Ringer
Arnold Schönberg
Das Leben
im Werk
Arnold Schönberg - Das Leben im Werk
Alexander L. Ringer
Arnold Schönberg
Das Leben im Werk
2002
Verlag J.B. Metzler Stuttgart ·Weimar
Bärenreiter Kassel
Gemeinschaftsausgabe der Verlage J. B. Metzler, Stuttgart und Bärenreiter, Kassel
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Vorwort VII
Chronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Zur Einleitung: Ein österreichisch-jüdisches Künstlerschicksal . . . . . . . . . . . . 65
Lehre als Sozialreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Vergangenheit und Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Klang und Farbe, Melodie und Linie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Harmonie und Kontrapunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Bearbeitung als Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Wort und Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Zusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
Ein "Drama mit Musik" und "Dreimal sieben Melodramen" . . . . . . . . . . . . . 168
Der kategorische Imperativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
,,Atonalität" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
Zwölftonalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
Intermezzo: "Zeitoper" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
Instrumentalkomposition "mit zwölfTönen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
"Meine Schule"- das WienerStreichquartett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Zwölftonlehre: das Ei des Kolumbus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Religiosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
Rückkehr in die Zukunft ("Ma fin est mon commencement") . . . . . . . . . . . . 266
Tonal und Zwölftonal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Arnold Schönberg - Amerikaner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
Zwölftonvielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Die letzten Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Arnold Schönberg war seine Zeit. Denn dieser Komponist oder vielmehr dieser auf
zahlreichen Gebieten tätige Künstler spiegelte in seinem Leben, in seinem Werk die
Zeit so genau und vielfältig wider, daß sein Schaffen zumindest in psychologischer und
soziologischer Hinsicht eine Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar-
stellt. Aus dieser unleugbaren Tatsache ergeben sich für den Chronisten zahlreiche Pro-
bleme, die der vorliegende Band ebensowenig zu lösen vermochte wie die inzwischen
umfangreiche Schönberg-Literatur im allgemeinen.
Da ist zunächst das Schicksal des Menschen Schönberg, der - als Jude geboren,
später evangelisch getauft, dann offiziell zum Judentum zurückgekehrt- seinem jüdi-
schen Schicksal nicht zu entgehen vermochte, ja eigentlich nie zu entgehen versuchte.
Es ist ein Thema, dem sich der Autor verhältnismäßig ausführlich in einigen seiner
englischen Studien gewidmet hat, das im übrigen auch einen weitaus jüngeren, den
allzu früh verschiedenen deutschen Musikwissenschaftler Michael Mäckelmann, be-
schäftigte. Obwohl es sich ganz offensichtlich erübrigte, in diesem Zusammenhang
noch einmal auf Einzelheiten einzugehen, schien es dennoch unerläßlich, hier wenig-
stens eine resümierende Zusammenfassung vorzulegen. Andererseits bot eine verhält-
nismäßig ausführliche Chronik die Gelegenheit, wichtige Daten politischer Ereignisse
sowie literarischer und anderer künstlerischer Entwicklungen in Erinnerung zu brin-
gen. Das Resultat war allerdings nicht nur ein weitaus größerer Umfang als der einer
nur kurz orientierenden Chronik, sondern auch eine umfassendere Skizzierung eng
miteinander verbundener Ereignisse, die für das Verständnis von Schönbergs Werde-
gang von grundsätzlicher Bedeutung erschienen. Dieser Überblick sollte dem interes-
sierten Leser zumindest den nötigen Rahmen für ein besseres Verständnis der folgen-
den Kapitel vermitteln, gehen sie doch im Fall Schönbergs weit über das hinaus, was
man im allgemeinen von einem Komponisten erwarten würde.
In diesem Buch ist daher verhältnismäßig viel von Dichtung und Malerei, von
Religion und Pädagogik und anderen Interessen die Rede, die dem Komponisten Schön-
berg eng am Herzen lagen und einen großen Teil seines musikalischen Schaffens be-
stimmten. Es gab kaum ein geistiges Gebiet, mit dem er sich nicht beschäftigte, was
ihn jedoch nicht hinderte, auch handwerkliche und sonstige praktische Interessen zu
verfolgen. Man denke nur daran, daß er, ein Freund des Wiener Architekten Adolf
Loos, unter dem Eindruck von aus der Wiener Werkstatt hervorgegangenen Arbeiten
alle möglichen Dinge entwarf und sogar selbst anfertigte - u. a. Möbel, Spielkarten,
Straßenbahnfahrscheine und Notenschreibmaschinen. Kurzum, man wäre versucht,
von einem Universalgenie zu sprechen, wenn das nicht eine allzu oft mißbrauchte
Bezeichnung wäre. Bei seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten 1933 wurde er je-
denfalls allgemein als "Einstein der Musik" begrüßt.
Die weitaus größte Anzahl von Arbeiten über Arnold Schönberg befaßt sich
mit analytischen Problemen, insbesondere in Bezug auf die von ihm entwickelte und
VIII Vorwort
Angeles, ebenso wie Steven Whiting durch die Materialsammlung für die Chronik
besonders verdient gemacht. Ohne die stets freundliche Hilfe des Personals der Musik-
bibliothek an der University ofillinois gäbe es andererseits kaum Fußnoten. Und ohne
die unentwegte Unterstützung meiner so lange Zeit geduldig wartenden Frau wäre
überhaupt nichts zustande gekommen.
Alexander L. Ringer ist am 2. Mai 2002 im Alter von 81 Jahren gestorben. Er hat das
vorliegende Buch noch abgeschlossen; sein Erscheinen zu erleben war ihm verwehrt.
Bei einem letzten Deutschland-Besuch habe ich ihn am 17. April2002, zwei Wochen
vor seinem Tod, in Frankfurt am Main getroffen. Bei dieser Gelegenheit sind wir alle
noch offenen Fragen des Textes - endgültige Auswahl der Notenbeispiele, Nachweis
von Anmerkungen und die Redaktion des Vorworts - durchgegangen. Was im Druck
vorliegt, entspricht seinem letzten Willen. Zu danken habe ich Ringers amerikani-
schem Schüler Edward Hafer, der bei der Besorgung der Notenbeispiele behilflich war,
UHrich Scheideier von der Arbeitsstelle der Arnold-Schönberg-Gesamtausgabe, der das
chronologische Werkverzeichnis nochmals überprüft hat, sowie Dr. Thomas Emmerig,
der das Verzeichnis der zitierten Literatur sowie das Register erstellte.
Die hier folgende Chronik strebt nicht danach, die musikgeschichtliche Entwicklung
zu Lebzeiten ihrer zentralen Figur, Arnold Schönberg, stichwortartig, aber mit einer
größtmöglichen Anzahl von Daten und Fakten zu skizzieren. Stattdessen versucht sie,
im beschränkten Rahmen einer solchen Anlage ein verhältnismäßig umfangreiches Bild
von der Vielzahl allgemein kultureller und politischer sowie rein musikalischer Ereig-
nisse zu vermitteln, deren Erfassung im Fall Schönberg zu wirklichem Verständnis un-
erläßlich scheint. Denn das, was Schönberg im Laufe von drei Generationen persön-
lich mitgemacht hat, steht in der Musikgeschichte wohl einmalig da, zumal er sein
Zeitalter, das zwei verheerende Weltkriege einschloß, weder als ein gefeierter Künstler
wie Richard Strauss erlebte, der sich von seinen deutschen Mitbürgern nur durch außer-
gewöhnliche Leistungen unterschied, noch wie der selbst-exiliterte Kosmopolit Stra-
winsky, der seine nationalen Wurzeln dennoch stets zu betonen vermochte, sondern als
ein vielgeschmähter Einzelgänger, den die Mitwelt nie vergessen ließ, daß er, Sprößling
einer emanzipierten jüdischen Familie, auch Jude blieb, nachdem er zum Christentum
übergetreten war. Das Leben Schönbergs hat insofern paradigmatische Bedeutung für
eine ganze Zeit, als das Kulturleben in Zentraleuropa während seiner Hauptschaffens-
periode zweifellos stark von Juden beeinflußt war, deren vielseitige Beiträge zur deutsch-
sprachigen Kunst und Wissenschaft dann gerade jenen Rassenwahn mitzuentfachen
bestimmt waren, der Millionen in den Tod und Schönberg ins Exil trieb. Angesichts
dieser beispiellos tragischen Umstände schien es ratsam, das Leben des Komponisten,
Schriftstellers, Malers und Lehrers Arnold Schönberg der jeweiligen geschichtlichen
Lage entsprechend zu beleuchten. Literarische Hinweise häufen sich daher besonders
in Verbindung mit den Wiener und Berliner Jahren, die mit dem unerhörten Auf-
schwung der deutsch-jüdischen Literatur zusammenfielen. Andererseits verschiebt sich
das Gewicht ab 1933 in Richtung Politik allein darum, weil Schönbergs späteres zioni-
stisches Engagement für seine amerikanische Tätigkeit ausschlaggebende Bedeutung
gewann. Mit anderen Worten, man erwarte keine ausgeglichen systematische Über-
sicht. Sie entspräche nicht den Tatsachen.
schreibt Tartarin de Tarascon und Thomas Hardy Under the Greenwood Tree.
In Wien kommt das Triumphlied des soeben zum künstlerischen Direktor
der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde ernannten Johannes Brahms zur
Uraufführung sowie die fMoll-Messe von Anton Bruckner. Paris hört zum
ersten Mal Bizets Musik zu Daudets Schauspiel L'Arlesienne und seine exo-
tische Oper Djamileh. Es ist auch das Geburtsjahr von Ralph Vaughan
Williams.
1873 Die Finanzpanik, in Wien begonnen, greift auf andere Handelszentren über
und führt zu antisemitischen Ausbrüchen. In Deutschland wird die Mark
zur offiziellen Währung. Napoleon III. stirbt in London, und die deutschen
Truppen verlassen Frankreich. Deutschland, Österreich und Rußland schlie-
ßen das Drei-Kaiser-Abkommen. Anton Bruckner vollendet seine Wagner
gewidmete Dritte Symphonie und wohnt der Uraufführung seiner Zweiten
bei. Von Brahms werden die Streichquartette op. 51 und die Haydn- Vtzria-
tionen op. 56 uraufgeführt, von Liszt das Oratorium Christus und von
Tschaikowsky die Orchesterfantasie Der Sturm. Eine Sternstunde im Be-
reich der Musikliteratur ist dem Erscheinen des ersten Bandes von Philipp
Spittas Bach-Biographie zu verdanken. Inzwischen veröffentlicht Nietzsche
Unzeitgemäße Betrachtungen, Walter Pater Studies in the History of the Re-
naissance und J. C. Maxwell seinen Treatise on Electricity and Magnetism.
Geboren sind Max Reinhardt, Max Reger und Sergej Rachmaninow.
1874 Am 13. September wird Arnold Schönberg in der Wiener Leopoldstadt,
Obere Donaustraße 393, geboren. Die Beschneidung nach jüdischem Ritus
findet eine Woche später statt und wird unter Nummer 8023 im Register
der Wiener israelitischen Kultusgemeinde vermerkt. Im seihen Jahr geboren
sind sein Jugendfreund David Josef Bach, der spätere Begründer der Wie-
ner Arbeiter-Symphoniekonzerte, Kar! Kraus, der scharfzüngige Kritiker und
zeitweilige Kampfgenosse, und Charles Ives, der amerikanische Komponist,
den er in seinen letzten Jahren besonders verehrte, sowie Hugo von Hof-
mannsthal, Josef Suk und Gustave Holst. Die Wiener Komische Oper öff-
net ihre Pforten am Schottentor. Bruckner vollendet seine Vierte Sympho-
nie, und Johann Strauß' Fledermaus tritt ihren Triumphzug in Wien an,
während der Wagner-Kreis um Peter Cornelius trauert. In Sankt Petersburg
wird Mussorgskys Boris Godunow uraufgeführt, in Mailand Verdis Requiem.
Kar! May veröffentlicht seine ersten Abenteuerromane. An weiteren Neuer-
scheinungen bringt das Jahr }ürg ]enatsch von Conrad Ferdinand Meyer,
Die Messalinen Wiens von Leopold von Sacher-Masoch, Brand von Ibsen,
Romances sans paroles von Verlaine und Flauberts Tentation de Saint-Antoine.
In Paris stellen die Impressionisten zum ersten Mal aus.
1875 In Amerika läutet Alexander Graham Beils Erfindung des Telephons das
Zeitalter der Kommunikation ein. Mit dem Gothaer Kongreß der neu-
gegründeten Sozialistischen Arbeiterpartei einerseits und der Weihe des Her-
mann-Denkmals andererseits künden sich für Deutschland schwerwiegen-
de politische Konflikte an. Die Türken kämpfen mit Aufständen in Bosnien
Chronik 5
in Leipzig statt. Paris hebt Massenets Manon aus der Taufe, Wien Millöckers
Gasparone. Albert Giraud veröffentlicht Pierrot Iunaire und Huysmans
A rebours; Wilhelm Arents Moderne Dichtercharaktere enthält u. a. Conradis
naturalistisches Credo. Verlaine schreibt jadis et naguere, Seurat malt Une
baignade. Unter den Toten zählt man Emanuel Geibel, Hans Makart und
Bedfich Smetana.
Die antisemitischen Umtriebe des Pan-Germanen von Schönerer spalten
die Österreichische Linke, die sich steten offiziellen Schikanen ausgesetzt
sieht. Zur Bekämpfung des Antisemitismus gründet Bloch die Österreichisch-
lsraelitische Union sowie die Österreichische Wochenschrift. Togo und Karne-
run werden in Südwestafrika zu deutschen Schutzgebieten erklärt. Die Ent-
deckung von Goldminen in Transvaal wiederum führt zwei Jahre später zur
Gründung der Stadt Johannesburg. Der Amerikaner Mergenthaler erfindet
die Zeilensetzmaschine, und in Chicago entstehen die ersten Stahlskelett-
Hochhäuser. Daimler konstruiert das erste Motorrad, und Benz patentiert
seinen Motorwagen.
1885 Arnold Schönberg tritt in die Realschule ein und verbindet sich in bleiben-
der Freundschaft mit Oskar Adler. Für ihr gemeinschaftliches Musizieren
komponiert er eine Anzahl kleinerer Stücke. Nicht weit von ihnen kommen
Alban Berg am 7. Februar und Egon Wellesz am 21. September zur Welt.
Mahler vollendet Lieder eines fahrenden Gesellen und geht an das Deutsche
Theater in Prag. Hugo Wolf beschließt die Arbeit an Penthesilea, und Liszt
komponiert das erste bewußt nicht-tonale Musikstück, die Bagatelle sans
tonalite. Epstein und Leschetizky rufen den Wiener Tonkünstlerverein ins
Leben. In Paris erscheint die erste Nummer der Revue "Wagnerienne. Der
Wiener Wagnerverein bringt Bruckners TeDeum zu Gehör, wenn auch nur
mit Klavierbegleitung; Johann Strauß erringt einen neuen Erfolg mit dem
Zigeunerbaron. In Meiningen kommt die Vierte Symphonie von Brahms zur
Uraufführung, in Paris Les Djinns von Cesar Franck.
C. F. Meyer veröffentlicht Die Richterin, Anzengruber Der Sternsteinhof
Arno Holz das Buch der Zeit (Gedichte eines Dachstubenpoeten im Norden
Berlins), Guy de Maupassant Bel-Ami, Zola Germinal. Von Karl Marx er-
scheint der zweite posthume Band von Das Kapital. Van Gogh malt Die
Kartojfelesser. In Frankreich und England amüsieren die ersten praktischen
Fahrräder. Westinghouse und Stanley erfinden den Transformator, und die
Wiener Hofoper erstrahlt zum ersten Mal in elektrischem Licht.
Im Tiszacszlarer Prozeß gibt Rohling jegliche Verteidigung gegen die
Blochsehe Beschuldigung auf. Andererseits wird das Linzer Programm durch
einen Arierparagraphen erweitert, demzufolge die deutseh-nationale Bewe-
gung in Österreich sich fortan der Judenreinheit rühmen darf. Bismarck
ordnet die Ausweisung aller Polen aus den Ostprovinzen an, was Glacistone
nicht daran hindert, Deutschland fortan als gleichberechtigten Partner un-
ter den Kolonialmächten zu begrüßen. Das Tollwutimpfungsmittel des fran-
zösischen Forschers Pasteur erweist sich als erfolgreich.
10 Chronik
1886 Mahler dirigiert jetzt in Leipzig. Von Brahms, dem neuen Ehrenpräsidenten
des Wiener Tonkünsdervereins, kommen die Zweite Cellosonate op. 99 und
die Zweite Viatinsonate op. 100 sowie das Klaviertrio op. 101 (in Budapest) zur
Urauffiihrung. Das Jahr bringt auch Goldmarks Merlin in Wien, Francks Sym-
phonische Variationen in Paris, Saint-Saens' Dritte Symphonie in London und
Tschaikowskys Manfted in Moskau. Die Musikwelt trauert um Liszt, die gei-
steswissenschaftliche um Ranke. Unter den Neugeborenen ist Hermann Broch.
In erster Ausgabe erscheinen Nietzsches jenseits von Gut und Böse, Tolstois
Kreutzersonate sowie Gottfried Kellers Martin Satander und Theodor Fon-
tanes Cecile. Der Wiener Arzt Artbur Schnitzlee beginnt mit der Veröffent-
lichung von Prosa und Gedichten. In Paris vollendet Rodin Le baiser, und
die Impressionisten stellen zum achten und letztenmal aus, während Edouard
Drumonts antisemitische Streitschrift La France juive einen Hinweis auf die
kommende Tragödie des Dreyfus-Prozesses gibt.
Die österreich-russischen Beziehungen verschlechtern sich zusehends, und
die Deutschböhmen verlassen den böhmischen Landtag. JosefBloch publi-
ziert Der nationale Zwist und die Juden in Österreich. Der Friedensschluß
zwischen Serbien und Bulgarien bringt Prinz Ferdinand von Sachsen-Co-
burg-Gotha auf den bulgarischen Thron, während Otto I., der wahnsinnige
Bruder des kurz nach seiner Absetzung verstorbenen Ludwig II., unter der
Regentschaft von Prinz Luitpold König von Bayern wird.
1887 Emil Berliner erfindet die Schallplatte, Edison den motorgetriebenen Pho-
nographen, Hertz entdeckt die Elektrowellen. Helmholtz wird der erste Prä-
sident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Berlin. In Bern tagt
die internationale Copyright-Konvention; Zamenhof schafft die Universal-
sprache Esperanto. Wien begrüßt das sensationelle Auftreten eines zwölf-
jährigen Geigers, Fritz Kreisler, und enthüllt das Haydn-Denkmal. Königin
Victoria feiert ihr goldenes Regierungsjubiläum.
Van Gogh malt Le Moulin de Ia Galette; Bruckner vollendet die zweite Fas-
sung seiner Achten Symphonie und beginnt die Neunte; Hugo Wolfkompo-
niert Serenade for Streichquartett, und der Meininger Kapellmeister Richard
Strauss vollendet die Symphonische Fantasie Aus Italien. Verdis Otello wird
in Mailand uraufgeführt, Johann Strauß' Simplicius in Wien, das Doppel-
konzert von Brahms in Köln. Unter den Neuerscheinungen befinden sich
Conradis Lieder eines Sünders, Sudermanns Frau Sorge, Fontanes Irrungen,
Wirrungen, Tolstois Macht der Finsternis und Ibsens Kaiser und Galiläer. Es
ist das Geburtsjahr von Max Butting, Heitor Villa-Lobos und Matthijs
Vermeulen sowie das Todesjahr von Alexander Borodin.
- Zur Verhinderung eines französisch-russischen Bündnisses schließt Bismarck
den Rückversicherungsvertrag mit Rußland. Italien greift Äthiopien unter
dem Vorwand des Dogali-Massakers an und erreicht bei der Erneuerung
des Dreibunds erweiterte Anerkennung seiner territorialen Ansprüche.
1888 Mahler wird Operndirektor in Budapest. Seine Bearbeitung von Carl Maria
von Webers Die drei Pintos kommt in Leipzig zur Aufführung. Hugo Wolf
Chronik 11
schaft schließt. Der von Brahms hoch geschätzte, kaum zwei Jahre ältere
Musiker übernimmt Schönbergs einzigen wirklichen Kompositionsunter-
richt. Auf Zemlinskys Empfehlung wird ihm auch der Kompositionspreis
der Polyhymnia für das Schilflied auf einen Text von Lenau zugesprochen.
Brahms wohnt inzwischen der Wiener Uraufführung seiner Opera 116 und
117 bei, und die Hofoper bringt Verdis Falstaffknapp drei Monate nach der
Mailänder Premiere. Richard Strauss' Tod und Verklärung kommt erstmalig
in Wien zu Gehör. In Weimar findet kurz vor Weihnachten die Urauffüh-
rung von Humperdincks Hänsel und Gretel statt und in New York die von
Dvofaks Neunter Symphonie. In Paris wird Gounod zu Grabe getragen, in
St. Petersburg Tschaikowsky.
Geboren ist Ernst Toller. Berlin hat drei Hauptmann-Uraufführungen: Die
"Weber, Der Biberpelz und Hannele. Sudermann erntet einen Riesenerfolg
mit seinem Drama Heimat. In Wien geht Schnitzlers Märchen in Szene, in
Bad Ischl seinAbschiedssouper. Richard Dehmel veröffentlicht den Gedicht-
band Aber die Liebe und das Theaterstück Der Mitmensch.
Bei den Deutschen Reichstagswahlen erfährt die Sozialdemokratische Par-
tei weitere Stärkung. Mit dem Entstehen des deutseh-nationalen Handels-
gehilfenverbandes ergeben sich andererseits neue nationalistische und anti-
semitische Propagandamöglichkeiten. Die Juden antworten mit der Grün-
dung des Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischer Konfession.
1894 Der zwanzigjährige Schönberg erfreut sich der Bekanntschaft des hervorra-
genden blinden Organisten Josef Labor, der ihm bei seinen Kompositions-
versuchen mit Rat und Tat zur Seite steht. Als erstes Resultat bringt er im
Oktober drei vierhändige Klavierstücke zum Abschluß. Zemlinsky vollen-
det inzwischen seine erste Oper Sarema. In Weimar kommt Richard Strauss'
Erstlingsoper Guntram zur Uraufführung, kurz vor Weihnachten erweckt
Claude Debussy in Paris Erstaunen mit Prelude a l'apres-midi d'un foune.
Humperdincks Hänsel und Gretel erfährt seine Wiener Erstaufführung. Die
noch junge Musikwissenschaft feiert den Abschluß der Palestrina-Gesamt-
ausgabe mit dem Beginn der Lassus-Ausgabe.
Die Berliner Brahm-Gruppe veröffentlicht die erste Nummer der Neuen
Deutschen Rundschau mit u. a. Schnitzlers Sterben. Die drei Elixiere, eben-
falls von Schnitzler, erscheint in Bierbaums Modernem Musen-Almanach,
der auch Hofmannsthals Der Thor und der Tod enthält. Unter den Neuer-
scheinungen befinden sich weiterhin Theodor Fontanes Effi Briest und
Bernard Berensons The Venetian Painters ofthe Renaissance sowie der dritte,
von Friedrich Engels editierte Band von Das Kapital.
Nikolaus II. besteigt den russischen Thron als Nachfolger von Alexander III.,
und der Reichstag stimmt einem neuen Deutsch-Russischen Handelsver-
trag zu. In Frankreich wird Hauptmann Alfred Dreyfus am 15. Oktober,
weniger als vier Monate nach der Ermordung des Staatspräsidenten Sadi-
Carnot, unter Spionageverdacht verhaftet. Theodor Herzl geht nach Paris,
um dem Prozeß als Berichterstatter für die Wiener Neue Freie Presse beizu-
Chronik 15
sehen Telegrammstil", Schnitzler Die Frau des U'teisen, Der Ehrentag, Halb
zwei und Die Toten schweigen, Stefan George Das fahr der Seele, Rilke Das
alte Schloß(im Simplizissimus} und Abend (in der Wiener Rundschau}, Hof-
mannsthai Bildlicher Ausdruck und Dichter und Leben in Blätterfor die Kumt;
schließlich bringt die Zeitschrift Pan kurz vor Ende des Jahres Hofmannsthals
Das kleine U'telttheater im Teildruck. In deutschsprachigen literarischen Krei-
sen erhitzt man sich jedoch vor allem über Karl Kraus' Demolirte Literatur
und Jakob Wassermanns Juden von Zirndorf Theodor Herzl veröffentlicht
Das neue Ghetto und beginnt im Juni mit der Herausgabe der zionistischen
Wochenschrift Die U'telt. Frankreich verzeichnet den Tod von Alphonse
Daudet und die Geburt von Louis Aragon, Amerika die von William
Faulkner. Das Theaterjahr endet mit der Pariser Uraufführung von Rostands
Cyrano de Bergerac.
Nach dem Zusammenbruch des Hamburger Hafenarbeiterstreiks in der er-
sten Februarwoche erwägt Wilhelm II. Einschränkungen der Vereinsfreiheit.
Österreich und Rußland treffen im April ihr Balkanabkommen, und Kaiser
Franz Joseph entschließt sich schweren Herzens zur Bestätigung von Karl
Lueger als Bürgermeister von Wien. Zum Ausgleich verleiht er Oberrabbiner
Güdemann den Franz-Joseph-Orden. Nach der Gründung des jüdischen
Volksvereins in Österreich kommt Benno Staucher als erster offiziell jüdi-
scher Vertreter in den Reichsrat, und am 22. Aprillegt die Sprachverordnung
für Mähren die Doppelsprachigkeit fest, was in vorwiegend deutschspra-
chigen Gebieten schwere Ausschreitungen zur Folge hat. Im November füh-
ren die von Mitgliedern des Reichsrats angestifteten Straßenunruhen zum
Rücktritt von Ministerpräsident Badeni. Angesichts immer neuer Demon-
strationen, nun auch von tschechischer Seite, ist es um die Nachfolger von
Badeni schlecht bestellt. In Preußen bricht das Handwerkerschutzgesetz mit
dem Prinzip der Gewerbefreiheit; Sozialdemokraten werden akademische
Lehrämter fortan verwehrt. Mit dem sogenannten Baseler Programm schafft
der Erste Zionistische Weltkongreß die bindenden Richtlinien für alle wei-
teren Schritte zur Errichtung eines unabhängigen Judenstaats.
1898 Am 17. März gibt das Wiener Fitzner-Quartett die erfolgreiche Urauffüh-
rung von Schönbergs Streichquartett in D, und acht Tage später läßt sich der
Komponist unter Einfluß seines protestantischen Freundes Walter Priau tau-
fen. Im Sommer arbeitet er an einem symphonischen Gedicht nach Lenaus
Frühlings Tod. Seine Zwei Gesänge for Bariton und Klavier op. 1 kommen
zum ersten öffentlichen Vortrag. Mahler übernimmt die Konzerte der Wie-
ner Philharmoniker, und sein Freund Guido Adler, Eduard Hanslieks Nach-
folger an der Wiener Universität, gründet jenes Musikwissenschaftliche In-
stitut, das Schönberg dann einige seiner besten Privatschüler zuspielte. Im
Fahrwasser seines am 8. März in Köln uraufgeführten Don Quixote kompo-
niert Richard Strauss Ein Helden/eben, Claude Debussy schreibt in Paris
Chamom de Bilitis. Am 6. Juli wird Hanns Eisler in Leipzig geboren, am
26. September George Gershwin in Brooklyn, New York.
18 Chronik
Mit Alfred Messels Plan für das Berliner Kaufhaus Wertheim kommt die
"Neue Sachlichkeit" ins Leben. Gleichzeitig gründet Max Liebermann die
"Berliner Sezession". In Frankreich malt Degas Apres le bain, Emile Zola
veröffentlicht das Dreyfus-Manifest j'accuse und Pierre Louys La ftmme et le
pantin. Hofmannsthals Der weiße Fächer erscheint in Die Zeit, Die Frau im
Fenster in Pan, Rilkes Am Leben hin in der W'iener Rundschau. Wassermann
zieht endgültig nach Wien und veröffentlicht u. a. Hockenjos, oder die Lügen-
komödie und Die Mächtigen. In Leipzig erscheint Friedrich Nietzsches Ge-
dichte und Sprüche. An wichtigen Uraufführungen bringt das Jahr in Leip-
zig Wedekinds Erdgeist mit dem Autor als Doktor Schön, in Berlin Hof-
mannsthals Die Frau im Fenster, Schnitzlers Das Vermächtnis und Haupt-
manns Fuhrmann Renschef sowie in Rom D'Annunzios Sogno d'un Mattino
di Primavera. Die literarische Welt trauert um Stephane Mallarme, Theo-
dor Fontane und Conrad Ferdinand Meyer, ohne bisher von der Geburt
Bertolt Brechtsam 10. Februar und Federico Garcia Lorcas am 5. Juni zu
WISSen.
Die Österreichische "Los-von-Rom"-Bewegung führt in intellektuellen Krei-
sen zu zahlreichen Übertritten zum Protestantismus auch von katholischer
Seite. Unter den getauften Juden erregt Karl Kraus mit der bitter-satiri-
schen Schrift Eine KroneforZion Aufsehen. Andererseits gewinnt die zioni-
stische Bewegung stets mehr Anhänger, die sich Ende August zum Zweiten
Zionistenkongreß in Basel vereinen. Der bedeutende Berliner Physiker Leo
Arens verliert inzwischen aufgrund seiner SPD-Mitgliedschaft die venia
legendi. Wenige Wochen nach Bismarcks Tod (am 30. Juli) wird die Öster-
reichische Kaiserin Elisabeth von einem italienischen Anarchisten ermor-
det. Gespräche zwischen Wilhelm II. und Abdul Hamid II. in Konstantino-
pel führen zum Weiterbau der Bagdad-Bahn, und der Kaiser empfängt Herzl
im Lauf derselben Reise zunächst am 18. Oktober in Konstantinopel und
zum zweiten Mal am 2. November vor den Pforten Jerusalems, ohne sich
jedoch in irgendeiner Weise politisch festzulegen.
1899 In den Frühlingsmonaten ist Schönberg mit Liedvertonungen beschäftigt:
"Sie trug den Becher in der Hand" aus Die Beiden von Hofmannsthai und
Dehmels "Warnung", das später in die Sechs Lieder op. 3 aufgenommen
wird; "Gethsemane" bleibt Fragment. AufDehmels "Erwartung", das er am
9. August komponiert, folgen zwei weitere Dehmel-Vertonungen für sein
Opus 2 sowie "Waldsonne" von Schlaf. Am 1. Dezember vollendet er dann
sein erstes ebenfalls von Dehmel inspiriertes Hauptwerk, das Streichsextett
op. 4 Verklärte Nacht. Auch Zemlinsky komponiert Texte von Dehmel in
Gesellschaft mit Jacobsen, Liliencron, Bierbaum und Morgenstern. Im Ja-
nuar gelangt Karl Goldmarks Der Krieg.rgefongene in der Hofoper zur Ur-
aufführung, wo drei Monate später auch die Wiener Erstaufführung von
Siegfried Wagners Der Bärenhäuter stattfindet. Wien erlebt weiterhin die
Uraufführung von Bruckners Sechster Symphonie, Frankfurt die von Strauss'
Ein Helden/eben. Ein großer posthumer Erfolg ist dem am 3. Juni verschie-
Chronik 19
auf die Bühne; die Uraufführung von Mahlers Dritrer Symphonie findet in
Krefeld statt und in Helsinki die von Sibelius' Zweiter.
- Hauptmanns Drama Der arme Heinrich geht in Wien in Szene, Schnitzlees
Lebendige Stunden umgekehrt in Berlin, wo auch Wedekinds Erdgeist und
Maeterlincks Monna ~nna zu sehen sind. Unter den Neuerscheinungen
befinden sich Rilkes Buch der Bilder, Wassermanns Moloch, Strindbergs
Traumspiel, Jarrys Le Surmale und Herzls zionistisch-utopischer Roman Alt-
neuland. Monet malt Pont Waterloo, Liebermann Polospieler.
Der Burenkrieg endet am 31. Mai. Karl Luegers Christlich-soziale Partei
erlangt in Österreich nicht weniger als 51 Mandate. Theodor Mommsens
(unvollendete) Römische Geschichte bringt dem Autor als erstem Deutschen
den Nobelpreis für Literatur. Enrico Caruso macht seine ersten Schallplat-
tenaufnahmen. Geboren ist John Steinbeck, gestorben Emile Zola.
1903 - Schönberg schließt Pelleas und Melisande op. 5 vorläufig ab, setzt Goethes
"Deinem Blick mich zu bequemen" und "Darthulas Grabgesang" für Chor
sowie Harts "Traumleben" und Conradis "Verlassen" als Sololieder für sein
Opus 6. Den Sommer verbringt er mit Zemlinsky in Payerbach und be-
ginnt dann mit dem Unterricht an der Wiener Schwarzwald-Schule. Der
Drei-Lilien-Verlag kauft die Rechte sowohl für Verklärte Nacht als auch für
die ersten drei Liedersammlungen (Opera 1-3). In Wien kommt Bruckners
Neunte Symphonie in der Loewe-Fassung zur Aufführung sowie Charpentiers
Louise unter Mahler, der auch für Tristan und Isolde in Alfred Rollers Insze-
nierung verantwortlich zeichnet.
- Berlin, neuerdings die unbestrittene Theatermetropole der deutschsprachi-
gen Welt, bringt an Neuigkeiten Hofmannsthals Elektra, Hauptmanns Rose
Bernd und Max Halbes Strom. Thomas Mann veröffentlicht Tonio Kröger,
Ricarda Huch Vita Somnium Breve, Dehmel sein "Epos in Romanzen" Zwei
Memchen, George Tage und Taten (Aufzeichnungen und Skizzen), Hofmanns-
thai Ausgewählte Gedichte nebst dem Aufsatz Die Bühne als Traumbild (in
der ersten Nummer der Berliner Zeitschrift Das Theater). Picasso malt den
Alten Gitarristen und das Kranke Kind. Edwin S. Porter dreht den ersten
wirklichen Spielfilm The Great Train Robbery.
- Das verheerende Pogrom im bessarabischen Kischinev hat die Gründung
einer jüdischen Selbstschutzgruppe unter Vladimir Jabotinskys Führung zur
Folge, während Herzls Vorschlag für ein vorläufiges jüdisches Heim im afri-
kanischen Uganda vom 6. Zionistenkongreß in Basel entschieden abgelehnt
wird. Bei den deutschen Reichstagswahlen erhöht die SPD die Zahl ihrer
Sitze auf 81; der Streik der sächsischen Textilarbeiter endet andererseits er-
folglos. Rußlands expansionistische Tendenzen führen zu Spannungen mit
Österreich, und eine schlechte Ernte bringt erneut allgemeine Hungersnot.
Otto Weininger veröffentlicht sein sensationelles Werk Geschlecht und Cha-
rakter, und der Papst befürwortet die Wiederherstellung des Gregoriani-
schen Chorals in seiner ursprünglichen Gestalt. Am 17. Dezember gelingen
die ersten Flüge der Brüder Wright. Hugo Wolf ist bereits am 22. Februar
22 Chronik
dahingegangen, und die bildenden Künste verlieren gleich drei ihrer größ-
ten Meister: James Whistler, Paul Gauguin und Camille Pissarro.
1904 Schönberg vollendet die Lieder op. 8 und beginnt mit der Komposition des
Ersten Streichquartettsd-Moll op. 7. Der Wiener Ansorge-Verein bringt drei
seiner Lieder zur Uraufführung. Von Mahlers Dritter Symphonie zutiefst
erschüttert schreibt ihm Schönberg am 13. Dezember: "Ich spüre einen Men-
schen, ein Drama, Wahrheit, rücksichtsloseste Wahrheit." Guido Adler ver-
dankt er inzwischen Anton von Webern und Egon Wellesz als Schüler, zu
denen sich kurz darauf Alban Berg gesellt. Mahler dirigiert noch Fidelio in
Rollers neuer Wiener Inszenierung, reist dann aber zur Uraufführung seiner
Fünften Symphonie am 18. Oktober nach Köln. Zemlinsky vollendet Das
gläserne Herz und tritt sein Kapellmeisteramt an der Wiener Volksoper an.
Die neugegründete Vereinigung schaffender Tonkünstler bringt u. a. die
Sinfonia Domestica von Richard Strauss zur Aufführung. Hugo Wolfs
Corregidor kommt ebenfalls in Wien zum ersten Mal zu Gehör.
Auf Berliner Bühnen sind Schnitzlees Der einsame \\'leg, Der tapftre Cassian
und Der grüne Kakadu sowie Richard Beer-Hofmanns Grafvon Charolais zu
sehen, in N ürnberg Wedekinds Büchse der Pandora. Hermann Hesse erringt
seinen ersten großen Erfolg mit Peter Camenzind. Emil Nolde malt Ernte-
tag, Cezanne Mont Saint Victoire und Monet La Tamise, der Pariser Salon
d'Automne zeigt neue Gemälde u. a. von Cezanne und Redon.
Der Russisch-Japanische Krieg endet nach wenigen Monaten, und Frank-
reich und England schließen sich zur Entente Cordiale zusammen. Nicht
lange nach seiner erfolglosen Frühjahrsaudienz bei Papst Pius X. am 3. Juli
stirbt Herz!. In Salzburg ist inzwischen Otto Nußbaum die erste Radiosen-
dung von Musik gelungen. Weininger hat Über die letzten Dinge veröffent-
licht, Freud Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Geboren ist Salvador Dali,
gestorben Jules Verne und Franz von Lenbach.
1905 Schönberg vollendet Acht Lieder for eine Singstimme und Klavier op. 6, ge-
folgt vom Streichquartett op. 7. Das Instrumentalstück Ein Stelldichein (nach
Dehmel) bleibt Fragment. Während die Wiener Uraufführung von Pelleas
und Melisande ihm die Achtung breiterer musikalischer Kreise einbringt,
fühlt er sich zutiefst von Mahlers Kindertotenliedern ergriffen. In Dresden
macht Strauss' Salome Sensation, und in Paris bringt Debussy La Mer zum
Abschluß, Ravel die Sonatine und Miroirs.
In Berlin kommt Hofmannsthals Gerettetes Venedig auf die Bühne, in Köln
Strindbergs Totentanz, in Harnburg Stavenhagens Mutter, in Wien Schnitz-
lets Zwischenspiel. Max Reinhardt übernimmt das Deutsche Theater in Ber-
lin und führt neue Darstellungs- und Regiemethoden ein. Siegfried
Jacobsohn gründet die progressive Theaterzeitschrift Die Schaubühne. Un-
ter den Neuerscheinungen zählt man Christian Morgensterns Galgenlieder,
Rilkes Stundenbuch, Wassermanns Alexander in Baby/on, Heinrich Manns
Profissur Unrat sowie Stefan Georges Sammlung Zeitgenössische Dichter
(Rossetti, Swinburne, Dowson, Jacobsen, D'Annunzio u. a.). Cezanne malt
Chronik 23
Anfang November hinterläßt tiefe Schatten über einem Jahr, das Schönberg
und seinen Schülern wachsende Anerkennung eingebracht hat. Das im Au-
gust vollendete Zweite Streichquartett op. 10 wird schon am 21. Dezember
vom Wiener Rose-Quartett aus der Taufe gehoben. Ein Gefühl innerer Ver-
pflichtung treibt Schönberg mehr und mehr der Malerei zu. Mit Garten in
Mödling beginnend schafft er bis 1912 ca. 60 Ölgemälde. Max Reger, den
Schönberg sehr schätzt, wird von der Universität Wien die Ehrendoktor-
würde zuerkannt, während sein Violinkonzert in Leipzig zur Uraufführung
kommt. Die Premiere von Mahlers Siebenter Symphonie findet in Prag statt.
In Stockholm geht Strindbergs Gespenstersonate in Szene, in Berlin Hof-
mannsthals Der Tor und der Tod, Maeterlincks L'oiseau bleu in Moskau, Lud-
wig Thomas Moral und Wedekinds junge "Welt in München. Unter den Neu-
erscheinungen zählt man Wassermanns Caspar Hauser, Wolfskehls Thors
Hammer, Karl Kraus' Sittlichkeit undKriminalitätsowie WoreingersAbstrak-
tion und Einfohlung. Kandinsky malt inzwischen Murnau und ist mit sei-
nen ersten Bühnenkompositionen beschäftigt. Picasso wendet sich dem Ku-
bismus zu.
Der neugewählte Vorsitzende des ,,Alldeutschen Verbandes", Heinrich Class,
fordert eine völkisch-antisemitische und territorial-expansionistische Reichs-
politik, und im Sommer tagen die Panslawisten in Prag. Österreich, das sich
von den jungtürkischen Verfassungsreformen bedroht fühlt, annektiert Bos-
nien und Herzegowina, was zur Krise mit Rußland und schließlich zum
Rücktritt des Ministerpräsidenten Beck führt. Friedeich Meinecke veröf-
fentlicht dagegen sein "Weltbürgertum und Nationalstaat, während in Salz-
burg die erste internationale Psychiatertagung unter Teilnahme von Freud,
Jung, Adler, Breuer und Brill stattfindet.
1909 Schönberg vollendet Das Buch der hängenden Gärten op. 15, komponiert
die Klavierstücke op. 11, die FünfOrchesterstücke op. 16 sowie das Monodram
Erwartung op. 17 und veröffentlicht Aufsätze ("Eine Rechtsfrage" und "Über
Musikkritik") in der Zeitschrift Der Merker. Webern folgt dem Beispiel sei-
nes Lehrers mit Fünf Sätzen for Streichquartett op. 5. An Uraufführungen
bringt das Jahr Strauss' Elektra in Dresden (Wiener Erstaufführung am
24. März), Wolf-Ferraris Susannas Geheimnis in München, Bart6ks Zweite
Orchestersuite in Budapest und auf der Sprechbühne u. a. Hauptmanns
Griselda und Strindbergs Der Bjälbo-]arl.
Von Thomas Mann erscheint Königliche Hoheit, von Heinrich Mann Die
kleine Stadt, von Kar! Kraus Sprüche und Widersprüche, von Erich Mühsam
Der Krater, von Kar! Wolfskehl Sanctus und Orpheus und von F. T. Marinetti
Fondazione a manifesto del foturismo. Kurt Hillers "Neuer Club" wird zum
Berliner Sammelpunkt expressionistischer Künstler, in München ist es Justin
Thannhäusers Galerie. Kandinsky, Mitbegründer der Münchner Neuen
Künstlervereinigung, lebt jetzt in Murnau, malt Grüngasse in Murnau und
beginnt mit der Serie Improvisationen. Liebermann malt ein weiteres Selbst-
bildnis, Oskar Kokoschka das Bildnis A. Laos.
26 Chronik
Celesta und Harfe op. 20 auf einen Text von Maeterlinck und bringt end-
lich die Gurrelieder zum Abschluß. Seine bei der Universal Edition erschei-
nende Harmonielehre ist dem Andenken Gustav Mahlers gewidmet, dessen
Tod am 18. Mai ihn zutiefst ergriffen hat. Seine Hoffnungen auf Berlin
setzend unterrichtet er dort privat und am Sternsehen Konservatorium, lernt
Max Reinhardt und Otto Klemperer kennen und publiziert ein persönli-
ches Bekenntnis zu "Franz Liszts Werk und Wesen". Mit Kandinsky, der
seine Impression 111 unter dem Eindruck von Schönbergs ersten zwei Streich-
quartetten und den Klavierstücken op. 11 gemalt hat, entwickelt sich ein
intensiver Briefwechsel. Im Herbst kommt Mahlers posthumes Lied von der
Erde unter Bruno Walter zur Uraufführung, und am 9. Dezember dirigiert
Franz Schreker Schönbergs Friede auf Erden op. 13 in Wien. Webern, der
inzwischen den Klavierauszug zu den Orchesterliedern op. 8 fertiggestellt
hat, folgt dem Vorbild seines Lehrers mit FünfStücken for Orchester op. 10,
und der junge Berg beeindruckt Wiener Kenner mit seiner Klaviersonate op. 1
und dem Streichquartett op. 3. Strauss' Rosenkavalier ist schon im Januar in
Dresden auf die Bühne gekommen (die Wiener Erstaufführung folgt drei
Monate später). Paris ergötzt sich inzwischen an Strawinskys Petruschka und
Ravels L'Heure espagnole.
Theaternovitäten sind u. a. Hofmannsthals jedermann, Fritz von Unruhs
Offiziere und Hauptmanns Die Ratten. In München gehen Brunhild von
Paul Ernst und Oaha von Wedekind in Szene. Christian Morgenstern ver-
öffentlicht Ich und Du, Franz Werfe! Der Weltfreund, Wassermann Der gol-
dene Spiegel, Hofmannsthai Alkestis (nach Euripides), Lasker-Schüler Ge-
sichter, Stefan Zweig Erstes Erlebnis. Mit der Stiftung des Kleisr-Preises er-
hält die expressionistische Richtung wesentliche Unterstützung, während
Erich Mühsams Kain, Zeitschrift for Memchlichkeit allen offensteht, die ein
friedliches Zusammenleben befürworten. Der Nobelpreis für Literatur wird
Maeterlinck zuerkannt. Kandinsky und Mare gründen die Künstler-
vereinigung Der Blaue Reiter, bei deren erster Ausstellung auch Schönberg
vertreten ist. Die Berliner Sezession stellt französische "Expressionisten" aus.
Mit seinem Entwurf für die Fagus-Fabrik wird Walter Gropius zum Haupt-
wegbereiter der modernen Industrie-Architektur.
Im August tagt der 10. Zionistenkongreß in Basel, und am 29. September
erklärt Italien der Türkei den Krieg. Kurz daraufkommt es zum ersten Luft-
angriff auf eine Stadt (Tripoli). Die Revolution in China führt zur Präsi-
dentschaft von Sun Yat-sen. In Rußland herrscht erneut Hungersnot.
Deutschland und Frankreich schließen den Marokko-Kongo-Vertrag. Kurz
vor Jahresende erreicht Amundsen den Südpol.
1912 Die Schauspielerirr Albertirre Zehme bestellt bei Schönberg das Melodram
Pierrot Iunaire op. 21 nach Gedichten von Albert Giraud in Hartlebens
deutscher Übertragung, das am 16. Oktober im Berliner Choralionsaal zur
Uraufführung kommt. Berlin hat auch Gelegenheit, u. a. die Sechs kleinen
Klavierstücke op. 19 zu hören. Schönberg selbst dirigiert Pelleas undMelisande
28 Chronik
op. 5 mit Erfolg in Prag und am Ende des Jahres in St. Petersburg. Beson-
ders tiefen Eindruck hinterläßt sein Prager Mahler-Vortrag. Im Jahrbuch
Blauer Reiter, in dem auch zum ersten Mal eine Komposition von Webern
erscheint, veröffentlicht er die Komposition Herzgewächse und den Auf-
satz "Das Verhältnis zum Text", während seine Schüler das erste ihrem
Meister gewidmete Buch herausgeben mit Beiträgen u. a. von Kandinsky
und von Gütersloh, die den bildenden Künstler würdigen. Nachdem er
eine Berufung an die Wiener Musikakademie in stolzem Selbstbewußt-
sein abgelehnt hat, findet am 3. September in London die Uraufführung
der Fünf Orchesterstücke op. 16 statt, und am 21. Dezember dirigiert er
selbst Pelleas und Melisande in St. Petersburg. Eine große philosophisch-
autobiographische Symphonie kommt, trotzausführlicher Korrespondenz
mit Richard Dehmel über mögliche Texte, nicht zur Ausführung, hinter-
läßt aber deutliche Spuren im 1915 begonnenen Oratorium Die Jakobslei-
ter. Berg, der an seinen Altenberg-Liedern arbeitet, stellt einen Gurre-Lie-
der-Führer her. In Paris kommt Ravels Daphnis et Chloe erstmalig zu Ge-
hör und im Rahmen der ersten Wiener Musikfestwoche Mahlers Neunte
Symphonie unter Bruno Walter, Franz Schrekers Ferner Klang in Frankfurt
und Strauss' Ariadne auf Naxos in der ersten Fassung von Max Reinhardt
inszeniert in Stuttgart.
Berlin hebt Schnitzlers das Judenproblem behandelndes Theaterstück Pro-
fessor Bernhardi aus der Taufe, das in Wien bis Ende des Ersten Weltkriegs
verboten bleibt, sowie Hofmannsthals jedermann in Reinhardts Inszenie-
rung und Wedekinds Tod und Teuft!. Unter den Neuveröffentlichungen fin-
den sich: Dehmels Blinde Liebe, Wassermanns Faustina, ein Gespräch über
die Liebe und Die ungleichen Schalen (fünf Einakter), Arnold Zweigs Novel-
len um Claudia, Tucholskys Rheinsberg, Karl Kraus' Pro domo et mundo und
Kandinskys Über das Geistige in der Kunst. Auf die Berliner "Blaue-Reiter-
Ausstellung" folgt im Herbst Kandinskys erste Einzelausstellung im "Sturm".
In Paris experimentiert Georges Bracque mit Collagen.
Nach dem Friedensschluß zwischen Italien und der Türkei am 18. Oktober
erheben sich Albanien, die Balkanbundstaaten und Montenegro bis zum
ersten Balkankrieg-Waffenstillstand am 3. Dezember. Der Nobelpreis für
Literatur wird Gerhart Hauptmann zugesprochen. General von Bernhardi
sieht in seiner Schrift Deutschland und der nächste Krieg den Weltkrieg vor-
aus. C. G. Jung veröffentlicht Wandlungen und Symbole der Libido; Alfred
Wegner unterbreitet seine Kontinentalverschiebungstheorie; der Holländer
Anthony Fokker produziert seine ersten Flugzeuge, und am 15. April sinkt
das größte Schiff der Welt, die SS Titanic, auf seiner Jungfernreise im nörd-
lichen Atlantik.
1913 Im Gegensatz zu dem von Schönberg am 31. Januar geleiteten Wiener Or-
chesterkonzert mit Werken von Mahler, Berg, Zemlinsky und Webern so-
wie der eigenen Kammersymphonie op. 9 sorgt Franz Schreker mit seiner
Aufführung der Gurrelieder am 23. Februar für einen großen Erfolg. Im
Chronik 29
versetzt und einen Monat später vorläufig vom Militär beurlaubt, schließt
er die Vier Lieder for Gesang und Orchester op. 22 mit der Komposition von
Rilkes "Vorgefühl" ab. Max Reger ist inzwischen am 11. Mai verstorben.
Am 4. Oktober findet die Wiener Uraufführung der Strauss'schen Ariadne
aufNaxos in der Neubearbeitung von Hofmannsthai statt, dessen mehr als
zwanzig Jahre altes StückAlkestis sechs Monate zuvor endlich in München
in Szene gegangen ist.
Der junge Georg Luk:ics bringt seine Theorie des Romans heraus, und Max
Liebermann faßt seine langjährigen Erfahrungen und Erkenntnisse als Ma-
ler und Kunstlehrer in dem Band Die Phantasie in der Malerei zusammen.
Von Georg Kaiser erscheint Vtm morgens bis mitternachts und von Christian
Morgenstern Stufen. Einen fur die Spannungen der Zeit charakteristischen
Erfolg erzielt Walter Flex mit seinem Wanderer zwischen beiden Welten, wo-
gegen Kokoschkas Der gefesselte Kolumbus nur wenig Verständnis erweckt.
Die kurz nach Jahresbeginn gegründete Dada-Bewegung hat im Juli ihre
erste öffentliche Ausstellung.
Der u. a. von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg anfangs des Jahres ins
Leben gerufene Spartakusbund fordert den sofortigen Kriegsabbruch und
den internationalen Klassenkampf des Proletariats. Die am 21. Februar be-
gonnene deutsche Verdun-Offensive stockt im Laufe des Jahres und endet
Mitte Dezember endgültig mit einem verheerenden französischen Gegen-
angriff. Im Sommer haben die Alliierten Blockademaßnahmen vereinbart,
und Rumänien ist der italienischen Kriegserklärung an Deutschland ge-
folgt. Zwei Tage später wird der Generalstabchef Falkenhayn von Hindeo-
burg und Ludendorff abgelöst, deren im Oktober befohlene Judenzählung
nicht nur die betroffenen jüdischen Soldaten beschämt, sondern in weiten
Kreisen Entrüstung hervorruft. Am 21. Oktober erschießt Friedrich Adler,
der Sohn des Gründers der Österreichischen Sozialdemokratie, den Österrei-
chischen Ministerpräsidenten, und einen Monat später stirbt Kaiser Franz
Joseph, dessen Nachfolger Karll. einen Tschechen zum Ministerpräsiden-
ten ernennt.
1917 Nach Vollendung des Textes beginnt Schönberg im Juni mit der Komposi-
tion der Jakobsleiter, die durch seine erneute Einberufung zum Militärdienst
am 17. September bis zur endgültigen Entlassung im November eine fur
das Werk entscheidende Unterbrechung erfährt. Im Winter unterrichtet er
wieder an der Schwarzwald-Schule. Alban Berg ist seit dem Sommer mit
Wozzeck beschäftigt, während Webern nach seiner kurz vor Jahresbeginn
erfolgten Demobilisierung die Lieder op. 12 zum Abschluß gebracht hat
und nun Gedichte von Kraus, Trakl und Li-Tai-Po vertont. Zemlinskys Flo-
rentinische Tragödie ist Ende Januar in Stuttgart zur Uraufführung gekom-
men, Pfitzners Palestrina am 12. Juni in München.
Trotz der verschlechterten Kriegslage floriert das deutschsprachige Theater
mit Werken von Georg Kaiser (Die Bürger von Ca/ais, Die Koralle und Vtm
morgens bis mitternachts), Hauptmann (Winterballade), Sorge (Der Bettler),
32 Chronik
(Leipzig), Carl Sternheims Die Rose (2. Fortsetzung Frankfurt a. M.), Wild-
gans' Dies Irae (Wien), Lasker-Schülers Die Wupper (Berlin) und Ernst Tollers
Die Wandlung (Berlin). Wassermann veröffentlicht Christian Wahnschaffe
sowie das "Weltspiel und Legende" Die Prinzessin Girnara, Dehmel sein
"Kriegstagebuch" Zwischen Volk und Menschheit und Hermann Hesse den
Roman Demian, Ludwig Rubiner Kameraden der Menschheit und Dichtun-
gen zur Weltrevolution, Kafka In der Strafkolonie, Heinrich Mann Macht und
Mensch und Werfel Der Gerichtstag. Max Beckmann malt Die Nacht und
schafft die graphischen Serien Gesichter und Die Hölle. Die Dadaisten ha-
ben ihre achte Soiree mit der Proclamation sans pretension von Tzara in Zü-
rich, und im Oktober gründet Walter Gropius zusammen mit Feinirrger
und Itten das Bauhaus in Weimar.
Am 15. Januar, drei Tage vor dem Beginn der Versailler Friedenskonferenz,
werden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin nach einem verun-
glückten Putsch bestialisch ermordet. Am 9. Februar wird Friedrich Ebert
in Weimar zum Präsidenten der Republik gewählt. In Österreich bilden die
Sozialdemokraten jetzt auch die größte Partei. Am 21. Februar erliegt der
bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner einem Mordanschlag, der weit-
verbreitete Aufstände und Streiks hervorruft. Die am 7. April erklärte So-
wjetrepublik Bayern währt nur wenige Wochen unter dem tödlichen Druck
der Reichswehr in Zusammenarbeit mit zum größten Teil aus demobilisier-
ten Soldaten bestehenden Freikorps. Der Wiener Kommunistenputsch bleibt
ebenfalls erfolglos. Nur in Ungarn hält sich die Sowjetische Republik von
Ende März bis Anfang August. In Rußland wütet nach der Gründung der
Internationale der Bürgerkrieg. Trotz größter Entrüstung über die alliierten
Friedensbedingungen, die im Mai zur Demission des Verkünders der Repu-
blik, Philipp Scheidemann, führen, beugt sich die deutsche Delegation in
Versailles am 28. Juni dem Unvermeidlichen. Am 10. September kommt es
zum Frieden von St.-Germain, der u. a. Österreich den Anschluß an Deutsch-
land versagt. Inzwischen erscheinen Bergsous Energie spirituelle und
Marinettis Democrazia Juturista; Paul Ernst proklamiert das Ende des Idea-
lismus und des Marxismus. Mit der ersten Nummer der Musikblätter des
Anbruch, die am 1. November im Verlag der Universal Edition erscheint,
hat die Neue Musik dagegen ihre entscheidende Stimme gewonnen.
1920 Schönberg dirigiert die Gurrelieder zweimal an der Wiener Staatsoper und
lehrt und konzertiert mit großem Erfolg in den Niederlanden, wo er als
Gast von Willern Mengelberg im Mai dem Mahlerfest in Amsterdam bei-
wohnt. Im Sommer beginnt er mit der Arbeit an den Klavierstücken op. 23
sowie der Serenade op. 24, Werken, in denen die Zwölfordnung der Töne
zum ersten Mal systematisch in Erscheinung tritt. Die Uraufführung der
ersten beiden Stücke aus Opus 23 findet am 10. Oktober in Wien statt.
Inzwischen ist Alban Bergs Zurückweisung von Pfitzners Polemik gegen die
Neue Musik, "Die musikalische Impotenz der ,Neuen Ästhetik' Hans
Pfitzners", in den Musikblättern des Anbruch erschienen. Hauer hat Vom
Chronik 35
Ende April einen Rundfunkvortrag Was ist atonal?, weigert sich aber Schön-
bergs Drängen zum Trotz, einer Berufung an die Berliner Musikhochschule
Folge zu leisten, die schließlich an Zemlinsky ergeht, der dort bis zu seiner
Zwangsentlassung 1933 tätig bleibt. Bergs Schönberg gewidmete Drei Or-
chesterstückewerden am 14. April in Oldenburg uraufgeführt. Im Mai, un-
mittelbar nach seiner Rückkehr aus Baden-Baden, wendet sich Schönberg
mit erneuter Energie Moses und Aron zu, dessen zweite Szene er im August
zum Abschluß bringt. Am 7. Juni hat Zemlinsky in der Berliner Krolloper
Erwartung op. 17 dirigiert und Klemperer seinerseits Die glückliche Hand
op. 18. Beide Werke verschwinden jedoch nach wenigen Aufführungen vom
Spielplan. Am 6. November bringt Klemperer dessen ungeachtet die Urauf-
führung der Begleitungsmusik zu einer Lichtspielszene op. 34. Berg ist bereits
Anfang des Jahres zum Mitglied der Preußischen Akademie der Künste er-
nannt worden und erfreut sich überhaupt wachsender Anerkennung, u. a.
am 4. Juni mit der Königsherger Uraufführung von Der WCin. Berlin bringt
Hindemiths Kinderoper Wir bauen eine Stadt und Weill-Brechts Schuloper
Der Jasager, Leipzig Weill-Brechts Aufitieg und Fall der Stadt Mahagonny
und wiederum Berlin Milhauds Christophe Colombe und Kreneks Leben des
Orest. Strawinskys Psalmensinfonie wird von Ernest Ansermet in Brüssel aus
der Taufe gehoben.
Von Hesse erscheint Narziß und Goldmund, von Musil Der Mann ohne Ei-
genschaften, von Roth Hiob und von Hemingway die deutsche Ausgabe sei-
nes In einem anderen Land. Breton veröffentlicht das zweite surrealistische
Manifest und Alfred Rosenberg fast gleichzeitig die erste Nummer seiner
Nationalsozialistischen Monatshefte. Max Beckmann malt Selbstbildnis mit
Saxophon, Matisse Tiare. AdolfLoos wird 60 Jahre alt.
Am 12. März hat der deutsche Reichstag den Young-Plan für weitere Repa-
rationsleistungen angenommen, und zwei Wochen später ist die Kanzler-
schaft nach dem Rücktritt des Kabinetts Müller auf Heinrich Brüning über-
gegangen. Im Mai bekennt sich die Österreichische Heimwehr zu den Prin-
zipien des Faschismus, und Ende Juni haben die letzten französischen Trup-
pen Deutschland verlassen. Aus den Reichstagswahlen vom 14. September
geht die NSDAP als zweitgrößte Partei (nach der SPD) hervor, was einen
erheblichen Zulauf von neuen Mitgliedern sowie ein geheimes Treffen von
Brüning mit Hitler zur Folge hat, dessen Dezemberansprache an die Stu-
denten der Berliner Technischen Hochschule begeisterte Aufnahme findet.
Der erste Analogrechner wird von Vannevar Bush in Gang gesetzt; Beisenberg
veröffentlicht Die physikalischen Prinzipien der QJ,tantentheorie, Karl Menninger
The Human Mind. Inzwischen entdeckt Schönberg in Jakob Klatzkins Proble-
me des modernen Judentums vieles, was seinen im Text zu Moses und Aron einge-
nommenen Standpunkt zu bestärken scheint, und mit dem von ihm hoch-
geschätzten Autor nimmt er dann auch sehr bald freundliche Beziehungen auf.
