß die Noten zu den M onologen, nicht vom Poeten, sondern von
einem eigentlichen Tonkünstler gesetzet worden. In diesen Stellen eines thea­
tralischen Stückes kom m t die Sprache den Affecten vor, wobey die M usik sich
am stärksten zeigen kann.«1'’
*

D er »Sprechgesang« und das »Klangsprechen« haben wahrscheinlich ihren


Ursprung in der Rezitation, sakraler Texte; die Juden durften nur in gehobener
D eklam ation, singend die Thora vortragen. A. Z. Idelsohn beschreibt in sei­
nem Buch Jewish Music]h den Rezitationston der Juden beim Bibelvortrag so:
»is a cantillation, a chanting o f the text, a recitation in which music plays a
great part.« In der christlichen Tradition wird auf ähnliche Weise kantilliert,
sei es solistisch bei den Lektionen und Versikeln, sei es chorisch bei den Psal­
men.
In der griechischen Tragödie muß aber eine Technik des Vortrags zwischen
Sprechen und Singen bestanden haben. Nur einen scheinbaren Gegensatz bil­
det dazu die Tradition des Sprechgesangs im Cabaret;. Jedesmal als es wichtig
erschien, einen Text deutlich zu artikulieren, um ihn einer M enge verständlich
zu machen, kam man zu einer Vortragsart zwischen Sprechen und Singen . Auch
die M arktschreier und die Ausrui:ei‘ von Nachrichten bedienten sich einer ähn­
lichen Technik. Ganz sicher ist, daß vorerst eine mündliche Iradition bestand,
die sehr viel später mit M ühe schriftlich fixiert wurde.
Paul Zum thor beschreibt in seinem Buch La lettre et la voix (Paris 1987) die
Geschichte der mündlichen Überlieferung, die man auf ’ ’ ■'
ziser m it dem Begriff »oralite« bezeichnen, kann. Arnoli
Schreyer und Em il Frantisek Bunan bezeugen die Schw
tile Rezitationsart genau zu notieren, jeder von ihnen ver
tation, und Bunan verweist uns an die Graphie der Neumen, um diese Dekla­
mation zu fixieren.1'" Erika W agner-Stiedry Kurt Schwitters, Raoul Hausmann,
O tto Nebel, Henri Chopin zeigen uns rnit ihren Aufnahmen, daß sich diese
Klangwelt einer genauen Aufzeichnung verweigert. Ls ist schwielig genug, rei­
ne M usik so zu notieren, daß sie eindeutig ist. Betritt man aber das nuancen­
reichere G ebiet zwischen Sprechen und Singen, so potenziert sich, dieses
Problem. Und. hier berühren wir die Choreographie, die sich ebenfalls einer
präzisen, umfangreichen schriftlichen Darstellung der Bewegung entzieht.
D er menschliche Körper ist so komplex, daß es mit unseren heutigen M itteln

15 Ebe nda , S. 8 und 9.


16 A. Z. Idelsohn, Jciuish M.usic> Ne w York 1 9 2 9 , S. 3 5 .
17 E. Fr. Bur.ian schreibt in seinem .Aufsatz » V o i c c - b a n d ..eine neue ’l onalirär«: »Die Z u s a m m e n ­
stellung jener Zei ch en, die sich aus der N otwen digkeit einer N o ta ti on entwickelten, ergeben aber ein
überraschendes .Resultat: N eu m en « . {M usik-K onzepte 3 2 / 3 3 , S. 1 6 8 / 1 6 9 ) .
58 Juan Allende-Blin

kaum möglich, ist, Bewegungsabläufe, die eine künstlerisch dichte Aussage


anstreben, auf dem Papier in allen Details festzulialten. So auch wenn man die
ausdrucksstarken Inflexionen einer Stim m e beschreiben und aufzeichnen
will.
Unsere Schrift bem üht sich, die Klänge unserer Sprache widerzuspiegeln.
Auch die Interpunktion spielt eine wichtige Punktion in der W iedergabe des
Diskurses. D ie Vokale einer Sprache bestimmen ihre Tonqualität: ihre Ton­
dauer (kurze und lange Vokale), ihre Klangfarbe (dunkle, helle Vokale). Ein
Punkt wird uns die Stim m e sinken lassen, ein Fragezeichen wird uns die Stim ­
me zur H öhe treiben.
*

Arnold Schönberg kam auf Einladung von Ernst von Wolzogen M itte D e­
zember 1901 nach Berlin, um als Kapellmeister an dessen » Buntem Theater«,
das man eher unter dem Namen »Überbrettl« kennt, zu wirken. In Berlin blieb
Schönberg bis fuli 1903. Im Herbst 1911 erschien ein Aufruf in der Z eit­
schrift Pan, unterschrieben von Ferruccio Busoni, Alfred Kerr, Artur Schna­
bel, Oskar Fried und Edward Clark, der zur Teilnahm e an Kursen Schönbergs
über Ästhetik und Komposition im Sternschen Konservatorium aufforderte.
So kam Arnold Schönberg ein zweites M al nach Berlin, wo er bis zum Som ­
mer 1915 blieb. In dieser Zeit war er also Dozent am Sternschen Konserva­
torium, und dort entstand auf Anregung von Albertine Zehme der Pierrot
lunaire.
Die Klavierstücke op. 19, die Schönberg 1911 kom poniert hatte, waren am
4. Februar 1 91 2 in einer Matinee, nur mit Schönbergs Werken im H arm o­
nium-Saal (Steglitzer Straße 35) von. dem ßusoiii-Schüler .Louis Closson. tirauf ■
gefühlt worden. Weniger bekannt, aber aufregenc ich eine Aufführung,
die ein paar M onate später stattfand. Am 3. A selben Jahres spielte
Eduard Steuermann diese sechs Stücke im 9. Aben. «pathetischen Caba-
rets zwischen Rezitationen von unveröffentlichten Gedichten und Briefen H ö l­
derlins, einer Gedenkrede von G olo Gangs auf Georg H.eyrn, der am 16. Ja­
nuar im Wannsee ertrunken war, und. der Rezitation einiger von dessen
Gedichten sowie auch anderer von Jakob van Hocldis. Außerdem wurden Tex­
te von M artin Buber (Glei.ch.nis des Tschung-Tse), Stanislaw Przybyszewski,
Ferdinand Hardekopf und M ynona vorgetragen. Selten begegneten sich in so
konzentrierter Weise eng verwandte zeitgenössische Sensibilitäten der Poesie
und der M usik in einer Konstellation, die wahrscheinlich damals nicht in ihrer
Bedeutung gewürdigt wurde.
Herwarth Waiden eröffnete im M ärz 1912 die erste Ausstellung des Sturm
in den Räumen, an der Tiergartenstraße 3 4 a ; dort wurden Bilder von den
M alern des »Blauen Reiters«, von Franz Flaum und von Oskar Kokoschka
gezeigt. Im April wurden Werke der italienischen Futuristen ausgestellt.
Ü b er Sprechgesang 59

Schönberg muß viel mehr von Berlin wahrgenommen haben, als wir bis jetzt
vermuten. Aber seine präzise Denkweise absorbierte nicht kritiklos die Ein­
flüsse seiner Umwelt, sondern verwandelte sie in seiner tief verwurzelten Per­
sönlichkeit zu seinem unverwechselbaren Eigentum.
*

Betrachten wir einige Dichter, die zur selben Zeit in Berlin wirkten und sich
bem ühten, ihren Werken eine präzise Klanggestaltung zu verleihen. Es sind
außer Lothar Schreyer R ud olf Blüm ner und Raoul Hausmann.
Eine wichtige Persönlichkeit, die heute fast vergessen ist, aber zu Beginn des
X X . fahrhunderts in Berlin eine große Bedeutung hatte, war Rudolf: Blümner.
Er war der bedeutendste Rezitator der expressionistischen D ichtung. W ie so
viele Berliner war er nicht dort, sondern in Breslau geboren, im Jahre 1873.
Er, der Sohn eines berühmten Altertumsforschers, war Schauspieler, D ram a­
turg, Regisseur und Dichter. 1906 schrieb er einen grundlegenden Aufsatz mit
dem 'Eitel »Tonfall, Musik und Sprache«, der in Berlin erschien. Liier unter­
sucht er, wie man eine »Rede melodisieren« sollte. Es handelt sich um die detail­
lierteste Untersuchung des Klanges beim Sprechen.
Blüm ner stellt in diesem Aufsatz folgenden Grundgedanken auf: »Die fei­
nen psychologischen Nuancen des Sprachtonfalles kann die Gesangsmelodie
nicht wiedergeben, die rein ästhetischen W irkungen der Gesangsmelodie aber
kann der Sprachtonfall nicht erreichen.«18
Und er beobachtet sehr genau die Inflexionen des Sprechens: »Daß die Rede
eines M enschen in. T ö n en auf- und. absteigt, in Zehntelstönen oft, oft in ein
bis zwei Oktaven, daß das schlichteste, sogar einsilbige Won: oft in einer Ion-
folge zum Ausdruck gelangt, die bei. genauer Betrachtung das Staunen des .Spre­
chenden erregen würde, führt sich kaum einer zürn Bewußtsein. Und doch ist
wiederum niemand ohne Gefühl fth li Spi hm lotlie.«1'1
ln einem .Artikel über den Schau.' iz schreibt er 1.909: »Aber
der Schauspieler, dessen Aufgabe es ist, aus cier dprech-Vertonung ein Kunst­
werk zu bilden, weiß oder sollte wissen, daß auch er die reichste .Auswahl hat.
(Also nicht seinem üblichen Kollegen, dem Sänger, sondern dem Kom poni­
sten zu vergleichen ist.)«20
Im selben Aufsatz heißt es noch präziser: »Und. die M elodie des Sprechens
schließt jede I larm onie aus wegen eines M ankos, das gesteigert wird durch
einen, ihr eigenen Reichtum an Tonfeinheiten, die weit hinaus über H albie­
rungen bis zur unendlichen ’J bnverteilung reichen, und eine unbegrenzte H äu­
fung und. Spaltung auf einer einzigen Silbe gestatten.«21

18 l)r. Rudolf'Blümn.cr, »IbnlalK Musik und Sprache«, in: Preußische Jahrbücher, 1 2 3 . Band , Heil
2 , Berlin 1 9 0 6 , S. 2 7 5 .
19 Eb end a, S. 2 7 6 / 2 7 7 .
20 D as Theater, Jg. 1, Son derheit Kainz, Sehriftleitung: Her wa rth Wai den , Berlin, O k t o b e r 1 9 0 9 ,
S. 2 0 .
21 Ebenda, S, 2 1 .
60 Juan Allcnde-Blin

Kur t Schwitters, der Autor der Sonate in Urlauten, hat bei R ud olf Blüm ner
Sprechunterricht genommen. Blüm ner war Freund von August Stram m , von
Lothar Schreyer, von Herwarth Waiden, Oskar Kokoschka und so vielen ande­
ren Künstlern seiner Generation.
Sowohl die Sonate in Urlauten von Schwitters wie Ango laina — absolute
D ichtung von Rudolf Blüm ner - verlangen nach einer Musikalisierung der
Sprache. D ie Rezitationsweise, wie sie uns von den Aufnahmen durch Schw it­
ters dokum entiert ist, zeigt, daß sie in der Nähe eines Sprechgesangs angesie­
delt war. Ähnlich geschieht es m it der zaum’-D ichtung der russischen Poeten
wie Velimir Chlebnikov, Aleksej Krucenych und Aleksandr Tufanov.
R ud olf Blümner, der m it einer Jüdin verheiratet war, überlebte in Berlin das
III. Reich, aber er verhungerte 1945.

Ein anderer Dichter, der auch M aler war, und der damals in Berlin m it Pau­
ken und Trompeten agitierte, war Raoul Hausmann. Er schrieb und rezitierte
phonetische G edichte wie das berühm te fmsbivt aus dem Jahre 1918, das 1921
zur IJrzelle der Sonate in Urlauten von Kurt Schwitters werden sollte. D ie Auf­
nahmen von Hausmann lassen uns eine Skala von Klangelementen erkennen,
welche auch Geräusche einbeziehen.
*

Das Umfeld vom Sprechgesang ist vielfältig. Die Partituren von Lothar Schrey­
er sowie natürlich der Pierrot lunaire von Arnold Schönberg bleiben Werke,
die so notiert wurden, daß wir sie heute mit der angemessenen 'Freue, die wir
jeder anderen überlieferten Partitur schuldig sind, atiftühren können.
Zum Schluß m öchte ich Arnold Schönberg zitieren, der seine Einstellung
zum Komponieren sehr deutlich ausgcdrückt hat: »Ich habe in meinem Leben
nie eine Theorie gehabt. Ich habe einen musikalischen Gedanken für eine K om ­
position, ich versuche daraus eine bestimmte logische und schöne Vorstellung
zu entwickeln und sie in eine Art M usik zu fassen, die natürlich und zwingend
aus mir fließt.
Ich schreibe, was ich in meinem Fletzen fü h le .. und was schließlich aufs
Papier kom m t, ist zuvor durch jede Fiber meines Körpers gegangen.«
Und Schönberg präzisiert diesen Gedanken: »Es ist nicht das Herz allein, das
alles das hervorbringt, was schön, gefühlvoll, pathetisch, leidenschaftlich und
bezaubernd ist; noch ist es der Verstand allein, der das W ohlkonstruierte, das
Logische und das Komplizierte zu schaffen vermag. Erstens, weil alles, was in
der Kunst höchsten W ert besitzt, sowohl Herz als auch Verstand zeigen muß.
Zweitens, weil der wahrhaft schöpferische Genius bei der Kontrolle seiner
Gefühle durch den Geist keine Schwierigkeiten kennt; und weil der auf G e­
nauigkeit und Logik ausgerichtete Verstand durchaus nicht nur Trockenes und
Unansehnliches hervorbringen muß. Aber man kann gegen die Aufrichtigkeit
solcher Werke argwöhnisch werden, die ihr Herz offenbaren, die an unser M it­
Ü b er Sprechgesang 61

leid appellieren, uns einladen, m it ihnen von unbestim m ter und vager Sch ön ­
heit und von unbegründeten und grundlosen Gefühlen zu träumen; die aus
Mangel an vernünftigen M aßen übertreiben; deren Süße eine künstliche ist,
und deren Reiz nur die O berfläche des O berflächlichen erreicht. Solche Pro­
dukte beweisen nur den absoluten M angel an Verstand und zeigen, daß diese
Sentim entalität nur einem sehr armen Herzen entspringt.«22
Januar 2001

22 Zitiert aus: josef: Rufer, »Scliönberg in seinen Skizzenhüchern und Briefen. Eine D o k u m e n t a ­
tion«, Sendem anusk ript für den N D R 1 9 6 5 .
Friedrich Cerha

Zur Interpretation der Sprechstimme in


Schönbergs Pierrot lunaire

Seit der Uraufführung, bei der Albertine Zehme, die Schönberg zur Kom po­
sition des Pierrot angeregt hat und der das W erk auch gewidmet ist, den Sprech­
gesangspart ausgeführt hat, ist die Diskussion um dessen Interpretation nicht
mehr verstummt. Erlauben Sie mir, für das hier doch auch vertretene, nicht
ausgesprochene Fachpublikum den W ortlaut des Schönbergschen Vorworts zu
Pierrot lunaire in Erinnerung zu bringen:
»Die in der Sprechstimme durch Noten angegebene M elodie ist (bis auf ein­
zelne, besonders bezeichnete Ausnahmen) nicht zum Singen bestim m t. D er
Ausführende hat die Aufgabe, sie unter guter Berücksichtigung der vorge­
zeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie umzu/wandeln. Das geschieht,
indem er
I. den Rhythmus haarscharf so einhält, als ob er sänge, d.h. m it nicht mehr
Freiheit, als er sich bei einer Gesangsmelodie gestatten dürfte;
II. sich des Unterschiedes 'zwischen Gesangston und Sprechton genau bewußt
wird: der Gesangston hält die Tonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton
gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen sofort wieder.
D er Ausführende muß sich aber sehr davor hüten, in eine >singende< Sprech­
weise zu verfallen. Das ist absolut nicht gemeint. Hs wird, zwar keineswegs
ein. realistisch-natürliches Sprechen angestrebt. Im Gegenteil, der Unter­
schied zwischen gewöhnlichem und einem Sprechen, das in. einer musika­
lischen Form m.itwirkt, soll deutlich werden. Aber es darf auch nie an Gesang
erinnern.
im übrigen sei über die Ausführung folgendes gesagt:
Niemals haben die Ausführenden hier die Aufgabe, aus dem Sinn der W or­
te die Stim m ung und den Charakter der einzelnen Stücke zu. gestalten, son­
dern stets lediglich aus der Musik. Soweit dem. Autor die tonmalerische D ar­
stellung der im Text gegebenen Vorgänge und Gefühle wichtig war, findet sie
sich ohnedies in der Musik. Wo der Ausführende sie vermißt, verzich te er dar­
auf, etwas zu geben, was der Autor nicht gewollt hat. Er würde hier nicht geben,
so n de rn n eh rn e n .«
Scheinen diese Anweisungen auch vieles klar zu sagen, so haben sie, vor allem
im Zusammenhang m it Kom m entaren in Briefen, m it praktischen, noch heu­
te nachprüfbaren Erfahrungen und m it zum Teil widersprüchlichen Aus­
führungen aus Schönbergs Freundes- und Schülerkreis Unsicherheit nicht aus­
zuschließen vermocht, und etliches hat eher zur Verwirrung als zur Klärung
der Probleme beigetragen.
Z ur Interpretation der Sprechstim m e in Schönbergs P ierro t lu m m e 63

Das eben erwähnte Q uellenm aterial spielt in der Diskussion um die Aus­
führung des Sprechgesangsparts verständlicherweise eine Rolle und es wird
im m er w ieder zitiert. Da sich aber aus ihm bei genauer Kenntnis sehr Ver­
schiedenes belegen läßt, reicht die Beschäftigung dam it nicht aus, um zu ver­
bindlichen Lösungen zu gelangen. Als ich gezwungen war, solche zu suchen,
weil ich das W erk in einer angemessenen W eise interpretieren w ollte, entschloß
ich mich schließlich, dieses M aterial —Schönbergs Vorwort ausgenomm en —
zunächst einm al ganz beiseite zu lassen. Ich versuchte, zwei Wege einzuschla­
gen, und zwar
1. nach den W urzeln zu suchen, aus denen Schönbergs Vorstellung bei der
Gestaltung des Sprechgesangsparts geschöpft haben könnte, und
2. aus der m usikalischen Anlage des W erks selbst zu Schlüssen für die Inter­
pretation zu gelangen.
Ich suchte zunächst in der Zeit vor der Entstehung des Pierrot nach Stücken,
die gesprochenes W ort und M usik verbinden. Die verfonnelte Rezitativpraxis
der Oper fiel natürlich als A usgangspunkt von vornherein weg. Da gab es aber
das auf eine beachtliche Tradition zurückgehende M elodram . In Schauspiel
und Oper hat sich M elodram atisches im weitesten Sinn im m er w ieder auf dem
Theater ereignet. Als eigene Kunstform, geht das M elodram auf J. ]. Rousseaus
Pygm alion (1762) zurück, der in Frankreich, Spanien, Italien, aber auch bei
deutschen Komponisten der »G eniezeit« eine kurze, heftige M odebewegung
auslöste. Kritische Stim m en (u. a. auch Goethe) m eldeten bald Bedenken gegen
ein Pathos an, das der m usikgehobenen Sprache bei. m elodram atischer Behand­
lung eines 'Textes leicht zufließt.
In .keinem der einschlägigen Werke zeigt sich bei Deklam atic
malerischen, oder rhythm isch prononciert artikulierten. Figuren c ;
nach einer strengeren Verklamtnerurur von '! ext und M usik. Erste. i
einer F ixierung! im n 'm m im>m Im !<n ■i<h <e , m der i i "i i
das M elodram I / i hm mi< i n u< m >In^y ■< i<D ung fine i I
tion von Rhythm en (auf einem schlüssellosen System wie in C .iv i. von vveoers
Prezi.osa-M.usik oder auf einer Linie wie in R. Schum anns dram atischem
G edicht M anfred) bezieht sich jedoch jeweils nur auf einzelne Stellen. Eine die
Ib n h ö h en berücksichtigende Sprechstim rnennotation tritt —in sehr beschei­
denem M a ß ..erst viel später bei E. H um perdinck (Das Wunder) auf; der Lite­
ratur zufolge hat er auch als erster jene N otation für andeutungsweise zu inter­
pretierende Tonhöhen verwendet (ürfassung der K önigskinder), die später in
den Sprechgesangssteilen von. Schönbergs G urreliedem von 1900/1901 zu fin­
den. sind.
Für Gegner des M elodram s (u .a. R. W agner) blieb es eine »Z w ittergat­
tung«, in der H. Riernann zufolge »der Vortragende sich m öglichst der ’iQu­
art, den H arm onien der Begleitung akkom odieren, d .h . des Komponisten
Unterlassungssünden, wenigstens teilweise gutm achen« m uß, wenn ein W id er­
spruch zwischen M usik und Sprechtönen halbwegs verm ieden werden soll
(1909!).
64 Friedrich Oerha

Dessen ungeachtet gew innt das M elodram - vor allem seine Form m it Kla­
vierbegleitung — in der zweiten H älfte des 19. Jahrhunderts zunehm end an
Bedeutung. Ich denke an F. Liszt: D er traurige M önch, D er blinde Sänger,
R. Strauss: Enoch Arden, Das S chloß am M eer und M . von Schillings: Kassan­
dra (1900) und sein H exenlied (\ 902). A uffallend ist die Vorliebe für sehr ex­
pressive, tonm alerisch ergiebige'I'exte, wobei zu ihnen notierte Rhythm en h äu­
fig ein dram atisch-pathetisch überhöhtes, keineswegs immer dem natürlichen
Tonfall folgendes D eklam ieren nahelegen. So stehen z. B. schon in Liszts Trau­
rigem M önch über den W orten »Schreck und Grauen« pro Silbe wechselnde
Achtelnoten und A chtelpausen, was ein Skandieren des le x ts ergibt; das glei­
che schreibt Schillings an einer Stelle in Kassandra v or.
Im Gegensatz dazu destilliert Janaceks Sprachm elodie aus dem natürlichen
Tonfall der Sprache them atisches M aterial. Bei Schönberg gilt das sehr häufig
für den Rhythm us, aber nicht im gleichen M aß für den Tonfall, also für die
intervallischen Bezüge.
Ein völlig anderes Genre von Beziehungen von W ort und M usik, das —eher
am Rande —aber doch eine gewisse A nregung für Schönbergs Vorstellungen
gegeben haben könnte, ist die reich nuancierte Vortragskurist im Possenlied,
irn C ouplet des W iener Volksstücks und auch in der O perette. Nachweise sind
hier schwer zu erbringen, w eil es von den erstgenannten G attungen keine alten
Aufnahm en gibt. Die m ündlich überlieferte Bew underung Schönbergs für die
V om agskunst eines Girardi, oder einer M m M assary —w enngleich er 'zumeist
nicht schätzte, was sie interpretierten ..gibt zu denken. Ich habe als kurzes Bei­
spiel —allerdings erst aus den Z w anzigerjahren ..eine von Girardi gesungene
Vorstrophe zum. Rauschlied aus Das K ünstlerblut v o n Edm und Eysier gewählt
(Grammophon 61972): was in der Interpretation auffällt, ist die sehr autonom
sprach melodisch stilisierende Darstellung, d i e .. wie in der vorkom menden
I ,achpassage..auch stark: verfremdete E -r die im ( Cou­
plet selbstverständlichen Freiheiten im I anet:< u <mi i-
chen m usikalischen Strukturen eines St 1 j i i hin&ti' » in

Schönbergs Beziehungen, zürn literarLcncn iv a l« im j„ zu Lhi„i von


Wolzogens »U berbrettl«, seine T ätigkeit in dessen ».Buntem W agen« (unter
Oscar Straus) und seine Beziehungen zum. »Bunten Theater« w urden oft als
für ihn in bezug auf »Sprechgesang« w ichtige Erfahrungen zitiert. Er h a t..wie
bekannt. z.T. schon vor seiner Begegnung m it W o lzo gen ..Chansons kom po­
niert, u .a. auf Texte von Falke und W edekind (1901). 1900 erschien irn
Loeffler-Verlag eine Sam m lung D eutsche Chansons u.a. von Dehmel, We.de-
kind, Holz und W olzogen, die den Untertitel »Brettl-Lieder« tragen; Schön­
berg hat einer Gruppe seiner Stücke diese Bezeichnung gegeben. Daß er seine
T ätigkeit im »U berbrettl«, das Einrichten, Komponieren und Einstudieren von
ihm zuwideren Stücken und Texten, zuletzt eher gehaßt hat, ist belegt. Der
rein m usikalische Z usam m enhang m it Pierrot, soweit es sich um Schönbergs
eigene Arbeit aus dieser Zeit und Sphäre handelt, wird aus U nkenntnis des
M aterials meist überschätzt. Er ist unerheblich. Was im P ierrot aus Erfahmn-
Z ur Interpretation der Sprechstim m e in Schonbergs P ierro t lu n a ire 65

gen in dieser Atm osphäre leben könnte, ist ein. bestimm ter Interpretationsstil,
der beschrieben wird, für den es aber keine direkten A ufnahm en als Beweis-
material gibt, —und. eine M entalität von etwas frecher, frivoler bis skurriler Iro­
nie, wie sie in manchen D okum enten aus dem »Ü berbrettl« (ich denke z.B.
an die Verse aus Leo Felds Pierrots Fastnacht unter dem Bild von Olga W ol-
brück) zu finden ist.
Eine weitere Beobachtung führte mich nochmals zurück zum M elodram . Es
schien m ir in unserem Z usam m enhang interessant, daß um die [ahrhundert-
wende berühm te, m usikalisch gebildete Schauspieler —w ie Friedrich W üllner
und Ernst von Possart im Fall von Flexenlied und Kassandra —M elodram en,
die ihnen eine sehr eindrucksvolle G elegenheit zur D arstellung und wohl auch
zur Selbstdarstellung geboten haben, nicht nur mit. Vorliebe interpretierten;
sie haben derartige Werke auch in Auftrag gegeben.
A lbertine Zehme, die - wie erwähnt - Schönberg i 912 zur Komposition des
P ierrot lunaire angeregt hat, war eine dieser Schauspielerpersönlichkeiten und
sie hat sich dem nach m it einem für die Zeit typischen Anliegen an ihn gewen­
det. Die Tatsache, daß Schauspielerinnen die ersten Interpreten des Pierrot
waren, erklärt nicht nur die besonderen Schw ierigkeiten, die sie m it der R ea­
lisation von Schönbergs »Sprechgesang« hatten, sie lenkt auch die Aufm erk­
sam keit auf eine w ichtige, über das zeitgenössische M elodram hinausgehende
Q uelle für Schönbergs Vorstellungen; ich stellte m ir schließlich die nahelie­
gende Frage: w ie ist eigentlich D ichtung zur Zeit der Entstehung des Pierrot
gesprochen worden? Die Beantw ortung brachte für mich überraschende und
aufschlußreiche Aspekte. H ier einige Beispiele, die ich dem historischen Archiv
des ORF entnehm en durfte:
Hören Sie zunächst die beiden folgenden Stellen aus D er Gott u nd d ie Ba ­
jadere (G ram m ophon 041 023) und dem Erlkönig (C olum bia 16 037) von
Goethe, gesprochen von Alexander M oissi. ln beiden Beispielen auf fr
der enorme Wechsel in den Sprechlagen, eine ausgeprägte sprac
G estaltung, Glissandi in verschiedenem le m p o , z.'L. verbunden n
di oder A ccelerandi, daneben das zum '1 eil lange .Aushalten von. 'L,
einzelnen Silben und. die Auszierung des D etails vom Sprechcharakter her
(Beben, Rollen usw.). G elegentlich nim m t die Stim m e Moissis in den beiden
G octhestellen beinahe G esangscharakter an, z.B . in D er Gott u n d d ie B ajade­
re das: »Ertöne, Dromm ete, zu heiliger Klage« oder - in ganz, anderem C h a­
rakter ..das »D u liebes Kind, kom m , geh m it m ir ...« aus dem Erlkönig. Blen­
det m an daneben eine kleine Stelle aus P ierrot lunaire (Aufnahme unter der
Leitung d.es K om ponisten, Colum bia. M L 4471: 7. »Der kranke M ond«,
T 1 0 -2 1 ) ein, so bedarf der Zusam m enhang keines besonderen Kommentars.
Es ist erstaunlich, daß auch der D eklam ationsstil eines Karl Kraus selbst: in
politisch-kritischen Stücken stark expressive Züge zeigt und. von einer ver­
wandten V ariabilität der M ittel gekennzeichnet ist. Zwei Ausschnitte aus: »Die
Raben« (aus D ie letzten Tage d er M enschheit) und »Bunte Begebenheiten« (Prei­
se): Records 3017) können als Beispiel hierfür dienen.
66 Friedrich C erha

'Festet man den Ambitus heutigen Sprechens, so bekom m t m an etwa für das
Sprechen von Nachrichten eine große Sekunde bis kleine 'ierz, für Lyrik eine
O u a rte , für die Gesellschaftskomödie etwa eine Q uint bis Sext, für das klassi­
sche Versdrama m axim al eine Sept. Bei Karl Kraus finden w ir häufig die O kta­
ve überschritten, bei M oissi w urde gelegentlich der 1 V.vOktavenbereich
erreicht, ja darüber hinausgegangen.
Im Zusam m enhang m it dem ungeheuren Umfang, in dein Schönberg die
Sprechstim m e gedacht und fixiert hat, ist im m er w ieder von seiner puren Expe­
rim entierfreude die Rede gewesen. Die wenigen, hier gegebenen Sprech-Bei-
spiele zeigen, daß er sich auf eine sehr variable, ungem ein expressive Tradition
des D eklam ierens stützen konnte. Die D ifferenzierungstechnik des Sprechens,
die er vorfand, hat er w eitergetrieben und bis ins Extrem ausgebaut. Er ist hier
m it der Sprechstim m e nicht anders verfahren als in anderen Bereichen seines
m usikalischen Denkens auch, z. B. m it der Singstim m e in den Herzgewächsen.,
aber auch au f ganz anderem Gebiet im Grad an them atischer E ntw icklung und
Verzahnung, w ie in der K am m ersym phonie op, 9.
Eine H auptschw ierigkeit, auf die man in der Interpretation des Pierrot: stößt,
ist und bleibt tatsächlich der ungeheure Um fang der Sprechstimm e, der 2 ]h
Oktaven um faßt. Der tiefste Ton ist das kleine es, der höchste das oft vorkom ­
m ende zw eigestrichene as oder gis. Boulez sprach einmal davon, daß das W erk
lagenm äßig gleichzeitig zu hoch und zu tief sei.
Die zweite H auptschw iengkeit besteht darin, daß —zum Teil in extremen
H ö h en lag en ..auf einzelnen Silben Dauern verlangt werden, wie sie im heu­
tigen Sprechen nicht zur Verwendung kom m en. Aber auch diesbezüglich d if ­
ferenzierte, w ie erwähnt, das sprachliche D eklam ieren zur Zeit der Entstehung
von P ierrot reicher; in Moissis Interpretation von D er (Jott u n d d ie Bajadere
gibt es Dauern von einer Sekunde, in denen eine Tonhöhe festgehalten wird.
Fassen w ir also zusamm en: der Vorstel zur Zeit der Kom­
position des P ierrot eine sprachliche 1 iil> n u i hu < i < nik präsent, die es
sowohl bezüglich des lagenm äßigen Umrangs als aiicn Bezüglich der Dauern
seit den. D reißiger Jahren nicht mehr gibt. Die sprechtechnischen M ittel sind
..wenn man w ill —im Gebiet der Literatur seither vergleichsweise verarmt.
Selbst im klassischen Versdrama ist der Einsatz extrem differenzierenden
Sprachausci.rucks verpönt. Wird, er im klassischen. Bereich heute w ieder ver­
wendet, dann trägt das Ergebnis das Signum des bewußt artifiziell stilisieren­
den Experiments (es gibt eine so geartete Regiem anier im heutigen deutsch­
sprachigen T h eater).
Der eingetretene Geschmackswandel im Interpretationsstil ist unübersehbar
—was im H inblick auf unser T hem a festzustellen w ichtig ist - , und er ent­
spricht in verschiedenster W eise einem solchen in der literarischen. Produk­
tion. Selbst A ufnahm en von Lautgedichten bzw. Iconkreter Literatur von Jandl,
R ühm oder G om ringer zeigen, was A m bitus und Dauern betrifft, W ette, die
kaum, über die der Umgangssprache hinausgehen. Andererseits: wo M usiker
Sprache differenzierend verform t haben — Kagel, Schnebel, Berio, H auben­
Z ur Interpretation der Sprechstim m e in Schönbergs P ierrot lu n a ire 67

stock, Ligeti u. a . ..ist ihr Einsatz ganz in den Bereich strukturell-m usikalischer
Verfahren integriert, zerhackt, verfremdet und collagiert, oder Elemente w er­
den zu Anspielungen auf: prim äre, em otionelle Ausgangspunkte von Sprache
reduziert. So in der M usik eingesetzt bezieht sich die Sprache weder auf lebens­
nahe Sprechdeklam ation noch w irkt sie au f sie. Ein direkter Z usam m enhang
zur Situation im P ierrot ist nicht gegeben, w enngleich vor allem das Element
der artifiziellen V erfrem dung im expressionistischen Sprechgesang als ein e
Wurzel für eine bestim m te, begrenzte A rt von Sprachbehandlung in der M usik
der Gegenwart: angesehen werden kann. Erfahrungen in der letzteren allein
haben denn auch bezeichnenderweise selbst ausgezeichneten Interpreten in der
Bew ältigung der Probleme, die im P ierrot gestellt sind, w enig geholfen.
W ählen w ir also noch einm al den ersten Ansatz m einer Ü berlegungen, der
sich auf die W urzeln von Schönbergs Vorstellung im H inblick auf D eklam a­
tion von L iteratur bezog, als A usgangspunkt für einen kurzen, historisch begin­
nenden, aber nicht ganz so durchgeführten Ü berblick darüber, w ie sich Inter­
preten bisher gegenüber den erwähnten Schw ierigkeiten im P ierrot lunaire
verhalten haben, ehe w ir auf den zweiten, prinzipiellen Ausgangspunkt für m ei­
ne Auseinandersetzung m it dem Werk eingehen, der in einem möglichst u n m it­
telbaren H erangehen an die kom positorischen G egebenheiten in der M usik
selbst bestanden hat.
Zunächst fällt auf, daß angesichts der Tatsache, daß in Schönbergs Vorwort
von einer »Sprechstim m e« die Rede ist (hier sei auch daran erinnert, daß die
ersten Interpreten Schauspielerinnen w aren), lange Zeit überhaupt nicht ver­
sucht wurde, die äußerst überlegt kom ponierten und. fixierten Tonhöhen zu
realisieren. A llein die Bezeichnung w ar offenbar schon ein A nlaß, sieh, größe­
re Freiheiten gegenüber den ’ 1bnhöhen herauszunehm en, als sie jemals der
unm usikalischste Sänger zu beanspruchen gewagt hätte, Dem Sm'eeben in
extremen Höhenlagen ist man dadurch aus dem We :
Partie teilweise oder ganz tiefer transponiert hat !
1. »M ondestrunken«, Takt 1-1.2, 'Iransposition u m eine Q uarte dis v^tunrj
oder man ist dem großen. Am bitus dadurch entgangen, daß man die notierten
Intervalldim ensionen auf einen engeren Raum zusam m engedrängt hat (Bei ­
spiel. ARG Saga XID 5212: 4. »Eine blasse W äscherin«); hier ist beides fest­
stellbar: Transposition und. Verengung des Am bitus. Es folgt die gleiche Stel ­
le auf Turnabout Vox TV 34:31.5 m it den richtigen 'Ibnhöhen; die dadurch
autom atisch erreichte richtige Lage gibt dem Stück: einen ganz anderen, spe­
zifischen und offenbar in tendierten C harakter). Schönbergs A nweisungen bie­
ten zu Verfahren wie Transposition und Verengung des A m bitus keinerlei
Anlaß. Er verlangt im Gegenteil, dort zwar die U m w andlung in eine Sprech­
melodie, aber »unter g u ter Berücksichtigung der 'Ibnhöhen«.
In den folgenden B eisp ielen ..und. sie ließen sich beliebig fortsetzen - kom ­
men die 'Ibnhöhen nirgends auch nur in. die Nähe der vorgeschriebenen, und
die kom ponierten Intervalle sind in der Interpretation absolut unkenntlich. Es
fällt auf, daß einiges an brtotuitionsu.ngenauigk.eit offenbar auch m it dem
68 Friedrich C erha

erwähnten Tondauernproblem zusam m enhängt. Dieses versuchte man durch


lange G lissandi zu bewältigen und konnte sich dabei scheinbar auf Schönberg
berufen. Dort, wo er den Unterschied zwischen Sprechen und Singen zu defi­
nieren versucht, stellt er ja fest, daß der Gesangston die Tonhöhe unabänder­
lich festhält, w ährend der Sprechton sie zwar angibt, aber durch Fallen oder
Steigen w ieder verläßt. In der Praxis gab es Ausführungen, die als Sprachde-
klam ation der oben zitierten von Alexander M oissi sehr nahekom m en, aber
Tonhöhen eben durchaus unbeküm m ert behandeln (Beispiele C olum bia
M L 44'71: 6. »M adonna« 'Fakt 1 -1 5 , oder ebenda 21. »O alter Duft«, 'Fakt
1 -1 9 ).
Andererseits ergab sich in nicht w enigen Interpretationen (von denen m ir
etliche aus dem Konzertsaal erinnerlich sind, aber nicht in Auf nahm en zugäng­
lich w aren), ein beständiges Heben und Senken der Stim m e, oft ein Heulen
von 'Fon zu Fon, das für viele das W erk ästhetisch unerträglich m achte und
wogegen sich Schönberg auch schließlich gew andt hat. Im H inblick au f das
vorher über D auern und Tonhöhen Gesagte läßt sich interessanterweise eine
gewisse G esetzm äßigkeit im Verhalten mehrerer Interpreten beobachten: auf
großen Dauern wird ausnahmslos ein Glissando nach unten gem acht, und je
länger die Dauer, desto tiefer der folgende Fon, gleichgültig, was Schönberg
auch im m er notiert haben m ag (Beispiel C olum bia M L 4771: 2 F »O alter
Duft«, Schluß).
Fine andere Art, den aufgezeigten Schw ierigkeiten zu begegnen, war, das
Werk zu singen —oder doch fast zu singen (Beispiele Arnadeo AVRS 5009: 5-,
» Valse de C hopin«, oder ebenda 15., »H eim w eh«, 'Fakt 1 -1 6 ). Das w iderspricht
der im m er wiederholten Forderung Schönbergs, daß P ierrot nicht zu singen
ist. W ie vor allem das letzte Beispiel zeigt, ist das S :"™" sich noch keine
G arantie für die exakte Wi.ederga.be der Tonhöhen, :. hi: unbedingt von
der Intonation her. .Im allgem einen wird aber in 1 ationers in dieser
R ichtung doch eher die Frage virulent: welche Funktion haben die kom po­
nierten '.lonhöhen, die aufgezeichneten Interva 11verhältnisse in der Gesam t­
struktur des Werks, in seinem gesamten m usikalischen Organismus?
Die Form ulierung: liefert die Sprechstim m e prim är sprachlich-expressive
Ereignisse vor einem H intergrund absoluter M usik oder ist sie eine von meh­
reren autonom en Stim m en eines m usikalischen Satzes, ist nicht allein durch
die Bem erkung Schönbergs zu beantworten, daß im Pierrot die Them en und
alles m usikalisch W ichtige in den Instrum enten vor sich geht, die so gern zitiert
wird. Sie stam m t w irklich von ihm und findet sich in einem Brief an Hans
Rosbaud vom 1 5 .1 2 .1 9 4 9 . 'Irotzdem ist sie schlicht und einfach unrichtig und
sie zu verallgem einern ist unzulässig. Aus dem Zusam m enhang, in dem sie
gem acht wurde, ergibt sich, daß Schönberg allergisch reagiert hat gegen ein
solistisches Hervorkehren der Sprechgesangspartie, was für die kom positori­
sche Integriertheit ins Ganze spricht.
Der zweite, prinzipielle A usgangspunkt für eine ernsthafte Beschäftigung
kann, w ie eingangs gesagt wurde, w irklich nur eine gründliche Analyse, ein
Z ur Interpretation der Sprechstim m e in Schönbergs P ierro t lu n a ire 69

A u fd e c k e n der m usikalischen Sinnzusam m enhänge im W erk selbst sein. Sieht


man daraufhin die Literatur an, so erschrickt m an im m er w ieder vor der Tat­
sache, daß es neben Registrierendem , spekulativ Vergleichendem und unend­
lich viel schöngeistig Plauderndem fast nichts gibt, was sich m it Fug und Recht
als Analyse bezeichnen ließe. Analysen sind, so scheint es, nur dort gefragt: und
werden dort auch gern geliefert, wo sie technische Systeme plausibel dem on­
strieren können. Der Sinn analytischer M ühe kann nur im Finden von A nsät­
zen liegen, die zur besseren Einsicht in für das W erk spezifische, sein Wesen in
allen Bereichen des Zusam m enhangs erfassende innere N otwendigkeiten und
Erscheinungsformen führen. Betreten stellt m an fest, daß zu einer Zeit, in der
jeder Veranstalter seine nicht zu zahlreichen Zeilen Einführungstext zu Erwar­
tun g oder P ierrot lunaire in m öglichst gepflegtem Fachjargon geliefert haben
möchte, über die Struktur der w ichtigsten W erke der Literatur unseres Jah r­
hunderts herzlich w enig w irklich erarbeitet ist. Und es könnte sich einem sehr
wohl die Frage aufdrängen; was sind das in den letzten drei Generationen für
Wissenschaftler, für Lehrer, für junge Komponisten gewesen, die keine bren­
nende Neugierde über diese Partituren getrieben hat, die sich m it der Behaup­
tung abgefunden haben, daß zu vieles in diesen W erken sich dem analytischen
Z ugriff entzieht. N ehm en Sie diese Bem erkung in Parenthese: m ir scheint: sie
gleichwohl w ichtig!
Grundsätzlich ist festzustellen, daß die Aufzeichnung der Sprechstim m e im
P ierrot keineswegs nur dem Ausdruck dient. Sie ist anders gearbeitet als die
späteren Schönbergschen Sprechstim m enpartien in der Ode an Napoleon und
im Ü berlebenden aus Warschau. In diesen gibt es .nur eine rhythm ische Fixie­
rung der Sprache, deshalb sind diesbezügliche Vergleiche und Rückschlüsse
unzulässig. .Es gibt nirgends im P ierrot jenes N ebeneinander von. Sprache und
M usik, wie es für das alte M elodram charakteristisch ist. Selbst in dram ati­
schen, harm onisch sehr dichten Stellen, ist j< >\i I mhöhe der Sprechgesangs ■
partie sorgfältig überlegt, lassen sich grund "/In he Inferva 11be/.iehnngen
innerhalb des Gesam torganism us nachweisen. u a s Verhältnis des instrum en­
talen teils zur Singstim m e ist allerdings kein einheitliches, ln. den dram ati­
schen N um m ern steht: die Stim m e stärker dem fnstrum entalensem ble gegen­
über, der Ausdruck: wird w ichtiger, falsche T öne fallen w eniger auf und
vielleicht tatsächlich w eniger ins Gewicht. (Ein Beispiel m it richtigen Ton­
höhen: lu rn a b o u t Vox 3431 '5: 1 !. »Rote Messe«, Takt 1 0 -1 7 ; vergleichswei­
se dazu m it falschen Ibnhöhen: C olum bia ML. 4471, die gleiche Stelle.)
In vielen anderen N um m ern dagegen ist die Stim m e hochgradig motivisch
in das instrum entale Geschehen m it eingebunden, am strengsten w ohl in der
»Parodie«. H ier gibt es einen dreistim m igen Kanon: zwei Stim m en treten im
E inklang ein (an einer späteren Stelle .. |Piccolo] — in der Doppeloktave),
w ährend die dritte Stim m e kanonisch die U m kehrung bringt. Welchen Sinn
hätte ein so strenger Satz, wenn er nicht realisiert werden sollte? Der Sachver­
halt: ist in diesem Fall so zwingend, daß auch die M ehrzahl der Interpreten ver­
sucht hat, die gegebenen 'Ibnhöhen zu bringen. H ier kann es in der B eurtei­
70 Friedrich C erha

lung einer Realisation nur die Kriterien »richtig« oder »falsch« gehen. (Ich gebe
als Beispiele zum Vergleich Turnabout 34315: 17. »Parodie« Takt 1 -21 m it
richtigen 'lonhöhen im C harakter des Sprechens und noch einm al dieselbe
Stelle m it falschen Tonhöhen: C olum bia M L 4471.) Eine andere Situation:
(Beispiel Turnabout Vox 34315: 13. »E nthauptung«, Takt 2 2 -3 6 .) Diese Stel­
le ist eine instrum entale Reprise zum »Kranken M ond«. Ich lasse ihr das Aus­
gangsstück folgen (Turnabout Vox 34315: 7. »Der kranke M ond«, Anfang).
W ie aber soll die Reprise als solche erkannt werden, wenn im »Kranken M ond«
der kom ponierte zw eistim m ige Satz gar nicht realisiert w ird (Beispiel Wergo
60 001: '7. »Der kranke M ond«, ebenda)? Noch schlim m er w ird es, wenn die
Singstim m e eine Sext zu tief einsetzt und dam it in der O ktav zur Flöte (Bei­
spiel: C olum bia 4471, ebenda). Es kann kein Zweifel bestehen, daß hier der
kom ponierte Sinnzusam m enhang völlig zerstört w ird, die tonale A nspielung
überhaupt nicht verstanden werden kann. Um es drastisch zu form ulieren: hier
tun falsche T one ebenso weh wie in einem M ozart-Satz.
Schließlich noch ein Aspekt aus dem Bereich des Harm onischen: die Passa­
caglia »Nacht« ist au f der kleinen Terz nach oben und darauffolgend der großen
Terz nach unten aufgebaut:. In den ersten drei 'Takten beginnt m it jedem 'Ton
eine Im itation dieser Floskel. Da das erste Intervall eine kleine Terz ist, bilden
die Einsatztöne einen verm inderten Septakkord. Die Fortführung des chro­
matischen Verhältnisses vom ersten zum dritten 'Ion und die verm inderte Sept
als Sum m e der Einsätze im Abstand einer kleinen Terz —auch orthographisch
so notiert - bestim m t den Anfang der Stim m e. W er mag wohl darauf verfal­
len, wenn kein Ton und kein Intervall stim m t? (Beispiele C olum bia M L 4 4 7 1:
8. »N acht« Takt 1 -1 1 ; m it besserer Intonation im C harakter des Singens das
gleiche auf Arnadeo AVRS 5 0 0 9 ..und m it richtigen '.lonhöhen im Sprechge-
sangscharakter auf Turnabout Vox 3431 5.)
Ein grundlegendes lnterpretationsproblem s< i r - wie aus dem bisher
Gesagten ersich tlich ..in der Konzeption des Su 1 ;fbst zu 1
1. Schönbergs sprachd eklam a to tisch e VorstelliMi< « ren vo i unten,
durch ihn modifizierten Leitbildern geprägt.
2. Er hat m usikalische Strukturen nach bestim mten Gesetzm äßigkeiten, die in
der Komposition wirksam und wesentlich sind, konzipiert.
D aß er im Arbeiten m anchm al stärker von. dem einen, m anchm al von dem
anderen Aspekt geleitet gewesen sein mag, ist m öglich; daß ihm im Feilen, an
einer Struktur, in der die Stim m e, w ie gesagt, unabd ingbar integrierter Bestand­
teil des gesamten Stirnmgewebes ist, die Vorstellungen, Probleme und Schw ie­
rigkeiten, die sich aus seinen deklam atorischen Forderungen ergeben, nicht in
jedem. A ugenblick gleich wesentlich und präsent waren, ist w ahrscheinlich. Es
ist ihm in der m usikalischen Arbeit vorübergehend an. manchen Stellen sogar
offensichtlich der them atische Bezug w ichtiger geworden als der eigentlich zu
erwartende deklam atorische 'Ibnfall.
Briefe und Ü berlieferungen belegen, daß Schönberg m it keiner Interpreta­
tion der Partie au f die D auer ganz glücklich war. Entgegen seiner sonstigen
Z ur Interpretation der Sprechstim m c in Schönbergs P ierrot lu n a ire 71

G ewohnheit har er auch. nach dem Zweiten W eltkrieg über Pierrot-hxA-


führungen im m er w ieder interessiert Erkundigungen eingeholt.
Heute wäre von einer Pim Y;M nterpretation folgendes zu fordern:
1. der deklam atorische C harakter m uß durchgehend gew ahrt werden. P ierrot
ist nicht zu singen.
2. die 'Ibnhöhen sind ein integraler Bestandteil des Werks; sie müssen —unter
Berücksichtigung des vorher Angeführten —im Verhältnis zum instrum enta­
len Satz richtig dargestellt und Idar erkennbar sein.
3. das für die Sprachdeklam ation charakteristische Gleiten darf die Intervall­
verhältnisse, also die Linien nicht unkenntlich machen.
Das Problem der B ew ältigung der Sprechgesangspartie im P ierrot ist im
wesentlichen eines der Stim m behandlung und der Stirnm beherrschung. Das
häufig m angelhafte Ergebnis ist - abgesehen von schon vorher erw ähnten ästhe ­
tischen Erwägungen historischer N atur - vor allem darauf zurückzuführen,
daß der Sänger sich zeit seines Lebens Intensiv m it allen Voraussetzungen des
Singens beschäftigt und darin im guten Fall über eine enorme Beherrschung
seiner M öglichkeiten verfügt, aber nicht annähernd über dieselbe Technik des
Sprechens. Der geschulte Sprecher hingegen hat nicht gelernt, exakte 'Ibn­
höhen zu berücksichtigen.
Zu den spezifischen M itteln des Sprechens gehört u.a. eine schärfere A rti­
kulation der Konsonanten, wobei diese einen viel größeren A nteil an den D au­
ern einnehm en können als beim Singen, insbesondere bei nasalen. Weiters
erfordert cs eine andere Art des Wechsels von einem 'Eon bzw. von einer Stim m ­
lage zur anderen (vgl, Schönbergs A nweisungen; das erwähnte, oft en tstande­
ne H eulen entspricht dieser A rt des Wechsels keineswegs). .Audi das Verm ei­
den von 'Irem oli (außer den bew ußt verlangten, skurri 1-artisfischen) gehör!
dazu. U berträgt man diese M ittel bew ußt und sorgfältig auf die Interpretation
der Sprechstim m e im Pierrot, so ist das Ergebnis ein äußerst differen/ierbares,
stilisiertes musikalisches I )eklarnieren, d.as sich gelegentlich auch einem Bereich
nähert, der zwischen Singen und Sprechen liegt. (D arüberhinaus enthält die
Partitur, w ie bekannt, Stellen, in denen »gesungen.« von Schönberg vorge­
schrieben ist.) Bei Berücksichtigung der genannten Forderungen und M ög­
lichkeiten ergeben sich weitere Abstufungen: die hohen Stellen m it großen
D auern werden notw endigerw eise dem Singen näherliegen, rasche, spitze
Bewegungen in der tiefen M ittel läge werden, stark zürn 1>el<lamatorischen hin
tendieren. Der Ausdruck »Sprechgesang« charakterisiert insgesamt recht genau
den. artifiziellen Zwischcnbereich, in dem. man sich zu ;•< u hat. M an darf
ihn nur nicht zur rezitativischen D arstellung aus dem Hereich der O per in
Beziehung bringen. P ierrot 1st ein Zwischenfach, für das es heute so gut wie
keine Schule und .keine Traciition gibt. (Einzelnen Persönlichkeiten, die sich
dam it beschäftigt haben, gelang es kaum , über ihre unm ittelbare U m gebung
liinauszuw irken.)
ich habe bis zu diesem Punkt absichtlich die em inent w ichtige Frage des Aus­
drucks ausgeklam m ert. (Schönberg selbst geht darauf erst am Ende seines Vor­
72 Friedrich C erha

worts ein.) latsä ch lich ist die Skala des Verlangens so w eit gespannt wie der
A m bitus in der Stim m e. Die N um m ern lassen sich verhältnism äßig einfach
drei verschiedenen Fächern zuordnen: einem jugendlich-lyrischen, einem iro­
nisch-satirischen und einem expressiv-dramatischen, wobei Lyrik und D ra­
m atik unversehens ans Ironische streifen können. Keine Persönlichkeit wird
sich jem als in allen drei Fächern absolut gleich gut bewegen können. Pierrot
m it drei D arstellern aus den genannten Fächern aufzuführen, wäre anderer­
seits auch nur ein Kuriosum.
Sicher ist P ierrot lunaire ein Stück, das einen - hat m an sich einmal darin
vertieft —nicht m ehr losläßt.
Als vorläufiges Ergebnis m einer praktischen Arbeit kann ich nur au f unsere
hier einige M ale zitierte Schallplatte —gespielt vom Ensemble »die reihe« m it
M arie Therese Escribano als Solistin - hinweisen. W ir hoffen, daß sie in Kür­
ze auch als CD erhältlich sein w ird. (Beispiele Turnabout Vox TV 34315: 3.
»D er D andy«, und 21. »O alter D uft«.)
.Theodor W. Adorno /Pierre Boulex

ri

ADORNO: Ich bin froh und stolz, daß ich heute m it Pierre Boulez dieses
Gespräch über die alte Schönbergsche Platte des P ierrot lunaire und seine eige­
ne ganz neue führen kann. Ich bin deshalb stolz, w eil die neue Platte ganz sicher
zu den außerordentlichsten Leistungen gehört, die es im Bereich der Interpre­
tation moderner M usik überhaupt gibt. Ich bin froh deshalb, w eil die Aufga­
be eines Vergleichs, die uns gestellt ist, au sn a h m sw eise w irklich einmal sinn­
voll ist, w eil es sich u m Vergleichbares handelt, n ä m lic h um zwei m ögliche und
beide M ale höchst konsequent durchgeführte G rundkonzeptionen. Dabei
möchte ich gleich sagen, daß es nicht angebt, der des Komponisten selbst, weil
es der Komponist ist, den Vorrang zuzuerteilen; denn ein W erk ist in dem
Augenblick, in dem es kom poniert, geschrieben, publiziert ist, ein Selbständi­
ges, das von seinem Autor sich abgelöst hat, das seine eigene Geschichte hat,
das sogar in sich sich verändert, und gerade irn Sinn dieser Veränderungen ist
nun die fünfundzwanzig Jahre später entstandene Platte von Pierre Boulez
besonders fesselnd.

