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Auschwitz im Bild
Zur kritischen Analyse der Auschwitz-Alben
Auschwitz ist besonders in den letzten Jahrzehnten zu dem zentralen Symbol dessen
geworden, was wir Holocaust oder Shoah nennen. Neben der Größe des Lager
komplexes, seiner Spezifik als Vernichtungs- und Arbeitslager, der Vielzahl der Opfer
wie auch der relativ hohen Zahl von Überlebenden, die Zeugnis ablegen konnten, ist
der Umfang der überlieferten zeitgenössischen Fotos sicherlich einer der Gründe für
die Strahlkraft und die Wirkmächtigkeit von Auschwitz.1 In einem wechselseitigen
Prozess haben die überlieferten Fotos nicht nur die Symbolkraft des Lagerkomplexes
verstärkt, sondern auch unsere Vorstellungen von der Ermordung der Juden in Europa
nachhaltig geprägt.2 Über die Luftbilder der Royal Air Force, die unter Lebensgefahr
heimlich aufgenommenen Fotos des jüdischen Sonderkommandos in den Krematorien
von Birkenau, die Bilder und Alben der Zentralbauleitung der Waffen-SS und Polizei
Auschwitz, des SS-Standortarztes und weiterer Akteure der SS hinaus sind jedoch im
Wesentlichen zwei Alben von besonderer Bedeutung.
Während das eine Album mit dem Namen der jüdischen Finderin Lili Jacob
verbunden ist, trägt das andere den Namen des ehemaligen Besitzers aus den
Reihen der Lager-SS, Karl Höcker. Präsentiert das mit Lili Jacob verbundene Album
gleichsam die Abwicklung des Massenmords aus Sicht der SS, erlauben uns Karl
Höckers Fotos Einblicke in das Personalsystem der SS. Auch wenn die Alben eine
ganz unterschiedliche Provenienzgeschichte besitzen und zwischen ihrer öffentlichen
Entdeckung mehrere Jahrzehnte liegen, gehören sie, wie im Folgenden gezeigt werden
soll, doch inhaltlich eng zusammen. Mit einer verschränkenden Analyse können aus
1 Christoph Kreutzmüller, Auschwitz als Symbol, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.),
Auschwitz heute. Photographien von Martin Blume, Bonn 2015, S. 111–122.
2 Tal Bruttmann, Auschwitz, Paris 2015, S. 56 f.; Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem,
München 2007, S. 58. Vgl. Auschwitz-Birkenau State Museum/Yasmin Doosry, Representations
of Auschwitz: 50 Years of Photographs, Paintings, and Graphics, Oświęcim 1995; Till Hilmar,
„Storyboards“ der Erinnerung. Eine empirische Fallstudie zur Geschichtsbildern und ästhetischer
Wahrnehmung beim Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, Wien 2014.
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den Alben auch mehr als siebzig Jahre nach der Befreiung des Lagerkomplexes neue
Erkenntnisse insbesondere über den Mord an den Jüdinnen und Juden aus Ungarn
gewonnen werden. Damit lässt sich einerseits unser Wissen über die mörderischen
Tatabläufe und die Täter präzisieren. Andererseits können die Fotos – als historische
Quellen – für die pädagogische Vermittlung erschlossen werden.3
Zur Dechiffrierung der unterschiedlichen Phasen und Ebenen sowie zur Kon
textualisierung der „Ungarn-Aktion“ in beiden Fotoalben werden im ersten
Abschnitt die Zäsuren, Planungsabläufe und konkreten Umstrukturierungen der
SS in Auschwitz verortet und in Beziehung zueinander gesetzt. Insbesondere die
personellen Veränderungen bieten als historisches Sichtfenster tiefe Einblicke in die
Personalpolitik und Kausalitäten des Personaleinsatzes. Im zweiten und dritten Teil
steht die quellenkritische Untersuchung beider Alben im Zentrum der Betrachtungen.
Abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse miteinander verbunden, um die
Interdependenzen der Fotoserien herauszuarbeiten.
Von April bis August 1944 wurden nahezu 450 000 Juden aus Ungarn fast ausschließ
lich nach Auschwitz deportiert, davon laut Berichten des deutschen Gesandten
und Reichsbevollmächtigten in Ungarn Edmund Veesenmayer, des ungarischen
Gendarmerie- und Verbindungsoffiziers zur Sicherheitspolizei László Ferency, der
Košice-Liste und anderen Überlieferungen zwischen 434 000 und 437 000 Menschen
in 137 bis 147 Transporten vom 14. Mai bis 9. Juli 1944.4 Laut einer Aufstellung des
Auschwitz-Überlebenden Leo Glaser wurden in der Zeit vom 16. Mai bis 22. Juli nur
53 172 jüdische Männer aus Ungarn in Birkenau registriert.5 Für die Frauen liegen keine
Zahlen vor. Leo Glaser gibt den Anteil der registrierten Häftlinge mit etwa 20 Prozent
an.6 Bei einem ähnlichen Anteil von Frauen und Männern ist in Gegenüberstellung
der Zahl der Deportierten und der Registrierten von schätzungsweise 325 000 bis
349 000 direkt bei Ankunft ermordeten ungarischen Juden und Jüdinnen auszugehen.
In Erwartung des Massenmords stellten der Chef des SS-Wirtschaftsverwaltungs-
Hauptamtes (WVHA) Oswald Pohl und sein Amtsgruppenleiter D Richard Glücks
3 Vgl. Christoph Kreutzmüller/Julia Werner, Fixiert. Fotografische Quellen zur Verfolgung und
Ermordung der Juden in Europa. Eine pädagogische Handreichung, Berlin 2012, S. 48–53.
4 Stefan Hördler, Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Göttingen 2015,
Kap. 6.2. L ediglich 15 000 Juden aus Ungarn verschleppte die SS Ende Juni 1944 nicht nach
Auschwitz, sondern nach Österreich.
5 Zusammenstellung von Leo Glaser vom 5. 8. 1945, YVA, O.51/1-3 (= Nürnberger Dokument, PS-3686).
6 Schreiben von Leo Glaser an die amerikanische Militärregierung in Linz vom 5. 8. 1945, YVA,
O.18/240.