1931 Im Januar befinden sich Schönberg und Frau wieder in London zur Rund-
funksendung von Erwartung op. 17. Einige Zeit später hebt Else Kraus das
46 Chronik
der Hitlers persönliches Eingreifen zur Folge hat. Mit dem Bankrott der
Wiener Kreditanstalt verschärft sich die finanzielle Lage sowohl in Öster-
reich als auch in Deutschland, wo die Banken nach dem Zusammenbruch
der Danat-Bank am 13. Juli fast einen Monat geschlossen bleiben. Arturo
Toscaninis Weigerung, ein Konzert mit der faschistischen Hymne Giovinezza
zu beginnen, provoziert junge Faschisten im Mai zu einer körperlichen Ge-
walttat gegen den weltberühmten italienischen Dirigenten, und im Herbst
werden Synagogengänger am großen Versöhnungstag von Berliner SA-Män-
nern angegriffen, während japanische Streitkräfte am 21. September die
mandschurische Grenze überschreiten. Die Erweiterung der Notmaßnah-
men wird von der deutschen Rechten mit einer nationalen Front gegen den
Kommunismus beantwortet. Am 10. Oktober empfängt Reichskanzler
Brüning Adolf Hitler, der sich kurz darauf Hindenburg vorstellt. Ende des
Jahres zählt Deutschland 5.700.000 Arbeitslose und über 800.000 Mitglie-
der der NSDAP. Deramerikanische Physiker Urey hat inzwischen den schwe-
ren Wasserstoff entdeckt.
1932 Am Abend der Frankfurter Uraufführung seiner Vt'er Lieder für Gesang und
Orchester op. 22 wird ein von Schönberg in Barcelona verfaßter Kommen-
tar verlesen. Die Arbeit an Moses und Aron bricht im März endgültig ab.
Nuria, das erste der drei Kinder aus Schönbergs zweiter Ehe, kommt am
7. Mai in die Welt, aus der Emil Hertzka, der langjährige Leiter der Univer-
sal Edition, zwei Tage später scheidet. Am 24. Mai schreibt Schönberg, ihm
graue vor der Rückkehr nach Deutschland, und am nächsten Tag erinnert
er Berg an seine langjährige innere Verbundenheit mit dem Judentum. Den-
noch ist er ab November wieder in Berlin unter dem starken persönlichen
und künstlerischen Eindruck von Pablo Casals mit dem Cellokonzert nach
G. M. Monn beschäftigt. Webern hat beim Wiener IGNM-Fest die Beglei-
tungsmusik zu einer Lichtspielszene op. 34 und Friede aufErden op. 13 sowie
Bergs Der min dirigiert. Weills Bürgschaft, Sehrekees Schmied von Gent und
Strawinskys Duo Concertant kommen in Berlin zur Uraufführung. Zernlinsky
komponiert Klabunds Kreidekreis. Am 10. Januar hat in München das erste
Konzert des NS-Symphonieorchesters stattgefunden, und kurz darauf ist
Richard Eichenauers quasi-wissenschaftliche Studie Musik und Rasse erschie-
nen. Gegen Jahresende veröffentlichen zehn prominente italienische Kom-
ponisten, einschließlich Casella und Respighi, ihr gezielt antimodernistisches
Manifest, und in Weimar wird das Bauhaus ohne großes Aufsehen geschlossen.
Den Berliner Theatererfolg des Jahres hat Hauptmanns vor Sonnenunter-
gang verzeichnet. Beliebte Neuerscheinungen waren Radetzky-Marsch von
Joseph Roth, Kästners Gesang zwischen den Stühlen und Hans Falladas be-
sonders zeitgemäßer Roman Kleiner Mann was nun?.
Hitler verhandelt bereits im Januar mit zahlreichen Persönlichkeiten des
Zentrums. Am 22. Februar erklärt er seine Präsidentschafts-Kandidatur, ob-
wohl seine offizielle Einbürgerung noch drei Tage aussteht. Die Wahl selbst
bringt ihm keine Majorität, und am 10. April wird Hindenburg feierlich in
48 Chronik
seinem Amt bestätigt. Wenige Tage später folgt das Verbot der militanten
NS-Verbände (SA und SS), und bei den Landtagswahlen verlieren die Na-
tionalsozialisten einen Teil ihrer Mandate. Bei den Wiener Stadtwahlen er-
halten sie sogar nur 15 von insgesamt 100. Das Österreichische Kanzleramt
geht im Mai an Dollfuß über, und in Deutschland wird Brüning von Franz
von Papen abgelöst. Ende August spricht Hitler zum ersten Mal von "Blitz-
krieg", nicht zufällig vor Besuchern aus Danzig, und am 1. September ju-
beln ihm 20.000 fanatische Zuhörer im Berliner Sportpalast zu, wo er schon
nach zwei Monaten wieder im Rahmen der nächsten Reichstagswahl-
kampagne spricht. Die Wahlen selbst enden jedoch erneut mit einer Nie-
derlage für die NSDAP zusammen mit ihrem Erzfeind, der KPD, die den
Streik der Berliner Transportarbeiter unterstützt hat. Mit von Papens Rück-
tritt am 17. November übernimmt General von Schleicher zunächst eine
ganze Reihe von Ministerien und am 2. Dezember schließlich das Kanzler-
amt, obwohl Hindenburg unter wachsendem Druck von großindustrieHer
Seite steht, die Kanzlerschaft Hitler zu übergeben. Inzwischen hat Chadwick
das Neutron entdeckt, und Cockcroft sind die ersten Atomkernzertrümme-
rungsversuche gelungen, während Bergson Les deux sources de Ia morale et de
Ia religionveröffentlicht hat, dessen deutsche Ausgabe noch 1933 erscheint.
1933 Schönberg vollendet das Cellokonzert (nach Monn) sowie Drei Lieder for
tiefe Stimme und Klavier op. 48. Einen Monat nach der nationalsozialisti-
schen Machtübernahme, d. h. vier Wochen vor dem berüchtigten Juden-
boykott, gibt der neue Präsident der Akademie, Max von Schillings, den
bevorstehenden Ausschluß aller jüdischen Mitglieder bekannt. Dementspre-
chende Schreiben ergehen an Schönberg, Schreker und andere allerdings
erst Ende Mai. Schönberg und Familie befinden sich zu der Zeit bereits in
Paris, wo er am 24. Juli in der liberalen Synagoge auf feierliche Weise mit
Mare Chagall als Zeugen seine Rückkehr zum Judentum erklärt. Im August
beendet er das Konzert for Streichquartett und Orchester nach dem Concerto
grosso op. 6 Nr. 7 von G. F. Händel. Im Dritten Reich ist seine Musik und die
seiner Schüler inzwischen als "entartete Kunst" verpönt; dasselbe gilt aller-
dings aus rassischen oder sonstigen ideologischen Gründen für Vertreter
verschiedenster Stilrichtungen, u. a. Kurt Weill, der ebenfalls nach Paris
entwichen ist und dort die Premiere der Sieben Todsünden vorbereitet. Sein
Silbersee ist noch im letzten Moment in Leipzig zur Uraufführung gekom-
men. Schönberg benützt seinen Pariser Aufenthalt vor allem zur Werbung
für eine von ihm konzipierte jüdische Einheitspartei und wendet sich in
diesem Zusammenhang an unzählige Künstler und Politiker. Ende August
erreicht ihn die Nachricht vom Ableben seines guten Freundes Adolf Loos,
und zwei Monate später schifft er sich mit seiner Familie nach den Vereinig-
ten Staaten ein, während sein einstiger Mentor Richard Strauss am 5. No-
vember die Präsidentschaft der nationalsozialistischen Reichsmusikkammer
antritt. Nach Joseph Goebbels' entrüsteter Zurückweisung von Wilhelm
Furtwänglers Eingabe zugunsten einiger vermeintlich unersätzlicher jüdi-
Chronik 49
scher Musiker verlieren so gut wie alle Künstler jüdischer Abstammung ihre
offiziellen Stellen. Mancher, dem die Auswanderung aus rein materiellen
oder politischen Gründen verschlossen bleibt, findet ab Juni jedoch ein neues
Arbeitsfeld im jüdischen Kulturbund, dessen ausgezeichnete Theatervor-
stellungen, Konzerte und Ausstellungen vor allem in Berlin und Frankfurt,
aber auch in anderen Städten, ein schnell anwachsendes begeistertes Publi-
kum finden.
Die politischen Ereignisse haben sich inzwischen überstürzt: Der von den
Nazis angestiftete Reichstagsbrand hat bereits einen Monat nach Hitlers
"Machtergreifung" vom 30. Januar zu Massenfestnahmen von Kommuni-
sten und anderen Oppositionellen geführt. Gewalttaten seitens der SA sind
gang und gäbe; eine Linkspresse gibt es nicht mehr. Dennoch erhält die
NSDAP bei den im März gehaltenen Reichstagswahlen nur 288 von 647
Mandaten. Am 1. April findet ein von öffentlichen Terroraktionen begleite-
ter Judenboykott statt und am 10. Mai die von Nazi-Studenten und -Pro-
fessoren organisierte öffentliche Verbrennung alles "undeutschen" Schrift-
tums. Von Pranz Werfel waren gerade Die 40 Tage des Musa Dagh erschie-
nen und von Thomas Mann Die Geschichten jaakobs. Ernst Tollers Eine
Jugend in Deutschland gehört bereits zur Exilliteratur. Nach der Auflösung
der deutschen Oppositionsparteien schließt Hitler am 8. Juli ein Konkordat
mit dem Heiligen Stuhl. Es garantiert das aktive Fortbestehen der katholi-
schen Kirche in Deutschland, solange sie sich nicht in innerpolitische An-
gelegenheiten einmischt. Ende August feiert die Partei ihren "Triumph des
Willens" beim 5. Nürnberger Parteitag, während in Prag der 18. Zionisten-
kongreß tagt, in dem die Revisionisten auf eine militantere Haltung drän-
gen, der sozialdemokratische Flügel dagegen weiterhin auf Diplomatie und
Verhandlungen. In Österreich führen nationalsozialistische Versuche, den
Anschluß zu forcieren, im Oktober zur Quasi-Diktatur des Kanzlers Doll-
fuß, der nicht weniger als fünf Ministerämter übernimmt. Webern hat sich
inzwischen eine rein politische Auslegung seines März-Programms mit der
Wiener Arbeitersymphonie gefallen lassen müssen, weil es Werke von Krenek,
Eisler und Pisk enthielt. Wie zu erwarten, erklärt die NSDAP ihren endgül-
tigen Wahlsieg am 12. November mit 639 von 661 Reichstagsmandaten.
Und im geschichtlichen Augenblick, in dem seine schlimmsten Befürch-
tungen zur Wirklichkeit wurden, ist Jakob Wassermann 60 Jahre alt aus
dem Leben geschieden.
1934 Schönberg unterrichtet seit November 1933 am Bostoner Malkin-Konser-
vatorium, das ihm die Einreise nach Amerika ermöglicht hat, muß jedoch,
um höchst bescheiden leben zu können, gleichzeitig in New York Stunden
geben, was seine Gesundheit stark belastet; besonders im Sommer macht
ihm die vielstündige Bahnfahrt bei großer Hitze sehr zu schaffen. Er siedelt
daher zunächst nach New York über und dann im Herbst, aufgrund eines
Rufes der Universität von Südkalifornien nach Los Angeles. Zwischendurch
dirigiert er Pelleas und Melisande op. 5 in Boston und hält Vorträge über
50 Chronik
Komposition mit zwölfTönen an der Universität von Chicago. Für den New
Yorker Musikerzieher Mactin Bernstein komponiert er ein Werk für Schul-
orchester, die Suite for Streichorchester. Undtrotzall dieser Belastungen in-
tensiviert er seine politische Tätigkeit zur Rettung europäischer Glaubens-
genossen mit Hilfe von öffentlichen Vorträgen und Publikationen (u. a.
Rundschreiben an meine Freunde und Speech on the ]ewish Situation). Wäh-
rend das Kolisch-Quartett sein Konzert for Streichquartett und Orchester nach
Händel am 29. September in Prag aus der Taufe hebt, trägt Furtwänglers
leidenschaftlicher Einsatz für Hindemiths Symphonie Mathis der Maler in
Deutschland ausgiebig zur Klärung der offiziellen Haltung gegenüber der
musikalischen Moderne bei. Der in bitteren Tönen öffentlich bestrittene
"Fall Hindemith" endet schließlich am 4. Dezember mit Furtwänglers Rück-
tritt von allen seinen Ämtern. Ein ähnliches Los hat den Berliner General-
musikdirektor Erich Kleiber bereits einige Tage nach seiner Uraufführung
von Alban Bergs Lulu-Suite ereilt. Bergs Lyrische Suite ist dagegen mit gro-
ßem Erfolg erstmalig beim Fest der IGNM in Florenz zu Gehör gekom-
men, und seine Oper Lulu (nach Wedekind) macht gute Fortschritte. We-
bern befaßt sich im Sommer vor allem mit der Festschrift zu Schönbergs
60. Geburtstag und Bearbeitungsaufträgen (u. a. das Ricercare aus Bachs
Musikalischem Opfer). Er vollendet aber auch das Konzert op. 24 sowie die
Lieder op. 23 und op. 25. In Amerika häufen sich mittlerweile die Musik-
emigranten: ErnstToch, Erich Wolfgang Korngold, Franz Wachsmann, Paul
Bekker und später Theodor W. Adorno, während Richard Strauss im Laufe
der Reichstheaterwoche in Dresden von AdolfHitler persönlich empfangen
wird. Nicht lange nach der Leningrader Uraufführung von Schostakowitschs
Oper Lady Macbeth aus Mzensk setzt sich der Erste Unionskongreß der
Sowjetschriftsteller für den Sozialistischen Realismus ein, und in den deut-
schen Museen werden Kandinskys "entartete" Werke beschlagnahmt. Das
Propagandaministerium untersagt den Gebrauch fremdklingender
Künstlerpseudonyme, und die NS-Kulturgemeinde bestellt neue Partitu-
ren zu Shakespeares Sommernachtstraum bei Wagner-Regeny undJ. Weiß-
mann. Inzwischen kommt die erste integral komponierte jüdische Sab-
bat-Liturgie, Ernest BlochsAwodat Hakodesch, in Turin zur Uraufführung,
und Ende April dirigiert Strawinsky Persephone in Paris. Bart6k kompo-
niert sein Fünftes Streichquartett, und die Cantata Profana hat ihre Pre-
miere in London. Die englische Musik verliert allerdings im Laufe von
wenigen Monaten ihre drei Altmeister Elgar, Holst und Delius. Am 21.
März ist Franz Schreker, ein von seiner Behandlung durch die National-
sozialisten gebrochener Mann, verstorben. Erich Mühsam wurde im Kon-
zentrationslager zu Tode gequält.
Das ereignisreiche politische Jahr begann am 26. Januar mit dem "Nichtan-
griffspakt" zwischen Deutschland und Polen, und im März erklärte Hin-
denburg das Hakenkreuz zum offiziellen Emblem der deutschen Armee.
Das Problem Österreich führt Mitte Juni zum ersten von vielen Treffen
Chronik 51
zwischen Hitler und Mussolini, und am 30. Juni, in der "Nacht der lan-
gen Messer", räumt Hitler seinen einstigen Mentor Röhm und seinen al-
ten Kampfgenossen Gregor Strasserneben zahlreichen anderen Mitkämp-
fern und verdächtigen führenden Persönlichkeiten, einschließlich des letz-
ten legitimen Kanzlers General von Schleicher, aus dem Weg. Vier Wo-
chen später erliegt dann der Österreichische Kanzler Dollfuß einem Atten-
tat. Zu seinem Nachfolger wird Hermann Schuschnigg gewählt. Präsi-
dent Hindenburg stirbt am 2. August, und die Wehrmacht schwört den
Eid auf Hitler. Noch im selben Monat erklären fast 90 Prozent der deut-
schen Wähler ihre Zustimmung zur Abschaffung der Reichspräsidentschaft.
Der 6. Parteitag der NSDAP bringt ein Riesenaufgebot an propagandisti-
scher Inszenierung, dem Leni Riefenstahl mit ihrem Film Triumph des
Willens ein bleibendes Denkmal setzt. In China beginnt Mao Tse-tungs
"Langer Marsch". Und am Ende gibt ein sogenannter Grenzzwischenfall
Italien Anlaß zum Krieg gegen Äthiopien. In der Sowjetunion sind Stalins
gewalttätige Säuberungsaktionen bereits in vollem Gange. Kurzum, auf
einer breiten europäischen Front sind totalitäre Tendenzen erkennbar ,
die ihre theoretische Unterbauung u. a. durch Karl Haushafers Weltpolitik
von Heute erfahren haben.
1935 Schönberg beginnt mit der Arbeit am Violinkonzert op. 36 und arrangiert
die Erste Kammersymphonie op. 9 für großes Orchester, bevor er im Herbst
seine Tätigkeit an der Universität von Südkalifornien antritt. Im Mai bringt
Klemperer die Uraufführung der Suite für Streichorchester in Los Angeles,
und im Dezember spielt Feuermann das Cellokonzert nach Monn in Lon-
don. Kurz danach dirigiert Schönberg die Philharmoniker von Los Angeles
in einem Programm eigener Werke. Seine Orchestervariationen op. 31 sind
inzwischen beim IGNM-Fest in Prag zu Gehör gekommen, drei Tage vor
Weberns Konzert op. 24. Berg arbeitet nach Abschluß seines dem Anden-
ken von Alma Mahlers Tochter Manon Gropius gewidmeten Violinkonzerts
am letzten Akt seiner Oper Lulu bis zu seinem eigenen frühzeitigen Tod am
24. Dezember. Webern komponiert Das Augenlicht op. 26 und leitet sein
letztes Konzert im Österreichischen Rundfunk. Richard Strauss fällt mit
der Dresdener Uraufführung seiner Oper Die schweigsame Frau auf einen
Text von Stefan Zweig in offizielle Ungnade und muß am 13. Juli die Präsi-
dentschaft der Reichsmusikkammer zu Gunsten von Peter Raabe niederle-
gen, der sich mit einem Vortragsbändchen über Die Musik im Dritten Reich
verdient gemacht hat. Mangels einer geeigneteren Persönlichkeit wird Furt-
wängler weiterhin mit der Leitung der Berliner Philharmoniker betraut.
Amerika profitiert inzwischen von der unerwarteten Einwanderung so vie-
ler führender Musiker- 1935 u. a. Kurt WeiH und Hanns Eisler (zunächst
besuchsweise) sowie das Kolisch-Quartett -, deren verhältnismäßig unpro-
blematische Eingliederung in das öffentliche Musikleben andererseits nicht
zuletzt dem im Rahmen von Präsident Roosevelts Wirtschafts-Wiederauf-
bauplänen gegründeten "Federal Music Project" zu verdanken ist, das Tau-
52 Chronik
senden von Musikern Arbeit verschafft und auch für die New Yorker Urauf-
führung von Brechts Die Mutter mit Eislers Musik verantwortlich zeichnet.
George Gershwins Oper Porgy and Bess ist am 30. September in Boston in
Szene gegangen. Einen Monat später beginnt das New Yorker "Composers
Forum Laboratory" seine im Laufe der nächsten Jahre zahlreichen Kompo-
nisten und ihren Werken zugute kommende Tätigkeit. In Deutschland sind
die letzten Nicht-Arier aus den Orchestern entfernt worden, und ab 12. Okto-
ber ist Jazz im Rundfunk verboten.
Seit Mitte Januar ist das Saarland wieder deutsch; im März wird die längst
erfolgte, gegen den Versailler Friedensvertrag verstoßende Gründung der
Deutschen Luftwaffe offiziell bekanntgegeben und die allgemeine Wehr-
pflicht wiedereingeführt. Ende Mai verweigert Schuschnigg Österreichs
Anschluß ans Reich. Drei Wochen später verliert der Versailler Vertrag
mit dem Deutsch-Britischen Flottenabkommen jegliche Gültigkeit. Am
26. Juni werden alle Deutschen im Alter von 18 bis 25 Jahren der Arbeits-
dienstpflicht unterstellt, und Mitte Juli übernimmt ein neues Reichs-
kirchenministerium die Kontrolle aller religiösen Einrichtungen und Tä-
tigkeiten. Der in Luzern tagende 19. Zionistenkongreß gibt Wladimir
Jabotinsky Anlaß zur Gründung seiner revisionistischen Zionisten-
organisation, deren militante Ideologie er bereits in der Schrift Die Idee
des Betar auseinandergesetzt hat. Mit dem "Reichsbürgergesetz" und den
vom Reichstag einstimmig verabschiedeten Nürnberger Gesetzen "zum
Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" wird die Aussto-
ßung aller sogenannten Nicht-Arier aus der deutschen Gesellschaft am
15. September unwiderruflich besiegelt, und etwaige noch tätige Beam-
ten jüdischer Abstammung sehen ihrer fristlosen Entlassung entgegen.
Inzwischen hat das Gesetz zur Sicherung der Deutschen Evangelischen
Kirche dem Reichskirchenministerium die uneingeschränkte Macht über
das christliche Leben Deutschlands zugesichert.
Im Exil hat Heinrich Mann Die fugend des Königs Henri Quatre veröffent-
licht, Kurt Tucholsky wählt dagegen noch vor Ende des Jahres den Frei-
tod.
1936 Das Jahr zeitigt Schönbergs erste große amerikaaisehe Instrumentalwerke:
das Vierte Streichquartett op. 37 und das Violinkonzert op. 36. Er nimmt
seinneuesAmt als Professor an der Universität von Kalifornien in Los Angeles
auf und erwirbt ein bequemes Haus in Brentwood Park. Mit George
Gershwin, der sein regelmäßiger Tennispartner wird, bahnt sich eine herzli-
che Freundschaft an. Das Kolisch-Quartett hat sein Erstes Streichquartett
op. 7 bereits zu Anfang des Jahres in New York zu Gehör gebracht, und die
League ofComposers sorgt für Aufführungen von Bergs Der wein und Hin-
demiths neuem Bratschenkonzert, dessen Komponist in seiner Heimat jetzt
offiziell als persona non grata gilt. Inzwischen hat Webern seine Klavierva-
riationen op. 27 vollendet und arbeitet am Streichquartett op. 28. Zemlinsky
komponiert sein Drittes Streichquartett op. 25 sowie Zwölf Lieder op. 27.
Chronik 53
Mit dem "spontanen" Pogrom der "Kristallnacht" vom 9. zum 10. Novem-
ber, dem fast alle jüdischen Gotteshäuser im nunmehrigen Großdeutschland
zum Opfer fallen, erlischt jegliche Hoffnung für die verbleibenden Juden,
deren Auftreten in der Öffentlichkeit fast vollständig eingeschränkt wird.
Göring beschlagnahmt die Versicherungszahlungen für den auf seinen Be-
fehl angerichteten Massenschaden und fordert eine jüdische Sühneleistung
von einer Trillion Reichsmark. Außenpolitisch ist es Hitlers größtes Erfolgs-
jahr, angefangen im März mit dem ohne einen einzigen Schuß hingenom-
menen triumphalen deutschen Einmarsch in Österreich über das Münch-
ner Abkommen vom 29. September, dem die Tschechoslowakei zum Opfer
fallt, bis zur deutsch-französischen Nichtangriffserklärung vom 6. Dezember.
1939 Schönberg schließt nach 33 Jahren seine Zweite Kammersymphonie op. 38
ab, beschäftigt sich, von seinen akademischen Verpflichtungen abgesehen,
jedoch hauptsächlich mit Plänen und Vorschlägen zur Rettung der europäi-
schen Juden. Denn was er schon 1923 fast hellseherisch vorausgesehen hat-
te, ist im Licht von Hitlers Reichstagsrede zum Jubiläum der Machtergrei-
fung am 30. Januar schauerlichste Wirklichkeit geworden: Die "Vernich-
tung der jüdischen Rasse" ist bereits im detaillierten Planungsstadium. ln-
zwischen kommen beim Londoner Festival of Music for the People Werke
von Schönberg (Friede aufErden op. 13) und Eisler zur Aufführung; We-
bern vollendet seine Erste Kantate op. 29, Bart6k sein Sechstes Streichquartett
und das Divertimento, der junge Olivier Messiaen Les corps glorieux. Die
lange für unspielbar erklärte Concord Sonata von Schönbergs amerikani-
schem, von ihm sehr geschätzten Altersgenossen Charles lves kommt end-
lich in New York zur sensationellen Uraufführung. Ende des Jahres folgt in
Seattle die Imaginary Landescape No 1 von John Cage, der bei Schönberg
kurze Zeit studiert hat. Unter den vielen Kollegen, die in diesem Jahr in
Amerika Zuflucht suchen, befinden sich neben seinem ehemaligen Schüler
Heinrich Jalowetz, dem er eine Stelle an einem kleinen College verschafft,
Rudolf Serkin, Paul Dessau und vor allem Igor Strawinsky, der bereits im
Winter Vorlesungen an der Harvard-Universität hält (Poetique musicale).
Langsam nimmt auch die schriftstellerische Produktion von emigrierten
Autoren wieder zu, mit u. a. Thomas Manns Lotte in Weimar und Werfels
Der gestohlene Himmel. In Deutschland veröffentlicht Ernst Jünger Aufden
Marmorklippen, und Goebbels erläßt am 29. März seine Anordnung Zum
Schutze musikalischen Kulturgutes.
- Am 15. März marschieren deutsche Truppen in Böhmen und Mähren ein
und am 23. März ins Memelgebiet. Mit dem sogenannten Stahl-Pakt vom
22. Mai erhält die Achse Berlin-Rom weitere Verstärkung, und am 23. Au-
gust kommt es zum Abschluß eines deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts
und Geheimabkommens, womit dem längst geplanten deutschen Angriff
auf Polen nichts mehr im Wege steht, es sei denn eine Kriegserklärung der
Westmächte, die auch prompt erfolgt. Einige Tage nach dem Zusammen-
bruch des polnischen Widerstandes finden die ersten Deportationen von
56 Chronik
Juden aus Österreich und Böhmen nach dem Osten statt, und am 26. Ok-
tober werden die Juden Polens dem Arbeitszwang unterstellt. Am 30. No-
vember fallen sowjetische Streitkräfte in Finnland ein.
- Sigmund Freud ist im englischen Exil gestorben, Ernst Toller hat Selbst-
mord begangen.
1940 Zu Beginn des Herbstes ist Schönberg mit der ersten Schallplattenaufnah-
me von Pierrot Lunaire op. 21 beschäftigt. Die Uraufführung seines Violin-
konzerts op. 36 durch Louis Krasner erfolgt am 6. Dezember in Philadel-
phia und die seiner Zweiten Kammersymphonie op. 38 unter Stiedry neun
Tage später in New York. Eisler widmet Schönberg seine Musik zu Joris
lvens' Kurzfilm Regen. Strawinsky, der die Chicagoer Uraufführung seiner
Symphonie in C selbst leitet, läßt sich ebenfalls in Hollywood nieder, und im
Laufe des Jahres erreichen Bela Bart6k, der Geiger AdolfBusch und Polens
erster Präsident, der Pianist Ignaz Paderewski, Amerika. Webern kompo-
niert die Orchestervariationen op. 30 und wohnt in Basel der Uraufführung
seiner George-Lieder op. 4 bei. Bart6ks Mikrokosmos erscheint im Druck.
Hindemith vollendet die Vier Temperamente und das Cellokonzert, Karl
Amadeus Hartmann die Sinfonia tragica, und in Florenz kommt am 18. Mai
Luigi Dallapiccolas Wllo di Notte zur Uraufführung.
Ernest Hemingway veröffentlicht seinen unter dem tragischen Eindruck
des spanischen Bürgerkrieges geschriebenen Roman For Whom the Bell Calls.
Die bildende Kunst verliert mit Paul Klee einen ihrer Größten, die Philoso-
phie mit Walter Benjamin.
- Der monatelang anhaltende "Dröle de Guerre" findet am 9. April mit dem
deutschen Angriff auf das neutrale Dänemark und Norwegen ein abruptes
Ende, und am 10. Mai beginnt der deutsche Westfeldzug gegen Holland,
Belgien, Luxemburg und Frankreich. Churchill wird Chamberlains Nach-
folger, während Deutschland und Frankreich am 22. Juni einen Waffenstill-
stand schließen, der zur effektiven Teilung Frankreichs führt. Durch den
Beitritt Japans wird die Achse Berlin-Rom am 27. September zu einem
Drei-Mächte-Pakt. Am 28. Oktober erfolgt dann der italienische Überfall
auf Griechenland. In Polen ist bereits Ende April in Lodz das erste jüdische
Ghetto eingerichtet worden. Mitte Oktober folgt das einen Monat später
hermetisch von der Außenwelt abgeschlossene Warschauer Ghetto, und alle
im "Generalgouvernement" ansässigen Juden müssen fortan den gelben Fleck
mit dem Davidstern sichtbar tragen.
1941 Schönbergs Sohn Lawrence ist am 27. Januar geboren, und am 11. April
werden die Eltern amerikanische Staatsbürger. Die im August begonnene
Komposition der Variations on a Recitative für Orgel op. 40 kommt im Ok-
tober zum Abschluß, eine Orgelsonate bleibt dagegen Fragment. Schönbergs
Bruder Heinrich ist in der Zwischenzeit unter verdächtigen Umständen in
einem Salzburger Spital verstorben. Luigi Dallapiccola hat seine Canti di
Prigionia vollendet, Petrassi Coro di Morti, Strauss die Oper Capriccio,
Aaron Copland seine Klaviersonate und Michael Tippett das Oratorium
Chronik 57
A Child ofOur Time, das den leidenden Kindern der ganzen Welt gewidmet
ist. Im belagerten Leningrad arbeitet Schostakowitsch an seiner Siebenten
Symphonie, während Kurt Weill den Broadway mit dem Musical Lady in the
Dark erobert.
Von Werfel erscheint das Lied der Bernadette, und am 19. April erfolgt die
Züricher Premiere von Brechts Mutter Courage und ihre Kinder. Drei Mona-
te später trifft der Autor in Los Angeles ein.
Anfang April fallt die Wehrmacht in Jugoslawien und Griechenland ein,
und kurz nach der Unterzeichnung eines Freundschaftsvertrages mit der
Türkei beginnt am 22. Juni "Barbarossa", der Überraschungsangriff auf die
Sowjetunion. Am 31. Juli ergeht der Auftrag für die "Endlösung" an Rein-
hard Heydrich, der binnen zwei Monaten die ersten Vergasungsversuche
durchführen läßt. Am 28. September werden in Kiew in weniger als
24 Stunden 34.000 Juden ermordet, und am 20. Oktober finden die ersten
Deportationen deutscher Juden nach Ghettos und Konzentrationslagern
im Osten statt. Ihre zurückgelassenen Vermögen verfallen dem Staat. Der
japanische Überfall auf Pearl Harbour bringt Deutschland, wie verabredet,
in den Krieg gegen die USA.
1942 - Schönberg komponiert die Ode to Napoleon Buonaparte op. 41 auf einen
Text von Lord Byron für Sprecher-, Klavier und Streichquartett sowie das
Klavierkonzert op. 42 und redigiert sein Lehrbuch Models for Beginners in
Composition. Am 16. März hat er den brüderlichen Freund Zemlinsky ver-
loren. Vom Tod seines ehemaligen Schülers Erwin Schulhoff in einem Nazi-
Konzentrationslager erfährt er erst nach dem Krieg. Beim 19. Fest der IGNM
in Berkeley, Kalifornien, kommen Schönbergs Klavierstücke op. 19 zusam-
men mit Werken von Bart6k, Hindemith und Milhaud zu Gehör. Webern
gibt in Wien nur noch Privatunterricht, u. a. an Karl Amadeus Hartmann.
Hindemith vollendet sein kontrapunktisches Meisterwerk Ludus tonalis in
Amerika fast gleichzeitig mit John Cages lmaginary Landscapes No 2 und No 3.
Brecht und Dessau treffen in New York zusammen. Eisler wohnt jetzt nicht
weit von seinem Lehrer Schönberg, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel
in Beverly Hills. Kurz vor Stefan Zweigs Freitod im brasilianischen Exil
erscheint sein letztes, autobiographisches Werk Die Wflt von gestern.
Am 20. Januar hat die Wannsee-Besprechung über die Endlösung der Ju-
denfrage stattgefunden, gefolgt im März von der Errichtung des Todeslagers
Belzec. AnfangJuni wird Heydrich von tschechischen Patrioten getötet, und
kurz danach beginnt die Liquidierung der ukrainischen Ghettos. Den letz-
ten in Deutschland verbliebenen Juden wird im Sinn von Volksgerichts-
präsident Freislers Entwurfüber Beschränkung der Rechtsmittel in Strafsachen
für Juden jeglicher Rechtschutz entzogen. Am 7. November landen die Alli-
ierten in Nordafrika.
1943 - Durch den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg er-
fährt das Kulturleben auch dort bisher unbekannte Beschränkungen. Schön-
berg komponiert nur ein für Schülerensemble geschriebenes Gelegenheits-
58 Chronik
werk, Thema und Variationen in g-Mollfor Blasorchester op. 43a, Bart6k sein
erstes amerikanisches Werk, das Konzert for Orchester. Ende März scheidet
Sergej Rachmaninow im Alter von 69 Jahren aus dem Leben. In Europa
vollendet Webern seine Zweite Kantate op. 31, und die Variationen for Or-
chester op. 30 kommen unter Scherehen in Wintertbur zur Uraufführung.
Messiaen, der sein Quatuor pour Ia fin du temps im Vorjahr noch in deut-
scher Kriegsgefangenschaft komponiert hatte, stellt sich in Paris mit Visiom
de !'Amen vor. Schostakowitsch arbeitet an seiner Achten Symphonie.
In Zürich gehen Brechts Der gute Memch von Sezuan und Leben des Galilei
in Szene. Unter den Neuerscheinungen befinden sich Hermann Hesses
Glasperlempiel, Arnold Zweigs Schachnovelle, Bredels Die Väter und Alfred
Neumanns Es waren ihrer sechs. Von der nach Palästina ausgewanderten Dich-
teein Else Lasker-Schüler erscheint ein Gedichtband Mein blaues Klavier.
Die Schlacht um Stalingrad hat mit der Kapitulation der deutschen Trup-
pen unter General von Paulus am 2. Februar geendet. Die Anfänge einer
effektiven deutschen Widerstandsbewegung werden dagegen schon drei
Wochen später mit der Hinrichtung der Geschwister Scholl im Keim er-
stickt. Während die letzten Streitkräfte der Achse in Nordafrika am 12. Mai
kapitulieren, wird Deutschland Ende Mai offiziell für "judenrein" erklärt.
Zwei Wochen später ordnet Himmler die Liquidierung aller polnischen
Ghettos an, und am 13. Juli erfolgt die Hinrichtung des in die Scholl-Affäre
verwickelten Münchner Psychologen und Musikwissenschaftlers Kurt Hu-
ber. In Italien gelingt dagegen am 25. Juli der Sturz Mussolinis und seines
Regimes durch italienische Widerstandskräfte, der am 3. September zum
separaten Waffenstillstand mit den Alliierten führt.
1944 Schönbergs stets labiler Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends
in seinem 70. Lebensjahr, zumal er sich gesetzlich gezwungen sieht, in den
Ruhestand zu treten. Angesichts seiner kurzen Dienstzeit an der Universität
von Kalifornien steht ihm eine kaum nennenswerte Rente zu. Sein 70. Ge-
burtstag wird jedoch in ganz Amerika gebührend mit Konzerten gefeiert.
So gibt Steuermann schon am 6. Februar die New Yorker Uraufführung des
Klavierkonzerts op. 42, und zwei Monate später folgt Karl Weinrieb mit den
Orgelvariationen op. 40. Am 20. Oktober dirigiert Koussewitzky Thema und
Variationen in der Orchesterfassung {op. 43B), und das Schönberg-Jahr
schließt mit der New Yorker Uraufführung der Ode to Napoleon Buonaparte
op. 41, die nicht zuletzt aufgrundihres äußerst zeitgemäßen Textes einen
tiefen Eindruck hinterläßt. Seine im Oktober begonnene Revisionsarbeit
an der Jakobsleiter führt der Komponist nach dem 104. Takt nicht weiter.
Von ihm nahestehenden Kollegen und Freunden sind Wassily Kandinsky,
der Musikwissenschaftler Carl Engel und der Schriftsteller Romain Rolland
aus dem Leben geschieden. Unter den erstmalig aufgeführten Werken ha-
ben Hindemiths Symphonische Metamorphosen in New York und Ende des
Jahres Bart6ks Orchesterkonzert in Boston besonders starke Eindrücke hin-
terlassen. Inzwischen hat Bart6k seine Soloviolimonate vollendet, Strawin-
Chronik 59
sky die Sonate for zwei Klaviere und Copland das überaus erfolgreiche Bal-
lett Appalachian Spring. In Paris ist Technique de mon Iangage musical von
Messiaen erschienen, der auch die Komposition von Vingt Regards sur l'Enfont
jisus kurz vor der Landung der Alliierten in der Normandie beendet.
Das Scheitern des Stauffenbergschen Attentats aufHitler am 20. Juli führt
eine grausame Säuberungsaktion herbei, die eine weitere Abschwächung
der bereits dezimierten Oberschicht des deutschen Offizierskorps zur Folge
hat. Das Jahr endet mit der Ardennen-Offensive, Hitlers letztem, von vorn-
herein zum Scheitern verurteilten Siegesplan.
1945 Die Guggenheim-Stiftung lehnt Schönbergs Antrag auf finanzielle Unter-
stützung für die Vollendung der Oper Moses und Aron und des Oratoriums
Die Jakobsleiter ab, und seine beengten finanziellen Verhältnisse zwingen
ihn weiterhin, Privatstunden zu geben. Er komponiert dann auch nur das
Präludium Genesis op. 44 für einen von seinem Hollywooder Kollegen
Nathaniel Shilkret angeregten biblischen Orchesterzyklus mit Beiträgen von
Tansman, Milhaud, Castelnuovo-Tedesco, Toch, Strawinsky und Shilkret
selbst, den dann Werner Janssen am 18. November in Los Angeles zur Ur-
aufführung bringt. Die vom Komponisten mit Skepsis begrüßte choreogra-
phische Aufführung der Verklärten Nacht op. 4 unter dem Titel Pillar ofFire
hat ihm einen Riesenerfolg gebracht, dessen finanzielle Vorteile sich auf
viele Jahre erstrecken. Von Weberns damals noch ungeklärtem gewaltsamen
Tod am 15. September ist er andererseits zutiefst erschüttert. Kaum drei
Wochen vorher war bereits Pranz Werfel verschieden, und am 26. Septem-
ber stirbt dann auch noch Bart6k in New York. Vor allem aber hat die Be-
freiung von Auschwitz und anderen Konzentrationslagern Tatsachen ans
Licht gebracht, die weit über Schönbergs schlimmste Befürchtungen hin-
ausgehen und zu seinem großen Leidwesen die unbedingte Richtigkeit sei-
ner Vorkriegsansichten und -vorschläge bestätigen. Er fördert nun mit aller
Üherredungskraft, über die er noch verfügt, die zionistische Sache, insbe-
sondere die vom Weltkongreß der Zionisten im August geforderte, von der
britischen Mandatsmacht jedoch bekämpfte Einwanderung einer Million
überlebender europäischer Juden nach Palästina.
Im befreiten Paris kommt inzwischen Messiaens neuestes Werk Trois petites
liturgies zur Aufführung, in London einen Monat nach der Kapitulation
Deutschlands Benjamin Brittens erste große Oper Peter Grimes und am
3. November in Leningrad Schostakowitschs Neunte Symphonie. Bart6k hat
sein bis auf einige wenige Schlußtakte komplettes Drittes Klavierkonzert sowie
ein unvollendetes Bratschenkonzert hinterlassen. Strawinsky, der Ende des Jahres
amerikanischer Staatsbürger wird, arbeitet nach der Symphonie en trois mouve-
ments am Ebony-Concerto für den Jazz-Musiker Woody Herman. In Deutsch-
land hat Richard Strauss noch kurz vor Kriegsende das Orchesterwerk Meta-
morphosen beendet und in der Schweiz Wladimir Vogel seine Oper Thyl Claes.
Im Februar entscheidet die Jalta-Konferenz die politische Nachkriegs-
physiognomie Europas, nachdem die deutsche Ardennen-Offensive end-
60 Chronik
gültig gescheitert ist. Am 12. April stirbt der amerikanische Präsident Roose-
velt; sein Nachfolger wird der bisherige Vizepräsident Harry Truman. Am
25. April reichen sich amerikanischeund sowjetische Truppen die Hände
bei Torgau an der Eibe. Am 30. April, zwei Tage nach der Hinrichtung von
Mussolini, begeht Hitler Selbstmord. Berlin kapituliert am 2. Mai, und am
8. Mai legen alle deutschen Streitkräfte bedingungslos die Waffen nieder.
Am 2. August endet die Potsdamer Konferenz der Siegermächte, und vier
Tage später fällt die erste Atombombe auf Hiroshima, gefolgt von Nagasaki
am 9. August. FünfTage danach kapituliert Japan. Am 20. November be-
ginnt der Nürnberger Prozeß gegen die deutschen Kriegsverbrecher.
1946 Im Januar erreicht Schönberg die Nachricht seiner Wahl zum Ehren-
präsidenten der IGNM. JosefRufer kann mitteilen, daß Musik von Schön-
berg bereits wieder in Berlin zu hören ist. Im April folgt die Einladung,
nach Wien zurückzukehren, auf deren Annahme allein wegen seines ver-
schlechterten Gesundheitszustandes nicht die geringste Chance besteht.
Stattdessen hält er an der Universität von Chicago Vorträge, die in ihrer
endgültigen Form zu seinen wichtigsten musikkritischen Äußerungen ge-
hören. Auch bewegt ihn die öffentliche Kontroverse über das Mitläuferturn
von Furtwängler und Richard Strauss zu verschiedenen schriftlichen Aus-
einandersetzungen mit dem Problem des Künstlers in der Gesellschaft. Am
2. August streckt ihn ein beinahe tödlicher Herzanfall nieder. Während der
Rekonvaleszenzperiode schreibt er in knapp fünf Wochen das Streichtrio
op. 45, das er selbst für sein bestes Werk hält, nicht zuletzt wohl, weil es ihn
mit seinen unzähligen krankheitsbezogenen persönlichen Anspielungen an
Beethovens a-Moll-Quartett op. 132 erinnert. Nach seiner "Auferstehung"
arbeitet er vor allem an einem neuen Lehrbuch, Structural Functions of
Harmony. Bereits am 2. Februar hat er mit dem Tod von Heinrich Jalowetz
einen weiteren treuen Freund und Schüler verloren.
Im Auftrag des Basler Mäzens Paul Sacher, dem u. a. auch Bart6ks Musik
für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta zu verdanken war, kompo-
niert Strawinsky das Streicher-Konzert in d und Honegger kurz nach Voll-
endung der Dritten seine Vierte Symphonie. Pierre Boulez erregt Aufsehen
mit seiner Ersten Klaviersonate und der Sonatine für Flöte und Klavier, und
Wolfgang Steinecke gründet die Internationalen Ferienkurse für Neue Mu-
sik in Darmstadt. Uraufgeführt werden u. a. Strauss' Metamorphosen in
Zürich, Weberns Erste Kantate op. 29 in London und Bart6ks Drittes Kla-
vierkonzert in Philadelphia. Copland vollendet seine Dritte Symphonie.
Manuel de Falla stirbt am 14. November eine Woche vor seinem 70. Ge-
burtstag.
Die neueste Literatur verzeichnet neben der posthumen Veröffentlichung
von Werfels Stern des Ungeborenen Döblins Der Oberst und der Dichter,
Remarques Kriegsroman Are de Triomphe, Elisabeth Langgässers Unauslösch-
liches Siegel sowie John Herseys Hiroshima, von der Revised Version of the
New Testament abgesehen der amerikanische Bestseller des Jahres.
Chronik 61
auf drei neu gesetzte Volkslieder für gemischten Chor op. 49. Im Sommer
lehrt er an der Music Academy of the West in Santa Barbara und bringt das
Lehrbuch Structural Functions ofHarmony zum Abschluß (Erstdruck 1954).
Auch schreibt er einige vor allem rückblickende Essays, u. a. ,,A Self Analy-
sis" und "On revient toujours". Die Uraufführung des Survivor from warsaw
op. 46 am 4. November in Albuquerque, New Mexico, wird zu einem ein-
zigartigen, eindrucksvollen Ereignis. Strawinskys Orpheus ist Ende April in
New York zu Gehör gekommen, seine Messe Ende Oktober in Mailand.
Dallapiccola hat die Oper II Prigioniero beendet, Messiaen die Turangalila-
Symphonie und Richard Strauss Vier letzte Lieder. Unter dem Druck der
amerikanischen Kommunistenhysterie fliehen Eisler, Dessau und Brecht
zurück nach Berlin. Der kaukasische Kreidekreis erfuhr seine Uraufführung
dennoch am 4. Mai in Northfield, Minnesota, gefolgt von Herr Puntila und
sein Knecht Matti am 5. Juni in Zürich.
- Unter den Neuerscheinungen erregen zwei Bücher besonderes Aufsehen:
Norman Mailers The Naked and the Dead, das von der Zerrüttung mensch-
licher Verhältnisse unter unmenschlichen Kriegsverhältnissen handelt, und
Alan Paytons Cry the Beloved Country, dessen dramatische Darstellung des
Rassenproblems in Südafrika Kurt Weill den Stoff für Lost in the Stars ver-
mittelt. Kompositionstechnisch ist Joseph SchiHingers The Mathematical Basis
of the Arts von Interesse, zumal kein Geringerer als Gershwin den Autor
noch gegen Ende seines Lebens um Rat ersuchte, nachdem er bei Schön-
berg als Schüler nicht ankam. Mit der Einführung der Columbia-Lang-
spielplatte hat andererseits ein neues Zeitalter im Massenvertrieb ernster
Musik begonnen, allerdings mit weitaus geringeren gesellschaftlichen Fol-
gen als die Veröffentlichung des sogenannten "Kinsey-Reports" Sexual
Behavior in the Human Male.
Am 30. Januar ist Mahatma Gandhi einem Attentat zum Opfer gefallen,
und vier Wochen später gerät die Tschechoslowakei unter ein kommunisti-
sches Regime. Der Staat Israel wird am 15. Mai proklamiert, und am näch-
sten Tag gehen Ägypten und Jordanien zum gemeinsamen Angriff über. Die
südafrikanischen Wahlen bringen den Sieg der Apartheid-Politik, während
die westdeutsche Währungsreform der Sowjetunion Anlaß zur Blockade
von Berlin gibt, woraufhin die Westmächte die Luftbrücke zur Versorgung
der Stadt einsetzen. Am 17. Juli kommt es zum Waffenstillstand zwischen
Israel und den arabischen Staaten, die ihren Vernichtungsstreit im Oktober
jedoch wieder aufnehmen. Die Vereinigten Staaten stehen im Herbst im
Zeichen der Spionageanklage gegen den einstigen Diplomaten Alger Hiss
aufgrund von äußerst verdächtigen Aussagen eines früheren Mitglieds der
amerikanischen kommunistischen Partei.
1949 In der Neujahrsnummer der Saturday Review ofLiterature erklären sich so-
wohl Schönberg als auch Mann zum Faustus-Fall. Und kurz daraufläßt sich
Schönberg mißbilligend über Hindemiths neueste Entwicklung aus. Seine
Phantasie für Violine mit Klavierbegleitung op. 47 komponiert er im März
Chronik 63
"In diesen Blättern wird viel von Judentum und Antisemitismus die Rede sein, mehr als man-
chem geschmackvoll, notwendig und gerecht erscheinen dürfte. Aber zu der Zeit, in der man
diese Blätter möglicherweise lesen wird, wird man sich, so hoffe ich wenigstens, kaum mehr
einen rechten Begriff zu bilden vermögen, was fiir eine Bedeutung, seelisch fast noch mehr als
politisch und sozial, zur Zeit, da ich diese Zeilen schreibe, der sogenannten Judenfrage zukam.
Es war nicht möglich, insbesondere fiir einen Juden, der in der Öffentlichkeit stand, davon
abzusehen, daß er Jude war, da die andern es nicht taten, die Christen nicht und die Juden noch
weniger. Man hatte die Wahl, fiir unempfindlich, zudringlich, frech oder fiir empfindlich, schüch-
tern, verfolgungswahnsinnig zu gelten. Und auch wenn man seine innere und äußere Haltung
so weit bewahrte, daß man weder das eine noch das andere zeigte, ganz unberührt zu bleiben
war so unmöglich, als etwa ein Mensch gleichgültig bleiben könnte, der sich zwar die Haut
anaesthesieren ließ, aber mit wachen und offenen Augen zusehen muß, wie unreine Messer sie
ritzen, ja schneiden, bis das Blut kommt."'
Arthur Schnitzler, Jugend in Wien. Eine Autobiographie, Wien usw. 1968, S. 328-329.
66 Zur Einleitung: Ein österreichisch-jüdisches Künstlerschicksal
schließlich die Erlaubnis zur Errichtung eines Gotteshauses erhielten, mußten sie es
hinter der Fassade eines gewöhnlichen Mietshauses verstecken, weil die Regierung es
für unziemlich hielt, christliche Bürger dem Anblick einer jüdischen Synagoge auszu-
setzen. Aber selbst der so lange verzögerte Erwerb "voller" Bürgerrechte bedeutete alles
andere als Rechtsgleichheit, zumal staatliche Stellen Anhängern der katholischen Staats-
religion vorbehalten blieben, was wiederum eine wachsende Anzahl bereits assimilier-
ter Juden dazu bewog, das begehrte Eintrittsbillett zu Schichten der Gesellschaft, die
ihnen sonst verschlossen geblieben wären, durch Übertritt zum Christentum zu erkau-
fen. Denjenigen, die nicht bereit waren, der Glaubensgemeinschaft ihrer Väter den
Rücken zu kehren, und keine Neigung oder Möglichkeit hatten, sich kaufmännisch zu
betätigen, standen im Prinzip nur die sogenannten freien Berufe offen. Jüdische Medi-
ziner, wie Schnitzler und bereits sein Vater vor ihm, Rechtsanwälte, Ingenieure, Schrift-
steller und vor allem Musiker gab es denn auch sehr bald in solchen Mengen, daß die
in weiten Kreisen ungemindert flackernden Vorurteile gegen Juden und Judentum al-
lein von der Konkurrenzangst stets erneut geschürt wurden. Weitaus gefährlicheren
Zündstoff lieferten jedoch jene pseudowissenschaftlichen Rassentheorien, die sich um
die Jahrhunderrwende besonders unter Wagnerianern und anderen Freidenkern wach-
sender intellektueller Respektabilität erfreuten. Daß dabei keineswegs konsequent vor-
gegangen wurde, beweist nicht nur der stattliche jüdische Bekanntenkreis des langjäh-
rigen Wiener Bürgermeisters Karl Lueger, dessen frühe Popularität in hohem Maße
seiner judenfeindlichen Haltung zu verdanken war, sondern auch die womöglich noch
überraschendere Tatsache, daß Hauston Chamberlain es nicht als widerspruchsvoll
empfand, seine berüchtigten Grundlagen des 19. Jahrhunderts dem von Juden abstam-
menden Rektor der Wiener Universität zu widmen.
Als Wilhelm Marr 1879 den Terminus ,,Antisemitismus" in Umlauf brachte und
zu einem der wirksamsten Schlagwörter der modernen Politik erhob, war der zwölf
Jahre nach Schnitzler im selben stark von Juden bevölkerten Wiener Bezirk geborene
Arnold Schönberg nicht einmal schulfähig. Und schon im nächsten Jahr kam es in
Berlin zu jenem akademischen ,,Antisemiten-Streit" zwischen dem bekannten Ge-
schichtsforscher Leopold von Ranke und seinem Kollegen Heinrich von Treitschke,
dessen Schrift Ein Wort über unser Judentum Toleranz befürwortet hatte. Allerdings
ahnte derzeit wohl niemand, daß der intellektuelle Anstrich, den das sogenannte Juden-
problem dieser "wissenschaftlichen" Debatte verdankte, seine Schatten über ein halbes
Jahrhundert hinaus bis zur nationalsozialistischen "Endlösung" werfen würde. Ande-
rerseits kam es in Rußland bereits im nächsten Jahr zu schweren Ausschreitungen ge-
gen die jüdische Landbevölkerung, nachdem Agitatoren das Gerücht verbreitet hatten,
die Ermordnung des Zaren Alexander II. sei von Juden eingefädelt worden. Und statt
ihre Lage zu verbessern, schufen Alexanders III. 1882 erlassene "Mai-Gesetze", wie die
Nürnberger Gesetzgebung in Deutschland fünfzig Jahre später, eine quasi-rechtliche
Grundlage für die Ausschreitungen lokaler Mörderbanden. 1882 fand in Dresden
schließlich der erste offizielle Antisemiten-Kongreß statt. Und in Ungarn führte eine
neue Variante der mittelalterlichen Blutopfer-Legende zu jenem berüchtigten Prozeß,
in dem ein österreichischer Antisemit mit dem vielsagenden Namen August Rohling
flagrant Meineid leistete, was die Wiener Studentenvereinigungen jedoch keinesfalls
Zur Einleitung: Ein österreichisch-jüdisches Künstlerschicksal 67
Schnitzlees erster Religionslehrer war jedenfalls "ein gutmütiger, kleiner Herr, der uns
das Leben leicht machte, was wir ihm schlimm genug vergalten". 5
Als Wassermann, der fur den Religionsunterricht in seiner süddeutschen Heimat
so wenig übrig hatte, 1898 in Wien eintraf, mußte er zu seinem Erstaunen feststellen,
"daß hier fast alle Menschen, mit denen ich in geistige oder herzliche Berührung kam,
Juden waren". 6 Er, der "draußen mit Juden fast gar keinen Verkehr gepflogen hatte",
fand im Wien der Jahrhundertwende "die ganze Öffentlichkeit von Juden beherrscht".
Daß er als Neuankömmling zunächst bei Gleichgesinnten freundliche Aufnahme fand,
insbesondere im Cafe Grienstadl, wo auch Arnold Schönberg regelmäßig verkehrte,
liegt auf der Hand. Darüber hinaus jedoch entsprachen seine Beobachtungen zweifel-
los dem objektiven Stand einer fur die kulturellen Verhältnisse im überalterten Kaiser-
reich bezeichnenden Eigentümlichkeit: Der Adel fuhlte sich in der Welt stets neuer
Ideen und rastloser Geister wie Karl Kraus mit wenigen Ausnahmen völlig fremd. Und
"die wenigen patrizischen Bürgerfamilien ahmten den Adel nach; ein autochthones
Bürgertum gab es nicht mehr, die Lücke war ausgeruHt durch die Beamten, Offiziere,
Professoren; danach kam der geschlossene Block des Kleinbürgertums. Der Hof, die
Kleinbürger und die Juden verliehen der Stadt das Gepräge. "7 Die Juden waren es,
welche "als die beweglichste Gruppe alle übrigen in unaufhörlicher Bewegung hiel-
ten". Wassermann, der mit Entrüstung sah, wie einige aus den Tiefen der Erniedrigung
rücksichtslos nach oben strebten, pries andererseits mit Liebe und Ehrfurcht die cha-
rakteristische Vielfalt der auf verschiedenste Weise zum Ausdruck kommenden Mensch-
lichkeit seiner Glaubensbrüder: "Verstand und Güte, Bereitschaft zu dienen, zu för-
dern, Blick fur das Seltene, das Kostbare; sie hatten Wärme, Gabe der Ahnung sogar,
ein nervöses Mitschwingen war ihnen eigen, ungeduldiges Vorauseilen oft, wobei das
Tempo über die Intensität und Tiefe täuschte. "8
Arnold Schönbergs sieben Jahre jüngerer Wiener Zeitgenosse Stefan Zweig sah in
der" Überordnung des Geistigen" einen Grundzug der gesamten jüdischen Geschich-
te, der schließlich im Fahrwasser der Emanzipation besonders im deutschsprachigen
Raum zu einer wahren Explosion geistiger Energien fuhrte:
"Daß diese Flucht ins Geistige durch eine unproportionierte Überfüllung der intellektuellen
Berufe dem Judentum dann ebenso verhängnisvoll geworden ist wie vordem seine Einschrän-
kung ins Materielle, gehört freilich zu den ewigen Paradoxien des jüdischen Schicksals. "9
Hugo von Hofmannsthal, der mit Schönberg und Karl Kraus dem Wiener Jahrgang
1874 angehörte, ahnte die Schwere der möglichen Folgen schon als Zwanzigjähriger.
"Wie merkwürdig auch das wieder ist", notierte er 1894 in seinem Tagebuch, "daß wir
vielleicht in Wien die letzten denkenden, die letzten ganzen, beseelten Menschen über-
haupt sind, daß dann vielleicht eine große Barbarei kommt, eine slavisch-jüdische,
sinnliche Welt." 10 Der Impetus zur Barbarei von antisemitischer Seite war jedoch be-
reits Heinrich von Treitschke deutlich:
"Täuschen wir uns nicht, die Bewegung ist sehr tief und stark; einige Scherze über die Weisheits-
sprüche christlich-sozialer Sturnp-Redner genügen nicht, sie zu bezwingen. Bis in die Kreise der
höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder
nationalen Hochmuts mit Abscheu von sich weisen würden, ertönte es heute wie aus einem
Munde: ,die Juden sind unser Unglück'. " 11
10 Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Wt>rke in zehn Einzelbänden, hg. von B. Schoeller, Bd. 10, Frank-
furt a.M. 1980, S. 383.
11 Heinrich von Treitschke, "Unsere Aussichten", in: Preußische Jahrbücher 44 (1879), S. 575.
12 Paul de Lagarde, Ich mahne und künde, Breslau 1944, S. 63. Kaum zuf.illig erschien diese gezielte
Auswahl aus den Schriften dieses fanatischen Orientalisten des 19. Jahrhunderts als "Feldpostausgabe"
zu einer Zeit, in der seine grausamen Empfehlungen massenhafte Verwirklichung fanden.
70 Zur Einleitung: Ein österreichisch-jüdisches Künstlerschicksal
13 Martin Buher, An der Wende. Reden über das Judentum, Köln 1952, S. 67.
14 V gl. Richard Heuberger, Erinnerungen an johannes Brahms. Tagebuchnotizen aus den Jahren 1875 bis
1897, 2. wesendich erweiterte Auflage Tutzing 1976, S. 83.
15 Vgl. Natalie Bauer-Lechner, Erinnerungen an Gustav Mahler, Leipzig usw. 1923, S. 111.
Zur Einleitung: Ein österreichisch-jüdisches Künstlerschicksal 71
Derartige hier nur kurz angedeutete, geradezu pathologische Zustände, die sowohl
die Existenzmöglichkeiten als die elementare Menschenwürde einer ganzen Bevölke-
rungsschicht antasteten, trugen nicht wenig dazu bei, daß gerade Juden stark in den
Reihen jener Künstler, Wissenschaftler und Politiker auffielen, die es sich zur Aufgabe
machten, die tieferen sozialen und psychologischen Ursachen menschlichen- und un-
menschlichen - Verhaltens zu ergründen, womöglich heilend zu wirken oder wenig-
stens ihre schlimmsten Auswirkungen zu vereiteln. Dieser chrakteristische Drang,
Grundprobleme aufzuweisen und ihnen ein für allemal den altgewohnten Nährboden
zu entziehen, bestimmte die Haupttendenzen jüdischer Schriftsteller von Schnitzler
und Otto Weininger bis Franz Kafka und Karl Kraus nicht weniger als die jüdischer
Psychologen von Freud und Breuer bis Adler und Reich sowie jüdischer Politiker vom
Schlag eines Viktor Adler, dem Begründer der Österreichischen Sozialdemokratie, ei-
nerseits und Theodor Herzl, dem Vaters des modernen Zionismus, andererseits, um
von den Bestrebungen Mahlers und Schönbergs zunächst einmal abzusehen. Hervor-
stechend ist bei den einen das rastlose Suchen nach tief im Unterbewußtsein veranker-
ten Triebkräften, die auf das Leben des Einzelnen entscheidend einwirken, bei den
anderen die intensive Beschäftigung mit Sozialproblemen, die, gerade weil sie die Ge-
sellschaft als Ganzes betreffen, das Schicksal aller beeinflussen. Dabei stand das Juden-
problem immer wieder zur Erörterung: bei jüdischen Selbsthassern wie Weininger, die
die Tauflösung befürworteten, bei den Sozialisten, die überzeugt waren, daß die Schlange
des Antisemitismus ihr Ende nur auf dem revolutionären Weg zur allgemeinen Freiheit
und Brüderlichkeit finden würde, und selbstverständlich bei den Zionisten, die ihre
Energien, statt den Antisemitismus zu bekämpfen, der Schaffung eines jüdischen Na-
tionalstaats widmeten, in dem Juden als politische Mehrheit im eigenen Land nach
beinahe zweitausendjähriger Zerstreuung frei und stolz im vollen Genuß ihres uralten
kulturellen Erbes leben würden. Das Nervenzentrum all dieser und zahlreicher anderer
Bewegungen war Wien, wo kein denkender und fühlender Jude aus dem Zweiten Be-
zirk auch nur die geringste Chance hatte, sich als unbeteiligter Zuschauer vor Parrei-
nahme zu drücken. Denn die menschlichen Folgen unmenschlicher Vorurteile und
sinnlosen Hasses starrten ihm tagtäglich ins Gesicht- in den Zeitungsspalten, die über
die neuesten Selbstmorde berichteten, und vor allem in den trostlosen Erscheinungen,
die ihm im langen, meist schäbigen Kaftan der Frommen begegneten, zunächst verein-
zelt nach den südrussischen Pogromen von 1881 und dann stets zahlreicher, bis sich
zwanzig Jahre später, nach den Schrecken von Kischinev, ein ununterbrochener Strom
von Flüchtlingen nach Wien ergoß.