BOULEZ: Ich finde auch, w e n n ich mich, als Komponist und n ic h t m e h r als
D irigent nehm e, daß m ein Stück, wenn das Stück fertig ist, nichi mehr zu mir
g e h ö rt, sondern ich bin froh, wenn es einen guten Dingent<
ten in s tru m e n ta lis te n gibt, u m für m ein eigenes Stück einer
punkt zu erhalten.

A d o r n o : Und. genau darum wird es sich handeln. D am it das hervortritt, w ür­


de ich vorschlagen, wenn es Ihnen recht ist, Herr Boulez, daß w ir von den auf-
nahm etechnischen Q ualitäten a bsehen; denn es ist selbstverständlich, daß eine
A ufnahm e nach fünfundzwanzig Ja h re n technisch u n v e rg le ic h lic h viel voll­
kom m ener ist als die alte. Außerdem, hatten Sie die M öglichkeit, unendlich
viel mehr zu probieren als Scbönberg, bei dessen Proben in New York ich sei­
nerzeit übrigens zugegen gewesen, bin, also Sie hatten dadurch schon einen
großen Vorteil.
Auf der anderen Seite soll man vielleicht doch auch sagen, daß diese tech­
nisch etwas rückständige alte Platte einen fast altertüm lichen Reiz hat, indem,
sie noch auf dem H ö rstre ife n , also wie eine Photographie, wie eine D a g u e rro -
typie von M usik möchte man sagen, sich ab sp ielt, als Bild. sich, einbekennt, ein
Stück Archaik des Gram mophons. Dabei darf ich übrigens gleich auf etwas
Paradoxes biiiw eisen, was uns sicherlich, noch beschäftigen w ird, daß näm lich
74 T h eo dor W. A dorno/Pierre Boulez

a u f der äl teren, der Schönbergschen Platte, also der Platte seines Werkes, die
Schönberg selbst dirigiert hat, die Sprechstim m e mehr zurücktritt als in der
neuen Aufnahm e, was deshalb au f den ersten Blick paradox ist, weil ja die Bou-
lezsche G rundauffassung sich von dem, was man so im Sinne einer Stilcha­
rakteristik das M elodram atische nennen könnte, gerade entfernt.

BOULEZ: Also m eine M einung w ar ganz präzise, als ich die Schallplatte machen
wollte. Ich habe m ir vor der A ufnahm e zuerst die Schallplatte von Schönberg
angehört, und ich hatte sie also ganz frisch in Erinnerung, als ich selbst auf­
nahm . M eine Platte ist: m anchm al wegen dieses - wie sagt m an —Gewichts der
Stim m e sehr scharf kritisiert w orden, und m an hat m ir gesagt, daß die Instru­
m ente viel zu w eit entfernt waren, und man hat dafür besonders die Platte von
Schönberg als Gegenbeispiel erwähnt. Aber ich habe die Premiere des P ierrot
lunaire in E rinnerung gehabt, bei der die Insfrum entalisten hinter einer spa­
nischen W and verdeckt: waren und ziemlich w eit weg hinter der Bühne saßen
und Albertine Zehme dagegen ganz im Vordergrund stand.

ADORNO: j a , u n d k o s t ü m ie r t .

BOULEZ: Und kostüm iert. Ich w ollte diese Charaktere auf der Platte heraus­
bringen, weil der P ierrot für m ich zuerst ein Stück T heater ist. Und ich finde,
tun. diesen Eindruck durch eine Platte zu verm itteln, m uß man. eine A rt Decor
und eine H auptperson haben. Und das D ecor..nicht im. schlechten Sinn, son­
dern im besten Sinn ..waren die Instrum ente, und die Stim m e spielte die
H auptrolle.

ADORNO: ja , also bei dem sehr stark farblichen M om ent, das die Instrum ente
dabei innehaben, ist der Gedanke an ein Decor natürlich etwas, was sich ganz
unm ittelbar aufdrängt. Es gibt etwas wie eine Klangkulissc, ein Klangdessin,
und in gewissen Partien ihrer eigenen Aufführung tritt das auch sehr hervor.
Aber wenn ich nun auf rein M usikalisches kom m en darf, so ist es vielleicht
erlaubt, zunächst einmal in ein paar W orten die beides) Grundkonzeptionen
zu charakterisieren, jedenfalls so, w ie sie m ir erscheinen. Die Schönbergsche
würde ich eine Konzeption von. unten nach oben nennen: er geht also von den
m usikalischen Einzelereignissen aus, von den einzelnen them atischen Gestal­
ten und C harakteren, dann auch von den einzelnen Stücken des Pierrot , geht
aus von der Expression, die ja im m er naturgem äß am Detail haftet, und läßt
das D etail sich ausleben. Daher rührt wohl auch jenes M om ent, daß die Schöm­
berg-Platte schockierender w irkt, daß das Ganze offener w irkt, nicht so inte ­
griert, aber dafür ein M om ent der Aggressivität hat, das Ihre P la tte ..und ich
sage das, wie m an au f deutsch sagt, wertfrei —nicht ebenso hat, w ährend bei
Ihnen —und das ist bei Ihnen als bei einem integral-seriellen Komponisten
ganz n a tü rlic h .- von oben her, von oben nach unten gestaltet w ird, also die
Totale, das Ganze unbedingt den Prim at hat, die Konstruktion hervortritt, es
G espräche über den Pi.e r ro t Imiai.re 75

w ird ein lückenloses, in allen erdenklichen Farben schillerndes, aber doch ganz
ineinander gearbeitetes Ganzes erzielt, alles greift völlig ineinander. Es ist so,
daß die Einheit: den Vorrang vor der M annigfaltigkeit hat. Ich glaube, davon
sollten w ir in allem ausgehen, was w ir dann über die einzelnen U nterschiede
vielleicht zu sagen haben, um diese Intentionen konkreter zu machen.

BOULEZ: ja , ich bin Ihrer M einung. Ich habe zuerst die Zyklen gesehen und
nicht die Einzelstücke.

ÄDORNO: Und nicht die Einzelstücke, genau.

BOULEZ: D ie Zyklen w a re n m ir w ichtiger als die E in zelstücke. Und zweitens


w ollte ich auch reagieren, aber das ist vielleicht eine französische R eaktion, weil
m an in Frankreich den Pierrot im m er als ein Stück H ysterie genom men hat,
und ein Stück - also sagen w ir, deutscher Hysterie, um ganz offen zu sprechen.

A d o r n o : Ja.

BOUEEZ: Und ich w ollte darauf reagieren und zeigen, daß es im Gegenteil bei
Schönberg überhaupt keine Hysterie in dem Sinne gibt, wie man es in Frank ­
reich versteht, sondern vielm ehr eine ganze M enge von A usdrucksm öglich­
keiten, und ich habe den Akzent auf diese Diversirät, auf diese Flexibilität von
Schönberg gelegt, und ich finde, daß gerade Schönberg ein M eister des Aus­
drucks auf allen Gebieten ist. Und drittens: auf dieser Platte kann man auch
deshalb so sp ie le n .- darum klingt das w eniger aggressiv.., weil man, um die
Sum m e ganz nach vorn zu bringen, die D ynam ik der Instrum entalgruppe cm
bißchen reduzieren m uß, und deswegen klingt die ganze D ynam ik bis zum
fortissimo ein. w enig d u m p f

ÄDORNO: Sie m ü s s e n d ä m p f e n , ja.

BOUEEZ: Ja, ich m uß auf der Platte däm pfen, w eil ich betonen rnuß, daß ich,
wenn ich das W erk auf der Bühne aufführe, zwei Gruppen habe: die Gruppe
der Instrum entalisten links von der Bühne, eher weit entfernt, wo sie forte spie­
len können und die Stim m e jedenfalls nicht verdecken. Und die S tim m e..also
die R ecitan te..ist: auf der rechten. Seite der Bühne ganz a b g eteilt und. für sich
allein, und ich übertreibe die Isolierung sogar durch die Beleuchtung, weil die
M usiker m it N orm albeleuchtung spielen und. die Frau dagegen von einem
Scheinwerfer beleuchtet ist, so wie zum Beispiel im C a b a re t. Also für mich ist
alles zusam m engebunden: diese o p tisc h e W irkun g, die akustische W irkung
und die ästhetische W irkung.

ADORNO: V ielleicht wäre es gut, 'wenn w ir den Hörern den Unterschied an ein
paar Beispielen verdeutlichen, ganz konkret machen w ürden. Ich denke: zum
76 T h eo dor W . A dorno/P ierre Boulez

Beispiel an das erste Stück »M ondestrunken«, von 'Fakt 29 an m it dem dazu­


gehörigen Auftakt: es handelt sich hier um eine M elodie, um eine forte-M elo-
die, die von Klavier und Cello ausbrechend, schwer hervortretend, unisono
gespielt w ird. Bei Schönberg w ird dieser Ausbruch außerordentlich heftig
durchgehalten, und es ist w irklich, w ie wenn das Ganze hier also gleichsam in
die Luft ginge. Bei Boulez dem gegenüber ist zu Gunsten des totalen Klang­
spiegels, um Ihren Ausdruck aufzunehm en, die Insistenz au f diesem Espressi-
vo abgedämpft:: es wird also nur der erste Einsatz sehr stark betont, dann aber
diese forte-Partie sofort abgedämpft:, vielleicht aus einer Aversion, aus einer
A bneigung gegen das unisono von Cello und Klavier, das für uns ja heute leicht
ein bißchen so klin gt wie Salonorchester, übrigens ist es interessant, daß Schön ­
berg, obwohl im allgem einen doch die Tempi m it der Geschichte rascher w er­
den, gerade dies rascher nim m t als Boulez, was m it einer Revision der Tem­
poangaben zusam m enhängt, die sich schon im Klavierauszug des P ierrot
gegenüber der Partitur findet, die aber hier noch nicht berücksichtigt ist. V iel­
leicht w ürden Sie, lieber H err Boulez, gerade zu dieser Sache auch etwas sagen.

BOULEZ: Ja, ich w ollte zwei Sachen sagen: zuerst der Cello-Einsatz ist ja der
erste Cello-Einsatz überhaupt. U nd ich finde, man sollte das nicht zu sehr über­
treiben, w eil das schon da ist; also m an merkt: das C ello zum ersten M al, und
m an hört: das sofort: ohne Ü bertreibung als eine Hauptsache. Und zweitens:
ich habe den höchsten Grad von D ynam ik für die Geige genau fünf ’lak te
später reserviert, wo das molto ritenuto ist, also das hohe cis in der G eigen­
stim m e, und für mich ist das jetzt der w irkliche H öhepunkt, und deswegen
habe ich diesen Cello-Einsatz nicht so unterstrichen. Und für mich gibt es
tatsächlich auch diesen Klang von Salonorchester, der mich stört.

ADORNO: Der Sie an der Stelle stört, ja .

B o u l e / : U n d m a n f in d e t ih n n u r a n d ie s e r e in e n S te lle ,

ADORNO: Nur an dieser einen Stelle; aber da würde ich nun sagen, dadurch,
daß es nur an einer Stelle ist, stört es auch wieder nicht, w eil es ja die Aus­
nahm e ist.

BOULEZ: Nein, das stört mich w iederum bei m e in e m U rteil nicht. Nein,

ADORNO: Das w ürde ich schon w ieder sagen. Hier die Stelle in der Interpre­
tation von Schönberg:

[M usikbeispiel: »M ondestrunken«, T. 29 ff., in der Interpretation von A rnold


Schönberg.]

Nun die Stelle in der Interpretation von Boulez:


G espräche über den P ierrot lu n a ire 77

[M usikbeispiel: dasselbe in der Interpretation von Pierre Boulez.]

Ich darf vielleicht auch au f den »D andy« hinweisen, das ist das dritte Stück —
übrigens eines der genialsten aus dem ganzen Pierrot, würde ich denken —, das
bei Schönberg die wildesten dynam ischen Kontraste enthält zwischen Takt 13
m it A uftakt und l a k t 14, während diese Ausbrüche von Ihnen, Herr Boulez,
etwas gem ildert werden.

BOULEZ: Das hat in diesem Fall einen technischen Grund: Sie sehen, daß der
H öhepunkt in dieser melodischen Linie in der K larinette auf fts (klingend) zu
hören ist. Wenn man das wirklich forte spielt, verdeckt es die Stimme vollkom­
men, weil es in der Sprechstimme auf »metallischen Klangs« ein hohes as gibt.

ÄDORNO: Auf »m etallischen Klangs«, ganz recht.

BOULEZ: Und d ie Stim m e kann auf dieser Tonhöhe überhaupt nicht sprechen,
sie m uß ein bißchen tiefer unter die K larinette gehen, sonst ist sie nicht mehr
zu hören. Und deswegen habe ich die Klarinette ein bißchen zurückgenom ­
men, um dieses »m etallischen Klangs« in der Stim m e ganz durchsichtig zu
hören.

ADORNO: ja , also da könnte man eine lange Diskussion anknüpfen, deren 1 'he-
rna man vielleicht hier wenigstens bezeichnen darf, ob inan näm lich in diesem
Fall w irklich der M öglichkeit der Ausführung die rein kom positorische Idee
untcrordnen darf, wie Sie es hier t u n ..und ich würde sagen, es ist sehr west­
lich g e d a c h t.., während Schönberg im Sinn des Beethovenschen Satzes, daß
man nicht an seine elende Geis«: denken soll, wenn ihn der’ Genius gepackt
hat, während also Schön Ix m*i In i d i/n tendiert hat, hier das Xy7il.de selbst dann
hervorzuheben, wenn b i d< i 'n n 1 n Ile »metallischen. Klangs« die Singsiinv-
me nicht so durehkom m r. Hier che Stelle in der Interpretation von Schönberg:

[M usikbeispiel: »Der D andy«, Takt 1 -2 0 , in der Interpretation von Arnold


Schönberg. |

Nun die Stelle in der Interpretation von Boulez:

[M usikbeispiel: dasselbe in der Interpretation von Pierre Boulez.]

Ich darf vielleicht noch, dam it auch diejenigen, die nicht: auf diese Einzelhei­
ten einzugehen w illens sind, genau, merken, worum es geht, auf etwas sehr
Klotziges aufmerksam m achen, näm lich auf die berühm ten Terzen ganz am
Schluß des P ierrot lunaire, diese berühm ten Terzen in »(.) alter Duft«, also in.
'.Fakt 26 und 27. Es steht da »Tempo«, also w ieder das rasche Z eitm aß des
ganzen Stücks. Schönberg nim m t das ganz brav a ternpo, im H auptzeitm aß,
78 T h eo dor W. A dorno/P ierre Boulez

während Ihnen offenbar diese Terzen also doch kaum m ehr erträglich sind,
und Sie deshalb den Einsatz »Tempo« schneller als das Z eitm aß nehm en, um
nur so rasch wie m öglich drüber wegzukom m en nach dem englischen oder
am erikanischen Prinzip: let’s get over w ith it. Und ich glaube gerade, das ist
äußerst charakteristisch am Schluß dafür, daß für Sie eben doch der Gedanke
an die lo ta le im Vordergrund steht.

BOULEZ: D a s ist n ic h t g a n z b e w u ß t . Ich g la u b e e h e r, ich w o llte d a s 'le m p o w ie­


der ...

ADORNO: ... w ieder fassen, w ieder packen ...

BOULEZ: ... wieder packen, um dieses molto rite n u to , dam it das Klavier w irk­
lich genau zweim al wie die derzen vorher ...:

[M usikbeispiel: »O alter Duft«, Takt 26 ff., in der Interpretation von Arnold


Schönberg. ]

ÄDORNO: Das war die Stelle in der Interpretation von Schönberg. Nun die
Stelle in der Interpretation von Boulez:

[M usikbeispiel: dasselbe in der Interpretation von Pierre Boulez.]

Es ist aber vielleicht noch wichtiger, um diese L. x n uhnen,


wenn man wenigstens einm al darauf eingeht, wi i leit
werden. Ich möchte hier ein paar Takte •n- dt........ r -.r ■ . i,-<ivf-hrf< iier-
ausgreifen: die K larinettenm elodie von Tal i U 1i i >1 idi '< • mpt-
stirnme. Die K larinettenm elodie hat dabei die
durch die schlechtere Registerlage auf d ;nz
haben, gegenüber den höheren Noten abzuiaiien, ocnonDerg mute nun m.jer-
haupt das Prinzip, im m er darauf zu h alfen ..und Koiisch hat das bis zum Fana­
tism us g e ta n .., Auftakte nicht, wie w ir das genannt: haben, »fallenzulassen«,
sondern die Auftakte eher zu akzentuieren, dam it diese melodischen Gestal­
ten herauskom m en, während. Sie eher im Sinn der Tradition einer, w ie soll man
sagen, in sich m öglichst geglätteten Spi.elwei.se lieber auf diese Auftaktakzente
verzichten, dam it nicht sozusagen überstarke Punkte innerhalb der M elodie­
bildung entstehen. Sie lassen sie also eher fallen. Ich glaube, das ist auch ein
für diese Stildifferenz sehr charakteristischer Unterschied. Er ist deshalb wich ­
tig, w eil das dann dazu führt, daß bei Ihnen die Einzelgestalt, hier diese Kla­
rinettenm elodie, schließlich gegenüber dem ganzen Stück nicht die W ich tig­
keit hat, die sie in der Schönbergschen A ufführung annim m t, wo m an eben
doch die Einzelmelodie als solche, ja ich möchte fast sagen: w ie eine trad itio ­
nelle M elodie sehr deutlich hört.
G espräche über den P ierro t lu n a ire 79

BOULEZ; ja , sicher. In dem Fall aber, für diesen Auftakt, möchte ich mich ver­
teidigen.

ÄDORNO: Ich greif’ Sie nicht a n , ich versuch’ ja nur z u charakterisieren.

BoiJLEZ: Nein, nein. Ich möchte dazu nur sagen: ich finde, daß Auftakte beson­
ders in diesem Fall ziem lich weich sein müssen, weil erstens der C harakter der
M elodie sehr zart und leicht ist, sehr schwebend, und das ergibt dann dieses
W iegende bei »H eim fahrt«, den Balancecharakter dieser Barcarole, das würde
leicht durch einen zu scharfen oder zu starken Auftakt wie gehackt w irken, und
deswegen w ollte ich besonders in diesem Fall den Auftakt ein bißchen auf-
weichen.

|Musikbeispiel: »H eim fahrt«, F. 1 ff., in der Interpretation von A rnold Schön­


berg.]

ADORNO: Das w ar d ie Stelle in der Interpretation von Schönberg.

IM usikbeispiel: da sselbe in d er In terpreta tion von P ierre Boulez,]

Nun sollten w ir aber vielleicht: doch auch auf die Probleme im Großen einge-
hen, bei denen es sich um die G esam tanlage handelt. Und da m öchte ich ger­
ne m it Ihnen, wenn Ihnen das recht ist, über das berühm teste Stück des Pier­
rot lunaire, näm lich den »M ondfleck«, sprechen. Der w ird von Schöi
da rgestellt, als o b er ein e K lavier fu g e wäre, d ie er tatsächlich ist, die
beiden krebsgängigen Kanons begleitet wird. Bei Ihnen, Herr Boulez, ist anes
gewissermaßen auf einer Ebene, es ist nichts darin Begleitung, und es ist nichis
H auptstim m e, sondern alle Dinge sind gleichgewichtig, und dadurch wird
zwar diese Pointierung des them atischen H auptm odells nicht erreicht, aber auf
der anderen Seite eine Art Einheit des Ganzen hergestellt, wie sie in dieser Wer
se in der S ch ö n b ergseh en A ufführung nicht vorliegt, also nach der 'Jerm ino-
logie des Schönberg-Schülers Jalowetz ist Ihre D arstellung die polyphonere,
die von Schönberg die kontrapunktischere. M an könnte nun die Frage disku ­
tieren, ob man gerade dieses Stück, das also das in sich gefangene Kreisen, ja
wie soll man sagen, eines in sich verblendeten Menschen darstellt, ob m an das
überhaupt transparent machen kann, ja ob man es soll, oder ob es nicht gera­
de dadurch, daß man es nicht th em a tisch m usiziert, also n icht durchhört, son­
dern daß es ein unaufhörliches Klanggewebe ist, ob man nicht dadurch gera­
de mehr den E indruck des Ausweglosen, Kreisenden, in sich Geschlossenen
gew innt, der gem eint ist, und m ein Gefühl ist, daß Sie jedenfalls eher dieser
.Ansicht' zu neigen.

BOULRZ: Ja, also m einer M ein ung nach ist dieser »M ondfleck« nicht in ganzer
K larheit herauszubringen.
80 Theodor W. A dorno/Pierre Boulez

ADORNO: E r is t n ic h t d u r c h h ö r b a r z u m a c h e n , d a s in d w ir u n s e in ig , Ü b r ig e n s
is t d a s a u c h die M e in u n g v o n K o lis c h .

BOULEZ: ja gut, ich bin froh, daß w ir darüber einig sind . Denn, sehen Sie, von
dieser Tatsache gehe ich zu folgendem Punkt: es gibt noch die Stim m e, die
vollkom men unabhängig von den Instrum enten ist, und die m uß w irklich als
unabhängig wahrgenom m en werden, w eil sie überhaupt nicht them atisch ist.

ADORNO: Sie ist in der Tat nicht them atisch.

BOULEZ: Im Gegensatz dazu stehen alle Instrum ente in Beziehungen. Die bei­
den Blasinstrum ente, also Piccolo und K larinette, sowie Geige und C ello bil­
den sogar ein Spiegelbild.

ADORNO: So kann m a n sagen: ein Spiegelbild.

BOULEZ: Und das Klavier ist rhythm isch doppelt so langsam , geht im m er zwei­
mal langsam er als die Klarinette und Piccolo.

ADORNO: W obei aber der Kanon von Klarinette und Piccolo, wenn ic h das
dazu sagen darf, seinerseits auf demselben I ’hem a beruht w ie die Fuge des Kla­
viers.

Bo U l , K Z : Gienau.

ADORNO: D adurch wird der Z usam m enhang zwischen beiden hergestellt.

ßOUKHZ: Genau, und deswegen ist das Spiegel b ddäser gerecht­


fertigt, weil die Dauer genau zw eim al der Dau ntspricht. Und
diese Konstruktion, finde ich, kann inan nur daisi.eu.cn, wenn man die beiden
Strukturen auf derselben Ebene bringt. M an kann höchstens die Geige und.
das C ello ein bißchen zurücktreten lassen, w eil sie nur W iederholtöne zu spie­
len haben, die keine them atische .Funktion haben. Ich finde aber in diesem
Fall, daß Piccolo, Klarinette und Klavier unbedingt auf derselben Ebene sein
müssen.

ADORNO: Aber es ist im m erhin m erkw ürdig, daß Schönberg doch, so tief mo-
tivisch-them atisch gedacht h a t..und das ist ja einer der entscheidenden Unter­
schiede zu der neuen K om ponistengeneration.-, daß er selbst in diesem Stück,
das eigentlich so schon gar nicht m ehr war, trotzdem motivisch-them atisch im
Sinn einet begleiteten Fuge m usiziert hat, also im Gegensatz, könnte m an fast
sagen, zu dem , was er kom positorisch bereits erreicht hatte, in der D arstellung
des Erreichten eigentlich einen älteren Kompositionsstil noch vertreten hat.
Daran aber, daß Schönberg seine eigene M usik im Sinn dieses Klarheitsideals
G espräche über den P ierro t lu n a ire 81

dargestellt hat, während sie über den Gegensatz von H auptstim m e und N eben­
stim m e schon hinausgeht:, kann man w irklich sehen, daß es sich um ein genui­
nes Problem handelt, w ie es richtig sei, und gar nicht so um zwei beliebige Auf­
fassungen.

[M usikbeispiel: »M ondfleck« in der Aufnahme von Arnold Schönberg.]

N un die Stelle in der Interpretation von Boulez:

[M usikbeispiel: dasselbe in der Aufnahm e von Pierre Boulez.]

Ich möchte doch einm al versuchen, das Problem zu form ulieren: der P ierrot
selber ist in sich doppelsinnig im Sinn eines Januskopfs. A uf der einen Seite ist
er ein Liederzyklus, allerdings m it Sprech- anstatt m it Singstim m e, und das
hat auch m usikalisch die Bedeutung, daß die Stim m e nicht ins them atische
Gewebe einbezogen ist, m it der einen Ausnahm e des übrigens auch ungeheuer
schwierigen Stücks »Parodie«. Berg hat im U nterricht im m er unterschieden -
er legte darauf sehr großen W e r t..zwischen symphonischen und Charakter-
Stücken. U nd er nannte C harakter-Stücke, m it diesem etwas altm odischen
A usdruck aus dem 19. Jahrhundert, also Stücke, die jeweils einen einzigen
G rundcharakter durchhalten, ohne in sich eine M annigfaltigkeit zu haben,
N un ist der P ierrot zunächst eine Folge solcher Charakterstücke, jedes einzel­
ne Stück hat eine bestim m te Idee, wie es denn auch zwar motivische Kontra­
ste und eine große B untheit innerhalb der einzelnen Stücke gibt, aber nicht
w irkliche K ontrast-Them en. Ks ist also etwa in der »Blassen W äscherin« die
Idee eines 'I fios gegeneinander dynam isch völlig ausbalancierter Su mm en, oder
im »Kranken M ond« die Idee der Solo-Flöte und in der »N acht« die Idee der
Passacaglia; das »Gebet an Pierrot« ist ein begleiteter M onolog der Klarinette
und die »Serenade« ein virtuoses Solostück m it K lavierbegleitung, die »iiarca-
role«, von der w ir gesprochen haben, ein Stück, das durch wechselnde H aup t
stim m en charakterisiert w ird, und das letzte Stück schließlich ist ein ganz ein­
faches Lied. Darin ist das Ganze den George-Licdern verwandt, deren eines
am Schluß des als erstes Stück des Zyklus kom ponierten »Gebets an Pierrot«
anklingt. Und Schönberg, kann m an zunächst einm al sagen, hat den Pierrot
wesentlich, als Folge von Charakterstücken musizier!:. W ie denken Sie übrigens
über das Verhältnis zu den Cieorge-l.Jed.erni

BOULEZ: Ja, ich finde auch —ich habe einm al über den Pierrot lunaire geschrie­
ben .., daß die G eorge-Lieder die letzte Stufe vor dem Pierrot lunaire waren.

A d o r n o : Ja,

BOULEZ: Das w ar aber nur e in Zyklus, im Gegensatz dazu h a t der P ierrot drei
Zyklen.
1

82 T h e o d o r W . A d o rn o / P ie rre B oulez

ADORNO: Drei Zyklen, ja.

BOULEZ: U nd es ging auch um kein Theaterstück, w ohingegen der P ierrot ja


ein T heaterstück gegen ein K am m erm usikstück ist. Zudem sind für m ich die
George-Lieder doch auch noch sehr nah, wenn rnan das sagen darf, an der
D ichterliebe. Die George-Lieder sind der januskopf, w ie Sie sagen w ürden: ein
K opf in R ichtung Schum ann und ein Kopf in R ichtung P ierrot lunaire. P ier­
rot lunaire *ist für mich bereits von diesem rom antischen .Liederkreis vollkom ­
men entfernt.

ADORNO: ja . Also ich w ürde eben sagen, daß die Tendenz Schönbergs zum
Form bildenden, zum Konstruktiven im P ierrot lunaire ebenso stark ist wie d ie­
se Tendenz zur Form ulierung einzelner Charakterstücke. Er drängt eben doch
zugleich au f Einheit. Sinnfällig ist dafür, daß er nach der »E nthauptung« als
Zwischenspiel von im m erhin 15 Takten eine Art durchführende C horalbear­
beitung des »Kranken M ondes« bringt, die übrigens, wenn ich das sagen darf,
m ir au f Ihrer Platte ganz besonders gelungen und besonders durchsichtig
erscheint. Dann ist das ganze Stück, darauf haben Sie bereits hingewiesen, in
sich dreiteilig disponiert, wobei der erste Teil einen verhältnism äßig losen prälu­
dierenden C harakter hat. Die Stücke des ersten. Teils sind im allgem einen auch
nicht so kom pliziert. Der zweite ist tragisch im Sinn der Gefangenschaft und
der Angst des in sich eingesperrten M enschen wie den Fiinrichtungs-'.I.räumen
und m it zwei, tragischen tiefen Punkten, um die es gruppiert ist: am Anfang
eben der Passacaglia »N acht« und am Ende den »Kreuzen.« m it den. stärksten
tragischen Akzenten, und. der dritte Teil. - beinahe hätte ich gesagt Hi. A k t ..
gibt eine Art von Lösung, aber nun wieder Lösung im Imaginären. Die H eim ­
fahrt Pierrots in den Süden ist die zentrale Idee davon. Es ist so, wie wenn man
zu erwachen träumen würde, eine Form ulierung, die von. Benjamin, stam m t,
der dam it den Jugendstil überhaupt definierte, und aus der Sphäre tl.es Jugend­
stils stammen, ja unverkennbar die Giraudschen Gedichte, zu denen der P ier­
rot kom poniert ist.

Bo Ul.,DZ: Ich w ollte dazu nur sagen, daß für mich in diesem zweiten Teil
natürlich, w ie Sie gesagt haben, die reine Angst wie zum Beispiel in der
»N acht« oder in den »Kreuzen« vorherrscht. Aber es gibt auch ein Spiel mit
der Angst.

ADORNO: Dies vor allem in der »Enthauptung«.

BOULEZ: In der »E nthauptung«, ja. Es g ib t eben auch bei Schönberg das, was
Andre Schaeffner einm al über das 'Theater in Afrika, über einige Zeremonien
in A frika bem erkte, n äml ich das sei das Spiel d er Angst. Ich meine dam it, daß
man die Angst bis zu dem Punkt sim uliert, daß m an w irklich Angst bekom m t,
und m an braucht dann nur einen Stoß Ironie, um diese Angst wieder zu lösen.
G espräche über den P ierro t lu n a ire 83

Bei Schönberg ist das wesentlich und in diesem Teil für mich besonders bedeut­
sam, w eil zum Beispiel am Schluß der »N acht« dieses sforzato von ...

ÄDORNO: ... von Baßklarinette und Cello ...

BOULEZ: ... von Baßklarinette und C e llo genau wie ein Abbruch der Angst
w irkt, und der ist ganz absichtlich gem acht, trocken zu realisieren.

ADORN O: ' I r o c k e n .

BOULEZ: Aber das ist m a n c h m a l ein Spiel. Zum Beispiel am Schluß der Nr.
11, der »Roten Messe«, kom m t es auch zu derselben T erm inierung nach die­
sen »billigen Fingern«: man hat einen furchtbaren Eindruck, und dann plötz­
lich dieses Flageolett und staccato vom Klavier, pianissim o: das ist ein Schluß
wie ein Klack, fertig.

ADORNO: V ie lle ic h t d a r f m a n h ie r a b e r n o c h e in p a a r W o r te ü b e r d e n T e x t
sagen , ...

B o u l e z : ja.

ADORNO: . .., w eil au f dern le x t so rum gehackt w ird, und w eil der Platte, Ihrer
Platte in ihrer bisherigen Form, ein W aschzettel beigegeben ist*, io dem über
den 'lex t in der schm ählichsten Weise geredet w ird, übrigens m it einigen, anti -
französischen W endungen, die ich einen Skandal finde, das m uß u
sagen. Es geht nicht an, daß m an über den. P ierrot lunaire im 'Ihn eis.
chers der Volks- und. jugend.rntisikbewegi.ing, also m it dern Ion eine
flötenanbeters spricht |Boulez lacht], das gebt, also nicht, und das h;
ich so sagen darf, etwas Blasphemisches. Ich will unseren Zuhörern :
Zeitmangel Beispiele ersparen. Sicherlich sind die G edichte von. Gira
große D ichtung, niem and würde sie dafür halten, aber so schlecht, wie man
sie m acht, sind, sie ganz bestim m t nicht, sondern sie sind ein großartiges Vehi­
kel für die M usik gewesen. Es ist ja oft in der Geschichte der M usik so, daß es
D ichtungen von. Niveau, die aber nicht höchsten Ranges sind, den. Komponi­
sten eher erleichtern, sie in M usik um zuschm elzen, als sehr große und deshalb
autonom e D ichtungen. Diese D ichtung hat eben doch, den Vorzug, daß sie,
während sie gew iß hinter dem fortgeschrittenen. Schönbergschert Expressio­
nismus als ein Stück. Nachziiglertum. des Jugenstils zurückgeblieben ist, doch
in sich, genau diese Im agerie, diese B ilderw elt hat, diese gebrochene, ironische
ßilderw elt, an die dann, die W iederkehr, die gebrochene W iederkehr des O bjek­
tiven und der Reminiszenz des O bjektiven in Schönbergs Komponieren hat

>; Anm. d. Hrsg. -• D e r ' I b a » D ie z e itg e s c h ic h t l ic h e S y m b o l i k de s P ierr ot l u n a ir e « s t a m m t von Hel ­


m u t K irch m eycr .
84 Theodor W. A dorno/Pierre Boulez

anknüpfen können. Und ich glaube, wenn m a n stattdessen über diese Gedich ­
te m oralisiert, anstatt zu sehen, welche ungeheure Produktivität sie in der M usik
entbunden haben, dann tut man dem Albert G iraud und seinem vorzüglichen
deutschen Übersetzer Otto Erich H artleben bitteres Unrecht an, und jem an ­
dem, der also ein W erk w ie den P ierrot lunaire durch seine D ichtung inspiriert
hat, dem sollte m an doch ganz einfach dankbar sein.

BOULEZ: ja , ich finde auch, daß die Ä sthetik von Schönberg viel kom plizier ­
ter ist, als man zunächst gem eint hat.

A d o r n o : N atürlich.

BOULEZ: Und er hat auch viel m ehr Ironie besessen, als man anfangs glaubte;
ich habe, als ich m eine A ufführungen in Frankreich machte, die Gedichte von
G iraud, die vollkom men vergessen waren, in der Bibliotheque Nationale erst
wiederfinden müssen.

A d o r n o : ja .

BOULEZ: Und natürlich, also wenn man sich die Poeme genau ansieht, haben
sie überhaupt keinen literarischen W ert, sondern das ist ein Resum e einer
Epoche, ...

ADORNO: ... der Nachhall ...

BoiJUiZ: ... der Nachhall, genau, und das ist viel w ichtiger als die Poeme an
sich. Und deswegen glau.be ich, daß Schöi irkiieh als Bild
einer Epoche ausgewähk h at. Und darin li< die viel w ic h ti­
ger ist als ihr eigener Wert, der literarische Wert.

ÄDORNO: Das w ürde ich a u c h sagen. M an kann vielleicht in diesem Z usam ­


m enhang noch etwas über die B ehandlung des d.cxtes, nämlich, die Form des
M elodram s, sagen. Ich m uß sagen, m ir ist früher das Geheul der Stim m e, die
also .Föne angibt, um sie sogleich zu verlassen, auf die Nerven gefallen, und
auch Sie haben dagegen ja irgendeine Allergie gehabt. Aber je genauer man das
kennt, um so mehr lernt m an, wie sehr es zur Sache gehört. M ir ist das eigent­
lich jäh aufgegangen erst an Moses u n d Aron, wo der Moses, aus dem ja die
Stim m e des Geistes, die jenseitige Stim m e gewisserm aßen, spricht, eben inm it­
ten der M usik nicht singt, sondern spricht. Der Sprechgesang hängt m it der
Intention des Im aginären zusamm en. Es ist, wenn m an es m it einem arg abge­
griffenen Ausdruck bezeichnen darf, der es aber doch ganz gut w iedergibt, w irk­
lich eine Art Verfremdungseffekt. Das Sprechen ist hier kein naturalistisches
Sprechen, sondern gerade durch die Unangemessenheit des gesprochenen 'Ions
an den m usikalischen kom m t etwas von der Frem dheit der M usik noch viel
G espräche über den P ierro t lu n a ire 85

stärker heraus, als wenn sie rein in sich verbliebe und sich überlassen wäre. Und
es scheint m ir nun das außerordentlich Interessante an Ihrer A ufführung zu
sein, daß Sie gerade dadurch, daß Sie die ursprüngliche Idee der Sprech rnelo-
d ie viel ernster, viel schwerer nehm en, als der Interpret Schönberg selbst es
getan hat, daß Sie also Frau Pilarczyk den Part viel mehr melodisch als einen
integralen Bestandteil aussprechen lassen, als Schönberg das Frau W agner
gestattete, die viel mehr zurücktreten m uß, daß durch dieses Ihr Vorgehen die
Sprechstimm e besonders entnaturalisiert und dieser Verfremdungseffekt un­
gem ein deutlich gestaltet w ird. M an kann sagen, daß vielleicht gerade die
B ehandlung der Sprechstim m e In »Parodie«, wo diese Sprechstim m e in die
M usik verwoben ist, das M odell für Ihre gesamte B ehandlung der Sprech­
stim m e ist, das heißt, daß Sie durchweg die Verfremdung der Sprechstim m e
gerade durch ihre Rernusikalisierung erreicht haben. Und es wäre vielleicht
schön, wenn Sie zum Schluß darüber noch ein paar W orte sagen wollten.

BOULEZ: Ja, ich w ollte sagen, daß für mich die Sprechstimm e sozusagen e in
unreines M ittel ist ...

A d o r n o : ja .

BOULEZ: ... in dem Sinn, daß sie gegen einen rein musikalischen W illen ver­
stößt; man kann auch eine N egativkontrolle dazu durchführen: zum Beispiel
hat Webern in seinem W erk nie die Sprechstim m e verwandt*, weil sic eben die
R einheit der M usik verletzt; aber deswegen finde ich, daß m an diesen V er­
fremdungseffekt:, von dem Sie sprechen, ...

ADORNO: Der Ausdruck ist v o n Brecht.

B o u l e z : . .., w irklich nur dadurch erreichen kann, daß die Stim m e doch einer
gesungenen Stim m e sehr ähnlich ist, sich aber von. ihr durch ein strenges Ver­
bot des Singens trennt.

A d o r n o : So hat es ja Schönberg gewollt, aber Sie haben sich strenger an sei­


ne Vorschriften gehalten, kann m an sagen, a ls e r es getan h a t.

BOULEZ: ja, aber ich. habe vorher sehr m erkwürdige Bekundungen gehört: Leo­
nard Stein aus Los Angeles hat m ir einmal erzählt, daß zum Beispiel, als man
zum ersten. M al die Ode to Napoleon in. Los Angeles probte, Schönberg selber
m it seiner eigenen Stim m e einige Stellen vorm achte, und. das w ar vollkom m en

* Anm. (1, Hrsg. D i e K o m p o s i ti o n e n , in d e n e n W e b e r n d ie S p r e c h s t i m m e v e r w a n d t e , v erö ffen tlich te


er n ich t. Si e b lieben d a h e r no ch l a n g e nuch se in e m ' l o d e so g u t w i e u n b e k a n n t . D a s O rc h e ste rlie d
»(..) sanftes ( Hülm d e r B erg e«, k o m p o n i e r t a m 3 0 . S e p t e m b e r 1 9 1 3 , w u r d e z u m B eisp iel erst a m 30.
O k t o b e r 1 9 6 6 u n t e r L u k a s Foss in B u ffa lo u r a u fg e f ü h r t u n d liegt seit 1 9 6 8 e n d l i c h g e d r u c k t vor. Zu
se in en I n ter p re te n g e h ö r t h e u t e Pi er re Bou lez.
86 T h eo dor W. A dorno /Pierre Boulez

anders als notiert, w eil für ihn schließlich der A usdruck w ichtiger w ar als die
Notierung. Für den Autor ist das natürlich möglich. Aber wenn m an als Inter­
pret vor einer Partitur steht, m uß man zunächst Respekt vor dem 'lex t haben;
denn wenn m an sich zu w eit vom le x t entfernt, dann ist es nicht mehr not­
w endig, eine Partitur zu haben, und vielleicht bin ich deswegen strenger als
Schönberg. [ Boulez lacht J

ADORNO: Sie sind an dieser Stelle w irklich päpstlicher als der Papst, u n d
dadurch ist die äußerst interessante neue Lösung, bei der Sie übrigens v o n Frau
Pilarczyk großartig unterstützt w urden, entstanden.

BoiJL E Z ; Sie hat das w irklich wunderbar gemacht.

II Die N achkom m enschaft des Pierrot lunaire

ÄDORNO: Ja, w ir haben uns gestern über die Probleme der beiden A ufführun­
gen des P ierrot lunaire unterhalten, und es hat sich dabei gezeigt, daß w ir von
dem W erk so fasziniert waren, daß w ir dabei eigentlich kein Finde gefunden
haben. Nun, dies » P ierrot und kein Ende« bezieht sich sicher auch auf das
Schicksal des Werkes selbst. Es gibt ja nur sehr wenige Stücke in der neuen
M usik, die einen so ungeheuren Einfluß ausgeübt haben w ie der P ierrot lu­
naire, übrigens auch auf Komponisten, die Schönberg sein: fern stehen wie Stra-
winsky oder auch wie H indcm ith zu Zeiten: die »N achtm usik«, dieses kleine
Intermezzo in der Kammermusik Pit: 1 von FIi.ndemi.ih, das fällt m ir gerade
ein, wäre ja auch w ahrscheinlich ohne den 'Fort und den C harakter des »K ran­
ken Mondes« nicht möglich gewesen. Es wäre sehr lohnend, einm al sich zu
überlegen, wodurch gerade vom Pierrot diese u«| W irkung ausgegan­
gen ist, zunächst sicher eine größere als von allen a: ichönbergs.
Ich würde denken, das hängt gerade m it den äußerst Charakteren
zusam m en, es sind ja in diesem Werk ganz neue Cha igt worden,
übrigens auch gegenüber E rwartung und Glücklicher , t Jn j diese neuen
C haraktere haben die M enschen bezwungen. Aber es wäre doch, vielleicht
schön, wenn w ir so ein bißchen noch über die W irkung gerade auf Kompo­
nisten reden würden.

BOUL.EZ: Ich würde zuerst: von der W irkung zum Beispiel auf Straw insky spre­
chen.

ÄDORNO: Das Ist schon sehr interessant.

ßO lJl.EZ: Das ist ein merkwürdiges Beispiel, weil er gegen Schönberg reagiert
hat, ziem lich scharf zuerst besonders gegen die Poetik des Pierrot.
G espräche über den P ierrot lu n a ire 87

A d o r n o : Gegen die Poetik, ja. Er sprach von Oscar W ilde und Beardsley und
solchen D ingen, ja.

BOULEZ: U nd Beardsley, ja. Und das w ar wohl die Q uelle eines Riesen­
m ißverständnisses zwischen Schönberg und seiner gesamten Schule au f der
einen Seite und Straw insky sam t seinem Anhang und seiner gesamten U m ge­
bung auf der anderen Seite. Das heißt also praktisch: das ganze musikalische
Leben in Frankreich, den United States und vielleicht auch in England vor
dem Krieg war durch dieses M ißverständnis bestim m t. Ich finde, daß durch
diese Barrage seitens Strawinskys das Verständnis von Schönberg für fünfund­
zwanzig Jahre in Ländern lateinischer K ultur zurückgeblieben ist —von einem
Russen beherrscht. |Boulez lacht.]

ADORNO: Von einem Russen beherrscht, das ist gar kein Zweifel.

BOULEZ: Aber trotzdem könnte man einigerm aßen sehen, w ie Straw insky zum
Beispiel auf den P ierrot reagiert hat, wenn m an die Irois poem.es de la lyrique
japonaise liest.

A.DORNO: Die Japanische Lyrik, d ie Trois poernes.