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Abb. 1: Foto 30 des Lili Jacob-Albums. Die „Aussortierung“ leitete der SS-Lagerarzt und
SS-Hauptsturmführer Heinz Thilo (vorn). Thilo nahm sich am 13. Mai 1945 das Leben.
Yad Vashem.
die Lagerführung des SS-Standortes Auschwitz im Mai 1944 um.7 Die Führung des
SS-Standortes Auschwitz übernahm kommissarisch der Amtschef D I und frühere
Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß. Zum neuen Lagerkommandanten von
Auschwitz I bestimmten sie Pohls bisherigen Adjutanten Richard Baer.8 Arthur
Liebehenschel, ab November 1943 Kommandant in Auschwitz und zuvor Amtschef D I
und Stellvertreter von Glücks, ersetzte Martin Weiß als Kommandanten des KZ
Lublin. Nach Beendigung des Sonderauftrages von Höß und der Einarbeitung seines
Nachfolgers, der zwischenzeitlich zum SS-Sturmbannführer befördert worden war,
gingen die Dienstgeschäfte des SS-Standortältesten Ende Juli 1944 an Baer über.9
Weitere Umstrukturierungen fanden auch in Auschwitz-Birkenau statt. Neuer
Lagerkommandant von Auschwitz II wurde der bisherige Kommandant des KZ
der ersten Massentransporte aus Ungarn in Birkenau vorgelegt wurde.15 Der Text der
einheitlichen Verpflichtungserklärungen vom 20./22. Mai 1944 lautete:
„Verpflichtungsschein.
Mir ist bekannt und ich bin heute darüber belehrt worden, daß ich mit dem Tode
bestraft werde, wenn ich mich an Judeneigentum jeglicher Art vergreife.
Über alle während der Judenevakuierung durchzuführenden Maßnahmen habe
ich unbedingte Verschwiegenheit zu bewahren, auch gegenüber meinen Kameraden.
Ich verpflichte mich, mich mit meiner ganzen Person und Arbeitskraft für die
schnelle und reibungslose Durchführung dieser Maßnahmen einzusetzen.“16
Der Wortlaut der Verpflichtungserklärung verweist nicht nur auf die offenbar
gängige Praxis des Raubes, sondern fordert auch einen aktiven Anteil am Massenmord
ein. SS-Männer der Wachkompanien, die offenbar mehr als andere in die Mordaktion
involviert waren, wurden mit dem Ende der „Ungarn-Aktion“ am 20. Juli 1944 für
die Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes II. Klasse mit Schwertern vorgeschlagen.17
Besonders auffällig war zudem die synchrone Beförderung von vier SS-Führern
am 21. Juni 1944, die zum Kern der logistischen Abwicklung der „Ungarn-Aktion“
gehörten: Kommandant Richard Baer, sein Adjutant Karl Höcker, der Leiter der
Fahrbereitschaft Konrad Wiegand und der Leiter des Birkenauer Effektenlagers
„Kanada“ Walter Schmidetzki.18 Das Höcker-Album zeigt, dass die Hauptbeteiligten
für ihren „Einsatz“ bei der Ermordung und Ausplünderung von Hunderttausenden
ungarischen Juden ausgezeichnet wurden, indem man ihnen Ausflüge in das SS-
Erholungsheim „Solahütte“ (SS-Hütte Soletal) gewährte.
Darüber hinaus hinterließ die „Ungarn-Aktion“ weitere Spuren. Um die Abwick-
lung der eintreffenden Massentransporte logistisch und zeitlich zu optimieren, ließ
Höß den lange geplanten Gleisanschluss in das Lager Birkenau (zwischen die Bau
abschnitte B I und B II) verlegen. Hierdurch entstand in ost-westlicher Richtung eine
niedrige, rund 600 Meter lange Rampe, die in der Mitte (an der Blockführerstube am
Abschnitt B I) von einer nord-südlich verlaufenden Passage gekreuzt wurde.19 Die
„Kreuzung“ diente der Lager-SS als infrastrukturelles Zentrum des mörderischen
Auswahlprozesses, den die SS Selektion nannte, und ist ein zentraler Schauplatz der
Fotos des Lili Jacob-Albums.
Die achtzehnjährige Lili Jacob wurde am 26. Mai 1944 aus dem Ghetto der Ziegelei
von Beregszász nach Birkenau verschleppt. Während fast ihre ganze Familie dort
unmittelbar nach der Ankunft ermordet wurde, teilte die SS sie zur Zwangsarbeit ein.
Mit der Auflösung des Lagerkomplexes Auschwitz Anfang 1945 gelangte Lili Jacob
über mehrere Zwischenstationen in das KZ Mittelbau im Harz, wo sie nach eigener
Aussage kurz nach der Befreiung im April 1945 das Fotoalbum fand. Im Frankfurter
Auschwitz-Prozess beschrieb sie im November 1965 die Umstände ihres Fundes:
„Ich war sehr schwach und unterernährt und brach zusammen. Meine Mit
gefangenen brachten mich in eine Kaserne, die vordem von Nazis besetzt war. Und
sie legten mich auf ein Bett. Und ich lag dort eine Weile. Nach einer Weile fühlte ich
mich sehr kalt, frösteln. Und ich versuchte, etwas zu finden, um mich zu bedecken.
Ich öffnete die Tür eines Nachtkästchens. Dort fand ich eine Pyjamajacke, welche
ich auch heute noch besitze. Und darunter war dieses Album. Als ich dieses Album
öffnete, erkannte ich das Bild des Rabbiners aus meiner Heimatstadt, der meine Eltern
verehelichte. […] Und wie ich durchgeblättert habe, habe ich meine Großeltern, meine
Eltern und sogar mich selbst erkannt. Und seitdem fühlte ich, daß das der einzige
Besitz war, der mir übriggeblieben war.“20
19 Kommentiertes Fotoalbum „Umsiedlung der Juden aus Ungarn“, vermutlich angefertigt vom
Leiter des Erkennungsdienstes der Politischen Abteilung von Auschwitz I, SS-Hauptscharführer
Bernhard Walter, und seinem Stellvertreter und Fotografen, SS-Oberscharführer Ernst Hofmann,
ediert in: Israel Gutman/Bella Gutterman (Hrsg.), Das Auschwitz Album. Geschichte eines Trans-
ports, Göttingen 2005. Zur Überlieferung siehe den Beitrag von Gideon Greif, Das Auschwitz
Album. Die Geschichte von Lili Jacob, in: ebenda, S. 71–86. Zum Ausbau des Gleisanschlusses in
Auschwitz-Birkenau siehe auch Czech, Kalendarium, S. 769 f.