Im deutschen Kaiserreich ging es inzwischen kaum besser zu, selbst nicht für Mit-
glieder "erster Familien". Bestenfalls blieb man, wie der Großindustrielle und spätere
deutsche Außenminister Walther Rathenau während des Ersten Weltkriegs der Gattin
des Generals von Hindenburg gegenüber erklärte, "als Jude Bürger zweiter Klasse". 16
Und daran änderte sich auch nach der Proklamation der Weimarer Republik nur we-
nig. "Leider steht es so", schrieb Jakob Wassermann 1921, "daß der Jude heute vogel-
frei ist. Wenn auch nicht im juristischen Sinn, so doch im Gefühl des Volkes". 17 Aber
selbst Wassermann ahnte sicher nicht, welche schreckliche Bestätigung seine traurige
Einsicht nur ein Jahr später erfahren würde, und zwar nicht nur durch die kaltblütige
Ermordung von Außenminister Rathenau, der sein Äußerstes getan hatte, um der jun-
gen Republik einen ehrenvollen Platz im Konzert der Nationen zu verschaffen. Noch
ominöser, zumindest in rechtlicher Hinsicht, wenn auch weitaus weniger tragisch in
seinen unmittelbaren Konsequenzen, war der Maximilian-Harden-Prozeß, aus dem
die Rechtsradikalen, die den alles andere als linksgerichteten Journalisten auf der Stra-
ße niedergeschlagen hatten, so gut wie unversehrt als Volkshelden hervorgingen. Der
Ausgang des späteren Hitler-Prozesses war damit schon vorgezeichnet, und Arnold
Schönberg machte sich in Bezug auf die Zukunft kaum noch Illusionen, hatten er, der
protestantische Sommerfrischler, und seine Familie den Antisemitismus doch bereits
im Vorjahr auf der Sommerfrische am Mattsee am eigenen Leibe erfahren. Und so kam
er bald darauf zu dem für ihn und sein Werk entscheidenden Schluß, "daß ich nämlich
kein Deutscher, kein Europäer, ja vielleicht kaum ein Mensch bin (wenigstens ziehen
die Europäer die schlechtesten ihrer Rasse mir vor), sondern daß ich Jude bin"Y
Als Schönberg diese mit einer charakteristischen Mischung von Stolz und Bitter-
keit geschriebenen Worte im April 1923 an Wassily Kandinsky richtete, dem Alma
Mahler zu Unrecht antisemitische Äußerungen vorgeworfen hatte, war der Dollar 25.000
Mark wert. Drei Monate später war er auf 350.000 Mark gestiegen und Ende Septem-
ber auf 99 Millionen. Ratlosigkeit und Verzweiflung beherrschten die Atmosphäre auf
beiden Seiten der deutsch-österreichischen Grenze, und die Demagogie feierte Trium-
phe sowohl rechts als links. Zwar mißglückte der Münchener Hitler-Ludendorff-Putsch
am 9. November 1923, aber noch am seihen Abend übertrug die Regierung Strese-
mann die vollziehende Rechtsgewalt an den Reichswehrchef Generaloberst von Seeckt,
der sich einige Tage vorher ganz offen als ein Feind der Weimarer Verfassung bekannt
hatte. Angesichts dieser sich überstürzenden beunruhigenden Ereignisse war Schön-
berg sich völlig im klaren darüber, daß die Schuld für die deutsche Kriegs- und Nach-
kriegstragödie, wie immer, der winzigen jüdischen Minderheit in die Schuhe gescho-
ben würde, und entschloß sich daher, von nun an seine Arbeit konsequent in Überein-
stimmung mit der Erkenntnis weiterzuführen, "daß ich Jude bin".
Die meisten unter den zahlreichen Künstlern und Intellektuellen jüdischer Ab-
stammung zogen es dagegen vor, sich jenseits der drohenden Realität der Scheinwelt
ihrer schöpferischen Fantasie zu verschreiben. Besonders in Wien, Kar! Kraus' "Ver-
suchsstation für Weltuntergang", schienen Juden, die sich ihres kulturellen Erbes kaum
noch bewußt waren, fest entschlossen, der unmenschlichen Situation, in der sie sich
befanden, soviel wie möglich Menschlich-Allzumenschliches abzugewinnen. Vielen ge-
lang es tatsächlich, ihre nur zum Teil unfreiwillige Verfremdung in äußerst wertvolles
geistiges Kapital umzuwandeln, was aber keineswegs besagen will, daß die scheinbar
grenzenlose Vitalität, mit der sie zu Werke gingen, nicht in jener religiös-geschichtli-
chen Eigenart verwurzelt war, die letzten Endes dem althebräischen Begriff vom alles
durchdringenden Fluß der Zeit als Ausstrahlung der Gottheit entsprach, der den ur-
sprünglichen Anstoß, den elan vital gegeben hat.
Wie dem auch sei, als Schönberg nach dem Tod von Busoni im Sommer 1924 in
Verhandlungen mit der Preußischen Akademie der Künste in Berlin trat, tat er es im
vollen Bewußtsein der politischen Situation und ihrer möglichen Folgen für seine eige-
ne Zukunft, falls es zu seiner Ernennung kommen sollte. Denn diese wurde von Leo
Kestenberg, dem zuständigen Referenten im preußischen Ministerium für Wissenschaft,
Kunst und Volksbildung, betrieben, dem Urheber der sogenannten Kestenberg-Re-
form im preußischen Musikerziehungswesen, die noch heute als vorbildlich gilt, da-
mals jedoch von vielen konservativen Schulmusikern als fremde Einmischung bekämpft
wurde. Der Busoni-Schüler Kestenberg stammte nämlich aus Prag und war überdies
noch Jude. Sein Vorschlag, den Wiener "Zukunftsmusiker" Schönberg als Leiter einer
Meisterklasse für Komposition an die Akademie der Künste zu binden, wurde denn
auch als eine "typisch jüdische Verschwörung" empfunden, trotzdem Kestenberg es
verstanden hatte, als Gegenpol zu seinem Lehrer Busoni einen eher konservativen Kom-
ponisten wie Hans Pfitzner ebenfalls für die Akademie zu gewinnen. Aus der Sicht der
politisch-musikalischen Reaktion waren Kestenbergs Bemühungen um Schönberg als
den logischsten und qualifiziertesten Kandidaten dessen ungeachtet ein flagranter Be-
weis für die systematische Verundeurschung der deutschen Kunst unter der Schurz-
herrschaft des damaligen Präsidenten der Akademie, des jüdischen Malers Max Lieber-
mann, einer an sich vielbewunderten und beliebten Berliner Type. Es gelang den Kon-
servativen denn auch jahrelang, Kestenbergs wohlverdiente Beförderung zum Ministe-
rialrat zu verhindern, zumal der Herausgeber der Zeitschrift für Musik, Alfred Heuß,
die Ernennung Schönbergs im Jahre 1925 rundum als eine Kriegserklärung an alles
"Deutsche" in der Musik verurteilte: "Das bedeutet eine Herausforderung, das ist auf
eine Kraftprobe zwischen Deutschtum und - nun heißt es ebenfalls offenwerden -
spezifisch jüdischen Musikgeist abgesehen. " 19
Interessanterweise hegte Heuß keinen Zweifel an der Ehrlichkeit und Konsequenz
des neuen Leiters einer Meisterklasse. Aber gerade darum betrachtete er den "Fanatiker
Schönberg" als äußerst gefährlich: "Der auf sich selbst gestellte, nirgends mehr boden-
ständige, auch bewußt traditionslos sein wollende, als fanatischer Führer- das bedeu-
tet nichts anderes, als den Weg zum Untergang [... ]." 20 So Heuß drei Jahre später,
nachdem Schönberg sich wieder einmal, wie schon so oft, zur deutschen Musik be-
kannt hatte, indem er seinem Schüler Josef Rufer offenbarte: "Ich habe eine Entdek-
kung gemacht, durch welche die Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten
hundert Jahre gesichert ist. "21 Die Entdeckung, um die es hier ging, war selbsrverständ-
lich jene vom konservativen Standpunkt auf die "Zersetzung" alles Deutschen in der
Musik zielende Kompositionsmethode mit zwölf Tönen, und da folgten gute Deut-
19 Alfred Heuß, "Arnold Schönberg - Preußischer Kompositionslehrer", in: Zeitschrift für Musik 92
(1925), S. 584.
20 Ebenda.
21 Vgl. Hans Heinz Stuckenschmidt, Arnold Schönberg Leben, Umwelt, W'erk, Zürich I Freiburg 1974, S. 252.
74 Zur Einleitung: Ein österreichisch-jüdisches Künstlerschicksal
sehe wie Alfred Heuß - Heuß war eigentlich Schweizer - lieber einem ganz anders
gesinnten fanatischen Führer, der zwar auch Österreicher war, sich in seinem "Kampf'
aber ausdrücklich auf das Deutschtum Richard Wagners berief.
Anfang Februar 1925 war das im November 1923 erlassene Verbot der NSDAP
aufgehoben worden. Statt der fünf Jahre, zu denen er nach dem Münchener Putsch
von einem ihm alles andere als feindlich gesinnten Gerichtshof wegen Hochverrats
verurteilt worden war, hatte Adolf Hitler knappe neun Monate in Festungshaft ver-
bracht und die Gelegenheit benützt, um sein politisches Manifest Mein Kampfdruck-
fertig zu machen. Als das Buch erschien, wurde es in intellektuellen Kreisen zumeist als
Hirngespinst eines drittrangigen Volksverführers abgetan. Arnold Schönberg, der gera-
de im Begriff war, nach Berlin zu übersiedeln, schenkte ihm dagegen vollen Glauben.
Hans Pfitzner, sein neuer Kollege an der Akademie der Künste, ergriff seinerseits den
günstigen Augenblick zur Veröffentlichung seiner eigenen, kurz nach dem Krieg ver-
fertigten Streitschrift Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz - ein l&rwesungs-
symptom? in dritter Auflage im Rahmen einer dreibändigen Ausgabe seiner gesammel-
ten Schriften. War es ihm ursprünglich hauptsächlich um die "Neue Ästhetik" Busonis
und die damit verbundene "Futuristengefahr" zu tun gewesen, so richtete er sich nach
dessen frühzeitigem Tod mit unvermindertem Zorn gegen die "Internationalen", allen
voran Schönberg und seine Schüler sowie Jazz-Freunde und andere "an der internatio-
nal-bolschewistischen U msturzarbeit" beteiligte ,,Alljuden". 22
Für Pfitzner, Heuß und alle unter ähnlichen Verfolgungssymptomen Leidenden
galt es, "das Antideutsche" zu bekämpfen "in welcher Form es auch auftritt, ob Atona-
lität, Internationalität, Amerikanismus, deutscher Pazifismus", denn "es berennt unse-
re Existenz, unsere Kultur von allen Seiten und mit ihr die europäische". 23 Als dann der
Sieg des Deutschtums in der Musik im Zuge der nationalsozialistischen Machtergrei-
fung ein für allemal gesichert war, denunzierte ein alter Kampfgenosse Pfitzners "die
musikalische Blutrünstigkeit der atonalen Neuerer". 24
Schönberg reagierte auf all diese Angriffe zunächst mit zwei Gedichten, die er den
ersten der vier Männerehöre op. 27 zugrunde legte, "Unentrinnbar" und "Du sollst
nicht, du mußt", bevor er mit seinem national-jüdischem Drama Der biblische weg auf
unmißverständliche Weise Farbe bekannte. "Tapfere sind solche, die Taten vollbrin-
gen, an die ihr Mut nicht heranreicht", heißt es zu Anfang von "Unentrinnbar" und
weiterhin: "War ein Gott noch so ungnädig, ihnen Erkenntnis ihrer Lage zu gewähren,
dann sind sie nicht zu beneiden. Und darum werden sie beneidet!" Dann, im zweiten
der gezielt für Männerstimmen geschriebenen Chöre, fordert der Komponist zum er-
stenmal kompromißlos:
22 Hans Pfitzner, Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz- ein Verwesungssymptom?, in: ders., Ge-
sammelte Schriften, Bd. li, Augsburg 1926, S. 109f.
23 Ebenda.
24 Ebenda, S. 119: .Die Jazzwelt bedeutet die Niedrigkeit, die Aharmonik den Wahnsinn gegenüber der
Kunstmusik."
Zur Einleitung: Ein österreichisch-jüdisches Künstlerschicksal 75
Bedrängt von allen Seiten, aber im stolzen Bewußtsein seiner Abstammung ließ ihn
das Problem der Auserwähltheit von nun an nicht mehr los. In Übereinstimmung mit
einer mehr als tausendjährigen Tradition verband Schönberg mit dem Begriff der
Auserwähltheit von Anfang an nicht irgendeinen Vorzugsstatus oder ein Recht auf
Sonderbehandlung, sondern ganz im Gegenteil eine beinahe untragbare nationale Be-
lastung durch zahllose, von Menschen kaum erfüllbare Verpflichtungen im Dienst ei-
ner unerbittlich strengen, göttlich verfügten Moral der sozialen Tat. Und er verstand:
"Wozu aber soll der Antisemitismus führen", hatte er Kandinsky und damit sich selbst
im Mai 1923 gefragt, "wenn nicht zu Gewalttaten? Ist es so schwer, sich das vorzustel-
len?"26 Neun Jahre später begann die Realität die Vorstellung in den Schatten zu stel-
len, und Schönberg, der zur Linderung seines Asthmaleidens in Spanien weilte, graute
es vor der Rückkehr nach Berlin. Zwar war das Mandat des greisen Feldmarschalls von
Hindenburg bei den Präsidentschaftswahlen im April1932 mit 53 Prozent der abgege-
benen Stimmen verlängert worden, aber bereits drei Tage nach der Wahl sah sich die
Regierung zu neuen Notverordnungen gegen die SS und SA veranlaßt, und Ende Mai
löste von Papens "Regierung der nationalen Konzentration" das Kabinett Brüning ab.
Für Schönberg brachten diese und die darauf folgenden, weitaus schlimmeren Ereig-
nisse wenig Überraschungen. Er wußte ja seit langem, was der Weimarer Republik und
vor allem ihren jüdischen Bürgern bevorstand. "Ihnen genügt es vielleicht, die Juden
zu entrechten", heißt es in demselben Brief an Kandinsky, der, wenn auch sein Inhalt
in Bezug auf den Adressaten verfehlt war, von wahrhafter Hellsichtigkeit zeugte: "Dann
werden Einstein, Mahl er, ich und viele andere allerdings abgeschafft sein. " 27 Im alles
andere als schönen Monat Mai 1932 schien es beinahe so weit gekommen zu sein, und
der sonst so stolze Komponist hielt es für geraten, dem Ärgsten dadurch vorzubeugen,
daß er amerikanische Freunde um direkte Unterstützung seiner zukünftigen Arbeit
ansuchte. Er hatte sich ausgerechnet, daß er in Barcelona mit 200 Dollar im Monat gut
auskommen könnte, und bat daher einen New Yorker Bekannten, Dr. Joseph Asch,
"einige reiche Juden zu bewegen mich zu versorgen, damit ich nicht zu den Hakenkreuz-
lern und Pogromisten nach Berlin zurück muß [... ]". 28 Die Antwort erbat er sich in
zwei Exemplaren, eines nach Spanien, das andere nach Berlin, wohin er dann auf wie-
derholtesAndrängen von Kestenberg, der im Ministerium für ihn verantwortlich zeich-
nete, im Sommer schließlich doch zurückkehrte. Nachdem die NSDAP Ende Juli 1932
mit 230 Mandaten die stärkste Partei im Deutschen Reichstag geworden war, wurde
Kestenberg selbst vom nunmehrigen Reichskommissar von Papen nach dessen Staats-
streich gegen die sozialdemokratische Regierung in Preußen zwangsweise in den Ruhe-
stand versetzt.
Schönberg war demnach für das, was ihm und seinen jüdischen Kollegen im näch-
sten Frühjahr angetan wurde, in jeder Beziehung schmerzhaft vorbereitet, wenn auch
alles weitaus schneller vor sich ging, als selbst er in seinen schlimmsten Alpträumen für
möglich gehalten hatte. Dennoch war er wohl sogar ein wenig stolz darauf, daß er sich
unter den ersten befand, die von der binnen einiger sehr kurzer Monate "gleichgeschal-
teten" Akademie der Künste auf Anweisung ihres neuen Präsidenten, des Dirigenten
und Komponisten Max von Schillings, ausgeschlossen und damit ihres Lehramtes und
Einkommens verlustig wurden. Über den gerrauen Verlauf der Ereignisse bestehen zwar
widersprüchliche Aussagen; Schönberg scheint aber letzten Endes selbst die Initiative
ergriffen zu haben. In einem charakteristisch knappen Schreiben an den Akademie-
präsidenten verwahrte er sich gegen die pauschalen Anklagen, denen alle jüdischen
Mitglieder ausgesetzt waren, und nahm mit größter Würde seinen endgültigen Ab-
schied.29 Mit Hilfe des tschechoslowakischen Gesandten in Berlin, der ihm aufgrund
der Herkunft seiner Eltern einen tschechoslowakischen Paß zur Verfügung stellte, eta-
blierte er sich mit seiner Familie zunächst provisorisch in Paris, um schließlich Ende
Oktober mit Hilfe amerikanischer Freunde nach den Vereinigten Staaten auszuwan-
dern, aber nicht ohne im Juli in Paris noch die Gelegenheit ergriffen zu haben, sich in
Gegenwart des Malers Mare Chagall beinahe gerrau 35 Jahre nach seiner Taufe erneut
feierlich zum Judentum zu bekennen.
"Wie Du sicherlich bemerkt hast", schrieb er einige Tage vor der Einschiffung an
seinen Lieblingsschüler und Freund Alban Berg, "ist meine Rückkehr zur jüdischen
Religion schon längst erfolgt". 30 So vollzogArnold Schönberg im Namen vieler, denen
es ähnlich erging, sein modernes jüdisches Schicksal und beschritt zu gleicher Zeit, wie
einst König David, der erste große Sänger des jüdischen Volkes, den gesegneten Weg
aller zweifelnd Schöpfenden: "aus der Gnade der Erwählung, durch die Sünde zu jener
höheren Gnade, die sich dem Umkehrenden gewährt".
28 Arnold Schönberg, Brieft, ausgewählt und hg. von Erwin Stein, Mainz 1958, S. 178.
29 Josef Rufer, Das Werk Arnold Schönbergs, Kassel usw. 1959, S. 201.
30 Schönberg, Brieft, S. 200.
Lehre als Sozialreform
Ende 1902 wurde Schönberg von Richard Strauss, der sich damals noch sehr für ihn
einsetzte, an das Sternsehe Konservatorium in Berlin empfohlen. Ob es zu einer regel-
rechten Anstellung als Theorielehrer kam, ist nicht deutlich, wohl aber, daß Schönberg
während seines ersten Berliner Aufenthalts bereits Unterricht erteilte, wahrscheinlich
privat bei sich zuhause. Als er nämlich nach einer Lehrtätigkeit von rund vier Jahr-
zehnten 1944 offiziell in den Ruhestand trat, dankte der einstmalige Wiener Musik-
kritiker und Direktor des Neuen Konservatoriums, JosefReitler, ihm im gemeinsamen
Exil dafür, daß er 1903 bei ihm in Berlin seine "ersten Gehversuche in der Harmonie-
lehre" machen durfte. 1 Aber auch auf indirekte Weise nahm seine lebenslange Lehr-
karriere ihren Anfang in Berlin, und zwar kurz nachdem er von dort wieder nach Wien
zurückgekehrt war. Gustav Mahlers Freund Guido Adler hatte nämlich zwei seiner
begabtesten Studenten an der Universität Wien zur Vollendung ihrer musikalisch-prak-
tischen Ausbildung nach Berlin zu Hans Pfitzner geschickt, der von Mahler, trotz ge-
wisser Bedenken, geschätzt und gefördert wurde. Als die beiden jungen Leute, Anton
Webern und Heinrich Jalowetz, sich bei ihm vorstellten, hielt Pfitzner es dennoch für
angebracht, sich so abfällig über Mahler auszulassen, daß sie entrüstet sofort wieder
heimfuhren, worauf Adler sie, ohne zu zögern, Schönberg anvertraute. Bald gesellten
sich Kommilitonen, wie Egon Wellesz und Karl Horwitz, zu ihnen, neben Erwin Stein,
Schönbergs späterem Hauptassistenten, und Alban Berg, der frisch vom Abitur auf
ein Zeitungsinserat hin erschien, das seinem Bruder zufällig unter die Augen gekom-
men war.
Der Unterricht vollzog sich zum größten Teil in den Räumen der von Dr. Eugenie
Schwarzwald weniger als ein Jahr vorher gegründeten fortschrittlichen Mädchenschu-
le, wo auch Schönbergs früherer Lehrer und nunmehriger Schwager, Alexander von
Zemlinsky sowie die Adler-Schülerin Eisa Bienenfeld tätig waren. Ähnlich wie Rudolf
Steinerund Emil Jaques-Dalcroze war Eugenie Schwarzwald um die Jahrhundertwen-
de bestrebt, der Kunst im allgemeinen, der Musik im besonderen, einen zentralen Platz
in der Erziehung weitester Bevölkerungskreise einzuräumen, nicht, wie üblich, als trok-
kenes Pflichtfach, sondern als schöpferische Geistesübung für Menschen jeden Alters
und auf jeder Sprosse der Schulleiter vom Kindergarten, der damals noch wörtlich in
den Kinderschuhen steckte, bis zur Universität und Volkshochschule, deren Verwirkli-
chung sich, allen Widerständen zum Trotz, langsam, aber stetig vollzog. Daß dabei
gerade der Musik eine Vorzugsstelle zugewiesen war, erklärt sich allein aus der Tatsa-
che, daß all diese erzieherischen Neuerungen letzten Endes auf eine romantische Le-
bensanschauung zurückgingen, die in der Musik die Geisteskunstper se erkannte.
"Diese Schule sang ohne Künstelei", heißt es in einem nostalgischen späteren Be-
richt, "weil sie singen mußte und weil Frau Doktor immer glücklich war, wenn man
ihr oder für sie singen wollte. Sie feierte Feste mit Spielen, deren Vollendung oft ver-
Hans Heinz Stuckenschmidt, Arnold Schönberg. Leben, Umwelt, Werk, Zürich I Freiburg i.Br. 1974, S. 56.
78 Lehre als Sozialreform
blüffte, nie aber lernte sie etwas ein, sondern schon die Kinder erfanden sich Spiel und
Fest und Theater mit allen seinen Einzelheiten selbst, fanden und erfanden überhaupt",
ungehindert, ungehemmt, was sonst "beigebracht" werden muß, lebten in Glück und
Schöpferträumen und begehrten ein Leben außerhalb der Schule, das ihrer Schule
gleiche. "Und sie wurden nicht völlig enttäuscht; denn sie hatten Unverlierbares mit-
genommen: das erweckte Bewußtsein der Menschenwürde, der Berufenheit eines je-
den Menschen zur Freiheit. Das Gefühl der Gemeinschaft war in ihnen lebendig ge-
worden. Jeder war für sich und für jeden verantwortlich. "2
Arnold Schönberg fühlte sich in dieser Umgebung wohl, nicht nur weil die Räum-
lichkeiten von seinem Freund AdolfLoos zweckmäßig schön eingerichtet waren, son-
dern vor allem weil auch er als Lehrer danach strebte, seine Schüler soweit zu bringen,
daß "jeder [... ] für sich und für jeden verantwortlich" sein konnte und wollte. Wie er
selbst in seinem Prospekt für das zweite Unterrichtsjahr schrieb, betrachtete er es als
seine Aufgabe, "dem Kunstfreund wie dem Künstler das Verständnis nicht nur für die
längst-gewertete klassische Kunstepoche, sondern auch für unsere heutige Kunst" zu
eröffnen und ihm darüberhinaus den "Weg zu selbständigem Schaffen" zu weisen. 3
Die kleine, aber ausgesuchte Gruppe von Studenten des musikwissenschaftliehen
Instituts, die im Herbst 1904 bei Schönberg in die Lehre ging, stellte sehr bald mit
Erstaunen und Vergnügen fest, daß dessen analytische Denk- und Lehrweise sich in
vielem mit der ihres Mentors Guido Adler, des Vaters der stilkritischen Musikgeschichts-
forchung, deckte. Ähnlich wie Adler ließ Schönberg hauptsächlich Meisterwerke der
Vergangenheit untersuchen, allerdings wenigervom historischen als vom strukturellen
Standpunkt. Vor allem fand alles, was mit dem Unterricht zu tun hatte, Vorträge, Übun-
gen und Diskussionen, soweit wie möglich im intensivsten Kontakt mit dem lebendi-
gen Kunstwerk statt, im Einvernehmen mit einem lebenslangen kunsterzieherischen
Prinzip Schönbergs, das 1904 besonders starke praktische Unterstützung durch den
Verein schaffender Tonkünstler erfuhr, an dessen Gründung Schönberg aktiv beteiligt
war. Im Laufe weniger kurzer Jahre gelang es dem Verein tatsächlich, u. a. die Urauf-
führung von Mahlers Kindertotenliedern und die Wiener Erstaufführung der Sinfonia
Domestica von Richard Strauss darzubieten. Nach dem Kriege fand diese für Schön-
berg so wichtige Verquickung von Lehre und organisatorischem Schaffen ähnliche
Verwirklichung in der Zusammenarbeit seines Seminars für Komposition mit dem
Wiener Verein für musikalische Privataufführungen. Wie Egon Wellesz bereits 1921
zurecht betonte, war Schönbergs Wirken von Anfang an derart umfassend, "daß man
nicht vom Lehrer reden kann, ohne an den Dirigenten zu denken, nicht vom Dirigen-
ten, ohne von den theoretischen Schriften zu sprechen". 4
Damit erschöpft sich Schönbergs Ideal vom schöpferischen Musiklehrer jedoch
keineswegs, allein darum, weil es weit über das rein musikalisch Geistige hinaus Regio-
nen erfaßte, mit denen selbst die kultiviertesten unter den Musikern in der Regel nur
wenig Kontakt unterhielten. Daß das Schwarzwald-Experiment bereits im nächsten
Jahr mangels einer genügenden Anzahl von geeigneten Teilnehmern sein frühzeitiges
Ende fand, ist unter diesen Umständen kaum verwunderlich, zumal der damals bereits
als revolutionär verschrieene Komponist als Lehrer überhaupt noch keinen Namen
hatte. Dazu mag noch gekommen sein, daß die im Schwarzwald-Haus in der Wallner-
straße herrschende freiheitliche Atmosphäre Lehrer wie Schüler zur Unpünktlichkeit
einlud. Diesen, und einigen anderen ungünstigen Umständen schrieb jedenfalls Egon
Wellesz die Tatsache zu, daß er "gleich zu Beginn des zweiten Kursjahres die Aufforde-
rung erhielt, zum Unterricht in die Wohnung Schönbergs zu kommen". 5 Für Eugenie
Schwarzwald, die auch Oskar Kokoschka und größtenteils noch unbekannte Künstler
nach bestem Vermögen förderte, war das Kapitel Schönberg damit jedoch beileibe nicht
endgültig abgeschlossen. Über ein Jahrzehnt später, im dritten Kriegsjahr, brachte sie
Schönbergs von offizieller Seite abgelehntes Seminar für Komposition bei sich unter
und ab 1918 den Verein für musikalische Privataufführungen, mit dem die Darbietun-
gen des Vorkriegs-Vereins schaffender Tonkünstler erweitert fortgesetzt wurden.
Inzwischen empfing Schönberg seine Schüler, so gut es unter den beengten Ver-
hältnissen seiner kleinen Wohnung in der Liechtensteinstraße möglich war, bei sich
zuhause. Egon Wellesz, der ihn dort 1905 zum erstenmal aufsuchte, hat später an-
schaulich geschildert, wie er ihn zur Kontrapunkt-Stunde in einem kleinen, dunklen
Zimmer "gegen den Hof[ ... ] mit einer Zigarette in der Hand, unablässig auf- und
abgehend" antraf. 6 Auf einem Schrank lag die noch unvollendete Gurre-Lieder-Partitur
und "auf dem Pult der eben erschienene Klavierauszug der Salomevon Richard Strauss,
die erste Seite aufgeschlagen". Als Schönberg wahrnahm, daß der junge Wellesz die
ersten Takte von Strauss' neuester Sensation fasziniert anstarrte, murmelte er: "Diese
harmonischen Fortschreirungen wird man vielleicht in zwanzig Jahren theoretisch er-
klären können." Letzten Endes brauchte er aber weniger als sechs Jahre, um Fortschrei-
tungen dieser Art in einer Harmonielehre zu erklären, von der er mit einer charakteristi-
schen Mischung von Stolz und Bescheidenheit sagen zu dürfen glaubte, er habe sie
"von meinen Schülern gelernt".
Schönbergs Unterrichtsmethode war anfänglich, wie es scheint, weder besonders
systematisch noch auf leichte Faßlichkeit seitens seiner Zuhörer berechnet. In Egon
Wellesz' Erinnerung lief er, wie es sein Selbstporträt zeigt, "vorgebeugt, die Hände auf
dem Rücken, eine Zigarette nach der anderen rauchend, unruhig im Zimmer umher,
mit seiner dunklen, immer etwas heiseren Stimme Erklärungen für seine Theorien
hervorstoßend. Es waren meist abgebrochene Sätze, in seinem starken Wiener Dialekt,
von Pausen unterbrochen; anfangs mehr ein lautes Selbstgespräch, bis er dann aus
einer Art von Trancezustand wieder zu sich kam und mit dem Schüler sprach. "7
So studierte man Harmonie, Kontrapunkt und Fuge nicht im kahlen Klassenraum
aus pedantischen Textbüchern, sondern auf intensivste Weise an der ungedämmten
heißen Quelle schöpferischen Künstlertums. "Keine Kunst ist in ihrer Entwicklung so
sehr gehemmt durch ihre Lehrer wie die Musik", schrieb Schönberg im einleitenden
Kapitel der Harmonielehre, seiner ersten und umfangreichsten musiktheoretischen Ab-
handlung, die in ihrer stark philosophisch fundierten Anlage alle Merkmale einer Streit-
schrift hatte. Die meisten damaligen Musikpädagogen waren dem um die geistig-mu-
sikalische Entwicklung seiner Schüler stets tief besorgten Lehrer Schönberg eben dar-
um so zuwider, weil ihre Methoden der natürlichen Entfaltung wirklicher Talente oft
eher im Wege standen. Der typische Theorielehrer, wie Schönberg ihn in unzähligen
Exemplaren persönlich und im Druck kennengelernt hatte, wachte um so "eifriger
über sein Eigentum", als er sich dessen bewußt war, "daß es, gerrau genommen, nicht
ihm gehört". 8 Aus der Tatsache, daß Theoretiker "gewöhnlich nicht Künstler, oder,
was noch schlimmer ist, schlechte Künstler" waren, ergaben sich Übelstände, denen
Schönberg durch Einrichtung von Kompositionsateliers nach dem Vorbild der Maler-
ateliers von einst abzuhelfen vorschlug. "Da würde sich unverzüglich zeigen", meinte
er, "wie überflüssig der Musiktheoretiker ist, und daß er ebenso schädlich ist wie die
Musikakademien."
Schönberg, der außer der gelegentlichen Anleitung von Freunden wie Oskar Adler
und Zemlinsky selbst nur wenig musikalischen Unterricht genossen hatte, schnitt da-
mit ein Thema an, auf das er noch vor Ende des Krieges in seinem Konzept für das
Kompositions-Seminar in der Schwarzwald-Schule zurückkam, wo er darauf hinwies,
daß die großen Maler der Vergangenheit stets die Möglichkeit hatten, ihr Wissen und
Können unter begabten jungen Menschen zu verbreiten, die "aus Neigung für diese
Kunst und aus Achtung vor diesem Meister sich bemühten, bei ihm Aufnahme zu
erlangen". 9 Schüler, die aus derart echter Neigung zu ihm kämen, würden ebenfalls
"nicht fühlen, daß sie lernen, sie werden vielleicht arbeiten, vielleicht sogar sich plagen,
aber es nicht merken". Was Schönberg betraf, gab es nur "einen wahren Lehrmeister",
eben die Neigung, "und der hat nur einen brauchbaren Gehilfen: die Nachahmung" .10
Wirkliche Neigung gehorcht keinem Zwang, ist aber desto empfänglicher für schöpfe-
rische Anregungen. Statt grauer Theorie zu gehorchen, reagiert das Nachahmungs-
vermögen des angehenden Künstlers mit Vorliebe auf ein kohärentes, sorgfältig formu-
liertes Darstellungs- und Unterrichtssystem: "Der Glaube an die alleinseligmachende
Technik müßte unterdrückt, das Bestreben nach Wahrhaftigkeit gefördert werden. " 11
Was in dem programmatischen Aufsatz über "Probleme des Kunstunterrichts" grund-
sätzlich festgelegt ist, kommt im seihen Jahr noch in der Harmonielehre unter dem Titel
"Theorie oder Darstellungssystem" zur praktischen Diskussion. EinJahr später, in dem
ersten Schönberg von Schülern und Freunden gewidmeten Sammelband, berichtet
dann Karl Linke ausführlich, wie es ihm erging, als er dem Meister ein Lied vorlegte,
das ihm, dem Kompositionsschüler, besonders teuer war, "weil es so schwer war". Schön-
bergschöpfte sofort Verdacht, daß die "Komplizität der Begleitungsform" einen nach-
träglichen Versuch darstellte, ein nettes, einfaches Lied in "dreistimmige Inventionen,
geschmückt mit einer Singstimme" umzuwandeln. "Die Musik soll aber nicht schmük-
ken", sagte er, einen Lieblingsgedanken aufgreifend, "sie soll bloß wahr sein". Als Beispiel
eines Liedes, in dem sich alles weitere aus einem ebenfalls einfachen Einfall ergibt, wo
"eine Bewegung die andere zeugt", wies er auf Schuberts Aufdem Flusse mit dem Zusatz:
"Schwer darf Ihnen gar nichts vorkommen. Was Sie komponieren, muß Ihnen so selbstver-
ständlich sein wie Ihre Hände und Ihre Kleider. Früher dürfen Sie es nicht aufschreiben. Je
einfacher Ihnen Ihre Sachen scheinen, desto besser werden sie sein. Bringen Sie mir einmal jene
Arbeiten, die Sie nicht herzeigen wollen, weil sie Ihnen zu einfach und kunstlos scheinen. Ich
werde Ihnen beweisen, daß sie wahrer sind als diese. "12
"Ich folge eigendich nur meinem Lehrer Schönberg. Wir wurden bei Schönberg bis zu Brahms
geführt und er sagte: ,Hören Sie zu! Freiheit kann ich Ihnen net lehren. Das müssen Sie sich
selber erobern.' Das ist ein großer Satz, der auf mich als junger Mann großen Eindruck ge-
macht hat. "14
Da für Schönberg wahre Kunst "nicht von können, sondern vom Müssen" 15 kam, tat
er sein Äußerstes, um nie "bloß ,das zu sagen, was ich weiß'. Eher noch das, was er [der
Schüler] nicht wußte" . 16 Und wo es vor allem auf Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit
ankam, war einfach kein Platz für akademische Unterrichtsverfahren, in denen starre
Regeln vorherrschen, "die so sorgsam ihre Schlingen um ein Schülerhirn legen". 17 Statt-
dessen befürwortete Schönberg ,,Anweisungen [... ],die für den Schüler so wenig bin-
dend sind wie für den Lehrer." Und eine derart unorthodoxe Unterrichtsmethode ver-
langte wiederum einen nicht minder freien Lehrgang:
,,Also niemals hübsch der Reihe nach: Harmonielehre, Kontrapunkt, Instrumentationslehre ... ,
sondern alles ganz nach freier Wahl. Der nähere Lehrgang ist dabei folgender: Ich und meine
Schüler treffen im Lehrzimmer möglichst zwanglos zusammen. Und nun fragt einer dies und
12 Arnold Schönberg, München 1912, S. 76f. Mit etwas anderen Worten auch bei Wellesz, Arnold Schön-
berg, S. 50f.
13 Hanns Eisler, Musik und Politik. Schriften 1948-1962, hg. von Günther Maier, Leipzig 1982, S. 336.
14 Ebenda, S. 537.
15 Schönberg, Stil und Gedanke, S. 165.
16 Schönberg, Harmonielehre, Wien 3 1922, S. V.
17 Ebenda.
82 Lehre als Sozialreform
jenes, und ich antworte, dem Umfang der Frage entsprechend, vielleicht auch darüber hinaus;
je nachdem, ob ich das für den Fragesteller für gut halte oder nicht." 18
Dabei konnte es sich ergeben, daß er es für besser hielt, überhaupt nicht zu antworten,
"weil ich im Augenblick zu dem betreffenden Gegenstand keine Neigung habe; und
vielleicht schicke ich dann und wann die erschienenen Schüler überhaupt nach Hause,
weil ich den Tag für den Unterricht gerade nicht disponiert bin und als Lehrer nur
wenig oder garnichts bieten könnte". 19
Mit welchem Entsetzen offizielle Instanzen von solchen radikalen Vorstellungen
Kenntnis nahmen, bedarfkeiner weiteren Erläuterung. Irgendwelche Chancen auf eine
feste Anstellung an der k. und k. Musikakademie nach seiner endgültigen Demobilisie-
rung verspielte Schönberg sich denn auch gründlich mit seinem Zeitungsinterview
vom 18. September 1917. Dafür nahm Eugenie Schwarzwald ihn um so begeisterter
auf. Vor dem Krieg hatte er dennoch auf wärmste Empfehlungen von Gustav Mahler,
Karl Goldmark und Ferdinand Löwe hin mit großem Erfolg an der Akademie unent-
geltlich Musiktheorie und Komposition gelehrt. Das äußerst vorsichtige Kuratorium
erteilte seine Zustimmung damals erst aufgrundvon Mahlers Versicherung, daß Schön-
berg nicht nur zu jenen ,,Anregung und Bewegung erweckenden Feuerköpfen" gehör-
te, "die seit jeher befruchtend und fördernd auf die Geister gewirkt haben", sondern
daß bei ihm "eine eminente didaktische Begabung hinzutrete". Löwe seinerseits sprach
von der großen "Begeisterung Schönbergs für das Lehramt und ein gewiß allerwichtig-
stes Moment, die Anhänglichkeit seiner Schüler". Selbst Altmeister Goldmark, der
"keine Note von ihm kannte", beantwortete die Frage, ob er "den Unterricht eines
Lehrers von so extremer Richtung für gefährlich halte[ ... ] mit einem bestimmten ,Nein'
[... ] Reine, vornehme, künstlerische Gesinnung halte ich für ein wesentliches Moment
in der musikalischen Erziehung und diese dürfte wohl kaum jemand Herrn A. Schön-
berg absprechen. "20
Auf welch hervorragende Weise Schönberg das ihm entgegengebrachte Vertrauen
rechtfertigte, ergibt sich aus dem Bericht eines Kollegen, der sich der Sache zunächst
widersetzt hatte, aber nach kurzer Zeit zugeben mußte, daß Schönberg als Lehrer völ-
lig konkurrenzlos dastand. "Vor allem sei konstatiert", heißt es dort, "daß die Vorträge
sehr anregend und interessant sind." Er, Ernst Kraus, hatte, "wie die meisten anderen
Frequanten, die Vorträge ,mitgeschrieben'", und zwar am Anfang aus rein sachlichen
Gründen, erfreue sich jedoch "heute des Besitzes dieser Collegienhefte" ganz beson-
ders. Schönbergs Vortragsweise beschreibt er als "fließend" und "bilderreich". Sie brin-
ge stets "treffliche Vergleiche" und könne jederzeit auf "eine reiche positive Kenntnis
der gesamten musikalischen Produktion und der Theorien" zurückgreifen. Schönbergs
Ziel war offensichtlich, "in dem Schüler die Freude an selbständigem Schaffen zu er-
halten und zu befördern". Er sprach "nie von sich selbst und seinen Kompositionen",
ging vielmehr "von dem Grundsatz aus, daß eben jede Zeit ihre Kunst und Kunst-
Theorie hat". Mit Nachdruck schilderte der neu Bekehrte Schönbergs herzliches Ver-
hältnis zu seinen Schülern und schloß sein Gutachten mit der Bemerkung, daß man
"niemals von einer Begegnung mit ihm" scheide, "ohne eine Anregung empfangen zu
haben". 21
Ein derartiger Enthusiasmus seitens eines geschätzten Kollegen erbitterte Schön-
bergs akademische Gegner natürlich nur noch mehr, und sie schreckten denn auch vor
keinem Mittel zurück, um seine feste Anstellung zu verhindern. Als Schönberg erfuhr,
daß selbst im Abgeordnetenhaus Intrigen gegen ihn in Gang gesetzt worden waren,
sobald sich das Gerücht verbreitet hatte, daß Karl Wiener, der Direktor der Musikaka-
demie, ernsthaft an seine Berufung denke, beschloß er, sein Glück lieber noch einmal
in Berlin zu suchen, wo er nicht nur auf die freundliche Gesinnung von Gustav
Hollaender rechnen konnte, der das Sternsehe Konservatorium auf eine liberale Weise
leitete, die in Wien total unbekannt war, sondern wo führende Musiker, wie Ferruccio
Busoni, Oskar Fried und Artur Schnabel, ihn ebenfalls mit offenen Armen erwarteten.
Als diese hörten, daß es Schönberg ernst war mit Berlin, gingen sie sogar soweit, die
Leser der Zeitschrift Pan aufzufordern, sich unverzüglich an die Redaktion zu wenden,
falls sie glaubten, als zukünftige Schüler von Schönberg in Betracht zu kommen. 22
Verlockend war auch die Möglichkeit, daß Max Reinhardt sich bereit finden würde,
Schönbergs erste Bühnenstücke, das Monodram Erwartung op. 17 und das noch un-
vollendete Drama mit Musik Die glückliche Hand op. 18, aus derTaufe zu heben. Und
so kam es, daß er sich bereits längere Zeit in Berlin befand, als die Nachfolge von
Robert Fuchs, der um frühzeitige Pensionierung gebeten hatte, im Kuratorium der
Wiener Akademie endgültig zur Sprache kam. Zwar hatte er die Tür insofern offen
gelassen, als er sich Direktor Wiener gegenüber bereit erklärte, die Verhandlungen zu
einem späteren Zeitpunkt unter günstigeren Umständen erneut aufzunehmen. Daß
nie etwas daraus wurde, obwohl der Nachkriegs-Rektor Joseph Marx sich nicht weni-
ger für ihn interessierte als Karl Wiener, ist dem traurigen Umstand zuzuschreiben,
daß die negativen Kräfte dort letzten Endes stets den Ausschlag gaben. Seinen inzwi-
schen ansehnlich gewachsenen Privatschülerkreis vertraute Schönberg für die Dauer
seines zweiten Berliner Aufenthalts Alban Berg an. "Er unterrichtet genau in meiner
Art, denn er hat bei mir von Anfang an gelernt" 23, schrieb er an einen jungen Musiker,
der sich angemeldet hatte, bevor er sich entschloß, Wien zu verlassen.
In Berlin ging es trotz aller Bemühungen seiner vielen Freunde, die auch in der
Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung inserierten, daß Schönberg "in diesem Jahr
in Berlin Kurse in Harmonielehre, Kontrapunkt, Formenlehre und Instrumentation in
derselben Art abzuhalten" beabsichtigte, "wie er sie bisher an der k. k. Akademie hat-
21 Vgl. Arnold Schönberg Gedenkausstellung 1974. Katalog, Redaktion: Ernst Hilmar, Wien 1974, S. 225.
22 Ebenda, S. 229.
23 Ebenda, S. 228.
84 Lehre als Sozialreform
te", nicht so recht vorwärts. 24 Sein erster und anfänglich einziger Berliner Schüler, der
Engländer Edward Clark, warb unermüdlich unter seinen Altersgenossen, und das
Sternsehe Konservatorium verpflichtete ihn für einen achttägigen Vortragszyklus. Aber
aus dem erhofften regelmäßigen Kompositionskurs wurde nichts, da der etablierte
Kompositionslehrer Wilhelm Klatte "auf seinem Vertrag bestand", wie Schönberg Ende
1911 Karl Wiener mitteilte, "demzufolge außer ihm niemand im Stern sehen Kons.
Komposition unterrichten darf''. 25 Kurz darauf kam die Hiobsbotschaft, daß Max
Reinhardt die Aufführung seiner Bühnenwerke "im Rahmen eines regulären Schauspiel-
theaters für undurchführbar" hielt, nicht ganz zu Unrecht übrigens, wie spätere Erfah-
rungen beweisen sollten. 26 Als Komponist war Schönberg jedoch in Berlin weitaus
mehr geschätzt als in Wien. Busoni, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, eines der
Schönbergsehen Klavierstücke op. 11 "für den Konzertgebrauch" zu bearbeiten, setzte
sich unter seinen einflußreichen Bewunderern uneingeschränkt für ihn ein. Und im
Frühling 1912 erreichte ihn jener Gelegenheitsauftrag, der ihn weltberühmt zu ma-
chen bestimmt war: Pierrot lunaire. Langsam scharten sich auch mehr Schüler um ihn,
allen voran der junge Pianist Eduard Steuermann, der auch den Pierrot mit der Auf-
traggeberirr Albertirre Zehme einstudierte. Breiteres Gehör fand der Lehrer Schönberg
in Berlin dennoch erst mehr als ein Jahrzehnt später als Nachfolger seines Wohltäters
Busoni an der Preußischen Akademie der Künste.
In jenem Interview, das im Neuen Wiener journalvom 18. September 1917, also
zum Zeitpunkt von Schönbergs intensivster Beschäftigung mit dem Oratorium Die
Jakobsleiter, erschienen war, verband er seine umstrittenen Vorschläge für den Kompo-
sitionsunterricht ganz offen und unzweideutig mit Bestrebungen nach einer "Reform
sozialer Natur". 27 Wie er ausdrücklich betonte, ging es ihm in pädagogischer Hinsicht
zunächst um einen ungezwungenen Ideen- und Erfahrungsaustausch zwischen schöp-
ferisch veranlagten Menschen auf gemeinsamer Suche nach angemessenen Ausdrucks-
mitteln; zu gleicher Zeit befürwortete er jedoch die kaum weniger revolutionäre Idee
der "Bestimmung des Honorars durch Selbsteinschätzung des Unterrichtnehmers. So-
fern ich diesen Vorgang als staatliche Einrichtung im Sinn habe", erklärte er ferner,
"stelle ich mir die Bemessung des Unterrichtsgeldes auf Grund des Steuerzettels vor".
Und der einige Wochen vorher verfaßte Seminar-Prospekt für die Schwarzwald-Schule
enthält bereits den Vorschlag, "die Bedingungen für die Aufnahme so festzusetzen, daß
jeder, Reicher oder Armer, Künstler oder Dilettant, Vorgeschrittener oder Anfänger, daran
teilnehmen kann". 28 Als ob eine derart ketzerische Forderung nicht genügte, ihn sozia-
listischer Tendenzen zu verdächtigen, unterstrich er zum Schluß noch einmal: "Jeder
zahlt so viel, als er seinen Verhältnissen gemäß kann. "29
Schönbergs Auffassung vom Sozialen maß der Lösung konkreter wirtschaftlicher
Probleme dennoch weitaus weniger Bedeutung zu als der Ethik menschlichen Verhal-
24 Ebenda, S. 231.
25 Ebenda, S. 232.
26 Ebenda, S. 230.
27 Schönberg, Schöpferische Konfessionen, S. 45.
28 Ebenda, S. 46 bzw. 43.
29 Ebenda, S, 46.
Lehre als Sozialreform 85
tens. Je mehr er sich der Überzeugung hingab, daß die Rolle des modernen, schöpfe-
risch begnadeten Künstlers der des biblischen Propheten zu entsprechen habe, des idealen
geistigen Lehrers eines Volkes, desto skeptischer stand er den modernen politischen
und wirtschaftlichen Ideologien gegenüber, die gerade so viel Jüngere in ihrem Bann
hielten, meistens aber mehr Streit als Frieden stifteten. Als glühender Kämpfer für eine
bessere Zukunft stellte er aktuelle Tagesfragen, die grundsätzliche Überwindung von
Lüge, Schein und Scheinheiligkeit, in den Vordergrund. Seine Schüler lernten durch-
wegs sehr schnell, daß er in Rainer Maria Rilke nicht nur den Dichter des Stunden-
buchs verehrte, sondern einen, der wie er selbst in der Kunst "eine Lebensauffassung"
sah, "wie etwa die Religion und die Wissenschaft und der Socialismus auch". 30 Er, der
seinen Schülern stets vor Augen gehalten hatte, daß der Künstler nichts tut, "was ande-
re für schön halten, sondern nur was ihm notwendig ist" 31 , konnte daher in der Tat
viele Jahre später in seinem Demissionsbrief an die Preußische Akademie der Künste
im März 1933 rückblickend mit unverblümtem Stolz erklären, daß er seinen Schülern,
von allem anderen abgesehen, stets einen moralischen Begriff von Kunst vermittelt
habe. 32
Das ausgesprochen patriarchalische Verhalten Schönbergs zu seinen Schülern erin-
nert nicht nur zufällig an das der Erzväter, Schöpfer und Vermittler einer ethischen
Tradition, die zur Grundlage aller Zivilisation wurde. Es gibt eine alt-jüdische Ausle-
gung des fünften Gebots, derzufolge Eltern Dank und Ehre gebührt, nicht weil sie das
Kind zur Welt gebracht haben, sondern weil es von ihnen gelernt hat, was gut und
richtig ist. Ganz ähnlich sah Schönberg seine Rolle im Leben jener Schüler, die er der
Aufgabe für würdig befand und die ihm ihr ungeteiltes Vertrauen schenkten. Und
andere gab es eigentlich nicht. Unablässig warnte er durch Wort und Tat vor intellek-
tuellen und künstlerischen Modeerscheinungen und den "kleinen Modernskis". Daß
er dabei mitunter zu weit ging oder sein Urteil gar fehlschlug, brachte ihn den Haupt-
figuren des Alten Testaments eher näher, denn die irrten ja auch nicht wenig. An seiner
Integrität zweifelte jedenfalls keiner, der ihn näher kannte, nicht einmal Hanns Eisler,
ein Schüler, um den er sich besonders bemüht hatte, der sich aber aus primär ideologi-
schen Gründen mit ihm entzweite, bis er im gemeinsamen Exil erkannte, daß Schön-
berg nicht nur politische Pragmatiker zuwider waren, sondern weitaus mehr noch das
konservative Ideal des "charaktervollen Menschen", von dem er einmal sagt: "Das ist
(ein Wort von Karl Kraus variierend) der, dessen Arterienverkalkung von seiner Welt-
anschauung ausgeht. "33
Schönbergs eigene Weltanschauung beruhte letzten Endes auf dem Begriff der
Auserwähltheit des Künstlers im Ebenbild der Auserwähltheit Israels, womit in der
jüdischen Tradition wiederum der Begriff der freien Wahl verbunden ist. Mit anderen
30 Rainer Maria Rilke, "Über Kunst", in: Ver Sacrum 2 (1899). Neudruck in Literarische Manifeste der
jahrhundertwende 1890-1910, hg. von Erich Ruprecht und Dieter Bänsch, Stuttgart 1970, S. 184.
31 Schönberg, Harmonielehre, Wien 3 1922, S. 498.
32 Vgl. JosefRufer, Das Werk Arnold Schönbergs, Kassel usw. 1959, S. 201.
33 Schönberg, Harmonielehre, Wien 3 1922, S. 499.
86 Lehre als Sozialreform
Worten, der Wähler wird zum Auserwählten dadurch, daß er außerordentliche Pflich-
ten und Verpflichtungen auf sich nimmt, die dem Schwachen zur Bürde gereichen
mögen, dem Starken dagegen zum Segen. Der Komponist Max Butting, der in der
Zwischenkriegszeit den Vorsirz der Berliner Sektion der Internationalen Gesellschaft
für Neue Musik innehatte, stattete Schönberg Anfang der zwanziger Jahre als ratloser
junger Musiker einen mehrstündigen Besuch ab, der, wie er in seinen Memoiren liebe-
voll berichtet, bestimmt war, sein gesamtes weiteres Leben und Schaffen moralisch
und künstlerisch entscheidend zu beeinflussen.
Alles andere als ein Anfänger zur Zeit jener Wiener Reise, konnte Butting damals
bereits auf beträchtliche Erfolge, u. a. beim Donaueschinger Kammermusikfest, hin-
weisen. Dennoch befand er sich zur Zeit, wie manche seiner Altersgenossen, in einer
lähmenden stilistischen Sackgasse, deren volles Ausmaß ihm aber erst bewußt gewor-
den war, als ihm Schönbergs Harmonielehre in der neuen Auflage von 1922 in die
Hände fiel. Als er dann rein zufällig vernahm, mit welcher Verehrung Schüler Schön-
bergs von ihrem Lehrer sprachen, schickte er ihm schnell zwei Streichquartette und
erlaubte sich kurz danach, persönlich bei ihm vorzusprechen. 34 Auf die Frage, ob er
denn überhaupt weiterkomponieren sollte, antwortete Schönberg, der gegen die vor-
gelegten Werke nichts einzuwenden hatte, irritiert, daß er, wenn er etwas zu sagen
hätte, es eben sagen sollte. Und "wenn ich nicht das Bedürfnis hätte, etwas auszuspre-
chen, dann möge ich es ruhig für mich behalten, denn es würde schon zuviel Überflüs-
siges in der Welt gesagt". 35 Buttings Eingeständnis, daß er zwar einerseits sehr von
Pierrot Iunaire beeindruckt war, andererseits aber von gewissen Konventionen nicht
loszukommen schien, nahm Schönberg zum Anlaß, die "ewige Suche" nach dem, was
vermeintlich gerrau das "Richtige" sei, zu verurteilen. Zu seinem Erstaunen riet ihm
der vermeintlich strenge Meister zu schreiben, "wie mir der Schnabel gewachsen sei,
oder es bleiben zu lassen, wenn mir nichts einfällt". 36
Am liebsten wäre Butting gleich in Wien geblieben, um bei Schönberg regelrecht
zu lernen. Daran war jedoch nicht zu denken; er mußte zurück nach Berlin. Angesichts
der Mühe und des Geldes, die ihn ein so kurzer Besuch gekostet hatte, beschloß Schön-
berg, bevor er ihn entließ, noch auf einige prinzipielle Punkte einzugehen, die dem
jüngeren Kollegen offenbar besonders am Herzen lagen, "so daß ich schließlich über
fünf Stunden bei ihm gewesen bin". Kaum weniger verwirrt, aber ungemein beglückt
fuhr er nach Hause. Als er Schönberg Jahre nach diesem unvergeßlichen Erlebnis in
seiner offiziellen Position wiederbegegnete, fragte dieser ihn lachend: "Nun, wissen Sie
schon, ob ich damals recht hatte oder nicht?" Die Antwort, welche Butting ihm bei
dieser Gelegenheit, wie es scheint, schuldig blieb, gab er dann selbst, als er den Erfolg
von Buttings Stücken für Streichquartett beim Kammermusikfest der IGNM in Vene-
dig mit einem knappen, aber inhaltsreichen "na, also" begrüßte. 37
Daß es Komponisten gab, die nicht aufhörten zu schreiben, wenn sie nichts mehr
zu sagen hatten, war etwas, worüber Schönberg sich nie beruhigen konnte. Seine ame-
rikanische Jüngerin Dika Newlin hörte ihn noch 1939 mit Entrüstung von jenem
Wiener Kompositionslehrer sprechen, der seine Schüler stolz darauf hingewiesen hat-
te, daß er sich in seinerg-Moll-Messe- Schönberg übersetzte statt Mass "mess", was
auf Englisch soviel wie Mist bedeutet- mit doppeltem Kontrapunkt zu retten wußte,
als ihm nichts mehr einfiel. 38 Er blieb seinen Lehr-Idealen tatsächlich zeitlebens treu
und kapitulierte auch nicht, als seine Einschaltung in das höhere Erziehungswesen
Amerikas ihn zwang, sich einem System anzupassen, das dem einzelnen Lehrer schon
aus rein verwaltungstechnischen Erwägungen verhältnismäßig wenig Spielraum läßt.
Ende der zwanziger Jahre hatte er seine diesbezüglichen Überzeugungen noch einmal
stichwortartig festgehalten: Mit "Verfütterung ,fertigen' Wissens und ,greifbaren' Kön-
nens" wolle er nichts zu tun haben. Als grundlegend für einen guten Bildungsgang
betrachte er statt dessen: ,,Anregung und Anleitung zum Schauen, Beobachten, Ver-
gleichen, Bestimmen, Erwägen, Prüfen, Folgern und Anwenden." Denn es ging ihm in
erster Linie um "Erkenntnis" im Interesse von "Können, das immer aus dem Erkennen
neugeschöpft und erweitert wird". Dieses allein würdige Ziel wahrer Erziehung kann
aber nur erreicht werden, indem "man den Schüler mittenhinein setzt (je nach dem
Grad seiner geistigen Ausbildung) in die Schwierigkeiten, Probleme, Aufgaben, Bedin-
gungen des Materials [... ], wobei man ihn ruhig Irrtümer begehen läßt, die man auf-
klärt, ihm aber bei der Findung der Lösung schließlich Beistand leistet". 39
Geistesschulung ist demnach der Kernbegriff, dem man bei Schönberg in diesem
Zusammenhang immer wieder begegnet, wenn auch manchmal etwas anders formu-
liert. Im Unterricht standen zwar rein technische Fragen unvermeidlich oft im Vorder-
grund, aber auch diese wurden im Lauf der Lektion in der Regel zu Instrumenten jener
Schönbergsehen Idee der Sozialreform aufgrundgeistiger Werte, die von einer materia-
listischen Gesellschaft kaum noch als solche erkannt, geschweige denn gefördert wur-
den. Wie einst die Propheten, denen er so manches klingende Denkmal setzte, verfolg-
te Schönberg seinen Weg dessen ungeachtet konsequent und unverdrossen im Sinn
einer geistig-sozialen Erneuerung, über deren unmittelbare Chancen er sich ebenso
wenig Illusionen machte wie über die Möglichkeit einer populären Rezeption gerade
dieser kompromißlosen Denkmäler. Seine Haltung, die auch seine Schüler fürs Leben
mitbekamen, war und blieb die des Gabriel in der Jakobsleiter. "Gleichviel! Weiter!"
Als treuer Hüter wahrer, aber längst vergessener Traditionen darf kein Prophet in
seiner Zeit auf mehr als eine kleine Schar von Anhängern rechnen, deren Blicke eben-
falls auf eine wahrhaft menschliche, moralische Zukunft gerichtet sind und denen zur
Erreichung ihres hohen, vom Höchsten gesetzten Zieles kein Opfer zu groß ist. Schön-
berg hat es an solchen zu seiner großen Zufriedenheit nie gefehlt. Alban Berg, der
Meister des WtJzzeck und der Lulu, sprach denn auch nicht nur für sich selbst, als er mit
Rührung, Stolz und Ehrfurcht notierte:
38 Dika Newlin, Schoenberg Remern bered. Diaries and Recollections (1 938-1976), New York 1980, S. 101.
39 Handschriftlich im Mödlinger Schönberg-Haus erhalten.
88 Lehre als Sozialreform
Herbst 1904
Beginn des Unterrichts und von
da ab bis zu meiner Verheiratung
Mai 1911
und darüber hinaus bis an mein
Lebensende
Schüler Arnold Schönbergs. 40
40 Eintrag Alban Bergs in das Schüler-Album Dem Lehrer Arnold Schönberg aus Anlaß des 50. Geburts-
tages des Komponisten am 13. September 1924.