BOULEZ: T ro tzd em sollte man diesen E in flu ß n ic h t übertreiben, w eil eines der
japanischen Lieder, das erste, schon geschrieben war, b e v o r et den Pierrot ge­
hört hatte.

ADORNO: Er hat den. Pierrot \,\ in Berlin gehört.

BOULKZ: Er h a t ihn in. Berlin gehört - 1912.

A d o r n o : ] 91.2.

BOULEZ: Und die erste Japanische Lyrik, ist schon 1911 kom poniert worden,
die zwei anderen Stücke dann nachher. Und man sieht, das einzige Interesse
von Straw insky in. diesem M om ent war nur ...

A d o r n o : Die Farbe.

BOULEZ: ... die Instrum entalfarben, genau. Dabei ist unverkennbar, daß bei
Schönberg diese Gruppe von Instrum enten sozusagen von Brahms hetkom rnt:
es gibt ein Q uintett, das zwar kein klassisches Q uintett mehr ist, aber doch ein.
Q uintett in postrom antischer Art. Bei Straw insky hingegen handelt es sich wie
bei Ravel-M aliarm e zürn Beispiel um eine R eduzierung eines Orchesters. Das
ist etwas ganz anderes. Bei Schönberg hängt die Instrum entalgruppe wirklich
m it der polyphonen Struktur zusam m en, m it seiner A rt sozusagen, die M usik
88 T h eo dor W. A dorno/P ierre Boulez

zu redigieren. Und bei Ravel sieht m an einfach nur ein reduziertes Orchester.
Ich w eiß nicht, ob Sie die tlerodia.de von H indem ith kennen, eine sehr m erk ­
w ürdige M ischung, die viel später kom poniert wurde: das ist ein M elodram
über ein Poem von M allarm e m it Streichquintett, Blasquintett und Klavier.
H ier hat der P ierrot natürlich nur eine rein äußerliche W irkung gehabt.

ADORNO: Es ist interessant, auch der W irkung des P ierrot im Schönberg-Kreis


selbst nachzugehen. Ich habe früher im m er gem eint, daß m ein Lehrer A lb a n
Berg wesentlich von der Erstell. K am m ersym phonie abgezweigt wäre, die ja
tatsächlich in den unendlich kleinen Ü bergängen und allen diesen D ingen sehr
viel B ergisches hat. Nun habe ich m ir vor unserem Gespräch noch einm al den
P ierrot genau angesehen und habe gefunden, daß in dem Zwischenspiel nach
der »E nthauptung« ein paar Stellen sind, in denen der ganze Berg vorw egge­
nomm en wird: zum Beispiel unm ittelbar vor la k t 30, und zwar der Auftakt
vor Takt 30 und der Anfang von 'Fakt 30, da ist schon die H arm onie der M arie
aus dem Wozzeck. und auch der Ausdruck, der charakteristisch für die M arie
ist, vorweggenom m en. Und der ganze Rest ist eigentlich w ie ein Vorbild der
T hem enbildung bei Berg im Kammerkonzert. Offenbar ist es so, daß gerade
dieses leis Retrospektive irn Pierrot , das darin steckt, daß eben nun wieder lang
ausgesponnene Them en, auch etwa w alzerähnliche Charaktere und solche D in­
ge auftreten, daß also das für Berg, der ja in gewisser Weise geschichtlich gese ­
hen älter als Schönberg war, so w ie eine A rt Legitim ierung fungierte, um mm
seinerseits auch w ieder lange ausgesponnene Them en und solche Dinge zu
schreiben. Das hat ihn dabei sehr gelockt. Ich möchte Vorschlägen, daß man
als Beispiel für den Z usam m enhang m it Berg hier und gerade in der Boulez-
sehen Interpretation das Zwischenspiel nach »Enthauptung« e in b le n d e t:

[M usikbeispiel: »E nthauptung«, Takt 29 ff., in der Interpretation von Pierre


Boulez.]

BOULEZ: Der E in f lu ß des P ierrot lunaire is t m einer M einun g nach auf Webern
v ie l größer als a u f B e rg .

ÄDORNO: Da liegt er an sich mehr z u 'läge. Aber ich habe die Sache gerade
deshalb hervorgehoben, weil man bei Berg m it den langen großen Flächen ja
den Einfluß eines so aphoristischen Stils gar nicht verm utet. Doch es wäre
schön, wenn Sie au f den Zusam m enhang W ebems m it dem P ierrot cingingen.

BOULEZ: Nehmen w ir zum Beispiel W eberns Lieder. Es ist offensichtlich, daß


es in opus 12 oder opus 13 w irklich einen perfekten W ebern-Stil gibt. Und im
opus 14 plötzlich - dieser Zyklus kom m t nach dem P ierrot lunaire - ist Webern
mehr Schönberg als Webern.

ÄDORNO: Ja, in den Trakl-Liedern.


G espräche über den P ierro t lu n a ire 89

BOULEZ: In den Trakl-Liedern, jawohl. Zunächst sind die Figurationen, die


Figuren, die (Pseudo-)Them en ...

ADORNO: ... dem P ierrot lunaire sehr ähnlich.

BOULEZ: Genau, es herrscht diese Sparsam keit wie im m er bei W ebern, und
plötzlich kom m t ein vollkom m enes C harakterstück, w ie Sie gestern gesagt
haben, ä la P ierrot lunaire. Für m ich ist dieser Einfluß m erkw ürdiger als der
Einfluß bei Berg. M an kann zum Beispiel bei Berg vielleicht einen strengeren
Einfluß Schönbergs merken , der von der E rwartung in den Wozzeck reicht.

ÄDORNO: Na, das ist klar, das liegt auf der H and, ja .

BOULEZ: Der Zusam m enhang ist viel enger.

A d o r n o : Ja.

BOULEZ: Ich finde, opus 14 ist die Ausnahm e, wo m an w irklich einm al eine
strenge W irkun g eines bestim m ten Stückes von Schönberg ,..

ADORNO: ... kontrollieren ...

BOULEZ: ... kontrollieren kann.

ADORNO: Doch auch ich hatte bei den Trakl-Liedern im m er dieses Gefühl.
Vielleicht dar! man in. dem Z usam m enhang an einen Schüler von Schönberg
erinnern, von dem man im allgem einen in ganz anderen Zusam menhängen
redet, der aber genau hierher gehört: das ist näm lich der hochbegabte Manns
Eisler. Man. kann sagen, daß Eislers gesamtes W erk eigentlich von seiner Sona ­
te op. 1, seiner Klaviersonate op. 1 an, wie unter dem. Bann von P ierrot lunaire
steht. .Aber nun nicht nach der konstruktiv-kom positorischen Seite, sondern
im "I bn. Der C harakter des Pierrot lunaire, also gerade das Ironische, das Aggres­
sive, auch ein gewisser sadistischer Zug, also wie wenn eine Katze mit fürch­
terlichem Geschrei von einem Dach herunterspringt und sich auf irgendein
Opfer wirft, oder so etwas. Dieser C harakter m it einer zugleich ins W ehm ütige
umsch.lagen.den Ironie, das ist der G randton dieses koboldhaften K om poni­
sten gewesen, und wenn man sich s o ..- ja, es ist schwer, das auszudrücken ..,
wenn man sich so die Komplexion dieser M usik ansieht, also diese sehr schnel­
len Staccati von. Sechzehnteln etwa, ...

BOUEEZ: Ja.

ADORNO: . .., dann is t das reiner P ierrot lunaire. Übrigens h a t Eisler damals,
das m uß M itte der Z w a n z ig e r ja h r e gewesen, sein, wohl a ls einer der ersten, außer
90 T h eo dor W. A dorno/Pierre Boulez

Schönberg und Webern eine Zwölfton-Kom position geschrieben, bei der es


sich übrigens ebenfalls um M elodram en handelt - nach Pahnström-Gedich-
ten von M orgen stern —, und diese knüpfen ganz unm ittelbar an den P ierrot
lunaire —auch in der Technik —an, nur m it dieser charakteristischen W en­
dung, die ja dann sehr oft in der Folge kam , daß Komponisten, die Schön-
bergsche M odelle aus der freien A tonalität aufgenom m en haben, diese gewis­
serm aßen in Zwölf ton tecim ik übersetzten. Also Eisler w ar sicher einer der
charakteristischsten Gefolgsleute des P ierrot lunaire.
Aber ich glaube, nun wäre es an der Zeit, daß w ir von dem weitaus w ichtig­
sten W erk doch etwas hören, das m it dem P ierrot in einem tiefen Z usam m en­
hang steht, und das ist Ihr eigenes W erk, eben der M arteau sansM aitre, wobei
übrigens zu sagen ist, daß auch zwischen dem Surrealism us von Rene Char
und den doch zum 'Feil sehr exponierten Jugendstil-G edichten von Giraud
unterirdisch ein gewisser Z usam m enhang besteht. Also gewisse O berflächen­
zusam m enhänge, w ie daß es beide M ale ein Stück für Stim m e und Flöte solo
gibt und daß die Flöte dabei äußerst aufgelöst behandelt ist, das liegt ja auf der
H and. A uf der H and liegt: auch die Tendenz, allm ählich von lyrischen Stücken
zu sym phonischen, größeren Einheiten überzugehen; aber das alles trifft nicht
das Tiefste dieses Zusam m enhangs, und ich glaube, niem and wäre nun w irk­
lich berufener, darüber etwas zu sagen, als Sie.

B ö ULEZ: E s g ib t natürlich eine oberflächliche Ä hnlichkeit, das kann m an sofort


spüren: das ist ein Werk für Stim m e und. eine kleine m usikalische Gruppe.

ÄDORNO: Die Besetzung also.

B o ui .EX: Die Besetzung. Und. dann gibt es ;. irere


Zyklen sozusagen; aber es bestehen trotz,de 'ären
zuerst, sozusagen zwei Zitate. Es gibt zwei, a at ist
ein Stück für Flöte und Stim m e, das hat übem aupt iitcuts m eiir tun. uer M usik
von Schönberg selbst zu tun.

.ÄDORNO: Gar nichts, nur die Besetzung.

BOULEZ: Nur die Besetzung, und dann zweitens auch die Idee einer Reihe von
Stücken, die im m er eine neue Besetzung brauchen.

ÄDORNO: Ja eben. Der Wechsel der Besetzung, die je eigene Besetzung.

B o u l e z ,: W ie im P ierrot lunaire hat jedes Stück eine nur ihm eigene Besetzung.

ÄDORNO: Übrigens eine Idee, die dann auch Berg f ü r die wechselnden Ensem­
bles im Wozzeck und in der Lulu übernom m en hat.
G espräche über den P ierro t lu n a ire 91

B o u l e z : G enau, genau. Und auch im K am m erkonzert kom m t zum Beispiel


das Klavier zuerst, dann die Geige, dann beide zusamm en. Und W ebern hat
in allen Liederzyklen auch diese Prinzipien. Doch ich finde, es gibt einen großen
Unterschied: der große Unterschied ist zunächst, daß die Stim m e nicht mehr
die H auptrolle spielt. W ie ich über den P ierrot lunaire gesagt habe: der Pier-
rot lunaire besteht aus einer Stim m e und einer Gruppe, und bei m ir im M ar-
teau gibt es eine Stim m e und eine Instrum entalgruppe innerhalb ein et großen
Gruppe. Also die Stim m e ist nicht w ichtiger als die Flöte. Es fällt von Anfang
an auf, daß die Flöte und die Stim m e au f derselben Ebene sind, wobei natür­
lich die besondere M öglichkeit der Stim m e dazukom m t, W orte w iederzuge­
ben. Und am Schluß, in dem letzten Stück, nim m t die Flöte sozusagen die
melodische Seite der Stim m e, und die Stim m e geht zur Instrum entalbesetzung,
w eil die Stim m e nicht mehr artikuliert, sondern bocca chiusa vorgeschrieben
ist, und deswegen w altet vom Anfang bis zum Ende in diesem Stück eine D ia­
lektik, die die Stim m e allm ählich wie ein Instrum ent verwendet.

ADORNO: Ich d arf da vielleicht auf etwas aufmerksam machen, was sich mir
aufgedrängt hat, was aber vielleicht ganz abwegig ist: ich könnte m ir näm lich
denken, daß gerade zwischen der Behandlung der Singstim m e bei Ihnen und
der B ehandlung der Sprechstim m e im P ierrot ein gewisser Zusam m enhang
besteht. Die Art, ja wie soll man sagen, der Instrum entalisierung und dadurch,
in einem sehr bedeutenden Sinn, der D enaturierung der Singstim m e, die im
M arteau da ist, der ja eine ganz spezifische, mit nichts zu verwechselnde Art
der vokalen M elodiebildung hat, die erinnert wenn überhaupt an i
noch am ehesten an den D enaturierungsvorgang der Sprechstim
rot lunaire. Also wenn die Sprechmelodien des Pierrot gewisserm aßen wiener
in nun auch them atisch und motivisch oder reihenm äßig Zusammenhängen
de Gesangsm elodien xurückübersetzt w ürden, dann sehe ich ger don
aus einen W eg von der Sprechm elodie des P ierrot zu Ihrer ja also vc uuti-
ralistischen Singen völlig em anzipierten Gesangsm elodik in dem m a n ea u sans
Maitre.

BOULEZ: ich w ollte dazu. noch, sagen, daß bei m ir die Stim m e nicht im m er
dabei ist; also es gibt reine Instrum entalstücke, und da will ich auf das zurück­
kom m en, was war über das C harakterstück und sym phonische Stucke bespra­
chen. Also bei m ir gibt es kaum mehr Charakterstücke, denn der C harakter ist
w irklich schon in den sym phonischen C harakter eingegraben, und manchmal,
brauche ich nicht mehr die Stim m e dafür, und deswegen gibt es reine Insf.ru-
rnentaistücke. Und dazu können Sie auch eine Parallele ziehen, weil es eben­
so drei Zyklen im P ierrot lunaire w ie auch im. M arteau gibt. Aber die drei Zyk­
len sind bei m ir nicht hintereinander, sondern sind zusam m engem ischt, und
deswegen gibt es in dem W erk eine andere D im ension, die nicht mehr linear
ist, sondern w irklich einen bestim mten ...
92 T h eo dor W. A dorno /Pierre Boulez

ADORNO: ... übereinandergelagerten, komplexen ...

BOULEZ: . . . R aum hat. Also diese räum liche Struktur m einer drei Zyklen ist
vielleicht m eine H auptentdeckung und der H auptunterschied zwischen den
beiden Stücken.

ADORNO: Ja, es ist also vielleicht gerade angesichts der vordergründigen Ähn­
lichkeit w ichtig, daß man auf die Unterschiede hinweist. M ir hat sich im m er
w ieder beim M arteau etwas sehr aufgedrängt, daß näm lich das Stück, das ja
zum A nfang auch aus kürzeren Einheiten besteht, dann im m er mehr sich in
längere Einheiten verwandelt und daß es dann ja so eine A rt von Finale, also
einen w irklich großen Schlußsatz ausbildet, also daß es dadurch in die große
Form übergeht, w ährend das ja bei Schönberg im Sinne des Prinzips der C ha­
rakterstücke im P ierrot lunaire ganz verm ieden ist. Das erinnert eher an Berg,
bei dem ja auch sowohl im Wozzeck wie. in der Lulu erst sich relativ kurze A n­
sätze, also eine Suite im Wozzeck und diese lose hin musizierte erste Szene in
der Lulu findet, und dann allm ählich gew innt es im m er mehr M om entum , es
gew innt im m er m ehr Schwerkraft aus sich heraus und erzeugt dann gewisser­
m aßen diese großen Bögen. Also der M arteau ist schon, könnte m an vielleicht
sagen, der Übergang des Typus des C harakterstücks in den 'Typus der sym ­
phonischen M usik.

BOULEZ: ja , Sie h a b e n re c h t.

ÄDORNO: Sym phonisch in d ie s e m Sinn.

BOULEZ: In diesem Sinn. Sie haben m it Recht von B( > sn, denn mich
hat bei Berg, auch wenn ich nicht m it ihm ein. md viel w eni­
ger als jetzt zum Beispiel m it seiner Stilistik einii iion fasziniert,
was für einen R eichtum in der üesam torganisanon er genaui nat. Das ist: nur
zu vergleichen m it den großen Konstru.kteu.ren wie zum Beispiel Proust und
Joyce. Das ist also genau dasselbe Denken.

ADORNO: ja , von Proust hat Berg sehr viel, weil bei. ihm auch - das ist ein genau
treffender Vergleich - wie bei Proust die unendlich verschlungene und m inu­
tiöse D etailarbeit, die also in die kleinsten D inge sich verliert, dann einer unge­
heueren A rchitektur entspricht, die das alles zusam m enfaßt. Also es gibt eine
Art von K ontrapunkt zwischen M ikrostruktur und M akrostruktur bei Berg.

BOULEZ: Ja, ich w ürde sagen, der Traum wäre für mich - das ist vielleicht eine
D um m heit - , aber ich möchte das zunächst ganz grob sagen, sozusagen Bruck­
ner m it W ebern zu mischen.

ADORNO: Bruckner m it Webern, ja, ja. |Boulez lach t]


G espräche über den P ierro t lu n a ire 93

B o u l e z : Also je tz t sprechen w ir irn Ernst: m ir schwebt ein Riesenraum vor,


wo m an plötzlich k lein e Einzelheiten entdecken kann, die so abrupt charak­
terisiert sind, daß sie sich von dem ganzen Raum lösen. Aber es m uß sozusa­
gen ein mehr oder w eniger undeterrninierter Raum sein, etwas am orph, und
dagegen gesetzt dann kleine Stücke einer sehr akut morphologischen M usik.

ADORNO: ja. ich darf hier vielleicht sagen, daß Webern der Traum einer Ein­
heit von Bruckner und W ebern gar nicht so fremd gewesen w ä re und nicht so
p a ra d o x , w ie er klingt; denn W ebern hat das leidenschaftlichste Verhältnis zu
Bruckner gehabt, und ich habe überhaupt erst durch W ebern B ru c k n e r ver­
stehen gelernt, nicht um gekehrt.

B o u le z : [lacht] Ach so.

ÄDORNO: W ebern h a t m ich Bruckner verstehen gelehrt.

BOULEZ: Ja, das ist w irklich ... Für mich geht es also um diese M öglichkeit,
zum Beispiel etwas w ie die C ello-Stücke von Webern, also w irklich das A ller­
kürzeste, innerhalb einer riesensym phonischen Bewegung sozusagen zu pla­
cieren. Ich habe das zuerst im M arteau zu machen versucht, aber dam als noch
in einer ganz unbew ußten Art. Es ging m ir um Stücke, die w irklich nicht ho­
mogen in diesem Sinn sein sollten, aber nicht nur um oberflächliche Diskre­
panzen, ...

ÄDORNO: ... nicht nur an der O b e rflä c h e , sondern, in. sich ...

BOULEZ: ... die in sich auf einer Inhornogeneität basiert sein sollten.

ÄDORNO: . . . a u f so z u s a g e n in sich f r a g m e n t ie r t e n , in sic h im e n r io n e ll unsdni-


migen Stilm itteln.

BOULEZ: ja , und ich fin d e , das m u ß auch in der W e lt der 'l o n h ö h e n und der
D auern reflektiert werden. Ich m eine zum Beispiel, w e n n man für eine Weile
im Halbtonsystem s p ie lt..gut, m an hat dann diese H albtonw elt - und nun
plötzlich M ikrotöne zur Verfügung haben würde, dann darf die M usik nicht
mehr so polyphon sein, um die Feinheiten der Intervalle hören zu können;
m an könnte also nicht m ehr polyphon schreiben, und man m üßte einen
bestim m ten Dreh finden, um diese kleinen Intervalle zu. hören. Und plötzlich,
wenn man wieder zum H albton kom m t, kann. man. alle diese anderen D im en­
sionen rekuperieren, verliert aber jene Feinheiten der Intervalle.
Sehen Sie, was ich m it inhom ogen meine, das ist nicht nur ein. Konzept von
Form, das ist auch ein Konzept von. Realität.

ÄDORNO: Jedenfalls der gesam ten klanglichen Realität.


94 T h eo dor W . A dorno / Pierre Boulez

BOULEZ: Ja, wie zum Beispiel ... —das hat m ich im m er beeindruckt: Sie waren
sicher in Brügge, und wenn man dort die M em ling-B ilder sieht, m uß m an eine
L u p e m itbringen, ...

A d o r n o : O ja .

BOULEZ: und dann sieht man plötzlich ein D etail sehr genau.

A d o r n o : S o is t es.

BOULEZ: Und wenn man nachher die Lupe w e g n im m t, dann hat m an wieder
das ganze Bild. U nd ich finde, daß m an in der M usik überhaupt bis jetzt über
diese D im ension nicht nachgedacht hat: also die M usik gleichsam unter eine
Lupe zu halten, um eine nicht homogene Dimension herzustellen, die aber
trotzdem w irklich eng m it der anderen D im ension verbunden ist.

(Transkribiert und redigiert von Rainer Riehn)

N achbemerkung d er Hrsg. - Z i n n i is ti >A d o r n o s im er sten 1 eil d er i ) i s k u s s io n d a rü b er , d a ß a uf de r


Plärre, » d ie »Schön berg selbst i m 101 ha t, d i e S p r e c h s t i m m e m e h r z u r ü c k n i i t als in d e r n e u e n A u f ­
n a h m e « (S. 7 4 ) , bem erkt: d ie Im ) | i i m des Starts, Erika W a g n e r - S t ie d r y , in e i n e m B ri ef v o m 2 9 . J a ­
n u a r 1 9 6 6 a n Juan A l l e n d e - B h i 1 c icrn h ö rt e ich n u n d ie S e n d u n g -- die m i c h se hr inte re ss ier t hat.
N u n m u ß ich i m m e r w i e d e r b e d a u e r n , d a ß m e i n e S t i m m e so im H i n t e r g r ü n d e b le ib t u n d ich m ö c h ­
te Sie b i t t e n H e r r n A d o r n o ..d e n ich g u t k e n n e .... zu sa ge n ~ d a ß es absolut: n i c h t in S c h ö n b e r g s
>Absi.cbt< l a g ..s o n d e r n es w a r ei n Irrtum - e r ü b e r sc h ä t z t e d i e S t ä r k e des M i k r o p h o n s ....un d f ü r c h t e ­
te, d a ß m e i n d a m a l s sta rk e s O r g a n die M u s i k ü b e r tö n e n k ö n n t e . N u n g e s c h a h das G e g e n t e i l .« S c h ö n ­
b e r g selbst sc h ri eb zu d i e s e m S a c h v e r h a l t a m 15. F e b r u a r 1 9 4 9 an H a n s R o s b a u d : »Ich w e i ß n ich t,
o b Sie d i e P l a tte n k e n n e n , d i e ich da v o n |P ierrot lun aire J g e m a c h t ha be . D i e si n d in ge w iss er H i n ­
s ic h t, w a s ' l e m p o u n d S t i m m u n g u n d D a r s t e l l u n g u n d vor a l le m w a s d as Sp ie l d er I n s t m m c n ta l i s t e n
a n b d a n g f , w ir k li c h g u t ..s e h r g u t sogar. S i e sin d n i c h t so g u t , w as das V e r h ä lt n is z u r S p re c h e ri n d a r ­
stellt. Ich w a r e i n b i ß c h e n g e ä r g e rt ü b e r d ie Z u m u t u n g , die S p re c h e ri n zu se h r h e r a u s z u s tr e i c h e n ,
w e l c h e j a d o c h n i e m a l s das T h e m a sin g t , so n d e r n h ö c h s te n s d a z u s p ric h t, w ä h r e n d d e m d i e T h e m e n
u n d alles m u s i k a l is c h W i c h t i g e d o c h in d e n I n s t r u m e n t e n v or sich g e h t. U n d ich h a b e , v i e l le ic h t g e ä r ­
g e r t d u r c h W i d e r s p r u c h , e in bissel zu w e n i g R ü c k s i c h t d a r a u f g e n o m m e n , d a ß m a n sic ja d o c h h ö re n
m u ß , u n d an ein z e ln e n Stellen ist sie n u n w ir k li c h u n t e r d r ü c k t. D a s so llt e n ic h t se in. A lso im K o n ­
zertsaal ist j a das e t w a s ein fa che r, i n d e m m a n sie e tw as n ä h e r z u m P u b l i k u m stel lt, o d e r re sp ektive d ie
I n s t r u m e n t e e t w as w e i t e r v o m P u b l i k u m e n tfe r n t. D a s t rä g t se h r viel z u r D e u t l i c h k e i t d er S p r e c h ­
s t i m m e bei; u n d läßt: a u c h d e n I n s t r u m e n t e n ih r R e c h t, d a ß w ir k li c h die M u s i k z u r G e l t u n g k o m ­
m en kann.«
Robert HP Platz

W ie präzise läßt sich M usik aufschreiben?


Die E ntw icklung der M usik im 20. Jahrhundert w ar auch ein Erschließen
neuer D im ensionen (»Param eter«) m usikalischen Denkens und deren schrift­
licher D arstellung, eine (W eiter-)E ntw icklung der m usikalischen N otation zu
im m er größerer G enauigkeit.
Insbesondere zu Zelten der seriellen M usik in den 50er und 60er Jahren
glaubte so m ancher Komponist, er habe m it absoluter Präzision notiert, was
an Ergebnissen seiner K langforschungen w ieder zu Klang werden sollte.
Doch der Glaube, Partituren m it noch nie gekannter Präzision notiert zu
haben, hat sich verflüchtigt. Die historische Distanz zeigt uns heute, daß auch
in dieser Epoche so etwas w ie eine Auffuhrungspraxis entstanden ist, die über
die N otation hinaus regelt, wie eine Partitur umzusetzen ist.
Denn zu vieles bleibt —unabhängig von der Präzision einer P artitu r ..u m lo ­
dert; fast könnte man sagen, »die M usik« selbst entziehe sich ihrer Notation
oder, etwas weniger spitzfindig: das Selbstverständliche wird nicht: notiert.
Was aber ist selbstverständlich in der M usik? Nichts? O der alles: das, »w or­
um es geht« als ein Nicht-in-Frage-GesteUtes? O der einfach etwas, das dein
Komponisten so klar war, daß ihm seinerseits das Nicht verstehen eines A ußen­
stehenden unverständlich wird?
Nehmen w ir als Beispiel eine Partitur, die wie keine andere im 20, fahrhun
dert Fragen zur Interpretation aufwirft und der dabei für die En
Neuen M usik doch zentrale Bedeutung zukom m t: Arnold. Schöi
lunaire vo n 1912 und das Problem des »Sprechgesangs«.
N atürlich hat Schönberg alles aufs Genaueste notiert: R hythm en, die exak­
ten 'lonhöhen der Sprechstim m e, -wann gesprochen, w ird (um u i ) wann
gesungen wird, (selten) . .., nur eines nicht: das für den Komj: .! Kla­
re und daher Selbstverständliche. Für uns indes bleibt ein. unaufgelöster Rest;
und so scheint bis heute nicht geklärt: was ist das überhaupt, wie klingt er, wie
führt man ihn aus: diesen »Sprechgesang«?!
Im m erhin hat Schönberg im Vorwort zur Partitur einige Angaben gem acht,
die indes den. Sachverhalt eher verschleiern als k läre n ..der Sprechgesang darf
»nie an Gesang erinnern«, abe es wird. auch, nicht »ein realistisch-natürliches
Sprechen angestrebt«. Wohl wahr, nur bleibt uns Schönbergs Vorstellung
im m er noch zu vage, um. die rechte Nuance treffen zu können.
Könnte m an nicht die historische Aufnahm e unter Schönbergs eigener Lei­
tun g zur Klärung heranziehen? —Kann man nicht. Denn dort wird, dermaßen
gesündigt, daß die M utm aßung erlaubt sein m uß, der Komponist habe zur
96 Robert H P Platz

V erhinderung auch zukünftigen Jaulens errst einen weiteren Passus des Parti-
turvorwortes entworfen: »der Ausführende m uß sich aber sehr davor hüten, in
eine singende Sprechweise zu verfallen. Das ist absolut nicht gem eint.«
Was also tun?
Die traditionelle Schlamperei übersetzt alles »so ungefähr«, da es ja, wie jeder
w eiß, nur »auf die Linie ankom m t«. Die gängige Lösung lautet also: Die notier­
ten Tonhöhen finden keinerlei Berücksichtigung (»das geht ja doch nicht«),
oder wenn, dann kaum mehr denn als taktweise beibehaltene Intervallstruk ­
tur, kurioserweise oft eine Q uinte zu tief.
Selbst Boulez gibt in seinem Lexikon-Artikel zu Schönberg eine zwar nach­
vollziehbare, gleichwohl unbefriedigende Begründung seiner Jahre später unter
völliger Ignorierung des S prechgcszngs vorgelegten Schallplatteneinspielung —
er läßt das ganze W erk schlichtweg singen.
Trotzdem findet sich in seinem Text ein Schlüsselwort, das in Schönbergs
Partitur-Vorwort transplantiert die Sache klären hilft: »Emissionsdauer« (nach­
zulesen in: Pierre Boulez, Anhaltspunkte, Stuttgart/Z ürich 1975, S. 313).
Ich lese jetzt also: »Der Gesangston hält die lo n h ö h e unabänderlich fest, der
Sprechton gibt sie zwar an, verläßt sie aber nach kurzer Emissionsdauer.«
Nun klin gt der Satz zwar ein w enig am tlich nach den neuesten Abgasbe­
stim m ungen, besagt aber klar: die Ibnhöhe ist beendet nach kurzer Zeit. Also
kein w im m erndes Glissando nach oben oder unten wie in Schönbergs eigener
A ufnahm e (» ... verläßt sie durch Fallen oder Steigen sofort w ieder«), sondern
technisch gesprochen eine A m plitudenrücknahm e.
Und das geht tatsächlich! Die Probe aufs Exempel ist einfach und für jeden
nachvollziehbar: Unterbrechen Sie sich zum le s t einmal mitten, im Redefluß.
Setzen Sie die zuletzt gesprochene Passage quasi in m usikalische W iederho-
lungsklam m ern, um beim wiederholten Sprechen auf die Sprachm elodie, die
lo n h ö h en des Sprechgesangs zu achten. H at man erst einmal, die einer Passa­
ge zugrundeliegende lhn.fol.ge erkannt, versucht man, unter Beibehaltung die­
ser 'lonhöhen den. Satz nochmals zu sprechen und erhält Schöribergs Sprech ­
gesang.
Som it ist es m öglich, P ierrot w ie notiert auszuführen: gesprochen, aber m it
exakten, lo n h ö h en . Daß dies bisweilen ungewohnt klingt, liegt an der noch
heute w irksam en R adikalität von Schönbergs W erk... und am. Genre, »irn
Ganzen eine höhere A rt von Kabarett, dessen hum oristische Seite allzu oft über­
sehen wurde« (Boulez).
Jedenfalls ergibt sich, etwa im hohen Register, wo norm alerweise niemand
spricht, eine textbezogen richtige Komik.
Hans R udo lf Zeller

Schönbergs »Sprechgesang« und XenaloV


Intervallglissando

Aus Arnold Schönbergs Vorwort zum P ierrot lu naire : »Die in der Sprechstim ­
me angegebene M elodie ist (bis aut einzelne besonders bezeichnete A usnah­
men) n ich t ?,um Singen bestim m t. Der Ausführende hat die Aufgabe, sie unter
guter Berücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen in eine Sprechm elodie
um zuwandeln. Das geschieht indem er
I. den Rhythm us haarscharf so einhält, als ob er sänge, d .h . m it nicht mehr
Freiheit, als er sich bei einer Gesangsm elodie gestatten dürfte,
II. sich des Unterschiedes zwischen Gesangston und Sprechton genau bewußt
wird: der Gesangston hält die 'lonhöhe unabänderlich fest, der Sprechton
gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen oder Steigen sofort wieder.«
Obwohl der Zyklus von 21 M elodram en für eine Sprechstimm e und Karn-
m erensemble komponiert: wurde, sollen die Texte dennoch nicht gesprochen,
bloß rezitiert, ebensowenig aber gesungen werden; vielm ehr sind sie entspre­
chend den »vorgezeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie urnzuwandeln«.
Andererseits aber soll der Ausführende den Rhythm us »haarscharf« so enthal­
ten, »als ob er sänge, d .h . m it nicht mehr Freiheit, als er sich bei einer Gesangs--
melodie gestatten dürfte«. Schönberg supponiert also unabhängig von der Pro
duktionsweise einen Z usam m enhang von 'ih n und seiner Dauer, im übrigen
auch, unabhängig vom Unterschied zwischen Gesangston iiru Und
dieser bestellt darin, daß der Gesangstoii »die Tonhöhe un; fest-
hält, während »der Sprechton sic zwar an(gibt), ... sie aber i und
Steigen sofort wieder (verläßt)«. Fast könnte man danach sagen: cm ton, des­
sen lonhöhe sich durch Fallen oder Steigen ständig verändert, also nicht nur
eine, sondern unzählige Tonhöhen hat, ist gar kein 'Fon, wenigstens nicht im
traditionellen Sinne. V ielm ehr gehört das, was Schönberg hier offenbar in ten­
diert, zur D efinition des Glissandos, das bis in die 50er Jahre des 20. Jahr­
hunderts quasi nur in A usnahm efällen auch kom positorische Verwendung
fand, für gewöhnlich aber in seinen diversen Abstufungen eher zu den Unar­
ten m ancher Interpreten zählte,
Anfang der 50er Jahre indes waren es nicht vokale, sondern instrum entale
G lissandostrukturen, die in den. ersten Orchester werken von lannis .Xenakis
neben Vierteltönen und Schwebungen zu hören waren, bevor er in den 60er
Jahren auch vokale Glissandoform en entw ickelte und derart: der kurzen
Geschichte der Komposition m it M ikrointervallen m it fast jedem Werk ein
neues Kapitel hinzufügte. Von der sich Schönberg scheinbar schon im voraus
98 H ans R udolf Zeller

distanzierte, obwohl er sich in der 1911 erschienenen H arm onielehre m it ihren


theoretischen Voraussetzungen ausführlich auseinandergesetzt hatte und den
dam als mancherorts virulenten Versuchen unter bestim m ten Bedingungen
durchaus eine Chance gab: »jedenfalls erscheinen Versuche in V iertel- oder
D ritteltönen zu kom ponieren, wie sie hie und da unternom m en werden, m in­
destens solange zwecklos, als es zu w enig Instrum ente gibt, die sie spielen könn­
ten .«1
Diese neue »Richtung« w ar som it eher aus äußerlichen G ründen befremd­
lich und Schönberg selbst eigentlich schon im dritten l e i l der G urrelieder auf
dem besten W ege, sie nicht nur theoretisch, sondern kraft seiner kom posito­
rischen Potenz sicherlich ungew ollt zu unterstützen, m it der Konzeption der
Sprechstimm e des 1912 kom ponierten P ierrot lunaire. N icht zufällig auch war
Ferruccio Busoni, der 1906 in seinem E n tw u rf ein er neuen Ästhetik d er Ton­
kunst iüv das Dritteltonsystern eingetreten war, an einer baldigen A ufführung
gerade dieses Werkes von Schönberg in Berlin aufs äußerste interessiert, die
schon am 17. Juni 1913 in seiner Berliner Privatwohnung stattfand.2
Nochmals Sätze aus dem Vorwort der Partitur: »Der Ausführende m uß sich
aber sehr davor hüten, in eine >singende< Sprechweise zu verfallen. Das ist abso­
lu t nicht gem eint. Es wird zwar keineswegs ein realistisch-natürliches Sprechen
angestrebt. Im Gegenteil, der U nterschied zwischen gew öhnlichem und einem
Sprechen, das in einer m usikalischen Form m itw irkt, soll deutlich werden. Aber
es darf auch nie an Gesang erinnern.
Irn übrigen sei über die A ufführungen folgendes gesagt:
Niem als haben die .Ausführenden hier die Aufgabe, aus dem Sinn der W or­
te die Stim m ung und den C harakter der einzelnen. Stücke zu. gestalten, son­
dern stets lediglich aus der M usik.«
Kein. Gesang also, aber auch keine »singende«, das Sprechen sozusagen, bele­
bende, krampfhaft überhöhende Sprechweise, die wom öglich »ans dem Sinn
der Worte die Stim m ung und den C harakter« der Stücke zu gestalten sucht
oder gar einen zeitgenössischen Rezitationsstil aus der Sphäre des Kabaretts
im itiert. Angestrebt ist auch »keineswegs ein. realistisch-natürliches Sprechen.«
wie vielleicht im Theater, sondern eines, »das in einer musikalischen. Form m it­
w irkt«, ohne je auch nur »an Gesang (zu) erinnern.« An Gesang als eine rhyth­
misierte Folge tem perierter Tonhöhen verstanden, die nun aber jew eils nur
Ausgangspunkte fallender oder steigender G lissandobewegungen darstellen.
Allerdings ohne, daß ein Zielton, m ithin die effektive Dauer des Glissandos
festgelegt wäre. Daher handelt es sich stets um Glissandi, deren D auer nicht

1 V g l. A rn o l d S c h ö u b e r g , H arm onielehre , W i e n 1 9 2 2 , S. 2 3 ft. ( m i t d e r v e r m u t l i c h lä n g s te n F u ß ­


n o te d e r n e u e r e n M u s i k g e s c h i c h t e ) u n d S. 4 7 4 .
2 V g l. R e i n h a r d E r m e n , Ferruccio Busoni, H a m b u r g 1 9 9 6 , S. 8 9 H.; vgl. a u c h d a s 1 9 7 4 e r s c h i e n e ­
ne F a k s i m i l e e i n e r A u s g a b e von 1 9 1 6 von B u s o n is E ntw urf ein er neuen Ästhetik d er Tonkunst m i r
h a n d s c h r if t l i c h e n A n m e r k u n g e n v on A rn o ld S c h ö n b e r g . D ie E r w ä h n u n g v o n D r it t e l t ö n e n in S c h ö m ­
ber gs H arm onielehre lä ß t v e r m u t e n , d a ß S c h ö n b e r g B u s o n is E ntw urf sc hon k a n n t e .
Schönbergs »Sprechgesang« und X enakis’ Intervallglissando 99

m it dem betreffenden Notenwert übereinstim m t und deren R ichtung — ob


steigend oder fallend —nicht eindeutig notiert ist. Dennoch sind beide, effek­
tive D auer w ie Richtung, vom jew eiligen Notenwert abhängig: lange Dauern
erm öglichen längere Glissandi in beiden R ichtungen; m it einer dichten Folge
kurzer Dauern w ird zugleich die R ichtung festgelegt.
Schönberg visiert ein Sprechen, »das in einer m usikalischen Form m itw irkt«,
verliert dagegen kaum ein W ort über den Text. Im Grunde bezog sich schon
darauf die K ritik von H anns Eisler, für den Albert Giraud nur »ein schwacher
N achahm er Verlaines« war, noch dazu in der Übersetzung von Otto Erich H art­
leben, an die Schönberg eine »wunderbare K am m erm usik« verschwendet habe:
»D ie alberne Provinzdärnonik Girauds w irkt durch die übertriebene, sich ein­
fühlende Vortragsart der Sprechstimm e, die Schönberg rhythm isch fixiert hat
und verlangt, peinlich und lenkt von der M usik ab. Ich habe Schönberg öfters
vorgeschlagen, den Text wegzulassen, um die großartige M usik als C h a ra k ­
terstücke« zu retten. Er w ar m it diesem Vorschlag nicht: einverstanden.«3 Ver­
ständlicherweise, denn wenn schon nicht der Text, gehört doch sehr wohl die
Sprechstim m e zur Substanz dieser »großartigen M usik«, an deren Form sie
unhezweifelbar m itw irkt und die durch die vorgeschlagene E lim inierung nicht
gerettet, sondern unrettbar zerstört würde.
In Schönbergs Notation jedoch ist die A ffinität der Sprechstim m e zum Glis­
sando nur indirekt zu entnehm en. Dennoch scheint: die N otation von vier der
21 M elodram en wenigstens für ein(en) bzw. zwei Takt(e) auf ein Glissando
hinzudeuten. So im neunten M elodram , »Gebet: an Pierrot« durch eine
geschlängelte Linie unter »Pierrot« zwischen dem neunten und zehnten 'Jakt:

oder vielm ehr ein Glissando zwischen den Achteltriolen f ”-<?”und der V ier­
telnote d is”. Bewegt es sich hier noch, auf engstem Raum., ist es im elften M elo­
dram, »Rote M esse«, vielm ehr ein Riesensturz abwärts von g is ”nach d\ der bei
größter Lautstärke, fff, die Priesterkleider »zer - reißt«:

3 V g l . H n n n s Eisler, M aterialien zu ein er Dialektik d er Musik. L e ip z ig 1 9 7 6 , S. 1 76 .


100 H ans R u d o lf Zeller

Ein kaum m inder tiefes Abgleiten ist im turbulenten dreizehnten M elodram ,


»E nthauptung«, zu verzeichnen, wobei diesmal die beiden 'Föne der Rezita­
tion durch eine punktierte Linie m iteinander verbunden sind. Daß ein G lis­
sando gem eint bzw. notiert ist, wird durch die drei gleichfalls in eine G lissan­
dobewegung abwärts übergehenden Instrum ente bestätigt, deren punktierte
Linien zusätzlich m it »gliss.« bezeichnet sind:

Das Glissando der Rezitation löst jedoch nicht allein die Glissandi der drei
M elodieinstrum ente aus, sondern ebenso —und w iederum fff - die fallenden,
teilweise ganztön igen und extrem gegensätzlichen M artellato-A nschläge des
Klaviers. Im fünfzehnten M elodram zu Beginn des dritten Teils, »H eim weh«,
Schönbergs »Sprechgesang« und X enakis5 Intervallglissando 101

ist das Glissando zwischen den V ierteltriolen in 'Fakt 9 w ieder wie in den ersten
beiden Beispielen notiert:

W ährend Schönberg die G lissandobewegungen des Sprechgesangs im zweiten


und dritten Teil des P ierrot lunaire noch w eiter differenziert, beschränken sich
dem gegenüber die w enigen 'Föne, die zu singen sind, auf den ersten und zwei ­
ten Teil. Dabei dom iniert im ersten und zweiten M elodram zunächst der bloße
Wechsel von »gesprochen« und »gesungen« und w ieder zurück, wie auch spä ­
ter im vierten und elften M elodram . Hingegen nim m t das drifte M elodram ,
»Der D andy«, eine Sonderstellung ein, nicht nur was die Anzahl der Töne,
sondern vor allem was die zusätzlichen N uancierungen und d a s ' r
Rezitation zurn Instrum ent angeht. Auf d ie ..nach, einer Achtelp;;
d ien en W örter »auf den« folgt das zur fallenden Septim e gesi ..................... i
»schwar - zen« und danach, w ieder nach einer Ach.telpau.se, die s i
Silben, »hoch - hei - li - gen«. Vor dem »tonlos geflüsterten« W
tisch« wird die Achtel- zur V iertelpause verdoppelt, ebenso abe
note von »Wasch.-« zur H alben von »risch« verlängert, derart aus der vorher­
gehenden G lissandobewegung herauskatapultiert und erst w ieder durch das
»m it 'Ion gesprochene« W ort »des« zur Q uinte g 'w ieder in sie übergeleitet:
102 H ans R udolf Z eller

Bezogen sich die Vortragsbezeichnungen hier noch au f die einzelnen W örter,


gelten sie ab 'la k t 16 nur noch für einzelne Silben. »Gesungen« werden dem ­
nach die Silben »M it ei-nem phan-«, »tonlos« gesprochen dagegen »ta-sti-
schen« und w iederum »gesungen« die Silbe »Licht“«, schließlich »gesprochen«
die Silbe »strahl«. Gleichwohl kehrt die Rezitation diesmal nicht um gehend
w ieder zu ihrem exzentrischen Verlauf zurück. Repräsentierte sie bisher schon
und auch danach den dank ihrem system atisierten Abgleiten von der fixierten
'Jonhöhe den absoluten Gegenpart zu allen Instrum entalparts, soll die ab­
schließende Verszeile nun »fast gesungen« werden, und zwar »m it etwas Fon,
sehr gezogen, an die K larinette anpassend«:

Auch das »gesungen (wom öglich die tieferen Noten)« im achten M elodram ,
»N acht«, einer Passacaglia, exem plifiziert einen Anpassungsvorgang: w en ig­
stens einm al soll die Rezitation von ihrem eigengesetzlichen Stil abweichen
und klar erkennbar, quasi notengetreu das »Them a« des Stücks, die Verbin­
dung von kleiner und großer Terz intonieren:
Schönbergs »Sprechgesang« und X enakis’ in rervallglissando 103

Uftwas rsßeüher.

{§& ßls^s? dS®8tlld s feSxb&s)

(B S S Ü S a E tw as r a y h er.

gesgstoeissa
raM H©„ <.g-Lmst fen o feirto .m a. Au»demQu*lmvMr . tot . am
.JI^a Ifitwftgigagener. p**

Was zu Beginn des zweiten Teils als einm alige, auf drei Töne sich beschrän­
kende Intervention erscheint, durch die sich die Rezitation als Singstim m e am
Aufbau einer traditionellen Form beteiligt, wird im dritten Teil die Rezitation
selbst übernehmen. N im , im siebzehnten M elodram , »Parodie«, ist diese tr a ­
ditionelle Form zugleich die strengste: der Kanon. Der Reihe nach im itiert der
Sprechgesang die Stim m en der einzelnen Instrum ente, die zudem noch jeweils
mit einem anderen Instrum ent einen Kanon in G egenbewegung bilden. Doch
eigentlich im itiert der glissandierende Sprechgesang zunächst nicht nur die
Stim m e der Bratsche, sondern transform iert sie zugleich, indem er sie seinem
fluktuierenden Stil anpaßt:

Pictof.

S f3 # = = f= w = »

M, I ,

? !
SM ck .
(JG .,)
din-f ii (i in i k

K lavier.