20 Aussage Lili Zelmanovic, 30. November 1964, in: Fritz-Bauer-Institut (Hrsg.), CD Tonbandmit-
schnitt, Vernehmung Lili Zelmanovic, 118. Verhandlungstag, 3. 12. 1964, AP 245. Vgl. Hermann
Langbein, Der Auschwitz-Prozeß. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1990 (Wien 1965), Bd. 1,
S. 149 f. Erich Kulka gab 1958 eine etwas andere Version des Fundes zu Protokoll: Erich Kulka, 200
Hitherto unknown photos of Auschwitz, in: Yad Vashem Bulletin 3 (1958), S. 22.
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Als Andenken an ihre ermordeten Familienmitglieder nahm Lili Jacob das Album
an sich, verschenkte jedoch einzelne Fotos an andere Überlebende, die auf ihnen
ebenfalls Angehörige erkannt hatten. 1946 gestattete sie dem Jüdischen Museum in
Prag, eine Kopie des Albums anzufertigen. Fast zwanzig Jahre später legte Lili Jacob,
die inzwischen geheiratet und den Namen Zelmanovic angenommen hatte, das
Album im Frankfurter Auschwitz-Prozess als Beweismittel vor.21 Möglicherweise
wurden die Fotos in diesem Zusammenhang nummeriert. Spätestens jedoch sind
die Bleistiftnummern auf einer Reproduktion zu erkennen, die Serge Klarsfeld 1980
veröffentlichte.22 Im gleichen Jahr übergab Lili Jacob das Album der israelischen
Gedenkstätte Yad Vashem, die die verbliebenen Fotos prüfte und versuchte, möglichst
viele Personen auf ihnen zu identifizieren. Die Ergebnisse der Recherchen wurden
2002 in Israel und 2005 auch in Deutschland unter dem Titel „Das Auschwitz Album.
Die Geschichte eines Transports“ als „ein bildliches Zeugnis der Vernichtung des
jüdischen Volkes“ veröffentlicht.23 Die Edition war seinerzeit bahnbrechend – auch
wenn die Wiedergabequalität nicht immer den heutigen Ansprüchen genügt und die
Abfolge der Fotos verändert wurde.
Das Album selbst wurde im Sommer 1944 unter dem Titel „Umsiedlung der Juden
aus Ungarn“ vom Leiter des Erkennungsdienstes der Politischen Abteilung, SS-
Hauptscharführer Bernhard Walter, und seinem Stellvertreter, SS-Unterscharführer
Ernst Hofmann, erstellt. Der 1911 geborene Walter, der in Fürth wie seine Eltern das
Stukkateurhandwerk erlernt hatte, trat 1933 in die NSDAP und SS ein. Ab April 1934
diente er in den KZ-Wachmannschaften, zuerst in der SS-Wachtruppe „Sachsen“ (KZ
Sachsenburg), anschließend pendelte er zwischen der SS-Wachtruppe und späteren SS-
Standarte „Brandenburg“ (KZ Columbia und Sachsenhausen) und der SS-Standarte
„Thüringen“ (KZ Buchenwald). Zum Januar 1941 wechselte er, wohl auf Betreiben
von Rudolf Höß, als Leiter des Erkennungsdienstes der Politischen Abteilung vom KZ
Sachsenhausen in das KZ Auschwitz. Beide kannten einander aus Sachsenhausen, wo
Höß bis 1940 als Adjutant und Schutzhaftlagerführer fungiert hatte. Mit der Auflösung
von Auschwitz 1945 nahm Walter die gleiche Stellung im KZ Mittelbau ein.24 Hofmann,
21 Erich Kulka, Photographs as Evidence in the Frankfurt Court, in: Yad Vashem Bulletin 17 (1965),
S. 56–58. Vgl. Cornelia Brink, Das Auschwitz Album vor Gericht, in: Irmtrud Wojak, Auschwitz-
Prozess 4KS 2/63 Frankfurt am Main, Köln 2004, S. 148–159, hier S. 154 f.
22 Serge Klarsfeld (Hrsg.), The Auschwitz Album. Lili Jacob’s Album, New York 1980.
23 Avner Shalev, Vorwort, in: Gutman/Gutterman (Hrsg.), Das Auschwitz Album, S. 8 f., hier S. 8.
24 BArchB (ehem. BDC), RS, Walter, Bernhard, 27. 4. 1911; Vernehmung von Bernhard Walter vom
13./14. 8. 1964, Landgericht Frankfurt am Main, Strafsache gegen Mulka u. a., 4 Ks 2/63, zit. nach:
auschwitz-prozess.de/download.php?file=Walter-Bernhard_1.pdf (18. 6. 2015); Namentliches Ver-
zeichnis der Kommandantur des KZ Mittelbau vom 26. 3. 1945, BArchB (ehem. BDC), SS-A-19. Walter
wurde im Krakauer Auschwitz-Prozess 1948 zu drei Jahren Haft verurteilt, arbeitete später als Film-
vorführer in einem Fürther Kino und starb im Juli 1979 in Fürth. Vgl. auch Ernst Klee, Auschwitz.
Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon, Frankfurt a. M. 2013, S. 423 f.
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Volksschullehrer aus Thüringen, war zehn Jahre älter als Walter. Seit 1933 Mitglied
der NSDAP und SS, amtierte er ab Mai 1941 als Stellvertreter von Walter und als
Fotograf des Erkennungsdienstes in Auschwitz. Bis dahin hatte er in der dortigen
SS-Wachkompanie gedient.25
Walter und Hofmann agierten nicht nur als Fotografen, sondern planten vermutlich
auch die Zusammenstellung des Albums in Form eines Drehbuches. Neben den
beiden SS-Männern kommt als weiterer Fotograf – vor allem für die Studioaufnahme
des Titelblatts – Wilhelm Brasse in Betracht. Brasse war ein polnischer Häftling des
KZ Auschwitz und in der Politischen Abteilung für die Erkennungsdienstfotos
zuständig.26 Abzüglich einer Dublette enthält das Fotoalbum heute 192 Motive, die auf
Fotopapier der Größe 8,2 x 11,1 cm abgezogen wurden. Es umfasst 56 Seiten und ist
in den Maßen 33 x 25 cm angelegt worden.