Vergangenheit und Zukunft
Musikalische Prosa ist ein Begriff, der zwar auf Richard Wagner zurückgeht, aber erst
in den letzten Jahrzehnten, hauptsächlich im Zusammenhang mit Arnold Schönberg,
ernsthaft behandelt worden ist. So hat sich Carl Dahlhaus in einem grundlegenden
Aufsatz insbesondere mit den geschichtlichen Voraussetzungen jener asymmetrischen
Phrasenbildungen befaßt, für die Schönberg mit Vorliebe Beispiele aus Werken von
Mozart, Brahms und Mahl er heranzog. 1 Zweifellos ging es Schönberg, der in Brahms
den Herold des musikalischen Fortschritts zu erkennen meinte, um thematisch-syn-
taktische Fragen, die er im Sinn seiner eigenen ästhetischen Prinzipien zu klären be-
müht war. Er, der sein Leben lang "Präzision und Kürze" anstrebte, erwartete auch von
anderen Musik, die "nicht nur tut, was Grammatik und Idiom erfordern, sondern[ ... ]
jedem Satz die ganze Bedeutungsschwere einer Maxime, eines Sprichworts, eines Apho-
rismus gibt. Das sollte musikalische Prosa sein- eine direkte und unumwundene Dar-
stellung von Gedanken ohne jegliches Flickwerk, ohne bloßes Beiwerk und leere Wie-
derholungen. "2 Kurz, was Schönberg betraf, war eine unumwundene "Darstellung des
Gedankens" ohne das, was er musikalische Prosa nannte, so gut wie undenkbar.
In einem allzu wenig beachteten Beitrag zum Wien er Beethoven-Kongreß wies Erwin
Stein, Schönbergs früher Schüler und langjähriger Assistent, bereits 1927 auf Beethoven
als den eigentlichen Urheber des "gedanklichen Prinzips" in der musikalischen Kom-
position und "seine Auswirkung bei Schönberg" hin. 3 Für Stein war der musikalische
Denker nichts weniger als der legitime moderne Vollzieher des Beethovenschen Ver-
mächtnisses. Denn beide, Beethoven sowohl als Schönberg, waren Propheten einer
"autonomen" Musik und als solche Großmeister der knapp formulierten musikali-
schen Geste in Werken, die der hedonistischen Selbstzufriedenheit zahlreicher Zeitge-
nossen die nackte Wahrheit über eine von ihnen selbst geschaffene Welt des Unfriedens
und der Ungerechtigkeit entgegenstellten. Das künstlerische Ergebnis war in beiden
Fällen ein reicher, im Lauflanger Jahre herausgebildeter Vorrat an höchst persönlichen
melodisch-rhythmischen Mitteln im Dienst einer dialektischen Darstellungsmethode,
in der Kontinuität und Diskontinuität gleich wichtige Funktionen zugedacht waren.
Dabei kamen auch Pausen verschiedenster Dauer zentrale Aufgaben zu, die in der In-
strumentalmusik vor Beethoven, wenn überhaupt, dann beinahe ausschließlich im Zu-
sammenhang mit einer harmonisch bestimmten Rhetorik zutagetraten wie in jenen
dramatisch modulierenden Takten, mit denen die Durchführung des letzten Satzes
von Mozarts g-Moll-Symphonie KV 550 beginnt.
Carl Dahlhaus, Schönberg und andere. Gesammelte Auflätze zur Neuen Musik, Mainz 1978, S. 134-145.
2 Arnold Schönberg, Stil und Gedanke. Auflätze zur Musik (Gesammelte Schriften 1), hg. von lvan Vojtech,
Frankfun a.M. 1976, S. 49.
3 Erwin Stein, "Das gedankliche Prinzip in Beethovens Musik und seine Auswirkung bei Schönberg",
in: Musikblätter des Anbruch 9 (1927), S. 117-120.
90 Vergangenheit und Zukunft
Im Gegensatz zum allgemein erzählenden Stil der Frühromantik führte das Bedürf-
nis, instrumental zu "sprechen", besonders in Beethovens Spätwerk nicht selten zu
opernartigen Formulierungen. Ein eindrucksvolles Beispiel von vielen liefert die große
As-Dur-Klaviersonate op. 110, wo ein kurzes, unverkennbar instrumental konzipiertes
Rezitativ einem klagenden Arioso vorausgeschickt ist, dem die Schlußfuge dann so
zuversichtlich entschlossen gegenübersteht. Anfänglich unterschied sich die deklama-
torische Instrumentalmelodik bei Beethoven nur wenig vom dramatischen Gesang,
denn hier wie dort herrschten kleinere Intervallschritte noch längere Zeit vor. Sprünge
über eine Oktave oder selbst darüber hinaus blieben zunächst verhältnismäßig selten.
Eines der ersten markanten Beispiele liefern die Takte 3-5 des Quartetto serioso in
f-Moll op. 95 gleich nach jenem ungestümen einstimmigen Anfang. Womöglich noch
dramatischer gebärdet sich die Overtura der Großen Fuge op. 133. Im Vergleich mit
den wilden sforzato-Sprüngen und Kraftpausen dieser beispiellosen tour de force, von
der Schönberg einmal verlautete, wenn der Komponist nicht bekannt wäre, könnte
man fast glauben, sie stamme von ihm, mutet selbst die einstimmige Einleitung zur
Neunten Symphonie fast zahm an. Was dieser sinfonischen Geste einen so kraftvollen
Ausdruck verleiht, ist eher die Wucht, mit der das scharf punktierte Dreiklangsmotiv
nach den offenen Quarten und Quinten des pianissimo-Beginns vom vollen Orchester
heruntergeschleudert wird.
Die romantischen Lyriker des 19. Jahrhunderts standen dem aufrührerischen mu-
sikalischen Redner Beethoven denn auch oft ratlos gegenüber. Andererseits fanden die
Neuromantiker französischer Prägung, allen voran die Beethovenianer Berlioz und Liszt,
erst gegen Ende des Jahrhunderts verständnisvolle Nachfolge. Daß Gustav Mahler sei-
ne Zweite Symphonie mit einer Parodie der ebenfalls einstimmigen Stelle unmittelbar
nach den gebrochenen übermäßigen Dreiklängen zu Beginn von Liszts Faust-Sympho-
nie begann, war keineswegs reiner Zufall. 4 Sowohl Liszt als auch Mahler strebten eine
ihrer jeweiligen dramatischen Grundidee entsprechende, vorwärts drängende Dekla-
mation an. Liszt wies den bereits von Beethoven beschrittenen Weg; Mahler folgte,
ohne zu kopieren. Wo es dem von Mahler bewunderten Weimarer Meister darum ging,
Lenaus dramatis personae musikalisch so gerrau wie möglich zu charakterisieren, war
es Mahler eher um philosophisch-autobiographische Erlebnisse zu tun, die in nicht
geringem Maße tief in jugendlichen Erfahrungen verankert waren. Dabei spielte seine
jüdische Herkunft mit ihren unvermeidlichen Konsequenzen entscheidend mit. Der
Jude war stets, wie Arnold Zweig einmal folgerichtig bemerkte, von Haus aus Polemi-
ker und zwar einer, der, wo nötig, "mit Lachen seine Pfeile versendet wie Heine [... ]
gegen die Übel seiner Zeit, an deren Abstellbarkeiter inbrünstig glaubt" .5 Mit anderen
Worten, der Jude glaubt an eine bessere Zukunft, aber eine, die der im Ebenbild seines
Schöpfers geschaffene Mensch nur mittels seiner eigenen ethischen Kraft herbeiführen
kann. Und da die Gegenwart für ihn zugleich Zukunft der Vergangenheit und Vergan-
4 Vgl. Alexander L. Ringer, ",Ende gut, alles gut'. Bemerkungen zu zwei Finalsätzen vonJohannes Brahms
und Gustav Mahler", in: Neue Musik und Tradition. Festschrift RudolfStephan zum 65. Geburtstag, hg.
von JosefKuckertz u.a., Laaber 1990, S. 297-309, hier S. 302-304.
5 Arnold Zweig, Juden aufder deutschen Bühne, Berlin 1928, S. 25.
Vergangenheit und Zukunft 91
genheit der Zukunft ist, darf er nie still stehen. Der Jude wandert nicht im Raum,
sondern in der Zeit, was ihn wiederum dazu verdammt, die Feindschaft einer Mehr-
heit zu erleiden, die im "Hier und Jetzt" befangen bleibt und die Zukunft dem Him-
mel überläßt. "Es ist unvermeidlich", schrieb Zweig, "anzustoßen, wenn man lebendig
ist und im Gedränge geht."
Religion ist die passive, Religiosität die aktive Dimension der menschlichen Gottes-
erfahrung, erklärte Schönbergs Zeitgenosse Martin Buher mitten im Brudermord des
Ersten Weltkriegs. 6 Auf dem Boden der Religiosität verfallen konfessionelle Gegensät-
ze im Prinzip, wenn auch nicht in allen Besonderheiten. Da treffen sich aufgeklärte
Agnostiker und Revolutionäre des späten 18. Jahrhunderts mit fortschrittlich gesinn-
ten Christen und messianisch motivierten jüdischen Aktivisten in einer jüngeren Zeit.
Beethoven, der sich gegen die sterile Religion seiner Zeit auflehnte, fand "inneren und
äußeren Frieden" in einer Religiosität, die, gerrau wie die Mahlers und Schönbergs ein
Jahrhundert später, weniger auf persönliches Heil als auf eine bessere Zukunft für die
gesamte Menschheit ausgerichtet war. Darum hatte er auch stets "etwas zu sagen", wie
Mahler Joseph Bohuslav Foerster gegenüber erklärte: "Ja, Mozart, der schrieb noch
Durchführungen; er griff die Themen auf und verwendete sie meisterhaft, aber Beet-
hoven tat das niemals! Der hatte immer etwas zu sagen. "7 Und Beethoven machte
selbst wiederholt deutlich, daß sein Werk eher der Wahrheit als der Schönheit im her-
kömmlichen Sinne galt.
Nun findet die musikalische Rede ihre natürliche Sprache vor allem im Bereich der
Melodie und des Rhythmus. Arnold Schönberg betonte daher auch immer wieder, daß
Gustav Mahler vornehmlich als Melodiker zu verstehen sei:
"Es ist unglaublich, wie lange diese Melodien werden können, obwohl sich dabei ja gewisse Ak-
korde wiederholen müssen. Und trotzdem entsteht keine Monotonie. Im Gegenteil, je länger das
Thema dauert, desto größeren Schwung hat es am Ende; die Kraft, die seine Entwicklung treibt,
nimmt mit gleichmäßiger Beschleunigung zu. So heiß das Thema in statu nascendi schon war,
schon nach einiger Zeit hat es sich nicht müde, sondern noch heißer gelaufen, und wo es bei
einem Anderen längst versiegt und versunken wäre, erhebt es sich erst in höchster Glut. "8
Gerrau diese Art der leidenschaftlich in die Zukunft weisenden Rede spricht aus Schön-
bergs großen Instrumentalwerken zu uns. So erinnert das Largo des Vierten Streich-
quartetts op. 37 in seiner rednerischen Überzeugungskraft an die chassidische Legende
von jenem frommen Gelehrten, der auf einsamer Flur seine Faust gegen Gott erhebt,
ihn anklagt, daß Er sich nicht um seine ihm ergebenen Kinder kümmere, und Ihm
schließlich verzweifelt zuruft: "ach, wäre ich nur imstande, unwiderstehlich zu singen;
ich würde so lange singen, bis es Dich zwänge, herunterzusteigen von Deinem heiligen
Thron und endlich selbst zu sehen, wie es um uns steht. Dann, oh barmherziger Gott,
würdest Du uns bestimmt Erlösung bringen." Seltsam, daß die Ton-Reihe, auf der das
Quartett basiert, motivisch gerade jener frommen Kol Nidre-Melodie nahesteht, mit
der aschkenasische Vorbeter am Vorabend des Großen Versöhnungstages im Namen
ihrer Gemeinden ganz ähnliche Gefühle zum Ausdruck bringen. Zwei Jahre nach der
Vollendung des Quartetts komponierte Schönberg ein wirkliches, für den jüdischen
Reformgottesdienst bestimmtes und dementsprechend tonales Kol Nidre für Sprecher
(Rabbiner), Chor und kleines Orchester op. 39. Dort aber erfahrt diese wohl bekann-
teste jüdische Melodie spanischer Abkunft bezeichnenderweise eine eher harmonische
als deklamatorisch-rhythmische Behandlung. Für Deklamation sorgt vielmehr der Spre-
cher. Worte aber, selbst die frömmsten, verbleichen vor der ursprünglichen Kraft jenes
leidenschaftlich plädierenden Unisonos, dem das Streichquartettop. 37 seine unvergeß-
lichsten Momente verdankt.
Selbstverständlich findet sich die deklamierende Melodik bei Schönberg bereits
viel früher, wenn auch nicht immer so demonstrativ wie in der Sprechstimme der drei-
mal sieben Melodramen des Pierrot Iunaire op. 21. Das erste Klavierstück aus Opus 11
beginnt sogar noch "sprechender" als der "sprechendste" der fast gleichzeitig kompo-
nierten FünfZehn Gesänge aus "Das Buch der hängenden Gärten" von Ste.fon George op. 15.
Mit anderen Worten, sowohl Mahler als auch Schönberg distanzierten sich in ihrem
Drang nach unverblümtem Wahrheitsausdruck verhältnismäßig schnell von der noch
stets tonangebenden romantischen Schönheits-Ästhetik ihrer Zeitgenossen zugunsren
einer dramatisch formulierten Prosa jenseits aller poetisch-lyrischen Beschränkungen,
die ein wortgetreuer Verlaß auf Gedicht-Vorlagen unvermeidlich mit sich gebracht
hätte. Letzten Endes war es insbesondere dieser charakteristische Zug, der Schönberg
grundsätzlich von seinem Lieblingsschüler, dem geborenen Lyriker Webern, unterschied.
Anders als Religiosität, meinte Buher, begnügt sich Religion mit dem ,,Aufnehmen
des überlieferten Gesetzes; Religiosität hat nur ihr Ziel, Religion hat Zwecke. "9 We-
bern verschrieb sich dem Zwölfton-Gesetz bis in den Tod und zwar als Zweck, in dem
er ihm immer wieder Neues abzuringen imstande war. Dagegen wies das Gesetz sei-
nem Urheber Schönberg nur einen verläßlichen Weg zum ersehnten Ziel. Webern lieb-
te Schubert über alles, weil ihm Musik nach wie vor eine Sprache der Empfindung war;
der Beethovenianer Schönberg strebte eine Sprache der keineswegs immer schönen
Wahrheit an. Gustav Mahlerstand zwar zunächst noch im Bann Brucknerscher Religion,
entsagte ihr jedoch spätestens mit seiner Sechsten Symphonie im Sinn einer Religiosität,
der Schönberg dann vorbehaltlos eigene Denkmäler in Wort und Ton setzte.
Bereits vor der Jahrhundertwende hatte er bei der Vertonung eines Textes von Hugo
von Hofmannsthai vermerkt: "weniger gesungen, als declamierend, beschreibend vor-
zutragen; wie von einem alten Bild herablesend." 10 Dabei vermochte er sich nicht nur
auf ein Werk wie Humperdincks Königskinder zu stützen, sondern weitaus entschei-
dender auch auf die "gehobene Sprache" der Schauspieler jener Zeit. Davon abgese-
hen, müssen jedoch bei Schönberg, nicht anders als bei Mahler, sehr frühe Eindrücke
vom öffentlichen Vortrag der hebräischen Bibel und Liturgie mitgewirkt haben.
j J. ~=I (J '"
Kol Nidrt (nach Ahron Beer, Bn-ni'Rfillnh, r. 130 I), T. 1- 9 in chönbergs Tonart
1n419 ffdJ
3
Ir * J
as vierte Gebor (nach hemjo Winaver, Amhology ofj~wisb Music)
3 3
"Ich erläutere kurz die Skala und singe dann. Singe mir die Seele aus dem Leibe. Lege allen
jüdischen Weltschmerz, aber auch allen Gehair der Worte hinein. - Der Meister lauscht. Und
als ich ende, das alre Versöhnungsrags-Gebet ,Verlaß uns nicht, wenn unsre Kräfte schwinden',
flüstert er mir trockener Stimme: ,Ja, das ist religiös. So hab ich's als Kind gehört. Von dem alten
Vorbeter in dem kleinen Dorftempel.' Kein Wort sonst. Er sitzt sinnend da. Ich wage nicht zu
sprechen. Plötzlich sitzt er am Flügel. Spielt. Improvisiert. Ich höre fast Intervall für Intervall
die eben gegebene Melodie, die ich nicht wiederholen könnte, weil ich sie ja improvisierte. Es
ist ganz etwas anderes. Er kleidet die Mollweise in andere, wundervoll blühende Harmonien
11 Neudruck als Anhang zu Bernd Sponheuer, "Musik auf einer ,kulturellen und physischen Insel'", in:
Musik in der Emigration 1933-1945, hg. von Horsr Weber, Stungart und Weimar 1994, S. 134-135.
94 Vergangenheit und Zukunft
Mahlers künstlerisches Vermächtnis beweist auf unvergleichliche Weise, daß er ihn nie
vergaß. Was in dieser kurzen Stunde geschah, ging offensichdich weit über eine reine
Gefühlsangelegenheit hinaus. Vielmehr scheint es, daß Mahler sich plötzlich der ver-
borgenen Wurzeln seiner vornehmlich melodisch-rhythmischen Denkweise bewußt
wurde, deren letztendliche Bestimmung eine völlig neuartige "absolute" Polyphonie
war, zumal andere verhältnismäßig frühe musikalische oder quasi-musikalische Erfah-
rungen ihn mehr oder weniger in dieselbe Richtung gewiesen hatten. Davon zeugt
u. a. Natalie Bauer-Lechners Erinnerung an einen gemeinsamen Sonntagsspaziergang
im August 1900. Seine Vierte Symphonie hatte er gerade zum Abschluß gebracht, und
die Fünfte gährte wohl bereits im Unterbewußtsein, als sie einem Volksfest begegneten,
bei dem Militärmusik und ein Männergesangverein nicht nur miteinander wetteifer-
ten, sondern auch mit
"[ ] unzähligen Werken von Ringelspielen und Schaukeln, Schießbuden und Kasperltheatern
[... ] alle auf der selben Waldwiese ohne Rücksicht aufeinander ein unglaubliches Musizieren
vollführten, da rief Mahler: ,Hört ihr's? Das ist Polyphonie und da hab' ich sie her! - Schon in
der ersten Kindheit im Iglauer Wald hat mich das so eigen bewegt und sich mir eingeprägt. [... ]
Gerade so, von ganz verschiedenen Seiten her, müssen die Themen kommen und so völlig
unterschieden sein in Rhythmik und Melodik (alles andere ist bloß Vielstimmigkeit und ver-
kappte Homophonie): nur daß sie der Künstler zu einem zusammenstimmenden und -klingen-
den Ganzen ordnet und vereint. "'~ 2
Es sind Worte, die eher von Charles Ives zu erwarten gewesen wären, dem amerikani-
schen Komponisten, dessen Dritte Symphonie Mahler noch kurz vor seinem Tod stu-
dierte und aufZuführen hoffte. Doch war es Mahlers eigene Fünfte Symphonie, in der
seine Kindheitserlebnisse in der Synagoge wie auch "im Iglauer Wald" erstmalig ein
derartig "unglaubliches Musizieren" befruchteten. Nach der ersten Probe zur Kölner
Uraufführung bezweifelte er denn auch die Möglichkeit eines Publikumserfolgs allein
angesichtsdes völlig neuartigen Scherzos. "Was soll es zu diesem Chaos", fragte er sich
in einem Schreiben an seine Frau, "das ewig auf's Neue eine Welt gebärt, die im näch-
sten Moment wieder zu Grunde geht ... ?" 13 Arnold Rose, der ausgezeichnete Geiger,
Primarius des seinen Namen tragenden Streichquartetts und Mahlers zukünftiger Schwa-
ger, hatte bei dem von Bauer-Lechner beschriebenen Spaziergang gestanden, er verste-
he ganz offen nicht, wie ein so feinfühliger Musiker eine derartige "Katzenmusik" mit
Vergnügen in sich aufnehmen konnte. Die kurze Antwort war: "Wenn dir meine Sym-
phonien gefallen, muß dir das auch gefallen." 14
Arnold Schönberg, der einem ähnlichen jüdischen Milieu entstammte und in sei-
nen reifen Werken eine von harmonischen Hemmungen völlig befreite Polyphonie
anstrebte, nicht etwa weil er für harmonische Gesetzmäßigkeit nichts übrig hatte, son-
dern weil er darin nur ein mögliches Strukturprinzip von vielen erkannte, blieb in
konservativen Kreisen zeitlebens als "Katzenmusiker" verschrien. Allerdings betrachte-
te er sich nicht zufällig als einen berufenen Verwalter des Mahlersehen Erbes, insbeson-
dere dessen "Kunst reinen Melodiebaues. Es ist unglaublich", erklärte er ein Jahr nach
Mahlers Tod, "wie lange diese Melodien werden können, obwohl sich dabei ja gewisse
Akkorde wiederholen müssen. " 15 Der erste, wiederholt auf Es-Dur zurückgreifende
Satz der Achten Symphonie veranlaßte andererseits die typische Bemerkung: "Jedem
Schüler würde ich das wegstreichen und ihm empfehlen, eine andere Tonart aufzusu-
chen. Und unglaublich: hier ist es richtig! Hier stimmt es! Hier dürfte es gar nicht
anders sein. Was sagen die Gesetze dazu? Man muß eben die Gesetze ändern!" 16 Das
zehntaktige Andante-Thema der Sechsten Symphonie mit seinen charakteristischen
Dehnungen einer normalerweise achttaktigen Periode zitierte er wiederum als Beispiel
dafür, "wie sich diese Abweichungen vom Konventionellen gegenseitig das Gleichge-
wicht halten, ja einander bedingen" . 17 Und gerade dieses Thema hinterließ unverkenn-
bare Spuren im Zwölfton-Thema von Schönbergs Variationen for Orchester op. 31, die
u. a. darauf zurückzuführen sind, daß Mahler sich in diesem erschütternden Werk
bereits jeglicher harmonischer Zwangsjacke entledigt hatte. Mit der Neunten Sympho-
nie, deren "objektive, fast leidenschaftslose Konstatierungen, von einer Schönheit, die
nur dem bemerkbar wird, der auf animalische Wärme verzichten kann und sich in
geistiger Kühle wohlfühlt", erreichte Mahler schließlich "eine Grenze. Wer darüber
hinaus will, muß fort", erklärte Schönberg. 18 Und er, den es darüber hinaus drängte,
beschritt fortan seinen eigenen einsamen Weg. Denn "wir müssen doch weiter kämp-
fen, da uns die Zehnte noch nicht gesagt wurde". 19
Anders als der Wunderhorn-Komponist Mahlerbeschränkte sich sein vorbehaltlo-
ser Bewunderer jedoch von Anfang an selbst in Liedern auf ein Minimum an Motiv-
material, das er schon in seinem 1899 entstandenen Dehmel-Lied Erwartung zahlrei-
chen Verwandlungen und Neuverbindungen unterwarf.
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l~rL i ) } l I"r J ·~J J! ~
Wl - tel' der IO IOD Ei - ehe
In harmonischer Hinsicht erwies sich das Zweite Streichquartett op. 10 dann insofern
als ein Schlüsselwerk, als es die Tonalität des ersten Satzes gezielt unangetastet ließ, um
sich im weiteren Verlauflangsam davon zu lösen. Der vierte und letzte, auf ein Gedicht
von Stefan George komponierte Satz trägt seinen Titel "Entrückung" nicht umsonst.
Denn mit den Worten "ich fühle Luft von anderem Planeten" schwingt sich die Melo-
die jeglicher tonalen Schwerkraft "entrückt" vogelfrei in höhere Sphären.
Im Juni 1926, knapp drei Monate nach der Leipziger Uraufführung seiner ersten
großen Oper Der Protagonist, kommentierte Kurt Weill, der damalige Chefredakteur
der Wochenschrift Der deutsche Rundfonk, eine besonders aufsehenerregende Sendung
von Gustav Mahlers Neunter Symphonie mit der Feststellung, der Komponist hätte in
diesem Werk längst das meiste vorausgenommen von dem,
"was die musikalische Entwicklung in den letzten Jahren erreicht hat. Die wundersame
Durchflechtung ausdrucksvollster melodischer Linien, die bisweilen bis zur letzten Konsequenz
durchgeführte Entfesselung der Harmonien, die solistische, fast kammermusikalische Behand-
lung des Orchesters, die jenseitigen Klänge von nie geahnter Schönheit hervorzaubert, dazu die
vollkommen neue, aus eindeutiger Gestaltung tiefster Inhalte erwachsende Formgebung - das
alles sind die Grundlagen für die heutige Musik geworden. "20
Im Februar hatte er bereits darauf hingewiesen, daß Schönbergs Musik ihrerseits "ganz
organisch aus der Musik des 19. Jahrhunderts" hervorging: "Er zieht nur die letzte Kon-
sequenz aus dem Stil der Wagnersehen Chromatik. "21 Ende Juni beschäftigte er sich dann
ausführlicher mit Pierrot Iunaire op. 21, "den man wohl als das Meisterwerk der gesam-
ten nachstraussischen Musik bezeichnen kann". 22 Vor allem aber sei Schönberg
"der erste, der die Loslösung vom Dreiklang, die lineare Führung eines weitgeschwungenen
Melos und die Befreiung von den Fesseln der klassischen Form bis zur letzten Konsequenz
durchführte, und heute noch, wo die jungen Musiker den Expressionismus der letzten Jahre zu
einer gewissen Abklärung gebracht haben, ist Schönberg der einzige, der unbeirrbar an seinen
Zielen festhält und dessen volle Bedeutung von der musikalischen Öffentlichkeit wahrschein-
lich erst nach mehreren Jahrzehnten erkannt werden wird. "23
"Konsequenz" war in der Tat ein charakteristischer Zug, der selbst jüngere Zeitgenos-
sen anzog, die nicht unbedingt ähnlich kompromißlos zu handeln vermochten wie der
berüchtigte "jüdische Fanatiker" und Hauptvertreter musikalischer "Impotenz", den
ein Hans Pfitzner, jener in Moskau geborene, von der "Schmach" des Versailler Friedens-
vertrags tiefbleibend getroffene "echte deutsche Meister", im Namen "deutscher Kunst"
kaum weniger "konsequent" zu bekämpfen beschwor.
Der auf seine Art "konsequente" Denker Theodor W Adorno hatte für WeiHs Mu-
sik zwar wenig übrig, stimmte ihm aber insofern zu, als er seinerseits Jahrzehnte später
erklärte, Gustav Mahler habe
20 Kurt Weill, Ausgewählte Schriften, hg. von David Drew, Frankfurt a.M. 1975, S. 121.
21 Ebenda, S. 119.
22 Ebenda, S. 219.
23 Ebenda.
Vergangenheit und Zukunft 97
"die Folgerung aus etwas gewgen, was heute erst ganz offenbar wird: daß die abendländische Idee
einheitlicher, in sich geschlossener, gewissermaßen systematischer Musik, deren Zusammenschluß
zur Einheit identisch sein sollte mit dem Sinn, nicht mehr trägt. Sie ist unvereinbar geworden mit
einem Zustand der Menschen, die keiner verpflichtenden Erfahrung solchen positiven Sinnes
ihrer Existenz mehr mächtig sind; unvereinbar mit einer Welt, die ihnen keine Kategorien glück-
licher Einheit mehr beisteHt, sondern bloß noch die standardisierten Zwanges. "24
"Ein wirkliches System sollte vor allem Grundsätze haben, die alle Ereignisse einschließen",
betonte Arnold Schönberg später. "Am besten: genau so viele Ereignisse, als es wirklich gibt;
nicht mehr, nicht weniger. Solche Grundsätze sind die Naturgesetze. Und nur solche Grundsät-
ze, die nicht auf Ausnahmen angewiesen sind, hätten darauf Anspruch, für allgemein gültig
angesehen zu werden, die mit den Naturgesetzen diese Eigenschaft unbedingter Geltung ge-
mein hätten. Aber die Kunstgesetze haben vor allem Ausnahmen!" 2
Der belgisehe Theoretiker Fran~ois-Joseph Fetis wandte sich schon 1844 gegen die
seinerzeit geläufigen akustischen und rein mathematischen Erklärungen harmonischer
Phänomene. Seine hartnäckigen Abrechnungen mit Vorgängern wie Jean-Philippe
Rameau, dessen Grundbegriff "hasse fondamentale" er strengstens verurteilte, erregte
die Gemüter selbst noch nach seinem 1871 erfolgten Tod. Dennoch war er der erste,
der im Verband mit der vermeintlich universellen Bedeutung funktionaler Tonalität
auf Volks- und außereuropäische Musik, die der Chinesen ebenso wie die schottischer
Hochlandbewohner, hinwies. Kaum zufällig erschien sein umstrittener Traitl complet
de la thlorie et de la pratique de l'harmonie zur selben Zeit wie Felicien Davids Sympho-
nische Ode Le Desert, das befruchtende Hauptwerk des musikalischen Exotismus im
19. Jahrhundert mit seinen zahlreichen Zitaten und Paraphrasen melodischer Frag-
mente aus Guillaume Andre Viiloteaus im Schatten von Bonapartes nordafrikanischem
Feldzug entstandener Abhandlung De letat actuel de l'art musical en Egypte. Berlioz,
dessen eigentümlicher Sinn für Melodie harmonische Konventionen oft genug verletz-
Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage for die Theorie
der Musik, Braunschweig 6 1913, Nachdruck Hildesheim 1968, S. 386.
2 Arnold Schönberg, Harmonielehre, Wien 3 1922, S. 5f.
100 Klang und Farbe, Melodie und Linie
te, war derart fasziniert von diesem sensationellen Stück, daß er es gern in eigene Pro-
gramme aufnahm, gelegentlich zusammen mit Werken von Michail Glinka, dessen
erster Pariser Besuch ebenfalls 1844 stattfand. Drei Jahre später traf sich Berlioz mit
Glinka, den er schon in Italien kennengelernt hatte, bei ihm zuhause in Rußland. Und
damit war auch die Grundlage für jene französisch-russische musikalische Symbiose
geschaffen, die im Lauf der unmittelbar folgenden Jahrzehnte eine so entscheidende
Revision harmonischer Werte mit sich brachte.
Alexander Borodios bereits kurz nach Glinkas Verscheiden komponierte Romanze
Die schlafende Prinzessin liefert ein eindrucksvolles Beispiel nicht nur auf Grund ihrer
die Tonalität drastisch beschränkenden absteigenden Ganzton-Skala; im entscheiden-
den Moment wird die verhältnismäßig unscheinbare ostinate Baß-Quarte es-as sogar
von einer auf- und absteigenden Quartenfolge d-g-c-f-c-g abgelöst. Zweifellos war es
Rußlands quartenreiche Volksmusik, die Borodin Mittel zur Aufhebung einer tonalen
Schwerkraft lieferte, die der Traumwelt seiner Märchenprinzessin ebenso wenig ge-
recht werden konnte wie eine Generation später der nebelhaften musikalisch-poeti-
schen Atmosphäre von Claude Debussys Pelleas et Milisande.
Für Fetis, dessen Abhandlung es zwischen 1844 und 1875 auf nicht weniger als elf
Ausgaben brachte, war die Tonalität einfach das Endresultat der melodischen und har-
monischen Ordnung von auf Dur- und Mollskalen basierenden Klängen. Etwaige
Änderungen in der gewählten Reihenfolge würden der Harmonie und damit der Tona-
lität einen neuen Charakter verleihen. 3 Berlioz allein schien diese Auffassung wieder-
holt zu bestätigen. Darüber hinaus aber entsprach sie offensichtlich den Erwartungen
einer Epoche, deren unablässig ansteigende Ausdrucksbedürfnisse traditionelle harmo-
nische Denkweisen hart auf die Probe stellten. Die Zeit war in der Tat reif für eine
Neubewertung melodischer Kräfte, zumal eine Reihe französischer musikwissenschaft-
licher Veröffentlichungen in dieselbe Richtung wies. 1875 erschien der erste Band von
Fran<;:ois Auguste Gevaerts Histoire de Ia musique de l'antiquite, und zwei Jahre später
trat Louis Albert Bourgault-Ducoudray mit den Resultaten seiner Feldarbeit in Grie-
chenland und im Orient unter dem Titel Etudes sur Ia musique ecclesiastique gricque an
die Öffentlichkeit. 1880 legte Dom Pothiers Pionierarbeit Les melodies gregoriennes
dann die Grundlagen für das monumentale Unternehmen Paleagraphie musicale, des-
sen erste Bände 1889 herauskamen. Unter diesen Umständen verwundert es kaum,
daß der einflußreiche Cesar Franck-Jünger Vincent d'Indy Harmonie um die Jahrhun-
dertwende fast ausschließlich im Sinn von melodischen Gleichzeitigkeiten lehrte. Ak-
korde betrachtete er als vorübergehende Erscheinungen in der Bewegung melodischer
Stimmen. Und damit fand er willige Ohren unter Schülern, die der von französischen
Wagnerianern betretenen harmonischen Sackgasse zu entgehen hofften:
"Vom musikalischen Standpunkt bestehen Akkorde überhaupt nicht [... ]. Das Studium der
Akkorde beruht auf einem grundsätzlichen ästhetischen Fehler, denn Harmonie ist stets ein
melodisches Produkt und darf nie davon isoliert behandelt werden. "4
3 Franc;:ois-Joseph Fetis, Traite complet de Ia theorie et de Ia pratique de l'harmonie, Paris 1844, S. 249.
4 Vincent d'lndy, Cours de composition musicale, Premier Livre, redige avec Ia collaboration de Auguste
Serieux, Paris 1912, S. 91.
Klang und Farbe, Melodie und Linie 101
Rene Lenormands wenig bekannte, aber keineswegs uninteressante Etude sur l'harmonie
moderne, das erste Werk, das sich ausschließlich mit harmonischen Entwicklungen in
der französischen Musik des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts befaßte, erschien
1913, als französischen Komponisten bereits eine erhebliche Anzahl vielversprechen-
der Skalen zur Verfügung stand. Dennoch klagte Lenormand: "Wir vernachlässigen
sowohl die antike griechische Musik als auch die mittelalterliche und beschäftigen uns
nur mit der großen Entwicklung, die im 17. Jahrhundert stattfand." 5 Obwohl
Lenormand keine besondere "exotische" Skala bevorzugte, ließ er kaum Zweifel an
seiner Überzeugung, daß dort, wo die unmittelbare Vergangenheit die Gegenwart nicht
mehr zu erklären vermag und noch weniger imstande ist, die Zukunft zu inspirieren,
entferntere Epochen und Gebiete Hilfe bringen könnten. Das okzidentale diatonische
System war ihm alles andere als heilig. Er stellte sich vielmehr auf die Seite von Albert
Lavignac, der in der herkömmlichen Harmonie allenfalls ein typisches "fabriziertes
Produkt" sah, dessen Erscheinungsformen stets vom herrschenden Geschmack und
den jeweiligen Fähigkeiten abhingen. 6 Wie Fetis vor ihm betonte Lenormand die Skala
als das entscheidende Element, das er allerdings in Schönbergs Klavierstück op. 11,3
vermißte. Und so entschloß er sich, zwei charakteristische Takte zur Erläuterung seines
Eingeständnisses abzudrucken, daß ihm derartige Werke unverständlich blieben. Wo
aber Verständlichkeit in erster Linie von der Skala abhängig gemacht wird, da sollten
logischerweise alle möglichen Akkorde und Verbindungen von Akkorden gleichbe-
rechtigt sein, solange sie rein klangliche oder koloristische Erwartungen befriedigen.
Lenormand kennt zwar "keine verbotenen lntervalle" 7, schenkt jedoch individuellen
Akkordstrukturen weitaus größere Andacht als der harmonischen Gesamtfaktur. Louis
Laloy beschrieb Debussys erstes Nocturne einmal seinerseits als "ein harmonisches Netz,
in dem naive und raffinierte Quinten sich in alle Richtungen bewegen", mit anderen
Worten, eine Art harmonischer Schnitte, die aus wandernden Quinten verschiedenster
Art besteht. 8 Und Lenormand ging nur einen Schritt weiter, indem er prinzipiellen
Strukturfragen mit der Bemerkung aus dem Weg ging, daß solche "modernen Werke
eher Eindrücke von Spitzfindigkeit und Charme vermitteln als von Macht und Größe". 9
Im Gegensatz zu ihren französischen Zeitgenossen wirkten deutsche Musiker und
Theoretiker spätestens nach dem preußischen Blitzkrieg-Sieg von 1870 in einer von
"Macht und Größe" trunkenen kulturellen Atmosphäre. Ein gewiegter Meister wie
Richard Strauss reagierte darauf zunächst mit grandiosen, raffiniert orchestrierten, durch-
aus neu erscheinenden Werken, die sich in der Regel jedoch nur wenig von längst
erprobten großformatigen Strukturmustern entfernten. Im Bewußtsein der einer ex-
zessiven Chromatik innewohnenden strukturellen Gefahren suchte er sein harmoni-
sches Heil sehr bald in nur scheinbar gewagten Quartenbildungen, nicht zuletzt zur
Vermeidung jener oft schablonenhaften chromatischen Sequenzen, die sogar noch in
Schönbergs im unmittelbaren Umkreis von Richard Strauss entstandenem, durchaus
10 Zu Max Regers theoretischen Ansichten vgl. Hermann Grabner, &gers Harmonik, Wiesbaden 2 1961.
11 Ernst Kurth, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wlzgners "Tristan", Berlin 2 1923, S. 11.
12 Ernst Kurth, Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssysteme, Mün-
chen 2 1973, S. 125.
13 Kurth, Romantische Harmonik, S. 4.
14 Ebenda.
Klang und Farbe, Melodie und Linie 103
20 Ebenda, S. XV.
21 Schönberg, Harmonielehre, S. 466.
Klang und Farbe, Melodie und Linie 105
schön dem Tageslichte sich wiederzugeben". 22 In Melodie und Rhythmus sah er allen-
falls die harmonischen "Meeresufer". Anton Bruckner lädt den Hörer ein, sich im Meer
der Harmonie gründlich zu reinigen, um "erfrischt und schön" seinem Gott "sich wie-
derzugeben". Das angewiesene Mittel war eine vornehmlich statische, gemächlich von
einem Klangereignis zum nächsten fortschreitende Sinfonik, deren "Größe und Macht"
Gustav Mahlereinmal einer gewissen strukturellen "Zerstücktheit" gegenüberstellte. 23
Erhabenheit erfordert sozusagen per definitionem eine verhältnismäßig statische, lang-
same harmonische Funktionswechsel und ausgedehnte Orgelpunkte begünstigende
Ausdrucksweise. Und unter dergleichen ästhetischen Umständen kann der vermeintli-
che Drang bestimmter Klänge nach Befriedigung durch gewisse andere Klänge tat-
sächlich Spannungsdimensionen annehmen, die dem weiteren harmonischen Verlauf
neue strukturelle Möglichkeiten eröffnen. Bruckner, so scheint es oft genug, konnte
sich von einem derartigen Klang kaum trennen; seine Musik liefert jedenfalls zahlrei-
che Beispiele von melodisch auskomponierten Klängen, deren besondere Eigenschaf-
ten die Thematik eines Satzes, gelegentlich sogar eines ganzen vielsätzigen Werkes, zu
bestimmen vermögen. Man denke nur an das auf dem E-Dur-Dreiklang basierende,
über zwei Oktaven aufsteigende Eingangsthema der Siebenten Symphonie, mit dem
eine ästhetische Grundlage geschaffen ist, die selbst einem Allegro eher einem Adagio
angemessene Qualitäten zu verleihen vermag. Als klangästhetischer Prototyp bot sich
zwar Richard Wagners Rheingold-Vorspiel an, doch verlangte Wagners sinnlich-musi-
kalische Dramatik weitaus mehr vom Einzelklang als Bruckners erhabene Sinfonik.
lsolde ertrinkt schließlich rein akustisch im farbenprächtigen Klangmeer des Tristan-
Finales, womit auch ein Punkt erreicht war, über den hinaus die Harmonie jegliche
Schwerkraft verlor, ein Stadium, in dem die Chromatik sich selbst zum Feind wurde.
Gustav Mahler erkannte diese Gefahr und verschrieb sich zunächst dem volkstümli-
chen Liedgut der Frühromantik. Es dauerte jedoch nicht lange, bis er sich der Polypho-
nie zuwandte, eben weil sie im Gegensatz zur Homophonie ihrem ganzen Wesen nach
dynamisch wirkt. Ihr restloser Vorwärtsdrang läßt dem Klang-Drang einfach nicht
genügend Zeit zur Entfaltung eines längeren Klang-Erlebnisses.
Richard Wagners Metapher vom "Meer der Harmonie" gewann in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts fast Allgemeingültigkeit. Denn sie entsprach einer bürger-
lichen Mentalität, die in der Sinnlichkeit des Klanges ein ideales, leicht zugängliches
Mittel zur Linderung der schmerzlichen Realität des täglichen Lebens begrüßte. Na-
türlich handelte es sich um eine noch grundsätzlich konsonante Harmonik, in die
harte Dissonanzen allenfalls zu Kontrastzwecken Eingang fanden. Denn wer in der
Musik vornehmlich eine Quelle zur Befriedigung persönlicher oder sozialer Illusionen
sieht, sehnt sich unversehens nach der die tieferen Bereiche der Obertonreihe bevorzu-
genden Euphonie, die den Klang im wahrsten Sinn des Wortes zum Erklingen bringt.
Auf Sekunden und sonstigen Intervallen der höheren Obertonregionen beruhende
Akkorde hinterlassen in ihrer relativen Härte eher geräuschartige Eindrücke. Franz
22 Vgl. Richard Wagner, "Das Kunstwerk der Zukunft", in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 3,
Leipzig 3 1897, S. 83.
23 Vgl. Natalie Bauer-Lechner, Erinnerungen an Gustav Mahler, Leipzig usw. 1923, S. 16.
106 Klang und Farbe, Melodie und Linie
"Unser ,Klangbedürfnis' zielt nicht auf ,geschmackige' Farbigkeit ab", betonte er dem Dirigen-
ten Fritz Stiedry gegenüber, "sondern die Farben bezwecken die Verdeutlichung des Verlaufs
der Stimmen und das ist im kontrapunktischen Gewebe sehr wichtig! Ob die Bach-Orgel das
leisten konnte, wissen wir nicht. Die heutigen Organisten können es n ich t : das weiß ich
(und das ist einer meiner Ausgangspunkte!)." 26
24 Vgl. Rudolf Stephan, "Franz Schreker", in: Art Nouveau. Jugendstil und Musik, hg. von Jürg Stenz!,
Zürich 1980, S. 183: "Der Begriff des Klanges, wie Schreker ihn, seinen eigenen Worten zufolge,
selbst versteht, muß als Gegenbegriff zu dem gelten, was Arnold Schönberg den musikalischen Gedan-
ken nennt."
25 Bauer-Lechner, Erinnerungen, S. 60.
26 Josef Rufer, Das Werk Arnold Schönbergs, Kassel usw. 1959, S. 79.
Klang und Farbe, Melodie und Linie 107
Das Ziel war und blieb die Verdeutlichung melodischer Linien, im vorliegenden Fall
mit Hilfe von Instrumenten, die er dazu besser geeignet erachtete als die moderne
Orgel in ihrem überwältigenden Klangreichtum. Denn "wir brauchen: Durchsichtig-
keit um durchschauen zu können"Y
Durchsichtigkeit ist aber eher eine kammermusikalische Eigenschaft. Es war daher
alles andere als Zufall, daß die 1923 erfolgte endgültige Formulierung von Schönbergs
neuer, durchaus polyphoner Weise, mit zwölf Tönen zu komponieren, unmittelbar
danach eine ganze Serie von Kammermusikwerken zur Folge hatte: von dem allerdings
noch sehr dicht gewebten Bläserquintett op. 26 über die oft sarkastischen Chöre op. 27
und 28 und die leichtherzig-beschwingte Suite (Septett) op. 29 bis zum Dritten Streich-
quartett op. 30. Und damit war der Bann gebrochen. Die Bahn lag frei für jene ~ria
tionen for Orchester op. 31, in denen Bach und Mahlerunter Arnold Schönbergs stren-
ger Aufsicht, aber auch unverkennbarem Segen einander über die Jahrhunderte glück-
lich vereint die Hände reichten.
27 Ebenda.
Harmonie und Kontrapunkt
Walcer Klein, "Die Harmonisation in Elektra von Richard Strauss - ein Beitrag zur modernen
Harmonisationslehre", in: Der Merker 2 (1911), S. 209.
2 Max Löwengard, "Arnold Schönbergs Harmonielehre", in: Der Merker 4 (1913), S. 656.
3 Ebenda, S. 653.
4 Ebenda, S. 657.
Harmonie und Kontrapunkt 109
agogen eine völlig andere Bedeutung hatte als im Denken "grauer" Theoretiker, die
Schönbergs ethischen Ausgangspunkt womöglich noch beunruhigender empfanden
als ihre Vorgänger den Grundsatz des damaligen "Neutöners" Robert Schumann: "Die
Gesetze der Moral sind auch die der Kunst. " 5 Schönberg ging schließlich nur einen
oder zwei Schritte weiter mit seiner 1910 gedruckten Erklärung: "Der Mensch ist das,
was er erlebt; der Künstler erlebt nur, was er ist. "6
Daß es ausgerechnet ein musikalischer Autodidakt war, der die Musikgelehrteu-
Zunft so selbstbewußt herauszufordern schien, erboste die "Merker" der unmittelba-
ren Vorkriegsjahre natürlich ganz besonders, Richard Wagners Beckmesser ähnlich,
dessen Nemesis ja nicht umsonst von Stolzing hieß. Arnold Schönberg machte seiner-
seits jedenfalls kein Hehl daraus, daß Armut ihn in jungen Jahren zwang, sich alles
mehr oder weniger selbst zurechtzulegen, es sei denn von Zeit zu Zeit mit Hilfe eines
wenig älteren Freundes, insbesondere Alexander von Zemlinskys, "dem ich fastallmein
Wissen um die Technik und die Probleme des Komponierens verdanke". 7 Als er mit
diesen Worten die Bedeutung des 1942 im Exil verschiedenen Jugendfreundes, Men-
tors, Schwagers und Kollegen für seine eigene Entwicklung rückblickend zum letzten
Mal hervorhub, wußte er längst, was er einem Schicksal schuldete, das ihn vor den
typischen Lehrmeistern seiner Zeit bewahrt hatte, deren trockene Regeln unabhängi-
ges Denken und Handeln so oft im Keim erstickten. Der auf seine Unabhängigkeit
eifersüchtig erpichte Komponist unterschied dementsprechend zeitlebens ausschließ-
lich zwischen "guter" und "schlechter" Musik. Stilistische Tendenzen berücksichtigte
er insbesondere bei der Beurteilung junger Talente wenn überhaupt nur in Ausnahme-
fällen. Was ihn am meisten interessierte, waren ästhetisch-ethische Eigenschaften: die
Aufrichtigkeit der musikalischen Aussage, die Qualität der ihr zugrundeliegenden Ge-
danken sowie deren logisch konsequente Entwicklung. Und in derartigen Fragen war
er unerbittlich, gleich ob es sich um einen noch unbekannten jungen Komponisten
handelte oder einen "arrivierten", berühmten Zeitgenossen. Richard Strauss gegen-
über fuhlte er sich fur manche Hilfe in schweren Zeiten zu ehrlichem Dank verpflich-
tet; dem eitlen, gefeierten Künstler stand er als Mensch später jedoch fern. Mit Gustav
Mahlers Dritter Symphonie offenbarte sich ihm dagegen eine gleichgesinnte Seele, der
er bis zu seinem letzten Atemzug in tiefer Ehrfurcht treu blieb. Und von einem gebil-
deten Publikum erwartete er zumindest das nötige Wissen und den Willen, sich neuer
Musik nicht von vornherein zu verschließen. Sein d-Moll-Streichquartett op. 7 harrte
noch der Vollendung, als er 1905 im Prospekt für eine erhoffte zweite Vortragsreihe an
der Wiener Schwarzwald-Schule erklärte:
5 Roben Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Leipzig 1974, S. 235.
6 Arnold Schönberg, ,,Aphorismen", in: Die Musik 9 (1909/10), S. 162.
7 Arnold Schönberg, Stil und Gedanke. Auflätze zur Musik (Gesammelte Schriften I), hg. von Ivan Vojtech,
Frankfurt a.M. 1976, S. 397.
110 Harmonie und Kontrapunkt
Gestaltung der gesamten Musiktheorie darzustellen, wird der Hauptgrundsatz der in diesen
Kursen Vortragenden sein. Dadurch soll dem Kunstfreund wie dem Künstler das Verständnis
nicht nur für die längst-gewertete klassische Kunstepoche, sondern auch für unsere heutige
Kunst eröffnet und der Weg zu selbständigem Schaffen gewiesen werden. "8
Jüngere Kollegen, die den nötigen Mut aufbrachten, sich seiner persönlichen Führung
anzuvertrauen, verpflichtete er darüber hinaus zu vorbehaltlosem Dienst in der ge-
meinsamen Sache. Wie ernst er es damit meinte, geht allein aus jenem die Gegenseitig-
keit des Verhältnisses hervorhebenden, oft zitierten Anfangssatz seiner Harmonielehre
hervor: "Dieses Buch habe ich von meinen Schülern gelernt."
"Probleme der Harmonie" war auch das Thema eines fünfzehn Jahre später verfaß-
ten Berliner Vorlesungstextes, der aber erst 1934 in der englischen Übersetzung von
Schönbergs ehemaligem amerikanischen Schüler Adolphe Weiss im Druck erschien.
In den dazwischenliegenden Zwölfton-Jahren beschäftigten ihn mit der funktionalen
Tonalität verbundene Probleme nicht nur in seiner Eigenschaft als Professor an der
Preußischen Akademie der Künste, sondern auch als Bearbeiter älterer Musik vom
einfachen Klaviersatz seiner Vier Volkslieder (1929) bis zur freien Bearbeitung von Hän-
dels Concerto grosso op. 6 Nr. 7 für Streichquartett und Orchester (1933). Rein theore-
tisch faszinierten sie ihn zeitlebens vor allem, weil sie ihn zwangen, sich auf verschie-
denste Weise mit Fragen des musikalischen Zusammenhangs auseinanderzusetzen, denen
kein Stil und keine Zeit zu entgehen vermag. Und dabei stieß er immer wieder aufMax
Reger, dessen extreme Chromatisierungen tonaler Bereiche nicht nur in konservativen
Kreisen zur Diskussion standen. Georg Gräner, ein durchaus fortschrittlich gesinnter
Wiener Komponist und Kritiker, kam andererseits bereits 1914 zu dem Schluß, daß
Reger unter dem bleibenden Einfluß der harmonischen Funktionslehre seines Lehrers
Hugo Riemann "wie ein musikalischer Harnlet sich hin- und herwindet, ohne zu sei-
ner Tat zu kommen. Der den schweren Kampf mit den modernen Seelenmächten (das
heißt ihre künstlerische Bändigung und Gestaltung) scheuherzig angeht, den schweren
herrlichen blitzenden Kampf, wie ihn Arnold Schönberg kämpft. In diesem Kampf
unterzugehen, ist immer noch ehrenvoller, als die Titel und Ehren der Welt zu gewin-
nen. "9 Mit anderen Worten, Regers an sich bewundernswerte Weiterentwicklungen
spätromantischer Modelle, fin de siecle-Früchte eines fast überreichen Schaffens-
vermögens, förderten die Sache der neuen Musik nur insofern, als sie die logische Not-
wendigkeit eines radikalen Umbruchs überzeugend unterstrichen. Der kompromißlo-
se, dem Prokrustesbett funktionaler Tonalität entwachsene Außenseiter Schönberg
unternahm seinen "schweren herrlichen" Kampf tatsächlich nur seiner "inneren Not-
wendigkeit" gehorchend mit "blitzenden" Waffen, die den Philistern in seiner Umge-
bung Angst und Schrecken einjagten. Unter diesen Umständen schätzte Schönberg
wohl ganz besonders Regers Bereitschaft, sich "den modernen Seelenmächten" jeder-
zeit auch mit einer bereits gebrauchten, aber doch gut erhaltenen Ausrüstung zu stel-
len. Schönberg hatte die strukturellen Gefahren einer extrem chromatischen Harmo-
8 Egon und Emmy Wellesz, Egon Wellesz. Leben und Werk, Wien/Harnburg 1961, S. 49.
9 Georg Gräner, "Max Reger", in: Der Merker 5 (1914), S. 203.
Harmonie und Kontrapunkt 111
nik schon kurz nach der Jahrhundertwende zur Kenntnis genommen und dement-
sprechend gehandelt. Die zahlreichen chromatischen Sequenzen seines eigenen, fast
eine Stunde in Anspruch nehmenden Symphonischen Gedichts Pelleas und Melisande
ließen kaum Zweifel darüber, daß weitere Schritte in derselben Richtung ihn nur in
eine Sackgasse führen würden, aus der es kein Entkommen mehr gab. Und seiner
Natur entsprechend konsequent wie immer befreite er sich von den letzten noch
wirksamen harmonischen Beschränkungen zugunsren nur ihm gehorchender, vor-
wiegend melodisch-rhythmischer Kräfte. Mit anderen Worten, in gewisser Hinsicht
stand das 1903 im nach-wagnerscheu Fahrwasser vollendete umfangreiche Frühwerk
Pate für jene knappe, scharf profilierte, für Schönbergs "atonale" Musik so charakte-
ristische Ausdrucksweise.
Der Theoretiker und Kompositionslehrer Schönberg plädierte jedoch weder für
noch gegen die Beibehaltung der Tonalität. Er wandte sich, in Löwengarcis Worten,
"nicht gegen ihr Vorhandensein, nicht dagegen, daß die Vergangenheit in ihr eine äs-
thetische Notwendigkeit erkannt hat, nicht dagegen, daß die Gegenwart sie als ästhe-
tische Notwendigkeit anerkennt - nur gegen die irrtümliche Folgerung, die man dar-
aus ziehen könnte, daß die Tonalität das Ende aller musikalischen Kultur wäre, wie sie
deren Anfang war." 10 Tradition als Zwang war in der Tat ein Gedanke, der Schönberg
zutiefst beunruhigte. So wehrte er sich auch gegen den gebräuchlichen Ausdruck "Do-
minante", weil "die Beherrschende" besagen würde, "daß die V. Stufe eine oder mehre-
re andere beherrscht", eine Idee, die ihm grundsätzlich zuwider war. Aber wenn schon,
dann sollte eigentlich "der Grundton den Beinamen Dominante führen". Er behielt
den Ausdruck "Dominante" dennoch bei, "um nicht durch eine neue Terminologie
Verwirrung anzustiften"Y Weitaus wichtiger war ihm, daß überlieferte Grundsätze
sich "nicht von der Ästhetik, sondern von der Zweckmäßigkeit herleiten" ließen. "Ist ja
in dem, was man Ästhetik nennt, viel von dem enthalten, was nur zweckmäßige Material-
bearbeitung ist." Und "die Bedingungen der Zweckmäßigkeit können sich ändern,
wenn das Material uns anders erscheint und wenn der Zweck ein anderer wird." Aber
die Ästhetik im üblichen Sinn "gibt vor, ewige Gesetze gefunden zu haben". 12
In materieller Hinsicht ging es Schönberg und seiner jungen Familie in den Jahren
1910 und 1911 besonders schlecht. Ohne eine feste Stelle war er zunächst fast aus-
schließlich auf Privatschüler angewiesen, die zum Teil kaum zahlungsfähiger waren als
er, ihr Herr und Meister. Nach ausgedehnten Verhandlungen durfte er an der K. K.
Akademie für Musik und darstellende Kunst ab Sommer 1910 zwar einige außerplan-
mäßige Kurse geben, aber die erhoffte Professur blieb aus. Der Hauptgrund war, wie er
meinte, die unleugbare Tatsache, daß in Wien auch ein längst evangelisch Getaufter
seine jüdische Abstammung stets mit sich trug. Unter diesen erniedrigenden Bedin-
gungen mag die Harmonielehre ihre erstaunlich schnelle Redaktion nicht zuletzt dem
dringenden Bedürfnis verdankt haben, breitere Kreise von seinen weit ausholenden
theoretischen Kenntnissen und pädagogischen Einsichten zu überzeugen. Auf jeden
Fall fehlte es dem berüchtigten "atonalen Futuristen" nicht an Beweggründen für eine
Arbeit, die es ihm erlaubte, seine prinzipiell positive Einstellung zur musikalischen
Tradition ein für allemal zu klären. Den persönlichen Bekenntnischarakter seines theo-
retischen magnum opus hob er später gelegentlich selbst hervor. So bemerkte er u. a.
rückblickend: "Wo ich Neues gesagt habe, ist es gewiß nur unabsichtlich geschehen-
es kam mir nicht darauf an." 13 Worauf es ihm ganz offensichtlich ankam, das waren
Themen, über die Harmonielehrer im allgemeinen selten ein Wort verloren: die ethi-
schen Grundlagen künstlerischen Schaffens, die moralische Integrität der zu diesem
heiligen Dienst Auserkorenen, ihre unbestechliche Verpflichtung gegenüber der "Sa-
che". Und Schönberg zögerte nicht, den akademischen Gepflogenheiten der Zeit zum
Trotz theoretische Probleme auch in der ersten Person zu erörtern und sich im gegebe-
nen Fall auf persönliche Einsichten und Erfahrungen, gelegentlich sogar eigene Werke
zu beziehen. Und um etwaigen Mißverständnissen vorzubeugen, erklärte er, zweifellos
mit einem charakteristischen Zwinkern seiner alles durchdringenden großen Augen:
"Ich rede also von der Sache, wenn ich von mir rede, wie Karl Kraus sagt." 14
Als die Harmonielehre 1911 erschien, unterhielt Schönberg bereits regelmäßige
Kontakte mit Wassily Kandinsky, der zusammen mit dem Münchner Maler Franz Mare
den sogenannten Blauen Reiter-Almanach vorbereitete und den Komponisten einlud,
auch einige seiner Gemälde in der damit verbundenen Ausstellung sehen zu lassen. Für
diese am 18. Dezember 1911 eröffnete Ausstellung wählte er dann vier Schönberg-
Gemälde, und im 1912 veröffentlichten Almanach erschienen zusätzlich die photo-
graphische Reproduktion eines Selbstportraits (Rückansicht beim Spaziergang) sowie
der grundlegende Artikel "Das Verhältnis zum Text" und als Musikbeilage Herzgewächse
für hohen Sopran, Harfe, Celesta und Harmonium op. 20. Dieses wenige Wochen
zuvor komponierte, hier als Autograph-Faksimile erstmalig veröffentlichte Lied gehört
mit seiner neuartigen originellen Instrumentation im Dienst einer keine Gefühlsnuance
des Maeterlinckschen Textes vernachlässigenden musikalischen Wiedergabe zum Aller-
schönsten, angesichtsseiner praktischen Aufführungsprobleme aber Unbekanntesten
aus Arnold Schönbergs so reich differenziertem Gesamtwerk. Und zugleich beweist
seine strukturell disziplinierte Freiheit, welche tiefe ethisch-ästhetische Kluft ihn von
revolutionären, jegliche Verbindung mit der Vergangenheit verwerfenden Kollegen wie
Kandinskys musikalischem Mitarbeiter Thomas von Hartmann trennte, der im selben
Almanach ,,Anarchie in der Musik" propagierte. Im Gegensatz zu gewissen Zeitgenos-
sen, die in ihrer Vorkriegspsychose bereit waren, alles was an das 19. Jahrhundert erin-
nerte, gnadenlos über den Haufen zu werfen, blieb er seiner erklärten Mission treu, in
jungen Menschen "den Sinn für die Vergangenheit zu wecken und gleichzeitig den
Ausblick auf die Zukunft zu öffnen", damit man "wisse, daß in allem, was lebt, enthal-
ten ist, was es verändert, entwickelt und auflöst". 15
13 Arnold Schönberg 1874-1951. Lebensgeschichte in Begegnungen, hg. von Nuria Nono-Schoenberg, Kla-
genfurt 1992, S. 79.