Umgekehrt: verhält es sich, wenn nach einem Zwischenspiel von Piccoloflöte


und Klavier nun die Stim m e des Sprechgesangs von der Bratsche übernom ­
men und damit: in unterscheidbare lonhöhen übersetzt wird, zu der dann die
104 H ans R ud o lf Z eller

K larinette die G egenbewegung spielt. Ab Takt 17 im itiert danach die Picco­


loflöte den Sprechgesang, w ährend gleichzeitig der Kanon in G egenbewegung
zwischen Bratsche und Klarinette abläuft, das Tempo sich bei einem erneuten
Zwischenspiel schließlich verlangsam t und der Sprechgesang die K larinette
ins Spiel bringt, wogegen Bratsche und Flöte dazu den allerdings nicht mehr
ganz notengetreuen Kanon in G egenbew egung absolvieren. A ußerdem je ­
doch erscheint drei Takte später der Krebs des Sprechgesangs beinahe no­
tengetreu in der Stim m e der Piccoloflöte, die w iederum vom Sprechgesang
zu den W orten »Strick - na - dein, blink und blank« ziem lich frei im itiert
wird:

Schönberg kom biniert jedoch das inkom m ensurabel Neue und Exzeptionelle
des glissandierenden Sprechgesanges nicht erst in der »Parodie« m it dem
gewohnten Instrum entalklang, auch wenn es sich gerade in V erbindung mit
dem Kanon auch in m usikalischer H insicht um eine besonders kunstvolle »Pa­
rodie« handelt. Wei taus w irkungsvoller ist bereits eine frühere Parodie, die Kon­
frontation des Sprechgesangs m it einem einzigen Instrum ent, der Flöte, im
letzten Stück des ersten Teils, »D er kranke M ond«. W eil auch der M arteau sans
Scbönbergs »Sprechgesang« und X enakis’ Intervallglissando 105

M aitre von Pierre Boulez ein Stück für Flöte und Singstim m e enthält, hat man,
nicht ohne einem. H inw eis von Boulez selbst zu. folgen, Schönbergs Pierrot
lunaire prom pt m it dem anderen großangelegten Zyklus verglichen, obwohl
dort die Singstim m e keinen Sprechgesang auszuführen hat und des- Reiz des
.Marteau gerade vom »exotischen« Instrum entarium ausgeht. Insofern bein­
haltet Schönbergs Duo ungleich mehr als ein solches für Flöte und Singstim ­
me, stellt vielm ehr in. konzentriertester Form den Instrum entalton dem glis-
sandierenden Sprechton des Sprechgesangs gegenüber. D arauf verweist schon
das äußerst reduzierte Tempo »Sehr langsam e d.« und dam it verbunden die
aufs Ganze gesehen längsten D auern der Rezitationstöne, m it vorw iegend H al­
ben und V ierteln statt Achteln und Sechzehnteln. Schon in den ersten 'Fakten
überwiegen sowohl instrum ental wie vokal die längeren W erte, die nur vor­
übergehend w ieder verkürzt werden, um im gesamten m ittleren 'Feil vorzu­
herrschen:

, UM SU ..
i
i» ■
» a S Ä iir a c Iit, S ie f sxaolxJig t-ö..,deskrst>:!kss"

Schon gleich zu Anfang m it den vier Vierteln von (M clo-)»die.«, dem längsten
W ert der Rezitation, das die Flöte als Stichwort zu einem melodischen Aul-
schw ung versteht, der sich, aber nach großen Sprüngen bald auf kleine lauer
vallschritte reduziert. Desgleichen reduziert sich die Lautstärke vorn f zürn ppp})
in Takt i 5 für die Triolen aus kleinen und großen Terzen, und die Spielweise
ist. wie schon zuvor überwiegend non legato. Die Intervalle des Sprechgesangs
hingegen werden, größer, bis s ic ..wie schon im achten M elodram »N ach t«...
in Takt 16 die untere Grenze des Ambitus der Stim m e erreichen, nun aber kei-
u( f ills gesungen werden, dürfen, jedenfalls eine Intensivierung des vorigen
il u s m ittels Erweiterung darstellen. Das Solo des Sprechgesangs beginnt und
endet auf demselben 'io n gleicher Dauer, welche dann auch die Flöte über­
nim m t, vor einem eher zaghaften Aufschwung, der erst im folgenden Schluß­
teil w ieder an Höbe und Lautstärke gew innt.
Neben gegenseitiger Verstärkung von Sprech- und ln st rum en talstim m e
durch annähernde Parallelführung oder andererseits durch H ervorhebung
gerade der Differenz ihrer A rtikulationsweisen verm ag die Sprechstimm e noch
106 H ans R udolf Zeller

au f andere, gleichfalls unersetzbare W eise an der m usikalischen Form m itzu­


wirken. Im achtzehnten M elodram , »Der M ondfleck«, bilden Geige und C el­
lo, Klarinette und Piccoloflöte jeweils einen D oppelkanon, der m it den W or­
ten der Rezitation beginnt: »(Ei-nen) w eißen Fleck d e s hellen M ondes, auf dem
Rücken seines schwarzen Rockes«, die in der zweiten und dritten Zeile der
zweiten Strophe wiederkehren. Schönberg verdeutlicht die Rondeauform des
Textes, indem er den D oppelkanon Note für Note als Krebs zurücklaufen läßt.
Die »W endenote«, das dreigestrichene as, liegt genau zwischen »richtig -« und
dem nach einem Sechzehntel einsetzenden Wort »ei - nen«:

Doch der Text ist nicht zu Ende: Rezitation und Klavier kontrapunktieren
zugleich den unerbittlich zur Aiifangsnote der (-leige zurückkehrenden Krebs
des Doppelkanons, indem sie dein Schluß oder der dritten W iederkehr der
Zeile »einen w eißen Fleck des hellen M ondes« m it erhöhter Aktivität zustre­
ben. Zum al das Klavier sich bei der Wende m itten in der zweiten. Exposition
einer Fuge befand, und. nach einem weiteren Zwischenspiel noch eine dritte zu
bewältigen hat samt Coda. Dem gegenüber erscheint der .Doppelkanon seines
Ablaufcharakters wegen nur mehr als Begleitung.
Zu Beginn des Stückes standen die Schlußnoten der Geige über den Wor ­
ten »w eißen Fleck«, die nun im Schlußtakt gleichfalls w ieder am Anfang
stehen und zusamm en m it dem in der Coda der Klavierfuge m ehrm als
bekräftigten Schlüsselintervall dieses M elodram s, dem Tritonus, gespielt
werden.
Anders als Schönberg, der den Sprechton als A bweichung vom festgehalte-
nen Gesangston definierte und dadurch den Z ugang zur Sprechm elodie als
Schönbergs »Sprechgesang« und X enakis’ Intervallglissando 107

P a u s e , b lo ß fS\
fo lg t:

A lternative zur Gesangsmelodie freilegte, konnte fannis Xenakis bereits vom


Glissando als einem von ihm entdeckten neuartigen Element der Komposi­
tion ausgehen, dessen 'Tragfähigkeit sich, überdies in. mehreren Instrum ental­
werken erwiesen hatte. Darin ging es Xenakis zunächst um die im m er mehr
auch mit m athem atischen H ilfsm itteln erm öglichte E ntw icklung großflächi­
ger und w eiträum iger G lissandostrukturen vor allem der Streicher im Unter ­
schied zur P unktualität der 'Jo n e oder der Körnigkeil: der Geräusche. T h e ­
m atisiert w ar der kontinuierliche Ton gegenüber der D iskontinuität der
Ion,stufen, bald wurden jedoch die »harrnonis ’ '” 1
seinen Kompositionen, nicht nur im m er se.Iten.ei
G lissandobewegungeo im m er \ <m i \<dm/i Spi n u n ' n ' < > "> h ’
Violoncello solo von. 1966 war , n e ! i, i m hk’umIi > < <n / |> D I
dos interessiert, das sich in kleinen oder kleinsten mrervauen aucn untem aio
des Halbtons bewegt. Diese 'Tendenz läßt sich unschwer bis in die 90er Jahre
verfolgen, ob in Stücken für Karnrnerensemble wie Epei für Kainmerensem-
ble, im Streichquartett ’l etras o d er im Posau.ne.nkon.zert. ’lroorkh. So konnten
etwa Ketten melodischer, oft geradezu »sprechender« Intervallglissandi entste­
hen, was auch eine neue Form der Vokalkom position begünstigte und zudem
eine Alternative zur Vertonung möglich machte.
(3der jedenfalls dem Komponisten eine viel größere Freiheit gegenüber
vorgegebenen Texten einräum te. A llerdings w ar dann über die Singstim m e
und die C harakteristika ihrer A rtikulationsw eisen im m er w ieder neu zu
entscheiden, frn vierteltönigen C horw erk Nuits von 1969 verwendete Xena­
kis Phoneme verschiedener Sprachen, während ihm in N ’ Shima für zwei
Frauenstimm en, zwei Hörner, zwei Posaunen und Violoncello von 1.975 je­
weils Bruchstücke eines hebräischen Textes Vorlagen. In Akanthos aus dem jahr
108 H ans R udo lf Z eller

1977 hingegen hat der Sopran w ieder nur wenige Phoneme —und dies so­
gar relativ selten — zu artikulieren, aber die vollständige Besetzung des
Kamm erensembles erinnert trotz einiger U nterschiede auffällig genau an
jene von Schönbergs P ierrot lunaire: Flöte, K larinette, Klavier, Streichquar­
tett und K ontrabaß, insgesam t neun Ausführende. Der 'Fitei Akanthos ist
zum einen der Nam e der Pflanze Bärenklau, die zum anderen Vorbild für
das O rnam ent am Kapitell der korinthischen Säule diente. Und manches in
dern Stück könnte m an als O rnarnentierung deuten, vor allem die jeweils indi­
viduellen Intervallglissandi, welche die Streicher nach einem interkalierten
Knirschen au f dem Steg »unter« den nach oben schießenden Kaskaden des
Klaviers spielen. Denn instrum ental wie vokal ist das Stück nicht zuletzt ein
K om pendium aller von X enakis entw ickelten Glissandoform en, so gleich
anschließend eine Phase langgedehnter »harmonischer« Glissandostrukturen
der Streicher.
Die Stim m e hingegen, obwohl ins Ensemble integriert, ist keinesweg nur
bloße Vokalfärbung, erfüllt vielm ehr strukturelle, um nicht zu sagen kontra-
punktische Funktionen, gerade beispielsweise gegenüber den Glissandi der
Streicher, denen sie staccato-Repetitionen eines Tones entgegensetzt. Zudem
ist sie weder nur Sing- noch nur Sprechstim m e: in den nach ihren Intervall­
glissandi w iederkehrenden, äußerst schnellen Staccato-Partien verläßt sie die
vorgezeichneten Tonhöhen ebenso wie sie diese in den m elodischen G lissan­
dofiguren nur berührt. Nur die »einlachen«, mehr oder m inder steigenden oder
fallenden Glissandi führen, abweichend von Schönbe
ton, füllen also unterschiedlich große Intervalle gänzlicn aus.
Intervallglissandi zu den Phonemen u (wie Französisch ou), i und A m it den.
Abschlußsilben NI und SITA und die folgenden zu A:

fe

f r

f= Ü

sn
._l,_ - J I

r...
Schönbergs »Sprechgesang« und X enakis’ Incervallgiissando 109

Die zwischen den einzelnen N otenwerten fixierten kleinen Noten sollen nicht
gespielt bzw. gesungen, sondern nur berührt werden, m arkieren m ithin das
Ende des Glissandos, w orauf dann die folgende Note bis zur nächsten kleinen
Note (so vorhanden) zu spielen ist. So könnte nach Xenakis auch der Schön-
bergsche Sprechgesang noch genauer als unbestim m tes oder vielm ehr unvoll­
endetes Intervallglissando gelten.
Doch zurück zur geheim en Beziehung zwischen Staccato und Glissando.
Nach Zweiunddreißigsteln-Staccati des Soprans läßt Xenakis die beiden sich
scheinbar ausschließenden Spielweisen auch vokal konvergieren, vorbereitet
durch das Tremologlissando des Kontrabasses und abgeschlossen vom Platter-
zungen-Glissando der Klarinette:

Die W iederauflösung der Konvergenz von Staccato und Glissando kennzeich­


net den weiteren Verlauf von Akanthos bis zur stim m lichen D om inanz des
Soprans im Schlußreil. Dabei zeigt sich, was das Staccato als Im puls m it dem
dagegen kontinuierlichen Glissando gem einsam hat. Denn beide setzen vor­
aus, daß die vorgezeichnete lo n h ö h e verlassen w ird, und je nachdem , ob instru­
m ental oder vokal, geschieht dies auf ganz verschiedene Weisen. Allerdings
kann das Staccato sich im m er von derselben 'lonhöhe abstoßen, während das
Glissando, um w irklich eines zu sein, auf eine andere, wenn auch noch so
geringfügig abweichende, w eitergleiten muß. Ein Beispiel dafür kom ponierte
Xenakis m it dein vokalen Glissando innerhalb eines Ganztons, m it Achtcl-
tonabweichungen abwärts und aufwärts (siehe die Zeichen über den Noten),
die schließlich in eine P’olge von Sechzehntelrepetitionen des 'Fons °-’ zu den
unregelm äßig verteilten Phonemen A, TE und E m ünden werden:
110 H ans R udolf Zeller

6&1*3OMH
M onika Schwarz-D anuser

rain. zur Sp.rec.hs


Aspekte der »Sprechstim m e« in Oskar Frieds D ie A uswanderer

In der wechselvollen G eschichte des M elodram s spielen die ersten beiden


Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle, zeichnet sich doch in
diesem Zeitraum der Ü bergang vom M elodram als einem im rom antischen
Sinne m it einem ganzen Assoziations- und Bedeutungskom plex beladenen
Term inus zu dem eher neutralen und w eniger belasteten der Sprechstim m e ab.
Dieser Transformationsprozeß soll an einem W erk them atisiert werden, das in
der M elod ram literatu r w enig bekan nt ist: Oskar Frieds D ie Auswandlerer nach
einem Text von Emile Verhaeren. Die 1913 uraufgeführte Komposition für
Sprechtonstim m e, großes Orchester und Fernorchester war zunächst w enig
erfolgreich und wurde gerade im H inblick auf die »Sprechtonstim m e« vom
Komponisten anschließend revidiert.
Doch möchte ich zunächst den Blick auf die M elodram diskussion um die
Jahrhundertw ende lenken. »Seit einem Jahr beunruhigt: d.as für lang schon todt
gehaltene M elodram w ieder w ie ein Schreckgespenst die M usikw elt. Es hat
nichts gefromm t, daß man alle .Bannformeln der ästhetischen Zauberbücher
der Reihe nach dagegen aufsagte, selbst d.as Wei.liwa.sser der Gesammelten
Schriften Richard Wagners scheint hier m it seiner W underkraft zu versagen.
Denn bald hier, bald d.a, in. verschiedenen Gestalten taucht der abgeschiedene
Geist w ieder auf und heischt seine A nerkennung als daseiendes und daseins
berechtigtes Wesen, oder doch eine Beschwörung m it wirksameren. Sprüchen,
als die man. bis jetzt dagegen versuchte. |... ] Der bisher triftigste Einwand, der
sich gegen, die >Gemischthei.t< des melod.ramatiscli.en. Styl es kehrte, bedurfte
den veränderten Verhältnissen gegenüber seinerseits erst der Begründung, aber
N iem and nahm sich die .Mühe, ihn zu erbringen.«
So schreibt im Jahre 1898 der M usikschriftsteller Richard Batka in seinem
Essay »M elodram atisches«.1 Es w ar die U raufführung von H um perdincks
Königskindern im Jahre 1897 in M ünchen gewesen, die eine heftige m usikpub­
lizistische Debatte auslöste und das M elodram , das ohnehin nur am Rande der
m usikalischen G attungen stand, unerw artet in den Brennpunkt ästhetischer
Reflexionen stellte. Das heute nur.me.hr in seiner zweiten Fassung als Oper
bekannte W erk war ursprünglich zu. weiten Teilen m elodram atisch gestaltet,
und zwar in einer vollkom men neuen Art: der des »gebundenen M elodram s«,

1 R i c h a r d B ark a , » M e l o d r a m a t i s c h e s « , in: de rs., Musikrtlnchc Strcijzvgc\ L e ip z i g 1 8 9 9 , S. 21 5.


112 M o n ik a Schw arz-D anuser

bei welchem die Sprechstim m e sowohl rhythm isch als auch diastematisch in
den Tonsatz integriert und m ittels einer zuvor nicht bekannten N otationsw ei­
se bestim m t erscheint.
Zwar hatte es schon früher Ansätze gegeben, die Sprechstimm e durch rhyth­
mische Fixierung in den Tonsatz einzufügen —z.B . bereits in Neefes Sopho -
nisbe (1776), Webers Preciosa (1821), Schum anns M anfred (1852) oder auch
Meyerbeers L epardon d e Ploermel(\ 859) doch waren dies kontextbedingte
M aßnahm en innerhalb einzelner W erke gewesen, die m it der rhythm isierten
Sprechstim m e keinen neuen Stand einer m elodram atischen G attungstradi­
tion definieren wollten. Die H um perdincksche Fixierung in der m elodram a­
tischen Fassung der Königskinder hingegen w urde allgem ein als eine Antwort
au f die Krise der nachwagnerschen Oper verstanden. Indessen wurde die hef­
tig geführte Kontroverse w eniger durch die neue Technik des »gebundenen«
M elodram s ausgelöst als vielm ehr durch den Anspruch, m it dem das H um -
perdincksche W erk auftrat: das W agnersche M usikdram a auf legitim e Weise
fortzusetzen und dessen »Sprechgesang« gleichsam zu sich selbst zu bringen.
Begreiflich, daß alle dogm atischen W agnerianer m it Entsetzen reagierten, hat­
te doch der M eister selbst das M elodram als ein »Genre von unerquicklichster
Gern ischtheit«2 verworfen.
W eder die im Zuge des Historism us in den 1880er fahren erfolgte W ieder­
belebung der Bendaschen M elodram en Ariadne a u f Naxos und M edea in
M ünchen, Gotha und Prag m it teilweise neuer Instrum entierung noch die Auf­
führung eines 'teils aus Fibichs M elodram trilogie H ippodamie 1892 in W ien,
noch Publikationen wie M artin Roeders Schrift Line missachtete Kunstforrn
u n d zu deren Regeneration ein ige erläuternde Worte-’ (um 1875) und W ilhelm
Kienzls D ie musikalische D eclam ation'1zeitigten auch nur annähernd eine ver­
gleichbare publizistische Resonanz.
Die Einbeziehung der gebundenen Sprechstim m e als einem neuen Aus­
drucksm ittel ist auch, und vor allem im Rahmen der dam aligen Na.turah.s-
m usdebatte zu sehen. So schreibt Engelbert H um perdinck in einem Brief aus
dem. fahre 1898 nach der Uraufführung der K önigskinder : »Ich denke natür­
lich nicht daran, daß sie [die neue Kunstforrn des Melodrams) je den Gesang
verdrängen soll, aber neben demselben wird, sie sicher von größter W irkung da
sein, wo Stoff und Form sich nicht für rein gesanglichen Ausdruck eignen.
Unsere moderne Oper geht einen Weg, der zum M elodram führen muß. M it
dem in unserer Zeit liegenden Bestreben, Reales auf die Bühne zu bringen,
m uß sich auch eine Form finden, die sich diesem. Zug der Zeit anpaßt, und
das ist meines Dafürhaltens die Form des M elodram s.«3

2 R ic h a r d W a g n e r , Oper u n d D rama Gesammelte Schriften u n d D ichtungen, Bd. 4 ), I ,eip zig ^ 1 90 7,


S. 4.
3 M a r t i n R o ed er, Eine m issachtete Kunstforrn und. zu deren R egeneration ein ige erläuternde Worte,
B e r l i n o . J . [ca. 1 8 7 5 ].
4 W i l h e l m K ien zl, D ie m usicalische D eclam ation, L e ip z i g 1 8 8 0 .
Vom M elodram zur Sprecbstim m e 113

M it der in diesen W orten zum A usdruck gebrachten Vorstellung, der von


W agner auch in seinen Schriften theoretisch visierte Sprechgesang - W agner
verwendet diesen Term inus allerdings nicht - führe im Sinne einer geschichts­
philosophischen Zwangsläufigkeit zum M elodram , steht H um perdinck kei­
neswegs allein. Otto Klauwell, Komponist und M usikschriftsteller, schrieb
bereits in seinen 1892 erschienenen M usikalischen Bekenntnissen , wenn auch
m it anderer A kzentuierung: »D ie C onsequenz des M usikdram as Richard W ag­
ners, wenn m an es auf das Verhältnis ansieht, welches es den darstellenden Per­
sonen dem Orchester gegenüber anweist, ist das M elodrama, als in welchem
der m enschlichen Stim m e der letzte Rest m usikalischer Ausdrucksweise ent­
zogen und die Aufgabe der m usikalischen C harakteristik in ihrem ganzen
Umfange dem Orchester überwiesen worden ist,«6
Ob K lauwell, der auch zwei O pern kom poniert hat, seine T heorie dort
auch realisiert hat, ist m ir nicht bekannt. W ährend K lauwell eher einen Ge-

5 B ri ef E n g e l b e r t H u m p e r d i n c k s an A r c h i v r a t D ist l v o m 2 .1 ] . 1 8 9 8 , zit. n a c h : A n n e t t e Ger stne r,


Die K hw ierlieder Engelbert H umperdincks , Kassel 1 9 8 4 , S. 7 2 . l n s e in e m Lied » M a i a h n u n g « (Nr. 8 aus
J u n ge L ieder 1 8 9 8 ) h a t H u m p e r d i n c k d i e n e u e N o t a t i o n s w e i s e a u f das G e b ie t de s L y ri sc h en ü b e r ­
t ra gen :

Ls w d u durch hell - schimmcm •• de W i - pfd der huh-lm p und


The SJ-’N'VJ Ims •• itinwl »vidi snm c;:ul Mos- soms and

: i....
81 .~
hi , 1

L n g e l b e r f H u m p e r d i n c k , » M a i a h i n n i g « , Nr. 8 a us ju n g e JJed er , T. 4 -(>.

H i n g e g e n verwen det, er das M e l o d r a m in se in er S c h a u s p i e l m u s i k zu S h ak e s p e a r e s Der KiHifman-n m


Venedigs w e l c h e im D e u ts c h e n T h e a t e r m B erl in a m 9. N o v e m b e r 1 9 0 5 u r a u f g c i ii h r t w u r d e , in d u r c h ■
aus tr a d i tio n e l l e r Weise :

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Kn gel ber t L l u m p e r d i n c k , D er K aufm ann in Venedig, L e ip z ig 1 9 0 7 , Nr. 7.

6 O tt o K la u w e ll, Musikedische Bekenntnisse, L e ip zig 1 8 9 2 , S. 4 3 .


114 M o nika Schw arz-D anuser

gensatz zwischen M usikalisch und Gedanklich [Sprache] postuliert, wie sich


aus seinen weiteren Bemerkungen zur Oper in dem. genannten Buch eruieren
läßt, spielt bei Otto Nodnagels program m atisch gefaßtem Titel Das naturali­
stische M elodram die N aturalism usdebatte der dam aligen Zeit eine entschei­
dende Rolle. Als A nhänger von H auptm ann und Ibsen liegen die ästhetischen
Prämissen, die sein D enken prägen, in der Vorstellung von einem »auf allen
G ebieten herrschenden Gesetz einer unablässigen organischen W eiterent­
w icklung«7. Ä hnlich w ie H um perdinck sieht er diese organische W eiterent­
w icklung des W agnersclien M usikdram as ins M elodram m ünden und versteigt
sich zu folgender These: »W enn diese m usikalische D eklam ation, dieser
>Sprechgesang<, auch zweifellos eine der bedeutendsten Errungenschaften ist,
die Wagners Genie uns beschert hat, so glaube ich doch, daß für die Zukunft
seine H auptbedeutung au f dem Gebiete der m usikalischen Lyrik liegen wird.
—ich verweise nur au f das Schaffen eines Hugo W olf —; während, ich ihn im
m usikalischen Dram a nur für eine w ichtige D urchgangsstufe zu einer Re­
generation des M elodram as auf: moderner Grundlage h alte.«8
W eiterhin würdigt: er H um perdincks K önigskinder zwar als den Versuch
einer richtigen Problemstellung, sieht aber seine Realisierung durch sogenannte
»Sprechnoten« als gescheitert an, da der Unterschied zwischen Gesangs- und
Sprachprosodie nicht bedacht worden sei und gelangt zu folgendem Fazit:
» [ ... ] so ist es ihm gelungen, an seine >Königskinder< eine prinzipielle D iskus­
sion zu knüpfen, die zu dem künstlerischen Wert seines m ißlungenen Experi­
ments in. gar keinem Verhältnis steht. Aber das Problem eines naturalistischen
M usikdram as, das also ein naturalistisch gestaltetes und naturalistisch zu. spre­
chendes .Melodram sein müßte, ist noch ungelöst..«11
Daß selbst noch in den 1920er Jahren und verm utlich in Unkenntnis der
um die Jahrhundertw ende geführten D isku..: ....• .......als eine m ög­
liche Antwort auf die Krise der nachwagnei 'tirde, beweist
ein Artikel von Georg Klaren »Zur Tech.ri.il ,<> t 1 I der 1920 in
den M vsikblM tem des Anbruch publiziert w urde. Dort heißt es: »G esam t­
kunstwerk der Z ukunft wäre das szenische M elodram, in dem die Künste ein­
ander nach ihren spezifischen A usdrucksm öglichkciten ab!Ösen und die M usik
vermöge ihres psychischen Gehaltes erst: dort einsetzt, wo Sprachi.ntell.ekt: zum
Ausbruch, des Durchseelten nicht mehr re ic h t,..was überoh: ein tritt.«10
Oskar Fried, heute nur mehr im Z usam m enhang m it Gustav M ahler bekannt
und w eniger als Komponist denn als D irigent, hinterließ ein nur schmales
kom positorisches CEuvre. Nach autodidaktischem Anfang hatte er kurzfristig
U nterricht bei Engelbert H um perdinck, wobei seine Fantasie über M otive aus

7 Er nst O tt o N o d n a g e l , Das naturalistische M elodram , in: der s., Jenseits von Wagner u n d LiszU
K ö n i g s b e r g 1 9 0 2 , S. 152.
8 E b e n d a , S. 1 53.
9 E b e n d a , S. 1 5 5.
10 G e o r g K la ren , » Z u r T e c h n i k des O p e r n b u c h e s « , in: M usikblätter des A nbruch 2 (1 9 2 0 ) , S. 2 2 0 .
Vom M elodram zur Sprechstim m e 1 15

»Hänsel u n d Gretel«, bearbeitet für großes Orchester im Jahre 1895, eine Art
H om m age an den Lehrer darstellt. (Er kannte dieses Werk sehr genau, da er
H um perdinck bei der H erstellung des Klavierauszuges behilflich war, und auch
dessen Ü berlegungen hinsichtlich des gebundenen M elodram s dürften Oskar
Fried nicht unbekannt gewesen sein.) Um seine kom positorischen Studien zu
vertiefen, nahm Fried in Berlin noch U nterricht bei Philipp Scharwenka in
K ontrapunkt und w urde durch die A ufführung seines Trunkenen Liedes, op. 11
(1904), durch Karl M uck schlagartig berühm t. Die in den darauf folgenden
Jahren erschienenen M onographien von Paul Bekker (1907), Hugo Leichten-
tritt (1906) und Paul Stefan (1910) w ürdigen Fried als einen Komponisten
von ernstzunehm endem Format, als dessen C harakteristikum ein neuartiger
»M assenstil« galt, wie er vor allem im Erntelied, auf einen 'Text von Richard
D e h m e l für M ä n n e rc h o r und Orchester zutage tritt.
Diesem auf große W irku n g bedachten Stil im Sinne einer W eltanschau­
ungsm usik ist auch seine Komposition D ie A uswanderer auf einen Text von
Emil Verhaeren in der N achdichtung von Stefan Zweig aus dem Jahre 1912
verpflichtet. Das nahezu 400 Fakte umfassende W erk ist für eine »Sprechton­
stim m e«, großes Orchester und Fernorchester geschrieben. Es darf als eines der
Zeugnisse dafür gelten, daß die Einbeziehung der Sprechstim m e und der Über­
gang vom M elodram zur Sprechstimm e nicht nur auf der Linie H um perdinck'
Schönberg, sondern —man denke nur an Ferruccio Busoni11 oder an ähnliche
Versuche in Frankreich oder der dam aligen Tschechoslow akei..von Kompo­
nisten ganz unterschiedlicher ästhetischer Standpunkte realisiert w urde, wenn
gleich die eigentlich geschiehtsm ächtige W irkung von Schön berg und seinen
Schülern ausging. Denn anders als Richard Strauss’ Eno<1 / /mi-l i m
Schillings Hexenlied, die vor allem aufgrund ihrer ball :n
G rundlage spätrom antische Züge tragen und auch in uei /u i uei m eium a
m alischen Sprachbehandlung eher retrospektiv erscheinen, anders auch als
beim 1912 kom ponierten P ierrot lunaire, in w elchem der abgestandene G e­
halt des Rom antisch-Schaurigen des M elodram s gleichsam m itreflekrieft und
durch die neuartige Behandlung der Sprechstim m e artifiziell überwunden wird,
zeigt die B ehandlung der »Sprechtonstim m e« in Frieds A uswanderern eine
ganz eigenständige Physiognom ie, die durch m ehrere Faktoren begründet
erscheint.

Zur Term inologie

Die Bezeichnung »Sprechtonstim m e« erscheint im 'Fitei eines Werkes nach


meinem bisherigen Wissen nur bei O skar Fried. Diese scheinbar eigenw illige

]j V g l. M o n i k a S c h w a r z - D a n u s e r » » M e l o d r a m u n d S p r e c h s t i m m e hei K B u s o n i« , in: Bericht über


den internationalen m usikwissenschaftlichen K on greß Bayreuth 1981 , hrsg . v o n C h r i s r .o p h - H e i h n u r
M a b i i n g u nd Sig rid W i e s m a n n , Kassel usw. 1985> S. 4 4 9 (f.; vgl. den N a ch d ru ck in diese m l ieh:, S. 3 7 H.
116 M o nika Schw arz-D anuser

Prägung, als deren Gegenbegriff der A usdruck »Gesangston« m itgedacht w er­


den m uß, findet sich jedoch bereits bei H um perdinck und in zeitgenössischen
Rezensionen. So schreibt R ichard H euberger in seiner K ritik der W iener
Erstaufführung: »D ie >Königskinder< w urden, w ie es scheint, ursprünglich ohne
R ücksicht au f M usik entworfen. Dennoch, verlangen sie, um bei szenischer
A ufführung volle W irkun g zu thun, nach dern verklärenden G oldgrund der
Töne. H um perdinck that wohl das richtigste, indem er zu dern zwischen W irk ­
lichem und U nw irklichem schwebenden Stoffe die zwischen Sprache und
M usik schwankende Form des M elodram s wählte. Sie ist so recht das G ehäu­
se für Unfassbares [ ...] . W eber in seiner >Preciosa< und R. Schum ann an eini­
gen Stellen seines >Manfred< Hessen zur fortlaufenden M usik deklam ieren,
m anchm al ohne, m anchm al m it genauer Fixierung des R hythm us. |...] H um ­
perdinck geht noch einen Schritt w eiter und bringt ausser dem Rhythm us noch
den Sprechton [H ervorhebung durch die Verf.] in Noten. Er setzt das W ort in
M usik w ie die Alten die Geste. Was er vom Schauspieler verlangt, soll g e ste i­
gerte Rede< sein, ein M itteldin g zwischen Sprechen und Gesang, etwa wie w irs
aus A m m ergau kennen und w ie es der aus lauter M itteldingen entsprungenen
G attung vielleicht am besten entspricht. Indem nun die Schauspieler bei Ros-
m er-H um perdinck, m anchm al sprechen, m anchm al singen, m anchm al m it
diesem neuen H um perdinck-Stil hantieren sollen, erwachsen der praktischen
Aufführung ungew öhnliche Schw ierigkeiten.«12
Und der Komponist selber führt hinsichtlich der A usführung seines gebun­
denen M elodram s aus: »Die Noten geben im allgem einen nicht die absolute
Tonhöhe, sondern die relative an: die Linie der Hebungen und Senkungen der
Stim m e. Je mehr 'Ion die letztere annim m t, desto genauer w ird sie die vorge-
schriebene 'Ibnhöhe einzuhaken haben, dam it es zu keinen Dissonanzen
kom m t; je mehr sie sich, dem trockenen Sprechton nähert, um som ehr kann sie
sich von den Vorschriften des Tonsetzers entfernen. Uber das M aß kann natür­
lich nur die Eigenart des Vortragenden, andererseits der C harakter der betref­
fenden Stelle entscheiden.« 13
In seinem Lied M aiahnung, ein jah r nach den Königskindern entstanden, in
dem er das neue Verfahren auf lyrisches Gebiet überträgt, erläutert .Humper­
dinck in einer A nm erkung: »Beim Vortrag möge auf ein unmerklich.es Über­
gehen in den Gesangston [zu ergänzen wäre: vorn Sprechtonj am Schlüsse jeder
einzelnen Strophe geachtet w erden .«hi
Und schließlich heißt es in Schönbergs vieldiskutiertem Vorwort zum Pier-
rot lunaire: »D ie in der Sprechstim m e durch Noten angegebene M elodie ist
[ ...[ n ich t zum Singen bestim m t. Der Ausführende hat die Aufgabe, sie unter
guter Berücksichtigung der vorgezeichneten lo n h ö h en in eine Sprechm elodie

12 R i c h a r d H e u b e rg e r, hu. Foyer , L e ip zig 1 9 0 1 , S. 15 f.


13 W o l f r a m H u m p e r d i n c k , E ngelbert H u m p er d in ck d a s Leben m eines Vaters ( - Frankfurter Lebens­
bilder, B d. 17) , F r a n k f u r t a m M a i n 1 9 6 5 , S. 2 3 4 .
14 E n g e l b e r t L l u m p e r d i n c k , Ju n ge Lieder >L e ip z i g 1 8 9 8 .
Vom M elodram 'zur Sprechsrim m e 117

um zuwandeln. Das geschieht, indem er I. den Rhythm us haarscharf so ein­


hält, als ob er sänge [ ...] ; II. sich des Unterschiedes zwischen Gesangston und
Sprechton genau bew ußt wird: der Gesangston hält die 'lonhöhe unabänder­
lich fest, der Sprechton gibt sie zwar an, verläßt sie aber durch Fallen oder Stei­
gen sofort w ieder.«1
Ungeachtet der unterschiedlichen Auffassungen zwischen H um perdinck, der
dem Interpreten w eitgehende Freiheit einräum t, und Schönberg, welcher die
Sprechstimm e als integralen Bestandteil des m usikalischen Satzes verstanden
wissen w ill, m achen die zitierten A usführungen deutlich, daß der Terminus
Sprechton in der Phase des Übergangs vom traditionellen M elodram zur —wie
auch im m er notationsm äßig festgelegten Sprechstim m e ein durchaus geläufi­
ger Term inus war. Auch in theoretischen A bhandlungen der Sprechkunst der
dam aligen Zeit spielen Begriffe w ie »Sprechm elodie«, »Sprechton«, »Gesangs­
ton« eine zentrale R olle.16
Daß Fried den am 16. O ktober 1912 in Berlin uraufgeführten Pier rot lu­
naire gekannt hat, darf als w ahrscheinlich gelten. Jedoch fällt auf, daß er sich
einer anderen N otation der Sprechstim m e bedient als Humperdinck: und
Schönberg, was vor allem in der W erkkonzeption der A uswanderer begründet
liegt. Daß auch Schönberg in A Survivor front Warsaw oder der Ode to Napo­
leon, W erken, in denen Textverständlichkeit zentral ist, eine andere Notation
w ählte als im Pierrot lunaire, den G urreliedern oder der Glücklichen Hand, ist
bekannt. Fried notiert eine Sprechstim m e, die ein skandiertes, rhythm isch in
den 'lonsatz integriertes Sprechen vorschreibt, gleichwohl aber auch .relative
'Ibnhöhen, allerdings in einer Notation ohne Notenköpfe, auf einer geson­
derten Notenzeile, indem er die Notenköpfe fortläßt, visiert er eher jenen
»trockenen Sprechton«, von dem bei H um perdinck die Rede ist.

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O s k a r Fried, D ie A uswanderer, T. 1 2 6 - J 2 8 .

1 5 A rn o l d S c h ö n b e r g , Pierrot lunaire, T a s c h e n p a n i n n ’, W i e n 1 9 1 4 ,
16 V g l. R e i n h a r r M e y e r - K a l k u s , » S p r e c h m e l o d i e n in >Pierrot Lunaire<«, in: Neue Z ürcher Z eitung
Nr. 90,' 1 5./16. A p r il 2 0 0 0 , S. 54.
118 M o n ik a Schw arz-D anuser

Indem Oskar Fried bew ußt den Term inus »M elodram « verm eidet und statt
dessen den Begriff »Sprechtonstim m e« für den Untertitel seines W erkes w ählt,
kom m t noch ein weiterer U m stand zum 'Fragen, der für den Übergang vom
M elodram zur Sprechstimm e bezeichnend ist: w ar dem M elodram des 19. Jah r­
hunderts fast ausnahmslos ein rom antischer Topos des U nheim lichen und
Übersinnlichen eigen, so wurde die G attung durch den Ü bergang zur Sprech ­
stim m e semiotisch neutraler und dam it w eit vielfältiger anwendbar. In dem
M aße näm lich, in dem der lyrische Gesang auf Schw ierigkeiten stieß, erwei­
terten sich um gekehrt die künstlerischen Perspektiven des M elodram s als einer
Komposition für Sprechstim m e. Im Z eitalter einer »m usikalischen Prosa«
brauchte die gesprochene Sprache im Kontext von M usik in gar keiner Weise
mehr den Vorwurf des Prosaischen -.wie ehedem unter G eltung der m usika­
lischen Poesieästhetik - zu befürchten. Im Gegenteil, m elodram atische Prin ­
zipien konnten der M usik einen ganz neuartigen W i rklichkeitsbezug und dam it
auch ungekannte ästhetische Aussichten verschaffen.

Zur Entstehung und U raufführung

Die Komposition der A uswanderer erfolgte verm utlich irn Jahre 1912. Aus
einem Brief Verhaerens an Stefan Zweig vom 28. November 1912 geht her­
vor, daß der Verleger Kurt Fliegel, in dessen »Jungdeutschem Verlag« das Werk
im darauffolgenden Jahr im Klavierauszug erschien, sich an Verhaeren gewandt
hatte, um den Kontakt zwischen D ichter und Komponist herzustellen.1-7 Am
3. Januar 1913 fand in Berlin die Uraufführung im Rahmen der Sym phonie-
konzerte des Philharm onischen Orchesters unter der Leitung des Komponi­
sten statt. Die große Schauspielerin T iila Durieux, d; ’ ’ i Ensemble von
M ax Reinhardt engagiert, war m it der Rezitation be; worden. Neben
Frieds Werk w urden in demselben Konzert noch das -Klavierkonzert
von Liszt mit. W ilhelm Backhaus als Solisten, und Busonis Orchestersuite Die
B rau lw ah l zu Gehör gebracht. Das Echo w ar eher zwiespältig, was angesichts
der Diskrepanz zwischen großem O rchesterapparat und einer einzelnen, soli-
stischen Sprechstimm e kaum erstaunt. So heißt es in einer K ritik dieses Kon­
zertes in der Zeitschrift D ie Musik, in der die Braulwabl-S uite lobend, erwähnt
w ird, über das Friedsche Werk: »W eit w eniger Kultur und Geschmack zeigt
Fried in seinem M elodram »Die A usw anderer (G edicht von Emile Verhaeren)
für eine Sprechstimm e und großes Orchester. H ier is t..das liegt teilweise schon
im Stoff —von keiner Überfeinerung, von keinem blassen Ä sthetentum etwas
zu. spüren; m it derber H and werden im al fresco-Stil grelle, schreiende Farben
hingesetzt, auch wo sie. der 'lex t nicht unbedingt erfordert. Sonst ist die dum p­
fe verzweiflungsvolle Stim m ung des Gedichts nicht übel getroffen; etwas vom

17 Verhaeren — Z w eig. C orrespondance , E d i ti o n e ta b lie p a r Pa br ice v a n K erck hove, Brüssel 1 9 9 6 ,


S. 4 2 8 .
Vom M elodram zur Sprechstim m e 119

unw iderstehlichen, aufreizenden Rhythm us der Verse (von T illa D urieux aus­
gezeichnet, wenn auch des öfteren vergeblich gegen den O rchesterlärm an­
käm pfend, gesprochen) lebt auch in der M usik. Aber als Ganzes betrachtet,
kann auch dieses W erk die Bedenken gegen die unselige Z wittergattung des
M elodram s nicht zum Schweigen b ringen .«18
D aß im übrigen T illa D urieux m it der Rezitation beauftragt war, m ag dam it
Zusam m enhängen, daß sie, die m it Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht
bekannt und von der sozialkritischen Tendenz der D ichtung Verhaeren,s beein­
druckt war, öffentliche Lesungen seines dichterischen W erks in Berliner A r­
beitervierteln veranstaltete. W ie Debussy, Strauss, Schönberg und Strawinsky
zur Komposition m elodram atischer W erke durch die Begegnung m it Schau­
spielerinnen bzw. T änzerinnen angeregt w urden, hat eine T illa D urieux m ög­
licherweise auch die Komposition der A uswanderer initiiert. In ihren 1954
veröffentlichten Lebenserinnerungen schreibt sie darüber nichts, wohl aber
über die für sie desaströse Uraufführung: »Inzwischen hatte Oskar Fried, der
Schüler Gustav M ahlers, die M usik zu Verhaerens >Die Auswanderer« kom po­
niert. Schon einm al w ar ihm eine derartige Komposition für großen Sprech­
chor und Orchester gut gelungen, bei Dehmels >Erntelied<. Nun sollte ich in
der Philharm onie Verhaerens Gedicht zur O rchesterbegleitung sprechen. Die
erste Orchesterprobe zeigte bereits die Fehler der Komposition. Das Fortissi­
mo eines großen Orchesters zu übertönen, ist für eine Sprechstimm e unm ög­
lich. Schw ieg ich, säuselten zarte Geigen, die aber sofort von schm etternden
Trompeten abgelöst w urden, wenn ich den M und auftat. Ich hätte am liebsten
abgesagt, aber der Saal war bereits ausverkauft, Fried, brauchte Geld und war
überdies von seinem W erk sehr eingenom m en. D am it ich besser zu hören war,
w urde für m ich eine Art Käfig in den Saal hineingebaut, in dem ich m ir wie
an. einem Sc.hand.plah 1 vorkam. Aber alles d.as half nichts, die Sprcchsum m e
konnte nicht durchdringen, und das Ganze w ar ein M ißerfolg. Ich fühlte es
schon während des Abends und machte schließlich .1 auf
und klappte ihn wieder zu, denn von dem feurigen I.) atge
eifert, gab das Orchester seine größte Lautstärke.«’9
Nach diesem »M ißerfolg« legte .Fried das W erk aber keineswegs ad acta, son­
dern schrieb es für Sprechchor und Solorezitation um, eine Version, die, wie
aus einem Aufsatz von Alf Nyrnan ersichtlich, erfolgreicher gewesen sein muß:
»Dieses G edicht wird in dem Friedschen Werke von einem rhythm isch spre­
chenden Chor vorgeführt..eine N euheit, die einen an den Sprechchor im grie­
chischen. D ram a denken läßt. Nach, dem Wagnerschen Szenenrezitativ, nach
H um perdincks Versuchen zu melodischer Sprachbikiung (in der M ärchen­
oper) und Strau ß ’ und. Schillings’ D eklam ationsm usik (len n yso n s Knock.
Ärden und W ildenbruchs Hexenlied) scheint dies eine folgerichtige Entwick-
lungslinie und eine beachtenswerte Lösung des alten m elodram atischen Pro­

18 D ie Musik 1 2 ( 1 9 1 2 - 1 3 ) , S. 183.
19 T i ll a D u r i e u x , Eine 7 irr sieh t offen, hrin n ern n gen , B erl in 1 9 5 8 . S. 158.
120 M o n ik a Schw arz-D anuser

blems zu sein. Es ist auf jeden Fall eine Idee, die ein Regisseurhirn stim ulieren
kann —eine Ü bertragung der M ax Reinhardtschen Prinzipien auf m usikali­
schen Boden. [...] Aber unter diesem Redechor, dessen D iktion in freien m usi­
kalischen Intervallen steigt und fällt —zittert, klagt, stöhnt ein Orchestermar-
ciale — ein trauerm arschartiger Sym phoniesatz von einer neuen, erregenden
Schönheit.«20

W erkbesch reibung

Der Komposition DieAuswandererXvegi das Gedicht Le D epart des belgischen


Lyrikers Emile Verhaeren zugrunde. Es entstam m t dem G edichtzyklus Les
Campagnes H allucinees (Spiegelnde Felder) von 1893 und nicht, w ie meist
fälschlich angegeben, Les Villes Tentaculaires (Städte m it Polypenarmen) von
1895. Die deutsche N achdichtung, die 1910 m it noch weiteren Gedichten
Verhaerens publiziert wurde, besorgte der m it dem belgischen D ichter befreun­
dete Stefan Zweig.21 Zusam m en m it dem fünf Jahre später erschienenen Dra­
m a Les Aubes (Die M orgenröte) bilden diese W erke eine »Trilogie sociale«, w el­
che Verhaeren, einen heute w eitgehend vergessenen Dichter, in den Zenit
europäischen Ruhm s rückten. Kommunistischen und anarchistischen D ich­
tern in R ußland, deutschen Expressionisten, italienischen Futuristen erschien
sein W erk als fortschrittliches D ichtertum , und selbst M allarm e schrieb bew un­
dernd, er habe die Gedichte »m it dem O hr der M enge« gelesen, so unendlich
sei ihre Stim m e. Verhaeren wurde m it dem Erscheinen dieser Werke in der bel­
gischen Presse als Sozialist apostrophiert, als »Zola der Lyrik«. W ährend in Les
Villes Tentaculaires, Riesenstädten, die m it Polypenarmen gleichsam alles in
sich hineinziehen, die Schattenseiten des Stadtlebens in einer visionär über­
höhten Bildsprache them atisiert werden, konzentriert sich der dichterische
B lic k \n Les Campagnes H allucinees auf die I u d I . m die wegen Ver­
arm ung zur Landflucht gezwungen wird. Auswanderer«),
das vorletzte G edicht des Zyklus, gefolgt nur von »i,a beche« (»Der Spaten«),
steht als Sinnbild für den Verlust von Lebensräumen und bis dahin geltenden
W ertvorstellungen an zentraler Stelle, da es den Blick, auf den nachfolgenden
Zyklus eröffnet.
W as brachte nun Oskar Fried, dazu, gerade diesen Text rezitieren statt singen
zu lassen? Der für die m elodram atische Ballade des 19. Jahrhunderts ent­
scheidende Gesichtspunkt, daß ein deklam ierter Text w eit w eniger Zeit be­
ansprucht als ein gesungener, ein für die beiden berühm testen Balladen der
Jahrhundertw ende, Straus,s’ Fnnoch Arden und Schillings Hexenlied, ausschlag­
gebender Gesichtspunkt, entfällt, da die Sprechstimm e rhythmisch und qua-
si-diastem atisch in den Tonsatz Integriert ist. Zum einen w ar es wohl, der syrn-

20 A l f N y m a n n , » O s c a r Frie d« , in: D er Merker'') ( 1 9 1 8 ) , H e i t 5, S. 166.


21 E m il e V er ha er en , A usgewählte Gedichte. N achdichtung von Stefan Zweig, Le ip zig 1 9 1 0 , S. 5 7 - 62.
Vom M elodram zur Sprechstim m e 121

bolisch überhöhte N aturalism us des Textes von Verhaeren, der Fried im


Bemühen um Textverständlichkeit bewog, der Sprechstim m e den Vorzug zu
geben, zum anderen aber auch die Ä sthetik des M elodram s, w ie sie in der ein­
gangs skizzierten Diskussion um das Genre dargelegt wurde. Denn die Vor­
stellung, daß das m usikalisch Charakteristische vom Orchester geleistet wer­
den müsse, wohingegen der Stim m e die W ortverm ittlung zugewiesen werde,
tritt prononciert schon in dem zuvor kom ponierten E rntelied für M ännerchor
und großes Orchester in H inblick au f das Verhältnis zwischen m usikalischer
D eklam ation und Orchester zutage, da der C hor eine vergleichsweise einfache
M elodie unisono in Art eines Strophenliedes singt, wohingegen —ganz im nach-
wagnerschen Sinn —die eigentliche Interpretation des Textes dem reich diffe­
renzierten O rchesterapparat obliegt. Hugo Leichtentritts C harakterisierung
des Stückes aus dem Jahre 1906, hier in extenso zitiert, illustriert die aufrüt­
telnd grandiose W irku n g jenes Werkes: »Das Erntelied op. 15 (... ] ist von allen
Kompositionen Frieds sicher die eigenartigste. In seiner A rt ein U nikum . An
elem entarer W ucht und geradezu niederschm etternder Gewalt hat es nur we­
nige Rivalen in der M usikliteratur. Es vereint größte Einfachheit der Konzep­
tion m it grösster Schlagkraft. In der Sprache der m usikalischen Technik ist es
ein ganz einfaches Strophenlied über einen basso ostinato. Das Dehmelsche
Gedicht ist bekannt. Aus ihm spricht m it elem entarer Vehemenz das Sehnen
der Besitzlosen nach Sättigung, das trotzige Pochen auf die Kraft der Faust, die
fanatische Begeisterung der dum pfen Masse, die unbeugsam e Hoffnung auf
Verg eltung der langen U nterdrückung. Fried gibt dieser M arseillaise eine m usi­
kalische Fassung, die den Inhalt der D ichtung in packendster Weise enthüllt.
>Stampfend< beginnt eine Bassfigur:

dröhnend schallt der Hritt der herannahenden Masse. Dieses Stampfen geht
von Anfang bis zu Ende des Stückes ununterbrochen fort in einer Furcht und
Grauen weckenden E intönigkeit. Knirschend hart dazu die Parallelquinten in
den O berstim m en, die steten Begleiter des seltsamen Basses. Auf diesen mas­
sigen. Unterbau ist ein reiches Orchester aufgesetzt. Es m alt alle N üancen des
Textes, die weite Ebene, das Knarren der M ühlräder, das Stocken des W indes,
das Fegen des Sturm w inds. In dies Getriebe hinein singt der M ännerchor uni­
sono eine ganz einfache M elodie, sechs Strophen hindurch fast ohne wesent­
liche Veränderung. Um. ihn her aber wogt und tobt es. In unaufhaltsam em
crescendo wächst der Bass m it den erbarm ungslosen Q uinten zu. Riesengroße
an, am Orchester wird die Erregung im m er heftiger, bis schliesslich bei der letz­
122 M o n ik a Schw arz-D anuser

ten Strophe der rasende Sturm w ind dahinfegt; m it zerm alm ender Kraft, in
w ahnsinniger Aufregung schreit der Chor; jetzt erst wenige la k t e vor dem
Schluß wechselt die H arm onie zum ersten M ale [ ...] Die Intensität der Emp­
findung in diesem Stücke ist unglaublich erschütternd. Ebenso erstaunlich ist
die virtuose Herrschaft über O rchesterm ittel und die Sicherheit der Satzkunst.
Es ist M assenw irkung großartigster Art. M it diesem Stück schliesst die Reihe
der W erke, die Fried bis jetzt veröffentlicht hat.«22
Sowohl them atisch als auch in der kom positorischen Anlage ist die Kom­
position D ie A uswanderer gleichsam ex negative auf das Erntelied bezogen.
W ar jenes von einem revolutionären Impetus getragen, so konzentriert sich
dieses auf das Problem einer entwurzelten Landbevölkerung und ihres Verlusts
der bis dahin geltenden Werte.
O bgleich das G edicht von Verhaeren m it der Vision der Stadt eine Schluß-
kul m ination aufweist, die allerdings keine Erlösung bringt, sondern eher einen
negativen H öhepunkt m arkiert, ist doch der zentrale Gehalt des Gedichtes »die
W iederkehr des Im m ergleichen«. Der Aufbruch der Landbevölkerung ist nicht
zielgerichtet, er vollzieht sich als Kreis:

Sie ziehn zu jeder Jahreszeit,


im Sommer, W inter, Herbst und Lenz,
sind im m er m üd und todbereit
und rollen dennoch ohne Ruh
von einer Ewigkeit
der ändern zu.