Die belichteten Filme wurden im Fotostudio des Erkennungsdienstes der Politischen
Abteilung im Block 26 des Stammlagers (Auschwitz I) entwickelt und vergrößert. Das
Faksimile des von der Gedenkstätte Yad Vashem herausgegebenen Albums legt nahe,
dass unterschiedliche Einstellungen der Maskenbänder des Vergrößerungsrahmens
verwendet wurden. Da die Maskenbänder, die das Fotopapier während der Belichtung
festhalten, in der Regel vorab eingestellt und dann bei routinemäßigen Vergrößerungen
von Bildserien nicht verändert werden, ist von mehreren Laborgängen auszugehen. Auch
die hohe Anzahl der Fotos spricht für einen längeren Entstehungszeitraum, zumal das
Album wahrscheinlich neben dem „Tagesgeschäft“ des Erkennungsdienstes produziert
wurde. Bemerkenswert ist zudem, dass die Negative durchaus bearbeitet wurden. Bei
einer Durchsicht des Albums fallen beispielsweise Ausschnittvergrößerungen auf –
so z. B. bei Bild 15 (Abb. 2 links unten). Da weder Negative noch Kontaktabzüge
überliefert sind, kann über die Anzahl der Fotos, die für das Album aufgenommen,
aber nicht verwendet wurden, keine Aussage getroffen werden. Bei der thematischen
Zusammenstellung der Fotos ist ihr ursprünglicher Zusammenhang teilweise verloren
gegangen. Erste Versuche zeigen jedoch, dass sich einige Fotoserien isolieren lassen,
bei denen die Fotos relativ schnell hintereinander aufgenommen wurden. Ihre
Rekonstruktion ist zwar äußerst mühsam, ergibt aber den Effekt eines grausigen
Daumenkinos. Vor dem Auge des Betrachters entwickeln sich so einzelne Täter- und
Opfergruppen und die todbringende Routine der sogenannten Selektion.27
Wie der von der SS vergebene Titel bereits verklausuliert nahelegt, soll das Album
den aus Sicht der SS idealtypischen Ablauf des Massenmords an den ungarischen
Juden ab Mai 1944 abbilden. Das Album ist in fünf Teile gegliedert: „Ankunft
eines Transportzuges“, „Aussortierung“ („Männer bei der Ankunft“, „Frauen bei
25 BArchB (ehem. BDC), SM, Hofmann, Ernst, 11. 11. 1901. Über seinen weiteren Verbleib 1945 ist
nichts bekannt. Klee, Auschwitz, S. 185 f.
26 Luca Crippa/Maurizio Onnis, Wilhelm Brasse. Der Fotograf von Auschwitz, München 2014, S. 280 f.
27 Kreutzmüller/Werner, Fixiert, S. 48–53.
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Abb. 2: Seite 5 des Lili Jacob-Albums mit den Bildern 14 (l. o.) 15 (l. u.) und 16 (r).
Das Foto links oben ist eine Ausschnittvergrößerung des Fotos 17 der folgenden Seite.
Yad Vashem.
Abb. 3: Foto von Bernhard Walter und Ernst Hofmann, 26. 5. 1944 (Foto 49 des
Lili Jacob Albums). Yad Vashem.
die Farbe, die am Randstein der Rampe aufgebracht worden war, um die sogenannte
Kreuzung zu markieren, noch ganz weiß ist. Da Tausende von Menschen täglich über
die Rampe aus Sand und Kies gehen mussten, kann die Farbe kaum einen Tag alt
gewesen sein.
Das aus nächster Nähe kurz nach Ankunft des Deportationszuges gemachte Foto
zeigt Lili Jacobs Brüder Sril, der in die Kamera (und auf den Fotografen) blickt, und
Selig, der – wie insbesondere die Handhaltung verrät – äußerst angespannt ist und in
eine andere Richtung sieht. Zusammen mit ihrer Schwester, ihren Eltern und Großeltern
kamen Sril und Selig Jacob am frühen Morgen des 26. Mai 1944 aus dem Ghetto
Beregszász in Birkenau an. Während Gideon Greif von 3500 Deportierten spricht, die
mit dem Transport angekommen seien, legt die von den ungarischen Bahnangestellten in
Kassa geführte Liste der Transporte nahe, dass es sich um 2602 Menschen handelte.29 In
jedem Fall ist dieser Transport zeitlich der erste, der nachweislich im Album zu sehen ist.
Das mit der Nummer 26 versehene Foto des Albums zeigt die Selektion dieses
Transportes an der sogenannten Kreuzung. Vom schadhaften Dach eines Güter
waggons herab aufgenommen, wird deutlich, dass die SS die „Sortierung“ auf dem
29 Greif, Das Auschwitz Album, S. 72–86, hier S. 73; Randolph L. Braham, The Politics of Genocide:
The Holocaust in Hungary, 2. Aufl., New York 1994 (1981), Bd. 4, Annex 6, S. 1403–1405.