14 Schönberg, Harmonielehre, S. 484.
15 Ebenda, S. 31.
Harmonie und Kontrapunkt 113
"gar nicht verachte, wie die Journalisten immer meinen. Denn ich habe mich seit dieser Zeit
wohl entwickelt, aber ich habe mich nicht gebessert, sondern nur mein Stil ist besser worden, so
daß ich mehr in die Tiefe desjenigen dringen kann, das ich damals schon zu sagen hatte, und
imstande bin, es trotzdem sowohl knapper, als auch ausführlicher zu sagen. [... ] Auf den Stil
kommt es nur dann an, wenn Alles andere da ist! Und dann kommt es wieder nicht in Betracht,
weil wir ja Beethoven nicht wegen seines seinerzeit neuen Stils, sondern wegen seines jederzeit
neuen Inhalts mögen." 17
Schönbergs Drang "mehr in die Tiefe" fiel zunächst der Kolossalstil der Jahrhundert-
wende zum Opfer, und zwar unmittelbar nach der Komposition des Symphonischen
Gedichts Pelleas und Melisande op. 5. Die Gurre-Lieder-Partitur blieb auch dementspre-
chend ganze zehn Jahre liegen, bis sie schließlich im November 1911 auf eine weitaus
durchsichtigere Weise als zuvor zum Abschluß kam. In der Zwischenzeit waren kurz
nacheinander drei überwiegend kontrapunktische Kammermusikwerke entstanden: das
d-Moll-Streichquartett op. 7 ( 1905), die Kammersymphonie op. 9 ( 1906) und der große
A-cappella-Chor Friede aufErden op. 13 (1907). Die außergewöhnliche Länge seiner
dicht und "breit" instrumentierten, thematisch und harmonisch so äußerst kompli-
zierten Frühwerke ergab sich aus der selbstgestellten Aufgabe, die konfliktreiche Gefühls-
welt ihrer literarischen Unterlagen musikalisch in jedem Detail darzustellen. Und das
in vieler Beziehung erstaunliche Resultat war ein thematisch bewegtes, alles überflu-
tendes Klangmeer, in das der überwältigte Hörer taucht, um in Richard Wagners Wor-
16 Ebenda, S. 460.
17 Arnold Schönberg I Wassily Kandinsky, Brieft, Bilder und Dokumente einer außergewöhnlichen Begeg-
nung, hg. von Jelena Hahl Koch, München 1981, S. 74-75.
114 Harmonie und Kontrapunkt
ten "erfrischt und schön dem Tageslichte sich wiederzugeben" . 18 Das ist natürlich nicht
jedermanns Sache, und die vom Komponisten 1905 persönlich geleitete Uraufführung
von Pelleas und Melisande endete mit einem sogar für Wien seltenen PublikumskrawalL
Schönberg war viel zu selbstkritisch veranlagt, um sich nicht eines Besseren zu
besinnen, ohne die Pelleas-Partitur jedoch auch nur im geringsten zu verleugnen. Viel-
mehr setzte er sich gerade für dieses sein letztes der romantischen Orchestertradition
verpflichtetes Werk auch als Dirigent immer wieder mit Vergnügen und steigendem
Erfolg ein. Andererseits war ihm allerdings sehr bald deutlich, daß eine quasi-kontra-
punktische Schreibweise in der rastlosen harmonischen Intensität seines selbst Richard
Strauss überbietenden Orchestersatzes kaum gebührend zur Geltung kommen konnte.
Nicht zufällig hatte sich das noch aus dem letzten Jahr des 19. Jahrhunderts stammen-
de, ebenfalls einsätzige Streichsextett Verklärte Nacht op. 4 (nach Richard Dehmels
Dichtung Mann und "Weib) verhältnismäßig schnell durchgesetzt, allerdings auch dank
der unermüdlichen Pionierarbeit des berühmten Rose-Quartetts und seiner ausgezeich-
neten Wiener Orchesterkollegen. Im Gegensatz zum Götterdämmerung-Orchester der
Pelleas-Partitur kam die solistische Besetzung Schönbergs kontrapunktischen Tenden-
zen in diesem frühen Stadium ganz besonders zugute, ein Tatbestand, von dem der
Komponist sich sehr bald Rechenschaft ablegte. Jedenfalls wandte er sich erneut der
Kammermusik zu, um erst danach mit den individuell differenziert instrumentierten
FünfOrchesterstücken op. 16 in ihrer harmonischen Ungebundenheit und bemerkens-
werten Kürze die endgültigen Konsequenzen aus der Pe//eas-Erfahrung zu ziehen.
Entscheidend für Arnold Schönbergs jeweilige Ausdrucksweise war zu allen Zeiten
ein Grundgedanke, aus dem, wie er zu erklären pflegte, alles Weitere hervorging, ge-
nauer gesagt, worauf sich alles Weitere bewg. Selbstverständlich handelte es sich um
rein musikalische Gedanken einschließlich solcher, die im Geist der Epoche literari-
schen Anregungen zu verdanken waren. In dieser Beziehung unterschieden sich seine
zahlreichen Lieder kaum von "erzählenden" Instrumentalwerken wie Verklärte Nacht
oder Pelleas und Melisande. Das Wort als solches stand bei ihm selten im Vordergrund.
Bei Liedern hing alles Weitere oft sogar "von dem Anfangsklang der ersten Textworte"
ab. 19 Im Fall der Gurre-Lieder waren es eher gewisse Symbole und Stichworte, Schloß,
See, Wald und Jagd, der "Klang" der Waldtaube, die nordische Natur im allgemeinen,
die Jens Peter Jacobsens unselige Liebesgeschichte vom nächtlichen Dunkel bis zum
Durchbruch des Sonnenlichts im großen Verklärungsfinale umgibt. Kein Wunder, daß
dem jungen Wagner-Kenner Schönberg in diesem Zusammenhang wiederholt Tristan
und Isolde in den Sinn kam, obwohl die musikalische Diktion Waldemars und des
Klaus-Narr eher ähnliche Figuren aus Siegfried und Götterdämmerung ins Gedächtnis
ruft. Das brillant instrumentierte Vorspiel erweckt unwillkürlich Assoziationen mit
Siegfrieds Waldszene, während das Tristan-Vorspiel sich gelegentlich auf durchaus ori-
ginelle Weise in den die Kontinuität des Ganzen versichernden Zwischenspielen be-
merkbar macht.
18 Richard Wagner, "Das Kunstwerk der Zukunft", in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 3,
Leipzig 3 1897, S. 83.
19 Schönberg, Stil und Gedanke, S. 5.
Harmonie und Kontrapunkt 115
20 V gl. u. a. Alexander L. Ringer, "'Lieder eines fahrenden Gesellen'. Allusion und Zitat in der musikali-
schen Erzählung Gustav Mahlers", in: Das musikalische Kunstwerk- Geschichte, Asthetik, Theorie. Fest-
schrift Carl Dahlhaus zum 60. Geburtstag, hg. von Hermann Danuser u. a., Laaber 1988, S. 589-602,
sowie ders., ",Ende gut alles gut'. Bemerkungen zu zwei Finalsätzen von Johannes Brahms und Gustav
Mahler", in: Neue Musik und Tradition. Festschrift Rudolf Stephan zum 65. Geburtstag, hg. von Josef
Kuckertz u. a., Laaber 1990, S. 297-309.
21 Otto Abraham I Erich Moritz von Hornbostel, "Phonographierre indische Melodien", in: Sammel-
bände der Internationalen Musikgesellschaft 5 (1904), Neudruck in: Abhandlungen zur vergleichenden
Musikwissenschaft, hg. von Carl Stumpf und Erich Moritz von Hornbostel, München 1922, S. 285.
22 Georg Capellen, "Exotische Rhythmik, Melodik und Tonalität als Wegweiser zu einer neuen Kunst-
entwicklung", in: Die Musik 6 (1906/07), S. 216-227.
116 Harmonie und Kontrapunkt
sehen Polyphonie völlig neue einleitende Liedsatz in d-Moll muß einen besonders tie-
fen Eindruck hinterlassen haben. Denn wenige Monate danach begann Schönberg mit
der Komposition seines durch und durch polyphonen Streichquartetts in d-Moll.
Sein erstes nennenswertes instrumentalwerk, ein im Todesjahr von Johannes Brahms
komponiertes, in jeder Beziehung "normales" Streichquartett in D-Dur blieb bis zu
seiner posthumen Veröffentlichung so gut wie unbekannt. Ob dieses durchaus ver-
dienstvolle Werk ursprünglich ein Huldigungsgeschenk für Schönbergs so innig ge-
liebte, aus Prag stammende Mutter darstellte, sei dahingestellt. Brahms machte sich
darin aufjeden Fall weniger bemerkbar als dessen böhmischer Verehrer Antonfn Dvotak.
Im übrigen fühlte Schönberg sich wie Mozart in Prag stets weitaus wohler als in Wien,
zumal er dort mit seiner Musik verhältnismäßig früh Anklang fand. Seinen großen
Mahler-Vortrag schrieb er 1912 für Prag und wiederholte ihn erst danach in Berlin
und schließlich auch in Wien. Nach dem Krieg war es vornehmlich die langjährige
Tätigkeit seines Freundes und Schwagers Alexander von Zemlinsky am dortigen deut-
schen Nationaltheater, die ihn an Prag band, obwohl es in den frühen zwanziger Jahren
sogar ein Prager Gegenstück zu Schönbergs berühmtem Wiener Verein für musikali-
sche Privataufführungen gab. Und das Schicksal bestimmte letzten Endes auch, daß
tschechische Papiere dem Komponisten und seiner zweiten Familie 1933 die Einreise
in die Vereinigten Staaten ermöglichten.
Als die "neue Welt" dem enfont terrible der modernen Musik einen dem "Einstein
der Musik" würdigen Empfang bereitete, waren vier ereignisreiche Jahrzehnte vergan-
gen, seit er begonnen hatte, seine melodischen Gaben zunächst in Liedern aufTexte
zeitgenössischer Dichter zu erproben. Kurz vor der Jahrhundertwende entdeckte er
Richard Dehmels zwischen Naturalismus und Symbolismus schwebende Lyrik, die
nicht nur eine Anzahl besonders gelungener Klavierlieder zeitigte, sondern auch sein
erstes großes Instrumentalwerk In dem für ihn entscheidenden Dehmel-Jahr 1899
brach er ein 1898 begonnenes symphonisches Gedicht (Frühlingstod nach Lenau) nach
204 Takten kurz entschlossen ab, um seine Aufmerksamkeit vor allem dem ihm so
besonders zusagenden Dichter zu widmen, u. a. mit einer eindrucksvollen, in motivischer
Hinsicht äußerst ökonomischen Vertonung von dessen an Farben reichem Gedicht
Erwartung. Statt einer verhältnismäßig einfachen, vom Klavier bescheiden begleiteten,
im besten Sinn des Wortes vokalen Melodie trägt der Sänger den von Farbensymbolismus
durchdrungenen Text quasi-rhetorisch vor in voller Partnerschaft mit dem Pianisten,
dem die instrumentale Evokation des Orts und der Atmosphäre zugedacht ist. Dem
aufmerksamen Hörer eröffnet sich auf diese Weise eine surrealistische Szene, die nicht
unbedingt genau das bietet, worum es scheinbar geht. Der Nachdruck fällt vielmehr
auf innere Vorgänge im Einvernehmen mit einer für Schönberg zeitlebens charakteri-
stischen Tendenz, die kurz danach dann auch im einsätzigen, ebenfalls von Dehmel
inspirierten Streichsextett op. 4 Ausdruck fand. "Erwartung" entstand am 9. August
1899 als erstes der drei Dehmel-Lieder, die Schönberg dann mit Johannes Schlafs
"Waldsonne" in seinem Opus 2 zusammenfaßte. Das letzte der drei, "Erhebung", kom-
ponierte er am 16. November 1899, und vierzehn Tage später notierte er bereits "Fine"
im Manuskript von "Verklärte Nacht I Gedicht von Richard Dehmel I für sechs Streich-
instrumente I von I Arnold Schönberg".
Harmonie und Kontrapunkt 117
Unter Arnold Schönbergs älteren Zeitgenossen waren Gustav Mahler und Richard
Strauss nur die bei weitem genialsten, von Dichtern angeregten Komponisten, deren
musikalischen Visionen die romantische Liedtradition kaum noch gerecht zu werden
vermochte. Der Drang nach Abstraktion, der nach der Jahrhundertwende so gut wie
alle Kunstgebiete erfaßte, hatte der Instrumentalmusik längst einen Vorzugsplatz im
bürgerlichen Kulturleben des deutschen Sprachraums angewiesen. Selbst bei sogenannter
Programmusik handelte es sich in" Ludwig van Beethovens bekannter Charakterisie-
rung seiner Pastoral-Symphonie eher um ,,Ausdruck der Empfindung als Malerei".
Und in diesem Sinn begriff auch Schönberg seine Schilderung der schicksalhaften
Empfindungen von Dehmels Mann und Weib auf ihrem nächtlichen Wandelgang "durch
kahlen, kalten Hain". Die insbesondere anfänglich ruhig schreitende Bewegung des Sex-
tetts sowie das wiederholt gepaarte Hervortreten verschiedener Instrumente weisen auf
die eng miteinander verschlungenen Empfindungen der "zwei Menschen" hin, deren
Liebe nichts, selbst nicht das ängstliche Geständnis der Frau "ich trag ein Kind, und
nicht von Dir" etwas anzuhaben vermag. Am Ende gehen sie ihrem gemeinsamen Schicksal
in inniger Umarmung geläutert durch die nunmehr "hohe, helle Nacht" entgegen.
In stilistischer Hinsicht wird das Streichsextett op. 4 gern mit Johannes Brahms in
Verbindung gebracht, der diese verhältnismäßig seltene Kammermusikgattung bekannt-
lich so besonders erfolgreich pflegte. Und Schönberg hat seine Schuld an Brahms ins-
besondere mit Rücksicht auf gewisse melodisch-metrische Eigenschaften selbst auch
nie verleugnet. In seiner dichterisch bedingten Einsätzigkeit weist es jedoch eher in
Richtungen, die dem Spätmeister "absoluter" Instrumentalmusik grundsätzlich fern
lagen. Denn einerseits handelt es sich um ein kammermusikalisches Gedicht nach dem
Vorbild in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders beliebter symphonischer
Werke von Franz Liszt und Richard Strauss, genauer gesagt dessen Tod und Verklärung;
andererseits stützt es sich in seiner chromatischen Vielstimmigkeit vor allem bei gewis-
sen Steigerungen jedoch oft genug auf Wagners Tristan und Isolde, obwohl beileibe
noch nicht mit der Intensität des vier Jahre später komponierten eigentlichen Sympho-
nischen Gedichts Pelleas und Melisande.
Zwei Wochen nach der Vollendung dieses seines vorläufig letzten großen Orchester-
werks erhielt Schönberg die willkommene Nachricht, daß der Allgemeine Deutsche
Musikverein ihm das Liszt-Stipendium zugesprochen hatte, ausnahmsweise auf drei
volle Jahre und mit der höchst möglichen Dotierung (tausend Mark pro Jahr). Diese
seine finanziellen Probleme beträchtlich lindernde Auszeichnung verdankte er haupt-
sächlich Strauss, der die als Probestücke vorgelegten Partituren von Verklärte Nacht
und bereits instrumentierten Teilen der Gurre-Lieder offensichtlich hoch einschätzte. 23
Ihre Bekanntschaft war auf eine im Licht viel späterer Ereignisse einigermaßen ironi-
sche Weise zustande gekommen. Ernst von Wolzogen, der Strauss das Libretto für
Feuersnot geliefert hatte, befand sich im September 1901 mit dem Überbrettl-Ensem-
ble seines Berliner "Bunten Theaters" aufTournee in Wien. Die musikalische Leitung
oblag dem Operettenkomponisten Oskar Straus, der aus religiösen Gründen am Vor-
23 Vgl. Irina Kaminiciz, Richard Strauss: Briefe aus dem Archiv des Allgemeinen Deutschen Musikvereins,
Weimar usw. 1995, S. 149-156.
118 Harmonie und Komrapunkt
abend des jüdischen Versöhnungsfests jedoch nicht aufzutreten wünschte und als Ver-
treter, wie es scheint auf Alexander von Zemlinskys Empfehlung, dessen drei Jahre
zuvor evangelisch getauften Freund Schönberg vorschlug. Wolzogen begeisterte sich
schon bei ihrer ersten Begegnung für eines der Brettl-Lieder, die Schönberg im Lauf des
Jahres aufTexte aus Otto Julius Bierbaums Sammlung Deutsche Chansons komponiert
hatte, und lud ihn dann auch zu einem längeren Engagement in Berlin ein, wo Richard
Strauss seinerseits als Hofkapellmeister regierte. AufZemlinskys Dringen hin bat Schön-
berg den großen Mann nach einiger Zeit um eine kurze Zusammenkunft, woraus sich
alles weitere ergab.
Mit Werken von Richard Strauss, Deutschlands derzeit modernstem Komponi-
sten, war Schönberg natürlich längst vertraut. Das bezeugt nicht allein das Streich-
sextett op. 4, dessen Beginn den einleitenden acht Takten von Strauss' f-Moii-Sym-
phonie op. 12 nachgebildet erscheint.
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Harmonie und Kontrapunkt 119
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Den ersten Anstoß zur Komposition der Gurre-Lieder mag die 1899 im Druck erschie-
nene Partitur von Gustav Mahlers romantischer Chorballade Das klagende Lied gege-
ben haben. Mit seinem kolossalen Aufgebot an instrumentalen und vokalen Kräften
steht Schönbergs umfangreichstes aller derartigen Stücke doch eher dem Geist des
Komponisten näher, der gerade 1902 mit seinem Taillefer eine Chorballade schuf, für
die er vierzigzeiliges Notenpapier benötigte. 24 Von den massenhaften Männerehären
abgesehen, forderte Strauss nicht weniger als 24 Holzbläser, 20 Blechbläser, 70 Strei-
cher und 12 verschiedene Schlaginstrumente. Und mit dem Kopieren der Stimmen
beauftragte er keinen anderen als Arnold Schönberg, der allerdings gewohnt war, sein
mageres Brot vor allem mit Kopieren und Instrumentieren von zweitrangigen Operet-
ten zu verdienen. Spiegelte Taillefer unter diesen Umständen womöglich gewisse Ein-
24 Vgl. Heiner Wajemann, Die Chorkompositionen von Richard Strauss, Turzing 1986, S. 189.
120 Harmonie und Kontrapunkt
"Es ist das ungeheuer Schwierigste, das mir je untergekommen. R. Strauss' Heldenleben ist nur
eine Kinderei dagegen. Ich komme nur ganz mühsam weiter. Verliere jeden Augenblick den
melodischen od. harmonischen Faden. [... ] Einesweissich heute schon: es ist das Kunstvollste,
das in unserer Zeit geschrieben wurde. Ich glaube: R. Str. wird nicht lange Dein Freund bleiben!!!
Was ich bis jetzt von Themen kenne, ist mit wenigen Ausnahmen sehr originell. Etwas weniger
Strauss wäre mir lieber. Die Instrumentation ist durchaus geistvoll u. theilweise ganz neu- aber ...
ich halte sie für ganz unpraktisch- nicht weil die Partitur schwer spielbar, ich glaube, daß vieles,
sehr vieles nicht klingen kann, infolge der überladenen Polyphonie. "25
Mit anderen Worten, kontrapunktische Verfahren, die dem noch verhältnismäßig dia-
tonischen Streichsextett durchaus originelle und stets deutlich wahrnehmbare Aus-
drucksmöglichkeiten eröffneten, drohten nicht nur, in Schönbergs Helden/eben-Or-
chester zu ertrinken; angesichts der beispiellos intensiven Chromatik, die dem Werk
allerdings seinen besonderen Charakter verleiht, haben einzelne Themen bereits als
solche oft einen schweren Stand geschweige denn in einer großen Anzahl mannigfalti-
ger Kombinationen. Und die Notwendigkeit, der thematischen Vielfalt mittels einer
sehr differenzierten Instrumentation gerechtzuwerden, hatte wiederum eine unvermeid-
lich übervolle Orchesterpalette zur Folge. Kurzum, als Gegenstück zu den vorläufig
noch unvollendeten Gurre-Liedern wurde Pelleas und Melisande zum nec plus ultra von
Schönbergs schöpferischer Auseinandersetzung mit dem romantischen Erbe des 19. Jahr-
hunderts. Es schien an der Zeit, andere Gefilde zu erforschen.
Im Fahrwasser seines verhältnismäßig kurzen Berlin-Aufenthalts nahm Schönbergs
Leben und Schaffen jedenfalls eine entscheidende, durchaus logische, aber dennoch
unerwartete Wende. Einerseits ließ sich die von der Vorherrschaft des Klanges ausge-
hende spätromantische Chromatik kaum weiter treiben als in Pelleas und Melisande,
25 Alexander Zemlinsky- Briefwechsel mit Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg und Franz Schreker
(BriefWechsel der Wiener Schule 1), hg. von Horst Weber, Darmstadt 1995, S. 42-43.
Harmonie und Kontrapunkt 121
Arnold Schönberg war alles andere als ein ausübender Musiker im herkömmlichen
Sinne des Wortes. Er studierte zwar oft eigene Kompositionen mit Ausführenden ein,
dirigierte auch öfters, vor allem nach dem großen Erfolg von Pierrot Iunaire op. 21
unter seiner Leitung, u. a. die symphonische Dichtung Pelleas und Melisande op. 5
sowie Teile der Gurrelieder, trat aber kaum als Interpret von Werken anderer auf. Da er
sich jedoch mit den großen Meistern der Vergangenheit aufs innigste verbunden fühl-
te, versuchte er sich als Interpret vornehmlich auf zwei Wegen, dem der Analyse und
dem der Bearbeitung. Damit reihte er sich unter eine Anzahl von Zeitgenossen, wie
z. B. Bela Bart6k, den er auch sonst besonders zu schätzen wußte. Hauptsächlich er-
wies er sich jedoch in dieser Beziehung ebenfalls als ein Jünger Gustav Mahlers. Nach
Max: GrafsAussage betrachtete Mahler alte Kunstwerke nicht als "Hxe Ideen, die unbe-
rührbar starr im ewigen Raume stehen", vielmehr empfand er es als seine Aufgabe, "aus
dem intensivsten Gefühle der Gegenwart heraus die Kunst anderer Zeiten" zu deuten,
"sollte sie selbst ein wirkendes und gegenwärtiges Dasein führen". 1
Wie die meisten Jüngeren seiner Zeit erlernte Schönberg einen großen Teil seines
kompositorischen Handwerks mit Hilfe von Orchestrierungsübungen und Arrange-
ments. Insbesondere Autodidakten erwarben so Kenntnisse, die in vielen Fällen weit
über das hinausgingen, was andere sich auf den Schulbänken der Konservatorien unter
der strengen Führung von in vielen Fällen zweitrangigen Komponisten aneigneten.
Die Tatsache, daß das Wiener Musikleben zur Zeit von Schönbergs Jugend vornehm-
lich unter dem Eindruck von Meister Johannes Brahms vor sich ging, verstärkte wei-
terhin die Tendenz, Einsicht in die Musik der Vergangenheit dadurch zu gewinnen,
daß man sie neuen Verhältnissen sowohl rein musikalischer als auch sozialer Art an-
paßte. Gustav Mahlers Ausspruch ist wohl in diesem Sinne zu verstehen, zumal Mah-
lers Jugendfreund Guido Adler derzeit gerade im Begriff war, an der Universität Wien
die führende musikwissenschaftliche Stätte Europas zu schaffen, die nicht nur huma-
nistische Geister, sondern auch schöpferische Talente ersten Ranges wie Anton We-
bern, Egon Wellesz und andere Schönberg-Schüler anzog, deren Seminaraufgaben u. a.
aus Basso Continuo-Ausarbeitungen, Spartierungen noch älterer Musik und sonstigen
Bearbeitungsübungen bestanden. Kurz, Bearbeitung als Interpretation war eine Idee,
die vor und nach der Jahrhundertwende im musikalischen Umkreis Arnold Schön-
bergs auf vielfältige Weise verwesentlieht wurde.
Von den Komponisten der Renaissance, deren Werke bei Guido Adler so eifrig
studiert und herausgegeben wurden, ist zu Recht gesagt worden, daß sie vor allem als
"polyphone Bearbeiter und kunstgerechte Weitergestalter" tätig waren. Andere haben
betont, daß ein wahrhaft künstlerischer Bearbeitungsvorgangper definitionem eine "gei-
Zitiert nach Ernst Hilmar, "Schade, aber es muß[te] sein", in: Bruckner-Studien, hg. von Othmar
Wessely, Wien 1975, S. 189.
Bearbeitung als Interpretation 123
2 Hans Joachim Moser, Artikel "Komponieren", in: ders., Musiklexikon, 4., stark erweiterte Auflage
Harnburg 1955, Bd. I, S. 639. Vgl. Hermann Riede!, Originalmusik und Bearbeitung, Berlin 1971, S. 6.
3 Vgl. Laszlo Somfai, "Eine Erklärung Bart6ks aus dem Jabr 1938", in: Documenta Bart6kiana IV, hg.
von Denis Dille, Mainz 1970, S. 149.
4 Ebenda, S. 150.
124 Bearbeitung als Interpretation
Im Januar des Pierrot-Jahrs 1912 wohnte Schönberg einer Aufführung von Ferruccio
Busonis Berceuse Elegiaque unter Oskar Frieds Leitung bei, und das kurze Stück beein-
druckte ihn derart, daß er spontan zugab: "dem habe ich sehr unrecht getan". 5 Einige
Jahre später entschied er sich zu einer Bearbeitung, die dann aber Anton Webern nach
seinen Anweisungen anfertigte. Die Besetzung entsprach im großen und ganzen der
des Kaiserwalzers, allerdings mit einem zusätzlichen Harmonium, da diese Arbeit für
den Wiener Privatverein gedacht war. Inzwischen hatte Schönberg Busoni gegenüber
bereits die Hoffnung ausgesprochen, daß dieser womöglich "eines meiner Kammer-
oder Orchesterwerke als Transkription für Klavier allein" in seine Konzertprogramme
aufnehmen würde. 6
Wie konsequent er selbst in Bearbeitungsangelegenheiten auflängste Sicht verfUhr,
ergibt sich u. a. aus der bis auf die Vorkriegsjahre zurückführenden Entstehungsge-
schichte des Violoncello-Konzerts für Pablo Casals. Auf Ansuchen von Guido Adler
hatte Schönberg noch vor dem Ersten Weltkrieg eine Anzahl von Generalbaß-
bearbeitungen für den Band Wiener Imtrumentalmusik im 18. Jahrhundert in der Reihe
Denkmäler der Tonkumt in Österreich übernommen. Schönbergs Hang zu intensiver
motivischer Arbeit sogar in diesem quasi wissenschaftlichen Rahmen erregte derzeit
nicht unerwarteterweise den Zorn einiger Authentizitätsfanatiker vom Schlag jener,
die bis heute manche naiv langweilige Aufführung älterer Musik auf dem Kerbholz
haben. Schönberg, der nicht nur an schärfste Kritik gewöhnt war, sondern sie gelegent-
lich mit größter Gelassenheit als unbeabsichtigtes, aber darum nicht minder wertvolles
Kompliment hinnahm, machte sich ein besonderes Vergnügen daraus, rundweg zu
erklären, daß die Ausarbeitung eines Basso continuo für ihn nie eine "wissenschaftliche
Frage" sein konnte. In einer handschriftlichen Erwiderung aufGrafContinuo (gemeint
ist wohl der bekannte Wiener Kritiker Max Graf), die er seinem Privatexemplar des
betreffenden Denkmäler-Bandes beifügte, verdeutlichte er unmißverständlich, daß bei
ihm auch derartige, geschichtlich verhältnismäßig eng umschriebene Aufgaben stets
im Zeichen schöpferischer ,,Auffassung" und künstlerischer "Phantasie" standen. 7 Und
als konkreten Beweis versuchte er sich im Jahr vor Kriegsausbruch in dem künstleri-
schen "Experiment", wie er es selbst nannte, einer von der für Adler verfertigten
Generalbaßaussetzung unabhängigen, weitaus "künstlerischeren Fassung" von Matthias
Georg Monns g-Moll-Konzert für Cello oder Cembalo und Orchester für Cello und
Klavier. Die damit verbundenen Probleme ließen ihm jedoch keine Ruhe. Ganze zwei
Jahrzehnte verflossen; da kam er auf der Suche nach einem passenden Stück für Pablo
Casals, dessen Bach- und Haydn-lnterpretationen er als ehemaliger Cellist besonders
bewunderte, nochmals auf Monn zurück, indem er das Monosehe Cembalo-Konzert
in D-Dur "in freier Umgestaltung" als groß angelegtes Cellokonzert neu komponierte.
Wie es dazu kam, daß Arnold Schönberg jenes durchaus homophone Konzert im
vorklassischen Stil in ein von thematischer Arbeit durchdrungenes und von Klangef-
5 Hans Heinz Stuckenschmidt, Arnold Schönberg. Leben, Umwelt, werk, Zürich I Freiburg i.Br. 1974, S.
144.
6 Arnold Schönberg, Briefe, ausgewählt und hg. von Erwin Stein, Mainz 1958, S. 167.
7 JosefRufer, Das Werk Arnold Schönbergs, Kassel usw. 1959, S. 74.
Bearbeitung als Interpretation 125
"1. Eine Phantasie über ein Bach-Stück (ein schönes Adagio oder Menuett, Gavotte oder dergl.)
eventuell in Variationenform; oder
2. eine Klaviersuite oder eine Triosonate oder dergl., cellomäßig umdeuten.
3. Eine dieser beiden Arbeiten entweder
a) für Cello Solo, oder
b) für Cello und Klavier, oder
c) für Cello und Orchester.
Ich kann mich nicht entscheiden, ohne die Noten zu sehen. Wenn ich ein Stück von Bach
hätte, weiß ich nicht, ob ich nicht gleich anfangen würde. "8
Aus Barcelona nach Berlin zurückgekehrt, kam ihm wohl bald danach das noch unbe-
arbeitete Cembalo-Konzert von Monn in den Sinn. Wenig mehr als ein Jahr später
konnte er jedenfalls, wiederum aus Barcelona, wohin ihn sein Asthma-Leiden um Weih-
nachten zu treiben pflegte, dem Dirigenten Hans Rosbaud mitteilen, daß er "seit zwei
Tagen", d. h. seit dem 5. Januar 1933, "ein Cellokonzert mit Orchester ,in freier Um-
gestaltung nach einem Klavierkonzert von Monn'" fertig hätte, "dessen Uraufführung
ich mit Casals zusammen machen möchte". 9 Casals selbst schrieb er am 20. Februar:
"ich habe vor ungefähr 6 Wochen ein kleines Werk vollendet [... ]. Das Werk führt den
Titel: Konzert für Violoncello und Orchester, nach dem Concerto per Clavicembalo
von M. G. Monn in freier Umgestaltung von Arnold Schönberg." Im weiteren Verlauf
dieses ausführlichen Briefes an den großen Künstler, dem er dieses "kleine Werk" ver-
dankte, hob er vor allem dessen Brillanz, auch im klanglichen Sinn, hervor. Dem Soli-
sten war zwar eher eine kammermusikalische Rolle zugedacht, aber so gestaltet, daß
"durch dessen brillantes Spiel ein sehr schöner, interessanter Klang entsteht". Tatsäch-
lich handelt es sich weitaus weniger um ein reines Virtuosen-Stück, in dem das Orche-
ster hauptsächlich begleitet oder Ritornell-Aufgaben erfüllt, als um ein Orchester-Kon-
zert mit obligatem Violoncello, das den Orchesterklang allerdings wiederholt entschei-
dend beeinflußt.
Des weiteren, schreibt Schönberg, sei er bestrebt gewesen, "die Mängel des Händel-
stils (dem das Werk im Original angehört) zu beseitigen". In wie weit die globale An-
wendung des Begriffs "Händelstil" der strikt homophonen Faktur des Monnschen
Originals gerecht wird- um von Händel selbst ganz zu schweigen -, sei dahingestellt.
Wichtiger ist die Bemerkung des Komponisten, daß ihm bei seinem Verfahren beson-
ders Mozart vorgeschwebt habe. Wie dieser bei seiner Bearbeitung des Händelsehen
Messias habe auch er "ganze Hände voll Sequenzen (Rosalien, ,Schusterflecke') ent-
fernt und durch echte Substanz ersetzt". Den "Hauptmangel des Händelstils" sah er in
der Abwesenheit von thematischer Arbeit im Sinne Haydns - womit natürlich der
spätere Haydn und nicht der unmittelbare Nachfolger Monns im Bereich der Österrei-
chischen Instrumentalmusik gemeint war. Schönberg hoffte auf jeden Fall, daß es ihm
gelungen sei, "das Ganze etwa dem Stil Haydns zu nähern". Harmonisch fand er es
jedoch unmöglich, sich auf die Praxis des 18. Jahrhunderts zu beschränken. Da stand
vielmehr Brahms Pate, über den er kaum hinausgegangen sei: "jedenfalls gibt es keine
Dissonanzen, die nicht im Sinn der älteren Harmonielehre zu verstehen sind; und:
nirgends", versicherte er dem musikalisch konservativen Cellisten und Komponisten
Casals, "ist es atonal" . 10 Das Stück hinterläßt in der Tat eher den Eindruck einer Art
Brahmsscher Haydn- Variationen über ein Konzert von Monn, komponiert von Arnold
Schönberg, als einer Bearbeitung des Monnschen Konzerts tout court. Andererseits bringt
es gewisse Parodieverfahren der Hochrenaissance in Erinnerung, deren Bestimmung es
war, bereits bestehende Werke sowohl stilistisch als auch inhaltlich veränderten Um-
ständen entsprechend zu bereichern.
Das Cellokonzert wäre ohne Schönbergs in den dreißiger Jahren besonders intensi-
ve Auseinandersetzung mit dem Brahmsschen Erbe jedenfalls kaum denkbar. Und so
endete der seine Vollendung ankündigende Brief auch mit dem Vorschlag für einen
Brahms-Vortrag: "Ich hätte hier wahrscheinlich etwas zu erzählen, was nur ich sagen
kann. Denn meine Altersgenossen und die, die älter sind als ich, haben zwar auch noch
die Brahmszeit erlebt, sind aber nicht ,modern'." 11 Schönberg hatte wohl schon damals
manches im Sinn, was dem späteren Aufsatz "Brahms, the Progressive" den Stempel
eines einzigartigen historisch-analytischen Selbstbekenntnisses aufdrückte. Das Cello-
konzert stützt sich jedenfalls ganz offenkundig auf die stilistischen Grundzüge des
Brahmsschen Doppe/konzerts, obwohl es dem 19. Jahrhundert allen diesbezüglichen
Versicherungen zum Trotz insbesondere im harmonischen Bereich gelegendich den
Rücken kehrt. Schönberg fand letzten Endes selbst eine weitaus treffendere Formulie-
rung im Zusammenhang mit seiner Bearbeitung von Brahms' g-Moll-Klavierquartett.
Er hätte sich bemüht, schrieb er,
"1. Streng im Stil von Brahms zu bleiben und nicht weiter zu gehen, als er selbst gegangen
wäre, wenn er heute noch lebte.
2. Alle die Gesetze sorgfältig zu beachten, die Brahms befolgte, und keine von denen zu verlet-
zen, die nur Musiker kennen, welche in seiner Umgebung aufgewachsen sind." 12
Es ist eine in vieler Beziehung bedeutsame Bemerkung, die im Klartext auf einen aus-
gesprochen relativen Stilbegriff hinweist, der schöpferische Tätigkeit im Rahmen ge-
wisser verbindlicher Gesetze grundsätzlich von den laufenden Anpassungen an ver-
meindich verpflichtende Beschränkungen jener typischen Brahms-Jünger seiner Zeit
10 Ebenda, S. 186-187.
II Ebenda, S. 185.
12 Ebenda, S. 223.
Bearbeitung als Interpretation 127
unterschied, die eben "nicht modern" waren. Im doppelten Sinn des Wortes reines
Epigonenturn verurteilend sah sich Schönberg vielmehr als berufener Vollstrecker ei-
nes kostbaren, ihm vom Schicksal anvertrauten Erbes, der seine wirkliche Treue zum
Original dadurch bekundete, daß er sein äußerstes tat, um latente Möglichkeiten der
jeweiligen Vorlage mit Hilfe ureigenster künstlerischer Gaben herauszuarbeiten.
Diese charakteristische Denk- und Gefühlsweise ist es auch, die mutatis mutandis
aus den schwungvollen Worten spricht, mit denen er 1936 ein für ihn äußerst vorteil-
haftes Angebot, die Musik für einen von seinem Freund, dem bekannten Filmprodu-
zenten Wilhelm Dierede geplanten Beethoven-Film zu bearbeiten, zurückwies, ob-
wohl er gerade damals in Amerika als Vater einer wachsenden zweiten Familie unter
großem finanziellem Druck stand. Wie er Dieterles Gattin darlegte, fühlte er sich außer-
stande, Beethoven schlicht "dienend" zu bearbeiten. "Was man von mir zu fordern
hat", schrieb er, ist, "daß ich [... ] aus mir selbst heraus schaffe". Und das würde im
gegebenen Fall bedeuten: "nicht eine bloße Anwendung, sondern eine ,Phantasie', eine
symphonisch-dramatische Phantasie, die künstlerisch dieselbe Berechtigung haben
dürfte, wie wenn ich Variationen über ein Thema von Beethoven schriebe".U
So formuliert, unterscheidet sich Schönbergs Begriff der freien Umgestaltung nur
wenig von Bela Bart6ks Auffassung seiner sogenannten Volkslied-Bearbeitungen als
selbständige Kompositionen, die auch rechtlich als solche anerkannt werden sollten.
Wenn man ihm das nicht zugestehe, schrieb Bart6k um dieselbe Zeit an den um seine
Tantiemen besorgten Autorenverband, "dann müßten logischerweise die Mozart- ~
riationen von Reger, die Händel- und Paganini- ~riationen von Brahms, die Diabelli-
~riationen von Beethoven usw. ebenfalls als Nicht-Originalwerke betrachtet werden". 14
Bei Schönbergs Bearbeitung des g-Moll-Klavierquartetts von Brahms handelt es sich
allerdings weder um eine "symphonisch-dramatische Phantasie" noch um "freie Um-
gestaltung", sondern, wie er zu betonen bemüht war, ganz einfach darum, "den
Klang auf das Orchester zu übertragen" . 15 Dennoch waren auch hier ähnliche Überle-
gungen am Werke, da Schönberg unter "Klang" weit mehr verstand als reine Instru-
mentalfarbe. Was hier als schlichte Übertragung angekündigt ist, hat in Wirklichkeit
alle Merkmale einer Klang-Interpretation. Man denke nur an die pppp und divisi ge-
spielten Streicher-Akkorde am Ende des zweiten Satzes, für die es im Original über-
haupt keine Gegenstücke gibt. Aber auch sonst handelt es sich wiederholt um schwer-
wiegende, zuweilen sogar eigenwillige Änderungen. Tatsächlich beweisen schon die
ersten Seiten dieser Partitur dort, wo die ursprüngliche Klavierstimme zunächst den
Bläsern zugewiesen ist und dann umgekehrt den Streichern, daß der Komponist Schön-
berg seine Aufgabe im Sinn einer unverkennbar persönlichen Interpretation erfüllte.
Denn mit derartigen sowie einer ganzen Reihe von noch komplizierteren Kunstgriffen
gelangen ihm konzertante Effekte, die im Originalsatz meistens nicht einmal angedeu-
tet sind. Andererseits war es wohl kaum schierer Zufall, daß ihn konzertante Orchester-
bearbeitungen gerade in seinen frühen amerikanischen Jahren intensiv beschäftigten,
die sehr bald sein eigenes Violinkonzert op. 36 zeitigten und nach der von konzertanten
13 Ebenda, S. 215.
14 Somfai, "Eine Erklärung Bart6ks", a.a.O., S. 150.
15 Schönberg, Brieft, S. 223.
128 Bearbeitung als Interpretation
Ob er dieses hochgesteckte Ziel in der Tat erreichte, ob er die schweren Probleme, von
denen er selbst spricht, für unvoreingenommene Hörer wirklich zufriedenstellend lö-
ste, sei dahingestellt, wenigstens bis ein Otto Klemperer ebenbürtiger Musiker sich
dieses raffiniert ausgearbeiteten Werkes erneut annimmt.
Schönbergs ausgiebige Tätigkeit als schöpferischer Bearbeiter und ihre gravierende
Bedeutung für sein Gesamtschaffen entspricht in gewisser Hinsicht durchaus dem Sta-
dium des spätromantischen Variationsbegriffs im Sinn von Friedrich Nietzsche, der ja
in Deutung und Auslegung die letzte Hoffnung einer lebensfähigen europäischen Phi-
losophie sah. Arnold Schönberg, obwohl wie die meisten seiner Altersgenossen zumin-
dest indirekt unter Nietzsches Einfluß stehend, mag nie so weit gegangen sein wie
dieser, der den Positivisten entgegenhielt, daß vermeintliche Tatsachen sich genauer
besehen zwar als Interpretationen erweisen. Andererseits aber hat die jüdische Tradi-
tion, der Schönberg auch nach seiner Taufe nie völlig entsagte, zumal sie in den ersten
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts dank der Schriften Martin Buhers und anderer mo-
derner Exegeten zum erstenmal auch allgemeines Interesse erregte, selbst das scheinbar
unantastbare Gotteswort stets wieder neuer Deutung und Auslegung unterworfen. Die
sogenannte Autonomie des musikalischen Kunstwerks war unter diesen Umständen
allenfalls ein fragwürdiger Begriff für einen Komponisten, der bloße Konventionen
16 Ebenda, S. 202.
17 Ebenda, S. 223.
Bearbeitung als Interpretation 129
zeitlebens verabscheute, sein gesamtes Schaffen auch als Denker und Lehrer dagegen
in den Dienst wahrer Tradition stellte, unverkennbar im Fahrwasser von Johannes
Brahms, der bereits 1869 Bearbeitungen von Chopin (f-Moll-Etüde op. 25,2) und
Weber (Finale der C-Our-Sonate op. 24) veröffentlicht hatte. Später beschäftigte er
sich dann vornehmlich mit Johann Sebastian Bach in seiner Doppelbearbeitung des
Prestos aus der g-Moll-Violin-Solosonate sowie der 1877 vollendeten Studie für die
linke Hand nach Bachs d-Moll-Chaconne, die zusammen mit den zwei früheren Bear-
beitungen unter dem Titel Studien for das Pianoforte erschienen. 18
Brahms stützte sich seinerseits auf das Vorbild von Robert Schumann, insbesonde-
re dessen Etudes de Concert, composes d'apres des Caprices de Paganini op. 10. Da aber
Paganini selbst ältere Stücke von anderer Hand miteinbezogen hatte, ergab sich im
Laufe der Jahrzehnte eine ausgedehnte Bearbeitungskette bis zu Rachmaninow und
Fritz Kreisler, um von jüngeren Komponisten des 20. Jahrhunderts wie dem Amerika-
ner George Rochberg völlig zu schweigen. Daß Kreisler es übrigens für nötig hielt,
sogar eigene Kompositionen als Bearbeitungen vorzustellen, mag als ein weiterer Be-
weis gelten für das hohe Ansehen des Genres der Bearbeitung in Kreisen verschieden-
ster Stilrichtungen. Fortschrittlich Gesinnten, allen voran Reger und Schönberg, bot
der Bearbeitungsvorgang nichts weniger als eine unveräußerliche, verhältnismäßig
eingängliche Brücke zu einer Vergangenheit, deren vertrauter Nährboden auch ihren
neuesten und originellsten Werken unentbehrlich war.
Zudem aber entsprang die Idee der Bearbeitung einer romantischen Musikästhetik,
die in der Musik im allgemeinen eine Art tönender Transkription menschlicher Erfah-
rungen, d. h. des menschlichen Innenlebens, erkannte, deren sinn- und gefühlvolle
Wiedergabe Aufgabe des Interpreten war. Im Banne eines solchen vom lebendigen
Kunstwerk beherrschten Begriffsfeldes eröffnete der Bearbeitungsvorgang besonders
Komponisten, die wie Schönberg nicht oder nur wenig als ausführende Musiker tätig
waren, schöpferische Möglichkeiten, sich als Interpreten zu versuchen und zu gleicher
Zeit das Interpretationsvermögen ihrer ausführenden Kollegen in neue Wege zu leiten.
Daß der das 19. Jahrhundert immer stärker bestimmende Gedanke des menschli-
chen Fortschritts das seine dazu beitrug, daß man geneigt war, Werte der Vergangen-
heit der Gegenwart in einem ihr entsprechenden Gewand zugänglich zu machen, be-
darf keiner weiteren Betonung. In diesem Sinn aber unterzogen Komponisten nicht
weniger als Schriftsteller auch eigene Werke oft mehreren Revisionen, es sei denn, daß
sie letzten Endes sogar unvollendet blieben. Die weit ausholende pathetische Ausdrucks-
weise seines Klaviertrios H-Dur op. 8 betrachtete Brahms Ende der achtziger Jahre schein-
bar nicht mehr als "zeitgemäß", jedenfalls nicht im Bereich der Kammermusik. Da
ihm eine Orchesterfassung wie die, welche Schönberg später vom g-Moll-Klavierquartett
anfertigte, in diesem Fall fern lag, begnügte er sich mit einer verkürzten Neufassung,
die sich mühelos zu seiner e-Moll-Symphonie mit jenem beinahe neoklassischen
Chaconne-Finale gesellte.
Der Bach-Bearbeiter Busoni, dessen "Neue Ästhetik" allerdings noch ein Kind der
Romantik war, vertrat die Ansicht, daß jede Notierung an und für sich schon eine
lB Vgl. Kurt Hofmann, Die Erstdrucke der Uierke von]ohannes Brahms, Tutzing 1975, S. 275.
130 Bearbeitung als Interpretation
"Transkription eines abstrakten Einfalls" darstellte. "Mit dem Augenblick, daß die Fe-
der sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt." 19 Diese Über-
zeugung, die zweifellos Friedrich Nietzsches Zustimmung gefunden hätte, ermutigte
ihn denn auch, das Klavierstück op. 11,2 seines Zeitgenossen Schönberg für den eige-
nen pianistischenGebrauch einzurichten. Im Zwiespalt zwischen den Integritäts-For-
derungen seines Werkes und dem verständlichen Wunsch, von einem so berühmten
Pianisten aufgeführt zu werden, beabsichtigte Schönberg ursprünglich wie gesagt, sich
seinerseits mit einer Busoni-Bearbeitung zu revanchieren. Daraus wurde am Ende nichts.
Vielmehr wollte es das Schicksal, daß er Jahre später Busonis Nachfolge in Berlin an-
trat und zwar aus guten Gründen, denn die beiden Künstler standen sich geistig weit-
aus näher, als ihre Kritiker zu begreifen schienen, obwohl der Klavierpädagoge Busoni
Bachs Wohltemperiertes Klavier auf die ihm eigene Weise herausgab, "um ,gleichsam
vom Stamme' die vielseitigen Verzweigungen der heutigen Klaviertechnik abzuleiten
und darzustellen" 20 , während der schöpferische Interpret Schönberg seine Brahms-Quar-
tett-Bearbeitung dem Dirigenten Fritz Stiedry damit begründete, er hätte einmal alles
hören wollen, was der Komponist wohl im Auge hatte, Kammermusiker aber nicht
klanglich vollwertig zu verwirklichen vermochten. 21 Andererseits hätte Busonis Be-
merkung über die Untrennbarkeit von Bearbeitung und Erläuterung im Vorwort zu
seiner Bearbeitung des Wohltemperierten Klaviers L Teil ebensogut von Schönberg stam-
men können, der das ursprüngliche dolce im ersten Takt seiner Brahms-Quartett-Bear-
beitung gerade aus Erläuterungsgründen vermied, um es dann in Takt 11 zu betonen.
Dagegen hob er die im Original unterschiedliche Streicher- und Klavier-Phrasierung
zugunsren einer für alle bindenden neuen Formel auf.
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Ähnlich fehlt der D-Dur-Melodie in Takt 79 das molto espressivo, und anstatt des ur-
sprünglichen Streicher-piano spielen Holzbläser forte legato, während die Streicher das
non legato der Klavierbegleitung teilweise legato übernehmen. Kurz vor der Reprise
19 Ferruccio Busoni, Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkumt. Mit Anmerkungen von Arnold Schönberg
und einem Nachwort von Ham Heinz Stuckemchmidt, Frankfurt a.M. 1974, S. 29.
20 Ferruccio Busoni, "Einfuhrungswort zu ,Das Wohltemperierte Klavier' von J. S. Bach", in: ders., Von
der Einheit der Musik. Von Dritteltönen undjunger Klassizität, von Bühnen und Bauten und amchließen-
den Bezirken. verstreute Aufteichnungen, Berlin 1922, S. 37.
21 Schönberg, Briefe, S. 223.
Bearbeitung als Interpretation 131
verwandelt Schönberg das Klavier-staccato legato in Bläser-staccati. Das poco a poco rit.
vor dem Trio des zweiten Satzes wird zum ritenuto e diminuendo mit Schwellungen in
den hohen Streicherhaltetönen, die bei Brahms völlig fehlen. Kurzum, Schönberg "er-
läutert" zu Recht oder Unrecht auf seine Weise mit der rein subjektiven Begründung,
"seit fast 50 Jahren mit dem Stil von Brahms und seinen Prinzipien gründlich be-
kannt" gewesen zu sein. Nicht allein habe er dessen Kompositionen intensiv für sich
selbst und mit seinen Schülern analysiert, sondern auch "als Violaspieler und Cellist
dieses Werk und viele andere oft gespielt: ich wußte daher, wie es klingen soll. Ich hatte
nur den Klang auf das Orchester zu übertragen, und nichts sonst habe ich getan. "22
Schwierigkeiten ergaben vor allem Brahms' "sehr tiefe Bässe, für welche das Orchester
nur eine kleine Zahl von Instrumenten besitzt", sowie die "volle Begleitung mit gebro-
chenen Akkordfiguren, oft in verschiedenen Rhythmen. Und die meisten dieser Figu-
ren können nicht leicht geändert werden, weil sie in seinem Stil gewöhnlich strukturel-
le Bedeutung haben." Er glaubte, für derartige Probleme adäquate Lösungen gefunden
zu haben, war aber nicht sicher, daß ihre Bedeutung "heutigen Musikern" klar sein
würde, "weil sie die Probleme nicht kennen; und wenn man ihnen sagt, daß es solche
gibt, interessiert es sie nicht. Mir aber bedeuten sie was. "23
Arnold Schönbergs Bach-Bearbeitungen basieren ihrerseits auf einer Tradition, zu
der kein Geringerer als Mozart beigetragen hatte, wenn auch Schönberg sich eher auf
dessen Bearbeitung des Händelsehen Messias berief. In der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts bearbeiteteRobert Franz bis damals noch völlig unbekannte Bach-Kantaten
für den zeitgenössischen Gebrauch, und selbst nach dem Erscheinen der ersten "voll-
ständigen" Bach-Ausgabe erfreuten sich Bach-Bearbeitungen aller Art größter Beliebt-
heit im europäischen Musikleben. Der Polyphonist Schönberg interessierte sich jedoch
vor allem für die Bachsehe Klavier- und Orgelmusik, von der er selbst nach eigener
Aussage unermeßlich viel gelernt hatte, so daß er ihr in seinem Unterricht dann stets
einen dementsprechenden Ehrenplatz einräumte. Das katholische Wien hatte in dieser
Beziehung in seiner Jugendzeit verhältnismäßig wenig zu bieten gehabt, obwohl Franz
Liszt als bearbeitender Interpret auch in katholischen Ländern sein bestes für Bach
getan hatte. Im größtenteils evangelischen Norden Deutschlands war die Bach-Kultur
inzwischen zwar in vollem Aufschwung, nur steckte die Orgelreform, von der Gurlitt-
sehen Praetorius-Orgel in Freiburg abgesehen, sogar in den zwanziger Jahren noch in
den Kinderschuhen. Schönbergs Bach-Bearbeitungen entsprangen daher, wie er selbst
erklärte, seinem eigenen künstlerischen Bedürfnis, Bach gerecht zu werden zu einer
Zeit, in der kein Organist fähig schien, Bachs "im kontrapunktischen Gewebe" sehr
wichtigen Stimmverlauf deutlich zu realisieren. 24 Im Zusammenhang mit seinen 1922
vollendeten Orchesterfassungen der Bachsehen Choralvorspiele Schmücke dich, oh lie-
be Seele und Komm, Gott, Schöpfer, Heiliger Geist berief er sich Jahre später Fritz Stiedry
gegenüber auf Bach selbst, der ja ebenfalls "Instrumentationen, Bearbeitung der Werke
Anderer angefertigt" hatte, und verwies dabei mit Ausrufungszeichen auf Vivaldi. 25
Weiterhin machte er den Dirigenten darauf aufmerksam, daß schließlich niemand ge-
nau wüßte, wie Bach und seine Zeitgenossen einen Generalbaß ausgesetzt hätten und
wie weit ein Künstler mit Phantasie und kontrapunktischem Können darin gegangen ist [...].
III. Wie die Bach-Orgel war, wissen wir knapp!
IV. Wie sie behandelt wurde, wissen wir gar nicht!
V. Nimmt man an, daß die Orgel von heute nur einigermaßen sich darstellt als aus dem Geist
der Bach-Orgel entwickelt, dann ist die große Vermehrung der Register nicht diesem Geist
gänzlich zuwiderlaufend und der Organist, der sein Instrument nicht nur in pleno, sondern
auch differenziert ausnützt, muß alle Register in häufigerer Abwechslung verwenden.
VI. Dann haben Sie die Wahl: ziehen Sie eine Interpretation von Straube oder Ramin oder
sonst einem Organisten einer Bearbeitung von mir vor?"
25 Ebenda, S. 78.
26 Ebenda, S. 78f.
Bearbeitung als Interpretation 133
bare Zeit sichergestellt. Und so mag gerade die Vertiefung in Bachs motivische Ver-
quickungen "in der Horizontalen, sowie in der Vertikalen" dem um eine endgültige
Lösung ringenden Komponisten dazu verholfen haben, den Durchbruch zu jener lerz-
ten Konsequenz einer ruhmvollen polyphonen Schreibweise zu wagen, die für seine
Generation unverbrüchlich mit dem Namen Bach verbunden war. Bereits Mozart ver-
dankte Bach-Studien einen großen Teil seines reifen Stiles; für Beethoven waren sie
Vorbedingungen. So wäre es kaum verwunderlich gewesen, wenn Schönberg, der im
Schatten eines Nietzsche Aufgewachsene, Deutung und Auslegung zum sine qua non
alles schöpferischen Denkens der Zukunft erklärt hätte. Auf jeden Fall scheint es, als
hätte der Mahler-Jünger im vollen Bewußtsein seiner geschichtlichen Aufgabe, die Tra-
dition durch neue Deutungen zu erhalten, im kritischen persönlichen Entwicklungs-
moment durch schöpferische Auseinanderserzungen mit Johann Sebastian Bach we-
nigstens einen Teil jener übermenschlichen Kraft gefunden, ohne die er nicht werden
konnte, was er werden mußte.
Wort und Bild
Arnold Schönberg war geprägt von einer Zeit, in der die Künste als solche oft nur sehr
wenig voneinander getrennt lebten. In seinem Fall ergibt sich dieser Tatbestand allein
daraus, daß er in seinen entscheidenden Jahren, insbesondere im Laufe des Jahrzehnts
vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht nur als Musiker, sondern auch als Maler
schöpferisch tätig war, sich zugleich aber stets mit Dichtern und literarischen Proble-
men im allgemeinen beschäftigte. Davon zeugt nicht nur der bekannte Aufsatz "Das
Verhältnis zum Text", den er 1912 in Wassily Kandinskys Blauem Reiter veröffentlich-
te, sondern auch ein im seihen Jahr an den Dichter Richard Dehmel gerichteter Brief,
in dem er diesem dafür dankte, daß sie "endlich [... ] in persönliche Beziehung gekom-
men" seien. "Denn Ihre Gedichte haben auf meine musikalische Entwicklung ent-
scheidenden Einfluß ausgeübt. Durch sie war ich zum ersten Mal genötigt, einen neu-
en Ton in der Lyrik zu suchen. Das heißt, ich fand ihn ungesucht, indem ich musika-
lisch widerspiegelte, was Ihre Verse in mir aufwühlten." 1 Aber dieses dankbare Be-
kenntnis bezog sich auf die Jahre seiner ersten künstlerischen Reife. Stefan Georges
völlig anders geartete Dichtkunst war es, die ihm inzwischen zu jenem "Durchbruch"
von 1908/09 verholfen hatte, aus dem "alles weitere" hervorging. Im Gegensatz zu
Dehmel, der Schönberg in seinem musikalischen Schaffen schon vor 1900, keineswegs
nur im Streichsextett Verklärte Nacht op. 4, zur Seite stand, spielte Stefan George aller-
dings nur eine verhältnismäßig kurze Anzahl von Jahren entscheidend mit. Denn die
kompositorischen Folgen des ihm zugeschriebenen Durchbruchs wiesen Schönberg
abermals in neue Richtungen.
Kaum zufällig war es Dehmel, den er um ein Projekt anging, "das als Inhalt haben
sollte: Wie sich der Mensch von heute, der durch den Materialismus, Sozialismus,
Anarchie durchgegangen ist, der Atheist war, aber sich doch ein Restchen alten Glau-
bens bewahrt hat (in Form von Aberglauben), wie dieser moderne Mensch mit Gott
streitet (siehe auch: Jakob ringt von Strindberg) und schließlich dazu gelangt, Gott zu
finden und religiös zu werden". 2 Es handelte sich also um grundlegende religiöse Fra-
gen, die er einem Dichter vorlegte, dem durchaus ähnliche Probleme am Herzen lagen.
Zugleich beweist Schönbergs Ansuchen aber auch, daß er Ende 1912 nicht zuletzt
Strindberg im Auge hatte, dessen Geist bereits über dem "Drama mit Musik" Die glück-
liche Hand op. 18 schwebte.
Das hier skizzierte Projekt kam jedoch ebensowenig zustande wie seine Weiterent-
wicklung im Sinn einer Symphonie mit Chor und Solisten nach Gustav Mahlers Vor-
bild. Dennoch war es nicht allein seine unsichere finanzielle Stellung in Berlin ge-
schweige denn der Ausbruch des Krieges zwei Jahre später, die den ursprünglichen
Plan vereitelten, sondern ein Schritt, den er sich lange Zeit nicht zugetraut hatte. Er
Joachim Birke, "Richard Dehmel und Arnold Schönberg: ein Briefwechsel", in: Die Musikforschung
11 (1958), S. 282.
2 Ebenda.
Wort und Bild 135
beschloß nämlich, seine Texte fortan soweit wie möglich selbst zu gestalten, zumal eine
neue musikalische Sprache wie die seine nicht nur ein neues "Verhältnis zum Text"
forderte, sondern auch grundsätzliche Änderungen in der textlichen Substanz. Die
philosophische Grundlage war bereits 1910 mit der Veröffentlichung der ersten
Schönbergsehen ,,Aphorismen" geschaffen.
"Kunst ist der Notschrei jener, die an sich das Schicksal der Menschheit erleben", heißt es da.
"Die nicht mit ihm sich abfinden, sondern sich mit ihm auseinandersetzen. Die nicht stumpf
den Motor ,dunkle Mächte' bedienen, sondern sich ins laufende Rad stürzen, um die Kon-
struktion zu begreifen. Die nicht die Augen abwenden, um sich vor Emotionen zu behüten,
sondern sie aufreißen, um anzugehen, was angegangen werden muß. Die aber oft die Augen
schließen, um wahrzunehmen, was die Sinne nicht vermitteln, um innen zu schauen, was nur
scheinbar außen vorgeht. Und innen, in ihnen ist die Bewegung der Welt; nach außen dringt
nur der Widerhall: das Kunstwerk. "3
Einerseits betrat Schönberg damit seinen eigenen dichterischen Weg, betätigte sich
andererseits aber gerade zu dieser Zeit als eigenwilliger Maler. Seine Gemälde - zu-
meist sind es Selbstporträts - wenden die Augen so gut wie nie ab, schauen allerdings
oft so starr vor sich hin, daß sie ebenso gut geschlossen sein könnten, offensichtlich
"um wahrzunehmen, was die Sinne nicht vermitteln, um innen zu schauen, was nur
scheinbar außen vorgeht". Die Musikgeschichte kennt wohl kaum einen anderen Fall,
wo ein Komponist zu einer bestimmten Zeit der Gesamtheit der Künste huldigte, um
im kritischen Augenblick einer einzigen zum unwiderruflichen "Durchbruch" zu ver-
helfen. Was mit Dehmel begann, mit George fortfuhr, Strindberg streifte und schließ-
lich auch Rilke, fand seine letztendliche Bestimmung in der literarischen Mündigkeit
des Komponisten selbst.