Diese negative G rundstim m ung der D ichtung, die in immer neue Bilder gefaßt
w ird, gestaltet Oskar .Fried als Trauermarsch, der allerdings an mehreren Stei­
len durch rhythmisch bewegte Partien in einem 6/8-Rhythmus aufgebrochen
wird. »Schleppendes M arschtem po« verlangt Fried für die orchestrale Einlei­
tung, in der die wichtigsten G rundm otive exponiert werden: ein von einem
Paukenwirbel grundiertes Seufzerm otiv (d.-moll, a-mofl), ein dem entgegen­
gesetztes, aufsteigendes M otiv mit scharfen dynam ischen Kontrasten, ein ruhig
abwärts geführtes M otiv sowie schließlich eine kontrapunktische Figur, deren
fließender Gestus später w ieder aufgenomm en wird. Die H arm onik bewegt
sich im Rahmen einer erweiterten Tonalität m it überm äßigen D reiklängen und
Ganztonleiter.
In der Art eines doppelten Kursus ist die orchestrale E inleitung angelegt, die
m it ihrem Gestus heroischer Trauer m itunter an den m usikalischen 'Fon Gustav
M ahlers gem ahnt. Dieser Trauermarsch ist das tragende Gerüst der gesamten
Komposition. Das aus einer unregelm äßigen Strophenfolge (m al 2, mal 4, mal
6 Zeilen) bestehende Gedicht faßt Fried zu größeren Sinneinheiten zusammen

22 H u g o L c ic h re n trirt, » O s k a r F ried « , in: M onographien m oderner Musiker, L e ip z ig 1 9 0 6 , S. 5 6 ff.


Vom M elodram zur Sprcchstim m e 123

j ) P V t f,r; WANDERER
EMILE VERHAEREN / ,S TEFAN ZWEIG*

0 3 K A R FRIED

O s k a r i'j'ied, Die A uswanderer, B e g in n .

—einige läßt er ganz a u s .., ein hier durchaus legitim es Verfahren, da der dich­
terische Text verschiedene Varianten ein und desselben Sachverhalts ausm alt
und nicht herm etisch erscheint.
Die ersten vier Strophen, die eine deprim ierte M enschenm enge auf der
Landstraße dahintrottend schildern, faßt Fried, in den Trauerrnarseh, der das
Werk ein.gel.eit.et h a t te ..m it Änderungen vor allem in Instrum entation und
D ynam ik. Die Sprechtonstim m e schw ingt sich nur an zwei markanten. Text­
stellen. (»W ind«, »ins Unendliche geht«) auf. Bewußt monoton gestaltet, rezi­
124 M o n ik a Schw arz-D anuser

tiert sie au f einer m ittleren Tonlage und kehrt vor allem ihre rhythm ische
Prägnanz hervor, das Trauerm arschartige der M usik unterstreichend. Der
’lex t soll verständlich sein, die Interpretation der Verse bleibt dem Orchester
übertragen.
Es folgt ein scharfer Kontrast beim Wechsel der Perspektive von den M e n ­
schen zu den D ingen (»Am nackten W ald das H erbergshaus«), ein Perspekti­
venwechsel, der in Verhaerens D ichtung im Sinne eines sym bolisch erhöhten
N aturalism us zu verstehen ist. Ausgehend von den W orten »Ratte und Maus/
treiben drin nun ihren Schabernack« prägt die M usik m it Staccato-Figuren in
einem »schnellen un d hastigen« 6/8-Takt, der m it einem 3/4-Takt alterniert,
und tonm alerischen Elem enten w ie einem H arfenglissando bei dem W ort
»W ind« einen völlig anderen Gestus als zuvor aus, der nicht unbedingt voll m it
dem Gehalt des Gedichtes korrespondiert.
Neben dem G rundm uster des Trauerm arschrhythm us, der den Verlauf des
Werkes dom iniert, deuten vor allem M aßnahm en im rhythm ischen Bereich
den Text aus: bei den W orten »die Leut von hier sind ganz verschreckt« schreibt
Oskar Fried, das klagende M otiv des Anfangs aufgreifend, einen 5/4-Takt vor,
und bei den W orten »D ie Klepper trotten trist im Schritt/Ihr klappriges

-F \ !'■ !> 1 1 y !’ H i ■ :
nag .. U>s B ein n it schiß •• fein A rm j» den W in d

K d

I I

O s k a r Fried , D ie A uswanderer, T. 131 - 1 3 8 .


V om M elod ram zur Sp rech stim m e 125

G e b e in ./ D e r K u tsch er to rk elt und tau m elt, g rad / W ie ein tollgew ordenes


M ühlenrad « d om inieren von Pausen durchsetzte T riolen im 12/8-1 äkt, die das
'Ib rk eln und '.taum eln sin nfällig verdeutlichen.
W ie ob en angedeutet, bildet die abschließend e Strophe »D er Auswanderer«
den negativen H ö h ep u n k t des G ed ich ts:

D o ch d ort, wo die Ferne ihr E n d e hat,


V erschleiert von schw efliger H im m el D u n st,
W artet die Stadt.
D ie Stad t m it apokalyptischer Stirn ,
D ie Stad t m it ihrer rotglü h enden B ru n st
Und. schwarzen F ängen , das B lu t zu saugen.
Sie lo ck t der W and ernd en fiebrige Augen
G rell zu sich hin.
B ei 'läg e bleiern,
R e ck t sie sich nachts in sprühenden Feuern,
D ie Stad t aus E isen, H olz, S tein und Stu ck ,
D ie Stad t in M a rm o r und. goldenem S ch m u ck ,
D ie Stad t, die gigantische B u h lerin !23

D er V ertonu ng dieser S tro p h e w id m et F rie d ..entsprechend ihrer gewichtigen.


Stellu n g — seine besondere A ufm erksam keit. D ie S p rechstim m e, die b is h e r ..
bis a u f w enige S te lle n ..m o n o to n auf einer m ittleren Sprechtonlage verharrt,
wird, in der letzten S tro p h e auch quasi-diastem atisch bedeutsam eingesetzt und
bewegt: sich im. R ahm en einer Septim e.
U n ter V erw endung der m otivischen Substanz des V orangegangenen und. dem
Einsatzein.es Fernorchesters k lin g t das W erk in vierfachem pianissim o in jenen)
Trauerm arsch aus, der es eröffnet hatte.
In A bw andlung des W ortes von W alter ß e n ja ir -eragen W erken lägen
die Kadaver der n ich t realisierten, zugrunde, k ö r i Die Auswanderer als
K adaver bezeich nen, der erst noch zum Leben werden m ü ß te. Das

23 Ver haeren, A usgew ählte G edichte. S. 6 0 h irn französischer) O r ig in al wird die enge Verz ahn ung
der be id en Zyklen s c h o n rein sj)rachlich durch die Ver haerensehe W o r tp r ä g u n g »temaculaire«, die im
Tire! des folgend en (Gedichtzyklus figurieren wird, verdeutlicht. D ieser Neo log is mu s har sieh inzwi ­
sch en im französischen S pr ach geb ra uc h durchgesetzt. D i e letzte S tr op h e lautet im Ori gin al :

T an dis c.ju'au jo in, hVbas


Sous les d e u x lourds, hi lgineux ei gras,
Avec son fro nt c o m m e un T h a b o r ,
Avec ses su^oirs noirs et ses rouges haleines
H a l l u c i n a m et: avrirain les gens des plaines,
C ’esr la ville qu e la nuir for m id ab le eclaire,
La ville en plärre, en stuc, en bois. en !ei\ en oi\
..’le m a c u l a i re

(L m i l e Verhaeren, Les Gtimpagncs hcdlucinees, Les VilLs tentctaäaires > Paris 1 9 8 2 , $. 78).
''7~TT!SSBMI

126 M o n ik a Sch w arz-D an u ser

---j f--—,

Bei T a -g e biei-eru, reckt sie sich nachts in sprü-henden Feuern.

O s k a r Fried, D ie Ausw anderer, T. 3 6 0 - 3 6 2 .

W erk zeigt in seiner eigenw illigen Prägung unter wie untersch ied lichen Prä­
m issen K o m p on isten zu B eg in n des 2 0 . Jah rh und erts die Sp rechstim m e ein ­
bezogen haben.
Z usam m en m it dem Trunkenen LiedxmA dem Erntelied w urde Frieds K o m ­
p o sition Die Auswanderer von der zeitgenössischen K ritik als eine A rt Trias
beg riffen , deren M erk m al vor allem ein neuer M assenw irkungsstil sei. So
schreib t der bereits zitierte M usikschriftsteller A lf N ym an em phatisch: »Bei
N ietzsche, R ich ard D ehm el und Verhaeren su ch t er die produktive Stim m u ng .
Sein erstes größeres W erk m u ß als philosophisches O rato riu m bezeich.net w er­
den. L...] Seine nächste M u sik ertat war die K o m p ositio n von D eh m els b ek an n ­
tem E rntelied , diesem dunklen dro.lien.den Sang m it seiner O ffen b a ru n g des
öko n om isch en Fatum s, das über den V ölk ern b rü tet. Zu diesem T ext hat Fried
die deutsche M arseillaise geschaffen | ...J. In dieser ü rch este rsch ö p fu n g ver­
b ren n t Fried seine letzten akadem ischen S chiffe und zeichnet in großen Fres­
ken; die In ten sität des Erlebnisses treibt einen neuen Stil h e rv o r..den Stil des
2 0 . Jah rh u n d erts.«2'1
Und über D ie Auswanderer h e iß t es: ».Es dürfte überhaupt wenige W erke in
der gesam ten k on tin en talen M u sik literatu r geben, die in so h ohem G rade wie
dieses den N am en G egenw artsm u sik verdienen. E in e der stärksten D ich tu n ­
gen der m odernen Lyrik, in der die naturalistische .Inspiration auf jedem Punk­
te m it Sym b olik geladen ist [ . . . ) . H ier geht ein W eg, der w eit führen kann.
D e r M eunier der M u sik, so hat m an Fried genannt. Es sind Z üge vorhanden,
die ihn in tim m it dem belgischen B ron zeb ik lhaiier v e rb in d e n ..n ich t nur die
E m p fän g lich k eit, das G efü h l für die sozialen P roblem e, die proletarischen
I ypen und S tim m u n g en - der Stoffkreis m it einem W o rt. A ber die tiefste A ehn-
lichke.it ist w ohl in der unerhörten Stärke des A usdruckes zu find en, der pathe­
tischen Wahrhaftigkeit, m it der der N aturalism us etwas anderes streift, das -
vielleicht — das große N eue ist in der europäischen K u n st.«25

24 N y m a n , Oscar Ir ie d , S. 1 6 5 F
25 E b en d a , S. 1 6 4 FF
Vom M elod ram zur Sp rech stim m e 12 7

D ie in diesen W o rten auch zum A usdruck k om m en d e H o ffn u n g nach w e i­


teren K o m p ositio n en dieser A rt sollte sich n ich t erfüllen; Fried kom p on ierte
nur noch wen ige kleinere W erke, er w andte sich stattdessen ausschließlich dem
D irig ieren zu und setzte sich a u f diesem G e b iet vor allem für m oderne M usik
ein.

Exkurs

W e n n T illa D u rieu x in ihren M em o iren Frieds Erntelied als ein S tü ck für


großen Sp rech ch o r bezeich net, so täu scht sie entw eder ihre E rin n eru n g oder
— und dies sch ein t n ich t ausgeschlossen — das W erk ist tatsächlich in einer
Sprechchorversion realisiert w orden. Fried hatte in seiner B erlin er Z eit des ö f ­
teren m it M ax R ein h ard t zusam m engearbeitet; er k om p on ierte die B ü h n e n ­
m usik für Ödipus und, die Sphinx von H u go von H ofrnannsthal (nach So ­
p hokles), dirigierte m itu n ter B ü h n en m u sik en für M ax R ein hard ts auf
M assenw irkung bed achte T h e a te rp ro je k te, und in den R einhardtschen Insze­
nierungen von Verhaerens Helena aus Sparta und LesAubes spieien. Sprechchöre
eine erhebliche R olle. E in gem einsam es P rojek t zwischen Fried und. R einhardt
m itd em C h risto p h -K o lu m b u s-S to ff wurde allerdings n ich t realisiert. V ielleicht
kam die Sprechchorversion sogar auf R einhardts V orschlag zustande, h e iß t es
d och in einem. B rief Frieds an Stefan Zw eig vom N ov em ber 191.3: »Ich werde
versuchen in M oskau Stanislaw ski für die neue Version der A ' .i
interessieren! Sie erin nern sich, daß ich alternierend m it e in e r . i
m e den n/< n C h o r sprechen lasse. D ies ist no >, in (in i >
gem äß! > ili tdts ’lech n ik , und Stanislaw ski liai II .itäl. I
Interessen.«-"

26 V erheeren .. 'Aveig. Correspondtmce, S. 4. Frieds B e zi eh un g en zu R u ß l a n d datieren bereits aus den


19 1 0 e r Jahren. Kr leiiere die russische Er st a u f f ü h r u n g von M ah le rs Zwe iter S y m p h o n i e in St. Peters­
burg, und in der Folgezeit ü b e r n a h m er des öfteren D ir ig at e in russischen Städ te n. W i e auch m a n ch
andere M u s ik e r emig rie rte kried nach der M a c h te r g r e i f u n g der Nationalsozialisten in die U d S S R . Er
verstarb im Jahre 194 i in M o s k a u , wo sich auch sein N a c h l a ß befi nde t, d ar unt er au c h Par tit ur und
S t i m m e n seines W er k es D ie Ausw anderer. Vgl.. G reg or ij Pantielev, »Russische Q u el l e n zum Exil, d e u t­
sch er D i ri g en te n in der S o w je t u n i o n 1 9 3 3 ..1 9 4 5 « , in: M usik in der lin iigm lion 1 9 3 3 .... 1 9 4 3 , hrsg.
von H o r s t Web er, S tut tg art 1 9 9 4 , S. 1.78 ff.
Stefan L itw in

ln den finsteren Z eiten


wird da n o ch gesungen werden?
D a wird auch gesungen werden.
V on den finsteren Z eiten .
B e rto lt B re ch t2

A rnold Schön bergs m usikalische In n o v ation en , vornehm lich der Schritt: zur
Freiton alität und die später daraus erw achsende M eth o d e, m it nur zw ölf auf­
einander bezogenen Fönen zu k om p on ieren , waren A usdruck einer radikalen
K u nst, die im D ritten R eich als »zersetzend« und »entartet« verfem t wurde. Als
Ju d e von den N ationalsozialisten verfolgt, flü ch tete S ch ö n b erg über Um wege
ins amerikanische Exil, wo er schließlich 1941 als U S-Bürger naturalisiert wurde.
D er A usbruch des Krieges in Europa veranlaßte ih n , k om p ositorisch zu rea­
gieren. E r suchte deshalb laut eigener Aussage nach einem 'le x t, der sich »auf
ly r a n n e i beziehen solle«3 und entschied sich für Lord Byrons Ode to .Napole­
on Buonaparte. In einem B rief an G ertrucie G reissle beschrieb S ch ö n b erg das
P rojekt wie folgt: »Z ur Z eit kom poniere ich gerade ein Stü ck [...] Es ist ein
M elod ram , ähnlich dem Pierrot, aber nur für 4 S treicher und Klavier, keine
Bläser. R ezitation von. einem M A N N . Es wird sehr interessant sein. D ie G e-
d ichtvorlage ist die Ode an .Napoleon Buonaparte von .1,ord Byron, (...) D er 'i exi.
ist voll von A ndeutungen auf H itler und im ;...... 1........ : ....... l ;...: .....: ..... 4 »Im Jah­
re 1.942«, so S ch ö n b erg später rückbiickenc \posersm it
der B itte an m ich heran, ein K am m erm us on zu
schreiben. [...] M ir kam. sogleich die Idee, r :n der
M enschen über all jene V erbrechen zum Ausdruck zu bringen, die diesen Krieg
hervorrufen. Ich dachte an M ozarts Figaro, |...J Schillers Wilhelm Fell, Goethes
Egmont, Beethovens Eroica und Wellingtons Sieg, und ich w ußte, daß es eine m o­
ralische P flicht der Intellek.tue.llen war, gegen die Tyrannei. Stellung zu. beziehen.«'’

1 Bei dem vor liegenden lexc ha ndelt es sich um Er w äg un ge n , die der A u to r in seiner T ä ti g k e it als
In te rp re t dieses K a m m e r m u s i k w e r k s zu s a m m e ng e tra g en h a t und die teilweise s cho n in F or m von
Lecture-RecitaLs und R u n d fu n k s e n d u n g e n v er öff en tli ch t worden sind. Sieh e au ch Stil oder Gedanke^
S aa rb rü ck en 1 9 9 5 .
2 D ie Gedichte von Bertolt Brecht, F ran fu rt am M a i n 1 9 8 3, S. 64.1.
3 A r n ol d S c h ö n b e r g , » W i e ich dazu k am , O d e to N a p o l e o n zu k o m p o n i er e n .« , in: Jou rn al o fth e
A rnold Schömberg Institute, Vol. 2 , 1, O c t o b e r 1 9 7 7 , S. 5 5 - 57 .
4 Zi ti e rt nach : Arnold Schönberg 1 8 7 4 —1 9 5 L Lebensgeschichte in Begegnungen, herausgegeben von
N ur ia N o n o - S c h o e n b e r g , Klagen.furt 1 9 9 2 , S. 3 8 4 .
5 Ar nol d S c h ö n b e r g : » W i e ich dazu k am , O d e to N a p o l e o n zu k o m p o n i e re n .« , a . a . O . , S. 5 5 ; L e o ­
nard Stein: »A N o t e on the Gene si s o f ehe Ode To Nc/fioleon«, in: Journal ofth e Arnold. Schömberg 1nsti-
tutCy Vol. 2, 1, O c t o b e r 1 9 7 7 , S. 5 2 - 5 4 ,
Z u i' Ode to Napoleon Ihm naparte 129

E rstau n lich wird solch dezidierte Aussage, w enn m an sie m it einem von S c h ö n ­
berg vierzehn Jahre zuvor geschriebenen Aufsatz vergleicht: »Ich habe nichts
m it P olitik zu tun und gestatte es mir, m ein e irrelevanten M ein u n g en für m ich
zu behalten. M an kann nich t ernsthaft glauben, daß K unst politische Vorgänge
beeinflusse. K ünstlerisch gesehen ist es dasselbe, ob je m a n d m alt, d ich tet oder
k om p on iert; sein Stil ist zeitlich bed in gt. In w elchem A kkord den n ließe sich
das m arxistische G lau b en sb ek en n tn is eines M u sikstü cks erken nen, in w elcher
Farbe das faschistische eines Bildes?«6 D ie globale Krise hatte S ch ö n b erg o ffen ­
sich tlich davon überzeugt, n ich t m eh r au f einer strik t u n politischen H altu n g
zu beharren, sondern seine prom inente Position gegen Krieg und Faschism us zu
nutzen. D aß diese Entscheidung aber keineswegs die Preisgabe einer avancierten
m usikalischen Sprache zu bed euten hatte, ward im folgenden E xkurs d eutlich.
W äh ren d des Zw eiten W eltkrieges befanden sich auch S chön berg s einstiger
Sch ü ler H an n s E isler und T heod or W A d orno im am erikanischen E x il Sie
arbeiteten gem einsam an einem P ro jek t für die R ock efeiler Fou nd ation in New
York, dessen E rgebnis 1 9 4 2 in dem B u ch Komposition ftlr den Film vorgelegt
wurde. D arin vertraten sie die A uffassung, daß sich der m usikalische Stil m ehr
oder w eniger vergleichgültigt habe und nun als ein Param eter gleich lo n h ö h e ,
Farbe, R h y th m u s und D y n a m ik k om p ositorisch eingesetzt werden k önn e. D er
Sin n geh alt eines W erkes m anifestiere sich n ich t m ehr In dessen S til, sondern
in der K o m p o sitio n sm eth o d e selbst, in der A rt, wie eine vom Jazz geprägte
A kkord folge, beispielsw eise, oder eine Z w ö lfton reih e — jetzt zwei M ö g lich k e i­
ten unter vielen - im G esam tgefüge integriert sei. B etrach ten w ir hierzu das
R eihen m aterial der Ode to Napoleon:

D ie G ru n d gcstalt der R eihe besteht aus zwei gleichen H älften . D ie 'Föne 7 bis
12 sind eine Sequ enz der 'Fön e 1 bis 6 , genauer n och , deren O bersek u nd -
K rebs. A ußerdem korrespondieren. G ru n d gestalt und K rebsu m kehru n g sowie
U m k ehru ng und K rebs, was zur Folge hat, daß lediglich zwei statt der ü b li­
chen vier transponierbaren R eihengestalten als M aterial zur D isp o sitio n ste­
hen, die G ru nd gestalt und der Krebs:

6 Ar nol d S c h ö n b e r g , »Fehlt der W e i t eine Fried ens hy mne ?«, in: 8 -Uhr A b en d b la u d er B erliner N atio-
ihi! /'.< in n ig 2 6 . M a i 1 9 2 8 .
130 Stefan Litw in

Aus diesem M aterial fo rm t S ch ö n b erg ein reichhaltiges B eziehu n gsgeflech t7 —


zum Beispiel durch das jew eilige Ü bersprin gen eines Ton es —und erzeugt dam it
gleicherm aßen dissonante wie k on so n an te D reiklänge:

Ind em diese Verfahrensweise beiderart A kkorde hervorbringt, ah m t sie das


Sp annu ngsverhältnis der T o n a litä t nach und erlau bt, auf to nale E lem en te
zurückzugreifen, ohn e dabei d odekaphones D en k en aufzugeben. In dasselbe
Prinzip b ettet sich auch die V erw endung der m usikalischen Z itate ein. Ihre
Intervallverhältnisse sind n äm lich stets m it jen en der R eihe k ong ru en t. Folg­
lich ist (im Sin n e Eislers und A dornos) der Stil n ich t m ehr eine übergeordne­
te K ategorie der K o m p ositio n , sond ern je tz t einer von m ehreren verfügbaren
tech n isch en Param etern. D ie K o m p ositio n sm eth od e gestattet das Einsetzen
tonaler Versatzstücke — für p o litisch e M u sik en tscheid en d, weil dam it einem
breiteren Publikum ein B ezu gspunkt gew ährt w ir d .., ohn e daß die neuesten
k om p ositio n stech n isch en E rru ngen schaften aber gefährdet w ürden, erscheint
d och das gesam te T on m aterial nun als P rod ukt der d od ekap honen L ogik. In
einem round-table-Gespräch in San Francisco d rückte Sch ö n b erg diesen S a ch ­
verhalt wie folgt aus: »U nleugbar hat die K unst häufig politischen Z w ecken
gedient. | I c h selber habe einige Stü cke geschrieben, die un bestreitbar p o li­
tisch sind. Z u m Beispiel m eine Ode an Napoleon., und vielleicht wird m an das
gleiche von m ein er O p er Moses und Aron finden. Ich m u ß zugeben, daß ich
bei m einer Inspiration n ich t das G efühl hatte, in diesem Fall von irgendeinem
künstlerischen Prinzip abzuw eichen .«8

Z um V erhältnis von ‘le x t und M u sik

N ach alter K o nvention etabliert das instru m entale Vorspiel, der Ode to Napo­
leon w ichtiges m o tiv isch-them atisches M aterial und. antizipiert auf m usikali­
scher E bene die d ram atische H and lung.
Im ersten Vers Byrons stehen W orte wie King und a.rm’d with kings to strive.
M an achte auf die Q u arte und den pu nktierten R h y th m u s in der von Bratsche
und C ello gespielten H au p tstim m e. B eid e E lem ente treten jeweils hervor, wenn
im 'le x t Byrons von M a ch t und K am p f die Rede ist.

7 Sieh e auch den F aks im il ed ru ck der originalen R e ih e n ta be ll en zur O de to N apoleon in Jo s e f Rufers,


D as Werk A rn old Schönbergs, Kassel I B a s e l ./L o n d o n / N ew York 1 9 5 9 , S. 4 8 f.
8 Zi ti e rt nach: Schönberg, 1.ebensgesänchle, S. 3 8 4 .
Z u r Ode to Napoleon Buonaparte

(Lord Byron) Arnold Schoenb&g, C)p. 41


132 Stefan Litw in

Ä h n lich gestaltet ist auch das T h e m a , das zu den W o rten ivith might unque-
stioridpower to save erklingt:

Aus einem B rief Sch ön berg s an H . H . S tu ck en sch m id t: »Lord B y ron, der vor­
her N apoleon sehr bew unden hat, war durch seine ein fach e R esignation so
enttäu sch t, daß er ihn m it schärfstem H o h n überschüttet: und das glaube ich
in m ein er K o m p o sitio n n ich t verfehlt zu h ab en ,«9 S p rich t Byron von N a p o ­
leon, so klin gt ein tonalem D en k en entliehen es M o tiv an, in w elchem D u r-
lind M o lld reiklan g gleicher 'lo n a rt verq u ickt sind. D ie D issonanz der E ck tö n e
zueinand er sowie die scherzando-G este, m it w elcher das M o tiv auftritt, e n t­
sprechen Byrons Sarkasm us und Sp o tt.
Z u r Ode to Napoleon Buonaparte ] 33

M it morning star sind zwei verschiedene, wenn auch m iteinander verwandte An­
spielungen verbunden. Byron bezieht sich auf Jesaja 14, 12, wo der Prophet den
Sturz N ebukadnezars, des Königs von Babylon, m it dem fallend erlöschenden
M orgenstern vergleicht, und setzt parallel dazu den Sturz N apoleons. Schön berg
illustriert das so:

In der lateinischen fesaja-V ersion fin d et sich M orgenstern m it Lucifer über­


setzt. Spätere ch ristlich e In terp retation assoziierte Jesajas Bild des fallend ver ­
löschenden H im m elsk ö rp ers u n m ittelb a r m it dem Sturz des rebellischen
Erzengels aus göttlich er G nad e, d .h . m it dem Teufel. D a jed och keine derar­
tige B ed eu tu ng im hebräischen O rigin al an klingt, erachtete Byron wohl die
G leich sctzu n g von M orgenstern und T eufel als F eh lin terp retation : der Teufel
ist d em nach ein falsch benannter M o rg en stern ( miscalled the momingstar.) Das
anschließen d e B ild nor man, norfiend hath fallen so far wird von S ch ö n b e rg im
K lang des tiefsten Klavierregisters w iedergegeben:
Z u den W orten but who wouldsoar the solar height, to sei in such a starless night
greift Sch ö n b erg auf die Illu stratio n des M orgensterns zurück;

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Z u r Ode to Napoleon Buonaparte 1 35

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GRAVE (J -*L >

'% T T IT lega io

D ie Frage doch wer erklimmt die Sonnenhöh, d aß er in Nacht, wie du, vergeh■
;
sch cin t d am it m usikalisch beantw ortet: Luzifer, der 'letifel.
U nentw egt u n term alt S ch ön berg s M usik die Textvorlage. 7 hat spell upon the
mindsofmen, zum Beispiel, wird durch ein hypnotisches O stinato charakterisiert:

I I 1 SS

m l
sp rrp p
136 Stefan Litw in

With fronis of brass and feet o f clay ist eine w eitere A nspielung auf: N ebu kadne-
zar. D em B u ch e D aniel zufolge träumt: der babylonisch e K ö n ig von. einer teils
ehernen (der K ö rp er), teils tönern en Statu e (die Fü ße). D aniel d eutet die S ta ­
tue als Königreich, und prophezeit dessen U ntergang, D a schon. N ebu kad ne-
zar die Ju d en versklavt hatte, gew ann dieser T extteil im fahre .1942 zweifels­
ohn e aktuelle Signifikanz.
Fm folgenden A b schnitt der Ode, wo Begriffe wie Triumph und Victory wie­
der durch Q u artm o tiv e repräsentiert w erden, sind aus der Intervallreihe logisch
erfolgend zwei m u sikalische Z ita te ein g efloch ten : die M arseillaise und das
K o p fm o tiv aus Beethovens F ü n fter Sy m p h on ie, welches m it dem S ch lu ß der
M arseillaise verschachtelt wird. W ä h re n d des Krieges waren beide Z itate S y m ­
bole des antifaschistischen W id erstand s, die M arseillaise stellvertretend für die
französische R esistance und Beethovens F ü n fte als das vom L o n d o n er B R C -
Sender ei ngesetzte Erkennungssignal und »Siegesmotiv«. (Im M orsek od e reprä­
sen tiert der R h yth m u s kurz-kurz-kurz-lang den B u ch stab en V, eine damals
allseits bekann te A bkürzung für Victory.)10
Z u r Ode to Napoleon Buonapartc 137

In der Ode to Napoleon kom m t: Byron auch auf historische C h araktere und
Legenden zu sprechen. He who o fo ld ivould rend the oak m ein t die Label von
M ilo und der E iche. M ilo von K ro to n , so wird erzählt, sei so kräftig gewesen,
daß er m it nur einem Faustschlag eine ju n g e Kuh erschlagen und im Laufe des
: ’lages verzehrt habe. E in e partiell gespaltene E iche vorfind end , versuchte er sie
m it bloßen H än d en auseinanderzubrechen, blieb jed och darin stecken. D a er
: sich alleine n ich t m ehr befreien k o n n te, fiel. M ilo den W ölfen zum .Fraß. S ch ö n -
■ berg läßt die V iola ein T h e m a dazuspielen. D as C ello im itiert im K anon,

j
]0 Au ch visuell fand die A b k ü rz u n g weite V er bre it un g, n i c h t zuletzt durch W i n s t o n Ch ur ch il ls
m ed ien wi rks an ien G e b r a u c h davon, n äm li ch durc h eine den B u ch s ta b e n V n a c h a h n i e n d e Spreizung
des Ze ige - und Mit telfing ers .
138 Stefan I.itw in

I ) i iA E S T O S O
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PO CO M A ESTO SO

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Z u r Ode to Napoleon Buonaparte 139

D ieses T h e m a ist wie alles andere aus der R eih e abgeleitet. M an vergleiche es
aber m it d em B egin n von B eethovens S treich q u a rtett op. 1 3 2 :

Violino I. :

!r
V i o l i n o 11.
p *

V iola
L
1
V ioloncello

D ie Intervallverhältnisse sind iden tisch . W o im m er Byron auf historische


G estalten oder Fabeln Bezug n im m t, tu t es ihm S ch ö n b erg auf musikalischer
E ben e gleich, er zitiert M usikgeschichte, das M o tiv aus Beethovens spätem
S treich q u artett.'1 D ie musikalische T extu r zu solchen Versen bestellt fast aus­
schließlich aus diesem M otiv und seinen. P erm utationen. Z um Beispiel unter­
streicht es den Roman, den römischen. D iktator Sulla, der 7 9 v. C hr. freiwillig
auf seine D ik ta tu r verzichtete, wie auch den Speiniard, Karl V., der 1 5 5 6 zurück­
trat und sich in ein K loster zurückzog.

] 1 D i e vier Tö:ne, die bereits bei B e et h o v en archaisch a n m u t e n , weil sie an das vorklassische Kreu-
zigungsrnotiv er in ne rn , sind ni cht nur in op. 1 3 2 von zentraler Be d e u tu n g , auch die G roße huge
op. 1 3 3 und an dere Sätze der späten St r ei ch q u a rt e tt e setzen diese Figu r ein.
140 Stefan I.itw in

* ) N o MM; p e rb a p s no t <Juite » s slo w ns MOLTO M O D ER A TO (J = 7 4 ) in bar 11 7 .

A uch w altet die Viertonfigur in je n e r Strophe vor, in der B yron von Austritts
rnournfiä hlower, N apoleons zw eiter Frau M arie-L ou ise spricht. Ebenso er­
sch ein t sie zur Legende T im ors (oder Tam erlans). D er so b en an n te M o n g o ­
lenherrscher, h e iß t es, h abe a u f seinen Siegeszügen den en tth ro n ten K ö n ig B aje-
sid in einem Käfig m it sich gefüh rt. G leiches M aterial sch ließ lich m arkiert den
R ü ck g riff auf N ebukadnezar, he, of Babylon, und eine A nspielung auf P rom e­
theus, dem thiefoffire. A ber auch Byrons sarkastischer T on fall wird in S c h ö n ­
bergs eigenem bissigen H u m or reflektiert, wenn im A n sch lu ß an die Z eile So
lang obey’d .. so little worth!folgendes instrum entale Zw ischenspiel erklingt;
Z u r Ode to Napoleon Buonaparte 141

D ie sp iekech n iseh recht anspruchsvolle ch ro m atisch


arpeggierter Akkorde in den Streich ern und die D rcikla
innern an m usikalische Fingerübungen, Schernberg setzt also in stru m en tal-
etüden den W o rten gleich: so lang befolgt .. so wenig wert!
In T ak t 221 setzt m it einem nach E s-D u r klingenden M o tiv eine Ü b erlei­
tu ng zur Schlu ß ep isod e an, die trotz des d eutlich tonalen Bezugs freilich im m er
n och aus der G ru n d reih e entw ickelt ist.
E s -D u r ist die G ru n d to n a rt der ursprünglich N apoleon gew idm eten Drit­
ten Symphonie Beethovens, der liroiea. Bekanntlich bew og jed och N apoleons
K rö n u n g zum Kaiser und sein. V errat an der R evolution —A nlaß auch zu Lord
Byrons Ode ..Beethoven dazu, die W id m u n g zu w id erru fen. D ie anschließende
E pisode b ekräftig t m it ihrem tonalen B ezu gspun kt die A ssoziation an die
Eroica. Auch, der m usikalische G estus drängt in A nalogie zu Beethovens T o n ­
fall einem heroisch en S ch lu ß entgegen, und tatsächlich , da wird der wahre
H eld g enannt, der erste am erikanische Präsident, G eorg e W ash in g ton , im Ja h ­
re 1 9 4 2 von Franklin D . R oosevelt repräsentiert. D ie Form el Durch Nacht zum
142 Stefan L itw in

A TEM PO P A ,a

lall. prefiorvM jbii prikfej am!,


_A TEM PO *

'gl

Licht, von Beethoven auch im Finale der Neunten Symphonie eind rü cklich ins
W erk gesetzt, wird herbeizitiert. S chön bergs Ode an Napoleon spielt je tz t auf
Schillers Ode an die Freiheit an.
V ergleicht m an diese Stelle m it dem in die S chlu ß ep isod e der Ode to Napo­
leon einführend en C ello th em a m itsam t der nachfolgend en Im ita tio n e n , so
wird evident, daß S ch ö n b erg aus einsichtigen G rü n d en , w enn m an die daraus
gew onnene sem antische B ed eutu ng b ed enkt, nun auch den C h o r aus B e e th o ­
vens Neunter Symphonie w ie vorm als das H au p tm o tiv aus op. 1 3 2 zum B au ­
stein m ach t (siehe S. 1 4 5 ).
Z u r O d e io N a p o leo n B u o n a p a r te 14 3

Andante maestoso (J = 7 2 )

B e et h o v en , N eunte Sym phonie , Sc h lu ß sa tz


144 Stefan Litw in

Schönbergs K om positionsm ethode verknüpft: Byrons Gegensätze - N apoleon


einerseits, Sulla, Karl V., etc. andererseits — und hebt die d ialektischen B ilder
auf wie ein eFliege.im B ern stein. Begriffspaare wie L ich t/ N a ch t, Sieger /Besieg­
ter, Tyrann/Sklave, Flelcl/Feigling hallen in der m usikalischen S tru k tu r wider
als K o n so n an z/ D isson an z, T o n a litä t/ D o d e k a p h o n ie, G ru nd reihe/ K rebs,
E rfindung/ Z itat, Streichquartett /Klavier, D as M elod ram ist d am it ein M odell
sich gesellschaftlicher V eran tw ortung bew ußter M usik. W o h l n ich t zufällig
Z u r O d e to N a p o leo n B u o n a p a r te 14
146 Stefan Litw in

basiert ein friih.es O rch esterw erk Luigi N on o s, die Variazioni canoniche sulla
serie deW Op/il di Arnold Schoenberg, a u f der T o n reih e zu diesem Stü ck . D en n
S ch ö n b erg verlieh Byrons und S chillers F reih eitsu top ie in der Ode to Napoleon
neue G estalt und drückte, k on trär zum M iß b ra u c h der m u sikalischen T ra d i­
tio n durch die N ationalsozialisten , den h u m anistischen G eist Beethovens in
aktualisierter W eise aus. W ä h ren d die in D eu tschland b etriebene Politik das
L ich t löschte, erhellte die p o litisch e M u sik des aus D eu tschland V ertriebenen
die finsteren Z eiten .
H einz-K lau s M etzger

Na]>oi('«»n(s Sturz)

.. .Q u in te n s ch ritt aufwärts und T erzensch ritt aufwärts nenne


ich fallende Sch ritte. B ei ih n en geht folgendes vor: der Q u in -
ten sch ritt aufw ärts lä ß t ein Intervall von frü her relativ u n ter­
geord neter B ed eu tu n g H a u p tto n werden: die Q u in t, ein Par­
venü, k o m m t em p or und wird G ru n d to n . D as ist D ecad ence.
M an könnte einw en d en, dieses A van cem ent zeuge fü r die
K raft des E m p o rg ek o m m en en , und der G ru n d to n sei hier
überw unden. A ber die K raft des E m p orgek om m en en besteht
hier nur in dern N achlassen der K ra ft des G ru n d to n s, in
ab sich tlich em N achlassen, zu dem der G ru n d to n , da er ja die
Q u in t in sich en th ält, nur sozusagen aus G u tm ü tig k e it sich
h erg ib t, wie sich der Löw e in eine F reu n d sch aft m it dem
H asen einläßt. In noch auffallenderer W eise zeigt das der T e r­
zenschritt aufwärts.
[ .. . ]
D en n , da ja alle die einfachen Verhältnisse vom einfachsten
W esen des 'Ions (von seinen zunächst!legenden O b ertönen )
abgeleitet sind, hat er, der G ru n d to n , schon dadurch eine ge­
wisse V orherrschaft über die von ih m ausgehenden G ebild e,
d aß deren w ich tig ste B estan d teile, da sie sich von seinem
Glanz herleitcn, sozusagen seine Satrapen,
sind: N apoleon, der seine Verw andten une
europäischen T h ro n e setzt. Ich m eine, das ’
trügen, um zu erklären, warum man berechtig. „........
des G ru n d tons zu g eh orch en : die D ankbarkeit, gegen den E r­
zeuger und die Abhängigkeit von ihm . E r ist Alpha und O m e ­
ga. D as ist m oralisch, solange n ich t eine andere M oral gilt.

S ch ön h erg , Harmonielehre ( 1 9 1 1 ) 1

D e r die .Hierarchie, die »A usführung eines Kunstgriffs, der es erm ög lich t, m usi­
kalischen G ed an ken den Anschein von Geschlossenheit zu verleihen«2, weg­

1 H ie r zitiert nach der »UI. v er m eh rt e n un d verbesserten Auflage«, W i e n 1 9 2 2 , S. 1 4 5 Hervor­


h e b u n g im O r i g i n a l ..u n d S. 1 5 6 . D i e Üb er sc h ri f t des Kapitels, d e m beide Stellen e b en s o wie die in
A n m . 2, 3 und 4 nach gew ie sen en e n t n o m m e n sind, h e i ß t »liinige A n w e is un ge n zur Krzielung gün ­
stiger F ol g en ; üb er m el o d is ch e F ü h r u n g der be id en A u ß e n s r i m m e n . D a n n üb er Sch lüsse, Kade nz en,
Trugschlüsse und den ^-Akkord in der Kadenz«.
2 E b en d a , S. ] 56.
148 H ein z-K lau s M etzger

fegte; der die G leich b erech tig u n g der T ö n e und aller B eziehungen zwischen
ih n en , der Intervalle, w ider die N atu r erfand und d am it die W ien e r atonale
R evolu tion zu B eg in n des zw anzigsten Jah rh u n d erts anzettelte, hat die to n a ­
len V erhältnisse n ich t als b lo ß e C h iffren der H errsch aft gedeutet, sondern
u n m ittelb ar als p olitische T atsach en erkannt. D as Sim pelste, die K ad enzklau­
sel V -T in C -D u r m it dem F u n d a m en tsch ritt CT C im B a ß , erklärt er dem
H arm onieschüler folgen d erm aßen : »D er 'Fon, der früher H au p tto n war, der
G ru n d to n , wird im zweiten A kkord abhängiger 'Fon, Q u in t; allgem einer: der
B a ß to n des zweiten Akkords ist eine höh ere K ategorie, eine höhere M ach t,
denn er en th ält den ersten, der früher selbst G ru n d to n war, in sich. Im D re i­
klang von G ist g übergeordnet, aber im D reik lan g von C ist g un tergeord net
und c übergeordnet. E in S ch ritt, der das hervorbringt, der sozusagen einem
Fürsten einen K ö n ig als V orgesetzten gibt, kann nur ein starker S ch ritt sein.
A ber das c un terw irft n ich t b lo ß den G ru n d to n , sondern zw ingt auch die ü bri­
gen B estan d teile des A kkord s, sich seinen B ed in gu ngen anzupassen, und der
neue Akkord en th ält außer dem u n terjo ch ten früheren G ru n d to n nichts, was
an die frühere H errsch aft erinnert.«3 D as System erwies sich je d o ch , sam t der
inneren D ynam ik seiner w echselnden, einander stürzenden und erneut in th ro ­
nisierenden D om in an zen , als sprengbar von unten nach ob en : »Es kann also
auch anders kom m en ! W en n beispielsw eise der oberste H err schw ach und die
E rgebenen stark werden. E in Fall, der sich nur allzu o ft in der Flarrnon ie ergibt.
A ber so w enig es notw endig ist, daß ein Eroberer D iktator b leib t, so w enig ist:
es notw endig, daß sich nach einem G ru n d to n die T on alität richten m u ß , selbst
w enn sie von ihm abgeleitet ist. im G egenteil.«'1D ie T o n alität explodierte durch
ihre eigene Ladung.
N ich t vorgesehen gewesen war in den klassischen Theorien, über Fortsch ritt
und R evolu tion , auch den musikalischen, der Faschismus. D ie deutsche .M ör­
d erherrschaft veränderte die W elt .. und die G esch ieJitsp h ilo so p h ie. Was
S ch ö n b erg als die w ahre F u n k tio n neuer Akkorde stipulien. h atte, war plötz­
lich nur noch kritisch zu halten, hingegen, in. seinem positiven A usblick rührend,
vorfaschistisch: »D aß sie Alks, das Äußerste, leisten, wird, ihnen zu gem u tet; daß
sie eine W elt darstellen, einer neuen G efühlsw elt A usdruck geben; d aß sie neu
sagen, was neu ist: einen neuen Menschen/«’ S ta tt seiner standen H ek atom ben
bestialisch oder industriell E rm o rd eter und. ihre M ö rd er auf der Tagesordnung
~~ auch auf der des G eistes oder, falls jem and diesen T erm inu s bevorzugt, des
ästhetischen Su b jek ts. A ufklärung m u ß te jetzt versuchen, so dialektisch zu
w erden wie noch nie zuvor. R ü ck b lick en d auf die K o m p ositio n seiner Ode to
Napoleon Buonaparte hielt: Sch ö n b erg in einer Fragm ent gebliebenen N otiz
fest: »I had lon g speculated ab ou t die rnore p rofou n d m ean in g o f die nazi

3 E b en d a , S. 1 4 1 - 1 4 2 .
4 E b en d a , S. 15 6.
3 Eb end a, S. 4 7 9 . H er v o rh e b u n g e n im Or ig in a l. D i e Ü b er sc h ri f t des Kapitels b e i ß t » Q u a rt e n -
Akkorde«.
N apoleon (s Sturz) 149

philosophy, T h e re was one elem ent th at puzzled m e extrem ely: the resem blance
of the individual b eein g s [sic!] life in respect to values o f the com rn u n ity or its
representative: the queen or the Führer! I could n o t sec why a w hole generati-
on of bees or o f G erm an s should live only in order to produce an oth er gene-
ration of the sam e sort, w h ich on their part should also fulflll only the same
task: to lceep the race alive. 1 even surm ised that bees (or ants) instinctively
believe their destiny was to be successors o f rnankind, when this had destroy-
ed ir s e lf. . . j , . . ] W ith o u t such a goal the life o f the bees, w ith the k illin g o f the
drones and the thousancis o fo ffsp rin g s o f t h e queen seerned fntile. Sim ilarly
die sacrifices o f the G erm an H errenvolk w ould n o t m ake sense w ith o u t a goal
for w orld d o m in atio n - in w h ich the single individual could vest m u ch inter-
est.«6 D em i bevor S ch ö n b erg dazu kam , für seine vielleicht sogar m agisch in­
tend ierte k om p ositorisch e U n tern eh m u n g gegen H itle r sch lu ß en d lich Byrons
H oh ngesang auf: den sch m äh lich en A bgang N apoleons zu w ählen, trug er sich
m it dem P lan, das Phantasm a der B ien en vö lk er und ihrer u n h eim lich en Staa­
ten zu diesem Z w eck zu them atisieren und hierfür eine eigene D ic h tu n g zu
verfassen. Zwei Z ettel m it Entw ürfen zu diesem P ro jek t haben sich offenbar
erhalten; auf beiden springt der 'le x t am E nd e in ein m usikalisches N o ta t u m 7:

für die K önig in ist


im m er Ersatz bereit
D en n
k e i n e n A u ge n b 1i ck
darf das V olk ohn e K ö n ig in bleiben.
W arum?
Ist die Existenz des B ie n e n ­
volks bedroht?
D iese Existenz für die alle
arbeiten, leben, sterben?
Was erhoffen sie?
Streben sie die W elth err­
schaft an? H offen sie uns, das
M enscheng esch lecht zu beerben,
so wie w ir die U n getüm e

6 Zitie rt n ach R e in h o ld B r i n k m a n n (Hrsg.)» A rn old Schönberg, M elodram en und L ied er m it Instru­


m enten t '1 eil 2: H erzgew ächse op. 2 0 , O de to N apoleon Buonaparte, op. 4 L K ritischer Bericht, Studien
z u r Genesis, Skizzen, D oku m en te , A nhang, Fragm ente ( ™S äm tliche Werke , u n te r dem Pa tr ona t der Aka­
de m ie der Kü ns te , Berlin» b e g rü n d et von Jo s e f Rufer, hrsg. von R u d o l f S te ph an , R e ih e B, Bd . 2 4 , 2 ) ,
jYlainz und W i e n 1 9 9 7 , S. H ) 7 . ..N o c h eimmddreivierre) Jah re , n a ch d e m S c h ö n b e r g die B i e n e n a).s
m ög li ch e s Inbild des Fa schismus zug un st en N a p o l e o n s verwor fen hatte, waren diese »bees« geh e im e r
G eg en s ta n d sei ne r affektiven Be s et z u ng in e i n e m derar tig en A u s m a ß ge b lie be n , d a ß er sich aul-
verräterische Weise verschrieb, als es um s m e n s ch l i ch e In d iv id uu m ging: »individual beeing« statt
»heilig« wah rli ch ein einzigartiger lapsus scripturae.
7 Eb e n d a , S. 108 .
150 H ein z-K lau s M etzger

beerb t h ab en , die vor uns


die W elt beherrschten .