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Abb. 4: Foto von Bernhard Walter und Ernst Hofmann, 26. 5. 1944 (Foto 26 des
Lili Jacob Albums). Yad Vashem.
westlichen Teil der Rampe vermutlich mit den Frauen begonnen hatte. Deren Reihe
ist deutlich kürzer als die der Männer, die von einem Häftling mit Stock an den Rand
getrieben werden. Hinter den Bahngleisen ist eine lange Reihe von Frauen zu sehen,
die bereits „ausgemustert“ worden sind und sehr bald im Krematorium II ermordet
werden, das am oberen Rand des Bildes in den Blick kommt. Der Schlagschatten der
Menschen auf der in ost-westlicher Richtung verlaufenden Rampe weist darauf hin,
dass das Foto am frühen Morgen aufgenommen wurde. Eine serielle Rekonstruktion
lässt erkennen, dass sich Lili Jacobs Großeltern in der Gruppe von Menschen befinden,
die sich – vom eigentlichen Geschehen quasi losgelöst – vor einem Waggon an der
Kreuzung niedergelassen haben. Dies ermöglicht eine plausible Datierung.30 Der
Deportationszug aus Beregszász war am 26. Mai der erste (von fünf) Transporten, die
in Birkenau eintrafen. Laut der Zusammenstellung von Glaser wurden 551 Männer in
das Lager aufgenommen.31 Die Zahl von Frauen, die nicht sofort ermordet wurden,
ist unbekannt. Unter ihnen befand sich Lili Jacob, die durch die Lücke zwischen den
Zügen zunächst in das Quarantänelager geschickt und fast zwei Monate später, am
30 Siehe hierzu das Foto 90 im Lili Jacob Album, in: Gutman/Gutterman (Hrsg.), Das Auschwitz
Album, S. 50 bzw. 182.
31 Zusammenstellung von Leo Glaser vom 5. 8. 1945, YVA, O.51/1-3 (= Nürnberger Dokument, PS-3686).
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Abb. 5: Foto von Bernhard Walter und Ernst Hofmann, o. D. (Foto 35 des Lili Jacob-Albums).
Yad Vashem.
25. Juli 1944, mit der Nummer A 10862 offiziell in die Lagerregistratur aufgenommen
wurde.32 Auch von dieser Einweisung ist eine Aufnahme im Album enthalten.
Einen anderen Transport hingegen zeigt das mit 35 nummerierte Foto des Albums,
das von einer leicht erhöhten Position aufgenommen wurde. Wiederum an der
Kreuzung – nun aber mit Blick nach Osten, zur Hauptwache – ist zu sehen, wie die
Menschen kurz nach der Ankunft eines Deportationszuges teils noch aufgereiht und teils
schon selektiert wurden. Die Schatten zeigen an, dass diese Fotoserie um die Mittagszeit
erstellt wurde. Auf der Rampe stehen mittlerweile zwei Züge. Auf dem nicht sichtbaren
hinteren dritten Gleis – dem sogenannten Freilaufgleis – rangiert eine Lokomotive,
welche die zweite Zughälfte wahrscheinlich zuvor in das Lager gezogen hatte.33
Eine andere Situation fängt das Foto 20 des Albums ein, das den Ausstieg der erschöpf
ten Juden aus dem Deportationszug zeigt: Der Fotograf begab sich in einen der kurz zuvor
geräumten Waggons, von dem rechts noch die Tür zu erkennen ist. Offenbar wurde das
Foto während eines Regenschauers aufgenommen. Die Menschen versuchten, ihre Köpfe
32 Peter Moses-Krause, Bericht über das Auschwitz-Album der Lili Jacob Meier, in: Hans-Jürgen
Hahn, Gesichter der Juden in Auschwitz. Lili Meiers Album, S. 7–28, hier; S. 22. Vgl. Czech, Kalen-
darium, S. 829.
33 Für seine kollegialen Hinweise auf die Rangiermöglichkeiten der Züge und Beschaffenheit der
Waggons danken wir Alfred Gottwaldt, Berlin, sehr herzlich.
Auschwitz im Bild 621
Abb. 6: Foto von Bernhard Walter und Ernst Hofmann, o. D. (Foto 20 des Lili Jacob-Albums).
Yad Vashem.
zu bedecken. Zugleich spiegelt der Boden der Rampe aufgrund der Feuchtigkeit. Dem
Schatten nach zu urteilen wurde das Foto am späten Nachmittag oder Abend aufgenommen.
Wahrscheinlich gehört das Album, wie Cornelia Brink argumentiert hat, in eine
Traditionslinie „jener offiziellen Leistungsnachweise, mit denen SS-Funktionäre ihren
Vorgesetzten den reibungslosen Ablauf ihrer Tätigkeit dokumentierten – wie der Stroop-
Bericht über die Liquidierung des Warschauer Ghettos“.34 Dagegen spricht zwar auf den
ersten Blick, dass das in Leinen gebundene, zuvor benutzte Album trotz der kalligrafischen
Gestaltung für eine interne Leistungsschau innerhalb der SS zu unauffällig ist.35 Nicht
auszuschließen ist aber, dass es ursprünglich mehrere Ausfertigungen des Albums
gab und das überlieferte nur eine Zweitausfertigung der Auschwitzer Kommandantur
darstellt. Trifft dies zu, dann ist davon auszugehen, dass der Amtschef D I im SS-WVHA
Rudolf Höß über seine Vorgesetzten, den Amtsgruppenchef D Richard Glücks und
Hauptamtschef Oswald Pohl, bei Heinrich Himmler eine Sondergenehmigung erwirkt
hatte. Das Album fungierte höchstwahrscheinlich als Bildbeilage für den – zweifelsohne
erwarteten, aber nicht überlieferten – Endbericht der „Ungarn-Aktion“. Zugleich diente
es als bildhafter Beleg für den idealtypischen und reibungslosen Ablauf der Aktion wie
auch als Nachweis für die fehlerfreie Funktionsfähigkeit der neu erbauten Rampe mit
34 Brink, Das Auschwitz Album, S. 149.
35 Greif, Das Auschwitz Album, S. 76.
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Gleisanschluss. Hier offenbart sich die Intention von Höß, seine eigene Leistung bei der
„Ungarn-Aktion“ und seinen Status als Lagerexperte zu betonen und zu überhöhen.
Sowohl seine eigenen autobiografischen Ausführungen als auch die Beurteilung des
Chefs des SS-Personalhauptamtes und SS-Gruppenführers Maximilian von Herff
geben Einblick in die Eigen- und Fremdwahrnehmung von Höß: „H.[öß] ist unbedingt
befähigt, in leitende Stellungen auf dem Gebiete des Kl-Wesens eingesetzt zu werden.