Der erste große, wenn auch problematische Versuch zeitigte das kaum 25 Minuten
in Anspruch nehmende "Drama mit Musik", das Schönberg wenige Monate nach dem
Erscheinen der Aphorismen in seine "glückliche Hand" nahm. Es ist ein gezielt wort-
karges Ton- und Farbenspiel, in dem Edvard Munchs grauenerweckender Schrei film-
artig mit Seitenblicken sowohl aufStrindberg als auch aufRichard Wagner im wahrsten
Sinne des Wortes auskomponiert erscheint. Was ein deutscher Kritiker Jahre vorher
über Strindbergs Traumspiel zu sagen hatte, vermittelt auch etwas von dem überwälti-
genden Eindruck einer gefühl- und verständnisvollen Aufführung dieses Schönbergsehen
Traumspiels: "Es steigt auf wie ein großes Orchesterwerk, eine Symphonie, deren Stim-
men tosen und rasen, einander zerreißen, sich wieder vereinigen und sich zu einem
einzigen Klageschrei über die Ungewißheit, den Jammer und die Enttäuschungen des
menschlichen Lebens erheben. "4 Zeit und Raum, Handlung und persönliches Schicksal
im traditionellen Sinn sind hier kaum von Bedeutung. Und Schönberg erkannte später
3 Arnold Schönberg, Schöpferische Konfessionen, hg. von Willi Reich, Zürich 1964, S. 12.
4 BoBergman in: Die Schaubühne III,1 (1907). Neudruck in: Strindbergaufderdeutschen Bühne, hg. von
Hans-Peter Bayersdörfer, Hans Otto Horch und Georg-Michael Schulz, Neumünster 1983, S. 180.
136 Wort und Bild
selbst, daß seine ursprüngliche Absicht, "mit den Mitteln der Bühne" zu musizieren,
schließlich dazu führte, daß Die glückliche Hand "sozusagen mit Begriffen musiziert". 5
Der allzu früh verstorbene Dresdner Lyriker und Kritiker Walter Rheinerbemerkte
einmal im Zusammenhang mit dem protoexpressionistischen Charakter Strindbergscher
Stücke wie Traumspiel, daß ein expressionistisches Drama strenggenommen eine Un-
möglichkeit darstellt. Beim expressionistischen Schauspiel handelt es sich vielmehr
um "eine Bühnenhandlung, an der die transzendentale Idee durch die auftretenden
Objekte (Personen und andere Objekte) zu realisieren versucht wird". 6 Wo die
physische Realität der metaphysischen weicht, greift Strindberg denn auch mit Vorlie-
be nach Musik, während Schönbergs jüngerer Zeitgenosse Oskar Kokoschka in ähnli-
chen Situationen seinerseits "sozusagen mit Licht musiziert". In Die glückliche Hand,
Schönbergs knapp gefaßtem, aber vom Ewig-Menschlichen handelnden multimedia
event, dienen Musik und Licht dagegen untrennbar einer einzigen transzendentalen
Idee, der er nach eigener Aussage "damals Gestalt zu verleihen gedrängt war: Glückli-
che Hand, die zu packen sucht, was ihr nur entschlüpfen kann, wenn sie's hält. Glück-
liche Hand, die nicht hält, was sie verspricht. " 7
Schönberg legte die letzte eigene Hand an dieses sein erst 1924 uraufgeführtes
Schmerzenskind am 20. November 1913. Und damit "entschlüpfte" auch ihm, was er
jahrelang "zu packen" vermochte, nämlich jene seiner Umwelt oft so verhaßten, mit
hergebrachten romantischen Schönheitsvorstellungen unvereinbaren Spannungsballun-
gen eines musikalischen und verbalen Expressionismus, der sich auf die Dauer einfach
nicht aufrechterhalten ließ, obwohl er einem beispiellosen Drang nach absoluter Wahr-
heit des künstlerischen Ausdrucks entsprang. Die unerwartete Gelegenheitsarbeit der
21 Melodramen aus Albert Girauds Pierrot Iunaire in Otto Erich Hartlebens eher sur-
realistischer Fassung hatte ihn schon im Vorjahr in eine etwas andere Richtung gewie-
sen. Jahrzehnte später bezeichnete Igor Strawinsky dieses inzwischen weltberühmte
Werk als den "Solarplexus" der modernen Musik. Für Schönberg aber war es, wie er
Wassily Kandinsky im August 1912 gestand, "vielleicht dem Stoff, dem Inhalt nach
kein Herzensbedürfnis" gewesen. "Wohl aber der Form nach. Jedenfalls für mich be-
merkenswert, als eine Vorstudie zu einer anderen Arbeit, an die ich mich jetzt machen
will: Balzacs Seraphita. "8 Tatsächlich war diesem Schönberg faszinierenden Werk eine
Rolle in dem im Brief an Richard Dehmel erwähnten großen Projekt zugedacht, das,
obwohl es als solches nicht zustandekam, dann aber im unvollendeten Oratorium Die
Jakobsleiter auf einzigartige Weise Verwirklichung fand.
Zunächst widmete er sich jedoch der Vollendung des multimedialen "Drama mit
Musik", dessen Text, vom symmetrischen Rahmen der einleitenden und abschließen-
den, von je sechs geheimnisvollen Männern und Frauen gesprochenen und gesunge-
nen Worte abgesehen, aus ganzen fünfzehn Zeilen besteht, in der Mehrzahl sogar nur
5 Arnold Schönberg, Stil und Gedanke. Auflätze zur Musik (Gesammelte Schriften I), hg. von lvan Vojtech,
Frankfurt a.M. 1976, S. 238.
6 Strindberg aufder deutschen Bühne, S. 296.
7 Schönberg, Stil und Gedanke, S. 239.
8 Arnold Schönberg I Wassily Kandinsky, Briefe, Bilder und Dokumente einer außergewöhnlichen Begeg-
nung, hg. von Jelena Hahl Koch, München 1981, S. 68.
Wort und Bild 137
"Der Mann hat dieses Crescendo des Lichts und des Sturmes so darzustellen, als ginge beides
von ihm aus. Er sieht erst (beim rötlichen Licht) auf seine Hand: Die sinkt dann, sichtlich
ermattet, langsam; seine Augen werden aufgeregt (schmutzig-grünes Licht). Seine Aufregung
wächst; die Glieder spannen sich krampfartig; er streckt zitternd beide Arme von sich (Blutrot),
reißt die Augen weit auf und öffnet entsetzt den Mund. Wenn das gelbe Licht da ist, muß sein
Kopf so aussehen, als ob er platzen würde."
Und dabei handelt es sich um einen einzigen längeren Augenblick in der dramatisch
entscheidenden Grottenszene des dritten Bildes, wo der "Mann" im Gegensatz zu Wag-
ners Wotan, seinem offensichtlichen Vorbild, den Goldschmuck für das "Weib", das er
begehrt, eigenhändig anfertigt. Wenn die Geliebte ihm dann doch "entschlüpft", er
aber noch stets glaubt, sie bei der Hand zu führen, ertönt "Höhnisches Lachen" als
Übergang zum letzten Bild, wo derselbe in Halbdunkel gehüllte Chor, der ihn anfangs
so dringend mahnte, doch endlich seine unerfüllbare Sehnsucht nach irdischem Glück
aufzugeben, deutlich enttäuscht, aber kaum überrascht von der traurigen Macht seiner
Begierden, sich ein letztes Mal "anklagend streng" an ihn und mit ihm an eine schein-
bar unverbesserliche Menschheit wendet:
",Mußtest du's wieder erleben, was du so oft erlebt? Mußtest du? Kannst du nicht verzichten?
Nicht dich endlich bescheiden? Ist kein Friede in dir? Noch immer nicht! -- Suchst zu packen,
was dir nur entschlüpfen kann, wenn du's hältst. Was aber in dir ist und um dich, wo du auch
seist. Fühlst du dich nicht? Hörst du dich nicht? Fassest nur, was du greifst! Fühlst du nur, was
du berührst, deine Wunden erst an deinem Fleisch, deine Schmerzen erst an deinem Körper?
Und suchst dennoch!
Und quälst dich!
Und bist ruhelos!'
(In das Graublau, das auf die Gesichter f'äl!t, mischt sich etwas Rot.)
,Du Armer!'
Es wird langsam ganz finster und der Vorhang fällt."
In Strindbergs Legenden bringt eine unsichtbare Orgel noch nie gehörte "Töne, Har-
monien" zum Erklingen, die dem Erzähler jedoch "vorkommen wie Erinnerungen an
die Zeiten der Vorfahren oder an noch entferntere Tage. Wo hat der Komponist sie
hergenommen?" Strindbergs zögernde Antwort bezieht sich auf mögliche Erinnerun-
gen an einen Zustand, "nach dem sich jeder Mensch in seinen besten Augenblicken
zurücksehnt; und im Gefühl des Vermissens selbst muß ja ein dunkles Bewußtsein von
etwas Vermißtern liegen, das man früher besessen hat". 9 Der Gott suchende Dichter
trägt sich mit diesen Gedanken beim Besuch einer Pariser Kirche: "Sechs Lichter sind
am Altar angezündet: der Priester in Weiß, Rot und Gold spricht nicht, aber seine
Hand flattert mit den graziösen Bewegungen eines Schmetterlings über einem Buch."
Schließlich "geschieht erwas Seltsames, Schönes, Hohes da vorn in der Ferne zwischen
Gold, Rauch und Licht". Genau was da vor sich geht, ist dem Besucher nicht deutlich;
er fühlt nur: "das hast du schon erlebt und mitgelebt ... ".
In Richard Dehmels von Strindbergschen Geistern und Gespenstern wimmelnder
Gottesnacht wiederum beginnt im dritten Traum "was wie ein Haupt war, [... ] zu er-
glänzen, und entsteigt dem schwarz aufstarrenden Hain, und ist ein großer glanzvoller
Mond. Er glänzt nicht so fahl wie ein nächtlicher Mond, er glänzt nicht so grell wie
eine Sonne; er glänzt wie ein Tautropfen in der Frühe, und alle Farben klären sich auf."
Und so "enrwinkt er [Dehmels Traumführer] der verklärten Nacht einen zweiten sol-
chen glanzvollen Mond" . 10 Der Dichter sieht "auf einmal nur lauter Licht" und fühlt
"nur blindlings ein leuchtendes Schweben ins grenzenlose Blaue hinein ... das Leuchten
wird immer feuriger... ich höre von oben her singende Stimmen, zweistimmig aus un-
sichtbarer Ferne ... ". Schließlich, nach einem wahren Crescendo des Grausens, "wäh-
rend ein herzzerreißender Klageschrei mir die glanzgebadeten Augen aufreißt, höre
ich, daß es mein eigener Schrei ist, von dem ich unter Tränen erwacht bin"Y Sein
Ende findet dieser von unaufhörlich wechselnden Farben begleitete Alptraum mit den
nur scheinbar tröstenden Worten:
Raum und Zeit, ihr Verhältnis zueinander, zur Natur und zum Menschen sind selbst-
verständlich uralte philosophische und künstlerische Themen, die zu Arnold Schön-
bergs Zeiten nicht allein in der Gestalt von Albert Einstein erneut zur Diskussion
standen. Sigmund Freud bekannte gern seine Schuld an dieselbe reiche literarische
Tradition, der u. a. auch Marie Pappenheims Text für Schönbergs "Monodram" Erwar-
tung op. 17 entsprang, jenes "Nachtstück", in dem der Mond eine nicht zu unterschät-
zende Rolle spielt. Im Jahr der Verklärten Nacht hatte Dehmels Gedicht "Erwartung",
zumindest dessen farbenreicher einleitender Satz, Schönbergs womöglich stimmungs-
vollstes frühes Lied angeregt: ,,Aus dem meergrünen Teiche neben der roten Villa unter
der toten Eiche scheint der Mond." Rückblickend erklärte er später, er habe Stefan Georges
Gedichte "bloß aus dem Klang heraus vollständig vernommen". 12 Das von einer einzigen
Motivkombination beherrschte Dehmel-Lied aus dem Jahr 1899 vernahm er dagegen
vom ersten bis zum letzten Takt "aus dem farbfreudigen Anfang heraus".
Schönbergs kategorischer Ausdruckswille machte sich natürlich auch in der Far-
bensymbolik seiner eigenen Bilder bemerkbar. Obwohl er auf dem Gebiet der Bilden-
den Künste wie in der Musik im Grunde genommen Autodidakt war, sprach ein Wie-
ner Kritiker anläßlich seiner ersten, fünfZig Gemälde und Zeichnungen umfassenden
Ausstellung 1910 in Wientrotz gewisser Vorbehalte von einer unverkennbaren "Doppel-
befähigung".13 Angesichts der späteren dichterischen und schriftstellerischen Leistun-
gen des Komponisten könnte allerdings eher von einer Tripelbegabung die Rede sein.
Jedenfalls war er in Kandinskys Blauer Reiter-Ausstellung 1912 bereits prominent ver-
treten. Neben einem Selbstporträt hatte er drei Bilder mit dem Titel Blicke eingesandt,
die Kandinsky im Katalog nicht zu Unrecht "Visionen" nannte. Sie verkörpern näm-
lich fast wesenlos jene in Schönbergs erstem Aphorismus formulierte Notwendigkeit,
einerseits die Augen aufZureißen, "um anzugehen, was angegangen werden muß", sie
jedoch zu "schließen, um wahrzunehmen, was die Sinne nicht vermitteln". Über seine
technischen Fähigkeiten als Maler machte er sich kaum Illusionen. Um so stärker aber
war sein ebenfalls 1910 erstmalig öffentlich bezeugter Glaube: "Kunst kommt nicht
von Können, sondern von Müssen." 14 In einem Dankbrief an Kandinsky, der ihm
fotographische Reproduktionen eigener Bilder geschickt hatte, drückte er sich etwas
ausführlicher aus:
"Jede Formung, die traditionelle Wirkungen anstrebt, ist nicht ganz frei von Bewußtsein-Akten.
Und die Kunst gehört aber dem Unbewußten! Man soll sich ausdrücken! Sich unmittelbar ausdrük-
ken! Nicht aber seinen Geschmack oder seine Erziehung oder seinen Verstand, sein Wissen, sein
Können. Nicht alle diese nichtangeborenen Eigenschaften. Sondern die angeborenen, die triebhaf
ten." Worum es letzten Endes geht, ist, daß "der Künstler einmal dahin gelangt, in den Rhythmen
und Tonwerten nur den Ausdruck innerer Vorgänge, innerer Bilder zu wünschen". 15
Und genau darum ging es ihm in seinem "Drama mit Musik", wo Farben zu Musik
werden, Musik Farben hervorbringt, und die Sprache als solche in den Hintergrund
gerät. Nicht umsonst hinterließ er eine ganze Serie von Malereien zur Verdeutlichung
seiner Vorstellungen von den "Rhythmen und Tonwerten" vergleichbaren äußeren Er-
scheinungen als ,,Ausdruck innerer Vorgänge".
Ein Jahrzehnt lang blieb der Lieder-Komponist der naturalistischen Lyrik treu, ver-
treten nicht nur durch Dehmel, sondern u. a. auch Hermann Lingg, Johannes Schlaf,
Julius und Heinrich Hart. Maurice Maeterlincks Symbolik fand eher in der breit ange-
legten symphonischen Dichtung Pelleas und Melisande angemessenen Ausdruck ähn-
lich wie Jens Peter Jacobsens nordische Romantik in dem großen Frühwerk Gurre-
Lieder. Stefan George kam erstmalig 1907 in den zwei letzten Sätzen des Zweiten Streich-
quartetts op. 10 zu Worte und dann auf unvergleichliche Weise mit dem Liederzyklus
Das Buch der hängenden Gärten op. 15. Im Finale des Quartetts sorgt Georges "Entrük-
kung" nicht nur dichterisch-metaphorisch für "Luft von anderem Planeten". Das Ge-
dicht bewirkt auch, daß harmonische Konventionen "in Tönen kreisend" das Weite
suchen. Und als gelte es, den geistigen Zusammenhang aller wahren Künste hervorzu-
13 Amold Schönberg 1874-1951. Lebensgeschichte in Begegnungen, hg. von Nuria Nono-Schoenberg, Kla-
genfurt 1992, S. 74, Nr. 170.
14 Schönberg, Stil und Gedanke, S. 165.
15 Schönberg/Kandinsky, Brieft, Bilder und Dokumente, S. 21 f.
140 Wort und Bild
heben, zitierte der Komponist den betreffenden Melodiebeginn auf einer Photogra-
phie von sich selbst, die er Kandinsky auf dessen Verlangen 1911 schickte. 16 Im Jahr
zuvor hatte der revolutionäre Maler seine Abhandlung Über das Geistige in der Kunst
beendet, womit sich Schönberg in seiner langjährigen Hoffimng bestätigt fühlte, "daß
jene, die nach dem Text, nach dem Stoffiichen fragen, bald ausgefragt haben werden". 17
Dehmel, der Sänger großer Seelen und Gefühle, verriet vor allem in seinen späte-
ren Werken unverkennbar mystische Tendenzen, die dem als Jude geborenen Prote-
stanten Schönberg unter dem Eindruck von August Strindberg zunächst durchaus zu-
sagten. Wies er doch anläßlich des 100. Geburtstages von Franz Liszt ausdrücklich auf
dessen Christus-Oratorium hin, ein dem Geist der katholischen Kirche eng verbunde-
nes Werk, an das, wie Schönberg meinte, "vielleicht schon die allernächste Zeit wieder
anknüpfen" würde, "denn unsere Zeit sucht wieder ihren Gott; und das ist noch cha-
rakteristischer für sie als die hervorragendsten technischen Errungenschafren" . 18 1911
muteten dergleichen Worte weitaus weniger hellseherisch an als aus heutiger Sicht.
Religiöse Themen, insbesondere Fragen der religiösen Neuorientierung, standen in
den letzten Vorkriegsjahren im deutschen Sprachgebiet im Mittelpunkt zahlreicher theo-
logischer Debatten, erregten aber auch das Interesse allgemein philosophischer und
literarischer Kreise. Insbesondere lieferte die politische Entwicklung assimilierten so-
wie bereits zum Christentum übergetretenen Juden gute Gründe, sich über ihre zwie-
spältige Existenz Gedanken zu machen.
1911 war ein Krisenjahr für Schönberg und zwar nicht nur in geistiger Hinsicht.
Schon am 30. Januar entschloß er sich in einem Zustand größter Verzweiflung, sein
Testament zu machen. Und gewisse Anzeichen weisen darauf hin, daß er angesichts
seiner katastrophalen finanziellen Lage sogar an Selbstmord dachte. Auf jeden Fall be-
reitete er sich innerlich darauf vor, Wien früher oder später verlassen zu müssen. Dazu
kamen anhaltende Nachwirkungen der unseligen Liebesaffäre seiner Frau Mathilde
Zemlinsky mit dem hochbegabten jungen Maler Richard Gerstl, die 1908 mit dessen
Freitod geendet hatte. Insofern, als bei Schönberg überhaupt von einem Malerei-Stu-
dium gesprochen werden kann, war es Gerstl, dem er technische Winke verdankte.
Künstlerische Niederschläge fand diese traurige Episode jedenfalls nicht nur in einer
ganzen Reihe quasi psychoanalytischer Selbstporträts, sondern ganz unverkennbar auch
in den eng miteinander verwandten Einaktern Erwartung op. 17 und Die glückliche
Hand op. 18. Vor allem aber beschleunigten die peinlichen Erlebnisse dieser Zeit, dar-
unter auch die großenteils negative kritische Rezeption seiner Gemälde, eine innere
Abwendung von der alles umfassenden Gegenständlichkeit des modernen Lebens. Der
fast heilige Ernst, mit dem er sich fortan geistigen Werten und Werken widmete, kam
selbst in der völlig aus dem konventionellen Rahmen fallenden Harmonielehre zum
Ausdruck, in der Handwerk und Ethik untrennbar verknüpft in Erscheinung treten.
Das unter schwersten Umständen vollendete Werk erschien im Herbst 1911, nicht
lange nach dem Tod von Schönbergs Mentor Gustav Mahler, dem es in Dank und
Ehrfurcht gewidmet ist. Bereits einige Monate vor Mahlers Tod hatte SchönbergAlma
Mahler geschrieben: "Wenn aber Mahler nicht in Wien ist, dann gibts kaum mehr
Wien." 19 Und jetzt, da sein Idol das Zeitliche gesegnet hatte, verlor er keine Zeit und
entfloh mit Kind und Kegel nach Berlin. Zugleich aber nahm Mahler in seiner Vorstel-
lung deutlich übermenschliche Dimensionen an, ging er doch im nächsten Jahr in
seiner Prager Gedenkrede so weit, zu erklären, daß in Mahlers Neunter Symphonie der
,,Autor kaum mehr als Subjekt" erkennbar sei. "Fast sieht es aus, als ob es für dieses
Werk noch einen verborgenen Autor gebe, der Mahler nur als Sprachrohr benützt hat. "20
Die Idee des modernen Künstlers als Prophet, als Herold des Überirdischen auf
Erden, im Kurzdrama Die glückliche Hand zum Teil noch von autobiographischen Re-
flexionen überschattet, bildet im nur oberflächlich besehen unvollendet gebliebenen
Oratorium Die Jakobsleiter bereits den Kernpunkt einer Religiosität reinster Ethik im
Sinn von Martin Buher, d. h., im Unterschied zu irgendeiner bestimmten Religion.
Buher betonte nämlich, daß wahrer Glaube nach altjüdischer Tradition im ethischen
Verhalten, in der Ethik des Tuns, Ausdruck findet, und genau dieser Begriff erlangte
für Schönbergs reifes Schaffen weitaus größere Bedeutung als "die hervorragendsten
technischen Errungenschaften", mit denen er bereits im Zusammenhang mit Franz
Liszt abgerechnet hatte. Im übrigen erklärte er in seinen noch im Jahr vor dem Liszt-
Aufsatz veröffentlichten Gedanken zur Verbesserung des Kunstunterrichts: "Der Glau-
be an die alleinseligmachende Technik müßte unterdrückt, das Bestreben nach Wahr-
haftigkeit gefördert werden. "21 Unter diesen Umständen verwundert es kaum, daß er
im Lauf der langjährigen Gährungsperiode seines Jakobsleiter-Projekts langsam, aber
sicher zu der Einsicht gelangte, daß kein Anderer als er selbst imstande sein würde,
einen seinen genauen Vorstellungen entsprechenden Text zu verfassen. Kurzum, seine
neu gefundene kompromißlose Religiosität machte den malenden Komponisten zum
komponierenden Dichter, allerdings erst, nachdem er es noch einmal mit Richard
Dehmel versuchte im Zusammenhang mit jenem Oratorium, dessen Thema, wie ge-
sagt, das religiöse Dilemma des modernen Menschen sein sollte: "Die Sprachweise, die
Denkweise, die Ausdrucksweise des Menschen von heute sollte es sein; die Probleme,
die uns bedrängen, sollte es behandeln[ ... ]." Sein erster Impuls war gewesen, den Text
selbst zu verfassen, er hatte es sich letzten Endes aber doch nicht zugetraut. Anderer-
seits schien ihm auch eine Bearbeitung von Strindbergs Jakob ringt oder des Schlußka-
pitels von Balzacs Seraphita, "Die Himmelfahrt", für seine Zwecke ungeeignet. Denn
er war entschlossen, "mit positiver Religiosität" zu beginnen. Und da es ihm um "das
Gebet des Menschen von heute" ging, hoffte er immer noch: "Wenn doch Dehmel...!" 22
Er selbst war mit ganzem Herzen bei der Sache, suchte aber dennoch Dehmels Mei-
nung: "Ich weiß wirklich nicht, ob man Ihnen mit einer derartigen Zumutung kom-
men darf. Aber ich wüßte mich doch zu entschuldigen: Ich muß das komponieren!
Denn ich habe das zu sagen. "23
Dehmel antwortete unverzüglich und begeistert mit Vorschlägen von bereits ferti-
gen Texten. Insbesondere plädierte er für sein Oratorium natale. Es war allerdings ver-
lorene Mühe, weil Schönberg sich auf den alttestamentarischen Begriff vom "Streit mit
Gott" versteifte, wofür der christlich erzogene Dichter kaum Verständnis aufzubringen
vermochte. So kam es, daß er den Text nach einigen Anläufen 1915 selbst zu schreiben
begann. Kurze Zeit zuvor hatte er sich in drei der vier Orchesterlieder op. 22 noch auf
Rainer Maria Rilke gestützt, mit dessen vielsagenden Worten ,,Alle welche dich su-
chen" eines der Lieder beginnt, ein anderes mit "Mach mich zum Wächter deiner
Weiten", während der einleitende, bereits 1913 komponierte Gesang nicht zufällig
noch auf Stefan Georges deutscher Fassung von Ernest Dowsons Seraphita beruht.
Die Jakobsleiter beginnt mit der Mahnung Gabriels an Unzufriedene, Zweifelnde,
Jubelnde, Gleichgültige sowie Sanftergebene, zu tun, was getan werden muß, ohne
sich im geringsten aufhalten zu lassen: "Ob rechts oder links, vorwärts oder rückwärts,
bergauf oder bergab - man hat weiterzugehen, ohne zu fragen, was vor oder hinter
einem liegt. Es soll verborgen sein: ihr durftet, mußtet es vergessen, um die Aufgabe zu
erfüllen." In der "Unbedingtheit seiner Tat" sah Buher den Weg zur "Gemeinschaft
mit Gott"- ein Begriff übrigens, der in Schönbergs letzten Dichtungen, den Modernen
Psalmen, wortwörtlich nochmals auftaucht. Für "den Geschehenlassenden, den in sei-
ne Zwecke Verstrickten ist Gott ein unbekanntes Wesen jenseits der Welt", heißt es bei
Buher; "für den Wählenden, den sich Entscheidenden, den um sein Ziel Entbrennen-
den, den Unbedingten ist er das Nächste, das Vertrauteste, das er selber handelnd ewig
neu verwirklicht und erlebt. " 24 In Schönbergs Jakobsleiter- Text brüstet sich "ein Beru-
fener'', er habe kein Mittel gescheut auf seiner Suche nach Schönheit: ,,Alles habe ich
geopfert; kein Zweck war mir heilig[ ... ] kein Leid konnte an mich heran, keine Bewe-
gung die meinige verändern! Ich sah nur meine Sonne, vernahm nur den Rhythmus
der Schönheit." Ein ,,Aufrührerischer" beklagt die scheinbare Machtlosigkeit des Herrn
der Gebote, "wenn er seine Schafe der Qual und Verfolgung, selbstgeschaffener und
von Fremden angetaner, ausliefert". Ein "Ringender", der immer sein "Bestes" getan
hat und doch nie "Recht von Unrecht zu scheiden" vermochte, fragt verzweifelt: "War-
um ward uns kein Sinn gegeben, ungesagte Gesetze zu ahnen, kein Auge da zu sehen,
kein Ohr da zu hören?" Gabriel, der natürlich weiß, daß "kein Ohr" fähig wäre, die
einzig mögliche Antwort aufzunehmen, fordert schließlich den "gegen seinen und eu-
ren Willen" Auserwählten auf, näherzutreten. Und in diesem "feierlich[ ... ] vom Chor-
gesang, ohne Text, ppp" begleiteten Augenblick rafft sich der Dichter-Komponist zu
zwei höchst persönlichen Sätzen auf, in denen die "Unbedingtheit" seiner eigenen
Mission, trotz aller Ambivalenz, deutlich zum Ausdruck kommt: "Ich sollte nicht nä-
her, denn ich verliere dabei. Aber ich muß, so scheint es, mitten hinein, obgleich mein
Wort dann unverstanden bleibt."
Im zweiten, unkomponiert gebliebenen Teil der Jakobsleiter versprechen noch stets
hoffende Seelen, um jeden Preis "Wahrheit zu künden". Der "Berufene" erklärt sich
bereit, "tausendfach" für Wahrheit zu leiden. Der "Ringende" beteuert: "nimmer gäb'
ich mich irdischer wieder--." Der ,,Aufrührerische" will "diesmal Demut erlernen".
Nur der anonyme ,,Auserwählte" ist im Stimmengewirr der geretteten und gesunkenen
Seelen, der Dämonen und Genien, unsicher geworden. Er fragt sich: "Bin ich über-
haupt hoch oder niedrig?" Und die göttliche Antwort ist: "Weder eins noch das andere:
du bist die unvollendete Vollkommenheit und oft auch: die vollendete Unvollkom-
menheit [...] sieh dich um; du kannst strebende Seelen sehen, die nicht mit Unrecht
dich schätzen und Heil von dir erwarten. Bring es ihnen!" Und wie er sich umsieht und
Gläubige, Tätige und Tüchtige, Ehrliche, Demütige, Barmherzige und Einsame er-
schaut, hört er von oben die Frage: "Erkennst du nicht überall Züge, die dir verwandt
sind?" Sein Blick haftet noch wie gebannt auf den zahllosen schwankenden, unvoll-
kommenen, beschränkten Seelen, den Halbwissern und Verlorenen; da fährt die Stim-
me, ohne eine Antwort abzuwarten, bereits fort mit Worten, die der Komponist wohl
den tiefsten Regionen seiner Seele entrang: "Sieh die, es sind Verfolgte, gleich dir ... "
und schließlich "In dir ist alles gesammelt, was Wesen der Geschöpfe, so bist du als
Vorhut des Geistes, der einst die Teile zu sich zieht, im Kleinen ein Abbild der Zu-
kunft, ihrmaßen du dich entwickelst. Dich fördernd hebst du auch sie. Acht sie gering,
du leidest für sie; du leidest mit ihnen; hab Mitleid für sie."
Die 1912 geplante große Symphonie, aus der Die Jakobsleiter letzten Endes hervor-
ging, wollte Schönberg mit Bibelversen der Propheten Jesaia und Jeremias ausklingen
lassen. Jeremias war bekanntlich der sowohl warnende als auch tröstende Prophet, der
die furchtlose Erfüllung seiner Mission, die Wahrheit zu künden, und sei sie noch so
hart, ohne je vom vorgeschriebenen Weg abzuweichen, mit schwerem Leiden bezahlte.
Jesaia wiederum schob zunächst "unreine Lippen" vor, konnte dem kategorischen Im-
perativ seiner Mission aber ebenfalls nicht entgehen. Und so weiß denn auch der "Aus-
erwählte" der Jakobsleiter sehr wohl, daß kein wirklich schöpferisch begabter Mensch
sich seiner Aufgabe entziehen kann noch darf, auch wenn das bedeutet, daß sein "Wort
dann unverstanden bleibt". Unreinheit ist das Los des gesamten Menschengeschlechts
und somit kein Entschuldigungsgrund. Ganz im Gegenteil, verdeutlicht Gabriel, der
Mensch "muß schaffen, solange er unrein ist; aus sich heraus schaffen". Und dem
Mönch, der die Zwecklosigkeit seiner täglichen Opfer beklagt und hier stellvertretend
für das biblische Priestertum auftritt, hält er vor Augen: "Der Sünde wirst du noch oft
verfallen, denn Sünden sind Strafen, die reinigen. Jedoch, daß du sie jetzt schon als
Sünden erkennst, die Taten, bei denen du dich früher noch für schuldlos hieltest, macht
dich reifer. Geh; verkünde; und leide; sei Prophet und Märtyrer."
1932, als der Vormarsch der Nationalsozialisten kaum mehr aufzuhalten war, no-
tierte der offiziell noch stets evangelische Komponist: ,,Als Jude, als Angehöriger einer
Nation, ja einer Rasse von Märtyrern, stelle ich den Märtyrer über den Helden. [... ]
Nimm dem Helden den Feind, so gibt es keinen Helden mehr. Das Kampfbedürfnis,
der Trieb muß sich einen Feind schaffen; das wissen wir auf allen Gebieten des Le-
bens. "25 Jahre zuvor- AdolfHitler beschäftigte sich in seiner angenehmen Haft gerade
mit Mein Kampf- erklärte Schönberg in seinem unaufgeführt gebliebenen Speech-
drama Der biblische \.Vt>g durch den Mund des weisen Asseino an der Bahre des Helden
25 JosefRufer, Das Werk Arnold Schönbergs, Kassel usw. 1959, S. 169, Dokumenr K 2.
144 Wort und Bild
Aruns, der den Weg seines bedrängten Volkes mit Hilfe der letzten technischen Errun-
genschaften zu bahnen suchte:
"Der Gedanke, empfangen in Wonne, geboren unter Schmerzen, großgebracht unter Entbeh-
rungen, läßt, so wie Gott keine Vorstellung zuläßt, keine materielle Verwirklichung zu. Wer
sich dem Gedanken ergibt, muß entweder auf den Versuch der Verwirklichung verzichten oder
aber sich mit einer Verwirklichung begnügen, welche er nicht erleben möchte. Darum werden
alle, die einem Gedanken leben müssen, zu Märtyrern an ihm; darum werden immer andere die
Früchte seines Wirkens genießen; darum darf er das gelobte Land niemals selbst betreten; nie-
mals selbst einen Vorteil von der Verwirklichung haben."
Und so ergeht es allen, "die an sich das Schicksal der Menschheit erleben".
Unter dem Eindruck des Todes seiner Frau Mathilde schrieb Arnold Schönberg
einen nie vertonten Text, dem er den Titel "Requiem" gab, um ihn dann mit folgenden
Worten zu beschließen: "Wenn man sterben kann, was schwer ist, kann man auch
leben. "26 Diese in vieler Hinsicht tragische Formulierung entsprach durchaus der Hal-
tung, die bereits in dem älteren Aufsatz "Probleme des Kunstunterrichts" zum Aus-
druck kam, demzufolge der wahre Künstler überhaupt keine Wahl hat. Denn im Ge-
gensatz zum Kunsthandwerker, der, "wenn er nur will", auch "kann", vorausgesetzt,
daß er die nötige Ausbildung genossen hat, "muß" der Künstler. "Er hat keinen Ein-
fluß darauf, von seinem Willen hängt es nicht ab. "27 Kurzum, ihn treibt die "innere
Notwendigkeit". Ähnliches stand auch in Kandinskys Über das Geistige in der Kunst zu
lesen. Was für den Schwabinger Russen ein rein ästhetisches Credo darstellte, ent-
sprach bei dem kompromißlosen Komponisten Schönberg jener althebräischen pro-
phetischen Tradition, der sich selbst bewußt assimilierte jüdische Intellektuelle und
Künstler von Format nur selten zu entziehen vermochten. Jedenfalls bot sie manchem
ehrlich Schaffenden, dem eine feindliche Umwelt jegliches schöpferische Vermögen
von vornherein absprach, eine womöglich nur noch schwach erahnte, aber nichtsde-
stoweniger unveräußerliche Stütze. Die hebräische Bibel, das sogenannte ,,Alte Testa-
ment", erkennt ja dem Unterbewußtsein schöpferischer Menschen eine ganz besonde-
re Bedeutung zu. Erzvater Jakobs nächtliche Himmelsleiter-Vision war es, der er die
epochemachende Einsicht verdankte, daß der unsichtbare Herrscher des Weltalls, weit
davon entfernt, nur an bestimmten Orten dargebrachte Opfer materieller Art zu be-
lohnen, sich überall und unter allen Umständen dem offenbart und den stützt, der
gewillt ist, die ihm zugewiesene Mission bedingungslos auf sich zu nehmen. Daß die
Initiative letzten Endes vom Menschen selbst ausgehen muß, wird Jakob allein da-
durch verdeutlicht, daß die Engel in seinem Traum nicht vom Himmel herabsteigen,
sondern umgekehrt eine auf irdischem Boden errichtete Leiter erklimmen. Und die
jüdische Tradition hat das Verhältnis Gottes zu seinen Geschöpfen seitdem stets als ein
gegenseitiges verstanden. So ist auch der biblische Begriff der Auserwähltheit untrenn-
bar mit dem des mosaischen Bündnisses verbunden, das die gegenseitigen Verpflich-
tungen des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs und seines Volkes Israel für alle Zeiten
Arnold Schönberg, Stil und Gedanke. Auflätze zur Musik (Gesammelte Schriften 1), hg. von lvan Vojtech,
Frankfurt a.M. 1976, S. 23.
Zusammenhänge 147
Nicolas Slonimsky enthüllte, warum ihm seine 1921 begonnene Suite für Klavier op. 25,
in der die Dodekaphonie erstmalig zutage trat, so besonders am Herzen lag: "Hier
wurde mir erst die wahre Bedeutung meines Zieles bewußt: Einheit und Geserzmäßig-
keit. "2 Und im selben Sinn besänftigte er etwaige Befürchtungen seitens des Publikums
eines seinen Werken gewidmeten amerikanischen Festivals: "Ich habe nicht aufgehört,
das Gleiche und auf die gleiche Art zu komponieren wie ganz von Anfang an. Der
Unterschied ist nur, daß ich es heute besser mache, konzentrierter, reifer. " 3 Zum Be-
weis dafür, daß er im Interesse einer bestimmten Ausdrucksweise jederzeit bereit war,
tonale Konventionen zu durchbrechen, zitierte er stichhaltige Beispiele aus den Streich-
quartetten op. 7 und op. 10, aus den Drei Klavierstücken op. 11 sowie den FünfZehn
Gedichten aus "Das Buch der hängenden Gärten " von Stefon George op. 15.
Vor der Jahrhundertwende hatte Richard Dehmels naturalistische Dichtkunst eine
ähnlich entscheidende Rolle gespielt. Ein besonders eindrucksvolles Beispielliefert das
auf wenig mehr als einem harmonisch fundierten chromatischen Wechselnotenmotiv
beruhende Dehmel-Lied "Erwartung" op. 2,1. Aber selbst das im selben Jahr 1899
vollendete Streichsextett Verklärte Nacht op. 4, Schönbergs erstes großes Instrumental-
werk, zehrt von einem sehr beschränkten, der Vereinheitlichung des ausgedehnten Stük-
kes dienenden Vorrat an thematischem Material. Zu einer Zeit, in der Richard Strauss
in der Regel mehr oder weniger äußerlich mit einem großen Orchesterapparat ausführ-
lich zu schildern bemüht war, wählte Schönberg in diesem Fall nicht zufällig Dehmels
poetische Evokation eines in ernste persönliche Probleme verstrickten Liebespaares als
Vorlage für sein thematisch so erstaunlich vereinheitlichtes einsätziges Kammermusik-
stück. Der Dichter bekam es erst Ende 1912 zu hören, verstand aber sofort, worum es
Schönberg im Gegensatz zu Strauss ging, nämlich, in Beethovens berühmten Worten,
"mehr Ausdruck der Empfindung als Malerey". Zutiefst beeindruckt schrieb er ihm
denn auch gleich am nächsten Morgen: "Ich hatte mir vorgenommen, die Motive mei-
nes Textes in Ihrer Composition zu verfolgen, aber ich vergaß das bald, so wurde ich
von der Musik bezaubert. " 4 Das kurze, spontane Schreiben endet mit dem Vers:
"Durch Sie war ich zum erstenmal genötigt, einen neuen Ton in der Lyrik zu suchen. Das heißt,
ich fand ihn ungesucht, indem ich musikalisch widerspiegelte, was Ihre Verse in mir aufwühl-
ten." Das bleibende Resultat war, "daß in meinen ersten Versuchen, Ihre Lieder zu komponie-
ren, mehr von dem steckt, was sich in Zukunft bei mir entwickelt hat, als in manchen viel
2 Reinhold Brinkmann, "Zur Entstehung der Zwölftontechnik", in: Bericht über den Internationalen
Musikwissenschaftlichen Kongreß Bonn 1970, Kassel1970, S. 285.
3 Schönberg, Stil und Gedanke, S. 338.
4 Joachim Birke, "Richard Dehmel und Arnold Schönberg: ein Briefwechsel", in: Die Musikforschung
11 (1958), s. 281.
148 Zusammenhänge
späteren Kompositionen. Und Sie begreifen, daß ich Ihnen eine herzliche und vor allem eine
dankbare Verehrung entgegenbringe. "5
Und zugleich benützte er die Gelegenheit, ihm frische Pläne zu unterbreiten, die aller-
dings erst Jahre später ohne Dehmels Mitarbeit im Oratorium Die Jakobsleiter Früchte
trugen. Inzwischen schloß er mit nochmaligem Dank "vor Allem für die wundervollen
Verse ... ". 6 Als Arnold Schönberg seinem Lieblingsdichter aus früherer Zeit im Pierrot-
Jahr 1912 nochmals seinen warmen Dank aussprach, lebte und schaffte er längst in
einer anderen Welt. Seit 1905 hatte er kein einziges Dehmelsches Gedicht mehr ver-
tont, und auch die erhoffte Zusammenarbeit an jenem in seiner Antwort skizzierten
Projekt kam nicht mehr zustande.
Aber Schönberg wußte zu allen Zeiten, woher er kam, und war stolz auf die sein
Gesamtwerk kennzeichnende Kontinuität. Mitten im Ersten Weltkrieg hatte er eine
Streichorchesterfassung seines Sextetts op. 4 angefertigt, die er später ebenso gern selbst
dirigierte wie das nach der Jahrhundertwende entstandene Symphonische Gedicht Pel-
leas und Melisande op. 5. Die 1907 im Fahrwasser der Ersten begonnene Zweite Kammer-
symphonie beschäftigte ihn erneut 1911, 1916 und schließlich von 1939 bis 1942 in
Amerika. Verklärte Nacht erfreute sich in beiden Fassungen längst steigender Populari-
tät in Schönbergs dritter Heimat, letzten Endes sogar als Ballett. Aber der Komponist
fühlte sich wiederholt zu dem Hinweis verpflichtet, daß es "nicht irgendeine Hand-
lung oder ein Drama schildert, sondern sich darauf beschränkt, die Natur zu zeichnen
und menschliche Gefühle auszudrücken".? So verstanden hatte er auch keine Beden-
ken gegen den Abdruck von Dehmels Gedicht gegenüber der ersten Partiturseite eines
Werkes, in dem er zwischen den lebenslangen Kontrahenten Johannes Brahms und
Richard Wagner auf so souveräne Weise musikalischen Frieden gestiftet hatte, jenen
fanatischen Partisanen zum Trotz, die sie zu ewiger Feindschaft verurteilt sehen woll-
ten. Einerseits verriet allein die Wahl des so eng mit dem Namen Brahms verknüpften
Klangkörpers, geschweige denn zahlreiche stilistische Einzelheiten insbesondere rhyth-
misch-metrischer Art, Schönbergs auch später nie schwankende Verehrung für den
Großmeister spätromantischer Kammermusik, andererseits aber verlangte Dehmels
tiefenpsychologische Analyse der leidenschaftlichen Liebe, von Vergehen und Sühne,
von "Mann und Weib" eine unwillkürlich Wagners Tristan und Isolde in Erinnerung
bringende Tonsprache. Die unvergeßliche nächtliche Schlußzene, in der das ebenso
zärtliche wie tragische Paar im vollem Schuldbewußtsein der Frau leise triumphierend
vom Dunkel ins Licht schreitet, findet denn auch kaum ihresgleichen in der Kammer-
musik der Zeit nach Wagner. Daß Verklärte Nacht neben Brahms und Wagner gele-
gentlich auch an Bedfich Smetana und seine wiederholt autobiographisch gefärbte In-
strumentalmusik anklingt, bezeugt wiederum eine spezielle Affinität mit dem böhmi-
schen Erbe der Familie Schönberg, die dem erst posthum veröffentlichten Streichquar-
tett D-Dur bereits zwei Jahre zuvor Antonin Dvofaks Stempel aufgedrückt hatte. Kurz
nach der Jahrhundertwende war es schließlich der moravische Jude Gustav Mahler,
5 Ebenda, S. 282.
6 Ebenda,S. 283.
7 Schönberg, Stil und Gedanke, S. 453.
Zusammenhänge 149
dessen Gedanken- und Gefühlswelt sich Arnold Schönberg mit Haut und Haaren ver-
schrieb.
Obwohl Verklärte Nacht die programmatischen Konventionen des ausgehenden
19. Jahrhunderts im Prinzip umging, fiel es dem Komponisten nicht leicht, der ,,An-
passung an den Glauben der Zeit" vorbehaltlos zu widerstehen. Sein erstes und auf
absehbare Zeit auch letztes großes Orchesterwerk, das im Februar 1903 abgeschlosse-
ne, an chromatischer Thematik fast überreiche Symphonische Gedicht Pelleas und
Melisande op. 5, spricht zumindest für seine Bereitschaft, das ästhetische Risiko eines
solchen in jeder Beziehung monumentalen Abschieds vom zeitgenössischen Wagne-
rismus auf sich zu nehmen. Von der Last der unmittelbaren Vergangenheit befreit- die
Arbeit an der 1900 als Liederzyklus begonnenen Gurre-Lieder-Partitur unterbrach er
auf viele Jahre ebenfalls 1903 -suchte er entschieden neue Wege, auf denen ihm Lied-
Kompositionen wie schon Jahre zuvor ausgezeichnete Dienste leisteten. Die erste gro-
ße Etappe war das größtenteils 1905 entstandene große Erste Streichquartettd-Moll
op. 7. Rein äußerlich schien es zwar noch eine gewisse Zwiespältigkeit zu vermitteln:
Nicht nur lud seine Einsätzigkeit zu Vergleichen mit dem Streichsextett op. 4 ein, ihm
lag sogar noch eine Art "privaten" Programms zugrunde. Im Gegensatz zu den literari-
schen Quellen der unmittelbar vorangehenden Werke war und blieb es jedoch privat.
Jahrzehnte später in Amerika danach befragt weigerte er sich, genauer darauf einzuge-
hen, denn "derartige Dinge kommen heutzutage nicht mehr zur Sprache". 8 Was die-
sem ausgedehnten, aber alles andere als "langen" Quartettsatz seinen besonderen Cha-
rakter verleiht, sind in der Tat ausschließlich musikalische Qualitäten, allen voran die
souveräne kontrapunktische Behandlung einiger nicht immer sehr scharf umrissener,
aber um so häufiger konsequent variierter Motive: "Die vier Teile, die die nachfolgende
Analyse auseinanderhält, sind nicht etwa vier Sätze, die durch Pausen getrennt sind,
sondern ineinander übergehende Abschnitte", heißt es einleitend zu der äußerst knap-
pen Analyse, die Schönberg für die geplante Urauffiihrung beim Deutschen Tonkünstler-
fest 1907 verfaßte: "Die Thementypen der vier Sätze sind zwar angewendet, ihre man-
nigfach verschlungene Anwendung versucht aber einen einheitlich ununterbrochenen
Satz herzustellen." 9 Undangesichts der hier so streng waltenden thematischen Verein-
heitlichung beschränkte er sich mit Notenbeispielen auf den Abdruck der "Haupt-
themengruppe" mit ihren "Überleitungs- und Seitengedanken" sowie "Umbildungen
und Durchführungen". Im Lauf der Jahre bezog er sich in diesem Zusammenhang
gern auf Ludwig van Beethoven, dessen Dritte Symphonie ihm derzeit "Lösungen für
meine Probleme" bot: "wie man Eintönigkeit und Leere vermeidet, wie man aus Ein-
heit Mannigfaltigkeit erzeugt, wie man aus Grundmaterial neue Formen schafft; wie-
viel aus oft ziemlich unbedeutenden kleinen Gebilden durch geringfügige Modifika-
8 Christian Marrin Schmidt, "Schönbergs ,very definite - but private' Programm zum Streichquartett
Opus 7", in: Die Wiener Schule in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Bericht über den 2. Kongreß
der Internationalen Schönberg-Gesellschaft, hg. von Rudolf Stephan und Sigrid Wiesmann, Wien 1986,
S. 230.
9 Arnold Schönberg, "Streichquartett d-Moll", in: Die Musik 6 (1906/07), S. 332.
150 Zusammenhänge
tionen, wenn nicht durch entwickelnde Variation zu machen ist". 10 Doch war es wohl
vor allem der Beethoven der letzten Streichquartette, der ihn in neue Richtungen ge-
wiesen hatte.
Eugen Lehner, dem ehemaligen Bratschisten des Kolisch-Quartetts, erklärte er nach
dem Zweiten Weltkrieg in Amerika, sein erstes Quartett sei doch eigentlich "am reif-
sten und besser als das zweite". 11 Und in den ausführlichen "Bemerkungen zu den vier
Streichquartetten" betonte er mit offensichtlicher Genugtuung: "Es war das erste Streich-
quartett, op. 7, in dem ich alle Errungenschaften meiner Zeit (einschließlich meiner
eigenen) kombinierte." Die "alle vier Charaktere des Sonatentyps in einem einzigen
ununterbrochenen Satz" verbindende Form habe er "in Anpassung an den Glauben
der Zeit" gewählt, heißt es da weiterhin. 12 In Bezug auf das wenige Jahre später kompo-
nierte viersätzige fis-Moll-Quartett op. 10 sprach er dagegen vom "Zeitalter der groß
angelegten Formen, das Beethoven eingeleitet hatte- cis-Moll-Quartett ... ".U
Deutlich ist dennoch, daß gerade dieses Beethovensche Meisterwerk seinen ent-
scheidenden Niederschlag in der pausenlosen polyphonen Faktur des d-Moll-Quartetts
fand. Was dort "am reifsten" zum Ausdruck kam, waren in der Tat die Erstlingsfrüchte
einer lebenslangen intensiven Beschäftigung mit Beethovens Spätwerk im allgemei-
nen, aber ganz besonders mit Opus 131. Schönbergs breit angelegtes Quartett ver-
dankte in seiner fast beispiellosen Intensität doch wohl weitaus weniger dem "Glauben
der Zeit" als vielmehr der Erkenntnis, daß die derzeit völlig neuartige Durchkomponie-
rung der sieben sehr unterschiedlichen Teile des Beethovenschen cis-Moll-Quartetts vor
allem auf der einzigartigen Flexibilität seiner ersten zwei Takte beruht, jener geringfü-
gigen, aber desto genialeren Variante von Johann Sebastian Bachs cis-Moll-Fugenincipit
(Wohltemperiertes Klavier I). Die gemeinsame Motivquelle der drei großen, 1825/26
komponierten Streichquartette besteht bekanntlich aus zwei komplementären, durch
ein größeres Intervall miteinander verbundenen Halbtonschritten. In allen Fällen sind
Varianten des Namensmotivs B-A-C-H im Spiel, das ja auch einem im Sommer 1825
komponierten Kanon (WoO 191) zugrunde liegt. 14 Eine derartige lntervallkombination,
der obere Tetrachord der harmonischen Moll-Leiter, lieferte allerdings bereits das An-
fangsmotivvon Beethovens frühem Streichtrio c-Mollop. 9 Nr. 3. Im Laufdes 19. Jahr-
hunderts leistete es etlichen fortschrittlich gesinnten Komponisten gute Dienste, selbst-
verständlich au.s der harmonischen Perspektive ihrer Zeit. Arnold Schönberg ging es
dagegen, nicht weniger als Beethoven in seinen letzten Quartetten, in der Hauptsache
um seine kontrapunktische Wirksamkeit. Ganz im Sinn einer älteren polyphonen Tra-
10 Schönberg, Stil und Gedanke, S. 411. Siehe auch Alexander L. Ringer, "Clementi and the Eroica", in:
The Musical Quarterly 47 (1961), S. 454-468, deutsch in: Alexander L. Ringer, Musik als Geschichte.
Gesammelte Aufiätze, hg. von Albrecht Riethmüller und Steven M. Whiting, Laaber 1993, S. 102-115.
11 Arnold Schönberg, Briefe, hg. von Erwin Stein, Mainz 1958, S. 282.
12 Schönberg, Stil und Gedanke, S. 410.
13 Ebenda, S. 414.
14 Emil Platen, "Über Bach, Kuhlau und die thematisch-motivische Einheit der letzten Quartette Beet-
hovens", in: Beiträge zu Beethovem Kammermusik. Symposion Bonn 1984, hg. von Sieghard Branden-
burg und Helmut Loos, München 1987, S. 153. Siehe auch Alexander L. Ringer, "Klassisches Form-
bewußtsein und strukturelle Vielfalt", in: Ludwig van Beethoven, hg. von Ludwig Pinscher, Darmstadt
1983, s. 334-335.
Zusammenhänge 151
dition schätzte er vier- oder dreitönige Grundgestalten dieser Art vor allem als verläß-
liche Ausgangspunkte für Umkehrungen, Oktavtranspositionen, Krebsläufe sowie
Rotierungen der konstituierenden Einzeltöne und verwendete sie dementsprechend
sein Leben lang "tonal oder atonal", um von ihren zentralen dodekaphonen Funktio-
nen völlig zu schweigen.
Diese und ähnliche Motive hatten ihre kompositorischen Wege längst bewiesen,
insbesondere wo immer melodisch-kontrapunktische und harmonisch-chromatische
Tendenzen miteinander in Konflikt zu geraten drohten. Richard Wagner scheute sich
nicht einmal, sein in a-Moll notiertes Tristan-Vorspiel mit einer Neuordnung der ge-
nauen Anfangsnoten von Beethovens a-Moll-Quartett op. 132 zu beginnen. Unter den
in seinem und Franz Liszts Fahrwasser Schaffenden sticht in diesem Zusammenhang
besonders Cesar Franck mit seiner Symphonie und den Variations symphoniques hervor:
fl lt.t -f; p. ~
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152 Zusammenhänge
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R. Wagner, Tristall und lsold~. Einleitung, T. 1- 3
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F. Li zr, Ehu Fausr -Sympboni~. I, Sarz, T. 3-5,
p dolenie
"
Als Organist und Bach-Kenner war Franck allerdings auch in einer vornehmlich ho-
mophonen Epoche sozusagen von Haus aus Kontrapunktiker, während Arnold Schön-
berg sich aus rein materiellen Gründen gezwungen sah, sein musikalisches Handwerk
auf eigene Faust, allenfalls mit dem gelegentlichen Rat eines Freundes wie Alexander
von Zemlinsky, zu erlernen. Daß er die Kunst, "mit selbständigen Stimmen zu kompo-
nieren", in kürzester Zeit so besonders erfolgreich zu meistern vermochte, verdankte er
nicht zuletzt angeborenen melodisch-rhythmischen Fähigkeiten, die womöglich auf
Generationen jüdischer Vorbeter unter seinen mütterlichen Vorfahren zurückgingen.
Die Quarte und ihre Aufteilungen in Sekunden und Terzen gehörten jedenfalls zum
Grundbestand hebräischer Kantillation wie aller modalen, aus volkstümlicher Pentatonik
hervorgegangenen abendländischen Traditionen einschließlich der mittelalterlichen
Gregorianik und der eng damit verbundenen Polyphonie des 15. und 16. Jahrhun-
derts, die Schönbergs Schüler Anton Webern gerade zur Entstehungszeit des d-Moll-
Quartetts so intensiv beschäftigte. Wie dem auch sei, mit dem Aufblühen eines harmo-
nisch verankerten, spezifisch abendländischen Tonalitätsbewußtseins verloren modale
Melodieformeln einen großen Teil ihrer praktischen kompositorischen Bedeutung,
überlebten die mageren Jahre jedoch dank traditionalistischer Kontrapunktlehrer wie
Johann Joseph Fux im 18. und Heinrich Bellermann im 19. Jahrhundert. Dem größe-
ren Publikum waren derartige Motive allerdings hauptsächlich in ihrer diatonischen
Form geläufig, z. B. als "Jupiter"-Motiv (C-D-F-E) aus dem fugalen Finale von Mo-
zarts letzter Symphonie (KV 551). Im übrigen beherrscht das "Jupiter"-Motiv mit ei-
ner einzigen chromatischen Alteration, dem d-Moll-Leitton Cis statt C, fast das ge-
samte Schönbergsehe Quartett op. 7.
Camille Saint-Saens, im Hauptberuf ebenfalls Organist, gebrauchte die ehrwürdi-
ge Formel seinerseits bereits wieder im ursprünglichen liturgischen Sinn in seiner dem
Andenken Franz Liszts gewidmeten c-Moll-Symphonie op. 78:
I
A A A A I\ A 1\ 1\ 1\ 1\
154 Zusammenhänge
15 Walter Szmolyan, "Schönbergs WienerVerein für musikalische Privataufführungen", in: Arno/d Schön-
berg Gedenkausstellung 1974, [Katalog] Wien 1974, S. 80.
16 Bela Bartok, ~g und ~rk, hg. von Bence Szabolcsi, Budapest 1957, S. 27.
17 Hugh Ottaway, Artikei.Ralph Vaughan Williarns", in: The New Grove DictionaryofMusic andMusicians,
Bd. 19, London 1980, S. 572.
18 Schönberg, Stil und Gedanke, S. 134.
19 Jan Maegaard, Studien zur Entwicklung des dodekaphonen Satzes bei Arno/d Schönberg, Bd. I, Kopenha-
gen 1972, S. 39.
Zusammenhänge 155
p -
P cresc.
I
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>
Beethovens führende Hand tritt dort vielmehr in der Intensität einer bereits hoch ent-
wickelten, oft fugalen und polymelodischen, mit dem harmonischen "Glauben der
Zeit" kaum vereinbaren Variations- und Durchführungstechnik zutage. Auf stilistische
und strukturelle Einzelheiten des Quartetts bezog sich Schönberg denn auch später vor
156 Zusammenhänge
allem zur Stärkung seiner These, daß er im Prinzip nie aufhörte, "das Gleiche und auf
die gleiche Art zu komponieren wie ganz von Anfang an". 20
1828, genau ein Jahrhundert bevor Arnold Schönberg die Partitur der Variationen for
Orchester op. 31 abschloß, veröffentlichte der Herausgeber der Leipziger Allgemeinen Musi-
kalischen Zeitung, Friedrich Rochlitz, eine ausführliche Kritik von Beethovens Opus 131.
Den Anlaß bildete das posthume Erscheinen der Partituren aller späten Quartette, und was
der große Beethoven-Verehrer zu sagen hatte, betraf nicht nur das in cis-Moll:
"Der Reichtum seiner Harmonien, wie er hier erscheint, will sich von uns, die wir daran nicht
gewöhnt sind, kaum noch übersehen, viel weniger überhören lassen; das Wunderbare seiner
Combinationen wird oft grüblerisch, so daß es dem jetzigen Hörer als unklar, wo nicht als unzu-
sammenhängend vorkömmt; das Ueberbauen seiner durchgeführten Melodien mit immer mehr
variirenden Instrumenten, und immer anders hinzutretenden Figuren läßt diese Melodien, kaum
noch, auch mit Anstrengung, heraushören und ungestört neben der Fülle der Zuthat festhalten,
wie viel weniger genießen - alles dieß, jetzt, wo man hieran noch nicht gewöhnt ist. "21
Arnold Schönberg konnten diese Worte keinesfalls bekannt sein, als er die typischen
Rezeptionsprobleme seines Opus 7 verblüffend ähnlich zu erklären suchte:
"Was das Streichquartett 1905 so schwer verständlich machte, war sein komplizierter kontra-
punktischer Stil. Und der hinderlichste Umstand war, daß die Harmonien, die von jenen sich
voneinander unabhängig bewegenden Stimmen hervorgebracht wurden, so schnell wechselten
und so fortschrittlich waren, daß das Ohr ihrer Bedeutung nicht folgen konnte." 22
"Dieses Quartett [op. 10] spielte eine große Rolle in meiner Entwicklung. Jedoch der entscheidende
Schritt zur sogenannten Atonalität war jetzt noch nicht getan. Jeder der vier Sätze endet mit einer
Tonika, die für die Tonalität steht. Im Innern finden sich viele Teilschlüsse auf mehr oder weniger
entfernten Verwandten der Tonart. Der Verzicht dieser Schlüsse auf die traditionellen Kadenz-
harmonien rechtfertigt nicht die strenge Verurteilung, die das Quartett hinnehmen mußte. "24
Konservative Geister monierten allerdings nicht nur, "daß in den Themen außertonale
Fortschreirungen enthalten sind"; die zusätzliche Sopranstimme in den letzten zwei
Sätzen schien auch die "Reinheit" der Gattung anzutasten. Nicht unerwartet wurden
derartige Beschwerden vor allem in Kreisen laut, die Gustav Mahler ebenfalls als Häre-
tiker verurteilten. In der Tat weist manches darauf hin, daß die zwei Liedsätze unter
dem tiefen Eindruck von Mahlers Dritter Symphonie entstanden. Abgesehen davon
aber waren es Stefan Georges vielschichtige Verse, denen diese neuartigen Kammermusik-
lieder die gelegentliche Aufgabe jeglicher tonaler Schwerkraft verdankten. Ein Gedicht
wie "Entrückung" wies deutlich in diese Richtung, und Schönberg zögerte nicht, die
Gesangstimme im gegebenen Augenblick von der ersten Geige unterstützt auf den
Sprossen einer chromatisch aufsteigenden Baßlinie akustische Höhen erklimmen zu
lassen, in deren sauerstoffarmen Lüften sich am Ende alles wortwörtlich "in Tönen,
kreisend, webend" auflöst:
A. Schönberg, Zweites Streichquartett op. 10, 4. Satz, T. 51-58, Singstimme und 1. Violine
langsam~ Ha
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krei send,
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Richard Dehmels 50. Geburtstag war der Anlaß zu Arnold Schönbergs Erklärung,
"daß fast an jedem Wendepunkt meiner musikalischen Entwicklung ein Dehmelsches
Gedicht steht. Daß ich fast immer zu Ihren Tönen erst den neuen Ton fand, der mein
eigener sein sollte. "25 Dehmels von Klang und Eros durchdrungene Dichtkunst hatte
ihm bei der Neuinterpretation und Weiterentwicklung tonaler Chromatik tatsächlich
unerläßliche Dienste geleistet. Als das fis -Moll-Quartett dann aber im Begriff war, sogar
die äußersten Grenzen funktionaler Harmonie zu überschreiten, war es deutlich an der
Zeit, einem völlig anders gearteten Dichter das entscheidende Wort zu geben. Und das
Schicksal wollte es, daß die Arbeit am fis-Moll-Quartett in vollem Gang war, als Gustav
Mahler sich 1907 gezwungen sah, seine Wiener Tätigkeiten endgültig aufzugeben.