D o th e w m e for uorld Joini-n ;i - uon

Es ist allerdings fraglich


ob diese U ngetü m e ge­
herrscht h ab en , diese
D rach en , Lindw ürm er,
Z auberer, G eister,
Feen, R iesen u.s.w.
[ ...]
H a t das D asein der B ienen
überhaup t ein en Sinn?
Sie leben sch einbar nur
für die »E rhaltung der Art«.
W enn sie aber für die
W elth errsch aft arbeiten, che
w ir verlieren nachdem wir
uns gegenseitig ausgerottet
haben: was wäre dann
der Sin n der W eltherrschaft,
w enn sie zu nichts fü h rt
als zum U ntergang, der eine
direkte Folge der H errschaft ist:

Es fällt ein D etail der In terp u n k tion auf: bevor die Skizze der zweiten »Stro-
ph e« von B u ch stab en sch rift in m usikalische N o ten um schlägt, setzt S ch ön berg
einen D o p p elp u n k t, als w ürde verm ittelst einer K o n stella tio n von T o n ­
h öh enintervallen der Beleg oder Bew eis des zuvor in verbaler Sprache Vorge­
tragenen erbracht. D ab ei handelt: es sich offen sich tlich um den m iß g lü ck ten
E n tw u rf des sech stönigen Vordersatzes einer Z w ö lfton reih e und seiner U m k eh ­
ru ng in der U n terqu in t, w elche S ch ö n b e rg nach dem d riften 'Fon abbrach, weil
N apoleon (s .Sturz) J 51

er in n e wurde, daß sie k o m p lett n ich t aus den sechs restlichen T ö n e n des ch ro ­
m atischen Ib ta ls bestü nd e, aus denen sodann der N achsatz der R eih e zu b il­
den wäre, wie es dam als längst zur G ru nd regel der seriellen K o n stru k tion en
Sch ön bergs gew orden war, sond ern infolge der W ied erh o lu n g des a und des
Fehlens des gis un brau ch bar wäre. M erkw ürdigerw eise aber b ü ß t bereits der
m elod ische E in fall, in w elchem der T exten tw u rf der ersten »Strophe« k u lm i­
n iert, durch ein zweim aliges V ork om m en des /«jedenfalls die E ig n u n g ein, zur
Z w ölftonreih e zu w erden. W as indes den ganzen A lptraum des totalen B ie ­
nenstaates um seine Tauglichkeit b rachte, in S chön bergs geplanter Negation
des Dritten Reiches durch Kunst das negand um absolutum zu sym bolisieren, war
die literarische Q u elle, die des K o m p on isten einschlägiges W issen exklusiv spei­
ste: La Vie des abedles jenes M au rice M aeterlinck, dessen ästhetische Trauer
n och das G rausigste in S ch ö n h eit verzaubern k o n n te: »M aeterlin ck s poetic
p hilo sop hy guilded everything w h ich was n o t gold itself. And so w onderful are
bis explanations th at one m ight d ecline refu tin g tliem , even if one knew they
were m ere poetry. I had to abandon this plan. I had to find an oth er su b ject fit-
tin g m y purpose.«8
W as Sch ö n b erg hier »purpose« n en n t, ist aufs genaueste zu bed enken. D ie
A b sicht, der sein V orhaben gilt, ist singulär in seinem W erk. W er das exzen­
trische B eg in n en , das in W ah rh eit ein zentrales war, auf seinen B eg riff zu
bringen sich v erm iß t, m u ß jed e R ü ck sich t auf k on v en tio nelle O rien tieru n g s ­
m arken, die den gesitteten U m fang des R eichs der K unst im verm eintlich auf­
geklärten zwanzigsten Jah rh u n d erts absteckten, von sich tun. D em Rückfall
der E p och e in eine B arbarei, derenglei.ch.en die W elt noch nicht, gesellen, weil
n äm lich die h yp othetische Urzeit, die m an sich so gern, wie fälschlich als einen
Zustand vor der E in fü h ru n g der Zivilisation, auszumalen
n ichr auf der K o m b in a tio n der zur N azizeit fortgesch ritten ste
L och karten des 1 lollerithsystem s, m it V iehw aggons für M et..,...... ............ ........
nicht: auf der V erknüpfung artifiziell hergestellter prim itivster U m stände des
Vegetierens sam t u rtü m lich er Folterun gen in den Lagern m it der technisch
h ö ch sten tw ick elten T ö tu n g s -, R eliq u ien v erw em m g s- und L cich cn cn tso r-
gungsindustrie b e ru h te ,..diesem .Rückfall der E p och e in unausdetikliche B ar­
barei antw ortete die avancierte K u nst in einigen ihrer exponiertesten G ebild e
durch den Rekurs auf tabu ierte, tief archaische P raktiken, in die das Potential
ihres utopischen G egen teils, des extrem en ästhetischen F ortsch ritts, unterm
jäh en Signum des U nsterns zu fliehen schien. »K unst ist. M agie, befreit' von der
Lüge, W ahrheit' zu sein«, d oziert ein antisystem atisches Apercpi von abgrün­
diger D ia le k tik .9 W om ö g lich eignet: der S ch ö n b erg sch en Ode to Napoleon

8 E b e n d a , S. 1 0 7 .
9 T h e o d o r W. A d o r n o , M in im a M oralin. R eflexione ;/ aus dem beschädigten Leben., Be rli n und F ra n k ­
furt am M a i n 1.951, S. 4 2 8 ; in A d or no s G esam m elten Schriften > Bd . 4 , hrsg. von R o l f T ie d e m a n n ,
F ra n k fu rt a m M a i n .1980, finde t sich die Steile au f S. 2 5 2 ; sie ist in der zweiten Auflage des Bandes,
Fra n k f u rt am M a i n 1 9 9 6 , auf S. 2 5 4 gerückt.
152 H ein z-K laus M etzger

Buonaparte, an der Pazifikküste der V ereinigten Staaten 1 9 4 2 nach dem C h o c


von Pearl H arb o r geschrieben, eine Sprengkraft, die m ehr als eine so aufge­
klärt-zivilisierte D e fin itio n von K u nst aus den A ngeln h ebt, jed en falls wissen
in einem anderen, fast gleichzeitigen Fall diejenigen, die den K ü n stler k a n n ­
ten, m eh r über die Prozedur des Z aubers in effigie. ln Stu ttg art, m itten irn
D ritte n R eich und beflügelt von Stalingrad, dem U ntergang der nazideutschen
Sech sten A rm ee /Anfang 1 9 4 3 , versuchte der M aler W illi Baum eister durchs
M ed iu m seiner Illu stratio n en zum B u ch e E sth er die magische Tötung Hitlers.
Sein Z iel war dabei m it dem der legendären E sther und m it d em jen igen S c h ö n ­
bergs u n m ittelb ar identisch: die R ettu n g der Ju d en.
D e r P u rim -P h an tasie blieb die E rfü llu n g durch den G an g der B eg eb en h ei­
ten versagt: H itler und die S ein en sind an den K unstw erken, die gegen sie
gerich tet w urden, m itn ich te n verreckt. W eder an n u lliert dies aber die S tich ­
haltigkeit der in R ede stehen den ästhetischen G ebild e, n o ch kann m an den
Nazis absprechen, daß sie nur zu genau w u ß ten , w arum sie »entartete« K unst
so rigoros verfolgten, als wäre sie eine reale Gefahr. A u f einige p olitische K u n st­
griffe Sch ön berg s sei hingew iesen. Seit B rin k m a n n s R ev ision sb erich t zur
»kritischen« E d itio n der Ode liegt zutage, daß die originäre N ied erschrift des
V okalparts anfangs schw erlich von der N o tatio n einer genuinen Gesangsstim ­
m e zu u nterscheid en gewesen w äre.10 jed en falls fiel die für das k o m p o sito ri­
sche W esen des W erks entscheid en de Transform ation keineswegs vom H im ­
m el, sondern wurde durch experim entelle Ü berschreitu n g einer seit G u id o von
Arezzo unverrückbar scheinend en Schw elle erreicht: ein Ä o n des A bendlandes
stürzt ein m it dem Ü bergang von einer die Beziehung auf absolute 'lo n h ö h e n
präzisierenden Schreibw eise zur sch ließ lich en W ied erein fü hru ng »um linearer
N eum en«, aber neuen Schlages, die m it der P ointe ihrer buchstäblich in der
L u ft hängend en #, l» und i) eine paradox d ifferentiierte, starke Suggestivschrift
bilden, in der sich vollends vielleicht die E m anzip ation des m usikalischen D is ­
kurses von allen vorgegebenen Tonsystem en ü berhaup t ausdrückt. Dann, h ät­
te Sch ö n b erg m it der Sp rechgesa ngsst im m e der Ode erstm als einen. Z ustand
der M usik visiert, dessen H eraufkunft als epochale Signatur, verbunden n ich t
zuletzt m it dem N am en seines radikalsten am erikanischen Schü lers, Jo h n Gage,
er n ich t m ehr erlebt hat. »ln definitiva le grandi rivoluzioni in m usica sono
proprio avvenute negando la n o b iltä del cantare sul parlare.«11 An O rt und
Stelle entscheid et der ganze Sin n von S chön bergs K onzeption sich an der Fra­
ge, w elche ob jektive Instanz in der S tim m e inkarniert: ist, die in seiner Ode to
Napoleon Buonaparte den von B yron verfaßten l e x t vorträgt. M athias H ansen
w eist a u f daß es sich unbeschadet der kom plizierten A b k u n ft dieser dram atis

10 Vgl. die D ar st e ll un g des Sac hverhalts in Ulr ich Krä m e rs Bei tra g » Z u r N o ta t io n der S p r e c h s ti m m e
bei S ch ö n b er g « , in die sem Here S. 2 5 ff-, ins bes. S. 3 0 - 3 2 .
1i G i u s e p p e C h ia ri , »Appunti«, in: Collage. Rivista trim estrale ä i m tova m usica e a rti visive contem -
p oran ee , n° 3 , a cura di Paolo E m i l i o Carapezza e A n r o n i n o T i t o n e , Pa le rm o marzo 1 9 6 4 , p. 7 6 ; vgl.
auch das G c n e r a l m o r t o dieses Hefts.
N ap oleon (s Sturz) 153

persona auch u m einen w eltlichen W iedergänger des Erzengels G abriel aus der
JakobsleiterhimAdt, einen n u nm ehr freilich »nam enlosen A n kläger«12: un d en k­
bar, daß er, bei seiner B o tsch a ft, sän g e.1-5
S ind die system sprengenden, hier erstm als in S chön bergs W erk die P h a n ta ­
sie der T o n h ö h en relatio n en insgesam t vom A xiom ihrer E ich u n g auf die vor­
gegebene ch ro m atisch e S tim m u n g lösenden »unilinearen Sprechneum en« das
E rgebnis eines waghalsigen Verw andlungsprozesses, so ist die Gestik der »be­
gleitenden«, grundierend en oder bisw eilen die Rezita tion sogar wid ersprechend
k o m m en tie re n d en 14 In stru m en talp artitu r ebensow enig vom H im m el gefallen.
Im F rü h jah r 1 9 0 7 h atte S ch ö n b e rg seine B allade » D er verlorene H aufen«
op. 12 N r. 2 für M ä n n erstim m e und K lavier - wie das Pendant »Jane Grey«
op. 12 N r. 1 für Frau enstim m e - behufs E in reich u n g zu einem K o m p osi­
tionsw ettbew erb verfertigt, bei dem er leer ausging. A n den A nfangstakten des
M ännerlied es

Seh l- ra sch (.mäfiiqe J ■

Gesang

Klavier
I zß±:

» D er verlorene H a i d e n « , T. I - 5

12 Vgl. M at h ia s H a n s e n , A rn old Schönbtrg. Hin K or/zepl d er M oderne, Kassel/Basel / L o n d o n / N e w


York /Pr ag 1 9 9 3 , S. 1 4 9 - 1 5 0 .
13 Hin V er sto ß gegen die G es ch le c lu s fe s de g un g , die S c h ö n b e r g m i l d e r V o r z e i c h n u n g d e s Ba ßs ch lü s ­
sels traf, ist vielleicht ein Sakrileg, geriet je d o c h ein m al , in der ersten Phase nach, der B e f re iu n g F ra n k ­
reichs, zur Sier n stu n de : un er re ich t ist bis heu te die .Aufnahme, die R e n e L e i b o w k z m i t der S o p ra n i ­
stin Ellen Adle r als »recitantc«, J ac qu es M o n o d am Klavier und T b c Villers Q u a rt e r pr oduzierte (Diai
Re co r d s 3 , N e w York 1 9 5 0 ) ,
14 M a t h i a s H a n s e n ha t das A u g e n m e r k auf Sc h ö n b e r g s früher k a um be a ch te te Auseina nde rs etzu ng
m i t der D ra m a tu rg i e B re ch ts gelenkt. Vgl. in sein em bereits er w ä h n te n B u c h , das p r od u kt io n s äs th e­
tisch eine ganze R e ih e von. terrae novae aufs chl ie ßt, insbes. S. 2 1 0 - 2 1 2 .
154 H ein z-K lau s M etzger

sch ein t sich die Idee der in stru m en talen E in leitu n g der Ode to Napoleon Buo­
naparte entzündet zu haben:

Piano

Ode io Napoleon Buonapurtc'W 1

D e r initiale E infall des katastrophisch herein brech en d en fo rtissim o-'lrillers,


der durch eine auffahrende G este w ie durch, einen unerw arteren W indstoß auf
eine höhere Stu fe tran sp ortiert wird, ist beiden A nfängen gem einsam . D ie Ode
aber zitiert n ich t sim pel die Figuration, rn.it der die M änn erballad e anh o b, son ­
dern p olyp honisiert den 'Friller; er wird zur vibrieren eines
ganzen A kkords, dessen knirschen des Flackern gleichsam r W elt
angesichts der U n geh eu erlich k eit der g esch ichtlich en Ereignisse zurückspie-
gelt. D ie vollgriffigen akkordischen Staccatoschläge des Klaviers aber, die pras­
selnd den in stru m entalen K om plex der Ode eröffnen und deren gesam tes har­
m onisches Program m gew isserm aßen ernblem afisch auf seine G ru n d form el
zusam m enballen, sind aus den 'F ö n en der ersten beiden A kkord e der K lavier­
begleitu ng in 'Fakt 4 des »Verlorenen H aufens« gebildet. H ier steckt, 1 9 0 7 , die
K eim zelle jener eigen tü m lich en K o n stellatio n aus ineinan d er verschrän kten
oder m itein an d er verkeilten D reik läng en dergestalt, daß deren einstige prim ä­
re G esch lech tsm erkm ale, die D u r- und M o llterz, sim ultan verklam m ert sich
im A bstand einer kleinen Sekund reiben, dem engsten und »dissonantesten«,
den die ch ro m atisch e Skala bereithält. D iese jetzt atonale E rin n eru ng an vor­
dem tonale B ed eutu ngen d urch w irkt auf säm tlichen K o n stru k tion seb en en ,
vom Plan des G anzen bis hin ab zum verspieltesten D eta il, zunächst das ge­
schlossene harm on isch e Idiorn der Schönbergschen Su ite op. 2 9 für K am m er-
N ap oleo n (s Sturz) 1 55

ensemble, des w ichtigsten kom positionsgeschichtlichen R elais’ auf dem ver­


schlungenen W eg der T on k o n stellatio n en vom »V erlorenen H aufen« zur Ode
to Napoleon Buonaparte. Die Suite en tsp roß in den Jah ren 1 9 2 4 - 2 6 dem neu­
en Eheglück Sch ön berg s m it seiner zw eiten Frau, G ertrud Kolisch. Das System
der atonal »dissonant« m itein an d er verzahnten oder ineinand er verkrallten
tonalen D reiklänge wird paradigm atisch schon in der Eröffnungskadenz der
O u v ertü re m it ihrem E s-D u r-G efa lle exponiert:

A lle g r e tto U - . n ) S e h r flo tt Ouverture ^ ^ v


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vSuire op. 2 9 O u v c n u r c

D er unw iderstehliche Sog der Ode to Napoleon Buonaparte in die lo n a n der


sogenannten Ero'ica ersch eint in diesen drei 'la k te n m it schlagender Prägnanz
vorw eggenom m en. F'reilich bezeich n ete er damals so etwas wie die stru ktu rel­
le G ru n d ieru n g des S ch ön berg sch en K om porherens überhaupt: so verhalten
die beiden H älften der Z w ö lfton reih e des B läserq u intetts, das 1 9 2 3 ..2 4 e n t­
stand, sich zueinander wie T on ika und D o m in a n te von E s-D n r, I hr: :t
fü r die in h altlich e G en ese des A nti-Flitler-Stück s in S ch ön berg s h u Ik h m
L eben sicher »D er verlorene H aufen« von 1 9 0 7 das p ertinentere D ok u m en t.
D er T ext V ic to r K lem perers ist erschreckend: eine A rt Freicorpslied, dessen
nähere historische B ew and tnis m an zwar n ich t erfährt, das sich jed och auf jene
fragw ürdigen kriegerischen V eranstaltungen beziehen d ürfte, m it denen die
D eu tsch en , zur N ation erw achend, das »Joch« von R echtsstaatlichkeit und
Ju d en em an zip ation , den C o d e N ap oleon , ab sch ü ttelten . Angeblich, g eht auf
die Freischärlerm ontur von »Lützows wilder, verw egener Jagd« ..schwarzes
T u ch , rote A ufschläge, goldene K n ö p fe —die d em okratische T rik olore D eu tsch ­
lands zurück. N ap oleon , der Verräter der R evolu tion , war zwar für Frankreich
ein V erhängnis, aber für D eu tsch lan d ein Segen: als E roberer exportierte er
156 H ein z-K lau s M etzger

einige A kq u isitio n en der R evolu tion , m ögen es auch eher deren ju rid isch e
A bfälle gewesen sein, nach ganz Europa. D a ß U ntaten sonder Z ah l, auch M a s­
senm ord e bis dahin n ich t gekann ten A usm aßes n am en tlich im O rien t, dem
Kaiser der Franzosen, h ätte er sich dem B rech tsch en Verhör des Lukullus stel­
len m üssen, das U rteil eingetragen hätten : »All ja, ins N ich ts m it ih m und ins
N ich ts m i t /A llen wie er!«15, m ach t n och lange n ich t die Parallelisierung m it
H itle r triftig. H öld erlin sah den »A llbekannten« in einer O d e, deren A nfangs­
zeile aufs sonderbarste die ersten W orte der N r. 14 aus S ch ön bergs Pierrot lu­
naire nach dem u n terschätzten A lb ert G iraud - »Heilge Kreuze sind die V er­
se, dran die D ich te r stu m m verblu ten« — v o rw eg n im m t, n o ch um 1 8 0 0
panegyrisch16:

Buonaparte.

H eilige G efäß e sind die D ichtei',


W orin n des L ebens W ein , der G eist
D e r H eld en sich aufbew ahrt,

A ber der G eist dieses Jü n g lin g s


D e r schnelle m ü ß t’ er es n ich t zersprengen,
W o es ihn fassen w ollte, das G efäß
D e r D ich te r laß ihn un berüh rt
wie den G eist der .Natur,
An solch em Sto ffe
wird zum K naben
der M eister
Er kann im G ed ich te
nicht leben und bleiben
Ei- leb t und b leib t
in der W elt.

.Diesem W ortlau t ließ B ru n o Liebrucks die D eu tu n g angedeihen: »H ölderlin


hat es ausgesprochen, daß N apoleon n ich t m ehr im Liede leb t.« 17 In W ahrheit
leb te er, kom eten h aft aufsteigend, und an G lanz zunehm end, in den Z eitlä u f­
ten der ihm geltenden O d enversu che H öld erlins noch nicht im Liede, sondern,
eben »in der W elt.« E rst nach seinem Sturz begann die Poesie seiner zu geden­
ken, schrill einsetzend unglaublicherw eise bereits am 10. April 1 8 1 4 , sozusa­

15 Vgl. O ie Stücke von B ertolt B recht in einem Band, F ra n k fu rt am M a i n 1 9 7 8 , 6. Aufl. 1 9 8 7 , S. 5 9 1 .


16 Frie dric h H ö ld er li n , Säm tliche Werke. K rit isc he Texrausgabe n ac h der von F). E. Sard er heraus­
gegeb ene n (F rank furter) H is to r i sc h - K ri ti s ch en Ausgabe, Bd . 4, Oden /, D a r m s ta d t un d Neu wi ed
1 9 8 5 , S. 4 3 .
17 B r u n o Li eb ru ck s, Sprache u n d Bew ußtsein, Bd . 3: Wege zum Bew ußtsein. Sprache u n d D ia lektik
in den ihnen von K an t und M arx versagten, von U cyel eröffneten R äu m en , F ra n k f u rt a m M a i n 1 9 6 6 ,
S. 3 3 7 .
N ap oleon (s Sturz) 1 57

gen brühw arm nach seiner ersten A bd ankung, eben m it Byrons H o h n k a sk a ­


den, eieren Ü bersetzung in eine m u sikalische K o m p o sitio n , für w elche die
G esch ich te keinerlei Präzedenzfall k en n t, S ch ö n b erg 1 9 4 2 gegen H itler um -
drehte. Indes ward die ergreifendste K unde von N apoleons unauslöschlichem
F o rtleb en im Liede 1 8 4 0 d urch R o b e rt S ch u m a n n g estiftet, als er »D ie
beiden G renadiere« von H ein e vertonte. Es verbietet sich hier jed er Vergleich
m it H itler.
Byrons S ch m äh ged ich t hat ein prophetisches V orbild von oberstem R ang,
a u f das es denn an m ehreren Stellen explizit oder im plizit anspielt: den Sturz
N ebukadnezars bei Jesaja 14, 1 2 - 1 6 18; d am it ist eine S c h ic h t der L atenz, des
»underground «19, tief un ter der m anifesten O b erflä ch e der B y ronschen R eim e
bezeich net, d enen A d orno einm al unter dein frischen E in d ru ck einer Auf­
fü hru ng der Partitur Sch ön berg s vor allem die finale »A potheose des Sklaven­
halters G eorge W ash in g ton «20 ankreidete. Es ist die gesch ichtsth eologisch e Per­
spektive Jesajas, aus der die k o m p o sito risch e U n tern eh m u n g Sch ön berg s,
stellvertretend für das Jü n g ste G e rich t, die K raft ihres M an d ats bezieht:

nrigrj? *^ n apfp Fbm


j tf^ ir t p x 1? p t o ?11
rftp K t r n m m n f lx v 3
w p aan K b w ^ ± > bpm

♦|.S' M m p m uz , |‘ >,/

1 3 3 i3 r r ' r b n ' f k h *«
p ä n n r t

I 8 Vgl. in diesem H e i t den Be itr ag von Stefan Lit wi n , S. 1 3 3 ff. D i e Passage lautet bei Jesaja in der
von Wa lter B e n ja m i n geschätzten Ü be rse tzu n g von Le opold Zu n z: »W ie bist du v o m H i m m e l gefal­
len, G la nzs te rn, S o h n des M o rg e nr ot s; zu Bo d e n g e s ch m e tte r t. Völk er be zwi nge r! Und du hast gespro­
chen in de in em Her zen : i.n den H i m m e l will ich steigen, über G o t t e s Ster ne erheb en m ein en Lhr on,
und m ic h setzen a u f den Be rg der V er sa m m l u n g in der äuß er ste n M i t te r n a c h t. Ste ige n will ich auf
die W o l k e n h ö h c n , m ic h gleichstelien d e m H ö c h s te n . Aber in die H öl le bist du gestürzt, in die tief­
ste G ru f t. D ie dich sehen, blicke n hin auf dich, be tra ch ten dich: Ist das der M a n n , der zittern m a c h ­
te die Erde, der K ö n i g r e i ch e erschüttert?«
19 Diese Vok abe l, seit J ah rze hnt en als banalste S c l b s t r e k l a m e b e n c n n u n g ko m m e rz ie ll e r Su b ku ltu r-
R ac k e ts g eb räu ch li ch , be ze ic hn e t in T a k t 2 3 von Sc h ö n b e r g s K an ta te A Survivor jrorn V/arsiUv die
Abw as ser ka na li sa tio n W ars ch au s: Teil der s tra te g is ch en O pe ra ti o n s b a s i s und am L n d e allerletzte
Z u f l u c h t der K ä m p fe r des ( j h e t t o Au fstandes 1 9 4 3 . J ed er kulturell v er an tw or tli ch e G e b r a u c h des
Begriffs h at von Sc h ö n b e r g s Lext auszugehen: dieser Usus m u ß ka n on is ch werden.
20 M ü n d l i c h e Äußerung» H e r b s t 1 9 6 4 , im Foy er des V o l k s bi k lu n g sh e im s am E s c h e n h e i m e r Tu rm
zu F ra n k f u rt am M a i n .
Ja k o b U llm an n

M ark iere d ie erste Seite des Buches m it einem roten Lesezeichen,


denn zu Beginn ist d ie W unde unsichtbar.
R eb A lce
E drnond J a b es
D as buch d er fragen

ck Jed e eröffn tm g statu iert eine Unterscheidung. Sie b estim m t den b lick
des autors auf eine sache, sie len kt den b lick des lesers a u f ein detail, einen
besonderen aspekt des gegenständes, dessen W ahrnehm ung ohn e die arbeit und
die k o n stitu tio n der Interpretation n ich t m ö g lich wäre. Jed e eröffn tm g statu ­
iert m it der U nterscheidung also eine grenze, die den b lick ein eng t und lenkt,
die in der in terp retation auch den abstand zürn w erk aufrecht erhält. Indem
sie notw endiger weise eine solche differenz statuiert, w ahrt sie n ich t nur die
in tegrität des Werkes, sie erlau bt auch die k on stru k tion all jener Zugänge, die
Im kon kreten fall n ich t betreten, n ich t einm al anvisiert w urden. Sie erhält dar­
in ihr recht, daß die k o n stitu tio n der U nterscheidung kennzeichen der tatsa-
che ist, daß >eröffnungen< selbst dann nur als plural gedacht werden k ön n en ,
w enn sich der autor auf eine einzige beschränkt.
D ie in terp retatio n des
werkes eröffn et einen Zu­ erste eröffiaung
gang, der n ich t für den W ü r d e man. sich entschließen, am ende des J a h r ­
autor, sond ern für den h u n d erts, am. e n d e eines jahrhim derts voller
leser b estim m t ist. G ilt streit, voller auf- und U m b r ü c h e in der m.usik,
dies schon für die arbeit voller zukunftssehnsu c h t 11 n <1 voI1e r veriangen,
des nachd enken s über in der verg.mgi e i ........ . iid i m. am
künstlerisches denken und ende eine? •J » Ion- |.ih, i h , ! , i i_ <., <ren-
kü n stlerisch e praxis, für zen verletzenden unci .letzten Horizonten n a ch ­
die d och eher n ach ran ­ strebenden nachd enkens über m u s i k s i e l t e n t­
gige b etrach tu n g der er- sch ließ en , eine tafel. der fragen und problerne
gebnisse dieser arbeit, um aufzustellen, die ihre antw ort, die die wege zu ih­
w ieviel m eh r m u ß dies rer lösung noch im m er nicht gefunden haben, so
für den au tor und sein hätte eine frage alle aussicht auf einen p rom inen­
kunstw erk gelten. N ich t ten platz auf dieser tafel, die eher i m hin ter-
im m er, vielleich t sogar grund, gleichsam in der zw eiten reihe, m u sika­
eher selten im laufe der lisches den ken und m u sikalische praxis im
langen und gew undenen nunm ehr vergangenen jahrbiindert: bestimmt hat.
gesch ich te m ensch liehen D iese frage, frage nach dem. gegenständ der
tuns auf dem gebiet der m usik ist ja keineswegs eine frage, die im h isto ­
kun st, hat diese festsiel- rischen gang w estlich-abendländischer m usik
lung die autoren üher- etwas in und für dieses jah rh u n d ert völlig neu­
zwei sprachen 159

zeugt, ihr hand eln gelei­ es wäre; zu vielfältig und zu grundsätzlich ver­
tet und ihre fragen an in- schieden sind die antw orten ausgefallen, die im
halt und S t r u k t u r ihrer laufe von 1 0 0 0 jah ren auf sie gegeben, w urden.
tätigkeit bestim m t. G e ra ­ A llenfalls fällt auf, daß n ich t nur die antw orten
de in jen er zeit, in der des zwanzigsten jah rh u nd erts vielfach v o rsich ti­
erstm als in der geschichte ger, zögernder gegeben w urden, es m u tet sogar
es m öglich wurde, auch an, als h abe sie selbst sich w eithin in ein en b eu n ­
je n e b ereiche k ü n stleri­ ru higend en h intergrund der diskussion m u si­
scher b etätigu n g dem kalisch en denkens zurückgezogen. D ies m u ß
augenhlick zu en treiß en , um so m erkw ürdiger erscheinen, als gerade unser
die bis dahin im m er und zu ende gegangenes ja h rh u n d ert erfü llt war von
u n rettbar dem vergehen der suche nach einer d eu tlich k eit m usikalischer
und d em verklingen ver­ praxis, die über die genauigkeit der b eschrei­
fallen waren, in je n e r zeit bt] ng ihres ortes hinaus auch noch den gegen­
also, für die n ich t zuletzt w ärtigen, ja den zukü nftigen hörer festzulegen
das werk, dem diese Über­ versucht auf das hören einer b otsch aft, deren
legungen gelten, als schlüs­ jew eiliger in h alt für n ich t w enige k om p on isten
selwerk gelten kann, träum­ von so grundsätzlicher bed eutu ng für ihre arbeit
ten autoren davon, ihr und ihr w erk war, daß die klarh eit und V e r­

werk in einer form für alle ständlichkeit: dieser botsch aft sie bis an die gren­
nachw eit erhalten und zen. des ästh etisch zulässig erscheinenden, ja
konservieren zu k ön n en , sogar darüber hinaus trieb.
die jenseits aller interp re­ D ie frage nach einem solchen gegenständ der
tation und jenseits aller m usik, nach einem gegenständ der m usik über ­
scheinbaren urr/nl m< I (h - haupt, seiner existenz und rnitteill
keit der sch riftlx In u Fi­ hart m ehr fragen, m ach t auf m ehr u
x ieru n g, den w illen des b lein c aufm erksam , als r n ...... .... .........................
autors als totale des Wer­ G erad e diese w eiteren, di
kes festschreibt, der sich p a r ap 11 ra s i e re si d e n a 1s ve i.
kein I n t e r p r e t entziehen nenden fragen sind es, d
kann und der gegenüber n ach den ken über rn usik d ie u na u.sweici 111 u t kcj i
jede in terp retation denn einer a n tw ort auf die ausgangsfrage m it aller
auch nur zum dieser to ta ­ d eutlichkeit vor äugen, stellen.
le gegenüber verschw in­ W enn die m u sik ein en gegenständ hat, kann, sie
denden trib u t an die tat- ihn dann »aussprechen«? K ann die musik: »über«
sache weiter verfließender ih n sprechen, ist er gleichsam m it ihr identisch
zeit schrumpfen, m u ß. oder ihr un ablösbar verbunden? »Spricht« m usik
M a n kann solche träum e überhaupt? W elchen einflu ß h at die antw ort auf
angesichts der gesellschaft­ diese frage auf unser sprechen »über« m usik,
lich en , m an ch m al auch kann es ein sprechen über m usik geben, das
sozialen läge von autoren m eh r von ihr erreich t als allenfalls eine um gangs­
wie A rnold Sch oen b erg , sp rachlich e um setzung dessen, was in der parti-
angesichts der m iß v er­ tur längst klarer und eind eutiger »gesagt« ist?
stand nisse ihrer arbeit ge­ D a m it n ich t genug: w oran sollen w ir ein solches
160 Jakob U llm an n

geniiber, der bew ußten sprechen, w enn wir es denn für m öglich halten,
m iß g u n st un d des boy- messen? W issen wir doch nur allzu genau, daß
kotts ihrer w erke d urch die partitu ren, die scheinbar einzig bleiben de,
m usiker, hörer und kriti- verbind end e und über subjektive eind rü cke h in ­
ker nur zu gut verstehen. aus beständige grundlage m usikalischer praxis,
Z u d em ist, bevor m an selbst in h oh em m aße am biv alent, in vielen
eine solche gleichsam details verschlossen, in anderen ungenau sind,
eigentu m s- und alleinige ja n ich t wenige In fo rm ation en , ohn e die eine
verfügungsrechte über das au ffü h ru n g sch lech terd ings n ich t auszu kom ­
werk reklam ierende auf- m en in der läge ist, gar n ich t enthalten .
fassung von autoren k ri­ M ü ß te m an n ich t schnellstm öglich vom to ten
tisiert, daran zu erin nern, k o n stru k t, in das analysierender zugriff die par­
daß solche Überzeugung tituren nur zu rasch verw andelt, zur lebendigen
n ich t zuletzt auch aus- auffü hrung, zum reden über das gehörte weit
d ru ck einer ern sth aftig - eher als über das geschriebene kom m en ?
k eit künstlerischer arbeit D ie tatsache des unausgesetzten sprechens über
und der V erantw ortung m usik, eines historisch ebenso verbürgten wie
für das eigene tu n und gegenw ärtigen sprechens sch ein t nahezulegen,
seine ergebnisse ist, an m indestens die m ö g lich k eit eines k om m u n ik a-
der es uns heute n ich t sel­ tionszusam rnenhanges mit'der m usik, m it ihren
ten m angelt. w erken, vielleicht ihrem denken n ich t gänzlich
D e n n o c h , so nach v oll­ abzulehnen. W äre ein solches die Jahrhund erte
ziehbar das als rnangel überdauerndes und über die grenzen, kon kreter
empfundene gefühl grund­ zeit und konkreten ortes hinausw eisendes spre­
sätzlicher lirnitierung der chen über m usik doch kaum vorstellbar, wenn
V erfügbarkeit des autors noch in. ihm kein eclio, kein W iderhall erklänge
über sein werk für diesen von einer realität, die vielleicht n ich t anders als
auch sein mag, so b erech ­ in der m usik zu ihrem hörbaren ausdruck fän­
tigt der w ü nsch, an der de, n ichtsd estotrorz selbst n och im. sprechen
trad itio n n ich t allein re­ >über< (sollte m an sagen »unter«?) m u sik ihre
zeptiv b eteilig t zu sein, ein w enig verläßliche spur himerlassen zu. kön ­
auch ist, es b leib t an der nen in der Jage wäre?
pluralität der >eröffnun- D ie auskünfte, die uns autoren zu diesem the-
gen< festzuhalten. Nur rna gegeben haben oder geben k ö n n ten , k ön n en
diese pluralität sich ert hier nur w enig verschlagen, ist es doch gerade
jenen statu,s des k u n st- der - auch von autoren selten bestrittene —rnan-
werks, das erst dann sich gel an Verfügbarkeit über das eigene >werk<, der
in die kon krete gegen- uns in den bannkreis dieser fragen, zieht.
w art ein sch reiben kann, Zwei m usikw erke unsres jah rhund erts th em a ti­
wenn es in der vielfalt der sieren diese fragen in sonst kaum erreichter k on-
interpretation weder im sequenz und schärfe. G leich sam spiegelbildlich
gestalt- und konturlosen stellen beide die ihre frage als grundsätzliche fra­
nebel verschw indet, n och ge an alle m usik, sie stellen sie als frage nach einer
seine id e n tität nu r da­ k o m m u n ik a tio n jenseits dessen, was sprachli-
durch bewahren kann, cfaer repräsentanz im menschen
w ort der
daß es die lebendige ar- zugänglich ist: A rn old Schoenbergs oper Moses
b eit des im m er neuen, und Aron, Luigi N on o s »tragedia d ell’ascolto«
im m er k o n k reten Spre­ Prometeo. Sie stellen diese frage als au frich tu ng
chens durch das kalte einer differenz und angesichts eines m angels: wo
lich t rein er erhaltu ng S ch o e n b erg die U n m ö g lich k eit m en sch lich en
und bew ahrung ersetzt. sprechens konstatiert angesichts eines an-spruchs,
N ich t das kunstw erk, der alles m en sch en w o rt unausw eichlich über die
w ohl aber das n achd en- grenze gleißnerisch er U nunterscheidbarkeit zwi­
ken über ein solches, über schen realität und bilci treibt, wird für N on o das
seinen charakter, seine h ö ren selbst zum tragischen in h alt des Werkes,
Struktur, seine geschichte weil alle tö n e die spur ihrer h erk u n ft und ihrer
und seine w irku ng, ist Verw undung nur um den preis des verrats, der
sich klarer rechen sch aft scham losen ben u tzu n g ü b ertön en oder verleug­
darüber schuldig, w elche nen k ö n n ten . D ie differenz im sprechen zwi­
erö ffn u n g dieses n a cb - schen gesungenem und dem n ich t m ehr oder
denken w ählt. W as also n o ch n ic h t gesu ngenen w o rt ist leich ter und
ist der zugang, der hier sinnfälliger au fzurichten als eine solche differenz
eröffn et w erden soll, in im hören, sie ist deshalb auch anfälliger für deu-
bezug auf das m erkw ür­ tu n g en , die nur die ob erfläch e des klanges
dige phäiiomen des sprech- berühren und von d ort her ihre urteile beziehen,
gesanges, das in Arnold N ich t zuletzt deshalb m u ß das augenm erk der
Schoenbergs oeuvre in so b etra ch tu n g gerade im falle des Werkes von
u n tersch ied lich er w e i se A rnold S ch oen b erg n ich t allein auf der differenz
eine n ich t zu ig norieren­ zwischen der erin n eru n g der botsch aft und ihrer
de rolle spielt? sprachlich en repräsentation, sondern ebenso auf
Es läßt; sich in verschie­ die gerneinsam keit zwischen gesungenem und
dene richtu ngen über die n ich t gesungenem w ort im klang und seinem
gründe spekulieren, die h in terg ru n d einerseits, in der gem einsam en
die au ßerord entlieh selt­ u n verfü gbarkeit seines H intergrundes in der
same Tatsache zu b egrü n ­ W ir k lic h k e it, seiner sem antisch en Zuordnung,;
den verm ö chten, warum andererseits gelenkt w e rd e n ,

ausgerechnet in dem k u r­
zen jahrhundertviertel vor zw eite eröffmuntg
der nahezu vollständigen D ie tatsache, daß in der oper gesungen wird, ist
auslöschu ng allen jü d i­ selbstverständlicher, als es für eine U ntersuchung
schen lebens und aller gut wäre. Es wird dadurch etwas als b lo ß fo r­
jü d isch en k u ltu r durch males kriterium einer bestim m ten, gattu n g der
den deutschen n ational- k un st oder eines ensem bles von k ü n sten ver­
sozial ism us eben von die­ standen, was es w ert wäre, in jedem einzelfall als
ser jüdischen k u ltu r auf tief p ro blem atisch en zustand und als n ich t un­
b einah allen gebieten, die gefährliches unterfangen zu un tersu chen. S ch on
m en sch lich em geist und ehe w ir wissen, was ein >text< ist, sch on ehe wir
m enschlichem tun zugän- wissen, was der sch ritt vom leisen zum lauten
162 Ja k o b U llm an n

g lich sind, gerade der lesen, vom privaten zum öffen tlich en rezitieren
d eu tschen spräche und bed eutet, wird b lin d vorausgesetzt, m an könn e
k u ltu r noch einm al g a ­ die w orte wie eine beu te davontragen und n ich t
ben hinterlassen w urden, nur rezitieren, sond ern sogar singen lassen.
derer b ew u ßt zu werden A ber was wird dem text dam it angetan oder was
und denen sich gew ach­ tun die w orte der rnelodie an?
sen zu zeigen in deutsch- S ch a u t m an sich in der opernw eit, schaut m an
land noch im m er eine sich in der gegenwärtigen praxis der opernexe-
auigabe der zukunft ist. k u tio n au f den bühnen einm al um , so find et
D e n k t m an an das viel­ m an eine antw ort auf diese fragen, die n ich t all­
bändige journalistische zu erm u tigen d ist. S ich er wird die Entstehungs­
w erk von K arl Kraus und gesch ich te des lib rettos u n tersu ch t, seine so­
seiner n u r allzu aktuellen zialen und g esellschaftlich en implikationen,
künstlerischen U m setzung m ögliche politische W irk u n g en der zeit der ent-
in den letzten tagen der stehung od er fürs heute n utzbare pointen, all das
menschheit, an die die sei für viele, vielleicht für die m eisten fälle prak­
d eutsche spräche von ih ­ tischer arbeit m it der oper u n bestritten . A ber
rem gründe aufw ühlende d en n och : stärker noch als in der m usik scheinen
Übersetzung der h eb räi­ die inszenierungen nur m ehr in groben, sozusa­
schen bibel durch Franz gen »im allgem einen« dem gang des textes zu
Rosenzw eig und M artin folgen. D ie k o n k retio n des Wortes sch ein t in
Buber, an die erneuerung einem m aße zurücktreten zu m üssen, das die
der philosophie und den au ffü h ru n g en in Originalsprache gerade dort
th eolog isch en einspruch anziehend m acht, wo sich die Umgangssprache
des ersteren im stern der von dieser Originalsprache der oper u n tersch ei­
erlösung, an die heute det.
kaum noch b ekannte M it recht darf gefragt w erden, ob, wo schon m it
und dennoch nicht über- w e rte n , deren sem antisch en k o n n o tatio n e n
troffene klarstellung des­ d och klar sind, so hem dsärm elig um gegangen
sen, was exegese der wird, die musik. auf größere rück- und nachsicht
sehrift h eiß en m u ß , im rechnen kann.
w erk B en no Jaco b s, Aber n ich t die verschiedenen ebenen des aus-
denkt m an an das so ganz drucks und der affizierung gilt es gegeneinan­
anders gelagerte und den­ der auszuspielen, V ielm ehr stellt Schoen bergs
noch seinen jü d ischen oper m it dem gegenüber von h ö ch st d ifferen­
wurzeln je länger je d eu t­ ziert gesprochenem wort und gesungenem text
licher verhaftete d enken uns die fragen des anfangs m it größerer schärfe,
von Sig m u n d Freud, an is t das differenzierte sprechen des Moses ein
das w erk Franz Kafkas, an »noch-nicht-singen« oder ein »n ich t-m eh r-sin -
die bildet und kom posi- gen«? Ü b erschreitet A ron mit seinem g esan g d ie
tio n en der zeit vor 1 9 3 3 , grenze, die die klarheit des gedankens von sei­
so scheint n ich t nur die nem bild, selbst seinem künstlerisch leg itim ier­
gestalt des M ose eine der ten bild unterscheidet? W ä re das sprechen des
un tergründ igen, m an ch - M o se also als d u rch bru ch aus der w eit schönen
mal w enig, teilw eise gar scheins in jen en b ereich zu verstehen, der als
n ich t erk en nbaren k o n ­ raum prinzipieller, w irk lich er en tsch eid u n g
stanten des nachd enkens allen schm u ck , alle »kunst« als flitter k en n tlich
abzugeben, auch die ge­ m acht?
stalt der spräche selbst ist W ie im m er m an diese fragen b ean tw ortet, m an
in all diesen beispielen m u ß sich darüber im klaren sein, daß die a n t­
zum künstlerischen und w ort von S ch oen b erg in einer d eu tlichk eit gege­
zum w issenschaftlichen ben ist, die zweifei an seiner in te n tio n aus­
p ro blem gew orden a n ­ sch lie ß t. D ie a n tw o rt S ch oen b erg s liegt auf
gesichts der erken n tn is, zweierlei weise vor. Z u m einen m u ß die tatsa-
d aß das, was an dieser che ernst genom m en w erden, daß der sprech-
stelle zu verhandeln ist, gesang in Sch oenbergs oeuvre als künstlerisches
allergenaueste rechen - mittels o un tersch ied lich e texte wie die des Pier­
schaft: erfordert von dem , rot lunaire und des Kol Niedre dem text der par-
der sich auf die trad ition tie des M ose vergleichbar m acht, auch w enn die
einer erin nerung ein läßt, art seiner d ifferenzierung und sein einsatz sich
deren gestalt ebenso nur von stü ck zu stü ck durchaus u n tersch eid en .
im d ialog des >wenn< Sch o en b erg w ollte diese form des Umgangs mir
und >aber< zu existieren einem text: also sicherlich n ich t besonderen, m it
verm ag, wie sein an- religiösen im plikationen belasteten texten Vor ­
spruch solches k ateg o­ b eh alten. A u ch die zweite form der antw ort
risch ausschließt. k o m m t zu keinem anderen ergebnis. ln den hin-
Wenn Schoenbergs opern- weisen, die der autor seinem op ernfrag m en t vor­
fragm ent Moses und Aron angestellt hat, m ach t er in bezug auf die partie
ausdrücklich in diese rei­ des M ose un m ißverständ lich klar, daß es ihm
he und in diese tradition m it der m erkw ürdigen n otation des sprechens
gestellt wird, so bed eutet einzig und allein darum geht, den ausdruck, der
das einen Zugang, dessen dem autor vorschw ebt, so genau und klar wie
>eröH'mmg< die m erk ­ m ö g lich m itzu teilen . »D ie T o n h ö h e m m te r
würdige gestalt der sprä­ schiede sollen die D ek lam ation nur charak teri­
che in dieser op er darin sieren«.
begrü nd et sieht, daß die Jeder, der einm al im eigenversuch an einer
trad ition von sinai n ich t unisetzung der Sch.oenbergsch.en n o tatio n sich
w eitergesprochen werden versucht h at, wird, unschw er nachvoliziehen
kan n , w enn die spräche, k ö n n en , wie nahe m an schnell je n e r art expres­
sei sie gesungen oder sei sio nistisch er d ek lam ation k o m m t, von denen
sie gesprochen, n ich t sich wir uns durch tonaufn ahrnen vor allem aus den
des ih r d am it in n ew o h ­ zwanziger jah ren des zwanzigsten jah rh u nd erts
nenden anspruchs bewußt einen akustischen eind ru ck verschaffen k önn en.
wird. Sow en ig die Um­ Beide antw orten S choenbergs scheinen, darauf
gangssprache dieselbe blei­ hinzud euten, daß für ihn sprechgesang ein (n o t­
ben kann in dieser trad i­ wendiges) künstlerisches mittel, kaum jedoch, das
tion , so w enig kann eine vehikel einer prinzipiellen revolution im Ver­
oper ihre »urngangsspra- hältnis zw ischen w ort und to n sein sollte.
164 Ja k o b U llm a n n

che« unreflektiert lassen, A lle Überlegungen, die in diesem Zusammen­


w enn es darum geht, das hang hier angestellt werden, k ö n n en also kaum
auszudrücken, was ihr als d a ra u f h o ffe n , S ch o en b erg selbst als d irekten
aufgahe der erin n eru n g zeugen aufrufen zu k ön n en . Sie erhalten ihre
aufgetragen ist: zeuge plausibilität allenfalls in der sache selbst und da,
dafür zu sein, daß selbst wo »text« und »musik« auf der gleichen seite zu
n och am b renn end en stehen k o m m en , d o rt n äm lich , wo der U nter­
d o rn b u sch die spräche grund der klänge und der anspruch aus der tra-
des m en sch en zum ge~ d itio n des sprechens ihre an tw ort in >wort< und
gewürdigt ist. >ton< erheischen.

spräche fü r den klang

W e n n m a n unterstellt, da ß die k on str uk tiv en an st re n gu n gen au f dem geb ier der >m usi k<, au f dem
gebier der m e n s c h l i c h e n praxis im urngang m i t »klängen«, vielleicht au c h mi r deren kons eq uen xe n
n i c h t nur, ja n i c h t ei n m al in erster linie der m ö g l i ch s t g ena ue n W iedergab e a u ß e rm e n s ch l i ch e r
klangereignisse die nen , so wird m a n zu recht fragen müsse n, w elc h en ch ar ak te r die kl änge der
m us ik als folge m en s ch l i ch e r praxis im kulturellen Haushalt der m en s c h h e it erhalten, erhalten
h a b e n o der er halten k ö n n e n . M a n wird zu d em - und dies ist in der ges chi cht e we ste uropäisch-
a be n dl än di s ch er m u s i k ja du rch au s au ch ge sch e h en — fragen müs se n, o b es so etwas gibt, wie eine
Se m an tik der klänge. Letztere frage ist ja m i t der eingangs n a ch der existenz eines »gegenständes«
der musik und seines Charakters gestellten m i tn i c h te n identisch» weil sie diese frage zugleich in
einen klaren systema tisch en ko n re x t stellt, sie d a m i t ein s ch rä nk t, andererseits abe r anders als die
ein gan gslrag c d u rch au s d ie m ö g lic h k c ir e in e r a rn w o n e rö ffn e t, d ie au ch bei eine;; p o sitiv en en t-
Scheidung, einer en rs ch ei du n g zugunsten der a n n a h m e der existenz eine r s em an ti k der klänge, über
diese selbst n o c h kein präjudiz abgibt.
Siche rlich lä ßt sich diese frage als hi storische frage an die g esc hi cht e w e st lic h-a be ndl än d isc hen
n m s i k d e n k e n s stellen. M a n wird bei näherer be tr a c h tu n g ihrer an fä nge vor reichlich tausend jahren
uns chw er je n e prämissen a us m ac h e n können» die dazu führ ten , daß es in den k o m m e n d e n jahr-
hu n de rte n für selbstverständlich galt» da ß musikaiisch.e Zu sa mm enh än ge, u jb n ,d ü n g e n von als
t ö n e kons tru ier ten kl ängen m i t eind eut ige n sem a n tis ch e n k o n n o t a i i o n e n m m i m e t sind oder
do ch mi nde st en s sein k ö n n e n . D e r weg der e m an z ip at io n d( n j< m abend! mdi h<’ m usik, die in
der liturgischen praxis der kirch e ihre wurzeln besaß, zurm kl« m 1 onntc i u u her zur V o r a u s ­
setzung, da ß die in de r liturgischen praxis er w o r b e n e fäh; ! < i ti 1 larer s >u u i< v n g der klän ge
üb er die evo kation b e s ti m m te r gefühle hin aus oder jensen oK iu j fähigken; als derart sicheres eib
teil galt, da ß wed er die revolu ti one n im bau m u s i k a l i s c h e u n i tm e n n oc h die einbe/.iehung ganz
anderer s em a n tis ch e r sy steme oder semantische)' k o n n o t a t i o n e n als das christlic h-l itu rgi sch er praxis
entsprach» diese g ru n d en ts ch e id u n g auf d e m geb iete musik alis che r rradidon in frage zu stellen ver ­
m och te.1
A u c h w e nn m an sem a n tis ch e bi n d u n g e n ab e n dl än di s ch er musik. und deren ges chi cht e n ic h t in
zweifei zieht, so wird do ch hä ufig der tatsache zu we nig b e a c h tu n g g esc he nkt , da ß die gesch ichte
keineswegs eine ges chi cht e reiner ev ol uti on, eines sozusagen vielleicht n ic h t i m m e r folgerichtigen
o der geradlinigen, aber do ch an einen weg g eb u n d e n e n fo rtsch reitens ist.