Seine besondere Stärke ist die Praxis.“36
Rudolf Höß, der ursprünglich nur für drei Wochen „die Weiterleitung der zu erwar
tenden Neuzugänge“37 aus Ungarn koordinieren sollte, verblieb bis Ende Juli 1944 in
Auschwitz. Eine wichtige Quelle ist in diesem Kontext das Fotoalbum des Adjutanten
von Richard Baer, SS-Obersturmführer Karl Höcker, das Ende 2006 an das United
States Holocaust Memorial Museum übergeben wurde.38 Höcker hatte bis Mai
1944 als Stabsscharführer und Adjutant unter Martin Weiß in den KZ Neuengamme,
Arbeitsdorf und Lublin gearbeitet.39 Während seiner Dienstzeit in Neuengamme und
Arbeitsdorf lernte er Baer kennen, der wiederum eng mit Weiß befreundet war. Baer
und Weiß kannten einander bereits aus ihrem gemeinsamen Einsatz als Hilfspolizisten
in Weiden in der Oberpfalz 1933. Die Protektion von Höcker durch Baer und Weiß ist
sicher auch auf diesen Umstand zurückzuführen.40 Höcker wollte sich ein persönliches
Andenken an seine gemeinsame Dienstzeit mit Baer in Auschwitz setzen; sein Album
beginnt er daher mit ihrer gemeinsamen Beförderung am 21. Juni 1944.41
36 „Abschrift der Beurteilungsnotiz anlässlich der Dienstreise des SS-Gruf. v. Herff durch das
Generalgouvernement im Mai 1943“ vom 25. 6. 1943, BArchB (ehem. BDC), SSO, Höß, Rudolf,
25. 11. 1900. Vom 4. bis 16. Mai 1943 inspizierte v. Herff diverse Einrichtungen des Massenmords
im besetzten Polen. Neben den Lagern Lublin und Trawniki besichtigte er auch die Vernichtungs-
anlagen in Birkenau. Der Reisebericht schildert unverblümt die Funktionsweise der Gaskammern,
die Beseitigung der Leichen und die Verwertung des Eigentums im Rahmen der „Aktion Rein-
hard“. Die Äußerung über Höß ist daher in diesem Kontext zu sehen.
37 S-Telegramm von Heinz Fanslau an das KZ Natzweiler vom 6. 5. 1944, TNA/PRO, WO 235/20,
British Military Court War Crimes Trial, Bergen-Belsen & Auschwitz Concentration Camps Case,
JAG No. 12, Vol. IX, Exhibit No. 119.
38 Karl Höcker Album, USHMM, Photo Archive, Foto-Nr. 34578 bis 34829. Für die Unterstützung
am USHMM danken wir Judith Cohen und Rebecca Erbelding.
39 BArchB (ehem. BDC), SSO, Höcker, Karl, 11. 12. 1911.
40 Vgl. die lose Fotosammlung zum KZ Arbeitsdorf mit Abbildungen von Höcker und Weiß im Som-
mer 1942, Archiv Mauthausen Memorial (AMM), Fotoarchiv, B-53-7-1 bis B-53-7-30.
41 Das Deckblatt des Albums ziert ein gemeinsames Porträt „Mit dem Kommandanten SS-Stu[rm]
ba[nn]f[ührer]. Baer Auschwitz 21. 6. 1944“, auf der nächsten Seite folgen zwei Einzelporträts von
Auschwitz im Bild 623
Höcker „Als SS-Obersturmführer 21. 6. 1944“. Karl Höcker Album, USHMM, Photo Archive,
Foto-Nr. 42782 und 42783.
42 Zur Datierung siehe Judith Cohen/Rebecca Erbelding/Joseph Robert White, Three Approaches
to Exploring the Höcker Album in High School and University Classes, in: An Interdisciplinary
Journal for Holocaust Educators 1 (2009) 1, S. 53–62, zur Sache: S. 57 und 61, Anm. 6.
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Abb. 8. Foto von Bernhard Walter und Ernst Hofmann, o. D. (Foto Nr. 31e des
Lili Jacob Albums). Yad Vashem.43
Stefan Baretzki (rechts), ein „Volksdeutscher“ aus Rumänien, fungierte als Blockführer in
Auschwitz-Birkenau. Er war an Häftlingstötungen und Selektionen beteiligt. Im Frankfurter
Auschwitz-Prozess sagte er detailliert zum Vernichtungsgeschehen aus und belastete Mit
angeklagte wie den SS-Lagerarzt Franz Lucas.44 Er wurde zu einer lebenslänglichen Haftstrafe
verurteilt und nahm sich im Juni 1988 in Bad Nauheim das Leben.
43 Im Faksimile des edierten Albums fehlt das Foto mit dem handschriftlichen Vermerk „Baretzky
przi selekci“ [sic] (Baretzky przy selekcji; Baretzki bei der Selektion, Anm. d. Verf.) und dem Zusatz
„31e“, in der Einzelbildfolge ist das Foto allerdings gedruckt. Gutman/Gutterman, Das Auschwitz
Album, S. 28, 146.
44 Zur Beteiligung von Lucas vgl. auch Hördler, Ordnung und Inferno, S. 148–159, 253 f.
45 Funkspruch von Richard Baer an das SS-WVHA vom 4. 12. 1944, NARA, RG 549, US Army
Europe, Cases not tried, Case 000-50-3 (Auschwitz), Box 521, Folder No. D-12.
Auschwitz im Bild 625
Fotografien für die Geschichtswissenschaft.46 Zudem können aus den Fotos andere, teils
widersprüchliche Aspekte herausgelesen werden, als es die wenigen Schriftquellen zur
Auschwitzer „Ungarn-Aktion“ erlauben. In Bezug auf die abgebildeten Personenkreise
heißt das konkret:
Erstens kann auf mehreren Gruppenfotos der SS-Obersturmführer Anton Thumann
identifiziert werden, der sich laut seiner SS-Führerpersonalakte bereits im April 1944
als Schutzhaftlagerführer im KZ Neuengamme befand und nominell nie einen Posten
im KZ Auschwitz bekleidete.47 Anweisung und Praxis waren erwiesenermaßen nicht
immer deckungsgleich; Personalplanungen mussten oftmals, wie auch in diesem Fall,
den aktuellen Erfordernissen angepasst werden. Mit der Auflösung des KZ Lublin
im Sommer 1944 unterstützte Thumann als Schutzhaftlagerführer den Ablauf der
„Ungarn-Aktion“ in Birkenau. Höß und Thumann kannten einander schon aus ihrer
gemeinsamen Dienstzeit im KZ Dachau, Höß hatte bis 1938 als Effektenverwalter und
Thumann als Rapportführer fungiert. Weiterhin auffällig an Thumanns Anwesenheit
ist der gleichzeitige Transfer von Mordspezialisten von Lublin nach Auschwitz zu
Beginn der Ungarntransporte. Mit Thumann verließen noch im April 1944 der SS-
Oberscharführer Erich Mußfeldt und der SS-Unterscharführer Robert Seitz das KZ
Lublin. Beide hatten dort die Vernichtungs- und Verbrennungsanlagen verwaltet.