Erschüttert von dem persönlich unersetzlichen Verlust, fand Schönberg seinen Gefüh-
len Ausdruck verleihende Worte zunächst in Georges Gedicht "Ich darf nicht dankend
an dir niedersinken". Drei Jahre später war es schließlich soweit, daß er anläßlich der
Wiener Uraufführung seines Opus 15, Fünfoehn Gedichte aus "Das Buch der hängenden
Gärten" von Stefon George, von sich zu sagen vermochte:
"Mit den Liedern nach George ist es mir zum ersten Mal gelungen, einem Ausdrucks- und
Formideal nahezukommen, das mir seit Jahren vorschwebt. Es zu verwirklichen, gebrach es mir
bis dahin an Kraft und Sicherheit. Nun ich aber diese Bahn endgültig betreten habe, bin ich mir
bewußt, alle Schranken einer vergangeneo Ästhetik durchbrachen zu haben. "26
Und da das erste der Drei Klavierstücke op. 11 noch vor dem Abschluß des George-
Zyklus entstand, gefolgt von den FünfOrchesterstücken op. 16 und dem Monodram
Erwartung op. 17, bestätigten mehrere "Luft von anderem Planeten" atmende Werke
verschiedenster Gattungen die schlimmsten Befürchtungen konservativer Musiker und
Musikliebhaber: Der gefährliche ,,Anarchist" schreckte offensichtlich nicht davor zu-
rück, naturgegebene harmonische und metrisch-rhythmische Gesetze zu untergraben,
die selbst Wagner nie völlig verneinte. Mit den sadistischen Dissonanzen seiner un-
menschlichen "Musik der Zukunft" hoffte er zweifellos das Ende der "deutschesten
aller Künste" zu beschleunigen. Diesem jüdischen Mephisto und seinen verblendeten
Jüngern das Handwerk zu legen, war eine nationale Aufgabe, der sich kein echter, um
die vaterländische Kultur besorgter Deutscher entziehen durfte.
Fortschrittliche Geister begrüßten Schönbergs radikalen Durchbruch zur ,,Atonali-
tät" dagegen in der Überzeugung, daß der ihrer völligen Erschöpfung entgegengehen-
den, einst so glorreichen abendländischen Musik damit gerade noch zur rechten Zeit
lebensrettende Auswege gewiesen waren. Er selbst hegte kaum Illusionen in dieser Hin-
sicht. Weitaus wichtiger aber waren ihm die damit verbundenen neuen Möglichkeiten
einer rein musikalischen, metrisch ungebundenen Prosa, die er in den Drei Klavierstük-
ken op. 11 denn auch unverzüglich auf die Probe stellte. Und das erfolgreiche Resultat
ließ keinen Zweifel darüber, daß er fortan auch ohne dichterische Vorlagen gut aus-
kommen würde. Der freien Entfaltung fruchtbarer musikalischer "Gedanken", aus denen
"alles Weitere" hervorging, stand nichts mehr im Weg.
Bis es so weit kam, waren es jedoch auch in diesem entscheidenden Entwicklungs-
stadium gewisse Lieder, die für die Klärung der nötigen Mittel verantwortlich zeichne-
ten. Das große Orchesterwerk Pelleas und Melisande op. 5 harrte noch seiner endgülti-
gen Beendigung, als Schönberg sich nach Jahren intensiver Beschäftigung mit zeitge-
nössischer Dichtung erstmalig wieder einem Goethe-Text zuwandte. Goethes "Mai-
lied" hatte er in jugendlicher Unbesorgtheit gesetzt. Mit "Deinem Blick mich zu be-
quemen" schuf er 1903 ein in keiner Beziehung "frühes" Lied, dastrotzseiner offen-
sichtlichen Reife erst nach dem Tod des Komponisten ironischerweise in die Samm-
lung Frühe Lieder aufgenommen wurde. Aber selbst dann erweckte es wenig Interesse,
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Sieh, mir naht der hehr - - .ste
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160 Zusammenhänge
Mu_n ~ de ein
"Ich empfand sie wie ein Naturereignis mit seinem Schrecken und Unheil und seinem verklären-
den, beruhigenden Regenbogen. Was verschlägt es da, daß, als man mir nachher ihr ,Programm'
sagte, dieses zu meinen Empfindungen wenig zu passen schien ... Muß ich richtig verstehen, wo
ich erlebt, empfunden habe? ... Ich spürte einen Menschen, ein Drama, Wahrheit, rücksichtslo-
seste Wahrheit!"
Es war kein von wilden Emotionen überwältigter Jüngling, sondern ein dreißigjähriger
Kollege mitten in der Arbeit an einer der hervorstechendsten Instrumentalkompositionen
des angehenden 20. Jahrhunderts, der seiner Begeisterung auf eine derart persönliche
Weise Ausdruck verlieh, um dann mit einer ebenso charakteristischen Bitte um Nach-
sicht zu enden: "Ich mußte mich austoben, verzeihen Sie, mittlere Empfindungen gibt
es bei mir nicht, entweder - oder!" 27 Schönberg selbst sprach die "rücksichtsloseste
Wahrheit" denn auch gleich selbst nicht nur im 1905 vollendeten d-Moll-Quartett;
binnen weniger Wochen folgte jene erschütternde Evokation der trostlosen Einsamkeit
des Einzelnen in der modernen Massenkultur, das d-Moll-Lied ,,Am Wegrand" op. 6,6:
"Tausend Menschen ziehen vorüber- den ich ersehne, er ist nicht dabei ... und so steh
ich am Wegrand-Strande, während die Menge vorüber fließt, bis erblindet vom Sonnen-
brande mein ermüdetes Aug' sich schließt." Jahre später erlangte dieses tonale Lied mit
einem unüberhörbaren Orchesterzitat im "atonalen" Monodram Erwartung, jener Tra-
gödie verzweifelter Einsamkeit, denn auch noch eine zwar unerwartete, aber durchaus
folgerichtige dramatische Bedeutung.
Nach 1909 verging fast ein Vierteljahrhundert, bevor es noch einmal und danach
nie wieder zu einer Gruppe von Klavierliedern kam, die aber erst geraume Zeit später
in Amerika unter der Opusnummer 48 im Druck erschienen: Das erste, "Sommermüd",
entstand noch kurz vor der nationalsozialistischen Machtergreifung, gefolgt knapp zwei
Wochen später von dem so zeitgemäß betitelten "Tod". Das letzte, "Mädchenlied"-
nicht zu verwechseln mit Schönbergs "früher" Vertonung von Paul Heyses gleichnami-
gem, aber weitaus fröhlicheren Text-, trägt das Datum "am 23. Februar 1933", vier
Tage vor dem Berliner Reichstagsbrand, der ersten politischen Großtat der neuen Macht-
haber. Unter diesen Umständen sprachen nicht nur Jakob Haringers von tiefem Pessi-
mismus durchdrungene Gedichte "Sommermüd" und "Tod" für sich selbst; "Mädchen-
lied" vermittelt allein in seiner dodekaphonen Akribie etwas von der trostlosen Lage
eines Menschenkindes, das kaum begreift, was ihm passiert: "Es war doch Sommer
einmal!" und nun "hilft kein Stern, kein Gebet!". Schönberg hatte die Katastrophe
längst vorausgesehen, aber jetzt geriet die Welt des unentwegt nach Einheit strebenden
Komponisten doch allzu schnell aus den Fugen, und die von tragischer Ironie durch-
drungenen Lieder gereichten ihm wohl als Symbole einer "trotz allem" unangetasteten
kompositorischen Kontinuität zu Trost und Hoffnung. Auf jeden Fall bewiesen sie,
daß sich in den dazwischenliegenden ereignisreichen Jahrzehnten grundsätzlich wenig
geändert hatte. Im sicheren Gefühl seiner ethisch verantworteten ästhetischen Aufgabe
war und blieb Arnold Schönberg zeitlebens- in der "neuen" Welt seiner letzten Hei-
mat nicht weniger als in der alten - ein leidenschaftlicher Vertreter romantischer Aus-
druckskunst.
Von Bach und Beethoven abgesehen, bewg er sich gern auf seine Anfänge als Brahms-
und Wagner-Jünger, erweiterte den Umkreis im Lauf der Jahre aber zumindest auf
Liszt und Bruckner, "vielleicht auch Hugo Wolf". 28 Bei gewissen um die Jahrhundert-
wende komponierten Liedern stand Wolf jedoch ganz offensichtlich mehr als "viel-
leicht" Pate. Motivisch mag das großartige Dehmel-Lied "Erwartung" in derTat Wag-
ners Götterdämmerung-Vorspiel verpflichtet sein29 ; klanglich, in gewisser Beziehung
aber auch in seiner Tonsprache, atmet es eher die verfeinerte Atmosphäre eines Wolf-·
Liedes wie "Anakreons Grab". Die zurückhaltend-ausdrucksvolle Chromatik in Ver-
bindung mit einer sprachlich geformten Gesangstimme und einem melodisch animierten
Klaviersatz lassen sogar vermuten, daß Schönberg Wolfs exquisite Goethe-Vertonung
mehr oder weniger im Ohr lag, als er sein allerdings etwas bündigeres und auch sonst
eigenständiges Gegenstück komponierte:
wint.t ihmei - ne
11 r
blei -
P
ehe Frau - en-hand . . .
Die Anziehungskraft des Todesgedankens steht auf jeden Fall im Mittelpunkt beider
Texte: bei Dehmel verkörpert durch die ausgestreckte "weiße Hand" der unnahbaren,
aber gerade darum besonders verlockenden Frauenfigur, bei Goethe durch die verfüh-
rerische, das friedliche Grab des großen Dichters umgebende Schönheit der Natur.
Und das mag auch der Grund gewesen sein, warum Erwartung zehn Jahre später den
Titel zum "Monodrama", inhaltlich eigentlich eher ein "Psychodrama", für Sopran
und Orchester lieferte.
Wolf hatte in jungen Jahren auch ein Streichquartett in d-Moll komponiert, dessen
revidierte Fassung 1903 im Druck erschien und in Wien zur Uraufführung kam. Und
noch im seihen Jahr beendete Max Reger sein ausgedehntes d-Moll-Quartett op. 74.
An Quartetten in dieser den Streichern sozusagen auf die Geige geschriebenen Tonart
war jedenfalls kein Mangel. Noch bevor Schönbergs Werk 1907 seine verspätete, von
Skandal begleitete Uraufführung erlebte, beendete August Reuss, ein keineswegs unbe-
gabter Vertreter der konservativen "Münchner Schule", seinerseits ein Quartett in
d-Moll (op. 25), an dem "keine Quartettvereinigung vorübergehen" sollte. 30 Aberall
diese und ähnliche vornehmlich homophone d-Moll-Quartette entsprangen anderen
Vorstellungswelten. Schönbergs polyphonen Energien hatte selbst der gewandte Kontra-
punktiker Reger wenig entgegenzusetzen. Gewisse Parallelen in der jeweiligen "Sonaten-
struktur"31 ändern daran ebenso wenig wie die tatsächlich "wahrhaft symphonischen
Dimensionen" von Regers erstem Satz.32 Regers massives musikalisches Gefüge stellte
ihn vielmehr vor Probleme, die Schönberg in seiner "wahrhaft" kammermusikalischen
Art zu vermeiden vermochte.
Ob und, falls ja, in wieweit auch er dem symphonischen Erbe der Zeit selbst in
diesem Rahmen verpflichtet blieb, geht in gewisser Hinsicht allein aus dem Titel
"Kammersymphonie" seines nächsten Instrumentalwerks hervor. Anzeichen eines be-
vorstehenden Richtungswechsels machten sich jedoch bereits im erst nach den Sechs
Orchesterliedern op. 8 vollendeten d-Moll-Quartettbemerkbar. Schönberg erwähnte diese
Lieder später äußerst selten, wohl weil er die Problematik ihrer klanglichen und har-
monischen Schwerfälligkeit, ihrer uncharakteristischen rhythmischen Trägheit und
durchgehend walkürenartigen Gesangstimme sehr bald erkannte. Nur eines der sechs,
das zuletzt komponierte Knaben- Wunderhorn- Lied "Sehnsucht", schien schließlich
Wagner zugunsren von Mahler zu verdrängen. Schönberg war jedenfalls selbstkritisch
genug, um einzusehen, daß es so nicht weiterging. Von einem wirklichen Bruch konn-
te bei ihm allerdings kaum je die Rede sein; auf dem Weg zur Kammersymphonie op. 9
war es denn auch dem Quartett vorbehalten, trotzgrundsätzlicher Unterschiede für
die nötige Kontinuität zu sorgen. Den gemeinsamen Nenner lieferte allerdings Schön-
bergs früher Gönner Richard Strauss mit einem seiner brillantesten Orchesterwerke.
Vielleicht weil er ihm einerseits mehr schuldete, als ihm recht war, und sich ande-
rerseits darüber erboste, daß Strauss seine späteren Werke nicht zu schätzen wußte,
wandte sich Schönberg in den zwanziger Jahren fast völlig von ihm ab. Im Kammer-
symphonie-Jahr 1906 war das Verhältnis noch ganz anders. Nicht nur Gustav Mahler,
auch viele seiner jungen Bewunderer reisten im Mai zur Österreichischen Salome-Pre-
miere nach Graz, nachdem sich Wien aus "moralischen" Gründen dagegen gewehrt
hatte. Schönberg vergaß dieses frühe Erlebnis nie und zitierte Beispiele aus Salome
noch in seinen posthumen Fundamentals of Musical Composition. Allerdings hatte er
sich schon kurz nach der nationalsozialistischen Niederlage, als das Verhalten führen-
der deutscher Musiker im Dritten Reich auch in Amerika heftige Diskussionen hervor-
rief, zu der Erklärung verpflichtet gefühlt:
"Ich bin nicht ein Freund von Richard Strauss, aber, obwohl ich nicht alle seine Werke bewun-
dere, glaube ich, daß er einer der charakteristischen und hervorragenden Figuren in der Musikge-
schichte bleiben wird. Werke wie Salome, Elektra, Intermezzo und andere werden nicht vergehen." 33
33 Hans Heinz Sruckenschmidt, Arnold Schönberg. Leben, Umwelt, Werk, Zürich I Freiburg i.Br. 1974, S. 499.
34 Arnold Schönberg, Harmonielehre, Wien 3 1922, S. 482 und 484.
35 Frisch, The Early Music, 5.222.
164 Zusammenhänge
II J. I J. II
A. Schönberg, Kamm~rsymphoni~ op. 9, Seiren atz, T. 84-86, I. Violine
Jenr gesangli~n ...-:::;;-
~ t;jJJpij la:OOI] E
PP-==:: ::;:::::::- -==:: :::::: :::-
R. Srrauss, Salomr, 8 Takte vor Ziffer 21, Beginn der 2. Szene, I. Violine*
&1 a. ~
1, ßf{7i1
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A. chönberg, Erst~s Strdchqtlilrtettop. 7, T. 1-6, l. Violine
Nicht zu rasch.
lfi . u.
-=!
n'UJri'
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mf I .
lftr· fj- 73
© 1916 Adolph Fürsmer, Berlin I© 1987 Fürstner Musikverlag, Mainz (für die Gebiete Deutschland,
Danzig, Italien, Portugal und die Nachfolgestaaten der UdSSR außer Estland, Lettland und Litauen).
© für alle anderen Länder: Boosey & Hawkes Music Pub!. Ltd.
Zusammenhänge 165
T. 8- 10, Violoncello
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ld
>
j rr
A. Schönberg, Kammersymphonie op. 9, R. trauss, Don jrutn, T. 547-549, Violoncello
T. 4-6, Horn
Die weitgehende thematische und bis zu einem gewissen Grad auch kontrapunktis che
Verwandtschaft mit Strauss' symphonisch em Gedicht mögen die folgenden Gegen-
überstellungen verdeutlichen, in denen nicht nur das punktierte, sondern auch ein bei
Schönberg besonders scharf hervortretendes Triolenmotiv vorherrschen:
T. 314-320, Horn
166 Zusammenhänge
langsam
Akkordauflö ung
Strauss
....----.... Schönberg
~iFz=W llr
Die hier vorgeschlagene Interpretation ergibt übrigens auch die Möglichkeit, Schön-
bergs oft zitierte, aber noch stets geheimnisvolle erste drei Takte im Sinn eines "priva-
ten Programms", wie dem des d-Moll-Quartetts, zu erläutern. Denn aus der Don-luan-
Sicht dürfte es sich bei dem auf- und absteigenden Oktavsprung der Oberstimme und
der darauffolgenden Akkordauflösung ins reine F-Dur um einen typischen Fall roman-
tischer Ironie handeln. Strauss wies dem Oktavsprung zentrale symbolische Funktio-
nen sowohl für Anna (G-Dur) als auch mit dem ihr verwandten sogenannten "zweiten
Don-Juan-Thema" zu, das dem Fall des Helden in seiner Selbstherrlichkeit voraus-
geht. Bei Anna kommt kontrapunktisch aber auch bereits die chromatisch absteigende
Figur von dessen "Überdruß-Motiv" zur Geltung. Und dieses trat in seiner ursprüngli-
chen Form mit einem in Gegenbewegung chromatisch aufsteigenden Baß auf, was
Schönberg im Geist romantischer Ironie Anlaß gab, das Verhältnis umzukehren. Bei
ihm ist es der Baß, der absteigt. Und im seihen Sinn versteht sich die unterschiedliche
Akkordauflösung: Während der sündige Don sein Ende in e-Moll findet, sieht der erst
32 Jahre alte Komponist Arnold Schönberg die Zukunft nach einer kurzen, unsicheren
Zusammenhänge 167
Eine Aufführung von Arnold Schönbergs "Drama mit Musik" Die glückliche Hand
op. 18 nimmt weniger als eine halbe Stunde in Anspruch, seine Entstehung erstreck-
te sich dagegen über mehr als drei Jahre (September 1910 bis November 1913), und
erst elf Jahre nach dem Abschluß der Partitur fand die Uraufführung statt. In der
unmittelbaren Vorkriegszeit fehlte es Schönberg nicht an dringenden, zum Teil rein
materiell bedingten Arbeiten, einschließlich Basso-continuo-Bearbeitungen österrei-
chischer Kompositionen des 18. Jahrhunderts (Monn, Mann und Tuma), aber auch
die Harmonielehre, Beiträge zum Almanach Der Blaue Reiter und jene auf Bestellung
komponierten "Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds Pierrot lunaire" op. 21,
die ihm im Laufe der Jahre wenn nicht immer die Bewunderung, dann doch wenig-
stens den Respekt prominenter Vertreter verschiedenster stilistischer Richtungen und
Gattungen einbrachten, Giacomo Puccinis nicht weniger als Darius Milhauds, ja
sogar Igor Strawinskys.
Das auffallendste Kennzeichen dieser Epoche war eine weitere Verdichtung der
Ausdrucksweise. Die vermutlich von Bela Bart6ks 14 Bagatellen für Klavier op. 6 in-
spirierten Sechs kleinen Klavierstücke op. 19 entstanden mit einer einzigen Ausnahme
offenbar an ein und demselben Tag (19. Februar 1911). Aber auch das als Faksimile im
Almanach Der Blaue Reiter veröffentlichte, allein angesichts seiner Instrumentation
bahnbrechende Maeterlinck-Lied Herzgewächse für hohen Sopran, Celesta, Harmoni-
um und Harfe op. 20 atmet denselben Geist von höchst ausdrucksvoller Bündigkeit.
Und was Erwartung bereits vorgezeichnet hatte, fand seine meisterhafte Erfüllung in
der präzedenzlos explosiven Knappheit des "Dramas mit Musik" Die glückliche Hand.
Denn die verhältnismäßig geradlinig fortschreitende Musik des Melodrams entspricht
trotz zahlreicher, oft abrupter Unterbrechungen einem richtunggebenden Szenario.
Dagegen folgt das "Drama mit Musik", dieses erste wirkliche Minidrama, einer
drehbuchartig gestalteten Kurzgeschichte, deren Beginn krebsartig bereits das Ende
vorausnimmt.
Richard Strauss schloß die Partitur seiner abendfüllenden "Komödie für Musik"
Der Rosenkavalier am 26. September 1910 ab, und knapp vier Monate später fand die
Dresdener Urauführung statt. Am 9. September begann Schönberg seinerseits die Ar-
beit am Partitur-Konzept seines kurzen "Dramas mit Musik", obwohl er sehr wohl
wußte, daß eine derart geballte, im wahrsten Sinn des Wortes "expressionistische" Aus-
drucksweise womöglich das Interesse gewisser progressiver Theaterunternehmen er-
wecken würde, die mit dem ausgebreiteten Orchesterapparat jedoch nichts anzufangen
wüßten. Traditionelle Opernhäuser hätten zwar den instrumentalen und bühnen-
technischen Anforderungen ohne weiteres gerecht werden können, wären aber vor ei-
ner Novität zurückgeschreckt, die ein Richard Wagners Musikdramen verwandtes Thema
in wenig mehr als zwanzig aufregenden Minuten behandelte und nicht nur in dieser
Beziehung allzu sehr aus dem gewohnten Opernrahmen fiel. An eine Premiere war
Ein .Drama mit Musik" und .Dreimal sieben Melodramen" 169
denn auch nur im Zusammenhang mit den sozialpolitischen und allgemein kulturel-
len Umwälzungen der Nachkriegsjahre zu denken.
Die glückliche Handkam schließlich mit elf Jahren Verspätung unter Fritz Stiedrys
überzeugter und dementsprechend überzeugender Leitung 1924 in der Wiener Volks-
oper zur Uraufführung. Und das Premierenpublikum fand zu seinem Erstaunen, daß
abgesehen von den einleitenden und abschließenden Chören kaum gesungen wurde.
Selbst "der Mann", ein intuitiv schaffender Mensch, der seiner naiven Gier zum Opfer
fällt, äußerte nur einige kurze, sein Schicksal allerdings entscheidende Worte. Die Haupt-
rolle spielt weder er noch die von ihm begehrte Frau, sondern das Orchester in enger
Verbindung mit der zumeist stummen, aber äußerst farbenreich beleuchteten Bühnen-
handlung. Die menschliche oder vielmehr unmenschliche Tragöde, die sich da in kür-
zester Zeit abspielt, enthält Momente, die dem Komponisten, Maler und Dramatiker
Schönberg nur allzu vertraut waren. Hemmungen rein persönlicher Art mögen denn
auch dazu beitrugen haben, daß Die glückliche Hand in schroffem Gegensatz zur be-
trächtlich längeren Erwartung eine so lange, durchaus uncharakteristische Verzöge-
rung erfuhr. Viel Zeit nahm natürlich auch Schönbergs in den letzten Vorkriegsjahren
aus ähnlichen Gründen an Leidenschaft grenzende Beschäftigung mit Malerei in An-
spruch, die sich im "Drama mit Musik" auf eine derart intensive Art und Weise nieder-
schlug, daß man von einem "Minidrama in Farben und Musik" zu sprechen versucht ist.
Philipp Otto Runge, der mit Novalis befreundete Maler der Frühromantik, träum-
te bereits von einer "abstrakt malerischen phantastisch-musikalischen Dichtung mit
Chören" .1 Aber wie so manche romantische Vorstellung war auch diese längst in Ver-
gessenheit geraten, als moderne bildende Künstler, allen voran Wassily Kandinsky, sich
ähnlichen Gesamtkunst-Ideen hingaben. Kandinskys "Bühnenkomposition" Der gelbe
Klang erschien denn im Almanach Der Blaue Reiter mit ausführlichen Musik- und
Beleuchtungsandeutungen in unmittelbarer Nachbarschaft von Schönbergs Herz-
gewächse. Oskar Kokoschka, ein Maler derselben Generation, war ihm allerdings schon
mit seinem 1910 in der Zeitschrift Der Sturm veröffentlichten Bühnenstück Mörder,
Hoffoung der Frauen zuvorgekommen.
Im November 1911 brachte Schönberg die ein Jahrzehnt lang offen gelassene Gu"e-
Lieder-Partitur endlich mit einem Chorfinale zum Abschluß, das die Entwicklungen
der inzwischen vergangenen Zeit zwar nicht zu leugnen vermochte, den älteren Stil
aber keineswegs vergewaltigte. Von diesem Sonderfall abgesehen ging es dem Kompo-
nisten jetzt jedoch deutlich darum, mit Werken wie Herzgewächse und den Klavierstük-
ken op. 19 wegweisend zu wirken, ohne der tonalen Vergangenheit ein für allemal den
Rücken zu kehren. Davon zeugt einerseits die Harmonielehre und andererseits der drei-
jährige Zeitraum zwischen Beginn und Ende der Arbeit an dem so äußerst kurz gefaß-
ten "atonalen" Bühnenstück. 1910 durfte sich Schönberg ja noch mit vollem Recht
auf den George-Zyklus op. 15 als entscheidend für seine derzeitige geistige und musi-
kalische Neuorientierung berufen. Aber erst Die glückliche Handbestätigte den Anfang
einer Etappe voll von Hindernissen, deren Überwindung mit den textgebundenen
Siehe Wassily Kandinsky I Franz Mare (Hg.), Der Blaue Reiter. Dokumenrarische Neuausgabe von
Klaus Lankheir, München 1965, S. 294.
170 Ein .Drama mit Musik" und .Dreimal sieben Melodramen"
musikalischen Wundern der Jakobsleiter sich letzten Endes als unerläßlich richtungge-
bend für die dodekaphonischen Werke der Nachkriegszeit erwies. Diese Schönbergs
Lebensaufgabe konsolidierende Etappe erforderte allerdings wie schon 1905 beschei-
denere Mittel als den derzeit üblichen übermächtigen Orchesterklang, wenn die nun-
mehr von tonalen Fesseln befreite Schönbergsehe Polyphonie nicht nur uneingeschränkt,
sondern auch verständlich zu Gehör kommen sollte.
Hermann Scherchen, der in jeder Beziehung fortschrittliche Dirigent und Leiter
der ersten Pierrot-Tournee, kam im kritischen geschichtlichen Augenblick, Ende 1919,
mit einem kurzen Artikel auf das in der Waage hängende"Tonalitätsprinzip" zurück.
Er fragte sich, was das "Wieder-in-den-Vordergrund-treten des Kontrapunktischen"
eigentlich logisch forderte. Denn "sowie das Harmonische aufhört, Grundlage und
Ausgangspunkt zu sein und zum Vertikalresultat horizontaler Stimmbewegung wird",
bestand offensichtlich die Gefahr, "in ein Chaos zurück[zu]fallen ähnlich dem durch
sie [die Tonalität] überwundenen". Sollte "quälerisch erfolgloses Suchen ein zweites
Mal Epochen der Musik kennzeichnen"? 2 Daß Dissonanz und Konsonanz "ihren ein-
schränkend ordnenden Sinn verlieren, und so die unbegrenzte Fülle der natürlichen
Erscheinungen von neuem vor den Musiker tritt und Bewältigung verlangt", war deut-
lich.3 Wie das aktuellste aller brennenden musikalischen Tagesprobleme eventuell zu
bewältigen wäre, vermochten weder dieser intelligente und erfahrene junge Musiker
noch Rudolf Reti in seinem unmittelbar folgenden Aufsatz "Konsonanz und Disso-
nanz"4 zu sagen. Für die schöpferisch umfassende Antwort sorgte anderthalb Jahre
später kein anderer als Arnold Schönberg selbst.
Schönbergs stets einheitliches Denken bezeugt u. a. die Tatsache, daß er bereits im
Oktober 1908 "3 Einfälle" {"Thaten"- "Beschwichtigung"- "Schein-Glück") notier-
te, die sich in den Worten ihres Entdeckers, Jan Maegaard, "unschwer in Verbindung
mit dem Text zu op. 18 setzen" lassen. 5 "Schein-Glück" ist genau das, was dem "Mann"
mit der alles andere als glücklichen Hand zum Verderben wird und somit auch zum
Leidwesen der sechs Frauen und sechs Männer, deren Warnungen auf taube Ohren
fielen. Einige Jahre später, mitten im Ersten Weltkrieg, lieferten ähnliche religiös-ethi-
sche Probleme menschlichen Verhaltens in all ihrer Komplexität den Grundstoff des
Jakobsleiter-Textes. Und damit war Schönbergs zukünftige schöpferische Aufgabe un-
verkennbar festgelegt: vom kategorischen Imperativ "Du sollst nicht- Du mußt" über
die biblische Oper Moses und Aron bis zu den Modernen Psalmen, mit denen er sein
kämpferisch-ethisches Leben beendete. Kurzum, Die glückliche Handbildete den schöp-
ferisch entscheidenden Kreuzungspunkt in der mit eiserner Konsequenz voran-
schreitenden geistigen Vertiefung eines mit wenigen Ausnahmen autobiographisch ver-
ankerten künstlerischen Schaffens. Schönbergs einstiger Schüler und erster Biograph,
Egon Wellesz, dem seinerzeit nur die handschriftliche Originalpartitur zur Verfügung
2 Hermann Scherchen, "Das Tonalitätsprinzip", in: Musikblätter des Anbruch 1 (1919), S. 81.
3 Ebenda, S. 82.
4 RudolfReti, "Konsonanz und Dissonanz", in: Musikblätter des Anbruch 1 (1919), S. 82-83.
5 Jan Maegaard, Studien zur Entwicklung des dodekaphonen Satzes bei Arnold Schönberg, Kopenhagen
1972, Bd. I, S. 67.
Ein .Drama mit Musik" und .Dreimal sieben Melodramen" 171
stand, betonte denn auch schon 1921: "Hier handelt es sich nicht darum, daß beliebi-
gen Personen dramatischer Atem eingeblasen wird, sondern um eine höchst persönli-
che Aussprache durch die Mittel des Dramas. "6
Beide, das Monodram und das "Drama mit Musik", sind von Anfang an mit Vor-
liebe quasi-Freudschen Interpretationen unterzogen worden. Daß Erotik und Sexuali-
tät mit Religion und geistigen Werten keineswegs unvereinbar sind, lehrt schon das
Alte Testament auf seine stets menschlich realistische Weise. Die Botschaft eines Büh-
nenwerks hängt natürlich nicht nur vom Text als solchem ab, sondern auch von der
jeweiligen Auffassung des Regisseurs und seiner Schauspieler sowie insbesondere im
Fall eines Gesamtkunstwerks wie Die glückliche Hand von der Vorstellungskraft und
den technischen Fähigkeiten des Bühnenbildners und seiner Mitarbeiter. Schönberg
tat sein Bestes, um etwaigen Entstellungen seiner Absichten mit Hilfe von ausführli-
chen Instruktionen vorzubeugen. Das außergewöhnlich differenzierte Farbenspiel im
Einklang mit dem Orchester "instrumentierte" er sogar in der Partitur. Sonstige Inszenie-
rungsprobleme besprach er soweit möglich mit den jeweils verantwortlichen Theater-
leuten. In seinemanläßlich der bevorstehenden Berliner Erstaufführung imApril1930
an den Intendanten der Kroll-Oper Ernst Legal gerichteten Brief beschränkte er sich
angesichts bereits gemachter Erfahrungen bei weitem nicht auf allgemeine Bemerkun-
gen, sondern lenkte die Aufmerksamkeit dieses gewiegten Theatermannes speziell auf
acht bühnentechnische Probleme.? Außerordentlich schnelle Szenenwechsel allein ver-
langten ein vielseitiges Reaktionsvermögen aller Beteiligten, und ganz ähnlich verhielt
es sich mit der minutiösen Synchronisierung des fast ununterbrochenen Lichtspiels
einerseits mit den musikalischen Vorgängen und andererseits mit den pantomimen-
artigen Bewegungen der größtenteils stummen Hauptfiguren.
Klanglich und in seiner melodisch-harmonischen Ausdrucksweise ging das Orche-
ster hier einige größere Schritte in der 1909 eingeschlagenen Richtung entschieden
weiter. Echos der FünfOrchesterstücke op. 16 sowie gewisse harmonische Verwandt-
schaften mit dem Monodram op. 17 treten in der Regel unverkennbar intensiver, ge-
drängter in Erscheinung, zumal der Sologesang ja auf einige wenige Takte beschränkt
bleibt. Durchaus neu ist dagegen der nach altklassischen Vorbildern agierende zwölf-
stimmige Chor. Ein Sprecher nimmt zwar schon in Gurre-Liederdramatische Funktio-
nen wahr, im "Drama mit Musik" deklamiert der Chor polyphon sogar singend und
sprechend zu gleicher Zeit.
Angesichts der rein technischen Schwierigkeiten einer seinen Anforderungen ent-
sprechenden Aufführung erwog Schönberg bereits kurz nach dem endgültigen Ab-
schluß der Partitur die Möglichkeit einer Verfilmung. Das damals noch stumme Medi-
um schien fast per definitionem geeignet, die phantastische Atmosphäre zu unterstrei-
chen, in der sich das "Drama mit Musik" abspielt. Vor allem hätte ein Kurzfilm Die
glückliche Hand in Verbindung mit konzertanten Aufführungen voraussichtlich einem
breiteren Publikum zugänglich gemacht. Obwohllogisch für einen Komponisten, den
der Film und sein künstlerisches Potential schon sehr früh faszinierten - vom Tonfilm
erwartete er 1927 dann nichts weniger als "eine Wiedergeburt der Künste"-, war auch
dieser Weg voller Hindernisse und verlor sich schließlich im unsteten kulturellen Sand
der unmittelbaren Vorkriegszeit. 8 Schönberg nahm aber wenigstens die Gelegenheit
wahr, um seinem Verleger Hertzka darzulegen, was er mit der Verfilmung dieses so
völlig neuartigen Bühnenstücks eigentlich im Auge hatte:
"Ich will: Höchste Unwirklichkeit! Das Ganze soll (nicht wie ein Traum) sondern wie Akkorde
wirken. Wie Musik. Es darf nie als Symbol, oder als Sinn, als Gedanke, sondern bloß als Spiel
mit den Erscheinungen von Farben und Formen wirken. So wie Musik nie einen Sinn mit sich
herumschleppt, wenigstens nicht in ihrer Erscheinungsform, obwohl sie ihn ihrem Wesen nach
hat, so soll das bloß fürs Auge klingen und jeder soll meinerwegen ähnliches dabei denken oder
empfinden wie bei Musik. "9
,,Akkorde" bezieht sich natürlich auf die Vielzahl der jeweils zusammenwirkenden Kün-
ste, ein Prinzip, das zwar auch noch späteren Werken zugrunde lag, aber nie wieder mit
auch nur annähernd ähnlichen ästhetischen Resultaten. Das "Drama mit Musik" war
und blieb als möglicher Prototyp einer wahren Universalkunst Beginn und Ende zu-
gleich. In seiner Einmaligkeit ist Die glückliche Hand allerdings bezeichnend für einen
Komponisten, der sich mit Ausnahme des Streichquartetts kaum um Gattungen küm-
merte. Und so wurde sein nächstes Hauptwerk Pierrot lunaire, ebenfalls konkurrenz-
und nachfolgelos, in lgor Strawinskys großzügigem Urteil zum ,,Solarplexus" der Mu-
sik des 20. Jahrhunderts.
Schönbergs Opus 21, "dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds Pierrot lunaire"
für eine genau fixierte Speechstimme und ein kleines Karnmerensemble, dessen gezielt
differenzierte Klangstruktur sich dem gesprochenen Text von Fall zu Fall fügt, schwebt
allerdings noch ganz offensichtlich zwischen "Unwirklichkeit" und vermeintlicher Wirk-
lichkeit. Schon die Wahl von 3x7 Stücken für sein 21. Opus bezeugt ein gewisses Be-
wußtsein der ironischen Situation, in der er sich mit diesem gut bezahlten Auftrags-
werk befand. Für einen Künstler wie ihn, der mit Stolz darauf bestand, daß er nur aus
innerer Notwendigkeit schuf, war es womöglich sogar eine peinliche Erfahrung, was
wiederum jenes an Entschuldigung grenzende Eingeständnis Kandinsky gegenüber
erklären mag, daß ihm Pierrot Iunaire an sich wenig bedeute und eigentlich nur im
Zusammenhang mit Plänen für eine neue Arbeit von Interesse sei. Andererseits konnte
er sich über den schon kurz nach der Berliner Premiere im Oktober 1912 stets deutli-
cher werdenden Sensationserfolg kaum beklagen. Schließlich hatte er die 21 größten-
teils kontrapunktisch sehr komplizierten Vertonungen mit einer einzigen Ausnahme
("Die Kreuze") zwischen dem 2. März und 6. Juni 1912 sozusagen aus dem Ärmel
geschüttelt, ohne andere Verpflichtungen dabei zu vernachlässigen. Salka Viertel, die
Schwester des bereits im ersten Pierrot-Ensemble mitwirkenden jungen Pianisten Edu-
ard Steuermann, hat in ihren Erinnerungen anschaulich geschildert, wie ihr Bruder die
8 Arnold Schönberg, .Kunst und Film", in: ders., Stil und Gedanke. Auflätze zur Musik (Gesammelte
Schriften I), hg. von Ivan Vojtech, Frankfurt a.M. 1976, S. 363, wo rückblickend von der erhofften
.Wiedergeburt der Künste" die Rede ist.
9 Arnold Schönberg, Briefe, hg. von Erwin Stein, Mainz 1958, S. 41.
Ein "Drama mit Musik" und "Dreimal sieben Melodramen" 173
jeweils tägliche Arbeit regelmäßig per Fahrrad bei der Auftraggebeein Alberrine Zehme
ablieferte. 10 Arnold Schönberg komponierte zwar überhaupt oft erstaunlich schnell,
aber kaum je derart systematisch, was einerseits darauf hinweisen mag, daß er sich
seiner Aufgabe möglichst rasch entledigen wollte, andererseits jedoch, daß er Otto
Erich Hartlebens deutsche Fassung der ursprünglich französischen Verse am Ende doch
besonders anregend fand.
Im Vorwort zur gedruckten Partitur für "Rezitation, Flöte (bzw. Piccolo), Klarinet-
te (bzw. Baßklarinette), Geige (bzw. Bratsache), Violoncello und Klavier" heißt es aus-
drücklich:
"Die in der Speechstimme angegebene Melodie ist (bis auf einzelne besonders bezeichnete Aus-
nahmen) nichtzum Singen bestimmt. Der Ausführende hat die Aufgabe, sie unter guter Be-
rücksichtigung der vorgezeichneten Tonhöhen in eine Sprechmelodie umzuwandeln."
Wie diese Umwandlung zu bewerkstelligen ist, legte der Komponist in seiner praktisch
geschulten Art genau dar, indem er u. a. darauf hinwies, daß der Sprechton die Tonhö-
he zwar andeutet, sie dann aber "durch Fallen oder Steigen sofort wieder" verläßt. "In
eine ,singende' Sprechweise" darf der Ausführende unter keinen Umständen verfallen,
denn das sei "absolut nicht gemeint". Andererseits wird "keineswegs ein realistisch-
natürliches Sprechen angestrebt. Im Gegenteil, der Unterschied zwischen gewöhnli-
chem und einem Sprechen, das in einer musikalischen Form mitwirkt, soll deutlich
werden. Aber es darf auch nie an Gesang erinnern."
Nicht weniger wichtig war ihm, daß die Ausführenden ihre Aufgabe nicht "aus
dem Sinn der Worte [... ] der einzelnen Stücke" gestalteten, "sondern stets lediglich aus
der Musik. Soweit dem Autor die tonmalerische Darstellung der im Text gegebenen
Vorgänge und Gefühle wichtig war, findet sie sich ohnedies in der Musik. Wo der
Ausführende sie vermißt, verzichtet er darauf, etwas zu geben, was der Autor nicht
gewollt hat. Er würde hier nicht geben, sondern nehmen."
Was Schönberg hier mit Hilfe von fünf solistisch engagierten Musikern und einer
rezitierenden Schauspieleein zustande brachte, war insofern völlig neu, als er eine dem
Kabarett entstammende Tradition aufgriff und sie dem Geist klassischer Kammermusik
unterwarf. Das Kabarett war ihm ja keinesfalls fremd, denn dort hatte er sich schließlich
um die Jahrhundenwende zum ersten Mal berufsmäßig als Musiker betätigt. Allerdings
unterscheidet sich die Pierrot-Musik von seinen frühen Brettl-Liedern vor allem in ihrem
raffiniert instrumentierten polyphonen Reichtum, zu dem auch die Speechstimme einen
entscheidenden Beitrag liefert, was wiederum erklären mag, warum es dem Komponi-
sten so besonders um die genaue, obwohl schnell zu verlassende Tonhöhe ging.
Albertine Zehme bestand 1912 darauf, daß das Instrumentalensemble unsichtbar
hinter einem Wandschirm spielte, und der Komponist fügte sich schweren Herzens.
Was ihn betraf, stellte die Rezitation einen integralen Bestandteil des Ensembles dar,
und er handelte dementsprechend auch in späteren Jahren. Denn wie im Fall des "Dra-
mas mit Musik" soll auch hier alles "wie Akkorde wirken". Das war wohl einer der
Hauptgründe für den Nachdruck, mit dem das Partitur-Vorwort die Notwendigkeit
einer genauen Wiedergabe des vorgeschriebenen Rezitationsrhythmus betont. Die Qua-
lität des Ensemblespiels hängt in diesem Fall zum großen Teil davon ab, daß der Sprecher
"den Rhythmus haarscharf so einhält, als ob er sänge, d. h. mit nicht mehr Freiheit, als er
sich bei einer Gesangsmelodie gestatten dürfte". In der Praxis zeigt sich, daß er sogar
weniger Freiheit genießt, einmal schon, weil die deutsche Sprache verhältnismäßig weni-
ge lange Silben enthält. Hauptsächlich aber geht es darum, in einer vornehmlich kontra-
punktischen Faktur jederzeit mit den Instrumentalpartien Schritt zu halten.
Die 21 Bestandteile dieses Zyklus unterscheiden sich auf so vielfältige Weise von-
einander, daß es kaum möglich ist, im Rahmen einer allgemeineren Behandlung des
Schönbergsehen Gesamtwerks in allen Besonderheiten darauf einzugehen. Eine kurze
Gegenüberstellung von drei miteinander verbundenen, aber völlig anders gearteten
Nummern muß hier die nötigenparspro toto-Dienste leisten. Es handelt sich um die
einzigen drei, in deren Titel der Mond als solcher erwähnt ist, nämlich das erste und
letzte Stück des I. Teils, "Mondestrunken" und "Der kranke Mond", sowie das Mittel-
stück des III. Teils, "Der Mondfleck". Der Mond steht hier als Symbol für allgemein-
menschliche Zustände, die der mondsüchtige Narr an sich selbst erfährt, kaum anders
als jener "Mann" mit der vermeintlich glücklichen Hand. Mit anderen Worten, hier
wie dort geschieht alles nur scheinbar in "höchster Unwirklichkeit", zumal im Lauf der
Geschehnisse immer wieder religiöse Anspielungen zu Gehör kommen: "Madonna"
(Nr. 6), "Gebet an Pierrot" (Nr. 9), "Rote Messe" (Nr. 11), "Die Kreuze" (Nr. 14).
Gleich zu Anfang in "Mondestrunken" ist die Rede von dem "Dichter, den die An-
dacht treibt", und zuletzt spricht der Dichter selbst:
"Ein närrisch Heer von Schelmerein" bringt am Ende eine wirksamere Katharsis als das
mit enttäuschten Worten eines vermutlich himmlischen Chores abschließende "Dra-
ma mit Musik":
Das Vorspiel "Mondestrunken" ist eine fünfstimmige Komposition, in der alle Betei-
ligten Gelegenheit haben, sich über das literarische Thema, ein jeder auf seine idioma-
tische Weise, zu äußern. Das Klavier gibt den Ton an, den die Flöte nach einigen
Takten aufgreift, während die Geige anfangs eine vornehmlich rhythmische Funktion
erfüllt, ganz offensichtlich als unterstützender Partner der Rezitation. Erst nach einiger
Zeit verdichtet sich das gegenseitige Spiel auf eine Weise, die allen Beteiligten mehr
Ein "Drama mit Musik" und "Dreimal sieben Melodramen" 175
oder weniger gleiche, aber größtenteils unabhängige Anteile zuweist. Mit dem sieben-
ten Stück, "Der kranke Mond", trauert der Dichter um alle, die "an unstillbarem Liebes-
leid" sterben wie "du nächtig todeskranker Mond dort auf des Himmels schwarzem
Pfühl". Angesichts der Schwäche des Patienten beschränkt sich der instrumentale An-
teil auf eine einzige Flöte, deren melancholische, wiederholt von Pausen unterbroche-
ne Kantilene die Klage des Rezitierenden begleitet. Die kanonische Struktur des 18.
und zweifellos meistzitierten Stücks, "Der Mondfleck", gibt dem gesamten Ensemble
gleiche Gelegenheit, Arnold Schönbergs kontrapunktisches Können virtuos darzustel-
len. Im Lauf eines nächtlichen Spaziergangs bemerkt Pierrot nämlich einen hellen Fleck
auf seinem Rücken, den er vergeblich zu entfernen versucht. Er "wischt und wischt,
doch- bringt ihn nicht herunter! I Und so geht er, giftgeschwollen, weiter, I Reibt und
reibt bis an den frühen Morgen - I Einen weißen Fleck des hellen Mondes." Was
Schönberg hier zustande brachte, ist nichts weniger als ein selten vielschichtiges Kunst-
stück, nämlich einen Doppelkanon, der von seinem Mittelpunkt an im Krebsgang
verläuft, und in den Worten eines befugten Kommentators "mit der Spiegelung gleich-
sam die Handlung in die Konstruktion mitaufnimmt" .U
Auf die Strenge des Kontrapunkts war der Komponist denn auch besonders stolz.
"Das ist nicht nur so hingeschrieben", erklärte er im Beisein seines Schülers Hanns
Eisler, "Konsonanzen sind nur im Durchgang oder auf schlechtem Taktteil." 12 Das ist
natürlich eine ironische Bemerkung, aber Ironie war nun einmal ein effektives Mittel
der Verständigung, dessen sich Arnold Schönberg sein Leben lang bediente. Davon
zeugt Pierrot Iunaire op. 21 in seiner ,,Atonalität" ebenso wie sechs Jahre zuvor die
tonale Kammersymphonie op. 9 oder dreizehn Jahre später die dodekaphone Septett-
Suite op. 29. Im übrigen nahm der Doppelkanon dramatisch gesehen Paul Hinde-
miths Strukturverfahren in der Kurzoper Hin und zurück voraus. Das ist aber nur ein
verhältnismäßig oberflächliches Beispiel der epochemachenden Auswirkungen dieses
Pflichtstücks aus einer Zeit, in der Schönberg sein Brot u. a. mit Generalbaß-Ausset-
zungen für Guido Adlers Denkmäler der Tonkunst in Österreich verdienen mußte. Nicht
zu unterschätzen ist allerdings der Einfluß des weitverzweigten Berliner Theater- und
Musiklebens, in dem das Kabarett eine stets größere Rolle zu spielen begann. Schön-
bergs erster längerer Berlin-Aufenthalt war ja auch mit seinem Engagement bei
Wolzogens "Überbrettl" verbunden gewesen. Und derselbe Geist animierte noch sei-
nen dritten Berliner Aufenthalt als Leiter einer Meisterklasse für Komposition an der
Preußischen Akademie der Künste, ein Geist, der sowohl in der noch in Wien entstan-
denen Suite op. 29 als auch in der komischen Oper Von Heute aufMorgen op. 32 auf
verschiedenste Weise Ausdruck fand. Diese bei Schönberg so besonders mit Berlin
verbundene Tatsache mag angesichts der politischen Entwicklungen nach 1930 beson-
ders ironisch erscheinen, war andererseits jedoch durchaus im Einklang mit der in der
Hauptstadt der Weimarer Republik in ihren besten Jahren vorherrschenden kulturel-
len Atmosphäre.
11 Eberhard Freitag, Arnold Schönberg in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1973, S. 81.
12 Siehe Arnold Schönberg zum fonfoigsten Geburtstage, 13. September 1924, Sonderheft der Musikblätter
des Anbruch, Wien 1924, S. 327f.
176 Ein .Drama mit Musik" und .Dreimal sieben Melodramen"
Mit seiner Pierrot-Arbeit leitete Arnold Schönberg in gewisser Hinsicht eine neue
Epoche in der Geschichte der Musik des 20. Jahrhunderts ein. Das ist längst eine allge-
mein verbreitete Meinung, der sich sogar lgor Strawinsky, Schönbergs "kleiner
Modernsky", zunächst zögernd, aber dann doch aus vollem Herzen anschloß. Schön-
berg selbst erkannte den Wert dieses außergewöhnlichen Werkes, wie gesagt, vor allem
in Verbindung mit eigenen Plänen für die Zukunft. Was er mit seinen diesbezüglichen
Worten an Wassily Kandinsky genau im Sinn hatte, läßt sich letzten Endes nur verhält-
nismäßig spekulativ erörtern. Eine unwiderlegbare Tatsache ist und bleibt jedoch Schön-
bergs charakteristische Tendenz, auf Ereignisse zu reagieren, die an sich nur wenig,
wenn überhaupt etwas, mit Musik als solcher zu tun hatten. Und das Schicksal wollte
es nun einmal, daß die Veröffentlichung jenes provokativen Aufsatzes, der die Münch-
ner Kunstwart-Debatte entfesselte, am 11. März 1912 stattfand, also einen Tag bevor
Arnold Schönberg seine Pierrot-Arbeiten mit dem Gebet an Pierrot begann. Und am
seihen Tag, dem 12. März 1912, feierten Deutschlands Juden, wie gesagt, das hundert-
jährige Jubiläum des preußischen Emanzipationsediktes, das ihnen den Weg aus der
Judengasse in die moderne Welt eröffnet hatte. Seltsamerweise endete die Kunstwart-
Debatte, kurz bevor Schönberg Pierrot Iunaire genau zwei Monate nach dem Beginn,
am 12. Mai 1912, zum Abschluß brachte, und zwar mit dem Galgenlied. Inzwischen
hatte das hoch angesehene Münchner Kulturorgan den unverkennbaren Beweis gelie-
fert, daß so mancher deutsche Intellektuelle jüdische oder von Juden abstammende
Kollegen ganz gern vom Galgen hängend gesehen hätte. Der gelbe Judenfleck ließ sich
eben nicht verwischen, und man darf sich unter diesen Umständen wohl fragen, ob
Schönberg sich der eigentümlichen Parallele nicht bewußt war, als er den unverwisch-
baren Mondfleck musikalisch darzustellen suchte. Was er wohl nicht zu ahnen ver-
mochte, war die Tatsache, daß auch sein vermeintlicher Weg in die Zukunft letzten
Endes zurück in die Vergangenheit führen würde. Auch ihm blieb schließlich, wie allen
Sterblichen, am Ende wenig mehr als "alter Duft aus Märchenzeit".
Aber wie dem auch sei, im Sinn eines musikalisch-strukturellen Prinzips hatte der
Krebskanon bereits eine jahrhundertelange symbolische Geschichte. Eines der bekann-
testen frühen Beispiele ist bekanntlich Guillaume de Machauts Komposition der bibli-
schen Worte "Ma fin est mon commencement", und anfangs wurden derartige Kom-
positionen sogar mit der Andeutung "canit more Hebraeorurn" versehen, ange-
sichts der Tatsache, daß Hebräisch vom christlichen Standpunkt aus krebsartig von
rechts nach links geschrieben und gelesen wird. Arnold Schönbergs Texte beziehen sich
zwar oft genug auf aktuelle Probleme, aber seine Pierrot-Auswahl verleitet den Histori-
ker besonders leicht zu Spekulationen und in bezugauf den gelben Judenfleck hatte ja
schon Heinrich Heine aus eigener Erfahrung festgestellt, daß er sich selbst mit dem
TaufWasser kaum "abwaschen" ließ. Daß 1912 ein für Schönberg in geistiger Hinsicht
kritisches Jahr war, beweist einmal schon sein Plan für ein symphonisches Oratorium,
das, wie er Richard Dehmel ausführlich berichtete, religiöse Probleme des modernen
Menschen behandeln sollte. Und daß er dabei zunächst an Honore de Balzacs Seraphita
und August Strindbergs Jakob ringt dachte, dann aber mehr und mehr biblische und
andere orientalische Texte einzubeziehen suchte, spricht an sich schon Bände in die-
sem Zusammenhang. Dazu aber kommt die durchaus berechtigte Vermutung, daß er
Ein "Drama mit Musik" und "Dreimal sieben Melodramen" 177
dieses zwar als solches nie ausgeführte, für die Zukunft jedoch entscheidende Projekt
im Auge hatte, als er sich in jenem 1912 an Kandinsky gerichteten Schreiben auf den
rein musikalischen im Gegensatz zum inhaltlichen Wert der Pierrot-Komposition für
seine nächsten Pläne bezog.
Der kategorische Imperativ
Fast zur gleichen Zeit, in der Arnold Schönberg hoffte, quälende religiöse Probleme
moderner Menschen zum zentralen Thema eines großen Symphonie-Projekts zu ma-
chen, das er schließlich als unausführbar fallen ließ, entwickelte Martin Buher seine
grundlegende Unterscheidung zwischen Religiosität und Religion, die ihn einige Jahre
später zu der kategorischen Feststellung veranlaßte:
"In der Unbedingtheit seiner Tat erlebt der Mensch die Gemeinschaft mit Gott. Nur für den
Lässigen, den Entscheidungslosen, den Geschehenlassenden, den in seine Zwecke Verstrickten
ist Gott ein unbekanntes Wesen jenseits der Welt; für den Wählenden, den sich Entscheiden-
den, den um sein Ziel Entbrennenden, den Unbedingten ist er das Nächste, das Vertrauteste,
das er selber handelnd ewig neu verwirklicht und erlebt, und eben darin das Geheimnis der
Geheimnisse."
Wenn der Psalmist erklärt: "Gott ist allen nahe, die ihn rufen, allen, die ihn mit der
Wahrheit rufen", meint er "mit der Wahrheit, die sie tun". Und was sie zur Wahrheit
macht, ist "nicht der Inhalt der Tat [... ], sondern ob sie in menschlicher Bedingtheit
oder in göttlicher Unbedingtheit geschieht" . 1 Unbedingtheit, das Kennzeichen bibli-
scher Prophetie, ist seitdem "der spezifische religiöse Gehalt des Judentums. Nicht auf
einem Glaubenssatz und nicht auf einer ethischen Vorschrift ist die jüdische Religiösität
aufgebaut, sondern auf einem Grundgefühl, daß eins not tut. "2
Hermann Cohen, der tief im Judentum verwurzelte Marburger Neo-Kantianer,
hatte seinerseits schon kurz nach der Jahrhundertwende unzweideutig erklärt:
"Wenn mit einem Worte die Sittlichkeit der Propheten bezeichnet werden kann, so ist es das
Wort Wahrheit. Nichts tadeln die Propheten so wiederholendich und so in alle SchlupfWinkel es
verfolgend, wie Trug und Lüge. Die Bedrückung, die im Betruge liegt, wird durch die Selbst-
schändung des Truges verschärft. Aber Wahrheit ist vor allem der Grund des Individuums. Wahr-
heit ist Wahrhaftigkeit. "3
Da nun der Kampf alt-israelitischer Propheten vornehmlich den geschäftigen und oft
geschäftstüchtigen Priestern galt, wo immer sie die sittlichen Ideale der Seher verletz-
ten oder zu verletzen schienen, stellt sich unwillkürlich "die Frage von dem Selbstbe-
wußtsein des Propheten" und damit eng verknüpft auch "die moralische Frage nach
dem Rechte seiner Mission", die "zu einer moralischen Frage für ihn selbst" wird. "Er
fordert Wahrhaftigkeit und Demut. Und nun stellt er sich als das Licht der Welt hin,
gleichsam als den Mund der Welt. Und die geistige Schau wird zur sittlichen Warte
und Macht. So hebt ihn seine Tapferkeit an die Grenze des menschlichen Maßes." 4
Und das unvermeidliche Resultat ist, daß "Skepsis und der Opportunismus der Zeitge-
nossen gegen sie gereizt" werden.
"Unentrinnbar" nannte Schönberg sein Ende September 1925 komponiertes Chor-
stück op. 27,1, und seine charakteristische Botschaft lautete:
"Tapfere sind solche, die Taten vollbringen, an die ihr Mut nicht heranreicht.
Sie besitzen nur die Kraft, den Auftrag zu konzipieren,
Und den Charakter, ihn nicht abweisen zu können."
Diesen seinen eigenen Text setzte er wenige Wochen, bevor der Herausgeber der Zeit-
schrift for Musik, Alfred Heuß, seine Berufung als Leiter einer Meisterklasse für Kom-
position an der Berliner Akademie im Namen einer angeblich rein deutschen Kultur
auf das Schärfste verurteilte, weil er in ihm den Vertreter alles Jüdischen in der Musik
sah. 5 Was hätte wohl der gute, zu seinem Glück Jahre zuvor verstorbene Professor
Cohen dazu gesagt, der seinem zionistischen Kollegen 1916 entgegen gehalten hatte:
"Die deutschen Geister sind allesarm Propheten der Humanität. "?6 Schönberg, der
sich keineswegs beleidigt fühlte, antwortete auf eine für ihn typisch positive Weise,
indem er sich an die Verwirklichung eines Planes machte, der allerdings auf jenen zwei
Jahre zuvor mit Wassily Kandinsky geführten dramatischen Briefwechsel zurückging,
in dem er mit unverblümtem Stolz erklärte: "Ich habe nun endlich kapiert und werde
es nicht wieder vergessen. Daß ich nämlich kein Deutscher, kein Europäer, ja vielleicht
kaum ein Mensch bin (wenigstens ziehen die Europäer die schlechtesten ihrer Rasse
mir vor}, sondern, daß ich Jude bin" .7 Zionistische Ideen waren Theodor Herzls jünge-
rem Wiener Zeitgenossen auf alle Fälle längst vertraut, als er kurz nach Antritt seiner
Berliner Pflichten beschloß, den Pfitzners, Heuß's, und wie sie alle hießen, mit einem
Bühnenstück zu antworten, das etwaige Zweifel an seiner tiefen intellektuellen und
emotionellen Verbundenheit mit der Schicksalsgemeinschaft seiner Vorfahren, der er
zumindest äußerlich fast ein Vierteljahrhundert davor den Rücken gekehrt hatte, ein
für allemal aus dem Weg räumte. Die Saat dieses propagandistischen Theaterstücks
Der biblische weg ging dann in der Oper Moses und Aron im Geist des vielsagenden
Passus aus seinem etwas älteren "Requiem"-Text auf: "Was immer entsprießt, triebs
nicht empor, entsprösse es nicht. "8
Schönberg bezog sich oft genug auf Balzacs Seraphita, um in gewissen Kreisen den
durchaus unverdienten Ruf eines Theosophen zu genießen, wogegen er sich jedoch
entschieden wehrte: "Ich bin von Gott ausgegangen!", heißt es in einer Bleistiftnotiz
auf der letzten freien Seite der maschinenschriftlichen Endfassung des Jakobsleiter-Tex-
tes: "Sie [die Theosophen] scheinen das nicht zu tun; aber was sie glauben, weiß ich
nicht, sondern nur, was ich glaube." Unter Theosophie verstand Schönbergs Generation
5 "Arnold Schönberg- Preußischer Kompositionslehrer", in: Zeitschrift für Musik 92 (I 925), S. 583-
585.
6 Hermann Cohen, "Anrwon auf das offene Schreiben des Herrn Dr. Martin Buber an Hermann Cohen",
in: ders., jüdische Schriften, Bd. II, S. 336.