Be s on de rs de utlich f üh rt uns dies ein ein s ch n i tr und ein pr ozeß vor äugen, der im
18. J a h r h u n d e r t st at tg efu n de n hat und der verm utl ich zu je n e n gehö rt, die bishe r in der
k un st- und kulturgeschichte» d a m i t abe r auch in der W a h r n e h m u n g der ges chi cht e der
sem an tis ch e n k o n n o t a ti o n e n von mus ik , zu we nig a uf m e rk s a m k e i t erfahren.
Es m u ß ja ei ne n gru nd für den im m e n s e n u n te r s c h ie d g eb en , der h ö r b a r wird, we nn man
den be g in n der sch öp fu n g v on H a y d n m i t d e m b e g in n v o n Wagn ers /vV/^-tetralogie v e r ­
gleicht. Z wi sch en 'Haydns Vorstellung des chacs \\nd. W a gn ers selb st gen ügs am er r u h e in den
tiefen des r h e in s v o r be gi nn aller ge sc h ic h te klaffen w e h e n , die sich n ic h t allein m i t m u s i ­
ka lischer e n tw ic k l u n g o d e r z u n e h m e n d e r en tf e rn u n g v o n einer n o c h bei H a y d n v o r h a n d e ­
nen» andererseits im zwanzigsten jah rh u n d er e von Mes sia en wied er b e s ch w or en e n selbst­
v er ständlich an den ausläufern jü d is c h - c h r is t l i c h e r s ch öp fun gsl eh re orient ier te n
V o r s te llu n g e n v o n der >na tur< erklären lassen.
zwei sprachen 165

D e r im 18. jabr hi m der u in vollem u m fa n g e einsetzencie un d an s ei n e m end e o ffe n zu rage


tr etende prozeß, der hier nur ganz grob un d stark verkürze skizziert werden k a n n , besteht
ja in eine r g ru nds ätz lic hen u m d e u t u n g der natur, die n i c h t nur das Ve r h äl tn i s m e n s c h l i ­
che r praxis zu ihr m i t n eu en prä mis se n versah, s on d er n - und dies ist das für unser th e m a
ent s c he id e nd e — an s ei n e m en de die n atu r auch als rah m en un d pr oj e kt io n sf lä ch e, als
s e m a n ti k vo n k o n s tr u k ti o n e n selbst der m u s i k er sch ein en ließ, die un te rsc h ie dl ich er ka um
gedacht: werde n k ö n n e n .
W o r u m h an de lt e es sich bei diesem prozeß? M a n m u ß sich in er i n n e ru n g ru fen, da ß die
Begeisterung f ü r die an tik e und die einse tzen de wissen sch af tlich e arc hä olo gi e u n d alter-
t u m s k u n d e im spä ten 18 . j a h rh u n d e r t sich au f ei n e m ganz an de re n geistigen h in te r gr un d
vollzog als die W i e d e r e n t d e c k u n g un d die b e ru f u n g a u f an tik e kulturelle praxis in der
re naissance des 16. J a h r h u n d e r t s . Ang er egt un d tief b e e i n f l u ß t durc h die i m m e n s fleißigen
u n d gru nd so li de n wis sen sch af tli che n arb eit en englis che r th eoi oge n und a lte rtu m sf or sch er
des 17. und frü h en 18. Ja h rh un d er ts wie J o h n Speiicer, R a l p h C u d w o r t h und W i l l i a m
W a r b u r t o n trat jenseits h er m et is ch e r Spekulation m i t ägypten ein weit älterer und tieferer
h in te r g r u n d der kul tu r ins ö ff e n tli ch e b e w uß ts e in , als es die g r ie ch is c h -r öm is ch e antike
war.2 Z u e i n e m au c h religion sge sch ich tli ch h ö c h s t b e d e u ts am en pr ozeß k o n n t e diese
erw eit eru ng des hi stor ischen be wu ß tse in s we rden, als er es erlaubte, die re ligio ns ph iloso ­
ph is che n un d th eol ogi sch en k o n s eq u en z e n der lehre Spinozas als postulat der ein h eit
m en s ch l i ch e r gesc hich te, m e n s c h l i c h e r religion und k ul tu r von ihren an fä n ge n , die m a n
nun in ägypten sah, u m zu fo r m u li er en . F1.EN K A I PA N wurde, wie m a n Kessing un d de m
sog. »p an theismu s-streit« zwisch en Frie dric h H e i n ri c h J a c o b i und M e n d e l s s o h n e n t n e h ­
m e n ka nn, zum em p h a t is c h g eb ra uc ht en un d a u f s heftigste be k ä m p f te n sch lagwort einer
e p oc h e , der sich folge rich tig au c h die >na tur< völlig ver wa nde ln m u ß te . D e u s sive natura
— dies gleichsam säkularisiert un d in die Sphäre kultureller, k ün stlerischer praxis übersetzt,
dies erlaubte die a us ru fun g des >er ha b en e n< für die natur, wie es uns s cho n bei K a n t, in
aller nöti ge n de ut li ch k ei t aber in Schillers bailade D as verschleierte b i Id zu sais und sei n e m
essay D ie sendung des M ose entge gen tri tt. D i e >na tur< als erha be nes geg en ü be r m ens chl i ­
ch e r flns<'hai'iwg{epopxcn\) hat die alte pau linisch e U n t e r s c h e i d u n g zwischen selbstver­
stä ndl ich er W ahrnehm ung und glaubensvvahrheit aufgesogen und k o n n t e darum in allen
ihren p h ä n o m e n e n zu m geg enständ de r ku n s t werden. So wie So p h o k le s in de r A ntigone
m it der d o p p e lb ed eu t u n g des grie chische n wortes fteivöc; •- sch recklich eb en so wie g r o ß ­
a r t i g — die n atu r des m en s ch e n be s ti m m te , so wird im begriff des > er ha b cn en < die na tur
zur p r oj e kt io n s flä c h e der schau des grausigen eb en so wie des wu n d er b a re n , des ersehn ten
gegen bild es zu menschliche:')' praxis wie zur feier eben dieser,

Fü r den künstlet, auch lür den k o m p o n i s t e n be de ut e te dies, da ß er sich pr oj e kt io n sf lä ch en sernan -


ti schet k o n n o r a ti o n e n g ege nü be r sehen m u ß te , de nen als gegenständ für die k uns t erst in der
äuß ersten k on s eq ue n z der k on srr uk tio n klarheit und k o n tu r verliehen werden kon nt e.
D ie häufige be ru f u n g auf das >gefühl< in der musik des 19. jahrhundert.s, n i c h t zuleizt in ihrer
publizistischen W a h rn e hm u n g, n ic h t zuletzt we nn es um ih r V erhältnis zur >navur< als bezugs-
system s em a n tis ch e r k o n n o r a ti o n e n gehn, sollte dahe r n ic h t als mangel o der fl uc ht vor den k o n ­
s truktiven aufgaben k om po s i i o ri s ch e n de n ke n s mi ßve rst an de n wei'den. G er ad e die m usi ker stan ­
den ja vor der aufgabc, angesichts dieses ep oc h e n we ch se ls alle el e m en te , alle be standteile der m usik,
alle k om po s i to r i sc h en Strategien von grund auf neu so mit inhalr zu füllen, da ß die tö ne selbst es
wieder werden k ö n n e n , die gefühl und innere be w eg u ng erzeugen.
W en n also ein V o r g a n g d e n k b a r ist -- und es kann we nig zwcifel geb en, da ß er in den) eben
be sch rie be ne n pr ozeß tatsächlich abgelaufen ist - in dessen ra h m e n eine w e itg eh end e »neu sem an ti -
sicrung« musik alis che r gestalten und klan gli che r tatsach en st att ge fun den hat, so darf m it recht
gefragt we rden, o b und in w elc h em a u s m a ß ein solc her V o r g a n g von einzelnen au toren und im rah ­
m e n eines einzelnen werkes ansgelösr und du rc h g ef n h rr werden k an n, An de rs gefragt: we nn ein
s o l c h e r V o r g a n g der s e m a n t i s i e r u n g m ö g l i c h ist, läß t er sich, dann k o n s t r u i e r e n und — w e n n j a ..m it
welchen mitrein?
ln ei n e m längeren gespräch, das Bern d Lenken; 1 9 7 4 mit Luigi N o n o gef ühr t hat, war auch die
mer kw ürd ige gestalt geg ens tän d der diskussion, die die spräc he an v erschieden en stellen im we rk
des k o m p o n i st e n a n g e n o m m e n hatte. D i e nachf rage Leuk er ts be z og sich k on k re t darauf, wieso ein
k o m p o n i st , dein es do ch so a uge nsc hei nl ich um die klarheit der bo ts ch a f t seiner texte zu tun sei
und der du rcha us ein gro ßes interesse daran habe, da ß n eb en der »aussage«, der »in ha ltl ich en Ziel­
richt ung « die künst ler is che quali tä t der texte n i c h t in m itl ei d en sch a ft gezogen wü rd en, in seinen
k o m p o s i ti o n e n diese texte in ihre best an dte ile auflöst, ja teilweise bis h i n u n te r auf die eb en e einzel­
ner p h o n e m e zerstückelt. N o n o s an tw o rt gi ng da h in , da ß er der festen Überzeugung sei, m it dieser
m er h od e ein k o n s tr u k ti on s pr in zi p gef unden zu. h a be n , welches es ih m e r m ög li ch e, die »musik
166 Ja k o b U llm an n

selbst« mi r je n e r »kraft« auszustatten, die vormals »nur« de m text eignete. D a ß N o n o liier off e n ba r
eine b e in a h m ag isc h e Vorstellung von den s em a n tis ch e n k o n n o t a t i o n e n spra chl ic her p h ä n o m e n e zu
akzeptieren bereit war, m a g m a n d e m ern st zus chr eib en, m i t de m N o n o an ei n e m u n m i ß v e rs tä n d ­
li ch en cha ra kte r seiner arb eit Festhalten wollte.
G e ra d e dieses beispiel m a c h t aber auf eines un m i ß v er s tä n d l ic h au fm e rk sa m : die frage nach de m
s em a n tis ch e n cha ra kte r der spräc he in der m u s i k lä ß t sich keineswegs daran klären, o b die spräche
m e h r o der wenig er »verständlich« ist. U n d es ist alles an dere als au sg em ac ht , da ß die s em a n tis ch e
kla rheit da d ur c h wächst, da ß die spräche der m u s i k als ein sie be sch ön ig en de s bild en tk le id et wird,
e b en s o w en ig wie die äs th etische kraft da du rc h wäc hs t, da ß alle im pl ik a tio n en klarer s e m a m i k des
klangs ver m ie de n werden. I m gegenreil: diese b e tr a c h tu n g verd an kt sich der a n n a h m e , da ß die
untersc hie de der sprac hen an deren b r u ch l i n i e n folgt u n d da ß spräche un d m u s i k - sow en ig sie
i n ei n a n d e r aufge hen k ö n n e n ..im unt er g ru n d des klangs wie im an-s pru ch des wortes aus dem
rau m seiner e r in ne ru n g die g em e in s am e aufgabe d e s Z eu g n isses n i c h t v e rw e ig e rn d ü r fe n .

1 Cf. dazu: j. ul lm a n n , »Öd x p d v o s « , in: M usik-K onzepte 1 0 0 = Was ist Fortschritt , m ü n c h e n 1998»
s. 8 8 ff, besonders ab s. 1 0 2
2 S ie h e hierzu: Jan A s s m a n n , Moses d er Ägypter, Frankfurt am m ai n 2 0 0 0 , besonders ab kap. 3. D ie
lektüre dieses bu ch es ist selbst da, wo m a n der grundthe.se des autors n i c h t z u s ti m m e n k a n n, für das
t h e m a von S c b o e n b e r g s o pe r von n i c h t zu u n te rs ch ät ze n de m gew in n , da sie ein e ganze reihe wenig
be a ch te te r rrad itionslinien und überlieferungsspuren bzw. - In te rp re ta ti o n en ins h ew u ß tse in rückt, die
für das th em a des »M ose« und seine be h a n d l u n g in der ersten hälfte des zwanzigsten Jahrhu nd erts
v on gru ndsätzlicher becie utun g sind und da h er n i c h t länger ig noriert w er de n dürfen.

Es m ag sein, daß die problem e n ich t nur der realisa- tr a d itio n I ..


tion , sondern schon der in terp retation von Arnold das g esetz
Schoenbergs oper Moses und Aron derart b eträ ch t­ M it der 1. szene des
lich sind, daß sch ließ lich der fragm entarische Cha­ I , aktes von S ch o e n ­
rakter des werkes dazu fü h rt, daß die prinzipielle bergs op er nehmen,
grenzüberschreitung, ja die U ngeheuerlichkeit gefahr w ir die spur g leich ­
läuft übersehen, zu werden, die am beginn dieses Wer­ sam an der o b erflä­
kes steht. D ie Ungeheuerlichkeit des beginns ist nun. che auf.
keineswegs nur oder in erster iinie ein problem der S ch o n bei oberfläch-
(szenischen) realisierung der oper. Ih r paradoxer ch a­ b etrach tu n g
rakter geht über die paradoxic, das verbot bildlicher rzene näm lich
darstellung ausgerechnet in der form einer oper zum fallen zwei, m erkw ür­
zentralen in h alt des Werkes zu m ach en , w eit hinaus, d igkeiten ins auge,
insofern ist es hier m ü ßig, die diskussion darüber die uns m itten in
w eiterzuführen, ob der fragm entarische charakter des die frage nach der
werkes n ich t notw endigerw eise der endzustand einer ko m.m.un i katio n u nd
kom p o sitio n w erden m u ß te, deren innere paradoxie m itte n in. die frage
—jedenfalls in der gew ählten f o r m ..n ich t m ehr auf­ nach der erfahru ng
gelöst oder beend et werden kann. der trad ition führen.
V ielm ehr g ilt es, den m e rk w ü rd ig k e ite n dieses W er­ S ch o e n b erg b eg in n t
kes auf der spur zu bleiben, die gleichsam quer stehen seine op er m it der
zu den mindestens an der o b erfläch e so klaren p ro ble- erzählung der beru -
rnen, die das thema der oper vorzugeben sch ein en . fu ng des M o se am
W orin aber b esteht die U n g e h e u e rlic h k e it des b re n n e n d e n d o rn -
beginns und w arum ist es b erech tigt, von einer prin- busch in der steppe
zipiellen grenzüberschreitu n g zu sp rech en , einer von m id ian. D ie Sze­
grenzüberschreitung, die jede form m ö g lich er reali- ne des M o se a u f der
sierung, sogar die des V erzichts auf jed e szenische dar- bühne und der —
stellung ergreift und fragw ürdig m acht? S p re c h e rn und Sän­
D a ß A rnold S ch o en b erg hier - vielleich t u n b eab ­ g e r n anvertrauten —
sich tigt — eine prinzipielle grenzüberschreitu ng vor­ stim m e aus dem
gen om m en hat, w ird d eu tlich sch on an dem faktum , d ornbusch verändert
daß der inha.lt dieser U n g e h e u e rlic h k e it n ic h t anders die erzählung, wie
als in paradoxer weise zu besch reiben ist. H an d elt es wir sie aus dem zwei­
sich doch um eine grenzüberschreitu ng der spräche, ten buch der T h o ra
eine grenzüberschreitung, die alles m en sch lich e spre­ k en n en , gleich zu be­
chen h in ter sich gelassen hat. So n äm lich m u ß ange­ ginn in einem w ich ­
m essenerw eise der beginn von Sch o en b erg s op er tigen p u n k t. N ich t
b esch rieben w erden: die »stim m e aus dem d orn - die stimme ruft dem
busch« (A rnold Sch oen b erg , Moses und Aron, parti- M ose, sondern M ose
tur ab takt 10), anvertraut einem ch or aus sopran, b eg in n t die szene m it
knab en, alt, tenor, b arito n und b aß , die a u f festge­ einer anrede, die un­
legten ton h öhen sprechen (»n ich t gesungen!!!« m ittelbar, beinah wie
schreibt S ch o en b erg in der partitu r vor) und ergänzt am. ertön en der stim­
sind durch 6 solostim m en, die denselben text singen, me vorbei, übergeht
ist die stim m e aus dem d ornbu sch. W as hier artik u ­ in den w ü nsch, den.
liert wird, ist die stim m e G ottes, die anw esenheit abstand zum spre­
eines sprechens, d.as alle m enschliche spräche über­ chen aufrecht zu er­
schreitet. halten. S ch o n hier
Es ließe sich nun m it recht einwenden, daß n icht sei:
zuletzt das faktu m , daß die gattung >oper< ja e n t­ riu
standen ist aus rriißversfäiidiiissers. u n d .- im übrigen sprechen, das, was
a u ß e r o r d e n t li c h p ro d u k tiv em ..mangel an k e n n t n i s S e h o e n b e t P »den (><>•
der antiken tragödie und ihrer au ffiih.rurigskuhur,
dazu geführt hat, die opernbühnen und die werke
gerade der frühzeit dieser gattung m it görtern und zu. offen sich tlich es
b älb g ö tte rn , u n ter- und überm enschlichen wesen paradox, als daß es
reich, auszustatten. G ötter, bis zum viel berufenen, beiseite gelegt wer­
deus ex rnachina sind auf der opernbühne eben so­ den k ön n te: gründet
w enig ein. exo ticu m , wie es sprechende tiere oder doch, alle jü d ische
pflanzen noch, im 19. Jahrhund ert sind. M an wird existenz eben auf
sich nicht darauf zurückziehen, können, daß diese den. dem. w eitersprechen
versuch der revitalisierung an tik er tragödienkultur des au.ftra.gs vom
anstrebenden Zeugnisse w esteuropäischer renaissan- sinai. S ch oen b erg
ce- und barock-kultur schon m it dem realismus der selbst ist m it seiner
.Moza.rtsc.he.ri op ern künstlerisch überw und en w ur­ oper —und nich t nur
den, daß das gegenüber des beginns von Sch oenbergs d ort .. zeuge eben
op er keinesw egs die g ötter M on teverd is, H and els je n e r trad itio n des
oder G lu ck s, allenfalls das m usikalische neuheiden- sprechens, die die
168 Ja k o b U llm a n n

tu m W agners oder seine zauberische rem ythisierung U n te r s c h e id b a r k e it


christlicher trad itio n in fo rm einer schw arzen messe, der realität von der
die apotheose des m enschen op fers in Stravinskijs V e rfü h ru n g durch bil­
sacre duprintemps (ein bezug, der die konzeption des d et erm öglicht.
zw eiten aktes von Schoenbergs op er sich er n ich t D a m it w ird a u f der
u n b eein flu ß t gelassen hat!) sind. So berech tig t diese b ü h n e und ü b e r sie
Beobachtungen sind: sie haben ihre grenze d ort, wo hinaus ein neuer
sie das eig en tlich e paradox, die prinzipielle Unge­ abstand k on stitu iert:
h eu erlich keit verschleiern. Sch oen b erg verän­
S ch au t m an die in frage stehende stelle — im m erh in dert die erzählung
die gesam te erste szene des ersten aktes der oper - an, der T h o ra , er läß t
so wird schon bei ob erfläch lich ster b etrach tu n g eines den bereich des >zi-
völlig klar: es hand elt sich hier keineswegs um ein tierens< h in te r sich
zitat. N atü rlich , w ir alle k ennen die b erü h m te pas- und stellt sich so
sage des 3. kapitels des buches exodus, die die beru- e i n e m w ied erh o lb a­
fung des M ose b eschreibt und es w ürde n ich t nur ren, auszusprechen­
Schoenbergs in te n tio n , sond ern auch sein w erk völ­ den erbe en tgegen,
lig verkennen, w ollte m an den bezug der ersten Sze­ um die trad ition, die
ne der oper zu dieser stelle auch nur im geringsten zu bezeugen eben
infragestellen w ollen. N ein , n ich t dieser bezug m acht dieses erbe aufgibt,
die szene so einzigartig in ihrem anspruch und so zu retten.
unzugänglich interpretierend em zugriff; was sie aus­ M ittelpunkt: der sze-
zeichnet, ist die tatsache, daß es S ch oen b erg auf jede 11 e ist nicht: die stim ­
art verm eidet, diesen beginn als zitat, die rede G o t­ m e aus dern d orn -
tes aus dem d ornbuscli wie die antw ort des M o se als b u sch , rn i rtelpunkt
lesung aus der T h o ra ken n tlich zu m achen. H ier wird der szene ist M ose,
nicht: die rede G o ttes >gclesen<, hier wird nicht: die dessen sprechen mit
antw ort des M ose zitiert, was liier hörbar gem acht allem nachdruck der
werden soll, ist nicht T h o ra , sondern die rede G o t­ m usikalischen faktur
tes selber. des werkes enth ob en
N u r m it einigem erschrecken wird man gewahr, mit: ist: selbst da n och , wo
w elchen folgen dieser versuch einherg eh t: M ose dem darstcller des
an tw o rtet n ich t m ehr, er beginnt diese szene mit M ose aufgegeben ist,
einer anrede, die von allem anfang jene dtstanz zwi­ se i.n e sp re ch s t:i m m e
schen dem sprechen G o ttes und der an tw ort des vo rgege b e n e ti t o n hö -
M ose unüberw indlich werden läßt: »Einziger, ewi­ hen anzupassen, sind
ger, allgegenw ärtiger, u n sichtbarer und unvorstell­ diese n ich t an die das
barer G o tt«. N ich t, daß S ch o e n b erg d urch den ganze stü ck b estim ­
m u nd des M ose hier un rech t hätte, nein, die um keh- m en d e 1 2-ro ii-re ih e
rung der zeit allein schon läßt jenes, die k o m m u n i- gebunden.
k ation erst erm öglichend e »H ier bin ich« unsagbar D ie stimme, verviel­
werden. fältigt durch sänger
Es würde zu w eit fü hren, hier eine in h altlich e dis- und sprechet, schein t
kussion der rede G o ttes aus der feder Schoenbergs auf beide protagon i-
zwe i s p r a c h e n 169

m it ihrer m erkw ürdigen hypostasierung des »gedan- sten der oper glei ­
kens« (die rede G o ttes, die gleichsam M oses’ gedan- ch erm aß en zu schau­
lcen au fn im m t) zu fü hren. M a n täte S ch o en b erg en: sie schaut auf das
unrecht, ihm n u r — was sicher m ö g lich wäre —n a ch ­ singen des A ron wie
zuw eisen, daß seine reform ulieru ng des ereignisses a u f das sprechen des
am b renn end en d ornbusch sich allzuweit vom Zeug­ M o se und w ird auf
nis der T h o ra entfern t. diese weise seltsam
Es b leib t festzuhalten, daß auch ein solcher nachw eis am bivalent, so a m b i­
das problem , das sich hier artiku liert, die spur, die valent, daß S c h o e n ­
Sch oen b erg sich tbar m ach t, n ich t zum verschw inden berg selbst von ihr im
brächte. D as problem , dessen fo rm u lieru n g schon — n ich t verto n ten —
zum paradox gerät, ist: ein problem der spräche und III, akt w ird sagen
m it jed er m en sch lich en spräche — auch - ein pro­ k ö n n en , auch der
blem der m usik. d orn b u sch sei ein
bild.
D as G esetz, dessen zeuge die trad ition ist, ein gesetz des handelns und ein ge-
setz der existenz, verlangt kategorisch, daß das Zeugnis der trad ition w eiterge­
geben werden m u ß. H at aber die behau ptu ng, es gäbe eine tradierbare trad i­
tion der W ahrheit n ich t etwas beinah ironisches an sich? G e h t es dem künstlet
hier n ich t so wie vor ihm schon dem exegeten oder dem historiograp h en, der
zu recht unsicher ist, ob ihm n och etwas von der >,sache selbstx sich tbar geblie­
ben oder das w esentliche n ich t schon in der pro jek tion des historischen ver­
schw unden ist. G e h ö rt solche U nsicherheit n icht allemal zur arbeit derer, die
m it philologen und exegeten an der trad ition schon deshalb b eteilig t sind, weil
es ihr gegenständ ist, aus dem selbst der nebel dieser U n s i c h e r h e i t dringt? Und
ist n ich t Sch oen b erg völlig im recht, wenn e t auf dem abstand, ja der un m ög-
1ichkeit des sprechens besteht angesichts des zeugn isses einer W ahrheit, die a lle n
falls erkannt, aber n ich t überliefert werden kann? Ist m an der ambivalenz cies
l a t e i n i s c h e n >tradere< wie des griechischen ■ T r a p a S t h c ij p . t , jenem der hebräi­
schen wurzel V3j? (kabal) so verschiedenen schw anken zwischen >überhefern<
und >verraten< n ich t gefährlich nahe, w enn m an festsrellt, wie w enig das, w a s
überliefert werden kann, die Überlieferung n och enthält?

Das B uch w ird S chrift , indem es sieh als das zu lesen gibt:, was es sein w ird
D a ' •>( n h/it Ih ne Wort fä h rt d ie Lektüre ein;
dad> tih in < von allem .Anfang an,
unn >s( hn d n vom gesprochenen Wort.
.Das ()< mhi u bene tritt an d ie Stelle des Gesprochenen keineswegs,
am m /< \t ah alten o d t ">,} ( \b, w<, u fo n n id u n u ,
sondt / n <wdz im ( n <nnn d am su h a// d sun /< /whn htu ng zu eifreuen,
indem es das Gesproilu m. d a I d / i t n <im \/<d. n ,/ n a le ile aussetzt,
in seinen unterschied!/! Ih n Sinn ’am n d , >i o d > a a j wnn n verschiedenen Bedeutungsebenen.
D as A u g e .. u n d ni( In das ( n h o > lost d a w ahn !a hugang aus,
das A bfragen d er tw<s( m l 1 m g s/( Hu, au n du hn S< h, ift eichen laten t gegeben sind.
Edrnond Ja b es
Hs n im m t seinen L a u f
170 Ja k o b U llm an n

tr a d itio n I I -- d ie b o ts c h a ft
D as zitat von E d m o n d Jab es m a ch t d arau f aufm erksam , daß der Übergang vom
gesprochenen w ort zur sch rift die d eu tlichk eit, die eind eutigkeit des textes n ich t
erhöht. D ie ein fü h ru n g der lektüre statu iert lediglich die ein h eit eines ausgangs-
w ie flu ch tp u n ktes der trad itio n , die g erad e dadurch, daß die w eiße des papiers
und die schwärze der buchstaben unveränderlich w erden, der Interpretation
im m er w eitere räum e erschließt. D as erin nern erhält ein en seltsam prekären
zug: es w ird gleichsam verdoppelt und schw ankend. Auf der einen seite die
erin n eru n g an ein h ören , das nu r als gegenw ärtiges h ören, ein präsens des spre­
chens gedacht w erden kann und die erin n eru n g durch die schrift, die der erin ­
nerung gleichsam v o rau sg eh en d im zeugnis der V erg an g en h eit der gegenw art
nu r d urch befragung, nur durch in terp retation zugänglich ist. W oh l m ach t die
tatsache, daß d urch die schrift lektüre m öglich ist, die trad itio n aussprechbar,
aber d och in einer weise, daß m it der aussprechbarkeit die trad ition selbst sich
in den w achsenden raum der interpr :ation verw andelt.
D as gebot der erin neru ng wird in
der Verkündigung transparent. Aus Es ist an dieser stelle d ringen d von
der in terp retatio n en tsteh t der n ö ten , ein häu fig vergessenes, viel­
nebel, eine aura des werkes, die es leich t ebenso häufig verdrängtes fak-
in seiner aussprechbarkeit besser tum sich in erin n eru n g zu rufen: wir
verhü llt als alle geheirnhaltu ng es sind gew öhnt, rnusik-w erke wie an­
kö n n te. In dieser transparenz ver­ dere ktm stw erke auch, n icht nur b e­
p flich ten d en erb es lösen sich lang­ stim m ten historischen epoch en zuzu­
sam und d och unaufhaltsam die ord nen, sondern sie nach solchen
sch atten auf, die ausgangspunkt ep och en , trad itio n slin ien und. schu­
und aulgabe der trad ition waren. len zu k d em entsp re­
D er »gedanke« des M o se wird ihm chend E ben so groß
selbst, zum u n ein h olb aren , jedem ist die versu cm m g, p artitu ren oder
sprechen unzugänglichen bild. auff'ührungen m u sikalischer werke
Ü ber jah rhund erte waren m usiker für das >werk seib erc, für das >kunst-
—und n ich t nur sie! —überzeugt, die w erk als solch esc zu h ak en . Im einen
m u sik kön n e es leisten, in. aller wie im anderen falle gerät darüber all­
lektüre des geschriebenen je n e tra­ zu häu fig und schnell in Vergessen­
d ition au frechtzu erhalten, die die h eit, daß eine solche klassifizierung,
trad ition des wahren Wortes, die tra­ die analyse der partitur, das folgen,
d ition der b o tsch aft gerade jenseits einer b estim m ten k lan g lich en reali-
ihrer aussprechbarkeit u n te r s c h e i­ sation des werkes teil ein er b estim m ­
det von der w a c h se n d e n U n d u rch ­ ten h istorisch en S i t u a t i o n , einer b e ­
d rin g lic h k e it der in terp retation . Sie stim m ten >kultur< oder teil einer
sei in der läge etwas in die gegen­ b estim m ten in terp retation scrad itio n
w art, in jede gegenw art e in z u s ch re i­ sind. W en n — im günstigsten, falle --
b en , was jen seits der S ch w ärzu n g die k langliche realisation gleichsam
des papiers hegt, ihr an eind eutig­ eine epiphanie des >kunstw erks< in
keit aber n ich t nachsteht. der g esch ichte, einem b estim m ten
U nd doch wird jed e klangliche rea- p u n k t, e in e r unverfügbaren S itu atio n
lisation eines m usik-w erkes zur ist, so ist alle w e itere b e s c h ä f t i g i m g
in terp retation , jed e analyse des ge­ n ich t e i g e n t l ic h die b eschäftigim g
schriebenen ist un tren n bar v erb u n ­ m i t d e m > kunstw erk<, s o n d e r n die
den m it all den im p lik ation en des b e s c h ä f t i g i m g m it d e m p r o d u k t einer
wissens und der erfahrung, m it dem lesart, einer interpretation, e in e r
gesam ten »kulturellen apparat«, der > k u lt u r < . Als s o lc h e s » k u ltu r p r o -
von der ch ro n olog isch en ablau fen­ d u k t« w ird das k u n s t w e r k z u m a b g e ­
den zeit ebenso b estim m t ist, wie s c h lo s s e n e n o b je k t , zu einer s p u r des
von den ö k o n o m isch e n , sozialen m aterie-zeitrau m s, w o h i n g e g e n die
und p o litisch en b ed in g u ng en je ­ > k u n s t< des rn usik w erkes e in e spur,
weils gegenw ärtigen hörens. e in e geste des k la n g - z e it ra u m s ist.
W ir wissen n ich t, wie das >werk< D i e g e s c h ic h t e d er spur i m k lan g -z e it-
wirklich klin gt. D esh alb sind w ir raurn ist in einer a n d e re n g e s c h ic h te
unausgesetzt auf der suche in der an gesied elt als der, die w ir als k u n s t-
interpretation klanglich er realisati- g e s c h ic h t e , als f o r t s c h r it t , als ent-
on und der anstrengu ng der analy­ w ick h m g kennen. D ie geste des
se. A ber wir wissen d o ch im m er k la n g -z e it ra u m s v e rläß t die c h r o n o l o ­
auch, daß alle k enntn is der lebens­ gis ch b e s t i m m t e zeit, n u r d er Wider­
um stände des autors, alle erfor- hall, d en diese spur irn klang-zeitraum
schung des kulturellen, politischen in d e n m e n s c h l i c h e n geselischaften.
und ö k o n o m isch en um felds der h i n t e r l ä ß t , d er sie u n d sich m i t ih n e n
en tsteh u n g des >w erkesc, alles se­ v e rän d e rt, l ä ß t sich in e p o c h e n u n d
zieren seiner S t r u k t u r uns der a n t­ schulen e i n te ile n u n d m it den b e g r if ­
w ort auf die frage n ich t näher fen h i s to r is c h e r ä s t h e t t k fassen. D ie
bringt, was h in ter all d em , ver­ s p u r im kla ng -ze irrau r ;rgrci
fließen d er zeit verhafteter gestalt fend e kraft« des k u n ; kennt
des >werkes< auf uns w artet. Ja, wir allenfalls Veränderung, w ohl aber
sind unsicher, ob h in ter all dem k a u m e in e n f o rts ch r itt. D as »werden«
überhaupt etwas w artet. Auch dies ist ihr e b e n s o frem d wie die abge-
ist die Verzw eiflung des M ose am s c h l o s s e n h e i t eines o b je k t s , das sich
ende des zw eiten aktes von S ch o e n ­ v o n rn u s eu m zu m u s e u m t r a n s p o n i e ­
bergs oper; das >w o rte , das dem ren, ja das sich am e n d e sogar handeln
M ose fehlt, ist n ic h t der richtige läßt.
begriff:, n ich t einm al der narac, so n ­ Es ist darauf hinzuw eisen, daß wir es
dern die U nsicherheit, ob es ein hier n ich t m it einer »aura«, einer »aus-
sprechen geben Jearm, das der Zu­ strahhm g« des werkes zu tun haben.
rückw eisung des bildes zu reinem D ie spur im klang-zeitraum ist nicht
attsdruck verhilft. das werk des autors. Sein werk: besteht
O d e r w eiß M ose »nur« n ich t, wie eher darin, eine S i t u a t i o n , eine geste
das >wort< klingt? zu erm ög lich en , die den to n , das sag­
W ir müssen noch einen sch ritt w ei­ bare dergestalt ins hörbare brin g t, daß
tergehen: in einem außerord entlich er zum Widerhall der spur im klang-
bem erkensw erten beitrag bei einem zeitraum zu werden in der läge ist und
172 Ja k o b U llm a n n

pariser sym posium , das unter dem so die spur der geste übers hörbare
titel »L’idee m usicale« 1 9 9 1 s ta tt­ hinaus in w iederkehrend er erschei-
fand, hat Jean -F ran co is Lyotard m it nu n g festhalten k an n . D er autor
nach d ru ck darauf aufm erksam ge­ sch ein t ein >zeichen< zu geben von
m ach t, daß es gilt, sein augenrnerk einer klang-spur, die über das h örba­
auch a u f den sozusagen um gekehr­ re hinausgeht.
ten prozeß zu rich ten . N ich t nur E in neues paradox also: eine klang-
»verbirgt« sich das >werk< im nebel w irk iich k eit, die n ich t v ern o m m en
seiner in terp retation — einem nebel werden kann, weil sie über das h ö r­
also, der aus ihm selber d ringt. D as bare hinausgeht und d en n och klang
>werk< ist ebenso spur aus dem ist und d ann eine geste, eine spur in
n ich t-m eh r- oder n o ch -n ic h t-h ö r- und aus dieser Wirklich keit, in und aus
baren. Lyotard zeigt, daß es gerade ihrer zeit, ihrem raum , den sie nur
diese spur klanglicher geste aus der durch eben diese spur en tfaltet, einer
unterw eit des klanges ist, die dem spur die dem autor — ohn e den sie
>werk< jenseits fertiger o b jek te sein un m öglich wäre — stets unverfügbar
da-sein als w erk der >m usik< bleibt. D as >ereignis<, die epiphanie
sichert. im h örbaren , in der gesch ich te ist
D ie »unruhe, die der philosoph bei n ich t das, was der autor w u ßte; was
der rätselhaften K lan gm aterie em p ­ dieses ereignis ist und w oraus es
findet« verbind et Lyotard m it einem besteht, b leib t der in ten tio n des
text von Pascal Quignard, der es wert auüors verschlossen.
ist, ausführlich zitiert zu werden:

W ie verschieden d ie M euschau Z ivilisationen, li/wehen* Spn ?, es scheint


m a n ch m a l b ein a h bis z u r H allu zin ation zu gehen, d a ß aus d l /■; //. /,/<» schrecklicher
Kluge aufscheint, d ie im m er entblößt u n d neu zu sein schein / uh w < i K langgm nd,
der d ie Besinnung raubt.
E ine Spruche unter den Sprüchen, d ie d er K lang eines allen gen/einsam en IH.rchafragments ist, das z w a r
je d er a u } sein e Weise und. m eh r od er w eniger aussendet, das a b er von M u n d zu M u n d im , a u f d er fast
sexuellen u n d im m er nackten Vorwölbung d er G esichter im L au fe d er Jahrtausende.
Hin vielleicht elem entarer Schrecken, den M enschen, d ie Steinbrockett aneinanderschlugen, w ähren dgan zer
Epochen vor sich h in grunnnelten, d er au ch d ie K in d h eit selbst ist, w orin sie sich erneuert und. der uns ver­
sammelt'.
D ieser Klang, d er klagt, rhythmisch, d ann arhythm isch, dan n w ieder rhythmisch, diese Lust: an d er Klage
ist w ahrhaftig das G löckchen von »H erden , d ie ein e Sprache sprechen.«
Sprachen kön nen sieh nicht h in ter sich zurückw enden, sich um drehen, um d ie W ahrheit von Sprachen zu
zeigen.
Es scheint, d a ß dieser von Entsetzen geprägte Klang, d er uns als G ruppe zusonrrnen/uhrl, d er einen toten
Vater beklagt, d er uns endlos in Eorm von E am ilien u n d Gesellschaften vereint , d a ß dieser K la n g uns eint,
ohn e d a ß er irgen d etw as anderes g ebietet als seine Kraft. W ehklagen von B arockm usikern im Chor, in der
gottverlassenen Düsternis nach dein Tod Gottes. K lan g des Mordes.
C. M . B ow ra w underte sich, eiaß'man zu den p rim itiv en Gesängen, d ie d ie Ethnologen tran skribiert haben ,
nur Ja g d lied er zählte, k au m Kriegsgesänge, nie Liebeslieder. G enau gen om m en w äre es nötig, d a ß w ir uns
selbst ein w enig lieben, d a m it w ir eine W ertschätzung fü r Wesen em pfin den können, d ie uns ähneln. A ber
w ir ähn eln nur unserer Beute. U nd unsere Ä h n lich k eit ist nur nach ihrem Vorbild, gem acht. Hs ist nur sel­
ten vorgekonimen, d a ß w ir uns m ochten, u n d z w a r a u f d er h oh en tend schw indelerregenden Stufe von
Wesen, d ie so gern in M ythen dargestellt werden. Es h a t n ich t den Anschein, als o b es viele Wesen gegeben
hat, d ie d ie G ötter nach einer anderen S ch ablon e als ihren B ildern geschaffen hätten. Gewisse Bausteine,
zwei sprachen \7 3

d ie sym m etrischer und. undurchdringlicher als a n d ere sin d — w ie zu m B eispiel Viren. Wem ahn ein w irf
Es g ibt ein e große W oge .. unter dem w eißen Schaum -- von Ähnlichkeiten., d ie uns jedesm al, wenn w ir uns
ihrer bew u ß t werden, in Bestürzung versetzt. W ir a lle >m öchten gern einzigartig sein, o b w o h l w ir bis zum
Ekel. Serien bilden.

H in ter dem H in tergrund von Orten g ib t es einen Klanghorizont. K langfetzen ein er Furcht, d ie einst wie
das Universum explodiert ist und. d ie d ie D epression h er bei ruft, d ie in d er Lust geh em m t wird, d ie sich in
L e id flüchtet.
K länge, deren W iedererkennen eh er ein e E n tdecku ng ist, d ie niem als vollendet wird, d ie o ft verspätet k om m t
u n d d ie uns nicht von d er K lage befreit. S o b a ld w ir dies erkennen, hören w ir plö tz lich auf, uns fü r ein ­
zigartig zu halten. D iese E ntdeckung, wenn sie uns in d er Wüste a llein läßt, befreit uns nicht von d er Sor­
ge. D a m an kein en Ursprung von N ichts fin d e n kan n, treibt sie uns gen au gen om m en n icht zum anderen
hin. Sie zw in g t uns zu ein er Solidarität, vor d er w ir uns n ich t retten können, a b e r der w ir nur allzu bereit­
w illig zustim m en, so un verm eidlich sie au ch sein mag.

D ie W ahrnehm ung jen er leichten Schatten, d ie un verm ittelt über das Gesicht von sich uns n ähernden M ä n ­
nern u n d Frauen huschen und. d ie das Eingeständnis ihrer Traurigkeit und. ihres Jodes sind, verschafft uns,
ehrlich gesagt, ein e intensive Befriedigung.

A m lin de dieser Betrachtung — sofern w ir den .Mut h a b en , d ie Illusionen eine nach der anderen m it Ver­
achtun g aufzugeben, d ie uns g lau ben lassen, d a ß w ir wesentlich w ir selbst s in d .. em pfin den w ir k ein e E in ­
sam k eit 'mehr. Dieses G efü h l 'hat einen ekelhaften Geruch. Wenn d ie E in sam keit den Einsam en durch Leid,
würgt, ist sie ein kostbarer Stein, den kein noch so g roßer Schatz k au fen kann. U nd sie ist ebenso dern
Schweigen, w ie d er D u n kelh eit benachbart. A lle Sprachen d er Welt scheinen im H in b lick a u f d ie K lage des
Hungers, d er Verzweiflung, d er E in sam keit des Todes u n d d er U nsicherheit zw eitran gigzu sein. So w ie die
'Eiere sieh in ihrem D reck suhlen, sich in ihren eigenen G estank hineinriechen. D ie gesprochenen Sprachen
lieben d ie Stimmenmasse.
A lle Sprachen, d er Welt, so m ächtig oder ausgefeilt sie au ch seine mögen, kön nen nicht diesen »Klanggc-
ruch« d er G attung verdecken. Sie h aben ihn niem als verdeckt u n d werden ihn niem als verdecken.

Pascal Q uignard
Petics Traires, Irak t a t »spräche «

in: 17Idee iVlusicale (ed. p a r C hristine B u ci-G lucksm an n et M ichael. l,evinas), p a n s i 7 9 7

h ö re n I
M an kö n n te geneigt sein, die spur, auf die Lyotard und Q uignard uns fü hre»,
für eine antw ort auf die eingangs gesteifte frage nach dem , wovon die musik
spricht, zu halten, D e n n o c h , m an m u ß sich vor schnellen schlüssen h üten;
die sache ist n ich t einfach. Es gilt zu b each ten , daß die spur in die »unter-
w eit«, in den Hintergrund der klänge kein weg in die V e rg an g en h e it ist. D ie
»spräche u n ter den sprachen«, der un hörbare hauch, für den alles hörbare nur
die spur eines Zeugnisses ist, hat keine geschichte. E r w im m ert und klagt, irrt
von m u nd zu m u nd , von w erk zu werk. Sein paradoxes Charakteristikum ist es
gerade, nichts zu erzählen, im m er nur da zu sein. Alle artikulation versucht
ihn im ausdruck zu bändigen, zu besiegen, im schlechteren fall b lo ß zu über­
tö n en .
E in weiteres paradoxon: er kann n ic h t gehört w erden und d en n och versucht
alle artik u lation, ihn zu entkräften. E r ist ein unvernehm licher laut, hauch des
schreckens, der die stim m e verschlägt. W er von seiner spur gestreift wurde,
dem wird das hören allem al zur tragöclie. So sehr die klarsten sätze der m usik,
alle ku n stfertigkeit der form un d der artikulation diese klarigdüstem is auch zu
bannen versuchen, noch aus ihnen d rin g t das entsetzen heraus.
Ja k o b U llm an n

N och einm al m u ß es w iederholt w eiden: die sätze von Q u ig n ard sind


keine historische b etrachtu ng . N ein, die bed rü ckend e, die sch onu ng s­
los realistische W ahrheit dieser zeilen erg ib t sich gerade daraus, daß
diese »spräche u n ter den sprachen«, dieser u n artiku lierte und un artiku-
lierbare hauch immer u n ter den sprachen w im m ert. E r h a t keine ge-
sch ich te, er ist eine klage, die »im m er e n tb lö ß t und neu« nichts erzählt.
Jed e artiku lation, alle m enschlichen werke und in stitu tio n ell k ö n n en
ihn n ich t besiegen; er ist - als unterschw elliges gem urm el —unterdrückt,
scheinbar en tkräftet, gerade im diskurs, selbst n och in seinen form en
vorhanden.
W ir sind n och im m er in paradoxa gefangen: un hörbarer hau ch und d en ­
n och klang. E in e stumme klage, eine »schreckliche klage ... klage des
hungers, der V erz w eiflu n g , des todes und der Unsicherheit«. Das, was klingt,
die stu m m e spur elem entaren klanges hat im entsetzen seine quelle. D er
stim m lose hauch des schreckens, n icht einer furcht, der anhauch des ent-
setzens ist derart stimmlos, daß er die stimme verschlägt. E in e kiangdü-
sternis, die - und dies ist das zutiefst verstörende —die sätze der klarsten
musik, Bachs oder Josquins, Schoenbergs, Nonos oder M ozarts werke eben­
so grundiert wie die sprach- und klangäußerungen jeglicher kreatur.
W ir finden in der erin n erung jener spur, auf die uns Sch o en b erg fü hrt,
diese spur einer klage h in ter allem reden, dem das gesprochene g leich ­
sam nur in seiner in k om m en su rab ilität ausdruck verleiht und im m er in
gefabr b leib t, das alle Schöpfung um fassende seufzen mein: zu verdrän­
gen, als laut werden zu. lassen. E in ahstand tut sich auf, ein abgrtind vor
einem sprechen, einem an-spruch, daß noch die tiefsten, gründe alles
geschaffenen nur ihre hände em porreckeii k önn en.
E in sprechen, »unter« der spräche, ein an-spruch jenseits m en sch lich en
sprechens, das alles geschaffene ein t, aber so eint, daß wir, um n o ch ein ­
mal Q uignard zu zitieren, »keine einsam kcit m ehr em pfind en.« Und
d och: »Dieses gefülil hat einen, ekelhaften geruch.«
Jen seits der einsich t der erlösungsbed ürftigkeit aller kreatur verw andelt
das m urm eln des hintergru n des, die spur des unaufh örlichen seufzens,
des entsetzens, das n ich t wenige): real, ist als alles, was wir sprechen k ö n ­
nen, sich, in den »dreck« der gattu ng, in eine weit, der auch m it der n ich t-
m en sch lich en kreatur der m ensch zürn »erdfloh« wird: »kein h irt und
eine herde! Jed er will das gleiche, jed er ist gleich; wer anders fü h lt, geht
freiw illig ins irrenhaus«.
N o ch ein sch ritt weiter: »>Wir haben das glück erfundetn — sagen die
letzten m enschen und blinzeln.«
H ier hat der Status des sprechens ein tieferes tal gefunden als alle Syste­
m e versklavender g leich h eit: die »letzten m enschen « strafen sig al’ev
lügen, der n och den zwang und das »un glü ckliche bewußtsein.« der
»wenigen«, die die masse m it der k n u te in die g leichheit der U nm en­
schen treiben a u f sich n eh m en , n ich t aus der w eit schaffen k on n te.
zwei sprachen 175

W ir sollten n ich t vergessen, daß h in ter allem m en schlichen sprechen


auch ein solches entsetzen jen seits des entsetzens liegen kann ; die spur
aus dem klang-zeitraum ist n ich t notw en d ig »luft von anderen plan e­
ren«, das entsetzen, sinnlos gew orden, gibt kein beispiel. D e r klan g-zeit­
raum h in ter allem werk und allem m enschlichen sprechen ist kein garant
des >w erkesc. O b wir zu »blinzeln« beginnen oder ob uns die spur des
>werkes<, die geste des klang-zeitraum es jen seits artikulierbaren spre­
chens aus der öd en m u ffig k eit der Verdam m nis, aus der entsetzten ,
d um p fen V erlassen h eit der masse, aus dem gebrüll, das letztes signum
des lebendig-seins sich an sch ick t zu werden, hin ausfü h rt, kann nur am
W iderh all sich scheid en, den der leere hau ch, der un aufh örlich durch
alle hindernisse hind urchgehend den stu m m en klang zu bezeugen im
hörbaren erzeugt.

Es ist also im h öch sten m aß e m erkw ürdig, daß S ch oen b erg in der ersten sze­
ne von Moses und Aron das >hören< völlig ausgespart hat. M oses >hört< nich t
die stim m e aus dem d orn b u sch , der gedanke ist in ih m »w iedererw eckt« w or­
den, er hat »die W a h r h e i t erkannt«. Und ebenso: d i e greuel wurden »gesehen«,
aber noch wo d i e stimme spricht, sch ein t sie n ich t auf die klage d e s volkes zu
antw orten. D ab ei: gerade in dieser klage, im u n artiku lierten schrei der Ver­
zw eiflung find et sich das volle. S ch oen b erg verw eigert der Verkündigung des
M ose die m usik. D ie klage des Volkes wird n ich t » g e h ö rt« ..oder ist gerade alle
m u sik eben jen e spur unard kulierbarer klage, die allenfalls bis in. die wüste
fü h rt aber d och dem »klanggeruch« der g attu ng so verhaftet b leib t, daß sie das
w ort der befreiung, die verkü nd ung des .Anderen n ich t zu umgreifen, vermag?
N och einm al die stimme aus dem d orn bu sch: sie spricht und sie singt. D er
autor sch ein t ihr eine alles um fassende artikulation einschreiben zu w ollen.
E in e artik u latio n , die über den hintergru nd der angst und die erhihrung
abgrundtiefen grauens hinausgeht. Eine spur, die W iderhall wird von etwas,
dessen epiphanie in der gesch ichte von der fu rcht und dem entsetzen affixiert,
ihr aber n ich t m ehr verfallen ist. Ein. W i d e r h a l l , der den h a u c h n ich t übertö-
nen. m u ß, weil er der erfahrung der nach t über der wüste, dem ohr, das der
tärischung offen ist, dem an -h au ch des n ich ts treu bleibt.