Im KZ Auschwitz II (Birkenau) übernahmen sie spätestens ab Mai 1944 die Leitung
der Krematorien II und III (Mußfeldt) und IV und V (Seitz).48 Zudem besaßen
sie nach Aussage eines früheren Lubliner SS-Wachmanns Erfahrungen mit offenen
Grubenverbrennungen.49 Dieses „Know-how“ war auch in Auschwitz gefordert. Da
aus Sicht der SS abzusehen war, dass die Verbrennungskapazität der Krematorien für
die hohe Zahl von Ermordeten nicht ausreichen würde, ordnete Höß die Aushebung
46 Vgl. Didi-Huberman, Bilder.
47 Seine Versetzung von Lublin nach Neuengamme erfolgte mit Wirkung vom 16. April 1944, BArchB
(ehem. BDC), SSO, Thumann, Anton, 31. 10. 1912. Dies war sicherlich ein Grund dafür, dass Der
Spiegel auf seinem Titelblatt vom März 2008 Thumann nicht identifizieren konnte. Der Spiegel,
Nr. 11, 10. 3. 2008.
48 Zu Mußfeldts Rolle in Auschwitz siehe die Ermittlungsakten und Aussagen im US-amerikanischen
Flossenbürg-Prozess in Dachau 1946/47, z. B. NARA, RG 549, US Army Europe, Cases tried, Case
000-50-46 (Flossenbürg), Box 514, Folder zu „Mussfeldt, Erich“. Mußfeldt wurde an Polen ausge-
liefert, im Krakauer Auschwitzprozess am 22. Dezember 1947 zum Tode verurteilt und am 24. Ja-
nuar 1948 in Krakau hingerichtet. Todesbescheinigung der Stadt Krakau vom 14. 4. 1950, ebenda.
Seitz wurde nach Räumung des KZ Auschwitz in das KZ Mauthausen versetzt. Schreiben von Franz
Xaver Kraus an die Amtsgruppe D über die Auflösung der Verbindungsstelle des KZ Auschwitz vom
17. 2. 1945 mit einer Namensliste der „SS-Männer, die nach K.L. Mauthausen abgestellt wurden“,
vom 16. 2. 1945, International Tracing Service (ITS), Dokumente/Schriftwechsel zu Verfolgung/
Haftstätten, Ordner 23, Bl. 361. Seitz starb ohne strafrechtliche Verfolgung am 17. September 1977.
49 Handschriftliche Aussage des ehemaligen SS-Wachmannes im KZ Lublin, Franz Pantli, vom
24. 5. 1945, NARA, RG 549, US Army Europe, Cases not tried, Case 000-50-15 (Lublin), Box 524A,
Folder No. III.
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von Gruben zur Leichenverbrennung neben dem Krematorium V und neben der
reaktivierten Gaskammer im „Bunker II“ an.50
Ebenfalls Spezialist auf dem Gebiet der offenen Leichenverbrennung war der
abgebildete SS-Obersturmführer Franz Hößler. Im September 1942 hatte er mit Höß
die Anlagen in Kulmhof besichtigt und sich von SS-Standartenführer Paul Blobel,
Chef des „Sonderkommandos 1005“, eine „Enterdungsaktion“ vorführen lassen.51
Im Anschluss übernahm Hößler die Leerung der Massengräber in Auschwitz und
verbrannte dort innerhalb von zwei Monaten circa 50 000 Leichen. Mit Ausgründung
des KZ Auschwitz II im November 1943 wurde er als Schutzhaftlagerführer des
Bauabschnitts I in Birkenau bestätigt.52 Zwischen März und Mai 1944 kurzzeitig
als Lagerführer des Außenlagers Neckarelz nach Natzweiler versetzt und für den
Häftlingseinsatz beim SS-Führungsstab A 8 zuständig, wurde Hößler gemeinsam mit
Kramer nach Auschwitz zurückgerufen und dem neuen Kommandanten Baer als
Schutzhaftlagerführer von Auschwitz I zur Seite gestellt.53
Zweitens sticht auf den Fotos des Albums das gute Verhältnis zwischen Höß und
Kramer ins Auge. Beide hatten schon während der Gründungsphase 1940 gemeinsam
in Auschwitz gearbeitet, Höß als Kommandant und Kramer als sein Adjutant. Zuvor
hatten beide zusammen die KZ Dachau und Sachsenhausen durchlaufen. Entsprechend
sah Höß in seinem Protegé Kramer den geeigneten Mann für die Leitung der „Ungarn-
Aktion“ in Birkenau.54 Im Gegenzug tolerierte Kramer die dominante Führungsrolle,
die Höß 1944 für sich in Auschwitz beanspruchte.55 Das Verhältnis zwischen Höß und
Baer war indessen angespannt, da sich beide als Konkurrenten betrachteten.56
Drittens fällt auf dem Gruppenbild in der vorderen Reihe eine Person auf, die allein
schon aufgrund ihres niedrigen Dienstranges eine Ausnahme zwischen den SS-Führern
Höß, Baer, Hößler, Mengele, Thumann und anderen darstellte. Hierbei handelt es sich um
den SS-Hauptscharführer Otto Moll, den Höß im Rahmen der „Ungarn-Aktion“ zum Chef
aller Gaskammern und Krematorien in Auschwitz ernannte.57 Moll zeichnete sich durch
58 Moll „schlug und quälte die unter seiner Aufsicht stehenden Häftlinge. Er besaß alle Merkmale
eines vorbildlichen SS-Mannes. Dank dieser ,Vorzüge‘ wurden ihm spezielle Aufgaben anvertraut.