7 Arnold Schönberg, Briife, hg. von Erwin Stein, Mainz 1958, S. 90.
8 Arnold Schönberg, Texte, Wien 1926, S. 35.
180 Der kategorische Imperativ
in der Regel weniger die ältere, mit Jakob Böhmes Namen verbundene Lehre als eine
von indischem Kulturgut durchdrungene Variation des späten 19. Jahrhunderts. Kurz
nach der Jahrhundertwende hatte Martin Buher seinerseits allerdings bereits begon-
nen, den theosophischen Erwägungen mittelalterlicher Kabbalisten gebührend Andacht
zu schenken. Und in der überhitzten intellektuellen und politischen Atmosphäre der
letzten Vorkriegsjahre kämpfte der sensible Juden-Christ Schönberg mit Glaubens-
und Gewissenskonflikten auf die ihm eigene "unbedingte" Weise. Davon zeugt sogar
das Vorwort der 1911 erschienenen Harmonielehre mit seiner kategorischen Verurtei-
lung von "Komfort als Weltanschauung". "Der Komfort denkt nicht an Selbstzucht",
heißt es da, "und so wird die Schuld abgewiesen oder zur Tugend erhoben." Der ideale
Denker, "der sucht[ ...], tut das Gegenteil. Er zeigt, daß es Probleme gibt, und daß sie
ungelöst sind. "9
In dem für ihn in so vieler Hinsicht schicksalhaften Jahr 1912 veröffentlichte der
fortschrittlich gesinnte Münchner Piper-Verlag einen Huldigungsband seiner ihm mit
Herz und Seele ergebenen Schüler. Karl Linke sprach in seiner Einführung von ,,Auser-
wählten, die sein Wort hören, auch wenn er es nicht ausgesprochen hat, denen sich
schon die Willenskraft mitteilt, mit welcher der Gedanke nach Ausdruck ringt. [... ] Es
ist wie ein Geheimnis, das nur die Gleichgestimmten verstehen [... ]. " 10 Und ein solcher
Auserwählter, Anton Webern, stellte seinem Aufsatz "Schönbergs Musik" ein Zitat aus
der Harmonielehre voran, das ihm besonders am Herzen lag: "Der Künstler tut nichts,
was andere für schön halten, sondern nur, was ihm notwendig ist. " 11
Kaum war dieses kollektive Bekenntnis zum Schönbergsehen Prinzip der inneren
Notwendigkeit erschienen, da entspann sich in der konservativen Münchner "Halb-
monatsschrift für Ausdruckskultur auf allen Lebensgebieten" Der Kunstwart eine rege
Leser-Diskussion auf Grund eines vom Herausgeber Ferdinand Avenarius speziell zu
diesem Zweck abgedruckten Artikels mit dem an sich schon herausfordernden Titel
"Deutsch-jüdischer Parnaß", worunter sich ein scharfformulierter Appell an die jüdi-
sche Elite verbarg, doch endlich einzusehen, daß die oft bissige Feindseligkeit akade-
mischer und journalistischer Kreise gegenüber allem, was irgendwie mit Judentum zu
tun hatte, in ihren fast krankhaften Dimensionen ernst zu nehmen sei. Schöpferisch
veranlagte Juden täten unter diesen traurigen Umständen, statt sich in ihrer ehrlichen,
aber unbeantworteten Vaterlandsliebe aufzureiben, besser daran, sich eigenen Werten,
d. h., jüdischen Traditionen und Idealen, zuzuwenden. Der Verfasser Moritz Gold-
stein, Autor der ebenfalls 1912 erschienenen Schrift Begriff und Programm einer jüdi-
schen Nationalliteratur, gab zu bedenken, daß der jüdische Beitrag zum allgemeinen
Kulturleben in kurzer Zeit sehr stark angewachsen war.
"Das hatten die Christen, als sie den Parias in ihrer Mitte einen Anteil an der europäischen
Kultur gewährten, nicht erwartet und nicht gewollt. [... ] Und so stehen wir denn jetzt vor
einem Problem: Wir Juden verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechti-
gung und die Fähigkeit dazu abspricht." 12
Insbesondere dieser letzte, viel beanstandete Satz war es, der dem eher literarisch als
musikalisch tätigen Schriftsteller selbst noch nach seiner Auswanderung einen unver-
hofften Ehrenplatz in dem berüchtigten, von Alfred Rosenbergs musikwissenschaftli-
ehen Häschern veröffentlichten Lexikon der Juden in der Musik verschaffte. 13
Goldsteins durchaus positive Schlußbilanz fand überraschend breite Zustimmung.
Ein Korrespondent sprach besonders beeindruckend für alle, die das offensichtliche
Fehlschlagen der einst so vielversprechenden deutsch-jüdischen Symbiose bereits in
die von Goldstein vertretene Richtung gewiesen hatte. Ob Goldsteins kompromißlose
Worte Schönberg unter die Augen kamen oder nicht, in ihrer Haltung nahmen sie den
unglücklichen Briefwechsel mit Wassily Kandinsky deutlich voraus: ,,Aber unter den
Trümmern unserer Ideale fanden wir etwas, das uns retten konnte. Bisher war's der
Stolz des deutschen. Nun wurde es zum Judenstolz." 14 Was 1912 noch in Schönberg
gärte, zeitigte fünf Jahre später Die Jakobsleiter mit ihrem einleitenden Ostinato von
sechs Noten, das im Verband mit Gabriels ersten Worten zumindest indirekt bereits
grundlegende Aspekte von Schönbergs späterem Kompositionssystem heraufbeschwört:
"Ob rechts, ob links, vorwärts oder rückwärts, bergauf oder bergab- man hat weiter-
zugehen, ohne zu fragen, was vor oder hinter einem liegt."
T. 11-13
streng im Takt
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(scharf und trocken)
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lfi!
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Ob rechts, ob links,
Die erhoffte Rettung der deutschen Musik auf der Grundlage eines völlig neuartigen
Kompositionssystems fand schließlich keine bessere Aufnahme seitens der gefeierten
Hüter deutscher Tonkunst als Arnold Schönberg und seine Familie in jenem auf die
Beschirmung arischer Reinheit erpichten Österreichischen Kurort Mattsee.
Knapp elf Monate nach seiner Ankunft in der Neuen Welt waren es in der Alten
Welt zurückgebliebene ehemalige Schüler, Kollegen und Freunde, die den Sechzigjäh-
rigen als Ausdruck ihrer unverminderten Verehrung mit einem zweiten Sammelband
12 Moritz Goldstein, "Deutsch-jüdischer Parnaß", in: Der Kunstwart 25 (1912), Nr. II, S. 283.
13 Theo Seengel I Herbere Gerigk (Hg.) , Lexikon der Juden in der Musik, Berlin 1940, S. 9lf.
14 In: Der Kunstwart 25 (1912), Nr. 13, S. 13.
182 Der kategorische Imperativ
15 Arnold Schönberg zum 60. Geburtstag 13. September 1934, Wien o.J. (1934), S. 62.
16 Ebenda, S. 14.
17 RudolfEisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. I, Berlin 1921, S. 122.
18 Arnold Schönberg zum 60. Geburtstag, S. 90.
Der kategorische Imperativ 183
"Gemeinschaft mit Gott" verschaffte. 19 Unbedingtheit, worin Buher nichts weniger als
den "spezifisch religiösen Gehalt des Judentums" sah, ist denn auch, was Moses, den
prophetisch-wahrhaftig Handelnden, von seinem Bruder, dem charakterschwachen
Hohen Priester Aron in Schönbergs Oper Moses undAron unterscheidet. Der kategori-
sche Imperativ des unbedingt schöpferisch tätigen Menschen, des "Müssenden" im
Gegensatz zum nur "Könnenden", war und blieb sein Leitmotiv bis zum mit den Wor-
ten "und trotzdem bete ich" abbrechenden Modernen Psalm für Chor und Orchester
op. 50C, dem Schlußglied einer langen Kette von Werken, die wie Moses und Aron
unvollendet blieben aus tiefster Ehrfurcht vor dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs
"ohne Ende".
Kurzum, zu den Geboten innerer Notwendigkeit gesellten sich stets mehr äußere,
obwohl solche auch längst bei dieser Pate gestanden hatte. Und auf ähnliche Weise
beherrschte das jüdische Prinzip der unteilbaren Einheit im Ebenbild der göttlichen
"Einsheit" Schönbergs gesamtes Denken, Schaffen und Wirken. Seine Methode der
Komposition mit zwölfTönen diente in diesem Sinn der strikt musikalischen Verwirk-
lichung des Einheitsprinzips, das er als religiöser Mensch im Gottesgedanken des Ju-
dentums erkannte. ,,Aus einem guten Gedanken fließt alles von selbst" ist nicht nur
der Leitsatz des religiös-politischen Dramas Der biblische Weg; er gilt für alles, was der
Komponist, Theoretiker, Lehrer und Schriftsteller in den letzten 30 Jahren seines be-
wegten Lebens unternahm. Denn sein Ursprung lag in jener besonderen Art von Reli-
giosität, in der Martin Buher "das Verlangen des Menschen" sah, "mit dem Unbeding-
ten lebendige Gemeinschaft zu schließen, und sein[en] Wille[n], es durch sein Tun zu
verwirklichen und in die Menschenwelt einzusetzen. Echte Religiosität hat somit nichts
gemein mit den Träumereien schwärmerischer Herzen, noch mit dem Selbstgerruß
ästhetisierender Seelen, noch mit den tiefsinnigen Spielen einer geübten lntellektualität.
Echte Religiosität ist ein Tun. "20 "Tun sollen" war noch die Parole der ersten Auflage von
Schönbergs viel umstrittener Harmonielehre. Zur Zeit der dritten Auflage war daraus ein
unwiderrufbares "Müssen" geworden. Der Löwe hatte gebrüllt wie einst in den bewegten
Tagen des dichterisch so hochbegabten Propheten Amos: "Wer wäre nicht von Furcht
ergriffen. Der Herr Gott hat gesprochen, wer wagte es, nicht zu prophezeien?"
Als Arnold Schönberg sich 1910 auf jenes ihm längst vorschwebende ,,Ausdrucks- und
Formideal" bezog, das erstmalig in den George-Liedern op. 15 zur Geltung kam, war
er sich der Möglichkeit schwerwiegender Folgen wohl kaum bewußt. Wie konnte er
auch ahnen, daß er damit einem musikalischen - oder vielmehr unmusikalischen -
Sammelbegriff den Weg gebahnt hatte, der ihn fortan verfolgen würde: "atonal". Als
logischer Denker hätte er sich womöglich mit "polytonal" oder "pantonal" versöhnen
können. Aber in "atonal" erkannte er eine unannehmbare contradictio in terminis, da
Musik schließlich per definitionem nur tönend wahrnehmbar wird. Gewisse tonale Be-
ziehungen "mögen dunkel und schwerverständlich sein, unverständlich sogar. Aber
atonal wird man irgend ein Verhältnis von Tönen sowenig nennen können, als man ein
Verhältnis von Farben als aspektral oder akomplementär bezeichnen dürfte. " 1
Beim ersten Anhören des George-Zyklus mögen "gewisse tonale Beziehungen" tat-
sächlich "dunkel und schwer verständlich" erscheinen. Auf die Dauer aber weichen
derartige durchaus verständliche Eindrücke der Erkenntnis, daß hier musikalische Ge-
dankengänge im Spiel sind, denen selbst die fortschrittlichste chromatische Praxis nicht
mehr gerecht zu werden vermochte. Was der Melodiker Schönberg stattdessen anstreb-
te, erinnert eher an frühe Entwicklungsstadien der abendländischen Mehrstimmigkeit,
insbesondere das mittelalterliche Organum der Pariser Notre-Dame-Schule mit seinen
pedaltonartigen tenor-Stützpunkten, die dem melismatischen duplum quasi-improvisato-
rische Möglichkeiten eröffneten. Schönberg bevorzugte zu ähnlichen Zwecken aller-
dings eher Stützakkorde und zwar mehr und mehr solche, deren Komponenten jeweils
vorherrschende melodische Motive widerspiegelten. Daß er damit auch ein Haupt-
merkmal seiner späteren Zwölfton-Polyphonie vorausnahm, war kennzeichnend für
die unerschütterliche Entwicklungslogik eines Komponisten, dem eine beschränkte
Anzahl ausgesuchter Motive immer wieder zu neuen Zwecken diente. Im übrigen er-
wies er sich auch in dieser Hinsicht als ein treuer Nachkomme der von ihm so hoch
verehrten Wiener "Klassiker", deren Dreiklangsmotivik ja ebenfalls der harmonischen
Praxis ihrer Zeit entsprach.
Im Lauf von knapp sieben Monaten- vom 13. Februar bis zum 12. September
1909 - vollendete Schönberg nicht weniger als vier seiner "atonalen" Hauptwerke, die
einander nicht nur zeitlich, sondern auch in ihrer musikalischen Substanz nahe stehen,
die andererseits aber vier verschiedene Gattungen vertreten. Da nun die ersten zwei der
Drei Klavierstücke op. 11 noch vor dem letzten George-Lied entstanden, mag ein kur-
zer Vergleich gewisser Aspekte zum besseren Verständnis des leidigen ,,Atonalitäts-
problems" beitragen.
Schönbergs Lieblingskombinationen von Terzen und Sekunden liefern das Motiv-
material für beide Kompositionen, das erste der Klavierstücke und sein Gegenstück
aus Opus 15 (siehe S. 186). Hier wie dort handelt es sich um große und kleine Terzen
1908 komponierte George-Zyklus beruhte zum großen Teil noch auf den von der
Klaviereinleitung so stark betonten und im weiteren Verlauf auf verschiedenste Weise
verarbeiteten, benachbarten großen und kleinen Terzen: 0-Fis bzw. F, E-Gis bzw. G,
C-Es bzw. E und Cis-Ais (B). Und da der Liederzyklus seine im Prinzip durchaus
tonale Anlage kaum zu verleugnen vermag, wirkt selbst seine abschließende, traditio-
nell authentische Kadenz alles andere als überraschend, obwohl der unaufgelöste Vor-
halt B im letzten Akkord sozusagen als "sixte remplacante" die Quinte A ersetzt.
0-0ur/d-Moll behauptet sich aber auch in anderen entscheidenden Momenten, be-
sonders auffällig im achten, den Mittelpunkt des Zyklus bildenden Gesang.
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,,Atonalität" 187
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Arnold Schönbergs allzu wenig beachteter Sinn für Ironie kam im ersten der Drei Kla-
vierstücke op. 11 zumindest insofern zum Ausdruck, als der Pianist angehalten ist, im
Gegensatz zur vornehmlich rezitativartigen Deklamation der George-Lieder die rheto-
risch phrasierte Oberstimme cantabile vorzutragen, während der tonale Anker hier statt
D dem E der Kammersymphonie op. 9 entspricht. Auf die aus Schönbergs Lieblings-
motiv- Terz cum Sekunde - gebildete, anfänglich unbegleitete Melodielinie reagieren
im zweiten und dritten Takt zunächst nach einer Viertelpause jeweils im Terzabstand
eintretende dreistimmige Akkorde unverkennbar kontrapunktischen Ursprungs, be-
steht doch der zweite sogar aus einer transponierten Krebsumkehrung des Anfangs-
motivs H-Gis-G.
Terzen und Sekunden erfüllen aber auch bis in die letzten Takte ausgesprochen struk-
turelle Aufgaben. So kommt der abschließende Baßschritt E-Es auf die tonale Ambi-
valenz des Beginns zurück, wo e-Moll/E-Dur mit den B-Tendenzen der sich hinein-
schleichenden dreistimmigen Akkorde in Konflikt zu geraten droht. Und da tonale
Ambivalenzen dieser Art im weiteren Verlauf des Stückes wiederholt zutage treten,
erscheint ein dementsprechendes Ende nach einer kurzen veränderten Reprise durch-
aus logisch. Kaum zufällig weist ein doppelter Orgelpunkt A-Gis zunächst auf E hin.
Der vorletzte Takt sinkt dann aber im letzten Augenblick nach Es ab. Damit ist es
188 ,,Atonalität"
jedoch noch nicht getan. Ein knappes Sechzehntel lang erklingt nochmals ein drei-
stimmiger Quartenakkord, der aber nicht wie am Anfang B-Tendenzen verrät, die jetzt
der tiefen Es-Oktave vorbehalten sind. Und diesem umgekehrten Verhältnis entspricht
dann auch die vom vorangehenden Orgelpunkt übernommene, auf die Terzschritte
der Anfangstakte {B-Gis und A-F} hinweisende große Septime A-Gis.
Im unmittelbar folgenden Stück kommt wieder D zur Geltung, anfänglich sogar
noch stärker als in den einleitenden Takten des George-Zyklus. Denn das Lied beginnt
mit einem neun "mäßige" Zwölfachteltakte andauernden, später reprisenartig zurück-
kehrenden Klavier-Ostinato {F-D-F-D-F-D ... ), über dem sich die Melodielinie un-
ter und über den Tönen des d-Moll-Dreiklangs in kleinen Sekunden ergeht. Und die-
sem inzwischen bereits charakteristischen Schönbergsehen Verfahren gehört nach ei-
ner ebenfalls verkürzten Reprise auch das letzte Wort. Im Fall des Klavierstücks liefert
dagegen eine tiefe Es-Oktave die klangliche Grundlage für zwei dreistimmige Akkor-
de, deren unterste Stimme von G nach Ges schreitet, die obere dagegen von As nach F,
was bei einer geziehen Betonung der Mittelstimme des ersten Akkords (D) die einlei-
tende Ostinato-Terz D-F ergibt.
Ihren endgültigen Abschluß fand die Trilogie von Opus 11 ein halbes Jahr später
mit einem virtuosen Finale, in dem das Anfangsmotiv des ersten Stücks in allen mög-
lichen Varianten und Transpositionen, Umkehrungen und Krebsläufen eine deutlich
erkennbare Rolle spielt. Die letzten zwei Takte bringen ihrerseits im dreifachen Pianis-
simo zunächst zwei gleichzeitig erklingende hohe Oktaven (D und Es}, gefolgt von
einem Tiefsprung nach Cis, und das Ende kommt mit einem langsam verhallenden H,
der ersten Note des ersten Stücks. So schließt sich der Kreis dieses ausdrucksreichen
dreiteiligen Klavier-Zyklus mit einer geziehen Betonung seiner motivischen Integrität.
D und zu einem gewissen Grad E leisteten Schönberg noch lange gute Dienste, aller-
dings kaum noch im harmonischen Sinn funktionaler Tonalität. Vielmehr traten sie in
steigendem Maße als Ankertöne für komplizierte Folgen von neuartigen Akkord-
formulierungen hervor, insbesondere im Zusammenhang mit jenem sorgfältig entwik-
kelten Vorrat an primären Bezugsmotiven, von dem fast ein halbes Jahrhundert
Schönbergscher Kreativität zu zehren bestimmt war. Die Tatsache, daß D, der "roman-
tische" Tonpar excellence, vier in ihren Zielen und Ausdrucksmitteln so unterschied-
liche, obwohl zeitlich eng mit einander verbundene Werke durchdrang, entsprach durch-
aus Schönbergs späterer Bemerkung, daß er im Grunde genommen stets dasselbe getan
hätte, nur auf andere Weise und, wie er meinte, im Lauf der Zeit auch besser. Ein
Jahrzehnt schöpferischer Entwicklung, das mit dem Streichsextett op. 4 begann, fand
im alles andere als revolutionären Jahr der Atonalität seine letztendliche Erfüllung,
indem es der Zukunft neue Wege wies. Im weitaus komplizierteren polyphonen
Orchestersatz des drei Monate nach Opus 11,2 entstandenen Orchesterstücks op. 16,1
sind D bereits andere, aber keinesfalls weniger wichtige Funktionen vorbehalten. Auf
dem langen Weg zur "Komposition mit zwölfTönen" verloren derartige Ankerverfahren
dann die letzten Reste ihrer ereignisreichen strukturellen Bedeutung. So erinnert das
erste der FünfKlavierstücke op. 23 in seiner kontrapunktischen Faktur zwar an Opus
16,1, motivisch aber eher an Opus 11,1, allerdings mit einem entscheidenden Unter-
"Atonalität" 189
schied: Was 1903 noch nacheinander geschah, kam elfJahrespäter schon in den ersten
Takten gleichzeitig zu Gehör. In beiden Fällen wird das Hauptmotiv sofort wiederholt,
im Klavierstück eine Stufe tiefer, im Orchesterstück eine Terz höher und zwar gleich-
zeitig mit seiner von zwei Klarinetten in parallelen Quinten gespielten Umkehrung.
Das oft so gedankenlos gebrauchte Schlagwort "athematisch" wirkt im Zusammen-
hang mit einer solchen Musik kaum weniger verfehlt als sein hartnäckiges Gegenstück
"atonal". Schönbergs Motive und ihre kunstvolle Verarbeitung mögen in der Tat der
Praxis Johann Sebastian Bachs nahekommen, wie er selbst meinte; dem klassischen,
harmonisch bedingten Thema-Begriff stehen sie um so ferner.
Opus 16,1 neigt sich neben D vor allem zu F bzw. B, die als Ankertöne wiederholt
hervortreten. Eine im Quartenabstand von F bis zum B anderthalb Oktaven höher auf-
steigende Folge von vielfach verdoppelten Oktaven kündigt auch den Höhepunkt des
ungestümen Stückes an. Das weitaus ruhigere zweite Stück ("Mäßige Viertel") bezieht
sich wiederum vom Orgelpunkt seiner ersten Takte bis zum letzten Akkord vornehmlich
auf D, zumeist in Begleitung jener großen und kleinen Sekunden, die inzwischen zum
charakteristischen Tonfall des ausschließlich seiner unmittelbaren Intuition gehorchen-
den Komponisten gehörten. Das dritte Stück steht dem vorangehenden geistig und ge-
fühlsmäßig derart nahe, daß es sich um eine mehr oder weniger lyrische Satzgruppe zu
handeln scheint, der gegenüber die weitaus lebendigeren komplementären letzten zwei
Stücke ein großes, ebenfalls zweiteiliges Finale bilden. Das erste Stück würde dement-
sprechend eine für alles weitere verbindliche Exposition darstellen im Sinn jenes dem
Komponisten so unerläßlichen "guten Gedankens, aus dem alles Weitere von selbst her-
vorgeht". Der Titel "Vorgefühle", zu dem sich Schönberg nach längerem Zögern bereit
erklärte, mag bewußt oder unbewußt auf ähnlichen Überlegungen beruhen.
In der Titelangelegenheit hatte sich Schönberg schweren Herzens den kommerziel-
len Erwägungen des C. F. Peters-Verlegers Hineichsen gefügt. Die Erstausgabe der Par-
titur trug 1912 noch keine Titel: "Denn Musik ist darin wunderbar, daß man alles
sagen kann, so daß der Wissende alles versteht, und trotzdem hat man seine Geheim-
nisse, die, die man sich selbst nicht gesteht, nicht ausplaudert", notierte er zu dieser
Zeit in seinem Berliner Tagebuch. "Wären Worte nötig, wären sie drin. "2 Es blieb ihm
aber letzten Endes nichts anderes übrig, als Titel zu finden, die nicht "plaudern":
"1. Vorgefühle (hat jeder), II. Vergangenheit (hat auch jeder), III. Akkordfärbungen
(technisches), IV. Peripetie (ist wohl allgemein genug), V. Das obligate (vielleicht bes-
ser das ,ausgeführte', oder das ,unendliche') Rezitativ. Jedenfalls mit einer Anmerkung,
daß es sich ums Verlagstechnische und nicht um den ,poetischen' Inhalt handelt." 3
Gedruckte Titel erschienen erst 1914 im Programmbuch des Arnsterdamer Concert-
gebouw-Orchesters anläßlich der vom Komponisten geleiteten dortigen Erstauffüh-
rung. Das zweite Stück hieß zu der Zeit bereits "Vergangenes", das dritte aber noch
"Der wechselnde Akkord" statt ,,Akkordfarbungen". 4 Drei weitere Jahre verflossen, bevor
2 Eberhard Klemm, "Der Briefwechsel zwischen Arnold Schönberg und dem Verlag C. F. Peters", in:
DeutschesJahrbuch der Musikwissenschaft für 1970, Leipzig 1971, S. 9. Siehe auch Michael Mäckel-
mann, Arnold Schönberg: FünfOrchesterstücke op. 16 (Meisterwerke der Musik 45), München 1987, S. 50.
3 Ebenda.
4 Ebenda, S. 10.
190 ,,Atonalität"
5 Ebenda.
6 Jan Maegaard, Studien zur Entwicklung des dodekaphonen Satzes, Kopenhagen 1972, Bd. Il, S. 250.
,,Atonalität" 191
berg hier bereits eine neue Stufe der Kompositionstechnik außerhalb des Systems der
Tonalität erreicht, indem er nun auch auf die Entfaltung abgegrenzter thematischer Ge-
bilde und einen Formverlauf mit Expositionsfeldern und Durchführungspartien verzich-
tete. "7 Vom traditionellen Standpunkt mag diese im Rahmen einer gründlichen Analyse
gemachte Bemerkung durchaus einwandfrei erscheinen. Im Licht späterer Entwicklun-
gen stellt sich jedoch die unumgängliche Frage, ob Exposition und Durchführung, die
eine solide Thematik voraussetzen, dem Wesen der Schönbergsehen Musik in diesem
Entwicklungsstadium überhaupt noch entsprachen. Unterscheidet sich das letzte der Fünf
Orchesterstücke in seiner Ausdrucksweise wirklich so grundsätzlich von den vier zuvor
komponierten, daß von einerneuen "Stufe der Kompositionstechnik" die Rede sein kann?
Knapp drei Wochen nach dem vierten entstanden teilt es dessen kleine Sekundschritte
schließlich auch mit vielem, was ihm vorangeht. Und ähnlich verhält es sich mit weiteren
Verwandtschaften. Steht das drei Tage nach der Reinschrift der Partitur von Opus 16
abgeschlossene Klavierstück op. 11,3 auf derselben "neuen Stufe der Kompositionstechnik"?
Ist es nicht möglich, daß Schönbergs Finale in beiden Fällen einfach virtuoser und somit
auch formell weniger definiert ausfiel? Dieneuere Musikgeschichte weist schließlich zahl-
reiche Beispiele im Fahrwasser des letzten Satzes von Frederic Chopins h-Moll-Sonate
op. 58 auf. Müßig sind dergleichen Fragen allein darum nicht, weil das Jahr der ,,Atona-
lität" in seinem steten Vorwärtsdrang genauere Wiederholungen bereits so weit wie mög-
lich vermied, obwohl es tonale Bindungen mit Hilfe von Ankertönen und Ostinati eben
noch nicht gänzlich verschmähte.
Von Exposition oder Rekapitulation zu sprechen birgt unter diesen Umständen die
Gefahr irreführender Erwartungen, denen selbst vorurteilslose Musiker und Musiklieb-
haber nicht leicht zu entgehen vermögen. Daß dem so ist, lehren zumindest nicht weni-
ger als neunzig Jahre Schönberg-Rezeption. Heutzutage würde es keinem Kenner einfal-
len, derartige Begriffe auf gregorianische Gesänge oder polyphone Motetten des 16. Jahr-
hunderts anzuwenden, deren satztechnische Verfahren Schönbergs "atonal" freizügigem
Stimmgewebe weitaus näher stehen als die modulierenden Durchführungen von speziell
darauf zugeschnittenen Themen einer rationalen, im klassizistischen Sinn um Klarheit
besorgten näheren Vergangenheit. Dementsprechende deutliche Unterscheidungen emp-
fehlen sich nicht nur rein sprachtechnisch. Vielmehr waren es kompositionstechnische
Überlegungen, die Theodor W Adorno veranlaßten, die Formulierung "freizügiges Stimm-
gewebe" insbesondere auf Schönbergs Monodram Erwartung op. 17, das in jeder Bezie-
hung krönende Werk des Jahres der ,,Atonaltät", anzuwenden. 8
"Einer ,thematischen Arbeit' im Sinn der neudeutschen Schule oder der Brahms-
Nachfolge wird man in der ,Erwartung' vergebens nachspüren", heißt es in Hans Heinz
Stuckenschmidts großer Schönberg-Biographie. ,,Aber je genauer man sich mit der
Partitur beschäftigt, desto besser erkennbar werden die Varianten-Zusammenhänge. "9
Die Frage, wie sich diese in der Tat erstaunlichen Zusammenhänge erklären, ließ der
an sich gut informierte Schönberg-Jünger unbeantwortet, obwohl die für das gesamte
"Es ist darin ebensoviel Vergangenheit wie Zukunft, jene dem Können, diese der Anwendung
des Könnens nach [... ]. Hier vollzieht sich wirklich das Wachsen eines Neuen aus dem Alten,
wie es in solcher Folgerichtigkeit und Beschränkung auf das Kernhafte in unserer Zeit außer
Vergleich steht." 13
Individuelle Musikbeispiele führte Bekker zwar nicht an, wohl aber "die Art der Faktur-
bildung - prinzipiell gesehen -, die der motivischen Durchführung, Aufteilung und
Verflechtung der Stimmen, ihre Gestaltung im einzelnen ergibt sich aus prägnant for-
10 Herbert H. Buchanan, "A Key to Schoenberg's Erwartung (Op. 17)", in: Journal of the American
Musicological Sociery 20 (1967), S. 434-449, sowie Alan Philip Lessem, Music and Text in the WOrks of
Arnold Schoenberg. The Critical Years 1908-1922 (Studies in Musicology 8), Ann Arbor 1979, S. 74-94.
Lessems Studie beruht auf seiner bereits 1973 an der Universiry of Illinois abgeschlossenen Dissertation.
11 Adorno, Philosophie, S. 49.
12 Lessem, Music and Text.
13 Paul Bekker, "Schönberg: ,Erwartung'", in: Arnold Schönberg zum 50. Geburtstage, 13. September 1924,
Sonderheft der Musikblätter des Anbruch, Wien 1924, S. 275 bzw. 278.
,,Atonalität" 193
14 Ebenda, S. 279.
15 Ebenda, S. 275.
16 Ebenda.
17 Ebenda, S. 276.
18 Alexander Zemlinsky- BriefWechsel mit Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg und Pranz Schreker
(Briefwechsel der Wiener Schule 1), hg. von Horst Weber, Darmstadt 1995, S. 107.
19 Bekker, "Schönberg: ,Erwartung'", a.a.O., S. 277.
194 ,,Atonalität"
"Mondbeschienene, breite Straße, rechts aus dem Walde kommend. Wiesen und Felder (gelbe
und grüne Streifen abwechselnd). Etwas nach links verliert sich die Straße wieder im Dunkel
hoher Baumgruppen. Erst ganz links sieht man die Straße frei liegen. Dort mündet auch ein
Weg, der von einem Hause herunterführe. In diesem alle Fenster mit dunklen Läden geschlos-
sen. Ein Balkon aus weißem Stein. Die Frau kommt langsam, erschöpft. Das Gewand ist zerris-
sen, die Haare verwirrt. Blutige Risse an Gesicht und Händen."
Marie Pappenheims Text läßt zwar vieles ungeklärt, gebärdet sich aber eher naturalistisch
als "expressionistisch", kommt Richard Dehmel sowohl thematisch als auch in der Aus-
drucksweise weitaus näher als Sigmund Freuds Psychoanalyse. Daß davon immer wieder
die Rede gewesen ist, hatte eher mit Bertha Pappenheim zu tun, einer Verwandten der
Autorin, die alsPatientindes Psychiaters JosefBreuer unter dem Pseudonym Anna 0. in
die Frühgeschichte der Psychiatrie eingegangen ist. Marie Pappenheim war vielmehr eine
dichterisch hochbegabte Ärztin, die schon als blutjunge Studentin Beiträge zu Karl Kraus'
Zeitschrift Die Fackel geleistet hatte. Arnold Schönberg kannte sie, spätestens seit sie ihm
im Sommer 1903, noch vor Abschluß ihres Medizinstudiums, in Steinacker einen Ferien-
besuch abgestattet hatte. Sie stammte nämlich, wie sein eigener verstorbener Vater, aus
Preßburg, gehörte allerdings einer wohlhabenden jüdischen Familie an, deren Wiener
Zweig bei vielen Leopoldstädter Juden allein auf Grund seiner zionistischen Tätigkeiten
hoch angeschrieben stand. Schönberg ließ seine Besucherio jedenfalls nicht gehen, bis sie
ihm zwar nicht den erhofften Operntext versprach, aber doch wenigstens ein "Mono-
drama", das er binnen drei Wochen in Empfang nehmen konnte. Zum Dank und als
Geschenkzur Promotion malte er "Dr. Mizzi Pappenheim", ein Porträt, das 1910 bereits
in der Wiener Galerie Heller zu sehen war. 20
Schönberg gab einige Jahre später bekanntlich offen zu, daß er Texte hauptsächlich
als musikalische Wegweiser betrachtete, sobald ihm deutlich wurde,
"daß ich viele meiner Lieder, berauscht von dem Anfangsklang der ersten Textworte, ohne mich
auch nur im geringsten um den weiteren Verlauf der poetischen Vorgänge zu kümmern, ja ohne
diese im Taumel des Kompanierens auch nur im geringsten zu erfassen, zu Ende geschrieben
und erst nach Tagen darauf kam, nachzusehen, was denn eigentlich der poetische Inhalt meines
Liedes sei. Wobei sich dann zu meinem größten Erstaunen herausstellte, daß ich niemals dem
Dichter voller gerecht worden bin, als wenn ich, geführt von der ersten unmittelbaren Berüh-
rung mit dem Anfangsklang, alles erriet, was diesem Anfangsklang eben offenbar mit Notwen-
digkeit folgen mußte. "21
Liedertexte verleihen natürlich vor allem persönlichen Gefühlen Ausdruck. Und Marie
Pappenheims Begriff vom Monodram kam Schönbergs idiosynkratischem "Verhältnis
zum Text" allein insofern entgegen, als Erwartung ausschließlich von den angsterfüll-
ten Gefühlen einer einzigen Frau handelt, mit denen sich die junge Lyrikerin zweifellos
persönlich identifizierte. Wie dem auch sei, ihre durchaus originelle Konzeption ließ
20 Vgl. Eva Weissweiler, ",Schreiben Sie mir doch einen Operntext, Fräulein!' Marie Pappenheims Text
zu Arnold Schönbergs ,Erwarrung'", in: Neue Zeitschrift für Musik 145 (1984), Heft 6, S. 4 bzw. 8.
21 Arnold Schönberg, Stil und Gedanke. Auflätze zur Musik (Gesammelte Schriften 1), hg. von lvan Vojtech,
Frankfurt a.M. 1976, S. 5.
,,Atonalität" 195
den rein musikalischen Vorstellungen des Komponisten in jeder Beziehung freien Lauf.
Und das außerordentliche Resultat war ein in Rekordzeit geschaffenes Werk sui generis,
das selbst gewiegte Fachleute noch immer vor neue Aufgaben stellt. Seine eigentliche
"Faktur" veranschaulicht zunächst einmal die Unzulänglichkeit des oft so leichtfertig
gebrauchten Wortes "atonal". Denn was hier geregelt vor sich geht, hat eher multi-
tonalen, wenn nicht multichromatischen Charakter. Darius Milhaud, der eine Gene-
ration jüngere französische Komponist und Schönberg-Förderer, sah in der von ihm
bevorzugten, traditionelle Tonalitäten gleichzeitig verbindenden "Polytonalität" zu Recht
eine logische Weiterentwicklung der Diatonik im Gegensatz zum chromatischen Ur-
sprung der sogenannten ,,Atonalität". 22 Bei Schönberg handelt es sich jedoch nicht
immer unbedingt um das Eine oder das Andere. Sowohl das Monodram als auch das
bereits 1910 begonnene, aber erst drei Jahre später vollendete "männliche" Gegen-
stück, das "Drama mit Musik" Die glückliche Hand op. 18, enthalten unverkennbar
tonale Baßstimmen, über denen sich das von Bekker erwähnte, die verschiedensten
Motive oft gleichzeitig verarbeitende "freizügige Stimmgewebe" entfaltet. Das "Drama
mit Musik" beginnt sogar mit einem 25 Takte andauernden, dem Klavierstück op. 11,2
verwandten D-F-Ostinato als tonaler Basis für das von sechs Frauen und sechs Män-
nern vorgetragene einleitende Chorstück Was den Eindruck von ,,Atonalität" vermit-
telt, ist fast stets das Zusammenklingen rhythmisch oft sehr differenzierter, individuell
unabhängiger, an sich aber in vielen Fällen zumindest quasitonaler Motive. Anders als
bei der Polytonalität im Sinn von Darius Milhaud handelt es sich in den erwähnten
Fällen eher um eine Art chromatischer Multitonalität, was Schönberg selbst wahr-
scheinlich mit "pantonal" anzudeuten versuchte. Harmonisch gesehen und gehört gab
er "das Prinzip der Vervielfältigung durch Chromatisierung", ein von Richard Strauss
und selbst Franz Schreker zu keiner Zeit verworfenes Prinzip, im Interesse einerneuen
Art von "Vervielfältigung selbständiger Stufencharaktere" jedenfalls auf.2 3 Theoreti-
sche Überlegungen spielten dabei so gut wie keine Rolle. Indem er den realitätsbezogenen
Ausdrucksmöglichkeiten der tonalen Diatonik entsagte, befreite sich Schönberg viel-
mehr rein intuitiv von vielem, was der Verwirklichung alles umfassender musikalischer
Abstraktionen noch im Weg stand. Erwartung vermittelte erstmalig die erwünschte
"künstlerische Illusion der Unkörperlichkeit des Geschehens" in einem äußerlich bild-
haften, semantisch alltäglichen Rahmen. Es war und blieb ein einmaliger Wurf, aller-
dings von derzeit kaum erahnten geschichtlichen Konsequenzen.
Erwin Stein, "Neue Formprinzipien", in: Arnold Schönberg zum fonftigsten Geburtstage, 13. September
1924, Sonderheft der Musikblätter des Anbruch, Wien 1924, S. 287.
2 Ebenda, S. 295.
Zwölftonalität 197
zunächst "Präludium" und dann "Suite No. 1". 3 Erst später wurde aus dieser Hommage
aBach das "Klavierstück" op. 23, 1. Ein inzwischen entstandenes zweites "Präludium"
eröffnete 1923 dann die Suite für Klavier op. 25. Ohne dergleichen dem größten
Kontrapunktiker aller Zeiten dargebrachte "musikalische Opfer" hätte Arnold Schön-
berg kaum werden können, was er in den zwanziger Jahren dann endgültig wurde. Im
vollen Bewußtsein dieser oft verkannten Tatsache legte er jener Suite denn auch eine
aus drei Viertongruppen bestehende Zwölftonreihe zugrunde, deren letzte (h-e-a-b)
in ihrer Krebsgestalt den Namen des so hoch Verehrten ergab.
In den meisten katholischen Ländern blieb der lutherische Kirchenmusiker Bach
zunächst verhältnismäßig unbekannt. Aber das änderte sich im Lauf des 19. Jahrhun-
derts vor allem in Frankreich, wo Bachs Orgelwerke unter Franz Liszts bleibendem
Einfluß schließlich sogar in den großen Pariser Kirchen wenn nicht während dann
doch vor oder nach dem offiziellen Gottesdienst sowie in öffentlichen Konzerten zu
Gehör kamen. Bald folgten auch diesbezügliche wissenschaftliche Veröffentlichungen.
1897 erschien Andre Pirros grundlegende Studie L'orgue deJ S. Bach und 1905 Albert
Schweitzers]ean Sebastian Bach, le musicien-poete. Kaum drei Jahre später eroberte die
erweiterte deutsche Ausgabe dieses die ehrfürchtiger Liebe seines Verfassers auf jeder
Seite widerspiegelnde Buch auch die Herzen deutscher Musikliebhaber, die für Phitipp
Wolfrums fast gleichzeitige, faktisch informative Bach-Bände (1906 bzw. 1910) nur
wenig Interesse aufbrachten. Die Tatsache, daß dieser durchaus solide akademische
Bach-Kenner sich entschied, zumindest die Titelseite seines zweiten Bandes (/. S. Bach
als vokaler Tondichter} mit zwei französischen Zitaten (Hector Berlioz und EdgarTinel)
zu versehen, spricht unter diesen Umständen für sich selbst.
Jüngere deutsche Musikwissenschaftler beschäftigten sich mit Bach nach der Jahr-
hundertwende vor allem unter analytisch-theoretischen Gesichtspunkten, wie z. B.
Hermann Sehröder in seiner bereits 1902 gedruckten Dissertation Die symmetrische
Umkehrung, "ein Beitrag zur Harmonie- und Kompositionslehre mit Hinweis auf die
hier technisch notwendige Wiedereinführung antiker Tonarten im Style moderner Har-
monik" .4 Kompositorisch bezogen sich selbst so völlig anders geartete schaffende Künst-
ler wie Max Reger und Ferruccio Busoni allerdings auf sehr unterschiedliche Weise
besonders gern auf Johann Sebastian Bach. Während Arnold Schönbergs "atonaler"
Jahre vollendete Busoni nicht nur eine dem Andenken seines Vaters gewidmete Fanta-
sia (1909), sondern auch die große Fantasia contrappuntica (1910} und schließlich
1912, zur Zeit seiner intensiven Korrespondenz mit Schönberg, das Choral-Vorspiel
und Fuge über ein Bachsches Fragment.
Arnold Schönbergs Bach-Verehrung war unter seinen Freunden und Schülern längst
kein Geheimnis mehr, als er 1931 mit Nachdruck erklärte: "Meine Lehrmeister waren
in erster Linie Bach und Mozart, in zweiter Beethoven und Wagner."
3 Vgl. Jan Maegaard, Studien zur Entwicklung des dodekaphonen Satzes bei Arnold Schönberg, Bd. I, Ko-
penhagen 1972, S. 95.
4 Hermann Schröder, Die symmetrische Umkehrung, Leipzig 1902.
198 Zwölftonalität
Im musikalischen Erbe des Leipziger Kantors fand er so gut wie alles, was für ihn das
spezifisch Deutsche in der Musik ausmachte. Und in diesem Sinn versteht sich auch
die so oft mißverstandene Bemerkung, mit der er Erwin Stein und Josef Rufer sein
Geheimnis anvertraute, endlich einen Weg gefunden zu haben, der den Fortbestand
der deutschen Musiktradition für die nächsten hundert Jahre sichern würde. Seine
Feinde mochten darin nichts als "jüdische Überheblichkeit" erkennen; ihm ging es in
aller Bescheidenheit um die Erhaltung einer geschichtlichen Kontinuität, die ihm alles
bedeutete und um derentwillen er seine neue Manier, mit den zwölfTönen der chro-
matischen Skala"Tongestalten zu erfinden" und damit in "Unabhängigkeit vom Takteil
[... ] alles aus Einem zu erzeugen", entwickelt hatte. Was Schönberg "deutsch" nannte,
waren vornehmlich Gestaltungsverfahren, die, obwohl kontrapunktischen Ursprungs,
im Lauf der vergangenen zwei Jahrhunderte mehr und mehr harmonische Formen
angenommen hatten, um schließlich der spätromantischen Überchromatisierung zum
Opfer zu fallen. Unter diesen historischen Umständen wies der unvergleichliche deut-
sche Polyphoniker Bach nicht nur Schönberg vermeintliche Wege in die Zukunft, denn
selbst ein technisch vollendeter Meister wie Max Reger blieb am Ende wiederholt im
harmonischen Sumpf der unmittelbaren Vergangenheit stecken. Man denke nur an die
in sklavischer ,,Abhängigkeit vom Taktteil" nicht enden wollende chromatische Schluß-
fuge der Mozart-Variationen op. 132.
Arnold Schönberg vergaß nie, daß Bach ihn mit Mozarts nicht zu unterschätzender
Hilfe zu rechten Zeit davor bewahrt hatte, wie etliche begabte Zeitgenossen in Richard
Wagners äußerst verlockende, aber in der Regel todbringende Falle zu gehen. Im tur-
bulenten Fahrwasser des großen Krieges mit seinen bleibenden Verlusten traditioneller
Gewißheiten und Gewohnheiten bedeutete Bachs Stütze rein psychologisch besonders
viel, was auch der Zwölftonpolyphonie von Anfang an zugute kam. Denn schon bei
deren Geburt knapp drei Jahre nach Kriegsende stand Bach dem besorgten Vater er-
mutigend zur Seite, wofür ihm dieser im nächsten Frühling auch mit den Orchester-
bearbeitungen von zwei Bachsehen Choralvorspielen - Schmücke dich, o liebe Seele und
Komm, Gott, Schöpfer, Heiliger Geist- aus vollem Herzen dankte.
Jan Maegaard widmete sich vor 30 Jahren der heroischen Aufgabe, die "Entwick-
lung des dodekaphonen Satzes bei Schönberg" bis zu dessen Auswanderung nach den
Vereinigten Staaten so genau wie nur möglich zu dokumentieren. Aber selbst dieser
unermüdliche Zwölfton-FOJ;scher vermochte es nicht, in allen Fällen gerraue Datierun-
gen zu ermitteln. Zwölftonreihen kamen anfangs nur selektiv zur Anwendung. Und
hier und da verlangte Schönbergs Konzeption kürzere, ausnahmsweise sogar längere
5 Arnold Schönberg, Stil und Gedanke. Auflätze zur Musik (Gesammelte Schriften I), hg. von lvan Vojtech,
Frankfurt a.M. 1976, S. 253.
Zwölftonalität 199
6 Arnold Schönberg, Brieft, hg. von Erwin Stein, Mainz 1958, S. 179.
7 Walter Szmolyan, .Das Fortwirken der Wiener Schule in der Österreichischen Musik der Gegenwart",
in: Die Wiener Schule in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Bericht über den 2. Kongreß der Inter-
nationalen Schönberg-Gesellschaft, Wien 1986, S. 217.
200 Zwölftonalität
quartetts d-Moll op. 7 scheinbar ein für allemal distanziert hatte, überraschte selbst
treue Freunde und Förderer. Denn wie war es möglich, thematische Expositionen,
Durchführungen und Reprisen, geschweige denn Satztypen wie Scherzo und Rondo,
mit dem neuen Zwölftonideal in Einklang zu bringen ... ?
Schönbergs unerwartete dodekaphone Annäherung an die "erste Wiener Schule"
bestätigte allerdings nur noch einmal ganz konkret, was sein allerengster Vertrauten-
kreis zumindest theoretisch nie bezweifelte, daß nämlich ihres Herrn und Meisters
erstes Gebot der Wahrung traditioneller Werte galt. Arnold Schönberg- Der konservati-
ve Revolutionär nannte ihn einer seiner Biographen, der ehemalige Alban-Berg-Schüler
Willi Reich. 8 Aber vom Paradoxon dieser Formulierung abgesehen, widerspricht sie
dem unerschütterlichen Traditions bewußtsein, das sein Lebenswerk in jeder Schaffens-
phase auf neue Weise verriet. Stil bedeutete ihm erstaunlich wenig; dem Inhalt galt sein
Interesse jederzeit und in jeder Form. Was gewisse Zeitgenossen als "impotent", "de-
struktiv" oder gar "entartet" bezeichneten, war genau das Gegenteil: eine evolutionäre
Konzeption der Zukunft auf fester geschichtlicher Grundlage, allerdings im vollen
Bewußtsein einer Gegenwart, die mehr und mehr geneigt schien, sich soweit wie mög-
lich selbst zu betrügen. Nur die nackte Wahrheit, meinte Schönberg, könnte eine Ka-
tastrophe von unerhörten Ausmaßen verhindern. Und unverhüllte Wahrheit ist unter
keinen Umständen leicht verdaulich ...
Die Verbindung klassischer Formbegriffe mit einer tonalitätsftemden, dodekaphonen
Polyphonie erscheint auf den ersten Blick als eine contradictio in terminis. Denn ohne
die nötige Bezugnahme auf eine tonale Grundlage müßten sich tonalitätsgebundene
Strukturprinzipien eigentlich im musikalischen Nichts verlieren. Wenn es dennoch
irgendwie gelingen sollte, das eine dem anderen gefügig zu machen, hätte allein der
Verlust implizit semantischer musikästhetischer Hifsmittel - u. a. der seit dem frühen
18. Jahrhundert verbürgten Tonartencharaktere, um von harmonischen Dissonanzauf-
lösungen ganz zu schweigen - beträchtliche Rezeptionsschwierigkeiten zur Folge. Der
Polyphoniker Johann Sebastian Bach hielt sich allerdings an eine weitaus ältere und
keineswegs auf das Abendland beschränkte Tradition. Weitaus weniger um die "Emp-
findsamkeit" als um den christlichen Glauben seiner Umgebung bekümmert, bediente
er sich der uralten Zahlensymbolik, beispielsweise zum Hinweis auf die Dreieinigkeit
mit einer drei Kreuze als Vorzeichen verlangenden Tonart, Dreitaktigkeit oder Triolen.
Schönberg, ein auf seine Art zutiefst Gottesgläubiger, war mit dem späteren Mediziner,
Astronomen und AstrologenOskar Adler schon im frühen Jünglingsalter befreundet,
und dieser weihte ihn im Lauf von zahlreichen nicht nur musizierend, sondern auch
mit tief ausholenden Gesprächen verbrachten Abenden speziell in derartige Geheim-
nisse ein. Die Ereignisse der dreißiger Jahre trieb sie zwar auseinander, aber Adler über-
lebte Hitler in England wie Schönberg in Amerika, und nach dem Krieg korrespon-
dierten sie wieder miteinander. Und so kam es womöglich auch zu Schönbergs letztem
literarischen Werk, den Modernen Psalmen, deren sechster, arn Sylvesterabend 1950
niedergeschrieben, mit folgendem vielsagenden Vers endet:
8 Willi Reich, Amold Schönberg oder Der komervative Revolutionär, Wien 1968.
Zwölftonalität 201
"Das wahrhaft Rührende des Aberglaubens ist der Glaube des Abergläubischen, sein Glaube an
Mysterien. Es ist ein wahrer und tiefer Glaube und er ist dem Glauben ans Wahre und Tiefe so
verwandt, daß er oft mit ihm zusammen auftritt.
Der gelehrte Philister verachtet Mysterien, weil sie Unbeweisbares offenbaren. "9
Sechs Monate später erkrankte Schönberg besonders schwer, erwartete jedoch zuver-
sichtlich nochmalige gute Besserung in der Hoffnung, den drohenden 13. Juli 1951
ungeschoren hinter sich zu bringen. An dem gefürchteten Tag schlief er, vom stunden-
langen Kampf gegen das Schicksal erschöpft, kurz vor Mitternacht ein, seiner Sache
wohl schon mehr oder weniger sicher. Aber die ominöse Zahl erwies sich im letzten
Augenblick doch noch als unbesiegbar. Arnold Schönberg verschied mit dem Wort
"Harmonie" auf den Lippen, wenige Minuten bevor die Uhr in Los Angeles Zwölf
schlug.
Eine gewisse Faszination für Zahlen machte sich in seinem Denken und Schaffen
wiederholt und auf verschiedenste Weise bemerkbar. Im Fall des Pierrot Iunaire war es
eine gezielt ambivalente Kombination, die nicht nur die Anzahl der gewählten Gedich-
te (dreimal sieben) bestimmte, sondern auch die entsprechende Opuszahl21. Dagegen
spielte die Sechs, der "numerus perfectus", eine ausschlaggebende Rolle in der Ent-
wicklung und späteren Handhabung des Zwölftonprinzips. Denn was mit dem einlei-
tenden Sechston-Ostinato der Jakobsleiter begann, war nicht nur für die vornehmlich
hexachordale Reihenstruktur der amerikanischen Jahre verantwortlich. Aus zweimal
sechs Tönen bestehende Grundgestalten begünstigten schon in Schönbergs Berliner
Jahren diverse Transpositionen, Umkehrungen und Krebsformen und demzufolge auch
die Vielfalt des dodekaphonen Endresultats. In gewissen Spätfällen, insbesondere bei
religiösen Werken, handelte es sich eigentlich mehr um Hexachord- als Zwölfton-
kompositionen, was wiederum die Vermutung unterstützt, daß die Sechszahl eng mit
Schönbergs alttestamentarischen Affinitäten verbunden war. Die Bibel lehrt ja, daß
der Einzig Einheitliche Ewige Schöpfer, der die Welt in sechs Tagen schuf, dem in
seinem Ebenbild geschaffenen Menschen gebot, ihm mit sechstägiger Arbeit und dem
Sabbath als einem höheren Dingen gewidmeten Ruhetag nachzueifern. Und damit
allein errang der antike numerus perfoctus, diese Summe von 1, 2 und 3, einen Ehren-
platz im postbiblischen jüdischen Gedankengut im allgemeinen, speziell aber in der
mystischen, nur würdigen Eingeweihten vorbehaltenen Geheimliteratur des Zohar und
anderer kabbalistischer Schriften. Frommen Juden ist eine Fünftagewoche noch stets
undenkbar. Denn ihr Lebensziel war und bleibt die Verwirklichung des umfassenden
biblischen Gebots: "Heilig sollt ihr sein, denn Ich, euer Gott, bin heilig" (Leviticus
XIX, 3). Dieses hohe Ideal der "Imitatio Dei" galt bereits für die Zwölf (zweimal sechs)
Stämme der Kinder Israels, bevor sie es verdienten, ihr gelobtes Land zu betreten. Und
keine der unzähligen, unseligen Verwüstungen, die das Judentum in seiner zweitausend-
jährigen Diaspora erlitt, vermochte auch nur das Geringste daran zu ändern. In den
Arnold Schönbergs fünftem Modernen Psalm entnommenen Worten:
9 Arnold Schönberg, Moderne Psalmen, hg. von RudolfKolisch, Mainz 1956, Psalm Nr. 6.
202 Zwölftonalität
"Herrgott, Du hast uns erkoren, um als unvergängliches Zeugnis des Einzigen, Ewigen, All-
mächtigen allen Völkern als Vorbild zu dienen. Du hast uns mit Beständigkeit begabt, die oft in
Starrsinn und Orthodoxie ausartete, uns aber zum unhrechbaren Festhalten an unserer Aufgabe
befähigte.
Fremde Völker, unsere Feinde, nehmen Anstoß an dem Hochmut, uns ,das auserwählte
Volk' zu nennen. Sie verkennen das Martyrium, dem unsere Beharrlichkeit uns stets aussetzt.
Sie verkennen, daß wir so bleiben müssen, bis alle Menschheit Gott so versteht, wie er verstan-
den werden soll.
Kleine, schwache, verängstigte Männlein sind es häufig, diese hochmütigen Juden, die es
auf sich nehmen, ihr hartes Los mit Stolz zu tragen, als Beispiel eines tiefen Glaubens." 10
Oskar Adler mag es gewesen sein, dem Schönberg seine ersten jüdisch-mystischen Ein-
sichten verdankte, aber nach der Jahrhundertwende führte das steigende Interesse so-
wohl jüdischer als auch christlicher Intellektueller zu einer Anzahl allgemein zugängli-
cher Veröffentlichungen von Originaltexten, wissenschaftlichen Kommentaren und
selbst Novellen und Theaterstücken. Im deutschen Sprachraum erschienen im Fahr-
wasser von Philipp Blochs Studie Die Kabbala auf ihrem Höhepunkt und ihre Meister
(1906) insbesondere Martin Buhers Ekstatische Konfessionen (1909) sowie Neufassun-
gen chassidischer Geschichten aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Die Prager Golem-
Legende lernte Schönberg spätestens 1912 im Lauf seines Prager Aufenthalts kennen,
als die ihm so sympathische böhmische Hauptstadt den 400. Geburtstag des überlie-
ferten Golem-Schöpfers Rabbi Jehuda Löw feierte. Womöglich erfuhr er bei dieser
Gelegenheit sogar, daß Jehuda Löws Prager Zeitgenosse Johannes Kepler in seinem
berühmten Werk Harmonia mundi eine den Planeten entsprechende zwölfstimmige
Musik befiirwortete und in diesem Zusammenhang ganz besonders den Wert der Zahl 6
betonte. 11
Schönberg war allerdings nicht der Einzige, der in den unmittelbaren Nachkriegsjahren
eine neue Kompositionsweise mit den zwölfTönen der chromatischen Skala im Auge
hatte. Daß es mit der chromatischen Harmonie nicht wie bisher weitergehen könnte,
war auch anderen Musikern deutlich. In der Regel aber handelte es sich eher um theo-
retisch oder anderweitig doktrinär orientierte als musikalisch-schöpferische Naturen.
Außerhalb von Arnold Schönbergs Wiener Schülerkreis fehlte es an jüngeren Musi-
kern, die im vollen Bewußtsein einer großen Vergangenheit aus innerem Drang allein
Neues geschaffen hätten. Josef Mattbias Hauer, sein weniger als zehn Jahre jüngerer
"Rivale", war vielmehr ein- allerdings keineswegs unbegabter- künstlerischer Eigen-
brötler, der sich zwar zeitlebens als "Entdecker" der "Zwölfordnung" betrachtete, kom-
positorisch aber kaum wirkliche Beiträge zur strukturellen Erneuerung einer in Todes-
gefahr befindlichen musikalischen Tradition leistete. Ihm ging es vielmehr um ein im
Grunde genommen mechanisches System sogenannter "Tropen", Melodiefragmente,
die seine rhythmisch oft fast gelähmt anmutenden Tongebilde nur selten zu beleben
vermochten. Anfang 1924 erklärte er in den Musikblättern des Anbruch:
Der Artikel endet mit einer mehr als anderthalb Seiten umfassenden Aufzählung der
Bestandteile aller vierundvierzig "Tropen", die ihren Urheber ebenso genau charakteri-
siert wie der berühmte "Stempel, den Hauer- wahrscheinlich seit 1937- auf alle seine
Briefe und ,Manifeste' neben seine Unterschrift zu drücken pflegte: Der geistige Urhe-
ber und (trotz vielen Nachahmern!) immer noch der einzige Kenner und Könner der
Zwölftonmusik. " 13
Arnold Schönberg behandelte den hoch empfindlichen "Konkurrenten" stets ent-
gegenkommend; in den schlimmsten Nachkriegsjahren kümmerte er sich um ihn un-
gefragt auch in materieller Hinsicht. Hauers Nomos in sieben Teilen op. 1 und Nomos in
fon/Teilen op. 2 trug sein Schüler Rudolf Reti bereits in der ersten Saison des Wien er
Vereins für musikalische Privataufführungen im Rahmen eines Programms vor, auf
dem auch Werke von Claude Debussy, Hans Pfitzner und Alban Berg standen. Vier
Jahre später, noch stets um eine bleibende Verständigung besorgt, dachte Schönberg
sogar an eine gemeinschaftlich zu führende "Stilbildungschule", allerdings vergebens.
Samuel Schönbergs im Wiener Leopoldstadt-Bezirk aufgewachsener Sohn dachte, fühlte
und schuf eben in einer grundsätzlich anderen geistigen Welt als der mythisch veran-
lagte Sohn des Gefängnisaufsehers Mattbias Hauer aus Wiener Neustadt. Sogar dessen
langjähriger Freund Friedeich Ebner mußte schließlich zugeben, daß Hauers 1922 ver-
öffentlichte Schrift Deutung des Melos "mit ihren wütenden, blind hinschlagenden Aus-
fällen nicht nur gegen die gesamte europäische Musik, sondern auch gegen die griechi-
schen Tragiker, den ,Sprachenidealismus' und Platon [... ] in ihrer totalen Europa-
fremdheit für die ganze geistige Artung des Hauer charakteristisch ist [... ]." 14
Ein Jahrzehnt später reagierten Arnold Schönbergs ehemalige Wiener Schüler mit
kaum verhülltem Unverständnis genau umgekehrt auf den symbolischen Pariser Akt,
mit dem er sich erneut zum "orientalischen" althebräischen Judentum bekannte. Wie
war es nur möglich, daß ihr Meister, in dem sie den Retter des europäischen Musik-
erbes verehrten, sich so ausdrücklich von ihnen absetzte? Eine zumindest teilweise Er-
klärung hätten sie womöglich in seiner damals noch unzugänglichen Korrespondenz
mit Josef Mattbias Hauer gefunden. Lehrreich für alle Zukunft blieb jedenfalls der
ironische Umstand, daß es nicht der Urösterreicher Hauer, sondern ein im Gefolge des
"orientalischen Fremdlings" Gustav Mahler schaffender Judenstämmling war, dem die
12 JosefMatthias Hauer, .Die Tropen", in: Musikblätter des Anbruch 6 (1924), S. 20.
13 Walter Szmolyan,]osefMatthias Hauer, Wien 1965, S. 50.
14 Ebenda, S. 29.
204 Zwölftonalität
15 Dedef Gojowy, .Jefim Golyscheff- Der unbequeme Vorläufer", in: Melos/NZ 3 (1975)