— Wenn du la u t einen le x t liest , ist es dan n n ich t d ein e Stim m e , d ie du hörst r3


D ie G eschichte des Schweigern ist ein lext. D as H orchen a u f das Schw eigen , ein Buch.
D er A ugenblick spricht. D ie D au er w ird gesprochen.
D ie D au er ist A bw esenheit ,
u n d d er A ugenblick gesicherte Spur ein er sich selbst offen barten Abwesenheit.
Das Wort ist vie lleicht nichts als eine folge h allen d er Schritte
zw ischen m achtlosen Schritten eines lahm en den Universums.

E d m on d Ja bes
E in F rem d er m it ein em kleine)] B u ch w n erm A rm
176 Ja k o b U llm an n

hören II
W en n d ie spur, a u f der w ir Lyotard und m it ih m Pascal Q u ignard fol gen, m ehr
ist als eine paradoxe m etapher; w enn wir also bereit sind einzuräum en , daß es
jen seits der »klangsprachen« >klang< g ibt, klang ohn e spräche, klangm aterie,
die etwas ganz anderes ist als das »m aterial« der kornposition, über das in unse­
rem vergangenen jah rh u n d ert so viel und heftig gestritten wurde, dann rücken
x sp rach ec, die spricht und das m u sik-w erk tatsächlich enger zusam m en, als
m an gem ein h in zuzugeben bereit ist, auch w enn das in ganz anderer weise
geschieht, als m an es norm alerw eise a n n im m t.
A u ch E d m o n d Jab es d en kt ja m usik-w erk und gesprochenes wort: ganz eng
zusam m en, w enn er in letzterem noch die spur des abw esenden und den h al­
lend en sch ritt des leeren vernim m t.
G em einsam wäre ihnen eine klangw irkh ch keit, die n ich t vern om m en werden
kann, weil sie über das hörbare hinausgeht und d en noch klang ist, d ann eine
geste, eine spur in und aus dieser W irklich keit, in und aus ihrer zeit, ihrem
raum , den sie nur durch eben diese spur e n tfa lte t, eine spur, die dem autor —
ohn e den sie u n m öglich wäre — stets unverfügbar bleibt.
D as >ereignis<, die epiphanie im hörbaren , in der g esch ichte ist nicht: das, was
der autor w u ßte; was dieses ereignis ist und woraus es besteht, b leib t der in ten -
tion des autors verschlossen.
H ier eine, w enn auch a u f um w egen erreichte, reh ah ih tation rom antischen
geniebegriffs zu verm u ten, h ieß e das wesen des paradoxons zu verkennen: a u f
w elche art auch im m er ein autor sich verhält, seine >erw artung<, seine Hoff­
nu ng auf einen >satz< n ich t zum d urchsch aubaren o b je k t gerin nen zu lassen,
aus aller anstrengung der tech n ik resultieren klangliche formen. D as m usik-
w erk ist hörbar, das hörbare kann vernom m en werden, weil cs in einer Idang-
sprache geform t wurde. D ie spur des klang-Zeitraum s ans ohr des hörers d rin ­
gen zu lassen, h e iß t daher im m er, das >zcichen< in eine spräche einzuschreiben.
D ie spur »selbst« m ag ein rätsel b leiben , ihre epiphanie im m ateric-zeiträum
chro n ologisch er zeit und m eßbaren ortes m ag eine aktualisierung im m ensch­
lich en körper sein, sie affiziert ihn, aber sie wird n icht sein eigen.
D as hörbare des m usik-w erkes ist »m usikalisch« nur, insofern es das u n h örb a­
re bezeichnet.
So eng die »spur des abw esenden«, der »hallende sch ritt des Wortes« diesem
verw andt sch ein t, hier nehm en wir in aller d eu tlich k eit den abstand des W or­
tes von der geste des m usikalischen wahr, jed em w ort ist das versprechen ein ­
geschrieben, daß es w eitere w orte geben wird. N och die gesch ichte des schw ei-
gens wird zum versprechen des >buches<. D as w ort, das wir vernehm en, ist
Zeugnis, daß es eher etwas als n ichts geben wird. N o ch der einfachste satz k ü n ­
digt an, daß n ich t Schluß ist.
U n d der klang? Jed em klang ist das verklingen un ablösbar ein geschrieben. So
wie der atern zu ende geht, so end et der bogen des geigers. D er klavierton ver­
k lin gt und selbst alle tech nisch e raffm esse der klangerzeugung und --Verarbei­
tu ng kann n ich t darüber hinw egtäuschen, daß der klang der m usik eher zurück
r
zwei sprachen 1 77

als nach vorn schau t. D a ß der klang ein genaueres, weil u n geschm inkteres Zeug­
nis für die anw esenheit der unterw eit der klänge ist als alles w ort. E r kan n ihr
w eniger e n tflie h e n . So su cht alle m usik, noch wo sie sich sträu bt, identifizier­
bares und e in d e u tig e s o b je k t zu sein , ein e ch o , ein en W iderh all jenes w ortes zu
erreichen, das die U nterscheidung zw isch en dem was ist und der täu schu ng des
bild.es m öglich m acht. N o ch in der n ich t begrenzbaren b estim m b ark eit der
in terp retation w ird sie, w enn sie >m usik< ist, an der V erpflichtung des hörens
ebenso festhalten w ie daran arbeiten, dern echo das zeugnis einzuschreiben,
daß n ich t nur das w ort, sondern auch m it dem klang d ie w eit w irklich ist.
K önnte n ich t dies als beschreibung dessen gelten, was Luigi N ono vor allem in
den letzten zehn jahren seines schafFens in exem plarischer weise gelungen ist?
D ie m u sik erhält ihren realism us, wo sie ihren düsteren U n te rg r u n d , das
stu m m -d u m p fe seufzen aller kreatur n ich t zu übertön en und n ich t zu ver­
leugnen versucht. D ie spur aus dem klang-zeitraum ist im m er auch Widerhall
einer geste, die vom u n vernehm lichen schm erz affiziert ist. D er Widerhall der
geste enthält die spur dessen, was der körper n ich t w ahrnehm en kann. Und
doch erreicht der u nhörbare hauch der klage das tim b re der m usik. W as wir
»em pfm dung« n en n en , ist vielleicht nichts anderes, als unsere fähigkeit, den
Widerhall der klage zu erspüren, in der geste noch das versprechen und die m ah-
nu ng zu em pfangen, daß h in ter allem, möglichen, das die spräche verh eiß t, das
größere der W i r k l i c h k e i t erst seinen ausgangspunkt n im m t.
So kann S ch o en b erg m it w o rten , die das B u ch zw eieinhalbtausend, jahre
bew ahrt hat aus dem versprechen und der rnahnung, gesprochen und g esu n ­
gen, die h o ffn u n g artikulieren, daß auch die klage aus dem tiefsten abgrum !
n ich t ohn e wid.erlia.il bleiben wird,

spräche des buches


Auf- mer kw ürd ige weise har S c h o e n b e r g die erzäh lung vom br en n en d en do rn bu s ch ns eincru
weiteren wi chtigen detail und — wie es s c h e i n t ..m it weit re ich end e! rt: mein nur,
daß M o s e zur s ti m m e aus dem do rn bu s ch m it de!- selbsiaussage C o r t e s ir die s ti m m e
nicht > g e h ö n <, C o i t ha t in ihm , so S c h o e n b e rg , den »gedanker kt«. Au ch die
s t i m m e aus dem d o rn b u s c h spric ht so: »D u hasi. tue wannicii: erkannt
1 )ieses >vergessen< des hörens ist au ß er or de n tli ch m erkw ürdig: er innern wir uns doch alle der
eind rin gli che n wo rte des leizten bu ch es der Thora: » N i c h t m it unseren värern hat der D e n - diesen
bu nd geschlossen, sonder!) m it uns- die wir heute /?/Vt steh en , m i t uns allen, m it den lebenden.
Auge in auge hat der H er r auf dem berg m i tt e n aus de m feuer m it euch geredet. ... Siehe, der Herr,
unser G o t t har uns seine be rr li ch kei t und m a c h t gezeigt, und wir haben seine d o n n e r n d e s ti m m e
m itt e n aus dem feuer gehört. H eute ist es uns ges ch eh en , da ß G o t t zu m e n s ch e n sprach
u n d sic am leben blieben.«1
Dieses >vergessen< gilt es im ged äch tn is zu be ha lt en, we nn nu n , gleichsam von der anderen scite,
n o c h ei n m al die paradoxie, die gru nds ätzliche g re n z ü be rs ch re iu m g am be ginn von Sch o en be rg s
o pe r du rc h da c h t werden soll.
S o wie die » U n t e r w e l t des klangs« hinrergmnd. allen m e n s c h l i c h e n sprech ens ist, so vollzieht sich
m en sch li che s sprechen ja auf dem h i n r e r g n m d des ges ch ri eb e n en , des b u c h e s 7, dessen in terpreta­
tion es ist. M a n k ö n n t e es eine >jüd ischc< spur n e n n e n , auf die uns die geste des klang-zeitraum.es
nun führt. E in e spur, die der W e r t s c h ä t z u n g des bu che s über die würde des alters, des d o k u m en te s
der g esc hi cht e des m en s ch e n ein e neue d i m e ns io n verleiht, weil sie der abg esc hlo ss enh eit des
bu che s zuwiderläuft. D as bu ch wird zu m > bu c h < n ic h t deshalb, weil es aus geschrieben, seine seiten
ge b un de n und es wieder und wieder ab g esc h rie b en und n ac h g ed r u ck t wurde; es wird zu m > buc h<
erst durch die tatsache der i h m un ab lö sb ar a n h af te n de n ge sp ro ch e n en Überlieferung, der Interpre­
tation. Krst durch die ständige er n eu er u n g in i m m e r n eu em n a ch d e n k e n un d n ach sp re ch en des
178 Ja k o b U llm a n n

bu ch es wird das > bu c h < zur w a h rh a ft h is to ri sc h en tat,sache. A b e r hier sc h ei n t äuße rste Vorsicht
geb ote n . D as J u d e n t u m ist nicht »religion d es bu ches«, vielleicht ist israel das volle des bu che s, in s o ­
fern seine histor isch e existenz iden tis ch ist m i t der tr adition der T h o r a . Aber: die T h o r a ist n i c h t
das b u ch , s ond ern das g esc h ri eb en e u n d das gelehrte, d .h . g es pr och en e und g eh ö rte wort.
Was also ist die »tradition des bu ches«, genauer: was ist ein >buc h<? Wa s unte rsc he ide t es von
> bü c h er n < , v o m schwall der wo rte, die, eb ens o wie das geräusch des geschwätzes, den Widerhall aus
d e m klang- ze irr au m üb e r tö n e n , vergessen m a c h e n sollen?
F olg en wir der >j üdi sch en < spur, auf die wir g efü hrt wu rd en, so sind es drei dinge, die bei der dis-
kussion dessen, was > bu c h < ist, be sonders m er kw ürd ig aufsche inen : das b u c h ist eine rechtstntsache
( n i c h t nur ein geg ens tän d des rechts), das bu ch wird nicht, an s ein em >inh al t< , s on d er n an seiner
>lesbarkeit< e r k a n n t und das b u c h erhält seine grenze in der Hörbarkeit. In - vielleicht zu g r o ß e r ..
kürze lassen sich so die drei b e s ti m m u n g e n des talm ud (in bezug auf sabb ath und feuer'O
übersetzen.
E i n verst'örender ged anke, da ß das > bu c h < sich n i c h t am inhalt, s o n d e rn aus der existenz (oder
nicht- exi ste nz ) v on bu ch s ta be n kon sti tu ier t, ja n o c h mehr, diese bu ch s ta b e n k ö n n e n sogar verstreut
s ei n 5. D ie s e r ged a nk e er öffnet viele wege: das b u c h als bib li ot h e k und der Bu ch s ta be als Zeichen
i m m e n s e r fülle von Wirklichkeiten. D a s bu ch als un be gre nz te abgesc hlo ss enh eit alles d e nkb are n,
gleichsam des a k tu al - un e n d li ch en allen m ö g l i c h e n wissens, das > bu c h < als letztgültige en tschei-
d u n g üb er alle fragen, die wir stellen k ö n n e n , sc h l u ß en d l ic h üb er die Wirklichkeit selber. Vi ele
g enerario nen mitte la lte rli che r lehrer und schüle r der k ab b ala h ha be n diese (und viele weitere)
im p l i k a ti o n en der spur des bu ch es d u rc h d ac h t, gele hrt und we itergegeben. A n den Z e u g n isse n ihres
de n ke n s k an n nun die gefahr n ic h t a uß e r ac h t gelassen we rden, die diese spur birgt. D e r midrasch
k o n e n be sch re ib t in ei n em gewaltigen bild die u r - T h o r a , die, m it schwa rze m auf weißes feuer
gesch ri ebe n, das >buc ii< aller Sch ö pf un g ist. D ies e u r - T h o r a , deren allenfalls m a tt e r abglanz die
gesc hr ieb en e ' l ’hora dan n wäre, k o n n t e n u r allzubald z u m sinnbild je ne r Ununt ers che idb ar kei t zwi­
schen dem > bu c h < und der Sch ö pf un g G o tt e s we rden, die nach de m pa n - o der k os m o rh ei s m u s
eb ens o b ü c k t wie n a c h je n e n m y t h is c h - m a g is c h e n pra kt ik en , die in der V e r w is c h u n g der grenzen
zwischen s ch ö p f et und g es ch ö pf auch im s pr ac hl ic he n ausd ruck der tr adition sch li eßl ich n ur m e h r
di e rheur gi,se he Zau berei la u t w e r d e n lassen k a n n .

Au f die i m m e n s e n , ver m ut li ch auch heu te n oc h ebens o we nig be k a n n te n wie gew ürdigten, th eo lo -


gie, ja selbst re li gionsgeschichte üb er sch rei te nde n ausw ir kim gen dieser Verwischung, die auch und
vor allem auf de m geb iet der spräche sich vollzieht, hat G e r s h o m S c h o l e m in seine n » i 0 unhistori-
schen sätze über ka bb ala «6 hi ngewiesen. Im siebten dieser sätze zeigt S c h o l e m , welche v er hä ngn is ­
volle rolle die em a n a tio n sle h re , die sch ule Pl ot in s für die ka bbalah gespielt habe, und identifiziert
damit eine wich ti ge histor isc he quelle dieser V e r m i s c h u n g der zwei sp rachen, die in k ein em fall ver ­
m i s c h t werden dürf en, weil hier n ic h t gestalten der spräche, ihre a us fü hru ng o der ihre un te rsc h ie d­
lich e art ikulation in singen o der sprechen zur dehatre stellt, son d er prinzipielle und un-
übersteigliche unt erschied zwischen der spräche des sch öp lers i -ache der Sch öp fun g
a ufr ech t er halten werden m u ß . F r m a c h t in satz v zud em darauf n, da ß das >Ni cht s<
{tiyin) erst ergchni.s jenes uraktes der Sch öp fu n g ist, der <.v/~.w/\md ay idertreren läßt. W i e
aber verhält si ch dies zum s ch n a k t des s p r e c h e n s ?
Es geht hier n ic h t nur u m die ret ttm g d e r dialekrik in d e r s c h ö p h m g . J >k. k h r e v o m znuzunu die
lehre von der selbs tve rsc hr än kun g G o tt e s als V o r a u s s e t z u n g aller S c h ö p f u n g , h a t , radikal zu e n d e
ged acht, ja zur folge, da ß statt >Nic hrs< (g leichsam urbikl »negativer theologie«) ni cht s üb rigbleibt.
D i e lehre v o m zim zuni zu end e d e n ke n , hi eße dan n , den selb stmord G o t t e s für au sd en k ba r zu h a l ­
ten.'' D a s schöpf ung swort G o tt e s m ü ß t e da n n v er s tu m m en zugunsten des W id e rh a lls jenes uraktes
im z iw zu m G o tt e s , dessen echos alle S c h ö p f u n g durche ilen und wie die k os m is ch e hi n ter gr un d-
srrahlung zwar den ganzen k os m o s erfüllen, selbst abe r o h n e gestalt u n d o h n e verweis de m »gedan-
ken« des M o s e eben so fern sind, wie der klar heit des spi’e c h e n s v o m sinai, das zur Unterscheidung
eb en so wie zur e n ts c he id un g des bö re n s zwingt. S o l c h e ech os sind n i c h t der kl an ggrund, der unter-
gru nd der klänge, üb er die bisher n a ch g ed a c h t wurde, auch w e nn dieser ged ank e vielleicht ebens o
wie die m a n c h e n faszinierende nähe der bi ld et kabbalistische]' sc h öp fu n g st he ol o g ie und m o d e r n e r
a s t r o p h y s ik eine gewisse an zi ehungskrafr ausübt.
D i e U n k l a r h e i t der Unte rscheidu ng z w is c h e n der s p r ä c h e der S c h ö p fu n g und der s c h ö p fe r is c h e n
s p r ä c h e in der rest itut ion G o tt e s im >bu.cb< k o n n t e n ur sch wa ch gemildert werden durch eine leh ­
re der tikkunim , der »werke«, die den p la tz des individuellen geschöpfes in der Sch öp fu n g b e s ti m m t
in der restitution G o tt e s du rch die er fül lun g des >gesetzes< du rc h jedes einzelne geschöpf. Ab er
eben auch dieses >gesetz< löst sich auf i m nebel zwischen de m gottesz wan g zu m a g is c h e n Z e ich e n
m u ti e rt e r buchstaben. des bu che s u n d einer e r in ne ru n g, die unte r d e m g ew ic h t der int er pre tat io n
der Gegenstandslosigkeit\\\\tv und gerade der h ö c h s te n er k en n tn is , ihrer s ch a tte n in der g esc hi cht e
und in der spräche völlig verlustig gegangen ist.
zwei .sprachen ] 79

M a n wird k a u m feh lgehen, w e n n m a n die existenz des lehrhauses, die u n a u fg e b b a rk e it: m ü n d l i c h e r


tr aditio n, für die Tatsache in anschlag br in gt, da ß die j u d c n h e i t die Ver suchungen durc h eine
neu pl ato n is ch inspirierte re m y tb is ier un g der jüd is che n tra dit ion und auch die ka tas tro ph e des s a b -
ba tia n is m us üb er sta nde n hat. D ie se tr adition des lehrhauses erwies s ic h als sicheres un d feste re s
bo ll we rk geg en alle S p e k u la tio n , die a m end e zwisch en T h o r a , mystisc her schau G o tt e s und der
m ag ie des m y th o s n i c h t m e h r k la r unters che ide n k o n n te , als alle ra b b i n js ch en m a c h t w o r t e der
ha lacha es sein k on n te n .
M a n darf ja n ic h t vergessen: die b e s t i m m u n g e n des talmud sehe n die re ttu ng des bu che s nur im
ausnahrnefallvow Au ch das bisch unte rliegt d e m gesetz und der tr adition des spr echens, die v om
sinai ihren ausgang hat. A u ch das b u ch , stets in gefahr, selbst z u m bild, ja zu m g ol de n en kalb zu
werden, ist be grenzt von e i n e m spre che n, dessen sch öp fer is che folgen so sind, da ß berge e r s eb üt te n
werden und rauch wie von ei n em S c h m e l z o f e n aufsteigt. D e r ausgang und an fa n g des bu che s ist das
H Ö R E , n ic h ts anderes. D a s gespräch des lehrhauses» Widerhall der spur des buch es, ble ibt so und
n ur so der tra dit ion verpflichtet, die ni cht s sagen k an n als das » H ie r bi n ich.« des M os e.

1 au ch hier linder sich eine de nkw ür dig e »V e r s c h i e b u n g « : während Ex. 3 . 6 v om H er rn steht: »Ich
bi/3 der G o t t deines Vaters der G o t t Ab ra h am s , der G o tt Isaaks und der G o r t J a k ob s. « , spric ht
M.ose bei Sc h o en b e rg : » G o t t m e i n e r V ä ter ...«. D e r histor isch e abstand ha t die una uf lös li che folge der
ge n e ra tio ne n üb er ho lt ...
2 D em , 5. 3 f, 3 . 2 4
3 M a n k ö n n t e es durch au s m i t recht für ei n i g e r m a ß e n rätselhaft halten, da ß bis h eu te eine eigene
wissen sch af tliche disziplin, eine »Wissenschaft v om bu ch «, eine »bibliologie« n ic h t ent w ick el t, noch
weniger be tri eb en wird.
4 Talm ud , »Traktat Sa bb arb «, 1 15 a, b und 1 16 b, sh. M . - A . O u a k n s n , I.e livre brüle, paris 1 9 8 6 ,
dt. w e in h e i m , berlin 1 9 9 0 , s. 1 6 4 ff
5 cf. die diskussion der verse 3 5 und 3 6 des bu che s num eri
6 G . S c h o l e m , Z e h n un h is to ri sch e sätze über kabhala, in: ju d a ica 3» (ran k fu n am ma in , 1 9 8 7 ,
s. 2 6 9 f
7 ebd. S. 2 6 7 f
8 Li eß e sich von hier aus w o m ö g l i ch verstehen, wa ru m es N at h a n von G az a üb er ha u p t möglich
werden k on n te , die apostasie des Messias als den n ot w en di g en kern seines ö ffe n tli ch en wi rkens zum
ang elpu nk t seiner theo logie zu m a c h e n ; nich t nur das, auch verstellen, wnrui
ganz anders als die frühe kirc he - weiteste teile der vorderasiatischen und ■
erfaßte? U n d k an n man sich der er s ch üt te ru n g en tzi eh en, we nn m a n sieht, w
tischen ko n seq ue n ze n des s abb ati an ism us im kreis um J a c o b kran k je n e m sp.
»suhlen im dreck«, wie Qu i g n a r d es in aller er s chr ec ken de n d e u tl ic h k ei l fon
m en sind?

in der w üste I ..die botschaft


Sch oen b erg h at b ek an n term aß en seine oper n icht vollendet. D ie p artitu r endet
m it dem verzw eifelten ausruf des M ose: »D u wort, das m ir fehlt«. D as >wort<,
das dem M o se fehlt, ist n ich t der m angel der spräche, des buches, nicht: der
m angel des redens, n ich t einm al die m k o m m en su rab ilität des sprechens vor
der W i rk li c h k e i t. D ie Verzweiflung des M o se am ende des zweiten aktes der
oper rü hrt aus der erfalirung eines zustandes, in dem das zitat das >buch< zer­
stört. Es ist die V erzw eiflu n g angesichts der U nm öglichkeit eines k om m u n ik a-
tionszusam m enlianges, dessen b estim m u n g es wäre, daß d.as erbe sich im leb en ­
digen m itein an d er des >buches< m it dem gesprochenen, w o rt zum H Ö R E ! der
trad itio n w andelt. Es ist die Verzweiflung angesichts der U nm öglichkeit eines
k om m u nikationszu sam m en hanges, wie ihn das lehrhaus k o n stitu iert und tra­
d iert. D iesen zustand n en n t die tradition Bitul Beth Hamidrasch, die »aufhe-
bung des lehrhauses«, einen zustand, in dern es k einer natu rkatastrophe, k ei­
180 Ja k o b U llm an n

nes brandes und keines Verbots bedarf, um des Zugangs zum B u ch und zw tra­
d itio n grundsätzlich b erau bt zu sein.
G erad e die grenzenlose aussprechbarkeit läß t die trad ition un ter allen ausge­
sprochenen w eiten ja so tief versinken, daß w ir n ichts m eh r sehen, ja n ich t
m eh r >angesprochen< werden.
W enn dieser zustand die b o tsch aft des horeb, die botsch aft des sinai erfaß t hat,
ist dann die Verzweiflung des M o se n ich t allzu verständlich? D as >zeichen< von
w ölken- und feuersäule m iß in terp retierb ar als bild - G o tt nur »stärker« als die
g ötter ägyptens? .Das >w ort<, das nach Schoenbergs M o se nicht: gesagt, n ich t
einm al gedacht werden kann, ist das w ort des > un erhörten< . D ie Verzweiflung
b eg in n t da, wo sie n ich t m ehr h ö rt und der V ielstim m igkeit der interpretation
schutzlos ausgeliefert, zw isch en realität und bild zu u nterscheid en n ich t m ehr
in der läge ist.
»D u w ort, das m ir fehlt« ist n ich t ausdruck eines kün stlerisch en U nverm ögen s
des au to rs. D ie eröffn u n g der spur, che S ch oen b erg in form einer oper un ter ­
n om m en hat, fü h rt fo lgerichtig in diese aporie der V e rp flich tu n g zur artikula-
tio n des nicht-rnehr-ausd rü ckbaren.
U m so m erkw ürdiger ist das faktu m , daß S ch oen b erg sehr w ohl den text, die
wortedes d ritten aktes vollendet hat. E r h at diese w orte n ich t vertontu.nd dies
fü h rt uns auf den anfang der oper zurück. D ie grenzüberschreitung der d irek­
ten rede G ottes in der oper erhält ihren grundsätzlichen charakter durch che
präm isse, die musik, tö n en d e formen, einer spräche, die vielleicht tiefer reich t
als alles gesprochene rnenschenw ort, kön n e das gem einsam e m ed iu m sein, in
dem die spräche G o ttes und. die spräche des m enschen in. unauflöslicher poly-
p h o n ie erklingen. D eshalb k ö n n e, deshalb m üsse sie in aller tech n ik und kunst-
fertigke.it: so w eit nach vorn schauen wie nur m öglich. .1 rcand, son ­
dern m edium für das zeugnis zu sein, daß neben aller 1 öpferische
w ort, das Andere., im. hören anwesend ist.
W oh l bedarf es dieser anscrengung steter em eu eru n is und m it ih m
der technik und ku n stfertig k eit in der m usik. Sei : wie vielleicht
w enige andere auch, den schm erz dieser V erp flichtu ng der kunst gefühlt. Und
d en n och , noch in der radikalsten ehrlichkeil: k o m m t sie n ich t w eiter als zum
ausdruck des Z e u g n iss e s, daß ihr das »w ort fehlt«, daß sie das unsagbare nicht
sagen kann und ihr die Verfügung fehlt, die trad itio n zur tradition. des wahren
zu zwingen.
W e n n wir ernst m achen in der m usik, dann hören wir im Widerhall der spur
aus dem klang-zeitraum unw eigerlich jen e unterw eit des klanges, das seufzen
aller kreatur und m it ihr den ebenso unhörbaren m angel, ihm zu reinem aus­
d ru ck zu helfen. Es bew eist daher den realism us Luigi N onos, wenn er sein
großes »p rom eteo«-p rojek t n ich t oper, sondern »tragedia dell’ascolfo« nennt“.
W en n w ir ernst m achen in der m usik, d ann hören wir die tragische klage, daß
wir die antwort: a u f die schrecken und die düsternis, auf die jenseits ch ro n o ­
logischer gesch ichte verw eilende, gleichsam die radikalste art des präsens k o n ­
stituierende tatsache des todes n ich t zu geben verm ögen. D ie stille, die aus d ie­
zwei sprachen 181

sem faktu m d ringt, beru higt n ich t, sie gefriert im S tarrk ram p f w ie Lots weib
im g erich t über sodom und gom orra. N o ch im U n terg an g des Verbrechers b rich t
die klage sich bahn, daß das versprechen des lebens, größer als alle m en sch li­
che schuld, tragisch an die schuld gefesselt, dem tod überantw ortet ist.
K ö n n en w ir m ehr sagen? K ann alle m u sik darüber h inausfü hren, ihren realis-
m us irn zeugnis solcher w elt-tragöd ie zu erweisen?

E r w ar beim N iehls angehm gt m u l sagte sich m m , d a ß das N ichts


vielleicht das sei, was Ira g en w eder sich selbst- noch än dern stellt.
Er blickte nach rechts u n d nach links, sah a b e r nichts; hörte auch nichts.
E r fragte sich nicht mehr, was er d a zu schaffen habe,
w ie und. a u f welchen Umwegen er h ierh er gelangt sei.
Er la u sc h te...
»Seltsam , diese Stim m e«, sagt sie.
»M an c h m a l erken ne ich sie als d ie deine,
dan n w ieder kom m t sie m ir derart anonym vor,
d a ß sic uns beid e unkenntlich macht.«

E d m on d fabes
Es n im m t seinen L a u f

in d er w ü ste I I - das g esetz


Am ende der beiden werke, der op er Schoenbergs und d er tragödie N onos g ibt
es eine m erkw ürdige koinzidenz der texte. Sch oenbergs oper sollte m it den
w orten schließen: »Aber in der wüste seid ihr unüberwindlich und w erdet das
ziel erreichen. V ereint m it G o tt.« Lnigi N onos werk schließ t unte
schrift N O M ü X (»gesetz«): » iioX X iö v dvofAdTü)V jxopc|}T| p i a (
[und dochJ von einer gestalt«) ... HD E N K J, D K SER ’J'O 1.NVJ
(»... und ist in der wüste unbesiegbar«),
Schoenberg hat in seiner kom p ositio n dieses ende n ich t erreicht; N ono w oll­
te ..so noch in der ersten fassung des » P ro m e te o « ... diesem , in der paru tu r sM-
sirno secondo gen an n ten , satz seine kom p ositio n »das atmende klarsein « iolgen
lassen.
E in seltsam er treMpunkt des erbes zweier sprachen, zweier Ü berlieferungen. Am
u n -o rt weglos flirrender hitze, was ist da anderes zu sagen als: die hand voll
sand: das leben. D ie hand voll sand: der tod. D azw ischen, die begegnun g aus
der b ü rd e doppelten erbes, ist n ich t noch sie nur trugbild einer stim m e, fata
rnorgana des Änderen, die in der an on y m ität alle k en n tlich k e it verw ischt?
S ch oen b erg n e n n t die >wüste<, er n en n t selbst den b renn end en d ornbusch im
text des n ich t m ehr verto n ten dritten aktes der oper m erkw ürdigerw eise ein
>bildc. V ie lle ich t hat er die gefahr gesehen, n och die w üste zum blendw erk
der w ünsche zu m achen . M an m u ß also fo rtsch reiten von der Vorstellung, der
die leere der »wüste« zur projektionsfläche der Offenheit und des m ög lichen ,
p ro jek tion sfläch e der stille und Sinnbild des unbegrenzten nichts ist. Erst: jen ­
seits dessen wird die wüste zum ort der begegnung, weil sie ein o rt der en t-
182 Ja k o b U llm an n

Scheidung war: der »vielnamige N O M O S « verkündet das, was in im m erglei-


cher gestalt der letztliche inhalt aller bem ühung des selbsterkennens aus der
w iedererinnerung ist: den tod. D eshalb ist die affizierung des m enschen vom
Widerhall aus d em klang-zeitraum eine »tragödie des hörens«. Sie ist es m it
recht. Sie kann n ich t anders, als das bellen und pfeifen, das kreischen, geheul
und gebrüll zu bezeugen, das M atth ias G rünew ald gem alt hat und das die väter
der w üste bezeugen. U nh örb are orgien des krachs der w üste aus der unterw eit
der klänge, zu der sich die anon ym e klage aller kreatu r in der hoffnung a u f ein
echo steigert. N ono s weg in die Offenheit unverfügbar leiser klänge ist von die­
ser klage gezeichnet. Jenseits gesp rochenen w ortes, das der klage ihre nam en
rufen k ö n n te, ist dem klang der m usik die V erpflichtung aufgegeben, das Zeug­
nis der klage n ich t zu verleugnen. In der Offenheit unverfügbar leiser töne sucht
das zeugnis der spur aus der unterw eit der klänge das echo dessen, was über
die em pfind ung, über das hören des körpers hinausgeht. In der vernehm bar-
k eit der spur des unaussprechlichen seufzens w ird ein versprechen hörbar, das
in der wüste gegeben wird: die anw esenheit einer stim m e, deren zu k u nft gegen­
w ärtig ist und darum das zeugnis übersteigt. D ies zu bezeugen, n ich t es zu spre­
ch en , ist der gegenständ der m usik.
W e n n m usik also im hörbaren das unhörbare bezeugt und n ich t spricht, dann
erh offt sie sich eine antw ort. E in e antw ort, die nie die alte sein kann, sondern
nur antw ort b leib t, w enn sie von generation zu generation, über jah rh und er-
te w ieder und w ieder neu fo rm u liert wird. Als Iektion der w üste, m o tette von
D ufay, ricercar von B ach oder oper von M o zart, m usik m en sch lich en aterns
oder von in stru m en ten , spräche, die vergangen, im m er neu tö n t und auf ihre,
auf unsere antwort: w artet.
D ies ist keine ästhetik, kein program m . D ie affizierung des hörens durch, die
geste unaussprechlichen seufzens an eine »negative ästhetik«, gar eine »ästhe­
tik des häßlichen« zu verraten, ist kaum w eniger verhängnisvoll als der versuch,
sie eingängig auftrum pfend zu übertön en.
Wohl, g ibt es eine T€XVT| (»techni«) der Überredung, e i n e ästhetik d e r t r a g ö d i e .
V on der { i u r ö r f c j x s aber führt kein w e g zu dem schm erz u n d z u der erhabe­
nen freud.e, dem. un n ach ah m lich en niederschlag, den d e r sch ock des Bundes
zu rü ck läßt. K ein e ausgeklügelte kü n stlerisch e S t r a t e g i e , nicht: einm al das
from m e w ort wird sie erreichen k ön n en . Alle erzählung lehrt nur den u n ein ­
holbaren m angel, sie erzählt, daß es an Fröm m igkeit g e b ric h t..schon dies über­
steigt die oper.
S ch oen b erg hat versucht, n och einm al die erzählung zu d urch brechen und die
grenze zur direkten rede zu überschreiten. Er hat sich dazu, auch des auszugs
aus der m usik, des auszugs aus der rnelodie in die w üste gesprochenen w ortes
bed ient. A ber auch hier m u ß te sein weg ein fragm entarischer b leiben , er ist wie
der fragm entarische charakter des ganzen Werkes kein Zeichen des scheiterns,
gar eines Unvermögens, er ist das notw endige signurn, daß wir, sow enig wir
das absolut: konkrete vollziehen k ö n n en , die wahre spräche n ich t sprechen,
sondern nur hören kö n n en . Solches h ören , solche fähigkeit, n och dort berü hrt
zwei sprachen ] 83

zu w erden, wo die W irklichkeit alle m ö g lich k eit der W ahrnehm ung übersteigt,
gebiert eine trad ition des hörens. Es k ann zum zeugnis w erden, daß das w ort
der trad ition seinerseits n ich t u n gehört verhallt.
U nd es gibt zeugnis davon, daß in ihrer in k om m en su rab ilität, gerade in ihrer
verschied enheit alles sprechen und jed e geste des klanges eingedenk dessen zu
sein haben, was sonst ohn e W iderhall bliebe: daß wir antw orten m üssen, auch
da n och , wo alle antw ort in die frage m ü n d et, der keine antw ort, sondern die
W irklichkeit selbst gegenübersteht.

D i e zitate wurde n fol g en d en we rke n e n t n o m m e n :

E d m o n d J abe s
1 D as Buch d er Fragen, Frankfurt am m ai n 1 9 8 9 , o h n e S e i t e n z a h l (s. 9)
2 Es n im m t seinen Lauf, Frankfurt am m a i n 1 9 8 1 , s . l 4 f
3 Ein Frem der m it einem klein en B u ch im term A rm , m i i n eh en 1 9 9 3 , s. 6 3
4 Es nim m t seinen Lauf, s.7 0 f

Pascal Q u ig n ar d
Petits 'Tmiihy IV, p. 22- ..2 7 , M ae g h edit. 19 9 0 , übersetzt nach: E ld ee M nsieale , ed. par C h ri s ti n e ß u e i -
G l u c k s m a n n et M ic h a el Levinas, paris 1 9 9 3 , s, 1 14 ff
Juan. Allende-Blin w urde 1 9 2 8 in Santiago de C h ile geboren. E r stam m t ans
einer spanisch-französischen Fam ilie. K o m p o sitio n su n terrich t hatte er bei sei­
n em O n k e l P. EI. A U ende-Saron, der dem Kreis um D ebussy angehörte, und
dann bei Fre Focke, der bei A n to n W ebern studiert hatte. 1 9 5 1 iieß er sich auf
p jn p fe h lu n g von H erm an n Scherchen in der B und esrep ublik D eu tsch lan d nie­
der. Im R ahm en der D arm städ ter Ferienkurse besuchte er den U n terrich t von
O livier M essiaen.
Jü n g ste W erke sind sein »Streichquartett« und Walter Mehring —ein 'Win­
termärchen —Imaginäre Szene für Bariton und Kammerorchester, ein A uftrags­
werk der B erlin er Festw ochen, das in der P h ilh arm o n ie uraufgefü hrt wurde.
A u ßerd em das rad iophone S tü ck Nachtgesänge, das der S W R B ad en -B ad en im
M ärz 2 0 0 1 erstm als gesendet hat.

Friedrich Cerha geb. 1 9 2 6 in W ie n , dort Studium an der A kad em ie für M u sik


(G eige, K o m p o sitio n , M usikerziehung) und an der U niversität (G erm anistik,
P hilosop hie, M u sikw issenschaft). 1 9 5 0 Dr. phil. 1 9 5 8 m it K u rt Schwertsik
G rü n d u n g des E nsem bles »die reihe« für N eue M u sik. Ab 1 9 5 9 Lehrer an der
H och sch u le für M u sik in W ien , 1 9 7 6 - 1 9 8 8 Professor für K o m p o sitio n , N o ­
tation und In terp retation neuer M usik. Ab I 9 6 0 ausgedehnte in ternationale
T ätigk eit als D irig en t bei führenden In stitu tio n en zur Pflege neuer Musik.,
Festivals und O pernhäu sern. Ab 1.962 H erstellung des 111. A kts der O p er Lulu
von A lban Berg (U A 1.979 Paris). U m fangreiches k om positorisches S chaffen
(O rch ester-, C h o r-, E n sem ble- und Solowerke). Bühnen 1 werk (U A
1 9 8 1 W ien er Festw och en), Baal {Uh 1981 Salzburger t I j Der Rat-
u ifa n>er (U A 1 9 8 7 Steirischer H erbst), len /•’/, w /wn / / , / VUA. 2 0 0 2
( i i n )per W ien ), Zahlreiche K om position;,.‘uh u g i mu i ,

Peter Hirsch, Stu d iu m in Köln, anschließend Assistent von M ichael Gielen, an


der Frankfu rter O p er; später dort 1. Kapellm eister. O pernproduktionen in
D eu tsch lan d , E ngland und H ollan d ; besonderes E ngagem en t für B erlioz,
Ja n ä ce k , W ien e r Sch u le und L. N ono. Z ah lreiche C E E P rod u k rion en u .a . m it
M ahler, B rab m s-Sch ö n h erg , Ja n ä ce k , 6 . A. Z im m erm a n n und N on o . Z ahl­
reiche U raufführungen von N o n o , B. A. Z im m erm an n , Lachen m an n , Z en-
der, H aas u .v .a.

Ulrich /6vwz<?rstudierte M usikw issenschaft und L iteraturw issenschaften an der


U niversität H am b u rg und an der Indiana University, B lo o m in g to n , und p ro ­
m ovierte bei R ud olf Stephan über Alban Berg als Schüler Arnold. Schernbergs.
S e it 1 9 9 5 ist er M itarb eite r der Arnold Schernberg Gesamtausgabe in B erlin.
Z u r V orbereitung der kritischen Ausgabe der Gurre-Lieder verbrachte er rneh-
D ie A u toren 185

tete M o n ate als »V isiting Scholar« am G rad u ate C en te r der C ity U niversity
und an der P ierp o n t M org an L ib rary in N ew York. K räm er nahm an zahlrei­
ch en Kongressen im In - und A usland teil und wurde zu G astvorträgen an d eu t­
schen und am erikanisch en U niversitäten eingeladen. Z u seinen P u b lik ationen
zählt die k ritisch e Ausgabe von A lb an Bergs K o m p ositio n en aus der Stu d ien ­
zeit sowie Aufsätze zu B rahm s, Berg, S ch ö n b e rg und Piazzolla.

Stefan Litwitb geb. in M e x ico C ity ; Stu dien in Klavier, K o m p ositio n und In te r­
p retation (u. a. bei C h risto p h Keller, Jü rg W y tten b a ch und W alter Levin.) 1 9 9 3
P ro m o tio n an der State U niversity o f N ew York; in tern ation ale K o n zerttätig ­
k eit als Solist und K am m erm u sik er; ausgeprägtes E n g ag em en t für M u sik des
2 0 . Jah rh u n d erts; zahlreiche U rau ffü h ru n g en ; Fernseh- und R u n d fu n k p ro ­
d u ktion en in E uropa und den U SA ; C D -P ro d u k tio n en bei: D eu tsch e G ra m ­
m o p h on , A u vid is/ M ontaign e, A rte N ova, C ala R ecords, epo, collegno, telos
records. N euere K o m p o sitio n en : Sonatay destruccion.es (N eruda) ( 1 9 9 8 ) , Lyon
1943 (Piece de Resistance) ( 1 9 9 9 ) , Der Nachgeborene {B rech t) (2 0 0 0 / 0 1 ). P ro­
fessor an der H o ch sch u le des Saarlandes für M u sik und T h eater sowie regel­
m äßiger G astdozent an verschiedenen U niversitäten und Festivals in Europa,
Israel und den U SA .

Robert HP Platz, geb. 1951 in B ad en-B ad en. K om positionsstudium bei W o lf­


gang F o rm er und K arlhein z S to ck h au sen , als D irig e n t S chü ler von Francis
Travis.
D irigate und A ufführungen seiner W erke in ganz Europa und Japan , Im
Feedback-Studio- Verlag erschien der Band Schriften zu Musik 1979 .. 1993', im
Pfau-Verlag ist ein Band m it S ch riften über Robert: H P H atz in V orbereitung.
Zah 1re ic h e C 1.) - E i n s p i e .1u nge n .

Monika Schwarz-Danuser, Studium der M usikwissenschaft, R


Pädagogik in K öln und Berlin; P ro m o tio n bei Carl D ahlhau
analoge Strukturen im französischen Theater. M ita rb e it am Brock1*'/ > i'/t • <>
Lexikon; zahlreiche A rtikel in Pipers Enzyklopädie des Musiki!./,a./cn, / .i.jI..i
»M elodram « in der neuen M.GG; D o z en tin für M u sikgeschichte an d<
b isch öflich en K irchenm u sik schu le B erlin. 1 9 9 7 Sym posiu m sleitun g >
H ensel geb. M end elssoh n Bartholdy« (m it B eatrix B orchard) = Kongreßoencm,
Stu ttg art 1 9 9 9 . Forschungsschw erpunkte: M elod ram , M u sik im N ation also­
zialism us, M u sik und jü d ische A k k u ltu ra tio n , M ariendar:Stellungen in der
M usik.

Jakob Ullmann, geb. 1 9 5 8 in Freiberg/Sa.; seit 1 9 8 2 freischaffend als K o m p o ­


nist und A utor in Berlin .

Hans R udolf Zeller, geh. 1 9 3 4 in B erlin . Studien in Freiburg und K ö ln . Seit:


1 9 5 9 Essays, A rtikel, Ü bersetzungen und experim entelle h exte. E ntw u rf einer
186 D ie A utoren

k in em ato lo g isch en L iteratu r in verschied enen D im en sio n e n : Blablamata


(1 9 6 3 ); Textbänder, Hand-Schriften, Textformeln für S p rechorg ane; kinem
»kontexte« ( 1 9 6 5 ) , kinem X E d itio n e n : D ie te r Sch n eb els Denkbare Musik
(1 9 7 2 ) ; Cage Box (1 9 7 9 ) . X enakis-A usstellung (B o n n 1 9 7 4 ). V eran staltungs­
reihe über »M u sik der anderen T rad ition« (B o n n 1 9 8 1 ); über das G esam tw erk
von A lban B erg (K alku tta 1985/ M ü n ch e n 1 9 8 6 ), Edgard Varese und F erru c­
cio B u son i (Sofia 1 9 9 4 ). Seit 1 9 7 6 M ed ien k o m p o sitio n en {Marx-MM; Schall■
plattenmusik ); Sp rechschriften ( DENKFIGUR) und Stü ck e für S tim m (e) und
D iascrip to r(en ) {DIA-LOG; ohne abzusetzen/Impulse; Lesefigur; Linien/Wellen
für vier A kteu re); m it In stru m e n t(e n ): Klavierartikulation; Skizzenbuch B X .
In den 9 0 e r Jah ren V ortragsreihen über w erkspezifische M ik ro tonsystem e und
M o d elle der M e d ien k o m p o sitio n ; Sendereihe über Kriterien der experimentel­
len Musik. W eitere A rbeiten zum P rojek t S ch rift-L a u t-M u sik : Husserltöne für
Sprecher un d F o lien p ro jek tio n en ; Lesungen m it d em D iascrip to r in F rankfu rt,
D arm stad t, Salzburg und bei den L inzer »notaten«; V id eo p ro d u k tion en : Bild­
störung; Scriptophonie. Ausstellung der bim ed ialen , teilweise auch ins In tern et
gestellten Sprechschriftbilder.
Bisher sind in der Reihe M usik-K onzepte erschienen:

C l a u d e D eb u s s y Fe l i x M e n d e l s s o h n A le ks a n dr S k r j a b i n und die
(1/2) 2. Aufl., 1.44 Seiten Bartholdy S k rj abin isten
IS B N 3 - 9 2 1 4 0 2 - 5 6 - 5 (14/15) 17 6 Seiten (32/33) 190 Seiten
ISBN 3 -8 8 3 7 7 -0 5 5 -8 IS B N 3 - 8 8 3 7 7 - 1.49-X
M ozart
Ist die Zauberflöte ein D ieter Schnebci Ig o r St ra w in sk y
Machwerk? (16) 138 Seiten (34/35) 13 6 Seiten
(3) 2. Aufl., 7 6 Seiten ISB N 3 -8 8 3 7 7 -0 5 6 -6 ISBN 3-883 7 7 -1 3 7 -6
ISBN 3 -9 2 1 4 0 2 -6 5 -4
J . S . Bach Sehöxibergs V e r e i n tiir
A lb an B e rg Das spekulative Spätwerk m u s i k al i s ch e Pri vä tau f-
Ka mmermusik I (17/18) 2. Aufl., 1 32 Seiten Führungen
(4) 2. Aufl., 7 6 Seiten IS B N 3 - 8 8 3 7 7 - 0 5 7 - 4 (36) 11 8 Seiten
ISBN 3-883 7 7 -0 6 9 -8 ISBN 3-88377-170-8
K a r lh e i n z S to ck h a i i s e n
Richard W agner .. .wie die Zeit ver ging... Al eks an dr S k r j a b i n oükI
W ie antisemitisch darf ein (19) 9 6 Seiten die SkrjahinisCen
Künstler sein? ISB N 3-88377-084-1 11
3. Aufl., 1 32 Seiten (37/38) 1 8 2 Seiten
IS B N 3 - 9 2 1 4 0 2 , - 6 7 - 0 Luigi N ono I S B N 3 - 8 8 3 7 7 - 1 7 1 -6
(20) 128 Selten
Ed ga r d Vare se IS B N 3 - 8 8 3 7 7 - 0 7 2 - 8 Ernst K ren ek
Rückblick auf die Zukunft (39/40) 176 Seiten
(6) 2, Aufl., 1 30 Seiten M odest Musorgskij ISBN 3 -8 8 3 7 7 -1 8 5 -6
IS B N 3 - 8 8 3 7 7 - 1 5 0 - 3 Aspekte des Opernwerks
(21) 110 Seiten J o s e p h Haychi
Le os Ja n ä c e k ISBN 3 -8 8 3 7 7 -0 9 3 -0 (41) 9 7 Seiten
(7) 1 34 Seiten IS B N 3 - 8 8 3 7 7 - 1 8 6 - 4
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(9) 2. Aufl., 1 04 Seiten (25) 116 Seiten Fry deryk C h o p in
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(1 1) 2. Aufl.) 1 1 5 Seiten (28) 1 28 Seiten D o m e m c o Scarlattl
IS B N 3 - 8 8 3 7 7 - 2 9 5 - X ISBN 3 -8 8 3 7 7 -1 3 1 -7 (47) 121 Seiten
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(12) 127 Seiten Zur The or ie der Auf-Kihmng M o r t o n F el dm an
IS B N 3 - 8 8 3 7 7 - 0 4 7 - 7 (29/30) 1 30 Seiten (48/49) 1 86 Seiten
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ISBN 3 -8 8 3 7 7 -0 4 8 -5 (31) -- vergriffen.. Die Passionen
(50/51) 139 Seiten
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