Es war kein Zufall, daß er zum Kommandoführer der Strafkompanie ernannt wurde. Seine Auf-
gabe war die Vernichtung der hier eingereihten Häftlinge. Wer hätte dieses Ziel besser erreicht, als
SS-Hauptscharführer Moll?“ Bericht von Jósef Kret, Ein Tag in der Strafkompanie, in: H. G. Adler
u. a. (Hrsg.), Auschwitz. Zeugnisse und Berichte, Hamburg 1994, S. 23–43. „Moll pflegte vier Per-
sonen in einer Reihe hintereinander aufzustellen und legte mit einem Schuß alle auf einmal um.
Wer sich duckte, den warf er lebend ins Feuer. Wer nicht in den Bunker gehen wollte, dem verrenk-
te er die Hand.“ Bericht eines unbekannten Mitglieds des jüdischen Sonderkommandos mit dem
Pseudonym „I.A.R.A.“, Im Abgrund des Verbrechens, abgedruckt in: ebenda, S. 74–77. Siehe auch
Hans Schmid, Otto Moll – „der Henker von Auschwitz“, in: ZfG 54 (2006) 2, S. 118–138.
59 Aussage von Gerhard Schiedlausky vom 6. 3. 1947, NARA, RG 549, US Army Europe, Cases tried,
Case 000-50-9 (Buchenwald), Box 446, Folder No. 2.
60 Die Aufnahmen im Album von Karl Höcker bestätigen eine dortige Zusammenkunft der SS-Stand-
ortärzte im September 1944. Karl Höcker Album, USHMM, Photo Archive, Foto-Nr. 34578 bis 34829.
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Übermittlung von Richtlinien und Befehlen bei Tötungsaktionen – in diesem Fall des
systematischen Krankenmords – zunehmend mündlich erfolgte.61 Die Besprechungen
der Abteilungsleiter fanden regelmäßig in Oranienburg oder in einem Konzentrations-
lager statt, wie auch Privatkorrespondenzen der anwesenden SS-Führer belegen.62
An dieser Gruppe ist – vor allem im Vergleich mit dem Lili Jacob-Album – Willi
Schatz von Interesse. Der stellvertretende SS-Lagerzahnarzt ist auf mehreren Fotos
abgebildet und durch seine Körperstatur und Uniform augenfällig erkennbar. Auf
Basis dieser neuen Erkenntnisse konnte Schatz als selektierender Arzt auf der Rampe
ebenfalls identifiziert werden, ein Ergebnis, das erst nach Vorlage beider Fotoüber
lieferungen möglich war.
Resümee
Während das Album von Karl Höcker als persönliches Erinnerungsalbum entstanden
und als Trophäe in die USA gelangt ist, war Lili Jacobs Album als Trophäe gedacht,
ist als persönliches Erinnerungsstück bewahrt worden und hat dann unsere Erinne-
rung maßgeblich geprägt. Trotz ihrer Unterschiede können die Alben nicht losgelöst
voneinander betrachtet werden. Auf der Kreuzung, dem Selektionsmittelpunkt in
Birkenau, verschränken sich die Bezugsachsen der Alben. So lässt sich in akribischer
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Abb. 11: Foto von Bernhard Walter und Ernst Hofmann. 26. 5. 1944 (Foto 33 des
Lili Jacob-Albums). USHMM, Photo Archive, Foto-Nr. 77239.
Mit dem Rücken zur Kamera selektierte SS-Zahnarzt Willi Schatz auf diesem und weiteren
Fotos einen ankommenden Transport mit ungarischen Juden. Die älteren, kranken und ar-
beitsunfähigen Männer schickte Schatz an diesem Tag in die Gaskammern. Im Frankfurter
Auschwitz-Prozess wurde Schatz aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Dieses und weitere
Urteile in NS-Kriegsverbrechenprozessen trugen zu dem Bild bei, SS-Zahnärzte hätten nur
beschränkt am Massenmord im KZ-System mitgewirkt.
Abb. 12: Foto von Bernhard Walter und Ernst Hofmann. o. D.
(Foto 87 des Lili Jacob-Albums).
Yad Vashem.
Verengung entspricht eine inhaltliche. Die Fotos sollen ausschließlich zeigen, was die
Auftraggeber aus den Reihen der SS sehen wollten. Nicht Chaos, Panik und Geschrei,
sondern Arbeitsteilung, Ordnung und Routine sollten präsentiert werden. Nicht
Brutalität, Gewalt und Mord, sondern Fügsamkeit und Unterordnung standen im
Mittelpunkt.63 Erbarmungslos agierten auch die Fotografen, die – ohne Zustimmung
der Fotografierten – oft sehr nah an ihre „Opfer“ herantraten, um ihre Fotos zu
schießen. Unwillkürlich jedoch rutschten auch Widersetzlichkeiten ins Foto – wie das
unbekannte Mädchen, das dem Fotografen die Zunge herausstreckt:
Beide Alben haben freilich längst den Status von Ikonen erlangt und sind
damit gleichsam unnahbar geworden. Diese Wahrnehmung gilt es jedoch auf
zubrechen. Denn gerade vor dem Hintergrund des Generationenwechsels und
veränderter Seh- und Lesegewohnheiten kommt fotografischen Quellen eine –
im wahrsten Sinne des Wortes – prägende Rolle bei der historisch-politischen
Bildung und in der Geschichtsvermittlung zu. Die Analyse von Fotos kann helfen,
Sprach- und Wahrnehmungsgrenzen zu überbrücken. Hierzu bedarf es aber eines
64 Ziel des internationalen Forschungsprojekts der École des Haute Études, Paris, der KZ-Gedenk-
stätte Mittelbau-Dora, Nordhausen, und der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-
Konferenz, Berlin, ist die kritische Analyse und sequentielle Rekonstruktion der überlieferten
Fotos aus dem KZ Auschwitz-Birkenau. Die Ergebnisse sollen in einer kommentierten wissen-
schaftlich-pädagogischen Handreichung und einer Ausstellung vorgestellt werden.